Die Lebenswelt: Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution [1 ed.] 9781402064760, 1402064764, 9781402064777 [PDF]

Der Band versammelt Forschungsmanuskripte Edmund Husserls aus zwei Jahrzehnten, in denen er das bis heute auf die Sozial

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German Pages 1032 Year 2008

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Table of contents :
INHALT......Page 6
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS......Page 25
NR. 1. URSTIFTUNG DES SEINSSINNES VON VORGEGEBENEM EINZELSEIENDEN UND VON VORGEGEBENER SEIENDER WELT......Page 82
NR. 2. HINTERGRUND UND VORGEGEBENHEIT. UNTERSCHIEDE DER VORGEGEBENHEIT. ABGEHOBENHEIT UND PRÄGNANTER BEGRIFF VON VORGEGEBENHEIT. DIE KONSTITUTIVE FUNKTION DER APPERZEPTIONEN......Page 88
Beilage I. Hintergrund – vorgegebene Gegenständlichkeit. Endgegenstand und Durchgangseinheiten......Page 94
NR. 3. DIE WELT VORGEGEBEN AUS URSPRÜNGLICHER ERWERBUNG – NICHT SO DAS BEWUSSTSEIN, DAS REICH DER IMMANENZ......Page 100
Beilage II. Vorgegebenheit und Affektivität. Die beständige Vorgegebenheit der Welt, die Anonymität des konstituierenden Subjektiven......Page 104
§1. Das Feld effektiv bewusster Objekte und der ineffektive Horizont des Unbewussten......Page 107
§2. Die als Kulturwelt vorgegebene Welt zurückweisend auf Natur......Page 111
Beilage III. Die Scheidung von passivem und aktivem Intellekt in eins mit der vertieften Unterscheidung zwischen „sinnlicher“ Gegenständlichkeit und kategorialer. Die Konstitution von Gegenständen im prägnanten Sinn (und somit einer Welt vorgegebener Gegenstände) in Akten der Aktivität......Page 115
Beilage IV. Vorgegebenheit sinnlicher und synthetischer (kategorialer) Gegenständlichkeiten......Page 119
NR. 5. REINE ERFAHRUNGSWELT, DIE WAHRNEHMBARE IM WEITESTEN SINN. VORGEGEBEN. DARIN MITVORGEGEBEN: DIE WELTLICHE SUBJEKTIVITÄT......Page 122
NR. 6. UNIVERSUM DER VORGEGEBENHEIT UND WELT. KONSTITUTION DES UNIVERSUMS DER VORGEGEBENHEIT DURCH HABITUALITÄT......Page 128
NR. 7. URHISTORIZITÄT DER VORGEGEBENEN WELT. ERSTE UND ZWEITE HORIZONTALITÄT: HORIZONT ALS VERTRAUTER VORGEGEBENHEITSSTIL UND ALS OFFENER HORIZONT MÖGLICHER NEUER VORGEGEBENHEITSSTILE. RELATIVITÄT ALLER VERTRAUTEN VORGEGEBENHEITSSTILE......Page 134
NR. 8. DIE IN VERTRAUTEN INDIVIDUAL- UND ARTTYPEN VORGEGEBENE LEBENSWELT......Page 141
NR. 9. AUSLEGUNG DER LOGISCHEN IDEEN „REALES DER WELT“ UND „WELT SELBST“. WELT ALS ERFAHRUNGSHORIZONT UND WELT ALS LOGISCHE IDEE. LOGISCHER HORIZONT UND WELTBEGRIFF. TOTALBEGRIFF DES REALEN UND TOTALBEGRIFF DER WELT......Page 147
Beilage V. Horizontbewusstsein von der Welt und thematische Weltvorstellung. Dingvorstellung gegenüber Weltvorstellung: Welterfahrung und Weltgewissheit......Page 153
Beilage VI. Erfahrung als Methode einzeldinglicher Kenntnisnahme. Welterfahrung – Einzelerfahrung. Weltbewusstsein als Horizont gegenüber „Welterfahrung“......Page 161
NR. 10. DAS STRÖMENDE, SICH DURCH MODALISIERUNGEN IN EINSTIMMIGKEIT ERHALTENDE WELTBEWUSSTSEIN MIT SEINEM EINFÜHLUNGSHORIZONT UND SEINEN ZEITHORIZONTEN......Page 164
§1. Die Reduktion auf die Welt rein als Welt der Erfahrung und auf meine konkrete strömende Weltwahrnehmung......Page 165
§2. Die strömende Weltwahrnehmung und ihr Einfühlungshorizont. Darin konstituiert eine intersubjektive Gegenwart und die Welt als unser aller Welt......Page 168
§3. Die zum strömenden Weltbewusstsein gehörigen Modalisierungen der Wiedererinnerung und der Einfühlung......Page 171
§4. Der Einfühlungshorizont als Geltungshorizont......Page 174
Beilage VII. Ein Grundstück der Lehre von der Horizontstruktur der Welterfahrung: anschauliche Kernsphäre und Außenhorizont mit seiner stehend-strömenden Nah-Fern-Struktur......Page 176
NR. 11. VORGEGEBENHEIT UND HORIZONT. HORIZONTVORGEGEBENHEIT VON VORGEGEBENEN REALEN. VERSCHIEDENE MODI VON VORDERGRUND UND HINTERGRUND. MILIEU DES UNBEWUSSTEN. INNENHORIZONT UND AUSSENHORIZONT......Page 179
§1. Dingerfahrung als einstimmige Substraterfahrung. „Glatte Identifizierung“ und erste Identität des Substrates......Page 185
§2. Die vieldimensionale Horizontstruktur der Dingerfahrung......Page 192
NR. 13. DER RAUMZEITLICHE TOTALHORIZONT DER WELT UND SEINE INVARIANTE FORM......Page 198
Beilage VIII. Die Konstitution der vorgegebenen Welt systematisch auslegen – das ist systematisch die Horizontstruktur derselben auslegen. Das Ineinander der Horizonte. Wichtiges zur Lehre von den Horizonten......Page 205
NR. 14. DAS UNIVERSALE WELTBEWUSSTSEIN ALS WELTWAHRNEHMUNG. DIE IM WELTERSCHEINEN IMPLIZIERTE UNIVERSALE SYNTHESE VON HORIZONTEN. DIE ZUM NATÜRLICHEN WELTBEWUSSTSEIN GEHÖRENDE VERWELTLICHENDE APPERZEPTION ALLES ERSCHEINENS UND DER VERWELTLICHENDE HORIZONT MÖGLICHER REFLEXION......Page 210
NR. 15. HORIZONTMEINUNG UND URSPRÜNGLICHE INDUKTION. DER WELTHORIZONT ALS STRUKTURIERTER LEERHORIZONT......Page 217
Beilage IX. Appräsentation und Präsentation hinsichtlich einzelner Dinge und hinsichtlich der ganzen Welt. In Leerintentionen konstituierte Welt......Page 222
NR. 16. ORIENTIERUNG UND ZUGANGSPRAXIS. EIN UNIVERSALES SYSTEM MÖGLICHER RÄUMLICHER UND ZEITLICHER ORIENTIERUNGEN ALS VORAUSSETZUNG INTERSUBJEKTIVER PRAXIS UND EINER INTERSUBJEKTIVEN UMWELT......Page 224
Beilage X. Die orientierte Umwelt. „Orientierter“ Raum bzw. wahrnehmungsmäßige Umwelt, Welt überhaupt......Page 230
Beilage XI. Stufenfolge der Umwelten oder Heimwelten. Heimwelt und Territorium......Page 233
NR. 17. ZUR ORIENTIERTHEIT DES VERSTEHENS: HEIMWELT UND FREMDWELT. VERSTEHEN VON FREMDEN UND VON FREMDEN HEIMWELTEN. RELIGION UND WISSENSCHAFT ALS UNIVERSALE WELTINTENTIONEN. DAS FREMDMYTHISCHE. EINWAND DER RELATIVITÄT WISSENSCHAFTLICHER WELTAUSLEGUNG. INTERSUBJEKTIVE KRITIK ALS WEG ZU UNIVERSALER WELTERKENNTNIS. DESKRIPTIVE WISSENSCHAFT......Page 236
§1. Der Mensch als Thema. Verhalten des Menschen. Mensch in der Kulturumwelt......Page 238
§2. Exkurs: Universale weltliche Intentionen: Religion und Wissenschaft......Page 243
§3. Der verständliche apperzeptive Kern fremder Lebenswelt und das unverständliche Fremde. Das Fremd-Mythische......Page 246
§4. Einwand der historischen Relativität: Alle unsere Auslegung ist europäisch etc.......Page 249
Beilage XII. Zur Pluralität und situationsabhängigen Aktualisierbarkeit heimweltlicher Wir-Horizonte......Page 252
NR. 18. NAHWELT – FERNWELT. DIE ERSCHLOSSENHEIT DER NÄCHSTEN UMWELT......Page 254
NR. 19. MEIN (UNSER) WELTHORIZONT IN SEINER ZEITRÄUMLICHKEIT. ZEITRÄUMLICHE ORIENTIERUNG: ZEITMODALITÄTEN UND RÄUMLICHE MODALITÄTEN......Page 258
Beilage XIII. Induktion in der Welterfahrung und die Konstitution der orientierten Erfahrungswelt als Welt mit Erde und Himmel......Page 263
§1. Das Ineinander der mehr oder minder geweckten Situationen und Situationsganzheiten......Page 269
§2. Unser Situationshorizont im Horizont der bürgerlichen Normalwelt. Die Welt als Totalhorizont aller Lebenswelten......Page 274
NR. 21. SONDERSITUATION UND DIE WELT ALS ALLSITUATION ALLER SONDERSITUATIONEN. LEBENSWELT UND WAHRE WELT. VORWISSENSCHAFTLICHES, SITUATIONSRELATIVES URTEILEN UND DAS SITUATIONSÜBERGREIFENDE URTEILEN IN DER WISSENSCHAFT......Page 279
Beilage XIV. Praktisch verstandene Situation und Wahrnehmungserscheinung. Situationsrelative Optima und das Seiende schlechthin als das absolute Optimum......Page 283
NR. 22. GELTUNGSSTIL DER ERFAHRUNGSWELT. IHRE APODIKTIZITÄT WÄHREND DER EINSTIMMIGEN ERFAHRUNG. ERFAHRUNG ALS APODIKTISCHE ZUGANGSMETHODE ZU WELTLICHEM UND ZUR WELT SELBST. IHR SEIN SICH IN EMPIRISCHER ZWEIFELLOSIGKEIT BEWÄHREND......Page 285
Beilage XV. Apodiktische Antizipation des Seins der Welt im Lauf der Erfahrung. Möglichkeit des Nichtseins der Welt. Die historische Apodiktizität der Weltgewissheit......Page 291
Beilage XVI. Normale, seinsbewährende Welterfahrung als Voraussetzung der Anomalität des Scheins. Konstitution einer einheitlichen Gegenstandswelt durch rückgreifende Korrektur......Page 293
Beilage XVII. Zwei Welten für ein Ich. Gedankenexperiment zweier periodisch alternierender Einstimmigkeitssysteme mit alternierenden leiblichen Personalitäten......Page 297
Beilage XVIII. Mögliches Nichtsein der Welt......Page 302
NR. 23. NOTWENDIGKEIT DER PRÄSUMTIVEN SEINSSETZUNG DER WELT IN DER SELBSTBEWÄHRENDEN SELBSTGEBUNG EINSTIMMIGER WELTERFAHRUNG. DAS URRECHT DES WELTGLAUBENS......Page 309
Beilage XIX. Zur apodiktischen Evidenz der Präsumtion einer Welt......Page 313
Beilage XX. Idee der apodiktischen Evidenz als schlechthin wiederholbare Evidenz und Frage der Apodiktizität der Welterfahrung......Page 315
Beilage XXI. Die zum Erfahrungssinn der Welt gehörige Überzeugung, dass die erfahrene Welt, obwohl das Sein alles Einzelrealen Sein auf Kündigung ist, doch ein Sein in sich trage......Page 316
NR. 24. MEDITATION ÜBER DIE APODIKTIZITÄT DES ICH-BIN UND INWIEFERN SIE WELTHABE ALS APODIKTISCH IN SICH BIRGT......Page 321
NR. 25. DIE APODIKTISCHE GEWISSHEIT MEINES MENSCHLICH-LEIBLICHEN SEINS ALS TEIL DER APODIKTISCHEN GEWISSHEIT DES SEINSBODENS „ WELT“. ZURÜCKWEISUNG DES CARTESISCHEN ZWEIFELSVERSUCHS......Page 329
§1. Die Aufgabe der Herausstellung des Apriori der konkreten Erfahrungswelt und die Idee eines abstraktiven Verfahrens zwecks Rekonstruktion ihrer vollen Konkretion......Page 337
§2. Der geordnete abstraktive Abbau alles Subjektiven der konkreten Erfahrungswelt zwecks Gewinnung der bloßen Natur: der Abbau der Prädikate geistiger Bedeutung, der Gefühls und Wertprädikate, der Stimmungscharaktere, der subjektiven Erscheinungsweisen sowie der Abbau der leiblichen welterfahrenden Animalien zu Organismen......Page 343
§3. Allnatur und Allgeist. Das Fehlen einer geschlossenen Erfahrungseinheit alles Subjektiven. Die Universalität der subjektiven Erscheinungsweisen und die eigenwesentlich geschlossene seelische Innerlichkeit der Leiber......Page 350
NR. 27. DER NATURALE KERN DER WELT IN SEINEM JEWEILIGEN ERFAHRUNGSSINN IST EIN ERZEUGNIS ERFAHRENDEN TUNS. GLEICHSTELLUNG DER NATURALEN ERSCHEINUNGSWEISEN UND DER KULTURGEBILDE. ERSCHEINUNGSWEISEN ALS GEGENSTÄNDE DER PRAXIS......Page 353
§1. Methode der Konzeption der invarianten Wesensform einer möglichen Erfahrungswelt überhaupt......Page 359
§2. Veränderungsarten von Realem......Page 361
§3. Regionsspezifische Arten der Selbsterhaltung konkreter Realitäten und regionsspezifische Arten des Übergangs von Erhaltung zu Vernichtung......Page 364
Beilage XXII. Naturale Veränderungsarten von Realem: Zusammenstückung und Teilung, Mischung und Entmischung. Naturkausalität und die Möglichkeit personalen Eingreifens in das Naturgeschehen......Page 369
§1. Die Identitätsstruktur der vorgegebenen intersubjektiv erfahrbaren Welt und ihre beiden Schichten von Wesensformen: Formen des naturalen Kerns und Formen der kulturalen Bestimmtheit. Unbedingt objektive und relativ objektive Weltwahrheit......Page 372
§2. Ideale und reale Gegenständlichkeiten. Personen und personale Gemeinschaften. Freie und gebundene Idealitäten......Page 376
NR. 30. NATUR IN DER UMWELTLICHKEIT UND NATUR AN SICH. GEWOHNHEITSSTIL DER UMWELT ALS KAUSALER STIL. GEGENÜBER DIESER UMWELTLICHEN „KAUSALITÄT“ DIE EXAKTE KAUSALITÄT. HOMOGENISIERUNG VON IRDISCHER UMWELT UND HIMMELSWELT......Page 379
NR. 31. ENDLICHKEIT DER PRAXIS. ENDLICHE UMWELT ALS PRAKTISCHE. DIE PRAKTISCHE UMWELT ALS HORIZONT WIRKLICHER UND MÖGLICHER INTERESSEN......Page 385
NR. 32. DIE ZUR LEBENSUMWELT ALS PRAKTISCHER WELT GEHÖRIGEN HANDELNDEN MENSCHEN, HANDLUNGEN UND HANDLUNGSERGEBNISSE MIT IHREM TELEOLOGISCHEN GESICHT......Page 389
Beilage XXIII. Das Wertantlitz der vorgegebenen Welt. Das urnormale Gesicht der Weltumgebung. Anomalität und Normalität. Akterfüllung als Zielenthüllung......Page 392
NR. 33. PERSONALE STRUKTUR DER WELT. MEINE KONKRETE ERFAHRUNGSWELT IMPLIZIEREND DEN HORIZONT DER PRAKTISCH VERBUNDENEN MITMENSCHEN. PERSONALE SUBSTANZ UND PERSONALE ZUSTÄNDLICHKEIT. DAS MOMENT DER ERFAHRUNG IN ALLEM PERSONALEN TUN......Page 397
§1. Zeug und Zwecke, einzelpersonale und gemeinschaftliche. Schon seiende Welt als Materie für die seinsollende Welt. Natur als letzte Materie......Page 403
§2. Das Kulturgesicht der von Subjekten her entsprungenen Welt. Praktische Nahwelt und außerpraktische Fernwelt......Page 406
§3. Territorium und das von Urbedürfnissen bestimmte Zweckleben. Primäres und sekundäres Zweckleben. Lebensverbundenheit in einer All-Gemeinschaft......Page 408
§4. Bewusstseinsmäßig bleibende Bedürfnisse und die uns bewusstseinsmäßig gemeinsame Welt als Interessenfeld. Der ursprüngliche und der phänomenologische Begriff von „Horizont“......Page 410
§1. Die Epoché von naiver Wissenschaft und Philosophie und die erkenntnistheoretische Besinnung auf das natürliche vorwis senschaftliche Leben und seine Welt......Page 413
§2. Das natürliche Weltleben als Leben in traditional bestimmten Heimwelten. Begegnung mit fremden Menschheiten und ihren Welten. Historizität menschlichen Lebens und seinekonkret erfüllte generative Welt (völkische Umwelt)......Page 417
§3. Die menschliche Umwelt, sich konstituierend durch Ausdruck und Ausdrucksverstehen. Die Welt der versachlichten Geistigkeit mit ihrem Ineinander von Sinnbeständen. Intentionaler Konnex einander fremder Völker – übergreifende Historizität......Page 423
§1. Das Wissen von der im Leben vorgegebenen Welt impliziert Vorauswissen von ihren künftigen Veränderungen und Unveränderungen......Page 428
§2. Die intersubjektiven Welten des Handelns und das Erwachen des Interesses an der einen objektiven Welt für alle......Page 432
§1. Modi des Ich-tue – Modi des Zugewendetseins. Vordergrund, Hintergrund und der ständige Universalhorizont „Welt“ als implizierter Hintergrund......Page 435
§2. Wahrnehmen und Erfahren als Modi welterwerbenden Tuns. Der zu jedem Tun gehörige lebendige Könnenshorizont und der offene praktische Horizont „Welt“......Page 441
§3. Der innerhalb des Universalhorizontes „Welt“ ausgezeichnete spezifisch praktische Horizont. Praxis und Pragma. Das Woraufhin von Handlungen: Werke und Vorgangstaten......Page 446
§4. Die besondere Lebendigkeit des spezifisch praktischen Horizontes......Page 450
§5. Der „lebendige praktische Horizont“ und die Welt der Güter......Page 453
Beilage XXIV. Schichtung im praktischen Horizont......Page 457
Beilage XXV. Das Wahrnehmen als Tun und als Erzeugen der Selbstdarstellung des Gegenstandes. Wahrnehmen impliziert in allem Handeln......Page 458
Beilage XXVI. Die Urpraxis des Wahrnehmens fundierend alle sonstige Praxis......Page 460
NR. 38. DIE LEBENSWELT ALS UMWELT PERSONALER VERBÄNDE UND ALS UMWELT EINER ALL-GEMEINSCHAFT......Page 463
Beilage XXVII. Berufe im normalen Volk und ihre Geschichtlichkeit. Zur Phänomenologie der Berufe......Page 470
Beilage XXVIII. Territorium. Personale Raumzeitlichkeit in ihren Personalstufen......Page 472
Beilage XXIX. Eigentum. Das Objektfeld im Horizont von Zueignung und Verfügung, von Einstimmigkeit und Streit......Page 473
Beilage XXX. Zur haptischen Konstitution der praktischen Welt. Der Vorzug der Tastwahrnehmungen vor den visuellen Wahrnehmungen......Page 474
NR. 39. DIE HERAUSZUKORRIGIERENDE WAHRE LEBENSWELT ALS GRUNDLAGE LEBENSWELTLICHER PRAXIS. WELT UND UMWELT. KONSTITUTION DER WELT IN IHREM INS UNENDLICHE IN RELATIV „STABILEN“ UMWELTEN ZEITWEILIGEN SICH-DARSTELLEN. DURCHGEFÜHRT AN DER NATUR......Page 479
§1. Abbau meines Weltphänomens auf die rein aus Perzeption und Apperzeption gegebene Welt. Der prägnante Begriff von Perzeption und Apperzeption......Page 486
§2. Anzeigende (rückverweisende und vorverweisende) und analogisierende Apperzeption. Bildapperzeption und Epoché......Page 490
Beilage XXXI. Apperzeption als transzendente Selbstgebung, als anschauliche seiende Welt schaffend. Analogisierende und praktische Apperzeption......Page 495
Beilage XXXII. Ursprünglich präreflexive Apperzeption des identischen Ich. Das Vermögens-Ich in jeder transzendenten Apperzeption......Page 498
Beilage XXXIII. Wissensbeläge, Auffassungen „geistiger“ Eigenschaften. Der Begriff des Wissensbelages......Page 500
Beilage XXXIV. Natur und Geist vor der Wissenschaft, in der bloßen Erfahrung – Die apperzeptiven Typen: leblose Dinge, Animalien, Kulturobjekte, Subjekt-Objekte als Träger kultureller Bedeutungen......Page 503
Beilage XXXV. Bekanntheit und Fremde. Individualtypische Auffassung. Apperzeption – verähnlichende Übertragung. Wiedererkennen. Inaktive Konstitution als Unterlage alles aktiven Leistens......Page 506
Beilage XXXVI. Der beständige Wandel der Bekanntheits- und Unbekanntheitshorizonte in der Apperzeption von Realem......Page 511
NR. 41. ERFAHRUNG ALS HANDLUNG FÜHRT AUF EINEN UNENDLICHEN REGRESS. – WIE IST URSPRÜNGLICHE ERWERBUNG DER WELT MÖGLICH?......Page 515
Beilage XXXVII. Die „Genesis“ der Welt als für uns seiender in ihrem Doppelsinn. Stumme und ausgesprochene Welt. Problem der Genesis des Stils der Welterfahrung......Page 522
§1. Apperzeptive Konstitution von Seiendem als Einheit passiver Selbstdeckung und aktiver Identifizierung. Die darin fundierte Konstitution von Mehrheiten......Page 527
§2. Apperzeption von Mehrheiten von Gleichen bzw. Ähnlichen......Page 533
Beilage XXXVIII. Synthesen der Identifikation und Synthesen der Unterschiedenheit bei Einheiten und Mehrheiten. Welterfahrung – eine universale Synthesis der Assoziation. Modi der Aktivität und der Inaktivität. Apperzeptiver Erwerb von Seinssinn......Page 538
§1. Zur Rekonstruktion der ersten Kindheit: Ur-Affektion und Anfang strömender Zeitigung......Page 543
§2. Das Ich des konstitutiven Anfangs: ein Ich gerichteter Instinkte......Page 551
§3. Statische und genetische Konstitution. Fragen zur Methode der Rekonstruktion in Bezug auf „Randprobleme“ der Weltkonstitution......Page 554
Beilage XXXIX. Konstitution intentionaler Einheiten in purer Passivität: das Einbrechen des Hyletischen in assoziativer Abhebung und die Uraffektion des Abgehobenen......Page 559
Beilage XL. Zum Stufengang der transzendentalen Interpretation des Weltphänomens......Page 562
Beilage XLI. Exposition der allgemeinen Problematik der statischen und genetischen Auslegung der Weltapperzeption. Mit einer kritischen Note zu Heideggers „Seinsverständnis“......Page 564
§1. Die Endlichkeit der primordial zugänglichen Zeitwelt und die menschheitlich-generative Zeitwelt in ihrer intersubjektiven Zugänglichkeit......Page 572
§2. Apperzeption in ihrer Funktion der erweiternden Erfahrungsbildung. Rückgewendete Apperzeptionen. Historizität der primordialen Welt......Page 579
§3. Historische Apperzeption. Doppelschicht der Konstitutionals fortschreitende und rückschreitende......Page 582
§4. Zur prinzipiellen Endlichkeit der primordialen Erfahrungssphäre......Page 584
Beilage XLII. Höhere Konstitutionsstufen. Apperzeptive Erweiterungen der generativ konstituierten geschichtlichen Lebenswelt: die Welten der Tiere und die vorgeschichtliche Naturwelt......Page 586
NR. 45. DIE VORGEGEBENE LEBENSWELT – EIN APPERZEPTIVES SINN- UND GELTUNGSGEBILDE, DAS IMMER NEUE APPERZEPTIVE SINNESAUFLAGEN ALS GELTUNGEN-FÜR IN SICH AUFNIMMT......Page 591
NR. 46. DIE LEBENSWELT ALS GELTUNGSWELT IN TRADITIONALEM WANDEL UND IN TRADITIONALER SELBSTERHALTUNG. ERWEITERUNGEN UNSERER GENERATIVEN GELTUNGSWELT UND IHRE TENDENZ AUF EINEÜBERNATIONALE IRDISCHE KULTUR......Page 596
Beilage XLIII. „Tradition“. Konkrete Lebenswelt als Welt aus Tradition. Lebendige und überlebte Tradition......Page 602
Beilage XLIV. Generative Lebensgemeinschaften als Willensgemeinschaften höherer Stufe. Fortschreiten zu einer universalen Menschheit mit einer einheitlichen historischen Umwelt. Alles Weltliche historisch vorgegeben......Page 604
Beilage XLV. Modi der „Vererbung“ von Geltungen: schlichte, gebrochene und in ungebrochene Tradition umkorrigierte Tradition. Selbsteigene und gemeinschaftliche Tradition. Der Seinssinn „Welt“ als Gemeinschaftsleistung universaler Tradition......Page 607
NR. 47. WEITERES ZUR KONSTITUTION DER AUFSTUFUNG DER WELT: DIE KONSTITUTIVE LEISTUNG DER HISTORIE UND NATURHISTORIE FÜR DIE ERWEITERUNG DES SEINSSINNES DER GENERATIV KONSTITUIERTEN WELT. DIE FRAGE NACH DER KONSTITUTIVEN MITFUNKTION DER TIERE......Page 614
§1. Tradition, Situation, praktische Umwelt als praktischer universaler Horizont, universale Situation. „Welt für alle“, Allsituation,der allgemeine Geltungsboden......Page 619
§2. Zum invarianten Stil einer Lebenswelt geörig: die Scheidung von Heimat und iterierbarer Fremde......Page 621
§3. Historizität der Lebensumwelt. Die breite Gegenwart als lebendige Gegenwart und die lebendige Vergangenheit......Page 624
§4. Historizität menschlicher Personalität. Modi der Fortgeltung von Vergangenem......Page 629
NR. 49. DIE URZEITIGUNG, IN WELCHER WELT SICH ZEITIGT. DAS STEHENDE STRÖMEN ALS ALLMODIFIZIERENDES URWAHRNEHMEN. DIE LETZTKONKRETE ORIGINALITÄT DER TOTALEN URIMPRESSION......Page 633
Beilage XLVI. Weltgegenwartserfahrung strömend in ihren Horizonten vergangener und zukünftiger Welterfahrung......Page 640
Beilage XLVII. Die im stehenden Strömen in Zeitmodalitäten erscheinende Welt......Page 641
NR. 50. ZEIT DER LEBENSWELT: LEBENDIGE WELTGEGENWART MIT EFFEKTIVER WELTVERGANGENHEIT UND -ZUKUNFT, LEBENDIGE SONDERGEGENWART UND -ZUKUNFT. VERSCHIEDENE GEMEINSCHAFTSHORIZONTE – VERSCHIEDENE GEMEINSCHAFTSGEGENWARTEN. DERÄUßERSTE WELTHORIZONT UND SEIN ALLMENSCHHEITLICHES KORRELAT......Page 647
Beilage XLVIII. Umweltstrukturen nach Zugänglichkeitssphären. Die orientierte Zeitwelt in ihren Zugänglichkeitsausschnitten der Weltgegenwart, Weltvergangenheit, Weltzukunft und in den darüberhinausreichenden Unzugänglichkeitshorizonten......Page 653
NR. 51. PERIODIZITÄT UND APERIODIZITÄT IM ALLTÄGLICHEN ZWECKLEBEN. PERIODIZITÄT ALS PRAKTISCHER HORIZONT......Page 657
Beilage XLIX. Das natürliche praktische Leben: Das Leben im Ernst – das Leben im Spiel, im Schlaf. Das Leben im Ernst in verschiedenem Sinne. Auf Urinstinkte zurückbezogene periodisierte Welt......Page 660
§1. Erwachen und Einschlafen......Page 663
§2. Weckung von Interessen und des für sie Relevanten. Primäres und sekundäres Interesse......Page 668
§3. Wachheit als Gewecktheit aller Interessen und ihrer Relevanzhorizonte. Die ganze vorgegebene Welt als von der Wachheit umspannte Interessenwelt......Page 672
§1. DieWelt – ein Totalerwerb intentionalen Lebens......Page 678
§2. Konstituierende Subjektivität und Mensch in der Welt. Der Erfahrungsvorzug der erfahrenen Menschen im Weltfeld......Page 680
§3. Die Frage nach der Möglichkeit eines menschlichen Solus und einer ihm bewussten menschenlosen Welt......Page 682
§4. Die in jeder vergegenwärtigten vergangenen Weltgegenwart enthaltene leibliche Selbstgegenwart und das Problem des Anfangs meines leiblichen Daseins......Page 683
§5. Die erfahrenden Bewusstseinsweisen, durch welche wir unser als in der Welt seiend, also als Menschen bewusst sind, und der Leib als Organ für die leibhafte Selbstgegebenheit alles Weltlichen......Page 689
§1. Die konkrete lebensweltliche Realität „Mensch“ in ihrerleib-seelischen Doppelschichtigkeit. Die Doppelschichtigkeit des Leibes......Page 694
§2. Die primordiale, nicht-objektive Leib- und Welterfahrung fundierend für objektive Leib- und Welterfahrung......Page 700
§3. Das Zusammenfungieren unabgehobener leiblicher Teilfunktionen in der Einheit einer Handlung und die uneigentliche Lokalisation der Sinnesempfindungsfelder sowie alles verräumlichten Subjektiven......Page 703
Beilage L. Die Art des ständigen Dabeiseins meines Leibes in aller körperlichen Welterfahrung......Page 706
NR. 55. DIE NORMALE WELT ALS KORRELAT DER NORMALEN MENSCHENGEMEINSCHAFT UND DER KONDITIONALE ZUSAMMENHANG ZWISCHEN LEIBESFUNKTIONEN UND NORMALEN BZW. ANOMAL ABWEICHENDEN ERFAHRUNGEN......Page 712
NR. 56. UNSTIMMIGKEIT UND ANOMALITÄT. KONSTITUTION EINER SUBJEKTIV UND INTERSUBJEKTIV EINSTIMMIGEN NATUR NUR DURCH NORMALES ERFAHREN DES ANOMALEN MÖGLICH......Page 720
Beilage LI. Solitäre und intersubjektive Normalität......Page 724
§1. Bezogenheit der erscheinenden Welt auf normale Leiblichkeit. Widersinn des Gedankens, dass jeder Erfahrende in seinen Erfahrungen eine andere Welt konstituieren könnte und es keine gemeinsame Welt gäbe. Wesensnotwendigkeit einer Harmonie aller Erfahrungen......Page 725
§2. Überlegungen über Normalität. Bedingungen, unter denen das Bewusstsein von Anomalität und Normalität erwächst. Wahre Welt und Normalität. Das Normale im Sinne des Durchschnittlichen und das Normale im Sinne des das bessere Recht Gebenden......Page 731
§3. Relativierung normaler Wahrheit auf den jeweiligen Entwicklungsstand der Kunstmittel der Welterkenntnis. Bereicherung der Weltpraxis. Die eine wahre Welt wird Pol unendlicher Approximationsreihen relativ wahrer Welten......Page 734
§4. Abhängigkeit des Erfahrungsgehaltes von der jeweiligen spezifischen Leibesorganisation. Speziesrelative Welten. Rückbeziehung des Sinnes aller Entwicklung auf den Menschen. Relativität der Welt auf menschliche Organisation.Verlegenheiten......Page 737
Beilage LII. Die Schwierigkeit des psychophysischen Relativismus......Page 741
NR. 58. KONSTITUTION EINER GEMEINSAMEN WELT IN EINER GEMEINSCHAFT VON NORMALEN UND ANOMALEN MENSCHEN. VERSCHIEDENE TYPEN DER ANOMALITÄT......Page 743
§1. Einstimmigkeit, Unstimmigkeit und Korrektur von Unstimmigkeit im einzelsubjektiven und intersubjektiven Erfahrungszusammenhang einer darauf relativen Welt......Page 748
§2. Die Formstruktur einer Umwelt überhaupt als Bedingung der Möglichkeit einer Synthese verschiedener Umwelten zu einer wahren Welt. Das Ineinander des Apriori von Welt überhaupt und von Personalität überhaupt......Page 752
§1. Das Bezogensein auf seiende Welt in Form der Bezogenheit auf eine jeweilige Umwelt......Page 756
§2. Recht und Grenze der naturalistischen Auffassung des Menschen. Die Bewusstseinsbeziehung des Menschen-Ich auf die Welt als eine reale Beziehung......Page 760
Beilage LIII. Vorgegebene Welt im Leben und wahre Welt......Page 764
Beilage LIV. Relativismus des Weltlebens: die eine Welt erfahren in Form einer immerzu wechselnden Umwelt. Die Aufgabe einer transzendentalen Ästhetik......Page 766
NR. 61. DAS PROBLEM DES SEINS IN EINER BLOSS RELATIVEN SINNLICHEN WELT. ENDLICHE BESTIMMBARKEIT DER DINGE IN DER PRAXIS DES LEBENS – BESTIMMBARKEIT IN INFINITUM DER DINGE DES REIN SACHLICHEN THEORETISCHEN INTERESSES. DIE ENDGÜLTIGE SACHWAHRHEIT ALS PRAKTISCHE IDEE......Page 769
Beilage LV. Relative Wahrheiten der Praxis – irrelative Wahrheiten des theoretischen Erkenntnisstrebens......Page 777
NR. 62. RELATIVISMUS DES SICHTIGEN UND UNSICHTIGEN. RELATIVISMUS DER NAHWELT UND FERNWELT. ANSCHAULICHE UMWELT FÜR JEDEN MENSCHEN UND GEMEINSAM ALS NAH-FERN-WELT. DARIN PRAKTISCHE WAHRHEIT. DER RELATIVISMUS LEBENSWELTLICHER WAHRHEIT. AKKOMMODATION UND LOKOMOTION. VOM RELATIVEN ZUM ABSOLUTEN RELATIVISMUS......Page 779
NR. 63. RELATIVITÄT UND ZEITRÄUMLICHE GEGENWART. OKKASIONELLE GEGEBENHEIT DER WELT UND ÜBEROKKASIONELLE WAHRHEITEN......Page 785
§1. Relativität aller Erfahrungsurteile von weltlichem Dasein mit Beziehung auf die zum Erfahrungssinn gehörigen kausalen Abhängigkeiten......Page 789
§2. Normalität und Anomalität der Sinnlichkeit. Die Relativität der sinnlichen Erfahrungsgegebenheiten auf die Sinnlichkeit......Page 792
Beilage LVI. Uneigentlicher Sinn von Relativität: Alles und jedes steht in Relationen. Eigentlicher Sinn von Relativität: Ein Ding ist nur denkbar in Beziehung auf zugehörige bedingende Umstände, deren Bestimmung in eine unendliche Relativität führt......Page 797
NR. 65. DIE TRADITIONELLE IDEE DES AN SICH SEIENDEN UND DIE WESENTLICHE RELATIVITÄT DES SEINS DER WELT UND ALLER WELTLICHEN SEINSGELTUNGEN......Page 799
TEXTKRITISCHER ANHANG......Page 809
ZUR TEXTGESTALTUNG......Page 810
TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN......Page 814
NACHWEIS DER ORIGINALSEITEN......Page 1027
NAMENREGISTER......Page 1029
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Die Lebenswelt: Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution [1 ed.]
 9781402064760, 1402064764, 9781402064777 [PDF]

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Zitiervorschau

DIE LEBENSWELT

HUSSERLIANA EDMUND HUSSERL GESAMMELTE WERKE

BAND XXXIX

DIE LEBENSWELT auslegungen der vorgegebenen welt und ihrer konstitution Texte aus dem Nachlass (1916–1937)

AUFGRUND DES NACHLASSES VERÖFFENTLICHT VOM HUSSERL-ARCHIV (LEUVEN) UNTER LEITUNG VON

RUDOLF BERNET UND ULLRICH MELLE

EDMUND HUSSERL DIE LEBENSWELT auslegungen der vorgegebenen welt und ihrer konstitution Texte aus dem Nachlass (1916–1937)

HERAUSGEGEBEN VON

ROCHUS SOWA

Library of Congress Control Number: 2007943195

ISBN 978-1-4020-6476-0 (HB) ISBN 978-1-4020-6477-7 (e-book)

Published by Springer, P.O. Box 17, 3300 AA Dordrecht, The Netherlands.

www.springer.com

Printed on acid-free paper

All Rights Reserved © 2008 Springer Science+Business Media B.V. No part of this work may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise, without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use by the purchaser of the work.

INHALT Einleitung des Herausgebers

. . . . . . . . . . . . . . . . .

xxv

i die vorgegebenheit der welt und vorgegebener weltbestände Nr. 1. Urstiftung des Seinssinnes von vorgegebenem Einzelseienden und von vorgegebener seiender Welt . . . . . . . . . .

1

Nr. 2. Hintergrund und Vorgegebenheit. Unterschiede der Vorgegebenheit. Abgehobenheit und prägnanter Begriff von Vorgegebenheit. Die konstitutive Funktion der Apperzeptionen

7

Beilage I. Hintergrund – vorgegebene Gegenständlichkeit. Endgegenstand und Durchgangseinheiten . . . . . . . . . . . . .

13

Nr. 3. Die Welt vorgegeben aus ursprünglicher Erwerbung – nicht so das Bewusstsein, das Reich der Immanenz . . . . .

19

Beilage II. Vorgegebenheit und Affektivität. Die beständige Vorgegebenheit der Welt, die Anonymität des konstituierenden Subjektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Nr. 4. Die vorgegebene Welt. Allgemeine Aspekte ihres statischen und genetischen Aufbaus . . . . . . . . . . . . . . § 1. Das Feld effektiv bewusster Objekte und der ineffektive Horizont des Unbewussten . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Die als Kulturwelt vorgegebene Welt zurückweisend auf Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26 26 30

vi

inhalt

Beilage III. Die Scheidung von passivem und aktivem Intellekt in eins mit der vertieften Unterscheidung zwischen „sinnlicher“ Gegenständlichkeit und kategorialer. Die Konstitution von Gegenständen im prägnanten Sinn (und somit einer Welt vorgegebener Gegenstände) in Akten der Aktivität . . . . . . . . . . . . .

34

Beilage IV. Vorgegebenheit sinnlicher und synthetischer (kategorialer) Gegenständlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

Nr. 5. Reine Erfahrungswelt, die wahrnehmbare im weitesten Sinn. Vorgegeben. Darin mitvorgegeben: die weltliche Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

Nr. 6. Universum der Vorgegebenheit und Welt. Konstitution des Universums der Vorgegebenheit durch Habitualität . . . .

47

Nr. 7. Urhistorizität der vorgegebenen Welt. Erste und zweite Horizontalität: Horizont als vertrauter Vorgegebenheitsstil und als offener Horizont möglicher neuer Vorgegebenheitsstile. Relativität aller vertrauten Vorgegebenheitsstile . .

53

Nr. 8. Die in vertrauten Individual- und Arttypen vorgegebene Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

ii die horizontstruktur der welterfahrung und der erfahrung von realem in der welt Nr. 9. Auslegung der logischen Ideen „Reales der Welt“ und „Welt selbst“. Welt als Erfahrungshorizont und Welt als logische Idee. Logischer Horizont und Weltbegriff. Totalbegriff des Realen und Totalbegriff der Welt . . . . . . . .

67

Beilage V. Horizontbewusstsein von der Welt und thematische Weltvorstellung. Dingvorstellung gegenüber Weltvorstellung: Welterfahrung und Weltgewissheit . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

inhalt Beilage VI. Erfahrung als Methode einzeldinglicher Kenntnisnahme. Welterfahrung – Einzelerfahrung. Weltbewusstsein als Horizont gegenüber „Welterfahrung“ . . . . . . . . . . . . . . Nr. 10. Das strömende, sich durch Modalisierungen in Einstimmigkeit erhaltende Weltbewusstsein mit seinem Einfühlungshorizont und seinen Zeithorizonten . . . . . . . . . . . . § 1. Die Reduktion auf die Welt rein als Welt der Erfahrung und auf meine konkrete strömende Weltwahrnehmung . . . . § 2. Die strömende Weltwahrnehmung und ihr Einfühlungshorizont. Darin konstituiert eine intersubjektive Gegenwart und die Welt als unser aller Welt . . . . . . . . . . . . . . § 3. Die zum strömenden Weltbewusstsein gehörigen Modalisierungen der Wiedererinnerung und der Einfühlung . . . . § 4. Der Einfühlungshorizont als Geltungshorizont . . . . . .

vii

81

84 85

88 91 94

Beilage VII. Ein Grundstück der Lehre von der Horizontstruktur der Welterfahrung: anschauliche Kernsphäre und Außenhorizont mit seiner stehend-strömenden Nah-Fern-Struktur . . . . . . .

96

Nr. 11. Vorgegebenheit und Horizont. Horizontvorgegebenheit von vorgegebenen Realen. Verschiedene Modi von Vordergrund und Hintergrund. Milieu des Unbewussten. Innenhorizont und Außenhorizont . . . . . . . . . . . . . . . .

99

Nr. 12. Erfahrung von Realem. Systematisches zur Erschließung der Horizonte: Die Struktur des totalen „Erinnerungs“Horizontes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Dingerfahrung als einstimmige Substraterfahrung. „Glatte Identifizierung“ und erste Identität des Substrates . . . . § 2. Die vieldimensionale Horizontstruktur der Dingerfahrung .

105 112

Nr. 13. Der raumzeitliche Totalhorizont der Welt und seine invariante Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

118

Beilage VIII. Die Konstitution der vorgegebenen Welt systematisch auslegen – das ist systematisch die Horizontstruktur derselben auslegen. Das Ineinander der Horizonte. Wichtiges zur Lehre von den Horizonten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

125

105

viii

inhalt

Nr. 14. Das universale Weltbewusstsein als Weltwahrnehmung. Die im Welterscheinen implizierte universale Synthese von Horizonten. Die zum natürlichen Weltbewusstsein gehörende verweltlichende Apperzeption alles Erscheinens und der verweltlichende Horizont möglicher Reflexion . .

130

Nr. 15. Horizontmeinung und ursprüngliche Induktion. Der Welthorizont als strukturierter Leerhorizont . . . . . . .

137

Beilage IX. Appräsentation und Präsentation hinsichtlich einzelner Dinge und hinsichtlich der ganzen Welt. In Leerintentionen konstituierte Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

142

iii orientierungsstrukturen der lebenswelt und die grundstrukturen lebensweltlicher situativität Nr. 16. Orientierung und Zugangspraxis. Ein universales System möglicher räumlicher und zeitlicher Orientierungen als Voraussetzung intersubjektiver Praxis und einer intersubjektiven Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145

Beilage X. Die orientierte Umwelt. „Orientierter“ Raum bzw. wahrnehmungsmäßige Umwelt, Welt überhaupt . . . . . . . . . .

151

Beilage XI. Stufenfolge der Umwelten oder Heimwelten. Heimwelt und Territorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

154

Nr. 17. Zur Orientiertheit des Verstehens: Heimwelt und Fremdwelt. Verstehen von Fremden und von fremden Heimwelten. Religion und Wissenschaft als universale Weltintentionen. Das Fremdmythische. Einwand der Relativität wissenschaftlicher Weltauslegung. Intersubjektive Kritik als Weg zu universaler Welterkenntnis. Deskriptive Wissenschaft . . . . . § 1. Der Mensch als Thema. Verhalten des Menschen. Mensch in der Kulturumwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Exkurs: Universale weltliche Intentionen: Religion und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157 159 164

inhalt § 3. § 4.

Der verständliche apperzeptive Kern fremder Lebenswelt und das unverständliche Fremde. Das Fremd-Mythische . . Einwand der historischen Relativität: Alle unsere Auslegung ist europäisch etc. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

ix

167 170

Beilage XII. Zur Pluralität und situationsabhängigen Aktualisierbarkeit heimweltlicher Wir-Horizonte . . . . . . . . . . . . . .

173

Nr. 18. Nahwelt – Fernwelt. Die Erschlossenheit der nächsten Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175

Nr. 19. Mein (unser) Welthorizont in seiner Zeiträumlichkeit. Zeiträumliche Orientierung: Zeitmodalitäten und räumliche Modalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

Beilage XIII. Induktion in der Welterfahrung und die Konstitution der orientierten Erfahrungswelt als Welt mit Erde und Himmel

184

Nr. 20. Strukturen lebensweltlicher Situativität: Momentansituation – Sondersituation – Situationsganzheit – Allsituation. Einzelsubjektive und gemeinschaftliche Situation. Die bürgerliche Normalwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Das Ineinander der mehr oder minder geweckten Situationen und Situationsganzheiten . . . . . . . . . . . . . . § 2. Unser Situationshorizont im Horizont der bürgerlichen Normalwelt. Die Welt als Totalhorizont aller Lebenswelten . .

195

Nr. 21. Sondersituation und die Welt als Allsituation aller Sondersituationen. Lebenswelt und wahre Welt. Vorwissenschaftliches, situationsrelatives Urteilen und das situationsübergreifende Urteilen in der Wissenschaft . . . . . . . .

200

Beilage XIV. Praktisch verstandene Situation und Wahrnehmungserscheinung. Situationsrelative Optima und das Seiende schlechthin als das absolute Optimum . . . . . . . . . . . . . . . . . .

204

190 190

x

inhalt

iv die apodiktizität der welt und die apodiktischen weltbestände „mein leib“ und „ich dieser mensch“ Nr. 22. Geltungsstil der Erfahrungswelt. Ihre Apodiktizität während der einstimmigen Erfahrung. Erfahrung als apodiktische Zugangsmethode zu Weltlichem und zur Welt selbst. Ihr Sein sich in empirischer Zweifellosigkeit bewährend . .

207

Beilage XV. Apodiktische Antizipation des Seins der Welt im Lauf der Erfahrung. Möglichkeit des Nichtseins der Welt. Die historische Apodiktizität der Weltgewissheit . . . . . . . . . . . .

213

Beilage XVI. Normale, seinsbewährende Welterfahrung als Voraussetzung der Anomalität des Scheins. Konstitution einer einheitlichen Gegenstandswelt durch rückgreifende Korrektur . . . . .

215

Beilage XVII. Zwei Welten für ein Ich. Gedankenexperiment zweier periodisch alternierender Einstimmigkeitssysteme mit alternierenden leiblichen Personalitäten . . . . . . . . . . . .

219

Beilage XVIII. Mögliches Nichtsein der Welt

. . . . . . . . . .

224

Nr. 23. Notwendigkeit der präsumtiven Seinssetzung der Welt in der selbstbewährenden Selbstgebung einstimmiger Welterfahrung. Das Urrecht des Weltglaubens . . . . . . . . . .

231

Beilage XIX. Zur apodiktischen Evidenz der Präsumtion einer Welt

235

Beilage XX. Idee der apodiktischen Evidenz als schlechthin wiederholbare Evidenz und Frage der Apodiktizität der Welterfahrung

237

Beilage XXI. Die zum Erfahrungssinn der Welt gehörige Überzeugung, dass die erfahrene Welt, obwohl das Sein alles Einzelrealen Sein auf Kündigung ist, doch ein Sein in sich trage . . . . . . .

238

Nr. 24. Meditation über die Apodiktizität des Ich-bin und inwiefern sie Welthabe als apodiktisch in sich birgt . . . . . . .

243

inhalt Nr. 25. Die apodiktische Gewissheit meines menschlich-leiblichen Seins als Teil der apodiktischen Gewissheit des Seinsbodens „Welt“. Zurückweisung des cartesischen Zweifelsversuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

xi

251

v die realitätenstruktur der lebenswelt – natur als abstrakte kernschicht der welt Nr. 26. Der natürliche Weltbegriff. Systematischer Abbau der konkreten Erfahrungswelt auf die abstrakte Kernschicht „Natur“ im Ausgang von der konkreten Erfahrungswelt. . . § 1. Die Aufgabe der Herausstellung des Apriori der konkreten Erfahrungswelt und die Idee eines abstraktiven Verfahrens zwecks Rekonstruktion ihrer vollen Konkretion . . . . . § 2. Der geordnete abstraktive Abbau alles Subjektiven der konkreten Erfahrungswelt zwecks Gewinnung der bloßen Natur: der Abbau der Prädikate geistiger Bedeutung, der Gefühlsund Wertprädikate, der Stimmungscharaktere, der subjektiven Erscheinungsweisen sowie der Abbau der leiblichen welterfahrenden Animalien zu Organismen . . . . . . . § 3. Allnatur und Allgeist. Das Fehlen einer geschlossenen Erfahrungseinheit alles Subjektiven. Die Universalität der subjektiven Erscheinungsweisen und die eigenwesentlich geschlossene seelische Innerlichkeit der Leiber . . . . . . . Nr. 27. Der naturale Kern der Welt in seinem jeweiligen Erfahrungssinn ist ein Erzeugnis erfahrenden Tuns. Gleichstellung der naturalen Erscheinungsweisen und der Kulturgebilde. Erscheinungsweisen als Gegenstände der Praxis . . . Nr. 28. Die allgemeine Realitätenstruktur der Welt der Erfahrung und ihre fundierende Struktur „Natur“. Regionale Artungen der Selbsterhaltung und der Veränderung von konkreten Realitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Methode der Konzeption der invarianten Wesensform einer möglichen Erfahrungswelt überhaupt . . . . . . . . . . § 2. Veränderungsarten von Realem . . . . . . . . . . . . .

259

259

265

272

275

281 281 283

xii

inhalt § 3.

Regionsspezifische Arten der Selbsterhaltung konkreter Realitäten und regionsspezifische Arten des Übergangs von Erhaltung zu Vernichtung . . . . . . . . . . . . . . .

286

Beilage XXII. Naturale Veränderungsarten von Realem: Zusammenstückung und Teilung, Mischung und Entmischung. Naturkausalität und die Möglichkeit personalen Eingreifens in das Naturgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291

Nr. 29. Welt – reale und ideale Gegenstände. Der naturale Kern der erscheinenden Realitätenwelt und die Weltlichkeit der idealen Gegenständlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Die Identitätsstruktur der vorgegebenen intersubjektiv erfahrbaren Welt und ihre beiden Schichten von Wesensformen: Formen des naturalen Kerns und Formen der kulturalen Bestimmtheit. Unbedingt objektive und relativ objektive Weltwahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Ideale und reale Gegenständlichkeiten. Personen und personale Gemeinschaften. Freie und gebundene Idealitäten . .

298

Nr. 30. Natur in der Umweltlichkeit und Natur an sich. Gewohnheitsstil der Umwelt als kausaler Stil. Gegenüber dieser umweltlichen „Kausalität“ die exakte Kausalität. Homogenisierung von irdischer Umwelt und Himmelswelt . . . .

301

294

294

vi die lebenswelt als personale welt der praxis und welt der von praktischen zielen begrenzten endlichen erkenntnisinteressen Nr. 31. Endlichkeit der Praxis. Endliche Umwelt als praktische. Die praktische Umwelt als Horizont wirklicher und möglicher Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

307

Nr. 32. Die zur Lebensumwelt als praktischer Welt gehörigen handelnden Menschen, Handlungen und Handlungsergebnisse mit ihrem teleologischen Gesicht . . . . . . . . . . .

311

inhalt

xiii

Beilage XXIII. Das Wertantlitz der vorgegebenen Welt. Das urnormale Gesicht der Weltumgebung. Anomalität und Normalität. Akterfüllung als Zielenthüllung . . . . . . . . . . . . . . .

314

Nr. 33. Personale Struktur der Welt. Meine konkrete Erfahrungswelt implizierend den Horizont der praktisch verbundenen Mitmenschen. Personale Substanz und personale Zuständlichkeit. Das Moment der Erfahrung in allem personalen Tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

319

Nr. 34. Formstrukturen der als personale Welt vorgegebenen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Zeug und Zwecke, einzelpersonale und gemeinschaftliche. Schon seiende Welt als Materie für die seinsollende Welt. Natur als letzte Materie . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Das Kulturgesicht der von Subjekten her entsprungenen Welt. Praktische Nahwelt und außerpraktische Fernwelt . . § 3. Territorium und das von Urbedürfnissen bestimmte Zweckleben. Primäres und sekundäres Zweckleben. Lebensverbundenheit in einer All-Gemeinschaft . . . . . . . . . . § 4. Bewusstseinsmäßig bleibende Bedürfnisse und die uns bewusstseinsmäßig gemeinsame Welt als Interessenfeld. Der ursprüngliche und der phänomenologische Begriff von „Horizont“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nr. 35. Lebenswelt als Umwelt einer Menschheit, in sich geschlossen lebend. Lebenswelt als historische Welt. Lebenswelt als generative Heimwelt oder Fremdwelt, als völkische Umwelt und als Welt von sachlichen Ausdrucksgebilden . . § 1. Die Epoché von naiver Wissenschaft und Philosophie und die erkenntnistheoretische Besinnung auf das natürliche vorwissenschaftliche Leben und seine Welt . . . . . . . . . . . § 2. Das natürliche Weltleben als Leben in traditional bestimmten Heimwelten. Begegnung mit fremden Menschheiten und ihren Welten. Historizität menschlichen Lebens und seine konkret erfüllte generative Welt (völkische Umwelt) . . . § 3. Die menschliche Umwelt, sich konstituierend durch Ausdruck und Ausdrucksverstehen. Die Welt der versachlichten Geistigkeit mit ihrem Ineinander von Sinnbeständen. Intentionaler Konnex einander fremder Völker – übergreifende Historizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

325

325 328

330

332

335

335

339

345

xiv

inhalt

Nr. 36. Vorauswissen und das Interesse an gesichertem Wissen als Bestandstücke lebensweltlicher Praxis . . . . . . . . § 1. Das Wissen von der im Leben vorgegebenen Welt impliziert Vorauswissen von ihren künftigen Veränderungen und Unveränderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Die intersubjektiven Welten des Handelns und das Erwachen des Interesses an der einen objektiven Welt für alle

350

350 354

Nr. 37. Grundmodi des Handelns und die zum Handeln gehörigen Horizonte: Momentanhorizont, eigentlich praktischer Horizont, Universalhorizont „Welt“. Die Welt der Werke und Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Modi des Ich-tue – Modi des Zugewendetseins. Vordergrund, Hintergrund und der ständige Universalhorizont „Welt“ als implizierter Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Wahrnehmen und Erfahren als Modi welterwerbenden Tuns. Der zu jedem Tun gehörige lebendige Könnenshorizont und der offene praktische Horizont „Welt“ . . . . . . . . . § 3. Der innerhalb des Universalhorizontes „Welt“ ausgezeichnete spezifisch praktische Horizont. Praxis und Pragma. Das Woraufhin von Handlungen: Werke und Vorgangstaten . . § 4. Die besondere Lebendigkeit des spezifisch praktischen Horizontes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 5. Der „lebendige praktische Horizont“ und die Welt der Güter

372 375

Beilage XXIV. Schichtung im praktischen Horizont

. . . . . . .

379

Beilage XXV. Das Wahrnehmen als Tun und als Erzeugen der Selbstdarstellung des Gegenstandes. Wahrnehmen impliziert in allem Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

380

Beilage XXVI. Die Urpraxis des Wahrnehmens fundierend alle sonstige Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

382

Nr. 38. Die Lebenswelt als Umwelt personaler Verbände und als Umwelt einer All-Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . .

385

Beilage XXVII. Berufe im normalen Volk und ihre Geschichtlichkeit. Zur Phänomenologie der Berufe . . . . . . . . . . . .

392

357

357

363

368

inhalt

xv

Beilage XXVIII. Territorium. Personale Raumzeitlichkeit in ihren Personalstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

394

Beilage XXIX. Eigentum. Das Objektfeld im Horizont von Zueignung und Verfügung, von Einstimmigkeit und Streit . . . . . .

395

Beilage XXX. Zur haptischen Konstitution der praktischen Welt. Der Vorzug der Tastwahrnehmungen vor den visuellen Wahrnehmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

396

Nr. 39. Die herauszukorrigierende wahre Lebenswelt als Grundlage lebensweltlicher Praxis. Welt und Umwelt. Konstitution der Welt in ihrem ins Unendliche in relativ „stabilen“ Umwelten zeitweiligen Sich-Darstellen. Durchgeführt an der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

401

vii die welt als erwerb. struktur und genesis der weltapperzeption und der apperzeptionen von weltlich seiendem Nr. 40. Zur Theorie der Apperzeption: Perzeption und Apperzeption. Verschiedene Arten der Apperzeption . . . . . . . . . § 1. Abbau meines Weltphänomens auf die rein aus Perzeption und Apperzeption gegebene Welt. Der prägnante Begriff von Perzeption und Apperzeption . . . . . . . . . . . . § 2. Anzeigende (rückverweisende und vorverweisende) und analogisierende Apperzeption. Bildapperzeption und Epoché . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

413

Beilage XXXI. Apperzeption als transzendente Selbstgebung, als anschauliche seiende Welt schaffend. Analogisierende und praktische Apperzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

418

Beilage XXXII. Ursprünglich präreflexive Apperzeption des identischen Ich. Das Vermögens-Ich in jeder transzendenten Apperzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

421

Beilage XXXIII. Wissensbeläge, Auffassungen „geistiger“ Eigenschaften. Der Begriff des Wissensbelages . . . . . . . . . . .

423

409

409

xvi

inhalt

Beilage XXXIV. Natur und Geist vor der Wissenschaft, in der bloßen Erfahrung – Die apperzeptiven Typen: leblose Dinge, Animalien, Kulturobjekte, Subjekt-Objekte als Träger kultureller Bedeutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

426

Beilage XXXV. Bekanntheit und Fremde. Individualtypische Auffassung. Apperzeption – verähnlichende Übertragung. Wiedererkennen. Inaktive Konstitution als Unterlage alles aktiven Leistens

429

Beilage XXXVI. Der beständige Wandel der Bekanntheits- und Unbekanntheitshorizonte in der Apperzeption von Realem . . . .

434

Nr. 41. Erfahrung als Handlung führt auf einen unendlichen Regress. – Wie ist ursprüngliche Erwerbung der Welt möglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

438

Beilage XXXVII. Die „Genesis“ der Welt als für uns seiender in ihrem Doppelsinn. Stumme und ausgesprochene Welt. Problem der Genesis des Stils der Welterfahrung . . . . . . . . . . . .

445

Nr. 42. Konstitution von Seiendem, von Einem, Einheit und Mehrheit. Assoziation von Seienden, Mehrheit von Gleichen, Mehrheit von Ähnlichen. Welt als Universum – offener Mehrheitshorizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Apperzeptive Konstitution von Seiendem als Einheit passiver Selbstdeckung und aktiver Identifizierung. Die darin fundierte Konstitution von Mehrheiten . . . . . . . . . § 2. Apperzeption von Mehrheiten von Gleichen bzw. Ähnlichen

450 456

Beilage XXXVIII. Synthesen der Identifikation und Synthesen der Unterschiedenheit bei Einheiten und Mehrheiten. Welterfahrung – eine universale Synthesis der Assoziation. Modi der Aktivität und der Inaktivität. Apperzeptiver Erwerb von Seinssinn

461

Nr. 43. Das Problem des Anfangs der (primordialen) Subjektivität. Anfangende Affektion als instinktive. Methode der Rekonstruktion (zur Methode transzendentalästhetischer Auslegung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Zur Rekonstruktion der ersten Kindheit: Ur-Affektion und Anfang strömender Zeitigung . . . . . . . . . . . . .

450

466 466

inhalt § 2.

xvii

Das Ich des konstitutiven Anfangs: ein Ich gerichteter Instinkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Statische und genetische Konstitution. Fragen zur Methode der Rekonstruktion in Bezug auf „Randprobleme“ der Weltkonstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

477

Beilage XXXIX. Konstitution intentionaler Einheiten in purer Passivität: das Einbrechen des Hyletischen in assoziativer Abhebung und die Uraffektion des Abgehobenen . . . . . . . . . . . .

482

Beilage XL. Zum Stufengang der transzendentalen Interpretation des Weltphänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

485

Beilage XLI. Exposition der allgemeinen Problematik der statischen und genetischen Auslegung der Weltapperzeption. Mit einer kritischen Note zu Heideggers „Seinsverständnis“ . . . . . . . .

487

§ 3.

Nr. 44. Die primordiale Zeitwelt und ihre apperzeptiven Erweiterungen zur vollen intersubjektiven Zeitwelt. Historische Apperzeptionen. Primordiale und intersubjektive Historizität der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Die Endlichkeit der primordial zugänglichen Zeitwelt und die menschheitlich-generative Zeitwelt in ihrer intersubjektiven Zugänglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Apperzeption in ihrer Funktion der erweiternden Erfahrungsbildung. Rückgewendete Apperzeptionen. Historizität der primordialen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3. Historische Apperzeption. Doppelschicht der Konstitution als fortschreitende und rückschreitende . . . . . . . . . § 4. Zur prinzipiellen Endlichkeit der primordialen Erfahrungssphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

474

495

495

502 505 507

Beilage XLII. Höhere Konstitutionsstufen. Apperzeptive Erweiterungen der generativ konstituierten geschichtlichen Lebenswelt: die Welten der Tiere und die vorgeschichtliche Naturwelt . . . .

509

Nr. 45. Die vorgegebene Lebenswelt – ein apperzeptives Sinn- und Geltungsgebilde, das immer neue apperzeptive Sinnesauflagen als Geltungen-für in sich aufnimmt . . . . . . . . . . . .

514

xviii

inhalt

Nr. 46. Die Lebenswelt als Geltungswelt in traditionalem Wandel und in traditionaler Selbsterhaltung. Erweiterungen unserer generativen Geltungswelt und ihre Tendenz auf eine übernationale irdische Kultur . . . . . . . . . . . . . . .

519

Beilage XLIII. „Tradition“. Konkrete Lebenswelt als Welt aus Tradition. Lebendige und überlebte Tradition . . . . . . . . . .

525

Beilage XLIV. Generative Lebensgemeinschaften als Willensgemeinschaften höherer Stufe. Fortschreiten zu einer universalen Menschheit mit einer einheitlichen historischen Umwelt. Alles Weltliche historisch vorgegeben . . . . . . . . . . . . . . .

527

Beilage XLV. Modi der „Vererbung“ von Geltungen: schlichte, gebrochene und in ungebrochene Tradition umkorrigierte Tradition. Selbsteigene und gemeinschaftliche Tradition. Der Seinssinn „Welt“ als Gemeinschaftsleistung universaler Tradition . . . .

530

Nr. 47. Weiteres zur Konstitution der Aufstufung der Welt: Die konstitutive Leistung der Historie und Naturhistorie für die Erweiterung des Seinssinnes der generativ konstituierten Welt. Die Frage nach der konstitutiven Mitfunktion der Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

537

Nr. 48. Lebensweltliche Situativität und Historizität. Situation als praktischer Horizont. Heimat und Fremde. Die lebendige Gegenwart der Lebenswelt und ihre lebendige Vergangenheit § 1. Tradition, Situation, praktische Umwelt als praktischer universaler Horizont, universale Situation. „Welt für alle“, Allsituation, der allgemeine Geltungsboden . . . . . . . . . § 2. Zum invarianten Stil einer Lebenswelt gehörig: die Scheidung von Heimat und iterierbarer Fremde . . . . . . . . § 3. Historizität der Lebensumwelt. Die breite Gegenwart als lebendige Gegenwart und die lebendige Vergangenheit . . § 4. Historizität menschlicher Personalität. Modi der Fortgeltung von Vergangenem . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

542

542 544 547 552

inhalt

xix

viii allgemeine aspekte der zeitlichen konstitution der lebenswelt und der aspekt ihrer konstitution in periodizitäten Nr. 49. Die Urzeitigung, in welcher Welt sich zeitigt. Das stehende Strömen als allmodifizierendes Urwahrnehmen. Die letztkonkrete Originalität der totalen Urimpression . . . .

557

Beilage XLVI. Weltgegenwartserfahrung strömend in ihren Horizonten vergangener und zukünftiger Welterfahrung . . . . . .

564

Beilage XLVII. Die im stehenden Strömen in Zeitmodalitäten erscheinende Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

565

Nr. 50. Zeit der Lebenswelt: lebendige Weltgegenwart mit effektiver Weltvergangenheit und -zukunft, lebendige Sondergegenwart und -zukunft. Verschiedene Gemeinschaftshorizonte – verschiedene Gemeinschaftsgegenwarten. Der äußerste Welthorizont und sein allmenschheitliches Korrelat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

571

Beilage XLVIII. Umweltstrukturen nach Zugänglichkeitssphären. Die orientierte Zeitwelt in ihren Zugänglichkeitsausschnitten der Weltgegenwart, Weltvergangenheit, Weltzukunft und in den darüberhinausreichenden Unzugänglichkeitshorizonten . . . . . .

577

Nr. 51. Periodizität und Aperiodizität im alltäglichen Zweckleben. Periodizität als praktischer Horizont . . . . . . . . .

581

Beilage XLIX. Das natürliche praktische Leben: Das Leben im Ernst – das Leben im Spiel, im Schlaf. Das Leben im Ernst in verschiedenem Sinne. Auf Urinstinkte zurückbezogene periodisierte Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

584

Nr. 52. Wachheit und Schlaf – elementare Perioden des Weltlebens. Einschlafen und Erwachen als Totalphänomene ichlichen Lebens. Weckung von Interessen und ihrer affektiven Relevanzhorizonte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Erwachen und Einschlafen . . . . . . . . . . . . . . .

587 587

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inhalt § 2. § 3.

Weckung von Interessen und des für sie Relevanten. Primäres und sekundäres Interesse . . . . . . . . . . . . . Wachheit als Gewecktheit aller Interessen und ihrer Relevanzhorizonte. Die ganze vorgegebene Welt als von der Wachheit umspannte Interessenwelt . . . . . . . . . . .

592

596

ix leiberfahrung als notwendiges moment der welterfahrung. normalität der leiblichkeit und normalität überhaupt in ihrer weltkonstitutiven funktion Nr. 53. Menschliche Selbsterfahrung und leiblich vermittelte Welterfahrung. Intentionalität als menschliche, aber der Mensch selbst intentionale Habe . . . . . . . . . . . . . § 1. Die Welt – ein Totalerwerb intentionalen Lebens . . . . . § 2. Konstituierende Subjektivität und Mensch in der Welt. Der Erfahrungsvorzug der erfahrenen Menschen im Weltfeld § 3. Die Frage nach der Möglichkeit eines menschlichen Solus und einer ihm bewussten menschenlosen Welt . . . . . . § 4. Die in jeder vergegenwärtigten vergangenen Weltgegenwart enthaltene leibliche Selbstgegenwart und das Problem des Anfangs meines leiblichen Daseins . . . . . . . . . . . § 5. Die erfahrenden Bewusstseinsweisen, durch welche wir unser als in der Welt seiend, also als Menschen bewusst sind, und der Leib als Organ für die leibhafte Selbstgegebenheit alles Weltlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nr. 54. Objektive lebensweltliche Leiberfahrung und die primordiale Leiberfahrung in ihrer Fundierungsfunktion für objektive Welterfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Die konkrete lebensweltliche Realität „Mensch“ in ihrer leib-seelischen Doppelschichtigkeit. Die Doppelschichtigkeit des Leibes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Die primordiale, nicht-objektive Leib- und Welterfahrung fundierend für objektive Leib- und Welterfahrung . . . . § 3. Das Zusammenfungieren unabgehobener leiblicher Teilfunktionen in der Einheit einer Handlung und die uneigentliche Lokalisation der Sinnesempfindungsfelder sowie alles verräumlichten Subjektiven . . . . . . . . . . . . . .

603 603 605 607

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619

619 625

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inhalt

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Beilage L. Die Art des ständigen Dabeiseins meines Leibes in aller körperlichen Welterfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . .

631

Nr. 55. Die normale Welt als Korrelat der normalen Menschengemeinschaft und der konditionale Zusammenhang zwischen Leibesfunktionen und normalen bzw. anomal abweichenden Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

637

Nr. 56. Unstimmigkeit und Anomalität. Konstitution einer subjektiv und intersubjektiv einstimmigen Natur nur durch normales Erfahren des Anomalen möglich . . . . . . . . . . .

645

Beilage LI. Solitäre und intersubjektive Normalität

649

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Nr. 57. Paradoxie der psychophysischen Relativität. Natur und normale Leiblichkeit. Idee der Normalität . . . . . . . . . § 1. Bezogenheit der erscheinenden Welt auf normale Leiblichkeit. Widersinn des Gedankens, dass jeder Erfahrende in seinen Erfahrungen eine andere Welt konstituieren könnte und es keine gemeinsame Welt gäbe. Wesensnotwendigkeit einer Harmonie aller Erfahrungen . . . . . . . . . . . § 2. Überlegungen über Normalität. Bedingungen, unter denen das Bewusstsein von Anomalität und Normalität erwächst. Wahre Welt und Normalität. Das Normale im Sinne des Durchschnittlichen und das Normale im Sinne des das bessere Recht Gebenden . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3. Relativierung normaler Wahrheit auf den jeweiligen Entwicklungsstand der Kunstmittel der Welterkenntnis. Bereicherung der Weltpraxis. Die eine wahre Welt wird Pol unendlicher Approximationsreihen relativ wahrer Welten. . . § 4. Abhängigkeit des Erfahrungsgehaltes von der jeweiligen spezifischen Leibesorganisation. Speziesrelative Welten. Rückbeziehung des Sinnes aller Entwicklung auf den Menschen. Relativität der Welt auf menschliche Organisation. Verlegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

650

650

656

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662

Beilage LII. Die Schwierigkeit des psychophysischen Relativismus

666

Nr. 58. Konstitution einer gemeinsamen Welt in einer Gemeinschaft von normalen und anomalen Menschen. Verschiedene Typen der Anomalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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inhalt

x viele umwelten und die eine wahre welt. die relativität lebensweltlicher wahrheit und das an-sich-sein der welt Nr. 59. Grundlegende Untersuchungen zur Klärung der Ideen „Umwelt“ und „wahre Welt“. Und von da aus Klärung der personalistischen Einstellung . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Einstimmigkeit, Unstimmigkeit und Korrektur von Unstimmigkeit im einzelsubjektiven und intersubjektiven Erfahrungszusammenhang einer darauf relativen Welt . . . . . § 2. Die Formstruktur einer Umwelt überhaupt als Bedingung der Möglichkeit einer Synthese verschiedener Umwelten zu einer wahren Welt. Das Ineinander des Apriori von Welt überhaupt und von Personalität überhaupt . . . . . . . .

673

673

677

Nr. 60. Die individuellen und intersubjektiven Umwelten als Aspekte der einen in allen Umwelten vermeinten Welt. Reale Weltbezogenheit in der Form realer Intentionalität . . . . § 1. Das Bezogensein auf seiende Welt in Form der Bezogenheit auf eine jeweilige Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Recht und Grenze der naturalistischen Auffassung des Menschen. Die Bewusstseinsbeziehung des Menschen-Ich auf die Welt als eine reale Beziehung . . . . . . . . . . . . . .

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Beilage LIII. Vorgegebene Welt im Leben und wahre Welt . . . .

689

Beilage LIV. Relativismus des Weltlebens: die eine Welt erfahren in Form einer immerzu wechselnden Umwelt. Die Aufgabe einer transzendentalen Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . .

691

Nr. 61. Das Problem des Seins in einer bloß relativen sinnlichen Welt. Endliche Bestimmbarkeit der Dinge in der Praxis des Lebens – Bestimmbarkeit in infinitum der Dinge des rein sachlichen theoretischen Interesses. Die endgültige Sachwahrheit als praktische Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

694

Beilage LV. Relative Wahrheiten der Praxis – irrelative Wahrheiten des theoretischen Erkenntnisstrebens . . . . . . . . . . . .

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681 681

inhalt

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Nr. 62. Relativismus des Sichtigen und Unsichtigen. Relativismus der Nahwelt und Fernwelt. Anschauliche Umwelt für jeden Menschen und gemeinsam als Nah-Fern-Welt. Darin praktische Wahrheit. Der Relativismus lebensweltlicher Wahrheit. Akkommodation und Lokomotion. Vom relativen zum absoluten Relativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

704

Nr. 63. Relativität und zeiträumliche Gegenwart. Okkasionelle Gegebenheit der Welt und überokkasionelle Wahrheiten . .

710

Nr. 64. Relativität aller Erfahrungsurteile auf Umstände der Erfahrung. Relativität alles Erfahrenen auf Sinnlichkeit § 1. Relativität aller Erfahrungsurteile von weltlichem Dasein mit Beziehung auf die zum Erfahrungssinn gehörigen kausalen Abhängigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2. Normalität und Anomalität der Sinnlichkeit. Die Relativität der sinnlichen Erfahrungsgegebenheiten auf die Sinnlichkeit

717

Beilage LVI. Uneigentlicher Sinn von Relativität: Alles und jedes steht in Relationen. Eigentlicher Sinn von Relativität: Ein Ding ist nur denkbar in Beziehung auf zugehörige bedingende Umstände, deren Bestimmung in eine unendliche Relativität führt. . . . .

722

Nr. 65. Die traditionelle Idee des an sich Seienden und die wesentliche Relativität des Seins der Welt und aller weltlichen Seinsgeltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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714

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TEXTKRITISCHER ANHANG Zur Textgestaltung . . . . . Textkritische Anmerkungen . Nachweis der Originalseiten Namenregister . . . . . . .

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EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS Der vorliegende Band bietet eine Auswahl von Nachlasstexten, in denen sich Husserl der „Auslegung der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution“1 widmet. Durch diese Aufgabenstellung erhalten die aus einem Zeitraum von zwei Jahrzehnten stammenden und eine Vielzahl von Themen behandelnden Texte eine sachliche Einheit und zugleich einen Bezug auf den Zentralbegriff von Husserls Spätwerk: den Begriff „Lebenswelt“. Der Begriff der Lebenswelt und die Idee einer Wissenschaft von der Lebenswelt werden gewöhnlich nur mit Husserls letzter Schaffensperiode und insbesondere mit seiner letzten Schrift, der 1936 teilweise veröffentlichten Abhandlung Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie,2 in Verbindung gebracht; aber der Begriff der Lebenswelt und die Idee ihrer wissenschaftlichen Behandlung tauchen bei Husserl sehr viel früher, und zwar schon in seinen Göttinger Jahren auf. Um den Zusammenhang von Husserls früher und später Phänomenologie der Lebenswelt aufzuzeigen, soll im Folgenden auf ihre Entwicklung und zunächst auf die diese Entwicklung bestimmenden Anfänge eingegangen werden. Da diese Anfänge unter dem Einfluss von Richard Avenarius und Wilhelm Dilthey standen und Husserl in Auseinandersetzung mit deren Werken seinen Begriff der Lebenswelt und seine Idee einer apriorischen deskriptiven Lebensweltwissenschaft entwickelte, soll zuerst die von diesen beiden Denkern wesentlich mitbestimmte Frühphase relativ ausführlich dargestellt werden. Anschließend wird die Entfaltung dieser Idee von Beginn der zwanziger Jahre bis zur Mitte der dreißiger Jahre verfolgt; in diesem Zeitraum rückte die 1 Dieser Ausdruck entstammt der Aufschrift auf dem Innenumschlag 2/17 des Konvoluts D 1. Siehe unten die Textbeschreibung zu Text Nr. 9 auf S. 762. 2 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Husserliana VI, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 21976. In der Zeitschrift Philosophia wurden 1936 nur die beiden ersten Teile der Krisis (§§ 1–27) veröffentlicht; ihre vollständige Publikation erfolgte erst 1954 in Husserliana VI.

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Lebenswelt und ihre Konstitution mehr und mehr ins Zentrum von Husserls Forschungen und wurde schließlich zum beherrschenden Thema seiner Spätphilosophie. Im abschließenden Teil dieser Einleitung wird ein kurzer Überblick über die Hauptthemen der im vorliegenden Band veröffentlichten Texte gegeben, in deren konkreten deskriptiven Analysen Husserls Begriff von Lebenswelt einen reichen Inhalt und seine Idee einer apriorischen Wissenschaft von der Lebenswelt die Gestalt ausführender Arbeitsphilosophie erhält. * Husserls Projekt einer „Wissenschaft von der Lebenswelt“1, das er in den 20er Jahren zunächst unter dem Titel „transzendentale Ästhetik“ entwickelte und das eine Ontologie und eidetische Phänomenologie der konkreten, anschaulich erfahrenen und handelnd gestalteten Welt umfassen sollte,2 artikuliert ein zentrales Anliegen der sich als strenge Wissenschaft verstehenden Philosophie Husserls: die sich im Rahmen einer eigenen Wissenschaft vollziehende Rehabilitierung der subjektiv-relativen anschaulichen Welt gegenüber dem sie entwertenden Objektivismus der Naturwissenschaften und der naturalistischen Philosophien. Fixiert auf die als an sich exakt bestimmt gedachte und in wissenschaftlichen Aussagen exakt bestimmbare objektive Welt, überspringen diese nämlich die auf menschliche Subjekte relative perspektivische Welt alltäglicher Anschauung und Praxis, in der wir uns als Handelnde immer schon und auch als Wissenschaft Treibende notwendig bewegen, und setzen sie zu etwas bloß Subjektivem herab, das für die objektive, entperspektivierende Bestimmung des An-Sich der Welt nur ein irrelevantes Durchgangsphänomen ist. Husserls zunächst wissenschaftstheoretisch motiviertes und insbesondere durch das Interesse an der Begründung der Einteilung der Wissenschaften in Geistes- und Naturwissenschaften bestimmtes Projekt einer Wissenschaft von der Lebenswelt diente nicht zuletzt der für das Selbstverständnis des Menschen wichtigen Rehabilitierung dieser bloß subjektiven Welt. Als deskriptiv verfahrende apriorische Wissenschaft sollte diese Lebensweltwissenschaft 1 2

Siehe Husserliana VI, § 34 ff. Auf Husserls transzendentale Ästhetik wird unten (S. L–LV) näher eingegangen.

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in konkreten Analysen die invarianten Strukturen der vorgegebenen Erfahrungswelt und der sie „konstituierenden“ Welterfahrung aufweisen und so Wissenschaftlichkeit in einer Sphäre etablieren, die der szientistische Objektivismus als Sphäre bloßer Doxa entwertet. Husserls Rehabilitierung der anschaulichen Welt der Praxis mündete schließlich in die Einsicht, dass diese subjektiv-relative Welt gegenüber dem von den exakten Naturwissenschaften herausgearbeiteten Logos der Natur vorrangig ist. Sie besitzt nicht nur einen unaufhebbaren Eigenwert, sondern auch eine eigene, von der „objektiven“ Wahrheit unabhängige Wahrheit; denn „alles ‚Logische‘ entspringt eben aus einer vorlogischen Sphäre, die ihre eigene Vernunft hat, ihre eigene alles tragende Wahrheit.“1 Diese vorlogische oder vorwissenschaftliche Sphäre ist die Lebenswelt, die, in ihrer vollen Konkretion genommen, „die einzig wahre Welt“ ist, „die einzige, von der wir reden können, in die jede neu auftretende Wissenschaft hineinwächst und sich einfügt, ebenso wie jede sonstige Praxis und ihre neuerzeugten Gebilde“.2 Der Gedanke der Aufwertung der Welt der Wahrnehmung und der Alltagspraxis gegenüber der durch die exakten Wissenschaften entworfenen objektiven Welt an sich verbindet sich also bei Husserl mit dem Gedanken einer radikalen Wissenschaftsbegründung; diese besteht in dem Aufweis der Lebenswelt als der notwendig ersten Welt, die als das wissenschaftlich zu bestimmende anschauliche Substrat aller Wissenschaft vorgegeben ist und als intersubjektive Welt der Praxis und der Kommunikation die unhintergehbaren Voraussetzungen aller Wissenschaft enthält. * Die Verbindung dieser beiden Gedanken, die ihre reifste und ausführlichste Formulierung in der Krisis-Schrift gefunden hat, findet sich bei Husserl ansatzweise schon in seiner Göttinger Vorlesung 1 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband. Texte aus dem Nachlass 1934–1937. Husserliana XXIX, hrsg. von Reinhold N. Smid, Dordrecht/Boston/London 1993, S. 154. „Logisch“ besagt hier, wie aus einem Manuskript aus dem Jahr 1931 hervorgeht, soviel wie „im Sinn des Logos“ oder „im Sinn der ‚Wissenschaft‘“. (Ms. B I 38/182b–183a). 2 Husserliana XXIX, S. 140.

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des Sommersemesters 1907, dem sogenannten „Dingkolleg“. Darin formuliert Husserl erstmals den für seine Phänomenologie der Lebenswelt wichtigen Gedanken, dass sich die Konstitution von Dingen, Dingeigenschaften und Dingkonstellationen und schließlich die Konstitution der gesamten Dingwelt prinzipiell in orientierter Weise durch einen Leib und damit von einem jeweiligen absoluten Hier aus vollzieht.1 In dieser unter dem Titel „Hauptstücke aus der Phänomenologie und Kritik der Vernunft“ gehaltenen Vorlesung formuliert Husserl mit Blick auf die moderne Physik den für seine Lebensweltkonzeption grundlegenden Gedanken, dass die in vorwissenschaftlicher Erfahrung vorgegebene konkrete Welt Boden und Voraussetzung jeglicher Wissenschaft und insbesondere auch der exakten Naturwissenschaft ist: „Mag die Weltauffassung der Wissenschaft sich noch so sehr entfernen von derjenigen des vorwissenschaftlichen Erfahrens […], es bleibt doch dabei, daß die schlichte Erfahrung, die unmittelbare Wahrnehmung, Erinnerung usw. ihr die Dinge gibt, die sie nur abweichend von der gewöhnlichen Denkweise bestimmt.“2 Aus dieser Entgegensetzung von wissenschaftlich bestimmter bzw. noch zu bestimmender objektiv „wahrer Welt“ und vorwissenschaftlich erfahrener Welt sowie aus der Verwiesenheit jener auf diese erhält der Begriff der Lebenswelt bei Husserl eine erste und bleibende Bestimmung: Die Lebenswelt ist die anschauliche konkrete Welt, die aller Wissenschaft vorgegeben ist und auf die sie ihrem eigenen Sinn nach bezogen ist. Diese Welt wird von Husserl in der auf die methodologischen „fünf Vorlesungen“ des Dingkollegs folgenden eigentlichen Dingvorlesung so charakterisiert, wie sie sich „dem natürlichen Auffassen“3 vor aller Wissenschaft darstellt. Die sich am Beginn der Vorlesung 1 Siehe Karl Schuhmann, Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Husserls, Husserliana Dokumente I, Den Haag 1977, S. 104. Zur besonderen Stellung des Dingkollegs in der Entwicklung der Husserl’schen Phänomenologie siehe die Einleitungen der Herausgeber zu den Husserliana-Bänden II und XVI, in denen das Dingkolleg vollständig ediert wurde (Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen. Husserliana II, hrsg. von Walter Biemel. Nachdruck der 2. erg. Auflage, Den Haag 1973 (1950, 21952), S. VII–XI; Edmund Husserl, Ding und Raum. Vorlesungen 1907, Husserliana XVI, hrsg. von Ulrich Claesges, Den Haag 1973, S. XIII–XXVIII). 2 Husserliana XVI, S. 6. 3 Ebd., S. 6.

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findende Beschreibung der vorwissenschaftlich erfahrenen Welt, in der Husserl auf engem Raum einige ihrer zentralen Strukturen bzw. Dimensionen skizziert, beginnt mit folgenden, philosophiehistorisch aufschlussreichen Sätzen: „In der natürlichen Geisteshaltung steht uns eine seiende Welt vor Augen, eine Welt, die sich endlos im Raum ausbreitet, jetzt ist und vorher gewesen ist und künftig sein wird; sie besteht aus einer unerschöpflichen Fülle von Dingen, die bald dauern und bald sich verändern, sich miteinander verknüpfen und sich wieder trennen, aufeinander Wirkungen üben und solche voneinander leiden. In diese Welt ordnen wir uns selbst ein, wie sie finden wir uns selbst vor, und finden uns inmitten dieser Welt vor. Eine ausgezeichnete Stellung eignet uns in dieser Welt: Wir finden uns vor als ein Beziehungszentrum zu der übrigen Welt als unserer Umgebung.“1 Diese erste rohe Beschreibung der Lebenswelt, der anschaulichen Welt, wie sie von uns „in der natürlichen Geisteshaltung“ – Husserl wird später von „natürlicher Einstellung“2 sprechen – erfahren wird, weist schon durch ihre Wortwahl auf die Quelle zurück, aus der Husserl wesentliche Anregungen für die Konzeption dessen erhalten hat, was er später „Lebenswelt“ genannt hat. Es handelt sich um Richard Avenarius’ 1891 erschienenes erkenntnistheoretisches Werk Der menschliche Weltbegriff, in dem Avenarius die Welt deskriptiv charakterisiert, wie sie vor aller Wissenschaft und Philosophie von jedem Menschen erfahren wird.3 In diesem 1

Ebd., S. 5. Der Ausdruck „natürliche Einstellung“ besagt zunächst soviel wie „Einstellung auf ‚Natur‘ als die Realitätenwelt der Erfahrung“ (vgl. Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil: 1905–1920, Husserliana XIII, hrsg. von Iso Kern, Den Haag 1973, S. 122). Diese „empirische“ Einstellung kontrastiert Husserl zunächst mit der „nicht-empirischen“ oder apriorischen Einstellung auf ideale Gegenstände und apriorische Sachverhalte (vgl. ebd., S. 126); aber erst durch die Kontrastierung mit der phänomenologischen Einstellung, der Einstellung auf die reinen Phänomene bzw. auf das reine Bewusstsein, die durch die Epoché vom natürlichen, alle Phänomene und alles Bewusstsein naturalisierenden Weltglauben bestimmt ist, gewinnt der Ausdruck „natürliche Einstellung“ seinen spezifisch phänomenologischen Sinn. 3 Avenarius, mit dessen frühem denkökomischen Ansatz Husserl sich bereits in den Prolegomena kritisch auseinandergesetzt hatte (Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Erster Band. Prolegomena zu einer reinen Logik, Husserliana XVIII, hrsg. von Elmar Holenstein, Den Haag 1975, S. 196–213), blieb für ihn bei aller Kritik insbesondere durch sein Buch über den natürlichen Weltbegriff ein richtungweisender Denker, für den er noch in der Krisis-Abhandlung anerkennende Worte fand (vgl. 2

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Werk, das Husserl im Februar 1902 erstmals eingehend studierte,1 gibt Avenarius den „schulmäßigen Ausgangspunkt des vermeintlichen ‚unmittelbaren Gegebenseins des Bewusstseins‘“, der die Erkenntnistheorie der Neuzeit bestimmt und in die Sackgasse des Idealismus führt, auf und geht auf den „n at ü rlich en Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Untersuchung“ zurück: auf die vorphilosophische und vorwissenschaftliche Welterfahrung, die Erfahrung des „natürlichen Weltbegriffs“.2 Durch den Rückgang auf die ursprüngliche, diesseits des erkenntnistheoretischen Idealismus und Realismus liegende Weltauffassung wird es möglich, die cartesianische Spaltung der Welt in res cogitans und res extensa, in eine unmittelbar zugängliche „Innenwelt“ und eine bloß mittelbar zugängliche „Außenwelt“, aufzuheben und die anfängliche nicht-dualistische, naiv realistische Weltsicht zu restituieren.3 Die „Wiedereinnahme des natürlichen Ausgangspunktes“4 ermöglicht es auch, neue Wege in der Erkenntnistheorie einzuschlagen, ihre Grundbegriffe neu zu bestimmen und das aus der cartesianischen Prämisse von der unmittelbaren Gegebenheit des Bewusstseins erwachsende neuzeitliche Erkenntnisproblem, wie wir aus der psychischen „Innenwelt“ zur physischen „Außenwelt“ kommen, als falsch gestellt zurückzuweisen und es auf der Grundlage einer Neubestimmung dessen, was uns „unmittelbar gegeben“ ist, zu reformulieren.5 Zu Beginn des ersten, mit „Der natürliche Weltbegriff“ betitelten Abschnitts seines Buches charakterisiert Avenarius den Inhalt der vorphilosophischen Welterfahrung, die am Anfang seines eigenen Philosophierens stand, mit folgenden Worten: „Ich mit all meinen Gedanken und Gefühlen fand mich inmitten einer Umgebung. Diese Husserliana VI, S. 198). Husserls Beziehung zu Avenarius wird ausführlich dargestellt in: Manfred Sommer, Husserl und der frühe Positivismus, Frankfurt am Main 1985. 1 Ein von Husserl mit zahlreichen Anstreichungen und Annotationen sowie mit dem Vermerk „gelesen 7.II., 8.II.1902 ff.“ (S. V) versehenes Exemplar des Buches befindet sich in Husserls Bibliothek (Husserl-Archiv Leuven). Dagegen weist Husserls Exemplar von Avenarius’ erkenntnistheoretischem Hauptwerk Kritik der reinen Erfahrung (Leipzig 1888–1890, 2 Bände), auf das in Der menschliche Weltbegriff an zahlreichen Stellen verwiesen wird, nur im Vorwort und in der Einleitung zum ersten Band geringfügige Lesespuren auf. 2 Richard Avenarius, Der menschliche Weltbegriff, Leipzig 1891, S. XI f. 3 Siehe hiezu ebd., S. 108 f. 4 Ebd., S. XII. 5 Zum Beispiel in § 13 von Martin Heideggers Sein und Zeit, Halle 11927.

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Umgebung war aus mannigfaltigen Bestandteilen zusammengesetzt, welche untereinander in mannigfaltigen Verhältnissen der Abhängigkeit standen. Der Umgebung gehörten auch Mitmenschen an mit mannigfaltigen Aussagen; und was sie sagten, stand zumeist wieder in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Umgebung. Im übrigen redeten und handelten die Mitmenschen, wie ich: […] und so dachte ich nicht anders, als daß Mitmenschen Wesen seien wie ich – ich selbst ein Wesen wie sie.“1 Aus dieser allgemeinen Beschreibung des in vorphilosophischer Erfahrung „Vorgefundenen“ zieht Avenarius, indem er die vorphilosophisch erfahrene Welt hinsichtlich ihrer Gegebenheitsweise näher charakterisiert, folgendes Resümee: „Das war die Welt, wie ich sie am Anfang meines Philosophierens als ein Seiendes, Sicheres, Bekanntes, Vertrautes, Begriffenes vorfand […] und [die] in allen Wiederholungen dieselbe blieb. Mit ein em Wort: es war der Inhalt meines anfänglichen Weltbegriffs, der sich freilich noch in der Form mit der lebendigen Anschauung deckte und noch nicht in eine ‚logische‘ Normalform des Begriffs gebracht war.“2 Dieser anfängliche und natürliche Weltbegriff, für den die vordualistisch erfahrene Welt eine vertraute Einheit von Vorfindlichkeiten ist, ist nach Avenarius einer prinzipiellen, ihn in einer wesentlichen Hinsicht abändernden Variation unterworfen, und zwar durch den urwüchsigen Vorgang der Interpretation des an anderen unmittelbar erfahrenen Seelischen, den er „Introjektion“ oder „Einlegung“ nennt. Sie vollzieht sie sich zunächst als Einlegung der Erfahrungen, Gedanken etc. der Mitmenschen in deren Körper, in ihnen eine eigene Seinssphäre bildend, und dann vermittels „Selbsteinlegung“3 als Hineinverlegung der eigenen Erfahrungen etc. in den jeweils eigenen Körper, der ja nach dem Zeugnis der Erfahrung den Körpern der Mitmenschen im Wesentlichen gleich ist. Infolge dieser Introjektion haben die Menschen außer einer gemeinsamen

1

Der menschliche Weltbegriff, S. 5. Ebd., S. 5. Vgl. hierzu S. 100 f., 104 und 106. In seinem zweibändigen Hauptwerk Kritik der reinen Erfahrung bezeichnet Avenarius den Charakter der Vertrautheit bzw. „Heimhaftigkeit“ der Welt als „Fidentialität“ und zerlegt diesen allgemeinen Charakter in die speziellen Charaktere „Sein“ bzw. „Wirklichkeit“, „Sicherheit“ und „Bekanntheit“, für die er die Termini „Existenzial“, „Sekural“ und „Notal“ einführt (vgl. Band II, S. 31–46). 3 Der menschliche Weltbegriff, S. 31. 2

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„äußeren“ Welt, die sie als ein und dieselbe für alle erfahren, erkennen etc., noch jeweils eine private „innere“ Welt, die aus ihren nur ihnen selbst unmittelbar zugänglichen Erfahrungen etc. besteht.1 Für die natürliche Weltansicht ist die Welt nicht in dieser Weise gespalten; „Inneres“ und „Äußeres“ sind für sie im gleichen Sinne in der Welt „Vorgefundenes“: „Das Ich-Bezeichnete ist selbst nichts anderes als ein Vorgefundenes, und zwar ein im selben Sinn Vorgefundenes wie etwa ein als Baum Bezeichnetes.“2 Diese Gleichheit hinsichtlich des Charakters des Vorgefundenseins schließt aber einen grundlegenden Unterschied in der Weise des Vorgefundenseins nicht aus; denn jede Welterfahrung enthält als in ihr Vorgefundenes immer zwei Momente: das mit dem Pronomen „ich“ Bezeichnete, die konkrete Person in ihrer jeweiligen leib-seelischen Zuständlichkeit, und etwas, das von diesem „Ich-Bezeichneten“ in seiner „Umgebung“ vorgefunden wird. Ersteres wird immer als ein „Umgebenes“ und das vorgefundene Objekt, z. B. ein Baum, wird immer als ein „Umgebungsbestandteil“ und als ein „Gegenüber des Ich“ erfahren.3 Beide sind gleichwertige Momente einer Erfahrung oder „Vorfindung“4 und werden im selben Sinne „als Zugehörige Einer Erfahrung“5 erfahren, in der das Ich-Bezeichnete selbst „nur ein Miterfahrenes – ein Vorgefundenes unter anderen“6 ist. Den notwendigen, in jeder Erfahrung aufweisbaren Zusammenhang von IchErfahrung und Umgebungs- bzw. Welterfahrung, der den Kern des 1 „[D]ie natürliche Einheit der empirischen Welt [ist] nach zwei Richtungen gespalten worden: in eine Außenwelt und in eine Innenwelt, in das Objekt und das Subjekt“ (ebd., S. 28 f.). Diese Spaltung der Welt führt nach Avenarius schließlich zum Weltbegriff des Idealismus (vgl. ebd., S. 105 f.), nähert sich aber dann wieder einem natürlichen Weltbegriff an, in dem alles in der Welt erfahrungsmäßig Gegebene hinsichtlich seines Gegebenseins „vollständig auf gleicher Linie“ steht (ebd., S. 82). 2 Ebd., S. 82. Was Avenarius das „Ich-Bezeichnete“ nennt, nämlich das konkrete je eigene leib-seelische Ganze, auf das wir mit dem deiktischen Pronomen „ich“ Bezug nehmen (siehe S. 76), bezeichnet Husserl in den Ideen II mit dem Ausdruck „Ich-Mensch“, der den „alltäglichen“, „seinem Gehalt nach besonders reichen Ichbegriff“ ausdrückt (vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Husserliana IV, hrsg. von Marly Biemel, Den Haag 1952, S. 93–97, bes. 93 f., sowie 108–110). 3 Der menschliche Weltbegriff, S. 82. 4 Vgl. ebd., S. 119 Anm. 53. 5 Ebd., S. 83. 6 Ebd., S. 84.

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von Avenarius explizierten natürlichen Weltbegriffs ausmacht und dem wir in Husserls Lebensweltanalysen als Korrelation von Leibbzw. Personerfahrung und Welterfahrung wiederbegegnen, bezeichnet Avenarius als „empiriokritische Principialkoordination“ und bestimmt ihre Elemente wie folgt: „Das menschliche Individuum als das (relativ) konstante Glied einer empiriokritischen Principialkoordination bezeichne ich als das C en t ralglied derselben; und den Umgebungsbestandteil – mag er nun wieder ein Mensch oder ein Baum u. dgl. sein – als das G egenglied.“1 Wo das in der Umgebung als Umgebungsbestandteil erfahrene Gegenglied ein Mitmensch ist, wird dieser gemäß der „empiriokritischen Grundannahme der principiellen menschlichen Gleichheit“ selbst als Zentralglied einer empiriokritischen Prinzipialkoordination aufgefasst.2 Damit ist die von mir bzw. von einem beliebigen menschlichen Individuum erfahrene Welt von vornherein als gemeinsame, als intersubjektive Welt erfahren. Dies ist ein weiteres der Momente des erfahrend Vorgefundenen, das von Avenarius aufgewiesen wird und das als konstitutiver Bestandteil in den von ihm explizierten natürlichen Weltbegriff eingeht. Husserl verdankt Avenarius nicht nur die Idee des natürlichen Weltbegriffs, auch seine Methodenidee einer reinen, vorurteilsfreien Deskription ist wesentlich von Avenarius beeinflusst. Denn bei seinen Explikationen verfährt Avenarius seinem eigenen, erklärten Anspruch nach rein d esk rip t iv. In einer sich von allen theoretischen Vormeinungen freihaltenden Deskription, die den Inhalt der Erfahrung so nimmt, wie er sich gibt, und ihn so beschreibt, wie er vorgefunden wird,3 soll unter Verzicht auf alle Erklärung und „unter Absehung von allen special-erkenntnistheoretischen Lehrmeinungen“4 der allgemeine Inhalt der natürlichen Weltauffassung bestimmt werden, die für alle Wissenschaft und alle Philosophie den „n at ü rlich en Ausgangspunkt“5 bildet. 1 Ebd., S. 83 f. Vgl. hiermit z. B. Husserls Rede von der „notwendigen Form der Korrelation ‚ich und meine Umwelt‘, und noch näher gefasst der Korrelation ‚ich und meine vortheoretische Umwelt‘“ bei der „urquellenmäßigen Bestimmung des Begriffs ‚W e l t‘“ in einer Beilage zu seiner „Natur und Geist“-Vorlesung von 1919 (Husserliana Materialien IV, hrsg. von Michael Weiler, Dordrecht/Boston/London 2002, S. 228). 2 Vgl. ebd., S. 84 f. 3 Ebd., S. 15 und 83. 4 Ebd., S. XI. 5 Ebd., S. XII.

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Das von Avenarius umrissene, aber nur roh und lückenhaft realisierte Projekt einer analytischen Deskription der natürlichen Weltauffassung bzw. der natürlich aufgefassten Welt als solcher wurde für Husserl, bei dem es sich mit Brentanos Wiederbelebung des Intentionalitätskonzeptes und dessen Idee einer deskriptiven Psychologie „von einem empirischen Standpunkte“1 verband, richtungweisend und wirkte durch Husserls Vermittlung insbesondere auf die Leˇ bensweltanalysen von Heidegger, Schütz und Patocka ein. Dabei waren es weniger die von Avenarius erzielten Resultate, die diese große Wirkung entfalteten, es war vielmehr die vage normative Idee einer adäquaten und möglichst umfassenden deskriptiven Erfassung der allgemeinen Grundzüge der vortheoretischen oder vorwissenschaftlichen Welterfahrung. Diese Idee einer konkreten, die „volle Erfahrung“2 erfassenden und sich von theoretischen Konstruktionen freihaltenden Deskription gab den Strukturbeschreibungen der Lebenswelt die Direktive auf eine getreue und möglichst umfassende Explikation lebensweltlicher Konkretion und bildete zugleich den Maßstab der Kritik, der an alle vorgelegten phänomenologischen Deskriptionen gehalten wurde, die mit dem Anspruch auftraten, vorurteilslos und orientiert an den Sachen selbst, die konkrete, vorwissenschaftlich erfahrene Welt zur Aussprache ihres Sinnes zu bringen. * Da für Avenarius der Irrweg des neuzeitlichen Idealismus seinen Ausgang von der den natürlichen Weltbegriff abwandelnden Introjektion nimmt, waren für Avenarius die natürliche Erfahrung 1

Siehe den Titel von Brentanos Hauptwerk aus dem Jahr 1874. Zu diesem von Avenarius stammenden Begriff siehe in seinen „Bemerkungen zum Begriff des Gegenstandes der Psychologie“ (zuerst abgedruckt in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie, Band XVIII (1894) und Band XIX (1895), wieder abgedruckt in: ders, Der menschliche Weltbegriff, Leipzig 41927, S. 181–274) den Abschnitt „Die Erfahrung als ‚volle‘ und als ‚partielle‘ Erfahrung“, S. 210–222. Husserl, für den die Idee der vollen Konkretion bis ins Spätwerk hinein leitend war, kannte wohl diesen umfangreichen Aufsatz, in dem Avenarius „n i c h t e t w a s a n d e r e s“ als in Kritik der reinen Erfahrung und Der menschliche Weltbegriff sagt, es aber „anders darstellt“ (vgl. ebd., S. 181 Anm. 1). Zur Lebenswelt „in ihrer ganzen und vollen Konkretion“ siehe Husserliana VI, S. 132–134 (hierzu Antonio F. Aguirre, Die Phänomenologie Husserls im Licht ihrer gegenwärtigen Interpretation und Kritik, Darmstadt 1982, S. 98–110). 2

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des Anderen und die Intersubjektivität der Welterfahrung in ihrer ursprünglichen und dann in ihrer durch Introjektion bestimmten Gestalt zentrale Themen seines Werkes über den natürlichen Weltbegriff. Als Husserl in Göttingen im WS 1910/11 unter dem Titel „Grundprobleme der Phänomenologie“ eine Vorlesung hielt, in der er seine transzendentale Reduktion erstmals zu einer intersubjektiven Reduktion, zu einer Reduktion auf die transzendentale, die objektive Welt konstituierende Intersubjektivität erweiterte und dabei unter dem Titel „Einfühlung“ den lebensweltlichen Erfahrungstyp der Fremderfahrung einer ersten Analyse unterzog, griff er nicht von ungefähr auf das Werk von Avenarius zurück. Diese Erweiterung war nämlich durch die bei Avenarius von vornherein im Blick liegende Tatsache bestimmt, dass die „in natürlicher Geisteshaltung“ bewusste Welt immer schon mit dem Sinn bewusst ist, Welt für alle und also eine auf vergemeinschaftete Subjekte relative objektive Welt zu sein. Vollständige Aufklärung des Seinssinnes der mit diesem Sinn bewussten Welt forderte daher den Rückgang auf die diesen Sinn bildende und in Geltung setzende Intersubjektivität. Die wichtige Vorlesung des Wintersemesters 1910/11, die Husserl „Vorlesung über Intersubjektivität“ oder „Vorlesung über phänomenologische Reduktion als universale intersubjektive Reduktion“ nannte,1 bezeichnete er wegen ihres Ausgangs vom natürlichen Weltbegriff auch als „Vorlesungen über den natürlichen Weltbegriff“.2 Husserl beginnt diese Vorlesung mit einer Beschreibung der „natürlichen Einstellung“ und des in ihr Vorfindlichen. Er kennzeich1 Siehe die Einleitung des Herausgebers in Husserliana XIII, S. XXXIV f. In diesem Band, in dem die Vorlesung von 1910/11 (genauer: ihr von Husserl schriftlich festgehaltener Teil) als Text Nr. 6 veröffentlicht ist, wird auf den S. XXXIII–XXXIX über die große Bedeutung dieser Vorlesung informiert, auf die Husserl sowohl in seinen veröffentlichen Werken als auch in seinen nachgelassenen Manuskripten wiederholt Bezug nimmt. 2 Diese Bezeichnung rechtfertigt sich durch den ersten Teil der Vorlesung; er umfasst in Husserliana XIII die Seiten 111–138 und wurde vom Herausgeber mit „Die natürliche Einstellung und der ‚natürliche Weltbegriff‘“ betitelt. Auf diesen Teil weist Husserl auf zwei Umschlägen des Originalmanuskriptes eigens hin: „Ausgang vom natürlichen Weltbegriff. Darin auch sonstige Ausführungen über den natürlichen Weltbegriff“ und „Der natürliche Weltbegriff als Ausgangspunkt einer Erkenntnistheorie“ (Ms. F I 43/39a und 40a. Vgl. Husserliana XIII, S. 111 Anm. 1, siehe dort auch die textkritischen Anmerkungen auf S. 510 f.). Vgl. hierzu auch Husserliana XIII, S. XXXVI f.

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net sie als die Einstellung, „in der wir alle leben und von der wir also ausgehen, wenn wir die philosophische Blickänderung vollziehen“, und beschreibt sie dadurch, dass er „die Vorfindlichkeiten dieser Einstellung in allgemeiner Weise beschreib[t]“.1 Diese Beschreibung, die an die von Avenarius gegebene Skizze der natürlichen vorphilosophischen Weltansicht erinnert, beginnt mit folgenden Sätzen: „Jeder von uns sagt ‚ich‘ und weiß sich so redend als Ich. Als das findet er sich vor, und er findet sich dabei jederzeit als Zentrum einer Umgebung. ‚Ich‘, das bedeutet für jeden von uns etwas Verschiedenes, für jeden die ganz bestimmte Person, die den bestimmten Eigennamen hat […].“2 Im Folgenden geht Husserl etwas näher auf die verschiedenen Vorfindlichkeiten der natürlichen Einstellung ein, wobei er die Grundstrukturen der in dieser Einstellung erfahrenen Welt herausarbeitet. In Husserls knappen Beschreibungen, die aber in ihrer Genauigkeit und Konkretheit schon weit über das bei Avenarius zu Findende hinausgehen, werden zentrale Strukturen der Lebenswelt behandelt wie etwa ihre räumliche und zeitliche Orientiertheit, die Situiertheit in einer durch wechselseitige Einfühlung und Kommunikation vergemeinschafteten Welt von Personen, die wahrnehmend, redend und handelnd auf dieselbe Welt, auf dieselbe „ins Unbegrenzte fortgehende dingliche Umgebung“3, bezogen sind und sich durch Normalität ihrer Leiber auszeichnen.4 Die Gegebenheitsweise der Welt („Gesamtumgebung“) charakterisiert Husserl durch die Unterscheidung zwischen unmittelbarer, nämlich in unmittelbar setzender Anschauung gegebener Umgebung und mittelbarer Umgebung, die „in der Weise der Mitsetzung“ gegeben ist, und zwar „als fortgehende, unbestimmte, mögliche dingliche Umgebung, in dem Sinn eben: ‚so ungefähr geht es weiter fort‘“.5 Hier ist das für Husserls Phänomenologie der Lebenswelt zentrale Konzept des universalen Außenhorizontes angedeutet, der in der Form des unanschaulich und unthematisch mitgeltenden Weltganzen für

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Husserliana XIII, S. 112. Ebd., S. 112. 3 Ebd., S. 113. 4 Ebd., S. 117. Zu dem für die Konstitution der Lebenswelt wichtigen Aspekt der Normalität siehe die IX. Textgruppe des vorliegenden Bandes. 5 Husserliana XIII, 119. 2

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ein jeweilig anschauliches, thematisch Gegebenes sinnbestimmend ist, sofern er ihm den Nebensinn verleiht, etwas in der Welt Seiendes zu sein.1 Auch wenn die Deskription der vorwissenschaftlich erfahrenen Welt in Husserls Vorlesung von 1910/11 ein ungleich größeres Gewicht als bei Avenarius erhält, so ist sich Husserl, schon während er die Vorlesung hält, des Unzureichenden seiner Beschreibungen der in natürlicher Einstellung erfahrenen Welt bewusst, und er merkt an, dass „sich die angefangene Beschreibung nach allen bezeichneten Linien sehr viel weiter führen und wohl auch erheblich um neue Linien bereichern [ließe]“2. Husserl ist sich aber auch schon damals dessen bewusst, „dass philosophische Interessen höchster Dignität eine vollständige und allseitige Beschreibung des sogenannten n at ü rlich en Welt b egrif f s, desjenigen der natürlichen Einstellung, fordern; andererseits auch, dass eine exakte und tiefgehende Beschreibung dieser Art keineswegs eine leicht zu erledigende Sache ist, vielmehr außerordentlich schwierige Reflexionen erforderte“.3 In der Vorlesung von 1910/11 nimmt Husserl aber nicht nur Avenarius’ Anregung zu einer allgemeinen Beschreibung der in natürlicher Einstellung erfahrenen Welt auf, sondern er expliziert und präzisiert auch in einem sich von Avenarius kritisch absetzenden Exkurs den Terminus „natürlicher Weltbegriff“ in einer Weise, dass dadurch sein Projekt einer apriorischen Wissenschaft von der in natürlicher Einstellung erfahrenen Welt Gestalt gewinnt. Diese Wissenschaft soll nämlich die Sinnbedingungen explizieren, die in der vorwissenschaftlichen Welterfahrung impliziert sind, und damit den apriorischen Sinnesrahmen angeben, innerhalb dessen sich auch die Naturwis1 Das von Avenarius vernachlässigte Wie der Gegebenheit von Umgebungen und schließlich der in jeder Umgebung implizierten Gesamtumgebung „Welt“ wird von Husserl mit Hilfe des Begriffs des Horizonts analysiert. Mit den Begriffen „Universalhorizont“ und „Welthorizont“ wird die Weise erfasst, in der uns die Lebenswelt als ganze „leer“ bewusst ist, wenn wir z. B. handelnd mit irgendwelchen Dingen beschäftigt sind und dabei nur einen kleinen, von unseren jeweiligen Interessen bedeutungsmäßig artikulierten Ausschnitt der raumzeitlichen Lebenswelt in der Form „Vordergrund – Hintergrund“ wahrnehmungsmäßig präsent haben. Husserls in den Göttinger Jahren entwickelter Begriff des Horizonts, der, wie Husserl selbst anmerkt, mit William James’ Begriff der „fringes“ verwandt ist (vgl. Husserliana VI, S. 267), ist im vorliegenden Band die umfangreiche II. Textgruppe gewidmet. 2 Husserliana XIII, S. 124. 3 Ebd., S. 125.

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senschaften bewegen und an den sie gebunden sind, sofern sie als Erfahrungswissenschaften die Weltthesis der vorwissenschaftlichen Erfahrung voraussetzen.1 Husserl zufolge zielte Avenarius’ Rede vom natürlichen Weltbegriff, ohne dass Avenarius sich darüber im Klaren war, auf diesen wissenschaftlich zu explizierenden apriorischen Sinnesrahmen, d. h. auf den „Weltbegriff, der den Sinn der natürlichen Einstellung vor und nach der Wissenschaft ausmacht, den Sinn, der aber erst herausgearbeitet werden muss in den Grundbegriffen der Ontologie“2. * In den folgenden Jahren verfasst Husserl zwei Texte, in denen er sich nochmals mit Avenarius’ Konzeption des natürlichen Weltbegriffs auseinandersetzt und wertend dazu Stellung nimmt. Diese Texte machen in verdichteter Form den Einfluss deutlich, den Avenarius auf die Entwicklung von Husserls Konzeption einer Wissenschaft der Lebenswelt ausgeübt hat. Der erste, noch durchweg positiv wertende Text stammt aus dem Jahr 1912, dem Entstehungsjahr der Ideen I.3 In diesem bislang unveröffentlichten Text, der in demselben Konvolut wie die „Vorlesungen über den natürlichen Weltbegriff“ liegt,4 findet Husserl bei Avenarius „Ansätze“ der Beschreibung der Welt, „wie sie vor aller Theoretisierung vorgefunden wird“, sowie die für seine Lebensweltphänomenologie grundlegende Erkenntnis, „dass alle Theoretisierung ihrem Sinn nach voraussetzt ein Vorgefundenes, unmittelbare Gegebenheiten, die man zunächst einmal beschreiben muss“5. Für Husserl liegen hier sogar Motive für einen phänomenologischen Idealismus, nämlich 1

Vgl. ebd., S. 133–135. Ebd., S. 137 Anm. 1. 3 Vgl. Husserl-Chronik, S. 168. 4 Husserl hat diesen Text mit den Worten überschrieben „Die Grundlage der immanenten Philosophie. Eine Reflexion aus Anlass der Preisarbeit“. Bei der Preisarbeit handelt es sich um die von Hedwig Martius (später Conrad-Martius) verfasste Inaugural-Dissertation Die erkenntnistheoretischen Grundlagen des Positivismus. Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt (Halle a. d. Saale 1913), womit ihre Verfasserin in München promoviert wurde. Darin geht sie auf S. 18 auf Avenarius und sein Buch Der menschliche Weltbegriff ein. 5 Ms. F I 43/106 a. 2

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„die Motive für eine phänomenologische Aufklärung des Sinnes der Welt als der im vorfindenden und erkennenden Bewusstsein vermeinten und eventuell gültig vermeinten und für eine Weltauffassung, welche sich dessen bewusst ist, dass es keinen Sinn hat, der Welt, die nur im Bewusstsein als Erkenntnisbewusstsein sich konstituierende Welt ist, auch nur als Möglichkeit eine Welt zu substruieren, welche ‚an sich‘ in dem Sinne ist, dass sie mit Bewusstsein nichts wesentlich zu tun hat und nur zufällig mit ihm zusammenkomme. Es liegt hier ein Versuch vor, die falsche Transzendenz, die noch in Kants ‚Ding an sich‘-Lehre ihre Rolle spielt, radikal zu entwurzeln und einen Weltbegriff zu schaffen, der rein phänomenologisch ist, rein den Vorgefundenheiten und Vorfindlichkeiten nachgeht, und durch sie und nichts anderes sich den Sinn der im Vorgefundenen sich gebenden Welt vorzeichnen zu lassen.“1 Der zweite Text, wohl für lange Zeit der letzte, in dem Husserl namentlich auf Avenarius zurückkommt, ist nach Husserls eigener nachträglicher Datierung etwa 1915 entstanden. In diesem überwiegend kritischen Text mit dem Titel „Immanente Philosophie – Avenarius“,2 entdeckt Husserl zwar in Avenarius’ Versuch, eine allgemeine Beschreibung der vorwissenschaftlich erfahrenen Welt zu geben, „eine sehr wertvolle Tendenz“, kommt am Ende aber zu dem negativen Urteil: „Der Anfang ist bei Avenarius gut, aber er bleibt stecken.“3 * Dass Husserl selbst nicht stecken geblieben ist, dass er sowohl in methodischer Hinsicht als auch hinsichtlich des Umfangs und der Konkretion seine Beschreibungen weit über die Ansätze Avenarius’ hinausgegangen und – der „sehr wertvollen Tendenz“ folgend – zu einer methodisch bewussten und inhaltlich konkreten Phänomenologie der in natürlicher Einstellung erfahrenen Welt fortgeschritten

1 Ms. F I 43/106 a. In der Krisis kommt Husserl auf diese Tendenz im Werk von Avenarius zurück, wenn er darin einen ernstlich gemeinten Versuch einer Transzendentalphilosophie findet (siehe Husserliana VI, S. 198). 2 Husserl datierte dieses Manuskript nachträglich mit „vermutlich aus 1915“; es ist als Beilage XXII in Husserliana XIII abgedruckt (S. 196–199). 3 Ebd., S. 199.

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ist, das zeigen eindringlich die beiden ersten Bände der Ideen, von denen zu Husserls Lebzeiten nur der erste Band veröffentlicht wurde. Ist dieser vor allem ein Organon phänomenologischer Methode, so bietet der zweite, die Ideen II, konkrete ontologische und phänomenologische Analysen. In diesem Band, der großteils noch in Husserls letzten Göttinger Jahren in mehreren Arbeitsphasen (1912–1915) entstand und an dem er in seiner Freiburger Zeit zusammen mit seinen Assistenten Edith Stein und Ludwig Landgrebe mit Blick auf eine Publikation bis in das Jahr 1928 hinein weiterarbeitete,1 findet sich nach den beiden ersten Abschnitten, die der Konstitution der materiellen und der animalischen Natur gewidmet sind, im abschließenden dritten Abschnitt unter dem Titel „Die Konstitution der geistigen Welt“ eine systematisch angelegte phänomenologische Auslegung der Lebenswelt und ihres Erscheinens im vor- und außerwissenschaftlichen Bewusstsein.2 In diesem Abschnitt der Ideen II wird die in der Vorlesung von 1910/11 angefangene Beschreibung der in natürlicher Einstellung erfahrenen Welt tatsächlich „sehr viel weiter“ geführt und auch „erheblich um neue Linien bereicher[t]“, und zwar in Richtung auf eine „vollständige und allseitige Beschreibung des sogenannten n at ü rlich en Welt b egrif f s“ bzw. der „Welt im natürlichen Sinn“3. Diese Welt heißt nun „geist ige Welt“, sofern sie von 1 Aus dem Jahr 1928 stammen die letzten Textveränderungen, die Husserl an dem von Landgrebe 1924/25 auf der Grundlage der Stein’schen Ausarbeitung von 1917 erstellten Typoskript der Ideen II vorgenommen hatte (siehe hierzu die Einleitung der Herausgeberin in Husserliana IV, S. 16–18 sowie die Husserl-Chronik für die Jahre 1912– 1917). – Wegen der langen Arbeit an den Ideen II ist dieses Werk wenig geeignet, die Entwicklung von Husserls Lebensweltbegriff zwischen 1912 und 1928 chronologisch genau zu verfolgen und bestimmten sachlichen und terminologischen Neuerungen bestimmte Jahreszahlen zuzuordnen. Auf die Sache gesehen, ist es entscheidend, dass in den Ideen II eine Vielzahl wesentlicher Aspekte des Lebensweltbegriffs thematisiert und intentionalanalytisch bestimmt wird und dass der Primat der Lebenswelt vor der in den Wissenschaften und insbesondere in den Naturwissenschaften konstituierten objektiven Welt herausgearbeitet wird. 2 Siehe hierzu Manfred Sommer, „Husserls Göttinger Lebenswelt“, in: ders., Lebenswelt und Zeitbewusstsein, Frankfurt am Main 1990, S. 59–90 (zuerst erschienen als „Einleitung“ zu: Edmund Husserl, Die Konstitution der geistigen Welt, Hamburg 1984, S. IX–XLIV). 3 Husserliana XIII, S. 124 f. In den 1912 niedergeschriebenen Ideen III nennt Husserl diese Welt „die Welt der aktuellen Erfahrung, die wirkliche subjektiv und intersubjektiv anschauliche Welt“ und kontrastiert sie mit der „objektiven, ausschließlich durch ‚exakte‘ mathematisch-physikalische Prädikate bestimmten durchaus unanschauli-

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konkreten Personen alltäglich erfahrene und im Handeln gestaltete und fortwährend umgestaltete Welt der Kultur und der Geschichte ist.1 Als diese „geistige“ Welt ist sie der universale Gegenstand der Geisteswissenschaften. Im Unterschied zur unbelebten Natur als dem universalen Gegenstand der exakten Naturwissenschaften, die, wie Husserl in den Konstitutionsanalysen des ersten Abschnittes der Ideen II zeigt, das Feld der in ihnen thematischen Gegenstände durch einen radikalen Abbau aller kulturellen Bedeutsamkeit und aller aus menschlichem Fühlen, Werten und Wollen entsprungenen Prädikate „konstituieren“ und durch eine naturale bzw. naturalistische Einstellung auf bloße Sachen gekennzeichnet sind, ist die geistige Welt die unabgebaute, die konkrete Welt; sie als Ganze und alles in ihr wird in personaler bzw. personalistischer Einstellung als bedeutsam und als bezogen auf menschliches Leben erfahren. Die personalistische Einstellung ist unter den natürlichen Einstellungen, den Einstellungen auf Seiendes in der Welt, die eigentlich natürliche und konkrete, sofern sie die ursprüngliche „Einstellung“ ist, in der wir uns immer schon vorfinden und von der ausgehend wir durch Abbau lebensweltlicher Konkretionen in abstrakte Einstellungen übergehen. Die in dieser Ur-Einstellung als Umwelt erfahrene Welt ist – anders als die Natur der Naturwissenschaften – die eigentlich natürliche Welt. In dieser Einstellung befindet sich auch der Geisteswissenschaftler, wenn er z. B. als Historiker die natürliche Welt als eine geschichtliche Welt erfährt und in ihr bestimmte Personen, Ereignisse etc. thematisiert. Anders als der Zoologe oder der naturalistische Psychologe, die wissenschaftlich auf Tiere bzw. Menschen als Bestandteile der Natur eingestellt sind und daher deren „Seelisches“

chen, unerfahrbaren Natur“ (Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften, Husserliana V, hrsg. von Marly Biemel, Den Haag 1952, S. 65). Und im selben Jahr charakterisiert Husserl in einem Forschungsmanuskript die natürliche Welt als die „Welt, wie sie anschaulich gegeben ist als die uns normalen Menschen intersubjektiv gemeinsame Welt, als Welt unserer ästhetischen und praktischen Interessen, als die Welt, in der sich unser aktuelles Menschenleben vollzieht“ (Ms. A IV 15/4a). 1 Vgl. Husserliana IV, S. 280: „G e i s t ist nicht ein abstraktes Ich der stellungnehmenden Akte, sondern er ist die v o l l e Persönlichkeit, I c h - M e n s c h, der ich Stellung nehme, der ich denke, werte, handle, Werke vollbringe etc.“

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als Annex von Leibkörpern bestimmter Typen auffassen,1 bleibt für ihn wie für den vorwissenschaftlichen Menschen des alltäglichen Lebens die konkrete „personale Welt“2 unverkürzt und unmodifiziert in Geltung; personal auf Personen eingestellt „fällt es ihm gar nicht ein, den Geist dem Leibe ‚einzulegen‘, d. i. ihn als etwas am Leib […] zu betrachten“3. Die natürliche, in personaler Einstellung erfahrene Welt wird im dritten Abschnitt der Ideen II nicht nur roh skizziert wie in der „phänomenologischen Fundamentalbetrachtung“ der Ideen I, wo ihre Beschreibung – wie auch schon in der Vorlesung von 1910/11 – der Einführung der phänomenologischen Reduktion dient,4 sondern hier stellt sich Husserl erstmals der „bisher kaum gesehenen“ wissenschaftlichen Aufgabe, die von ihm schon bald „Lebenswelt“ genannte natürliche Welt „systematisch umfassend“ und „die Weiten und Tiefen ausschöpfend“ zu beschreiben.5 Dieser erste Versuch einer Wissenschaft von der Lebenswelt, der noch ganz von der wissenschaftstheoretischen Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften bestimmt ist und vor allem die für diese Unterscheidung grundlegenden Unterschiede zwischen der Konstitution von Natur und der Konstitution von geistiger (personaler) Welt phänomenologisch herausarbeitet, ist maßgeblich von Dilthey und seinem 1910 erschienenen Werk Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften beeinflusst, das Husserl vom Verfasser zugesandt wurde und das er im Herbst 1911 gründlich studierte.6 1 Der Konstitution der animalischen Natur ist der zweite Abschnitt der Ideen II gewidmet. Siehe hierzu S. 53–61 in Alfred Schütz’ ausführlicher Rezension „Edmund Husserls ‚Ideen‘, Band II“, in: ders., Gesammelte Aufsätze III. Studien zur phänomenologischen Philosophie, hrsg. von Ilse Schütz, Den Haag 1971, S. 47–73 (zuerst 1953 auf Englisch erschienen in Philosophy and Phenomenological Research, Band XIII). 2 Husserliana IV, S. 185. 3 Ebd., S. 190. 4 Siehe Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. 1. Halbband: Text der 1.–3. Auflage, Husserliana III/1, neu hrsg. von Karl Schuhmann. 1976, §§ 27–30. Anders als in der Vorlesung von 1910/11 fehlt hier allerdings ein Hinweis auf Avenarius und seine Konzeption eines natürlichen Weltbegriffs. 5 Siehe ebd., § 30. 6 Das im Husserl-Archiv Leuven befindliche Buch (Signatur BQ 96), das von Dilthey am 21. Dezember 1910 an Husserl geschickt wurde, ist mit zahlreichen Unterstreichungen und einigen wenigen Anmerkungen versehen (siehe Husserl-Chronik, S. 151). –

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In diesem der Grundlegung der Geisteswissenschaften gewidmeten Werk bestimmte Dilthey „das Leben“, den „Inbegriff dessen, was uns im Erleben und Verstehen aufgeht […] als ein das menschliche Geschlecht umfassender Zusammenhang“, als den „Ausgangspunkt“ der Geisteswissenschaften und der Philosophie. Um diesen zu gewinnen, gelte es, „hinter die wissenschaftliche Bearbeitung dieser Tatsache [der großen Tatsache des Lebens] zurückzugehen und die Tatsache selbst in ihrem Rohzustande aufzufassen.“1 Beim Rückgang auf das vorwissenschaftlich erfahrene Leben zeigt sich, dass im menschlichen Leben und der menschlichen Welt alles einen „L eb en sb ezu g des Ich“2 und dadurch Bedeutsamkeit hat; hier gibt es keine bloßen Sachen und keine nackten Tatsachen. Wo sich das Leben in der Sinnenwelt „objektiviert“, sei es im flüchtigen leiblichen Ausdruck oder in einem die Jahrhunderte überdauernden Kunstwerk, da tritt es ein in die ständig uns umgebende „große äußere Wirklichkeit des Geistes“3, die eine „Sphäre der Gemeinsamkeit“4 ist, in der jeder Einzelne erlebt, denkt und handelt: „Wir leben in dieser Atmosphäre, sie umgibt uns beständig. Wir sind eingetaucht in sie. Wir sind in dieser geschichtlichen und verstandenen Welt überall zu Hause, wir verstehen Sinn und Bedeutung von dem allen, wir selbst sind verwebt in diese Gemeinsamkeiten.“5 Im Reich des äußeren, des objektiven Geistes ist alles „durch geistiges Tun entstanden und trägt daher den Charakter der Historizität. In die Sinnenwelt selbst ist es verwoben als Produkt der Geschichte.“6 In Husserls Ideen II verbinden sich Diltheys Rückgang auf das Leben und seine geistige, geschichtliche Welt und Avenarius’ Rückgang In dem den dritten Abschnitt einleitenden Paragraphen der Ideen II (§ 48) wird Dilthey von Husserl als derjenige gewürdigt, der in Bezug auf Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften „zuerst der wesentlichen Unterschiede inne wurde und sich auch zuerst zu lebendigem Bewusstsein brachte, daß die moderne Psychologie, eine Naturwissenschaft vom Seelischen, unfähig sei, den konkreten Geisteswissenschaften die von ihrem eigentümlichen Wesen geforderte wissenschaftliche Grundlegung zu geben“ (Husserliana IV, S. 172 f.). 1 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: ders., Gesammelte Schriften, VII. Band, Stuttgart 1958, S. 131. 2 Ebd., S. 131. 3 Ebd., S. 146. 4 Vgl. ebd., S. 146. 5 Ebd., S. 147. 6 Ebd., S. 147.

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auf die Vorfindlichkeiten des natürlichen Weltbegriffs mit der Idee einer apriorischen, den intentionalen Korrelationen nachgehenden Wissenschaft von der vorwissenschaftlich erfahrenen Welt. In den Konstitutionsanalysen des 3. Abschnittes zeigt sich diese schöpferische, eine neuartige Wissenschaft schaffende Verbindung insbesondere in den §§ 50 und 51, in denen Husserl die Person als Subjekt und Mittelpunkt einer untrennbar zu ihr gehörigen Umwelt beschreibt, die für sie immer da ist und zu der sie sich immer irgendwie verhält. Im § 53 charakterisiert Husserl die Person als Person in verschiedenen Personenverbänden und als Subjekt einer gemeinsamen, mit anderen Personen geteilten Umwelt, die als sich in wechselseitigem Einverständnis konstituierte kommunikative Umwelt immer auch eine soziale Welt ist. Dabei haben die verschiedenen Personenverbände jeweils verschiedene, auf sie relative Umwelten.1 Die Beziehung der einzelnen Person auf die Gegenstände ihrer Umwelt und die horizontmäßig bewusste Umwelt ist eine intentionale Beziehung; und nur eine Welt, die intentional gegeben ist, geht uns an und nur sie „wirkt“ auf uns, nur sie ist für unser Handeln relevant und motivierend. In den detaillierten Analysen der in der personalen Einstellung erfahrenen konkreten Welt, die Husserl in den Ideen II vorlegt, tritt allerdings ein Moment der natürlichen Einstellung in den Hintergrund, das in der Skizze der Grundstrukturen der natürlichen Welt, die Husserl in den vier ersten Paragraphen der „Fundamentalbetrachtung“ der Ideen I2 zeichnet, besonders betont und dort als „ein Wichtigs1 Im vorliegenden Band sind die Texte, die die Beziehung der vielen relativen Umwelten auf die eine in ihnen bewusste Lebenswelt thematisieren, in der X. Textgruppe abgedruckt. 2 Der erste dieser vier Paragraphen der Ideen I, deren Inhalt weitgehend mit dem Anfang der Vorlesung von 1910/11 übereinstimmt, in denen aber die Anknüpfung an Avenarius’ und seinen natürlichen Weltbegriff unterschlagen wird, hat den Titel „Die Welt der natürlichen Einstellung. Ich und meine Umwelt“ (§ 27); in ihm wird nicht nur der für die Lebensweltanalysen unentbehrliche Begriff des Horizonts eingeführt, sondern auch vorab deutlich gemacht, dass die natürliche Welt „in derselben Unmittelbarkeit“, in der sie eine bloße Sachenwelt ist, eine Wertewelt, Güterwelt und praktische Welt ist (ebd.). Diese konkrete Welt, die Lebenswelt, ist es dann auch, deren Sein in der Generalthesis der natürlichen Einstellung „gesetzt“ wird und also in der „Fundamentalbetrachtung“ als das Einzuklammernde ständig im Blick liegt. Auf die Ideen I und ihren Ausgang vom natürlichen Weltbegriff und die dort „nur in rohesten Zügen“ umschriebene „vor- und außerwissenschaftliche Lebenswelt“ kommt Husserl in einem seiner letzten Manuskripte, einem Manuskript aus dem Sommer 1937,

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tes“ hervorgehoben wird: die „G en eralt h esis d er n at ü rlich en E in st ellu n g“. Diese „Thesis“ hat das in aller Erfahrung von Realem horizonthaft bewusste Ganze der raum-zeitlichen Weltwirklichkeit zum Inhalt und besagt: „Die ‚Wirklichkeit‘ […] finde ich als daseiende vor und nehme sie, wie sie sich mir gibt, auch als d aseien d e hin. […] ‚Die‘ Welt ist als Wirklichkeit immer da, sie ist höchstens hier oder dort ‚anders‘, als ich vermeinte, das oder jenes ist au s ih r unter den Titeln ‚Schein‘, ‚Halluzination‘ u. dgl. herauszustreichen, aus ihr, die – im Sinne der Generalthesis – immer daseiende Welt ist.“1 Die Eigenart der Generalthesis und die eigentümliche Seinsart der in ihr gesetzten Welt wird Husserl in den folgenden zwei Jahrzehnten immer wieder beschäftigen und ihn schließlich zur Revision seiner anfänglichen Auffassung vom Bewusstsein als dem einzig apodiktisch Gewissen führen.2 * Als kurz nach Husserls Wechsel von Göttingen nach Freiburg das Wo rt „Lebenswelt“ in zwei von Husserls Manuskripten zum ersten Mal auftaucht, ist der Begriff der Lebenswelt bereits seit ca. 10 Jahren etabliert und hat durch die in den Göttinger Jahren entstandenen konkreten Analysen einen reichen und bestimmten Inhalt erhalten. Die beiden Texte aus dem Jahr 1917, in denen das Wort „Lebenswelt“ vorkommt, entstanden offenbar im Zuge von Husserls Beschäftigung mit der Thematik von „Natur und Geist“, die er ab dem Wintersemester 1912/13 wiederholt in Seminaren und Vorlesungen behandelte,3 in denen er sich immer auch um die wissenschaftstheoretische Unterscheidung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften bemühte.4 Diese Beschäftigung mit der „Natur und Geist“-Thematik zurück, in dem er nochmals auf das Problem der Einleitung in die transzendentalphänomenologische Philosophie eingeht (siehe Husserliana XXIX, S. 425 f.). 1 Husserliana III/1, S. 61 (§ 30). 2 Siehe im vorliegenden Band die Textgruppe IV und hier insbesondere den Text Nr. 24, in dem Husserl die Apodiktizität des Seins des transzendentalen weltkonstituierenden Subjekts als eines notwendig leiblichen Subjekts und die Apodiktizität der Welt als gleichursprünglich betrachtet. 3 Siehe Husserl-Chronik, S. 177 f., 194 und 196. 4 Zu Husserls Beschäftigung mit der Thematik von Natur und Geist siehe insbesondere die Einleitungen zu den folgenden Husserliana-Bänden: Edmund Husserl,

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fand schließlich in den Ideen II, denen sich Husserl 1917 und 1918 wieder verstärkt zuwandte, ihren literarischen Niederschlag .1 Der erste der beiden Texte wurde schon in Husserliana IV als Beilage XIII veröffentlicht. In diesem wahrscheinlich aus dem Jahr 1917 stammenden Text, in dem Husserl die personale Einstellung als die „Einstellung des aktuellen Lebens“ mit der naturwissenschaftlichen Einstellung kontrastiert, kommt das Wort „Lebenswelt“ fünfmal vor, und zwar in der Bedeutung, die wir in den Ideen II für die Termini „personale Welt“, „geistige Welt“ und „natürliche Welt“ finden. So wird von ihr gesagt, dass der Naturwissenschaft die „Lebenswelt der Personen“ „entschlüpft“, dass das in ihr herrschende „Grundverhältnis“ nicht das der Kausalität, sondern das der Motivation ist und dass „alles Objektive der Lebenswelt […] subjektive Gegebenheit“ ist.2 Den zweiten, wohl auch aus dem Jahr 1917 stammenden Text hat Husserl mit dem Titel „Natürliche Weltansicht. Die Lebenswelt und die Menschheit“ versehen.3 In diesem Manuskript geht Husserl – großteils in bloßen Stichworten – auf die den Wissenschaften vorgegebene, „in gemeinschaftlicher Wertung und Praxis“ gestaltete Welt ein und sagt von dieser, sie sei „der natürliche, immerfort sich wandelnde Kosmos, der vor aller Wissenschaft da ist, ‚vor‘ nicht nur historisch, sondern prinzipiell und erkenntnistheoretisch“.4 Dass das Wort „Lebenswelt“ bereits 1917 in Texten Husserls auftaucht ist alles andere als erstaunlich, vereinigt es doch lediglich in einer naheliegenden, glücklichen Wortprägung die beiden begrifflichen Momente, die Husserl bei Avenarius und Dilthey vorfand: die Welt des natürlichen Weltbegriffs und die geistige Welt als die Welt des konkreten geschichtlichen Lebens.5

Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1927, Husserliana XXXII, hrsg. von Michael Weiler, Dordrecht/Boston/London 2001; ders., Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1919, Husserliana Materialien IV. 1 Siehe Husserl-Chronik, S. 216 und 219. 2 Siehe Husserliana IV, S. 374 f. 3 Den Text dieses Manuskripts schrieb Husserl auf einen Bankkontoauszug vom 7. Mai 1917. 4 Ms. F IV 1/2a–3b. 5 Zum Wort „Lebenswelt“, das bereits das Grimm’sche Deutsche Wörterbuch von 1885 verzeichnet und dessen gebräuchliche Synonyme „Lebewelt“ und „Lebenwelt“

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In der Vorlesung über „Natur und Geist“ vom Sommersemester 1919, in der Husserl Klarheit über den „letzten Sinn“ von Natur und Geist zu erlangen sucht, indem er auf die vorwissenschaftliche Welterfahrung als Quelle der urspünglichen Sinnbildung dieser beiden Seinsregionen zurückgeht, verwendet er wie selbstverständlich und ohne ihn eigens zu erläutern den Terminus „Lebenswelt“ für die vorwissenschaftlich erfahrene Welt, „die Welt, in der wir leben, denken, wirken, schaffen“.1 Durch den Rückgang auf die Lebenswelt, in der sich noch unlöslich verbunden zeigt, was in den Abstraktionen der Wissenschaften getrennt wird, soll das durch die Entwicklung strenger Wissenschaften gestellte Problem, „was die Welt in Wahrheit und nach ihrem letzten quellenmäßigen Sinn ist“, gelöst werden und damit auch „die theoretische Vergewaltigung der Welt“ wieder gutgemacht und sogar nutzbar gemacht werden „durch Verwandlung in ein Weltverständnis“.2 Der von Husserl in dieser Vorlesung gewählte Rückgang von der Wissenschaft auf das vorwissenschaftliche Bewusstsein ist ein Rückgang auf die vor- und außerwissenschaftlich erfahrene Welt. Diese Welt wird hier als Lebenswelt bezeichnet und erhält als die Welt, die bewusstseinsmäßig immer für uns da ist, folgende begriffliche Bestimmung: „Das vorwissenschaftliche Bewusstsein, das wir hier meinen und das für uns allein in Frage kommen kann, ist auch für uns wissenschaftlich kultivierte Menschen beständig vorhanden. Denn immmerfort, ob wir theoretisieren oder nicht theoretisieren, wissenschaftliches Denken vollziehen oder nicht vollziehen, ist eine Welt der Erfahrung, eine anschauliche Welt, eine unseren doch nur gelegentlichen wissenschaftlichen Betätigungen vorgegebene, eine Welt, die bewusstseinsmäßig für uns unmittelbar da ist und da bleibt, auch wenn alle aus Wissenschaften stammenden Gedanken und apperzeptiven Auffassungen verschwinden. Diese bilden also nur eine außerwesentliche Oberschicht, eine sie umgestaltende an der sich ohnehin auch sonst beständig fortgestaltenden L eb en sw elt.“3 waren, siehe Christian Bermes, ‚Welt‘ als Thema der Philosophie. Vom metaphysischen zum natürlichen Weltbegriff, Hamburg 2004, S. 92–109. 1 Husserliana Materialien IV, S. 18 Anm. 2 Ebd., S. 17. 3 Ebd., S. 18 Anm. Weitere Belegstellen für „Lebenswelt“ finden sich hier auf den Seiten 187, 223 und 227 f. In einem ebenfalls 1919 entstandenen Text über die vor-

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Als Husserl im Sommersemester 1920 eine Ethikvorlesung hält, fügt er in diese einen ausgedehnten wissenschaftstheoretischen Exkurs ein, der dem Thema „Natur und Geist“ gewidmet ist.1 In diesem Exkurs, in dem wie auch schon in früheren Texten der Unterschied zwischen der konkreten unabgebauten Lebenswelt und der durch abstraktiven Abbau alles „Geistigen“ konstituierten Natur betont wird,2 tritt erstmals eine bislang in Husserls transzendentaler Phänomenologie vernachlässigte Dimension der Lebenswelt zutage: die Dimension des Hist o risch en bzw. G en et isch en. Der Erforschung dieser Dimension und damit des Gewordenseins aller konstituierten Sinngebilde dient Husserls in der Freiburger Zeit entwickelte sogenannte genetische Phänomenologie.3 In ihr wird die „natürliche Lebenswelt“, „die volle Umwelt […], in der wir leben, weben und sind“, die Welt, die „für uns jederzeit in der natürlichen Erfahrung des Lebens vorgegeben ist mit ihren mannigfaltigen

gegebene, vorwissenschaftlich konstituierte Umwelt kommt ebenfalls der Ausdruck „Lebenswelt“ vor. Hier ist von der „ursprünglichen Lebenswelt als einer gemeinsamen menschlichen Umwelt“ die Rede (Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911–1921), Husserliana XXV, hrsg. von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, Dordrecht/Boston/London 1987, S. 327). 1 Dieser Exkurs („Natur und Geist. Sachwissenschaften und normative Wissenschaften. Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften“) findet sich als ergänzender Text in: Edmund Husserl, Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924, Husserliana XXXVII, hrsg. von Henning Peucker, Dordrecht/Boston/London, S. 259–320. Für unsere Thematik siehe hier insbesondere die S. 287–313. 2 Vgl. ebd., S. 294 f. 3 Die genetische Phänomenologie zielt als eidetisch-rekonstruktive auf Wesensgesetze lebensweltlicher Genesis, auf Fundierungsgesetze der Entwicklung und Sinnbildung, die den Charakter a priori einsichtiger Gesetze haben. – 1920 schreibt Husserl an Gerda Walter: „Bloß statisch Beschriebenes ist unverständlich, und man weiß dabei nie, was radikal bedeutsam ist und was nicht, und die Bedeutsamkeit ist eben die konstitutive Verständlichkeit. Ich pflege mich gegen phänomenologische Gegebenheiten so zu verhalten wie der Archäologe bei der Ausgrabung: sie werden sauber zusammengestellt, aber die eigentliche Arbeit ist nicht ihre Beschreibung, sondern die Rekonstruktion.“ (Edmund Husserl, Briefwechsel, Husserliana Dokumente III, in Verbindung mit Elisabeth Schuhmann hrsg. von Karl Schuhmann, Dordrecht/Boston/London 1994, Bd. II, S. 260) In diesem Brief, in dem Husserl genetische und konstitutive Phänomenologie identifiziert, macht er auch schon auf die bedeutende Rolle aufmerksam, die Habitualitäten für die Weltkonstitution spielen.

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Schichten von geistiger Bedeutung“,1 als ein geschichtliches Sedimentgebilde thematisiert, das in jeder Gegenwart ein „Erwerb“ subjektiver und intersubjektiver Sinnbildung ist.2 Die Sinnbildung wird hier von Husserl als ein durch apriorische Gesetze geistiger Genesis bestimmter historischer Prozess verstanden, wo alles aktuell von Personen Geleistete ins Habituelle übergeht, dessen Gesamtkorrelat das komplexe Sinngebilde der jeweils geltenden Lebenswelt ist, die eine „ewig bewegliche“, „immmerfort sich wandelnde Einheit der Tradition“ ist und „in einem geistigen Werdenszusammenhang“ steht, der „der Zusammenhang der G eschichte“ ist.3 Die Geschichte ist hier für Husserl das durch Aufklärung der geistigen Motivationen „verst eh b are Werd en“ der objektiven Geistesgebilde der Personalitäten aller Stufen und ist als dieses geistige, lebendige Werden etwas völlig anderes als das „t o t e Werd en“ in der bloßen, kausalgesetzlich bestimmten Natur.4 Zu Beginn der zwanziger Jahre, in denen Husserl die Lebenswelt als eine geschichtliche Welt thematisierte und seine Phänomenologie zur genetischen Phänomenologie ausgestaltete, ist also sein Begriff der Lebenswelt weitgehend bestimmt, und er entfaltet bei Husserls Schülern seine ersten Wirkungen. Hier ist vor allem Heidegger zu nennen, der durch Husserl mit dem „phänomenologischen ‚Sehen‘“5 und der phänomenologischen Methode der Aprioriforschung vertraut gemacht wurde und in seinem 1927 erschienenen Hauptwerk Sein und Zeit eine detaillierte Analyse des alltäglichen In-der-WeltSeins und seiner Umwelt vorlegte.6 1

Husserliana XXXVII, S. 307. In den im vorliegenden Band veröffentlichten Texten spielt die Dimension des Genetischen eine zentrale Rolle; siehe die Textgruppen I, VII und VIII. 3 Husserliana XXXVII, S. 310. 4 Vgl. ebd., S. 311. 5 Martin Heidegger, „Mein Weg in die Phänomenologie“, in: ders., Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 85 f. 6 Martin Heidegger stand seit Husserls Übernahme von Heinrich Rickerts Freiburger Lehrstuhl im Jahr 1916 in engem persönlichen Kontakt zu Husserl und bildete seine eigene Philosophie in Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie aus; deren Aneignung wurde ihm, wie er in Sein und Zeit anmerkt, wesentlich dadurch erleichtert, dass Husserl ihm unveröffentlichte Manuskripte – darunter auch das Manuskript der Ideen II mit der im dritten Abschnitt gegebenen Beschreibung der „geistigen Welt“ – zur Verfügung stellte (Tübingen 1972, S. 38 Anm. 1 und S. 47 Anm. 1). So ist es nicht verwunderlich, dass in Heideggers Vorlesung vom Wintersemester 1919/20 „Grundprobleme der Phänomenologie“, in der er die Phänomenologie als 2

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In den zwanziger Jahren war die Ausgestaltung von Husserls Lebensweltbegriff und Lebensweltwissenschaft eng mit der Entwicklung seiner Idee einer „transzendentalen Ästhetik“ verbunden. Diese Idee trug Husserl erstmals 1919 im zweiten, wissenschaftstheoretischen Teil der Sommersemestervorlesung „Natur und Geist“ vor.1 Darin entwirft er im Anschluss an Kants transzendentale Ästhetik, die er als eine transzendentale Lehre von den sinnen-anschaulichen Objekten versteht,2 eine apriorische Wissenschaft von der Erfahrungswelt als solcher; sie gliedert sich in eine Ontologie der Erfahrungswelt, die in eidetischer Deskription die regionalen Grundtypen lebensweltlicher Objekte als Leitfäden für konstitutive Untersuchungen bereitstellt, und eine eidetische Phänomenologie der für diese Grundtypen konstitutiven Mannigfaltigkeiten des Erscheinens bzw. des erfahrenden Bewusstseins.3 Husserl sieht hier zwar schon „die n o t wen d ige Au f gab e, die anschauliche Lebenswelt in ih„Ursprungswissenschaft vom Leben“, vom „Leben ‚an und für sich‘“, konzipiert, des Öfteren das Wort „Lebenswelt“ vorkommt, und zwar zumeist in der von Husserl geprägten Bedeutung (siehe Gesamtausgabe, Band 58, Frankfurt am Main 1993, z. B. S. 69, 75, 83–85, 174 f., 250 und 261). 1 Den Titel dieser Vorlesung fand Husserl später „unpassend“ und versah den Umschlag des Vorlesungsmanuskripts mit der Aufschrift „Transzendentale Ästhetik“ (vgl. Husserliana Materialien IV, S. X). Dass diese Thematik Husserl schon zu Beginn der zwanziger Jahre intensiv beschäftigte, belegt die Tatsache, dass er bereits im Wintersemester 1919/20 ein Seminar unter dem Titel „Philosophische Übungen über transzendentale Ästhetik und transzendentalen Idealismus“ abhielt (vgl. HusserlChronik, S. 236) und in seiner Vorlesung „Transzendentale Logik“ von 1920/21 über seine Idee einer transzendentalen Ästhetik vortrug (Husserliana XVII, S. 454–458; siehe hierzu die textkritischen Anmerkungen S. 505–510). 2 Vgl. Ms. A VII 14/14b (wohl 1925). 3 „Damit sind […] die beiden großen Teile einer transzendentalen Ästhetik scharf gekennzeichnet, und zwar der transzendentalen Ästhetik im vollständigen, unentbehrlichen Sinn. Selbstverständlich gilt diese Problembestimmung wie für die physische Natur so für alle regionalen Gliederungen der Umwelt, für jede haben wir eine transzendentale Ästhetik.“ (Husserliana Materialien IV, S. 152). Vgl. unten die Beilage LIV, in der Husserl von der transzendentalen „Ontologie bzw. Phänomenologie der ästhetischen Welt“ spricht und beide Titel wie folgt bestimmt: „Der Ausdruck ‚Ontologie‘ bezieht sich auf die seiende Welt selbst, seiend als einstimmig erfahren für die betreffende Subjektivität, der Ausdruck ‚Phänomenologie‘ auf die korrelative und darum konkretere Forschung, die das Seiende nach allen subjektiven Modis betrachtet, wobei aber nie zu vergessen ist, dass auch das Ontologische hier ein Subjektives bedeutet.“ (unten, S. 692). Ähnlich wie in diesem wohl Ende der 20er Jahre entstandenen

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rer konkreten Typik nach relativ dauernden Seinsgestaltungen und Werdensgestaltungen zu beschreiben, sie in anschaulich geschöpften Begriffen […] zu fixieren und so gründlich kennenzulernen“1, aber er beschränkt sich in der Vorlesung auf eine transzendentale Ästhetik der physischen Natur, der „Welt purer sinnlicher Anschauung“, die sich durch Reduktionsprozesse aus der „natürlichen Lebenswelt“ herausarbeiten lässt.2 Innerhalb dieser regionalen transzendentalen Ästhetik arbeitet Husserl einen noch engeren Begriff von transzendentaler Ästhetik heraus, der einem engeren, auf eine konstitutive Unterschicht der Ding- und Welterfahrung bezogenen Begriff von Anschauung entspricht; bei dieser Disziplin handelt es sich um eine „systematische Phänomenologie der Phantome“, die für Husserl hier „die transzendentale Ästhetik im p rägnanten S inn “ ist.3 Die in der Vorlesung von 1919 zu findende systematische Mehrdeutigkeit des Terminus „transzendentale Ästhetik“ spiegelt aber nicht nur die Mehrdeutigkeit der Begriffe „Wahrnehmung“, „Anschauung“ und „Erfahrung“, sie spiegelt auch und vor allem die Vielheit der Aufgaben, die innerhalb einer transzendentalen Ästhetik als Wissenschaft von der Lebenswelt erwachsen, die, ausgehend von der in voller Konkretion genommenen intersubjektiven Erfahrungswelt, systematisch die sie aufbauenden „abstrakten“ (unselbständigen) Unterschichten erforscht.4 Der Begriff der Lebenswelt wird im Zuge Text äußert sich Husserl in der Krisis, wo er die Ontologie der Lebenswelt als Ontologie einer auf Subjektivität bezogenen Welt kennzeichnet (vgl. Husserliana VI, 176). 1 Husserliana Materialien IV, S. 187. 2 Vgl. ebd., S. 152. 3 „[I]n jeder äußeren Dingerfahrung bilden sie [die Phantome] eine a priori notwendige Unterschicht. Offenbar erwächst hier die A u f g a b e e i n e r s y s t e m a t i s c h e n O n to l o g i e d e r P h a n to m e, und es ist klar, dass die Geometrie und die reine Bewegungslehre zu ihr nach Seiten des Leerschemas gehören. Korrelativ ist dann eine systematische Phänomenologie der Phantome gefordert, und die t r a n s z e n d e n t a l e Ä s th e ti k i m p r ä g n a n te n S i n n wäre die Bezeichnung dafür.“ (Husserliana Materialien IV, S. 174). 4 Vgl. in Husserliana Materialien IV insbesondere S. 171 f., 174, 182, 186, 193– 195, 197 ff. und 212. Im Unterschied zur Vorlesung von 1919 spielt der Terminus „transzendentale Ästhetik“ in der „Natur und Geist“-Vorlesung von 1927 (Husserliana XXXII) praktisch keine Rolle, er kommt in Husserls Manuskript der Vorlesung nur einmal vor (S. 183); sachlich aufschlussreiche Formulierungen, die diesen Terminus enthalten, finden sich nur in den Vorlesungsnachschriften von Fink und Pfeiffer, die den Teil der Vorlesung wiedergeben, den Husserl wohl frei vorgetragen hat (ebd., S. 266 und 277 f.). Gleichwohl spielt die transzendentale Ästhetik im zweiten Teil der Vorlesung,

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dieser Forschungen, wie Husserls Texte der zwanziger Jahre zeigen, durchweg nur mit dem weitesten Begriff von transzendentaler Ästhetik verbunden. So etwa in der Kant-Rede von 1924, in der Husserl die „Welt im Wie der Erlebnisgegebenheit“ die „wirkliche Lebenswelt“ nennt.1 Die auf diese „konkrete“ Erfahrungswelt, diese intersubjektive und historische Welt der Praxis, bezogene Ästhetik bezeichnet Husserl 1927 als die „echte transzendentale Ästhetik“ und als die Ästhetik „der konkreten Erfahrungswelt, der noch unabgebauten, […] [der] Welt […], wie sie in der natürlichen Erfahrung erfahren ist, als Welt des Lebens“.2 Sie ist die Ästhetik der „konkreten Lebenswelt überhaupt“.3 Die systematische Erforschung der „unabgebauten“ Lebenswelt ist wesentlich durch die Methode des abstraktiven „Abbaus“ bestimmt.4 Sie ist die Methode, in der die Konkretion im Ausgang von der konkreten Erfahrungswelt durch Aufweis der verschiedenen für sie konstitutiven unselbständigen Schichten und Strukturen rekonstruiert wird. Dies zeigt exemplarisch der im vorliegenden Band veröffentlichte Text Nr. 26 aus dem Jahr 1926, in dem Husserl einen solchen systematischen Abbau auf die in jeder erdenklichen Lebenswelt aufweisbare abstrakte Kernschicht „Natur“ skizziert, „um damit die Gesamtabstraktion der Konkretion, sozusagen, aufbauen zu können“.5 Innerhalb der abstrakten intersubjektiven Naturerfahrung, die Moment der konkreten intersubjektiven Welterfahrung ist, vollzieht Husserl eine weitere Abstraktion in Form der „Reduktion auf orider der philosophischen Grundlegung der Wissenschaften von der Erfahrungswelt aus gewidmet ist, eine wichtige Rolle (siehe insbesondere die §§ 18 und 22–24; vgl. hierzu S. XXXIII f.). 1 Husserliana VII, S. 232. Hier wird die Lebenswelt als die Welt im „subjektiven Milieu“ „der mannigfaltigen subjektiven Erscheinungen, Bewusstseinsweisen, Modi möglicher Stellungnahmen“ bezeichnet, deren rein intuitive Deskription „kein Ansich“ ergibt, „das nicht in subjektiven Modis des Für-mich oder Für-uns gegeben ist“. 2 Ms. A VII 19/14a. 3 Ms. A VII 14/52a (1926). 4 Von der Methode des Abbaus spricht Husserl auch schon im „Exkurs“ der Ethikvorlesung von 1920 (vgl. Husserliana XXXII, S. 287–297). 5 Siehe unten, S. 265. An dieser Idee hält Husserl auch noch in den 30er Jahren fest. In einem Manuskript aus dem Jahr 1932 schreibt er: „Also ästhetische Auslegung der Welt führt auf konstitutiv abstraktive Schichten, die Sonderauslegungen fordern. […] Wir haben also die Aufgabe der totalen ontologischen Weltästhetik, darin zuunterst die abstrakte Aufgabe der Ästhetik der bloßen Natur […].“ (Ms. A V 19/12a).

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ginale Erfahrung“, nämlich die Reduktion der abstrakten Schicht der intersubjektiv erfahrenen Natur auf die Natur „rein als von mir erfahrene“1. Die durch diese Reduktion etablierte transzendentale Ästhetik zielt als eine unselbständige Teildisziplin der Wissenschaft von der Lebenswelt auf „das konstitutive Subjektive der Natur“2, auf das primordiale Erscheinen von Natur und seine Wesengesetze. Im Unterschied zum Begriff der Natur, mit dem sich der Begriff der transzendentalen Ästhetik im engeren und engsten Sinne verbindet, bezeichnet also „Lebenswelt“ die konkrete Erfahrungswelt.3 Sie als die in der alltäglichen Erfahrung „dem reifen Menschen vorgegeben[e] Welt“ ist „‚bedeutsame‘ Welt und nicht etwa Natur, die Bedeutung annimmt“4. Sie ist die „praktische Welt […], in der wir gemeinsam leben“5. Sie als „die historisch wahre Welt“ ist zugleich „die Welt schlechthin“, „die Welt, in der ich, in der wir gemeinsam leben, in der unsere Altvordern und ihre mitlebenden ihnen Bekannten und Unbekannten gelebt haben usw., die einzige Welt, die für uns, die für sie überhaupt ist.“6 Von ihr sagt Husserl emphatisch: „Eine andere Welt haben wir […] überhaupt nicht als die in Form der Lebenswelt vorgegebene […], von ihr fängt jede erdenkliche Wissenschaft an.“7 Damit ist die Lebenswelt sowohl die Welt, mit der es die Geisteswissenschaften zu tun haben, als auch die Welt, die „Ursprungsstätte 1 A VII 14/54b (1926). Die Reduktion auf originale Erfahrung und original erfahrene Welt bzw. Natur wird Husserl später „primordiale Reduktion“ nennen (vgl. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hrsg. von Stephen Strasser, Den Haag 21963 (zweite, verbesserte Auflage), § 61). 2 Siehe unten, S. 270 in Text Nr. 26. 3 In einem Manuskript aus dem Jahr 1925 kontrastiert Husserl eine transzendentale Ästhetik der naturalen „Kernstruktur“ als einer „ersten wissenschaftlichen Disziplin“ mit der „‚transzendental-ästhetischen‘ Betrachtung der konkreten Lebenswelt überhaupt“, mit welcher „eine Wissenschaft von der vorwissenschaftlichen Lebenswelt [erwächst]“ (Ms. A VII 14/52a). Vgl. hiermit die doppelte Bestimmung von „transzendentale Ästhetik“ im Manuskript D 2/1–6 von 1933: „Transzendentale Ästhetik im weitesten Sinne ist transzendentale Lehre vom Apriori des wahrgenommenen Realen und seiner Erscheinungsweisen; transzendentale Ästhetik im engsten Sinne ist transzendentale Ästhetik der sinnlich erfahrenen Welt, der Natur.“ (D 2 /2b). 4 Ms. A V 19/14a (1927). 5 Ebd. 6 Ms. A V 7/11b (1929). 7 Ms. A V 7/16a/b (1929). Vgl. was Avenarius über den „natürlichen Ausgangspunkt“ aller Wissenschaft und Philosophie sagt (oben, S. XXX).

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aller objektiven Tatsachenwissenschaften“1 ist. Bei der Klärung des Verhältnisses der Geisteswissenschaften zu den Naturwissenschaften und der ihre Forschungsgebiete bestimmenden Grundbegriffe „Natur“ und „Geist“ motivierte diese Einsicht in den zwanziger Jahren Husserls Rückgang auf die vortheoretische, natürliche Erfahrungswelt, in der Natur und Geist „in einem ursprünglich anschaulichen Ineinander“2 gegeben sind; auf sie musste von den jeweils geltenden, aber nicht ursprünglich geschöpften Begriffen, Methoden und Theorien der Wissenschaften zurückgegangen werden auf „die vor allen Wissenschaften und ihren theoretischen Intentionen liegende Welt als Welt vortheoretischer Anschauung, ja als Welt des aktuellen Lebens, in welches das welterfahrende und welttheoretisierende Leben beschlossen ist“3. Demnach musste sich „jede ursprungsklare Scheidung der Wissenschaften“ in einem Rückgang auf die Lebenswelt als die ursprüngliche Erfahrungswelt vollziehen; denn in ihr „erschauen wir den Ursprungsort einer radikal begründeten Austeilung bzw. Einteilung möglicher Weltwissenschaften.“4 Unter den Wissenschaften von der Welt erweist sich also die im weitesten Sinne verstandenene transzendentale Ästhetik und näher die sich ihr einordnende Ontologie als die „an sich erste Weltwissenschaft“; sie ist „die deskriptive Wissenschaft von der Welt als purer Erfahrungswelt und nach ihrem Generellen“ und hat als Wissenschaft von der „universalen Strukturform der Erfahrungswelt als solcher ihre reine Gestalt […] als reine apriorische Wissenschaft.“5 Die in den zwanziger Jahren von Husserl im Rahmen einer transzendentalen Ästhetik entwickelte Wissenschaft von der Lebenswelt ist mit ihrem Stufenbau von Aufgaben auf die anschauliche Welt 1 Edmund Husserl, Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925, Husserliana IX, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1962 (21968), S. 58. 2 Ebd., S. 55. 3 Ebd., S. 56. 4 Ebd., S. 64. Dass dieser Rückgang sich im Rahmen der transzendentalen Ästhetik vollziehen sollte, zeigt folgendes Zitat aus einem 1926 entstandenen Manuskript: „Das Studium der universalen Erfahrung und Erfahrungswelt, die transzendentale Ästhetik, gibt durch ihre strukturelle Gliederung der Erfahrung die Leitung für die systematische Unterscheidung der Weltgebiete, also für die Zielstellungen der besondern Weltwissenschaften […].“ (Ms. A IV 2/15a). 5 Husserliana IX, S. 69. In der Krisis wird Husserl von der „Ontologie der Lebenswelt rein als Erfahrungswelt“ sprechen und ihre Aufgabe in der Herausarbeitung ihrer invarianten Strukturen erblicken (vgl. Husserliana VI, S. 176).

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bezogen. Deren Anschaulichkeit bestimmt sich einerseits von der alle Erfahrung fundierenden Schicht der Sinnenanschaulichkeit her, andererseits aber auch – und das gilt insbesondere für die weit gefasste Anschaulichkeit der konkreten Lebenswelt mit ihren mannigfaltigen direkt und „unmittelbar“ erfahrenen Kulturgegenständlichkeiten – aus dem Kontrast zu den prinzipiell unanschaulichen Gebilden, die aus den Idealisierungen der mathematischen Naturwissenschaft entspringen.1 Die von dieser entworfene universale exakte Natur ist als ein Produkt von Idealisierungsleistungen „überästhetisch“ und unterscheidet sich somit grundlegend von der „ästhetischen Erfahrungswelt“, die ein Reich des prinzipiell Anschaulichen ist.2 Die Grenze dieses Reiches des im weitesten Sinne „Ästhetischen“ und der auf es bezogenen Wissenschaft von der Lebenswelt bezeichnet Husserl prägnant mit dem Satz „Die transzendentale Ästhetik hat natürlich ihr Ende, wo die Kontinuitäts-Mathematik, die Limes-Mathematik anfängt, also die Geometrisierung der Natur.“3 * Eine intensive und fruchtbare Zeit der Beschäftigung mit der Lebensweltthematik sind die Jahre um 1930, die Husserl einmal als „die glücklichen Jahre 28/33“4 bezeichnet. In diesen überaus produktiven Jahren wird die Lebenswelt eines der zentralen Themen von Husserls Forschungen und es entstehen zahlreiche der im vorliegenden Band edierten Texte. Als am Ende dieser Periode Eugen Fink einen „Bericht über Edmund Husserls unveröffentlichte Manuskripte“ verfasst,5 in dem er betont, dass „die verwirklichte phänome1

Zur Anschaulichkeit der Lebenswelt siehe unten S. LXXIV. Ms. B I 10/146b (ca. 1931); vgl. hierzu auch Ms. A IV 2/11–12 (1926) sowie in dem um 1925 entstandenen Ms. A VII 14/21–29, in dem Husserl die „Sphäre der Idealisierungen“ mit der Sphäre der transzendentalen Ästhetik als der Sphäre der „transzendentalen Wesenslehre der Erfahrungswelt als solcher“ kontrastiert (24 a/b). 3 Ms. A VII 14/67a (ca. 1925). In der Krisis wird der Gegensatz von idealisierter exakter Natur und Lebenswelt im Rahmen der Erörterung der „Lebensweltvergessenheit“ der objektiven Wissenschaften eine zentrale Rolle spielen. 4 Briefwechsel, Bd. III, S. 361. 5 Dieser Bericht war Teil eines Projektantrags Husserls bei der Rockefeller Foundation zwecks Finanzierung von Finks Forschungsassistenz; er findet sich vollständig abgedruckt in Sebastian Luft, „Die Archivierung des husserlschen Nachlasses 1933– 1935“, in: Husserl Studies 20 (2004), S. 1–23, hier S. 5–7. 2

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nologische Philosophie E. Husserls“ in den in jahrzentelanger konkreter Forschungsarbeit entstandenen und bislang unveröffentlichten Manuskripten liege,1 kann er schreiben: „Die Auslegung der vortheoretischen Lebenswelt, als Welt der Erfahrung in den Mannigfaltigkeiten der subjektiven Gegebenheitsweisen, im Wechsel der relativen umweltlichen Gegebenheit als Heimwelt und Fremdwelt usw. stellt ein umfassendes Grundthema von sehr vielen Manuskripten dar.“2 Finks Einschätzung der Bedeutung der Lebensweltmanuskripte entspricht Husserls wenige Jahre später geäußerter Überzeugung, dass die Lebenswelt ein „gewaltiges“ wissenschaftliches Thema darstelle.3 Eine Periode, in der sich Husserl besonders intensiv mit der Lebensweltthematik beschäftigte, ist die Zeit von März 1935 bis zu seiner Erkrankung im August 1937; in dieser Zeit arbeitete Husserl an den Wiener und Prager Vorträgen sowie der sich daraus entwickelnden Krisis-Abhandlung, die er zu einem Grundlagenwerk seiner transzendentalen Phänomenologie ausgestalten wollte.4 Am Anfang dieser Periode stand die Sichtung und Ordnung des Husserl’schen Nachlasses im März 1935 durch Fink und Landgrebe und der Plan, ihn in Prag archivieren und transkribieren zu lassen, um ihn dann in einer Folge von Schriften zu veröffentlichen und ihn auf diese Weise für die Nachwelt zu retten. Im Auftrag des Cercle philosophique de Prague, mit dem Husserl einen Kontrakt zwecks wissenschaftlicher Auswertung seines Nachlasses geschlossen hatte, transkribierte Landgrebe Mitte der 30er Jahre Husserl’sche Manuskripte und sandte Husserl regelmäßig Durchschläge der angefertigten Maschinenabschriften zu.5 Im Zuge der „durch das tätige Interesse des Cercle philosophique begonnene[n] Abschrift und Bearbeitung“ von Husserls unveröffentlichten Manuskripten, von denen Husserl selbst sagt, dass in ihnen „das Wichtigste [s]einer Lebensarbeit beschlossen ist“,6 entstanden 1

Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. 3 Vgl. Briefwechsel, Bd. IV, S. 494 (Brief an Alfred Schütz vom 6.1.1937). 4 Siehe Husserl-Chronik, S. 458–487. 5 So schreibt Husserl am 14.1.1936 an Ingarden: „Dr. Landgrebe arbeitet eifrigst an den Abschriften u. ebenso an der Herausgabe der ‚Logischen Studien‘.“ (Briefwechsel, Bd. III, S. 305; vgl. S. 303). Bei den „Logischen Studien“ handelt es sich um den Arbeitstitel von Erfahrung und Urteil. 6 Briefwechsel, Bd. IV, S. 225, Brief an Felix Kaufmann vom 5.5.1936. 2

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wohl auch Landgrebes Prager Transkriptionen von Manuskripten mit Lebensweltthematik, die er für Husserl, der sie für seine Arbeit an seiner Krisis-Schrift benötigte, anfertigte.1 Sie bildeten die Grundlage für den dritten, zu Husserls Lebzeiten nicht mehr veröffentlichten Teil der Krisis.2 Landgrebes Arbeit an Husserls Lebensweltmanuskripten fand ihren literarischen Niederschlag in seiner breit angelegten Einleitung zu dem 1939 in Prag erschienenen, von ihm redigierten und herausgegebenen Buch Erfahrung und Urteil, das auf unpublizierten Manuskripten Husserls beruht und an dem er parallel zu seinen Transkriptionen arbeitete; in dieser Einleitung geht Landgrebe ausführlich auf die Lebenswelt als den allem Erfahren einzelner Gegenstände und allem über sie Urteilen vorgegebenen universalen Glaubensboden ein.3 Landgrebes Prager Transkriptionen sollten aber die Grundlage für zumindest eine weitere Publikation aus Husserls Nachlass bieten. Dies geht aus einem im September 1938 verfassten Brief Jean Hérings an Hedwig Conrad-Martius hervor, in dem es heißt: „Von des Meisters Manuskripten ist der erste Band im Druck: Erfahrung und Urteil. In Aussicht: Bd II: Welterfahrung und Horizontprobleme. III. Zeitprobleme. IV. Anthropologie usw.“4 Der hier genannte zweite

1 Siehe z. B. die aufgelisteten „abgeschriebenen“ „allerneuesten Manuskripte“ in Landgrebes Brief an Husserl vom 4.7.1935 (Briefwechsel, Bd. IV, S. 334, siehe ferner S. 335–338). Die in den Husserl-Archiven aufbewahrten Prager Transkriptionen Landgrebes stammen aus den Konvolutgruppen A V, A VI, A VII und D: aus A V („Intentionale Anthropologie (Person und Umwelt)“) die Konvolute 1, 3, 5–7, 10–15, 18–20 und 22; aus A VI („Psychologie (Lehre von der Intentionalität)“) das Konvolut A VI 14a; aus A VII („Theorie der Weltapperzeption“) die Konvolute 1–9, 16, 21–24, 29 und 31; aus D („Primordiale Konstitution (‚Urkonstitution‘)“) die Konvolute 1, 14, 17 und 18. Die Titel der einzelnen Konvolute, deren Manuskripte großteils Anfang der 30er Jahre entstanden sind, lassen zwei sich überschneidende Themenkreise erkennen: „Welt“ bzw. „Lebenswelt“ und „Anthropologie“. 2 Darin insbesondere für die §§ 28–55, die Husserl mit dem Titel versah „Der Weg in die phänomenologische Transzendentalphilosophie in der Rückfrage von der vorgegebenen Lebenswelt aus“ (Husserliana VI, S. 105–193). 3 Siehe insbesondere § 7 sowie die §§ 8–10 in: Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, redigiert und herausgegeben von Ludwig Landgrebe, Hamburg 1976. 4 Zitiert nach Jan Patocka, ˇ Texte – Dokumente – Bibliographie, hrsg. von Ludger Hagedorn und Hans Rainer Sepp, Freiburg i. Br./München 1999, S. 250. Für die im Brief Hérings genannten Bände II und IV sollten wohl die damals schon vorliegenden Prager Transkriptionen Landgrebes die Grundlage bilden (siehe oben, S. LXI, Anm. 1).

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Band wurde bekanntlich so wenig wie die anderen 1938 noch „in Aussicht“ stehenden Publikationsvorhaben realisiert. Gleichwohl blieb Landgrebes intensive Prager Beschäftigung mit Husserls LebensweltManuskripten literarisch nicht folgenlos. Zum einen profitierte Jan ˇ Patocka, der Landgrebe im Herbst 1933 kennenlernte und mit ihm Mitte der 30er Jahre in regem philosophischen Austausch stand,1 offenbar von Landgrebes Transkriptionen der Husserl’schen Manuskripte, wie seine 1936 in Prag erschienene Habilitationsschrift Die natürliche Welt als philosophisches Problem zeigt. Zum andern veröffentlichte Landgrebe schon 1940 einen Aufsatz mit dem Titel „Die Welt als phänomenologisches Problem“2. * In seinen Freiburger Jahren erarbeitete Husserl in seinen Vorlesungen und insbesondere in den „konkreten Auslegungen“3 seiner zahlreichen Forschungsmanuskripte Ansätze zu einer systematischen Wissenschaft der Lebenswelt. Was Heidegger 1927 in Sein und Zeit als ein Desiderat bezeichnete, nämlich die Ausarbeitung der Idee eines natürlichen Weltbegriffs,4 ist Husserl sicher nur zu einem Teil gelungen. Aber Husserl hat das Verdienst, den von Avenarius 1

Vgl. Briefwechsel, Bd. IV, S. 316–318 und 326. Von Dorian Cairns übersetzt, zuerst erschienen als „The world as phenomenological problem“ in: Philosophy and Phenomenological Research 1 (1940), S. 38– 58.; auf deutsch veröffentlicht in: Ludwig Landgrebe, Der Weg der Phänomenologie. Das Problem einer ursprünglichen Erfahrung, Gütersloh 1963, S. 41–62. Am Ende des im Leuvener Husserl-Archiv befindlichen Typoskriptes dieses Aufsatzes kündigt Landgrebe einen weiteren Aufsatz zum selben Thema an, der aber wohl nicht mehr fertiggestellt wurde. 3 Briefwechsel, Bd. IV, S. 306. 4 Für Heidegger, der in Sein und Zeit im Rahmen einer existenzialen Analytik des menschlichen Daseins eine detaillierte Analyse der Lebenswelt und des alltäglichen In-der-Welt-Seins vorlegt, war „d i e A u sa rb e i t u n g d e r I d e e e i n e s ‚n a t ü r l i c h e n W e l tb e g r i ffs‘“, „ein Desiderat […], das seit langem die Philosophie beunruhigt, bei dessen Erfüllung sie aber immer wieder versagt“ (Sein und Zeit, § 11). Dass Heidegger in diesem Zusammenhang weder Avenarius noch Husserl erwähnt und die Rede vom natürlichen Weltbegriff als eine „matter of common knowledge rather than something developed by these two philosophers“ behandelt, wird von Husserl in einem Gespräch vom 31.12.1931, in dem er auch ausdrückt, wieviel er Avenarius verdankt, kritisch angemerkt (siehe Dorian Cairns, Conversations with Husserl and Fink, The Hague 1976, S. 63). 2

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ausgehenden Impuls zu einer Beschreibung der vorwissenschaftlich erfahrenen Welt als Erster aufgenommen und die bei Avenarius zu findende „ihrer selbst nicht ganz gewisse und klare Tendenz“1 auf eine alle theoretischen Vorüberzeugungen fernhaltende Beschreibung der vor aller Theorie unmittelbar gegebenen Welt in ihrer Bedeutung für die Philosophie erkannt zu haben. Über Avenarius’ rohe Beschreibungen bald weit hinausgehend, verwandelte Husserl dessen Impuls in das Programm einer eidetisch-deskriptiven Erforschung der Lebenswelt und ihrer einzel- wie intersubjektiven Konstitution und setzte wichtige Punkte dieses Programms in seinen konkreten deskriptiven Analysen in „erledigende Arbeit“ um. Dadurch hat er nicht nur der vagen Idee des natürlichen Weltbegriffs die konkrete Gestalt philosophischer Apriori-Forschung gegeben, sondern auch zahlreiche Phänomenologen zur Weiterarbeit angeregt.2 * Husserls eigene Arbeiten, die als Ausführungen seines Projektes einer Wissenschaft von der Lebenswelt angesehen werden können, sind zum größten Teil Forschungsmanuskripte. Zahlreiche dieser Manuskripte wurden bereits in verschiedenen Bänden der Husserliana veröffentlicht.3 Der vorliegende Band bietet eine repäsentative Auswahl der bislang unveröffentlichten Forschungsmanuskripte, in denen Husserl wesentliche Aspekte oder Dimensionen der Lebenswelt behandelt. Der diese Textauswahl leitende Begriff von L eb en sw elt bestimmt sich von der oben erläuterten, im weitesten Sinne verstandenen transzendentalen Ästhetik her.4 Unter „Lebenswelt“ wird hier also die konkrete, unabgebaute Welt verstanden, in der Personen 1

Husserliana XIII, S. 196. ˇ und Gurwitsch insbesondere Hier ist neben Heidegger, Fink, Landgrebe, Patocka Alfred Schütz mit seinem Erstlingswerk Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (Wien 1932) und dem aus dem Nachlass von Thomas Luckmann herausgegebenen und auf Grund der Pläne und Notizen Schütz’ vollendeten zweibändigen Werk Strukturen der Lebenswelt (Frankfurt am Main 1979 und 1984) zu nennen. 3 Texte mit Lebenswelt-Thematik finden sich insbesondere in folgenden Bänden der Husserliana: IV, VI, VIII, IX, XI, XV, XXIX, XXXII und XXXIV sowie in Husserliana Materialien VIII. 4 Siehe oben, S. LI–LIII. 2

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alltäglich leben und die als durch sie geprägte traditionale Welt diejenige Welt ist, die für eine Person bzw. Personengemeinschaft zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt die ihr geltende und all ihren Aktivitäten vorgegebene Welt ist.1 In Bezug auf diese vorgegebene Welt galt Husserls wissenschaftliches Interesse dem, was er schon früh den „natürlichen“ oder „notwendigen Weltbegriff“ nannte: dem Inbegriff der Strukturen, die jede erdenkliche Lebenswelt und damit auch unsere gegenwärtige, von neuzeitlicher Wissenschaft und moderner Technik bestimmte Lebenswelt charakterisieren.2 Bei seinen auf das Apriori („Eidos“) der Lebenswelt und ihrer Konstitution zielenden Forschungen war für Husserl also der Asp ek t d er In varian z leitend.3 Dieser Aspekt, der auch für regionale Ontologien im Sinne Husserls leitend ist, sofern in einer solchen das Apriori einer Region herausgearbeitet wird, verband sich in Husserls Lebensweltforschungen mit dem T o t alit ät sasp ek t : Es sollten diejenigen invarianten Strukturen bzw. Charakteristika herausgearbeitet werden, die die Lebenswelt als das jeweils erlebte und geltende G an ze bestimmen und korrelativ die Konstitution eines solchen Ganzen.4 Diese beiden Aspekte waren auch bei der Auswahl der Texte des vorliegenden Bandes und insbesondere bei ihrer Einteilung in thematische Textgruppen leitend. Dem Totalitätsaspekt kam dabei allerdings der Primat zu. Er schloss die Aufnahme von Untersuchungen aus, die sich lediglich auf bestimmte regionale Typen lebens1 Vgl. Husserliana VI, S. 132–134, wo Husserl den Begriff der konkreten Lebenswelt bestimmt. 2 Vgl. ebd., S. 134 und 176. 3 Vgl. „[…] die Idee der Wissenschaft von dem ‚natürlichen Weltbegriff‘, d. i. der universalen deskriptiven Wissenschaft vom invarianten Wesen der vorgegebenen wie jeder möglichen erfahrbaren Welt“ (Husserliana IX, S. 93). Unter dem InvarianzAspekt konnten, da nicht jede erdenkliche Lebenswelt Wissenschaften enthält, all die Forschungsmanuskripte ausgeschlossen werden, in denen Husserl das Verhältnis von Lebenswelt und Wissenschaft behandelt. 4 Die Beschreibungen, die Totalitätsaspekte thematisieren, charakterisiert Husserl als „auf das Weltganze in seinen allgemeinen ganzheitlichen Eigenschaften“ bezogene Beschreibungen; in ihnen wird „der universale Stil des Weltganzen, der durch alle Gegenwarten hindurchgeht und durch alle zugehörigen Außenhorizonte, in seiner Allgemeinheit zum Thema“ (Husserliana XXXII, S. 113). Es handelt sich also um „Auslegung[en] der vorgegebenen Welt ihren universalen Formen und Strukturen nach“ (Ms. B I 9/29a; Hervorhebung vom Hrsg.).

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weltlicher Onta beziehen und in denen der Blick auf das Ganze der Lebenswelt und seine Gegebenheitsweisen verlorengeht.1 Von diesem Auswahlprinzip scheint die Aufnahme der Texte abzuweichen, in denen die Erfahrung von einzelnen realen Gegenständlichkeiten allgemein beschrieben wird. Diese auf das Allgemeine der Erfahrung von Realem überhaupt bezogenen Beschreibungen sind aber insofern Beschreibungen eines Totalitätsaspektes, als die Erfahrung des lebensweltlichen Ganzen der Realitätenwelt und die Erfahrung von einzelnen Realen untrennbar zusammengehören und in ihrer Zusammengehörigkeit einen die Lebenswelterfahrung charakterisierenden invarianten Totalitätsaspekt bilden.2 Ähnliches gilt von der Leiberfahrung als Moment der Welterfahrung. Was auf den ersten Blick ein Sonderthema zu sein scheint, erweist sich auf den zweiten Blick als ein universaler Aspekt, der für Struktur und Konstitution der Lebenswelt als ganzer wesentlich ist. Die von Husserl thematisierte Lebenswelt ist ein multidimensionales Sinngebilde. Von ihren zahlreichen, sie als ganze charakterisierenden Sinndimensionen sind in der vorliegenden Edition nicht alle durch besondere Textgruppen repräsentiert. Die darin unter dem Invarianz- und Totalitätsaspekt ausgewählten und durch eigene Textgruppen vertretenen Dimensionen stellen nur einen Teil der von Husserl aufgewiesenen und beschriebenen Dimensionen dar. Einige von ihnen, wie z. B. die lebensweltlichen Dimensionen der Zeit, des Raumes und der Intersubjektivität, sind im vorliegenden Band nur durch wenige Texte dokumentiert, werden aber in anderen, schon veröffentlichten Nachlasstexten ausführlich behandelt.3 Unter dem 1 Einen Totalitätsaspekt der Lebenswelt bildet freilich die Tatsache, d a s s sie überhaupt eine in verschiedene „Regionen“ von typisiert erfahrenen Entitäten gegliederte Welt ist und als solche erfahren wird; und dies gilt; wie Husserl in Text Nr. 28 sagt, für jede erdenkliche Lebenswelt (vgl. unten, S. 286). 2 Vgl. unten, S. 42: „So ist für uns die Welt immerfort in doppeltem Sinn erfahren: v o r g e g e b e n, im Voraus da in mannigfachen wirklichen oder von wirklichen hergeleiteten Apperzeptionen, aber in der Passivität einig in einer fließenden und doch immerfort sich vereinheitlichenden Gesamtapperzeption, und t h e m a t i s c h g e g e b e n, thematisch nach einzelnen Objekten als Substraten hervortretender Erfahrungsbestimmungen, sich in fortgehender Kenntnisnahme immer weiter bestimmend, bis das Interesse, das so gerichtet ist, sich erschöpft oder abgelenkt wird und andere Objekte thematisch werden etc.“ 3 So wird die Lebensweltdimension der Zeit in den C-Manuskripten ausführlich behandelt (Husserliana Materialien, Band VIII). Die Dimension der Intersubjektivität

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Totalitätsaspekt wichtige Dimensionen der Lebenswelt wie die der Sprache und des Ausdrucks werden in einigen Texten des vorliegenden Bandes nur en passant angedeutet.1 Und völlig fehlen Dimensionen, die zwar für die Lebenswelt wesentlich sind, von Husserl aber kaum je als solche thematisiert wurden, wie z. B. die lebensweltlichen Dimensionen der Religion, der Moral, und des Besitzes.2 Die im vorliegenden Band durch zehn thematische Textgruppen vertretenen Sinndimensionen und Aspekte der Lebenswelt stellen demnach nur einen Teil, aber einen großen und wichtigen Teil der zum konkreten Sinngebilde „Lebenswelt“ gehörigen Dimensionen und Aspekte dar. Über diesen Teil soll der folgende Gang durch die Textgruppen einen kurzen Überblick geben. Dabei wird jede zunächst allgemein und dann durch einige wenige thematische Akzente näher charakterisiert. Die Anordnung der Textgruppen ist nicht Ausdruck einer der Lebenswelt inhärenten Systematik. Bis auf die drei ersten Textgruppen, in denen mit „Vorgegebenheit“, „Horizonthaftigkeit“ und „Orientierungsstruktur“ grundlegende Gegebenheitsweisen der Lebenswelt behandelt werden und deren Voranstellung daher sachlich nahe lag, ist die Aufeinanderfolge der Textgruppen relativ beliebig und auch sekundär; denn in ihnen kommen Momente des komplexen Sinnganzen „Lebenswelt“ zur Sprache, von denen jedes für dieses Ganze gleich notwendig ist.3

ist insbesondere in Husserliana XV (Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929–1935. Hrsg. von Iso Kern, Den Haag 1973) dokumentiert, und der lebensweltliche Raum ist Thema einer HusserlianaEdition, die gegenwärtig am Kölner Husserl-Archiv von Dieter Lohmar vorbereitet wird. 1 Siehe unten, S. 173 f., 345–348, 426 f. und 520–522. Die geringe Qualität und Menge unveröffentlichter Nachlasstexte, in denen Sprache und Ausdruck als für die Lebenswelt konstitutive Dimensionen behandelt werden, zwangen zum Verzicht auf eine entsprechende Textgruppe; ein wichtiger Text zum Thema „Sprache und Lebenswelt“ ist in Husserliana XV als Beilage XII publiziert. 2 Das Thema des Besitzes wird von Husserl, soweit dem Hrsg. bekannt ist, nur in einem kurzen mit „Eigentum“ überschriebenen Manuskript aus den 30er Jahren (siehe unten Beilage XXIX) behandelt sowie in dem aus dem Jahr 1934 stammenden Manuskript BI 15/14–16, in welchem Husserl en passant auf Eigentum im vorrechtlichen und rechtlichen Sinn eingeht. 3 Näheres zur Auswahl und Andordnung der Texte findet sich in dem Abschnitt „Zur Textgestaltung“ (S. 737 f.).

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* Die erste Textgruppe bietet eine Auswahl von Texten, die den Totalitätsaspekt der Vorgegebenheit der Lebenswelt thematisieren, d. h. die Weise, in der sie – aller jeweiligen thematischen Gegebenheit von einzelnen Gegenständlichkeiten voraus – immer schon unthematisch mitbewusst bzw. mitgewusst ist als das Universum dessen, was für uns habituell in Seinsgeltung ist und als schon daseiend begegnet. Der Großteil dieser Texte stammt aus den 20er Jahren und insbesondere aus deren Anfang, als für Husserl die genetischen Aspekte der Konstitution und damit auch die Genesis der Vorgegebenheit der Welt im Welt vorgebenden Bewusstsein ins Zentrum seiner Forschungen rückten. In diesen Texten tauchen daher für die genetische Phänomenologie typische Begriffe wie „Urstiftung“, „Fortgeltung“ und „Erwerb“ auf. So thematisiert Text Nr. 1 die „urstiftenden Akte“, in denen reale Gegenstände als für uns seiende und mit einem bestimmten individualtypischen und arttypischen Sinn bewusste Geltungseinheiten erstmals konstituiert werden und damit zu etwas werden, auf das wir uns in künftigen Akten als etwas beziehen können, das für uns „schon da“ ist und uns zur Zuwendung motivieren kann. Anders als die aus urstiftenden Akten hervorgegangene und fortan ständig mitgeltende transzendente Realitätenwelt ist das Reich der Immanenz, das uns allererst in Akten der Reflexion zugänglich wird und so eine flüchtige, sekundäre Gegenständlichkeit gewinnt – wie Husserl in Text Nr. 3 zeigt –, keine Welt im eigentlichen Sinne, sie ist kein Bereich vorgegebener seiender Gegenständlichkeiten, auf die wir frei zugreifen könnten. Das ist darin begründet, dass die Sphäre der Immanenz (insbesondere die Sphäre der Erscheinungen von transzendenten Realitäten) kein ursprüngliches Interessenfeld und Feld der Praxis ist; als bloß Durchlebtes geht Immanentes gewöhnlich auf in der Funktion der Konstitution von Weltlichem und bildet kein „Feld möglichen Seinkönnens, auf das hin lebend, das tätige und leidende Ich als Ich ‚sein‘ kann“1. Als Interessenfeld gliedert sich die Lebenswelt in ein „Feld effektiv bewusster Objekte“ als dem „effektiv bewussten Rayon der 1

Unten, S. 22.

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Welt“ und den „ineffektiven Horizont des ‚Unbewussten‘“, der als offener Horizont unabgehobener und nichterscheinender Objekte jenes Feld umringt und diesem den Sinn verleiht, ein Feld „aus der Welt“ zu sein.1 Diese ist als ganze vorgegeben, sofern durch all unser Leben „beständig eine Welt ap p erzep t io n hindurchgeht“, dank derer immerfort Dinge erscheinen, gleichgültig, ob wir gerade auf sie achten oder nicht; durch diese „Gesamtapperzeption“ ist uns die Welt horizontmäßig vorgegeben, und zwar als „ein beständig konstituiertes, obschon beständig wandelbares System affektiver Tendenzen auf das Ich hin“, dem auf subjektiver Seite „ein System von gegengerichteten, vom Ich auf die Substrate gehenden Erfahrungsinteressen, aktiven Intentionen auf Bestimmung“ entspricht.2 * Den mit dem Totalitätsaspekt der Vorgegebenheit verbundenen Totalitätsaspekt der Horizonthaftigkeit der Lebenswelt behandeln die Texte der zweiten Textgruppe. Sie enthält ausschließlich Texte aus der ersten Hälfte der 30er Jahre, in denen sich Husserl intensiv mit der Gegebenheit der Welt in Horizonten beschäftigte.3 Den Texten zur Horizontthematik kommt nicht nur sachlich eine besondere Bedeutung zu, nämlich insofern als mit dem Terminus „Horizont“ die grundlegende Gegebenheitsweise der Welt angesprochen wird, sondern auch in methodischer Hinsicht; denn, wie Husserl in einem Manuskript von 1934 programmatisch formuliert: „Die Konstitution der vorgegebenen Welt systematisch auslegen – das ist systematisch die Horizontstruktur derselben auslegen“4. Die Erfahrung von Welt bestimmt Husserl als eine „synthetische Erfahrung“5, in der sich im Übergang von einem raumzeitlichen Einzelnen zum anderen und von einer Umgebung zu immer neuen Umgebungen die Welt als die allumfassende Umgebung aller erfahrbaren raumzeitlichen Gegenständlichkeiten vorzeichnet. Zu dieser 1

Siehe unten, S. 27. Unten, S. 43. 3 In dieser Zeit dürfte auch der Plan zu dem von Héring erwähnten zweiten Nachlassband „Welterfahrung und Horizontprobleme“ gefasst worden sein (vgl. oben, S. LVII). 4 Unten, S. 125. 5 Unten, S. 68. 2

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„horizonthaften“, vorprädikativen Welterfahrung, die konstitutives Moment aller Erfahrung von Realem ist, gehört die Möglichkeit der Konstruktion des Begriffs „Allheit der Realitäten“, durch den wir Welt thematisch vorstellen und zum Gegenstand von Aussagen machen. Dieser auch Husserl stets leitende Grundbegriff von Welt ist aber ihm zufolge nicht ein erst philosophischer Reflexion auf die Welt entstammender Begriff; er gehört vielmehr schon der Sprache des Alltags an und drückt den konstanten „immerfort fertig“ gewesenen „Seinssinn ‚seiende All-Einheit von an sich seienden Realitäten‘“ aus, der in der strömenden Erfahrung mit ihrem stets „unfertigen“, weil in ständigem Wandel befindlichen Sinngebilde „Welt“ impliziert ist.1 Die strömende Welterfahrung beschreibt Husserl als einen Prozess ständiger Korrekturen von Meinungen über die Welt, in dem sich die uns jeweils als „wahre“ Welt geltende Welt konstituiert. Dieser Geltungshorizont ist, konkret genommen, ein „Einfühlungshorizont“2, ein Horizont wechselseitigen Verstehens, in dem sich die Welt als Welt für alle in intersubjektiver Gegenwart konstituiert. Die jeweils erfahrene Welt hat als horizonthaft bewusste bzw. gewusste raumzeitliche Realitätenwelt eine um eine anschauliche Kernsphäre zentrierte Nah-Fern-Struktur, die in der Potenzialität besteht, den Vorzeichnungen3 der Kernsphäre folgend, zu immer umfassenderen anschaulichen Sphären mit neuen, auf weitere erfahrbare Realitäten verweisenden Vorzeichnungen fortzuschreiten. Hierbei besteht hinsichtlich der Weckungen der Vorzeichnungen eine „Gradualität der Lebendigkeit“, die ihren Limes hat: „ein Null der Gewecktheit“; dieser Limes der Gewecktheit kennzeichnet den äußersten unanschaulich-leeren Horizont der stehend-strömenden Welterfahrung, den Husserl wegen seiner Ungewecktheit den Horizont des „Unbewussten“ nennt.4 Als Horizont der Erfahrung von Realem ist der Welthorizont der Horizont der Raumzeitlichkeit, die Husserl als die „unendliche Total1

Siehe unten, S. 83. Unten, S. 88–91. 3 In Text Nr. 15 spricht Husserl anstelle von Vorzeichnungen von „ursprünglichen Induktionen“; sie bilden einen wesentlichen Bestandteil dessen, was Husserl „Horizont“ und näher „Innenhorizont“ und „Außenhorizont“ nennt. 4 Unten, S. 96 und 101. 2

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form“ der Realitätenwelt bezeichnet.1 Als invariante „transzendental-ästhetische“ Form, für die das Horizontbewusstsein des Und-soweiter-in-infinitum kennzeichnend ist, umspannt sie alle erdenklichen endlichen realen Formen und gehört als Form für simultanes und sukzessives Sein zur Struktur jeder erdenklichen Realitätenwelt. * Ein weiterer die Lebenswelt als ganze bestimmender Aspekt ist ihre Verfasstheit als in vielerlei Hinsichten „orientierte“ Welt. Als in leiblich erfahrenden und gemeinschaftlich handelnden Subjekten zentrierte Umwelt ist die Lebenswelt für jedes sie erfahrende Subjekt immer in konkreten „Situationen“ gegeben, die die Lebensbedeutsamkeit seiner aktuellen Lage ausmachen und es in seinem Handeln bestimmen; sie sind vielfach ineinander gestaffelt und letztlich alle eingegliedert in die „Allsituation“, in das Sinnganze der jeweils geltenden Lebenswelt, durch das jede aktuell bewusste Situation bedeutungsmäßig mitbestimmt ist. Die zusammengehörigen Totalitätsaspekte der Orientiertheit der Lebenswelt und der Situiertheit aller Lebenswelterfahrung sind Thema in den Texten der III. Textgruppe. Hier zeigt Husserl, dass die Lebenswelt immer in einer doppelten Weise orientiert gegeben ist: Zum einen ist die Lebenswelt gegeben in einer jeweiligen einzelsubjektiven Orientierung, bezogen auf den jeweils eigenen, als Nullpunkt räumlicher Weltorientierung unmittelbar erfahrenen Leib, durch welchen sie als Raumwelt im Wahrnehmen und Sich-Bewegen zugänglich und in vielerlei Formen von Praxis umgestaltet wird; zum andern ist die Lebenswelt gegeben als ein intersubjektives System möglicher räumlicher und zeitlicher Orientierungen, das die horizontmäßig bewusste bzw. gewusste Voraussetzung intersubjektiver Praxis in der Welt ist.2 Als raumzeitlich orientierte Welt ist die Lebenswelt immer auch eine sozial orientierte Welt, die sich jeweils von einem Wir (z. B. Familie, Stamm oder Nation) her als

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Unten, S. 122. Die räumliche Orientierungsstruktur der Welt hat Husserl schon sehr früh, allerdings eingeschränkt auf die einzelsubjektive leibliche Welterfahrung, eingehend beschrieben (vgl. die Vorlesung von 1907 „Ding und Raum“ in Husserliana XVI). 2

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„Heimwelt“ einer Sozietät, als Sphäre des Bekannten, Vertrauten und ohne weiteres Verständlichen bestimmt.1 Mit der Existenz verschiedener Heimwelten stellt sich das Problem des Verstehens fremder Heimwelten von der je eigenen Heimwelt aus und damit das Problem der Konstitution einer gemeinsamen heimweltlich invarianten Welt. Diese Problematik behandelt Husserl ausführlich im Text Nr. 17. Die Orientiertheit und damit Begrenztheit des Verstehens fremder Heim- oder Lebensumwelten sieht er in der Tatsache begründet, dass jeder in eine bestimmte Heimwelt hineingeboren und hineinerzogen ist. Gleichwohl beziehen sich Menschen, die verschiedenartigen Lebensumwelten angehören, in ihrer Praxis auf ein und dieselbe Welt, was die geläufige und zur gewöhnlichen Welterfahrung gehörige Unterscheidung zwischen der Welt selbst und verschiedenen Weltvorstellungen motiviert. Diese eine Welt, derer wir in wachem Dasein ständig gewiss sind, ist aber immer nur bewusst in der Orientierungsgestalt einer jeweiligen Heimwelt, und diese ist wiederum immer nur gegeben in einer privaten und überdies zeitweiligen Orientierung.2 Was den heimweltübergreifenden Bezug auf die eine und selbe Welt ermöglicht und die Rede von „der“ Welt rechtfertigt, ist ein in allen Heimwelten aufweisbarer Kernbestand von naturalen Apperzeptionen; dieser erlaubt die intersubjektive Identifikation von Gegenständen und bildet neben dem Allgemeinsten und unmittelbar Verständlichen menschlichen Verhaltens die Grundlage des Verstehens von Angehörigen fremder Heimwelten. Jedes heimweltliche Wir hat seine raumzeitliche Welt in seiner „Wir-Orientierung“; von einem jeweiligen bestimmten Wir aus hat jedes Hier und Dort seine Wir-Bedeutung. Denn jedes solche Wir hat seine „kollektive Leiblichkeit“3 und damit hat es als seine WirStelle ein „Territorium“, das für jeden Einzelnen aus diesem Wir die räumliche Orientierung seiner Lebenswelt wesentlich mitbestimmt.4

1 Zur Thematik „Heimwelt-Fremdwelt“ siehe auch Text Nr. 27 sowie die Beilagen XI und XLVIII in Husserliana XV. 2 Der Aspekt der umweltlichen Gegebenheit der Lebenswelt wird in der letzten Textgruppe dieser Edition unter dem Titel „Viele Umwelten und die eine wahre Welt“ ausführlich behandelt. 3 Unten, S. 181. 4 Siehe ebd.

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Die Orientiertheit der Lebenswelt ist immer eine Orientiertheit in Situationen, d. h. in vom Subjekt erlebten Lebenslagen, die konkret sein jeweiliges In-der-Welt-Sein ausmachen und als Sinnganzheiten unmittelbar oder mittelbar handlungsbestimmend sind. Im Ausgang von einer Analyse der Situationswahrheiten untersucht Husserl detailliert die Strukturen lebensweltlicher Situativität als Horizontstrukturen der konkreten praktischen Lebenswelt. Dabei unterscheidet er unselbständige Sondersituationen von relativ selbständigen Situationsganzheiten, die selbst wieder unselbständige Sondersituationen in umfassenderen, relativ selbständigen Situationsganzheiten sind – ein Ineinander, das bis hinauf zur „Allsituation“ als dem allumfassenden Sinnganzen der jeweils geltenden Lebensumwelt reicht. Als Sinnganzheiten, die auf Interessen relativ sind, weisen Situationen verschiedene Grade der Weckung oder Lebendigkeit auf, und zwar absteigend von der vom jeweils aktuell herrschenden Interesse bestimmten Momentansituation bis zur Allsituation, die den geringsten Grad von Gewecktheit aufweist, aber gleichwohl in jedem Moment den konkreten Gesamtsinn einer Situation mitbestimmt. Dieses Ineinander von Situationen bzw. situativen Sinnhorizonten zeigt Husserl am Beispiel der „bürgerlichen Normalwelt“ und einiger für sie exemplarischer Sondersituationen auf.1 * Die eigentümliche Seinsgeltung der Lebenswelt als ganzer in ihrem Verhältnis zur Seinsgeltung der innerweltlichen Entitäten und der welterfahrenden Subjektivität bzw. Intersubjektivität stellt einen weiteren wichtigen Totalitätsaspekt der Lebenswelt dar. Husserl hat ihn in zahlreichen Forschungsmanuskripten bis in seine letzten Lebensjahre hinein immer wieder behandelt und dabei seine frühe „cartesianische“ Ansicht zur Seinsgeltung der Welt, die in den Ideen I in dem Gedankenexperiment der Weltvernichtung und dem Aufweis des Seinsprimats des reinen Bewusstseins ihren bündigen literarischen Ausdruck gefunden hat,2 nicht unwesentlich modifiziert. Die

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Siehe unten, S. 195–199. Vgl. Husserliana III/1, § 49.

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in der IV. Textgruppe des vorliegenden Bandes abgedruckten Texte bieten eine Auswahl dieser Forschungsmanuskripte.1 In den frühen Texten dieser Textgruppe betont Husserl noch die Ähnlichkeit zwischen dem Geltungsstil von Einzelseienden in der Welt und dem Geltungsstil der Welt selbst; Welt und Einzelseiendes gelten in empirischer Zweifellosigkeit aufgrund bislang ungebrochener Einstimmigkeit der Erfahrung. Die Zweifellosigkeit der Welt bestimmt er hier als „historische Apodiktizität“; sie besteht in der zu einem bestimmten Zeitpunkt wohlmotivierten Gewissheit, dass die Welt „voraussichtlich“ ist, in einer Gewissheit, die nicht aufgehoben werden kann, sofern und solange einstimmig Welt erfahren wird.2 Seine in zahlreichen Manuskripten dargelegte Ansicht, dass die für uns als seiend geltende Welt eine Idee ist und die Korrelatidee der Idee einstimmiger Erfahrung ist, wird von Husserl in Beilage XVII in einem Gedankenexperiment problematisiert, in dem er innerhalb eines Subjekts zwei periodisch alternierende Einstimmigkeitssysteme ansetzt und diese in eine intersubjektive Erfahrungswelt einfügt. In dem wohl 1930 entstandenen, mit „Mögliches Nichtsein der Welt“ betiteltem Manuskript3 erwägt Husserl die Möglichkeit der Abwandlung der faktischen Welterfahrung zu einem ständigen Wechsel von weltlosem Gewühl von Empfindungen (oder weltloser Empfindungseinförmigkeit) und einstimmiger Welterfahrung; dabei berührt er die für eine transzendentale Konstitutionstheorie der Welt wichtigen Probleme von Verrücktheit, Schlaf, Tod, Geburt und Wiedergeburt. In den beiden letzten Texten dieser Textgruppe zieht Husserl aus dem Zusammenhang von Leiberfahrung und Welterfahrung wichtige Schlüsse über die eigentümliche Seinsgeltung der Welt. Da im Unterschied zu Einzelerfahrungen von Realem die Welterfahrung nicht anullierbar ist, gibt diese die Welt in apodiktischer Seinsgewissheit; und da Leiberfahrung für Welterfahrung konstitutiv ist, ist Leiberfahrung ein apodiktisches Moment der Welterfahrung. Seiender Leib und seiende Welt, zeigt Husserl, sind Korrelate und gehören zur Seinsstruktur eines personalen Ich; daher ist der cartesianische 1 Weitere wichtige Texte zur Seinsgeltung der Welt finden sich z. B. in Husserliana VIII; siehe hier die 34. Vorlesung sowie die Beilagen X und XI. 2 Siehe unten, S. 215. Vgl. S. 235, wo Husserl von einem apodiktischen Prinzip der Voraussichtlichkeit des Seins der Welt spricht. 3 Beilage XVII.

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Dualismus, der für diese intentionale Korrelation blind ist und personales Ich und Welt trennt, widersinnig.1 Im Text Nr. 25, einem Text aus seinem letztem Schaffensjahr, wendet sich Husserl erneut gegen Descartes. Hier legt er dar, dass die apodiktische Gewissheit des jeweils eigenen menschlich-leiblichen Seins Teil der apodiktischen Gewissheit des Seinsbodens „Welt“ ist, und weist daher den für den Dualismus Descartes’ grundlegenden Zweifelsversuch als methodischen Irrweg zurück. * Die Texte der V. Textgruppe behandeln die fundierende „abstrakte“ naturale Kernschicht der Lebenswelt, durch die sie überhaupt eine Welt von Realitäten, eine Welt raumzeitlich individuierter Entitäten ist. Diese Texte stammen mit Ausnahme des letzten Textes aus den 20er Jahren, in denen Husserl seine Wissenschaft von der Lebenswelt unter dem Titel einer weit gefassten „transzendentalen Ästhetik“ oder „transzendentalen Erfahrungslehre“2 entwickelte. Deren Methode des abstraktiven Abbaus der konkreten Erfahrungswelt auf die unselbständige Kernschicht „Natur“ wird in dem von Husserl mit „Der natürliche Weltbegriff“ überschriebenen Text dargestellt.3 Gemäß seiner Anverwandlung der von Avenarius stammenden Idee zielt Husserl dabei auf die Herausarbeitung der apriorischen Struktur einer vortheoretisch erfahrenen, praktisch gestalteten, vielfältig bewerteten und mit Bedeutungen aufgeladenen Umwelt überhaupt, und zwar in Korrelation zur apriorischen Struktur einer von einer solchen Umwelt unabtrennbaren Subjektivität bzw. Intersubjektivität. Das transzendental-ästhetisch herauszustellende Apriori der lebensweltlichen Natur ist hier aber nur ein abstraktes Moment des vollen, in ihm fundierten Apriori der konkreten Erfahrungswelt, zu deren „Prädikaten“ auch Gefühlsprädikate und Stimmungscharaktere gehören. In Bezug auf die Realitätenwelt als konkrete intersubjektive Kulturwelt zeigt Husserl zwei für sie konstitutive Schichten von For1 2 3

Siehe unten, S. 248. Siehe unten, S. 260. Zum Begriff der transzendentalen Ästhetik siehe oben S. L–LV. Siehe unten, Text Nr. 26.

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men auf: die naturale Schicht der Formen des Kernes der unbedingt objektiven Prädikate, d. h. jener Bestimmungen, die intersubjektive Erfahrung und Identifikation von Weltlichem für jedermann ermöglichen, und die Schicht der Formen, die zwar zu intersubjektiv erfahrbaren Realitäten gehören, aber nicht für jedermann denselben Gehalt haben, da sie auf besondere Gemeinschaften und die ihnen eigentümlichen Weltauffassungen bezogen sind.1 Mit dieser Differenz hängt der Unterschied zwischen dem, was für jedermann wahr oder unbedingt objektiv wahr ist, und dem, was nur relativ objektiv wahr ist, zusammen, sofern es auf besondere Subjektgruppen bezogen ist. – Im selben Text macht Husserl auf eine wichtige Unterscheidung bei den idealen Gegenständlichkeiten aufmerksam, die in der Lebenswelt als in verschiedenen Formen „realisierte“ auftreten; er unterscheidet freie Idealitäten (wie z. B. Lehrsätze der Mathematik) und gebundene Idealitäten (z. B. Goethes „Faust“), zu deren Seinssinn im Unterschied zu den freien oder ungebundenen Idealitäten ein Verweis auf weltlich Reales und damit auf Natur als die unterste individuierende Schicht einer Realitätenwelt gehört.2 Die fundierende naturale Schicht jeder Lebenswelt, die Husserl als Korrelat „reiner“ Erfahrung konzipiert, ist aber noch nicht Natur im Sinne der Naturwissenschaften. Bei der lebensweltlichen „ästhetischen“ Natur ist von unbedingter, exakter Naturkausalität noch keine Rede; sie weist mit ihren anschaulichen Regularitäten und Konditionalitäten lediglich eine ungefähre Kausalität, einen kausalen Gewohnheitsstil auf, der zufällige Ereignisse nicht ausschließt, aber hinreichend verlässlich ist, um Voraussicht und in Voraussicht gründende Praxis zu ermöglichen. * In den Texten der umfangreichen VI. Textgruppe, die großteils in der ersten Hälfte der 30er Jahre entstanden, als die Lebenswelt ins Zentrum von Husserls wissenschaftlichen Interessen rückte und schließlich zu einem „philosophischen Universalproblem“ mit ei1

Siehe unten, Text Nr. 29. Vgl. unten, S. 298–300. Diese Unterscheidung hat Landgrebe unter Verwendung von Stücken aus Text Nr. 29 in den § 65 von Erfahrung und Urteil eingearbeitet. 2

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ner eigenständigen Bedeutung wurde,1 wird die Lebenswelt als eine personale Welt der Praxis und der von ihr bestimmten endlichen Erkenntnisinteressen thematisiert. Eine Welt handelnder Personen zu sein und von ihnen her ein „Gesicht“ zu erhalten, stellt einen der wichtigsten Totalitätsaspekte jeder Lebenswelt dar.2 In prägnanten Formulierungen charakterisiert Husserl in Text Nr. 31 die Lebenswelt als eine von Interessen und Zwecken bestimmte endliche Umwelt, zu der von den jeweiligen praktischen Vorhaben geweckte Sonderhorizonte und Stufen von Wir-Gemeinschaften gehören. Die Interessen – Husserl unterscheidet hier Ernst-Interessen und Interessen der Muße – bestimmen auch, wie weit die die Praxis fundierende Erfahrung und Erkenntnis jeweils zu gehen hat. Als durch Praxis bestimmte und in der Praxis begegnende Welt hat die Lebenswelt immer schon ein „Wertrelief“ oder „Wertantlitz“3, d. h. sie ist vorgegeben als Welt, die unterschiedlich Wertes und Unwertes sowie auch Gleichgültiges (Wertneutrales) enthält. Aus dem von ständigen und von periodisch auftretenden elementaren Bedürfnissen bestimmten „Leben in der ‚urnormalen‘ Form“ erhält sie als eine für dieses Leben „wertvolle Welt“ ihr „urnormales Gesicht“4. Da jede lebensweltliche Erfahrung von Kulturgegenständen die Apperzeption von praktischen personalen Subjekten und Subjektgemeinschaften impliziert, ist sie Erfahrung im jeweiligen „Horizont der Mitmenschlichkeit“. In diesem sozialen Horizont, der immer auch ein von praktischen Interessen bestimmter Horizont ist, begegnet die lebensweltliche Natur als eine zweckhafte, den jeweiligen Interessen dienliche oder abträgliche Natur. Für die Praxis ist aber nicht nur diese Natur, sondern die ganze schon mit einem „Kulturgesicht“5 begegnende Welt die „universale Materie“6 für die aus der Praxis 1 Vgl. Husserliana VI, § 34 f): „Das Problem der Lebenswelt anstatt als Teilproblem vielmehr als philosophisches Universalproblem“ (S. 135–138). 2 Der Gesichtsmetapher bedient sich Husserl in den Texten des vorliegenden Bandes und insbesondere in denen der VI. Textgruppe immer wieder. Er will damit wohl vor allem zum Ausdruck bringen, dass die Lebenswelt als ein Sinnganzes mit einer Unmittelbarkeit begegnet, die mit der Unmittelbarkeit zu vergleichen ist, mit der menschliche Gesichter als sinnhafte Ausdruckseinheiten erfahren werden. 3 Unten, S. 315. 4 Ebd. 5 Unten, S. 328. 6 Unten, S. 327.

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neu werdende und gemäß ihrer Ziele umzugestaltende Welt. Als praktische Welt ist sie eine von Traditionen bestimmte soziale Welt; denn „natürliches Weltleben“ als praktisches ist „geradehin in seiner vertrauten Tradition leben“1. Leben in Traditionen und Sondertraditionen innerhalb einer übergreifenden Tradition bedingt Grenzen des Verstehens zwischen Menschengruppen einander fremder Traditionen; und fremde Kulturwelten mit weit in die Geschichte zurückreichenden eigenständigen Traditionen werden in einem privativen Verstehensmodus als „unverstanden-verstandene Welten“2 erfahren. In Text Nr. 36 weist Husserl ein wichtiges Moment der wesentlich durch Habitualitäten und insbesondere durch verschiedene Formen von Wissen bestimmten Konstitution der Lebenswelt als einer praktischen Welt auf: das zum Wissen von der im Leben vorgegebenen, vertrauten Erfahrungswelt gehörige Vorauswissen um ihre künftigen Veränderungen und Unveränderungen, und zwar in Bezug auf alle Typen von praktisch relevanten Entitäten, eingeschlossen menschliche Personen als Objekte der Praxis. Dieses Vorauswissen kann verbessert werden, und diese Verbesserung kann ein eigenes im Dienst praktischer Interessen stehendes praktisches Ziel werden. In dieser „theoretischen“ Optimierungspraxis liegen nach Husserl u. a. die Wurzeln der Wissenschaft und ihres Strebens nach schlechthin objektiven, intersubjektiv bewährbaren Wahrheiten. In dem langen Text Nr. 37 findet sich eine detaillierte Analyse der verschiedenen im Handeln implizierten praktischen Horizonte: vom Welthorizont als dem universalen Horizont aller Praxis bis zu den praktischen Horizonten, die unmittelbar zum „urquellenden Jetzt“ einer Handlungsintention gehören. Mit Blick auf die Lebenswelt als praktische Umwelt personaler Verbände umreißt Husserl in Text Nr. 38 die Hauptthemen einer „intentionalen Soziologie“. Hier steht im Zentrum das Ineinander der verschiedenen Typen und Stufen von „Verbandsumwelten“, die aus den Interessen, Intentionen, Handlungen etc. der in Sozialitäten (Personalitäten höherer Stufe) lebenden Menschen ihren Sinn, ihr spezielles „personales Gesicht“ erhalten.

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Unten, S. 339. Unten, S. 342.

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In den Texten der VII. Textgruppe thematisiert Husserl den Totalitätsaspekt des subjektiven Gewordenseins der Lebenswelt und analysiert sie als ein aus sinnstiftenden Leistungen hervorgegangenes Sinngebilde, das als ganzes den allgemeinen Charakter eines apperzeptiven „Erwerbs“ hat. Dabei abstrahiert er zunächst von den aus den Wissenschaften herstammenden Wissensauflagen, mit denen uns heute die Welt vorgegeben ist, und untersucht nach der Klärung der ihn leitenden Begriffe von Perzeption, Apperzeption und Wissensbelag1 die allgemeinsten statischen und genetischen Strukturen der vorwissenschaftlichen Welt als Welt, die rein aus erfahrenden Perzeptionen und Apperzeptionen sowie aus Handlungen ihren jeweiligen Sinn erhält und bereichert. Aus der Fülle der Themen dieser Textgruppe seien im Folgenden nur zwei herausgegriffen. In Text Nr. 45, der aus der Zeit der Abfassung der Krisis stammt, erfährt die Rede von der „Anschaulichkeit“ der Lebenswelt bzw. der in ihr „schlicht“ erfahrenen Seienden eine nähere Bestimmung. Als schlicht erfahren bestimmt Husserl alle in der Lebenswelt „direkt“ begegnenden und in ihrem apperzeptiven Sinn unmittelbar verstandenen Gegenständlichkeiten. Von diesem Erfahrungsbegriff her, für den also der in ihn eingehende Begriff der Apperzeption konstitutiv ist, bestimmt sich die Anschaulichkeit der konkreten Lebenswelt, die mit all ihren Sinnesauflagen unmittelbar begegnet und als solche „schlicht anschaulich“ ist. Dieser erweiterte Erfahrungsbegriff wird kontrastiert mit dem Begriff der „reinen“ Erfahrung, der sich, wie Husserl hier ausdrücklich sagt, auf den durch Abbau von Sinnesauflagen herauszustellenden Kern „lebensweltliche Natur“ bezieht, der Grundlage für die neuzeitliche Konzeption der exakten Natur ist. Im Unterschied zu dieser prinzipiell unanschaulichen, idealisierten Natur ist die lebensweltliche Natur als Moment der wesentlich zweischichtigen konkreten Lebenswelt selbst etwas Erfahrenes und prinzipiell Anschauliches.2

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Siehe Text Nr. 40 sowie die Beilagen XXXI bis XXXVI. Vgl. hierzu Husserliana VI, S. 130, wo Husserl die Lebenswelt als „Universum prinzipieller Anschaubarkeit“ und als durch „wirkliche Erfahrbarkeit“ ausgezeichnetes „Reich ursprünglicher Evidenzen“ bezeichnet. 2

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Im Ausgang von einer Analyse des Begriffs der Handlung (im weitesten Sinne) und des Begriffs des Erwerbs durch Handlung erörtert Husserl in Text Nr. 41 das Problem, wie und in welchem Sinne die für die Konstitution des Sinnes „Welt“ grundlegende apperzeptive Sinneinheit „Seiendes“ ein in einem Handeln erworbener Erwerb sein kann, und zeigt, dass der von ihm zuvor explizierte weite Begriff von Handlung, wonach Handlung immer schon bekanntes Seiendes als aus Handeln entsprungenen Erwerb voraussetzt, in einen infiniten Regress führt, und dass wir folglich andere Begriffe von Handlung und Erwerb benötigen, um das Kardinalproblem einer genetischen Konstitutionstheorie („Wie ist ursprüngliche Erwerbung der Welt möglich?“) zu lösen. Dieses Problem wird in der Beilage XXXVII als Problem der Genesis der „stummen“ Welt und als Problem der Genesis des Stils der Welterfahrung neu gestellt. Das Problem des Anfangs des Welterwerbs steht auch im Zentrum der eidetisch-rekonstruktiven Betrachtungen von Text Nr. 43, in dem es zusammen mit dem Problem des Anfangs eines weltkonstituierenden Ichs und des Anfangs des zeitkonstituierenden Strömens der Erfahrung von Welt behandelt wird. Diese im Rahmen einer primordialen Reduktion durchgeführten Betrachtungen über Ur-Affektion, Urgeburt, erste Kindheit, Vor-Sein, prätemporale Zeit, über das Ich „vor“ der Affektion, über die Unzeit des Ich vor dem sich konstituierenden Ich, über Instinkt-Affektion und über die aller Weltkonstitution richtunggebenden instinktiven bzw. triebmäßigen Voraussetzungen eines Anfangs des Welterwerbs sind verwoben mit prinzipiellen Überlegungen zur rekonstruktiven Methode der genetischen Phänomenologie. Die in vielen Texten der VII. Textgruppe immer wieder mitthematischen universalen Lebensweltaspekte der Historizität, Traditionalität und Generativität stehen im Mittelpunkt der letzten Texte dieser Textgruppe (Nr. 44–48 und Beilagen XLII–XLV); sie führen den allgemeinen Gedanken, dass der jeweils geltende Sinn „Welt“ den Charakter eines apperzeptiven Erwerbs hat, weiter und akzentuieren den im weitesten Sinne historischen oder traditionalen Charakter der Welt, die ein wesentlich generatives Sinngebilde ist, das aus den vielfältigen Leistungen durch Tradition verbundener Generationen hervorgegangen ist. Die konkrete Lebenswelt, die eine Scheidung in Werte und bloße Tatsachen nicht kennt und in der alles „Lebensbedeutung“ hat, ist

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„durch und durch ‚traditional‘ in einem weitesten Sinne“.1 Sie gliedert sich in generative Heimwelten mit relativ geschlossenen generativen Sondermenschheiten und deren Sondertraditionen (wie z. B. Standes- und Berufstraditionen), und sie konstituiert sich als ein komplexes in ständiger Entwicklung befindliches Sinn- und Geltungsgebilde in einem Ineinander von Traditionen. In diesem Konstitutionsprozess einer von Traditionen bestimmten Lebenswelt kommt der Geschichtswissenschaft eine besondere Rolle zu. Sie macht aus der vorhistorischen Welt „eine Welt höheren Sinnes“, sofern sie die durch mündliche Überlieferung bestimmte und begrenzte generative Vergangenheit zur offenen historischen Vergangenheit erweitert. In Text Nr. 48 führt Husserl den für eine phänomenologische Untersuchung der Lebenswelt und ihrer konkret erfahrenen Zeitlichkeit nützlichen Begriff der „breiten Gegenwart“ ein. Dieser Terminus bezeichnet nicht nur die jetzige Minute, die jetzige Stunde, den heutigen Tag oder das laufende Jahr, sondern unsere konkret erlebte „gegenwärtige Zeit“, unsere jeweilige lebendige Gegenwart, die, „hervorwerdend“ aus der in ihr selbst mitgeltenden „lebendigen Vergangenheit“, eine historische Sinngestalt mit einer individualtypischen Geschlossenheit ist (z. B. „die Nachkriegszeit“). Als für uns lebendiger Geltungshorizont ist die breite Gegenwart der jeweilig aktuelle Horizont unserer Praxis.2 * Ein Totalitätsaspekt jeder erdenklichen Lebenswelt ist die Zeitlichkeit. Diesen Aspekt hat Husserl insbesondere in seinen C-Manuskripten behandelt, in denen er der transzendentalen Konstitution der Lebenswelt als einer Zeitwelt zahlreiche Untersuchungen widmete.3 In der VIII. Textgruppe des vorliegenden Band kommen späte Manu-

1

Siehe unten, S. 521. Siehe unten, S. 547–550. 3 Siehe Husserliana Materialien VIII (Edmund Husserl, Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934). Die C-Manuskripte, hrsg. von Dieter Lohmar, Dordrecht 2006) und hier insbesondere die Texte 2, 6, 8, 13, 22, 37, 40, 41, 46, 50, 57, 61, 65, 74, 83, 85 und 89–97. 2

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skripte zur zeitlichen Struktur der Lebenswelt zum Abdruck, die sich außerhalb der Konvolutgruppe C des Nachlasses finden. Neben allgemeinen Zeitaspekten der Lebenswelt, die in den Texten Nr. 49 und 50 sowie den Beilagen XLVI–XLVIII behandelt werden und von denen hier nur der Text Nr. 49 „Die Urzeitigung, in welcher Welt sich zeitigt“ hervorgehoben sei, kommt in dieser Textgruppe auch ein bislang wenig beachteter Aspekt der Lebenswelt und ihrer zeitlichen Konstitution zur Sprache: ihre Verfasstheit als eine von Periodizitäten bestimmte Welt.1 Als konkret erfahrene Zeitwelt ist die Lebenswelt, wie Husserl in Text Nr. 51 zeigt, eine periodisierte Welt. Aufgrund periodisch sich meldender und Befriedigung fordernder Bedürfnisse bildet der Mensch einen Horizont verschiedener Periodizitäten als Moment seines praktischen lebensweltlichen Zeithorizontes aus; denn als ein Bedürfniswesen, das für seine Zukunft planend Sorge trägt, lebt er nicht nur in Periodizitäten, sondern er „blickt vor auf die Periodizität“ und handelt vorausschauend im „Horizont typisch allgemeiner Bedürfnisse mit typisch allgemeinen Befriedigungen“.2 Neben den von elementaren Bedürfnissen bestimmten Periodizitäten gibt es aber auch diejenigen Periodizitäten, die durch den Wechsel von Phasen der Arbeit und Phasen der Erholung geprägt werden und lebensweltliche Horizonte eigener Art ausbilden.3 Der für die Konstitution des Seinssinnes der objektiven Welt überaus wichtigen Periodizität von Wachen und Schlafen geht Husserl in Text Nr. 52 nach. In-der-Welt-Leben ist Leben in dieser Periodizität, das, Schlafperioden überbrückend, Wachperioden mit Wachperioden verknüpft und so eine kontinuierlich fortdauernde seiende Welt für alle konstituiert. In diesem Text charakterisiert Husserl nicht nur die Wachheit in ihrer umfassenden konstitutiven Funktion, sondern er unterzieht auch die Übergangsphänomene des Einschlafens und

1 Konstitutive Bedeutung für den Sinn der Lebenswelt als objektiver Welt für alle haben nicht nur die in dieser Textgruppe thematischen Periodizitäten von Wachheit und Schlaf, sondern auch die weltlichen Vorkommnisse „Geburt“ und „Tod“. Siehe hierzu z. B. Text Nr. 94 in Husserliana Materialien VIII sowie das Manuskript A VI 14a/4–11, das in einem den „Grenzproblemen“ der Phänomenologie gewidmeten HusserlianaBand veröffentlicht werden wird. 2 Unten, S. 582. 3 Siehe unten Beilage XLIX.

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Erwachens als Totalphänomene menschlichen Willens- und Interessenlebens sowie die Phänomene der periodischen und aperiodischen Weckungen von Interessen und Relevanzhorizonten einer eingehenden deskriptiven Analyse. * Zwei Aspekte, die sich erst auf den zweiten Blick als Aspekte erschließen, die die Lebenswelt als ganze charakterisieren, sind die zusammengehörigen Aspekte „Leiblichkeit“ und „Normalität“. Sie sind Thema der Texte der IX. Textgruppe, in denen Husserl die wahrnehmend fungierende Leiblichkeit als Moment und Voraussetzung der Erfahrung einer Realitätenwelt beschreibt und Normalität gemeinschaftlich erfahrender Subjekte als notwendig für die Konstitution einer intersubjektiven Welt aufweist. Als kinästhetisch fungierender und sich in seinem Fungieren selbst erscheinender Leib ist der je eigene Leib nicht nur zentrales Organ der Weltwahrnehmung, sondern er ist immer auch als in der Welt Seiendes miterfahren. In der eigenleiblich vermittelten Erfahrung der Leiber der Anderen gründet der intersubjektive Seinssinn „realer Körper“, der konstitutiv eingeht in den Seinssinn „objektive Welt“. Dabei hat, wie Husserl zeigt, die „primordiale“, je eigene originale Leib- und Seelenerfahrung für die objektive, durch Fremderfahrung vermittelte Welterfahrung eine unhintergehbare Fundierungsfunktion. Dass die objektive Welt das Korrelat einstimmiger normaler intersubjektiver Erfahrung ist und als solche normal fungierende Leiblichkeit voraussetzt, weist Husserl in Text Nr. 55 auf; hier macht er aber auch deutlich, dass normale Leiblichkeit für die Konstitution einer objektiven Welt nicht ausreicht; denn normale wie auch anomale Leiblichkeit selbst ist nur etwas, das sich durch normale Erfahrung und normale Gemeinschaft bestimmt: „Die normale Welt mit ihren normalen Qualitäten ist Korrelat der normalen Menschengemeinschaft (bestimmt hier durch die normale Leiblichkeit) – aber die normale Leiblichkeit ist selbst nur etwas durch die normale Erfahrung sich Bestimmendes. Also ist die normale Erfahrung nicht in sich charakterisiert durch die Relation zur ‚normalen‘ Leiblichkeit: Ein ursprüngliches E rfahrungssystem ist in sich

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charakterisiert, und sein Korrelat ist in sich charakterisiert, sozusagen als Et alo n f ü r alle S et zu n g vo n Wirk lich k eit en.“1 In Text Nr. 57 gibt Husserl eine eingehende Analyse der Bezogenheit einzelsubjektiv und intersubjektiv erfahrener Lebenswelt auf normale Leiblichkeit. Dabei untersucht er die verschiedenen Möglichkeiten des Anomalwerdens der für das Erscheinen von Welt konstitutiven Leiblichkeiten und zeigt, dass ohne eine gewisse Harmonie miteinander kommunizierender normaler leiblicher Subjekte eine Welt, die den Sinn „objektive Welt“ hat, undenkbar ist. Die Naturwissenschaften, die auf eine aus der natürlichen Erfahrung vorgegebene Welt bezogen sind, sind demnach notwendig auf eine Welt bezogen, die auf normale vergemeinschaftete Leiblichkeit relativ ist.2 Für die weltkonstitutive Rolle der Normalität ist die Unterscheidung zwischen dem Normalen im Sinne des Durchschnittlichen und dem Normalen im Sinne des das bessere Recht Gebenden von besonderer Bedeutung; denn der Sinn „objektive Welt“ bestimmt sich nicht von der ersten, sondern von der zweiten Form der Normalität her: normale Erfahrung dieses Sinnes ist optimale und praktisch verlässlichste Erfahrung.3 Dieser Begriff von normaler Erfahrung erfährt eine wesentliche Erweiterung, wenn die natürliche Erfahrung durch Kunstmittel (wie z. B. Fernrohr und Mikroskop) verbessert wird. Welterfahrung wird relativ auf den jeweiligen Entwicklungsstand der Kunstmittel der Welterfahrung und Welterkenntnis. * Der erste der beiden zusammengehörigen Totalitätsaspekte der Lebenswelt, die in den Texten der X. Textgruppe, der letzten des vorliegenden Bandes, behandelt werden, besteht in der notwendigen Gegebenheit „der“ Lebenswelt in Gestalt einer jeweiligen für einen Einzelnen oder für eine Gemeinschaft geltenden Lebensumwelt. In den auf diese Umwelt bezogenen okkasionellen Wahrheiten sind wir 1

Unten, S. 641. Die Naturwissenschaft setzt, wie Husserl anmerkt, „mit der Existenz der Natur schon eine universale Weltstruktur voraus, die über die naturale Struktur hinausreicht: eine raumzeitliche Welt mit Menschen, in der nicht zufällig Menschen vorkommen“ (unten, S. 655). 3 Unten, S. 656–659. 2

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in einer nicht aufzuhebenden Präsumtivität auf „die“ Lebenswelt bezogen, die als Idee der an sich seienden, „wahren“ Lebenswelt Korrelat der Idee einer einstimmigen, alle Irrtümer herauskorrigierenden Erfahrung ist und als solche die stillschweigende Voraussetzung in aller Welterfahrung ist. Diese Voraussetzung ist, wie Husserl anmerkt, „nicht ein theoretisches, historisch-faktisches Vorurteil, sondern gehört wesentlich zum Sinn der Welterfahrung eines jeden“1. Die eine Welt, auf die wir umweltlich erfahrend, handelnd und erkennend bezogen sind, ist aber nicht die aus ihr und in ihr methodisch herauszuarbeitende an sich seiende Welt der objektiven Wissenschaften, sondern die subjektiv-relative Lebenswelt, die Husserl hier auch als „die Welt des heraklitischen Flusses“ bezeichnet.2 In der Rückverwiesenheit der objektiven, wissenschaftlich bestimmten Welt auf die Lebenswelt und in der notwendigen Gegebenheit der einen Lebenswelt in einer jeweiligen konkreten Lebensumwelt liegt eine unaufhebbare Relativität der als seiend geltenden Welt auf das welterfahrende Leben, aus dem sie ihren ganzen, vielfach gestuften Sinn schöpft; in dieser Relativität besteht der zweite Totalitätsaspekt, der in den Texten der X. Textgruppe behandelt wird. Im letzten und wohl wichtigsten dieser Texte wendet sich Husserl vom Standpunkt seines transzendentalphänomenologischen Idealismus gegen die Ansetzung einer an sich seienden Welt und zeigt, dass darin eine den Erfahrungssinn der Welt verfehlende Substruktion liegt. Denn der Sinn, in dem uns die Welt als seiend gilt, steht in einer unaufhebbaren Relativität: Er erwächst ganz aus unserer Erfahrung und der unabschließbaren Bewährung durch Erfahrung: „Seiende Welt ist nichts außerhalb der Relativität dieser Seinsgeltung; und was ‚Seiendes‘ meint, ist immer und notwendig nichts anderes als […] Bewährtes und in weiteren Korrekturen zu Bewährendes“.3 Die diese wesentliche „Seinsgeltungsrelativität“4 ignorierende Unterschiebung eines absoluten An-sich bestimmt Husserl zufolge die griechische Philosophie und Wissenschaft und die in ihrer Tradition stehende Philosophie und Wissenschaft der Folgezeit; sie prägt eine in ihren

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Unten, S. 684. Unten Beilage LIII, S. 690. Unten, S. 726. Ebd.

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Zielen wie in ihrer Methode widersinnige Metaphysik, deren innere Verkehrtheit, wie Husserl hier sagt, nur in einer radikalen Besinnung auf das Bewusstseinsleben hervortreten kann, in dem aller Sinn mundanen Seins und mundaner Wahrheit „seine Stätte und ständige Quelle“ hat.1 *** Zum Schluß einige Worte des Dankes. Den Herausgebern der Husserliana, Professor Rudolf Bernet, Direktor des Leuvener Husserl-Archivs, und Professor Ullrich Melle, danke ich für das in mich gesetzte Vertrauen, das sie mir durch Erteilung des Editionsauftrags für den vorliegenden Band erwiesen haben. Durch konstruktive Kritik und hilfreiche Vorschläge auf den turnusmäßigen Editorenbesprechungen haben sie nicht unwesentlich zum Gelingen der vorliegenden Edition beigetragen. Besonders danken möchte ich Professor Melle, der die Texte des vorliegenden Bandes korrekturgelesen hat und nützliche Vorschläge sowohl zur Anordnung der Texte als auch zur Verschlankung des ursprünglich sehr üppigen Textbestandes gemacht hat. Danken möchte ich auch Professor Bernet und Professor Melle für ihre Vorschläge zur Kürzung und Verbesserung der Einleitung. Ein herzliches Dankeschön geht auch an meinen Leuvener Kollegen Dr. Thomas Vongehr für das Korrekturlesen der Einleitung und des textkritischen Anhanges sowie für seine Hilfe bei der Entzifferung einiger rätselhafter Stenogramme Husserls. Leuven, April 2007

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Unten, S. 732.

Rochus Sowa

I. DIE VORGEGEBENHEIT DER WELT UND VORGEGEBENER WELTBESTÄNDE

Nr. 1 Urstiftung des S einssinnes von vorgegebenem Einzelseienden und von vorgegebener seiender Welt 1

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Inhalt: Begriff der Vorgegebenheit von „Seiendem“ – „für“ das erkennende Subjekt. Und in der Natürlichkeit des Bewusstseinslebens für uns seiende Dinge, Menschen usw., alles zusammen für uns seiende 10 Welt. „Seiendes“ ist für mich in thematischen acta da, gegeben. Das ist: Ich bin in einem Akte im spezifischen Wortsinn als erfassendes Ich auf es gerichtet (so, wenn es Substratgegenstand ist); jedenfalls im Vollzug des Aktes ist es für mich in ak t u eller G elt u n g. Der Seins15 glaube ist jetzt wirklicher Glaube, der von mir, vom Ich-Pol aus in lebendigem Vollzug ist. Wende ich mich einem anderen Gegenstande zu – eventuell einem solchen, den ich wie eine Zahl, ein Theorem u. dgl. aktuell nur habe, während ich ihn erzeuge, und als Ende der Erzeugung –, so ist der soeben im ursprünglichsten Vollzug erfasste 20 Gegenstand nur „ n o ch “ im G rif f, er ist noch in meiner aktuellen thematischen Sphäre, noch bin ich aktuell bei ihm. Solange also sprechen wir von thematischen Akten und unterscheiden dabei Vollzugsabwandlungen, Aktualitätsabwandlungen des Aktes. Verliere ich ihn aus dem Griff (aus dem Nebenbei-erfasst-Haben u. dgl.), so ist 25 er aber doch noch in Geltung, obschon nun nicht mehr in thematischer Gestalt. D ie erste G eltung stiftet einen Horizont der Fo rt gelt u n g. Darin liegt die Möglichkeit von Akten, die den Charakter von Reaktivierungen der Sätze früherer Akte haben mit der 1

Anfang der 20er Jahre. – Anm. des Hrsg.

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möglichen Evidenz des Noch-Glaubens, des Noch-Urteilens, NochEntschlossenseins usw. Das ist nicht eine beliebige leere Möglichkeit, sondern hier drückt sich eine Gr undeigenschaft des Bewusstsein sleb en s aus. Urstiftung, Nachstiftung etc. Aber hier kommt noch anderes in Betracht.1 Es gibt nicht nur Akte, die durch intentionale Explikation ihrer Horizonte die Evidenz mit sich bringen, dass sie Fortgeltungen früherer Urgeltungen sind, sondern auch solche, die es selbst nicht sind, aber Fortgeltungen anderer äh n lich er Akte doch in sich bergen. Es gibt auch Akte, die sich als urstiftende insofern geben, als sie „Neu es“ bieten, was für uns da ist nicht in der Weise einer Fortgeltung. So sind all unsere äußeren Erfahrungen neuer Gegenstände, die uns noch nie begegnet waren, eben als neue Erfahrungen „u rst if t en d“.2 Aber in einem anderen Sinn sind sie es n ich t. Zunächst sei darauf hingewiesen, dass das erstmalige Sehen einer Palme auf das Sehen künftiger Palmen, die selbst noch nie gesehen waren, von Einfluss ist: Sie sind individuell unbekannt, und doch „etwas“, „ein“ Bekanntes. Schon im ersten Anblick des Neuen haben wir ein Sinnesschema dessen, was wir nun im Fortschreiten des Sehens und in näherer Kenntnisnahme (in der der neue individuelle gegenständliche Sinn sich erst konstituiert) zu erwarten haben. Wir haben in der Neu - G elt u n g als Geltung ihres Sinnes zugleich mitlebendig die alte Geltung mit ihrem sich über den neu werdenden Sinn von seinem Anfangsstadium an überschiebenden alt en S in n; und in dieser Deckung gestaltet sich der neue Sinn als Sinn in antizipatorischem Inhalt, und die Antizipation ihrerseits erfüllt sich mehr oder minder vollkommen, sich dabei abwandelnd. Das ist „In t erp ret at io n“, aber offenbar nicht willkürliche, sondern Auseinanderwicklung einer evident aufweisbaren Intentionalität.3 Oder vielmehr, solche Aufwicklung ist von vornherein Interpretation; und alle Intentionalanalyse, alle Selbstverständigung des Bewusstseins, die in „D esk rip t io n“ ihren Ausdruck findet, ist Interpretation; in all ihrer Evidenz ist sie eben evidente Interpretation, die also ursprünglich rechtgebende ist.

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Übertragung urstiftend gebildeter Apperzeptionen, Vorstiftung von Apperzeptionen. Apperzeptionstypen im Voraus gestiftet. Urstiftung, primordiale Urstiftung. 2 Ur-Urstiftung, primordiale Urstiftung. 3 Interpretation und Deskription.

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Jetzt gehen wir weiter zurück: Jed e „Ap p erzep t io n“ – ob die einer Palme oder eines Tisches, eines Menschen, eines Dinges überhaupt als Raumkörperlichen usw. – h at ih ren U rsp ru n g, ihre Urstiftung nach ihrem T ypus.1 Hätte ich nicht erstmalig ein Ding gesehen, seinen Sinn ganz ursprünglich gewonnen, so könnte ich nicht immer Neues „von vornherein“ als ein Ding auffassen; ich müsste seinen gegenständlichen Sinn immer wieder ursprünglich neu konstituieren, ich könnte nicht bei jedem vorkommenden Gegenstande einen typischen Sinneshorizont haben, dem ich nur n achzugehen, den ich nur individuell näher (oder anders) zu bestimmen hätte (sozusagen als Ausfüllung einer Sonderform). Dabei ist zu beachten, dass solche Horizonte m o t iviert e (und in der interpretierenden Aufwicklung evident motivierte) Ak t m ö glich k eit en bedeuten, mit möglichem „Kommenden“, wenn wir eben das Horizontbewusstsein aktivieren (was also eine Art Reaktivieren ist) und damit in motivierte Erwartung verwandeln. Und wieder ist zu beachten, dass es zwar in einer vorthematischen Sphäre u rsp rü n glich er Passivit ät auch schon so etwas wie eine Vorkonstitution von S inneszusammenhängen gibt, dass aber „S eiendes“, G egenständliches, das „da ist“ – zunächst ergriffen und nachher in Reichweite als ein möglicherweise zu erfassendes, als unerfasstes, unthematisches „Seiendes“ (seiend, ohne „bewusst“ zu sein, ohne thematisch zu sein) –, ein T it el ist , d er n u r S in n h at au f gru n d u rst if t en d er Ak t e, und urstiftend in einem doppelten Sinn. Der eine (primordiale) drückt das genetisch erste Geben eines Gegenstandes in genetischer Urstiftung aus. Der andere die Kenntnisnahme eines neuen, wenn auch unbekannter Art. Und endlich ist zu beachten: Für uns als Subjekte eines natürlichen Lebens sind nicht nur Dinge da, die wir sehen (jedes mit seinem Bekanntheitshorizont hinsichtlich der ungesehenen, aber eventuell zu erwartenden Rückseiten etc., aber ein Gemisch von bestimmtem Sinn und Horizontsinn), und es sind für uns geltend nicht nur darüber hinaus die ungesehenen, die wir gesehen haben und noch in Geltung haben, sondern in jedem wachen Lebensmoment ist für uns eine ganze Welt da, in die Unendlichkeiten von Raum und Zeit (und jedenfalls in real- kategorialer Typik im Einzelnen geformt) reichend. 1

Urstiftung der gegenständlichen Typen bzw. Apperzeptionstypen.

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Jedes Ding, jede Dinggruppe hat also, so wie es bzw. sie erfahren ist, bewusstseinsmäßig einen Innenhorizont und Außenhorizont. Wie immer die konstitutive Analyse hier beschreibend und die Genesis aufklärend (in Rückgang auf die wesensmäßigen Urstiftungen und ihre Grundformen) fortgehen mag, sicher ist, dass der Titel „Welt“, und zwar die für uns geltende, ein T it el ist f ü r w irk lich e und mögliche Ichakte; und die Möglichkeit verweist hier einerseits auf frühere Stiftung durch Ich-Akte in diesem spezifischen Sinn, andererseits auf eine freie Aktivität der Enthüllung der Horizonte, auf das Vermögen der Subjekte, auf ihr evidentes „‚Ich kann‘ erfahrend fortgehen“.1 Ich kann leer Vorgedachtes mir anschaulich machen, kann Vor-Anschauung in erfahrende Anschauung verwandeln, und ich muss dann die bestimmten, unbekannten Dinge, Ereignisse etc. konstatieren, also die unbestimmte und antizipatorische Horizontgeltung in bestimmte, selbsterfassende Erfahrungsgeltung verwandeln. Tue ich nicht wirklich, was ich als Möglichkeit (Vermögen) fortgehender, allseitig bestimmender Erfahrung kann, setze ich nicht meinen Leib als Wahrnehmungsorgan in Bewegung und durchlaufe ich so nicht die wirklichen Kinästhesen, denen durchlaufene Raumrichtungen entsprechen, setze ich damit nicht wirklich ins Spiel die Erscheinungsreihen, durch die mir „die“ Dinge in ihrem Selbstsein zur Kenntnis kommen, so kann ich mir doch jederzeit den H o rizo n t sin n d er Welt und Weltrede seiner notwendigen Gestalt nach im Vo r- Bild vergegenwärtigen: Ich kann vom Gegebenen aus mir phantasierend denken, dass ich erfahrend fortginge etc., und mir ein Bild – freilich unendlich viele gleich mögliche „Bilder“ – machen, wie es kommen würde oder kommen könnte. Wie immer es käme, es käme doch notwendig dem Horizontsinn Entsprechendes: körperliche Dinge, Tiere, Menschen, Städte mit Nutzobjekten etc. Zu diesem Bau einer immer nur so als partiell eigentlich erfahrenen

1 Dieses Können, dieses Vermögen ist eine systematisch vereinheitlichte Ganzheit möglichen Könnens, ein einheitlicher M a c h tb e r e i c h, und als das in seiner Weise bewusst, in seiner Weise als ein Charakter des Ich konstituiert und für dieses Ich im Vollzug jeder Apperzeption korrelativ mit dem bewussten Gegenstand bewusst, eine Funktion. Der g e g e n s t ä n d l i c h e H o r i z o n t in seinen Möglichkeiten ist nichts ohne seinen korrelativen K ö n n e n s h o r i z o n t im wohlausgebildeten und als fungierend bewussten Vermögen.

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und einer Unendlichkeit nach durch Horizonte repräsentierten Welt gehören Ich-Akte aller Art, gerade und notwendig auch reflektive. Noch ein Gedanke fehlt. – Sobald ein „Seiendes“ einen Außenhorizont hat, ist es nicht allein gesetzt, sondern anderes Seiendes ist mitgesetzt. Hat es notwendig einen Außenhorizont, so ist es u n selb st än d ig; es trägt Mitbestimmungen in Bezug auf solches, was es nicht selbst ist. Man kann dann auch sagen: Alles Seiende ist relativ, es ist nur in Beziehung zu anderem. Oder von Seiten der Setzung: Alle Seinssetzung ist zugleich „In-Beziehung-Setzung“. „In Beziehung setzen“ heißt hier nicht: urteilend, in synthetischen, thematischen Akten Beziehungen als Gegenstände konstituieren und Beziehungsprädikate herstellen, sondern eben: verborgene Mitsetzungen von bestimmten oder unbestimmten Gegenständlichkeiten in Form von Horizonten vollziehen und so sie also im Bewusstsein haben, mit solchem noematischen Sinn, dass h in t erh er Urteile, den Horizont explizierende, Zusammenhänge und Beziehungen vorfinden können. Die Sinneskonstitution der Welt, der Allheit des in natürlicher Erfahrung zu Gebenden, ist so, dass sie keine selbständige Sinnbildung kennt, dass alles je Erfahrbare seinen B eziehungshorizont mit sich trägt, durch den es immerfort Beziehungscharaktere hat, die in Beziehungssetzungen und ausdrückliche Beziehungsprädikationen zu verwandeln sind. Wenn also natürliche Reflexion, und zwar S elb st ref lexio n auftritt, setzt sie B ew u sst sein als Weltliches und jeweils somit nicht als Vereinzeltes, sondern eben als Reales, d. i. als Unselbständiges, gemäß seinem eigenen Sinn. Nehmen wir reales Bewusstsein universal, so ist es eine universale Schicht der Welt, fundiert in Natur. Hat es Sinn, Bewusstsein anders setzen zu wollen als mit dem natürlichen Sinn des Lebens? Hier möchte man nun sagen: Nur wenn die natürliche Einstellung mit ihrer universalen Weltsetzung inhibiert werden könnte und dann doch nicht nichts übrig bliebe, sondern wiederum Bewusstsein, könnte und würde d ieses Bewusstsein nicht mehr weltliches Bewusstsein sein und nicht mehr unselbständiges „Sein“. Nun hat schon D escart es die absolute Eigenständigkeit der Seinsgeltung des Ego cogito zu erweisen versucht durch „Bezweiflung“ der Welt, – freilich ohne Sinn und Wert seines trotzdem Epoche machenden Anfangs verstanden und konsequent durchgehalten zu haben. Er gab uns jedenfalls ein Vorurteil, eine Vorahnung von einem Leben, das

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es selbst ist und in dem die Welt als Vermeintes, in ihm Geltendes ist. Aber wie kann Bewusstsein in doppelter Edition existieren? Was soll die Reinheit besagen? Im Ego cogito fassen wir Bewusstsein rein als es selbst, vor aller Analyse und nachkommenden Beschreibung. 5 So könnte man denken. Aber das sind gefährliche Gedankenwege.

Nr. 2 Hintergrund und Vorgegebenheit. Unterschiede d er Vorgegebenheit. Abgehobenheit und prägnanter Begriff von Vorgegebenheit. D ie konstitutive Funktion d er Apperzeptionen 1

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Inhalt: Die große Schwierigkeit im Begriff der „Präphänomenalität“ des anonymen „Erlebnisstromes“ und der Art seines „Seins“, auch in den damit zunächst ungeschieden sich einigenden Begriffen 10 wie „Vorgegebenheit“, „Hintergrundgegebenheit“, mit den Korrelatbegriffen. Ebenso „Apperzeption“, auch „Reflexion“, „Funktion“. Eine Reflexion auf ein abschattend fungierendes Empfindungsdatum und überhaupt auf ein Empfindungsdatum, das vielleicht keine solche Funktion trägt oder in anderer Weise auf objektive Welt bezogen 15 aufgefasst ist, zeigt, dass es als zeitlich dauernde Einheit in einer Synthese konstituiert ist, selbst eine „Gegenständlichkeit“, ein Vorstelliges ist.2 Es ist eine „intentionale Gegenständlichkeit“, eine immanente, original konstituiert, hier in gewisser Weise fungierend für eine „transzendente Apperzeption“, eine Apperzeption im präg20 nanten Sinne. Konkrete Einheit eines Empfindungsdatums = Einheit einer Abhebung.3 Aber wir können auf ihre Dauer und auf vage Inhaltsmomente der Dauer achten, die zunächst nicht abgehoben sind, die wir aber, wenn auch vage, „ohne scharfe Grenzen“ eventuell zur 25 Abhebung bringen, sei es aktiv, sei es schon in Passivität, wie wenn neben den länger dauernden Ton ein kurz dauernder tritt und wir nun am längeren auf ein gleiches Stück mit dem kürzeren achten können. Was ohne eine gewisse vage abhebende Deckung nicht möglich wäre.

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Um 1920. – Anm. des Hrsg. Jede kontinuierliche Synthese konstituiert einen Gegenstand; jeder auch im Hintergrund bewusste Gegenstand ist, wie z. B. jedes Empfindungsdatum, Einheit einer hintergründlichen Synthese (auch die Sinncharaktere). 3 Abhebung macht im Hintergrund geschlossene Einheit. 2

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So liegen in einer in sich abgeschlossenen Einheit einer Hyle Potenzialitäten für Teilungen, und damit Teilungen der konstitutiven Mannigfaltigkeit. Nun komme ich also vom Empfindungsdatum als „Gegenstand“ zurück auf seine konstitutiven Mannigfaltigkeiten und sehe auch, dass alles, worauf ich achten kann und als nachträglich Beachtetes als schon präphänomenal annehmen kann und muss, ebenso eine Einheit ist von konstituierenden Mannigfaltigkeiten – es ist eben Gegenstand in dem Sinn von „Einheit“, aber darum nicht eigentlich Gegenstand im Sinn von aktiv Identifiziertem und von daher Vorgegebenem. Damit tritt einerseits das Problem des „inneren Bewusstseins“ auf, andererseits das Problem der verschiedenen Stufen von Gegenständlichkeiten, womit zugleich angezeigt ist ein stufenweises „Fungieren“ von Gegenständlichkeiten als relat iver H yle für andere Gegenständlichkeiten (und, was vielleicht noch davon zu trennen ist und erst zu überlegen ist: ein Fungieren sich absetzender „Erlebnisse“ – als schon konstituierter „Einheiten“ im inneren Bewusstsein, im ursprünglichen, immanentes Sein konstituierenden Bewusstsein – innerhalb der Einheit des einzelsubjektiven und intersubjektiven Lebens als eines personalen). Hierbei spielt eine Hauptrolle die durchgängige Unterscheidung zwischen p rim ären, eigentlichen Gegenständlichkeiten (in diesem weitesten Sinn) als für sich einheitlich abgehobenen und schon in aktiver Identifizierung konstituierten, und sekundären G egenständlich k eit en, die eventuell als Teile, als Momente in primären aus nachträglichen Motiven (Assoziation) zur Abhebung kommen können, aber nicht müssen, also impliziten Gegenständlichkeiten, die nicht von vornherein Abhebung haben, aber Potenzialitäten der Abhebung mit sich führen.1 Wo eine primäre Gegenständlichkeit in Funktion ist für die Konstitution einer neuen primären oder sekundären Gegenständlichkeit, da heißt sie in einem bestimmten ersten Sinn „vorgegeben“, sie ist nicht bloße Potenzialität, sie ist von vornherein aktuell da als etwas, worauf man hinsehen kann.

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Primäre, wirklich und eigentlich konstituierte Einheiten (Gegenstände) und potenzielle Einheiten.

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Aber nachkommend zeigt sich doch ein großer Unterschied in dieser Vorgegebenheit, die einen prägnanteren Begriff erzwingt.1 Nämlich dieses bloße Hinsehenkönnen hat Besonderungen. Wenn ich in die Raumwelt hineinlebe, die in ihrer hochstufigen Art für mich konstituiert ist, so beschäftige ich mich mit Gegenständen aus ihr, die gerade meine Aufmerksamkeit, mein praktisches oder theoretisches Interesse, auf sich gezogen haben (bzw. mich interessiert haben und interessieren) und keine anderen. Aber im natürlichen Dahinleben (in natürlicher Einstellung) sind Weltgegenstände überhaupt für mich bevorzugt2; sie bestimmen die Assoziationen, und die assoziative Weckung geht hier immer von dem schon abgehobenen Weltlichen auf Weltliches. Von vornherein ist meine Umwelt ein assoziativer und in Weckung fortschreitender Zusammenhang, und fortschreitend von weltlich Objektivem zu weltlich Objektivem. Schließlich ist da auch alles „bloß Subjektive“, sind alle meine Erlebnisse und die darin konstituierten gegenständlichen Einheiten so wie die der für mich „anderen“ Menschen verweltlicht. Aber das weist darauf hin, dass hier Stufen der Weckung und Weckungsrichtung bestehen, die aufgesucht und aufgefunden werden können. Es sch eid en sich frühere und spätere Vorgegebenheiten – bzw. Leib, Eigenleib und fremder Leib, Ich-Person, Ich-Mensch usw. mit allen psychischen Erlebnissen, Akten usw.; aber vorgegeben in einem gewissen sekundären Sinn gegenüber aller natürlich vorgegebenen Weltlichkeit (und dem, was weltliche Wissenschaft in weltlich theoretischem Interesse neu herausanalysiert hat etc.) ist doch all das, was die Phänomenologie neu eröffnet und so, dass sie neue Vorgegebenheit schafft, die im eigentlichen Sinn keine war, in der Welt und in Bezug auf die sie tragende Grundstruktur der Natur, als zweite Stufe die der Personalitäten. Aber es ist eine Neuschöpfung, für deren Motivation – denn irgendwie motiviert muss die phänomenologische Leistung selbst sein – besondere Untersuchungen nötig sind. (Ich sagte „phänomenologische Einstellung“. Das war eine Flüchtigkeit. Die Unterschiede der eigentlichen und uneigentlichen Vorgegebenheit gehen von der natürlichen Einstellung und der in ihr geforderten Innenpsychologie in die transzendentale über.) 1 2

Prägnanter Begriff von Vorgegebenheit als enger gegenüber Abgehobenheit. Und das geht zunächst in die Reduktion über.

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Es liegt an der Art der vielstufigen Konstitution der Dinge als Raumdinge – an ihrer vielstufigen Mittelbarkeit, es liegt, sage ich, an der Art der Dingkonstitution, wie jeder Gegenstandskonstitution, dass die Reflexion nicht bereit sein kann, ohne weiteres beliebige Stufen zu überspringen, und dass die n äch st e Ref lexio n auf die unmittelbaren konstitutiven Zusammenhänge führt,1 also bei Dingen auf die Modi der Seitengegebenheit und Orientierung nach Nah und Fern, auf Seitengegebenheit, auf Perspektive, auf die fungierende Leiblichkeit als Wahrnehmungsleiblichkeit etc. Erst dann kann höhere Reflexion statthaben. In der Blickrichtung auf die Perspektiven sind dann Assoziationen wirksam, welche z. B. die Empfindungsfarben zur Abhebung bringen etc. Stehe ich in der Sphäre „Empfindung“ (eine Sphäre durch Assoziation), so kann ich auf ihre Konstitution zurückgehen im ursprünglichen Zeitbewusstsein etc. In jeder Erfahrung (dann in jedem aus Erfahrung abgeleitetem Bewusstsein) ist der Gegenstand für mich von vornherein selbiger, Einheit, in mannigfaltigem Wie. Das ist ein eigenes Assoziationsfeld; danach bevorzugt ist das Nächstkonstitutive dieses Gegenstandes als Einheit von Mannigfaltigen. So haben wir in diesem Sinn Vorgegebenheit in Mittelbarkeiten, in O rdnungsstufen der Relativität. Bisher hieß „Vorgegebenheit“ alles überhaupt im Hintergrund Aufweisbare, also als Einheit Konstituierte.2 Als3 das für mich Gegebene bezeichne ich das, was ich im erfassen d en G rif f habe, was ich betrachte, was ich expliziere, bestimme, womit ich mich im Gemüt und im sich entschließenden und handelnden Willen beschäftige. Gegeben kann für mich nur ein Vorgegebenes sein, etwas, das für mich dank einer vorausliegenden Konstitution wahrnehmungsbereit ist oder erfahrungsbereit, was mich af f izieren k an n als vor der Beachtung schon Daseiendes. Soweit ist nichts Neues gesagt.4 Da die zeitlich vorausliegende Urkonstitution

1 Für jede mittelbare Intentionalität gilt, dass ihre Aktualisierung den Mittelbarkeiten folgen muss. 2 Das weitere Thema: Unterschiede zwischen Vorgegebenheit von hyletischen Daten in der ersten Genesis, in der sie erste Thematisierung gewinnen, und vorgegebenen Weltlichkeiten. 3 Das Weitere nicht klar. 4 Handelt es sich um den Unterschied einerseits von rein passiver Konstitution und Vorgegebenheit und andererseits einer Konstitution durch Vermögen, durch Ich-

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in früheren ähnlichen Fällen schon fungierte, hat eo ipso jede spätere den „Charakter der Bekanntheit“ und schafft von vornherein, wo ihr fundierendes „Material“ sich einstellt, „Apperzeption“. Es wird von vornherein mit dem Sinn des Früheren und Ähnliches in ähnlichem Sinn „aufgefasst“. So weit handelt es sich um eine allgemeine Tatsache der assoziativen Genesis. Es ist ein Unterschied zwischen immanenten und transzendenten Konstitutionen, zwischen solchen, die ursprünglich genetisch sich in reiner Passivität und nach ursprünglicher und starrer Gesetzlichkeit abspielen müssen wie die Konstitution von immanenten Daten, und den transzendenten Konstitutionen, wo die Ich-Tätigkeit und auch produktive Ich-Aktivität eine genetisch konstitutive Rolle spielt. Dinge sind für uns immerzu „konstituiert“ als Hintergrund-Dinge.1 Natürlich besteht insofern kein wesentlicher Unterschied zwischen Empfindungsdaten und transzendenten Gegenständen, als bei beiden die Wiederholung einer aktiven Erfassung und Betrachtung Bekanntheit und damit „Apperzeption“ begründet. So kann ein Tongebilde nachher in der Passivität als Gebilde eines schon gestifteten Stils apperzipiert sein: Dann hätten wir aber vor und neben solcher auf aktiver Erfassung beruhenden Konstitution und Erfahrung durch Apperzeption eine Konstitution ohne Apperzeption.2 Ein G egenstand ist von vornherein nur konstituiert durch Apperzeption – nämlich er, dieser „fertige“ Gegenstand, ist nur fertig konstituiert in Form apperzeptiver Wahrnehmung. Genetisch kommen wir zwar auf einen Stufenbau (einen genetischen) und zuletzt Tätigkeit in Stufen, die immer als fertige vorgegeben sein müssen, um Erfassung zu ermöglichen? 1 Das aus purer Passivität als Einheit Konstituierte ist nachmals nicht vorgegeben im Sinne eines „Seienden“, das schon da ist, auf das ich nur hinsehe. Es ist apperzipiert. Das transzendent Konstituierte ist vorgegeben, hat im Voraus Dasein aus Apperzeption und so im Hinblick: immer ist ein „Ding“ da, schon im ersten Anblick. 2 Abhebung eines nie vordem apperzipierten Tondatums, dabei Konstitution als zeitliche Einheit, schafft noch kein eigentlich Seiendes, keinen Zeitgegenstand. Was leistet Wiederholung? Passive Wiederholung – das wäre „Fern-Deckung“ als Assoziation. Ferner die Fern-Weckung von ähnlichen Daten früherer Zeit. Aber das ergibt noch keine „Bekanntheit“, keine Gegenstandskonstitution. Diese beginnt auch beim Immanenten mit einer erstmaligen, eigentlich betrachtenden Wahrnehmung, die erst Kenntnis schafft und in neuen Fällen das Ich auf das Bekannte, seine Habe, zurückführt, sein Interesse wieder erweckt und bei Ähnlichem das Interesse, es kennen zu lernen, begründet.

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auf Empfindungsdaten. Aber nur durch apperzeptive Bildungen aus Empfindungsdaten und apperzeptive Bildungen aus diesen Bildungen erwächst das Ding-Wahrnehmen und darin das „Ding“ als apperzeptive Einheit. In der immanenten Sphäre findet zwar Abhebung und Assoziation statt, aber sie schafft nichts Neues. Was sich da konstituiert, ist die Wiederholung des ebenso schon vordem Konstituierten, nur dass es quasi „Bekanntes“ nunmehr ist und durch Antizipation schon im Voraus die Sinngestalt hat, die es in der ersten Konstitution erstmals gewinnt.1 Bei der Dingkonstitution (der transzendenten) ist es erst die Apperzeption – die ja Antizipation mitbesagt –, die auf Grund der schon konstituierten Empfindungsdaten neuartige konstitutive Synthesen ermöglicht. Hier die merkwürdigen Assoziationen, in denen sich Kin äst h esen nicht als bloße immanente Daten, sondern als p rak t isch e Verm ö gen („Ich kann mich dahin und dorthin wenden“) zu einem praktischen System „assoziieren“ und als ein Motivationssystem für zugehörige wirkliche und mögliche Erscheinungen, in denen sich ihrerseits durch Synthese Optima konstituieren als durch entsprechende Kinästhesen praktisch verfügbare (was Erfassungen des Ich voraussetzt). Hier gewinnt „Ap p erzep t io n“ einen neuen Sinn, den einer E inheit von p raktisch verfügbaren darstellenden Erscheinungen-von; hier ist der apperzipierte Gegenstand au f d as w ach e Ich ein er Praxis b ezo gen, und es gehören wesentlich zur Konstitution Momente des „Ich kann“, des „Wenn ich so verwirkliche, so muss das und das erscheinen“ etc. Da hier ein Universum der Potenzialität konstitutiv ist, und aktuelle Gegebenheit nur die Form der Verwirklichung einer Möglichkeit oder Möglichkeitsreihe haben kann, so ist es evident, dass Wahrnehmung (im besonderen Sinne apperzipierende) auf frühere apperzeptive Wahrnehmung zurückweist. In der Genesis entsteht zwar jede neue Stufe durch ursprüngliche Konstitution, aber sie setzt schon, um werdend konstituieren zu können, die Vorgegebenheit der früheren Stufe voraus. Ideell ist hier nur ausgenommen die bloße Empfindungsstufe. Aber Wahrnehmen ist nicht ursprünglich genetisch Konstituieren, sondern schlicht Erfassen und leibhaft Haben; es ist Erfüllung einer

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Zu diesem Satz am Rand ein Fragezeichen Husserls. – Anm. des Hrsg.

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Vorzeichnung, die schon da sein muss und in frei wiederholter Erfüllung durchprobiert sein muss. Farbige Dinge als daseiende habe ich, wo das dahinter liegt.

Beilage I Hintergrund – vorgegebene Gegenständlichkeit. Endgegenstand und Durchgangseinheiten1

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Ich-Blick, Richtung auf das „Thema“ (in dem einen Sinn), auf den gemeinten „Gegenstand“ (gegenständlichen Sinn). Demgegenüber: was nicht im Ich-Blick liegt, worauf es sich nicht richtet. Das Gewahren (eines Dinges gewahr sein, im Ansatzpunkt: gewahr werden). Im Gewahren bin ich „gerichtet“ auf das E rsc hei nende2 – nicht auf die Erscheinungsweisen, nicht auf deren Empfindungsdaten, die für das Auffassen fungieren, nicht auf die kinästhetisch fungierenden Daten. Ich bin weiter nicht gerichtet auf den gegenständlichen H intergrund, der in eins mit meinem erfassten „Ding“ als Einheit des gegenwärtigen Wahrnehmungsfeldes auch erscheint als Erscheinungseinheit – nicht als ein Haufen einzelner erscheinender Dinge, obschon die einzelnen Dinge darin „abgehoben“ sind, sondern als Einheit einer Gesamterscheinung, in der die einzelnen erscheinenden Dinge in gewisser Weise um „meinen Leib herum“ orientiert sind.3 Mit Beziehung darauf hat „Hintergrund“ (dinglicher Hintergrund, allgemeiner: gegenständlicher Hintergrund)4 seinen bestimmten Sinn, ebenso das Den-Blick-auf-einen-Gegenstand-Richten und das jeweilige Im-BlickHaben, das mit Beziehung darauf ganz wohl mit „Herausfassen“ zu bezeichnen ist.5 Analog: in der Einzelbetrachtung eines Dinges das Herausfassen von einzelnen Bestimmtheiten, soweit sie schon vorgezeichnet und abgehoben da sind, aber nicht erfasst. Im Fortgang des Betrachtens leere Vorzeichnung und leeres Erfassen in Unbestimmtheit, dann Selbst-Erfassen. Gehen wir zurück auf das S i c h - R i c h t e n a u f d i e „ G e g e n s t ä n d l i c h kei t “, so ist zu beachten:

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Um 1920. – Anm. des Hrsg. Siehe folgende Seite = S. 13, 27–14, 15 im prägnanten Sinne als terminus ad quem. 3 Die erscheinenden Gegenstände des Hintergrundes bilden eine Erscheinungseinheit, Einheit einer Orientierungsgegebenheit um meinen Leib. 4 Begriff des Hintergrundes (des gegenständlichen). 5 Dann ist Erfassen = Herausfassen. 2

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Wir müssen unterscheiden B l i c k r i c h t u n g ü b e r h a u p t und R i c h t u n g auf d en t e rmi nu s ad quem – das ist der „Gegenstand“ mit allem, was ihn, wie kompliziert der gegenständliche Sinn ist, ausmacht und wie er sich als lebendiger Sinn fortgestaltet. Vieles ist dabei in einem anderen Modus im Blick, auf vieles geht der Ich-Strahl, was im ersten prägnanten Sinn nicht im Blick ist, also nicht terminus ad quem ist. Die kinäs thetis chen Daten sind notwendig mit in Funktion, und ich habe den Blick auf sie gerichtet (bzw. auf Augenbewegung, Handbewegung, schon leiblich apperzipiert), aber nicht als „meine Gegenstände“; und indem sie vom Ich her tätig ablaufen (im „Ich bewege“), treten, als durch sie in ihrer Folge „motiviert“, die „Erscheinungen“ auf (mit ihrem Erscheinenden als solchem), auf die ich als die durc h jene hergestellte (und dazu gleichsam tätig bestimmte) den Blick richte, aber wieder nicht auf sie als Ende. Mein B lic k geht „ durc h “ die K inästhesen auf das kinästhetisch Motivierte und durch sie h i n d u rc h a uf ih re E inheit. Und da bin ich „bei der Sache“. Es ist ebenso, wenn ein Zeichen in Funktion ist und somit zwar erscheint, aber bloß Durchgang des darüber sich bewegenden (physischen, aber auch geistigen) Blickes ist, der daran die sinnlichen Sondergestalten durchläuft und auch erfasst und zur Einheit bringt, die die bezeichnenden Funktionen üben; der Blick geht darauf, aber alsbald hindurch – hinein in die Bedeutung, in der der terminus ad quem liegt. Doch ist andererseits ein nicht unwichtiger Unterschied. Der Wegweiser zum Beispiel mit der weisenden Hand und der Inschrifttafel ist ein Ding und hat so den apperzeptiven Typus von Objekten, die eben normalerweise als thematische Enden oder thematische Mittel erfasst werden, in irgendeine Interessensphäre (spezifisch thematisch) so oder so hineingehörend. Hingegen Empfindungsdaten und kinästhetische Daten für sich (anders steht es mit Händen, Augen). Empfindungsdaten für sich, Erscheinungen für sich sind keine normalen Gegenstände, normalerweise sind sie nur D urc hgang im besonderen Sinn und ihrer ganzen Kategorie nach: nämlich im besonderen Sinn, weil sie ihrer Gattung nach im normalen Leben nie dazu kommen, zunächst Endgegenstände zu sein. Also: „Gegenstand“ bezeichnet einen Normaltypus von Einheiten, die als E nden fungieren, aber im Wechsel der Interessen auch als Mittel. Da ist mehreres zu lernen. Fürs Erste: Der prägnante und allein passende Begriff von Hintergrund ist „gegenständlicher H intergrund“. Hintergrund ist nicht nur überhaupt das nicht im Blick Stehende und nicht als Zielpunkt, nicht als Ende Bewusste – als Privation; Hintergrund ist ein Bereich in besonderer und eigentümlicher Art „ konstituierter “ G egenstände, als Gegenstände „ vorgegeben “, „ apperzeptiv “ bewusst; „Hintergrund“ be-

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sagt hier: „im Blickfeld“, aber nicht im Blick der Erfassung, nicht im Blick, der darauf „ruht“, darin terminiert. Was im Blickfeld liegt, das kann den terminierenden Blick „ohne weiteres“ auf sich ziehen; das schon im Blickfeld Wahrnehmungsbereite, schon als ein Endziel implizite Bewusste, aber als das nicht Verwirklichte, Erfasste, wird verwirklicht. Der Gegenstand affiziert als Gegenstand. Das muss genauer beschrieben werden. Fürs Zweite: Vom eigentlich so zu nennenden Hintergrund des jeweiligen Gegenstandes scheiden sich D at en, di e so ni c ht gegenständlich sind, die unter besonderen Motiven gegenständlich werden können (durch Reflexion, phänomenologische Analyse thematisch und expliziert, zu eigentlichen Gegenständlichkeiten konstituiert). Drittens: Wir müssen, was zum Thema „Auf m erksam keit“ gehört, scheiden: 1) was im Blick ist als das, worin der Blick ruht, worauf er im normalen Sinn geht, und 2) das, was im Blick ist, aber so, dass der Blick durch es als ein „Fungierendes“ hindurchgeht, eingeht in eine mit dem betreffenden Datum verflochtene Auffassung, eine Bedeutung.1 Wir haben also vom Ich her D urchgangsrichtungen und Endricht ungen. Die letzteren: die im „Gegenstand“ als gegenständlichen Sinn terminieren.2 Dieser fundamentale Unterschied ist nicht zusammenzuwerfen mit dem zwischen primär Bemerktem (Aufgemerktem) und sekundär B em erkt em, wozu auch die Unterschiede treten, die das spezifisch Thematische und Außerthematische mit sich bringt. Im universalen Bewusstseinsbereich haben wir insofern durchaus und überall „Gegenstände“, als alles, was dazu gehört, was Einheit von konstituierenden Mannigfaltigkeiten ist.3 Das Bewusstsein ist nicht nur, sondern es ist bewusst; sein Sein ist immanent Konstituiertsein, einzeln und für den gesamten „Bewusstseinsfluss“.4 In diesem Bewusstseinsleben scheiden sich „ästhetisch“: 1 Im Menschenleben waltet ein Stil der Normalität – im „normalen“ Leben des „entwickelten“, „relativ ausgereiften“ Menschen. Der normale wache Mensch hat immer ein „normales“ Gegenstandsfeld in Wahrnehmung, Erinnerung, Erwartung, und so überhaupt. Er hat Gegenstände im Blick und ist mit den oder jenen „besonders“ beschäftigt und hat dabei immerzu ein wandelbares Gegenstandsfeld als Hintergrund. Die Welt ist das offene Universum von an sich seienden Gegenständen der „natürlichen Einstellung“, das Lebensfeld, das allzeit vorgegebene. 2 Zu beachten auch die feste Prägung eines „Gegenstands“-Typus und das „wider den Strich“, wenn wir ein Fungierendes „zum Gegenstand machen“. 3 Eine Erörterung fehlt über das den Gegenstand Charakterisierende, die Charaktere der Bekanntheit; Bekanntheit entspringt aus Kenntnisnahmen. 4 Aber in der Natürlichkeit des Menschenlebens ist – und das charakterisiert Menschenleben – im Voraus die Welt als Universum von Seienden, von Gegenständen vorgegeben, Gegenständen im normalen Sinn.

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1) Fungierende Daten und ihre „Funktionen“, ihre „Auffassungen“, ihr „Substratsein“ für Intentionalitäten, vermöge deren mit den Daten andere, durch sie bewusst werdende sich konstituieren. Darum brauchen sie noch nicht thematisch zu werden und je zu werden, und nicht mit Charakteren der spezifischen Gegenständlichkeit im Hintergrund aufzutreten. Zu diesem gehört bei spezifischen Gegenständen ein modifizierender Charakter des Thematischen. Unbekannt sind die beständig latenten Einheiten, insofern als sie nie thematisch werden und daher nie expliziert worden sind.1 2) Im Urmaterial des Bewusstseins scheiden sich die urhyl et i sc hen D at en und die urhyl et i sc hen „ Auf f assungen “, dann in höherer Stufe hylet isc he D at en und ihre Auf f assungen, alsdann in weiterer Stufe sich wiederholend.2 3) Ein Genetisches: Aus Bekanntwerden erwächst Bekanntheit.3 Bekanntheit schafft einen apperzeptiven Typus, schafft Gegenstände, die auch als „neue“ im Hintergrund bewusst sind, schafft Wahrnehmungsfelder, Erinnerungsfelder usw. Doch weitergehend: eine Dingwelt, eine Welt im normalen Sinn. Aber auch ideale Welten sind für uns da – auch soweit sie nicht aktuell bewusst sind. Es gibt für mich und für jedes Ich nicht nur im Zusammenhang mit einem Wahrgenommenen ein Wahrnehmungsfeld (einen Hintergrund des jeweils Wahrgenommenen) und ebenso für sonstige Anschauung. Wir haben überall auch „Horizonte“ und schließlich den uni1 Wir haben als normale Menschen immer einen Bereich ursprünglicher und beständiger Latenz, der (normalerweise) also nie patent wird. Neuer Begriff von Latenz: Die Gegenstände sind patent = Bekanntheiten, bekannt als normale Themen. Die ungegenständlichen Einheiten sind an sich unbekannt. 2 Das Bedenkliche ist hier aber, dass die Rede von Daten und dann Auffassungen den Gedanken eben von im Voraus schon seienden Gegenständen, die nachkommend in Funktion genommen werden, mit sich führt. Das Urhyletische kann aber a priori erst hinterher durch phänomenologische Auslegung der Konstitution der hyletischen Einheiten herausidentifiziert werden. Wir haben eine wesensmäßige Regression: 1) Der Mensch (und das phänomenologische Ego als „menschlich“ entwickeltes) hat die vorgegebene Welt, das Universum als offenen universalen Horizont von Gegenständen, die für ihn im Voraus sind und thematisch werden können: sein universales thematisches Feld. 2) Regressiv ist zu konstruieren ein universales innerzeitliches Feld von immanent-zeitlich Seiendem, darin ausgezeichnet ein hyletisches Universum, das hyletischer Daten. 3) Durch die Auslegung der immanenten Seinskonstitution, der „immanenter“ Zeitigung, wird rekonstruiert ein Urimmanentes im Urstrom und seine kontinuierliche Intentionalität (retentionale etc.) als die der zeitlichen Erscheinungen (Auffassungen). Diese Konstruktion darf aber nicht sagen, dass die immanenten Einheiten im Voraus als das bereit sind (Gegenstände) und dass sie es je sein könnten oder gar müssten. 3 Bekannt wird, was thematisch wird; und indem es thematisch ist, d. i. expliziert wird, kommt es zur Kenntnis und wird bekannt.

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versalen Horizont, der alles für uns Geltende, alles für uns Seiende, „woran wir jetzt nicht denken“, umfasst, und all das in seiner „unbewussten“ intentionalen Konstitution, trotz der assoziativen Durcheinandermengungen etc.1 Das sind ungeheure Aufgaben. Die Grundstrukturen des Bewusstseins, die Grundformen der Synthesis und der synthetischen Konstitution, zunächst in Passivität, dann vom Ich her die aktiven Leistungen aufgrund der Affektionen – das Affizierende sind Einheiten. Zur Ergänzung ist noch ein fundamentaler Punkt zu erörtern. Die Intentionalität, die aus Empfindungsdaten Abschattungen-von macht, während diese Daten selbst als intentionale Einheiten konstituiert sind, ist bei der normalen Gegebenheit von naturalen Gegenständen eine f u n gi eren d e Int ent i onal i t ät, wobei, wie gezeigt worden, die Empfindungsdaten bloß Durchgangseinheiten sind. In der Genesis – wird man wohl nachweisen können – müssten alle Daten (für die urhyletischen „Daten“ im ursprünglich Zeitlichkeit konstituierenden Bewusstsein sagen wir das nicht) zunächst thematisch gewesen sein, in gewisser Weise als Enden fungiert haben, aber diesen Gegenstandscharakter haben sie nach der Konstitution einer Welt verloren. Er ist irgendwie – sollen wir sagen: durch beständigen Nicht-Gebrauch oder durch beständiges und ausschließliches Fungieren als Durchgang – in Verfall geraten. Hier ist natürlich ein Problem. Dasjenige Thematischwerden, das bloße Erfassung macht, ist es schon hinreichend charakteristisch für die Seinskonstitution, für die Objektivierung? Das hyletische Datum wird perzipiert, aber kommt es zu einer wiederholenden Erinnerung und der Identifikation im „immer wieder“, kommt es zu einer bleibenden Seinsgeltung für mich, als einer erworbenen Habe, auf die ich immer wieder zurückkommen kann, die mir weiterhin zur Verfügung ist? Das Streben, was als Datum entschwunden ist, wiederzugewinnen, ist Streben, „dasselbe“ wieder zu perzipieren, und ist als „Instinkt“ Urtendenz auf „transzendente“ Konstitution oder vielmehr überhaupt auf Gegenstandskonstitution, als welche Konstitution thematischer Einheiten, Einheiten „seiender“ Gegenstände ist. Anders steht es mit konstituierten Einheiten, die nicht nur aus thematischen Funktionen erwachsen sind, sondern als Gegenstände erwachsen sind, aber als Gegenstände, die ihrerseits in wechselnden Funktionen zu stehen pflegen und bald als für sich selbst geltende, bald als Durchgangsgegenstände für andere mittels ihnen zugehöriger Intentionalität bewusst werdend bzw. bewusstseinsmäßig gestiftet. 1 Als Grundstruktur anzusprechen ist die universale Gegenstandsstruktur „für uns Welt“, die genetisch zurückweist auf die Konstitution, zu deren universaler Struktur Hyle und Funktion gehört.

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Doch noch ein anderes ist in besonderem Maße wichtig. Wo ein Gegenstand (eventuell ein seiner thematischen Auszeichnung verlustig geratener) al s bl oßer D urc hgang fungiert, da findet in der Aktualisierung – doxisch in seiner Erfassung, obschon Durchgangserfassung – eine Ablenkung des thematischen Blickes statt; der thematische Blick wird gebrochen, in gewisser Weise reflektiert, er verharrt nicht beim Vermittelnden, sondern biegt ab, auf den Endgegenstand hin. Noetisch gesprochen: Der Ich-Blick geht durc h die den vermittelnden Gegenstand konstituierende Intentionalität in anderer Weise hindurch als durch die den zweiten, den Endgegenstand konstituierende, die hierbei in eigener Weise synthetisch geeinigt ist mit der ersteren. Der vermittelnde Gegenstand ist dienlicher und hat seine Dienlichkeiten; nur solche Bestimmungen werden gesucht und erfasst, die das sind, die also die entsprechende Intentionalität, die in die des Endgegenstandes überleitet, tragen. Was aber dieses Letztere anlangt, so hat sie, abgesehen von der ihr hier zugewachsenen Intentionalität des „Endes“, des terminus ad quem, ihre Offenheiten, ihre Horizonte. Sie ist als Gegenständlichkeit überhaupt nichts Fertiges, sondern „intendiert“. In gewisser Weise kehrt sich da das „Ende“Sein und das Durchgang-Sein um. Bei dem, was bloß vermittelt, kommen wir zu Ende – das Vermittelnde als solches ist voll konstituiert, wenn es so weit erfasst ist, bis alles zur Dienlichkeit „Berufene“ hervorgetreten ist und seinen Dienst geübt hat oder fortübt. Aber wenn wir „bei der Sache“ sind, so heißt das nichts anderes als: Wir leben in einer Intentionalität, die eine Endlosigkeit offener, vorgezeichneter Intentionalität in sich trägt und die entfaltet werden soll. Alles Hervortretende ist Ende und zugleich Durchgang für das Verwirklichen von Neuem.1

Alles Bekanntgewordene bleibt charakterisiert als Telos, aber als Telos, das den Modus des Besitzes, des Erworbenen hat; aber der Erwerb ist unvollständig bzw. unvollkommen. Freilich, anderes kann uns wichtiger sein, andere Interessen führen zum Abbruch etc. 1

Nr. 3 Die Welt vorgegeben aus ursprünglicher E rwerbung – n icht so das Bewusstsein, d as Reich d er Immanenz1 5

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Die raumzeitliche Welt ist beständig für uns da, auch wenn wir auf sie nicht achten. Sie ist unser habitueller Besitz, auch wenn wir mit unseren Gedanken in der idealen Zahlenwelt leben. Die im m an en t e „ Z eit “ und „ Z eitwelt “ ist aber k eine Welt für uns, nicht für uns immerfort so d a, dass wir nur auf sie hinsehen könnten, also h in w ah rn eh m en; sie ist nicht immerfort für unseren Zugriff unmittelbar da, immerfort und beständig nach einzelnen Dingen gegeben, während die anderen von da erreichbar sind. Sie ist jederzeit konstituierbar wirklich als Welt seiender Gegenstände, aber nicht immerfort so konstituiert. Es ist zu überlegen, wie das verstanden werden muss. Es ist immer – gleich von Anfang der konstitutiven Entwicklung an, in der sich Welten und mit ihnen das Ich als Person korrelativ konstituieren – in gewisser Weise konstituiert das Immanente, das Milieu aller Konstitution, und in gewisser Weise auch all ihr Material enthaltend, in passiver Einheit, d. h. als bloße Einheit der Selbstdeckung in der konkreten Gegenwart. Aber die Art passiver Einheit ist nur Potenzialität für eine wirkliche, aktive Konstitution von G egenständlichkeiten als Id en t it ät sein h eit en, die einer freien Identifizierung in ihrem frei durchlaufenen Milieu bedürfen, um ursprünglich konstituiert zu werden, und die fest konstituiert erst sind, wenn der H ab it u s d er f reien Verf ü gb ark eit der Existenz im freien Zugriff und in freier, ursprünglich zu durchlaufender Identifizierung begründet ist. In diesem Sinne geht Naturzeit bzw. Gegenstand d er Naturzeit der immanenten Zeit bzw. dem Gegenstande der im m an en t en Zeit, die äußere Welt dem E rlebnisstrom vorher.2 Das ist die „gerade“ Gegebenheit der äußeren Welt, obschon man auch den rela-

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1921. Der Erlebnisstrom als eine immanente „Welt“ mit der Form einer unendlichen Zeit ist erst nachkommend, von der schon konstituierten objektiven Welt her, und nur phänomenologisch zu konstituieren. Cf. 2 f. = S. 19 f. 2

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tiven Unterschied hat: Gegenstände, die konstituiert sind als fundiert in Gegenständen, sind gerade gegeben, wenn sie eben so konstituiert sind; und die fundiert konstituierten sind dann allein gerade gegeben, die fundierenden reflexiv. Aber es bleiben hier noch S ch wierigk eit en. Ich k an n doch das immanente Erlebnis auch jederzeit wiedererinnernd haben, es ist doch jederzeit zu meiner Verfügung, also in meinem Besitz. Aber das können wir doch nur als Phänomenologen und Psychologen, und selbst dann nur, sofern wir uns das Immanente als Seiendes nachträglich tätig konstituiert haben. Aber vorher haben wir keinen beständigen und bleibenden Besitz im wirklichen Sinne; und das „Ich kann“ besagt hier nicht: Verfügung geradehin über Realisierung eines Besitzes, sondern „Ich kann“ besagt hier: Es besteht für mich jederzeit von der konstituierten objektiven Welt her die Möglichkeit, mein Immanentes als Seiendes und dann den Erlebnisstrom als Gegenstandsfeld in der immanenten Zeitform als Form dieses Feldes von „seienden Gegenständen“ zu konstituieren. Ich habe erst dann dieses Daseinsfeld und erkenne, dass es mein Besitz ist. Aber wenn ich nun als Psych o lo ge psychologische Erkenntnis habe für die einzelnen immanenten Gegenstände etwa als Beispiele und dann für den ganzen Erlebnisstrom als Einheit, habe ich dann – übrigens doch nicht in voller Analogie – eine Innenwelt so vor mir wie die Außenwelt? Sie ist dann doch nicht so vorgegeben wie die objektive Erfahrungswelt.1 In der Tat ist und bleibt selbst nach der die immanente Sphäre als seiende konstituierenden Leistung ein gewaltiger Unterschied. Sehen wir näher zu, so ist für niemanden, auch für den Phänomenologen nicht, die immanente Sphäre wirklich gegenständlich konstituiert. Das wäre sie, wenn wir daran interessiert gewesen wären, jedes geradehin sich abhebende und affizierende immanente Erlebnis zu fixieren und in wiederholter Wiederbetrachtung in der Erinnerung näher kennenzulernen, ferner, wenn wir, nachdem wir Einzelnes

1 Die immanente Sphäre, der reine Erlebnisstrom, wird gegenständlich erst konstituiert durch die Methode der phänomenologischen Reduktion und die von da ausgehenden besonderen Schritte einer Reduktion auf eine immanente Zeitsphäre. Dabei ist Welt und objektive Zeit vorausgesetzt, liegt als das der Reduktion zugrunde und beständig.

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im fixierten Besitz wirklich hätten, von Erlebnis zu Erlebnis fortschreitend, eine Herrschaft über solche immanent sich aufbauende Mannigfaltigkeit suchten, – wenn also dieses Reich ein Reich eigener Besitztümer und ein eigenes Interessenreich wäre oder vielmehr wenn all das überhaupt eine sinnvoll auszudenkende Möglichkeit wäre. Das müsste erst überlegt werden. Aber davon zunächst abgesehen, in d er Im m an en z liegt k ein T elo s f ü r d as L eb en des Ich. Der Psychologe und Erkenntnistheoretiker allein hat Interesse an der Immanenz, aber auch er kommt eigentlich nicht dazu, die einzelnen Erlebnisse und den Erlebnisstrom im Ganzen als Seinsfeld kennenzulernen und individuell gegenständlich zu bestimmen und zu fixieren. Die Dingwelt entspringt ursprünglich aus irgendeinem Interesse her, sie ist als bleibende, immer wieder auffindbare und verwertbare Einheit konstituiert und so zu einem Erwerb geworden. Wie immer die Urstiftung aufgeklärt werden mag, später sind die Objekte als unbekannte im Horizont des schon Bekannten in einer Form, die ihrerseits bekannt ist und als das vorgezeichnet. So verlangen sie nach einer Kenntnisnahme. Immanente Objekte kommen in unseren momentanen Besitz in wiederholten Erinnerungen, im Bewusstsein „Ich kann noch immer und immer wieder wiederholen“. Kurz zusammengefasst: Die Welt, die mundanen Gegenständlichkeiten sind konstitutiv aus einer ursprünglichen Erwerbung; ursprünglich erworben sind sie in Kenntnisnahmen, durch die sie bleibender Besitz sind. Sie sind bleibender Besitz für die Subjekte, die als interessierte die „Seienden“ dadurch erworben haben, dass ihr Interesse über das Momentane hinaus zu einem bleibenden Interesse wird und die gestiftete Apperzeption zugleich eine Habitualität des Interesses ist: Ähnliches weckt Ähnliches dadurch, dass es das darauf gerichtete Interesse im Ich weckt (als eine Ich-Seite), dadurch Überschiebung, Assoziation herstellt und „Übertragung“ des Interesses. Beizufügen ist, dass die genetisch-ursprüngliche Erwerbung von mundaner Gegenständlichkeit zugleich eine solche ursprünglicher mundaner Apperzeption ist, also nicht bloße Erfahrung dieser einzelnen Gegenstände ist, sondern ein analogisches Gedächtnis begründet und damit die Möglichkeit einer analogischen Anamnesis begründet, eben apperzeptive Auffassung von Ähnlichem gemäß Ähnlichem. Wir nennen auch

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„die unbekannte Welt“ und die Welt schlechthin als Universum der Bekanntheiten und Unbekanntheiten „erfahrbar“ und „erfahren“. Demnach, nachdem diese Apperzeption gestiftet ist, haben wir eine vorgegebene Welt als vorgegebenes, jetzt zugängliches und künftiges Interessenfeld und ein Feld möglichen Seinkönnens, auf das hin lebend, das tätige und leidende Ich als Ich „sein“ kann: Interessen und Interessenzusammenhänge stiftend, korrelativ damit für es bleibend Seiendes stiftend, Welt konstituierend in immer neuen Stufen, deren Vorgegebenheit Gegebenheit aus einer ursprünglich stiftenden Konstitution ist, die neben bestimmten Erwerben auch antizipierte Erwerbe hat. Das ist die allgemeinsame Welt, in der und mit der sich auch die Subjekte als personale, im Weltinteresse lebende und bleibend weltlich interessierte konstituiert haben und zugleich als Weltobjekte, also als Vorgegebenheiten füreinander und eines jeden für sich. Demgegenüber: Eine immanente „Welt“ ist nicht in dieser Art konstituiert, zunächst nicht die „Welt“ des Bewusstseinsstromes als meines egologischen. In der genetischen Ursprünglichkeit ist freilich immanente Affektion und Erfassung da, aber im Laufe der G en esis geht aller immanente Erwerb ein in die mundane Konstitution; die Immanenz geht auf in der Funktion der mundanen Konstitution. – Freilich das Problem, warum das Ich sich sofort konstituieren muss zum Menschen-Ich und zum Ich für die Welt und warum das Leben nur noch sein kann Weltleben, also das mundane Interesse das ausschließlich herrschende ist, das bleibt noch offen. Erst in einer sehr hoch entwickelten Menschheitsgenesis tritt die Psychologie und Phänomenologie auf, macht das Bewusstseinsleben und das rein Subjektive, das Transzendentale, zum universalen Thema.

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Beilage II Vorgegebenheit und Affektivität. Die beständige Vorgegebenheit der Welt, die Anonymität des konstituierenden Subjektiven1 5

Inhalt: Die Welt, das universale Feld wirklicher und frei möglicher objektiver Erfahrung, als eine universale in sich geschlossene affektive Struktur, mit dem notwendigen Korrelat der anonymen ichlichen und konstituierenden Subjektivität. Es sei noch auf folgenden wichtigen Punkt aufmerksam gemacht. Wenn

10 wir irgendeine objektive Wahrnehmung vollziehen, so können Motive er-

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wachsen, die unseren wahrnehmenden Blick vom Objekt ablenken auf die subjektiven Modi der Gegebenheitsweisen des Objektes, z. B. auf die Gestaltoder Farbenperspektiven, auf die mit ihnen Hand in Hand gehenden leiblichsubjektiven Prozesse, auf das „Ich bewege die Augen und lasse die Wahrnehmungen und ihre perspektivischen Modi ablaufen“ und dgl. Offenbar ist das Objekt Wahrnehmungsobjekt notwendig nur so, dass untrennbar eins ist Objekt im Objektfeld, Wahrnehmungsfeld, im Feld der gesamten Wahrgenommenheiten, und Mannigfaltigkeit der subjektiven Modi, die ebenfalls original mit da sind, ebenfalls ein Wahrnehmungsfeld ausmachen gegenüber dem der Objekte. Aber dieses Feld der subjektiven Erscheinungsweisen und alles Subjektiven hat offenbar einen se kundären C harakter. Primär und normalerweise ist nur die Objektwelt „für uns da“, auf sie bezieht sich unser ganzes normales Leben, unser Vorstellen, unser Denken, unser Mühen und Sorgen. Nur ausnahmsweise, nach besonderen Motivationen wendet sich das Interesse auf die subjektiven Erscheinungsweisen des Objektiven und auf die ichlichen Modi intentionalen Bezogenseins. Es wendet sich die innere Motivation unseres Lebens so, dass bald das und bald das Subjektive für uns im Feld ist, den Charakter des „es ist da“ annimmt, während das Objektfeld, die Einheit der Raumwelt nicht verschwindet, sondern die Form hat des Objektiven, das in den seienden Erscheinungen erscheint (Gegenstand im Wie). Es kann kontinuierlich das Erfassen rein auf das Identische und seine Bestimmungen (gegenständlicher Sinn) gerichtet sein, es kann aber auch der Gegenstand als so erscheinender thematisch sein. Ich meine mit diesem Unterschied nicht den der Aufmerksamkeit im gewöhnlichen Sinn, sondern einen U nterschied der „ Einstellung “, der auch die unbeachteten Hintergründe betrifft. Sind wir im normalen Dahinleben, also objektiv, weltlich eingestellt, so werden wir jeweils nur auf Einzelheiten der Umwelt 1

Um 1920. – Anm. des Hrsg.

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aufmerksam sein. Aber diese sind nicht die für uns daseiende Welt, sondern eben nur E i nz el nes aus der W el t, aus einem unbeachteten endlosen Objektfeld, sie haben also einen unbeachteten und doch abgehobenen und mitdaseienden H i nt ergrund. Andererseits die Mannigfaltigkeiten subjektiver Modi in ihrem beständigen Wechsel und kontinuierlich strömenden Verlauf sind also nicht ohne weiteres abgehoben und können gar nicht insgesamt abgehoben sein. In der normalen Lebenseinstellung gehen alle Affektionen, die als Reize für die aufmerkenden Zuwendungen fungieren, von dieser abgehobenen Umwelt, der Objektwelt aus – sei es rein von dieser selbst als Erscheinungseinheit, sei es von ihr zugleich als so und so erscheinende (bezogen auf bevorzugte affektive Erscheinungen). Daran ändert sich nichts, wenn wir z. B. im wissenschaftlichen Nachdenken auf gar nichts aus unserer Wahrnehmungswelt achten. Sie ist doch in einem besonderen Sinn für uns abgehoben da und affiziert uns, auch wenn wir den Affektionen nicht folgen, sondern bei unseren wissenschaftlichen Gedanken bleiben. Da aber nun doch Objektives nur für uns objektiv sein kann im Spiel der immerzu originaliter erlebten subjektiven Modi, immer nur als Erscheinendes im Spiel der einstimmig sich verknüpfenden Erscheinungen1 und sonstiger subjektiver Momente, wie der Aufmerksamkeit, der Ich-Akte usw., so müssen wir sagen: Durch unser Wahrnehmungsleben und überhaupt Erfahrungsleben geht hindurch eine besondere Einheitsstruktur, eine St rukt ur der e i n h e i tl i c h en Abh ebu ng, der E inheitlic hkeit in der Affektivität, die all dem Subjektiven, in dem und durch das die Objektwelt für uns da ist, die Anonymität aufzwingt. Diese A nonymität besagt: Die strömende Gesamtwahrnehmung, die zu allem Leben und in jedem Lebensmoment gehört, hat beständig eine Seite, die subjektive, die des Objektwelt konstituierenden Lebens, die ni c ht nur unbeac ht et bleibt, sondern f ür das Spi el der Aufmerksamkeit überhaupt nicht in B etracht kommt, eine Seite nämlich, die beständig originaliter da ist, beständig wahrnehmungsmäßig ist, aber so, dass von ihr aus gar keine Affektionen, keine Aufmerksamkeitsreize, keine Reize auf das aktive Ich ausgehen, sich damit zu schaffen zu machen. Wo wir gewöhnlich von Wahrnehmung sprechen und vom Zusammenhang fortschreitender Erfahrung, da meinen wir von vornherein selbstverständlich dieses einzig sich abhebende zusammenhängende Feld der Objektwahrnehmung. Wir meinen das Feld, auf das wir, ob aufmerksam oder nicht, eingestellt sind. Da der affektive Reiz eine Tendenz besagt, die auf das aktive Ich hin geht, so können wir die Sachlage auch so ausdrücken: Durch das Leben geht hindurch eine Tendenzstruktur, die auf die sich in der Mannigfaltigkeit subjektiver Erscheinungen und subjektiver Tätigkeiten konstitu1

Mit zugehörigen ichlichen Funktionen.

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ierenden Objekteinheiten hinlenkt, das Ich immerzu auf das O bj ekt i ve hinweist, hinzieht, während das Subjektive an diesem Vorzug nicht t ei l hat, ja sogar anonym bleiben muss, damit ein objektiv gerichtetes Leben, ein Leben in objektiver Einstellung möglich sei. Andererseits können aber besondere Motive auf Subjektives, z. B. auf die mannigfaltigen Perspektiven, auf die Unterschiede des subjektiv bezogenen „rechts“ und „links“ etc. hinführen, wodurch auch das Subjektive einen affektiven Zusammenhang herstellt, ein Wahrnehmungsfeld in einem analogen Sinn wie das der objektiven Umwelt. Freilich erst die Phänomenologie hat in ihrer Methode unter dem Titel „phänomenologische Reduktion“ die gewöhnliche Art der Blickwendung auf das Subjektive überschritten. Diese gewöhnliche Art ist die des sporadischen, nur in kleinen Zusammenhängen Zur-Abhebung-Bringens von Subjektivem. Die Phänomenologie aber schuf eine universale Einstellung auf den Gesamtzusammenhang alles Subjektiven, wobei die Objektwelt die sekundäre Stellung dessen erhält, was in diesen Erscheinungen Erscheinendes ist. Aufmerkende Zuwendung ist die Voraussetzung jeder in ihr fundierten weiteren Aktivität, also jederlei Beschäftigung mit Gegenständen, theoretischer oder im gewöhnlichen Sinn praktischer, also auch jeder universalen Thematik irgendwelcher Wissenschaft in ihren Aktionen. Auf m erksam keit aber setzt schon voraus eine Einstellung, f ür die ein Reich d e r Affe k ti vität ber eitgemac ht is t, von dem alle Reize zum Aufmerken ausstrahlen, und Reize, die miteinander intentionalen Zusammenhang haben. Für die natürlich-normale Einstellung haben wir – das setzt sie voraus – die Objektwelt schon in Bereitschaft. Erst die phänomenologische Einstellung eröffnet für uns sozusagen als eine höhere Welt die vordem anonyme Subjektivität, und zwar in ihrer vollen Universalität. Aber genauer gesprochen: Der Vollzug der phänomenologischen Einstellung setzt schon voraus, dass wir die „Welt“ der transzendentalen Fragen als Horizont haben; wir werden dessen inne, dass wir nach der transzendentalen Epoché eine neue Thematik, ein neues Sein uns konstituierend zueignen können, und dann haben wir Seiendes im transzendentalen Sinn.

Nr. 4 Die vorgegebene Welt. Allgemeine Aspekte ihres statischen und genetischen Aufbaus1

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§ 1. Das Feld effektiv bewusster Objekte und der ineffektive Horizont des Unbewussten

„Die“ Welt ist uns vorgegeben. Richten wir den aktiven Blick geradehin auf irgendetwas, so war es schon da, es affizierte mich, motivierte mich zur Zuwendung, und so wird es nun geradehin erfasst.2 10 Jedes Erfasste ist in einem Feld von Erfasstem, schon Bewusstem. Insbesondere ist jedes gewahrend Wahrgenommene in einem Feld, das „Wahrnehmungsfeld“ heißt: Sehfeld, Tastfeld, Gehörsfeld etc. (aber nicht als Empfindungsfeld), das weit hinausreichen kann über das aktuell gewahrend Erfasste. Aber das Bewusstseinsfeld 15 als Feld abgehobener, schon mit abgehobenem Sinn affizierender Gegenständlichkeiten reicht weiter: Mannigfache Gegenständlichkeiten können erinnerungsmäßig geweckt sein, auch in der Weise der „Vorerwartung“, der antizipierenden Erwartung. Das erfassende Gerichtetsein kann dabei statt Gegenständen der Wahrnehmungs20 gegenwart auch Erinnerungsgegenständen zugewendet sein und in dem jeweiligen Feld dabei wandern, wobei dieses Feld selbst sich durch Forterfahrung und immer neue Weckung ebenfalls wandelt. Wir können auch sagen: Jed es ak t u ell E rf asst e liegt in ein em 1 Beilage zur Vorlesung 1928 = „Intentionale Psychologie“ (Ms. F I 44/41–138); in Husserliana IX sind aus dieser Vorlesung einige Blätter veröffentlicht (siehe ebd. S. 647–649). 2 Als Erstes müsste wie in den parallelen Blättern festgestellt sein: Das menschliche Leben ist Leben in einem einheitlichen Streben, ein Leben in aktueller und potenzieller Praxis. Alle Praxis hat ihren praktischen Horizont und setzt voraus als einheitliches Feld der Praxis eine einheitliche, schon konstituierte Welt. Die Bezogenheit auf eine schon konstituierte Welt ist formal die Voraussetzung für ein einheitliches Gemeinschaftsleben von Ich-Subjekten in einem Stil, der historisch sein kann, der durchgehend, sich durch die Zeiten forterhaltend, Kultur möglich macht oder ein durch die Zeiten hindurchgehendes Menschheitsleben möglich macht, für das alle vergangenen und gegenwärtigen Erwerbe bleibende sind, praktisch in Relevanz, immer mögliche Mittel für neue Erwerbe etc.

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Blickfeld, einem Feld effektiv bewusster Objekte, einem effektiv bewussten Rayon d er Welt, mag übrigens das Bewusstsein ein anschauliches oder leeres sein. Dieses effektive Feld liegt aber jederzeit in einem u m f assen d eren Feld, es ist umringt von einem ineffektiven Horizont des „ Unbewussten “, einem offenen Horizont unabgehobener, also nicht explizit bewusster (weder anschaulich noch leer mit einem ihnen zugehörigen gegenständlichen Sinn affizierender) Objekte.1 Gleichwohl ist dieser Horizont ein intentionaler; auch in ihm ist in einem weiteren Sinn etwas bewusst, nämlich das All der im Sinn der anderen Redeweise „unbewussten“, das effektive Feld intentional zur Welt bzw. zum effektiven Feld au s der Welt ergänzenden Objekte. Es ist also – im weiteren Sinn – immer mehr gemeint als aktuell erfasst, und mehr gemeint als effektiv im Blickfeld abgehoben erscheinender oder leer bewusster Objekte bewusst ist. Immerzu mitgemeint ist ein Horizont möglicher Weckung, möglicher Affektion (möglicher vor der wirklichen), dann weiter möglicher Zuwendung, möglicher Erfahrung und möglicher Fortführungen der Erfahrung. Verwirklicht sich solche Erfahrung, so lässt sie die immer neuen Objekte aus dem Horizont hervortreten als bestimmte und schafft Zugang zu ihnen selbst als nun aktuell erfahrenen Wirklichkeiten. Diese Horizontmeinung, die überall an jedem effektiven Feld als Mitmeinung hängt, ist also unbestimmte Bestimmbarkeit und immer Bestimmbarkeit durch O b jek t e. Jedes Objekt hat als solches seine formale Struktur; es tritt in das effektive Feld als so und so apperzipiert, d. i. mit einem jeweiligen gegenständlichen Sinn, dessen notwendige Form sich abhebt in freier Variation. Diese Form bindet aber ein ineffektiver, leerer Horizont, sofern eben die freie Möglichkeit, über den jeweiligen effektiven Horizont hinauszugehen – die wir uns jeweils als mannigfaltige Möglichkeit vorstellig machen und damit das plus ultra des Horizontsinnes klären können –, in einsichtiger Notwendigkeit die Gestalt hat eines Übergehens zu neuen Objektfeldern, die im Übergang sich mit den alten synthetisch verknüpfen. In der natürlichen Einstellung als Welteinstellung gilt: Was im m er effektiv werden kann, kann es nur als effektives Objektfeld. Dabei sind die Objekte unmittelbar oder mittelbar – letztere in ih1

Neufassung des Begriffs „effektiv“.

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rer Mittelbarkeit – zu enthüllen. Eine Mittelbarkeit erwächst immer neu aus dem In-die-vorgegebene-Welt-Hineinleben der Subjektivität, eventuell aus ihrem künstlerischen, literarischen etc. Handeln und Schaffen. Immerfort ist die Welt vorgegeben, immerfort erneuert sie sich und wandelt sie Seiendes durch das Erwachsen fundierter Intentionalitäten, durch die den Vorgegebenheiten neue Bestimmungen zuwachsen, Bestimmungen wie die als Werkgebilde, die in ihrer Form auf eine Genesis und auf erzeugende Subjektivität zurückweisen und als das objektiv werden können: für jedermann als Werke verständlich, als das affektiv und aktuell erfahrbar. Wenn so immerfort eine Welt und in allen fortgehenden Wandlungen vermöge ihrer Synthesis d ieselb e Welt bewusst ist als vorgegeben und als vorgegeben für alle von S eiten d er Subjekte im Weltleben zu erzielenden L eistungen und wenn all solche Leistungen zu befragen sind nach ihrer Geschichte, so scheint es zunächst klar, das wir bei der Enthüllung der Intentionalitäten auf einen Stufenbau der Genesis werden kommen müssen, und zwar so, dass alle vorgegebenen Objekte der jeweils geltenden Welt zurückführen müssen auf an sich erste Objekte. Diese wären dadurch charakterisiert, dass sie noch keine objektiv gewordenen Bestimmungen an sich tragen, die aus dem Weltleben (in die vorgegebene Welt Hineinwerten, Hineintheoretisieren, Hineinhandeln jeder Art) entsprungen sind. Diese ersten Objekte sind gewissermaßen U ro b jek t e derjenigen Genesis, in der sich eine vorgegebene Welt von der in sie hineinwirkenden Subjektivität her beständig neu gestaltet. Wir können das auch so ausdrücken: Jede als Kulturwelt vorgegebene Welt weist genetisch zurück auf eine noch k u lt u rlo se und überhaupt von objektivem Geist freie. – Aber man muss hier vorsichtig sein und alle Probleme zu Worte bringen, die sich hier verflechten. Ist die Welt schon vorgegeben mit Menschen, so weisen Kulturobjekte allerdings auf die mit ihnen beschäftigten Menschen zurück. Aber Menschen stehen in der Kette der Generationen, in der jeder als Kind erwächst und in die gemeinschaftliche Welt hineinwächst, als eine Welt, die es sich allererst in seiner zunächst einzelsubjektiven und dann durch Einfühlung fortschreitenden Genesis konstituieren muss. Diese Welt hat nachverstehbare Kulturbestimmungen, die aus der Geistestätigkeit der Vorfahren entsprungen sind. Diese ihrerseits

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sind ebenso Kinder und Kindeskinder und in eine Welt ebensolcher Tradition hineinlebend. – Also hier in dieser Verkettung generativen Lebens finden wir keine kulturlose Welt (natürlich nur dann, wenn wir nicht einen beschränkten Begriff von Kultur statt des formal allgemeinsten und unentbehrlichen gebrauchen). Ob überhaupt eine historische Null-Welt denkbar ist als eine sozusagen nackte, nämlich von aller geistigen Bedeutung freie Welt, in die nun mit einem Mal Menschen hineinschneien (denn sowie sie schon da sind und Menschen leben, beginnt alsbald ein Prozess der Kulturbildung), das ist von vornherein fraglich; und der Zweifel wird sofort sich verstärken und der negativen Entscheidung zudrängen, sowie wir in eine nähere Erwägung eintreten würden. Wir müssen nun aber bedenken, was soeben schon merklich geworden ist, dass jede Genesis der Welt, als durch Subjektleben in die vorgegebene Welt sich in dieser Vorgegebenheit wandelnd, sich in den Einzelsubjekten vollzieht in rein einzelsubjektiver Intentionalität und in ihnen selbst durch das Medium der Einfühlung fortschreitet zur intersubjektiven Genesis.1 Gesprochen haben wir dabei von der Genesis der vorgegebenen Welt, die immer schon vorgegebene Welt voraussetzt, von der Genesis der historischen Welt als der, die immer neue historische Gehalte durch die in sie hineinlebenden Menschen annimmt, wobei jede Generation schon eine Welt vorgegeben hat. Jeder Mensch im historischen Zusammenhang vollzieht sein Weltleben und hat darin sein en Anteil an der Konstitution der historischen Welt zu leisten. Aber im Leben jedes Einzelnen ist die Welt für ihn aus ausschließlich ihm eigenen Quellen der Intentionalität vorgegeben und erst darin, durch Vermittlung seiner einfühlenden Erfahrungen, ist die Welt die intersubjektive, die für uns alle, für die Gemeinschaften vorgegebene. Darin liegt: Sie ist jedermann vorgegeben als die für „uns alle“ vorgegebene. Bringen wir uns, bringe ich mir die Welt und zunächst irgendwelche vorgegebenen Objekte daraus zur Selbstgegebenheit, so ist diejenige Selbstgegebenheit (die ausweisende), in der sie mir selbst gegeben sind als für irgendeinen anderen selbstgegebene, eine mittelbare. Ich muss erst den Anderen 1 Die vorgegebene Welt ist die Welt als für uns im Voraus bewusst daseiende, also als die in unserer Intentionalität gemeinte und sich jeweils ausweisende. „Genesis dieser Welt“ besagt: Genesis von Stufen der v e rm e i n t e n Welt.

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selbstgegeben haben, um sein e Selbstgegebenheit der betreffenden Objekte für mich gegeben haben zu können. Um den An d eren selbstgegeben zu haben, muss ich vorher seinen körperlichen Leib gegeben haben. Sein geistiges Sein kann für mich nicht in unmit5 telbarer Originalität, in eigentlicher, schlichter Perzeption gegeben sein, sondern nur durch Appräsentation. Sollen die Objekte zudem als von Anderen erzeugte, von ihnen mit Bedeutung ausgestattete verständlich sein, so müssen sie zunächst als Objekte erfahrbar sein, unangesehen dieser Bestimmungen.

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§ 2. Die als Kulturwelt vorgegebene Welt zurückweisend auf Natur Die Vorgegebenheit der Welt für mich muss ihre Stufen haben. Die mir erscheinende Welt muss für mich in einer Grundschicht unmittelbar erscheinend sein, sie muss so vorgegeben sein, dass sie in einer Grundschicht zur unmittelbaren Selbstgebung kommen kann. Das mir unmittelbar perzeptiv Erscheinende f undiert dann die Perzeption des Mittelbaren, die eben mittelbare, fundierte Perzeption ist. Das Universum der Objekte, die mir schlechthin als unmittelbar erfahrbar (unmittelbar ausweisbar in originaler Anschauung) gegeben sind und so gegeben sein müssen, ist d ie Nat u r. Schon Wertcharaktere, teleologisch-praktische Charaktere, die sie von m ir allein erhalten hat, sind mittelbar, aber noch durch Rückgang auf die eigene Tätigkeit zur originalen Selbstgegebenheit (durch Wiedererinnerung und beliebig wiederholte Wiedererinnerung) zu bringen. Es grenzt sich ein Universum ab des für mich von der vorgegebenen Welt zu originaler Selbstgebung zu Bringenden. Darin eine Abstufung: „bloße Natur“ und „von mir allein herstammende Kultur“. Da die Kulturbestimmungen in ihrer Gegebenheitsweise zurückverweisen auf ihre Genesis in mir, so habe ich damit eine gen et isch e S t u f en f o lge. Die untere Stufe, die Natur, ist hier die Voraussetzung der objektiven Genesis, aber nicht selbst aus einer objektiven Genesis erwachsen, – wenn eben die Genesis in Frage ist, die aus schon Weltlichem höherstufig Weltliches hervorgehen lässt. Ist abstrahiert von den Anderen in dieser Reduktion auf unmittelbar-originale Selbstgegebenheit für mich, so ist die reduzierte Ob-

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jektivität eine solche, die eigentlich „Objektivität“ darum heißt, weil sie, wenn wir diese Abstraktion aufheben, sich der allgemeinsamen Welt in intentionaler Synthese einfügt als das Raumding, das wie ich so jedermann als dasselbe vorfinden kann. Die Objektwelt oder raumzeitlich seiende Welt ist mir vorgegeben in einer Mittelbarkeit, wonach sie zunächst die ausschließlich mir unmittelbar-original (in meinen eigenen rein originalen Erscheinungen) als raumzeitlich seiend erscheinende ist, dann aber, wenn ich Einfühlung heranziehe, mir gegeben ist als die auch den Anderen original erscheinende. Als das ist sie mir natürlich mittelbar gegeben. Als erste Stufe dieser Mittelbarkeit habe ich dann die Gegebenheitsweise und speziell Erfahrung von An d eren als solchen. Meine „Wahrnehmung“ von Anderen ist originale Selbstgebung von anderen Menschen. Die Originalität, in der ihr seelisches Sein in eins mit ihrem mir unmittelbar gegebenen Leibkörper gegeben ist, ist Originalität der Appräsentation, als sich in der Synthese fortschreitender und immer vollkommenerer Erfahrung konsequent ausweisend, in konsequenter Selbstbestätigung. Der Mensch als Men sch d o rt, als Mensch dieses körperlichen Leibes dort, ist An d erer, sofern das erfahrene Ich und Seelenleben ein anderes ist, aber doch nicht an d erer Men sch, solange ich nicht vom Menschen dort den Blick zurückgewendet habe zu mir, und zwar als den, den jener ähnlich als Menschen in seinem Dort (für ihn dort) erfährt, so wie ich ihn als für mich in einem Dort seienden erfahre. Erst mit dem rückgewendeten Auffassen meiner selbst vom Standpunkt und sozusagen mit den Augen des Anderen werde ich für mich Men sch und erfahre ich das „wir Menschen beide“ in der ersten Form des „ich und er“, wobei er selbst erfasst wird als Ich, für das ich das „er“ bin. Der für mich original und als bloßer Körper erfahrene fremde Leib ist in der Erfahrung des anderen Menschen beschlossen als derselbe von ihm (in anderer Erscheinungsweise) unmittelbar-original erfahrene Leibkörper, geistig erfahren als sein eigener L eib, in dem er original waltet. Die für mich unmittelbar-original erfahrene Nat u r überhaupt ist identisch mit der von ihm original erfahrenen, obschon in anderer Erscheinungsweise, in einem anderen Blickfeld usw. Was er, in die Welt und zunächst in die Natur hineinlebend, leistet, was für Bedeutungscharaktere sie für ihn und durch ihn erhalten hat, das verstehe ich nach. Aber wir treten auch in Kommunikation, in Gemeinschaften des Miteinander-

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Erfahrens, Miteinander-Denkens, -Wertens, -Handelns; Objekte, die für andere Nützlichkeit haben oder durch sie und für sie Nützlichkeit angenommen haben, sind auch Nützlichkeiten für uns und umgekehrt.1 Nicht nur die Natur, sondern die mit Bedeutungscharakteren – vor allem der Nützlichkeit – ausgestattete Natur ist objektiv; sie ist in diesen Charakteren für jedermann da, bereit in weitere personale Funktion zu treten. Als Zwischenstufe wäre noch zu beschreiben zunächst der Konnex mit bestimmten Personen. Im Lauf der Erfahrung bildet sich ein offener Horizont von möglichen, immer neuen Dingen aus, die als Leiber für Menschen erfahrbar sind, also von Menschen in der schon konstituierten offen endlosen Natur und Menschen nicht nur als von der Gegenwart her zugänglichen und mitgegenwärtigen. Die ursprünglich erfahrenen Menschen sind nun erfahren mit einem Horizont von für mich unerfahrenen Menschen, mit denen sie in Konnex standen und stehen; es sind Menschen, die erwachsen sind als Kinder von Eltern etc. Die Welt wird zu einer Menschenwelt, gegliedert in Gemeinschaften, die Gemeinschaften bezogen auf eine speziell ihnen zugehörige historische Tradition, in der eine ihnen gemeinsame Kultur erwachsen ist, für jedermann unter ihnen zugänglich und im Ganzen gemeinsam ausweisbar, gemeinsam gültig. Die Welt und die verschiedenen Umwelten der Menschen, der menschlichen Sondergemeinschaften sind dem jeweiligen einzelnen Ich (und der einzelnen Gemeinschaft) vorgegeben. Diese Vorgegebenheit hat in jedem Ichsubjekt ihre Genesis aus seinem Leben heraus und seinen Bewusstseinsweisen, passiven und aktiven Verhaltungsweisen.2 Die jeweils vorfindliche Struktur der sozusagen fertigen, im jeweiligen Stil und Erscheinungsgehalt vorgegebenen Welt ist zunächst durch st at isch e An alyse aufzuweisen und so insbesondere aufzuweisen der universale Stil einer Menschenwelt und Welt f ü r Men sch en, mit der ausgezeichneten notwendigen Kernstruktur bloßer Natur, in dieser verteilt organische Körperlichkeit, als 1

Die Nützlichkeiten gehören objektiv zu den Objekten als für jedermann nützlichen. Die Menschen sind für jeden unter ihnen wie die Dinge der Natur Objekte, aber sie sind zugleich Subjekte für die Welt, als welche für sie ist aus ihrer intentionalen Leistung, derjenigen, durch die sie ihnen vorgegeben ist und vorgegeben selbst wieder als jedermann vorgegeben aus jedermanns vorgebenden Leistungen. 2

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Leiblichkeit für animalisches und vor allem menschliches geistiges Sein; und diese gesamte physische und psychophysische Objektivität ist ausgestattet mit Kulturbestimmungen, in ihrer sekundären Objektivität bezogen auf die Gemeinschaften, für die sie Gemeinsamkeit objektiver Geltung haben, wie sie aus ihrem Gemeinschaftsleben ihre Bedeutung gewonnen haben. Diese statische Struktur weist aber zurück auf eine gen et isch e. Die Genesis ist aber, wie aus diesen Betrachtungen zu ersehen ist, eine intentionale Genesis in den Subjekten als Subjekten, die eine Welt immerzu vorgegeben und als Lebensfeld haben. Die vorgegebene Welt hat als raumzeitliche Welt ihre Struktur unbedingter Objektivität – Dasein für jedermann schlechthin. So die Natur, aber auch die Menschen als für jedermann, für jeden Menschen durch Erfahrung zugänglich, wie groß die Unvollkommenheit auch sein mag. Freilich ist die Geistigkeit der Menschen weit entlegener Kulturen und Kulturzeitalter uns sehr wenig zugänglich und zum Teil uns faktisch dauernd verschlossen. Aber es sind doch, wenn sie uns gegenübertreten, für uns Men sch en, so wie wir für sie; ebenso wie die Dinge für uns gemeinsam D in ge sind, wechselseitig identifizierbar, obschon auch da die Auffassungsweisen sehr verschieden und wechselseitig auch unverständlich sein können. Genug, dass daseiende Wirklichkeit der regionalen Grundformen „Ding“, „Mensch“, „Tier“ als objektiv und ein jeweiliges Dasein bewährend gemeinsam sein muss. Darüber hinaus haben wir dann d as Reich d es bloß Subjektiven, unbeschadet des Kerns notwendiger gemeinsamer Objektivität, mit notwendigen gemeinsamen Strukturformen. Das ganze Reich der Kulturgegenständlichkeiten ist ein Reich des Subjektiven, das es – immer den Kern vorausgesetzt – bloß zu relativer Objektivität bringt. Aber im Grunde gilt das auch für die Natur, die für uns europäische Kulturmenschen nur darum eine feste Objektivität ist, weil wir die historisch in uns ausgebildete, uns allen geltende Norm der Naturwissenschaft haben. Auch hier also eine Relativität, die nur für uns verdeckt zu sein pflegt. Gehen wir der Genesis der vorgegebenen Welt nach, so werden wir auf einzelne Ich – jedem von uns als eigenes in ausgezeichneter und für sich absolut setzbarer Weise gegeben – geführt und von da aus auf eine universale Genesis, für die Natur nur ein relativer Ausgangs-

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punkt sein kann, während, tiefer eingehend, sich zeigt, dass au ch die Natur ihre subjektive konstituierende Genesis h at. Das mannigfaltige Bewusstsein von der Natur unterliegt zunächst einer statischen Analyse. Aber diese verweist in sich selbst auf eine Genesis.

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Beilage III Die Scheidung von passivem und aktivem Intellekt in eins mit der vertieften Unterscheidung zwischen „sinnlicher“ Gegenständlichkeit und kategorialer.1 Die Konstitution von Gegenständen im prägnanten Sinn (und somit einer Welt vorgegebener Gegenstände) in Akten der Aktivität2 In meinen älteren Darstellungen habe ich den Grundunterschied der Konstitution von Gegenständlichkeiten, den ich im Auge hatte, Natur und Kultur (geistiges Erzeugnis im weitesten Sinn), durch den Unterschied des passiven und aktiven Intellekts zu umschreiben versucht, aber in unrichtiger Weise. Die Naturgegenstände (und vorher schon die ichfremden Gegenstände der Ursinnlichkeit), das Reich der absoluten personalen Fremdheit, sind nicht „passiv konstituiert“. (Al l e G egenstände als G egenstände sind aktiv k o n s t i t u i e r t . Aber fundamental ist der Unterschied zwischen assoz i at i ver und kategorialer Konstitution.) 1) Die Art, wie Assoziation universale konstitutive Bedeutung hat, habe ich sehr spät durchschaut, obschon ich sie schon in den ersten Göttinger Jahren als einen Titel für eine universale und immer mitfungierende Gesetzlichkeit der Genesis erkannte. Sie stiftet freilich vor und neben aller (nicht durc h sie) Aktivität (die freilich nie ganz fehlt) Zusammenhänge, aber eigentlich doch nicht Gegenstände. Ohne sie gibt es keine Affektion, sie ist überall mit dabei; und wenn Affizierendes schon „Gegenstand“ heißen soll, so schafft sie freilich Gegenstände. Aber „ Gegenstand “ im prägnanten Sinne bedarf der aufmerkend erfassenden Aktivität, Aktivität der Kenntnisnahme, die aber zunächst auch noch nicht „Gegenstände“ erfasst, sondern es bedarf auch der Identifizierung durch Wiedererinnerung und dgl., also von solchem, was schon erfasst war – eine Synthese also auf Grund 1 Gegen die Scheidung von passivem und aktivem Intellekt, wie ich sie früher versucht habe. 2 Um 1920. – Anm. des Hrsg.

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der Aktivität, aber freilich auch der Assoziation, die ja in den Funktionen der Wiedererinnerung, der Erwartung, der Weckung in Zusammenhängen der sinnlichen Gleichheit, überhaupt in Konfigurationen etc. überall waltet und auch nachher immer ihr Spiel treibt und aus Gegenständen niederer Stufe solche höherer, aber als Vorgegebenheiten schafft. So wie Erfahrung auch nur als Selbsterfassung ins Spiel tritt, so auch Explikation, aber auch Identifikation des „Substrates“ der „Bestimmungen“. Rein in der Passivität geht dabei der „Niederschlag“ der Bestimmung im Substrat vonstatten, also der Eingang in die Habitualität bzw. in die mögliche Identifikation des „Gegenstandes“ eben als Gegenstandes, als Substrates von bekannten (und dann auch unbekannten zur Kenntnis zu bringenden neuen) Bestimmungen.1 Als G egenstand also ist irgendetwas aufgefasst, apperzipiert, auf Grund vorangegangener Identifikation und w irklic her B est im m ung; und dazu kommt, dass eine Apperzeption sofort eine Art-Apperzeption begründet. Das alles sind Leistungen der Assoziation, die aber Aktion voraussetzen. 2) Was ich unter dem Titel „aktiver Intellekt“ im Auge hatte, war aber die kat egori al e Akt i on des Verstandes, des Gemüts und Willens. Um was handelt es sich hier? Habe ich schon Gegenstände und sind sie als Gegenstände für mich gegeben, so kann ich eine kategoriale Aktion üben, d. i. eine Art Synthese, in der diese Gegenstände als Gegenstände synthetisch verknüpft werden,2 z. B. eine Kollektion etc., auch ein Urteil, in dem ein Substrat-Gegenstand eine Eigenschaft als Gegenstand zugewiesen erhält. – Aber da bedürfte es weiterer Ausführungen und der Überlegung, wie das für alle Aktsphären durchzuführen ist, andererseits aber, ob die Funktionen des Katholou nicht als ein eigener Titel herauszustellen sind. Sinnliche und kategoriale G egenstände (auch G egenstände des aktiven Intellekts). Zum Wesen eines Gegenstandes seiner Form nach als Gegenstand überhaupt gehört es, dass er „wahrnehmbar“ ist in einem weitesten Sinn, d. h. dass er originaliter als er selbst erfassbar ist. Jeder Gegenstand kann aber auch wesensmäßig, statt in dieser Art selbstgegeben zu sein, auch selbst vorgegeben sein. Nämlich kein W ahrnehmen i st denkbar ohne eine vorgängige Af f ekt ion (wie auch kein unanschauliches oder sonstwie anschauliches Erfassen, Aufmerken denkbar ist ohne ein Vorbewusstsein und eine von dem darin Bewussten auf das Ich hingehende Affektion). Zum Wesen jedes erfassenden Bewusstseins gehört, dass der Erfassende, zurückgehend, das im vor-erfassenden, vorgebenden Bewusstsein Bewusste als 1 2

Aber auch „Eigenschaften“ werden zu Gegenständen. In und durch Ich-Aktion und rein durch sie.

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dassel be vorfinden kann, als welches er vom Ansatzpunkt des „aufmerkenden“ erfassenden Zuwendens an gegeben hatte und in weiterer Reflexion zwar als dasselbe, aber in wesentlich geändertem subjektiven Modus der Bewusstheit hatte, die also die vollzogene Unterscheidung und Wesenseinsicht jederzeit ermöglicht.1 Doch werden wir sagen müssen: Z um W esen ei nes G egenstandes i m eigentlichen Sinne gehört es, identisches Substrat von „ Prädikat en “, vo n b est i m m en d en M o m en t en z u sei n von einer im gegenständlichen Sinn schon vorgezeichneten Struktur als Form. Gegenstandsbew usst sei n in erster Erfassung des Gegenstandes ist nicht jedes Hinwenden auf ein Affizierendes, es ist nicht eigentliches Erfassen, das schon ein Auffassen als et w as und dann als etwas einer unbestimmt allgemeinen Struktur voraussetzt. Wo das nicht der Fall ist, da wird eigentlich nicht etwas (also es wird nichts) erfasst, da, was da affiziert, zunächst ein „Unfassliches“ wäre. Auffassen als etwas, z. B. ein noch nie gesehenes Ding erfassen und damit als Ding erfassen (ohne irgendein Allgemeinheitsbewusstsein) zeichnet schon vor Substrat-Erfassen, schrittweises Kenntnisnehmen und dabei nach gewissen (bestimmbaren) Unbestimmtheitsrichtungen wie Figur, Größe usw. Somit liegt in jeder Auffassung eine gewisse Anamnesis an eine Ich-Aktivität, die ihrerseits zurückweist auf eine Genesis der Auffassung (der Apperzeption „Ding“ z. B.) unter Ich-Beteiligung durch spezifische Ich-Akte. Alles also, was uns als G egenstand affiziert und von uns als Gegenstand erfasst wird, ist apperzipiert, und schon sofern es als Bestimmbares und zu Bestimmendes im Voraus in den Blick tritt, hat es eine Sinnesstruktur, die aus Aktivität stammt. Das gilt ebenso wohl für sinnliche wie für kategoriale Gegenstände, ja selbst für bloß subjektive gegenüber den eigentlich objektiven (die noch die weitere Form der intersubjektiven Erfahrbarkeit und Bestimmbarkeit haben). In gewisser W eise sind also alle Gegenstände überhaupt „ kategorial “. Aber ein wesentlicher Unterschied tritt nun hervor darin, dass Gegenstände sich unterscheiden als solche, die ihrem gegenständlichen Sinn (Apperzeptionssinn) gemäß sc hlic hte Gegens tände sind, gegenüber solchen, die m ehrfältige Gegenstände sind, also schon Gegenstände (in ihrer eigenen Auffassung in Sonderheit mitaufgefasste) in sich tragen – abgesehen von allen Handlungen, durch die schlichte Gegenstände geteilt werden in Gegenstände, die als Teile erst aus nachkommender Teilung entspringen.

1 Alles Gegenstandsbewusstsein im eigentlichen Sinn könnte im weiteren Sinn „kategorial“ heißen, ist nicht bloß Sinnlichkeit – ist schon Verstand. Aber zu beachten: in allen Domänen Parallelen.

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Ebenso können Gegenstände in ihrem apperzeptiven Sinn, statt vereinheitlichte Mehrheiten, also in den Einzelheiten in dieser Weise von Ganzen fu n d i e rt zu sein, auch in anderen Weisen fundiert sein. Jede Fundierung von Gegenständen in Gegenständen fordert für die Selbstgegebenheit des fundierten diejenige der fundierenden Gegenstände. So ist ein Paar von Gegenständen, eine beliebige Konfiguration (eine Gegenstandskonfiguration), eine Vielheit, Menge, als solche eigentlich erfahren: als mehrheitliche Gegenständlichkeit, als Vielheit von Einzelheiten in einem durchlaufenden und kolligierenden (jedes Einzelne in Geltung, im Griff festhaltenden und jedes neue Einzelne „hinzunehmenden“) Tun. Ebenso jedes abstrakt Gemeinsame, etwa das gemeinsame Weiß dieser beiden Papierflächen fordert für seine Selbstgegebenheit das Erfassen der Einzelheiten, das überschiebende sie zur „Deckung“ Bringen, wobei aber nur das dabei hervortretende Gemeinsame, der fundierte Gegenstand, der hier eben fragliche Gegenstand (das Gemeinte, Gesetzte) ist, während doch seine Selbstgegebenheit die gegenständliche Selbstgegebenheit der Einzelheiten voraussetzt, nur sie nicht mit in den gegenständlichen Sinn einschließt. Eine sinnlic he K onf igurat ion ist an sich ein schlichter Gegenstand – obschon hier in der Vorgegebenheit eine einheitliche Affektion vorliegt, die Sonderaffektionen in sich schließt, was einen bedeutsamen Unterschied innerhalb der sinnlichen Sphäre darstellt und ein fundamentales Thema einer intentionalen Assoziationslehre. Die Konfiguration aber, aufgefasst als Konfiguration einer Mehrheit von G egenständen, ist kein schlichter sinnlicher Gegenstand, sondern ein in mehreren Gegenständen fundierter; er setzt voraus die Aktion der vereinheitlichenden Sonderauffassung und Gesamtauffassung für eine originale Selbstgegebenheit – als Mehrheit. Nun können wir aber sagen: Eine solche Konfiguration ist zunächst ein sinnlicher Gegenstand, dessen Explikation nicht nur auf Eigenschaften, sondern auf Teile führt. Jede Explikation ist ein gliedernder und mehrere einzelne Akte zur Einheit eines Aktes verbindender Akt, und dementsprechend haben wir auf gegenständlicher Seite Mehrheitliches. Indessen, wenn wir eine sinnliche Konfiguration auffassen, so kann sie selbst Gegenstand sein, und wie bei jedem Gegenstand vollzieht sich die mögliche Bestimmung explikativ. Dann sind in der Tat die einzelnen Glieder Teile und als Teile bestimmende Momente des Ganzen. Eine Kollektion resultiert dann schließlich als „Inbegriff“ der Teile, als Ganzes ihrer „Teile“: durch die explizierende Aktion. Ist aber das Gegebene von vornherein al s K ol l ekt i on aufgefasst, sind in ihr die einzelnen Gegenstände von vornherein Gegenstände und in der Inbegriffseinheit zusammengenommen, so liegt der gegenständliche Sinn in dieser aktiv erzeugten und zu erzeugenden Einheit, und die Selbstgege-

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benheit vollzieht sich durch wirkliche Herstellung der Aktion, in der das Zusammen sich wirklich als original konstituiert.1 D ef i n i t i o n: Gegenstände von einem gegenständlichen Sinn, der zu originaler Erfahrung nur in Ich-Aktionen gebracht werden kann, die nicht 5 bloß rezeptiv sind, sondern die Gegenständlichkeit ihrer besonderen Artung nach allererst erzeugen, heißen „kategoriale G egenstände“ oder „Gegenstände des aktiven Intellekts“. „Rein kategorial“ heißen alle Formen, die reine Korrelate der Aktivität sind, die sonach eine eigene Quelle ursprünglich objektivierender Genesis ist. Die Materie der kategorialen Aktio10 nen sind die fundierenden, bald mitzugehörigen, bald nicht mitzugehörigen Gegenstände (nämlich zu dem kategorial erzeugten Gegenstand selbst); diese können selbst kategoriale Form haben. Letztlich kommen wir auf sinnliche Gegenstände.

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Beilage IV Vorgegebenheit sinnlicher und synthetischer (kategorialer) Gegenständlichkeiten2

Klare Scheidungen gewinnen wir übrigens nur, wenn wir alles auf den Normalfall der originär gebenden Anschauung reduzieren. Denn das ist das Wunderbare, das aber doch wesensmäßig völlig Verständliche, dass j ede 20 sy n th e ti sc he Gegen ständlichkeit selbst nach ihrer Erzeugung, nach ihrer Bewusstwerdung in originärer Produktion, zu einem V or gegebenen wird, das in der Weise einer „sekundären Sinnlichkeit“ erfassbar wird wie ein ursprünglich Sinnliches.3 Darauf ist für manche Unterschiede des „uneigentlichen und eigentlichen Vorstellens“, des vagen, sachfernen Be25 wusstseins Rücksicht zu nehmen. Es können wirkliche Aktionen sich darauf bauen, auf leere Gedanken, die zwar hinsichtlich des Synthetischen eine Originalität ergeben und doch keine Originalität hinsichtlich des ganzen synthetischen Gegenstandes, sofern seine Unterlagen, die Substratvorstellungen, nicht wirklich anschaulich gegeben waren. Verweilen wir dabei nicht 1 Ein Ganzes als Ganzes ist kategorial. Es hat die kategoriale Form des Ganzen, aber die Teile des Ganzen haben eventuell ihre besondere „sinnliche“ Einheit, sofern sie durch sinnliche Verschmelzung in eins vorgegeben sind. Sinnlichkeit als Nicht-Aktivität. Die Aktivität schafft eventuell eine Vorgegebenheit, die in „Nominalisierung“ Substratform annimmt. Einheit einer Explikation als Gegenstand ist kategorialer Sachverhalt. 2 Um 1920. – Anm. des Hrsg. 3 Cf. besonders folgende Seite über sinnliche und kategoriale Gegenständlichkeiten und verallgemeinert für alle Domänen.

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und weisen wir nur darauf hin, dass in „außertheoretischen“ Akten (Gemütsakten, Willensakten) eventuell auf Grund theoretisch erfasster Unterlagen synthetische Gegenständlichkeiten sich als Vorgegebenheiten konstituieren, die in nachkommenden doxischen Akten zu erfassten Gegenständlichkeiten werden. In allen Akten waltet dabei der Unterschied von Vernunft und Unvernunft. Die Gegenständlichkeiten können „ausweisbar“ und in Vernunft einsichtig sich ausweisende sein, oder sie können in solchen Akten sich als nichtig, als nichtseiend, ihre Thesen sich als ungültig herausstellen. Im Wesen aller Gegenstandskonstitution liegt die Beziehung auf Intention und Erfüllung, in allen Gegenstandskonstitutionen liegen intentionale Motivationen notwendig, denen nachgehend und ihnen zu freier Erfüllung verhelfend, wir Wirklichkeit bestätigen oder widerlegen können. Überall ist die Wendung zur noematischen und zur (noetischen) Erlebniseinstellung zu vollziehen. Hierbei aber ist es klar, dass die Gegenständlichkeiten in zwei Klassen zerfallen: 1) Gegenständlichkeiten können i n Subjektaktivitäten ents pr ungene G egenständlichkeiten sein. Das sagt: Sie sind, wenn sie überhaupt originär zu geben sind (also wenn sie überhaupt wirklich und in Wahrheit sind), prinzipiell originär gegeben nur in „ synthetischen “ Akten in meinem Sinn („Ideen“): in Subjekt-Akten, die sie in ihren geordneten Schritten bewusstseinsmäßig als originär gegebene Wirklichkeiten konstituieren. Aber wenn solche Gegenständlichkeiten auch nicht originär angeschaut sind, ihrem eigenen Sinn nach weisen solche Gegenständlichkeiten eventuell auf Erfüllungsprozesse zurück, die den Charakter synthetischer Produktion haben. Ein Sachverhalt mag mir „einfallen“, im Hintergrundbewusstsein mag ein mathematischer Satz, ein Schluss, ja eine Theorie mir „aufblitzen“, und dann ist diese Gegenständlichkeit für mich da zunächst als Vorgegebenheit, der ich mich in einem erfassenden Strahl zuwende, sie erfassend und somit nun habend. Aber dieses Haben ist ein vages Bewussthaben, ein Von-ferne-Vorschweben und nicht ein wirkliches Haben. Prinzipiell kann ich einen prädikativen Satz, einen Schluss, eine Theorie originär haben oder – was dasselbe ist – sie als originäre Wirklichkeit haben nur in einem synthetischen Prozess.1 Ja auch nur um den expliziten Sinn des gemeinten Satzes, der gemeinten Theorie zu gewinnen, muss ich, etwa auf vage Substratvorstellungen hin, das einstrahlige Erfassen des Aufblitzenden überführen in 1

Das sagt: Zu allen synthetischen Gegenständlichkeiten gehört einerseits die Möglichkeit originärer Produktion, andererseits die Möglichkeit der Verdeutlichung, die Möglichkeit der Herausstellung ihres puren deutlichen Sinnes als einer originär gegebenen Gegenständlichkeit.

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die Reihe der Subjektsetzungen, Explikationen des Subjekts, der partialen Identifizierungen, in denen das Prädikat als im identisch erhaltenen Subjekt seiend bewusst ist usw. Ich habe also zwei Schichten: die Anschaulichkeit, Originarität der Substrate (die eventuell selbst wieder als eine synthetische 5 gefordert ist), und die Originarität der logischen Bildung, des synthetischen „Gedankens“, Denkgebildes auf dem Substratgrund. 2) Offenbar kommen wir nun letztlich auf Substrate, die nicht selbst wieder ursprünglich synthetische Substrate sind, und diese sind die im ersten und eigentlichen Sinn sinnlichen G egenstände. Sie sind gewissermaßen 10 schon vor dem Erfassen ursprünglich da, anschaulich vorgegeben, und doch noch nicht angeschaut, noch nicht erfasst, noch nicht Objekte für den Erkennenden: noch nicht in dem ersten, primitivsten Denkschritte „gedacht“. (Ein Begriff von Denken und Verstand, der also vor dem Logos, vor den Funktionen des Begreifens des Allgemeinheitsbewusstseins, des prädikativen 15 Denkens in allen seinen in den Urteilsformen sich spiegelnden Formen ist.) Wir stellen jetzt gegenüber: Gegenständlichkeiten, die entweder sinnliche sind oder rein aus Sinnlichkeiten durch theoretische Aktionen und nur theoretisch gewonnen sind, und solche, die es nicht sind, also alle übrigen Gegenständlichkeiten.

Nr. 5 Reine Erfahrungswelt, die wahrnehmbare im weitesten S inn. Vorgegeben. Darin mitvorgegeben: d ie weltliche Subjektivität1 Inhaltsangabe von Eugen Fink: Im Kontrast zu Natur als konsequentem Thema das „Subjektive“ als konsequentes Thema: das subjektiv-vergemeinschaftete Leben als Haben einer vorgegebenen Welt. Der philosophisch auf die Vorgegebenheit Reflektierende selbst zur „vorgegebenen“ Welt gehörig! „Welt der Erfahrung“ als die „vor10 gegebene“ Welt im Wie des Erfahrenseins.2 5

Ich kontrastiere: Reduziere ich die Welt auf die Welt originaler rein er Erf ah ru n g, so scheidet sich in dieser Sphäre die universale Nat u r ab als in sich geschlossenes Gebiet konsequenter Erfahrung bzw. als ein in sich geschlossenes Gebiet von Erfahrungsgegebenhei15 ten. In dieser selben Sphäre habe ich aber auch Menschensubjekte und Kulturobjekte, die zwar auch Natur sind, aber mehr als Natur, sofern sie Erfahrungsgegenstände sind, die auch ich-bezügliche Bestimmungen an sich haben, und darin liegt: von vornherein mit solchen apperzipiert sind. 20 Genauer: So ist die Welt erfahren, dass in ihr gemäß ihrem apperzeptiven Sinn sich unterscheiden su b jek t lo se O b jek t e und Objekte, d ie Subjekte sind. Da kann ich Reduktion auf bloße, reine Natur vollziehen. Also eine Struktur „Natur“ geht einheitlich durch die Erfahrungswelt hindurch. Ich kann nun fragen, wie 25 es mit dem Subjektiven in der Welt, mit Subjekten und Subjekten entsprungenen Bestimmungen steht, speziell, wiefern ich, wenn ich rein auf Subjekte als Subjekte in der Erfahrungswelt gerichtet bin, auf eine geschlossene Schichte der Welt komme. So war mein Vor-

1 Aus den Vorlesungen 1926/27 „Einführung in die Phänomenologie“. Rekapitulation. 2 „Sehr wichtig der Zusammenhang von Thema und Vorgegebenheit – Vorgegebenheit als Horizont jeder Thematik.“ Bemerkung Husserls auf der Rückseite der von Eugen Fink stammenden Inhaltsangabe. – Anm. des Hrsg.

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gehen. „Epoché hinsichtlich der Natur“ besagte: Ich will rein dem Thema „Subjektivität“ nachgehen und zunächst meiner eigenen, die ich setzen kann, ohne vorweg meine Leiblichkeit setzen zu müssen. Versuchen wir aber so vorzugehen: Mein Thema sei das Universum möglicher Erfahrungsgegebenheiten – die Welt also als Welt aus purer Erfahrung, in voller Konkretion. Die Erfahrung ist intersubjektive Erfahrung. Uns ist immerfort die Erfahrungswelt gegeben; und auf die Welt einzeln und in Gemeinschaft gerichtet, erfahren wir, konsequent fortgehend und alle Unstimmigkeiten ausschaltend, die Welt, die mannigfachen Objekte in ihren eigenwesentlichen Bestimmungen. Aber die Objekte haben für jedermann als Objekte im Rahmen der Erfahrung immerzu auch subjektive Bestimmungen, die außerwesentliche sind und doch mitzugehörige, und so, dass notwendig solche Bestimmungen immer im Erfahrungsbereich mit da sind. D ie Welt ist für uns da als vorgegebene, sofern schon vor der thematischen Blickrichtung auf die oder jene Objekte oder gar auf die Welt als Universum durch unser Leben beständig eine Welt ap p erzep t io n hindurchgeht. Immerfort „erscheinen“ Dinge; ob wir auf sie achten oder nicht, erscheinen sie als Gegenstände eines jeweiligen, wenn auch relativ dunklen Sinnes (Bäume, Häuser, Flüsse) und Hintergrundes; und mit diesem Sinn und Hintergrund erscheinend, affizieren „sie“ uns. Wir erfassen sie, wofern sie im Wahrnehmungsfeld sind, oder bringen sie zur Wahrnehmung etc. Die Apperzeption verwandelt sich in eine thematische Intention, und diese erfüllt sich in einer Mannigfaltigkeit synthetisch einheitlicher Einzelerfassungen auf dem Grunde einer Substraterfassung derart, dass dabei das Substrat als sich in den und den thematischen Einzelbestimmungen bestimmendes Substrat charakterisiert. So ist für uns die Welt immerfort in doppeltem Sinn erfahren: vorgegeben, im Voraus da in mannigfachen wirklichen oder von wirklichen hergeleiteten Apperzeptionen, aber in der Passivität einig in einer fließenden und doch immerfort sich vereinheitlichenden Gesamtapperzeption, und thematisch gegeben, thematisch nach einzelnen Objekten als Substraten hervortretender Erfahrungsbestimmungen, sich in fortgehender Kenntnisnahme immer weiter bestimmend, bis das Interesse, das so gerichtet ist, sich erschöpft oder abgelenkt wird und andere Objekte thematisch wer-

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den etc.1 Dabei ist die Weltapperzeption ein beständig konstituiertes, obschon beständig wandelbares System affektiver Tendenzen auf das Ich hin und in der Auswirkung ein System von gegengerichteten, vom Ich auf die Substrate gehenden Erfahrungsinteressen, aktiven Intentionen auf Bestimmung, die sich aber nur streckenweise verwirklichen. Jede Erfahrungsthematik h at einen unendlichen unthematischen Horizont in der Universalität der apperzipierten Welt, allseitig endlos (unendlich), zeiträumlich. Die vorgegebene Welt umfasst auch die weltliche Subjektivität, die Menschen und Tiere; sie liegen im vorgebenden apperzeptiven Horizont. Wenn wir das Universum der thematisch zu erfahrenden Daten zu unserem gemeinschaftlichen Generalthema machen, so müssen wir uns sagen: Alles, worauf unser thematischer Blick sich richtet, ist zunächst Vorgegebenes, unser Aufmerken auf sich lenkend, für uns schon da, vorgedeutet oder schon erscheinend, und nun möglicherweise fortgehendes Erfahrungsthema.2 Das Erste ist also Vorgegebenes und allgemein Welt als universaler Titel des jeweils und jederzeit Vorgegebenen. Aber wir können Ref lexio n ins Spiel setzen und Reflexion als eine E rf ah ru n g, wodurch wir dessen innewerden, dass das Weltliche uns in subjektiven Modis Bewusstes ist und dass das, was wir als Welt konsequent erfahren und erfahren können, immerfort sein subjektives Milieu hat und ohne das uns nie bewusst werden kann.3 Freilich, ich habe mein und jedermann hat sein Subjektives dieser Art, d. h. die erfahrene Welt in ihrer Eigenwesentlichkeit ist etwas, das sich mir gibt in meinem subjektiven, Kenntnis nehmenden Tun und das vorgegeben war für mich in meinen Vorapperzeptionen, mich affiziert, mir sich dann gibt in den und den Erscheinungsweisen usw. Und für jeden Anderen gilt analog: Er hat „die“ Welt mit ihrem Eigenwesentlichen eben in seiner subjektiven Weise. Im Wechselverkehr, in dem wir füreinander da sind und uns verstehen, „verstehen“ wir den Anderen als Subjekt seiner subjektiven Weisen und die Welt, 1 Das Interesse kann ein praktisches sein; das erfahrende Erfassen ist dann ein dienendes etc. 2 Selbstverständlich bedeutet das „erscheinend“: gegenwärtig erscheinend oder als vergangen, d. h. als gegenwärtig gewesen erscheinend etc. 3 Vorgegeben: eine Welt. – 1) Der Affekt, folgend thematische Richtung auf die Welt. 2) Reflexion auf das subjektive Wie.

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mit den ihm zugänglichen eigenwesentlichen Gehalten in diesen Weisen verflochten, als seine erfahrene, – und ebenso er umgekehrt uns, wobei wir in dieser Wechselbeziehung Einverstandenes und selbst original Erfahrenes identifizierend als dasselbe erfassen, im Miteinander erfahren. Für uns ist die Welt selbst, als was sie eigenwesentlich ist, Einheit dieser in eigenen und fremden „Inhalten“ identifizierten Gegebenheitsweisen. Das alles ist aber u n sere gem ein sch af t lich e E rf ah ru n g. – Also wir haben immerfort als Universum möglicher gemeinschaftlicher Gegebenheiten in purer Erfahrung nicht nur Welt, sondern auch das zu uns als Erfahrenden gehörige Subjektive dieser erfahrenen Welt; sie von diesem Subjektiven zu trennen, wenn wir in der Universalität der möglichen Erfahrung stehen, ist unmöglich. Aber auch dieses Subjektive, das wir dabei als Milieu d es Objektiven der vorgegebenen Welt in Rechnung ziehen, lässt Reflexion auf ein weiteres Subjektives zu. Obschon nicht ins Unendliche durch Apperzeption für uns im Voraus da, so können wir doch darauf reflektieren. Zur Reflexion gehören subjektive Modi des vordem schon mit subjektiven Modis Erfahrenen, die wir durch weitere Reflexion thematisch machen können in infinitum. In der ersten Vorgegebenheit finden wir schon die Anderen und uns selbst, und finden sie als auf die gemeinsame Welt, auf die ihnen äußeren Dinge und sonstigen Weltobjekte, aber auch auf sich selbst bezogen, und finden sie als sich in Gemeinschaft miteinander Wissende, als in Gemeinschaft wie Erfahrende so auch Wertende und Handelnde. Indem ich mich als philosophierendes Subjekt einstelle, betrachte ich dies alles. Ich, auf mich nun reflektierend (den Philosophierenden), finde mich als Menschen in der Menschengemeinschaft und der Welt, aber als Menschen, der jetzt das besondere subjektive Leben des Philosophen angenommen hat mit diesem Weltbetrachten. Und weitere Reflexion zeigt das für die erste Reflexion selbst usw. Und ähnlich, wenn mehrere Menschen meiner Umwelt mit mir in philosophierende Gemeinschaft treten, unter entsprechenden Ergänzungen, so gehört nun auch das mit in die Welt und im weiteren Sinn in den Bereich des für jedermann Vorgegebenen1, sofern zur Vorgegebenheit der Welt ja dies rechnet, dass sie eine Apperzeption ist, die unter 1

Ja, zur Welt einer zusammenpassenden Philosophengemeinschaft gehört das.

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dem Titel „vorgegebene Welt“ einen Horizont der Bestimmbarkeit bezeichnet; und ich, der Philosophierende, bin der, der ich eben unter anderem die spezifisch philosophierenden Akte durchlebe; und als das gehöre ich wie für mich so für jedermann zu dem erfahrbaren Gehalt der Welt.1 Andererseits aber: Ich sehe, dass „die Welt“ immerzu als Erfahrungswelt eine von den Subjekten her erwachsende, „in“ ihnen sich vollziehende Leistung ist und dass dabei immerzu die Subjektivität vorausgesetzt ist als in ihrer subjektiven Weise leistende und dass jedes neue Leisten einen Gehalt schafft, hinter dem das dabei leistende Subjektive noch unthematisch steht und seinerseits für neue thematische Leistung, neues Erfahrenes zugänglich wird und so immer weiter. Ich habe also unter dem Titel „Welt der universalen Erfahrung“ nicht seiende Welt und darin unter anderem seiende Subjekte, sondern ich habe unter diesem Titel die universale gemeinschaftliche Subjektivität, lebend, leistend, apperzipierend, aktiv so und so in Bezug auf Apperzeptives sich verhaltend, in Gemeinschaft das von Einzelnen Apperzipierte zur Identität bringend etc., und beständig habe ich vorfindlich als Ergebnis jeweiliger Gemeinschaftsleistung eine „objektive“, eigenwesentlich so bestimmte Welt, sich immer neu bereichernd im neuen Leisten und immerzu leistende Subjektivität m it vo rau sset zen d : nicht als etwas neben der Welt oder in der Welt, sondern eben als das Ich und Wir, das in seinem leistenden Leben Einheitsleistung vollzieht, diese immer wieder identifizieren kann, in seinem konkreten Leben als apperzipierend und neue Apperzeptionen bildend, erfahrend und sonstwie thematisierend, identifizierend usw. Welt als „ideales“, frei verfügbares Einheitsgebilde in sich trägt. Die Welt, von der wir reden, ist die Welt unserer Erfahrung und allenfalls unseres sogenannten wissenschaftlichen Denkens. Machen wir sie zum universalen Thema, so finden wir sie mit all dem eigenwesentlichen Was immer und notwendig in Modis des subjektiven Wie 1 Aber freilich, erfahrbar bin ich nicht ernstlich für jedermann und vielleicht nicht einmal für jeden faktischen Philosophen. Es ist eine ideale Erfahrbarkeit für jedermann, der die Bedingungen erfüllt, die für ihn wirkliche Möglichkeiten des Erfahrens begründen. Vor dieser Idealisierung liegt die „normale“ Menschengemeinschaft mit ihrer „normalen“ Umwelt als einer für jedermann wirklich zugänglichen. Das wird idealisiert.

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und uns als Subjekte, die in ihrem Bewusstseinsleben diese subjektiven Wie und in ihnen das Was, in seiner Weise, in sich tragen. D ie Welt finden wir als d ie Subjekte in sich habend, aber d ie Welt mit allen Subjekten finden wir als E in h eit u n seres, u n ser aller auf sie b ezogenen Lebens, als konstituierte E inheit. Wie können wir, da all das in den Bereich universaler Erfahrung gehört, hier systematisches Studium vollziehen? Was besagt die Methode, die „Generalthesis“ der Welt einer Epoché zu unterziehen? Was besagt „geradehin erfahren“? Das Erste in der Welt ist die Natur; die Subjekte in der Welt sind in der Natur lokalisierte Subjekte. Einklammerung der geradehin erfahrenen Natur und damit der lokalisierten Subjekte. Anfang: Ich besinne mich. Ich will mir klar werden darüber, wie ich zu einer universalen Welterkenntnis und zu einer universalen Erkenntnis des für mich zugänglichen Reiches der Erfahrung gelangen kann, als einer rein erfahrenden und beschreibenden Erkenntnis zunächst. Mich besinnend, sage ich: Ich erfahre die Welt und mich selbst. Sie ist nicht nur von mir, sondern auch von anderen erfahren; und was Erfahrung andere lehrt, das lehrt sie auch mich und umgekehrt. Aber für mich sind die Anderen selbst Gegenstände meiner Erfahrung, und als Ich-Subjekte doch nicht solche einer originalen Erfahrung, wie das für physische Objekte und auch ihre körperlichen Leiber gilt. Meine Selbsterfahrung hat hinsichtlich des Ich-Subjektiven also einen Vorzug.

Nr. 6 Universum d er Vorgegebenheit und Welt. Konstitution des Universums der Vorgegebenheit durch Habitualität1 5

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Im natürlichen Dahinleben haben wir, so hieß es oben, immerfort ein Universum von Vorgegebenheiten. Zunächst scheint es sich hier um eine unabänderliche Wesenseigenschaft alles Bewusstseinslebens überhaupt zu handeln, mag es natürliches oder jenes Leben in „transzendentaler“ Einstellung sein, zu dem wir emporgeführt werden sollen. In der Tat ist es ein G ru n d geset z, dass das, was wir in der Einheit eines Lebens in irgendwelchen positionalen Akten (in erfahrenden, urteilenden, wertenden, wollenden u. dgl.) „erstmalig“ in Geltung gesetzt haben – in u rst if t en d en Akten, wie wir auch sagen –, bis auf weiteres in Geltung verbleibt.2 Jeder Akt stiftet eine bleibende (habituelle), über den flüchtigen Akt hinausreichende Geltung, eine fortdauernde Meinung in einem allerweitesten Sinn (Überzeugung, Entscheidung, Willensentschluss u. dgl.).3 Darin liegt: Die von der jeweiligen Urstiftung an im weiteren Leben auftretenden Akte von übereinstimmendem Sinn und Geltungscharakter treten nicht als solche auf, die bloß die gleich e Meinung haben, verbunden mit der Erinnerung an die früheren übereinstimmenden Akte und schließlich an den urstiftenden, sondern alle solche Akte geben sich als wiederholte Aktualisierungen ein er u n d d erselb en Meinung, die von der Urstiftung her n o ch gilt. So „bis auf weiteres“ und so auch nur, falls nicht inzwischen die Stiftung außer Kraft gesetzt worden ist, – was sich sogleich verstehen wird. Die neuen Akte derselben im Modus der Noch-Geltung wiederkehrenden Meinung vollziehen eine Nach st if t u n g und je nach der Vollkommenheit der Aktualisierung in einem verschiedenen Grade der B ek räf t igu n g. Fehlt es an solchen Bekräftigungen, so büßt die nachwirkende Urstiftung ihre Kraft immer mehr ein, also auch an Motivationskraft im weiter gefassten Bewusstseinszusammenhang. 1 2 3

Wohl um 1930. – Anm. des Hrsg. Bleibende Überzeugung. Aber dieses In-Geltung-Setzen ist noch ein Problem!

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Meinungen als habituelle Geltungen können durch dauernden Nichtgebrauch verfallen, verkümmern. Andererseits können sie aber mit neu gestifteten Meinungen streiten oder durch Wandlung ihrer Gegebenheitsweise in den sonst Nachstiftung besagenden Akten (Evidentmachungen) in Streit miteinander geraten. Meinungen, die in Geltung sind, können durch andere von gleicher oder stärkerer Geltungskraft, die inhaltlich gegen sie streiten, in eigenen Weisen entkräftet (modalisiert) werden, sie können zweifelhaft oder in ihrer Geltung nach zunichte werden; vom Ich her gesprochen: Sie können preisgegeben, verworfen werden. In entsprechender Einstellungsänderung werden aus solchen modalisierten Meinungen neue positive Meinungen geänderten Sinnes: Urstiftungen von Fraglichkeiten, Zweifelhaftigkeiten, Ungültigkeiten – als Meinungen von modalisiertem Sinn. Letztlich entspringen so überall Seinsmeinungen, da jede Meinung entweder von vornherein Seinsmeinung ist, Inhalt eines „Glaubens“-Aktes, einer Doxa, oder sich im Übergang zu einer doxischen Einstellung in eine Seinsmeinung verwandeln lässt. So werden ja Wertinhalte, Willensinhalte oder vielmehr entsprechende Meinungen urteilsmäßig prädikabel. Endlich ist zu bemerken, dass das Erneuern einer Meinung, die inzwischen durch Verkümmerung oder Modalisierung ihre ursprüngliche Geltungskraft eingebüßt hatte, einen besonderen subjektiven Charakter hat, nicht überhaupt den einer Nachstiftung, sondern den einer Restauration der Urstiftung als einer eben inzwischen „kraftlos“ etc. gewordenen. Aufgrund solcher Wesenseigentümlichkeiten positionaler Habitualität, wonach jede neu gestiftete Geltung notwendig einen Horizont der Fortgeltung hat, konstituiert sich in verständlicher Weise in jedem einheitlichen Lebensverlauf, und zwar für jede immanente Gegenwart, ein Z eit h o rizo n t vo n S eien d en , als Horizont von für sie von f rüher h er Geltendem und Fortgeltendem, dem die Neustiftungen dieser Gegenwart sich einfügen, wobei die in ihr vollzogenen Modalisierungen dieses oder jenes aus dem Bereich der Geltungstradition herausstechen. Der Stil eines jeweils geltenden Seinsalls bleibt natürlich erhalten, aber es selbst ist in Wandel. Betrachten wir nun unser natürliches Leben so, wie es sich faktisch darbietet, hinsichtlich seines durchgängigen Stils bzw. hinsichtlich des typischen Gestaltwandels seines jeweiligen Universums vorgegebe-

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nen Seins, so erschauen wir alsbald eine strukturelle Besonderheit, die weit über jenes Allgemeinste hinausgeht, was wir aufgrund der beschriebenen Wesenseigentümlichkeiten positionaler Fortgeltung von fern verständlich machen konnten. Das natürliche Leben hat nicht nur, wie selbstverständlich, ein wandelbares Gegenwartsuniversu m ihm geltender Vorgegebenheiten,1 sondern ein über seine gesam t e Vergan gen heit (mit ihren vergangenen Universen von Vorgegebenheiten) und die gesam t e o f f en e Zu k u n f t in eigentümlicher Weise hinausreichendes, durch alle Universa von Vorgegebenheiten gewissermaßen hindurchgehendes allzeit lich es U n iversu m. Das jeweilige Ich kann, sich in jede Vergangenheit und Zukunft hineinversetzend, eben dies selbst finden, dass ein einziges Universum überall und als numerisch dasselbe gilt und in den jeweiligen Universen der Vorgegebenheit beschlossen ist, in ihnen sich „darstellt“. Der für das Ich bzw. in jeder Phase seines Lebens mitkonstituierte universale Zeithorizont ist zugleich die objektive Zeitform, die eines S ein suniversums,2 das in jeder Vergangenheit gilt, in ihrem Geltungsuniversum jedenfalls geltungsmäßig mitbeschlossen war und so in jeder Zukunft mitgilt, und dies so, dass es seiner Strukturform nach mit allen Sonderuniversen übereinstimmt, ja in dieser Hinsicht jedenfalls in ihnen identisch liegt. Es ist schwer, sich hier korrekt auszudrücken. Jede Gegenwart, durch Wiedererinnerung wieder reproduzierbar oder durch veranschaulichende Vorerwartung mindestens im Vor-Bild ungefähr zu vergegenwärtigen, ist eine Gegenwart, die ein Universum von Vorgegebenheit hat als das ihre (oder haben würde). Aber im Durchlaufen zeigt sich, dass sich eine Synthesis herstellt für die Universal-Meinungen aller Phasen des Durchlaufens und dass also eine Einheit der Meinung in Vollzug ist, also beständige Geltung ist des Inhalts: ein selbiges Universum, d ieselb e Welt, die zeitlich immer war und immerzu sein wird, in dem Durchlaufen immer gegeben. Also diese Meinung „derselben“ Welt geht hindurch,

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Das Universum der Vorgegebenheiten des natürlichen Lebens – die Welt als Welt der „Erfahrung“ – die bestimmte Strukturgestalt, zunächst die allgemeinste, dieses Universums. 2 Die Zeit als Form des natürlich vorgegebenen Seinsuniversums „Welt“.

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obschon diese Vorgegebenheiten, in denen „die“ Welt in jeweiliger Zeitphase und Zeitstrecke gegeben war, sich nach manchen Beständen des Inhalts als nicht zur Welt selbst gehörig „herausstellen“, nämlich dass sie hinterher nicht mehr für sie gelten. Trotzdem, in dieser Wandelbarkeit der Geltungsinhalte stellt jedes geltende Universum seiner Zeitstelle doch ein „objektives Universum“ dar und meint es durch alle (im nachträglichen negierenden Preisgeben) für das Subjekt geltenden Falschheiten hindurch, eben derart, dass trotz dieser vermeinten Falschheiten zugleich in der Überschau eine und dieselbe Welt als immerfort erfahrene und sonstwie gemeinte gesetzt bleibt. Diese innerhalb dieses Lebens selbst jederzeit evident zu machende Besonderheit – es handelt sich dem Wesenskern nach um dieselbe natürliche Selbstverständlichkeit, von der oben schon die Rede war – differenziert sich noch weiter: Bleibende Form dieses einen Universums ist nicht nur die Zeit, sondern auch der Raum (wobei eigentlich der Raum eine der zeitlichen Form untergeordnete Form, nämlich die zeitlich allgültige Form realer Gleichzeitigkeit ist), gegliedert in einzelne Realitäten, die neben oder aufgrund ihrer wechselnden extensionalen Sondergestalten noch eine d u rch geh en d e kategoriale und regionale Typik zeigen. Alles Weltliche führt letztlich zurück auf Realitäten im engeren Sinn, letzte Substrate realer Eigenschaften, Beziehungen usw. Reale Eigenschaften sind dabei verharrende Beschaffenheiten der verharrenden Substrate und verharrend sozusagen als bleibende Gewohnheiten kausalen Verhaltens, das als solches auf reale Verflechtungen verweist, die Realitäten mit Realitäten und schließlich alle Realitäten miteinander verflechten. Und darüber hinaus liegt die regionale Typik d er Realitäten (der „Substanzen“ – vor aller metaphysischen Spekulation), durch welche all diese realen Kategorien sich wesentlich besondern: materielle Dinge, organische Leiber, Seelen und psychophysische Einheiten wie Animalien, personale Subjekte und subjektive Gemeinschaften, Kultur als Reich personaler Schöpfungen. Ich spreche hier noch nicht von der Welt „der“ Wissenschaft, nicht von der „an sich wahren Welt“, aber auch nicht von der vermeinten Welt, die sich als die „nach der jetzigen Lage der Wissenschaft theoretisch wohlbegründete“ dank der Zusammenarbeit unserer in der Einheit der Tradition stehenden Wissenschaftler herausgebildet hat: als eine Einheit herr-

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schender Geltung aufgrund ebensolcher Einheiten früherer Forschergenerationen. Wir haben uns zunächst nicht darum zu kümmern, ob die Begriffe, welche hier unter den Titeln „Kategorie“ und „Region“ stehen, identisch sind und sein müssen mit den gleichlautenden in unseren und irgendwelchen sonstigen Wissenschaften. Wir sprechen mit ihnen nur eine st ru k t u relle T yp ik aus zwecks roher Charakteristik des „Weltalls“, das in allem natürlichen Leben aufweisbar ist; wie denn dieses Wort „Weltall“ selbst nur ein Wort ist, um eine bei allem Wandel der Gehalte konstante Typik zu bezeichnen, die für jedermann und für jede vergemeinschaftete Vielheit von IchSubjekten alles und jedes, was es je vorgegeben hat als seien d, zu einer Einheit „Weltall“ und dann eben auch mit besonderen und viel näher zu beschreibenden Struktureigenheiten verknüpft. Dass diese Typik aus der universalen Typik der durch jedes Gesamtleben hindurch sich vereinheitlichenden Gesamterfahrung herstammt, in ihr die „originale“ Auslegung hat, ist klar. Es ist aber auch einzusehen, dass die Einfügung der Wissenschaften bzw. der Spezialformen natürlichen wissenschaftlichen Lebens (des der positiven Forschung) in das natürliche Leben primitiverer Gestaltung eigentlich an der anschaulichen Weltstruktur, während sie, die Wissenschaft, sie wissenschaftlich zum Thema nimmt und unter Ideen objektiver Wahrheit erforscht, nichts ändert,1 sondern eben nur ihr „theoretisches Wahres“ herausstellt, dadurch eine höherstufige Vorgegebenheit herstellt, die fundiert ist und zurückbezogen auf die Welt der natürlichen anschaulichen Weltforschung. So wie das Ding, das ich messend, zählend, theoretisierend als Thema habe und das schließlich zu dem theoretisch so und so, mit den und jenen theoretischen Prädikaten bestimmten Ding wird, hierdurch kein anderes wird als das, das ich als erfahrenes vor Augen habe, vielmehr identisch dasselbe ist, so ist die Welt der positiven Wissenschaft keine andere als die erfahrene, in den Strukturen der Erfahrung vorgegebene und durchgängig geltende. Ziehen wir nun aber alle positiven Wissenschaften mit in Betracht (da ja nach unserer Fixierung des Begriffes „natürliches Leben“ auch das eventuell positivwissenschaftliche Tun mit hereinzurechnen ist), auch die positiven

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Welt des vorwissenschaftlichen Lebens und Welt der Wissenschaft.

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„Ideal“-Wissenschaften (die eidetischen) wie die „reine“ Mathematik, so sind sie nicht nur mit der Bestimmung erwachsen, dem natürlichen praktischen Leben und dann der Tatsachenwissenschaft von der Welt dienstbar zu sein; sondern etc.

Nr. 7 Urhistorizität der vorgegebenen Welt. Erste und zweite Horizontalität: Horizont als vertrauter Vorgegebenheitsstil und als o ffener Horizont möglicher n euer Vorgegebenheitsstile. Relativität aller vertrauten Vorgegebenheitsstile 1

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Welt als „Welt der Erfahrung“ gegenüber der Welt als seiend in Wahrheit gemäss dem Wahrheitsbegriff der Wissenschaft – Welt als theoretisch seiende. Was kann in einer solchen Gegenüberstellung unter „Welt der Erfahrung“ gemeint sein? Die Welt des alltäglichen Lebens, auch des wissenschaftlichen Menschen außerhalb seines theoretischen Tuns? Also ich im alltäglichen Leben und irgendjemand oder auch wir in einer Alltäglichkeit? Nun gut, bin ich in der Alltäglichkeit, in einem nicht-wissenschaftlichen Leben, meinen nicht-wissenschaftlichen Interessen hingegeben, so habe ich immerzu meine Welterfahrung und Welt im Horizont. Dieser Horizont ist aber nur so weit geweckt bzw. weckbar, als mein Interesse es fordert. Ich bin aber Subjekt aller meiner Interessen und habe im Horizont Menschen, – zunächst die, die für mich von Interesse sind und darüber hinaus andere. Ich habe Welt mit offenem Horizont, aber als die für mich aus meinem Leben her seiende. Aus meinem Leben hat Welt (im Konnex mit den anderen) eine Struktur der Vorgegebenheit; und sie war in meiner Kindheit eine andere als jetzt, und sie wandelt sich als bestimmte Vorgegebenheitsstruktur ständig. Der Primitive hat nicht in seiner Vorgegebenheit von Welt horizonthaft wissenschaftliche Kultur, für ihn ist sie nicht etwas in seinen Möglichkeitshorizonten Liegendes, ihm Vorstellbares. Wenn ich die ihm vorgegebene Welt von mir her, mich in ihn einfühlend, konstruiere, so erhält von mir her sein Vorgegebenheitshorizont für die ihm geltende Welt eine Erweiterung um die ursprünglich in mir und meinesgleichen und in unserer Vergemeinschaftung zur Stiftung gekommene Sinnschichte der Welt 1

30.9.1932.

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„Wissenschaft der Wissenschaftler“. Für den Primitiven gibt es eine Umwelt mit Menschen, aber mit Menschen seinesgleichen, nicht mit Menschen, die für ihn die unvorstellbare personale Struktur „Wissenschaftler“ haben, mit für ihn unvorstellbaren Aktivitäten des logisch-wissenschaftlichen Tuns. Andererseits, seine Geistesart, seine Geistestätigkeiten, seine vorgegebene Umwelt können wir wissenschaftlich Entwickelte, kann ein Lévy- B r u h l systematisch enthüllen. Müssen wir es nicht offenlassen, dass uns selbst prinzipiell unverständliche Menschen und Umweltformen in der Weiterentwicklung der Menschheit – im Rahmen der uns schon verständlichen, unbestimmt offenen Möglichkeiten der vorgegebenen Struktur „Entwicklung“ – sich künftig zeigen könnten? Welt als Welt für alle Menschen – füreinander als Menschen schon verständlich, aber in einer nur beschränkt bestimmten Vorgegebenheitsstruktur – ist immer schon konstituiert und eben für alle. Dazu gehört, dass im Konnex der fortschreitenden Erfahrung eines jeden und einer jeden vergemeinschafteten Menschheit sich durch zunächst einseitiges, dann wechselseitiges Tradieren eine fortschreitend einheitliche, reichere, erweiterte Vorgegebenheit herstellt und so d ie Welt für alle, die immer das schon ist, die Bereicherungen der Einzelnen und Gruppen auf immer weitere Einzelne und Gruppen tradiert. Welt als Welt der Erfahrung, als aus Erfahrung geltende Welt ist einerseits 1) relativ in der Weise, dass es für den einzelnen Erfahrenden die seine ist, trotz der Kommunikation, die zu ihr schon gehört, und der Tradition, die da schon gewirkt hat. 2) Sie ist relativ, auch sofern sie, untrennbar davon, in der fortschreitenden Kommunikation von einzelnen Subjekten oder auch Gruppen, die schon ihre einheitliche relative Umwelt haben, sich fortschreitend wandelt, also auf diese Kommunikation relativ ist. In solchem Strom der Wandlungen ist aber Welt der Erfahrung sich fortgesetzt einigende, nicht nur korrigierende, sondern auch b ereich ern d e, und doch dieselbe. Anders hat sie überhaupt kein Sein als die Welt, die für uns da ist. Das ist ihre U rh ist o rizit ät. Aber das ist andererseits für mich und für uns – schon als wissenschaftlich vermögliche Menschen – selbst als Teilstruktur der Vorgegebenheit eingesehen oder einsehbar. Und wenn wir durch entsprechende theoretische Aktionen diese herausstellen, erstmalig, haben wir unsere Vorgegebenheit damit auch bereichert.

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a) Natürlich, Welt als human konstituierte Welt ist Welt menschlicher Erfahrung, ist Welt, die das transzendentale, in der Transzendentalität als Menschen-Ich konstituierte Ich prinzipiell nur als Welt seiner Erfahrung1, als Welt eines offen unendlichen Horizontes hat, als Welt, die gemeinschaftliche Welt ist für die in ihm in offener Iteration sich konstituierenden Anderen, in ihnen sich selbst konstituierend (so sind sie vom Ego her in Geltung) in eben dieser subjektiven Verwurzelung, in dieser Orientierung in Horizonthaftigkeit.2 In der Apodiktizität meines Ego ist beschlossen Weltkonstitution in diesem Stil, als Unendlichkeit von Unendlichkeiten der Konstitution in strömendem Werden. Meine und eines jeden aktuelle Vorgegebenheit ist Vorzeichnung eines Stils, und zwar eines für mich bzw. für ihn konstruierbaren Stils, eines vertrauten, der, wenn er auch nicht abstraktiv abgehoben ist, doch im Gang jeder aktuellen Welterfahrung in ihren allvertrauten Formen seine Vertrautheitsabhebung hat, vertraute Form, die sich ständig wiederholt und eben darum Form, Gestalt ist, die den Sondergehalt wechselt. b) Dieser vertraute Stil der Konstitution der humanen Welt ist Vorgegebenheitsstruktur im ersten Sinn. Aber die in ihm jeweils verlaufende Welterfahrung und ihre vorgegebene Welt hat noch einen weiteren ungeformten Horizont, der erst in der tatsächlichen geschichtlichen Entwicklung sich zeigt, wenn diese als geschichtliche Wandlung der bisherigen historischen Vorgegebenheiten relativ stabiler Menschheiten bewusst geworden ist, aber auch in anderer Weise in der individuellen Historizität und ihrem Bewusstsein als individuelle Entwicklung seit der Kinderzeit. Eine feste Umweltstruktur als vorgegebene kann sich ändern und hat sich geändert, in der Menschengeschichte wiederholt geändert. Das motiviert einen offenen Horizont möglicher Änderungen und möglicher neuer Vorgegebenheitsstile, die man doch nicht im Voraus, seine Welt als Welt der wirklichen und möglichen Erfahrung befragend, konstruieren kann, so, wie man von seiner jeweiligen aktuellen Erfahrung den Bekanntheitsstil, der ihr gegeben und ihrem Horizont schon vorge-

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Humane Welt. Das ist meine und unsere Welt als die unserer reifen Menschlichkeit, unserer Normalität, in der wir bei jeder ersten Besinnung ohne weiteres stehen; die Welt ist die natürliche Umwelt – die normale. 2

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zeichnet ist, verfolgt in seiner eigenen Unendlichkeit (Endlosigkeit) als präsumtiv sich wiederholenden. Diese zw eit e H o rizo n t alit ät, als die erste übersteigend, bezeichnet die offen mögliche und historisch schon am einzelnen Beispiel sichtlich gewordene Relat ivit ät der Vorgegebenheit im ursprünglichen Sinn: als der, allgemein gesprochen, der in strömender Erfahrungsgeltung stehenden Welt selbstverständlich eigene Seinsstil der anschaulichen Konstruierbarkeit.1 Die vorgezeichnete Möglichkeit (aus der Historie vorgezeichnet oder aus der Besinnung über die individuelle Geschichte), dass der gesamte Bekanntheitsstil der vertrauten Welt und ihres Menschentums entsprechend sich ändere, während doch andere Möglichkeiten, nicht bloß andere Welten desselben Stils, sind, ist insofern nicht anschaulich zu machen und in ein eidetisches Apriori überzuleiten, als diese Möglichkeit zwar ein Titel für eine offene Mannigfaltigkeit von Möglichkeiten ist, aber nicht ein Titel für einen vorgezeichneten disjunktiven Spielraum. Auch die Vorgegebenheit der vertrauten Welt erster Stufe ist Vorgegebenheit mannigfaltiger Möglichkeiten, aber die Vorzeichnung der Struktur ist äquivalent mit einem Apriori, das in seiner eidetischen Allgemeinheit die vielen unbestimmten Möglichkeiten als solche derselben Struktur – als im Horizont der Vorgegebenheit vo rgezeich n et e – und als eine notwendige Disjunktion befasst. Im Voraus, a priori, wissen wir hier zunächst nichts, auch nicht natürlich implizite, als ob wir durch bloße Explikation des Seinssinnes der uns geltenden Welt zu diesen Möglichkeiten kommen könnten. Ja, explikativ-a priori ist nicht einmal gewiss, ob wirklich noch eine neue Möglichkeit gegenüber den historischen offen ist, geschweige denn, ob viele und welche. Das sagt nicht, dass von der Welt, wie ich sie in Erfahrung habe, mit ihrer anschließenden Horizonthaftigkeit, kein unbedingtes Apriori abzunehmen ist, das durch keine Anthropologie und Historie betroffen werden kann. A priori ist klar: Habe ich Welt in meinem Welthorizont, so habe ich nicht nur die faktische, endliche und mit Horizont behaftete Welt, sondern auch meine in infinitum konstruierbare Welt als Welt mög-

1 Erste Vorgegebenheit: eine habituell fest konstituierte Welt, ein Reich anschaulicher Konstruierbarkeit in disjunktiven Horizonten als unsere normale Umwelt, die in der ich und wir leben.

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licher Erfahrungen im Spielraum einer Unendlichkeit von Möglichkeiten, wie meine Welt sein könnte, die doch eine Wirklichkeit ist – in infinitum unbekannt. Ich stehe in einem Spielraum möglicher Welten, von denen eine mit dem Kern der jetzigen eigentlichen Erfahrung zweifellos ist. Freilich ist dieser Spielraum von Möglichkeiten nach jeder dieser Möglichkeiten, deren Anschauung ich zu konstruieren versuche, selbst gebaut aus Unendlichkeiten von Möglichkeiten, jeder Schritt der Konstruktion ist schon Schritt in einen Horizont disjunktiver unendlicher Möglichkeiten hinein. Nun kann zwar, wie ich im Nachverstehen etwa primitiver Menschen einsehe, die je von dem einen zu konstruierende Welt und die von einem anderen sich unterscheiden und der Vorgegebenheitsstil selbst Wandlungen erfahren, aber alle Wandlungen halten sich in der Möglichkeit der Kommunikation; als das erhalten sie in Beziehung zueinander, in der Synthesis der Identifikation der „Welten“ kommunizierender Subjekte, notwendig den Charakter von „Erscheinungen“ d erselben einen Welt. Jede solche Synthesis setzt voraus eine Wesensgemeinschaft der Struktur dieser „Welten“; und so geht durch alle denkbare Synthesis von subjektiv und historisch geltenden Welten hindurch eine apriorische Struktur. Danach ist die Frage nach der Welt als Welt der Erfahrung, eidetisch gestellt, die Frage nach demjenigen anschaulich zu konstruierenden Apriori, das „Bedingung der Möglichkeit“ dafür ist, dass, wie immer Weltkonstitution verläuft – von mir aus, aber in Konnex mit den aus mir sich erschließenden Anderen und anderen Menschheiten und ihren Welten –, im universal fortschreitenden Konnex sich immerzu eine und dieselbe Welt herausstellen kann, herausstellen muss. Das wäre also Ontologie der Welt als Welt möglicher Erfahrung oder, was gleichwertig, einer Welt, die Menschenwelt ist und in infinitum für die in Kommunikation tretenden Menschen und Menschheiten soll als dieselbe konstituiert und erkennbar sein können trotz aller einzelsubjektiven und wechselseitigen Korrekturen und ergänzenden Erweiterungen. Diese Ontologie wäre also eine apriorische Anthropologie. Was in ihr festgestellt wird für eine erdenkliche Welt überhaupt, gilt in unbedingter Notwendigkeit und Allgemeinheit, als den invariablen Wesenssinn von dieser und einer Welt überhaupt umgrenzend und somit als Wesensform aller disjunktiven, möglichen Faktizität.

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Natürlich hat jede „alltägliche“ Welt als ein subjektiver Modus Welt bewusst, und als Erscheinung hat sie dazu dieses Apriori in sich. Andererseits handelt es sich bei der Welt als der möglicher Erfahrung – obschon nicht nach der unter wissenschaftlichen Theorien gedachten Welt, der Welt als Träger wissenschaftlicher Seinsbestimmungen, gefragt ist – nicht um eine außerwissenschaftliche Welt, in der von der Wissenschaft abstrahiert wäre, oder gar um eine Welt, historisch oder anthropologisch verstanden, von Menschen, die Wissenschaft in keiner Form kennen. Für den Menschen einer wissenschaftlichen Kultur bzw. für alle in ihr Lebenden, die Wissenschaft verstehen, gehört sie selbst zur Welt ihrer Erfahrung,1 sie ist also selbst mögliches Erfahrungsobjekt so gut wie andere Kulturgebilde, nicht anders wie die der vorwissenschaftlichen Menschheit und die Alltagsobjekte des Wissenschaftlers außerhalb der Wissenschaftssphäre – darunter in jeder Menschheit die sprachlichen Gebilde in der Lebendigkeit des Sprechens und doch mit intersubjektiv-objektivem Sinn. Wir haben also in der Welt der Erfahrung Objekte, die nicht nur wie andere überhaupt in der Erfahrungswelt da sind, sondern im Erfahrungsbereich Seiendes „ausdrücken“, „mitteilen“, im Besonderen theoretisieren, für sie Theorien sind oder Sätze in Theorien etc. Es ist auch ähnlich wie für alle Kulturobjekte. Sie sind nicht nur wie andere Objekte in der Welt, sondern sie „beziehen“ sich auf andere Objekte, leisten etwas für sie. Genauer: Sie sind nicht nur da für Subjekte, sondern sind mit individuellen oder allgemeinen Zweckbestimmungen den Subjekten als Subjekten habitueller Interessen geltende in einem kommunikativen Kreis von Menschen, die in einer generativen Lebensgemeinschaft leben, in der Einheit einer dauernden Traditionalität eine gemeinschaftlich vertraute Welt haben und dabei in einer vergemeinschafteten Habitualität. In einer Interessengemeinschaft sind Objekte gemeinschaftlich da als Z w eck m äß igk eit en f ü r alle, die das Bedürfnis haben, sie zu benützen in einer ähnlichen Situation. Und das Wiederkehren ähnlicher und allgemeiner Situationen gehört selbst mit dazu. Jeder hat seine Interessen, aber die Interessen des einen sind nicht getrennt von denen der anderen; sie sind sich verflechtende Interessen im Har1

Wissenschaft in der Welt.

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monieren und Disharmonieren, in Einstimmigkeit und Streit, und so sind unmittelbar oder mittelbar alle mit allen verbunden in Einheit eines praktischen Daseins einer Familie, eines Stammes, eines Dorfes, eines Staates usw.

Nr. 8 Die in vertrauten Individualund Arttypen vorgegebene L ebenswelt1 Inhalt: Im Ausgang von der Analyse der animalischen Wesen in der Lebensumwelt in die physische Substratstruktur und ihre seelische substanziale Struktur wird eine wichtige allgemeine Feststellung durchgeführt: Die Lebensumwelt, die vertraute Welt, ist von der durchgängigen Allgemeinstruktur der individualtypisch, der artmäßig vertrauten Realitätenwelt. Die Identität jedes Realen ist zunächst Iden10 tität innerhalb ihrer artmäßigen Apperzeption. Aber durch diejenige Wandlung, in der, im Bruch der individualtypischen Einheit, Sein in Nichtsein sich wandelt, und aus einer Artmäßigkeit neue Artmäßigkeit entspringt (z. B. im Zerbrechen eines Trinkglases), eventuell Zerstückung in Gleichartiges, geht hindurch: identische Welt – und eine 15 Identitätstruktur. Das ergibt Unterschiede zwischen Naturbetrachtung und Kulturbetrachtung und deskriptiver Betrachtung der organischen Natur und physikalischer Naturbetrachtung. Aber das muss neu durchdacht werden. 5

Hier muss nun eine neue Reihe von Überlegungen einsetzen.2 Ist das 20 Weltbewusstsein, das ständig durch unser waches Leben hindurchgeht, in Frage, so ist es das Weltbewusstsein eines jeden. Aber jeder ist doch selbst in diesem Weltbewusstsein, das Bewusstsein der jeweils schon vertrauten („vorgegebenen“) Welt, der „Lebenswelt“, ist, intentional enthalten: jeder als „ich, dieser Mensch“ für sich selbst 25 und jeder für ihn andere als Anderer, bekannter oder unbekannter, in seiner, der ihm bewusstseinsmäßigen Welt Begegnender, oder mittelbar als anderen bekannt, von anderen durch Mitteilung indirekt zugänglich usw. Wenn aber ich es bin, ich, der diese Überlegung Vollziehende, so muss ich mir natürlich sagen, dass mein Weltbewusstsein 30 (das der vertrauten Welt, der vorgegebenen Umwelt) es ist, in dem ich überhaupt Andere als Ich-Subjekte und als Selbstbewusstsein1

Anfang März 1933. Fortsetzung des Ms. B I 17/1–17 („Weltbewusstsein – Wir-Bewusstsein – Selbstbewusstsein“). – Anm. des Hrsg. 2

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Habende „habe“. Weltbewusstsein ist Bewusstsein im Modus der Seinsgewissheit nicht durch einen im Lebenszusammenhang eigens auftretenden Akt der Seinssetzung, der Erfassung als daseiend oder gar des prädikativen Existenzialurteils. All das setzt schon Weltbewusstsein in Seinsgewissheit voraus. Erfasse ich in Sonderheit in meinem Wahrnehmungsfeld, z. B. auf ein Buch auf dem Tisch hinsehend, irgendein Objekt, so erfasse ich ein für mich Seiendes, das schon vorher für mich seiend, schon „dort“ war, wie denn dieses ganze Studierzimmer, das jetzt im Wahrnehmungsfeld vertreten ist mit allen wahrnehmungsmäßig abgehobenen Gegenständen, schon für mich ist, in eins mit der ungesehenen Seite des Zimmers und seinen vertrauten Sachen. Ist eine Person im Zimmer, während ich ausschließlich in meiner Denkarbeit bin, also unbeachtet, so ist sie doch ständig für mich da, als ähnlich auf mich bezogen und auf dasselbe Zimmer, wie ich auf sie, unaufmerksam oder aufmerksam. Aber darüber hinaus hat mein Weltbewusstsein seinen dunklen, nur im Einzelnen geweckten, im Ganzen ungeweckten Horizont (meine Familie, meine Freunde, Kollegen, Volksgenossen usw.), den Horizont der unmittelbar und mittelbar Bekannten, bestimmter und unbestimmter Bekannten, bekannt als Einzelheit oder Allgemeinheit (wie mein Volk). Doch es bedarf einer genaueren Auslegung des Weltbewusstseins als der Grundlage der aktuellen thematischen Akte, um sichtbar zu machen, dass sie sich aus der „vorgegebenen“ Welt sozusagen herausnehmen, was sie interessiert; dies ist immer schon Seiendes, und nicht erst durch diese Akte die Seinsgeltung empfangend. Wir erkennen es zunächst an der wahrnehmungsmäßigen Umwelt. Was wir ausführen, überträgt sich von selbst auf andere Modi des jeweiligen Weltbewusstseins. Die vorgegebene Welt als Welt raumzeitlich individuiert seiender Objekte – Realitäten –, die schon vertraute Welt, die altbekannt in ihrem Horizont, als Vorzeichnung und stilmäßig also schon bekannte ist. Bei den „psychischen Wesen“, den Menschen und Tieren, versuchten wir eine physische Substratstruktur mit einer personalen (seelischen) zu konfrontieren.1 Es darf bei der Diskussion nicht übersehen werden, dass d iese vert rau t e Welt als vertraute t yp isch e Welt ist, dass z. B. zu einem 1

Wohl Bezug nehmend auf Ms. B I 17/1–17. – Anm. des Hrsg.

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Menschen der körperliche Leib als physische Einheit innerhalb eines Typus, einer „Spezies“ von „Organismen“ gehört. Den bloßen Körper des Menschen thematisch machen, ist zweideutig. Als physisches Objekt überhaupt – physikalisch-chemisch betrachtet – ist er derselbe, auch wenn er sich so verändert, dass er nicht mehr einheitlicher Organismus ist. Als einheitliches organisches Wesen (in der Einheit eines biophysischen „Lebens“) hat er eine besondere individualtypische Einheit. Nur solange der Körper sie innehält, ist er Leib des zugehörigen menschlichen Ich. In der vorgegebenen Umwelt sind die unorganischen Dinge, die Organismen, Tiere, Pflanzen Vertrautheiten und in Forterfahrung immer neue Vertrautheiten schaffend. Dabei ist auch zu beachten: In der vorgegebenen Welt sind die Objekte normalerweise mit vertrauten Kulturprädikaten ausgestattet; sie sind konkret typische Kulturobjekte. Sie hat für uns eine einheitliche Normalstruktur als unsere kulturelle Umwelt.1 Wie steht es nun mit den Eigenschaften, die die Objekte zu Kulturobjekten machen, also mit denen sie in der umweltlichen „schlichten“ Erfahrung selbstgegeben sind nach ihren physischen und eventuell psychischen Eigenheiten und zugleich mit ihren spezifischen Kultureigenschaften? Natürlich sind die vorgegebenen umweltlichen Realitäten in ihrer konkreten vertrauten Typik gegeben und vorgegeben, und so sind alle diese Eigenschaften mitgehörig zu ihrem eigenwesentlichen Inhalt. Geht das Interesse bei einem Objekt der körperlichen Sachkultur rein auf das Physische, aber im Sinne der exakten Physik, so ist der Naturkörper in der universalen physikalischen Betrachtung derselbe, wie immer er sich verändern mag; aber da ist eine Identifizierung durchgeführt, welche die schlichte umweltliche Vorgegebenheit, Vertrautheit überschreitet, unter Leitung der Idee einer ins Unendliche identischen und prädikativ bestimmbaren Natur an sich. Das vertraute Objekt verliert seinen Typus, in dem es vertrautes, identisch 1 Naturwissenschaftlich gerichtet auf physikalische Natur, stehe ich nicht in der bloß vorgegebenen, der vertrauten Lebensumwelt. In dieser ist ein Reales nur so lange seiend, als es dasselbe im selben Typus ist. Das zerbrochene Glas ist nicht mehr, nicht mehr Glas; der tote Organismus ist nicht mehr. Fü r d e n N a tu rw i sse n sc h a ftl e r i st d a s I d e n ti s c h e i m W a n d e l d e r T y p i k i n F r a g e . Er ist geleitet von der Idee einer an sich seienden Natur. Die Umwelt in ihrer Vertrautheit, also Typik, ist subjektiv-relativ (Umkreis des schlicht Wiedererkennbaren). Die naturwissenschaftliche Methode zeigt, dass – aber nur unter ihrer Anwendung – ein höheres Wiedererkennen, Identifizieren möglich ist, dessen Identisches sich nicht auf das Vertraute der Umwelt beschränkt.

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Seiendes ist. Dabei zerfällt es etwa. Ich kann ja sagen: Wie und in was es zerfällt, ist auch vertraut, mindestens einigermaßen schon bekannt, oder ich kann dem nachgehen, es zur Vertrautheit bringen, und habe seine Typik, die ich verfolgen, erkennen kann. Aber das ist das Eigene, dass der Naturforscher in infinitum dem Wandel der Typik und den durchgehenden Identitätseinheiten der Ganzen und Teile nachgeht und einen universalen Vertrautheitsstil zu bilden sucht, in dem die faktisch vorgegebene und aus dem faktischen Erfahrungsgang relativ vertraute Natur (die typisch vertraute aus der Faktizität meines und unseres Lebens) antizipiert wird und – wenn man eben die wissenschaftliche Methode (also diese Weise eine Vertrautheit absichtlich zu schaffen) verfolgt – zu einer im Voraus und für immer und für jedermann absolut vertrauten wird. Die Methode induziert eine Vert rau t h eit in s U n en d lich e, sie ist eine induktiv begründete Konstruktion, in der im Voraus konstruierbar wird, wie die Natur für jedermann aussehen müsste (und jederzeit), als ob sie durch Erfahrung vertraut geworden wäre, oder wie sie es in infinitum werden müsste. Doch kann in der faktischen Lebenswelt jedes Objekt und der Stil der Zusammenhänge in seinem zeitweiligen Individualtypus betrachtet werden, in dem er eine eigene Einheit hat, darunter, wenn er z. B. eine Pflanze ist, in seinem Typus „organisches Wesen“. D as Kulturobjekt jedenfalls hat seinen einheitlichen geistigen Seinssinn als Objekt d er vorgegebenen Lebenswelt nur im Konnex m it der f undierenden individualtypischen Einheit (oder, wenn verschiedene individualtypische Auffassungen möglich sind, mit einer derjenigen, die eben dem Seinssinn dieses Objekts zugehören). Vorgegeben ist alles, worauf ich m ich, worauf jedermann sich „ geradehin “ richten kann, was im jeweiligen Wahrnehmungsfeld, Anschauungsfeld und in seinem Horizont „schon ist“. Dieses Schon-Sein ist also das Problem; und in konkreter Totalität eben die Lebenswelt, die einheitlich vorgegebene – immer seiend als Wandel individualtypisch identischer Realer. Auch das Unbekannte, vom Bekannten das Unbestimmte, die völlig unbekannte Mannigfaltigkeit von Seienden des alles Bekannte umfassenden Horizontes ist vorgegeben. Ich und jedes Ich im wachen Leben hat Weltbewusstsein, hat kontinuierliche Welterfahrung, und in jedem

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Moment hat diese Erfahrung Horizonthaftigkeit. Weltbewusstsein ist Welt ap p erzep t io n . Schlichte Weltapperzeption ist Apperzeption der Umwelt, der Lebenswelt, die, im Strömen sich wandelnd in ihren individualtypischen Dingen, immerfort eine vertraute feste Struktur, eine individualtypische, hat. Auch der äußerste Leerhorizont der unbekannten Weltferne hat seinen Wandel, auch seine Wesensgestalt. Im Wandel der Umweltapperzeption, die ich als Erfahrung durchlebe, zeigt sich „die“ Welt, die stabile Lebenswelt, in ihrer in varian t en Vorgegebenheitsstruktur. Ständig ist, in jedem Moment (in meinem immanenten Bewusstseinsfeld) systematisch vorgezeichnet, wie, in welchen Richtungen, in welchen Weisen ich den Gang meiner Welterfahrung dirigieren kann. Von der wirklichen Welterfahrung aus ist systematisch ein Universum von Möglichkeiten weiteren Welterfahrens vorgezeichnet – darin beschlossen: Von jeder Einzelerfahrung, der eines einzelnen Realen, aus ist das System möglicher Erfahrungen dieses Realen vorgezeichnet. Das System ist hier verstanden entweder als System von Weltapperzeptionen überhaupt und einzelrealen Apperzeptionen überhaupt oder als System, das einstimmig in ontischer Identifizierung Einheitsbildung in Seinsgewissheit von demselben ist. Dazu gehört also die allgemeine Wesensstruktur möglicher und wirklicher Modalisierung, mit dem Gesetz, dass in Form der Korrektur sich, universal betrachtet, ständig die Welt als identisches Universum von Seienden in Seinsgewissheit herausstellt: Immerfort ist seiende Welt erfahren (Seinsgewissheit), in der Weise, dass doch Einzelnes, das schon gilt, seine Geltung modifizieren kann. Dabei impliziert meine Weltapperzeption (zunächst reell als Partialapperzeption, dann aber auch im Horizont) diejenigen von anderen menschlichen Subjekten als Subjekten ihrer Weltapperzeptionen, in Einstimmigkeit bewährt als seiend, und das so, dass ich, Welt erfahrend, auch davon Erfahrungsgewissheit gewinne, dass die Welt, die die Anderen erfahren, dieselbe ist, die ich erfahre, und im Voraus, dass alle wirklich oder möglicherweise in meinem Erfahrungshorizont seinsgewissen Mitmenschen, indem sie als Menschen in der Welt sind, zugleich in ihren je ihnen eigenen Weltapperzeptionen auf diese Welt, dieselbe, bezogen sind, in der ich bin, die für mich Seinsgewissheit ist als die, in der ich bin. Auch das ist in meiner Weltgewissheit impliziert, dass dasselbe, was für mich impliziert ist, für mich Seinssinn meiner Welterfahrung, es für alle ist. Welt, so wie ich sie meine, so wie ich sie

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mir durch „mögliche Erfahrung“ auslege, ist Welt aller, in der ich mit allen bin, und alle sind selbst für mich Menschen, deren jeder sich als Mensch in der Allheit von Menschen weiß usw. Die universale Weltapperzeption ist in ihrer Struktur mit dem Kern eines Wahrnehmungsfeldes, dazu einer ebenfalls kernhaften Erinnerungssphäre, darüber hinaus einem „Leerhorizont“ systematisch auszulegen nach dem ontologischen Gehalt, der ontologischen Seinssinnstruktur.1 Zu verdeutlichen ist, aber auch klärend auszulegen die noematische Struktur der sich im Gang der Jeweiligkeit der Welterfahrung sukzessiv nach Wirklichkeit und Möglichkeit darbietenden Welt als Welt im Wie der Gegebenheitsweisen. Die Welt als Welt der wirklichen und als möglich vorgezeichneten Erfahrung ist Objekt-Universum, und zwar hat jedes Objekt Dasein als individuelles seines Typus, seiner Artung. Jede wirkliche Erfahrung ist innerhalb der Welterfahrung also Erfahrung des betreffenden Objekts in seiner Art.2 Die Objekterfahrung als Apperzeption der näher auszulegenden Struktur einer horizonthaften Seiten-Erfahrung ist im kontinuierlichen Fortschreiten, auch im diskreten Verknüpfen vorübergegangener Erfahrung als behaltener mit einer neu einsetzenden Weiterfahrung, ein Sich-synthetisch-Darstellen desselben Objekts in seinen verschiedenen Seiten, ein Sich-fortschreitend-Zeigen des Objekts, wie es in verschiedener Hinsicht, Seite für Seite ist: innerhalb des ständigen Horizontes noch unsichtiger, noch möglicherweise sichtig werdender Seiten.3 Die Erfahrung hat dabei aber ständig eine B ek an n t h eit sst ru k t u r, auch wo das Objekt ein noch nie wahrgenommenes ist: eben die der Art m äß igk eit, und das in verschiedenen Stufen der „Allgemeinheit“, die hier keineswegs als begriffliche Allgemeinheit, als Allgemeinheit aus Vergleichung und vorgängiger Herausstellung eines Gemeinsamen, interpretiert werden darf. Diese setzt vielmehr immer schon die Allgemeinheit, die in der Artstruktur gelegen ist (die Bekanntheitsstruktur), voraus. 1 Das wäre eine „ästhetische“ Ontologie – Ontologie einer möglichen Umwelt (Lebensumwelt). 2 Die weitere Untersuchung n o e m a t i sc h. 3 Assoziative Synthesis, Synthesis der Aktivität in ihren Modis. Behalten, Einprägen, im aktiven Kennenlernen. Modi der Aufmerksamkeit. Modus der Inaktivität. – Gedächtnis, Hintergrund.

II. DIE HORIZONTSTRUKTUR DER WELTERFAHRUNG UND DER ERFAHRUNG VON REALEM IN DER WELT

Nr. 9 Auslegung der logischen Ideen „ Reales der Welt “ und „ Welt selbst “. Welt als E rfahrungshorizont und Welt als logische Idee. Logischer Horizont und Weltbegriff. Totalbegriff d es Realen und Totalbegriff d er Welt 1

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Die Welt ist nicht „Substanz“ in demselben Sinn wie ein einzelnes „Reales“ Substanz ist. Das Bestimmen eines Realen führt wesensmäßig in innere und äußere Unendlichkeiten, es hat also in letzter 15 Hinsicht schon notwendig vorausgesetzt den Horizont der Totalität „Welt“, die ja nichts anderes ist als Totalität, Allheit der Realitäten. Oder sie ist die Allheit der „endlichen“ „Substanzen“, deren jede „Substanz“ ist hinsichtlich der ihr zugehörigen, von ihrer jeweiligen Vorgegebenheit aus zu vollziehenden Bestimmungen. 20 Das Sein jedes Realen ist Sein durch Antizipation, Sein aus einer jeweiligen Gegebenheit, die notwendig zugleich Vorgegebenheit ist, und das in infinitum. Der Gegebenheit gehört wesensmäßig zu die Potenzialität der urteilenden und der auf wahres Sein abzielenden Seinssetzung. Von da aus ist a priori vorgezeichnet die 25 Idee des wahren Seins dieses Realen in seiner Totalität der Wahrheit.2 Auf dem Grunde der Erfahrung, der vorgebenden Antizipation und in dem Fortgang der inneren und äußeren Bestimmung in 1

Wohl 1932. – Zur Horizontstruktur von Erfahrung als Moment von Handlung siehe Text Nr. 37 – Anm. des Hrsg. 2 Im fortgehenden Explizieren des Erfahrenen findet eine fortgehende Deckung statt; es hebt sich das Identische als das seiner Bestimmungen und ein offener Horizont

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urteilend-erkennender Intention mit dem abschließenden Und-soweiter erwächst die logische Form des Substrates als das seiner totalen Unendlichkeit seiner Bestimmungen. Das ist aber ein lo gisch es E rzeu gn is, ein wesensmäßig mögliches auf dem Grunde der Erfahrung, der Horizonthaftigkeit, die zur Erfahrung als der auf dieses Reale jeweils gerichteten Betrachtung gehört, die im Prozess verläuft, immer wieder vorzeichnet und immerzu – schon vor bestimmter Vorzeichnung – schon Horizont hat, aber darum nicht schon Konstruktion der Idee ist, die nur als konstruktives Erzeugnis verwirklicht ist. Jedes Reale hat seinen äußeren sowie inneren Horizont, seine Umgebung anderer Realen, bestimmter und unbestimmter, wirklicher und möglicher. So ist es notwendig gegeb en - vo rgegeb en. Und das ist die Voraussetzung, um in äußere Bestimmungen jedes Realen eintreten, sie suchen und dann finden zu können. Wesensmäßig gehört hierher die Potenzialität, zu anderen Realen übergehen, auch sie bestimmen und synthetisch in höheren Fundierungsstufen kategorial höherer Stufe bilden zu können, die in eins auf mehrere Realitäten und immer neue Mehrheiten und Mehrheiten der Mehrheiten sich beziehen. Die Welt ist nicht so erfahren, nicht so erfahrend zu bestimmen wie ein Reales im gewöhnlichen Sinne eines „Dinges“, sie ist nicht gegeben-vorgegeben so wie ein solches. Ihrer Gegebenheit geht vorher Gegebenheit von einzelnen Realen. Im Übergang von Realem zu Realem seiner Umgebung und so zu immer neuen Umgebungen und Realen vollzieht sich eine synthetische Erfahrung, die doch eben Erfahrung und nicht urteilend-zusammensetzende Aktion ist. Dieser Übergang vollzieht sich im erfahrenden Ich (dann aber auch in der erfahrend verbundenen Intersubjektivität) gelegentlich willkürlich in einer Begrenzung des Sich-Umsehens (zu welchen Zwecken immer: sei es aus bloßer „Neugier“, sei es umwillen einer es erfordernden Praxis). Aber davon abgesehen ist das Leben der Subjektivität als kontinuierlich erfahrendes auch kontinuierlich ein von Umgebung zu Umgebung in einheitlicher Synthesis fortschreitendes, wobei jedes weiterer möglicher Bestimmungen ab. Ein Neues ist Konstruktion der Idee: die Bildung des „Ich kann überhaupt so weiter bestimmen“ bzw. das Identische als das seiner Unendlichkeit von zu machenden Bestimmungen.

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momentan Fesselnde seinen Hintergrund hat in diesem synthetischen Fortgang; zum Beispiel hat jedes Wahrnehmungsfeld seinen Horizont der Antizipation neuer Wahrnehmungsfelder in synthetischer Einheit, so für Erinnerung etc. Das ist u n iversale E rf ah ru n g und in gewissem Sinne immerzu schon Welt erf ah ru n g, sofern alles Erfasste dabei in die habituelle Kenntnis eintritt und selbst alles Unerfasste in gewisser Weise, seinen vage unbestimmten, unerfassten Sinn zur Wirkung bringt, zur intentionalen Einheitswirkung beiträgt. Aber dazu gehört die P o t en zialit ät der urteilend-setzenden Welterfassung, der logischen Konstruktion der Id ee „ Welt “ als lo gisch er Id ee und zunächst als logischen Substrates, also Substrates für Prädikationen. Jetzt sind die einzelnen Realen als logische Substrate der Anfang, und ihre fortgehende kollektive Verknüpfung mit dem abschließenden Und-so-weiter führt weiter; aber schließlich muss doch hinzutreten das „alles“, das die Idee der Welt als Totalität fertig macht. Also: Voraus geht die zur Einheit wachen Lebens (der intersubjektiven) gehörige Einheit der Erfahrung und die vorlogische Einheit der vorlogisch erfahrend bestimmten und unbestimmt horizonthaft antizipierten Gegenstände, deren jeder seinen eigenen Horizont mit sich führt, der seinerseits sich mit den Horizonten anderer Gegenstände verschlingt. – Einheit der universalen „Assoziation“. Auf diesem Grunde dann „ lo gisch e “ Ak t ivit ät und lo gisch geformte, also eigentliche Gegenständlichkeiten und zunächst „Dinge“, Realitäten für sich erfassende und kategorial miteinander verknüpfende Aktivität. Jedem Realen gehört zu seine zu konstruierende Idee seines vollen und ganzen Seins (in Wahrheit), relativ in Situationsbegrenzung oder schließlich total für den Wissenschaftler (rein logische Totalidee des Seienden). Von logischen Aktivitäten her – da wir Menschen (wir reifen Menschen), immer schon logisch, urteilend erkennend, tätig waren und dazwischen immer wieder sind –, von daher, sage ich, hat schon jedes Erfahrene aufgelegt seinen lo gisch en H o rizo n t, aber als einen fundierten, einen Horizont zweiter Stufe. Statt „logisch“ können wir sagen „begrifflich“. Begriff des Realen als Substrat. Endlich Welt. D er Welt b egrif f ist ein „ logisches “ G ebilde höherer S tufe (nicht ein Gebilde des gelehrten Logikers oder der Logik als Disziplin) – der Begriff „Allheit der Realitäten“, wobei unter „Realitäten“ die realen Substrate als „logische“ Gegenstände verstanden sind, als Gegenstände,

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die schon als Urteils-, als Erkenntnisleistungen vorausgesetzt sind. Diesen Begriff „Welt“ haben wir reifen Menschen (der europäischen Kultur) alle schon; und wenn wir über Welt nachdenken, so leitet uns die „Vorstellung ‚Welt‘“ nicht als Einheit bloßer Erfahrung, sondern der „altbekannte“, „in Vagheit auftauchende“ Begriff „Welt“. Wir verdeutlichen ihn, machen ihn klar, wie andere logische Kategorialien, über die wir als unseren habituellen Besitz verfügen. Zu unterscheiden ist: Alles ist schon als fortgesetzt beurteilbar gedacht, als etwas, womit man zu tun haben kann und nach dessen Wahrheit (Situationswahrheit) man fragen kann – in jeweiligen Erlebnissen. Aber die Idee eines Seienden in der unendlichen Totalität seiner Bestimmungen ist damit noch nicht konstruiert. Man hat das Etwas als Urteilssubstrat mit einem Horizont von möglichen weiteren Bestimmungen, „vage“ – demgegenüber als exakter Wissenschaftler hat man als leitende Idee die konstruktive Idee des total bestimmten Seienden und so auch die Welt als All des Seienden, das könnte sagen: die definite Idee des Seienden. Damit sind wir aber nicht fertig. Die Unendlichkeit führt ihre Paradoxien mit sich, sowie wir sie abschließen und zur Totalität werden lassen. Das einzelne Reale bestimmt sich logisch im Und-so-weiter. Aber dessen totale Bestimmung setzt voraus, dass eine Allheit der sonstigen Realen eine gültige Idee sei oder dass die Welt als Totalität es sei, dass der Weltbegriff ein gültiger sei. D er T o t alb egrif f des Realen setzt d en der Welt voraus, also auch in Hinsicht auf Gültigkeit. Umgekehrt setzt aber d ieser jenen voraus. Die Begriffe verweisen uns in ihrer Geltung auf die Ursprungsintentionalität, die der Erfahrung, in der Reales als Seiendes entspringen soll – dies in ihrer Präsumtion, die immer neue Präsumtion in sich trägt, sich in konsequenter Einstimmigkeit erfüllend; und die Präsumtion ist sowohl innere als äußere. Jede präsumtive Setzung ist unselbständig, sie hat notwendig ihren Horizont, verweist auf eine Kontinuität der Einstimmigkeit, die sich bewähren muss als erfahrende. Es ist aber schon Bewährung durch Korrektur selbst vorgezeichnet, d. h. die Antizipation ist selbst schon in gewisser Weise rechtmäßig, nämlich schon Vo r- E rf ah ru n g als Modus der Erfahrung, als Selbstgebung nicht der Selbstgegenwart, aber der Voraussichtlichkeit, der voraussichtlichen Zugänglichkeit, eventuell unter Korrektur im „anders“, wodurch sich doch Sein bestätigte.

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Hier muss aber weitergegangen werden. Der Stil der Erfahrung von Realem ist als Apperzeption der Form nach vorgezeichnet, und diese Vorzeichnung in ihrer formalen Allgemeinheit ist näher auszulegen. Hier kommt aber in Frage, dass dieser Stil selbst ein b eweglich er ist, dass er selbst sich im Gang der Forterfahrung abwandeln kann, aber in einer Weise, die den früheren Stil nicht preisgibt, sondern auf eine neue Stufe erhebt. Innerhalb der n o rm al gew o rdenen Erfahrungsumwelt hat jedes umweltliche Reale Einheitssinn aus dem räumlichen Allgemeinstil von Realitätserfahrung, also von präsumtiver Einstimmigkeit, die zu dieser Normalität gehört.1 „Ding“ im „alltäglichen“ Leben ist Index dieses Stils, der sich individuell besondert und in sich in Anknüpfung an das schon Bekannte, bekannt Gewordene, das Unbekannte der Form nach vorzeichnet. Aber die normale Umwelt bzw. die einheitlich erfahrende Apperzeption ist nicht starr. Die Umwelterfahrung und in ihr jede einheitliche Apperzeption von einzelnem Realen kommt in Bewegung durch gewisse Erfahrungen, Gesamterfahrungen bzw. Einzelerfahrungen, die den Umweltstil selbst abwandeln, während doch Einstimmigkeit der Gesamterfahrung und damit Einheit der Welt als konstituiertes Korrelat erhalten bleibt. So beim Einbeziehen von Anomalitäten in den Allgemeinstil einer höheren Normalität. Was wir „normale Welt“ nennen, hat so schon einbezogene Anomalitäten, die aber doch erst durch Einbeziehung erworben sind bzw. ihren fundierten Charakter intentional ausweisen. Auch das gehört hierher: Erweiterung einer normalen Umwelt bezogen auf eine Personalität durch Verkehr mit anderen Personalitäten (Völkern, Kulturen) mit anderen Umwelten, wie z. B. das Werden einer einheitlichen irdischen Welt (als normal werdender) für die gesamte irdische Menschheit. Wenn ein Erfahrungstypus von realer Gegenständlichkeit (Mensch, Tier, Stein oder bloßes Ding usw.) zum „transzendentalen Leitfaden“ wird, so ist das so zu verstehen, dass die in der lebendigen Erfahrung gegebene Erfahrungseinheit (das „gegenständliche“ Korrelat der Einstimmigkeit im Fortströmen der Erfahrung) als Exempel des Typus gegeben ist (in der Einstellung eben auf den Typus, der kein „Begriff“ ist). Und nun finden wir zum Typus gehörig die typische beschaffenheitliche Struktur durch Explikation bzw. die ihm zuge1

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hörige vielfache Affektion, die wir, ihr folgend, explizieren. Diese Auslegung der Struktur des Gegenstandstypus (am Exempel erfasst in typischer Einstellung) ergibt den gegenständlichen Stil als den der möglichen Erfahrungsrichtungen; und dieser ist dann erst Leitfaden für die noetische Auslegung der konstituierenden Erscheinungen und ichlichen Vorkommnisse, die zu einer einstimmigen Erfahrung noetisch gehören. Aber dieses Subjektive kommt zunächst nicht in Frage, sondern nur die Auslegung des Erfahrungsgegenstandes in seine Merkmale als solche möglicher Erfahrung. Nur dass diese mögliche Erfahrung nichts anderes besagt als mögliche Explikation innerhalb des leitenden Typus, der seinerseits vorgezeichnet ist als Bestandstück der „normalen“ Umwelt. In der Erweiterung der Umwelt durch Synthesis von relativen Umwelten scheidet sich dann Natur als Identitätsstruktur, die immerfort Voraussetzung, Unterlage ist für die Prädikate des objektiven Geistes. Natur befasst hier auch die Personen und scheidet sich dann in die Grundnatur (Territorium), die physische, und die ichliche Geistigkeit. Im Fortgang zur Universalität, zur Unendlichkeit als Totalität, die eine denkmäßig nachkommende Präsumtion ist, erwächst die Idee (ein Begriff) der reinen unendlichen Natur in der Totalität einstimmiger Erfahrung, für alle erdenklichen erfahrenden Subjekte als dieselbe vorauszusetzen und begrifflich zu konstruieren, und darin die rein physische Natur, „in“ der psychische Subjekte sich verteilt verleiblichen.1 Hier kommen die Paradoxien der Unendlichkeit. In der Beschreibung der ontischen Gehalte der strömenden Gesamterfahrung und ihrer Umweltlichkeiten mit ihren Synthesen konstruieren wir die Realitätenwelt als pure subjektiv-„irrelative“ „Natur“2. Die fortgehende Zeitigung, in der sich die Welt der zeitlichen Tatsachen (die Welt der unbedingt objektiven Tatsachen) schließlich als unendliche Totalität konstituiert, diese Zeitigung ist die ontische Zeitigung; die Onta sind hier die relativ konstituierten Weltgegenstände und Welten (Situationswelten, „subjektiv-relativ“ in einem bestimmten Sinne). Ein zweiter Sinn von „objektiver Tatsache“ ist der der Tatsachen des objektiven Geistes, die wesensmäßig 1 Die Natur als Territorium einer, meiner Menschheit, die Natur als Synthesis der möglichen Territorien auf dem Wege über die Gestirne. 2 Die psychophysische Allnatur.

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bezogen sind auf Subjekte und Subjektgemeinschaften, aber in dieser Beziehung selbst allgemein zugänglich werden auf dem Wege der Historie: als eine eigene Idee. Objektive Geistigkeit bezieht sich auf den Menschen, der sich Zwecke setzt1. Auch menschliche Gemein5 schaften setzen sich Zwecke und wirken ihnen gemäß in die ihnen vorgegebene Natur und Geisteswelt hinein und gestalten sie um. Der Mensch kann sich aber auch unbedingte Zwecke stellen; er hat solche Zwecke als Mensch, zu seinem Wesen gehören solche Zwecke bzw. ihnen entsprechende absolute Forderungen. Das ergibt aber die 10 Möglichkeit, eine praktische Totalidee zu bilden als eine absolute: Idee einer Allmenschheit einer totalen „unendlichen“ Welt, die diese Welt gemäß der unendlich fernen Idee einer absolut allmenschlich gesollten zu gestalten sucht.

Beilage V Horizontbewusstsein von der Welt und thematische Weltvorstellung Dingvorstellung gegenüber Weltvorstellung: Welterfahrung und Weltgewissheit2

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Inhalt: Welt als worin alles Seiende (für mich Seinsgewisse) inexisiert. In 20 diesem Sinn ist Welt kein Seiendes, kein Reales, und Welterfahrung hat einen

neuen Sinn. Konstruktion der Welt als offen-unendliche Vielheit, Allheit von Realen. Welt als Totalität, Thema der Weltwissenschaft (Kosmologie). Womit immer ich thematisch beschäftigt bin, es ist mir bewusst als in der W el t sei end. Ich habe immerzu, bei allem und jedem, Seinsgewissheit der 25 Welt. Ich habe sie a priori jeder einzelnen Erfahrung, jedes einzelnen Wahrnehmungsfeldes, jeder einzelnen Thematik – bei allem als Horizontgewissheit und, durch den Wandel der Thematik hindurchgehend, in kontinuierlicher Ständigkeit. Dazu gehört die Gewissheit meiner ständigen Vermöglichkeit, mir das bloße „Horizontbewusstsein“ von der Welt als der mir mit jewei30 ligem Seinssinn gewissen, es in eine explizite Weltvorstellung verdeutlichend und eventuell im Modus einer anschaulichen, klar machen zu können. Jeweils habe ich, und wann immer ich in diese Besinnung eingehe, mein 1 2

Auch den Zweck, menschliche Gemeinschaften zu bilden. Dezember 1933 oder Januar 1934.

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(jeweiliges) Wahrnehmungsfeld, eventuell ein anschauliches Erinnerungsfeld (oder sprunghaft ein Nacheinander von solchen Feldern), und damit einen Umkreis jetzt für mich in individueller Bestimmtheit seiender Dinge als individuelle Konstellation von seienden (gegenwärtigen, gewesen seienden etc.) „Dingen“, – aber im Horizontbewusstsein als Dingen „in“ der Welt, au s d er W el t. Von da aus geht im Wandel dieser Felder Erfahrung weiter. In der Erfahrung habe ich diese Dinge als leibhaft sie selbst (gegenwärtig selbst da oder selbst vergegenwärtigt als wahrgenommen gewesen etc.). Und während ich bei ihnen selbst bin, lerne ich sie in ihrem Sosein kennen oder erkenne sie explizit, wie sie sind (und mir schon früher bekannt geworden sind), wieder – so bei altbekannten, vertrauten Dingen. Ich kann aber auch meine wirkliche Erfahrung dirigieren, ich kann kennenlernend oder auch wiedererkennend geordnet fortschreiten und meinen Umkreis von wirklich von mir erfahrenen, individuell bestimmten, zur Selbsterfassung kommenden Dingen erweitern und, wo ich im freien Fortgang gehemmt bin, mittelbar Erfahrung gewinnen durch Mitteilungen anderer, nicht nur sie verstehend, sondern sie in ihrer Seinsgeltung für mich übernehmend. Alles mir in seiner faktischen Realität in dieser Weise gewiss Werdende und, wo es oder soweit es noch unbekannt ist, mir bekannt Werdende hat G ew i sshei t (als Gewissheitsmodalität), sein habituelles in Gewissheit (in immer wieder zu wiederholender) Für-mich-Sein. Gewissheit als Urmodus der Gewissheit ist selbst Gewissheitsmodalität insofern, als (wie ich immer schon weiß) die schlichte Gewissheit einen Bruch erfahren könnte und übergehen könnte in Zweifel, Vermutung, ja Nichtsein. Alles f ür m ic h seiende E i n z e l n e i s t so i n S c h w e b e z w i s c h e n S e i n u n d N i c h t s e i n, auch wo ich nicht wirklich zweifle, ob es sei oder nicht sei. Aber ich „weiß“ auch, dass es nicht bei einer Modalität der Ungewissheit sein Bewenden haben muss, dass es möglich und von mir aus (eventuell in Konnex mit anderen) vermöglich ist, wieder zu Gewissheit zu kommen, in der Form etwa „Es ist doch“ oder „Es ist doch so“ oder „Es ist zwar nicht oder nicht so, aber dafür ist (da und dann) dieses andere“. Ic h b i n i m m erz u i n ei n er W el t gew i sshei t – dessen völlig gewiss, dass letztlich der Umkreis des Erfahrbaren in eine E inheit der E instimmigkeit der Erfahrung zu bringen ist, in der alles Erfahrbare in durchgängiger Gewissheit zusammenstimmen müsste. Und immer ist schon ein Reich der ungebrochenen Gewissheit der Untergrund, den die bloßen Vermutlichkeiten, Möglichkeiten, Zweifelhaftigkeiten als anomale Vorkommnisse voraussetzen. Sie gewinnen von selbst oder, wo ich für Seinsgewissheit besonders interessiert bin, durch absichtliche Direktion der Erfahrung ihre Korrektur. Die Welt ist immerfort für mich seiend als teils schon einstimmig seinsgewiss, teils noch auf dem Wege der K orrekt ur, in den fraglichen Einzelheiten in das schon Seinsgewisse

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einzufügen. Und so ist sie stets auf dem Marsch z u einer einstimmigen t ot alen Seinsgew issheit, einer Totalität wirklich seiender und bewährter Realen. So ist der Gang der „wirkliches“ Sein – individuell bestimmtes, als Kenntnis erworben und zu erwerben – für mich ergebenden Erfahrungsaktivität, und zwar als Aktivität des Kennenlernens der faktischen Welt, der Welt, wie sie faktisch ist, in ihren individuellen Tatsächlichkeiten. Aber fortschreitende Erfahrung und gar eine absichtlich immer weiter fortschreitende Erfahrung bedarf der Leitung durch antizipierende Vorstellung, gewissermaßen VorVorstellung, wenn eigentliche Vorstellung das im Erfassen zustande kommende „Vor-sich-gestellt-Haben“ besagt. Fortschreitende Erfahrung ist begrenzt, und erfahrend Welt kennen lernen wollen ist ein in die vorgegebene, die horizonthaft bewusste Umwelt Hineingehen, das, wie sehr es mittelbar Erfahrungen über die erfahrenden Anderen hereinzieht, im Endlichen gebunden bleibt, obschon in einer Endlichkeit, die nicht einen letzten Schritt hat, sondern offene Endlichkeit und offene Unendlichkeit in eins ist. Jedes geordnete Vorgehen in die Weite und von Weite zu Weite setzt schon entwerfendes Vorstelligmachen, antizipierendes, vorvergegenwärtigendes Vorstellen voraus, und das nicht als ein bloßes Phantasieren, sondern als V orent w urf von Individuellem in einer Seinsgewissheit, die nur, wo es sich um schon Bekanntes handelt, den Charakter einer bestimmten Vorerinnerung hat. Stattdessen ist es sonst und ist es als unbekannter Welthorizont durchaus eine Vergegenwärtigung, die, selbst wenn sie ein Individuelles vergegenwärtigt, es in der neuartigen Weise eines individuellen Exempels, einer individuellen Möglichkeit aus einem Spielraum von Möglichkeiten anschaulich macht. Jede Praxis setzt Vorhabe, Vorentwurf voraus, Vorvorstellung, letztlich deutliche und klare. Sie ist aber auch in der vollkommensten Klarheit nach individueller Faktizität unbestimmt im Spielraum der Möglichkeiten, die eben unbestimmt bleiben, in Schwebe, ohne Entscheidung, die erst die faktische Erfahrung und Erkenntnis mit sich bringen kann. Eigentlich ist das der Charakter jeder Vorerwartung (Vorerinnerung), die, wie bestimmt sie auch sein mag, notwendig einen Spielraum des n o c h n i c h t v ö l l i g B e s t i m m t e n hat. Aber genau besehen, könnte man einwenden, ist es auch Grundcharakter der Erfahrung, selbst im Urmodus der Wahrnehmung, dass sie ihren Erfahrungsinhalt antizipiert, während sie ihm zugleich den Modus der Selbsthabe zuerteilt. Indessen, jede Vorvergegenwärtigung hat offenbar das Eigentümliche einer intentionalen Mittelbarkeit, einer intentionalen Modifikation, in der das Modifizierte, das sie verwandelt bewusst hat, eben eine Erfahrung ist mitsamt der ihr selbst im Urmodus eigenen Antizipation. Wir haben unmittelbare Erfahrung – und hierher ist

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zu rechnen das unmittelbar verwirklichende Tun (auch handelnde Realisieren) – und einen Vorentwurf, das vorspringende sich ein künftiges oder möglicherweise künftiges Erfahren und Verwirklichen Vorvergegenwärtigen. Ich kann aber nicht nur einen Vorentwurf des nächsten für mich Wirklichen (im Möglichkeitsspielraum) konstruieren, ich kann als Entwurf eine „Weltvorstellung“ konstruieren: Welt „im Voraus“ vorgestellt in ihren Möglichkeiten. Von jeder Erfahrung und ihrer Umgebungserfahrung (einer nicht thematisierenden) kann ich die Welt als „vorgestellte“ Welt, als jeweilige Weltvorstellung im Voraus in ihren Möglichkeiten des Wirklichseins konstruieren und im beliebig erneuerten Konstruieren und Rekonstruieren die identische Welt vorstellig haben und von dieser Weltgewissheit aus Antizipation den Weg einer Welterkenntnis vom „Gegebenen“ aus durchführen – mit dem Gegebenen als Leitung. „ W elt “ hat f ür mich nur expliziten Sinn aus dieser W eltvorst el l u n g. Diese ist allerdings in gewissem Sinne ein sehr Vieldeutiges. „Wiederhole“ ich ursprünglich bildend die Weltvorstellung, so ist es in Wahrheit nicht dieselbe; abgesehen davon, dass meine unmittelbar anschauliche und schon wirksame lebendige Umgebung – so wie sie im Interesse meiner momentanen praktischen Absichten jeweils geweckt ist und ihr Aufmerksamkeitsrelief hat – wechselt, werde ich doch auch im erneuten Bilden der Weltvorstellung nicht genau dieselben, also andere Wege einschlagen. Und doch, ich komme zur Weltvorstellung, zur Vorstellung derselben Welt, der einen, der alles Reale umspannenden. Und im Übergang von der einen Bildung zu einer anderen oder in Erinnerung an frühere muss ich in synthetischer Identifizierung sagen: „dieselbe Welt“, und mir sagen: Von der Welt kann ich mir nur in diesen Jeweiligkeiten der immer wieder anderen und doch durch evidente Identifizierung verbundenen Vorstellungskonstruktionen eine Vorstellung schaffen, eine explizite Vorstellung. Wie eine Vorstellung überhaupt, so habe ich die W elt vorst ellung nicht bloß als aktuelles Erlebnis, als Erzeugnis, sondern als aus dem Erzeugen erworbenen B esi t z. Ein Einzelding erfahre ich und gewinne von ihm eine Vorstellung durch erzeugendes „Auslegen“ seines Seins im Sosein. Ich gewinne so sein explizites Sein, die ursprüngliche Kenntnis von ihm, als was es ist; und die Kenntnis ist nunmehr mein aktueller E rw erb: Ich kann sie wieder anschaulich machen in Wiederholung der aktuellen Gewissheit seines Seins im Sosein. Ebenso die Weltvorstellung. Hätte ich sie nicht gebildet, so wüsste ich nichts von der Welt. Aktuelle und anschaulich durchgeführte Weltvorstellung ist: aktuell sich das Sein der Welt zur ursprünglichen Kenntnis bringen. Und das ist eigentlich schon Urgestalt des W i ssens von der Welt. Das Wort „Welt“ hat seine Wortbedeutung nur dadurch, dass zum Ausdruck gebracht wird, was diese Vorstellung anschaulich beibringt. Doch wird der Ausdruck al l gem ei n

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gefasst, indem das Vorgestellte in seiner unendlichen Beweglichkeit hervortretender Gehalte bezeichnet wird als Identisches seines ontologischen Stils. (Das ist freilich lückenhaft.) Die Weltvorstellung ist die Grundlage alles begrifflichen Weltwissens, aller Wissenschaften, die sich auf die Welt, die wirkliche und als möglich erdenkliche, beziehen. Durch sie gewinnen wir Weltvorstellungen einer neuen, fundierten Art: Weltbegriffe, Welterkenntnisse, Theorien, wissenschaftliche Lehrsysteme. Doch nun regen sich Bedenken. Ist denn explizite Weltvorstellung wirklich gleichstehend mit expliziter Dingvorstellung, Vorstellung eines Realen? Ist die Welt nicht die Allheit von Realen und ist für eine originale „Vorstellung“ von der Welt, also für eine Erfahrung von der Welt, nicht erforderlich eine inbegriffliche Erfahrung, die alle Einzelerfahrungen von Realen in sich befasst? Ich habe von der Welt nur so Erfahrung, dass ich meinen Gesamtbereich von wirklich Erfahrenem in seiner Jeweiligkeit und im Fortgang habe und zugleich das Bewusstsein, dass ich vermöglich weitergehen und in verschiedenen Richtungen weitergehen könnte. Eben dieses Bewusstsein kann ich mir im Voraus klar machen, meine Möglichkeiten weiterzugehen, und so, dass ich gewiss werde, alles, was ich im Voraus als vermöglich erreichbar habe (in meinen Vermögen) und was mir je gelten kann, eben vorentwerfen zu können. Andererseits: Wirkliche Erfahrung eines Dinges hat ja auch ihre Offenheit, ihren Horizont, und auch da habe ich die Möglichkeit, mir die Richtung meines vermöglichen Weitergehens und den Stil der Möglichkeiten im Voraus vorstellen zu können. Sogleich ist doch nun folgende Präzisierung nötig, um zu verdeutlichen, was das meint, sich die Welterfahrung explizit klar und deutlich zu machen: Fürs Erste. Welterfahrung haben wir in gewisser Weise immerzu, wo wir mit einem Realen spezialiter beschäftigt sind, nur dass dabei das, was sonst noch im Erfahrungsfelde ist von anderen Realen, unthematischer Hintergrund ist und zugleich ein unanschauliches Horizontbewusstsein, unabtrennbar von Thematischem im thematischen Hintergrund, vorhanden ist, wodurch dieses Ganze den Sinn „Erfahrung von der Welt“ hat. So hat auch eine Dingerfahrung im Gang der Explikation Unterschiede der Thematik und Anschauliches mit unanschaulichem Horizont, nur freilich so, dass eine Einheit des Themas durch all das hindurchgeht. Die normale Beschäftigung mit realen Einzelheiten aus der Welt müssen wir ändern. In Änderung der Einstellung und erst dadurch – durch „Überschau“ vom jeweiligen und strömend sich wandelnden anschaulichen Kern des gesamten Anschaulichen, des „Überschaubaren“ als Sprungbrett, aus – haben wir in seinen Horizont „einzudringen“ und seine Möglichkeiten bzw. die Totalität der Richtungen unserer vermöglichen Erfahrung zu

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durchlaufen etc. Hier ist zu präsentieren: der Begriff der allheitlichen U m sc hau, das „Überschauen“, das Nach-allen-Seiten-in-mögliche-Erfahrung-Übergehen. Man darf nicht wesentliche Unterschiede verwischen wollen. Es ist sicher wahr: Was ich jeweils insgesamt in Wahrnehmung und wirklicher Erfahrung habe, ist ein bloßer Ausschnitt der Welt. Und wieder: Jedes einzelne Ding, das Gegenstand meiner aktiven Erfahrung und sonstigen Beschäftigung ist, ist notwendig Ding aus der Welt. Es ist sicher wahr: Was immer ich erfahre, ich habe auch ein gewisses Bewusstsein von der Welt, nämlich ein Horizontbewusstsein von einem befragbaren „Darüber hinaus“. Andererseits ist aber die ursprüngliche Quelle aller dieser Reden nicht zu missachten. Dinge sind Gegenstände möglicher Erfahrung, Gegenstände einer möglichen Betätigung, Beschäftigung. Sie haben als für uns seiende vorweg ihren Ursprung aus Akten, aus Thematik; oder: Dingerfahrung hat ihren Ursprung, zurückführend auf Affektion, Zuwendung, Identifizierung im Wiedererkennen als dasselbe, als Gleiches etc. Dinge sind für uns erst durch die stufenweisen Aktleistungen mit ihren behaltenen Ergebnissen, aber als Ergebnissen von Aktleistungen, von tuend einen Weg zum Ziele Gehen. Gegenstände sind aktuelle oder in erworbener Potenzialität oder Habitualität uns eigene Ziele. Die Dingkonstitution, die von Dingen als Erfahrungszielen (denen der spezifischen Dingerfahrung), erfordert aber noch nichts von einer Weltkonstitution in einem parallelen Sinne (oder einer Welterfahrung, Weltapperzeption gegenüber oder neben der Dingerfahrung). Welt als Horizont der dinglichen Erfahrung und ihrer als Erfahrung in einem dinglichen Wahrnehmungsfeld, einer dinglichen Konstellation etc. ist noch nicht W el t erf ahrung, wozu eben eigene Objektivation, Identifikation, Wiedererkennen gehört etc. Aber wie sieht die Konstitution der Welt als All, wie ihre Vergegens t ä n d l i c h u n g aus? Wie soll ihr Ursprung sein als „Gegenstand“ unter dem wesensmäßigen Vorangang der Konstitution von Dingen oder Vor-Dingen? Individuation entspringt in eins mit der Horizontbildung. Vielheit, eine Vielheit entspringt im schrittweisen Kolligieren, im bloßen, im schrittweisen Erfassen: Einzelnes, dann „wieder“ einzelnes Ähnliches: Plural, eine Konfiguration antizipiert als Plural, „Nominalisierung“. Irgendein a, irgendein b. Verschiedene Konfigurationen als Vielheiten „aufgefasst“, antizipiert, als je in ähnlichem wiederholtem Erfassen und Behalten erzeugbar, aber different in der Deckung: a’s und b’s, je a, je b. Explikation im Durchlaufen der a-Gruppe. Einige sind a, einige b; je und je ist ein a stets m – alle a sind m; Vielheit als Einheit, Vielheit unter Vielheiten. Offene Vielheiten, offene Plurale: Menschen, Ochsen. Von Geschehnissen: Es regnet, es schneit, es wiederholt sich gelegentlich das eine oder das andere.

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Im „Laufe der Welt“, im Laufe der Zeit, „in der ‚weiten Welt‘ gibt es vielerlei, passiert vieles“. Das erfahrende Leben, das Leben im Fortgang der Aktivität, von Erfassung und Explikation des Erfassten zu neuer Erfassung und Explikation unter Behalten und Hinfort-Haben: das konkrete „anschauliche“ Erfahrungsfeld in der „Antizipation“ als erfassbar, explizierbar, identifizierbar etc., eins nach dem anderen. – Ein Leben im Verlauf dieser Aktivitäten, ihrer Wandlungen in Behaltungen, im Verlauf der Erwerbe als Einheiten, das sich im Stil immerfort wiederholt, aber ein einheitliches subjektives Geschehen ist und eine sich fortspinnende, fortvereinheitlichende Stromeinheit der sich im Behalten aneinander knüpfenden Erwerbe, aber nicht nur das, auch eine der antizipierten Mannigfaltigkeiten von vermöglich neu zuzueignenden Erwerben und Wiedererwerben. Jedes identifizierbar als dasselbe Individuum nach Raum-Zeit-Stelle, als An-sich etc. Auf diesen Strom des für mich aktuell und potenziell Seienden, wie er sich bietet im Voraus, vorweg, kann ich reflektieren; ich kann, statt darin im Interesse des Tages etc. weiter aktiv zu sein, stillhalten und U m sc hau, Ü bersc hau halten und nur Akte, die ihr dienen, vollziehen, in die Vergangenheit der Erinnerung eintreten, universale Rückschau üben und universale Vorschau, dabei die Richtungen meines Vorgehenkönnens, Abwechselns und die möglichen systematischen Abwandlungen dieses Strömens erwägen und so Überschau über die vermöglichen Erwerbe gewinnen. Alles aber ist schon vorgezeichnet in unbestimmter Allgemeinheit, in ontologischer Form „Welt“. Sich im Voraus eine Vorstellung davon machen, was in der immer unvollkommenen, strömenden Erfahrungsgewissheit (im Gang der faktischen Explikation und dann im unvollkommenen faktischen Erwerb an Erfahrungserkenntnis) implizite liegt – als Antizipation dessen, was das Ding selbst an sich „voll und ganz“ ist oder „vollkommen“ ist. Ebenso sich im Voraus eine vollkommene Vorstellung von der W el t machen, die im wachen Bewusstsein ständig, wenn auch nicht (nicht in der Form „AllEinheit der Seienden“) thematisch in Erfahrung ist. Ihre Unvollkommenheit liegt darin, dass ein bloßer Ausschnitt der „Allheit“ wirklich erfahren ist und dass jedes Einzelne selbst seine Unvollkommenheit der Erfahrung hat. Hier handelt es sich um die „syst em at i sc he“ K onst rukt i on der U n en d l i c h k ei t m ö gl i c h er E rf ah ru n gen. Darin liegt: Es bedarf der Aufweisung der apriorischen Stufenordnung der Richtungssysteme, in denen ich erfahrend fortschreiten kann und dabei von dem schon inhaltlich Erfahrenen und dann als erfahren „Gedachten“ aus notwendig meine inhaltliche Vorzeichnung für das herankommende Reale und seine in die Erfahrung tretenden Seiten und Erscheinungsweisen gewinne: die Richtungssysteme, die Systeme der subjektiven Zugangsvermöglichkeiten. Dass hier System a

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priori vorgezeichnet ist und im wirklich Erfahrenen schon vertraut, nur nicht ausgelegt ist, das ist bald aufzuweisen. Aber es ist die Aufgabe, abgesehen von der Mannigfaltigkeit der möglichen Erfahrungen als Erscheinungen auch die Möglichkeiten der Zugänge, der Vorgangsrichtungen aufzuweisen, in ihrer Fundierung: 1) Primordial das kinästhetische System und seine Teilsysteme. Das System der erfahrenden Erinnerung als Zugangssystem der primordialen „Welt“-Vergangenheit nach ihrem Früher und vom Früheren zur Gegenwart hin. 2) Das gewinnt intersubjektive Bedeutung im Kreise originaler Einfühlung. Aber neu ist nun das Zugangssystem, das der systematischen Mittelbarkeit der Einfühlung entspricht. Andere, die immer wieder Andere haben, die sie selbst (bzw. ich) nicht haben, und Zugangssysteme höherer Stufe (Erweiterung der Raum- und raumzeitlichen Konstitution durch die Anderen der Anderen etc. hindurch) – auf dem Wege der Bekundung nicht anwesender Anderer in der Sachsphäre als Ausdruck und Anzeige ihres da Tätig-gewesen-Seins; und dann mitteilender Ausdruck: Der nächste, direkte Konnex mit anwesenden Anderen durch unmittelbar leiblich-mitteilenden Ausdruck (dann eventuell auch noch in Sachlichem) wird zum Konnex mit Nichtanwesenden; und von da entwirft sich iterierte Möglichkeit von ihren Konnexen etc. Ferner: Denkmäler und sprachliche Bekundungen in dokumentierter Form schaffen einen Konnex zwischen Anwesenden und überhaupt Mitgegenwärtigen und den Künftigen bzw. den Vergangenen. P l at o hat „direkt“, sofern er Schriften veröffentlichte mit Adresse an seine künftigen Leser, zu mir gesprochen, indem ich sie las. Insbesondere Systematik der Generationen und generativen Verflechtungen. Systematischer Bau der Umweltlichkeit und der offenen Welt in der Umweltlichkeit, der Richtungssysteme des Zugangs. – Aber zum Weg, der zu den möglichen Seienden in ihrer Systematik gehört, gehört ihr System der Erscheinungsweisen in den Richtungen ihrer Zugänglichkeit durch Kinästhesen im weitesten Sinne.

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Das explizierende Wahrnehmen eines körperlichen Dinges, die leiblichen Vorgänge, als dabei reale Kausalität übend, bleiben unbemerkt. Auch wo wir, um das Innere des Dinges kennenzulernen, es aufschneiden oder zerbrechen, thematisieren wir diese Kausalität nicht, fügen sie nicht in den Gehalt der Explikation ein. Wir verwerten es so, als ob es sich um ein bloßes Aufklappen, wie das eines Deckels einer Schüssel oder einer Schachtel, handeln würde. Aber selbst das ist ein real ändernder Vorgang, den wir wie eine bloße Augenbewegung oder ein bloßes Abtasten nicht real einrechnen. Ähnlich sogar bei einem Aufheben eines Dinges, beim Es-zur-Hand-Nehmen, um es anzusehen, wonach wir es wieder an seine Stelle setzen. Die reale Ortsveränderung ist außer Betracht gelassen, sie ist nicht Thema, wo es gilt, das Ding, wie es ist und war (wie es an seiner Stelle war und an seiner Stelle wieder sein wird, solange es nicht subjektiv bewegt und verändert ist), kennenzulernen. Das Ding, wie es ist, wird durch dergleichen subjektives Tun synthetisch konstituiert; sein Seinssinn als Ding der möglichen Erfahrung hat solche subjektiven Leistungsprozesse, hat die möglicherweise erfahrend fungierende Subjektivität als Wesenskorrelat. Aber so ist die Konstitution des Dinges als Dinges in der Welt, dass das fungierende Subjekt und seine Mitsubjektivität ständig konstituiert sind im Zusammenhang des gesamten konstituierenden Lebens als psychophysische Menschlichkeit, wobei die leibliche Körperlichkeit einbezogen ist in eine universale Kausalität, die freilich in einer Grundsphäre des Körper-Wahrnehmens (nämlich des oberflächlichen) normalerweise „geringfügig“ ist, jedenfalls „außerwesentlich“ Ort und Qualität des Thematischen ändernd. Das Gehen, eine unentbehrliche Kinästhese im Wahrnehmen, erzeugt Geräusche, gewohnte und gleichgültige – außer wenn gerade das Geräusch thematisch ist oder, wie wir auch sagen können, von Interesse. Wahrnehmen im eigentlichen, im normalen Sinn als auslegendes Kennenlernen hat für Naturobjekte, korrelativ zu ihrer ontologischen (der wesensallgemein konstituierten) Struktur, seine universale wesensmäßige Eigenart; es ist die korrelative wesensallgemeine Methode, Naturobjekte in ihren „Merkmalen“ kennenzulernen und Natur überhaupt kennenzulernen –

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Dezember 1933 oder Januar 1934.

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auch das Sich-geregelt-Verändern der Naturobjekte unter ihren objektiven Umständen: die geregelten Weisen des Sich-Verbindens, des Sich-Teilens, des Sich-Mischens, des geregelten Sich-Bewegens in mechanischer Kausalität usw. Das heißt: ein Wahrnehmen im erweiterten Sinne durchführen – im mitmenschlichen Konnex. Es ist also nichts anderes als die dem Seinssinn der Natur (dem natur-ontologisch allgemeinen) korrelative Methode möglicher Erfahrung im besonderen Falle ins Spiel setzen. Die Natur ist die uns jeweils mit einem Kern unmittelbarer Anschaulichkeit gegebene (wahrnehmungsmäßig, erinnerungsmäßig), in einer Horizonthaftigkeit, der gemäß es der systematischen Fortführung der Wahrnehmung bedarf, um zu dem, was sie selbst ist, vorzudringen in Stufen der Vollkommenheit. Was sie selbst ist, das ist jeweils das zu erfüllender Selbstgegebenheit Kommende. Indirekt kommen wir an dieses Selbst induzierend heran, d. i. durch eine Induktion, die das unbestimmt allgemein Vorgemeinte mit bestimmtem Gehalt der Antizipation erfüllt, also in der Weise einer „Vorerinnerung“, einer bestimmten, in der Methode seinsgewissen Vor-Anschauung, einer vor-erfüllenden, die uns im Voraus (ohne das wir selbst dabei sind) veranschaulichend zeigt, wie das dingliche Reale anzunehmen ist, als was es gelten muss. Freilich, so viel wie die direkte Erfahrung kann Induktion nie leisten; sie dient aber, wo direkte Erfahrung ausgeschlossen ist, für unsere Praxis und unser Erkenntnisstreben, zumal sie im erweiterten Erfahrungszusammenhang, der solche Induktion befasst, ihre Weise systematischer Bewährung hat. Die Natur (und so die Welt überhaupt) ist für mich ständig in Wahrnehmung und sonstiger Erfahrung, ständig als in ihr liegender, ständig in meiner Aktivität zur Seinsgeltung kommender Seinssinn. Aber ständig ist, was so in dieser aktiven Seinsgeltung als selbst da seiend „wirklich gegeben“ ist, zugleich Antizipation, horizonthafte, „vage“ mit geringer Vorzeichnung ausgestattete Mitgeltung, Antizipation einer vermöglich zu realisierenden Erfüllung durch wirkliche Erfahrung. Wir sagen, von der Natur, von der Welt sei dies da in aktueller Erfahrung gegeben, in die Erfahrung eingetreten. Der Horizont ist äquivalent mit der Vermöglichkeit, die weitere Erfahrung willkürlich zu dirigieren und die darin implizierte Mitmeinung in ihrer Totalität systematisch zur Vorveranschaulichung zu bringen, d. i. zu derjenigen Gestalt der Anschauung, in der die erfüllende Anschauung in Gewissheit vorentworfen ist. Aber dieser Vorentwurf der Erfüllung ist vieldeutig, er gibt den Spielraum der erdenklichen Möglichkeiten der Erfahrung und Erfahrungsgegebenheiten, in denen die immerzu nur unbestimmt allgemein, vag und leer antizipierte Welt (die horizonthaft bewusste) die Totalität ihrer in disjunktiver Gewissheit möglichen Erfüllungen hat in je kommender wirklicher Erfahrung, wobei also doch ständig im Voraus gewiss ist, dass eine dieser Möglichkeiten im Gang der Erfahrung zu bewährender einstimmiger

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Erfüllung kommt, unbestimmt welche.1 Die Welt ist konstituiert. Die Veranschaulichung der Welt, als wie sie möglicherweise ist, während sie ständig unbekannte, unvollkommen bekannte ist, ist Konstruktion der Methode, in der Welt als Meinung zu ihrem Selbstsein für uns kommen müsste. Die Welt ist konstituiert als seiend – als seiende All-Einheit von an sich seienden Realitäten. Sie ist in der strömend weltkonstituierenden Subjektivität konstituiertes „Gebilde“, aber nicht als ein fertiges, gleichzustellen mit dem, was wir in der Naivität des natürlichen Weltlebens als ein durch Erzeugen fertig Gewordenes und nunmehr Fertiges erworben haben. Fertig ist allerdings immerfort und immerfort fertig gewesen ist der Seinssinn „seiende All-Einheit von an sich seienden Realitäten“. Aber es ist ein Seinssinn, ein in der strömenden Konstitution ständig Geltendes, eben wie ein Seinssinn, d. i. in der Ständigkeit des Spiels von erfüllter Vorgeltung und unerfüllter antizipierender Geltung. Doch ist nicht zu übersehen: Welt ist nicht konstituiert wie einzelne Reale; sie ist ursprünglich ständig sich wandelnder und doch vereinheitlicht verbleibender Horizont im jeweilig einzelnen Realen, unthematischer Horizont. Welt zum Thema machen und in gewisser Weise eine erfahrende Richtung auf Welt nehmen, Welt „erfahrend“ kennenlernen wollen, Welt als Universum möglicher Erfahrung sich zur Anschauung bringen wollen – all dem geht voran der unthematische Welthorizont. Und so bleibt hier das Horizontproblem gegenüber dem Problem, das unter dem Titel „Welterfahrung“ vorliegt.

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Das ist aber Reflexion, welche Welt schon thematisch macht auf Grund des Welthorizontes, der als unthematisches Weltbewusstsein vorangeht.

Nr. 10 Das strömende, sich durch Modalisierungen in Einstimmigkeit erhaltende Weltbewusstsein mit seinem Einfühlungshorizont und seinen Zeithorizonten 1

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Inhalt: Das konkrete strömende Weltbewusstsein, die konkrete Welterfahrung. Darin die abgehobenen konkreten einzelrealen Erfahrungen. Reduktion auf reine Erfahrung. Damit verzweigt sich der Begriff der Wahrnehmung und Erfahrung – sei es als Wahrnehmung und Erfahrung überhaupt, sei es als reine Wahrnehmung, reine Erfahrung – noetisch und noematisch. Wahrnehmung als Wahrnehmen und als Wahrgenommenes, das Objekt im Was und Wie. Seitengegebenheit, Nah-Fern-Orientierung, Unterscheidung der Geltungsmodi. Sein schlechthin, nichtiger Schein etc. (Möglichkeit), Modi der Aufmerksamkeit, der Beschäftigung. Äquivoke Rede von Erscheinung, die all das befasst. „Eigentliche Wahrnehmung“, Wahrnehmung schlechthin (Seinsgewissheit) mit dem Horizont der Fortgeltung, so lang sie reicht. Strömendes Weltbewusstsein mit der Struktur der Einstimmigkeit und der durchbrechenden Modalisierungen. In tersu b jek tiv. Systematische Analyse. Konkretes Weltbewusstsein in Seinsgewissheit, zunächst Gegenwartsbewusstsein (aber mitimpliziert Vergangenheit etc.), darin beschlossen Sonderwahrnehmungen gegenwärtiger Objekte in der Einheit einer Wahrnehmung. Strömend. Immanente Gegenwart, darin Weltgegenwart. Aber fremde Gegenwart mit fremder Weltgegenwart impliziert. Synthesis. Unendlicher Horizont von Mitsubjekten. Synthesis ihrer Lebensströme in mir impliziert als mein einheitliches Weltgegenwartsbewusstsein in Synthesis mit darin implizierten synthetischen Mannigfaltigkeiten fremder. Einstimmigkeit – Modalisierung. Intersubjektive immanente Zeitigung und intersubjektive objektive Zeit.

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Wohl 1933. – Anm. des Hrsg.

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§ 1. Die Reduktion auf die Welt rein als Welt der Erfahrung und auf meine konkrete strömende Weltwahrnehmung

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Immerfort ist für mich und ist für uns die Welt in Erfahrung als die, in der wir selbst als Menschen leben, in die wir hineinleben und der wir selbst als Weltgegenstände, weltliche Realitäten, zugehören, als Erfahrungsbestände. „E rf ah ru n g“ ist ein aus Wesensgründen vieldeutiger Ausdruck. Hier soll er besagen: das strömende konkrete Bewusstsein original bewusster (wahrgenommener) Welt bzw. original gegebener Weltgegenständlichkeiten. Dieses konkrete, original selbstgebende, wahrnehmende Weltbewusstsein trägt in sich als mitgeltend und in einer Teilhabe an dieser Originalität die Kontinuität meines subjektiven vergangenen Weltbewusstseins und darin wieder impliziert die horizonthaft mitgeltenden vergangenen Weltwahrnehmungen meiner Erfahrungsgenossen, desgleichen der vergangenen Weltsubjekte und ihre vergangenen Wahrnehmungen usw., wobei auch an die vorgezeichnete Zukunft künftigen Wahrnehmungsganges (eigenen und fremden) gedacht ist. Das alles ist impliziert. Das konkrete wache Weltbewusstsein und jedes darin abgegliederte Bewusstsein von Realem hat über das eigentlich Sich-selbst-Darstellende hinaus Geltungsmomente: die jeweilig „leeren“, unanschaulichen Meinungen, darunter auch die eventuell theoretischen Meinungen, die vielleicht grundlose, sachfremde, anschauungsfremde Meinungen sind.1 Wenn wir nun dies abstraktiv abscheiden bzw. abstraktiv die jeweils eigentlich wahrnehmungsmäßig für uns daseiende Welt auf die Welt reiner Wahrnehmung, reiner Erfahrung reduzieren, so verzweigt sich alsbald die abstraktive Überlegung und es verzweigt sich mehrfältig der Begriff der Wahrnehmung und Erfahrung, auch der Begriff der Erscheinung, des Aspekts eines Objekts und der Welt selbst, und dann insbesondere gewinnen auch die Rede von „reiner“ Erfahrung und die übrigen Begriffe als „rein“ gefasste verschiedene Bedeutungen.

1 Das Impliziertsein besagt offenbar: Das Weltbewusstsein hat den Charakter originaler Selbstgebung nicht als reine, sondern als apperzipierende Selbstgebung. Die Einheit der Weltgeltung hat Komponenten der Geltung.

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Vorweg beachten wir, dass „Wahrnehmung“, ganz allgemein gefasst, ob konkret oder im Sinn einer Reinheit, vieldeutig ist in einer der hier aus Wesensgründen unvermeidlichen Vieldeutigkeiten. Wahrnehmung als konkret selbstgebendes Bewusstsein (als erlebendes, als meinendes), dann ontisch Wahrnehmung als das im Charakter des „selbst da“, der Originalität bewusste Objekt, wieder Wahrnehmung als dieses wahrgenommene Objekt, aber im Was und Wie es bewusst ist, derart, dass Wahrnehmungen, Modi des Was und Wie in der Selbstgegebenheit desselben Objekts, unterschieden sind, während das wahrgenommene Objekt dasselbe bleibt. Das gibt nun mehrerlei Unterschiede, z. B. für die Körperlichkeit eines Objekts. Es kommen in Frage die Unterschiede der Seitengegebenheit, die Unterschiede der Nah- und Fernorientierung usw., in anderer Richtung die Unterschiede der Geltungsmodi, im strömenden Wandel der gelegentliche Wandel von „Sein schlechthin“ in „Schein“ oder auch in Seinsmöglichkeit, Vermutlichkeit, Zweifelhaftigkeit. All diese „Wahrnehmungen“ heißen auch „Erscheinungen“, und natürlich entsprechen ihnen korrelativ Modi des wahrnehmenden Bewusstseins, die äquivok ebenfalls „Wahrnehmungen“ genannt werden, je ebenfalls auch „Erscheinungen“ (also „Wahrnehmung“ bald als Wahrnehmen, bald als Wahrnehmungsinhalt in dem verschiedenen Sinn, Erscheinung bald als Erscheinen, bald als Erscheinendes und dies bald als erscheinendes Objekt schlechthin und Erscheinendes als Erscheinendes im Wie). Ferner ist zu notieren derjenige Unterschied im Wie, der darin besteht, dass Wahrnehmung einmal den Modus der erfassenden hat, in der das wahrnehmende Ich auf das Gegebene gerichtet ist, und das selbst in verschiedenen Modis (Aufmerksamkeit). Andererseits: Gegenmodus der „negativen“ Aufmerksamkeit. Ferner: Wahrnehmung im prägnanten Sinn ist Wahrnehmung im Geltungsmodus der Gewissheit. Sosehr wir keinen Anstoß daran nehmen, von Trugwahrnehmungen, von Wahrnehmungen von Schein zu sprechen, selbst da, wo wir der Illusion als Trugwahrnehmung bewusst sind, also die Seinsgeltung durchstrichen ist, so sagen wir doch wieder, wenn eine Wahrnehmung sich nachträglich als illusionär erweist, wir hätten damals nicht wirklich wahrgenommen, „es war“, sagen wir, „eigentlich keine Wahrnehmung“. Zu diesem prägnanten Begriff der Wahrnehmung gehört also das Dasein im Modus der Seinsgewissheit als dem Urmodus aller „Seinsmodalitäten“ als in-

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tentionaler Abwandlungen des Urmodus. Aber genau besehen noch mehr. Wahrnehmung als Momentanerlebnis ist nicht alles; jede erlebnismäßige Geltung hat ihren Horizont der Fortgeltung. Sowie dieses in einem neuen Erlebnis, statt wieder aufgenommen zu werden, vielmehr gebrochen und vor allem durchstrichen wird, heißt die frühere Wahrnehmung, trotzdem sie Wahrnehmung in Seinsgewissheit war, jetzt nicht mehr „Wahrnehmung“. Meine konkrete strömende Weltwahrnehmung hat nun ihren Vergan gen h eit sh o rizo n t vergangener konkret strömender Weltwahrnehmungen. Jede Wachphase meines Lebens, des erinnerungsmäßig zu reproduzierenden, war Weltgewissheit, wie die jetzige Weltgewissheit ist. Aber vergangene Wahrnehmung gilt jetzt noch, soweit sie nicht Durchstreichungen und überhaupt Modalisierungen erfahren hat und jetzt noch rückgreifend erfährt, durch welche die vergangenen Wahrnehmungen weggestrichen werden, oder noch in Schwebe bleibt, ob sie gelten dürfen oder nicht. Durch das wahrnehmende Weltleben hindurch geht, wie die rückschauende Reflexion ohne weiteres lehrt, ein Pro zess d er Mo d alisieru n g, und zwar als ein Prozess der Korrektur hinsichtlich des synthetischen Universums der wahrnehmungsmäßigen Geltung. Die Welt, die da im Prozess des Weltbewusstseins als originaliter gegeben gilt und ihre Gewissheit der Fortgeltung immerzu entwirft, ist ausschließlich gemeint und in Gewissheitsgeltung als die Welt unmodalisiert bleibender Wahrnehmungen, der jetzigen, solange sie unmodalisiert sind, und aller als frühere Jetzt zu vergegenwärtigenden und jetzt noch fortgeltenden. So ist es in jedem Jetzt, und so war es in jeder subjektiven Vergangenheit. Aber was damals in der konkreten universalen Synthesis des weltwahrnehmenden Bewusstseins als wirklich wahrnehmungsmäßige Welt galt und hinsichtlich der ihr einwohnenden vergangenen Weltwahrnehmungen als wirklich vergangene Welt, Welt der „wirklichen und eigentlichen“ früheren Wahrnehmungen, das gilt jetzt nicht so ohne weiteres noch als wirkliche Welt, vermöge der inzwischen vonstattengegangenen und selbst in Geltung gebliebenen (nicht etwa zurückgenommenen) Korrekturen.

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die horizontstruktur der welterfahrung § 2. Die strömende Weltwahrnehmung und ihr Einfühlungshorizont. Darin konstituiert eine intersubjektive Gegenwart und die Welt als unser aller Welt

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Nun bedenken wir, was in Frage kommt durch die zu meinem wahrnehmungsmäßig konkreten Weltbewusstsein gehörigen Horizonte wirklicher und möglicher Einfühlung und die Einheit der aktuellen und potentiellen Synthesis meines selbsteigenen Weltbewusstseinslebens mit den vielen Weltbewusstseinsprozessen der Mitsubjekte dieser Einfühlungen. Auch da gilt als wirkliche Welt – die unsere und nicht bloß meine – nur das, was mir in der Enthüllung fremder Wahrnehmung mitgilt, aber auch in wechselseitig vergemeinschafteter Wahrnehmung sich als gemeinschaftlich gültig herausstellt und fortgilt. Was ergibt sich hier nun an Scheidungen? Mein konkretes strömendes gegenwärtiges Bewusstsein ist von der Welt wahrnehmendes Bewusstsein, und zwar Weltgegenwart wahrnehmend; sie gibt sich durch originale Seinsgewissheit. In diesem strömenden Gegenwartsleben – worin zu scheiden ist das subjektiv für mich jetzt vonstattengehende Leben in seiner eigenen immanenten Zeitlichkeit von der darin bewussten darin „erscheinenden“ Weltgegenwart – sind impliziert mancherlei aktuelle Wiedererinnerungen und die von mir vermöglich aufzuweckenden mannigfaltigen sonstigen Wiedererinnerungen. Und in der vermöglich von mir herzustellenden Synthesis kann ich den Gang der früheren Bewusstseinsströme dann auch unvollkommen, so als zu vervollkommnend, wiedervergegenwärtigen und dessen innewerden, dass m eine Bewusstseinsgegenwart und dann jede zu erweckende frühere einen Horizont der Vergangenheit, meiner immanenten Lebensvergangenheit, hat – mit dem Sinn eben, dass das, was ich jeweils im Einzelnen zur Erweckung und Wiederanschauung bringen kann, nicht alles ist, sondern dass ich so immer wieder kann, rückschreitend und von da zur aktuellen Lebensgegenwart vorschreitend, in der alles Vorschreiten schließlich terminieren muss. Dieser subjektive zeitliche L eb en sst ro m (mein primordialer) ist durchgängig, soweit mögliche Wiedererinnerung auch reichen mag, S trom von Weltwahrnehmungen; jede Phase als konkrete Gegenwartsphase ist, einheitlich genom-

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men, „Weltwahrnehmung“, Seinsgewissheit des Inhalts „Welt“. Das ist sie zugleich in der Weise, dass sie jeweils eine Mannigfaltigkeit von Sonderwahrnehmungen, Wahrnehmungen von einzelweltlichen Objekten, in sich birgt, in einer synthetischen Einheit verbundenen, durch die sie eben nicht ein Haufen von Einzelwahrnehmungen ist, sondern ein G an zes d er Wah rn e h m u n g: We l t w a h r n e h m u n g. In ihr sind die Einzelwahrnehmungen unselbständige Momente, wie auch leicht in näherer Analyse aufzuweisen. In dieser konkreten strömenden Totalwahrnehmung treten neue Wahrnehmungen mit ihren Wahrnehmungsobjekten ein und andere wieder aus. So ist das „Ganze“ nicht gleichend einer Einzelwahrnehmung und ihrem (solange sie Gewissheitsmodus innehält) ständig selbigen Objekte. Aber das in den Einzelheiten wechselnde Wahrnehmungsuniversum bildet doch eine Gegenwartseinheit der Selbstgebung, und zwar für Weltgegenwart als Ganzes immerfort eine Einheit der Gewissheit. Doch haben wir diesem Unterschied und überhaupt den immer ungeschiedenen Modalisierungen hier ausdrücklich genugzutun. Achten wir darauf, dass die Wahrnehmungsgegenwart in ihrer Konkretion auch aktuelle und potentielle Einfühlung impliziert und dass damit vermöge der eigenen Art dieser neuartigen Vergegenwärtigungen gegenüber denjenigen, die mir eigene Lebensvergangenheit und -zukunft bewusst machen, nunmehr fremde Lebensgegenwart und fremde Lebensvergangenheit und -zukunft als Im p lik at e auftreten. Ich habe nun nicht nur die Synthesis meiner „eigenen“ immanenten Zeit, in der die Einheit meines eigenen Lebensstroms in seiner eigenen Lebenszeitlichkeit mir stets horizonthaft mitbewusst ist in meiner Lebensgegenwart und bewusst als erinnerungsmäßig aufzuschließen, sondern es ist in meiner Lebensgegenwart und als zugehörig zu jeder früheren Lebensgegenwart auch mitbewusst in der Weise eines aufzuschließenden Horizonts eben der E in f ü h lu n gsh o rizo n t, durch den Sein und Bewusstseinsleben fremder Bewusstseinssubjekte für mich da ist. In der Einheit der Implikation habe ich also den in sich einheitlichen synthetischen Zusammenhang meines Lebens in seinem jetzt Strömen als Geströmt-Haben und Strömen-Werden; und wenn ich mich in die diesem Strom überall zugehörigen Einfühlungen „einlasse“ – ähnlich wie wenn ich, mich in zum Jetzt gehörige Erinnerungen einlassend, von der in sich geschlossenen Gegenwart aus in die eigene

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Vergangenheit eindringe –, dringe ich ein in die (zur Implikation meines eigenen Lebens gehörigen) „fremden“ Lebensströme, die ihrerseits, wie die meinen, Einfühlungshorizonte haben, auf die ich mich wiederum in Mittelbarkeit des Einfühlens und die Einfühlungsgewissheiten Aktualisierens einlassen kann und so in infinitum, und so für Vergangenheit und Zukunft. Alles, was da in meiner strömenden wachen Gegenwart impliziert ist, bildet mit dieser eine Einheit potentieller und selbst implizierter Synthesis. Es ist ein einheitlicher synthetischer Horizont so wie in der abstraktiv herausgehobenen Sphäre meines „eigenen“ Lebens der synthetische Sonderhorizont meiner immanenten Zeitlichkeit, in dem ich durch Aktualisierung meiner implizierten Vergangenheit in Wiedererinnerungen mein konkretes Vergangensein, das meines Lebens, zur Wiederanschauung, eben zur Wiederverwirklichung bringe. Die T o t alsyn t h esis verknüpft meine immanente Lebenszeit mit der offenen „Unendlichkeit“ horizonthaft für mich bekannter oder unbekannter Mitsubjekte: in explizit erinnerten Einfühlungen bestimmter für mich mitgegenwärtiger und mitvergangener Subjekte sowie mitzukünftiger und unbestimmter Subjekte in der Weise offener Möglichkeiten. Es ist dabei ständig konstituiert eine in t ersu b jek t ive G egenw art als synthetische intersubjektive Simultaneität von Lebensströmen als Gegenwartsströmen, deren jeder in jedem anderen horizonthaft impliziert ist und deren jeder seine eigene Vergangenheit in der Art impliziert, dass er sie impliziert als eine Vergangenheit der einfühlungsmäßig implizierten simultanen Vergangenheit seiner Mitsubjekte in offener Unendlichkeit. So für Zukunft. In der Gemeinschaft als Wech selgem ein sch af t liegt, dass in meiner Gegenwart mein simultanes Wir-All impliziert ist und dass diese Allheit für jedes Subjekt meines Wir ein u n d d ieselb e und erschließbar dieselbe ist. Diese universale Synthesis, die latente und die meiner strömenden patenten Synthesis, meiner strömenden konkreten Gegenwart „potentiell“ einwohnende, ist strömend ständige Synthesis von Weltwahrnehmungen, und zwar selbst E in h eit ein er st rö m en d en Weltwahrnehmung, in welcher die Welt in ihrem ständigen Seinssinn als unser aller Welt, als uns allen bewusst werdende und selbst original bewusste Welt, wahrgenommen ist. Aber dieses Wir-All motiviert hier natürlich nicht nur die Allheit der simultan in der Einheit in-

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tersubjektiver Gegenwart Verbundenen, sondern vermöge der Konstitution immanenter intersubjektiver Zeitlichkeit die vergangene Simultaneität und die künftigen immerzu horizonthaft vorgemeinten Simultaneitäten.

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§ 3. Die zum strömenden Weltbewusstsein gehörigen Modalisierungen der Wiedererinnerung und der Einfühlung Doch das alles erhält rechten Sinn erst durch eingehende Rücksichtnahme auf die Mo d alisieru n gen, die zum strömenden Gegenwartsleben gehören und mit den in ihm jeweils aktuell werdenden Erinnerungen und Einfühlungen auftreten und dann selbst in die Vergangenheit versinken, aber nie ohne nachhaltige Leistung. Zunächst kommen in Betracht die zur Synthesis der Lebensströme und jedes einzelnen Lebensstroms in seiner Eigengeschlossenheit gehörigen Modalisierungen der Wiedererinnerung als solcher und der vergegenwärtigenden Einfühlung als solcher. Hier entscheidet sich nicht, was weltlich als seinsgewiss standhält und sich als das eventuell im engeren Sinn bewährt, sondern was wirklich als mein eigenes vergangenes Sein, insbesondere als mein eigenes vergangenes Leben war. Immanente Wiedererinnerungen halten gelegentlich ihre Seinsgewissheit nicht fest. Im Urmodus hat Erinnerung für mich jetzt Vergangenheitsgewissheit, nämlich Gewissheit des Wahrgenommenhabens, d. h. des als originale Lebensgegenwart Bewusstgewesenseins. Diese Gewissheit kann aber Modalisierung erfahren und zu Durchstreichung führen. Aber unzerbrechlich ist trotzdem die Gewissheit, dass ich war, dass ich ein vergangenes Leben hatte; denn wenn nicht dieses selbst eine Vergangenheit war, war eine andere, die ich schließlich durch Eindringen in den latenten Erinnerungshorizont finden muss. Ich merke auch, dass „Evidenz“ der Erinnerungstäuschung gerade im Feld der selbst-erinnerungsmäßigen Vergangenheit ihre Stätte hat, nämlich als offenbarwerdender Widerstreit einer partialen, zunächst in Gewissheit auftretenden Erinnerung (immanenten Erinnerung) mit anderen in ihrer Gewissheit fest bleibenden und sich fortbewährenden Erinnerungen. Am „Sicheren“, „Gewissen“ zerschellt das mit ihm Streitende. Freilich

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bedarf es der Aufklärung, warum eine einstimmige Selbstvergangenheit sich dabei muss herausstellen lassen, da doch das Standhaltende, in der Sicherheitsgeltung doch dasselbe, auch modalisiert werden könnte im Streit wieder mit anderem usf. Jedenfalls, ohne dieses Problem zu lösen, nehmen wir hin, dass Einheit einer Vergangenheit eigenen Bewusstseinslebens unzerbrechliche Gewissheit ist, wobei diese Vergangenheit den Seinssinn hat einer aus Selbsterinnerungen zu erschließenden. Es ist also das Erinnerungsleben ein solches, das zwar Modalisierungen im Einzelnen erleidet, das aber doch eigener Vergangenheit und von da eines Horizonts nächster Zukunft in jeder Lebensphase gewiss ist; und zu ihr gehört die Potentialität, sie konkret anschaulich, wie sie wirklich war, herausstellen zu können, also die Modalisierungen ausgleichen zu können zu einer standhaltenden Einstimmigkeit. Aber ohne eine wirkliche und gar ständige Aktivität macht es sich sozusagen von selbst, dass Einheit eines Vergangenheitshorizonts mit dem Sinn eines einstimmig Seienden, einstimmig gewiss zu Machenden, allzeit konstituiert ist und dass die vorkommenden Täuschungen im weiteren Gang in Form aktueller Durchstreichung „ausgeschieden“ werden und Ersatz finden durch das an dessen Stelle Gewesene, also in fortgehender Selbstkorrektur. Ebenso für den Zukunftshorizont und hinsichtlich der darin explizit auftretenden Vorerwartung. Hier finden wir aber zugleich ein Erstaunliches: Die Modalisierungen sind selbst zum strömenden Leben gehörige Vorkommnisse und gehen als das in die Erinnerung ein. Auch diese Erinnerungen könnten doch eventuell täuschend sein, und es wiederholt sich für die Modalisierungen und für die eventuellen Modalisierungen wieder der Modalisierungen (die als Modifikation von Gewissheiten selbst etwas sind und in einer Gewissheit höherer Stufe sind) das soeben Gesagte. Und doch fügt sich alles in die Einheit einer immanenten erfüllten Zeitlichkeit dadurch, dass die rückgreifende Korrektur eine neue Gegenwart ist, die als das sich zeitigt und zu einer neuen Vergangenheit wird: Wobei aber in der Aktualisierung der Vergangenheit Erweiterungen, Überschreitungen u. dgl. eintreten können. Eine zweite Sphäre von Modalisierungen ist dann diejenige, welche nicht das immanente Sein der Einfühlungen im Bewusstseinszusammenhang, sondern ihre vergegenwärtigende Funktion, die Seinsgewissheit des darin vergegenwärtigten F rem d en be-

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trifft. So wie die Erinnerung im konkreten Zusammenhang der Bewusstseinsgegenwart etwas in ihr Nichtgegenwärtiges vergegenwärtigt, eine diese Gegenwart transzendierende Leistung vollzieht und als schlichte Seinsgewissheit modalisierbar ist, so transzendiert die E in f ü h lu n g nicht nur die Bewusstseinsgegenwart meiner, des die Einfühlung in ihr Tragenden, sondern in eins mit der Bewusstseinsgegenwart das gesamte zukunftsmäßig in ihr als jeweilige gesamte Lebensvergangenheit und Lebenszukunft Mitgeltende. Es ist zu beachten, dass, wenn wir in dieser Kontrastierung von Bewusstseinsgegenwart sprechen, wir schon abstrahiert haben von dem Fungieren der Geltung, die in die Vergangenheit hineinreicht. Mit anderen Worten: Die aktuellen Wiedererinnerungen oder Vor-und Miterinnerungen, die in der lebendig fortströmenden Bewusstseinsgegenwart auftreten (und so sie ganz), nehmen wir, als wie sie selbst immanent originaliter bewusst sind: als originales Jetzt. Aber dieses Jetzt, das z. B. „Wiedererinnerung“ heißt, ist Medium eines zweiten Geltens, einer Seinsgewissheit, die das in der Jetzt-Erinnerung Erinnerte zur Geltung bringt – und so für die gesamte Potentialität, die als Horizontbewusstsein eine gewisse und explizite Seinsgewissheit darstellt, die das ganze Spiel explizierender Wiedererinnerungen im Voraus expliziert und in einem Schlage die Bewusstseinsvergangenheit in Geltung setzt. Und ähnlich hinsichtlich der Bewusstseinszukunft. E b en d ies in der konkreten lebendigen Gegenwart, in der Totalität der in ihr expliziten und impliziten Seinsgewissheit, betreffend mein totales bewusstseinsmäßiges Leben, t ran szen d iert d ie E in f ü h lu n g, die doch selbst zur vollkonkreten lebendigen Gegenwart gehört: Sie ist einerseits Bestand meines totalen Bewusstseinslebens, als aktuell jetzige Einfühlung zu der Einheit meines Lebens gehörig, aber andererseits in ihrer transzendierenden Geltung hinsichtlich des in ihr Vergegenwärtigten dieses mein Leben ganz und gar in ihrer Geltung übersteigend. Was sie zur unmittelbaren Geltung bringt als aktuell direkte Einfühlung ist ein anderes Ich und Ichbewusstsein und damit ein zweites Lebensganzes, als in dem meinen in anderer und doch im Wesen ähnlicher Weise in der Konkretion meines eigenen Seins impliziert, wie meine Vergangenheit impliziert ist als Seinsgeltung und Seinssinn in meiner aktuellen originalen Gegenwart.

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die horizontstruktur der welterfahrung § 4. Der Einfühlungshorizont als Geltungshorizont

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Nun ist aber auch dem Rechnung zu tragen, dass in der gesamten horizonthaften und explikablen Einheit meines Bewusstseinslebens immer wieder die und jene Einfühlungserlebnisse vorgehen und immer wieder (von den Ausnahmefällen notwendig gewordener Modalisierungen sehen wir zunächst ab) auftreten und unvermeidlich als Vergegenwärtigungen, als Geltungen, die das Bewusstein transzendieren. Das sagt: In der Konkretion meiner lebendig strömenden Bewusstseinsgegenwart haben wir immer und notwendig nicht nur Wiedererinnerungs- und überhaupt Erinnerungsgeltungen im Horizont, neben den einzelnen jeweils auftretenden aktuellen Erinnerungen, sondern auch einen E in f ü h lu n gsh o rizo n t als Geltungshorizont. In meinem lebendigen bewusstseinsmäßigen Sein ist im m erzu auch fremdes bewusstseinsmäßiges Sein, fremdes Ich, fremdes Leben impliziert, wie immer wieder betont werden muss, in einer analogen Transzendenz aus Implikation wie hinsichtlich der Seinssphäre der Erinnerung, die ich als mein eigenes Sein nun begreiflich von dem fremden unterscheide. Aber auch das Fremde ist in meinem Sein transzendent-impliziert: Ich bin, der ich bin, aber als Ich seiend, trage ich Andere als für mich seiende in mir und somit als von mir, der ich bin, untrennbar. Sowie aber der Andere Geltungseinheit in mir ist, ist er mit diesem Sinn „Anderer“ zugleich anderes Ich, das in seinem Sein das meine impliziert. Nun haben wir zudem zu berücksichtigen die impliziten intersubjektiven Beziehungen: der Andere in seinem Horizont Andere tragend, die ich in meiner unmittelbaren Einfühlung nicht unmittelbar in mir impliziert finde, aber wohl durch die Anderen hindurch in mittelbaren Einfühlungen. Und so habe ich und haben wir schließlich einen Einfühlungshorizont, der mittelbar selbst wieder Einfühlungshorizonte in der Weise einer offen– endlosen Mannigfaltigkeit von Anderen der Anderen der Anderen in sich trägt und, wie noch zu erörtern wäre, zugleich in einer offenen Potenzialität, in indefinitum Andere, die ich nicht wirklich erfahren habe, einfühlungsmäßig erfahren zu können. Nun haben wir die Einfühlung, die Erfahrung vom alter Ego, von Anderen als Anderen, rein als intentionale Implikation von fremdem Bewusstseinsleben (mit dem darin immanenten Ich) im eigenen –

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und so wechselseitig – betrachtet. Wir haben dabei gar nicht berücksichtigt, was wir doch vorweg betont haben, dass das lebendig strömende Bewusstsein Welt b ew u sst sein, sogar Weltwahrnehmung ist. Transzendiert mein Bewusstseinsleben, abgesehen von seinem einfühlenden Transzendieren, sich nicht ständig unter dem Titel „‚äußere‘ Wahrnehmung“ oder, um das gefährliche Wort zu vermeiden, „Wahrnehmung von raumzeitlich Realem, von Weltlichem“ und universal unter dem Titel „Welt“? Andererseits, ist nicht jede Einfühlung schon weltlich? Was ich da, mein Leben transzendierend, als fremdes mitgegenwärtiges Leben zur Seinsgewissheit bringe, ist doch nicht bloß Bewusstseinsleben, sondern Seelenleben, erfahren psychophysisch als einen weltlichen Leib beseelend. Und so ist ein Mensch für mich da und für mich da als Bestandstück der Raumwelt und einer Zeitlichkeit, die Raumzeitlichkeit ist. Das ist natürlich richtig. Aber die intentionale als wirkliche Explikation vollzogene Analyse des transzendentalen eigenen Lebens in seiner Selbsttranszendenz zeitigt hier die Fundierungsverhältnisse verschiedener transzendierender Funktionen, die ständig mit anderen verflochten fungieren, für uns, die wir uns besinnend uns vorweg als Menschen und als Welt Erfahrende finden. Beständig sind verflochten mit den Transzendenzen der vergegenwärtigenden Funktionen Transzendenzen durch das, was wir „mundane Wahrnehmung“ nennen, was aber seinerseits im vollen Sinn mundane Wahrnehmung nur ist unter Mitweckung von vergegenwärtigenden Funktionen. Aber mundane Wahrnehmungen (also als schon voll genommen mit allen diesen Funktionen in ihrer Einheitsleistung) erfahren abermals Vergegenwärtigung; und es sind außerordentliche Schwierigkeiten zu überwinden, um eine vollkommene Klarheit der Weise durchzuführen, wie die ständige Einheitsleistung „Welt“ transzendental zustande kommt, in welcher Bewusstsein selbst, das alle transzendentale Leistung in sich impliziert, mit seinem sie alle vollziehenden Ich, verweltlicht erscheint, wie die Objektivation leistende Subjektivität selbst in objektivierender Apperzeption zu dem apperzeptiven Sinn „Mensch“ (und „Tier“) kommt, während doch immerzu aktuell leistende Subjektivität vorausgesetzt ist, aber verborgen bleibt.

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die horizontstruktur der welterfahrung Beilage VII Ein Grundstück der Lehre von der Horizontstruktur der Welterfahrung: anschauliche Kernsphäre und Außenhorizont mit seiner stehend-strömenden Nah-Fern-Struktur1

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Inhalt: Ein Grundstück zur Lehre von dem Horizont in der schlichten Welterfahrung: Kernschichtung im Horizont. Die iterative Weckung im Gang der Erfahrung (in kontinuierlicher Implikation). Gradualität der Lebendigkeit in der Mittelbarkeit dieses Ineinander der Weckung und Limes Null als ständig 10 durchströmte Form.2

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Überlegen wir die Wesensstruktur der Welt, soweit sie von der Kernsphäre der Erfahrung, vom Wahrnehmungsfeld, aus einen lebendig mitvorgezeichneten Außenhorizont hat. Das ergibt in der Horizonthaftigkeit der jeweiligen Erfahrungswelt selbst einen „Kern“, dessen Außenhorizont in einer Potenzialität besteht, von lebendiger Erfahrungsumwelt zu neuer Erfahrungsumwelt fortschreiten zu können, von Vorzeichnung zu neuer Vorzeichnung.3 Es ist schwer, sich hier klar auszudrücken. Es ist hier eine It erat ion in den W ec kungen, und zwar einer Mittelbarkeit ineinander implizierter wirklicher und möglicher Weckungen. Die nächste und die nächstfolgenden sind in einer Gradualität der Lebendigkeit, der aktuellen Gewecktheit. Diese hat einen Li m es, ein Null, der Gewecktheit. In der strömenden Erfahrung bleibt zwar diese Form bestehen, aber es wandelt sich zugleich der jeweilige Grad der Weckung innerhalb einer strukturellen Systematik. Indem die Erfahrung so „fortschreitet“, dass nächste Außenhorizontintentionen (Weckungen) zur Erfüllung kommen, also neue Reale in die selbstdarstellende Erscheinung treten, findet zugleich im übrigen Außenhorizont, in seiner „Vorzeichnung“ ein Wandel statt. Die Vorzeichnung, die unterschiedene Weckung, hat selbst ihre „Erfüllung“, nämlich in dem Sinne, dass das Fernere zum Näheren wird: Das Nächstmittelbare ist zum Unmittelbaren der eigentlichen Erfüllung, der Wahrnehmung, geworden, das Mittelbare des Mittelbaren zum Nächstmittelbaren usw. Es ist immer ein Äußerstes, ein Null, in diesem Gang. Aber was soeben das Letztmittelbare war, erhält in diesem Wandel ständig von neuem eine neue Vorzeichnung einer weiteren Ferne, die ihrerseits das Null für sie vorzeichnet.

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März 1933. Gehört zu März 1933, 8 Bl. 1 ff. = Text Nr. 11. Kernschichtung im Horizont.

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Diese Struktur aber zeichnet sich selbst kontinuierlich vor. – Das sagt: Wir haben nicht nur eine strömende Intentionalität der Nähe und Ferne hinsichtlich der Erfüllung als Wahrnehmung und der sekundären Quasi-Erfüllung der nicht-wahrnehmungsmäßigen Näherung, sondern eine mitströmende Iteration und Implikation der Erweckungen des äußersten Horizontes. Der ganze Prozess in seiner Struktur des Strömens ist nicht nur Strömen, sondern Bewusstsein in Vorzeichnung der Struktur dieses Strömens. Natürlich ist die ständige Gewissheit dieser Vorzeichnung selbst ein Strukturmoment, aber nicht ontisch als Seinsgewissheit von der darin erfahrenen Welt, sondern Seinsgewissheit hinsichtlich der immanenten Struktur der im erfahrenden Ego strömenden Erfahrungen als subjektiven Gegebenheitsweisen von der Welt. Das ist also ein Fundamentalstück der intentionalen Außenhorizontanalyse, der Nachweis ihrer strömend-stehenden Nah-Fern-Struktur mit dem Abschluss Null als stehende Form (äußerster Horizont). Im anschaulichen Kern der strömenden Weltwahrnehmung haben wir dann die anschauliche Nah-Fern-Struktur. Zugleich ist zu berücksichtigen für die Methodik der Analyse: 1) Das Wahrnehmungsfeld in seinem strömenden Wandel ist ständig zugleich weckend-vorzeichnend und geweckt, vorgezeichnet von früheren Stadien. Von ihm geht die Horizontintention aus, als in ihm verwurzelte, aber es selbst ist Erfüllung der vorgängigen Horizontintention. Konkret genommen ist es ein einheitlicher Prozess der Apperzeption, eine einheitliche Apperzeption, eine konkret einheitliche Intentionalität, alle Partialintentionalitäten in sich fassend (bzw. alle Partialapperzeptionen). Stehend-strömend haben wir: a) eine k on kr ete E in heit er füllter I ntentionalität (in Erfahrung, Selbstdarstellung), natürlich relativ konkret; b) als ihr Wesenskorrelat den stehend-strömenden Leerhori z ont. Stehend-strömend haben wir die Universalform in diese beiden Ergänzungsformen gegliedert, und jede hat ihre Nah-Fern-Struktur. 2) Dann aber dürfen wir nicht vergessen, dass wir das Wissen um diese Struktur der primordialen Einstellung und in ihr der Reflexion und reflexiven Erinnerung verdanken. 3) Andererseits noematisch-ontisch: Das Weltbewusstsein als Welt erfahrendes ist zwar konkret-horizonthaft ständig Welt wahrnehmendes, aber die wahrgenommene Welt ist Weltgegenwart einer Weltvergangenheit und -zukunft, mit diesem Seinssinn selbstgegeben. Demgemäß besagt „W el t hori z ont“ Weltgegenwartshorizont, im Strömen ständig Weltgegenwart horizonthaft vorgezeichnet habend und neu vorzeichnend. So ist ständig Weltgegenwart wahrgenommen in universal wahrnehmender Apperzeption – aber

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Weltgegenwart der Weltvergangenheit etc. Die Weltapperzeption, als Welt in Zeitweiligkeit und primär als Gegenwart selbstgebend, ist mittelbar auch „selbstgebend“ als apperzeptiv mit in Geltung habend die Vergangenheit und Zukunft, und dadurch wieder die im Strömen der Zeitmodalitäten als 5 Einheit sich darstellende identische Zeit selbst und Welt selbst.

Nr. 11 Vorgegebenheit und Horizont. Horizontvorgegebenheit von vorgegebenen Realen. Verschiedene Modi von Vordergrund und Hintergrund. Milieu d es Unbewussten. Innenhorizont und Außenhorizont1

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In der Thematisierung eines jed en Realen ist die Richtung auf das Körperliche in seinen extensionalen Bestimmungen bevorzugt. Zum Beispiel der Mensch wird ursprünglich erfahren dadurch, dass der menschliche Körper in seinem Typus organischer Körperlichkeit apperzipiert wird; auch wenn er nicht fortgehend expliziert wird, er muss als menschlicher Leib in seinem physischen Typus wiedererkannt sein, damit der Mensch als Mensch erkannt sein kann. Das ist freilich wohl zu verstehen. Es ist nicht erst ein bloßer Körper für mich da, wahrnehmungsmäßig als ein Reales für sich, sondern vorgegeben im vorgegebenen Feld ist das Reale „Mensch“. Die Zuwendung geht über in Explikation: Im Durchgang durch die Auffassung des Körperlichen und im Einzelnen in den Momenten, die Seelisches „ausdrücken“, wird die Person als die diesen körperlichen Leib habende und in ihm waltende explizit erfahren. So wird aber das Reale „Mensch“ erfahren, d. i. explizit erfahren. Das sagt: Was da im Durchgang und bloß als Brücke zum jetzt eigentlich Interessierenden, dem Thematischen, apperzipiert wird, ist weiter in Mitgeltung in eins mit dem Personalen, das als beseelend zu thematischer Sondererfassung kommt. Oder: Habe ich im Wahrnehmungsfeld einen Menschen und richte ich den Blick auf ihn, so ist er als Reales dieses Feldes in einem erfassenden Strahl erfasst in seinem allgemeinen Typus, dem regionalen Typus „ein Mensch“. Aber das Reale dieser Region hat nun seine wesenseigene Weise, sich in seinem Sein zu entfalten, seine Soseinsmomente, seine Bestimmungen explizit zu zeigen. Nämlich: Fundierend ist die S elbstdarstellung der Körperlichkeit. Sie ist fundierend für die Selbstdarstellung des Ichlichen. Was besagt nun diese Fundierung?

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Das konkrete Reale ist zu n äch st sch lich t gerad eh in selb st gegeben, auf Grund der Affektion in einem erfassenden Strahl erfasst, und zwar schon, als was es ist, aber so, dass seine Washeiten, sein Seinssinn, der ein mannigfaltiger und systematisch gebauter Seinssinn ist, noch eingewickelter, unentfalteter (impliziter) Seinssinn ist. Diese „implizite“ Gegebenheitsweise ist eben ein allgemeiner Modus in aller Erfahrung. Schon1 während das Reale „Hin t ergru n d“-O b jek t ist, gilt, dass es in einem Modus der Selbstdarstellung bewusst ist, der eine implizite Sinnesstruktur in sich trägt. Darüber belehrt uns die Reflexion, und zwar im Ausgang von aktiver Erfahrung. Rückschauend erfassen wir darin den Hintergrund an dem Realen selbst, mit dem wir aktiv uns beschäftigen, erfassen wir rückschauend den Einsatz der Beschäftigung, die vorangehende Affektion, auf welche die Zuwendung erfolgt, und von da den Übergang in Explikation. Was die Affektion anlangt, so erschauen wir, dass sie ebenfalls (so wie die einsetzende Zuwendung) einstrahlig ist, wobei das Hintergrund-Reale natürlich unexpliziert ist. Aber es h at Implikate, es hat eine implizite Sinnesstruktur. Das sagen wir eben in der Identifikation des in Explikation stehenden Realen mit demselben, das vorhin schon als HintergrundReales bewusst war und affizierte und als dasselbe, d. i. als das, dessen Sein, in seinen Sonder-Istheiten, in seinen Bestimmungen soeben sich auslegt oder ausgelegt hat. So scheiden wir Hintergrundmodus vor der Affektion und in der Affektion, sich wandelnd in den aktiven Modus des Vordergrundgegenstandes vor der Explikation und dann in den Prozess eben dieser, der Entfaltung der Ist-heiten, durch die also der Seinssinn sich erst zeigt, zutage kommend. Diese Explikation ist aber eine „sinnvoll“ geordnete; die Explikate sind keine Haufen, sondern Sinn als Bestimmung kann jeweils nur hervortreten in einer Ordnung, sofern schon explizierter Sinn die Voraussetzung ist, damit neuer Sinn hervortreten kann, und das, weil früherer Sinn mit eingeht in den späteren Sinn, dieser jenen als Sinn, als Gemeintes voraussetzt. Diesen und allen Modis der Gegebenheit entsprechen Modi der Seinsgewissheit, der Seinsgeltung; sie sind selbst nichts anderes als 1

Von hier eine ganz allgemeine Analyse der Horizontvorgegebenheit jedes vorgegebenen Realen.

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Seinsgeltungen jeweiligen Sinngehaltes. Ob die realen Gegenstände vordergrundmäßig oder hintergrundmäßig bewusst sind – sie sind für u n s, und zwar sie sind für uns „da“, „gegenwärtig“ in einem ausgezeichneten Sinne, im „Wahrnehmungsfeld“ als sie selbst originaliter wahrgenommen. Ähnlich im Falle einer zugleich auftauchenden und zu Anschaulichkeit durchdringenden Wiedererinnerung hinsichtlich des Wiedererinnerungsfeldes. Das verweist offenbar auf neue Modi der Seinsgeltung und der Gegebenheitsweise von Realem überhaupt. Wir haben dann neue Modi der Hintergründe. Das ganze Wahrnehmungsfeld kann Hintergrund sein, wenn wir uns einer Erinnerungsaffektion hingeben, wobei im Erinnerungsfeld, das als Ganzes eine gewisse Vordergründlichkeit, eine Weise der Vor-Geltung hat, sich wieder scheidet das speziell Affizierende, das primär (und sekundär) Erfasste, gegenüber dem Erinnerungshintergrund. Umgekehrt kann Erinnerung noch vorschweben und „verschweben“, aber das Wahrnehmungsfeld den Vorzug haben. Endlich von Wichtigkeit ist ein ganz anderer, nie fehlender Hintergrund, der sich wesentlich scheidet von all dem, was bisher Vorderund Hintergrund hieß, „hinter“ all dergleichen liegend. Nämlich das Bisherige liegt im Rahmen des Bewusstseinsbegriffes im ausgezeichneten Sinne (innerhalb dessen der speziellste, bevorzugteste der der gewöhnlichen Rede ist: das aktive Bewusstsein, das der Modi der Aufmerksamkeit, des Auf-etwas-Gerichtetseins überhaupt). Den Kontrast bildet das entsprechende „Unbewusste“1. Es handelt sich hier aber auch um den „dunklen“, unanschaulichen Horizont mitgeltender Realen in den Geltungsmodis der Erinnerungsintentionalität mit der ontischen Sinnesform der realen Raumzeitlichkeit, in einem intentionalen Ineinander, das ein Außereinander darstellt, ein Außereinander von potenziellen Anschauungsfeldern mit den zugehörigen potenziellen Hintergründen und Vordergründen, wie sie oben beschrieben wurden, – und diese ganze Kontinuität als ein Reich möglicher Weckung, möglicher Affektion, und in Auswirkung der Affektion hier führend zu Reaktivierung als Wieder-anschaulichWerden, als anschauliche „Erinnerung“.

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1) Unbewusstes als unthematischer Hintergrund; 2) Unbewusstes als ungeweckt Mitgeltendes.

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Es ist klar, dass auch hier nur vom Erlebnisfeld der wirklich erfahrenden Anschauung her und von der in eins mit ihr anschaulich auftretenden Affektion des unanschaulichen „Hintergrund“-Objektes her eine Rückbesinnung auf das für mich ständige Sein der Horizontsphäre möglich ist, die dem unbewusst für mich Seienden, mir unanschaulich Geltenden, Sinn gibt. Das Geweckte, aus dem Dunkel unanschaulich Auftauchende ist als das selbst ein Modus der Gegebenheit; dieses „Unanschauliche“ ist als Auftretendes selbst anschaulich, ihm gehört zu eine Vermöglichkeit, in Richtung darauf die unanschauliche Intention (als immanentes Erlebnis anschaulich) zur anschaulichen „Erfüllung“ zu bringen, aber auch die Möglichkeit, dass es von selbst zur Anschaulichkeit vordringt. Das ist eine Verwandlung des Gegebenheitsmodus unter Synthesis der Identifikation (Einigung). Im Rückgang ist aber zu sagen, dass schon vor der Weckung der Seinssinn des Gegenwärtigen (voran des Wahrnehmungsfeldes und Anschauungsfeldes überhaupt) eine Seinsgeltung hat, die den Horizont und darunter das einzeln Hervorgetretene schon als seiend mitmeinte. In der Enthüllung des Horizontes zeigt sich, was schon vordem gegolten hat, und die Ständigkeit der weiterreichenden Geltung, des weiterreichenden Gesamtsinnes dessen, was anschaulich und dann auch schon im Einzelnen leer geweckt „hervor“-getreten ist und war. Die H o rizo n t h af t igk eit – das Unbewusstseinsmilieu, das das jeweilig spezifisch Bewusste umgibt, oder der Horizont des latenten, unbewussten und doch mitgeltenden Sinnes, der dem patenten, anschaulich erfüllten Sinn zugehört, und zwar als den Sinn des patent Gegenständlichen mitbestimmend – ist aber eine d o p p e l t e: Einerseits betrifft sie die Substratstruktur der anschaulich sich selbst darstellenden Realen, sofern diese ihren aktuellen und potenziellen Horizont der Explikation haben, von dem jeweils nur ein Teil anschaulich dargestellt ist.1 Doch wir merken, dass es hier noch zu scheiden gilt. An jeder anschaulichen Gegebenheit von Realem haben wir den Unterschied des explizit und implizit Anschaulichen im Sinne des wirk lich u n d eigen t lich An sch au lich en in der subjektiven Zeitweiligkeit. Jedes Anschauliche lässt sich in seiner zeitweiligen Anschaulichkeit 1

Innenhorizont.

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(und in jeder Phase dieser Zeitlichkeit) in solche Explikate explizieren, welche selbst anschaulich sind. Der unexplizierte Seinssinn expliziert sich in dieser Hinsicht in seinen eigentlich anschaulichen Bestimmungsgehalt. Im synthetischen Gange der Explikation zeigt sich die Folge der anschaulichen Explikate als eine anschauliche Einheit; die bestimmenden Momente bilden ein G an zes, das als Ganzes anschaulich ist und nicht erst durch die schrittweise Verknüpfung einheitlich wird. Schon vor der Explikation liegt im anschaulich bewussten Realen ein einheitlicher Bestand eigentlicher Anschaulichkeit, der das Ganze des wirklich vom Objekt sich selbst Darstellenden ausmacht – die eigen t lich ersch ein en d e S eit e, das „Anschauungsbild“, die eigentliche Perzeption. Eine an d ere E xp lik at io n ist aber stets auch möglich, nämlich eben die h o rizo n t m äß ige. Das unexplizierte anschaulich Gegebene meint als gegenwärtig gewordenes vielerlei, was sich in Evidenz der „Verdeutlichung“ als in diesem Gegenwärtigen Gemeintes auslegen lässt; aber darunter ist notwendig auch solches, was unanschauliches Bestimmungsmoment ist. So bei allem Realen. In seiner originalen Selbstgebung, in seiner Erfahrung, habe ich einen impliziten und zu explizierenden Sinn, der weiter reicht als das, was in der Explikation als anschauliches Sosein gegeben ist und zu geben ist. Dieser „In n en“-H o rizo n t, Bestimmungshorizont des Realen als Substrates explikabler Bestimmungen, kann aber von seiner Unanschaulichkeit befreit werden; d. i., wie wir sagen können, die subjektive Gegebenheitsweise dieses Realen als eigentlich perzeptive Selbstdarstellung von dieser Seite hat einen Horizont möglicher und vermöglicher Erscheinungsweisen, nämlich derjenigen, die im entsprechenden und vermöglich zu dirigierenden Fortgang von der Erfahrung in eine Kontinuität immer neuer Erfahrungen jeweils in diesen als Soseinsmomente anschaulich würden und dabei durch aktive Explikation gesetzt werden könnten. Jede Erfahrung „verweist“ auf eine Mannigfaltigkeit, und zwar als systematisch einheitliche Kontinuität zu gestaltender Erfahrungen, die in ihrer Synthesis den Charakter einer kontinuierlich höherstufigen Erfahrung annimmt. In dieser wird das identische Substrat allmählich ausgelegt in seine Sinnbestimmungen. Aber jeder Strecke, jedem Stück dieser synthetischen Erfahrung entspricht dasselbe Substrat in den Sinnbestimmungen, die in ihm anschaulich werden und mit einem Horizont der Mitmeinung,

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der zu verdeutlichen ist in Evidenz und durch Verdeutlichung nur die unanschauliche Soseinsmeinung ergibt. Die Anschaulichkeit resultiert erst durch das Überschreiten der betreffenden Erfahrung, durch ihre Überführung in die universal fortschreitende Erfahrung vom Selben. Die Innenhorizonte betreffen also die konkreten Gegenstände in ihrer Substratstruktur; es sind die Horizonte der Explikate, des Soseins.1 Andererseits: Die konkreten Gegenstände stehen aber in Au ssenhorizonten, in ihren anschaulichen Feldern, die selbst in ihrem Seinssinn (abgesehen von den Innenhorizonten ihrer einzeln anschaulichen Gegenstände) S innbestimmungen „ von außen “ haben. Zu all dem Weckungen und Weisen der Lebendigkeit. Übrigens, jedes Geweckte ist gewecktes Substrat und hat von da aus auch seinen Innen- und Außenhorizont etc. Was da herausgestellt worden ist, ist offenbar ein Grundstück der L ehre von d er Vorgegebenheit der Welt – der realen und dann überhaupt einer vorgegebenen Welt überhaupt (also auch Idealitäten mitgenommen). Natürlich ist das nur ein Anfang. – Es fehlt die Rücksicht auf die Struktur der Modalisierung und Korrektur. Es fehlt auch die Rücksicht auf die Konstitution der Welt in Bezug auf die Modi der Intersubjektivität, auf die relativen, endlichen Menschheiten und Konnex dann zwischen Menschheiten, die in Bezug aufeinander fremd sind und korrelativ einander fremde Welten vorgegeben haben und doch im Konnex mit den Fremden Gewissheit haben von d er Welt, die den einen mit dem, den anderen mit jenem Sinn gilt. Diese ein e Welt ist aber nicht eigentlich vorgegeben.

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Charaktere des Innenhorizontes.

Nr. 12 Erfahrung von Realem. Systematisches zur E rschließung der Horizonte: Die S truktur des t otalen „ Erinnerungs “-Horizontes1

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Inhalt: Allgemeines zur Theorie der Erfahrung von „Realem“. Systematische Aufweisung und Erschließung der Horizonte bis zur Raumzeitlichkeit als formale Grundstruktur, und zwar für das Reale in notwendiger Konfiguration von Realem. Substratstruktur etc. (Fortset10 zung im Konvolut aus diesen Monaten)2 Ausgang des systematischen Weges zur Auslegung der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution.

§ 1. Dingerfahrung als einstimmige Substraterfahrung. „Glatte Identifizierung“ und erste Identität des Substrates Erfahrung ist Selbstdarstellung, Selbstgebung. Dinge, wie seiende Gegenstände überhaupt, haben ihre Weisen der Selbstdarstellung. Schlechthin von Selbstdarstellung des Dinges sprechend, meinen wir unbestrittene Selbstdarstellung. Die Bestrittenheit hängt damit zusammen, dass Selbstdarstellung „Apperzeption“ ist mit Unterschieden des vom Dargestellten eigentlich Perzipierten und Ad-perzipier20 ten. Dazu die sonstigen näheren Auslegungen. Jede Dingmeinung, die nicht wirkliche Erfahrung, Selbstdarstellung also, ist, weist nach dem, „was“ sie meint, zurück auf Anschauung, in der, wenn sie erfahrende Anschauung ist, sich das Ding selbst zeigt, und die, wenn sie bloße Veranschaulichung des Dinges, des 25 nach Sein und Nichtsein unentschieden bleibenden, und somit aller seiner damit nach Sein und Nichtsein unentschiedenen Merkmale ist, eine Modifikation der Erfahrung ist, eine Erfahrung „als ob“: das Ding, wie es als es selbst nicht ist, sondern wie es seinem Selbstsein nach wäre, wenn es sich selbst darstellte. Die Veranschaulichung ist 15

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Aus Mai, Juni 1932. Bei dieser „Fortsetzung“ handelt es sich wohl um Text Nr. 9 des vorliegenden Bandes. – Anm. des Hrsg. 2

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eben keine wirkliche Anschauung, keine wirkliche Selbstdarstellung, in der das Ding als es selbst mir entgegentritt, sich mir zeigt. Das Ding zeigt sich selbst, aber meine einzelne anfangende und endende, also endliche Erfahrung des Dinges ist kein Bewusstsein, in dem das Ding wirklich vollkommen und damit endgültig auftritt. Der Horizont der Apperzeption bedeutet nicht nur, dass ein Teil der Dingbestimmungen noch nicht selbstgegeben ist, sondern zugleich, dass von dem horizonthaft Antizipierten bzw. seiner erfüllenden Selbstdarstellung es noch abhängt, ob das schon Selbstdargestellte etwas selbstdarstellt, wodurch und worin das Ding als es selbst sich darstellt. Das führt auf die Möglichkeiten der Bewährung als Erweiterung der Erfahrung, als Herstellung einer einheitlichen Erfahrung, in der die zunächst endliche Erfahrung sich synthetisch immer weitere Erfahrungsstrecken adjungieren kann, mit denen immer neue antizipierte Momente zur Selbstgebung kommen und das in einer Weise, dass dabei das Ding mit immer reicherem Inhalt sich selbst darstellt und schon Dargestelltes, sofern es nur in eins mit ihm zugehöriger Antizipation wirklich Darstellendes ist, seine Seinsgewissheit bestätigt. Das Selbst des seienden Dinges oder das wirkliche Selbstsein mit dem jeweiligen Dies-Gehalt, der Seiendes konkret als Dieses, mit dem Sinn „dieses Ding“ macht, ist also verwirklicht ausschließlich in der Selbstdarstellung in Stufen relativer Vollkommenheit bzw. Vorbehaltlichkeit. Darin liegt: Indem ich originalen Seinsglauben habe, indem ich erfahre, rechne ich darauf – das liegt in der immer und notwendig antizipierenden Seinsgewissheit –, dass künftige Erfahrung die Selbstgebung erweitern könnte. Andererseits und in einer Gegenrichtung: Es ist mir vertraut, dass ich, die Erfahrung sozusagen stehen lassend und anderes erfahrend, etwa in einer anders gewendeten praktischen Beschäftigung, die frühere Erfahrung nicht verliere nach restituierbarem Sinn und Seinsgeltung, dass ich in Form der Wiedererinnerung und dabei anschaulichen „Wieder“-Holung das Erfahren wieder aufnehmen und jetzt eventuell als originales Wahrnehmen fortsetzen und so in seiner früheren Intention bewähren und bewährend erweitern könnte. Wie ist dies zu verstehen? Zunächst müssen wir das soeben Gesagte ergänzen. Gehen wir von einer endlichen Erfahrungsstrecke zu einer neuen, sich mit der vorigen synthetisch-einstimmig verbinden-

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den Erfahrungsstrecke über, so wird identisches Seiendes bewusst in jeder Strecke für sich und in der neuen Strecke als Fortführung der alten und in der verbundenen Gesamtstrecke, die von der Anfangsphase der ersten – wir könnten sagen, von der Anfangserfahrung, die schon Erfahrung von demselben ist – bis zur Enderfahrung der zweiten reicht. Und so im Streckenfortgang immer wieder. Genügt es, in der bisherigen leeren Allgemeinheit zu bleiben und bloß zu sagen – wie wahr das auch ist –, das, was in jeder Erfahrung wirklich gegeben ist, verwandle sich im weiteren Gang in bloße Erscheinung, oder – wenn wir von Situationen sprechen und jede als ein Gebiet bald passiv, bald aktiv dirigierter Erfahrung nehmen, in der sich wahre Wirklichkeit und Schein sondern lässt – zu sagen, dass jedes situationsmäßig wahre Sein im Fortgang zu neuen Situationen zur Erscheinung gestempelt werde? Das ist roh und so nicht einmal ganz korrekt, denn die Situationen sind da schon in einer Stufenfolge gedacht, der gemäß das in der Ordnung spätere Situationsinteresse an größerer Genauigkeit an einer vollkommeneren Wahrheit interessiert sei als das frühere. Kann man mit leeren Allgemeinheiten auskommen und muss man nicht den Strom der Welterfahrung genauer studieren und nach einer Allgemeinheitsstruktur, die die Wesensform der Einheitsleistung in der steten Erweiterung der endlichen Erfahrung herausstellt und die Art, wie das im Und-so-weiter Erweitern der Erfahrung in Erfahrung in infinitum, sich für jede Endlichkeit ergebend, sich benehme in der Wesensform der Erweiterung und eine Wesensform der Unendlichkeit ergebe? Noematisch-ontische Auslegung. Jedes Erfahrene einer Erfahrung verweist auf mögliche oder vermögliche Weitererfahrung, praktisch willkürlich zu erzeugende, in der mehr vom Erfahrenen, demselben Erfahrenen, sichtlich wird, und andererseits auf solche vermöglichen Weitererfahrungen (oder auch möglicherweise von selbst eintretende), in denen das schon Erfahrene als dasselbe von neuem, in neuer Weise erfahren wird. Wir haben hier als Erfahren ein kontinuierliches, aktives Erfahren im Auge, und zwar ein solches, das als kontinuierlich „ungebrochenes“, unmodalisiertes, nicht in der Weise des Zweifels oder der Seinsdurchstreichung (Negation, Bewusstsein, dass das soeben noch als seinsgewiss Identische „Schein“ sei) zum Bruch kommt. Und in solchem „ein st im m igen“ Erfahren liegt die bezeichnete Struktur kontinuierlicher Identifikation, das

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Bewusstsein der Seinsgewissheit des Identischen, des Einen, das sich darin als es selbst (originaliter da) darbietet; und wenn das Einheitsbewusstsein zum Bruch kommt, so kann es sich wiederherstellen durch „Korrektur“, durch Ersatz des „nichtigen Scheins“, durch das an seiner Stelle zu erfahrende bzw. erfahrene Sein, sich als das einfügend dem einheitlichen Gesamterfahren der korrigierten Form. Was nun das Identische d er einstimmigen Erfahrung anlangt, so ist es als das in eigentümlicher Weise konstituiert: Es ist Identisches, das sich als dasselbe auslegt in mannigfaltigen Identitätsmomenten, unselbständigen Identischen, in denen das seiende Totalidentische, der Gesamtgegenstand, ist, in denen er das und jenes ist – z. B. sein Sein „besteht“ im Rotsein, im Im-Raum-Sein, in dem Verschiedenes-Sein-und-eben-doch-derselbe-GegenstandSein. Und jedes solche sein Sein Explizierende ist selbst ein Identisches und als das selbst wieder eventuell sich auslegend in seine Explikate (Merkmale, Bestimmungen). Nun ist aber der Gang der einstimmigen, in Seinsgewissheit identifizierenden Erfahrung ein solcher, dass er die Identitätsmomente, wir können sagen, die gegenständlichen Momente, in denen der „konkrete“ Gegenstand (das konkrete Substrat) doch selbiger ist, zwar eine Strecke weit (mindestens im Einzelnen) identifizierend erhalten muss, dass er sie aber gleichwohl nicht so ohne weiteres in Schlichtheit identisch erhält. Im Fortgang etwa wird aus dem gleichmäßigen Rot ein fleckiges Rot; nicht durch bloße Auslegung des kontinuierlich gleichmäßig gesehenen Rot wird das fleckige, sondern in der Weise des Statt-sovielmehr-anders: anstatt kontinuierlicher Ausbreitung des Rot eine Ausbreitung in Diskretionen, die das stetige Sein durchbrechen. Das gleichmäßig erfahrene Rot in sich selbst ist nicht fleckig, es könnte daher unmöglich als das, im Falle des rein beschreibenden Ausdrucks, beschrieben werden. Aber gleichwohl heißt es nunmehr: Der Substratgegenstand, der vordem gleichmäßig rot seiend erschien, ist gemäß der fortgehenden Erfahrung in Wahrheit fleckig-rot. Das Rot ist in dieser Substraterfahrung – des erfahrenen Raumdinges – nicht schlechthin ein erfahrener Gegenstand, nicht selbst Erfahrungssubstrat, sondern Erfahrungsexplikat; in der Weise ist es erfahren, dass in ihm das Substrat als darin soseiend sich „auslegt“. Und als solche „Eigenschaft“ ist es in Wahrheit anders, denn als es sich vordem und ganz ehrlicherweise gab. Sein eigenes Sein ist nicht Eigenschaft-

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Sein, als ob es als die Rot-Erfahrungs-Einheit dingbestimmende Eigenschaft „Rot“ wäre. Wie macht es fortgehende Erfahrung, dass das, worin im Beispiel das Ding sich selbst in seinem identischen Selbstsein auslegte – und das tat es doch erfahrend, in dem durch Selbstidentifikation sich ausweisenden gleichmäßigen Rot –, ihm auf einmal nicht zukommen soll und stattdessen ein anderes? Wie kann es dann dasselbe Ding geblieben sein, das, als Erfahrung dasselbe, doch nur im identisch erfahrenen Explikat dasselbe sein kann? Unsere Frage ist nicht, wie ein Ding, dessen Sein vorausgesetzt ist und, gleichgültig woher, gesichert ist (etwa jeder Andere kann sich davon überzeugen, auch wo wir es nicht erfahren und wie immer unser Erfahren beschaffen sein mag), in seinen wirklichen Beschaffenheiten in unserem Erfahren recht oder schlecht erfasst werden mag, sondern unsere Frage ist, was in unserem, was in meinem Erfahren selbst liegt, wie es in sich selbst als ein erfahrendes Identifizieren in dem bezeichneten, in ihm selbst auftretenden Wandel (der doch eine Modalisierung, ein Durchstreichen und sich wiederholendes korrigierendes Durchstreichen ist) die Identifikation fertig bringt. Zur (noematisch-ontischen) Klärung müssen wir den Ausgang nehmen von Fällen der Unveränderung des Substratgegenstandes. Denn es wird eingesehen werden können, dass Veränderung in ihrer Erfahrbarkeit zurückverweist auf Unveränderung, dass sie ursprünglich nur Erfahrungssinn erhält als Veränderung von Unverändertem, dass zu ihr, um diesen Sinn erhalten zu können, gehört, dass Veränderung in jeder momentanen Phase auch zu Unveränderung werden kann. Betrachten wir also irgendeinen exemplarischen Gegenstand, und zwar ein Raumding, das erfahren ist, ohne sich zu verändern. Angenommen, dass – wie immer das für tiefere Analysen Probleme bieten mag, Probleme der Verstehbarkeit – das Ding schon als Ding, als Substrat erfahren ist, als etwas, das sich auslegen lässt bzw. schrittweise wirklich sich auslegt in seinen Explikaten – dazu gehört eine gewisse Einstimmigkeit der Erfahrung als Erfahrung des Substratidentischen in dem identisch Verharren der einzelweise hervortretenden Explikate –, so ist dann notwendig schon im Einsetzen das Substrat derart apperzipiert, dass es im Voraus (in der intentionalen Form der Antizipation) die Möglichkeit bzw. Vermöglichkeit der Auslegung in sich trägt, eine Antizipation, welche sich erfüllt, eben

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in dem schrittweisen kontinuierlichen antizipierenden und erfüllenden Erfahren dessen, worin das sich identifizierende Substrat sein Selbstsein zeigt, nämlich zeigt in den Sondereigenschaften. Offenbar ist das erste und ursprünglichste Sich-so-Zeigen die Strecke der Identifizierung, welche in den Eigenschaften sozusagen glatte Identifizierung, nämlich ohne eigenschaftliche Modalisierung (in der Weise des „eigentlich nicht so, sondern anders“) walten lässt. Diese erste Identität des Substrates in seinen schlichten Identitätsmomenten kann ich in unserem Fall eines unverändert erfahrenen Dinges wiederholend erfahren, eben wiederholt dasselbe in seinen Selbigkeiten auslegend. Was ich da sehe und getreu auslege, hat seine eigene zweifellose Gewissheit. Sie gehört zu dieser Erfahrung in ihrer freien Wiederholbarkeit, für mich und für jeden, der sie, der diesen Erfahrungsweg eben wiederholen mag. Nun geht aber, nehmen wir an, die Erfahrung weiter, und nicht bloß in der Weise bloß fortgehender Explikation des schon zu Anfang unexpliziert erfahrend Antizipierten. Die eigenschaftlichen Momente in ihrem eigenen Erfahrungsinhalt ändern sich. Jedwede Änderung (hier nicht Änderung eines realen Dinges, sondern Änderung des „Inhaltes ‚rot‘“, der in sich eben kein Ding ist) hat als Gehalt der Erfahrung Wesensbedingungen zu erfüllen. Ein „rot“ kann sich nicht in „sauer“ verändern. Farbe kann sich nur in Farbe und nicht in einen Geschmack oder einen Ton usw. verändern. Zu jeder Änderung gehört Kontinuität der Ähnlichkeit, die in der Kontinuität der Zeit des Erfahrens zu einem konkreten Kontinuum verschmolzen ist. Ist die Änderung eine sprunghafte, so setzt diese doch einen Boden der den Sprung überbrückenden Ähnlichkeitskontinuität voraus. Solche Kontinuität konstituiert eo ipso eine gewisse Identität, so die Identität der „sich“ ändernden Farbe, derselben, die in jeder Phase der durch immer wieder andere, aber ähnliche Daten erfüllten Zeitstrecke nur eben bald in dem, bald in jenem Änderungszustand ist. (Der Grenzfall für eine solche Verschmelzungseinheit oder „konkrete“ Einheit ist die Unveränderung, das sich in allen Phasen Gleichbleiben.) Sind nun das Rot, der Geruch etc. in der erfahrenden Apperzeption als Eigenschaften des erfahrenen realen Dinges apperzipiert, so scheint es selbstverständlich, dass, im Falle dass die eine oder andere Eigenschaft in der erfahrenden Explikation als sich ändernde gegeben ist, nun auch das Ding als sich veränderndes, und zwar hinsichtlich

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dieser Eigenschaft veränderndes, erfahren wird. Wie kommen wir als das Ding Erfahrende dazu, es trotzdem als unverändertes zu erfahren und der Änderung den Sinn unterzulegen: „Das Ding erschien als gleichmäßig rot, jetzt aber sehe ich es als fleckig-rot“? Vielleicht sagen wir zunächst: Jetzt sehe ich, dass es in Wahrheit fleckig ist. Aber geht die Erfahrung weiter, so mag diejenige fleckige Färbung, die ich so und so expliziere und beschreibe, sich abermals wandeln, und so ist es eine offene Möglichkeit in immer neu fortsetzenden Erfahrungen desselben Dinges und natürlich hinsichtlich aller jeweils erfahrenen Eigenschaften, und diese genommen so, wie sie dabei wirklich erfahren sind. Wie kann das Substrat also identifiziert werden und in der Evidenz der Erfahrung m it d em S in n „ u n verän d ert es D in g “? Und wo sind die unveränderten Erfahrungseigenschaften, die es doch als solches fordert? Erfahren wird es de facto in der Jeweiligkeit von Eigenschaften, als denen, in denen es ist, was es jeweils ist; und wandeln sich diese, so ist es eben doch immer wieder anders und nicht dasselbe, es sei denn dasselbe sich verändernde. Denken wir nun wieder an die Wied erh o lb ark eit, welche zur Erfahrung von unverändertem Seienden wesensmäßig gehört, und an die Möglichkeit, dass auch derartige Veränderungen in der Einheit der wiederholenden Verknüpfung von Erfahrungsprozessen wiederkehren müssen bzw. in freier Möglichkeit zur Wiederkehr müssen gebracht werden können. Nehmen wir dazu, dass in der Erfahrung eines Dinges dieses von vornherein (wesensmäßig) apperzipiert ist diesen Wiederholbarkeiten und deren Iterationen gemäß: also apperzipiert als ein Identisches, das sich explizieren lässt, das in der vermöglich aktiv verlaufenden Explikation sich in seinen Identitätsmomenten (Eigenschaften) selbst zeigt, es dann aber im Fortgang der Erfahrung dazu kommen wird und jedenfalls offene Möglichkeit ist, dass im Wiedererfahren der schon erfahrenen Eigenschaften sich nicht ein bloß wiederholendes Erfahren vollzieht, sofern diese nun veränderten Gehalt zeigen und so iterativ immer wieder anderen.

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die horizontstruktur der welterfahrung § 2. Die vieldimensionale Horizontstruktur der Dingerfahrung

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Jede Dingerfahrung ist vom ersten Moment an und so in stetigem Wandel sich forterstreckende Wahrnehmung des Dinges, und darin liegt, sie hat eine über das momentan Gegebene weit hinaus gehende Reichweite. Ihr erfahrendes Meinen hat einen o f f en en Horizont möglicher Erfahrungen von d emselben Ding, in dem all das von ihm noch nicht eigentlich Gegebene zur eigentlichen Gegebenheit kommen würde. Es sind nicht aktuell im Voraus anschaulich-vergegenwärtigt vorschwebende und nun gar einzelweise besonderte Erfahrungen. Gleichwohl ist es ein Bewusstseinshorizont, eine Weise des implizite über d as eigentlich E rf ah ren e H in au smein en s, eines „unanschaulichen“, „vagen“, das sich als Hinausmeinen in seinem gemeinten Sinn ausweist in den vermöglich frei erzeugten oder von selbst eintretenden bestimmten wirklichen oder möglichen Erfahrungen, und mit der Evidenz, dass sie in eigener Weise, eben vage, unanschaulich, ununterschieden, doch mitgemeint, in der unbestimmten Allgemeinheit umgriffen waren. In solchen Enthüllungen zeigt sich, dass der H o rizo n t eine jeweilige S truktur hat, eine Ordnungsform d er Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit der Implikation von Erfahrungen und Erfahrungsinhalten, der nachgehend man die Evidenz einer vieldimensionalen Vermöglichkeit für immer neue, Neues vom selben Ding erfahrende Erfahrungen und so schließlich die Evidenz einer Unendlichkeit, und zwar einer vieldimensionalen und allheitlich abgeschlossenen, gewinnt. Von jeder wirklichen Erfahrung aus kann man evident machen, was sie als Ap p erzep t io n dieses Dinges, dieses mit seinem hic et nunc wirklich sozusagen zu Gesicht Kommenden und bestimmt ihm Zugemeinten, ihm überhaupt zu m ein t (ad-perzipiert). Das geschieht, näher angedeutet, durch vergegenwärtigende Anschauungen des Modus „mögliche Erfahrung“, nicht bloß durch der Seinsgeltung als Mitgeltung des Seins dieses Dinges enthobene Phantasien, Fiktionen, sondern durch Vergegenwärtigungen, die als „mögliche Erfahrungen“ eine Mitgeltung haben, obschon in einer durch das Wort „möglich“ nur unvollkommen angedeuteten Modifikation. Was im Gang wirklicher Erfahrung und so

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schon von der ersten Erfahrungsphase an, mit der ja schon schlechthin das Ding erfahren ist, wirklich und immer wieder neu zutage tritt an dinglich eigenem Gehalt in Seinsgewissheit, ist evidenterweise in den Horizont hineingehörig als sich vom schon perzipierten Gehalt her zunächst unanschaulich und noch vieldeutig, dann bestimmt Vorzeichnendes, Vordeutendes und dann diese Vordeutung durch entsprechende bestimmte Selbstgegebenheit ErfüllendBewährendes. In diesem Gang erfolgt immer wieder von neuem sich abhebende Vordeutung und Verwirklichung; es ist ein stetes Hineingehen, Vorverstehen und schließlich Sehen in den Horizont hinein und dessen, was im Horizont liegt – auf diesem Wege sichtlich werdend als die bestimmt daseiende Wirklichkeit. Aber das ImVoraus-Meinen, das antizipierende, welches das Erfahren sinngebend begleitet, geht stets über das Nächste hinaus und antizipiert im Voraus die erst künftig bestimmt sich abhebenden der Antizipationen mit ihren vorgemeinten Gehalten. D ie H o rizo n t im p lik at io n ist im Voraus kontinuierlich Mittelbarkeiten der Implikation im p lizieren d und dabei in ihrer Vagheit eine unbestimmte, u n en d lich vield eu t ige, in ihrer Unbestimmtheit Unendlichkeiten von disjunktiven Möglichkeiten implizierend in der Weise des disjunktiven Offenlassens. Und dabei impliziert sie von vornherein in der Struktur ihrer Sinngebung eine bestimmte Meh r- D im en sio n, die vielerlei mögliche Wege der Ausführung bestimmter Erfahrungen und der Erfahrungssynthesen offen lässt. Was an möglichen Erfahrungsrichtungen und Erfahrungen im Horizont der jeweiligen faktischen Erfahrung beschlossen ist, das kann ich, der faktisch Erfahrende, als einen systematischen Zusammenhang vergegenwärtigender Anschauungen als meiner von da aus möglichen Erfahrungen und Erfahrungsverläufe entwerfen und dabei schließlich der systematischen Totalität gewiss werden. Gehe ich aus von meiner Erfahrung, so hat sie als meine schon ihren Horizont bestimmt gerichteter Vordeutungen bzw. Rückdeutungen; sie hat über das eigentlich Wahrgenommene hinaus ihren Horizont der Rückerinnerung, in den ich mich einlassen kann, indem ich zunächst sprungweise die dunkel geweckten Erinnerungen in Wiederanschauungen verwandle und in der Anschaulichkeit des „wieder“ bei jeder im Früher wirklich erfahrenen nachgehe, die sich ausbildenden Wiedererinnerungsstrecken miteinander verknüpfe usw.

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Ebenso hat jede Erfahrung (Wahrnehmung) ihren H o rizo n t k ü n f t iger Vo rd eu t u n g, nämlich des Nächsterwartungsmäßigen und von da aus mittelbar zu Erwartenden, mit entsprechenden Vermöglichkeiten der Anschauung (Vorverbildlichung, anschaulichen „Vorerinnerung“ als Analogon der Wiedererinnerung). Wiederum einen Horizont des unmittelbar und mittelbar Mitgegenw ärt igen vom selben Erfahrungsobjekte, nicht wahrnehmungsmäßig eigentlich Gegenwärtigen, eigentlich Perzipierten, sondern Apperzipierten – als ein von Wiedererinnerung und Vorerinnerung unterschiedener Erinnerungsmodus erkennbar. Alles in allem ein „ E rinnerungs “-Horizont in einem erweiterten Sinne, als ein Horizont bestimmter Vorzeichnung im Modus der Gewissheit (wobei die Gewissheit im Fortgang der Erfahrung sich natürlich modalisieren kann). Aber vorweg ist die Erfahrung als solche, mit dem Sinn, ein reales Objekt als selbst-gegenwärtig zu präsentieren, in dieser Hinsicht mit einem vieldimensionalen, noch über all das hinausreichenden Horizont ausgestattet; dieser reicht, wie alsbald zu sehen, über das präsentierte Reale hinaus, sich erweiternd dadurch, dass das Reale nicht isoliert erfahren und erfahrbar ist, sondern in einem Ganzen der Erfahrung, das eine Mannigfaltigkeit von Objekten, wir sagen besser, eine jeweilige Ko n f igu rat io n vo n Realit ät en zur Präsentation bringt. Jede hat jeweils ihren eigenen Erinnerungshorizont, der aber, mit dem der übrigen verflochten, den Horizont der Totalerfahrung, als totalen Erinnerungshorizont derselben, ausmacht. Jed e Einzelrealwahrnehmung ist S tück eines Wahrnehmungsfeldes mit seiner Konfiguration von Einzelrealitäten als jetzt präsentierten. Aber wesensmäßig ist das Wahrnehmungsfeld im Strömen, und im strömenden Sich-Wandeln trägt es – strömend – ständig einen Wiedererinnerungshorizont als den lebendigen Horizont der im Modus „soeben vergangen und immer weiter vergangen“ noch bewussten Kontinuität früherer Wahrnehmungsfelder, in Gegenrichtung einen zugehörigen, im Strömen in seiner Weise sich mitwandelnden Horizont der jetzt unmittelbar und kontinuierlich mittelbar sichtlich werdenden Wahrnehmungsfelder (den p ro t en t io n alen H o rizo n t), und wieder: den Horizont der zum konkreten Wahrnehmungsfeld als Präsenzfeld der eigentlich wahrgenommenen Realitäten gehörigen adpräsentierten weiteren Umgebung als nächstappräsentierter Konfiguration von Realitäten, welche bei pas-

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send geänderten Wahrnehmungswegen von den früher faktisch eingeschlagenen her jetzt aktuell geworden wären und bei frei vermöglicher Abwandlung des jetzigen Ganges sich durch die erwartungsmäßige und verwirklichte Zukunft als jetzige Antizipation der Mitgegenwart bewähren würden. Doch mit dem Eingehen in den Horizont der Mitgegenwart werden wir alsbald fortgetrieben in die weitere Horizontstruktur. Was wir überhaupt, ihr nachgehend, zu einer ersten rohen Auslegung bringen, ist offenbar d ie Weise, w ie E rf ah ru n g (als unlösliche Verschmelzung von Perzeption und Apperzeption) Reales als E rf ah ru n gssin n und dann mit dem Sinn des raumzeitlich Seienden b ewusst macht in d er Weise d er Selbstgegebenheit.1 Gleiches gilt von in der Weise jeweiliger Originales (als selbst-da) gebender Wahrnehmung und der von ihr unabtrennbaren, in ihr implizierten Horizonthaftigkeit mit den zugehörigen verschiedenen Modis der Abwandlungen von Wahrnehmung, die einerseits in dem ersten Sinn Erinnerungsgewissheiten (eingeschlossen Erwartungsgewissheiten und Gewissheiten von gegenwärtig Mitdaseiendem) sind, andererseits aber weitere Abwandlungen in sich schließen, die der vage Ausdruck „mögliche Erfahrung“, „mögliche Wiedererinnerung“, „mögliche Vorerinnerung“ usw. andeutet.2 So ist Reales apperzipiert, dass es – an und für sich betrachtet – teils eigentlich perzipiert, teils apperzipiert ist, wobei im Blick ausschließlich inhaltliche Bestände des Realen selbst sind. Als raumzeitlich Erfahrenes hat es sein e Raumzeitlichkeit, und zwar sein e räumliche Gegenwart als verharrende, obschon veränderliche Raumgestalt, als Koexistenzform (Konfigurationsform) für seine durch sie und in ihr lokalisierten Qualitäten (die raumerfüllend in unterster Stufe über die Raumgestalt gebreiteten, extendierten). Ferner, als Form der Veränderung mit dem Grenzfall der Unveränderung die diesem Realen eigene Dauer, das Kontinuum seiner Zeitstellen, in denen die Phasen der Raumgestalt des Realen und damit des verharrenden gegenwärtigen und konkret genommenen Seins

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Die Raumzeitlichkeit ist die Grundstruktur für alles als weltlich-real Erfahrene und Erfahrbare. Aber Räumlichkeit ist für das Einzelreale die Raumgestalt und diese ist fundierend für alles sonst, was für das Reale bestimmend ist. 2 Zu diesem Satz merkt Husserl am Rand an: „unverständlich“. – Anm. des Hrsg.

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des Realen zeitlich lokalisiert sind. Dauer als Dauer, in der Gestalt dauert und dadurch das jeweils gegenwärtig Koexistierende, in der Gestalt konkret Lokalisierte als Verharrendes hindauert, ist also als vereinigte Form die dem Realen eigene Raumzeitlichkeit; auf sie beziehen sich die ihm eigenwesentlich zugehörigen Horizonte in ihrer Einheit. Aber vorweg apperzipiert ist jedes Reale als Reales in der universalen Raum-Zeitlichkeit und damit als Reales der einen allheitlich geschlossenen realen Welt; sie ist eben Universum – All-Einheit der Realitäten. Ihre perzeptiv-apperzeptive Gegebenheitsweise ist untrennbar von der des Realen, das als Diesda jetzt perzeptiv-apperzeptiv in Erfahrung ist, nämlich vermöge der Notwendigkeit, seinem Wahrnehmungsfeld anzugehören. Betrachten wir Einzelreales in einem ausschließlichen Betrachten, rein seinem Selbstsein zugewendet, so haben wir keinen anderen Raum als sein en Raum, als sein e sein gesamtes jeweiliges Präsentsein lokalisierende und nach dem Unmittelbaren extendierende Gestalt und so, konkreter, raum-zeitlich seine raumzeitliche, seine verharrend veränderliche Gestalt in der Einheit der Dauer. Hier finden wir als eigen w esen t lich nur die Veränderungsform der Deformation und die zugehörigen Änderungsweisen der lokalisierten bzw. raumfüllenden Qualitäten. Nicht finden wir aber als eigenwesentlich die Veränderungsweise der Bewegung. Sie ist Bewegung in „dem“ Raum, in der das jeweilige Einzelräumliche umfassenden Räumlichkeit. In der aktuellen Erfahrung ist das Erste dieser über die reale Gestalt hinausreichenden Räumlichkeit die Räumlichkeit der simultan wahrnehmungsmäßigen konfigurativen Mehrheit, die also des einheitlichen Wahrnehmungsfeldes. Diese Mehrheit als Mehrheit hat eben Konfiguration, hat ihrerseits eine einheitliche Gestalt, in der die Einzelgestalten der simultan präsentierten Realitäten ihre Form der simultanen Koexistenz haben. Jedes ist in diesem „Raum“, nämlich jedes mit seiner Sondergestalt ist darin ein gest alt et. Und hier tritt als mehrheitliche Veränderungsform erst neu auf die ausgezeichnete Verän d eru n g der Konfiguration als solcher, die für die Glieder derselben als ihr Anteil besagt: Änderungen der „relativen“ Lagen, des Gegeneinander-Orientiertseins, und das ist Bewegung. Nur wo ein Einzelnes, als Ding apperzipiert, in sich selbst konfigurative Gliederung hat, wo also eine konfigurative Mehrheit apperzipiert ist als verharrende

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Einheit und als das wirklich präsentiert ist, somit als ein Ding mit Gliedern „gesehen“ wird, da tritt auch im präsentierten Einzelding Bewegung als ihm eigenwesentlich zugehörig auf: die Bewegung der Glieder gegeneinander. 5 Man sieht dabei zugleich, dass es wichtig ist, bei der Sinnaufklärung der erfahrenen Realen zunächst abstraktiv auf den Grundfall der Präsentation ungegliederter Realitäten zurückzugehen, wie in anderer Hinsicht auf den Grundfall der Unveränderung vor aller Veränderung: und das natürlich im Rahmen wirklicher Erfahrung.

Nr. 13 Der raumzeitliche Totalhorizont der Welt und seine invariante Form 1

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Wie führe ich die transzendentale Epoché aus und erzeuge die evidente Reduktion auf die transzendentale Subjektivität? 1) Als erste transzendentale Subjektivität gewinne ich meine eigene, die meines transzendentalen Ego mit seinem Bewusstseinsleben (cogito), in dem die für mich seiende Welt transzendentales Phänomen ist, als universales cogitatum. Die Welt, in der ich lebe, die ich bei welchen Beschäftigungen immer, bei Erfahrungen, Phantasien, Gedanken etc. als Lebensumwelt voraussetze, die Welt, auf die sich auch all meine wissenschaftlichen Überzeugungen beziehen, ist in all solchen Beschäftigungen immer schon vorgegeben, und zwar mir geltende, mir teils aktuell bewusste, teils und in eins mit diesem Bewusstsein bzw. in diesem Bewusstsein implizite vorausgesetzte, im Voraus geltende. Ich werde also von der Welt zurückgeleitet auf mich, mein aktuelles und potenzielles Bewusstseinsleben, auf mein Sein mit meinen Vermögen, meinen Assoziationen, meinen Bewusstseinsleistungen jeder Art und bleibenden Bewusstseinserwerben. Die Welt, von der ich je spreche, die ich je bedenke, ist Geltendes meines Geltens (des aktuellen oder verborgenen In-Geltung-Habens) und eines Sinnes, der in mir Sinn ist, aus meinem eigenen aktiven oder passiven Leistungen entsprungener. Reduktion: Ich mache konsequent das Universum meiner subjektiven Eigenheiten, Leistungen, Bewusstseinsweisen, in denen mir „die“ Welt vorgegeben ist und in fortschreitenden, immer neuen Leistungen sich in ihrem Seinssinn für mich fortgestaltet und in dem gewandelten künftig vorgegeben sein wird, zum au ssch ließ lich en T h em a, und schließlich mich selbst, während ich die Welt eingeklammert halte. Ich selbst als weltlicher Mensch bin selbst vorgegeben; ich reduziere auch mein weltliches Sein auf meine Meinungen, meine Geltungen, in denen ich mir schon vorgegeben bin, sooft ich auf mich reflektiere.

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Wohl September 1931. – Anm. des Hrsg.

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Fange ich mit mir an und nehme mich rein als Gemeinten meiner Selbsterfahrungen und sonstigen Selbstmeinungen, auch der alten, erworbenen und mir fortgeltenden, so sehe ich alsbald, dass zu m ein er Vorgegebenheit die ganze Welt gehört. Das transzendentale „Residuum“ meines menschlichen Daseins ergibt mein transzendentales Ich als das sich als Menschen apperzipierende und das Welt apperzipierende, in der ich, dieser Mensch, lebe und von der ich, dieser Mensch, in der natürlichen Weise Erfahrungskenntnis, Wissen usw. habe.1 Das transzendentale Ich, das ich gewinne, das bin ich selbst, reduziert auf dasjenige Sein, in dem mein menschliches Ich und die Welt dieses Ich, in der damit menschliches Bewusstseinsleben, menschliche Erkenntnis, Handlung etc. sind, sich konstituiert als die mir (mir, dem transzendentalen, und wieder mir, dem menschlichen Ich) geltende Welt. Aber freilich hier die Frage: 2) Wie kann ich mein transzendentales Ich zu einem wissenschaftlichen Thema, zu einem Thema des Wissens machen? Und zunächst: Wie weit kann ich von ihm direkte Erfahrung, zunächst Wahrnehmung, gewinnen – transzendental-egologische Erfahrung und Wissen? Das scheint sehr einfach, nach dem Schema Ego-cogito-cogitata. Ich vollziehe schlicht transzendentale Reflexion – etwa wenn ich ein Ding wahrnehme – auf dieses Ich-nehme-wahr, wobei ich das Ding rein als wahrgenommenes dieses Wahrnehmens in Geltung setze. 3) Ich trete in eid et isch e E in st ellu n g, und nun habe ich nach der einen Seite o n t isches Ap rio ri als bezogen auf mein Ich überhaupt als apriorisches Korrelat, aber in anonymer Verhülltheit seines konstituierenden Lebens; andererseits habe ich das n o et isch e Ap rio ri und somit das Apriori der konstituierenden ichlichen Subjektivität. Und beides in eins: mögliche Welt als mir bewusste, mir geltende in allen Möglichkeiten (als welche Abwandlungen der faktischen Welt und meines faktischen Ich sind), und zwar wesensmäßig geltend als intentionale Einheit der a priori zugehörigen Bewusstseinsweisen des zur möglichen Welt korrelativen möglichen Ich.

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Transzendentale Reduktion meiner selbst äquivalent mit der der Welt.

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4) Das alles vor den Fragen der Genesis und als Voraussetzung für solche Fragen. Erst muss ich das Apriori der statischen Korrelation haben, um fragen zu können nach der „Genesis dieses Apriori“, als Genesis der konkreten Subjektivität und ihrer korrelativen „Welt“ – 5 mit dem „ich, dieser Mensch“ als Verweltlichung der konkreten transzendentalen Subjektivität und aller ihrer transzendental konstitutiven Bewusstseinsleistungen.

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Ad 2–4: Horizonthaftigkeit, in der die Welt als seien d e gegeben ist in einem S ein ssin n, also in Seinsgewissheit und doch an jeder zeitmodalen Stelle in einem Horizont von Soseinsmöglichkeiten, offen, welche davon die wirkliche ist. Nun habe ich unter dem Titel des Bekannten von der Welt in einigem Maße „Vorzeichnung“ trotz der Horizonthaftigkeit, die auch diese angreift. Aber alle so wandelbare Vorzeichnung hält sich doch in einer beständigen und beständig antizipierten Fo rm st ru k t u r. Durchlaufe ich die Möglichkeiten, die ein „völlig unbekanntes“ Objekt, das in meinem Horizont außerhalb der besonderen Vorzeichnung als leere Möglichkeit, aber doch als offene Möglichkeit vorgezeichnet ist, annehmen kann, so halten sich dieselben innerhalb einer doch stets bekannten, selbstverständlichen Form des raumzeitlichen Realen, das jedenfalls in einer physischen Körperlichkeit fundiert ist usw. Allgemein ist die gegebene Welt rau m zeit lich , und jedes völlig unbekannte Objekt ist auch darin bekannt, dass es an jedem Zeitpunkt seiner Dauer im unendlichen Raum, der Form der simultanen Objekte, ist. Jede Möglichkeit, die dieses unbekannte Objekt hat, ist nur vorstellbar als eine eben mögliche Wirklichkeit und dann als ein möglicherweise wahrnehmungsmäßig Selbstgegebenes mit einem Horizont von disjunktiven Möglichkeiten, seiner eigenwesentlichen, die durch fortschreitende synthetische Wahrnehmung wahrnehmbar würden, und seiner äußeren Möglichkeiten, hinsichtlich eines Horizontes durch Wahrnehmung zur Bekanntheit kommender und dann ebenso in fortschreitender Wahrnehmung zu eigenwesentlicher Bekanntheit kommender Objekte, aber in infinitum hinsichtlich des Räumlichen: Jedem eignet eine erfahrbare (fortschreitend erfahrbare) Gestalt und alle Gestalten aller koexistierenden Dinge sind eingeordnet im unendlichen Raum, der in der Erfahrung immer verbleibt als offen horizonthaft gegebener, gegeben in möglicher

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Erfahrung und Erweiterung der Erfahrung, die prinzipiell nie zu Ende kommt, nie Möglichkeiten koexistierender noch unbekannter Realitäten ausschließend. Ebenso steht es mit der Sukzessions-Zeitlichkeit als offenem Horizont erfahrbarer Zukunft und erfahrbarer Vergangenheit von Objekten, deren Einzeldauer und mehrheitlich genommene Dauer selbst Strecke bleibt eines unendlichen Horizontes noch unbekannter vergangener und künftiger Objekte. Die raumzeitliche Form ist n icht bloß Horizont der Unbekanntheiten, sondern auch Form des schon Bekannt en. Die faktische Gestalt irgendeines jetzt für mich erfahrenen und gestaltlich bekannt gewordenen Objektes kommt unter den möglichen Gestalten überhaupt vor, die ein völlig unbekanntes Objekt als Raumobjekt haben kann. Umgekehrt: Nehme ich das bekannte Objekt, als ob es noch völlig unbekannt wäre, etwa wie es früher einmal für mich war, so ist die faktische Gestalt, die es jetzt wirklich zeigt, eine der Möglichkeiten, die vordem offen waren; und variiere ich mein faktisches Objekt, es frei umfingierend, so durchlaufe ich das System von Möglichkeiten, das es gemein hat mit dem jedes anderen Objektes und jeder Zeitstelle. Alle Möglichkeiten, sowohl die freien Möglichkeiten durch phantasiemäßiges Umdenken von solchem, was mit einer Wirklichkeitsvorzeichnung mir gewiss ist, als auch die gebundenen, aber offenen Möglichkeiten in der Unbekanntheit, sind in gewisser Weise doch gebunden. Zunächst, wie wir es hier beschränkend nehmen, verstanden als Möglichkeiten von Weltlichem und Welt hinsichtlich des raum-zeitlichen Formalen. Für alles mögliche Einzelreale: Das System aller Möglichkeiten hat eine Form, die invariant ist, die also nie selbst variiert werden kann, die notwendig überall selbige ist. Das spricht sich zunächst so aus, dass jede Möglichkeit eines Realen eine inhaltlich identische (eine wesensgleiche) hat bei den Möglichkeiten irgendeines beliebigen anderen Realen. D ie Welt ist „ homogen “ in raumzeitlicher H insicht, und zwar für alle ihr zugehörigen „Dinge“ (Realitäten und deren „Natur“), aber auch für die ihr zugehörigen realen Mehrheiten, die als solche im bekannten Faktum wie in aller Möglichkeit „konfiguriert“ sind, d. i. eine mehrheitlich-einheitliche Gestalt haben, die ebenso ihr System der Gestaltmöglichkeiten hat. Nehmen wir nun die gegebene Welt in Totalität, also in ihrer Unendlichkeit, in der sie formal vorgezeichnet ist, so hat sie zwar jeweils als für mich seiende (und dann für je-

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dermann seiende) eine besondere, bestimmende Vorzeichnung, aber auch als totale, so dass sie gewissermaßen nur jeweils und in ihrer Allzeitlichkeit eine unendliche Konfiguration ist, in der Horizonthaftigkeit unendlich unbestimmt-unbekannt; aber in der Art, dass in dem Bereich völliger Unbekanntheiten jede totale Weltmöglichkeit in einem System von totalen Weltmöglichkeiten steht, welches identisch ist mit dem System freier Möglichkeiten an jeder Zeitstelle und konkret hinsichtlich jeder Dauer, in der sich – welche Veränderungen und Unveränderungen sich darin immer abspielen mögen – eine einheitlich raumzeitliche Gestaltung (auch der hier offengelassenen qualifizierenden) durchhalten mag. In ihrer Weise befasst das System der Möglichkeiten der unendlichen Welt auch alle Möglichkeiten der einzelnen Dinge und Konfigurationen von Dingen, auch der durch mögliche Zerstückung und Zusammenstückung als einer ausgezeichneten Veränderungsart erwachsenden. D ie Rau m zeit lich k eit ist d ie u n en d lich e T o t alf o rm als die prinzipiell nur horizonthaft vorstellbare Form aller möglichen „endlichen“ Formen, d. i. aller möglichen Formen von einzelnen Realitäten und einzelnen Konfigurationen von Mehrheiten, die im weitesten Sinne in der Welt koexistieren können, die nur wirklich ist in der Horizonthaftigkeit der Vorzeichnung der Wirklichkeit durch Spielräume von Möglichkeiten. Dabei sind die Spielräume Systeme von fester Form, in dieser also immer vorgezeichnet bei aller sonstigen Unbestimmtheit, während alles schon durch Erfahrung Bekannte, Bestimmte als erst durch Erfahrung bekannt Gewordene in seinen freien Möglichkeiten stimmen muss mit den offenen Möglichkeiten eines beliebigen Unbekannten, also in seinem System dieselbe Form haben muss wie das System irgendeines Unbekannten. In der Form, der ins Unendliche beweglichen Form des Sich-„Ausdenkens“ der Unendlichkeit der Welt von irgendeinem einzelnen Realen oder einer endlichen Konfiguration aus (sei es als durch Erfahrung festgelegt oder als pure Möglichkeit gedacht), vollzieht sich eine systematische Erweiterung der Formensysteme der Endlichkeit; jedes System wird zum erweiterten System und als das zu einem System einer erweiterten endlichen Konfiguration. Die Invarianz der Form jeder erdenklichen endlichen Konfiguration und ihrer alsbald erdenklichen Erweiterung wird zur Invarianz der erweiterten Konfiguration und ihres Systems und so in infinitum. Eben dieses in infinitum macht aber die Form

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der Unendlichkeit und ihrer Weise des Umspannens aller endlichen Formen aus. Wenn wir nun die gegebene Welt als eine bloß mögliche Welt ansehen, wenn wir das Faktum dieser Welt (mit ihrer invarianten „transzendental-ästhetischen“ Gestaltungsform) willkürlich umdenken und alle freien Möglichkeiten durchlaufen oder vielmehr frei phantasierend entwerfen, so gewinnen wir das E id o s „ Welt “ als das invariante Wesen, das jeder möglichen Welt zugehört als der von der faktischen aus eben durch freie Variation zu konstruierenden möglichen, erdenklichen Welt – im System, das dabei entspringt als System eidetischer Möglichkeiten. Es ist nun selbstverständlich – nach unserer Darstellung –, dass zum Eidos „Welt“ auch die raumzeitliche Form, die Konfigurationsform der Welt und jeder erdenklichen, gehören muss. Die Form d er Welt ist Form jeder erdenklichen – ich wiederhole, selbstverständlich nach unserer Darstellung, aber eben sonst nicht selbstverständlich und darum ausdrücklich auszusprechen. Die Form der faktischen Welt gewinnen wir nicht durch ihre eidetische Variation, obschon im Einzelnen eidetische Variation in bestimmter Weise herangezogen wurde. Wir können vielleicht auch so die Methode der Herausstellung der faktischen Form der Welt beschreiben: Wir sagen, die Welt sei raumzeitlich geformte Welt und sagen es zunächst von der strömenden Erfahrungsgegenwart aus, in der sich uns von einem Bestande des wirklich Erfahrenen „von der Welt“ eben horizonthaft Welt überhaupt als seiend vorgezeichnet, als seiend antizipiert ist, und das in der Weise offen unendlicher Raumzeitlichkeit. Diesen Horizont anschaulich machen wollen, heißt: dessen inne werden, dass wir von dem als wirklich Selbstgegebenen und damit sachlich, inhaltlich Festgelegten aus viele Möglichkeiten, viele Spielräume anschaulich zu machender Möglichkeiten offen haben, und zwar zunächst in Form der unerfahrenen Mitgegenwart, wobei Mit-S eien d es in unbestimmter Weise gewiss ist, aber die Unbestimmtheit eben Bestimmbarkeit in einem Spielraum von Möglichkeiten besagt, von denen eine, unbestimmt welche, wirklich ist. Ebenso aber hinsichtlich der mit in Seinsgeltung stehenden Vergangenheit und Zukunft, über diejenige hinaus, die in bestimmter Weise festgelegt ist durch Wiedererinnerung oder bestimmte Vorerwartung (Vorerinnerung). Die offenen Möglichkeiten, immer in Spielräumen gehalten und nur so als „mögliche Erfahrung“ anschaulich zu ma-

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Die bestimmten Realitäten und Gestalten sind in jeder faktischen Gegenwart der Welt selbst andere, aber sie sind Gestalten eines homogenen Raumes als Form der Simultaneität und Form aller Bewegungen und Deformationen (in denen doch aus einheitlicher Gestalt 5 einheitliche Gestalt zeitlich hervorgeht). Die Form ist die umfassende unveränderliche Universalgestalt, die alle Sondergestalten und ihre Variationen umfasst. So wie eine endliche Gestalt im Wandel ihrer Sondergestalten (als mehrheitliche ihrer Glieder) doch einheitliche Gestalt bleibt und so in jeder erweiterten Gestalt, deren Teil sie selbst 10 ist, so gilt das fort, im Fortgang nämlich der Erweiterung „in infinitum“. Die Unendlichkeit der Realitäten, als raumzeitlicher Gestalten allein betrachtet, ist der Gestalt nach unendliche Gestalt. Raum ist die Kontinuität der Gestalt, die durch alle Gestaltung im Endlichen hindurchgeht, und ist zugleich Horizontform aller Möglichkeiten der 15 Gestaltung, die als unbestimmte Möglichkeiten gebunden sind durch eine Wesensform.

Beilage VIII Die Konstitution der vorgegebenen Welt systematisch auslegen – das ist systematisch die Horizontstruktur derselben auslegen. Das Ineinander der Horizonte. Wichtiges zur Lehre von den Horizonten1

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Die Welt als vorgegeben in der Ständigkeit der „äußeren“ Erfahrung – die Welt als das Apriori für jede „mögliche Erfahrung“, für jede bestimmte Kenntnisnahme von Seiendem in einem jeweiligen in der Erfahrung auf25 tretenden Sosein, für jedes bestimmte Urteilen, für jedes aus Erfahrung entspringende oder entsprungene Wissen und das Wissen Wiederbewähren. Was heißt das: „Die Welt, das Sein der Welt ist vorgegeben, ist das fundamentale Apriori“, da doch zweifellos auch gilt, dass alles, was ich von der seienden Welt weiß oder vom Sein der Welt weiß, ich aus der Erfahrung weiß? 30 „Vom Sein der Welt wissen“ – darin liegt ein Doppelsinn. Was soll hier „wissen“ bedeuten? Offenbar nicht: gerade aktuell urteilen über Sein der Welt. Es genügt eine inaktuelle Kenntnis, die ihrerseits früher schon in aktuellen Urteilen oder aktuellem Kenntnisnehmen in bloßen Erfahrungen, ohne gerade darüber auszusagen, gewonnen worden ist. Es ist evident, dass 1

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ich ohne aktuelle Erfahrungen vom Sein der Welt nichts wüsste. Was für Erfahrungen? Genauer gesprochen: ohne aktuelle Erfahrung von Dingen, von weltlichen Objekten, Realitäten. „Welt“ nennen wir das Al l der mundanen Objekte, der wirklich seienden. Also keine Erfahrung schlechthin, keine „schlichte“ Erfahrung geradehin – als die eines Objektes – ist Erfahrung oder Wissen von der Welt und offenbar auch keine synthetische Erfahrung von mehreren und noch so vielen Objekten. Und doch, – soll ich m i t ihr Wissen und zunächst ursprünglich erfahrende Kenntnis vom Sein der Welt haben, muss ich irgendwelche Objekte erfahren. Einzelerfahrung geht der Welterfahrung, „Wissen“ vom Einzelnen dem „Wissen“ von einem und „dem“ Universum von Einzelheiten voraus. Dabei ist keinesfalls eine Vielheit erfahrener Objekte, die ich kolligierend zusammen ergreife, dasselbe wie die Welt. Wie weiß ich von der Welt, dass sie ist und als die Welt, die eine einzige Welt ist? Wie weiß ich, dass das, was ich jeweils erfahre, das Einzelne und Viele, Einzelnes und Vieles aus dem Universum „Welt“ ist? Wie weiß ich im Einzelnen „im Voraus“, „a priori“ von einem Mehr? Und welcher Art ist dieses Mehr, dass ich Grund gewinne für eine Rede von Welterfahrung und apriorischem Weltwissen?1 a) Es ist paradox und doch zweifellos, dass es keine Erfahrung im erstlichschlichten Sinne einer Dingerfahrung gibt, die, erstmalig dieses Ding erfassend, in Kenntnis nehmend, nicht von ihm schon mehr „weiß“, als dabei zur Kenntnis kommt. Jede Erfahrung, was immer sie im eigentlichen Sinne erfährt, als es selbst zu Gesicht bekommt, hat eo ipso, hat notwendig ein Wissen und Mitwissen hinsichtlich eben dieses Dinges, nämlich von solchem ihm Eigenen, was es noch nicht zu Gesicht bekommen hat. Dieses Vorwissen ist inhaltlich unbestimmt oder unvollkommen bestimmt, aber nie völlig leer; und wenn es nicht mitgälte, wäre die Erfahrung überhaupt nicht Erfahrung von einem und diesem Ding. „Jede Erfahrung hat ihren Erfahrungshorizont“, jede hat ihren K e r n w i r k l i c h e r u n d b e s t i m m t e r K e n n t n i s n a h m e, hat ihren Gehalt an unmittelbar selbstgegebenen Bestimmtheiten, aber über diesen Kern bestimmten Soseins und im „eigentlich selbst da“ Gegebenen hinaus hat sie einen H ori z ont. Darin liegt offenbar: Jede Erfahrung verweist auf die Möglichkeit – und vom Ich her auf eine Vermöglichkeit –, nicht nur das Ding, das im ersten Erblicken Selbstgegebene, nach dem dabei eigentlich Selbstgegebenen schrittweise zu explizieren, sondern auch weitere und weiter neue Bestimmungen von demselben erfahrend zu gewinnen. Jede Erfahrung ist auszubreiten in eine Kontinuität und explikative Verkettung von Einze1 Bei dieser Frage setze ich als selbstverständlich voraus, dass Erfahrung mir wirklich einzelnes Reales gibt. – Aber ist das je wirklich der Fall nach der Art, wie einzelnes Reales erfahren ist?

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lerfahrungen, synthetisch einig als eine einzige Erfahrung, eine offen endlose von demselben. Ich mag für meinen jeweiligen Zweck an dem wirklich schon Erfahrenen genug haben, aber dann „breche ich eben ab“ mit dem „Es ist genug“. Ich kann mich aber überzeugen, dass keine Bestimmung die letzte ist, dass das wirklich Erfahrene noch immer, endlos, einen Horizont möglicher Erfahrung hat von demselben. Und diese in ihrer Unbestimmtheit ist im Voraus in Mitgeltung als ein Spielraum von Möglichkeiten, als einen Gang der Näherbestimmung vorzeichnend, die erst in der wirklichen Erfahrung für die bestimmte Möglichkeit, sie verwirklichend, entscheidet gegenüber den anderen unbestimmten Möglichkeiten. b) Damit sind wir aber nicht zu Ende. Jedes erfahrene Ding, jede wirklich erfahrene Dinggruppe (wirklich erfahren in der soeben bezeichneten ersten Horizonthaftigkeit) hat einen offen-endlosen Außenhorizont von Mitobjekten: also einen Horizont zweiter Stufe, bezogen auf den Horizont erster Stufe, ihn implizierend. So gehört zu jeder Erfahrung eine Antizipation möglicher Erfahrung in offener Endlosigkeit von komplizierter Struktur. Aber geht man dem nach, so kommt man, tiefer eindringend, auf eine komplizierte Horizontstruktur mit einem Ineinander von Horizonten in jeder einzeldinglichen Erfahrung und zunächst Wahrnehmung, wobei eine Verweisung von an sich ersten auf an sich spätere Horizonte (intentionale Modifikation) verläuft; und alle stufenweise implizierten Möglichkeiten sind Erfahrungsmöglichkeiten von dem sel ben Ding. Jede Wahrnehmung hat als antizipierte Mitgegenwart ihren Horizont von Wahrnehmbarem desselben Realen. Sie hat aber auch einen Horizont der offen endlosen Vergangenheit desselben Realen und ebenso Zukunft – mit zugehörigen immer weiter führenden genaueren Auslegungen. Die wirkliche Welt in ihren Möglichkeiten ist immerfort „a priori“ antizipiert, und antizipiert derart, dass sie als eine Möglichkeit im Spielraum ihrer Möglichkeiten in konsequenter Einstimmigkeit anschaulich gemacht werden kann. Problem der Weltanschauung. Und im freien Abwandeln der Möglichkeiten Konstruktion der Wesensform – der ontologischen Form. Von jedem erfahrenen Realen aus und seiner eigenen Horizonthaftigkeit (in seinen Möglichkeiten) ist die vorgegebene Welt zu konstruieren in ihrer Weltform – als universale raumzeitliche Natur, als Universum des Außereinander in den Grundformen „Raum“ und „Zeitlichkeit“. Kernstruktur „physische Natur“ – in ihr mitseiend, lokalisiert und temporalisiert, das zu den organischen Körpern gehörige Seelische. – Psychophysische Natur. Das ist der Boden der Seinsgeltung; das in aller expliziten Seinsgeltung (der der Erfahrung und der der Erfahrung nachfolgenden) implizierte Apriori ist vor der Konstruktion, die der Ontologe erst vollzieht, in einer strömend wandelbaren Weise ständig da, ständig, weil – was noch ausdrücklich zu

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sagen ist – Erfahrung und in eins damit auch sonstige explizite Seinssetzung in Ständigkeit verläuft: Was immer aktuell in Geltung ist im wachen Leben, es ist Untergrund von aller Aktualität ein Kern aktueller Erfahrung und damit der ihr zugehörige Horizont – in seiner Wandelbarkeit. Er ist so da, dass im 5 Gang der ständigen Erfahrung ständig eine „Vorzeichnung“ (ursprüngliche Induktion, induktiver Horizont) fortläuft von dem schon Erfahrenen auf das von ihm in Modis der Bestimmtheit-Unbestimmtheit „Vorgezeichnete“. Und diese Vorzeichnung dessen, was „nun kommen wird“, in der lebendigen Erfahrung der Voraussicht, eben diese hat immer einen weiteren Horizont 10 darin, dass sie im Voraus auf weitere, nachher kommende Vorzeichnungen als implizite Potenzialitäten verweist. – Unendlichkeit der Implikation, also eine intentionale Struktur des Gesamthorizontes als Horizontes.

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Diese ganze Betrachtung ist nur ein Anfang. Wir müssten nun darauf eingehen, wie mit der Potenzialität der möglichen Erfahrungszusammenhänge nun thematisch werden können nicht nur wirkliche und mögliche Einzelheiten im Horizont, sondern auch thematisch werden kann das All der im Horizont beschlossenen Einzelheiten als eine Erfahrung höherer Stufe, und für jedes Einzelne wieder die Al l hei t seiner in Antizipation umspannten Merkmale etc. Also Universum als Universum – in Richtung auf die Beantwortung der vorangestellten Leitfrage. Andererseits ist Horizont bezogen auf das in Seinsgewissheit gesetzte Seiende, aber jedes Seiende ist dabei seiend eben mit einem antizipierten Horizont von mannigfaltigen Seinsgewissheiten, die synthetisch-einstimmig zur Einheit einer Gewissheit zusammenstimmen. Horizont drückt also Einstimmigkeit aus. – Wir haben die Modalisierungen gar nicht erwähnt und ihre Beziehung auf die innere und äußere Horizonthaftigkeit, wobei der Totalhorizont als Allheit des vom Einzelnen aus in Mitgeltung stehenden einzelnen Seienden nicht modalisierbar ist. Seinsgewissheit der Welt in der Art, wie sie in modalisierbaren Einzelgewissheiten fundiert ist, ist apodiktischer Boden für alle Modalisierungen etc. Ferner: Ist die Struktur der einstimmigen Weltgeltung als Horizontgeltung an einem jeweils in Gewissheit geltenden Kern klargelegt und damit bezogen auf die allheitliche Mannigfaltigkeit subjektiver Erscheinungen, in Geltung bleibender und Geltung modalisierender, so entspringt als Grundthema einer neuen Erfahrung und Seinsgewissheit die Subjektivität – die Totalität des Subjektiven in seiner eigenen Horizonthaftigkeit. Im Horizont sind hier alle die relativen Einstimmigkeiten, aber auch Unstimmigkeiten in der Subjektivität als der, worin Geltung und „Seiendes“ sich abspielt. Aber nun diese Subjektivität: Ich der Erkennende, der Erfahrende, erfahre andere Subjekte, aber nicht nur als weltliche Objekte, sondern als

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Mitsubjekte. Aber nun stehen wir vor den einzelsubjektiven Umwelten, in welchen, da diesen die anderen Subjekte als Objekte zugehören, auch ihre Umwelten impliziert sind – aber so, dass jedes Subjekt die fremden Umwelten von sich aus, in seiner „Auffassung“, in Seinsgewissheit hat. Ferner, die Welt für mich ist Welt vermittelst der Anderen, der Erfahrungen, der Kenntnisse etc., die ich von ihnen übernehme, die sich mir durch Ausdruck mitteilen, die sie eventuell aktuell willentlich mir mitteilen, während zugleich die Anderen in jeder Hinsicht – auch was sie mir mitteilen, ausdrücken – selbst für mich nur sind aus meiner Erfahrung, – doch nein, als weltlich seiende Andere für mich nur sind vermittelst der Anderen, der wirklichen und möglichen etc. In all dem liegt ein Miteinander und Ineinander aller subjektiven Horizonte, dazugerechnet die generative Vergemeinschaftung, ihre Vergemeinschaftung der Horizonte in allen Gemeinschaftsformen. Wie vorgehen? Welt – Welt, die mir gilt, sie als mir geltende auslegen, als die, die mir nicht nur gilt, sondern ständig in Allgemeinheit apodiktisch gewiss ist und inhaltlich so, dass ich in ihr bin und andere Subjekte mit mir, und wir in ihr sind als sie Erfahrende etc., und dass wir in ihr sind als in ihr lebend, als generativ verbunden und vergemeinschaftet, darin nicht nur überhaupt Weltbewusstsein haben, sondern im Miteinander des Bewussthabens einander beeinflussen, und dass Welt für jeden von der Tradition her Sinn hat, dass Welt stets Welt für uns aus Normalität und Anomalität ist usw. Die Horizontstruktur systematisch auslegen ist die Intentionalität auslegen, in der Welt konstituiert ist.

Nr. 14 Das universale Weltbewusstsein als Weltwahrnehmung. Die im Welterscheinen implizierte universale Synthese von Horizonten. Die zum natürlichen Weltbewusstsein gehörende verweltlichende Apperzeption alles E rscheinens und der verweltlichende Horizont möglicher Reflexion1

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Welt als Welt der Erfahrung – ist doch ein kitzeliges Thema. Welt, wie sie sich in wirklichen und möglichen „Aspekten“, Erscheinungen, darstellt dadurch, dass durch das Bewusstseinsleben – mein Bewusstseinsleben, in dem jedes Anderen Bewusstseinsleben intentional impliziert ist – eine Einstimmigkeitssynthese innerhalb der G esamtsynthese, die die Erscheinungen aller Modalitäten verbindet, hindurchgeht bzw. sich immerzu vorzeichnet als eine solche, die sich herausstellen wird in der Weise der Korrektur, sich herausstellen muss, sei es passiv, sei es im aktiven Eingreifen der Ich-Subjekte in den Gang der „Erscheinungen“. „Wahrnehmungen“, das sind wahrgenommene Gegenstände im Wie, also wahrnehmendes Erleben, worin Wahrgenommenes als solches, im Wie bewusst ist. Es sind Wahrnehmungen schlechthin, im Urmodus, Wahrnehmungen in Vergegenwärtigungsmodifikationen, ein Wachstrom mannigfaltiger solcher einzelnen Bewusstseinsweisen in wechselnden Geltungsmodis, aber immerzu zur Einheit einer Einstimmigkeit innerhalb der allgemeinen Einheit des Stromes verbunden oder sich in Korrektur verbindend: eine Einheit, die selbst Wahrnehmung ist, mit dem zu einem jeweiligen „Weltaspekt“ verbundenen Wahrgenommenen im strömenden Leben sich ständig wandelnd, aber seinerseits ein synthetischer Wandel von Weltaspekten sich zur Einstimmigkeit korrigierend und künftig und jetzt universale, weltliche Einstimmigkeit vorzeichnend. Natürlich muss ich hier vorsichtig sein. Ich mag jetzt mein Wahrnehmungsfeld als das der Welt, also als meinen Weltaspekt haben, ohne an meine vergangenen Weltaspekte 1

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und ihr weltliches Vergangenes und somit an mein vergangenes Wahrnehmungsfeld mich aktuell anschaulich zu erinnern; tritt Wiedererinnerung ein, so ist das darin Wiedererinnerte ohne weiteres in Synthese mit dem jetzt original Wahrgenommenen, dessen Vergangenheitshorizont in einem Stück „anschaulich machend“, klärend. Die beiden synthetisch verbundenen Aspekte bilden nun selbst einen „Aspekt“ d er Welt. Die Welt erscheint, ist wahrgenommen, und zwar wahrgenommen originaliter im Urmodus „Gegenwart“ und in eins als vergangene einer gewissen vergangenen Gegenwart in einem sekundären Modus, der aber hinsichtlich des Modifikats „vergangen“ Urmodus ist. Die Synthese, die offenbar nicht eine Verknüpfung im Nebeneinander ist, da doch die Wiedererinnerung als „Enthüllung“ eines Horizontimplikates der Wahrnehmung in dieser fundiert ist, in ihre Intentionalität eingehend als Explikat, d ie S yn t h ese, sage ich, ist selbst eine Welt„ erscheinung “. Ebenso weiter für Ketten von Wiedererinnerungen und für Vorerwartungen als einspringende vorerinnernde Anschauungen (den Zukunftshorizont anschaulich „explizierend“). Desgleichen jedoch hinsichtlich der „Einfühlungen“, der Vergegenwärtigungen fremder Menschen und Tiere und deren Bewusstseinslebens, darin wieder deren Weltwahrnehmungen. Jede meiner Weltwahrnehmungen, auch wenn ich dabei gar keine aktuelle Vergegenwärtigung keinerlei aktuell-anschauliche Vergegenwärtigung fremden Bewusstseins und fremder Wahrnehmung in meinem Bewusstseinsfeld habe, „impliziert“ durch ihren Horizont in offener Endlosigkeit fremdes waches Leben, und was davon jeweils aktuell anschaulich wird. In meinem Bewusstseinsleben liegt die u n iversale S yn t h ese der Erscheinungen, der selbsteigenen gegenwärtigen und erinnerten und der der für mich fremden, mir „fremden“ Subjekte, als endloser Horizont meiner aktuellen jeweiligen Totalwahrnehmung, die ein synthetisches Gebilde aus Sonderwahrnehmungen, primären, sekundären, tertiären (einfühlenden) ist. Im Strömen dieser synthetischen Gebilde verknüpfen sie sich selbst wieder zu Synthesen, zu „ Erscheinungen “ höherer S tufe; versinkend modifizieren sie den ständigen impliziten Welthorizont, ihm neuen Sinn zuerteilend und doch darin ein e gewisse S elb igk eit – die darin sich näher bestimmende, aber auch sich korrigierende Welt – konstituierend. Impliziert ist darin (in diesem immer neu sich gestaltenden Horizont),

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was durch „Explikation“, durch Herstellung von Wahrnehmungen in den jeweiligen Wahrnehmungsmodis (Modi von Anschauungen, die Seinsgeltung in sich tragen oder vielmehr die ich im Bewusstsein der Seinsgeltung vollziehe) zur Verwirklichung der Horizontgeltung, zur Leistung kommt – also auch das ichliche Sich-Vergemeinschaften mit den Anderen als für mich Daseienden im Wahrnehmen, das von ihnen Mitteilungen Empfangen und ihnen Mitteilen, das Eingreifen in die wahrnehmungsmäßige Welt im Handeln, ja in allem Tun, auch im wahrnehmenden, und nicht nur als mein solitäres Handeln, sondern auch als gemeinschaftliches Handeln in der sozialen Verbundenheit der Akte als Gemeinschaftsakte. Das alles Zutage-Tretende ist selbst w elt lich, im Welthorizont jeweils schon impliziert, und ist jeweils Erscheinendes in Erscheinungsweisen, eintretend in Erscheinungssynthesen, den Horizont neu bestimmend als ihm unter dem Titel des schon Bekannten zugehörig, ihn aber auch näher bestimmend – in der Weise, wie für die Zukunft aus individuell Bekanntem nicht individuell, aber typisch Bekanntes wird – und so überhaupt den Gang der künftigen Implikate an „möglichen“ Wahrnehmungen bestimmend. Diese als Anschauungen von Möglichkeiten der Wahrnehmung sind dabei selbst ein Modus von Wahrnehmungen, nicht geltungslose „Vorstellungen“ (die es eigentlich nicht gibt), auch nicht bloße Phantasien mit ihren Geltungen im Quasi-Modus; sie sind vielmehr besondere „Wahrnehmungen“ von Möglichkeiten, die bestehen, in Spielräumen ihre Seinsgeltung haben usw. Aber nun scheint es doch, dass die Frage nach der Welt als Welt wirklicher und möglicher Wahrnehmung (Erfahrung) eine S ch ran k e ausdrücken soll: dass wir gegenüberzusetzen hätten Wahrnehmung als Erscheinung und Erscheinen – demgegenüber sonstiges Bewusstsein und darin Bewusstes, z. B. Gedanken, Meinungen, in der Tradition erwachsen, Gedanken, die man sich hinsichtlich der Welt macht, der Welt zumutet, in sprachlichem Tun als sprachliche Bedeutungsauflagen den Dingen auferlegt, d. i. den Erscheinungen, erscheinenden Dingen als solchen als Sinnbestand beigefügt. Hierher gehören doch auch die theoretischen Gedanken, im theoretischen Denken gebildet und letztlich doch auf dem Grund der Welterfahrung, in der Welt immerfort erscheinungsmäßig sich konstituiert und schon außer und vor allem Theoretisieren in Einstimmigkeitssynthesen als seiend gilt mit dem Sinngehalt, der in diesen Synthesen sich

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konstituiert. Der E rf ah ru n g (besser: dem Erfahren) steht gegenüber, scheint es, das D en k en, auch das Handeln, das man ja gewöhnlich dem Denken gegenüberzustellen pflegt. Und so korrelativ: Die Erfahrungsinhalte, die Erscheinungen und die in kontinuierlicher und diskreter Synthese (selbst eine Erscheinung höherer Stufe) sich durchhaltenden „Gegenstände“, Gegenstandspole, unterscheiden sich von den G ed an k en in den Sprachgebilden, den Worten (mit ihren Begriffen), den Sätzen (Aussagen mit ihren Aussagebedeutungen, den „Urteilen“), und diese unterscheiden sich wieder von den sonstigen Aktgebilden, darunter denen, die da als Korrelate des handelnden Tuns „H an d lu n gen “ heißen, in diesen eventuell Werkgebilde, Werkstadien als Vorentwürfe usw. Aber hier stehen wir vor der Schwierigkeit, dass doch Welt alles u m f asst: Auch die Gedanken als Gedanken der Menschen sind in der Welt, wie ja auch ihr Denken, in dem die Gedanken zur Bildung kommen, in den psychischen Bereich gehört. Zudem, als geäußerte, gesprochene, niedergeschriebene, gedruckte Gedanken haben sie ihre Stellen in der raumzeitlichen Welt, nämlich durch die „Ausdrücke“, durch diese körperlichen Vorkommnisse. Die gedanklichen Bedeutungsgebilde gelten uns zwar als dieselben, als vielen körperlichen Ausdrücken identische Bedeutung verleihende und andererseits als von vielen Menschen zu bilden und nachzubilden als diese selben; in der Synthese des wechselseitigen Verstehens werden sie ohne weiteres als dieselben erfahren. Aber wenn wir so von der Idealität der Gedanken sprechen, ihnen selbst keine weltliche Individualität zuerkennen, keine ihnen selbst eigene raumzeitlich individuierende Stelle, so schweben sie doch nicht in der Luft. Ohne Realisation sind sie von ihrer, sagen wir gleich, historischen Wirklichkeit aus rückwärts zu projizierende ideale Möglichkeiten ihrer Bildung – in anderer Zeit von anderen und sei es welchen Menschen immer –, die natürlich so projiziert identifiziert werden. Ebenso können wir auch Phantasiemenschen fingieren in einer Phantasiewelt, in der sie als dieselben Gedanken gedachte und in Dokumentierungen verkörperte Gedanken wären. Doch halten wir uns an die Gedanken selbst unter Absehen von ihrer Dokumentierung. Haben sie nicht verschiedene Modi ihres Wirklichseins? Oder vielmehr: Haben sie nicht auch ihre subjektiven Weisen, in denen sie „erscheinen“, ihre wahrnehmungsmäßige Seinsgeltung haben, diejenige, in der sie in ihrer origi-

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nalen Wirklichkeit bewusst sind, Modi kontinuierlichen Erscheinens in kontinuierlich abgewandelten Erscheinungsweisen mit Unterschieden des „eigentlich selbst verwirklicht“ und „präsumtiv antizipiert“, Modi der diskreten Erscheinungsweisen und der Synthesis in der Diskretion: wie ursprünglich erste Bildung, die da „Urstiftung“ heißt (z. B. im ersten „Entdecken“), und bloß wiederholende Selbstgebung, welche die schon gestiftete und feststehende Überzeugung wieder aufnimmt und wieder klar macht? Haben diese Erscheinungen nicht die Bedeutung von Wahrnehmungen, und zwar wieder von Weltlichem, obschon sie nicht Körpererscheinungen sind, sondern nur mit Körpererscheinungen verbunden? Das betrifft, nur in anderer Art, die B ew u sst sein sw eisen jeder Art, auch die des Denkens, die die Erscheinungen „in sich tragen“, aber nicht selbst Erscheinungen sind – sofern die Erscheinungen selbst Einheiten des inneren, immanent zeitigenden Bewusstseins sind und als das ihre tieferen Erscheinungsmodi haben, die wir nicht „Erscheinungen“ (Körpererscheinungen und so denn Erscheinungen sonst) zu nennen pflegen. Voll gefasst ist alles E rsch ein u n g in verschiedenen Stufen und Modis, w as d a d en O b jek t ivit ät en gegenübergesetzt wird und steht in d er Einheit der B ew u sst sein ssu b jek t ivit ät, die immerfort Erscheinungen mit Erscheinungen einigt in einer u n iversalen S yn t h ese und in ihrem Strömen Erscheinungen strömend hat und alle Sondererscheinungen im Ich-Pol zentriert. Alle Erscheinungen als B ewusstseinsmodi sind aber selbst bewusst als w eltlich, als der Welt unter dem Titel „psychisch“ zugehörig – während doch Welt konstituierte Einheit von Erscheinungen ist, erst in der Intentionalität der Erscheinungen als erscheinende Einheit zur Geltung und Bewährung kommend. Haben wir also im Bewusstseinsleben überhaupt einen Unterschied zwischen erfahrendem und nicht-erfahrendem Leben? Ist nicht das Bewusstseinsleben durchaus erfahrendes, durchaus selbstgebendes, wahrnehmendes in den verschiedenen intentionalen Modis von Selbstgebung: urmodale Wahrnehmungen im engeren Sinn, abgewandelt Erinnerung (wiedervergegenwärtigende Körperwahrnehmung, gedankliche Wahrnehmung) usw.? In der Tat wird man sagen müssen: Das universale Bewusstsein in natürlicher Einstellung, in der ich mich als Mensch, weltlich lebend, erfahre, ist in allen seinen Bewusstseinserlebnissen w elt lich

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w ah rn eh m en d, in seinem Horizont also Welt überhaupt als synthetische Einheit von mannigfaltigen und vorgezeichneten Erscheinungen implizierend. Freilich müssen wir dazunehmen das fingierende Bewusstsein, Bewusstsein im Modus des Als-ob vergegenwärtigend und darin Objekte quasi-wahrnehmend, wobei die Seinsmodalitäten das Vorzeichen des Als-ob haben. Andererseits, mein jetziges fingierend vergegenwärtigendes Bewusstsein ist wie alles wirkliche Bewusstsein und so der gesamte Bewusstseinsstrom nicht nur in sich Welt wahrnehmend (in unserem weiteren Sinn dieses Wortes), sondern ist selbst apperzipiert als weltlich, nämlich als m ein Psych isch es, soweit es mein primordiales ist, oder Fremdpsychisches, soweit es in meiner Primordialität aus ihrer Fremdwahrnehmung Seinsgeltung hat.1 Es ist apperzipiert, also selbst Wahrnehmungsinhalt, selbst nur Erscheinendes einer es als Gegenstand in Geltung habenden Erscheinung. Für diese gilt also wieder dasselbe – und so in infinitum. Natürlich kann sich dieser Progress nur lösen durch die Unterscheidung von Aktualität und horizonthafter Potentialität. Das aktuelle totale Bewusstsein mit all seinen Bewusstseinserlebnissen hat einen apperzeptiven Horizont möglicher Reflexion, und diese Reflexion ist „verweltlichend“ das, worauf sie reflektiert, es aktuell als Psychisches apperzipierend. und so in infinitum.2 Da alle Potentialität auf Aktualität verweist, so muss Reflexion zum notwendigen Bestande der Welterfahrung gehören. Deutet das nicht darauf, dass alles Psychische als solches der Reflexion verdankt wird? Ist es nicht Einfühlung, die Reflexion voraussetzt auf Dinge, als wie sie für mich primordial sind, also auf Dingerscheinungen, und dass sie eben dadurch allein zustande kommt, dass fremde Leibkörper in meiner Primordialität eine Reflexion auf mich selbst und mein leibliches Fungieren motivieren in dem „ähnlich, wie wenn ich leiblich dort wäre“? Menschen sind also als psychophysische Einheiten schon auf Reflexion beruhend, und es bleibt zu zeigen, w ie der Iterationshorizont der Reflexion und ihre objektiv-psychischen Apperzeptionen verständlich werden. Ist dies Folgende vielleicht ein Weg? – Wenn ich den Anderen verstehe, so dient mir eine Selbstreflexion; aber in 1 2

Bewusstsein als Psychisches. Konstitution des Psychischen durch Reflexion. Konstitution des Psychischen durch Reflexion und in Beziehung auf Andere.

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ihr habe ich kein psychologisches „Wissen“ von meinem Verstehen als einem Psychischen, als einem intersubjektiv Identifizierbaren, ich habe es nur durch Reflexion, die zunächst nicht motiviert ist. Aber den Anderen verstehend, verstehe ich bald auch, dass er in einer ähnlichen Situation – etwa der, die ich „mit seinen Augen auf meinen Körper hinsehen“ nenne – mich versteht als ihn ansehend, ihn verstehend. Das verstehe ich aber von ihm auf mich und mein Verstehen zu rü ckgelenkt. Das ist, ich werde motiviert, auf mich als Verst eh en d en zu reflektieren. Ich verstehe den Anderen aber auch als einen Dritten verstehend (ansehend) und diesen als einen Vierten verstehend etc. Und einen Anderen verstehe ich wieder als in dieser Mittelbarkeit: von dem einen zum anderen sehen, ihn als den Dritten verstehend verstehen usw. Liegen in all dem nicht mittelbare Reflexionen, die mich motivieren, m ich selb st it erat iv ref lexiv zu erfahren? So ist das universale natürliche Bewusstsein ganz und gar in all seiner Aktivität und Affektivität Welt b ew u sst sein, und zwar Welt wahrnehmend, mit universalem Wahrnehmungshorizont. In meinem universalen natürlichen Bewusstseinsleben (das zugleich mein menschlich psychisches ist) ist impliziert als Psychisches objektiv geltend: fremdes Bewusstseinsleben als Weltbewusstsein des Fremden, das zugleich fremdes psychisches Leben des fremden Menschen ist. Und dieses impliziert ebenso wieder. Wir haben also jeder von uns Welterfahren, und das Welterfahren ist unser strömendes waches Leben, und erfahren darin Welt als ein offenes Universum von Menschen (und Abwandlungen derselben als Tiere), darin jeder sein Bewusstseinsleben hat, worin er Welt, also auch sich selbst als Menschen bewusst hat in expliziter und impliziter Wahrnehmung, die intersubjektiv als Psychisches für jedermann zugänglich ist. Überall ist Bewusstseinsleben durch und durch wahrnehmendes, in dem Welt als seiende sich für das wahrnehmende Ich konstituiert, und es ist dabei zugleich wahrnehmend in Bezug auf sich selbst und alle möglichen selbstreflektiven Iterationen des Wahrnehmens. Die Menschen sind Subjekte für die Welt und zugleich Objekte in der Welt. Sie sind Subjekte, ein jedes ist für die Allheit der Anderen Subjekt; sie sind seine Objekte, und jedes ist zugleich für sich selbst Subjekt und Objekt.

Nr. 15 Horizontmeinung und ursprüngliche Induktion. Der Welthorizont als strukturierter Leerhorizont 1 5

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Zur größeren Genauigkeit in der Explikation der ineinander fundierten, einander implizierenden Horizonte diene Folgendes: „Horizont“ bedeutet, wie wir auch sagen können, die wesensmäßig zu jeder Erfahrung gehörige und von ihr unabtrennbare In d u k t io n – ursprüngliche Induktion als Wesensbestand, betone ich, in jeder Erfahrung selbst. Das Wort ist nützlich, da es vordeutet (selbst eine „Induktion“) auf Induktion im gewöhnlichen Sinne einer Schlussweise und darauf, dass diese letztlich zurückführt bei ihrer wirklich verstehenden Aufklärung auf die originale ursprünglichste Antizipation. Von dieser aus muss also eine wirkliche „Theorie der Induktion“ (um die man sich so viel und so vergeblich gemüht hat) aufgebaut werden. Doch das ist hier an dieser Stelle nur nebenbei gesagt; uns kommt es auf die Horizontstrukturen an und darauf, was zu Horizont überhaupt wesensmäßig gehört. Diese ursprüngliche „Induktion“ oder Antizipation erweist sich als ein Abwandlungsmodus ursprünglich stiftender Aktivität, von Aktivität und ursprünglicher intentio, also als ein Modus der „Intentionalität“, eben der über einen Kern der Gegebenheit hinausmeinenden, antizipierenden. Ihm entspricht wesensmäßig die Erfüllungsform: für die Wahrnehmung die wahrnehmungsmäßige und in voller Ursprünglichkeit die als kontinuierliche Synthesis der Verschmelzung von Wahrnehmung mit Wahrnehmung in Form einer kontinuierlichen Sukzession erlebte Fortdauer der Wahrnehmung als Wahrnehmung desselben in kontinuierlich verschiedenen Modis eigentlicher und uneigentlicher Wahrnehmung oder von eigentlich Wahrgenommenem desselben und Induziertem. Die Originalität der Erfüllung ist hierbei eine doppelte: Einmal, weil das Erfüllende Wahrnehmung ist, worin das Induzierte als „es selbst“ sich darstellt; fürs Zweite, weil die Erfüllung als Erfüllung in originaler Weise ganz unmittelbar statthat

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Ende Mai oder Anfang Juni 1934. – Anm. des Hrsg.

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und nicht in der Form eines Wiedererkennens mit dessen implizierten Vermittlungen, in denen induzierte Induktionen vermitteln. Freilich, die unmittelbare Erfüllung als Kontinuität eines Erfüllungsprozesses hat selbst wieder in sich Unterschiede der Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit in den Phasen der Kontinuität. Die Wahrnehmung hat ihren Horizont der Mitgegenwart, der induzierten, die durch kontinuierliche Fortwahrnehmung (auf verschiedenen „Wegen“) zur Erfüllung käme in ursprünglich kontinuierlicher Unmittelbarkeit als dann originale, wahrnehmungsmäßige. Dazu gehören besondere weitere Auslegungen; denn hier ist noch sehr viel aufzuweisen. In unserer Linie liegt nur Folgendes: Im Fortgang des Wahrnehmens als eines fortschreitend „näher Kennenlernens“ desselben Wahrgenommenen, als sich mit immer neuem Wahrnehmungsgehalt (Seiten des Gegenstandes) selbst Zeigenden, gewinnt jede Wahrnehmungsphase (ontisch: jede jeweilige Seite) ih ren Horizont, einen immer neuen. Die Art, wie die Synthesis der Seiten nicht als eine Aneinanderreihung, als eine Integration vor sich geht, sondern als eine kontinuierliche Fortgeltung der schon im Modus „Wahrnehmung“ zur Geltung gekommenen, aber als eine Fortgeltung unter Sinnesmodifikation, durch die Sinnesidentität doch hindurchgeht, als eine Fortgeltung unter Näherbestimung, – ist ein wichtiges Thema. Diese Synthesis der Seiten oder die auf Grund der Noch-Geltungen, Fortgeltungen unter Sinneswandlung, zu Stande kommende jeweilige schlechthin geltende Gesamtseite als bekannt gewordene Kenntnis vom Ding (während davon nur ein besonderer Bestand „eigentlich wahrgenommen“ ist) beruht offenbar auf einer Synthesis der Horizonte, auf ihrem kontinuierlichen synthetischen Fungieren in der Seinssinnkonstitution. Das Wie ist zu erforschen. Fundamental ist ferner ein ständiger innerer Unterschied im jeweiligen Horizont. In jeder Phase erwächst ein neuer Horizont. Das kann sagen: In jeder Phase kommt es zu einer Induktion, in der in einer (mehr oder minder vollkommenen) Bestimmtheit eine neue Mitgegenwart sich vorzeichnet zunächst im Fernding und mittelbar für das wirkliche Ding selbst. Das ist es, woran man unter dem Titel „Induktion“ zunächst denken wird. Doch ist hierbei schon zu unterscheiden das unmittelbar Induzierte als unmittelbar wahrnehmungsmäßig zu Erfüllende und das durch dieses Unmittelbare in einer

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kontinuierlichen Mittelbarkeit hindurch Induzierte.1 (Offenbar liegt darin nicht ein Induziertsein in einer Ebene sozusagen oder in einem Nebeneinander, sondern in einer Kontinuität, wo die Induktivität eine solche im Ineinander, eine kontinuierliche Implikation der Intentionalität ist.) Andererseits haben wir aber auch darauf aufmerksam zu machen, dass diese gesamte unmittelbare und kontinuierlich mittelbare Induktion oder Antizipation des durch vermöglichen Fortgang des Wahrnehmens erfüllend zu Verwirklichenden als Vorzeichnung des bestimmten Mitdaseienden, nämlich dasselbe Objekt Mitbestimmenden, an ihm und von ihm Kennenzulernenden, nicht alles ist. Die Bestimmtheit ist Bestimmtheit in einem Milieu der Unbestimmtheit; das „Vo rgezeich n et e“, (im engeren Sinne) Induzierte, ist Moment in einem Horizont der auch „völlig unbestimmter “ Leerhorizont ist.2 Aber das eigentlich Induzierte ist nicht wie eine Insel im Meer, sondern das Meer selbst wandelt sich in Festland, wo immer ihm nachgegangen wird. Das Leere ist nur ein Modus der unvollkommenen Bestimmtheit, die selb st im Wandel zur relativ vollkommeneren Bestimmtheit wird. Das B est im m t e ist in seiner Weise zu explizieren, zu verdeutlichen; das L eere ist nicht explikabel, aber im Wandel der indifferenzierten Mitmeinung in differenzierende Vorzeichnung wird es in dieser explikabel. Wir stehen da überhaupt in einer Relativität. Denn was da wirklich vorgezeichnet ist, das Bestimmte, ist nur relativ bestimmt, es hat seinen eigenen Sonderhorizont von Unbestimmtheit, die im „näher Herankommen“, fortschreitend näheren Wahrnehmen, sich in vollkommene, in reichere (eventuell aber auch korrigierte) Bestimmtheit verwandeln wird3, so1 Es handelt sich hier natürlich um die Konstitution des „Wahrnehmungsdinges“ in der Nah-Fern-Dinglichkeit (als intentionale Sinneinheit verstanden). In jedem Modus der Ferne des ersten Wahrnehmungsdinges (als Oberflächendinges) haben wir ein jeweilig eigentlich Selbstgegebenes als Seite; aber das ist nicht Seite des Dinges selbst, sondern ein Selbst, worin sich in Vollkommenheitsstufen das „endliche“ Selbst selbst-darstellt. Das vollkommen Nahe ist die Dingseite selbst in vollkommener unmittelbarster Selbstdarstellung, aber andererseits als Telos der Vollkommenheit ist es das Vollkommene der Kontinuität der Unvollkommenheiten in ihrer intentionalen Stufenfolge. 2 Vorzeichnung ist antizipierende Einzeichnung von inneren „Unterschieden“, von abgehobenen Besonderungen, die vordem als das nicht intentional ausgezeichnet waren, von besonderen Eigenheiten („Merkmalen“) als für sich zur Selbstgebung zu bringenden, explizierbaren. 3 Aber von Modalisierung muss zunächst abgesehen bleiben.

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lange die Wahrnehmung kontinuierlich als Wahrnehmung desselben fortschreitet, also dieses Selbe in seinem Sein nicht „korrigiert“, nicht durchstrichen wird, nicht überführt in ein „Das ist nicht, statt dessen ist hier ein anderes“ u. dgl. Wichtig ist, dass Wahrnehmung im Urmodus der Seinsgewissheit – und als Normalmodus zugrunde gelegt für alle Abwandlungen der Modalisierung – als Induktionshorizont immer nur Seinskorrelate der Gewissheit hat. Jede Wahrnehmung ist ein kontinuierlicher Verlauf der Induktion und Bewährung, eine Kontinuität der Selbstbewährung. Auch der Außenhorizont ist so zu fassen. Der universale Horizont ist Welthorizont – oder Horizont des jeweiligen Wahrnehmungskernes, des thematischen und unthematischen, in ständigem Fortwahrnehmen Welt zur perzeptiven Erfahrung bringend. All das gilt nicht nur für den internen Horizont, der zu einem Realen als Wahrnehmungshorizont seines explizierbaren Seins gehört, sondern auch für den äußeren Horizont und den Totalhorizont überhaupt. Inwiefern kann ernstlich gesagt werden, der Totalhorizont sei einesteils innere Differenzen vorzeichnend, andernteils indifferenzierter Horizont, oder sei ein Horizont in fortschreitender, ständiger Einzeichnung von Differenzen, und so sei zu unterscheiden explikabler und nicht explikabler Horizont? Man wird ja einwenden können: Das Ding hat jedenfalls seine ontologische Form, die durch das schon Differente, zur Kenntnis Gekommene, besondert ist, und im Übrigen undifferenzierter „Leer“-Horizont, aber doch nicht wirklich leer, sondern von der allgemeinen ontologischen Struktur, die ich auslegen kann als das noch Unbestimmte d ieses Dinges – unbestimmt in Geltung als durch Bestimmtheiten, durch die „besonderen Eigenheiten“ dieses Dinges auszufüllend in erfüllender Wahrnehmung. – Was besagt all das? Was besagt die verschiedene Rede von Bestimmtheit, von Sich-Bestimmen in der wahrnehmenden Kenntnisnahme als Besonderheit, bestimmte Eigenheit des Dinges, das immerzu ontologisch geformt in Geltung ist, in einer ständigen Horizonthaftigkeit, Antizipation, die besondernde Einzeichnung erhält durch fortgehende „Induktion“, mit der sinngemäß nur Vorgezeichnetes getroffen ist? Ja noch mehr. Jedes Ding, als was es in Jeweiligkeit wahrnehmungsmäßig in Daseinsgeltung ist, ist „typisch apperzipiert“ in einer Artmäßigkeit und Gattungsmäßigkeit; und diese steht ihrer-

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seits im ontischen Horizont als artmäßige Einzeichnung, die nun erst ihre „bestimmte“ Besonderung erhält zum „individuell“ Eigenen. Ontologische Allgemeinheit, gattungs- und artmäßige. – Jedes hat seine Weise der „Explikation“. Nun, Wahrnehmung als Wahrnehmung vom Ding, diesem Ding, ist Perzeption durch Apperzeption, durch Horizontmitgeltung als Seinssinn bestimmende. Diese Mitgeltung ist „unbestimmt allgemein“. Sich selbst zeigen ist sich bestimmt zeigen. Antizipiert ist in „unbestimmter“ Weise, in vager, vieldeutiger, „allgemeiner“ Weise: sich in vermöglicher Fortführung der Wahrnehmung selbst Zeigendes in einem synthetischen Sich-selbst-Zeigen und sich selbst Zeigenden. Kontinuierlich ist Einheit einer Seinsgeltung, eines Seienden, ist Totalität als das Apriori in Gang, in jedem Moment das Ding als das in der jeweiligen Gegebenheitsweise, der Horizont in Jeweiligkeit, aber so, dass das Ding in dieser jeweiligen Horizonthaftigkeit zugleich die Totalität der vermöglichen Wahrnehmung und aller Jeweiligkeit in Antizipation mit sich führt. Die Dinggegebenheit kann stillgehalten werden – als Kontinuität der stillstehenden Wahrnehmung (in jeder Phase dieselbe Seitengegebenheit); und so kann der Wahrnehmungssinn, das Wahrgenommene in seiner verharrend identischen Gegebenheitsweise, expliziert, verdeutlicht werden: der Seinssinn in diesem Modus. So für jede Phase beweglicher Wahrnehmung, sofern jede vermöglich zum Stillstand gebracht werden kann, im Fortgang aber Klärung als Erfüllung. – Was ständig passiert, ist eigentlich eine doppelte Erfüllung, wenn „Erfüllung“ der allgemeine Gegentitel zu „Antizipation“ ist und auch eine mittelbare Horizontantizipation „erfüllt“ heißt durch die antizipierte Horizonthaftigkeit. Horizont als Horizont kommt zur „Selbstgegebenheit“. Wir haben also im Fortgang einerseits die Antizipation, in der vom jetzt erstfungierenden Horizont aus neuer Horizont antizipiert ist, und diese erfüllt sich im Fortgang der Wahrnehmung. Wir haben dann aber auch die Erfüllung als Selbstdarstellung des Kernes vom Ding selbst, der Seite. In dem Das-Ding-Kennenlernen wird auch der zunächst antizipierte Horizont bekannt und als bekannter auslegbar in seiner Horizonthaftigkeit. Verdeutlicht, expliziert in seiner Jeweiligkeit, aber auch in seinen Mittelbarkeiten, die er, künftige Horizonte antizipierend, in sich birgt. Antizipiert sind diese als die der weiteren vorgezeichneten Wahrnehmungen, die kommend wieder neue Vorzeichnungen

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bringen werden. – Das intentionale Ganze eine Synthesis, die vom lebendigen Wahrnehmen aus ein Apriori des Sinnes, eine Sinneseinheit konstituiert, die lebendige Einheitsgeltung als Mitgeltung ist, eine auslegbare Einheit, also auslegbar in ihre Sinneskomponenten. 5 Ein anderes ist: sich im Voraus eine „Anschauung“ vom Sein des Dinges selbst machen, in seinen jeweiligen Spielraum von Möglichkeiten eingehen, anschaulich – also den verdeutlichten Seinssinn anschaulich machen.

Beilage IX Appräsentation und Präsentation hinsichtlich einzelner Dinge und hinsichtlich der ganzen Welt. In Leerintentionen konstituierte Welt1

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Nennen wir „Vergegenwärtigungen“ alle Erlebnisse, die nicht leibhaftig bewusst machen, so heißen die Leerhorizonte der Dingwahrnehmungen hinsichtlich der unsichtigen Seiten des Dinges „Vergegenwärtigungen“. Andererseits: Sofern sie für Dingwahrnehmungen wesentlich sind und nur durch ihre Hilfe überhaupt ein Ding als leibhaftig gegenwärtig werden kann, sind sie gegenwärtigend und nicht bloß vergegenwärtigend. Im Rahmen der Gesamtwahrnehmung wird das Ding selbst, und zwar wird es implizite auch hinsichtlich seiner Rückseite in lebendiger Gegenwart bewusst. Auf das Ding gerichtet, haben wir es selbst originaliter bewusst. Andererseits, sowie wir uns auf die unsichtigen Seiten beziehen, müssen wir unsere Rede umkehren und von Vergegenwärtigungen sprechen. Demgemäß lautet es in der normalen Rede bald „Ich sehe das Ding“ und wieder „Ich sehe die Rückseite nicht“. Ich, das gewahrende Ich, kann also verschieden eingestellt sein: auf das Ding als Einheit oder auch auf unsichtige dingliche Eigenheiten. Danach unterscheide ich „P räsentationen“ und „Appräsentationen“. Die Wahrnehmung ist Präsentation in „Hinsicht“ auf das Ding, und sie enthält so viele Komponenten eigentlicher Präsentation, so viele Komponenten ich in entsprechenden Hinsichten eigentlich wahrgenommen (leibhaftig gegeben) haben kann. Die Hinsicht auf leere Komponenten eröffnet Appräsentation. Jede Appräsentation macht mitgegenwärtig. Jede transzendente Wahrnehmung kann ihren transzendenten Gegenstand nur präsentieren durch das Mittel der Appräsentation. Man könnte die transzendenten Wahrnehmungen auch „appräsentative Wahrnehmungen“ nennen. (Dasselbe, was 1

Wohl Februar 1932. – Anm. des Hrsg.

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das Wort „Appräsentation“ besagt, kann auch gemeint sein mit dem Wort „Apperzeption“. Doch kann das Wort auch anderen Sinn haben.) Betrachten wir jetzt das Ding im dinglichen Zusammenhang. Statt eingestellt zu sein auf ein einzelnes Ding, können wir auch auf beliebige andere mitgegebene Dinge eingestellt sein. Das aber auch in dem Sinn, dass wir eingestellt sind auf die unbestimmt und jedenfalls in leeren Horizonten mitgegebene dingliche Umwelt, die ja auch eine Einheit ist, eine sich über die leibhaft gegebene Dinglichkeit ins Unbestimmte hinaus erstreckende und sie umspannende Einheit ist. Wir haben da wieder den Unterschied zwischen Präsentation und Appräsentation in der Form: die „eigentlich“ wahrgenommenen Dinge der Umwelt und die mitwahrgenommenen – nämlich wenn wir, eingestellt auf die Umwelt, eben von der Wahrnehmung dieser Umwelt sprechen.1 Sowie wir uns auf Dinge richten, sprechen wir von in der Umgebung daseienden, aber nicht gesehenen. So ist die Umwelt in ihrer Unendlichkeit, in ihrer unbestimmten Bestimmbarkeit jederzeit als Umwelt unseres Leibes gegeben und originaliter gegeben. So für die Gegenwart, so ähnlich auch vermittels der zugehörigen Erwartungen für die Zukunft und vermittels der leeren Retentionen für die Vergangenheit. Durch die Leerintentionen in allen diesen Formen konstituiert sich also nicht nur das abgegrenzte einheitliche Ding oder ein Stück „eigentlich“ wahrgenommener Umwelt, sondern die ganze in eine unbestimmte räumliche Gegenwart und in eine unbestimmte Zukunft und in die Vergangenheit erstreckte Welt.

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Die Wahrnehmung der unendlichen Umwelt durch Präsentation und Appräsentation.

III. ORIENTIERUNGSSTRUKTUREN DER LEBENSWELT UND DIE GRUNDSTRUKTUREN LEBENSWELTLICHER SITUATIVITÄT

Nr. 16 Orientierung und Zugangspraxis. Ein universales S ystem möglicher räumlicher und zeitlicher O rientierungen als Voraussetzung intersubjektiver Praxis und einer intersubjektiven Umwelt1

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Inhalt: Wir und unsere Umwelt. Normalidee einer Umwelt für uns. Möglichkeit partieller Anomalität und Möglichkeit gemeinsamer Praxis. Die subjektiv orientierte Welt als Welt der Praxis, zunächst der Zugangspraxis und Hantierungspraxis, und zwar der individuellen – meiner Praxis. Jeder hat sein e orientierte Welt und seine Hantierungs15 praxis, aber kann die des Anderen verstehend-miterfahren. 10

Wir müssen scheiden die Welt als dieselbe Realitätenwelt in der universalen Mannigfaltigkeit ihrer möglichen Orientierungen und die Welt in der jetzigen bestimmten Orientierung, aber mit dem Horizont möglicher Orientierungen als meiner praktischen Möglichkeiten 20 einer Zugangspraxis. Die Welt ist orientiert gegeben: Ich habe eine Nahsphäre und eine Fernsphäre, ich habe meinen Leib als Nullobjekt der Nähe, und diese selbst wieder orientiert und für die verschiedenen Sinne verschieden, – was besondere Beschreibungen verlangt. Das Ferne ist zugänglich: Im Zugang wird es zum Nahen, wobei 25 freilich, was soeben nah war, fern wird. Innerhalb der Nähe selbst Unterschiede des Besser und Schlechter, des Bestmöglichen als so nah, dass ich ganz dran bin, in Unmittelbarkeitsnähe es habe, wobei

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aber das konkrete Objekt nur in Relativität seiner nah und fern gegebenen Bestimmungen gegeben ist und eines Erfahrungsprozesses, eines praktischen, der synthetischen Herstellung der bestmöglichen Gesamtgegebenheit bedarf, die seine Nähe als nächste Nähe realisiert. Das Ferne geht in das Nahgegebene über im Zugehen und das Nahgegebene wird im allseitigen Näherbringen zum Bestgegebenen. In jedem Jetzt und jeder konkreten Gegenwart habe ich diese bewegliche Orientierungswelt in einem Nah-fern-Modus und zugleich jedes einzelne Objekt, worauf immer ich hinblicke, in einer ihm zugehörigen Orientierungsgegebenheit, dem synthetisch einheitlichen Ganzen der Gesamtorientierung der faktisch erfahrenen Welt eingeordnet. So wie jedes Einzelne in seinem Orientierungs-Wie, so hat das Ganze in seinem gesamten Wie seinen praktischen Horizont möglicher Erfahrung, den sich das erfahrende Ich nach seinen Implikationen, nach seinen besonderen Möglichkeiten (deren jede für irgendwelche Fernobjekte Zugangsmöglichkeiten sind) klarlegen und die es, soweit nicht Hemmungen seines Ich-kann vorliegen, realisieren kann. Die Orientierungspraxis vollzieht sich somatisch im subjektiven Bewegen: Bewegenkönnen, Bewegenlassen (mindestens im primitiven fiat) und mögliche Bewegung Realisieren, eventuell im Inhibieren des fiat und Überlegen und praktisch Sich-Entscheiden und dann im sogleich oder im vorgesetzten Nachher Verwirklichen usw. Die orientierte Welt, die Welt im Wechsel dieser Orientierungen, dieselbe reale Welt, mit Dingen als sich bewegend oder ruhend, als sich verändernd oder nicht verändernd, sich von selbst verändernd oder von den Subjekten her sich verändernd; dabei der Zusammenhang, dass jedes leiblich vollzogene Ich-bewege, also jede Orientierungsänderung, eine objektive, eine reale Bewegung des Leibes bedeutet, die sich selbst im thematischen Hinblick auf den Leib während seines subjektiven Sich-Bewegens als seine reale Bewegung in der realen Erfahrung zeigt. Der Leib ist reales Objekt, aber zugleich das Reale, das durch seine Ichlichkeiten und durch seine vom Ich aus oder in der Ich-Sphäre statthabenden Wandlungen des Ich-bewege die Orientierungswandlungen der übrigen Realitätenwelt bedingt. Der Leib ist das unmittelbare Objekt aller erfahrenden und handelnd-wirkenden Praxis.

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Wie steht es nun mit dem synthetischen Zusammenhang meiner Orientierungsgegebenheiten, meiner praktischen Orientierungswelt und der der Anderen? Indem ich mich in den Anderen einverstehe, verstehe ich ihn in seiner Umwelt als einer orientierten Welt. Aber ich verstehe auch seine Nahdinge als dieselben, die für mich Ferndinge sind, und seine Ferndinge als dieselben, die für mich Nahdinge sind, sein „rechts“ als mein „links“ usw. Die Wandlung, die mein subjektives Mich-Bewegen in meiner Orientierungswelt erwirkt, ändert nichts in der seinen, außer dass er meinen Leib in seiner Orientierungswelt findet als so sich darstellend, dass er ihn als real sich bewegenden und sich entsprechend deformierenden erfährt. Darin liegt, dass für einen jeden gemäß der intersubjektiven (kommunikativen) Erfahrung die von ihm erfahrene Welt in einem aus seiner originalen Erfahrung wohlvertrauten und als Horizont beständig wirksamen universalen System möglicher Orientierungen erfahren und erfahrbar ist, welches identisch dasselbe ist für jeden Anderen. Indem jemand von mir verstanden ist, ist er nicht nur als Subjekt einer orientierten Welt verstanden, sondern einer solchen, die als orientierte ihren systematischen Horizont hat, – so wie das bei mir selbst der Fall ist. Und nicht nur das. Er ist nicht Subjekt „einer“ orientierten Welt, sondern d erselb en Welt mit demselben Orientierungssystem, als welche die meine ist, nur so, dass notwendig seine Weltorientierung eine andere ist im selben System als die meine. Eben darin liegt: Wir haben, zunächst in jeder Gegenwart, ermöglicht eine gemeinsame p raktische Umwelt, zunächst praktisch als gemeinsame Erfahrungswelt in einem gemeinsamen, d. h. hier in gewisser Weise austauschbaren praktischen Erfahren. Diese Möglichkeit ist aber noch nicht vollkommen mit dem Gesagten klargelegt. Es müsste z. B. näher ausgeführt werden: Das Orientierungssystem ist mir beständig als unbestimmter Horizont, aber in einer formalen Vorzeichnung gegeben. Im Zugang zum Fernen ändert sich der Orientierungsstil in bekannter Weise, aber die bestimmte Orientierungsgegebenheit des Dinges als optimale des Nahdinges ist mir erst im wirklichen Zugang gegeben und damit es selbst, wie es in praktischer Wahrheit ist. Ebenso verstehe ich das Zugehen des Anderen in seinem erfahrenden Tun (das Sich-näher-Ansehen, Allseitig-Betrachten), aber die voll bestimmten Orientierungen, die

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der Andere erfährt, und damit das Reale in seiner Selbstheit, die der Andere erreicht hat, habe ich nicht gegeben, nicht meinerseits erreicht. Es sei denn, dass ich meinerseits wirklich zugehe und – was in einigem Maße praktisch möglich ist – dasselbe Ding betrachte und in unsere gemeinsame Nahsphäre hineinbringe. Doch sehe ich, dass zur Beschreibung unserer gemeinsamen Welterfahrung als Welt unserer Orientierungen in demselben Orientierungssystem gehört: 1) nicht nur dies, dass das Ding im OrientierungsWie (das orientierte als solches) intersubjektiv identifizierbar ist, also kommunikative Gemeinsamkeit ist; nicht nur die Umwelt ist dieselbe als reale Welt, sondern sie ist es nur dadurch, dass Orientierungen dieselben sein können, wenn auch nicht gleichzeitig; 2) vom gesamten totalen Orientierungssystem ist für jeden ein bestimmtes System der gesamten Umwelt im Orientierungs-Wie verwirklicht, dem sich jedes orientierte Ding einordnet. Aber meine Weltorientierung und die jedes Anderen hat eine gemeinschaftliche Sphäre, die eine relative gemeinsame Nahsphäre ist in Bezug auf eine offene unendliche Fernsphäre. Das ist nicht leicht zu beschreiben. Untrennbar von der räumlichen Orientierung ist die zeitliche Orientierung als zugehörig zur intersubjektiven praktisch gemeinsamen Welt. Die reale Welt, die ich erfahre, hat ihren realen Raum, der allzeitlich ist, und somit ihre reale Zeit. Diese Welt ist subjektiv, für mich, in räumlichen Orientierungen gegeben; die Orientierungen sind gegeben in subjektiver Zeitlichkeit, in den zeitlichen Orientierungsmodis des „gegenwärtig“, „vergangen“ (das „künftig“ als Form der antizipierten Orientierung). In den subjektiven zeitlichen Orientierungsgegebenheiten des Räumlichen stellt sich das Räumliche selbst, das räumlich Reale, in seiner realen Zeitlichkeit dar. Intersubjektiv ist dann in Einheit die raumzeitliche Orientierung; in zeitlicher Hinsicht aber und im Unterschied von der räumlichen ist es so, dass wir alle eine und dieselbe Gegenwart haben, während das Reale, das gegenwärtig ist, für jeden eine andere räumliche Orientierung hat. Das Gegenwärtige ist gegenwärtiges Reales und ist als das Identisches der auf verschiedene Subjekte verteilten räumlichen Orientierungen. Für ein jedes Subjekt ist ein Gegenwärtiges nur in ein er Orientierung gegeben, wenn wir die Gegenwart als das momentane Jetzt verstehen. Demgemäß haben wir alle eine und dieselbe Vergangenheit, – jede plural gefasste Vergangenheit ist eine sich in

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den mannigfaltigen räumlichen Orientierungen darstellende, deren jede je einem Ich-Subjekt zufällt. Wir haben also eine objektive Erfahrungswelt, die Welt der Praxis, welche o b jek t iv ist in zeitlicher Orientierung, objektiv als Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Im stetigen und in unabänderlicher intersubjektiver Notwendigkeit verlaufenden Wechsel dieser objektiven Zeitorientierung erhält sich identisch und als identisch erfahrbar die reale Zeit, die durch den Wechsel der Gegenwart und der Vergangenheiten oder vielmehr der ineinander sich wandelnden, immer neuen Gegenwarten in Vergangenheiten und jeder Vergangenheit in Vergangenheit von Vergangenheiten, die inhärierende Form des τ ν εναι ist als des Realen, auf das man in der zeitlichen Zugangsweise immer erneuerter Wiedererinnerung immer wieder zurückkommen und das man als dasselbe Vergangene im Wandel des Vergangenheitsmodus wiedererfahren kann: Und was man so identisch wiederhaben kann, das kann jedermann, der es erfahren hat, als dasselbe objektive Real-Vergangene wiederhaben. Aber zu berücksichtigen ist dann auch, dass das, was ich erfahre, zwar in gewisser Weise jeder im selben Wie der Orientierung erfahren kann, da jeder der Form nach über dasselbe zeiträumliche Orientierungssystem verfügt; aber er kann d asselb e in der zeitlich bestimmten Orientierung nur in einer zeitlichen Verschiebung erfahren, und weiter, er kann, was er nicht wirklich erfahren hat, hinterher, aber in einer anderen Strecke seiner realen Dauer erfahren. Wieder gehört dazu, dass jeder das, was ich erfahre und er nicht erfährt, hätte erfahren können, und ebenso dass alles vergangene Reale von jedermann, der es nicht erfuhr, hätte erfahren werden können. Das alles unter der Voraussetzung: Wir erfahren dieselbe Umwelt und durchgängig dieselbe in denselben Erfahrungsbestimmungen von uns allen erfahrbare Umwelt. Eben darin besteht die Voraussetzung der Normalität. Und somit ist beschrieben die No rm alid ee „wir und unsere Umwelt“ oder die Normalidee einer Umwelt für uns, uns alle, die wir als normal vorausgesetzt sind. Nun ist abzuzweigen die Idee einer anomalen Erfahrungswelt, einer allgemeinsam erfahrenen Realitätenwelt, die als dieselbe erfahren und dann notwendig orientiert erfahren ist, aber so, dass nicht alle von mir erfahrenen Bestimmungen für jedermann erfahrbar sind und umgekehrt. Erfahren sind also von mir reale Bestimmungen und

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dann zeiträumlich orientierte, die andere evtl. nicht oder nicht in Identität, sondern vielleicht in Ähnlichkeit erfahren. Dieselbe objektive reale Welt hat gemeinsame Bestimmungen und aufgrund der Gemeinsamkeit zugleich widersprechende „sekundäre“ Qualitäten anomaler Subjekte. Logisch sagte man: Das reale Sein kann nicht mit Widerspruch behaftet sein. Aber wenn ich mir auch nicht widersprechen kann, wenn für mich alle Wandlung von Prädikaten in der Gegebenheit desselben Realen sich in Einstimmigkeit versöhnt unter dem Titel „Veränderung des Realen“, muss das auch intersubjektiv gelten? Warum soll es nicht möglich sein, dass eine reale Welt, als gemeinsame aller erfahrenden Subjekte, gegeben und fortgesetzt erfahrbar ist, während die Identifizierung in Wirklichkeit und Möglichkeit nur eine Schichte des für jedes Subjekt konkret erfahrenen Realen betrifft. Und ist nicht die Anomalität eine Tatsache, vor aller Theorie? Ist sie nicht ein Grundzug der universalen Erfahrungswelt? Freilich, nur so weit Gemeinsamkeit in der Konstitution von Realitätsbestimmungen reicht, nur so weit reicht die Möglichkeit einer gemeinsamen, auf diese Bestimmungen mitbezogenen P raxis. Meiner Praxis untersteht m ein e reale Welt mit den für mich (original und sekundär) konstituierten Bestimmungen, und diese Praxis bezieht sich ausschließlich auf die erfahrene Welt als solche. Es ist für mich, das Einzel-Ich, ein Problem, die Möglichkeit zu erwägen, wiefern für mich eine reale Welt konstituiert sein kann mit den Erfahrungsbestimmungen, die nicht durchaus real identifizierbar sind, – wie wenn die Farben gesetzlos wechselten, während doch Dinge identifizierbar wären, Dinge, die jeweils farbig erscheinen müssen. So weit ich aber eine Welt habe, Dinge mit Bestimmungen, die ich durch Zugang kennenlernen und mit denen ich dann praktisch rechnen kann, so weit habe ich eine mögliche „Vernunft“-Praxis. So weit ich mich mit einem Zweiten und mit mehreren darin verstehen kann, die also dieselben Dinge mit denselben Bestimmungen erfahren, so weit kann ich mit ihnen eine gemeinsame praktische Welt haben, auf dieselben Bestimmungen bezüglich. Aber ein Farbenblinder und ein Farbennormaler können in einer reinen Erfahrungspraxis (einer Praxis, die nicht Hilfsmittel einer Wissenschaft verwendet, die ihrerseits eine objektiv wahre Welt im Sinne der Naturwissenschaft voraussetzt) das Gebiet der Farbigkeiten nicht zu einem praktisch Gemeinsamen

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haben; es müsste sich denn in der gemeinsamen Erfahrung, in der zunächst nur hervortritt, dass sie beide zwar sehen, aber gebietsweise konsequent Verschiedenes sehen, herausstellen, dass in den Aussagen sich Beziehungen herausstellen, die eine indirekte Zuordnung 5 ermöglichen.

Beilage X Die orientierte Umwelt. „Orientierter“ Raum bzw. wahrnehmungsmäßige Umwelt, Welt überhaupt1 Inhalt: Die verschiedenen relativen Orientierungen. – Jedes Individuum nicht nur, sondern jede Heimwelt, jede nationale und übernationale Welt hat ihre eigene Orientierung. Allen Modis der Ichlichkeit niederer und höherer Stufe, jedem Modus des Wir und auch des „wir und die Fremden um und außer uns“ eignet als Ich-Subjektivität seine Welt als orientierte Welt. 15 Welt überhaupt konstituiert sich als Synthesis aus orientierten Welten der verschiedenen Stufen. Danach gehört das grundwesentlich zum Problem der korrelativen Konstitution von Welt und Subjektivität für die Welt. 10

1) Um m i c h herum orientiert, im Wandel. Im Stillstand meiner Gehkinästhesen habe ich ein festes Hier, aber damit noch nicht eine bestimmte 20 Orientierung für dieses Hier. Normalstellung Aufrechtstehen, rechts – links, vorne – hinten, oben – unten. Aber ich kann mich herumdrehen, zirkulär wieder zu meiner wiedererkennbaren Ausgangsstellung zurückkehren in Bezug auf die wiedererkennbaren ruhenden Dinge im Wahrnehmungsfeld, die sich gleich darstellen, wenn die gleiche Stellung und ihre Stellungsorientierung 25 wieder da ist. So, roh gesprochen. Schon da bedarf es der Beschreibung der Umwelt im Wie ihrer Orientierung um mich herum, mich, der ich leiblich meine Stellung habe, die zugleich Sein an einer Stelle des Raumes selbst für den Leib als Körper bedeuten soll. Wandel der Orientierung – andererseits Bewegung der Körper, Bewegung, sich orientiert darstellend. 30 2) Ein Wir, W i r al s I c h - M o d u s. „Wir“ verstanden als Familie, die ihren festen Ort hat, mit Haus, mit Garten und Feldern, ihrerseits um das Haus herum. Die Familie kann wegziehen; Änderung ihres Ortes, ihrer

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Anfang März 1935. Ganz flüchtige Notizen, aber wichtig für die Konstitution der realen raumzeitlichen Welt und für das Verständnis der Primitiven-„Welt“.

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Stelle. Orientierte Welt für uns, für unsere Familie als Familie, um unsere jeweilige Stelle – die aber die Bedeutung eines „objektiven“ Ortes im Raum, in der Welt hat. Wir, das Dorf, die Stadt. – Wir Freiburger. In eine Stadt reisen und dann dort sein, ergibt während des Aufenthaltes eine Orientierung um die Stadt herum – ergibt Übernahme der Orientierung, die der in Freiburg Lebende vorgegeben bzw. von Kindheit an erworben hat. Der Ich-Modus „dieses Dorf“, „diese Stadt“ etc. oder der Modus der Heimat bestimmt Modi der Welt von da aus. Und Unterschiede nach Art der Ich-Du-Unterschiede, Welt von einer fremden Heimat aus etc. Menschen, in H ei m at subj ekt i vi t ät en lebend, Familien, in der Einheit von Stämmen, Stämme miteinander lebend. Aber Menschen, die in Stämmen leben, d. h. für welche Stamm die „Allgemeinschaft“ ist, das Wir, in das alles Einzel-Ichliche und alles Familienleben, eventuell Clan-Leben in besonderer Weise einbezogen und haupt-ichlich vereinheitlicht ist, haben gem einsam e Welt in der H auptorientierung des Stammes. Die Welt ist für den Stamm Heimwelt; und die ihn umgebenden Stämme haben je ihre Heimwelt als die jenem fremde – jede als praktische Lebenswelt in Orientierung des Stammes von seiner Heimstelle. Die Heimstelle aber ist Stelle in der „gemeinsamen“ Welt, der V erkehrsw el t für alle miteinander lebenden Stämme in eins, also wieder praktische Umwelt, höherer Ordnung. Das gilt natürlich für alle Modi der Heimweltlichkeit. Nun ist aber auch in Rechnung zu ziehen die O rient ierung nac h H im m elsric ht ungen (Ost, West, Süd, Nord) und – im Zusammenhang mit der vorher zu stellenden Frage –, was subjektiv „Stelle“ bedeutet und was den Orientierungsrichtungen von der Stelle aus entspricht, der Stelle der Einzelperson, die bezogen ist auf ihr Stillstehen, und was dem „rechts – links“, „oben – unten“, „vorne – hinten“ bzw. was bei dem Wandel unter der Erhaltung der Stelle entspricht – in der Weise: Ich stehe still an meiner Stelle und in „normaler“ Haltung, aber ich drehe mich und im Drehen durchlaufe ich die „räumlichen Richtungen“, als subjektiv um mich geordnet. Was macht die Synthesis der momentanen Orientierungen zur Einheit einer Orientierung? Diese dann selbst wieder im Stellenwechsel durch Gehen (oder Gefahrenwerden) Einheit des primordialen Raumes ergebend und in der intersubjektiven Synthesis den gemeinsamen Raum. Dann weiter die Frage nach dem Weltraum im vollsten Sinne. Ich stehe auf dem „Erdboden“, im Zimmer, auf der Straße. Voraussetzung: eine relativ normal ruhende, standhaltende Wahrnehmungsumwelt. Einzelnes kann dabei kommen und gehen, sich so oder so verändern, aber inmitten identifizierbarer, bei gleicher Stellung sich gleich darstellender Dinge in der normalen Konstellation und in der konkret normalen Einheitlichkeit

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zusammen, oder an Bord eines Schiffes auf dem ruhend erscheinenden Meer etc. Ich identifiziere also im Mich-Herumdrehen (visuell) dieselben Erscheinungseinheiten (die „nachher“ im Stellungswechsel des Gehens als Perspektiven von denselben „Dingen“ gelten und selbst eine Erscheinungseinheit höherer Ordnung konstituieren). Jede der Erscheinungseinheiten bei meiner fixen „Stellung“ (und das gilt für volle kinästhetische „Ruhe“ natürlich auch schon) hat dann ihren „Ort“ (worin sich „nachher“ objektiver räumlicher Ort „darstellt“), und in Beziehung darauf das Bewegliche, seine Bewegung. (Aber Bewegung „muss sich erst konstituieren“). Darin liegt: Auf jedes kann ich geradehin sehen von meiner Stelle aus. Stehe ich ganz still, ohne mich zu drehen, so habe ich mein optisches Wahrnehmungsfeld, verstanden als Feld der Erscheinungseinheiten, die durch sonstige Kinästhesen, (Augenbewegungen etc.) optisch sich konstituieren. Indem ich die Drehkinästhese ins Spiel setze und immer wieder Halt mache, erfolgt der Wandel dieser Wahrnehmungsfelder und ihrer Synthesis zu einem Feld, einem zirkulär geschlossenen aus den konstituierten Einheiten höherer Stufe. Natürlich kann ich das zurückverfolgen in die hier benützten Erscheinungseinheiten und Perspektiven derselben der niedersten Stufe. Nun ist das ein fester Zusammenhang von stellenmäßig geordneten Erscheinungseinheiten, je in ihrer Stufe bezogen auf mein kinästhetisches Gestelltsein, wobei mein Leib ständig in ganz besonderer Weise erscheint. Die ganze Beschreibung betrifft Außen o b j e k t e, Außeneinheiten, und Aufbau der orientierten Weltdarstellung, soweit als Wahrnehmung ausschließlich in Frage ist als Außenkörperlichkeit um meinen Leib, der nicht in diesem Spiel konstituiert wird, sondern seine eigene Konstitution hat. Mein Leib – Normalstellung, jedes Organ, wie das Auge in Normalstellung, Grundstellung, die dann das Geradehin macht. Orientiertes Wahrnehmungsfeld mit „rechts – links“, „oben – unten“, „vorne – hinten“. Dabei war dar Optische bevorzugt worden, während das Haptische natürlich ständig mit in Frage ist. In meinem Mich-gehend-Fortbewegen immer neue Wahrnehmungsfelder. Jedes für sich orientiert. Aber in diesem Wandel und der Synthesis zu einer Wahrnehmungsumwelt habe ich doch mein Zimmer, mein Dasein im geschlossenen Dingraum, konstituiert als seiend im freien offenen Dingraum. Der Himmel über mir, die einheitliche Erde unter mir, derselbe Himmel, dieselbe Erde. Von daher nun das Neue: die Himmelsrichtungen, Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, Himmelsrichtungen bestimmend. Von jedem Heimort aus bzw. von jeder Stelle aus, an der ich stehe – es bleibt immer so, dass von da die Sonne ostwärts aufgeht, ungefähr an derselben Stelle meines Wahrnehmungsfeldes, am Horizont etc. Konstitution einer Richtung im Gehen – Weg nach Osten, immerfort nach Osten gehen, oder immerfort nach Westen etc. Und entsprechend das

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Bewegtwerden von Dingen, dahin und von dort her. Dann: Wie konstituiert sich das „östlich von Freiburg“ etc.? Das alles ehe die Erde entdeckt ist als universales menschliches Territorium aller Territorien. Immerfort nach Osten – und ich komme von Westen her zurück. Der Engländer kann sagen: 5 „östlich, westlich von uns, von England“. Aber wenn England als Weltreich geworden ist und über die ganze Erdkugel sich erstreckt, hat solche Rede keinen Sinn mehr. Für den Primitiven ist die Umwelt als anschauliche und anschaulich konstituierte an sich selbst orientiert; die Orientierung gehört zu ihr selbst. 10 Natürlich nicht die Perspektiven niederer Stufe. Deren synthetische Einheiten werden nur als Einheiten erfahren; die Perspektiven werden durchlaufen, aber nicht als seiend erfahren. Weiter reicht aber die Synthesis der Primitiven nicht als bis zur obersten Einheit des offenen Wahrnehmungsfeldes, dessen Horizont das Wahrnehmungsfeld vorgezeichnet als homogen fortsetzbar. 15 Es ist dann also die Frage: Welche neuen konstitutiven Motive treten in Aktion, um weiter zu kommen zu „unserer“ Welt?

Beilage XI Stufenfolge der Umwelten oder Heimwelten. Heimwelt und Territorium1 20

Inhalt: Umwelt, Heimwelt. Der Mensch als der seiner Umwelt. Schicksal. Mythus. Kampf ums Dasein. Selbstgestaltung. Schicksal.

Wir haben unterschieden die allgemeinen Formen, die wesensmäßig die Stufenfolge der Umwelten, ihre Typen, bezeichnen, die auf dem Wege zur Welt des wissenschaftlichen Menschen liegen. „U m w el t“ ist die „Welt“, in die 25 der Mensch bewusst hineinlebt, als die für ihn als Menschen konstituierte, die Welt, in der er im weitesten Sinne heim isc h ist, die er sich als sein Heim gestaltet oder gestalten möchte, die danach immer neuen Inhalt, ein immer neues Gesicht für ihn hat. Die höheren Stufen sind in den niederen fundiert, nicht nur genetisch, sondern auch statisch. Die niederste Stufe ist der Mensch 30 in seinem Heim im engsten Sinne, wie primitiv oder „kultiviert“ es auch sein mag. Was besagt da „H ei m“? Sein „Haus“ (es mag eine Höhle sein oder sein Zelt als Nomade usw.), sein Land (seine Wüste, sein Urwaldgebiet), sein Feld und Garten etc., aber auch – da Heim schon etwas von „Welt“

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Wohl 1934. – Anm. des Hrsg.

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ist – seine „Angehörigen“, seine Familie, sein Stamm. D i ese H ei m w el t i st K o rrel at sei n es ei gen en D asei n s; er ist personales Subjekt f ü r diese Welt und ist Subjekt seines „Leb en s“ – ein Wort, das hier nicht eine momentane Lebensgegenwart bezeichnet, sondern das Leben in weitem Horizont (schließlich, mindestens auf höherer Stufe des Menschentums: sein gesamtes Leben als Ganzheit), das Leben, das i hm „ vergönnt “ i st oder ihm schicksalsmäßig „ auferlegt “ ist. Korrelativ aber hat diese für den Menschen als Person konstituierte Lebensganz hei t in sich Bezogenheit auf die raumzeitliche Ganzheit der Heimwelt, die die seine ist und für ihn korrelativ konstituiert ist. Alle Personen, die zu meinem Heim als Angehörige zählen, haben in einer Weise dieselbe Heimwelt, nur in einem anderen „Aspekt“ von ihnen aus. Aber nicht nur in verschiedener personaler Orientierung, wie schon darin sich zeigt, dass die Heimwelt eine Struktur hat, vermöge deren die verschiedenen Personen in ihr zugleich „F unktionäre“ sind: Vater-Funktion, Mutter-Funktion etc. Andererseits aber auch darin, dass diese Welt für jeden Unterschiede der Stimmung hat, sich vom Gemüt her für jeden anders ansieht, für jeden andere Gesichte der Freiheit und Unfreiheit, des Glücks und Unglücks hat. In dem größeren Zusammenhang der heimelig zusammengehörigen Menschen mit anderen Menschen hat jeder Mensch Zugehörigkeit zu seinem Heim. Wir haben also G l i ederung in private Heime innerhalb eines weiteren Heims: Stammesheim, Dorfheim etc. Dazu Outsider – Angehörige irgendeines Heims oder einer Heimorganisation höherer Stufe, die mit der heimatlichen Einheit keine Einheit einer höheren Heimat bildet, obschon sie in diese Bildung eventuell eintreten kann. Alles, was wir von dem engsten Heim gesagt haben, überträgt sich in erweitertem Sinne auf je ein erweitertes Ganzes von Heimen. Über jedes solche Ganze hinaus reicht die Welt, sofern sie nicht nur konstituiert ist (oder konstituiert sein muss) als offen-endlose Welt der Heimeligkeiten oder gar als eine einheitliche Heimwelt, sondern die Form hat einer Welt, die heimlose Gebiete hat, Niemandsland. Jedes Heimland ist „Terri t ori um“ einer Heimmenschheit, der Wohnsitz. Das bedeutet nicht im gewöhnlichen Sinne Sesshaftigkeit, denn in einem weiteren Sinne ist auch der Nomade „sesshaft“, er hat nämlich sein Territorium, in dem er wandert und das er als sein Land, sein Herrschaftsgebiet, Nahrungsgebiet etc. ansieht. Geht ein Stamm, ein Volk auf die Suche nach einem neuen Wohnsitz, nach einer neuen Landstätte seines Lebens, so zieht es durch Länder hindurch und eventuell durch Niemandsland, in dem es durchziehend zwar lebt, aber nicht als seinem Wohnsitz, seiner Heimstatt lebt. Das ist also ein D urc hgangsmodus: Das Volk ist zur Zeit „heimatlos“. Und doch ist es ein Volk, hat seine Lebenseinheit, seine Umwelt – in dem obigen Sinn seine Heimwelt, die aber

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eine Komponente ist im Wandel des Durchgangs, der also doch ein Modus raumzeitlicher Heimstättenhaftigkeit ist. In dieser Hinsicht vollziehen wir allgemeine, zunächst empirisch bestimmte Typisierungen und suchen von da aus Wesenallgemeinheiten. Aber wie schon im engsten heimweltlichen Dasein, so haben wir immerzu für die personalen Gemeinschaften, aber auch für die Einzelnen der Gemeinschaften höherstufige Formen apperzeptiv konstituiert, welche die „Bedeutung“ betreffen, die die konstituierte Umwelt für diese Personen oder Gemeinschaften hat.1 Zum Wesen des Menschen, des einzelnen und des „Menschen im Grossen“, gehört „Kampf ums Dasein“, genauer: gehört, dass der Mensch nicht bloß momentane Bestrebungen, Zwecke, Bedürfnisse und Streben nach ihrer Befriedigung hat, sondern auch, dass er, in seine Umwelt hineinlebend, sie nicht bloß hinnehmen kann, wie sie ist, und nicht bloß, sie einzeln zweckmäßig zu gestalten, bestrebt sein kann, als ob das so ohne weiteres ginge. Der Mensch hat seine Lebensganz hei t konstituiert und ist darauf gerichtet, als reifer Mensch, sie in besonderer Weise zu formen. Und korrelativ: Er ist bestrebt, seine Heimwelt, die von vornherein von ihm her Gestalt hat, in einer Weise zu gestalten und willentlich zu beherrschen, dass sie ihn befriedigt, dass er selbst in diesem Handeln, Neugestalten, Aufbewahren etc. sich selbst genugtun kann als Mensch, als praktisches Wesen. Er stellt sich nicht nur Einzelziele und versucht bei Misslingen neue Einzelziele. Er stellt sich „Lebensz iele“ und entwirft eine „Methodik“ handelnden Daseins, beruhend auf einer Überschau über bisheriges Leben in Gelingen und Misslingen, über bisherige Zufriedenheit und Unzufriedenheit etc., beruhend auf Selbstbesinnung, Kritik, universalem Willensentschluss. So stellt er eine Lebensmethode her und korrelativ ein Verhalten zur Umwelt im Streben, ihr günstigere Form zu geben. Konkurrenz der Menschen, der Einzelnen, der Heimgemeinschaften, der Stämme, Völker etc. K am pf um s D asein. Die „weite Welt“, die unmenschliche, die unbekannten Untergründe, die Zufälle, die Schicksale etc. als hemmende „Mächte“ oder als fördernde apperzipiert.2

1 Der Mensch als Gestalter seiner Umwelt, so dass sie ihn befriedigen könnte. Lebensaufgabe, Selbstgestaltung, Kampf ums Dasein, Schicksal, Mythisierung der Schicksalsmächte. 2 Das Mythische, das Unbekannte, aber als Widerstand personal apperzipiert: das „dunkle Schicksal“, Dämonen, Götter etc.

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Zur O rientiertheit d es Verstehens: Heimwelt und Fremdwelt. Verstehen von Fremden und von f remden H eimwelten.1 Religion und Wissenschaft als universale Weltintentionen. Das Fremdmythische. Einwand d er Relativität wissenschaftlicher Weltauslegung. Intersubjektive Kritik als Weg zu universaler Welterkenntnis. Deskriptive Wissenschaft 2 Inhalt: Der Mensch als Thema. Der Mensch dort, in seiner Umgebung. Der Mensch in seiner kulturellen Umwelt. Aber der Fremde, der Chinese. Kennenlernen von Realen der Welt – die Umwelt erkennen, wie sie in Wahrheit ist, als besonderes Vorhaben. Der psychophysische Mensch als Thema, die Person als Thema. Im Voraus ständig die Weltapperzeption. Im Miteinander: Einstimmigkeit und Streit. Die Anderen in meiner Umwelt. Wir in Konnex dieselbe wirkliche Welt habend: gemeinsame Umwelt in derselben Typik. Mitteilung, Ausdruck, Belehrung – gehört selbst in die Welt hinein. Im Voraus ist Welt für mich ein apperzeptiver Seinssinn, erfahrbar in vertrauter Typik, jedes Reale hat seine eigene. Kern eigentlicher und wirklicher Erfahrbarkeit. Dann mittelst Anderer. Sphäre möglicher Anschaubarkeit und Bewährbarkeit – direkt und vermittelt. Aber im Horizont das wechselseitige Sich-nicht-Verstehen. Jeder in seinem Stand erzogen. Die Art, wie eine einheitliche Traditionalität doch alles in unserer Nation umgreift. Umwelt, wie sie im normalen Gang des Lebens der Gemeinschaft, im kontinuierlichen Fortgang der lebendigen Gegenwart erworben ist und erfahren wird. Demgegenüber die nicht in der lebendig fortgehenden Lebens- und Weltgegenwart mitenthaltene (retentionale)

1 Texte zum Themenkreis „Heimwelt – Fremdwelt“ sind bereits in Husserliana XV veröffentlicht: Text Nr. 27 sowie die Beilagen XI und XLVIII. – Anm. des Hrsg. 2 November 1933.

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Vergangenheit und das auf sie in ihrer Lebendigkeit Zurückgehen. Die Weckung der fernen Vergangenheiten – generativ. Verstehen des Chinesen – Verstehen seiner Heimwelt. Ich müsste in sie, wie ein Kind in die Welt des Erwachsenen, „hineinwachsen“, schließlich seine Geschichte verstehen lernen. Ein und dieselbe Welt immer unbestimmt vorgegeben in Seinsgewissheit, für jeden von seiner Heimwelt aus und ihrer Generativität, für jeden in seiner zeitweiligen privaten Gestalt und zugleich horizonthaft antizipiert neben der wirklichen die mögliche Gemeinschaft mit ihren Genossen und so „die“ Welt, die bekannte (auch schon von Anderen her) und unbekannte etc. Dann weiter Horizont der Fremden als Subjekten in ihren Genossenschaften und Heimwelten – so vor aller Frage der Wissenschaft. Besondere Zielstellung der wissenschaftlichen Welterkenntnis. Exkurs: Universale Weltintention. Religion und Wissenschaft. Religion und universale menschliche Lebensaufgabe. Religiöses und religiös-ethisches Leben. Weg zu Gott etc. Universale Wissenschaft, in die Menschheit einbrechend. Weg zur Wissenschaft. Nochmals vorwissenschaftlich: Weg von der Heimwelt zur Fremde. Nachverstehen der Fremden und ihrer Welt. Der „Kern“ und das unverständliche Fremde. So das Mythische der Fremden. Setzt das nicht, um als solches verständlich sein zu können, einen Kern voraus? Einwand: Alle unsere Auslegung der vorwissenschaftlichen Lebenswelt und von da aus der Wissenschaft und alle Ergebnisse radikaler Aufklärung der Wissenschaft auf diesem Wege ist Auslegung meiner, des Europäers. Der Primitive hat eine ganz andere Lebenswelt, für ihn gibt es keinen Weg zur europäischen Wissenschaft. Unsere Logik – Logik der Primitiven. Aber ich bin es, der diese Unterschiede macht etc. Aufklärung der intersubjektiven Verständigung und der intersubjektiven Kritik – ich gelange zur Einstimmigkeit einer Welterkenntnis unter Kritik der fremden Erkenntnis. Deskriptive Wissenschaft. Vernunft „vorausgesetzt“.

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§ 1. Der Mensch als Thema. Verhalten des Menschen. Mensch in der Kulturumwelt

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Der Mensch dort, was er tut und treibt. Er waltet im Leib, wahrnehmend, bewegt die Augen, fixiert das dort, dann das, bewegt tastend die Hände. Er hat aber im Umkreis des von ihm Erfahrenen etwas vor. Er ergreift einen Gegenstand (Papier), hebt ihn mit der einen Hand; mit der anderen hält er eine Schere und schneidet einen Streifen ab etc. Das verstehe ich ohne weiteres und individualtypisch. Er verhält sich in der typischen Verhaltungsweise „einer“ Person, die mit „einer“ Schere schneidet. Er hat dabei irgendetwas Weiteres vor. Im Zusammenhang seines in den Einzelschritten schon verständlichen Tuns wird das verständlich werden. – Der Mensch ist Kulturmensch, und in einer der im Voraus verstandenen Kultursphären dem Typus nach Gelehrter oder Buchbinder u. dgl., verständlich in der alsbald verstandenen, apperzipierten Umgebung „Studierzimmer“, „Werkstätte“ etc. Aber nicht immer verstehe ich ihn über die nächste Leiblichkeit hinaus. Ich komme etwa in eine fremde Umgebung. Die Individualtypik ist mir unvollkommen bekannt: eine Pflanze, aber eine fremdartige, ein Feld, aber mit anderen Feldpflanzen besetzt als denen, die mir vertraut sind. Das Hantieren auf dem Feld: Ich kenne das Typische nicht, das zu der Bestellung solcher Felder gehört. Ein Haus, aber fremdartigen Gepräges. Ist es ein Tempel, ist es ein Staatsgebäude? – Ich bin in China. Auf dem Markt Handel und Wandel, aber in fremder Typik. Ich weiß, dass er eine Typik hat, aber ich kenne sie nicht; aber wohl die Leute dort auf dem Markte. Die Typik ist nicht eine im äußeren Hantieren allein gelegene, die ich schnell auffassen mag, sondern sie liegt auch in dem Zwecksinn, dem typischen Vorhaben der Leute, und den Weisen, sie im Verkehr zu verwirklichen. Die Personen kennenlernen als Personen in der Welt, Menschen kennenlernen als psychophysische Realitäten, Steine, Berge, Dinge kennenlernen, aber auch Kulturobjekte in der realen Welt, etwas kennenlernen, wie es wirklich, in Wahrheit ist, – das ist ein Ziel in meiner schon vertrauten personalen Umwelt. Sie ist für mich vorgegeben; ich habe im Voraus und ständig meine Umwelt-Apperzeption und darin schon vertraut das Ziel: Wie etwas im Voraus schon für mich Seiendes in Wirklichkeit ist – und ob es überhaupt ist oder am Ende nicht ist.

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Aber natürlich kann es kommen, dass Andere zu anderen Ergebnissen kommen. – Natürlich gehören zu meiner Umwelt (in Wahrheit) Andere; und bin ich mit ihnen in Konnex, so haben wir dieselbe oder im Wesentlichen dieselbe vertraute Umwelt, vertraut auch darin, dass wir Möglichkeiten als zu Vertrautheit zu bringende antizipieren, die wir noch nicht haben, und dass das, was ich nicht schon habe, andere schon haben, und ich von ihnen erfahren kann, was da ist, was für Typik etwa vorauszusetzen ist und wirklich gilt etc. Als Städter weiß ich, dass der Landmann mit Feldbestellung etc. Bescheid weiß, während ich davon kaum etwas weiß. Er kann mich belehren, mir beschreiben etc., und ich gewinne mittelbar eine Kenntnis. – Aber das gehört selbst zur Einheit der gemeinsamen Umwelt, dass wir nicht ohne weiteres identische ausgearbeitete Apperzeptionen haben, aber eine solche Verbundenheit (Synthesis) unserer Apperzeptionen, dass jeder die des Anderen mittelbar erwerben kann als Näherbestimmung der seinen. Wahres Sein, von dem ich spreche, das ich erstreben kann, setzt meinen Welthorizont, meine Weltapperzeption voraus; und die impliziert die Mitmenschen, deren Weltapperzeptionen mit der meinen diejenige Einheit haben, um derentwillen ich sagen kann: Wir leben in einer einheitlichen Menschheit mit einer einheitlichen Welt. Ich habe in meiner Welt ein Universum apperzeptiver Vertrautheiten. Was meiner Welt zugehört, ist für mich erfahrbar. – Was sagt das? Es hat im Voraus einen apperzeptiven Sinn, der ein Telos möglicher erfahrender Kenntnisnahme bezeichnet: ein typisch vertrauter Gegenstand, dessen Typus ich mir jederzeit konstruieren kann, den ich schon kenne, von früheren Fällen her, in denen ich dergleichen kennengelernt habe. Das gilt aber so nur von einem Kern dieser meiner Welt. Zu ihr gehört ja auch solches, was mir nicht nur individuell, sondern auch nach seinem Typus unbekannt ist, dabei vor allem solches, was ich auf dem Wege der Belehrung durch andere in seiner Artung kennenlernen kann, mit denen man, sich verständigend, sich schließlich über alles Seiende als gemeinsam und einstimmig Erkennbares austauschen kann: Horizont einer so zu gewinnenden Weltsphäre als Sphäre möglicher Anschaubarkeit und Bewährbarkeit. Mit Chinesen stehe ich in diesem Verhältnis nicht. Sie sind für mich Subjekte, die ich in dieser Art nicht kennenlernen kann bzw. deren Welt (diejenige, die ich ihnen als Menschen zuschreibe!) ich nicht kennenlernen kann, zu

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der sie sich in vertrauter und für mich zur Vertrautheit zu bringender Weise verhalten, wobei dieses Sich-Verhalten als sie selbst bestimmend mit zu ihrer Welt gehört. Nun wird man sagen: Meine Welt überhaupt reicht weiter als meine ursprünglich vertraute Umwelt. Es ist eine Welt, deren Sinn bestimmt ist durch die Gemeinschaft mit anderen, die mir in ihrem menschlichen Typus vertraut sind in Korrelation mit der vertrauten Welt, die wir im Austausch und wechselweisen Verstehen und in wechselweiser Kritik einstimmig erkennen können. Über diese Welt hinaus habe ich Erfahrung von „Fremden“, die ich nicht voll verstehen, sondern nur indirekt verstehen kann als Menschen einer Umwelt, die die ihre, aber nicht die meine ist, ohne Fähigkeit, sie zu befragen oder sonstwie zu einem Ausgleich kommen zu können. Aber ist diese ganze Darstellung nicht übereilt? Die Stände und Schichten innerhalb meiner Nation, zunächst in der breiten Gegenwart des aktuellen Gegenwartslebens der Menschen. Der Straßenarbeiter und der feine, kultivierte Mensch, der militärische Typus etc., der schöpferische Künstler, der wissenschaftliche Forscher – Menschen verschiedener, füreinander nur zum Teil oder eigentlich gar nicht verständlicher Lebensberufe. Und andererseits, mit dem Chinesen verständige ich mich doch auch, natürlich beschränkter. Was ist der Unterschied? Ich bin als Deutscher erzogen, nicht als Chinese. Aber auch als Kleinstädter in einer kleinbürgerlichen Häuslichkeit und Schule, nicht als adeliger Großgrundbesitzer in einer Kadettenschule. Durch alle Unverständlichkeiten geht doch hindurch ein e E in h eit d er Traditionalität – eine E inheit der Umwelt m it ihrer t eils schon vertrauten, teils in Aneignung fortzubildenden T yp ik. Sozusagen von außen lerne ich den Militär und das Militärische der Umwelt kennen; und wenn ich mein Freiwilligenjahr gemacht habe, lerne ich eine Seite davon zwar wirklich kennen, aber darum doch nicht das wirklich innerlich Spezifische des Berufsmilitärs. Dafür treten ein die Typik seines mehr äußerlichen Tuns und Treibens, seine Redeweisen, seine Weisen eigener praktischer Reaktionen. Ich habe meinen apperzeptiven Typus des Berufsmilitärs und weiß, wie er sich benehmen wird, und doch habe ich nicht die zentrale personale Einfühlung, wie wenn ich, selbst so erzogen, meine Persönlichkeit entsprechend ausgebildet hätte. Indirekt könnte ich

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mich einem Verständnis annähern durch Nachverstehen der Erzeugungsmotivation, wie wenn ich den Lehrgang der Kadettenschule kennenzulernen suche, in die Geschichtlichkeit der Entwicklung des Militärs, des militärischen Ehrbegriffs eindringe usw. Aber das muss abgeschieden werden. Denn zunächst handelt es sich um die Umwelt, wie sie durch den normalen Gang des individuellen Lebens in einer normalen Lebensgemeinschaft erworben ist eben als normale Lebensumwelt. Das Leben ist dabei das kontinuierlich fortgehende der fortgehenden Lebensgegenwart, wie die Umwelt die gegenwärtige Welt ist, in die man hineinlebt, im Fortleben mit und unter Genossen sie kennenlernend als die gegenwärtig eben seiende, obschon seiend in ihren Veränderungen, Umbrüchen, Revolutionen etc. Das Fortleben in der Gegenwart im Konservieren und Fortbilden der Weltgegenwartsapperzeption, diesen stetigen Prozess, müssen wir unterscheiden von dem in der Gegenwart sich bekundenden und einigermaßen wieder vorstellig zu machenden vergangenen Leben der generativen Lebensgemeinschaft und ihren vergangenen Umwelten. Zur lebensvollen Gegenwart gehört eine Sphäre Vergangenheit: was jeder aus eigenen Wiedererinnerungen wecken kann und was wir und was irgendwelche zusammenkommende außermenschliche Gemeinschaft im Austausch ihrer Erinnerungen und in Ergänzung in wechselseitiger Übernahme als Vergangenheitsstrecke ihrer Gegenwart rekonstruieren können. Zur menschlichen Gegenwart gehört es, aus der Erfahrung zu lernen, und das meint in der Regel: die Vergangenheit in Erinnerung wiedererwecken und aus ihr das Werden der Gegenwart verstehen und die Gegenwart in ihrem Sein oder Seinsollen korrigieren. Das Sich-mit-einem-Chinesen-Verstehen setzt schon das Verstehen der gegenwärtigen Heimwelt voraus und das Leben im heimischen Menschheitskreis. Wie ich als Kind hineinerzogen wurde in meine generative Menschenwelt, so muss ich, wenn ich den Chinesen und die chinesische Welt verstehen will, in diese hineinerzogen werden; ich muss hineinlebend mir die Apperzeption der fremden Welt, wie immer und wie weit das möglich ist, erwerben, was so viel hieße wie: immer vollkommener chinesischer Mensch unter Chinesen werden – während ich noch Deutscher bin und meine deutsche Umwelt nicht verliere. Und ebenso der Chinese in meiner Welt. Ich müsste dahin kommen, wie ein Chinese die chinesische konkrete Lebensumwelt

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mit ihrer darin beschlossenen lebendigen Vergangenheit mir zuzueignen, und danach natürlich auch den lebendigen Zukunftshorizont, der ihr strömend mitzugehört. Das dann als Fundament für die Ermöglichung der Rekonstruktion der „historischen“ Traditionen und des Aufbaus einer verständlichen – voll chinesisch verständlichen – chinesischen Geschichte.1 Aber natürlich ist das im vollen Sinne nicht möglich, ebenso wie es im vollen Sinne nicht möglich ist, dass ich mir in voller Konkretion den Typus des Junkers etc. zueigne. So ist Welt im Gang des menschlichen Lebens und seiner notwendigen Vergemeinschaftung ein e sich au s im m er n eu en Ap p erzeptionen vertrauten S inn und immer n eu sich bestimmend en S in n sch af f en d e Welt – obschon unverkennbar so und notwendig so, dass sie als dieselbe Welt immerzu gilt für alle je in diesen Kreis der Kommunikation möglicherweise tretenden Menschen und mit einem allgemeinsten Sinn, einer durchgehenden Form, wodurch die alltägliche Unterscheidung zwischen der Welt selbst und den wechselnden Vorstellungsweisen einzelner Menschen und Völker, Kulturkreise hinsichtlich der Welt ermöglicht wird. Das auszuarbeiten wäre eine Aufgabe besonderer Analyse. Hier aber genügt es uns zur Feststellung, dass Menschen, in der Welt lebend, einzeln und sich wechselseitig verstehend, dies in der Art tun, dass sie der Welt, der einen und selben, bewusst sind, ihrer ständig in wachem Dasein gewiss sind, dass aber diese eine und selbe Welt jedermann nur bewusst ist in Gestalt seiner generativen Heimwelt – und diese selbst in seiner ihm eigenen privaten und zeitweiligen Gestalt – und dass im Verstehen des Anderen und damit seiner Weltbezogenheit „die“ Welt auch bewusst wird als die wieder in anderen privaten Gestalten und Heimgestalten dem Anderen bewusste Welt, in letzterer Hinsicht noch mit dem Unterschied, dass der Mitmensch apperzipiert sein kann als Heimgenosse und Teilhaber derselben Heimwelt oder als Fremdling und Teilhaber an einer fremden, unbekannten, ihm nur mit seinen Heimgenossen gemeinsamen Welt. Was da festgestellt ist, hat offenbar seine Wahrheit vor aller Frage, ob Menschen eine Wissenschaft haben, ob sie in einer Umwelt mit wissenschaftlicher Kultur leben oder, wenn das der Fall ist, ob sie selbst in ihrem Lebensumkreis eine Ahnung von so etwas wie Wissen1

Ebenso wie das Kind erwachsend auch geschichtliche Vergangenheit lernen muss.

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schaft haben, von ihren schöpferischen und rezeptiven und sonstigen Tätigkeiten, wie von ihren Ergebnissen. Das Menschenleben, als Umwelt (Heimwelt und Fremde, beides in seinen verschiedenen Stufen) bewusstseinsmäßig habend und in sie im jeweiligen Vorstellungsgehalt gewiss hineinlebend, verläuft in Interessen, mehr oder minder schon organisierten Zwecken und Zwecksystemen. Diese liegen in den Personen als einzelnen und als zu höheren Personalitäten verbundenen Personen als ihre Habitualitäten. Das aktuelle Leben verläuft in Akten, in einzelnen Vorhaben, Abzielungen, Zielverwirklichungen, vollkommenen oder steckenbleibenden usw. Für jede Personalität ist die Umwelt, die sie hat, „die“ Welt als die von ihr gegenwärtig apperzipierte, Inhalt ihrer Apperzeption, in ihrer habituellen Vermöglichkeit ihr geltend und fortgeltend als das Universalfeld ihrer gesamten Praxis (im weitesten Sinne), ihr Reich der typisch vertrauten Verfügbarkeiten, der Vorhandenheiten, auf welches sich das Universum ihrer Vorhaben bezieht und in welchem ihre Handlungen verlaufen. Sie selbst als menschliche Personen, als leiblich daseiende, sind Bestände dieser Welt; ständig ist jeder für sich selbst in Seinsgewissheit aktuell da und gehört für sich und seine Genossen mit zu den Verfügbarkeiten, zu den Gegenständen, mit denen man etwas vorhaben kann, die sind und zugleich anders möglich, jeweils eventuell anders vermöglich sind, beeinflussbar, gestaltbar in erwägbaren Grenzen usw. So jeder in einigem Maß (wie Dinge überhaupt) für sich und so für einen jeden die Anderen.

§ 2. Exkurs: Universale weltliche Intentionen: Religion und Wissenschaft Eine ganz besondere Art möglicher Vorhaben bezeichnet der Einbruch der praktischen Idee „Wissenschaft“ in die Geschichte der 30 Menschheit als ein grundwesentlich Neues. Was für grundwesentlich neue Ziele konnten gestellt werden, konnten erstmalig in Personen erwachsen und konnten für eine endlose und im Prinzip nicht abzuschließende Zukunft in Vergemeinschaftung (der der miteinander und füreinander arbeitenden Wissenschaftler) erstrebt werden, also 35 ins Unendliche?

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Unendlich gerichtete Vorhaben bezogen auf eine unendliche menschliche Zukunft als ein unendliches Werkgebilde. Aber das Thema dieses Vorhabens ist Seinserkenntnis und, was das Wesentliche ist, auftretend als universale Welterkenntnis. „Theoretisches“ oder „wissenschaftliches“ Interesse für Einzelweltliches steht also in diesem Sinne von Wissenschaftlichkeit (der die ursprüngliche Bedeutung von „Philosophie“ ausmacht) stets im Dienste universaler Erkenntnis, ohne Frage, ob schließlich einzelne Personen sich an einer Sonderaufgabe spezialisieren. Die philosophische Gemeinschaft ist Träger des universalen Interesses, und jeder verwirklicht es an seinem Teil, an seinen Sonderaufgaben, die er sich rechtmäßig im Dienste der universalen Erkenntnis stellt. Wir werden hier fragen: Gibt es noch andere universale weltliche Intentionen, Vorhaben? Man kann antworten: Wenn in der Menschheit, in welchem Volke immer, eine absolut universale Religion zur Stiftung gekommen ist, d. h. in der, in welcher umweltlichen bzw. mythischen Gestalt immer, Gott, schlechthin gesprochen, d er ein e und einzige Gott, der d er Allweltgott ist (der „die Welt geschaffen hat“), zum Durchbruch, zur Entdeckung gekommen ist (religiös gesprochen: sich Menschen offenbart hat), so bezeichnet „Gott“ nicht mehr für diesen oder jenen Menschen, für diese oder jene Familie, für dieses oder jenes Volk seinen Gott, sondern den allmenschlich einzigen. Diese Beziehung auf alle Menschen besagt – wenn wir den Durchbruch der Idee des einen Gottes auf dem historischen Wege über den Mythus und die Mannigfaltigkeit von „göttlichen“ Potenzen denken und über die ihnen zugehörigen Normen religiösen Verhaltens – ein System von normativen Forderungen, die für den Menschen als so lch en, d. i. als in der Welt vorhabenden, in der Welt sich Ziele stellenden, in jeweiligen Interessen lebenden, gelten, für den Menschen als solchen, d. i. für jed en Menschen, wo und wann immer, in welchem Volk immer er in der Welt lebt, wie immer seine Heimwelt aussehen mag, wie immer seine Traditionalität, seine Geschichtlichkeit. Der eine Gott, G o t t sch lech t h in, ist das Korrelat des Men sch en sch lecht h in, d. h. hier, eines jeden wirklichen oder erdenklichen Menschen, und wieder das Korrelat d er Welt, d ie d ie ein e u n d ein zige ist, sich, in welchen Umwelten immer, für Menschen darstellend. Die universal-menschliche religiöse Forderung ist also nichts anderes als die Forderung jener absolut universalen religi-

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ösen Ethik, der Ethik jener Humanität, die alle Völker, irdische und Marsvölker, transzendiert: vermöge der Einzigkeit Gottes. Das sind offenbar Wesenszusammenhänge, unangesehen der Frage, wie weit die empirische Gestalt einer „absoluten“ oder „echten“ Religion (der gegenüber alle sonstige Religion Götzenreligion ist) sich in ihren mythischen und empirisch-umweltlich sich darstellenden Offenbarungen und Dogmen, religiösen Vorschriften, Symbolen noch von der reinen Form des Religiösen entfernt hält oder wie weit das Empirische bewusstseinsmäßig empirische Darstellung, Erscheinungsweise, symbolische Andeutung des absolut Religiösen oder Human-Ethischen ist. Natürlich, da der Mensch seiende Welt nur hat in Modis der Heimweltlichkeit und Fremde und all sein Weltleben in all seinen Vorhaben auf das umweltlich in der umweltlichen Seinstypik ihm Geltende und Bewährte bezogen ist, so ist es ohne weiteres ersichtlich, dass jede konkrete, den konkreten Menschen seines Volkes und seiner Heimwelt betreffende Ethik oder Religion (System konkret allgemeiner Forderungen für dieses Menschentum) durchaus umweltliche Bezogenheit hat, Bezogenheit auf die Typik des konkret menschlichen Verhaltens, nämlich des Verhaltens etwa des Juden in der antiken Welt oder des Juden und Christen in der historischen europäischen Welt. Universale Ethik und Religion sind offenbar nur reine Formen, in ihrer universalen Allgemeinheit abstrakt, offen unbestimmt lassend die Konkretionen von Mensch und Umwelt, eben damit aber die Norm der Echtheit, die stets mitverstanden sein muss in der Weise, wie jedes Konkrete nur konkret ist in seinem allgemeinen und doch nicht herausabstrahierten Typus. Doch wäre da manches Besondere zu sagen. Hier deckten sich absolutes religiöses und ethisches Leben – unangesehen der Möglichkeit, dass der historische Aufbruch einer Philosophie als universaler Wissenschaft sich auswirken könnte zu einem Wege zu Gott und einer absoluten Ethik, auf welchem Gott nicht durch „Offenbarung“ in historischen Stiftern der universalen Menschheit zu eigen wird und an sie seine universal menschlichen Forderungen stellt. In gewisser Weise ist dieser letztere Weg der Weg der natürlich-naiven Historizität der Entwicklung des Menschen vom Heimmenschen zum Universalmenschen und zu seiner allmenschlich verpflichtenden Humanität. Der Weg über die Philosophie ist der

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unhistorische Weg, der durch den Durchbruch der autonomen Erkenntnis und einer durch diese motivierten neuartigen, universalen Normierung der Praxis. Der auf dem einen Wege entsprungene Gott aller Menschen und aller Welt ist, nachdem historische Offenbarung überliefert ist, für alle in dieser Tradition stehenden Menschen ohne weiteres als offenbarter mitverstanden – auch für den „Atheisten“. Demnach ist die nachträglich erwachsende Wissenschaft, sofern sie mit ihm rechnet, auf ihn alles Dasein und alle menschlichen Wollungen oder Entscheidungen bezieht, eo ipso theologisch; eine Wissenschaft aber, die nicht Offenbarung voraussetzt, eine Weise der universalen Wissenschaft, die keine Offenbarung kennt oder als vorgegebene Tatsache (obschon nachher erkenntnismäßig zu behandelnde) anerkennt, ist atheistisch. Demnach, wenn eine solche Wissenschaft doch zu Gott führt, wäre ihr Gottesweg ein atheistischer Weg zu Gott, wie ein atheistischer Weg zum echten, unbedingt allgemeinen Menschentum, und dieses verstanden als Substrat für eine übernationale, überhistorische Normierung dessen, was echtes Menschentum überhaupt, überzeitlich, überempirisch ausmacht. Aber nun, was kann universale Wissenschaft (Philosophie) wollen, als ein neuartiges in der Geschichte Auftauchendes, in sie Einbrechendes?

§ 3. Der verständliche apperzeptive Kern fremder Lebenswelt und das unverständliche Fremde. Das Fremd-Mythische Übergang von den festen Apperzeptionen der Heimwelt in das Nachverstehen der Apperzeptionen der Fremde – die Fremdwelt verstehen lernen. Man überträgt zunächst möglichst die eigenen vertrauten Apperzeptionen, der Analogie folgend, und macht so seine Erfahrungen; man lernt kennen, man kommt weiter, solange die Ein30 stimmigkeit dabei standhält – oder Unstimmigkeit als Unverständnis resultiert dessen, was für die fremden Menschen in ihrer Geltung und einstimmigen Bewährung ihre Umwelt ist. Aber was man in der Gewissheit des stimmenden Verstehens (obschon Unstimmigkeit sich nachher herausstellen mag) hat und 35 je erreicht, ist doch von den eigenen heimweltlichen Apperzeptio25

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nen her ständig bestimmt. Die vermeinte Fremdwelt ist notwendig eine Umbildung der Heimwelt. Im sich herstellenden ersten Konnex zwischen uns als Heimgenossen mit den Fremden der fremden Heimgenossenschaft ist eo ipso eine gemeinsame individuelle Welt zur Geltung gekommen und im Begegnen eine gemeinsame Nahwelt individueller, in gemeinsamer Erfahrung wechselseitig identifizierter Realitäten – identisch Daseiendes, aber das Identische verschieden apperzipiert. Aber es ist die Frage, wie weit das von mir vermeintlich Nachverstandene, bestimmt von meiner heimatlichen Menschen- und Welterfahrung, wirklich das ist, was der Fremde von sich aus apperzipiert, also gegebenenfalls erfährt. Als Mensch in der Welt seiend – für mich selbst – bin ich schon im Voraus Mensch, der Fremde als Fremde versteht und sch o n im Voraus Fremdes in einem Kern ganz so w ie Heimatliches verst eh t und in dem Unverstandenen es schon versteht, also als eine Abwandlung. Aber zunächst ist hier kein Streit, wenn ich im fremden Land fremde Kultur und fremde Menschen kennenlernen will. Denn die fremden Kulturobjekte und die fremden Menschen apperzipiere ich nicht in heimatlicher Typik. Sie sind für mich analogisch verstanden, aber ganz unbestimmt allgemein, und nach ihren Bestimmtheiten einfach unbekannt. Sie verweisen auf fremde Personen, deren Akte ich in einer Kernsphäre wirklich verstehe und mit einem Kern ihre Gegenständlichkeiten. Und da muss ich, weitergehend, rekonstruieren können, was für bleibende Interessen, Zwecke, Werkzeuge sie für ihr zweckmäßiges Hantieren etc. haben und sich geschaffen haben etc. Im Unverstandenen und in Bestimmtheit Unverständlichen das Myt h isch e. Wie steht es also mit den m yt h isch en Ap p erzep t io n en der Fremden? Und wir Europäer, in unserer entgötterten Welt aufgewachsen, dürfen wir uns denn als Normalmenschen voraussetzen? Statt als einen abnormalen Fall? Was ist der Kern in allen Welt-Apperzeptionen, der Wechselverständnis und gemeinsame Welt ermöglicht und auch das Verständnis des Mythischen wie alles anderen? Wie scheidet sich in der Heimwelt das Mythische vom Nicht-Mythischen? – Ist da notwendig zu scheiden? Ist nicht notwendig ein Kern da, in allen Apperzeptionen, der vo m Myt h isch en vo rau sgeset zt ist, mag es auch in jede konkrete Apperzeption miteingehen, zu ihr als konkreter gehören für Menschen der Heimwelt?

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Und schließlich: Wer stellt alle diese B etrachtungen an? Wer legt analytisch den Stil der eigenen Heimwelt und den der fremden aus? Wer verfolgt hier die allgemeinen analytischen Notwendigkeiten und gibt davon eine „wissenschaftliche“ Auskunft, eine „Theorie“? – Sage ich: „ich , d er Eu ro p äer, ich in der Geschichtlichkeit der griechischen Wissenschaft und im Besitz ihrer methodischen Habitualitäten“, und sage ich: „Der p rim it ive Mensch, der im Mythischen lebende Römer, der noch nicht hellenisiert war und dgl., k o n n t e d as n ic h t , und der Chinese heute kann es auch nicht, wenn er nicht europäisiert worden ist“, so setze ich eigentlich wieder voraus, dass ich Europäer Wissen von Primitiven etc. habe, die „nüchterne“ objektive Wissenschaftlichkeit und im besonderen die Wissenschaftlichkeit der Historie. Meine Besinnung über menschliches Dasein, menschliche Umwelt, menschliche Welthabe vor der Wissenschaft und über das Vorhaben einer universalen Wissenschaft ist selbst des europäischen Menschen Besinnung. D ass sie das ist, d ass ich Europäer bin, dass ich Deutscher bin, aus der bestimmten mährischen Heimatsphäre, in der bestimmten Schulerziehung etc. so geworden, d as liegt vo rw eg in m ein em Besinnungshorizont, wie auch in der Wir-Besinnung das europäische Wir, der europäische Umwelthorizont mit den Wissenschaftlern, den Philosophen darin, mit denen ich innerlich und äußerlich verhandle. Jede allgemeine Besinnung hat in meinem individuellen Fürmich-Sein und meiner jeweiligen individuellen Umwelt ihren Grund. Und in ihr habe ich auch die Anderen – was alles die Besinnung selbst mich lehrt –; in ihr vollziehe ich die Variation aller Erdenklichkeiten und als die meines Denkens. Kann ich anderes aussprechen, als was ich in meinem Sein besinnlich denke? Und wenn ich über Menschen spreche und über Welt spreche, kann ich über anderes sprechen als Menschen, die in meinem Umwelthorizont für mich erfahrbar und vorstellbar sind, darunter mich selbst als Menschen unter diesen Menschen? Kann ich Konkretes über Welt und Gegenstände der Welt anders mir vorstellen denn als Erfahrbares aus der Typik meiner Umwelt etc. von meinem wirklichen Erfahrungskern aus? Mich besinnend, finde ich, dass alle meine Apperzeptionen, all die vertrauten apperzeptiven Typen meiner Welt, eben die, für die ich sprachliche Ausdrücke finden kann, E rw erb e m ein es L eb en s sind. Und selbst dieses Ziel, diese Vorhabe einer universalen Be-

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sinnung! Und ebenso die wissenschaftliche Habitualität, das konsequente besinnliche theoretische Interesse im Auslegen und urteilsmäßig, wahrheitsmäßig Fixieren dessen, was in äußerster Universalität in Wahrheit für mich ist. So ist es natürlich, dass ich in m ein er Welt mich 5 als Menschen dieser Habitualität, aber neben mir Tiere und Primitive finde, die diese Habitualität nicht haben, d. i. für mich erfahrbar und erkennbar sind in diesem Seinssinn, einem Seinssinn, der dieselbe ausschließt.

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§ 4. Einwand der historischen Relativität: Alle unsere Auslegung ist europäisch etc. Hat es einen Sinn, den E in w an d gelten zu lassen: „Das ist deine europäische (und schließlich deine persönliche) Denkungsart, sie ergibt europäische Wahrheit, europäische Logik, europäische Weltanschauung bzw. seiende Welt im Sinne Europas, weiter europäische Erkenntnistheorie etc. Die Primitiven haben ihre eigene Logik, ihre eigene Weltanschauung, und so jedes sonstige Menschentum, das wirklich oder in Möglichkeit von dem deinen völlig abweicht. Wie der Mensch, so ist seine Welt, seine Wissenschaft, seine Kunst, sein Gott usw.“? Was sagt das? Zu m ir, als Einwand? Der Primitive ist doch der Mensch, der für mich in meiner Welt ist und als solcher, für den ich dann in seiner Umwelt bin – was ich aber selbst in meinem Bewusstseinsleben erkenne, als Bestand in meiner Welt habe. Ist nicht alles u n d jed es, was ich da über mögliche Weltanschauungen, Logiken, Erkenntnistheorien, vermeinte Welten irgendwelcher Menschen, Völker, Kulturen, primitiver oder nichtprimitiver, aussage, erkenne, Auslegung in meinem eigenen Reich erkennbaren S ein s, subjektives Ergebnis meiner Besinnung, meines Denkens, meine eventuell apodiktische Wahrheit? Ist es nicht Wissenschaft als mein ursprünglich eigener Erwerb, in dem alles, was ich als Wissenschaft und Wissen von Fremden wissen und erdenklich haben kann, beschlossen ist? Ist es danach nicht ein Unsinn, dass das Universum meiner Wahrheit und meines Seins mit dem Universum des Erkennbaren irgendwelcher Anderer, etwa Primitiver, in unlöslichem Widerstreit stehen könnte, wenn doch diese Primitiven und ihr Universum

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(nach allem, was ich darüber in Wahrheit sagen kann) in meinem Universum enthalten sind? Ist damit nicht die Möglichkeit für mich gegeben, nicht nur zu der Wahrheit fortschreitend zu kommen dessen, was sie selbst sind, was ihr Universum möglicher Meinungen für sie ist und möglicher, ihnen zureichender Bewährungen, was die Wahrheit ihrer Umwelt für sie ist und die Logik, die ihre Norm ist? Besteht nicht auch die andere Möglichkeit für mich, ihre und meine wahrhaft Seienden, ihre und meine „Welt“ und vermeinte Welterkenntnis zu konfrontieren und eine Kritik zu vollziehen, also schließlich zu einer universalen endgültigen Wahrheit zu kommen, der gemäß die Primitiven-Wahrheit keine Wahrheit schlechthin mehr ist und die Primitiven-Welt keine Welt schlechthin ist, sondern einer jener Typen seiender Umwelten ist, die schon in Mannigfaltigkeit zur Einheit eines menschlichen Lebens gehören, dann zur Einheit einer Heimat und wiederum zur Einheit einer völkischen Welt mit vielen Heimaten etc., Heimwelten, in denen wahre Welt sich darstellt und deren intentionale Einheit – Vernunfteinheit – diese wahre Welt ist. Vorwissenschaftlich Umschau haltend, mag ich Chinesen, Indianern, Hottentotten etc. begegnen. Ich erfahre sie als fremdartige Menschen, die in der Welt sind und sich selbst in der Welt wissen – d er Welt. Obschon ich bald merke, dass unser Wechselverstehen nicht eben weit reicht und dass die Dinge, die Menschen etc. der Welt, die wir alle erfahren, für sie nicht dasselbe bedeuten wie für mich, dass unsere Apperzeptionen weit auseinandergehen, wie aus ihrem Verhalten ersichtlich, während ich ihre Apperzeptionen mir nicht nachbilden, ihre Art, zu „sehen“ und durch die für sie apparenten Dinge motiviert zu werden, nicht nachverstehen kann. Im Verk eh r erw eit ert sich d as Verst eh en, obwohl es immer etwas prekär bleibt. Ich komme praktisch mit ihnen auf Grund meines fortschreitenden wirklichen oder vermeintlichen Verstehens doch weiter und damit gewinne ich zugleich Weisen der Bestätigung oder Korrektur meines Nachverstehens. Für mich selbst erweitert sich die Weltkenntnis, die Welterfahrung eben durch Erfahrung von ihrem Dasein als so und so Welt apperzipierend und danach handelnd. Im Verkehr mit meinen Heimgenossen lerne ich nicht nur sie als Menschen in der Welt, unserer Heimwelt und damit der Welt überhaupt, kennen, sondern wir sind in E rf ah ru n gsgem ein sch af t und innerhalb der sonstigen Gemeinschaft in D en k gem ein sch af t. Darin liegt: Meine

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einstimmige Erfahrung geht als Welterfahrung sozusagen durch die ihre, von mir im Allgemeinen übernommene hindurch; und in diesen Gemeinschaften schreiten wir nicht einzeln, sondern im Miteinander und Durcheinander in der Kenntnis der für uns seienden Welt fort. Das betrifft auch unsere Erfahrungen nicht m it, sondern vo n den Fremden: Wir helfen einander, ihre fremde Art kennen zu lernen. Dagegen nur in einem kleinen Umkreis, dem der schon gelungenen und bewährten Verständigung mit ihnen, können sie uns als Mitsubjekte für die Welterfahrung dienen – wie Ähnliches, obschon in noch engerem Kreis, für höhere Tiere der Fall ist (z. B. Hunde). Das alles erkenne ich, der mich besinnende Wissenschaftler; ich erkenne mein und aller Verhalten und unser aller horizonthaftes Welthaben und Weltleben, worin wissenschaftlich vorerkannt das alles liegt. Nehmen wir uns als Wissenschaftler: Wir gewinnen eine Methode, in der wir selbsttätig die Typik der Umwelt uns immer vollkommener apperzeptiv aufbauen, die vorgegebene apperzipierte Umwelt immer besser kennenlernen als dieselbe, in ihrer Typik immer vollkommener bestimmte, und danach Individuelles gemäß der Typenerkenntnis durch Subsumtion auch individuell relevant antizipieren können, was im Voraus für es gelten muss, nach seinem Allgemeinen, das sich in der Situation und wirklichen Erfahrung dann noch weiter bestimmt. D eskriptive Wissenschaft von der Umwelt auf Grund der Vorgegebenheit und einer theoretisch absichtlich beobachtenden und nach dem Individuell-Typischen fixierenden Erfahrung und Erfahrungsaussage. Das betrifft die toten Dinge, die Pflanzen, die Tiere, auch die Menschen, als wie sie eben u m welt lich vorgegeben sind und als Objekte apperzipiert. Methoden der Bestimmung der individuellen Objekte – nämlich Methoden, sie jederzeit wiedererkennend identifizieren zu können auch auf Grund indirekter Bestimmungen zur Sicherung der Identität der in verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten erfahrenen Dinge – betreffen Zeit- und Ort-Identifizierung und -Festlegung. Es wird Wissenschaft der Erfahrungswelt möglich, die über die „Gegenwart“, die breite Gegenwart, hinausreicht; es wird die Welt deskriptiv-historisch erkennbar hinsichtlich der Vergangenheit und in einigem Maße die Weltzukunft. Die Methode hat Evidenz – die Evidenz einer vertrauten Praxis, die hier die Praxis des Wiedererkennens und des wissenden Bestimmens ist.

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Beilage XII Zur Pluralität und situationsabhängigen Aktualisierbarkeit heimweltlicher Wir-Horizonte1 Man versteht den Fremden als fremden Menschen, als Menschen einer 5 fremden Heimgenossenschaft und Heimwelt. Mit meinem Heimgenossen bin

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ich ohne weiteres in der Welt, die mir ohne weiteres als die mir und ihm gemeinsame gilt, als die, in der w i r leben, in der wir sind als die in ihr Lebenden, als in ihr lebend ihrer gewiss sind in den jeweiligen Bewusstseinsweisen, ihrer gewiss auch Anderer gewiss sind, von Anderer Leben und je unserem Leben in entsprechenden Bewusstseinsweisen Gewissheit haben usw. Zur Welt, der für uns, der, in der wir sind in der Weise des So-in-ihr-Lebens, gehören aber doch auch Fremde; auch sie leben doch in dieser selben Welt, die die unsere ist, und auch sie können wir doch, sie ins „Wir“ einbegreifend, als Mitmenschen bezeichnen, mit denen wir in derselben Welt leben.2 Es bedarf offenbar einer phänomenologischen Charakteristik der Welt, die als ständig geltende Umwelt der Geltungsboden ist, auf den al l e Affektivitäten und Aktivitäten des wachen Lebens bezogen sind; und dazu gehört schon, dass sie die Welt ist als meines und eines jeden Heimgenossen Welt, mit dem ich in Lebensgemeinschaft bin. Charakterisiert muss werden der personale Horizont, in dem ich Genosse bin, als die allheitlich-einheitliche Personalität (darin Bewusstseinsgemeinschaft, Wachlebensgemeinschaft, Aktgemeinschaft), die die Welt als ihr Korrelat hat, die hier ständig die Welt ist „unseres“ Lebens. Zudem die Schichtungen dieser Personalität, wonach das landschaftliche Wir, das nationale oder völkische Wir, das europäische Wir usw. einig sind, Einheiten sind in höheren Einheiten. – Dazu verschiedene Einstellungen: Ich bin landschaftlich-alemannisch eingestellt, wenn ich, der Alemanne, mit Alemannen spreche und über Themen, die mich ohne weiteres in die alemannische Weise des Lebens, der Sprache, der „Weltbetrachtung“ versetzen. Pol kann aber für mich und für uns alemannisch Verkehrende und Eingestellte unter dem Titel „Vaterland“ das 1

Juli 1933. Es ist zu beachten, dass dies selbst zum Seinssinn der Heimwelt gehört, und dann dies, dass die in ihr als Fremde Auftretenden (innerhalb und außerhalb des Heimterritoriums) dieselbe Welt anders, im Widerstreit darin mit uns, vorstellen, mit anderem Seinssinn, und wieder dies, dass dasselbe für die Anderen gilt in umgekehrter Beziehung, der auf uns. Zwei Möglichkeiten: Ich „bekehre“ mich zur fremden Meinung – mein Heimvolk bekehrt sich zur Weltauffassung des fremden Volkes – dann ist mein Volk aufgegangen in der Scheidung von Fremdheit – beide sind ein Volk. Und individuell? In gewisser Weise ebenso. Aber volle Einigkeit ist undenkbar, auch nicht bei Völkern. 2

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deutsche Reich sein oder unter dem Titel „deutsche Volksnation“ und „deutsche Kultur“ etwas, das viel weiter reicht und vor allem durch Einheit der Sprache und der sprachlich vermittelten Lebensgemeinschaft in Frage kommt. – Ich stelle mich sofort entsprechend ein, also habe ich 5 einen sehr verschiedenen menschheitlichen und umweltlichen Horizont als den „lebendigen“.

Nr. 18 Nahwelt – Fernwelt. Die E rschlossenheit der n ächsten Umwelt 1

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Inhalt: Die homogene apperzeptive Erstreckung der wirklich erfahrbaren Nahwelt über die „Himmelsferne“ – Konstitution einer homogenen Welt überhaupt. Was heißt zunächst „wirklich erfahrbare Nahwelt“? a) Die ursprünglich konstituierte Realitätensphäre, die nächste, ursprünglichste Umwelt in ihrer Form der Raumzeitlichkeit und Kausalität, sowie die real seienden, mit mir und miteinander lebenden Personen – allerdings alsbald mit einem offenen, unbekannten Horizont. Doch dieser Horizont ist noch nicht voll konstituiert als „Welt“. Die erste Nahsphäre, die schon die Form der Umweltlichkeit hat, ist z. B. für das Kind in der ersten Stufe der Weltkindlichkeit das Kinderzimmer, dann die Wohnung und ein Stück Straße dazu und dgl. Hier herrscht Vertrautheit und ständige Erfahrungsbewährung, in der unter Korrektur die apperzipierten Dinge sich am Apperzipierten bewähren, von dem Alten aus das Neue (das in seinem Typus aber bekannt ist), das auch vor der direkten Erfahrung kausal antizipiert wird, indem Vorgänge alsbald als Kausalfolgen momentan unerfahrener Dinge apperzipiert und damit diese Dinge als mit im raumzeitlichen Feld seiend in einer entsprechenden Typik (auf welche die betreffende Kausalität verweist) apperzipiert werden. Das direkt Wahrgenommene ist als normal fortdauernd – auch nachdem die Wahrnehmung vorüber ist – apperzipiert, bzw. das „Induzierte“ ist ein Zugängliches oder als von selbst herankommend, als Person evtl. herangehend, erfahrbar, wiedererfahrbar. Dazu die „Induktion“ durch Mitteilung. Durch sie Erweiterung des personalen Umkreises über den der ersten nahweltlichen Personalität (Familie, Amme etc.) hinaus, welcher Voraussetzung ist für das Hineinwachsen in die einheitliche Personalität und ihre Umwelt.

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Diese Umwelt ist für mich und jedermann (in dieser Personalität, diesem Volk etc.) zugänglich, und jedermann ist für jedermann umgänglich und zugänglich, unmittelbar und mittelbar, auch wenn faktisch keine Möglichkeit besteht, eine direkte Erfahrung, einen direkten personalen Konnex herzustellen, geschweige denn diese gesamte erste Welt vollkommen und direkt kennenzulernen. Jeder hat darin seine „Endlichkeit“, die erste Endlichkeit, nämlich seine notwendig beschränkten Vermögen wirklicher Wahrnehmung (danach der direkten Erinnerung) und einer indirekten Kenntnisnahme durch Induktion (mitgerechnet durch Mitteilung); und doch „könnte“ er diese ganze Umwelt kennenlernen und die für sie mitfungierenden Personen. Jeder hat seine beschränkte Erfahrungssphäre und doch seinen Horizont des Unbekannten als für ihn, obschon nicht faktisch, durchaus Erfahrbaren. Es ist zufällig, dass er nicht, wo er schon war, weitergegangen ist, dass er die eine Richtung und nicht eine andere faktisch eingeschlagen hat; es ist zufällig, dass er von seinen Eltern nur dies gehört und nicht anderes, was sie ihm aus ihrer eigenen Erfahrung sagen konnten, dass er sie nicht befragt, und auch mittelbar zufällig, dass sie ebenso nur dies und nichts anderes zu sagen wussten, weil sie ihre Zufälligkeiten in der eigenen Erfahrungs- und Mitteilungssphäre hatten. Usw. Es bedarf hier weiterer, genauerer Überlegungen. Mitteilung führt auf sprachliche und sonstige, im Grunde ihr zuzurechnende Tradition: z. B. durch Denkmäler, die zur Mitteilung für die Nachfahren geschaffen worden sind. Dadurch vermittelt der nicht-„sprachliche“, nicht-mitteilungsmäßige Ausdruck von menschlichem Dasein bzw. Dagewesensein (darin dann beschlossen ihre Lebensumwelt) durch Kultur-Sachen, auch Ausdruck von Institutionen („öffentliche“ Bäder, Gymnasien, Schulen, Kirchen, Kultstätten etc.). Jeder ist, einzeln genommen, darin endlich beschränkt, dass er über seine eigenen Erinnerungsmöglichkeiten hinaus die „historische“ Vergangenheit, d. i. die totale Vergangenheit der personalen Menschheit, die sein universales Wir ist, nicht frei durchlaufen, sie in der ihr selbst zugehörigen Mittelbarkeit nicht voll kennenlernen kann. In gewisser Weise ist eine „personale Menschheit“ analog dem einzelnen Menschen und in analoger Weise beschränkt. Die beiderseitige Beschränkung betrifft Erfahrung (Doxa) und nicht minder die Seinsumwelt als praktisches Feld (Welt praktischer Möglichkeiten).

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Eine geschlossene Menschheit in Funktionen einer Personalität höherer Ordnung: Staatlichkeit als höchste Stufe (mit den personalen „Zellen“ Familie, Familiengemeinschaft). Eine solche Menschheit unter anderen – jede hat eine engere Umwelt, die der Familie, des Stammes, des Volkes, und eine weitere, die die Mitmenschheiten umfasst. Denken wir eine als eine einzige, so hat sie ihr Lebensterritorium, aber darüber hinaus eine offene „Natur“, mit Dingen, Tieren, evtl. auch Menschen, das sagt: einen Horizont der faktischen Unbekanntheit, aber apperzipiert in Analogie mit der vertrauten Umwelt im Territorium, apperzipiert aber auch mit der offenen Möglichkeit von „fremdartig Neuem“ – das ist eine Art Modalisierung der aus Erfahrungsbildung vertrauten Typik –, allmählich universale Typik der Umwelt, nämlich zu ihrer Konstitution selbst gehört beständig Altbekanntes und Neues, aber nicht nur individuell Neues im alten Typus, sondern auch das Neuartige, Fremdartige, aber in einer Relativität, immer wieder aufgenommen in die alte Typik. Was schließt die relative Umwelt ab? – Wir müssen da ausschließen die Historie als „Wissenschaft“ wie jederlei Wissenschaft überhaupt. Eine Menschheit lebt in einer ursprünglich lebendigen, zum generativen und völkischen Leben dieser Menschheit selbst gehörigen Tradition. Diese Menschheit lebt in ihrer strömenden Gegenwart, zu der das jeweilige Wissen der Einzelnen bzw. die jeweiligen Bekundungen durch Mitteilung, auch die mittelbaren Erzählungen von Erzählungen der Voreltern gehören. Ferner die Familiendokumente, ererbte Familien-„Andenken“, die öffentlichen Denkmäler etc. Das alles hat „Bedeutung“, wird „verstanden“, obschon in vagen Unbestimmtheiten und in apperzeptiven Zurechtmachungen, mythischen Substruktionen (sich als das freilich erst ganz aufklärend auf Grund einer Historie). Die Lebensumwelt ist Gegenwart mit einer ihr in gewisser Weise eingeordneten Vergangenheit und von ihr aus vorgezeichneten Zukunft. In der engsten Lebenswelt – Heimat – ist für den Reifen (nicht für das Kind) nichts Fremdes. Fremdes ist hier Gegensatz zu Heimat. Sie hat den Charakter der durchgängigen Normalität, in der Natur wie in der Menschlichkeit, nach Dingen, nach Tieren, nach Menschen, nach kulturtypischen Sachen etc. Hier gibt es nur die Anomalität der Erdbeben, der sonstigen Naturkatastrophen, der Volksseuchen, der Verrückten, aber aufgenommen als seltene, als

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ungewöhnliche Vorkommnisse eigener Typik. Die Fremde kann man kennenlernen und dadurch sich ganz vertraut machen, und sie wird zur erweiterten zweiten Heimat. Aber wie betrifft das auch fremde Völker, fremde „Rassen“, völlig 5 fremde Territorien mit ihren Kulturwelten?

Nr. 19 Mein (unser) Welthorizont in seiner Zeiträumlichkeit. Zeiträumliche Orientierung: Zeitmodalitäten und räumliche Modalitäten1

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Das Leben schreitet fort als Prozess der b est än d igen Welt erf ah ru n g – ein ständiges Strömen erfahrender Geltung, ein im Ganzen einstimmiger Prozess und als ein ganzer eine Einheit der Einstimmigkeit (auch wo einzelne Unstimmigkeiten auftreten, sich von dem Einheitsboden abheben).2 Wessen wir gewiss sind, dessen können wir explizit inne werden, nämlich einzelner aktiv vollzogener Gewissheiten, bestehend in Akten des betrachtend Sich-Ansehens, des fühlend, wertend Mit-etwas-Beschäftigtseins oder aber handelnd. Akte sind immer da, das Ich ist als waches immer aktiv; aber ein beständiger Gewissheitsboden ist auch da – ein Wahrnehmungsfeld, Umwelt überhaupt. Schon wenn wir das sagen, haben wir eine erste Auslegung begonnen, nun, eine Besinnung. Ich beschäftige mich mit dem und dem, zum Beispiel, und ich nenne das Womit und verweise aber auch auf und bezeichne den engeren oder weiteren Horizont: Welt. Horizonte auslegen, ontisch, noematisch, noetisch, das Bekannte und Unbekannte, die Bestimmtheit und die Unbestimmtheit. Das Substrat und seine Bestimmungen, bekannte und unbekannte, also das On – die Umgebung von Onta, die Welt, das Universum der Onta. Horizont – ontischer Horizont. Das On im subjektiven Modus, als cogitatum, als wie es bewusst ist, erscheint. Die Welt in orientierter Gegebenheitsweise, die Welt als zeiträumliche Welt, als „stehende“ Gegenwart, im ständigen Strömen eine Gegenwart, die strömend Vergangenheit und Zukunft „aus sich entquellen lässt und in sich trägt“, in ihrem Strömend-sein erledigten Erwerb bewahrend und einen Zukunftshorizont als strömende Vorzeichnung entwerfend, lebendig in Verwirklichung überführend unter ständigem Neu-Vorzeichnen

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Wohl Anfang 1932. Kann ein Wahrnehmungsfeld, kann eine aktuelle konkrete Gegenwart sich in der Form der Illusion geben? Kann sie modalisiert werden als ganze? 2

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und Überführen.1 In diesem Modus leb en d iger Zeit, der Zeit als strömendem Ineinander der Zeitmodalitäten, zeigt sich die Zeit als Form der Allheit der Onta, als Weltzeit, als F o rm verh arren d en S ein s und der verharrenden Totalität des Seins selb st verh arren d, als Zeitstelle, als Zeitdauer des verharrend Seienden diesem selbst identisch zukommend, ontische Bestimmung, Eigenschaft. Die Weltzeit ist die Form der „Koexistenz“ – der Koexistenz nämlich von Koexistierendem im Sinne des Realen, dessen wahres Sein (als wahres immer wieder als identisch dasselbe erkennbar, bewährbar) seinen Was-Gehalt darin hat, dass es raumzeitliche Bestimmtheit hat. Jedes Moment des Was ist identische Bestimmung des identisch Seienden. Also raumzeitliche Bestimmtheit ist nichts Wandelbares, sondern dem Realen zukommend, als was es ist – ewig, überzeitlich, wenn man unter „Zeitlichkeit“ das zeitigende Strömen der Zeitmodalitäten „Gegenwart“ etc. versteht. Die raumzeitlichen Bestimmtheiten, die allem Weltlichen und der Welt selbst zugehörigen, bilden eine universale Einheit oder Ganzheit, die der einen Raumzeitlichkeit der einen Welt, welche also die universale Form ist, die alle Sonderzeitlichkeiten in sich fasst und zugleich die Zeitbestimmung ist, welche der Welt als Totalität zukommt. Die Zeit als universale ontische Form, Form der realen Onta, ist ein „Kontinuum“ (noch nicht mathematisch zu verstehen) von Zeitstellen (Punkten). Jedes konkrete Reale hat in diesem Kontinuum seine Strecke, seine endliche Ausdehnung, sein endliches Sonderkontinuum, eingeordnet dem gesamten Kontinuum. Die Zeit als Form realer Koexistenzen ist von zwei H au p t d imensionen: Sukzession und Simultaneität. Sie ist Koexistenz des Sukzedierenden und in jeder Phase der Sukzession Koexistenz von Simultanem. Die durch alle Sukzession identisch hindurchgehende Form der simultanen Koexistenz ist das Ra u m k o n t i n u u m. In dieser Identitätsbetrachtung ist der Rau m in seiner eigentümlichen mehrdimensionalen Struktur abstrakt-allgemeine Fo rm b est im m t h eit d er Welt. Als Form der Welt in ihrer Wirklichkeit ist sie konkret in der Weise, dass sie ihre Jeweiligkeit hat als Stelle in der universalen Sukzession, die eben Sukzession von Räumlichkeit ist, wobei die Räumlichkeit inhaltlich erfüllt ist. So wenig wie eine leere 1

Reale Zeit in Zeitmodalität.

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sukzessive Zeit Sinn hat, so wenig ein leerer Raum. Raumzeitlichkeit bezeichnet eine abstrakte Formbestimmtheit, eine unselbständige im Was der Welt; und wenn zur Weltform in ihrer Weise der zeitweiligen Ausfüllung durch Sachgehalte („Materien“ verstanden in Korrelation zu dieser Form) „Pausen“ gehören, so sind diese Pausen (leere Zwischenräume und Zwischenzeiten) doch selbst reale Bestimmtheiten innerhalb des Ganzen der Welt, die allein als Ganzes real ist, wie auch die einzelnen Realitäten nur sein können im Ganzen – in der Universalität, die Ganzes natürlich eines besonderen Sinnes ist. Raum und Zeit gehören also ins Ontisch-Reale. Die Zeitmodalit ät en, die der sukzessiven Zeit, gehören schon in das „Subjektive“. Ein erstes Subjektives finden wir unter dem Titel „zeit lich e Orientierung“.1 Ebenso die simultane Zeitform. Der Raum hat seine räumlichen Modalitäten oder seine „räumliche Orientierung“2 – das Hier und Dort, wie das Jetzt und Früher oder Später. Aber dabei kommt alsbald der Unterschied des „Subjektiven“ in Betracht als m ein Subjektives bzw. als das Subjektive irgendeiner anderen Person, andererseits das Wir-Subjektive. Die Welt ist mit all ihrem ontischen Gehalt jedermanns Welt, sie ist aber auch „u n sere“ Welt; und das „unsere“ besagt: wir, die wir hier zusammen sind, oder auch: wir Freiburger, wir Badener, wir Deutsche, wir Europäer etc. Und jedes Wir hat seine Wir- O rien t ieru n g, das Hier und Dort hat seine Wir-Bedeutung. Dem entspricht: Ich und jedermann hat seine „Stellung“ in der Raumzeitlichkeit; von seiner Stelle aus hat er seine orientierte Welt als Umwelt, und jed es Wir h at sein e Wir-Stelle – sein T erritorium – und seine Umwelt, die sich in Wir-Gemeinschaften gliedert. Hier ist Deutschland – das Land, das Territorium bestimmt für jedermann in seinem Wir einheitlich die räumliche Orientierung, einheitlich das Hier, so wie der Fußboden, auf dem ich stehe und in seinem Jetzt, das Hier und Jetzt ist, worin ich leiblich bin. Das Wir hat seine kollektive L eiblichkeit. Das Hier und Jetzt bedarf aber noch einiger weiterer Auslegungen. Mich bewegend (oder bewegt) bin ich in verschiedener Umgebung, bin im Nahkreis bald dieser, bald jener Dinge. Aber ich b in im m er b ei m ein em L eib, in ihm und durch ihn waltend. Er ist 1 2

Zeitliche Orientierung = Zeitmodalität. Räumliche Orientierung = räumliche Modalität.

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ein eigenes Feld des Hier und Hier, oder Hier und Dort, ein eigener Raum, eben eine eigene Gestalt, die in sich ein Stellensystem ist – wie jedes Ding, jedes in seiner Bewegung und Veränderung dasselbe, wiedererkennbar in seinen (obschon inzwischen veränderten, aber doch identifizierbaren) Teilen, Gliedern, ist in identifizierbarer und eventuell wiedererkennbarer, ähnlich gegliederter Gestalt. Und ich kann sagen, trotz der Bewegung und Veränderung: Hier dieses Glied, diese Stelle des Dinges, dieser Teil, auch dieser in der und der Weise veränderte Teil und jener. So auch beim Leib: Hier dieser Finger, an dieser Stelle hat er einen Tintenfleck oder schmerzt er mich etc., obwohl ich leiblich in Bewegung in einem anderen Sinne hier und dort bin und der Finger dabei auch seine eigene relative Bewegung und Gestaltwandlung hat. D as geh ö rt selb st zu m Au f b au d er O rien t ieru n g. Ein Ding im Eisenbahnwagen während der Fahrt, relativ unverändert sich bietend, hat seine Ausdehnung als verharrende Gestalt in dieser Bewegung und sein „Hier ist es spitz, dort ist es rund, hier ist es grau, dort ist es blau etc.“ Aber nun der wesentliche Unterschied der Orientierung der sukzessiven Zeitlichkeit gegenüber der Simultan-Zeitlichkeit, der räumlichen Orientierung. Die räumliche Orientierung wechselt je nach der einzelnen oder der Wir-Subjektivität bzw. je nach Einheit einer gemeinschaftlichen Subjektivität. Aber jedes Subjekt hat mit jedem Subjekt, jede gemeinschaftliche Subjektivität mit jeder anderen notwendig gemeinsam identisch dieselbe Gegenwart, also identisch dieselbe sukzessivzeitliche Orientierung. Sie bilden insgesamt eine einheitliche Koexistenz, eine offen-unendliche, die sich hinsichtlich der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in eins modalisieren. Die simultane Koexistenz in jeder Gegenwart ist aber auf die koexistierenden Subjekte so bezogen, dass jedes seine Orientierung hat, seine verschiedene. Die Orientierung der Raumzeitlichkeit ist ein strömender Wandel, in welchem für mich in meiner strömenden Gegenwart Weltgegenwart, Weltvergangenheit und -zukunft in ständiger Geltung ist. In diesem Strömen wird Gegenwart für mich zur Vergangenheit etc. Und so findet ständig ein Orientierungswandel statt, in welchem alles weltlich Seiende seine Stelle in der starren Form der Sukzessionszeitlichkeit behält, je als verharrend in ihrem Orientierungswandel für mich. Jedes für mich mitgegenwärtige Ich-Subjekt ist für mich

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erfahren bzw. erfahrbar als Ich in seiner strömenden Gegenwart, in welcher dieselbe Weltgegenwart, die die meine ist, für es, dieses andere Subjekt, Gegenwart ist und in einem Orientierungswandel ist, der, in starrer Gleichförmigkeit mit dem meinen verlaufend, für das andere Ich und so für uns gemeinsam dieselbe objektive Zeit erfahrbar konstituiert. So sind alle mit mir und miteinander simultanen Subjekte Subjekte einer und derselben Weltgegenwart und sukzessionszeitlichen Weltorientierung. – Für uns alle, die wir jetzt sind, ist die sukzessionszeitliche Weltorientierung (ist die zeitmodale Gegebenheit der Zeit) dieselbe. Da Vergangenheit soviel ist wie vergangene Gegenwart, so überträgt sich das für mich und uns gegenwärtige All auf jedes vergangene (und zukünftige) Ich-Subjekt. Wie steht es nun hinsichtlich der Form der Simultaneität, hinsichtlich Raum und räumlicher Modalitäten (räumlicher Orientierung)? Natürlich hat jedes mit mir simultane Subjekt notwendig eine andere räumliche Stelle; aber dies auch in einer notwendig anderen räumlichen Orientierung. Identität der Raumstelle und des Raumes selbst konstituiert sich in der Sukzessionszeitlichkeit im strömenden Wandel der Orientierung. Aber so sehr für jedes Subjekt die universale Orientierungsform, in der die Weltform „Raum“ mit allem darin als räumlich auftretenden Seienden erfahren ist und je erfahrbar ist, als Form starr bleibt – in dieser Hinsicht ähnlich wie Sukzessionszeitlichkeit und Zeitorientierung –, so ist es doch klar, dass die Orientierung des räumlichen Seins im Einzelnen und der Welt in ihrer Universalität sich innerhalb der starren Form wandeln kann und wandelt, und zwar verschieden für verschiedene Subjekte. Damit hängt ja zusammen, dass die Sukzessionszeitlichkeit starr ist, dass es in ihr für das zeitlich Seiende keinen Stellenwechsel gibt als Analogon der Bewegung, die ihr mögliches Korrelat hat in einer Ruhe. In der Sukzessionszeitlichkeit gibt es keine Zeitbewegung, also auch keine Ruhe. Und in subjektiver Hinsicht ist auch die Orientierung nach Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft etwas und für alle Subjekte in starrem Gesetz Gleichbleibendes, auch aller Willkür Entzogenes. Im Raum aber entspricht der Bewegung eine Orientierungsänderung, die für jedes Subjekt eine andere ist und zugleich entspricht jeder Ortsveränderung auch die frei tätige Stellenänderung der Subjekte, die leiblich in der Welt sind und ihren jeweiligen Leib willkürlich bewegen können.

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Aber war es richtig, die Rückfrage von der Welt auf das Subjektive, auf die subjektiven Gegebenheitsweisen der Welt, von allgemeinen Erörterungen über Welt-Zeitlichkeit und Welt-Räumlichkeit ausgehen zu lassen? 5 Die Welt ist Welt von Realitäten, verharrend in Bewegung und Ruhe, in Gestaltveränderung und -unveränderung (Deformation), in „qualitativer“ Veränderung und Unveränderung. Im Ausgang von der Welt, wie sie ursprünglich selbst gegeben ist als Welt der Erfahrung, die Frage, wie Welterfahrung subjektiv aussieht, welche Form 10 sie notwendig hat, um Welt erfahren zu können. Auslegung der Welt als Welt der Erfahrung. – Was ist da das Nächste, das notwendig Erste? Das Erste ist Erfahrung von Einzelrealen nach Überschau über die Typik der vorgegebenen Welt als Universum von Einzelheiten. Die erste Frage ist die nach der Form dieser realen Einzelheiten und 15 der Form ihrer subjektiven Mannigfaltigkeiten. Jedenfalls, man kann nicht im Abstrakten der Raumzeitlichkeit hängen bleiben, sondern muss von der konkreten Welt als Welt, als Universum konkreter Realitäten und ihrer Typik ausgehen und das Problem der Methode der Rückfrage überhaupt gründlich erwägen.

Beilage XIII Induktion in der Welterfahrung und die Konstitution der orientierten Erfahrungswelt als Welt mit Erde und Himmel1

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Die Voraussetzung der Natur als definite Mannigfaltigkeit; jede Aussage 25 begründbar, unmittelbar oder mittelbar. Die deterministische Meinung – die

Welt eine definite Mannigfaltigkeit.2 Die in der apperzeptiven Konstitution der Erfahrungswelt liegende Antizipation (Induktion) und Induzibilität, als Methode, in einem Kern die antizipierte mögliche Erfahrung bewährend wirklich herzustellen – und vorher 30 das Antizipierte anschaulich zu machen, also mögliche Erfahrung anschaulich als quasi-wirkliche zu konstruieren, aber dann notwendig in unbestimmter Allgemeinheit als Spielraum der Möglichkeiten, der in der Apperzeption liegenden typischen Auffassung gemäß; ferner Vermöglichkeit der Konstruk1 2

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tion der ontologischen Form der Welt als Form ihres möglichen faktischen Soseins, Überführung des Universaltypus in eine Wesensform und Verwendung der begrifflichen Form, um das Erfahrene in seiner unbestimmten Horizonthaftigkeit der Form zu systematisieren und durch Beobachtung und Experiment methodisch immer vollkommener zu bestimmen – urteilsmäßig, exakt begrifflich. Aber da fehlt die Fortführung des oben Gesagten. An einem Kern, dem der direkten Erfahrung, kann man „beobachten“, kann man das unmittelbar Induzierte bewährend wirklich herstellen durch fortschreitende „allseitige“ direkte Erfahrung; oder es tritt negative Bewährung ein (Schein), vermittelt durch Modalisierung. Nach außen, dem Außenhorizont gemäß, geht dann die Induktion im zweiten Sinn. Mit jeder Wahrnehmung ist eine Außen-Antizipation gegeben. Dementsprechend: Jede „Beobachtung“ an der Stelle, jede Durchführung allseitiger Wahrnehmung, also Herstellung der hier unmittelbar innen-induzierten Wahrnehmungen, ergibt, jeder Natur entsprechend, Naturinduktion nach außen. „An der Stelle“ – das will sagen: innerhalb der wie immer fortlaufenden Kontinuität des Wahrnehmens (Augenbewegung etc., aber auch gehende Lokomotion). Außeninduktionen bewähren sich als auf intersubjektive Umwelt bezogene teils durch meine eigene Aktivität des Hingehens und entsprechenden Wahrnehmens, und wie alle solche Bewährung (sie vollzieht sich in der Kontinuität des Wahrnehmens) ist sie auf Ja und Nein gestellt; auf dem Wege liegt die Zwischenmöglichkeit des Eintretens von Modalisierungen „zwischen“ Sein und Nichtsein. Teils vollzieht sich die Bewährung durch Übernahme der fremden Erfahrungen im unmittelbaren Konnex oder durch Mitteilung im dokumentierten Ausdruck. In einem Rahmen, dem der konkreten Gegenwart, kann das unverändert verharrende Seiende möglicherweise auch bewährt gegeben sein durch Hingehen und direkt Wahrnehmen dessen, was durch frühere Menschen zum mitteilenden Ausdruck gebracht wurde und als Ausdruck verharrend zur Kenntnis gekommen ist. Induktion von Vergangenem: unmittelbar durch eigene Erinnerung. Aber das Erinnerte kann nicht mehr allseitig beobachtet werden. Es bleibt also bei der ursprünglichen unmittelbaren Induktion der früher ungesehen gebliebenen Seiten, in ihrer relativen Bestimmtheit und im Übrigen unbestimmten Allgemeinheit. Ebenso auf dem Wege der Mitteilung anderer (die selbst wieder induzierte andere sind); hier reicht der Unbestimmtheitsspielraum noch weiter. Ständig und notwendig liegt in jeder Seinsgeltung die Evidenz der Aktivität der Bewährbarkeit als induktiver nach Ja und Nein, nach Sein und Nichtsein, dabei der Bewährbarkeit ebenso der Geltungsmodalitäten. Welt habend, bin ich Ich meiner Vermöglichkeit, Weltinduktion zu Bewährung bringen bzw. Induktion – die zur jeweiligen Welterfahrung gehörende, sie ausmachende Induktion – in immer neue Gestalten aktiv überleiten

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zu können, derart, dass dabei fortgesetzt partiale Bewährung durch aktuelle Wahrnehmung erfolgt, weiter durch aktuelle intentionale Modifikation der Wahrnehmung als erfahrende Anschauung. Diese ist nur der Kern der Bewährung. Denn korrelativ haben wir das Spiel der immer neu mitgeweckten Induktionen; und innerhalb dieses Kreises der in Sonderheit unerfüllt bleibenden (zeitweise oder dauernd unerfüllt) herrscht nun selbst sekundäre Bewährung und Entwährung, sofern die da und dort ursprünglich geweckten Induktionen sich in ihren Weisen erfüllen als expresse Antizipationen mit bestimmtem Inhalt (aber ohne anschaulich zu werden) oder sich nicht erfüllen. Desgleichen: Welterfahrung ist eine Totalerfahrung, in die der jeweilige Horizont eingeht mit den jeweiligen bestimmten „Vorzeichnungen“ als abgehobenen und inhaltlich relativ „deutlichen“ Sinnbeständen und darüber hinaus mit der noch leeren Horizonthaftigkeit. Das im ständigen Wandel. Und nur wenn das Ganze aller induktiven Vorzeichnungen, die als äußere Vorzeichnungen zu einer jeweiligen Erfahrung gehören, ein Ganzes der Einstimmigkeit ist, hat diese erfahrende Anschauung ihre ungebrochene Seinsgeltung, bzw. ist sie im Stande der bewährenden. Was aber die totale Welterfahrung anlangt, so ist sie von einer besonderen Struktur. Als Totalität ist sie in ständiger Bewährung, sofern sie die Evidenz in sich trägt, dass einzelne Unstimmigkeit entscheidbar ist und so, dass das Ganze total einstimmig wird. Wie weit reicht die Bewährbarkeit durch Erfahrung, wie weit reicht Induktion und als zu bewährende? Zum Beispiel, wie steht es mit dem Irdi sc hen, das außerhalb aller menschlichen Territorien noch anzunehmen ist? Wie steht es mit den nie betretenen Tiefen der Erde? Wie erwächst durch Konstitution der Seinssinn „irdische Welt“ als hinausreichend über aktuelle und selbst wahrscheinliche Bewährbarkeit? Wie steht es mit der Evidenz der entsprechenden Induktion? Und wenn wir Erfahrungsmotive gewinnen, die H im m elst at sac hen als Naturtatsachen aufzufassen, ist hier nicht die Evidenz von derselben Art?

Die i rdi sc he W el t, von der bisher die Rede war, ist zunächst Umwelt meines Volkes in seiner territorialen Endlichkeit, das aber um sich andere Völker in den primitiveren Formen menschlichen Daseins in offener Forterstreckung auf demselben irdischen Naturboden hat. Natur als Kern bedeutet hier 35 E rdnat ur als sich in den Orientierungsrichtungen von der jeweiligen Stelle, wo man irdisch steht, in iterierbarem Fortgang forterstreckende. Das führt zunächst zur Antizipation des Erdbodens, auf dem sich menschliches Leben bietet, als einer eigenständigen, immer weiter, eben in iterierbarer Erfahrung „unendlich“ fortlaufenden Körperlichkeit eigener Art. Von ihr sind geschlos40 sene Körper abstückbar als erfahrungsmäßig bewegliche und mit dem Sinn

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der Beweglichkeit und Veränderlichkeit etc. Aber alle geschlossenen Körper, Körper im gewöhnlichen Sinn, rechnen mit zu ihr; sie haben über sich ihren freien, leeren, ihr zugehörigen Raum, in den sich jeder Körper bewegen könnte, wie fliegende Vögel. D i e E rdnat ur hat i hren N at urraum; sie hat zudem ihr Relief (Berge, die sich emporerstrecken etc.). Und die Luf t? Die ist zunächst von Raum nicht unterschieden. Sie ist kein Körper im gewöhnlichen Sinn, auch nicht Erde im gewöhnlichen Sinn, auf der Körper liegen und so zu ihr gehören, von der Körper sich ablösen könnten etc. Die Luft ist nicht Erde, sie ist nicht zerstückbar (im Rahmen der Erfahrung gesprochen) in wirkliche (starre) Körper. Aber sie ist überall, wo kein Körper ist. Aber sie hat doch als Wind, als Hauch etc. ihre stellenmäßigen und konnexiven, wenn auch nicht scharf bestimmten Extensionen. Sie hat eine Ähnlichkeit mit dem Wasser, mit dem weiten endlosen Meer, das man schöpfen kann und im Gefäß als Körper – flüssigen Körper – für sich erfahren. Aber jedenfalls, wenn Luft von Raum geschieden wird, so ist sie so wenig wie die endlose einheitliche Erde, die sie überall und im Gesamtraum umgibt und in ihren Hohlräumen erfüllt, ein Körper im gewöhnlichen Sinn.1 Sie gehört mit der Erde (ihrem Festen und Flüssigen) in eins zu der Welt, die alle Körper, alle Menschen und Tiere umgibt und alle in sich hat. Diese Welt ist Raumwelt; alles Körperlich-Starre, alles luftförmig in besonderer Weise Merkliche und natürlich alles Flüssige hat seine jeweilige Stelle und Gestalt und in bleibender oder wechselnder Gestalt Beweglichkeit sowie sonstige Veränderlichkeit. Nun aber der Himmel und die H immelserscheinungen. Ist mein Versuch, für sie (rein als Gegenstände möglicher Erfahrung) eine eigene Seinsweise anzunehmen, nicht eine Übertreibung? Die Orientierungsrichtungen bzw. die von meinem jeweiligen Standpunkt aus vorstellbaren Richtungen sich bewegender Körper (fliegender Vögel etwa) laufen, sowie sie die Erdoberfläche nach aufwärts verlassen, auf den Himmel zu und jeder entspricht eine Stelle am Himmel. Zwischen Erde und Himmel ist LuftRaum, und der Himmel selbst hat eine räumliche Erfahrungsgestalt, die einer Fläche, – aber doch wieder nicht einer Fläche, wie sie ein Körper hat, und auch nicht, wie sie die besondere Körperlichkeit der Erde hat. Der H i m m el wird in keiner Weise körperlich gesehen, und so ist d as „ z w isc hen E rde und H im m el “ kein Zwischenraum, so wie ein solcher 1 Es ist erst die Aufgabe zu zeigen, wie die Apperzeption der Erde als Körper wie andere Körper, den wir nur nicht auf einmal übersehen können (wie schon Berge), zustande kommt. Selbst dann bestände die Frage, wann man im Fortgang der Erfahrung schon so weit wäre, das allseitige Zurückführen aller irdischen Wege auf den Ausgangspunkt zu erkennen. Aber reicht dazu nicht die Apperzeption des Fliegens von Vögeln aus und die Vorstellung der Möglichkeit, immer höher und höher fliegen zu können?

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zwischen zwei Dingen oder wie ein Hohlraum in einem Ding. Andererseits so wie ein Ding ein anderes subjektiv verdeckt und zur Verdeckung ein erfahrbarer Zwischenraum gehört, so verdeckt jeder Körper in passender „Lage gegen den Himmel“ ein Stück der Himmelsfläche. Unter ihr ist Raum als Luftraum und als Bewegung ermöglichender Raum, aber sie selbst ist weder räumlich noch körperlich, nicht räumlich, nämlich nicht Fläche im Raum – rein aus Erfahrung gesprochen. Was nun Sonne und Mond anlangt, so sind auch sie nicht ernstlich als Körper apperzipiert. Sie gehören zum Himmel, sie sind nicht als körperliche Kugeln oder Scheiben gesehen. Der Mensch kennt hohe Gebirge, kennt ihr perspektivisch verkleinertes Aussehen aus weiten Fernen. Würde dies die Sonnen- oder Mondapperzeption bestimmen, dann würden sie die Menschen als Körper von einer ganz überschwänglichen Größe vorstellen. Aber tun sie das wirklich? Wir haben hier keine schlichte ursprüngliche Fernapperzeption. Dinge im Sich-von-uns-Entfernen (subjektiv etwa vom Eisenbahnwagen) sind stetig in Fernapperzeptionen gegeben, stetige Fernerscheinungen von dem vertraut Nahen (und relativ voneinander in stetiger intentionaler Modifikation des von … von … von …). Wenn sie am Horizontkreis verschwimmen, in einen „Punkt“ als Fernlimes verschrumpft, so ist dieser Limes nicht mehr Fernapperzeption, Fernerscheinung von dem vertraut Nahen, sondern eben nur als Null der Abwandlungsminderung; er ist so wenig Fernding als die Stille – das, was den Ton vernichtet – noch Ton ist. Nur im Übergang zum Limes erhält der Limes seinen intentionalen Sinn als Limes der Ferne (die man nicht verwechseln darf mit dem in der Entfernung erscheinenden Abstand im Raum). Wie kommen wir also dazu, den Mond als ferne Kugel oder Scheibe, als fernen Körper zu apperzipieren? Alles irdisch Ferne ist für uns vor dem Himmel, und der Horizontkreis der Erde (auf dem Meer etwa) ist doch nicht am Himmel. Dazwischen sind die spielenden Wolken, die so oft den Himmel verdecken. Die Wolken sind immer vor der Sonne, vor dem Mond. Die Erfahrung führt dazu, den Himmel als kugelartige Fläche anzusehen, auf der der Mond und die Planeten sich bewegen und die Fixsterne feste Örtlichkeit haben. Aber im Übrigen bleibt der Himmel Himmel; und Sterne als Körper der fernsten Ferne zu fassen, das ist schon eine besondere Zumutung, noch mehr als Sonne und Mond. Nun stellen uns diese Himmelstatsachen zunächst doch eine eigene Tat sac hensphäre dar, rein aus ihrer Erfahrung und beständigen Erfahrungsbewährung, in ihrem „Sein“ eine Tatsachensphäre, d. i. sich als seiende Wirklichkeiten i hrer Sphäre bewährend und eventuell im Einzelnen als Schein entwährend. Aber nur im Einzelnen. Denn total genommen gehört das Sein der Himmelssphäre ständig und in ständig bewährter Gewissheit zum Weltphänomen. D i e E rf ahrungsw el t i st i m m erz u sc hon

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k o n sti tu i e rt als ir di sc he W elt, die innerhalb ihres universalen Phänomens Körper hat als Seiende in der Weise der Fern-Nah-Bewährung, und al s h i m m l i sc he W el t die ihre eigenen universalen Phänomene hat (Tagund Nachthimmel etc.) und ihre eigenen einzelnen Seienden. 5 Dann der Ausbau dieser unkörperlichen Seinssphäre zu Fernerscheinungen von Körpern, in denen also Körper erfahren werden, die als für uns, die Subjekte der ursprünglichen Umwelt, dann notwendig Körper in dem einen einzigen Raum sind. Die Welt mit der Doppelheit von Seienden wird zu einer körperlichen Welt mit ihr zugehörigen Animalien als beseelten 10 Körpern. Bei fortschreitender Erfahrung: Der Mond verdeckt Sterne in seiner Bewegung, eventuell wird auch beobachtet, dass Planeten und Kometen Fixsterne verdecken. Aber schließlich, steht es mit der Fernapperzeption der Himmelskörper als nicht auf Naherfahrung zurückführbare anders als mit den unzugänglichen 15 Partien der Erde zwischen den von Menschen bewohnten Territorien? Also wiefern bestehen hier transzendental konstitutive Unterschiede?

Nr. 20 Strukturen lebensweltlicher S ituativität: Momentansituation – Sondersituation – Situationsganzheit – Allsituation. Einzelsubjektive und gemeinschaftliche Situation. Die bürgerliche Normalwelt 1

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Inhalt: Zur prinzipiellen Scheidung der Relativitäten. Zunächst Modalisierung und Situation. Und identische Welt durch alle Relati10 vitäten der Modalisierung auf Situationen hindurch. Die Stufen der Lebenswelten bis hinauf zur totalen Welt als Relativitäten – relative Welten, die ihre mannigfaltigen Situationen einschließen. Die entsprechende Relativität der Horizontstruktur. „Situationswahrheiten“, bürgerliche Welt, Mitbürger, Unterschiede 15 der Weckung der entsprechenden Situationshorizonte. Nation unter Nationen.

§ 1. Das Ineinander der mehr oder minder geweckten Situationen und Situationsganzheiten Hier muss deutlich geschieden werden: 1) In der allgemeinen Empirie des natürlichen, außerwissenschaftlichen Lebens haben wir empirisch unsere Umwelt, unsere seienden Realitäten, für sie empirische Bewährungen und Wahrheiten. Sie heißen „relativ“, sie haben implizite unbewährte oder unvollkommen bewährte Voraussetzungen, obschon man sich auf sie empirisch25 praktisch verlassen kann, sofern sie, was möglich ist, in ihrer Weise eine praktisch zureichende Bewährung haben. Im Gang der Erfahrung liegt ständig empirische Seinsgewissheit und Seinsbewährung vor der besonderen Aktivität des Erkennens, der urteilsmäßigen, auf Sicherung, auf wahres Sein als solches gerichteten Aktivität, deren 30 Ergebnis die Urteilswahrheit ist, die in besonderem Sinne begründete. Was im Gang der Erfahrung sich ein st im m ig als unsere Welt 20

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bzw. als vertrauter Bestand von dem für uns Seienden sich ergeben hat, zugerechnet das, was wir durch urteilende Rechtfertigungen gesichert und in entsprechenden absichtlichen Aktionen aus dem naiv Geltenden als uns richtig herauskorrigiert haben, das bildet unseren jeweiligen Seinsboden f ür alle weitere Praxis, auch für neue Aktivitäten der urteilsmäßigen Feststellung und deren Begründungen, insbesondere für eventuelle systematische Erkenntnistätigkeiten der Wissenschaften. Das sagt: Alle nachkommende Kritik ist nur verhaftet den Einzelgeltungen, nicht aber wird der u n iversale Geltungsboden angegriffen; er ist vielmehr immerzu in den nicht angegriffenen Beständen Boden aller Fragen, das Zweifellose, mit dem sich alles neu Eintretende vertragen muss, das Feste, das, wo damit Nicht-Stimmendes sich zeigt, eben diesem den Stempel der Nichtigkeit erteilt usw. Durch das Leben geht nun ein solcher einheitlicher Urteilsboden, und zwar im Gemeinschaftsleben mit seinem gemeinschaftlichen Erfahren, Denken, Handeln etc., ein universaler verharrender Seinsboden, verharrend in seinem stets vertrauten Seinsstil als apperzeptive Universalform, worin alles Individuelle unbestimmter oder bestimmter zur Geltung kommt, an sie immerzu gebunden bleibend. Diese universal vertraute, ständige Welt ist unsere empirische Umwelt, in ihrem wandelbaren Sein, in ihren einzelnen Verlaufsbesonderungen sich in die mannigfaltigen empirischen Situationen gliedernd; jede gegebenenfalls apperzipiert als vertraute praktische Lebenssphäre bzw. Seinssphäre, in der wir stehen in zweifelloser Gewissheit, Boden für unsere Situationshandlungen, eventuell Situationsurteile, für jeweils in der Situation motivierte Fragen, Zweifel, Überlegungen, Überlegungen, ob etwas, das sich als so seiend bietet, wirklich so ist, also seine Wahrheit hat usw. Dabei sind wir als Menschen unseres Volkes oder auch unserer europäischen Menschheit durch unser ganzes Leben, sofern es sich in unserem Vaterland konstant abspielt, in einer u n iversalen S it u at io n: der deutschen, der europäischen Umwelt, in der die unzähligen Sondersituationen unseres Daseins begriffen sind; in ihr unselbständige Sonderstile eines Universalstils. 2) a) Wir haben dabei nicht nur die Relativität der „Modalisierung“ der Seinsgewissheit bzw. die zu allen Situationen gehörige offene Möglichkeit, dass irgendetwas in der Situation Auftretendes oder vorweg Vorausgesetztes (Impliziertes) zweifelhaft und negiert

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werden kann, so dass es bei keinem Sein, bei keiner Wahrheit in absoluter Endgültigkeit, in Apodiktizität sein Bewenden haben muss. Aber die empirische Zweifellosigkeit in ihrer empirischen, kontinuierlichen Bewährung und eventuell absichtlichen Erprobung gibt mir in der fundierenden vollkommenen Sicherheit der Situation Möglichkeiten, Wahrheit und Falschheit nach Bedürfnis zu unterscheiden und sicher zu begründen. b) Ich habe aber auch noch die andere Relativität, nämlich die des Wechsels der Situationen, während in diesem Wechsel so manches einzelne Seiende identisch verbleibt, aber doch seinen Seinssinn, den von der Situation her bestimmten, wandelt, so dass mit dem Wechsel der Situation die Wahrheiten andere werden. Aber jede Wahrheit bezieht sich auf ihre Situation, und dieser Wandel hat nicht den Titel „Falschheit dessen, was vorhin als wahr versichert war“, sondern den Titel „Wahrheit als die der neuen Situation“. Indem aber identisch Seiendes durch die Wandlungen der Situationen hindurchgeht, ja indem, c) wenn wir ins Universale gehen, ein Universum des Seins als Identisches durch alle Situationen hindurch identisch verbleibt, nur in jeder in einem anderen Situationssinn gegeben und mit Situationswahrheit ausgestattet, fragt es sich, was dieses Universum von identisch Seienden eigentlich für ein Sein und für ein Sosein hat. Jetzt steht die Sache so, dass wir, das Universum der Situationen betrachtend, unser und aller unserer Mitmenschen, Mitvölker, Mitmenschheiten überhaupt, die Mannigfaltigkeit der Situationswahrheiten derselben zusammennehmen – die entsprechenden Falschheiten denken wir uns schon herauskorrigiert –; und nun finden wir sie alle in Beziehung zu einer identischen „Welt“, und zwar bloß in dem Sinn, dass verschiedene Menschen je nach ihrer Situation und darunter je nachdem, ob sie Menschen dieses oder jenes Volkes und Kulturkreises sind – wenn sie sich von ihren bisherigen Situationen aus in die neuen Situationen hineinbegeben oder hineindenken –, dessen evident gewiss werden, dass das, was da als Wahrheit und wahres Sein in Verschiedenheit wohl begründet erkannt worden ist, doch d asselb e betrifft, und zwar so, dass Identisches je nach der Situation einen verschiedenen Seinssinn annimmt, der also bei der Äquivalenz der Situationsrelativität mit der Relativität auf die Individualität der Situationssubjektivität und ihrer individuell erwachsenen Habitualität

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eine Relativität der Wahrheiten auf die betreffenden Subjektivitäten bedeutet. Aber nun darf man nicht zu oberflächlich sein: Die Situationswahrheiten sind Wahrheiten für ihre Subjekte als die in ihrer Situation. Was sagt das, genauer überlegt? Die Subjekte sind in lebendiger Erfahrung, sie sind in einer aktuellen Apperzeption, in welcher sie ihr jeweiliges Wahrnehmungsfeld apperzeptiv haben in einem apperzeptiven Nah- und Fernhorizont, der für sie eine leb en d ige G elt u n g besagt, in lebendiger Weckung.1 Die Apperzeption hat als Kern die „eigentlich wahrgenommenen“ umweltlichen Gegenstände, die ihrerseits ihre eigentlich wahrgenommenen „Vorderseiten“ haben. Daran nicht genug, müssten wir sagen, dass die eigentlich wahrgenommenen Gegenstände erfahren sind als Gegenstände in einer gewissen Entfernung, dass dieselben als solche auf sich selbst in einer Nähe verweisen, in der allein sie ganz eigentlich als sie selbst wahrgenommen und wahrnehmbar sind, nämlich in kontinuierlicher allseitiger Wahrnehmung, dass daher allseitige Fernwahrnehmung ein allseitiges relatives Selbst greifen würde, das nur uneigentlich für das Ding selbst gilt; vielmehr, das eigentliche Selbst wäre das entsprechende Nah-Selbst. Das betrifft natürlich in erster Linie das Körperliche des Realen und betrifft mit die sonstigen überkörperlichen, übersinnlichen, aber mit den sinnlichen sich darstellenden Prädikate. Nun aber ist all das Auslegung der Apperzeption hinsichtlich der implizierten Seinssinne als Geltungen, die in der mit einem Schlage vollzogenen Gesamtauffassung des Wahrnehmungsfeldes bzw. seiner Gegenstände vollzogen sind. Wobei zudem noch anderes in Frage käme, nämlich das, was mit den Unterschieden des Erfassens, des vom Ich aus, aufmerkend und in der Aktivität seiner Beschäftigung, auf irgendeinen oder mehrere dabei bevorzugte Gegenstände Gerichtetseins bzw. mit den Unterschieden des von den einen so, von den anderen anders Affiziertseins zusammenhängt (primäre und sekundäre Affektion, und wieder im Zentrum sein des sich schon aktiv beschäftigenden Ich und sekundär noch im Griff sein, für nächste oder fernere Beschäftigung bereit sein usw.). Und damit gehen Unterschiede im Gehalt der Wahrnehmungs-

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Cf. 4 = S. 194,13–195,29.

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gegenstände Hand in Hand, als so, wie sie subjektiv-erlebnismäßig sich bieten und wandeln. Ist das schon kompliziert genug, insbesondere, wenn wir in eine genauere Auslegung der impliziten und fundierenden Seinssinne eintreten, so reicht das noch lange nicht hin, um den apperzeptiven Sinngehalt der Situation zu klären. Vor allem, was da herausgestellt wurde, ist nur eine ziemlich leere Allgemeinheit, welche eine gleiche ist, ob ich mein waches Erfahrungsleben am Morgen betrachte und in welcher der normalen Sondersituationen des Morgens immer (in ihrer vertrauten Folge: Bad, Ankleiden, Frühstück) oder in den anderen Tagessituationen, die sich als eine typische Einheit der Arbeitsstunden, Mittagspause, Nachmittagsarbeit, Abendmuße geben. In dieser oder jener Sondersituation betrachte ich, der ich wach lebe, Sondersituationen, die sich zu einheitlichen S it u at io n sgan zh eit en zusammenschließen, welche selbst wieder Sondersituationen in übergreifenden Ganzheiten sind, bis zur obersten, die mein normales totales Lebensfeld ausmacht – m ein e Welt, und zwar als die universale weltliche Gegenwart, in der ich jetzt an einer Stelle stehe, einer Stelle, die im engsten und nächsten Sinne meine Situation ist. Aber all das hat in eins sein e Weise, „ leb en d ig “ geweckt zu sein,1 und bestimmt den Seinssinn meines Wahrnehmungsfeldes und meines Darinseins, die Weise, darin affiziert und beschäftigt zu sein. Die paar Dinge, die es als wirklich und in eins wahrgenommene ausmachen, oder gar die einzelnen, auf die hin ich gerichtet bin oder die mich schon vorher „anziehen“, machen nicht das bewusstseinsmäßige Feld, worin ich jetzt lebe; dieses ist vielmehr meine konkrete „ Situation “, der sie zugehören, mit deren Gesamtsinn sie behaftet sind. Aber wie gesagt, die „konkrete Situation“ ist zunächst eine besondere, die in Wahrheit nicht konkret ist, sondern nur T eil ist einer Verkettung von simultanen und sukzessiven Situationen und die ihrerseits ihren Sinn von diesen ableitet, nämlich vorweg schon in einem Horizontbewusstsein „leb en d ig“ ist bzw. eine implizite Sinnbestimmung hat, durch die allein sie diese jetzige Situation für mich ist, die meine, als diejenige, in der ich individuell jetzt stehe, jetzt als aktives Ich, von den jetzt wachen und fortgesetzt wach werdenden praktischen Interessen bewegt, das 1

Cf. 3 = S.193,3–194,13.

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und jenes vorhabe und tue. Zum Beispiel: Ich bin soeben erwacht, und schon „steht“ der Tag, mein Tag „vor mir“, ohne dass ich mir ihn anschaulich vergegenwärtige, und schon kommt die Folge seiner normalen, seiner gewohnheitsmäßigen Sondersituationen in den Gang meiner Aktualisierung: Bad, Ankleiden, Frühstück, Arbeitsvormittag in Büro oder Geschäft, Mittagspause, Nachmittagsarbeit, Abendmuße. In der Sondersituation stehend, hat sie für mich ihre besondere „ Aktualität “ als ein in sich geschlossenes Ganzes. Die Dinge, die Menschen, kurz, das weltliche Reale, das dabei wirklich wahrgenommen ist in der ständigen Form „jeweiliges Wahrnehmungsfeld“ (ebenso im Falle lebendiger Erinnerung das Erinnerungsfeld), „gehört“ nur zur Situation; sie reicht aber weiter als horizonthaft lebendige. Und zudem: Es hat jetzt in diesem Situationszusammenhang für mich den Situationssinn, als in dieser Situation so und so fungierend; oder von mir her bezeichnet: Es interessiert mich als das und jenes, es hat jetzt die und die Relevanz für mich, dieses Sein und Sosein, dieses als im Gang etwa der einstimmigen Wahrnehmung sich mit den und den Farben, Gestalten, in der und jener Nähe oder Fernlage zeigen, mit den und den praktischen Möglichkeiten, von mir bewegt oder umgestaltet werden zu können, aufgefasst, dabei aufgefasst als Werkzeug, als werdende Werkgestalt usw. Aber diese ganze Sondersituation, z. B. die Situation des Morgens am Wochentag, hat mit der Auffassung als wochentäglicher Morgensituation auch den Sinn der Einleitung für die kommende Büroarbeit mit ihrem vertrauten und gegliederten Stil und so für den ganzen weiteren Gang der Situationen, die den Wochentag ausmachen. Daran nicht genug, gehört zum Horizontsinn offenbar der Wochentag in der Ordnung der Wochentage. Mit dem Wochenende zugleich der kommende Sonntag, die ganze Periodizität der Wochen im Jahr usw.

§ 2. Unser Situationshorizont im Horizont der bürgerlichen Normalwelt. Die Welt als Totalhorizont aller Lebenswelten

Wieder ist das, was wir soeben ausgeführt haben, nichts weniger als konkrete, wirklich vollständige Auslegung der jeweiligen konkre35 ten Situation. Lege ich als b ü rgerlich es Ich diese meine Situation

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aus, so ist sie bürgerliche in der Einheit der b ü rgerlich en U m welt. Und so hat sie den Horizontsinn eben dieser, für mich und für jedermann, der für mich als Mitbürger ihr zugehört, horizonthaft in ihr mitbewusst ist, als mein Bekannter (mein Freund, mein Geschäftsteilhaber, mein Fakultätsgenosse etc.), wenn er mir eben individuell als das bekannt ist, oder aber als der weite offene Horizont unbekannter Mitbürger, die doch als solche ihren vorgezeichneten personalen Seinssinn haben als mitgehörig in ihren Weisen zu dieser bürgerlichen Welt. Sie hat ihren Allgemein st il, ihren ständigen Stil einer allvertrauten Normalität (Arttypus), die Periodizität des Jahres dieser bürgerlichen Lebensumwelt mit den gemeinsamen besonderen Wochentagen und dem Sonntag, mit den sonstigen bürgerlichen Feiertagen usw. Dabei hat aber jeder seinen jeweiligen Tag, seine Tageseinteilung, seinen Tagesinhalt, – seine Interessenhabitualität, seinen Beruf, seine religiösen Überzeugungen und entsprechende Lebensordnung usw. Also schließlich müsste die universale Struktur dieser Lebenswelt als die für alle normalen Bürger invariante Form umschrieben werden, als verharrende Einheit, die alle Situationen umfasst, in der alle bürgerlichen Subjekte stehen. Hinsichtlich der Situationen aber wieder die Unterschiede der privaten, ein zelsu b jek t iven , und der gem ein sch af t lich en S it u at io n en, in denen die Situationen der daran Beteiligten synthetisch vereinheitlicht sind, wie z. B. die tägliche Situation der Personen, die als Funktionäre zur Einheit eines Geschäftsunternehmens gehören als die alle einheitlich umfassende Situation, und umfassend die jeweiligen Gegenwartssituationen jedes Einzelnen. Im Fortgang von augenblicklicher Situation zu jeder neuen ist Sinnesordnung und Sinnesdurchdringung, ist Wandel des Sinnes und doch Einheit des Sinnes, und so schließlich durch das ganze Leben eines jeden beteiligten Subjekts hindurchgehend, und darüber hinaus die Lebensverkettung der Subjekte, die in solche Beteiligung eintreten und aus ihr heraustreten, umspannend. Das Geschäftsunternehmen, die Firma, dauert fort im Wechsel der Funktionäre. Manche bleiben ihr Leben lang, manche scheiden aus; ihr Geschäftsinteresse wird von ihnen sozusagen durchstrichen. Aber es ist darum nicht nichts geworden; in der Einheit des bürgerlichen Lebens in seiner horizonthaft überall sinnbestimmenden Form hat jeder seinen verharrenden Personalstil, mit seinen verharrenden Interessen, aber auch mit seinen aufgegebenen und dafür neu gestifteten Interessen.

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Es wäre eine zu große Aufgabe, dieses Ganze und die Weise, wie sich im Wandel der aktuellen Situationen die Einheit durchhält, genau zu beschreiben. Nur einiges Wichtigste muss betont werden. Der verharrende Stil, in dem diese Welt ist, und dieses ihr Sein selbst als verharrendes Sein haben Aktualität nur in der Form einer Zeitlichkeit, in welcher nebeneinander und miteinander lebende, miteinander vergemeinschaftete menschliche Subjekte jeweils einzeln und im Miteinander situationshaft leben, jeder in einer Momentansituation und in einem universalen Horizont seiner Lebenssituation, in einem horizonthaft vorgezeichneten, im Übrigen bei aller relativen Bestimmtheit der Vorzeichnung doch unbestimmten Stil, aber auslegbar in Anschauungen, in anschaulich sich verzweigenden Spielräumen von Möglichkeiten, in dem Sinne: Innerhalb der vorgezeichneten Form könnte es im Einzelnen wirklich so kommen oder auch so, und könnte ich so vorgehen oder auch anders; das wird sich gegebenenfalls in individueller Faktizität schon bestimmen. Die S ituationen stehen alle in einem intersubjektiven Z u s a mme n h an g und in einer darauf bezüglichen intersubjektiven Simultanität und Sukzession, einer konkreten intersubjektiven Zeit als Form, die alles als intersubjektiv Verflochtenes oder vielmehr sich Durchdringendes umfasst. Die Situationen der Anderen liegen mit in meinem Horizont und sind für mich den Sinn meiner Situation, wenn auch sehr mittelbar und unbestimmt, beeinflussend und eventuell unmittelbar und praktisch bestimmend. Wir leben in dieser Welt nicht als Haufen von Realitäten, sondern als Subjekte, die füreinander da sind, als Menschen, die man ansprechen, von denen man Mitteilungen empfangen, mit denen man verhandeln und überhaupt handeln kann, zu Gemeinzwecken sich verbindend, oder die man bekämpfen muss als Feinde, deren Zwecke den unseren im Wege sind etc. In jeder Situation gibt es ein sachliches Wahr und Falsch, ein praktisches Richtig und praktisches Unrichtig, aber aller Wechsel darin ist vorgezeichnet von dem Gesamtsinn, der in alle Situationen sinnbestimmend eingreift. Für uns Bürgerliche ist die b ü rgerlich e No rm alw elt immer mit im Horizont, aber in unserer Sondersituation ist der sie in Sonderheit einigende Horizont der in lebendiger Aktualität geweckte. In dieser Lebendigkeit liegt eine Relativität, denn der ganze Universalhorizont ist ja lebendig; als totaler ist er in Geltung und hat

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jetzt und hier Funktion. Und doch haben wir Unterschiede der Weckung, der primären Bewusstheit und der impliziten Funktionsweise, was als Unterschied der Vollzugsweise der implizierten G elt u n gen zu bezeichnen wäre: aktueller Vollzug, Weise der Unanschaulichkeit und „unbewusstes“ Mitfungieren, unwach, ungeweckt sein. Das zeigt sich auch in der Veranschaulichung. Aber bei all dem haben wir noch immer nicht alle Horizonte in Rücksicht gezogen. In meinem normalen bürgerlichen Leben habe ich ausgezeichnet den Stil des normalen bürgerlichen Lebens, vor allem meines Standes, meiner Berufsgenossenschaft, diese im Zusammenhang der Berufe des bürgerlichen Lebens, die die gemeinsame Lebenswelt in verschiedenen Weisen, in verschiedenen besonderen Horizonthaftigkeiten haben. Was wieder verschiedene Typen von Situationen ergibt. Darüber hinaus aber das Anomale. Da gibt es Vagabunden, Lumpen etc. als Personaltypen, die sich außerhalb der Normalwelt stellen. Ferner: Diese Welt hat auch für jede Person und schließlich auch für die Gesamtheit der miteinander lebenden Personen als der totalen Subjektivität für eine ihnen zugehörige Lebenswelt ihren No rm alstil und ihre Anomalitäten: all die Zufälle, die als Erdbeben, Überschwemmungen usw. das normale Gesicht der Welt ändern, aber als gelegentliche Anomalitäten und offen mögliche selbst mit zum Stil der Welt gehören, als einer Welt, in der man auf dergleichen gefasst sein muss und, wenn es eintritt, in normaler Weise zu reagieren hat. – Normalitäten in der Bewältigung der Anomalitäten. Endlich gehört zu unserer Welt als derjenigen, die für unsere Spezialsituation sinnbestimmend ist, für uns Deutsche das gesamte deutsche Volk und seine Lebensordnung, seine kultivierte Natur und Menschheit. Neben unserer Nation sind aber andere Nationen, mit denen die unsere in Konnex steht, deren Angehörige in anderen Sitten und Gebräuchen, in anderen Sprachen, Rechtsordnungen, Staatsverfassungen leben, deren tägliches Leben und deren umgebende Alltagsdinge (Häuser, Möbel, Straßen usw.) eine andere Typik haben, eine Typik, die für sie horizontbestimmend ist, aber nicht für uns – über das Gemeinsame und ziemlich Allgemeine hinaus. Aber auch diese Simultaneität von Volksmenschheiten und deren Lebenswelten sowie in der Zeitfolge das verschiedene historische Nacheinander in der „Entwicklung“, die verschiedenen Geschichtlichkeiten, ist,

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obschon schon sehr ferne, immer mitbestimmend. Schließlich bekommen wir die ab so lu t e T o t alit ät: d ie Welt, in welcher unsere deutsche Umwelt eine einzelne in einer Mannigfaltigkeit miteinander in wirklichem oder möglichem Konnex stehender Umwelten entspre5 chender Menschheiten ist.

Nr. 21 Sondersituation und die Welt als Allsituation aller Sondersituationen. Lebenswelt und wahre Welt. Vorwissenschaftliches, situationsrelatives Urteilen und das situationsübergreifende Urteilen in d er Wissenschaft 1

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Inhalt der ersten Blätter: Situation – Tradition – Allsituation. Von da aus: Welche theoretischen Aufgaben kann ich mir als Forscher 10 stellen? Gang von der konsequenten Selbsterfahrung als primordialer zu den Anderen, zur Welt, zu uns als füreinander objektiv Seiende, als psychophysische Einheiten.

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Das Absehen der Wissenschaft: das urteilende Interesse an Sein und Sosein im logischen Sinn, als logisch wahres und als das bewährtes Sein. Voraus liegt das U rt eilen im vo rw issen sch af t lich en L eb en (in d er L eb ensu mwelt). Gegebenenfalls wird im Leben der Urteilende in seiner Urteilsgemeinschaft den Gang seiner Erfahrung und seiner Urteilsbewährung durch Erfahrung nur so weit führen, als sein p rak t isch es In t eresse es fordert. Sein (wahres Sein) und prädikative Wahrheit haben dann einen relativen Sinn. Es gibt „formal-logische Gesetze“, die von dieser Relativität auf das praktische Interesse unabhängig sind, sofern sie für jedes mögliche relative Sein (im Rahmen seiner Relativität) bzw. jede relative Wahrheit bestehen bleiben (wie z. B. die syllogistischen Gesetze). Das Interesse am Seienden in seinem Sein und Sosein, und zwar in seiner Urteilswahrheit kann aber in anderer Weise Relativität übergreifen. Diese Relativität ist die der menschlichen Subjektivität in ihrer Endlichkeit. Die Praxis in ihrer Jeweiligkeit begrenzt, was als (wahrhaft, theoretisch) Seiendes und wahres Urteil gelten soll – als das praktisch Genügende. Aber im Wech sel d er P raxis hält sich das für das eine und andere Interesse Genügende und für sie vollkommen Bestimmte als dasselbe durch, und d as S ein sin t eresse (das theoretische) k ann sich über d iese jeweiligen Interessen 1

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stellen und dem Identischen in seinem Sosein konsequent n ach geh en und den Unterschieden der Vollkommenheit und der vollkommeneren Näherbestimmung des vordem schon Bestimmten als einem eventuell in infinitum immer wieder vollkommener zu Bestimmenden. Doch ist hier Verschiedenes in Rechnung zu ziehen. Die Praxis setzt in gewisser Weise schon Seiendes für den Handelnden voraus, aber nicht, dass er auf wahrhaft Seiendes in theoretischem Sinne abzielt, sei es auch relativ. Dergleichen tritt aber hinterher mitunter in den Dienst der Praxis. Wenn von wechselnden Umständen des Handelns und des darin sich auswirkenden „Interesses“ (in den Situationen des Handelnden)1 die Rede ist, so denkt man sich den Handelnden in seiner ihm erfahrungsmäßig, in einem Kerne wahrnehmungsmäßig gegebenen U m w elt, in der für ihn d as f ü r sein e praktische Absicht Relevante ausgezeichnet ist. In diesem Umkreis hat er aktuelle nicht-theoretische, nicht-logische Seinsgewissheiten und Interessen der Bewährung, die selbst ihre Grenze der Relevanz haben.2 Indessen, die für ihn überhaupt seiende weitere Welt, seiende Welt in naiver doxischer Gewissheit, der sich seine Situation einordnet und im Wechsel seiner Handlungen und sich auswirkenden Interessen die verschiedenen Situationen, ist selbst ein Relat ives. Sie ist der universale Seinserwerb seines bisherigen Lebens, wie es sich im Wechselverkehr mit seinen Mitmenschen von Kindheit an abgespielt hat. Diese Welt, die an sich nichts mit Theorie zu tun hat, ist also t rad it io n ale Welt , und als Erwerb in der Gemeinschaft, die in ihren Mittelbarkeiten sich nach Simultaneität und sukzessiver Zeitlichkeit ins Unbestimmte forterstreckt, hat sie eine offen endlose 1

Individuelle Situation innerhalb der allgemeinen Allsituation. Aber ein im prägnanten Sinne „urteilendes“, auf wahres Sein gerichtetes Interesse, Interesse an Wissen, gehört nicht von vornherein wesentlich zur Praxis. Zwar macht es die Horizonthaftigkeit der Vorgegebenheit alles Umweltlichen, dass immer wieder Intention darauf geht, das im Gegebenen Unbestimmte näher zu bestimmen, das empirisch vieldeutig Angezeigte zur eindeutigen Entscheidung zu bringen, aber das ist nicht eigentlich urteilend fixierende Intention, Intention auf Kenntnis, Erkenntnis, Wissen, auf aktive Seinserwerbe als verfügbare Erkenntnis. Das schließt natürlich nicht aus, dass „Erkenntnis“ in den Dienst praktischer Zwecke tritt, dass bleibende Zwecke das Bedürfnis hervorrufen, fixiertes Wissen von wahrhaft seiendem Einzelnen und Allgemeinem zu gewinnen. 2

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Traditionalität. Die Welt, die jeweils die mir geltende Erfahrungswelt ist, verdankt ihren Seinssinn nicht mir allein, sondern diesen Mitmenschen, zunächst denen, mit denen zusammen ich erwachsen bin; aber da diese ihrerseits in dem Seinssinn ihrer Welt durch den Konnex mit ihren Nächsten bestimmt waren und so in unbestimmter Endlosigkeit, so ist meine Welt von allen diesen Mitmenschen – und sei es auch sehr mittelbar – bestimmt. In dem lebendigen Konnex dieser verbundenen Menschheiten erfolgt fortgesetzt ein Sichwechselseitig-Bestimmen, aber nicht logisch urteilend, ein lebendig durchgehendes Tradieren. So hat jedermann sein e Welt, als die ihm subjektiv naiv gewisse, und sie unterscheidet sich von der jedes anderen. Und doch haben „wir alle“, haben alle Menschen einer so in lebendiger Tradition (simultan und sukzessiv) verbundenen Menschheit eine G em ein w elt, eine opinio communis, ein gemeinsames „Weltbild“ (ein allgemeiner Typus). Das heißt: Jeder hat in seiner jeweiligen Situation horizonthaft „die Welt“, die für ihn, wenn er sie sich als „Weltbild“ anschaulich macht, den Sinn hat: das sei die Welt für alle.1 Doch in dem bestimmten Inhalt ist sie keineswegs für alle dieselbe, doch der Typus „Lebensumwelt“ ist gemeinsam. Und diese Allsituation aller Sondersituationen der einzeln Handelnden oder der gruppenweise aktuell miteinander Handelnden (z. B. nach Verabredungen, nach Vereinszwecken usw.) b est im m t schon immer d en Sinn der Sondersituationen und den Seinssinn, Wahrheitssinn, der in d er lebendigen Jeweiligk eit b ewäh rt wird und bewährbar ist.2 (Diese Wahrheit des L eb en s ist aber nicht theoretische Wahrheit, sondern einfach das „Es stimmt“ oder „Es stimmt nicht“, das letztlich in der Erfahrung selbst sich abspielt als ihre Modalisierung.) Den in den endlichen Sondersituationen Lebenden meldet sich im Allgemeinen nicht die Allsit u at io n in ihrer Bezogenheit auf die verbundene Menschheit, in der inmitten als personale Einzelglieder ihres Konnexes die Handelnden leben. Aber eben diese Menschheit kann als ein Ganzes selbst sich abheben in eins mit ihrem „Weltbild“. In dieser Rede

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Individuelle Situation innerhalb der allgemeinen Allsituation. Aber das muss von mir aus und dann von jedem aus verstanden werden. In meinem Leben als reifer Mensch habe ich im Wechsel der einzelnen praktischen Situationen die universale praktische Lebensumwelt, die ich als die für alle in Geltung habe. 2

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liegt schon, dass der Mensch in seiner fortschreitenden Welterfahrung einer weiteren Welt innewird, der die eigene lebensvertraute Menschheit zugehört neben anderen „fremden“ Menschheiten, die ihrerseits in ihrer „Welt“ (oder „Umwelt“) leben und eventuell ebenso schon unserer Menschheit innegeworden sind und unserer anderen „Umwelt“. Was hier „Welt“ für die jeweilige Menschheit besagt – ihre Lebensumwelt – ist n icht einfach S tück einer „ wahren “ Welt, das Stück, das jeder der verschiedenen „Menschheiten“ als einer in ihrem Territorium lebenden allein zur Erfahrung kommt. Wenn man von solch einer Wahrheit spricht, heißt freilich jede Umwelt „Weltbild“ der jeweiligen Menschheiten, an das die einzelnen Menschen derselben traditional gebunden sind. Mindestens dürfen wir noch nicht die Idee einer Wahrheit in theoretischem, logischem Sinne1, in dem der Wissenschaft – die, alle Traditionalität überwindend (also alle „Relativität“ des Seins und der Wahrheit in ihrer Bezogenheit auf einzelne Menschen und Menschenverbände), ein wahrhaft Seiendes als an sich Seiendes herausbestimmt –, hier vorwegnehmen. Nur so viel ist evident, dass einander fremde Menschheiten, in Konnex miteinander tretend, sich doch in einem gewissen Kerne über Seiendes und Nichtseiendes verständigen, z. B. andere als Menschen erfahren und so weit einander verstehen, dass die jeweilig Fremden „die“ Welt eben in befremdlich anderer Weise „auffassen“ und dass doch d ie Welt ist, ein e u n d d ieselb e, die in dieser Relativität den Menschen der einen Menschheit sich so, den anderen anders, je aus einer „Tradition“, darstellt. Für uns, wenn wir uns besinnen, ist vorweg schon die Welt unserer Erfahrung eine Welt, in der wir sind als Kinder unseres Volkes im Verbande anderer Völker; und die Volksgruppen sich wieder sondernd in Menschheiten, die zeitweise voneinander „getrennt“ waren, d. i. ohne Konnex miteinander lebten, während in unserer Gegenwart die irdischen Menschheiten zu einer universalen, obschon gegliederten Menschheit geworden sind. Und doch wieder nicht ganz. Wir wissen, dass der Konnex, der schon eingetreten ist, doch noch nicht zu einer festen Tradition geführt hat, zu einem all-irdischen menschheitlichen „Weltbild“.

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Und insbesondere nicht die im ontologischen Sinne.

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Was für t h eo ret isch e Z iele können wir uns in Richtung auf wahres Sein und prädikative Wahrheiten mit Rücksicht darauf stecken? Natürlich kann man sich gelegentlich für das individuelle „Weltbild“ eines Menschen interessieren, das, was er in seinem traditionalen 5 Zusammenhang und darin in seiner individuellen (obschon von außen her stets mitbestimmten) Tradition gewonnen hat und fortgesetzt hat. Wir, die wir so fragen, üben da in theoretischem Interesse eine anthropologische Reflexion. Was wir entwerfend feststellen, sind Erkenntnisse, die der allgemeinen Anthropologie als Wissenschaft 10 vom Menschen als Menschen, d. i. als „in seiner Umwelt lebend“ zugehören.

Beilage XIV Praktisch verstandene Situation und Wahrnehmungserscheinung. Situationsrelative Optima und das Seiende schlechthin als das absolute Optimum1

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Inhalt: Das Seiende des Situationsinteresses in dessen Verwirklichung. „Selbstgegebenheit“ nicht nur als Interesse erfüllende, sondern Selbstgegebenheit durch Wahrnehmung. 20 Die Wahrnehmung hat ihren Wahrnehmungshorizont und ihre eigene rela-

tive „Nähe“ und mit Beziehung auf diese ihr erfüllendes O pt i m um, eben das wahrnehmungsmäßig mitgemeinte Optimum an Bestimmungen, das auch für das Interesse Optimum ist. Im Wechsel der Interessensituationen w echselt dieses O pti25 m u m . Aber die Selbigkeit des Realen ist das Identische der vermöglichen Wahrnehmungsreihen, die die Wahrnehmung und Wahrnehmungsmannigfaltigkeit – bezogen auf das eine Optimum – überführen in Interessensynthesis in das Optimum der anderen Interessensituation. Das t heoret i sc he Interesse ist das Interesse am Seienden schlechthin, d. i. an dem Identi30 sc hen im Wechsel möglicher Wahrnehmungen, aber das nicht überhaupt, sondern an dem Identischen, das sich in vermöglichen systematischen Fortgängen von Erscheinungen zu Erscheinungen und im Durchschreiten der relativen Optima als das vol l kom m enst e herausstellen würde. Kenntnis1

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nahme im theoretischen Interesse als Sich-zur-Kenntnis-Bringen dessen, was schlechthin ist, ist systematisches Durchlaufen der Erscheinungen unter Leitung ihrer antizipierten relativen Optima bis zum absolut en O pt im um, das sich in den relativen (als „Erscheinungen“ neuen Sinnes) darstellt in ständiger Vorläufigkeit. Kenntnisnahme im theoretischen Interesse unterscheidet sich so von Kenntnisnahme im praktischen Interesse. Das alles beruht auf der Wesensstruktur der allgemeinen Welterfahrung als eines universalen einzelsubjektiven und intersubjektiven Bewusstseinslebens, das, universal genommen, Einheit einer (universalen) Selbstgebung (Wahrnehmung im weitesten Sinne) ist, wonach diese für eine seiende Welt – als Welt selbst – vorgebend ist, oder wonach diese universale Selbstgebung universale Apperzeption ist, aber in erforschbarer Weise wundersam intentional implizierend in Relativität eines verschiedenen Sinnes eine Gliederung von apperzeptiven Einheiten – letztlich Substrateinheiten –, zu jeder als intentionalem Geltungspol gehörig eine Struktur von relativen Polen als rel at i ven O p t i m a und diesen als Darstellungen von obersten und selbst wieder sich relativierenden Optima. Diese Struktur birgt in sich den Substratbau als Einheit von Eigenschaften und Beschaffenheiten dieser Substratseienden, welche ihrerseits selbst wieder relative Einheiten sind, in ihrer beschaffenheitlichen Relativität abermals in Unterschieden der Nähe und Ferne als Unterschieden erscheinungsmäßiger relativer Optima sich darstellend. Darauf also kommt es an, das Verwirrende der Rede von Situationswirklichkeit und -wahrheit aufzuklären und diese zu reduzieren auf diese wundersame, überwältigend große Aufgaben stellende Systematik der wirklichen und möglichen Wahrnehmungen bzw. die Aufgabe, die Systematik des Bewusstseinslebens als Subjektivität für die Welt fungierenden, dieses konstituierenden Lebens wirklich in ihrer Wesenstypik auszulegen. Doch der Begriff der Situation braucht gar nicht auf praktische Interessen bezogen zu werden. Auch als theoretisch interessiertes Ich bin ich Welt apperzipierend in einer jeweiligen Situation, Orientierungsmittelpunkt für die mir orientiert vorgegebene, orientiert erscheinende Welt, und ebenso ist jedes Wir Orientierungsmittelpunkt für seine Umwelt. Umwelt ist ein Orientierungsausdruck. Also die Aufgabe der Analyse der Orientierungsstruktur.

IV. DIE APODIKTIZITÄT DER WELT UND DIE APODIKTISCHEN WELTBESTÄNDE „MEIN LEIB“ UND „ICH DIESER MENSCH“

Nr. 22 Geltungsstil der Erfahrungswelt. Ihre Apodiktizität während der einstimmigen Erfahrung. Erfahrung als apodiktische Zugangsmethode zu Weltlichem und zur Welt selbst. Ihr S ein sich in empirischer Zweifellosigkeit b ewährend1

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Inhalt: Die empirische Zweifellosigkeit der Weltexistenz, ihre „Apodiktizität“. Die zugehörige Evidenz der ontologischen Weltstruktur. Geltungsstil der natürlichen Welterfahrung; ihre Art Undurchstreichbarkeit während ihres lebendigen Verlaufs.2 Wie begründe ich die Zweifellosigkeit der Weltexistenz und mache aus der faktischen Zweifellosigkeit eine gerechtfertigte? Darauf wird jedermann nach einiger Besinnung sagen: Zunächst wollen wir die Sache erledigen für die Zweifellosigkeit, mit der irgendein Ding, dieser Tisch hier, für mich wirklich seiender ist. Erfahrung schließt in sich 20 Zugangsformen. Sie selbst ist Zugang zum Sein selbst, ursprünglicher Zugang. Ich sehe das Ding und zugleich bin ich dessen gewiss, dass ich in Freiheit (Hemmung einmal ausgeschlossen) mich annähern könnte. Überhaupt, ich habe schon sehend das Ding selbst, aber nur von einer Seite; ich kann mir andere Seiten zu Gesicht bringen etc. 25 Nun überzeuge ich mich, indem ich tue, wie ich kann, und weiß, dass ich kann. Damit bestätigt sich und bestimmt sich der Vorgriff, der in der Dingerfahrung liegt, nach den oder jenen Komponenten. Tue 15

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Wohl 1926. – Anm. des Hrsg. Vgl. zu dieser Anführung 3a unten = S. 210 f..

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ich so, willkürlich herausgreifend irgendeine dieser vorgedeuteten, wenn auch nicht voll bekannten Seiten, willkürlich die betreffende Zugangsweise auswählend, und komme ich dann zur erfüllenden Erfahrung, so bestätigt sich nicht nur dieser Vorgriff, sondern das Dasein des Dinges selbst, das eben selbst ist als das immerzu zugängliche, bekannt zu machende, zu erfahrende. In der Einstimmigkeit der so erwachsenden Erfahrungen habe ich also die Probe. Vollziehe ich, willkürlich auswählend, einige solche Proben und läuft alles wie vorgesehen – wenn auch in allzu bestimmten Vorgriffen mitunter anders, aber immerhin einstimmig –, so ist das Ding wirklich, d. h. meine Erfahrung und ihre Gewissheit ist gerechtfertigt. Freilich, ich komme zu keinem Ende, aber ich sehe die Notwendigkeit ein: Es kann nicht anders sein, und nach der Art eines Dinges überhaupt, nach seinem Erfahrungssinn, ist eine andere Rechtfertigung nicht denkbar. S ie ist apodiktisch gewiss als Methode, aber ergibt keine apodiktische Überzeugung vom S ein d es Dinges selbst, sofern es immer d enkbar b leibt, dass ich doch m ich t äusche. (Allerdings, es bedarf hier näherer Erwägung. Was macht das Anderssein nicht zum Bruch des dinglichen Seins selbst und was muss im Sinn selbst erhalten bleiben, damit Einstimmigkeit als Existenzbewährung unter beständiger neuer Selbstgebung und doch notwendig in Form der Erfüllung möglich sei? Ich komme bald darauf, dass das Ding überhaupt, das einstimmig erfahrbar sein soll, unter einem Ap rio ri steht. Wenn die Erfahrung so läuft, dass sie einstimmig ist, dann geht durch die konsequente Erfüllung diese o n t o lo gisch e F o rm hindurch als invariant; und alle einzelne Nichterfüllung im Sosein ist doch notwendig zugleich Erfüllung hinsichtlich des Soseins nach diesem ontologischen Allgemeinen. Jedes in einer Dingerfahrung als Ding Gegebene, in einer möglichen Erfahrung als Möglichkeit Vorstellige ist notwendig dieser Form, insofern, als die freie Durchführung einer beliebigen Erfüllung in der Phantasie, also noch so willkürlich nur als freie Erfüllung gedacht, notwendig Einstimmigkeit und mögliches Sein allseitig evident macht als Seiendes dieser Form.) Ein Ding ist nicht nur überhaupt gesehenes (selbstgegebenes) und vorausgesehenes (vorgriffsmäßig geglaubtes), sondern es ist vorausgesehenes als voraussichtlich zugängliches und ist in infnitum in eins

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gesehenes und voraussichtlich zugängliches, solange es gesehen ist. Jeder Zugang bestätigt, wenn er als freier Zugang das zugehörige Zugängliche erfüllend ergibt, das Sehen, und das neue Sehen bestätigt das Ding durch neuen Zugang als wirklich Zugängliches oder Daseiendes. Und alles schon Gesehene – und nicht nur das überhaupt noch nicht Gesehene und doch leer Vorgegriffene – ist Durchgang zu neuen Zugänglichkeiten. Nach innen und außen ist Erscheinung intentional bezogen auf Erscheinendes und auf andere, neue Erscheinungen, und so in infinitum. Im Vorgriff liegt eine Unendlichkeit vorgrifflich mitbeschlossener Vorgriffe, eine Unendlichkeit der Intentionalität im unendlichen Ineinander. Dass das Ding w irk lich ist, b ew äh rt sich – und anders kann es sich nicht bewähren – durch Aktualisierung einer Strecke von solchen kontinuierlichen Vorgriffen, d. i. durch Aktualisierung irgendeiner Linie des Zugangssystems, des Systems der Kinästhesen. In der Ursprünglichkeit, in der hierbei in der Bewegung der Erfüllung immer neue Vorgriffsintentionen erfüllt werden und die ganze Bewegungsform sich dauernd und programmmäßig fortsetzt, rechtfertigt sich der Vorgriff, des Inhaltes, dass es überhaupt so gehen würde, wenn ich beliebig fortsetzte oder sonstwie beliebige Bewegungen als Zugangsbewegungen ins Spiel setzte. Ein allgemeines „Ich kann, wenn ich nur will“ bestätigt sich überhaupt ursprünglich oder rechtfertigt sich als Könnensmeinung durch die einzelne Probe. So rechtfertigt sich die Meinung, zu etwas Zugang zu haben, zu diesem da als einem Etwas, das eine Unendlichkeit von Zugänglichkeiten sein lässt, darin, dass ich das „Ich kann“ im Besonderen erprobe und somit darauf hingehe und erprobe das, was ist, indem ich irgendein Nahstück dieser implizierten Unendlichkeiten, dieser in sukzessive Fernen und nach verschiedenen Seiten von hier aus führend, herstelle. Dass ich wieder kann, erprobe ich ebenso und gewinne das Bewusstsein „Ich kann immer wieder.“ Freilich, apodiktische Gewissheit gewinne ich nicht, da es hier nicht so ist wie beim Ich-kann der Zahlenerzeugung in der Reihe von 1 an, beiderseits ungehemmtes Tun vorausgesetzt. Aber ich gewinne eine em p irisch e Z w eif ello sigk eit , begründet durch eine Rechtfertigung, die bei freier Durchführung die Notwendigkeit zweifelloser Vorgriffsgewissheit ergibt – und apodiktisch. Ich kann auch sagen: In gewisser Weise ist wie die Modalität „zweifelhaft sein“ so auch die des Nichtseins apodiktisch ausgeschlos-

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sen. „Es ist unmöglich“, sage ich dann, „dass das Ding hier nicht ist“, nachdem ich mich doch von seinem Dasein beliebig überzeugen kann und überzeugt habe. Subjektiv gesprochen: Ich kann in solcher subjektiven Lage – das ist absolut apodiktisch sicher – unmöglich glauben, dass dies da nicht ist, wie sehr ich mir denken kann, dass ich selbst später doch zur Überzeugung komme, dass es nicht ist, weil weitere Erfahrung mir zeigt, dass in Wahrheit der voraussichtliche Zugang mit der Einstimmigkeit der Erfüllung nicht statthat. Der Glaube des Seins und der Ausschluss des Nichtseins ist für mich jetzt eine unaufhebliche Notwendigkeit, und apodiktisch sicher ist auch, dass ich diese Stellungnahme solange nicht preisgeben kann, dass ich so lange bei dem Glauben bleiben muss und mit Recht, so lange die Erfahrung ihm gemäß bleibt oder ich mich gar, ihn noch kräftigend, von neuem überzeuge. Natürlich gehören zu dem Zugänglichen alle Horizonte, auch die kausalen. Also hier besagt der Zugang speziell: k au sales Exp erim en t. Damit stoße ich auf die Verflochtenheit der Dinge. Die außenweltlichen Horizonte jedes Dinges führen in das Weltall; und das Weltall selbst ist nicht nur Summe aller Zugänglichkeiten, sondern verflochtene Einheit, deren Rechtfertigung in der experimentierenden Durchführung der Erfahrung in freier Willkür und Bestätigung besteht. Endlich kann ich das ganze vergangene Leben, das als handelndes immerfort die Welt voraussetzte, aber bei jedem freien Eingreifen – die Ausnahmefälle nicht gerechnet – unwillkürlich und ohne Rechtfertigungsabsicht bestätigte, heranziehen. Die passive Erfahrung verlief einstimmig und die eingreifende aktive Erfahrung verlief immer wieder in dem Stil der Einstimmigkeit, der Stil blieb erhalten; und darin liegt eine kontinuierliche Bestätigung, aus der ich reflektierend eine Rechtfertigung gestalten kann. Es war immer eine Welt – ich kann nicht anders als glauben, dass sie ist. Und darin liegt, dass sie sein wird, dass sie immerfort Zugängliches ist. Der Zugang selbst führt ja in die Zukunft und bestätigt die Gegenwart als fortwährende. So ist das Zweifelhaftsein und Nichtsein der Welt apodiktisch f ü r m ich ausgeschlossen, der ich und sofern ich mein Leben überschaue, mich als in die Welt hineinlebend, hineinerkennend, hineinhandelnd finde und mich im freien Ich-kann jederzeit von der Identität des Weltalls in sich bewährenden Zugänglichkeiten und

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von der Notwendigkeit präsumtiven Weltglaubens überzeugen kann. Die Apodiktizität der Weltexistenz ist relativ zu m ir und meinem jetzigen aktuellen L eben, in dem ich zugleich die weite Strecke meines vergangenen überschauen kann, also auch relativ zu dieser ganzen Lebensaktualität. Im strömenden Fortgang des Lebens ist diese Apodiktizität immerzu strömend auf meine Gegenwart bezogen (wie auch auf unsere gemeinsame Gegenwart und unsere wechselseitig sich ergänzende und stärkende Bestätigung). Freilich, ein e andere Weltexistenz als eine so subjektiv relative oder intersubjektiv relative und temporäre gibt es n icht. Die Möglichkeit des Nichtseins der Welt ist jederzeit einsehbar in dem Sinne, dass das Leben fortgehen könnte und die Welt nicht existiert, d. i. die Apodiktizität in ihrer temporären Verwurzelung nicht mehr vollziehbar und berechtigt wäre, ja, dass das Nichtsein apodiktisch würde. Die endlose Zukunft der Welt ist für meine Gegenwart ein Notwendiges, das ich glauben muss. Sie ist aber nichts, das ohne Beziehung auf eine Gegenwart Sinn hat, wie die Weltgegenwart selbst, die nur ist ihrem Sinne nach als eine endlose Mannigfaltigkeit von möglichen Zugängen, die vom Progressus und von der Zukunft her das Präsumtive der objektiven Zeitlichkeit, die dem Jetzt entspricht, rechtfertigen würde. Wahrhaft apodiktisch und irrelativ seiend ist nur das Ich, und sofern es relativ ist, ist es relativ auf sich selbst – was ein eigenes Thema wäre.1

Wiederholung des Obigen mit einigen Ergänzungen: Wie steht es nun mit der Evidenz der mundanen Ontologie der Erscheinungen? Realitäten sind Pole der unendlichen Erfahrbarkeit. Was besagt „Ich erfahre ein Ding“? Es sagt: Ich habe ganz unmittelbar ein Erscheinendes im Wie einer Erscheinungsweise und 30 unmittelbar gewisse Zugangsmöglichkeiten zu demselben als in einer geordneten Unendlichkeit anderer Erscheinungsweisen Erscheinendem, derart, dass ich zu ihm als in jeder dieser Erscheinungsweisen Erscheinenkönnendem von der jetzt verwirklichten aus Zugang habe, 25

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Auch das Ich ist Einheit von Zugänglichkeiten, aber es hat den absoluten Ausgang von seiner absoluten Gegenwart.

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es in dieser Erscheinungsweise „verwirklichen“ kann. Das Ding als Zentrum, als Selbiges dieser unendlichen Erscheinungsweisen und als durch sie Bestimmbares ist in meinem Griff und Vorgriff, in meiner Bereitschaft und unmittelbar, sofern ich es selbst in einer dieser Erscheinungsweisen schon selbst habe und die vorgreifende, aber zweifellose Sicherheit fortgehender erfahrungsmäßiger Verwirklichung. Im Sinngehalt der Erfahrung, wie er in der Entfaltung durch mögliche Erfahrungen evident wird, liegt das Gegenteil von etwas in abgeschlossener Konkretion Seiendem, auch nur möglicherweise Seiendem, von etwas, das adäquat angeschaut werden könnte; es liegt nichts anderes darin, als dass es Pol von Bestimmbarkeiten aus einer Unendlichkeit von Erscheinungen ist, durch die hindurch sich ein und dasselbe als sich ins Unendliche Abschattendes darstellt. Es ist nicht in dem Sinne Pol von Bestimmbarkeiten, wie jedes immanente und konkrete Empfindungsdatum es ist, nämlich als ob es in seiner ganzen Bestimmungsfülle in einem Schlage erfahren und in fortdauernder gleicher Erfahrung dauern könnte, als ob es durch bloße Explikation eines schon gegebenen Einheitsgehaltes seine Einzelbestimmungen herausgäbe. Das Ding ist, was es ist, nur als Einheit möglicher unendlich mannigfaltiger Verwirklichungen, nur dass die Freiheit des Verwirklichens nicht Willkür hinsichtlich des Erscheinungsgehaltes des zu Verwirklichenden besagt, sondern Gebundenheit durch einen Stil der Voraussichten, der mit der ersten Gegebenheit als Erfahrung dieses Dinges vorgezeichnet ist. Was ein noch unerfahrenes Ding ist? Ein Zugängliches als ein System von vorgezeichneten Zugänglichkeiten und darin hervortretende Einheit sich erfüllungsmäßig einstellender Erscheinungen, das aber noch nicht die unmittelbare Gegebenheit eines Zugangssystems hat von einer seiner Erscheinungen aus, sondern andere Dinge sind schon gegeben, und von ihnen aus als Zugangssystemen zu ihrem Pol bestehen auch Zugangsreihen zu anderen Dingen. Jedes Ding hat außendingliche Horizonte. Doch ich wiederhole oben Gesagtes. 1) Von jeder wirklichen oder möglichen Erfahrung aus kann ich die Frage stellen, was diese Erfahrung im Sinne einstimmiger Erfüllung bieten könnte. Ich kann mir eine solche einstimmige Erfüllung konstruieren, in infinitum fortlaufend in der Phantasie dem unbestimmt Vorgezeichneten eine beliebige Inhaltsfülle und damit konkrete Anschaulichkeit gebend. Diese Inhaltsfülle ist dann eben

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beliebig und variabel, so dass ich die Wahl zwischen unendlich vielen Möglichkeiten habe. 2) Das einzeln betrachtete Ding wird in der Einzelbetrachtung losgelöst von seinem Außenhorizont, losgelöst von meiner universalen Lebenserfahrung, die ich enthüllen kann und die auch an das jetzt erfahrene Ding ihre Forderungen stellt, in Form von intentionalen Horizonten, die es mit anderen Dingen verbinden und die der Freiheit, es, wie es sein mag, auszumalen, Grenzen setzen. Das Leben schreitet fort und wirkliche Erfahrungen schaffen neue Vorzeichnungen mit neuen Möglichkeiten und bringen eine Fülle der alten Vorzeichnung, die damit an Freiheit der Variabilität verliert, also alte Möglichkeiten werden ausgeschaltet. 3) Aber die durch das Leben hindurchgehende Gesamteinheit aufeinander abgestimmter und miteinander zusammenstimmender Erscheinungen schreibt ein universales Gesetz vor, das sich erkennen lässt. Aber auch die Variabilität jedes Dinges als Einheit von zusammenstimmenden Erscheinungen, als einheitlich anschaulich und in Vereinzelung Vorstellbares (ohne Ansehen seiner kausalen Verflechtungen), und jede beliebige Mehrheit als anschaulich vorstellbare Dingmehrheit schreibt Gesetze vor, die dem Gesamtgesetz zugrunde liegen müssen.

Beilage XV Apodiktische Antizipation des Seins der Welt im Lauf der Erfahrung. Möglichkeit des Nichtseins der Welt. Die historische Apodiktizität der Weltgewissheit1

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Durch die phänomenologische Epoché gehe ich von der natürlichen, unthematischen oder im Allgemeinen unthematischen Welthabe dazu über, mir diese Habe, dieses Mir-Gelten und das konkrete Leben, in dem es sich „macht“, zur Enthüllung zu bringen. Das führt zunächst für die Natur zur 30 Erkenntnis ihres Seinssinnes als beständiger schon in der Vorgegebenheit liegender Ant i z i pat i on, als aus der Einstimmigkeit bisheriger Erfahrung stammender präsumtiver Evidenz für den weiteren Fortgang der Einstimmigkeit in wirklicher und möglicher Erfahrung. Diese Präsumtion lag in allen Stadien der zu enthüllenden früheren Erfahrung; und von jedem Stadium aus 1

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erschauen wir die Bewährung im Fortgang der weiteren Stadien (es bewähren sich implicite auch die in der früheren „möglichen Erfahrung“ liegenden Präsumtionen: dass sie hätten in dem Stil der Einstimmigkeit wirklich frei fortgeführt werden können als wirkliche Erfahrungen). Die gegenwärtige Erfahrung ist fortströmende im Stile dieser Einstimmigkeit und als das also ist sie „evidente“ Antizipation. Und konstruieren wir im Voraus die Zukunft, wenn auch nur im Ganzen in der Möglichkeit (da erst das wirkliche Eintreten wirklich wahr macht), so führt die vor-bildende Anschauung und das Vor-Bild künftiger Erfahrung eo ipso wieder Antizipation als evidente mit sich. Aber die in der gegenwärtigenden Antizipation intentional implizierte Evidenz ist eben nur Evidenz der Antizipation und die in dieser Evidenz antizipierte künftige Evidenz (kontinuierlich antizipiert und impliziert) ist erst recht nicht schlichte ursprüngliche Evidenz, nicht einmal ursprüngliche Evidenz der Antizipation. Es bleibt immer die Möglichkeit offen, dass die Erfahrung nicht so weiter abläuft, dass ihr Stil sich nicht erhält, in dem das wirkliche und wahre Sein der Welt zur Setzung kommt. Apodiktisch gewiss, schlechthin wahr ist nur eine in dieser Kontinuität impliziter Präsumtion liegende a b s ol ute Gew is s heit, das s die W elt „ vor aus s ic htlic h “ is t. Das Sich-Bewähren in infinitum, das, wenn es apodiktisch als Gewissheit zu sichern wäre, ist eben nur durch Evidenz der Antizipation zu sichern. Das ist es, was phänomenologisch der Cartesianischen Lehre vom möglichen Nichtsein der Welt (während ich, der Erfahrende, doch apodiktisch gewiss bin) einen neuen und tiefen Sinn gibt. Das natürliche Leben lebt in der kontinuierlich durch Antizipation erwachsenden Gewissheit der Welt; und zur eidetischen Konstruktion jeder möglichen Welt gehört mit dem ihr korrelativen Stil der sie als mögliche konstituierenden Quasi-Erfahrung die entsprechende antizipatorische Gewissheit. Aber das natürliche Leben weiß nichts vom Seinssinn der Welt als Welt aus solcher Gewissheit, die in ihrem eigentümlichen Charakter und ihrer Struktur eben erst die Phänomenologie enthüllt hat. Wenn nun der Phänomenologe sich selbst als natürlich eingestelltem Menschen zuschaut, als unbeteiligter Zuschauer Epoché übend, und von dieser egologischphänomenologischen Forschung dann zur Einfühlung und Intersubjektivität übergeht, so enthüllt sich ihm der Seinssinn der Welt (und zunächst als Fundament der Seinssinn der Natur in seiner egologischen Erfahrung). Eben damit ist er nicht mehr das natürliche naive Ich, das der Positivität, das er zu Anfang war und in der Einklammerung blieb; und seine Rückkehr zur Einstellung der Positivität ergibt nicht mehr die Welt schlechthin in der Fraglosigkeit der Geltungsquelle. Vielmehr, er versteht nun, w i e die Welt und nicht nur überhaupt dass sie den Seinssinn aus transzendentalen Quellen schöpft, und versteht ihr Sein als intentionales Korrelat mit der wesensmäßig

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zugehörigen Gewissheit der Antizipation, wie sie zum Geltungsstil der konstituierenden Erfahrung gehört. Es wird dabei evident, dass diese Gewissheit, obschon Gewissheit der Antizipation, doch apodiktisch in einem guten Sinne ist, nämlich dass sie eine h i s t o r i s c h e Ap o d i k t i z i t ä t hat, sofern ich, der 5 in der einstimmigen Erfahrung Lebende, lebe und solange ich lebe, diese Gewissheit nicht aufheben kann, dass ich also als handelndes Ich in ihr einen universalen praktischen Horizont habe, dessen ich praktisch immer gewiss bin und gewiss sein muss, solange ich lebe, solange ich in äußerer Erfahrung lebe und ihrem sich bestätigenden Ich-kann. Wie weit die apodiktische Antizipa10 tion wirklich reicht, ist erst zu untersuchen. – Zunächst egologisch, also ganz original? Überhaupt entspringen hier die tiefsten Fragen, untrennbar eins mit den Fragen der Art der Evidenz des transzendental seienden Ich. Durch die Phänomenologie enthülle ich den transzendentalen Sinn von Ich, Wir, Welt; und indem ich das tue, bin ich selbst nicht nur in meiner letzten Wahrheit 15 eröffnet, sondern durch diese Erkenntnis bin ich zugleich individuell ein anderer, als der ich war.

Beilage XVI Normale, seinsbewährende Welterfahrung als Voraussetzung der Anomalität des Scheins. Konstitution einer einheitlichen Gegenstandswelt durch rückgreifende Korrektur1

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Nochmals überlegt: Ist das richtig, dass die Existenz der Welt als Welt unserer Erfahrung apodiktisch ist? Die Welterfahrung ist in jeder Gegenwart meines Daseins Erfahrung von 25 raumzeitlicher Welt, und zwar im Zeitigungsmodus „Gegenwart“, „Vergangenheit“, „Zukunft“. In der Lebensgegenwart ist Weltgegenwart das ursprünglich wahrnehmungsmäßig Gegebene, dabei retentional und protentional im Strömen, des Weiteren Weltvergangenheit als Wiedererinnerungshorizont, Zukunft als Vorerwartungshorizont. Diese Horizonte kann ich klären 30 und im Besonderen den Vergangenheitshorizont kann ich „aufwecken“. Vergegenwärtige ich mir aktuell eine Vergangenheit, so habe ich eine vergangene Gegenwart in einer Lebensgegenwart reproduziert, und ich kann nun vorschreitend die Folge der Vergangenheiten bis zur lebendig strömenden Gegenwart wiedererwecken als Kontinuität der im entsprechenden Gang 35 des vergangenen Lebens (als Welt erfahrenden) erfahrenen „Welten“. Im 1

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Faktum finde ich, dass im Ganzen von Phase zu Phase jeweils früher wahrgenommene Dinge wahrgenommen bleiben als dieselben (obschon in verschiedenen Erscheinungsweisen), dann eventuell aus dem Wahrnehmungsfeld austreten, aber noch in Geltung bleiben und auch nachher nicht ganz verloren sind; nämlich, ich kann wieder und wieder auf Vergangenes zurückkommen, Erinnerung herstellen. Und nicht nur Erinnerung gewinne ich als das Wahrgenommen-Haben (Erinnerung an die vergangene Wahrnehmung und ihre damalige Seinsgeltung von dem und dem), sondern das Vergangene gilt noch. Aber andererseits ist auch faktisch vorkommend: das „Es gilt nicht mehr“, d. i. es war damals „vermeintlich wahrgenommene“ Gegenwart, aber es war nicht wirkliche Gegenwart; das damalige „Gegenwärtigsein“ und, vom Jetzt aus erfahren, das vergangene Sein ist durchgestrichen. Durchlaufe ich so meine Vergangenheit und die in ihr in Geltung gewesenen Vergangenheitswelten, so hat jede aufgeweckte Vergangenheit (vergangene Gegenwart, wie eng oder weit ich sie spanne) ihre vermeinte Welt. Aber ich erfahre in der Synthesis der Vergangenheiten: Es ist eine und dieselbe Welt, obschon dieselbe, die nur hinsichtlich der „Scheine“ Korrekturen erfährt. Dadurch wird Einzelnes ausgeschieden, an dessen Stelle anderes als das nun wahrnehmungsmäßig Geltende tritt, mit dessen Wahrnehmungsgeltung die des früher Geltenden in Widerstreit (unter Überschiebung) steht und durch es „aufgehoben“ ist. Al l e Auf hebung der Seinsgeltung von R ealem beruht auf realer Erfahrung in wirklicher G eltung. Ich habe aber vor und nach der Korrektur Welterfahrungsstrecken, in denen alles stimmt bzw. solche, in denen keine Scheine, keine Durchstreichungen auftreten. Ist es denkbar, dass (egologisch-primordial gesprochen) im Übergang von Vergangenheit zu Vergangenheit jedes der geltenden Dinge in Schein sich wandle? Zunächst, jede einzelne dingliche Erfahrung ist nur möglich, a priori, in Strecken kontinuierlicher Seinsgeltung. Diese Kontinuität kann dann aber einen Bruch erfahren. Aber keine einzelne dingliche Erfahrung ist vereinzelte eines vereinzelten Dinges. Jede steht in einem dinglichen Wahrnehmungshorizont, in einer aktuellen wahrnehmungsmäßigen Umgebung (Wahrnehmungsfeld) und einem Horizont der zu enthüllenden Wahrnehmbarkeit, der gegenwärtigen und früheren. Für jedes einzelne Ding besteht dabei die mannigfaltig kinästhetisch bedingte Möglichkeit von neuen Wahrnehmungen vom soeben Unwahrgenommenen vom selben Ding; von da die Möglichkeit des Fortgehens, der Abwandlung des Wahrnehmungsfeldes, teils hinsichtlich der gesehenen Dinge, teils hinsichtlich ihrer sichtbaren Seiten etc. Dasselbe gilt für jede zu erweckende frühere Gegenwart, im früheren Wahrnehmungsfeld und seine Wahrnehmungsdinge. Dazu meine praktischen Möglichkeiten des Einwirkens auf meinen Leib, des Wirkens durch meinen Leib auf meine Umgebung, meine nähere und fernere.

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Ist dieser Stil nicht w esensm äßi g zur Gegenwartserfahrung als Welterfahrung und als Erfahrung von Dingen in der Welt gehörig? Und gehört nicht zur Erfahrung als gegenwärtiger konkreter Welterfahrung notwendig der Stil einer „ norm al en “ W el t erf ahrung (als lebendiger Gegenwartserfahrung), der vorausgesetzt ist f ür die Anomalität „ Schein “? Eine Strecke normaler Einstimmigkeit als konkreter Gesamterfahrung muss vorausgehen bzw. ein normales Einheitsfeld (der Koexistenz und Sukzession, also ein konkretes raumzeitliches Normalfeld). Es ist vorausgesetzt, damit Schein als ein originales Vorkommnis auftreten kann, und es ist evident, dass nicht das ganze Gegenwartsfeld (den eigenen Leib eingeschlossen) als totaler Schein durchstrichen sein kann, dass Schein immer und notwendig auf Sein hier ruhen muss. In weiterer Wandlung der fortströmenden universalen Erfahrungsgegenwart kann die Geltung „Schein“ sich wieder in die Geltung des alten Seins verwandeln bzw. das neu geltende Sein zum Schein werden, z. B. kann ein Ding oder Dingzusammenhang in ein bloßes Spiegelbild sich verwandeln, dann aber wieder das für ein Spiegelbild Gehaltene in ein wirkliches Ding. Und ebenso kann doch jedes in Geltung Gebliebene selbst scheinhaft werden, obschon i m m er nur so, dass ein G eltungsuntergrund das relative N ormalfeld ist für die Abhebung der Anomalität. Konkrete dingliche Gegenwart, konkret einheitliche Erfahrung setzt voraus oder vielmehr besteht nur in einer synthetischen Einheit kontinuierlicher Erfahrung, in der ein seiendes Dingfeld sich in Geltung durchhält im Wechsel der wesensnotwendig zugehörigen Erscheinungsweisen; und wenn Durchstreichungen statthaben, so konstituiert sich durch „rüc kgreif ende K orrekt ur“ eine konkret einheitliche dingliche Gegenwart durch die erstreckte Zeitdauer, eine einheitlich seiende, frei von Schein, als die korrigierte erfüllte Dauer. Das Retentionale dieser Gegenwart ist dann wiedererweckbar (in seiner korrigierten Gestalt eventuell und eventuell sich genauer durchkorrigierend). Wichtig ist dabei: Die Wiedererinnerung bringt wieder Sc hei n al s d u rc h st ri c h en es S ei n und das st at t d essen S ei en d e. Wiedererinnerung als Reproduktion überhaupt, aber Wiedererinnerung des weltlich interessierten Ich, insbesondere die willkürliche in der Frage „Wie war es doch?“. Oder die passive Wiedererinnerung, aber für das seiend Gewesene interessierte, blickt eben auf das Seiende, erfasst es, bevorzugt es gegenüber dem auftauchenden Schein, es sei denn, dass besondere Motive dieses Nichtsein als Ungültigkeit der Seinsmeinung zu setzen verlangen. Welt ist für uns immer da, aus einem beständigen Interesse am real Seienden, das in dem Gang der Synthesis und eventuell der Korrektur konstituiert ist. Das Geltende ist interessant.

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Jede zurückgehende Erinnerung überhaupt ergibt wieder eine strömende konkrete, real seiende Gegenwart im Modus der vergangenen, nur dass sie horizontmäßig vor sich hat die schon bekannte seiende Zukunft, nämlich das, was jetzt Gegenwart ist oder retentional in dieser das Früher ist. Andererseits hat sie hinter sich bekannte seiende Vergangenheit, horizontmäßig bekannt, abermals wieder zu erwecken. Jede reproduzierte Vergangenheit aus dem jetzigen Retentionalen, aus dem leer unanschaulich Gewordenen, reicht weiter zurück, und als konkrete Wiedererneuerung im Interesse am Seienden erneuert sie eben konkret, und dazu gehört dieses Mehr. Gehört wesensmäßig zu einer konkreten Gegenwart synthetisch einheitliche und einstimmige Seinsgeltung1, so kann nun gefragt werden: Im kontinuierlichen Fortschreiten, im lebendigen Fortströmen einer Gegenwartserfahrung treten immer wieder neue Erfahrungsgegenstände auf und andere versinken in ihren Horizont, und schließlich entlasse ich sie etwa aus dem Bestand des retentional noch Abgehobenen (sie versinken lassend in die Gestalt des ungeschieden „Unbewussten“, obschon noch Horizontmäßigen), – wie konstituiert sich da Einheit einer über die konkrete, in sich abgehobene Gegenwart hinausreichenden Dauer? Wie konstituiert sich eine real erfüllte Dauer, die nicht mehr in eigentlich lebendiger Abgehobenheit Gegenwart ist? Wie versteht es sich, dass immerfort ein reales zeitliches Universum, eine Welt, in Erfahrungsgeltung ist und kontinuierlich als dieselbe? Mit der konkreten Gegenwartsanschauung reichen wir so weit, als noch (ungefähre) Abgehobenheit des Soeben (soeben vergangen und sogleich kommend) reicht; aber wir haben das Phänomen des strömenden Sich-Wandelns dieser Gegenwart und das Bewusstsein des Könnens, nämlich des Zurückgehenkönnens und von der konkreten Gegenwart aus, die auftaucht und lebendig verströmt, den kontinuierlichen Wandel in jeder neuen Gegenwart im Wieder-Bewusstsein durchlaufen zu können. Das können wir wiederholen und erfahren dann Einheit einer kontinuierlich erfüllten Dauer und derselben mit denselben im Nacheinander des Wiederdurchlaufens zu synthetischer Identifizierung kommenden Dingen etc. Es kann nun in einer neuen Gegenwart rückgreifend passive Weckung (Assoziation) erfolgen und dabei Durchstreichung, rückgreifende Korrektur. Normalfall der Einstimmigkeit, der sich unmodalisiert erhaltenden Kontinuität der Vergangenheiten in der lebendigen Kontinuität einer strömend offenen Zeitstrecke; das als Unterlage für mögliche Korrektur. Wieder wohl zu beachten: Die Seinsgeltung, die der Welt zugehört und durch die die Welt sich für uns als die Welt konstituiert, in der wir leben, in die wir hineinleben, ist ein Sich-auf-den-Boden-einstimmigen-Seins-immerfort-Gestellthaben und -Stehen, in Gegenstellung gegen allen Schein und sonstige Modalität. Interesse am Sein. 1

beilage xvii Beilage XVII Zwei Welten für ein Ich. Gedankenexperiment zweier periodisch alternierender Einstimmigkeitssysteme mit alternierenden leiblichen Personalitäten1

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Ich erfahre eine Welt einstimmig. Dann erfolge ein Bruch. Nennen wir das: „Ich verfalle in einen Traum“. Eine andere Welt sei da, wieder einstimmig erfahren. Dann ein neuer Bruch, nennen wir das: „Aufwachen“. Ich habe wieder die erste Welt. Nämlich, ich erinnere mich ihrer wieder, all meines früheren Lebens, in dem ich sie erfuhr, und zugleich erfahre ich sie jetzt wahrnehmend als dieselbe, ich lebe wieder in ihr. Nehmen wir an, jene „Traum“-Erfahrung der zweiten Welt erfolge so, dass ich während dieser Erfahrung mich doch der ersten Welt und meines Lebens, in dem ich sie erfuhr, und meines Lebens als Menschen in ihr entsinne. Das Spiel möge sich abwechseln. Hier sind aber die näheren Möglichkeiten zu überlegen. Ich spreche von einer Welt und einer anderen Welt. Was soll diese Anderheit besagen? Natürlich, beide sind als Welten von demselben kategorialen Typus. Die mir jetzt gegebene kann ich umfingieren und so in eine andere wandeln, und so, dass sie in der Tat eine mögliche, in sich einstimmige wäre: Ich kann sie in der Konsequenz der Einstimmigkeit fortfingieren. In solchem Umfingieren in immer neue mögliche Systeme der Einstimmigkeit, erhalte ich immer wieder Welten. Und was dabei als das notwendige Residuum verbleibt, wenn ich bei ganz beliebigen Übergängen in andere Möglichkeiten ein identisches Wesen soll behalten können, das ist das notwendig Gemeinsame, das Wesen einer Welt überhaupt. Nun gut. Ich habe also meine Welt in Erfahrung, und sie ist, nämlich sie ist die Einheit meiner Erfahrungseinstimmigkeit und sich bestimmend durch die bisher einstimmig erfahrenen gegenständlichen Bestimmungen mit einem offenen Horizont von weiteren, die neue Erfahrung kennen lehren würde, präsumierten Bestimmungen, die ihre Unbestimmtheit, aber doch ihr vernünftiges Recht haben. Nun habe ich eine „neue Welt“. Das kann sagen: eine völlig neue, mit völlig neuen Dingen, mit völlig neuen umweltlichen Menschen etc. In der ersten Welt hatte ich meinen Leib als Organ, als Wahrnehmungsorgan, als Willensorgan. In der neuen müsste ich einen neuen Leib haben. Es scheint zunächst, dass das sehr wohl angeht und dass die zwei Welten für mich

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gleichberechtigte Wirklichkeiten sein könnten, ohne Streit miteinander: Die eine ist, während ich sie erfahre und erfahrend mich in ihr lebend weiß, und die andere ebenso, während ich sie, die andere, erfahre. Ich bin ich, dasselbe Subjekt, und habe meine Einheit des Lebens, und das ist für mich eine Bewusstseinstatsache. Sie ist es, soweit meine Erinnerung, soweit der Horizont meines zu erschließenden Gedächtnisses reicht, hier genommen als der bewusstseinsmäßige Vergangenheitshorizont meiner Gegenwart, den ich frei erschließen kann. Ich hätte also in der Einheit meines durch Erinnerung erschlossenen Lebens kontinuierliche Welterfahrungen periodisch gegliedert, so dass ich zuerst kontinuierlich einheitlich Erfahrungen von der einen Welt und in einer neuen Lebensstrecke kontinuierlich einheitlich Erfahrungen von der anderen Welt hätte. Und so immer wieder. Es genügt ein einziges solches Nacheinander. – Kommen diese zwei Erfahrungsmannigfaltigkeiten und diese zwei Welten nicht notwendig in Widerstreit miteinander? Man könnte zunächst sagen: Das erste Mal habe ich als Nullpunkt der Orientierung, als Nullglied meiner Welt, diesen Leib, das andere Mal einen anderen, wieder als Nullglied. In der Kontinuität der Erfahrung habe ich trotz der Bruchstelle eine durchgehend einheitliche Weltstruktur, und anschaulich geht hindurch die Struktur der Orientierung und eines orientierten Raumes, wie einer objektiven Zeit. Und nun ist hier dieser Leib bis hierhin, bis zur Bruchstelle, und dann ist hier ein anderer Leib, und so ist um den Nullpunkt herum einmal diese Welt, das andere Mal jene; an jedem Dort ist bis hierhin dies, nachher ein anderes. – Warum soll das aber eine Schwierigkeit sein? Spreche ich von der Erhaltung einer Welt im normalen Falle unserer zusammenstimmenden Erfahrung, in der nur eine, eben die sich durchhaltende Welt ist, dann stört es gar nicht, dass in demselben Orientierungssystem, in dem der eine Raum sich darstellt, in gleichen Orientierungsbestimmtheiten relativ zum Nullpunkt Verschiedenes sich darstellt. Was dort ist, kann sich verändert, kann sich auch fortbewegt haben, und ein anderes Objekt hat sich nun an dieselbe Stelle des Raumes gesetzt, und das nach kausalen Gesetzen, eventuell in Konkurs mit meinem freien Tun, sofern ich schiebend, ziehend und dgl. subjektiv eingegriffen habe. Dergleichen gehört zur Struktur der einen Welt als Notwendigkeit und gehört als Notwendigkeit dazu, weil sie als eine und dauernde Welt „an sich“ Einheit möglicher Erfahrung ist und Erfahrungsbestimmung, von einer Art, die es mir ermöglicht und nur ermöglichen kann, dass ich als Erkennender mich jederzeit und prinzipiell davon überzeugen kann und soll überzeugen können, dass das, was von mir in verschiedenen Zeiten erfahren ist, dasselbe sei oder nicht dasselbe, Verändertes oder nicht Verändertes, Bewegtes oder nicht Bewegtes. Dieselbe Welt mit denselben Dingen, denselben in ihrer Zeit abgelaufenen oder ablaufenden

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Vorgängen ist für mich nur da und nur als seiend denkbar, wenn ich die Identität, das identische wahre Sein, ausweisen kann, als solches identisch Seiendes erfahren, erfahrungsmäßig erkennen kann. „Wo ist das Ding A, das ich soeben erfuhr, hingekommen?“, muss ich mich fragen. Wäre es, so ist es weiter unverändert oder verändert, und ebenso alle Dinge der A-Welt. Und finde ich jetzt die Dinge B, so müssen sie auch vorher etwas gewesen sein; das jetzt Erfahrene hat seinen Horizont vergangener Erfahrbarkeit, ohne den es nicht zu denken ist. Alles, was für mich ist und war, gehört zu meinem Umkreis möglicher Erfahrung, möglicher wirklicher Erfahrung oder erfahrungsmäßiger Konstruktion; alles, was in meiner Erfahrung ohne Bruch der Einstimmigkeit zur möglichen Setzung kommt, gehört einer einzigen Welt an. Tritt also die neue „Welt“ B ein, so sagt das zunächst nicht, dass die alte ganz fahren gelassen ist. Das kann ich nicht ohne weiteres, sie preisgeben. Die dingliche Gegenwart, die ich zuletzt gegeben hatte in wirklicher Erfahrung, tritt in Streit mit der dinglichen Gegenwart, die ich nun plötzlich gegeben habe, nicht als eine neue Welt, sondern als neue Dinge, die ich jetzt sehe und zur Einheit derselben Welt rechnen muss, die ich soeben hatte. Geht jetzt der Gang der Erfahrung weiter und stimmt er mit den neuen Dingen, so kann das nur den Einfluss haben, dass ich die Dinge, die ich just vorher gegeben hatte, streiche als bloße Illusionen; und das muss rückgreifend freilich die ganzen vorangegangenen Erfahrungen mitbetreffen. Wie weit, das ist die Frage des Fortgangs der Erfahrung. Hält sie die neuen B-Dinge einstimmig durch, so gelten sie unbestritten als seiend. Nun kommt aber der neue Bruch und die alte Welt erneuert sich, oder vielmehr alles jetzt Erfahrene stimmt zur reproduzierten vergangenen Erfahrung. Was nun? Offenbar ist das ganze Zwischenspiel in Streit mit der Einheit dieses von neuem bestätigten und gekräftigten Erfahrungssystems, und als Ganzes erhält es den Stempel „Illusion“ („Traum“). Wenn nun aber die Sache sich wieder umkehrt? Wenn wieder B auflebt, d. i. durch einen neue Periode B1 Rechtskräfte erhält? Dann wieder A in der Forterstreckung in A1 usw.? Dann werde ich keineswegs sagen dürfen: Es sind zwei Welten, sondern: Wenn das Spiel sich öfters wiederholt hat und in bestimmten Zeitperioden, wenn ich nach der A-Uhr berechnen kann, wann der B-Bruch kommt, und dann in der B-Periode nach der B-Uhr, wann der neue Bruch zu erwarten ist, und nun überhaupt induktiv die Abwechslung kennen und erwarten kann, dann muss ich sagen: Eine Welt ist in Wahrheit nicht, aber ich habe zwei Weltphänomene, mit zugehörigen festen Regelmäßigkeiten, wonach ich mich doch richten kann; ist A an der Reihe, dann kann ich mich nach den phänomenalen AEinheiten und ihren bekannten Eigenschaften und Gesetzen richten, und so für B.

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Aber ist das nicht nur eine bloße Rede? Kann ich nicht doch mit Recht sagen: „Es sind abwechselnd zwei Welten innerhalb einer raumzeitlichen Form, miteinander streitend, eine die andere aufhebend in derselben ihr nicht zugebilligten Seinsstrecke, aber jede einstimmig, wenn wir ihre periodische Zeitform in eins nehmen“? Jede solche Welt hätte ihre Zeit, aber erfüllte nicht die ganze unendliche Zeit, sie existierte nur in den zu ihr gehörigen Zeitperioden. Die Dinge in A haben zwar beständig ihren Zukunftshorizont, also auch an der Bruchstelle, aber sie existieren eben in der nächsten Zeitperiode nicht, sondern ganz andere. Und diese haben als Dinge zwar ihren Vergangenheitshorizont, aber in dieser Vergangenheit, die durch die voranliegende Periode bestimmt ist, existieren sie eben nicht, sondern die Dinge der anderen Welt. Was sind, muss man dann aber überlegen, die Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass sich A, A1, A2, … als zu einer Welt gehörige Erfahrungsmannigfaltigkeiten zusammenschließen? Was hat für die A-Welt die leere Zwischenzeit zu besagen? Die A-Uhr läuft doch weiter durch die Pause durch. So ja auch, wenn ich schlafe und nun in einer Traumwelt lebe. Für jede meiner Schlafpausen ist die „mögliche Erfahrung“ zu rekonstruieren und die Zustände der Dinge, die Vorgänge an ihnen und zwischen ihnen. So wäre es offenbar auch hier. Aber diese „möglichen Erfahrungen“ wären in Streit mit dem System der wirklichen und möglichen Erfahrungen für B und die entsprechende B-Zeitperiode (deren Uhren mit denen von A offenbar in den Maßzahlen stimmen müssten). Genau besehen wäre das aber ein merkwürdiger Widerstreit. Ich hätte ja zwei Erfahrungssysteme und Erfahrungsurteilssysteme, die miteinander gar nicht in Streit kämen. Ist A in aktueller Erfahrung, dann gilt mir A, und dann gälte alles mit, was durch die zusammenhängende A-Erfahrung mir abgefordert ist. Und ebenso für B. Offenbar müssen wir auch sagen, ich wäre ein doppeltes Subjekt der Erfahrung. Nämlich einerseits personales A-Subjekt. Als das hätte ich alle habituellen Erfahrungskenntnisse, Erfahrungsurteile, Erfahrungshorizonte, und als wertendes und praktisches Ich wäre ich nur durch diese A-Welt bestimmt. Ich hätte in ihr und in Bezug auf sie habituelle Entschlüsse, Wertungen, Willensgewohnheiten etc. In ihr hätte ich und in Bezug auf sie theoretische und praktische Leistungen, Kulturgebilde etc. Und ebenso für die B-Welt. In jeder wäre ich nicht reines Ich, sondern personales Ich und Mensch mit meinem Leib. Als dieselbe Person wäre ich für mich konstituiert durch die Kette der A-Perioden hindurch A1 A2 A3 … Und ebenso für die Kette der B-Perioden. Es wurde bisher auf Nebenmenschen nicht Rücksicht genommen. Könnte ich als solus ipse in meiner Erfahrungswelt lebend wirken, schaffen, so wäre

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gegen eine Weltverdoppelung, scheint es, doch nichts Entscheidendes einzuwenden. Die Frage ist, wie es sich nun verhält, wo ich fremde Subjekte mit hinzunehme. Treten in der A1-Periode mir fremde Menschen gegenüber, sich als Menschen normal ausweisend, so sind sie Menschen, die ihrerseits Erfahrung von dieser selben A-Welt haben, in Bezug auf sie personale Einheiten sind wie ich; und für mich sind sie als das im Einverständnis gegeben und ich für sie. Nun komme die B-Periode. Ich hätte da wieder Menschen. Halten wir an der Struktur der Fiktion fest, dass beide Welten kein Ding gemein haben, dann können auch die Menschen nicht gemeinsam sein, denn ihre Leiber wären ja verschiedenen Welten angehörig, und was die Seelen anlangt, so hätte ja jede eine andere Personalität, nämlich in Bezug auf alle Weltkenntnis, Weltwertungen, Welttätigkeiten durchaus andere entsprechende habituelle Eigenheiten. Aber bei mir selbst schien es doch möglich, dass ich trotz einer durchgehenden Einheit eines Lebensstromes zwei Personalitäten in mir trug. Ich hatte in jeder Welt andere Erfahrungen, andere Schicksale, einen anderen empirischen Charakter, z. B. in einer Welt war ich König, in der anderen Bettler. Das hinderte nicht, dass ich als A-Person von der B-Person wusste und ihre Erlebnisse erinnerungsmäßig in mir trug. Ich war dasselbe „Ich“, wie ich dasselbe Ich war als Traumkönig, meine Befehle erteilend etc., dasselbe, das ich als waches Ich bin. Nur dass ich den Traum durchstreiche, die A-Welt streiche ich aber als B-Subjekt nicht aus. Wie steht es nun aber mit der Existenz der fremden Subjekte in A und in B als identisch in allen A- und B-Perioden? Ich kann keinen Grund einsehen, warum durch sie eine Störung der Einstimmigkeit hervorgerufen werden könnte. Aber vielleicht doch, dass ein Neues hier auftritt. Wie steht es mit den Pausen? Sie, die anderen Subjekte, sind, was sie sind, doch nicht bloß Einheiten meiner darstellenden Erscheinungen, sondern sie sind Subjekte eines Lebens wie ich selbst und als das konsequent bestätigt. So hören sie wie ich mit dem Eintreten der B-Periode nicht auf, ihr absolutes Leben zu leben. Somit ist die Frage, was sie während der B-Periode erfuhren. In A2 sind sie erfahren als dieselben wie die in A1 erfahrenen, also noch in Beziehung auf die in der A-Welt Fortlebenden. Könnten sie, während ich in der B-Welt lebe, auch weiter die A-Welt erfahren? Dann erzählen sie mir etwa, was in der Zwischenzeit vorgegangen ist und ihre Erfahrungen und Erfahrungsmöglichkeiten treten in Einheit mit meinen rekonstruktiven Erfahrungsmöglichkeiten, die sich für mich auf die A-Welt in der Pause bezogen. Ich mit meinem A-Leib und als A-Person mit den personalen Eigenschaften mindestens für die Zeitstrecke t1 bin für sie dann noch in ihrem Erfahrungsfelde. Also ich habe noch weiter den A-Leib, mindestens

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für sie und bin noch weiter Mensch in der A-Welt, mindestens für sie. Wenn sie mir das in A2 nun erzählen, habe ich dann nicht die Erfahrungssicherheit, dass ich inzwischen A-Mensch war, während ich mich doch inzwischen als B-Mensch erfuhr? Und wenn ich ihnen nun meine Erfahrungen aus der B-Periode mitteile, gibt das nicht einen Widerspruch? Auf der einen Seite bestätigt die Erfahrung, die äußere und einfühlende, beständig das Dasein dieser anderen Menschen und der gemeinsamen Weltstücke A1, A2 … und damit aber auch das Dasein dieser Menschen in den Zwischenzeiten und das Dasein von mir selbst als A-Mensch, und auf der anderen Seite finde ich in der erinnernden Selbsterfahrung mich als vergangenen B-Menschen bezogen auf meine B-Umwelt. Ist also die Doppelwelt nicht widerspruchsvoll? Soll ich es mit der Annahme versuchen, dass alle A-weltlichen Menschen zugleich denselben Bruch erfahren, also dass alle zugleich in den zwei Welten, getrennten Welten A und B, in doppelter Persönlichkeit, aber in der Einheit ihres Lebens leben, so dass ich nicht zweierlei absolute Subjekte hätte, sondern eine absolute Subjektivität (ein Ich-All) mit zwei Personalitäten. Wenn wir also ei n Ich in Beziehung auf zwei Welten in völlig konsequenter Erfahrung denken, müssen wir auch die fremden Ich, die in diesen Welten konsequent erfahren sind, als Subjekte dieser zwei Welten, also mit denselben Brüchen uns denken.1 Im Übrigen aber wenn nicht, dann können auch diese zwei Welten in der Erfahrung eines Ich nicht konsequent erfahren sein, und für die anderen Ich sind es Welten eines Narren.

Beilage XVIII Mögliches Nichtsein der Welt2

Inhalt: Fragen in transzendentaler Einstellung. Ich als Ego, das eine raumzeitliche Welt konstituiert hat. Aber ist das eine absolute Notwendigkeit? Kann sich für mich die transzendentale Konstitution nicht auflösen, während 30 ich doch noch seiend wäre als Ich der Immanenz? Könnte es nicht sein, dass sich für mich überhaupt nie eine Welt konstituiert hätte etc.? Fragen in der transzendentalen Reduktion: Ich bin Subjekt einer realen Welt. 1 Noch überlegen: Sind zwei Welten dieser Art denkbar, die partiell dieselben Dinge enthalten? 2 Wohl 1930. – Anm. des Hrsg.

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1) Könnte nicht diese Welt nicht sein, könnte nicht die Präsumtion des Seins der Welt zur Durchstreichung kommen? 2) Könnte meine konstitutive Genesis nicht so laufen, dass sich überhaupt nicht, niemals, eine Welt für mich konstituieren würde und ich also nie hinauskäme über ein Sein in immanenter Zeit, ohne Erscheinungen von objektiver Welt? 3) Kann ich nicht die Genesis als eine immanent zeitliche von sich abhebenden Empfindungsdaten her aufbauen in Richtung auf eine Welt, also eine Geschichte des Ego und der Welt für mein Ego geben? In dieser Geschichte aus Wesensgesetzen meiner Genesis erwächst mir eine Geschichte auch für das Für-mich-Sein von Anderen, für das Für-mich- und Für-uns-Sein einer objektiven Welt, eine Geschichte dieser Welt und eine Geschichte der Menschen bzw. des für mich seienden Monadenalls usw. Ich, der ich diese Geschichte erforsche, ich das phänomenologische Ich, habe zwar die Welt und die Weltwissenschaften eingeklammert, bin das Ich, das gemäß der Geschichte, die ich erzählt habe, späte Entwicklung dieses selben Ich ist, unter dem „Einfluss“ der dereinst mir setzbar und zweifellos setzbar gewordenen Anderen, aber meiner Geschichtsschreibung als Geschichtsenthüllung gehe ich vorher als der, der ich jetzt bin, obschon ich als Ich des Anfangs und der weiteren Genesis (aber gemäß meiner Geschichtsentdeckung) natürlich vorher war. Mich, der ich jetzt bin, enthüllend, finde ich intentional impliziert und explizierbar meine Genesis. Stücke meiner Genesis kann ich direkt finden. Andererseits, zu meinem fortlebend Sein als Ich mit meiner cogitierten Welt gehört eine Wesensmäßigkeit lebendiger Genesis, von der her ich meine Vergangenheit interpretiere und interpretieren muss. Was ist also denkbar für meine Geschichte, meine, des Ego, das vordem schon für sich selbst war und so war, dass in ihm gemäß seiner rekonstruierten Genesis ein Strom des Lebens und Seins impliziert ist, der einstimmig teils auf Welt angelegt ist, teils als Welterfahrung, einstimmiges Weltbewusstsein, fortlief und noch fortläuft? Dass es noch fortläuft, ist das lebendige Faktum im Jetzt, und währenddessen kann ich nicht zweifeln. Das lebendige Faktum ist immerfort Erfüllungsfaktum. Ich lebe nicht nur, sondern ich lebe weltlich, weltgewiss, lebe als Mensch in der Welt. Muss ich also dabei bleiben, so steht die Sache so, dass ich als Mensch – so weit ich mit meinen Erkenntnismitteln, d. i. mit denen, die ich mir erarbeitet habe (soweit ich gekommen bin), lange – meine Entwicklung konstruieren muss als Entwicklung von einem Anfang. Diese ist als individualtypische gezeichnet in einer Wesensform, die sich alsbald auf alle für mich seienden Menschen überträgt; jeder hat seinen Anfang (seine „Geburt“) und seine Entwicklung. Aber meine Genesis schafft mir eine generative Menschenwelt, schafft mir seiende Eltern, seiende Voreltern für mich und jedermann, eine objektive Zeit, die hinter meinen und

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eines jeden Anfang zurückreicht. Transzendental ist die objektivierte, die Weltzeit Korrelat der monadologischen Zeit als der Form intermonadologischer Koexistenz, in der Darstellungsform intermonadologischer Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Das ist „rationales“ Faktum, das ist rationale, ist Wesensnotwendigkeit für mich, der ich Ego dieser „menschlichen“ Wesensstruktur bin. Aber kann ich auch sagen, dass ich dasselbe Ich hätte in einem Anfang und Fortgang sein können, ohne dass sich für mich eine Welt konstituiert hätte? In meinem faktischen Ich-bin liegt implizite mein faktischer Anfang, meine faktische Entwicklung von da her, bei aller individualtypischen Unbestimmtheit doch relativ apodiktisch vorgezeichnet von der Voraussetzung dieses Faktums her, meines Fortlebens in Welteinstimmigkeit. Sehe ich, dieses Ich, von diesem Anfang aus Möglichkeiten der Entwicklung, eines Fortlebens irgendwelcher Art überlegend, nicht auch solche, wo keine Anderen, keine Welt sich konstituieren würde? Nun kann man aber einwenden: Nur ein entwickeltes Ich und ein wissenschaftliches kann diese Möglichkeiten erwägen, und alle Möglichkeiten können, wenn sie wirklich seiende Möglichkeiten sollen sein können, nur Möglichkeiten eines „menschlichen Ich“ in einer menschlich monadologischen Welt sein. Das würde sagen: Ich könnte wirklich eine Entwicklung durchlaufen, die mich zu keiner Welt führt, ich könnte mich als ein total pathologisches Ich entwickeln. Aber das Monadenall wäre doch konstituiert und die Welt, und ich wäre, ohne es zu wissen, pathologischer Mensch innerhalb einer Welt. Aber genauer würde das sagen: Ich, der ich mich als Mensch in der Welt schon erfahre, ich, der Phänomenologe, kann jene pathologische Möglichkeit eben nur in der Gestalt durchführen, dass ich diese Welt in der Weise abwandle, die darin besteht, dass ich in ihr mich zum pathologischen Ich variiere. Alle Denkmöglichkeiten der Welt, alle Variationen, die sie in eine mögliche, erdenkliche Welt verwandeln, setzen das Faktum voraus, und die Denkmöglichkeiten sind von vornherein Denkmöglichkeiten einer Welt, und Denkmöglichkeiten meines Ego sind Denkmöglichkeiten eines Ich, das immerfort Weltlichkeit hat bzw. eine Welt hat. Aber ist das eine zureichende Antwort? Was heißt das: „Ich wandle mich so ab, dass ich keine Welt erfahre, nichts von einer Welt ahne und doch noch weltliches Ich bin“? Wenn diese Abwandlung möglich wäre, wie könnte ich dann mit normalen Anderen und einer objektiven Welt operieren, unter Voraussetzung dieser Möglichkeit? Oder soll ich Folgendes sagen? Die Möglichkeiten, die ich für mich, das entwickelte Ich, erwäge als meine vergangenen Möglichkeiten, sind nicht nur als die faktisch vergangenen, sondern auch als noch so freie Möglichkeiten in Wesenskonnex mit meinem

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Ich, wie ich jetzt faktisch bin und Ich meiner jetzigen Vergangenheit bin. Eine freie Abwandlung wandelt mit die ganze immanente Zeitsphäre meines Ego und mich selbst, derart also, dass das, was immer ich als anfangendes, sich entwickelndes Ego ansetze, eben in seiner Entwicklung Entwicklung zu einem Ego sein muss, das wie ich faktisch im weltlichen Leben stehendes Ego ist. Es bleibt immer Abwandlung eben dieses Ego, also Umfiktion eines Stückes menschlicher Entwicklung. Ganz allgemein ist die Frage zu stellen: Was schreibt mein tatsächliches Ego, in seiner Tatsächlichkeit das Fundament aller Variationen, eben diesen seinen Varianten vor? Gehen wir variierend am Leitfaden der vorgegebenen Welt fort, als Welt rein aus Erfahrung, so gewinnen wir in je einer möglichen einstimmigen Erfahrungswelt als ihr zugehörige Möglichkeiten Unterschiedliches: normale und anomale Menschen und Tiere. Normale Menschen in der Welt, die sie als eine normale erfahren, anomale Menschen als Subjekte anomaler Erscheinungen von der Welt. Menschen in der Welt, jeder Welt erfahrend, jeder in seinen Erscheinungen, jeder durch Unstimmigkeiten hindurch und schließlich doch einstimmiges Sein bis auf weiteres durchhaltend. Jeder sich mit anderen verständigend, sie als Andere verstehend, gelegentlich sich täuschend und sich darin auch korrigierend. Aber kann einer, der von mir als Mensch gesehen wird, nicht erfahren werden als jemand, der „Psychisches“ erlebt und gar nichts Weltliches erfährt? Ist das denkbar? Ist es ein Apriori, dass das, was immer als Mensch soll sich ausweisen können, als psychisches animalisches Wesen, seinen Leib und seine nächste Umwelt erfahren muss, und dass das, was es da als solches erfährt, Erscheinungsweise derselben Welt ist, die ich in meinen Erscheinungsweisen erfahre? Dann haben wir also absolute Grenzen für alle Verrücktheit. So wie ein Mensch, der dumm ist und leicht jederlei Täuschungen und Illusionen unterliegt, und so wie jeder, auch der Halluzinierende, doch selbst in den Scheinen, Halluzinationen etc. Welterfahrender ist und die Einheit der Welt sich sogar in den Scheinen bekundet, so wie ein „Primitiver“, ein Tier etc. – wie weit auch sein erfahrendes Leben von dem meinen abstehen mag – doch ein welterfahrendes Wesen ist und nur dadurch für mich in der Welt sein kann, so gilt das auch von allen anomalen Menschen, auch von den noch so sehr Verrückten. Aber muss ich mich, mich als Ego, das einstimmig Welt erfährt, variierend, muss ich mich an diese Einstimmigkeit der Erfahrung binden und kann ich mich nicht als Ich meines immanenten Lebens so abwandeln, dass ich ein bloßes Ich wäre mit einem Gewühl von Empfindungsdaten, unter dem Gesetz der Passivität (immanente Zeitlichkeit und Assoziation) stehend, aber so, dass sich keine Leiblichkeit für mich, keine orientierte Natur etc. konstituierte? Keine Welt schließlich? Freilich, sie ist schon für mich kon-

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stituiert und ich habe die auf sie bezügliche Habitualität, habe in Geltung in Zweifellosigkeit das Fortsein der Welt, ihr in Identität verharrendes Sein gegenüber dem Fluss und Wechsel meiner Erscheinungen. Aber musste sich das konstituieren, und kann ich mein immanentes Leben nicht als immanentes entsprechend umdenken, z. B. auch so, dass, selbst wenn es schon als Welt erfahrendes konstituiert war, hinfort nicht mehr zweifelloses Sein der Welt vorgezeichnet wäre, nicht mehr Einstimmigkeit der Erfahrung sich lebendig restituierte, sich alles auflöste in ein Gewühl? So komme ich wieder zurück auf die Betrachtungsweise der „Ideen“ und auf die Möglichkeiten, die dort als gültige Möglichkeiten angesetzt waren. Aber wenn ich im Gewühl ende, kann dann nicht abermals Welt sich konstituieren als vermeintlich erfahrene und zweifellos sich bewährende? Und wenn das, wie steht es mit dieser zweiten vermeinten Welt? Ist zu ihr nicht wesensmäßig das Ego in seiner ganzen Vergangenheit gehörig? Muss danach diese Welt nicht identisch werden mit der früheren Welt? Zunächst primordial? Was soll dabei die Identität besagen? Wie soll sich eine Einstimmigkeit universaler wirklicher und möglicher Erfahrung herstellen? Wenn ich durch Erinnerung zurückkäme bis auf das Gewühl, wäre das nicht die „Geburt“? Aber dahinter hätte ich ein zweites Gewühl. Dazwischen erinnerte Welt erster Ordnung. Die Welterfahrung, die im Gange ist in Menschen-Erfahrung, ist generative Erfahrung. In diese Welt ist eingeordnet meine Vergangenheit in ihrer Genesis – auf dem Wege über die Anderen zugleich Geburt meines Leibes, Einordnung in die physische Generationenreihe. Kann die vorher vermeinte Welt dann noch gelten, da sie inzwischen ja, statt sich zu bestätigen, sich aufgelöst hat? Oder ist nicht in Frage, wie diese Auflösung aussehen soll? Ein plötzliches Abbrechen und ein Durcheinander, ein „Gewühl“ ohne jeden Erscheinungszusammenhang, kann das nicht später erfahren werden auf dem Wege über die Anderen als Krankheit, Irrsinn? Aber vielleicht war die erstkonstituierte Leiblichkeit eine tierische in einer tierischen Umwelt. Oder es war eine Leiblichkeit in einer Umwelt, die ich jetzt bei Rekonstruktion des klassischen Altertums erkenne als die von Olympia. Und ich sterbe. – Übergang in ein Gewühl oder in unterschiedslose Empfindungseinförmigkeit, die weltlos ist? Ich hätte dann eine immanente Vergangenheit, die weltlich gegenwärtig ist als H usserl-menschliche Immanenz und eine immanente Vergangenheit zugehörig zu P raxi t el es etwa. Sind solche „Möglichkeiten“ auszudenken und als wirkliche Möglichkeiten zu erkennen oder sind es wüste Ansätze? Da hätten wir also das Problem der Möglichkeit der Seelenwanderung, und in der Form sogar der Möglichkeit eines identischen ichlichen Seins in verschiedenen Weltzeiten und in Zwischenpausen, in denen das Ich, die Seele überzeitlich wäre. Und

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wir hätten das Problem der Unsterblichkeit. Kann eine Seele überhaupt aufhören, abgesehen von dem Sterben, das keineswegs ein Aufhören des subjektiven Seins und Lebens besagen muss? Ja, ist das überhaupt denkbar? Und in eins damit hätten wir das Problem des Vergessens bzw. des möglichen Wiedererinnerns. Ist nicht meine ursprüngliche Auffassung von der immanenten Sphäre mit den immanenten Daten, die am Ende erst durch die passive Leistung der Assoziation zu „Auffassungen“ kommen, noch ein Rest der alten Psychologie und ihres sensualistischen Empirismus? Aber wie soll man sonst sagen? Empfindungsdaten ohne Auffassung gibt es also nicht, das Aufgefasstsein, das „Repräsentation“-Sein ist eingeboren. Aber was ist damit zu machen? Was leistet dann die assoziative Konstitution? Der instinktive Leerhorizont ist doch schon Horizont und bekommt nun erfüllende Bestimmungen. Oder kommt es auf das Erwachen des Ich an, auf dessen Affektion, auf dessen Aktivität? Empfindungsdaten sind noch keine Umwelt, in die das Ich hineinlebte. Dazu braucht es Kinästhesen, ein Ich-kann und Ich-tue, Leiblichkeit etc. Es braucht als praktisches Ich eine praktische Umwelt, es ist „interessiertes“ Ich und kann nur als das geweckt werden, kann nur als das sich wiedererinnern. Die Welt ist mein Erinnerungsfeld als meine Umwelt. Wo ich keine Welt habe, also kein personales Ich bin oder, was dasselbe, kein Interessenfeld habe, da habe ich auch keine Möglichkeiten, mich zu erinnern. Gibt es eine Genesis meiner Person und somit meiner Umwelt und liegt voran eine Lebensstrecke, in der ich noch nicht eigentlich Ich, eigentlich Person bin, so wäre das eine Strecke des „unbewussten Bewusstseins“, des unpersönlichen, in dem kein Ich-denke gewöhnlichen Sinnes sich konstituiert, in dem es kein Aufmerken gibt, in dem nichts „gegenständlich“ ist, in dem es für das noch leere Ich noch kein Seiendes, Identisches, Identifizierbares gibt. Hier wäre also das strömende Leben ein Verströmen in völlige und nicht aufweckbare Vergessenheit. Aber ist das denkbar, wenn von den Abhebungen Reizungen ausgehen und z. B. in periodischer Wiederholung Weckungen etc.? Also Einförmigkeit. – Ist aber nicht auch Mannigfaltigkeit in beständiger Einheit gleichen Stiles Einförmigkeit? Aber ist nicht das Entsprechende das subjektive Ich-tue, Ich-kann, Ich-bewege und die Ausbildung von Interessen, von interessierten Intentionen, von ihren Erfüllungen und Entleerungen etc.? Wesensmäßig, das müsste einsehbar sein, liegt im Anfang ein Gebiet der unweckbaren Vergessenheit. Im personalen menschlichen Ich kann die Wiedererinnerung jede Strecke der Vergessenheit überspringen. Es ist keine absolute Vergessenheit, sondern nur jetzt nicht geweckt, kein gegenwärtiges lebendiges Interesse berührend. Könnte auch eine absolute Vergessenheit übersprungen werden? Ja, kann aber ein personales Ich außer im Anfang eine Sphäre absoluter Vergessenheit haben? Man wird sagen: im traumlo-

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sen Schlaf. Aber da reicht eine Weise der Konstitution über diese Sphäre hinweg, und die getrennten personalen Wachheiten reichen sich die Hand. Das personale Ich, das aktive, interessierte, schläft, es wird völlig passiv. Es erwacht, es hat die gegenwärtige Umwelt und sogleich die Wiedererinnerung 5 an die wachen Vergangenheiten, geweckt oder nicht geweckt. Kann nicht das Ende der traumlose Schlaf sein? Warum dann kein Erwachen? Aber darf man fingieren, dass „traumloser Schlaf“ immer dasselbe besage und dasselbe wie „vor der Konstitution der Person“ und dass mit „Tod“ gesagt sei „Das Ich, die Person schläft“? Das Neugeborene oder vielmehr der in die Welt 10 tretende Embryo schläft nicht, ist keine Person, die schläft. Aber es ist doch Ich-Zentrum und Feld. Und hat es nicht auch Affektion und „Aktion“ und doch noch keine Umwelt, kein Hineinleben in die Umwelt etc.?

Nr. 23 Notwendigkeit d er präsumtiven Seinssetzung der Welt in d er selbstbewährenden Selbstgebung einstimmiger Welterfahrung. Das U rrecht d es Weltglaubens1

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Jede nicht selbstgebende Seinsmeinung hat Beziehung auf Selbstgebung, sie impliziert in sich die Möglichkeit der Anmessung an entsprechende Selbstgebung. An entsprechende: Das Entsprechen zeigt sich in der Synthesis der Erfüllung oder der aufhebenden Enttäuschung, und darin ist Richtigkeit und Unrichtigkeit, „wirklich und wahrhaft“ Sein und Nichtsein selbstgegeben. Betrachten wir die reale Erfahrung, so ist sie schon Selbstgebung; aber es zeigt sich hier, dass Selbstgebung auch möglicherweise richtig oder unrichtig sein, dass sie Möglichkeiten der Bewährung und der Widerlegung in sich bergen kann. Ihre Selbstgebung durch Selbsterscheinungen, die Präsumtionen, Horizonte der Antizipation, implicite enthalten, von deren Erfüllbarkeit oder Nichterfüllbarkeit ihre Standfestigkeit abhängt, zeigt, wenn wir Explikation vollziehen und das evident Mitvorausgesetzte zu expliziter Evidenz bringen, dass Erfahrung nur durch Erfahrung bewährbar und aufhebbar ist und dass also die präsumtive Selbstgebung in Form der Gewissheit schon vorausgesetzt ist, damit eine Selbstgebung dieser Art als standhaltende sich erweisen oder sich als falsch, das Seiende oder Soseiende als nichtig sich herausstellen kann. Die vorausgesetzten Selbstgebungen sind Implikate, und jede, die wir herausholen, ist wieder Selbstgebung durch Präsumtion. Und so verbleiben wir in einem endlosen Milieu der Präsumtion. Günstigenfalls stehen wir in einem fortgehenden Zusammenhang der Einstimmigkeit von realen Erfahrungen, von wirklichen und möglichen, die dann eben zu verwirklichen sind als ungebrochene Selbstgebungen und als solche, die schon vollzogene Seinssetzungen in Gestalt von realen Selbstgebungen stützen. Der tatsächliche Gang der universalen Welterfahrung ist ein solcher einer durchgängigen Zusammenstimmung, freilich mit einzelnen Korrekturen. Die mannigfaltigen Dingerfahrungen sind einheitlich in 1

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der Weise, dass Einheit je eines Wahrnehmungsfeldes, eines in sich zusammenstimmenden, konstituiert ist. Jede Abwandlung der Wahrnehmungen durch frei tätiges Dirigieren des Wahrnehmungsganges vollzieht sich in der Weise eines Eindringens in die jeweils bestehenden Horizonte, in der Weise des tätigen Verwirklichens der vorgezeichneten und sich dann wieder vorzeichnenden Horizonte möglicher Erfahrung; und dabei entspringt fortschreitende Kenntnis und bessere Kenntnis des schon dinglich Erfahrenen, neuer Dinge Kenntnisnahme, die vorangezeigt waren oder in das Wahrnehmungsfeld just eingetreten usw. Das ergibt sich bestätigendes Sein und Zusammensein von Raumdingen mit einem offenen Horizont mitseiender anderer unbekannter Dinge, im Fortgang motiviert auftretender usw. Alle Wandlungen der Erfahrung, alle Wandlungen der Erscheinungen und Erscheinungsgruppen schließen sich synthetisch einstimmig zusammen. Doch gelegentlich – während der übrige Zusammenhang einstimmig und in der Zusammenstimmung (mit den entsprechenden Erfüllungen) eine sich wechselseitig stützende Einheit der Erfahrungsgewissheit der betreffenden Dingzusammenhänge und der offenen Umwelt verbleibt – tritt eine Unstimmigkeit auf: Eine Erfahrung streitet mit dem in Seinsgewissheit verbleibenden übrigen Ganzen, wird dadurch modalisiert und durchgestrichen. Aber dann stellt sich in bekannter Weise wieder allgemeine Einstimmigkeit her; wo nicht das fälschlich Erscheinende ist, ist anderes, mindestens „leerer Raum“. Und nach der Korrektur haben wir wieder universale Einstimmigkeit einer Selbstgebung – eine einheitlich in Seinsgewissheit selbsterscheinende Welt mit den mannigfaltigen Dingen als darin in Gewissheit wahrgenommenen (obschon immer mit präsumtiven Horizonten) und in offenem Außenhorizont unbekannten, aber wahrnehmbaren. Das betrifft die gesamte Vergangenheit und den Horizont der Zukunft. Der Gang der erinnerungsmäßigen Vergangenheit, unserer eigenen, kann so laufen, dass das, was die Gegenwart an neuen Erfahrungen und in fest gegründeter Einstimmigkeit bietet, uns nötigt, die erinnerte Vergangenheit nach gewissen Dingen oder dinglichen Beschaffenheiten, Zusammenhängen zu durchstreichen. Sie, die damals in stimmender Erfahrungsgeltung fest begründete Wirklichkeiten waren, erweisen sich von dem jetzt Gegebenen aus als Schein; aber im Ganzen schließt sich Gegenwart und Vergangenheit zur Einheit einer wohlstimmenden zeitlichen Welt zusammen, und

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jede Ausscheidung von Schein im Einzelnen stellt eine einstimmig seiende Welt, eine Welt seiender Dinge, Vorgänge usw. wieder her. Es ist eine Tatsache: Eine Welt, eine objektiv zeitliche (raumzeitliche), ist einstimmig erfahren, erfahren gewesen und im lebendigen Forterfahren in die als kommend präsumtiv evidente Zukunft hinein vorerfahren. Die vorgerichtete Weltpräsumtion bestätigt sich kontinuierlich, obschon manche Erwartungen enttäuscht werden. Mit anderen Worten: Für mich ist Welt immer selbstgegeben gewesen und dieselbe Welt noch seiend und in die Zukunft hinein seiend, und so für mich eine in der Einheit einer offenen Zeitform allseitig seiende. Für mich und jedermann. Wir alle als die eine und selbe Welt Erfahrenden haben nicht nur jeder für sich diese Glaubensgewissheit aus der Zusammenstimmung der mannigfaltigen, je nachdem passiv oder aktiv verlaufenden Erfahrungen, sondern wir sind in Erfahrungsgemeinschaft, und unsere Erfahrungen haben auch auf uns wechselseitig und unser eigenes Erfahren bezogene Horizonte. – Die Welt ist Welt für uns und Welt unserer vergemeinschafteten und zu vergemeinschaftenden Erfahrung. Welche Gründe diese Tatsache als Tatsache unseres subjektiven Lebens auch haben mag und welchen Sinn die Frage nach solchen Gründen, es ist eine Urtatsache: Erfahrung, Einheit erfahrenden Gemeinschaftslebens – vergemeinschaftete Mannigfaltigkeiten von Selbsterscheinungen, die ihrem eigenen Sinne nach sich in einstimmiger Gewissheit zusammenschließen, nämlich zur Gewissheit seiender, aktuell wahrgenommener und erinnerter Dinge, aber auch unwahrgenommen, unerfahren für uns in Gewissheit seiender, für uns möglicherweise zu erfahrener usw. – strömt fort oder ist ein universaler Strom unseres Lebens, meines eigenen, eines jeden, und aller in ihrer Beziehung aufeinander. Es ist unmöglich, diese Seinsgewissheit der Welt aufzuheben, da sie sich faktisch immerfort neu begründet, da sie beständig als Selbstgebung auftritt und in der Einstimmigkeit auftritt als allseitige Bewährung. Freilich, es sind dabei immerzu Dimensionen von Präsumtionen, die nicht enthüllt, erprobt, auf wirkliche Erfahrung zurückgeführt worden sind. Aber wo immer ein Anlass war, Mitgemeintes zur Selbstgebung zu bringen, durch unsere willkürliche Aktivität des Hingehens, des sich die unsichtigen Seiten Ansehens, durch ein Experimentieren im weitesten oder engeren Sinn, da war der Erfolg der evident vorausgesehene – evident in dem Sinne, dass

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schon Gesehenes nicht Gesehenes evident forderte. Die Forderung erfüllte sich, nur ausnahmsweise erfolgte Evidenz des bloßen Scheins; aber dann füllte sich die Lücke der Einstimmigkeit ja wieder aus, und was nun das Wirkliche an der betreffenden Stelle war, das hielt allen experimentierenden Proben stand. Bei dieser Sachlage ist also die Seinssetzung der Welt – und diese in Form einer Evidenz, einer Selbstgebung – eine durch unser Leben hindurchgehende Notwendigkeit, die, solange der Erfahrungsstil in diesem ungebrochenen Laufe verbleibt, jenseits aller Willkür steht und nicht etwa die Gestalt einer fixen Idee hat oder eines unbegründeten, wie immer motiviert, sich in unserem Leben beständig durchsetzenden Glaubens. Vielmehr, es ist universale Selbstgebung, die sich in sich selbst in ihrem Verlauf als durchgängige, an jedem Punkte sich mitvollziehende Selbstbegründung, Selbstbewährung charakterisiert. Fortgang dieser Erfahrung ist immerfort Fortgang von Vorintention zu Erfüllung, wenn auch viele Vorintentionen unerfüllt bleiben und immer neue geweckt werden. Hat diese universale Evidenz, diese lebendig durch das ganze wache Einzelleben und Gemeinschaftsleben hindurchströmende und sich selbst bewährende, nicht auch ihre Präsumtion? Natürlich hat sie sozusagen die Unendlichkeit der in ihrem Gang unenthüllt und unerfüllt verbliebenen Präsumtionen. Aber dass immerzu, was zur Enthüllung kam, sich als Erfüllung, also als Bestätigung des gesamten Weltglaubens, der Gesamterfahrung von Welt einpasste, das macht es, dass der Weltglaube kein blinder, sondern allzeit ein begründeter, ein sich fortgesetzt berechtigender und nicht preiszugebender ist. Aber liegt nicht in ihm die Präsumtion, dass die Einstimmigkeit, die bisher sich konsequent einstellte, in alle Zukunft hinein sich erhalten werde? Freilich, dass sie das wird, ist auch nicht ein leerer Glaube. Obschon rein passiv in der fortgehenden Einstimmigkeit der Erfahrung erwachsen, trägt er doch in sich ein Urrecht, das man leicht auslegen kann. Mögen auch Möglichkeiten ausdenkbar sein, dass das nicht der Fall ist, dass also die tatsächlich bisher ausgewiesene universale Einstimmigkeit der wirklichen Erfahrungen nicht apodiktisch zureicht, nämlich um die Möglichkeit auszuschließen, dass die raumzeitliche Welt in dem ihr in diesen Erfahrungen konstitutiv zugemessenen Sinne kein wirkliches Sein hat, vielmehr etwa nur eine Identifizierbarkeit und Bewährbarkeit, die so ungefähr in einigen

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Grenzen faktisch Verlässlichkeit zeigte und zeigt, möge, sage ich, diese Möglichkeit auch denkbar sein, – jedenfalls ist es wesensmäßig einzusehen, dass Einstimmigkeit der Vergangenheit der künftigen Einstimmigkeit immerzu ein präsumtives Recht zuweist, und zwar in 5 Form einer Modalität der Gewissheit. Die kontinuierlich immer wieder sich herstellende schafft für die künftige eine evidente Voraussicht (wie gesagt, eine Modalität der Gewissheit), die eine lebendige ist, die in jedem wachen Lebensmoment sich bestätigt und neu entzündet, sich neu steigert und in diesem Prozess eine undurchbrechliche Kraft 10 hat – und doch keine apodiktische Gewissheit vom Sein der Welt schlechthin ist. So haben wir also aus der Aktualität des Lebens, aus dem universalen intersubjektiven Lebensstrom her einen fest konstituierten und sich stetig fortkonstituierenden Strom der Weltexistenz, des15 sen Tragfähigkeit unter einem apodiktischen Prinzip der Voraussicht steht.

Beilage XIX Zur apodiktischen Evidenz der Präsumtion einer Welt1 „Echte Erfahrung, echte Evidenz“ – woran kann man sie erkennen, 20 echte Evidenz dafür, dass etwas ist, apodiktische Evidenz, dass es ist? Die

Präsumtion einer w ahrhaft seienden W elt mit wahrhaft seienden Dingen trägt in sich die Präsumtion einer „echten“ Erfahrung als Möglichkeit einer gewissen Undurchstreichbarkeit dieser Erfahrung im zusammenhängenden Erfahrungsverlauf oder die Präsumtion einer offenen Un25 endlichkeit künftig eintretender oder möglicher Evidenzen, Evidenzen für fortgesetzte Erfüllungen, solcher, die die fortlaufenden Erfahrungsevidenzen immerfort aufrecht erhalten würden ins Unendliche und das präsumtive Sein i m merfo rt b estätigen würden. Dies e Pr äs umtion echter Erfahrungen liegt beschlossen in der Präsumtion einer w irklich 30 oder w ahrhaft seienden W elt. Nämlich zunächst beschließt sie die Präsumtion eines von jeder Einzelerfahrung in ihrer Erfahrungsgegenwart auslaufenden wirklichen und möglichen universalen Zusammenhanges von Einzelerfahrungen, in dem zwar Modalisierungen vorkommen, aber so, dass dem Prinzip genuggetan ist: So viel Schein, so viel Verweisung auf Sein. 1

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Wie kann die universale Struktur möglicher Erfahrung als einer solchen, die in sich ein Universum wahren Seins beständig präjudiziert und dieses Präjudiz durch ihren eigenen Verlauf selbst kontinuierlich bestätigt, näher ausgelegt werden und gezeigt werden in apodiktischen Einsichten, dass dieses Präjudiz der Erfahrung wesensmäßig sein Recht hat, wesensmäßig sich in sich selbst bestätigt, sich so fortsetzt im Gang der Erfahrung, dass darin das Sein der Welt nicht nur gewiss, sondern ap o d i k t i s c h g e w i s s wird, während die Erfahrung verläuft? Es ist 1) evident, und zwar apodiktisch, dass wesensmäßig äußere Erfahrung hinsichtlich ihres thematischen Sonderobjektes, Vorgangs etc. präsumtiv ist, „Vorurteile“ enthält, und selbstverständlich ist für jeden, dass keine endliche, abgegrenzte Einzelerfahrung absolute Gewissheit bietet und jede Täuschungen zugänglich ist. 2) Andererseits ist der Zweifel an dem Sein der Welt lächerlich. Es ist klar, dass die Dignität der Welterfahrung, d. i. der im laufenden Strom der Gesamteinheit der Erfahrungen liegenden Erfahrungsgewissheit von der Welt, von einer ungleich höheren Dignität der Evidenz ist als diejenige der Einzelerfahrung. Wie ist das zu verstehen, da doch die Welt das Universum der erfahrbaren Einzelrealitäten ist, deren Dasein selbst doch nur durch Einzelerfahrung gegeben ist? Die Weltexistenz hat etwas von Apodiktizität in sich; es ist nicht richtig, dass sie für mich, der ich sie in Erfahrung habe, bezweifelbar ist. Das einzelne Reale, während ich es erfahre, kann ich zwar auch nicht bezweifeln, aber es ist empirisch möglich, dass es für mich zweifelhaft wird; und das kann ich einsehen. W ährend i c h aber di e W el t erf ahre, kann das Sein derselben empirisch nicht zweifelhaft w erden (als ob Sein der Welt eine der „vorgezeichneten“ Möglichkeiten aus einem vorgezeichneten Spielraum anderer Möglichkeiten wäre). Einzelnes reales Sein der Erfahrung bedarf der Zusammenstimmung mit anderen Erfahrungen. Die Einzelerfahrung bricht ab, bleibt in Geltung, aber neue Erfahrungen, mit der wiedererweckten alten in Konnex tretend, können sie – und das ist in der Struktur der Erfahrung vorgezeichnet – aufheben. Womit soll die Welterfahrung streiten? Nichts „kann“ als Gegenerfahrung sie aufheben. Solange sie fortläuft und ihren Stil erhält als Welterfahrung, trägt sie sich, in Selbstbestätigung, selbst. Freilich, sie ist immerfort präsumtiv, aber sie hat nicht neben sich empirisch bekannte Täuschungsvorkommnisse hinsichtlich ihres Gegenstandes „Welt“; die Präsumtion hat sich immer bestätigt und hat k e i n e n k on sti tui erten Hor izont möglic her N ic htbes tätigung. Aber wie ist all das wirklich zu verstehen, zu verstehen die Struktur der Welterfahrung als eine solche, die immerfort Welt bestätigt?

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Beilage XX Idee der apodiktischen Evidenz als schlechthin wiederholbare Evidenz und Frage der Apodiktizität der Welterfahrung1 5

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Eine apodiktische Einsicht ist dadurch ausgezeichnet, dass ich, der sie in lebendigem Vollzug Habende, die Einsicht herstellen kann, es sei eine neue Einsicht, die jenem als apodiktisch seiend Gesehenen widerstritte, unmöglich oder, was gleichwertig: Versetze ich mich, während ich jetzt die apodiktisch genannte Evidenz in ursprünglicher Geltung habe, an eine beliebige Stelle meines subjektiven zeitlichen Lebenshorizontes, so kann die Wiederholung der Evidenz – und nicht als bloße Wiedererinnerung, sondern als Wiedervollzug der Geltung – durch keine in diesem neuen Lebenszusammenhang erdenkliche Evidenz gehemmt, in Zweifel gesetzt oder in weiterer Folge als nichtig aufgehoben werden. Jede neue Evidenz derselben „Materie“ kann nur Evidenz der Seinsgeltung derselben Materie sein, kann mit der alten nur stimmen, sie nur immer wieder bestätigen. Oder noch einmal in Gleichwertigkeit: Eine apodiktische Evidenz ist charakterisiert durch ihre schlechthinnige (gewissermaßen rücksichtslose) „Wiederholbarkeit“. Für mich denkbar ist die Wiederholung jeder Evidenz, so der Evidenz irgendeiner äußeren Erfahrung (in Form der erinnernden Wiederholung). Aber denkbar ist auch in diesem Falle eine neu auftretende Evidenz, welche rückwirkend die Evidenz, die ich vordem hatte, aufhebt, d. i. die Fortgeltung der Wiedererinnerung (das Nochgelten des vordem als seiend Gesetzten) aufhebt. Anders eine apodiktis c he Evidenz: Mit der W i e d e r e r i n n e r u n g i s t n o t w e n d i g au c h d a s J e t z t - n o c h - G e l t e n d a, und zwar, dass Wiedererinnerung käme mit ihrer Geltung und eine andere Evidenz käme, die diese Geltung aufhöbe, ist undenkbar. Wie ist das einzusehen?Das Streiten setzt einen gemeinsamen Seinsboden voraus. Für die E videnz von der Weltexistenz: Eine spätere Welterfahrung beschließt für die in ihr implizit mitgemeinte subjektive Vergangenheit vergangene Welt als für mich gewesene. Eine Welterfahrung ist nicht nur implizite Erfahrung einer Weltvergangenheit, sondern einer Vergangenheit, die für mein gewesenes Leben schon war, wahrgenommen oder wahrnehmbar gewesen war (Letzteres vom wirklich „damals“ Wahrgenommenen aus). Nun kann es wohl sein, dass meine vergangene Weltwahrnehmung (deren ich in meiner Erinnerung gewiss werde) nicht völlig mit der gegenwärtigen Welterfahrung und dem, was in ihr als vergangen gilt, stimmt, nicht nach

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jeder Einzelheit; aber dann sind die betreffenden vergangenen Einzelwahrnehmungen Schein, die, was jetzt als Vergangenheit gilt, verdecken bzw. ihre Durchstrichenheit in meinem Zwischenleben erfahren haben oder von der jetzigen Erfahrung her rückstrahlend erleiden. Die Welterfahrungen sind synthetisch einig, konstituieren einig dieselbe Welt (eventuell explizite evidente Identifikation) als die einmal partiell scheinhafte, das andere Mal als die korrigierte. D ie Synthesis der Einstimmigkeit ist die des Unkorrigierten und  des K orri gi ert en, wobei freilich der weitere Lauf der Welterfahrung wieder, auf die jetzt geltende rückgreifend, Korrekturen üben mag (Eigentümliche Synthesis zwischen Unkorrigiertem und Korrigiertem). Dasselbe Objektive, dieselbe Welt – als synthetische Identitätsoder Kongruenzeinheit der aufeinander folgenden Evidenzen als eine Folge sich immer wieder in dem oder jenem korrigierender intentionaler Welten. Die Identität des Geltenden als Identität durch wirkliche und mögliche Korrektur ist ungebrochen und ist apodiktische Geltung. Eine Weltvorstellung, eine Evidenz des Inhaltes „Welt“, ist unmöglich, die in dieser Weise nicht übereinstimmte mit den vorangegangenen Evidenzen, die also hinsichtlich des identisch Seienden, derselben Welt, W i ederhol ungen sind. Allgemein: Neue Evidenzen vom Selben sind (für eine apodiktische Evidenz) nur in der Art möglich, dass sie „Wiederholungen“ sind, in der Tat immer wieder Evidenzen vom Selben, nicht aber Evidenzen, die das Nichtsein desselben evident machen und nur insofern Evidenzen gleicher „Materie“ sind. Sind es irgend fundierte Evidenzen, fundiert in Voraussetzungen, so sind, wenn dieser vorausgesetzte Boden da ist, die fundierten Evidenzen immer wieder herstellbar, in demselben Geltungssinn. Rückschauende Evidenz bloßer Wiederholung.

Beilage XXI Die zum Erfahrungssinn der Welt gehörige Überzeugung, dass die erfahrene Welt, obwohl das Sein alles Einzelrealen Sein auf Kündigung ist, doch ein Sein in sich trage1

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„Für möglich halten, dass das jetzt Evidente zweifelhaft oder nichtig wird“, das charakterisiert n i c h t - a p o d i k t i s c h e E v i d e n z; nicht-apodiktische Erfahrung charakterisiert: für möglich halten, dass im Gang der Er35 fahrungen solche auftreten, welche schon Erfahrenes, schon zur Kenntnis 1

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Gekommenes – und in Geltung Gebliebenes natürlich – wieder preiszugeben nötigen. Jede äußere E rf ahrung hängt noch in ihrer Geltung von späteren Erfahrungen ab; von ihnen hängt es ab, ob die schon begründete Geltung weiter Geltung bleiben wird. Das ist aber eine unaufhebbare Eigenheit jeder Erfahrung, wie lange ich gewartet oder wie viel spätere Erfahrungen ich durchgemacht und in Rechnung gezogen habe. Vorausgesetzt ist dabei: Erfahrungen habe ich (haben wir) immerzu, unser Leben als Wachleben ist immerfort gewesen und immerfort noch ein mannigfaltige Dinge erfahrendes Leben, immerfort gelten uns Dinge als seiend, immerfort haben wir ein Wahrnehmungsfeld; seiende Dinge als neue treten in dasselbe ein, andere treten aus, aber sie bleiben bis auf weiteres in Geltung. Also in jedem Moment (Gegenwart) haben wir ein aus unserer wirklichen Erfahrung her für uns seiendes Universum und immerfort ist von da aus mitvorgezeichnet anderes, was wir noch nicht erfahren hatten, was wir voraussichtlich erfahren werden oder in subjektiv tätigen, vom Ich her in seinen Richtungen dirigierten Erfahrungen erfahren könnten, mehr oder minder bestimmt. Aber es ist dabei doch so, dass das, was uns an jeweilig in Sonderheit seienden Dingen, Vorgängen etc. schon gilt, gleichwohl in den Zusammenhängen künftiger Erfahrung als nicht seiend oder nicht so seiend (und nicht etwa als bloß verändert) gelten muss. Die allgemeine Geltungsstruktur der Gesamterfahrung in jedes Erfahrenden Gegenwart ist zwar die gleiche und zu ihr gehört auch die Fortgeltung des jeweils einstimmig erfahren Gebliebenen, aber die Geltung ist eben Geltung auf K ündigung. Es gibt da kein endgültig für uns Seiendes in dem Sinne eines solchen, dessen Erfahrungsbegründung durch bisherige Erfahrung Endgültigkeit begründen könnte. Nun erhält sich aber im vorausgesetzt immer fortschreitenden Erfahrungsstrom raumweltlicher Erfahrenheiten nicht nur diese bisher vorgezeichnete formal allgemeine Struktur, sondern sehr viel mehr. Wir haben in Erfahrungsgeltung in jedem Moment koexistierend mannigfaltige, aber von Moment zu Moment immer wieder andere Dinge; und doch sagen wir, durch unser gesamtes waches Leben hindurch gehe das B ew usst sei n der ei n en u n d sel b en W el t, der diese wechselnden Dinge zugehören. Dieses Bewusstsein ist G el t ungsbew usst sei n, in dem seiende Welt als in unserer strömenden und gegenständlich wechselnden Erfahrung, synthetisch einheitlich genommen, erfahren ist. In jeder konkreten Gegenwart sind nicht nur ihre speziell erscheinenden Dinge und Dingfelder erfahren, sondern vermöge des mitgemeinten „Horizontes“ di e W el t – die Gesamtheit der von uns früher erfahrenen Dinge, aber auch der früher erfahrbar gewesenen, jedoch nicht erfahrenen, und ebenso das Künftige. Und in der Rückschau auf die früher uns geltende Welt vom Standpunkt der früheren Gesamterfahrung

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und Erfahrungsfortgeltung sehen wir, dass mancherlei damals Geltendes in der späteren subjektiven Zeit durchstrichen worden war und jetzt Geltendes die nicht leere Möglichkeit trägt, vielleicht künftig durchstrichen werden zu müssen. Das hindert uns aber nicht zu sagen, und zwar in der Evidenz der Gesamterfahrung im Durchlaufen der Synthesis, dass die eine und selbe Welt erfahren sei und vermöge dieser Erfahrung völlig gewiss sei, die eine und selbe, die immerfort gewiss sein wird, und dabei Weltvergangenheit, -gegenwart und -zukunft jeweils mitbeschließend. Im Sinne dieses E rf ahrungssi nnes unserer Welt liegt, dass Erfahrung i m m er so lief und immer so laufen wird, dass nicht alle ihr jeweilig geltenden Dinge sich in Schein verwandeln können durch Widerstreit mit anderen fest geltenden Dingen, die dann ihrerseits sich wieder in Schein verwandeln würden und so in infinitum, dass es also nicht sein könnte, dass in keiner subjektiven Gegenwart und Vergangenheit ein für immer standhaltendes Sein übrig bliebe. Das hieße, dass die Welt, die jetzt für mich Gegenwart hat, ohne eine Vergangenheit für mich, für uns wäre, und dass ihre Gegenwart keine Fortgeltung schlechthin und überhaupt keine Zukunft haben könne. Z ur uni versal en E rf ahrung gehört der Si nn einer, dieser immerfort seienden W elt, einer W elt „ unendlicher “ Vergangenheit und Zukunft, einer Welt, die die Form universaler Zeitlichkeit hat. – Und nota bene: Es ist unsere E rfahrungswelt. Es liegt darin die beständig offene Möglichkeit von Schein, offen für jedes uns jeweils als seiend Geltende, die beständig offene Möglichkeit, dass das, was vor der Durchstreichung als Schein bewahrt ist, also in Seinsgeltung sich erhält, doch in seinem erfahrenen Sosein anders sich zeigt, als es vordem gelten musste. Und doch, wie sehr der Gang der Erfahrung durchstreicht und anders bestimmt, es ist ein G ang der K orrekt ur, der in sich die E rf ahrungsüberz eugung trägt als konstitutiv für die Einheit der Welterfahrung, dass die jeweils erfahrene W elt in sich w ahres Sein t rage, dass der Erfahrungsprozess in sich selbst nicht bloß nutzlose Korrektur, sondern auch wirkliche Korrektur vollziehe und dass wir, mit unseren freien erfahrenden Aktionen eingreifend, uns vom wirklich Seienden überzeugen können, obschon doch wieder nicht apodiktisch dessen gewiss, nicht doch im Einzelnen desavouiert zu werden. Erfahrung von Realem ist eine Grundform von „Evidenz“, von Erfahrung eines Gegenstandes selbst oder, von ihm her gesprochen, als originale Selbstgebung eines Gegenstandes. Aber diese Selbstgebung bedarf der verstehenden Auslegung, was in ihr eigentliche und uneigentliche Selbstgebung ist, was sie über einen Bestand von eigentlich Selbstgegebenem hinaus präsumiert und wie Präsumtion auch schon den Sinn dieses eigentlich Selbstgegebenen mitbestimmt; und erst diese Auslegung kann die Tragweite der Geltung in Bezug auf eine mitpräsumierte Idee der objektiven Endgültigkeit ermöglichen.

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Mit der Erfahrung von R ealem in eins ist die Welterfahrung Problem; beide sind voneinander untrennbar. Sie bedarf nach ihrer Sinnesund Seinsleistung (der Leistung, eine bleibende Seinsgeltung für die Welt beständig und unzerbrechlich gewiss zu machen) einer Auslegung, und zwar einer originalen, einer „phänomenologischen“ Auslegung, einer Auslegung aus einer andersartigen Evidenz, als es die Welterfahrung selbst ist. In ihr lebend und auf die in ihr evident werdende Welt hinschauend, sie dabei als erfahrene Welt allseitig zur Evidenz bringend (also die Evidenz vervollkommnend), gewinnen wir „W eltanschauung“. Genauer gesprochen: Anschaulich gehen wir den Möglichkeiten der Welterfahrung nach, die von der wirklich gegenwärtigen Erfahrung vorgezeichnet sind, wir konstruieren eine allgemeine Vorstellung von dem, was der Welt – und allgemeiner einer Welt als solcher – notwendig, eigenwesentlich ist. Hierbei ist die Welt bzw. eine allseitig evident werdende Welt in ihren generellen Eigenheiten das Thema. Es bedarf aber einer korrelativen und neuartigen Forschung, in der wir die Erfahrungen (Gegebenheitsweisen) von der Welt, die Mannigfaltigkeiten, in denen Welt als dieselbe erfahren ist, und schließlich die des konkreteren erfahrenden Lebens überhaupt, in dem sie es ist, zum Thema machen. Das gehört zum Wesen welterfahrender Subjektivität überhaupt, aber es ist danach Welterfahrung, der subjektive zeitliche Verlauf der konstituierenden Zusammenhänge, in denen andere Subjekte und durch sie Welt erfahren wird, vorausgesetzt. Ob Subjektivität wesensnotwendig weltkonstituierend sein muss („Welt“ in unserem Erfahrungssinn verstanden), ob nicht denkbar zu machen wäre, dass trotzdem also diese eine Welt gar nicht wäre, ist eine andere Frage. Das Nichtsein der Welt wie jedes Nichtsein muss seine Evidenz in einem Widerstreit gegen wirkliche Evidenz zeigen. Für jenes Subjekt „ist keine Welt“. Das „ist keine konstituiert“ das ist nicht einerlei mit „es ist keine Welt“, im Besonderen „nicht unsere Welt“. In unserer Welt sind wir selbst für uns und für andere weltlich als Menschen konstituiert und es ist nicht ausgeschlossen, dass darin Subjekte sind, für uns als tierische erkennbar, als Subjekte eines Lebens also, in denen vielleicht keine Welt konstituiert ist. Jedenfalls im Voraus kann man darüber nichts sagen, nicht einmal, wie weit die Denkbarkeit reicht. Es ist ein Problem der Wesensauslegung möglicher Abwandlungen unseres Ego. Das Sein einer Intersubjektivität transzendentaler Subjekte setzt bereits (und wohl auch schon das Sein einer Mehrheit solcher überhaupt) Weltkonstitution voraus, und in einer sie betreffenden Weise, die eben der Auslegung und Begrenzung bedarf. Die re l a t i v e Ap o d i k t i z i t ä t, welche das Sein der Welt betrifft, steht natürlich in nahem Zusammenhang mit der relativen Apodiktizität, die ein-

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zelnes Erfahrenes insofern betrifft, als es zweifellos ist, dass ein realer Schein als Scheinreales im Raum irgendein Reales jedenfalls hinter sich hat, mindestens leeren Raum, der nicht nichts ist, obschon kein Raumding.

Nr. 24 Meditation über d ie Apodiktizität des Ich-bin und inwiefern sie Welthabe als apodiktisch in sich birgt1 5

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In der natürlichen Selbstbesinnung, in der schlichten Reflexion auf mich selbst, finde ich mich als Menschen vor. Dieses Vorfinden ist kontinuierliche Selbstwahrnehmung in nie gebrochener Seinsgewissheit: Es ist Selbstapperzeption. Das eigentlich wahrnehmungsmäßig Gegebene betrifft mein gegenwärtiges menschliches Sein, obschon nur in einem Bestand desselben; darüber hinaus reicht der Geltungshorizont in die mir nicht jetzt wirklich und eigentlich gegenwärtigen Momente meines gegenwärtigen Seins. Desgleichen ein Horizont meiner Vergangenheit und Zukunft. Aber untrennbar von meiner Selbstgegenwart ist die wahrnehmungsmäßige Gegenwart meiner Umwelt und damit der gegenwärtigen Welt überhaupt. Die Reflexion auf mein Menschsein ist nur ein unselbständiger Modus innerhalb meiner totalen Weltwahrnehmung in ihrer Struktur eigentlicher Wahrnehmung und mitapperzipierter Horizontgeltung, die auch Weltvergangenheit und -zukunft befasst. Ich bin jeweils für mich wahrnehmungsmäßig seiender Ich-Mensch in der wahrnehmungsmäßig seienden Welt, auch wenn ich nicht, auf mich reflektierend, mich thematisch mache und auch wenn ich nicht meinen thematischen Blick auf die Welt als Totalität richte, sondern etwa mit irgendeinem besonderen Realen sonst beschäftigt bin. Und das sehe ich, erkenne ich von der Ich-Reflexion aus, mich einlassend in ihren eigenen Vergangenheitshorizont, auf mein Weltbewusstsein, so wie ich es vor dieser Reflexion hatte. Während ich nun reflektierend thematische Selbsterfahrung habe, habe ich von mir als Thema thematische Seinsgewissheit und ich sage nun: Mein F ü r- m ich - S ein, mein Sein, das ich in dieser Selbstwahrnehmung in Geltung habe, ist apodiktisch. In welchem Sinn kann das wahr sein? 1) Zunächst m ein S o sein . Die Eigenschaften, die ich mir, dem selbstwahrgenommenen Ich zumesse, sind keineswegs ohne weiteres als apodiktisch gewiss in Anspruch zu nehmen. Ich komme ja nicht 1

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selten dazu, in Hinsicht auf diese oder jene meiner Eigenschaften zweifelhaft zu werden und sie mir eventuell abzusprechen. Und doch ist es für mich vorstellbar, dass ich, während ich Selbstwahrnehmung von mir habe, mein Sein bezweifeln oder negieren kann. Ich kann den Z w eif elsversu ch machen oder den An sat z, ich sei nicht: Aber meine Selbstwahrnehmung und Selbstgewissheit hält ungebrochen stand und zu meinem Sein als dem Selbstwahrgenommenen gehört nur als neues Moment, als neuer Akt des Ich, dieser Zweifels- oder Negationsversuch. 2) Zu meinem menschlichen Sein gehört m ein Kö rp er, und zwar zu meinem ständig wahrnehmungsmäßigen Sein, aber auch m ein p erso n ales S ein, das ich nicht als bloß körperliche Eigenschaft unter anderen ansehen kann. Ich bin menschliche Person, die ständig ihren Körper, diesen einen, einzigen zu eigen hat. Aber was besagt dieses Zu-eigen-Haben? Zu meinem personalen Sein, meinem Sein als Mensch gehört als eigenwesentliche Bestimmung (als solche, worin mein Ich-Sein sich auslegt) mein „Ich erfahre“, „Ich nehme wahr“, „Ich erinnere mich“, „Ich fühle“, „Ich denke“ usw. und damit eo ipso das Wahrgenommene als solches etc. Während ich nun in Selbstwahrnehmung bin (in dieser Weise seiend für mich selbst originaliter bin), nehme ich nicht nur meinen Leib wahr, bin ich selbst nicht nur Leib-Wahrnehmender, sondern bin auch andere Körper, jeweils ein ganzes Wahrnehmungsfeld mit jeweils wahrgenommenen Körpern wahrnehmend. Überhaupt, während ich in Selbstwahrnehmung meiner als IchMensch gewiss bin, bin ich in meinem Bewusstseinsleben als einem solchen, worin ich des Seins der Welt gewiss bin, von der ich jeweils einen Kernbestand in der Weise der Wahrnehmung (hinsichtlich ihrer Gegenwart) und der Erinnerung (hinsichtlich der anderen Weltzeitmodalitäten) in aktueller Erfahrung habe. Diese Weltgewissheit ist aber so beschaffen, dass jede darin beschlossene und sich aktivierende Seinsgewissheit einzelner Realen zweifelhaft und eventuell als nichtiger Schein „aufgegeben“ werden kann. Jeder in diesem universalen Geltungssinn „Welt“ enthaltene Seinssinn oder Geltungssinn „Reales“, „Objekt“ hat als Kern einen Seinssinn „Körper“ und mit ihm Stelle in der Raumzeitlichkeit. Die auf ihn bezogene Struktur der Erfahrung („sinnliche Erfahrung“) lässt prinzipiell die Möglichkeit der Modalisierung offen. Schon damit ist gegeben, dass kein

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mir als wirklich Seiendes gewisses Objekt – und selbst wenn diese Gewissheit aus einstimmiger Erfahrung ihre Evidenz gezogen hat – vor der Möglichkeit behütet ist, dass es schließlich doch Schein sei, nicht sei. Zur Objektwelt, der Welt, die mir, dem sich als Mensch Besinnenden, ständig gewiss ist, gehört als ein einzelner Körper auch mein körperlicher Leib. Muss das Gesagte nicht auch von ihm gelten? Ist es nicht möglich, dass mich meine sinnliche Erfahrung von seinem Sein täuscht, derart, dass ich mir vorstellen kann, dass der Fortgang dieser Erfahrung zur Evidenz des Nichtseins wird, des sich im Widerstreit Vernichtens? Aber dann wäre ich doch nicht ich, dieser Mensch, ich, der ich in der Welt als verleiblichtes Ich bin, als das ich mich in der Selbstbesinnung, der Selbstwahrnehmung doch ständig vorfinde. Oder macht mein Leib eine Ausnahme?1 Faktum ist, dass ich aktiv in Selbstwahrnehmung auf mein Sein reflektierend Seinsgewissheit meines Leibes habe und in jeder Erinnerung habe und im Voraus erwarte zu haben. Gelingt mein Versuch, mir den Fortgang dieser sinnlichen Erfahrung zu erdenken in einer Weise, die zur Evidenz der Nichtigkeit führen könnte? Natürlich gelingt das nicht, da ich reflektierend mich als Mensch finde und nun, mir Möglichkeiten der Erfahrung anschaulich vorstellig, also als Möglichkeiten evident machend, mein Menschsein ständig festhalte und es nur so weit abwandle, als es meinen Leib als anders beschaffen seienden vorstellig macht, aber doch innerhalb meiner Menschlichkeit, also während er in ihr als Einheit einstimmiger Leiberfahrung mir verbleibt. Während dieser Selbsterfahrung als menschliche Person bin ich „seelisches“ Ich meines weltwahrnehmenden, Welt in Seinsgewissheit habenden Lebens; dabei gehört zu meinem spezifisch personalen Sein als Sein im Bewusstseinsleben auch das ständig einheitliche Wahrnehmen des Seinssinnes „Leib“ in ungebrochener Seinsgewissheit. Die Frage, die sich hier aufdrängt, ist die, ob es dann nicht möglich sein sollte, die Selbstwahrnehmung des personalen Seins inhaltlich so abzuwandeln, also ein mögliches personales Sein als Gegenstand einer möglichen solchen Selbstwahrnehmung zu erdenken, dass dadurch das personale Ich (die Seele) entbunden würde von der kon1

Wie steht es dann mit der Apodiktizität meines Seins, die ich glaubte behaupten zu dürfen?

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sequenten Einstimmigkeit der Leiberfahrung. Ist das Ich etwa so möglich, dass das Ich, dieses mein Ich, das sich als Seelisches meines Leibs erfuhr, nunmehr als Ich vorfindet, das seine Wahrnehmungsgewissheit von diesem Körper verlor, ihn als Schein findet? Indessen, das erkenne ich als unmöglich, sowie ich in der reflektiven Selbstwahrnehmung die Wesensstruktur des personalen Ich als Bewusstseins-Ich auslege, das in seinem Bewusstseinsleben ständig und erfahrend Weltgewissheit hat. Solange ich mich in Selbstwahrnehmung als menschliche Person vorfinde und vorfinden kann, rein auf mein Ich-Sein als Ich im Bewusstseinsleben den Blick richtend, habe ich in diesem Bewusstsein Welt bewusst und ständig in Seinsgewissheit. Zum Strom dieses Weltlebens gehört hinsichtlich der Einzelrealen, die in Seinsgewissheit mir gelten, die mögliche Modalisierung. Aber wie die nähere Auslegung zeigt, kann dies nur eintreten, also Seinsgewissheit auch in Gewissheit des Nichtseins sich nur wandeln, aufgrund von realen Seinsgewissheiten. Dafür kann auch gesagt werden: Nur auf dem Boden fortgehender Weltgewissheit ist für Einzelreales Zweifel und Nichtsein möglich. Erfahrung von Realem ist nichts Isoliertes und als das auch nicht erdenkbar; sie ist nur denkbar als Komponente einer Welterfahrung, die der Grund und Halt für alle Möglichkeiten der Modalisierung von Einzelerfahrungen ist, während sie selbst nicht modalisierbar ist. So ist Welt für mich ständig geltend in Seinsgewissheit, während doch ihr Gehalt an Einzelrealen, der jeweils faktisch für mich gilt, in seiner Geltung niemals apodiktisch feststeht und die Erhaltung der Weltgewissheit sich kennzeichnet als Erhaltung derselben unter ständiger Andersbestimmung im Sosein und unter sonstiger Korrektur, die auch das einzelne Wirklichsein selbst betrifft. Wie immer ich mich umfingiere als personales menschliches Ich, ich bleibe also welthabendes und weltlich lebendes in dieser Struktur. In diesem Weltbewusstsein bzw. seinem ständig, obschon strömend sich wandelnden Kernbestand „Welterfahrung“ hat aber mein Leibbewusstsein eine ausgezeichnete Stellung und Funktion. Das sagte ich schon: Solange ich personales Ich in Selbstwahrnehmung bin (zunächst im aktiven Vollzug der Selbstreflexion, dann auch inaktiv, meiner selbst wahrnehmungsmäßig bewusst, aber nicht auf mich thematisch gerichtet), kann in meinem Bewusstseinsleben als Weltbewusstseinsleben die Wahrnehmung meines Leibes nie fehlen und

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demnach in keiner Selbsterinnerung die Erinnerung an ihn, d. i. sein von mir Wahrgenommensein. Es kann aber auch nicht fehlen mein kinästhetisches Tun, mein Walten im Leib als das wahrnehmende leibliche Geschehen, das dem Leib den geistigen Sinn „Leib“, „Organ“ und „Organsystem“ gibt und zunächst „Organ aller weltlichen Wahrnehmung“. Nichts kann ich wahrnehmen, ohne dass ich leiblich waltend dabei bin. Und damit hängt zusammen die wundersame Eigentümlichkeit der Wahrnehmung des Leibes als Leibwahrnehmung durch Leibesfunktion selbst und die Struktur der erscheinenden Welt als um den Leib herum orientiert: also in der Form „mein Leib und unsere leibliche Welt“. Bin ich menschliches Ich, so bin ich es als Ich dieses einzigen Leibes, in dem ich walte, und waltend habe ich nicht nur ihn selbst, sondern durch ihn Welt überhaupt als für mich seiende und in weiterer Folge Welt als Reich meiner wirklichen und vermöglichen Praxis. Personal in der Welt leben, also Welt haben und in die Welt hineinwirken auf der einen Seite und leibliches Sein, IchSein und ichlich in seinem Leib Walten auf der anderen Seite, das ist eine notwendige Korrelation, eins vom anderen untrennbar. Also während und solange ich in Selbstwahrnehmung bin, also für mich selbst bin in Originalbewusstsein, so lange habe ich Weltgewissheit, ist für mich seiende Welt da und in dieser mein Leib als das Organ, wodurch alles andere, was für mich als weltlich Reales ist, erfahrbar ist und Erfahrungssinn hat, somit überhaupt Seinssinn. Das ist eine Wesenssachlage, d. h. jede phantasiemäßige und evident durchgeführte Umdenkung meines menschlichen Seins, die diese Menschlichkeit als solche erhält, zeigt diese selbe umschriebene Wesensstruktur. Wie steht es nun mit der Apodiktizität des „Ich bin“, während ich in Selbstwahrnehmung bin, wie ich es als waches Ich, als reflektierendes oder reflektieren könnendes, eo ipso bin? Selbstwahrnehmung übend, als dieser Mensch selbst mich findend, bin ich personal, ichlich diesen Körper als meinen Leib habend und so überhaupt Welt habend. Das Haben besagt für den Leib: Richte ich auf mein Ich rein als Ich und auf sein Leben rein als Ichbewusstseinsleben den Blick, so sehe ich, dass den Leib Haben mein Wahrnehmen ist, worin ich diesen Körper in Seinsgeltung habe und im Bewusstsein des altvertrauten und dessen, worin ich jetzt aktuell, aber im Rahmen einer altvertrauten Weise, habituell walte. Nur darin besteht für mich Leib als Organ, wodurch ich Welt überhaupt habe. Diese selbst ist

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die in meinem weiteren und ganzen Bewusstseinsleben, worin mein Leibbewusstsein bloße Komponente ist, konstituierte Seinsgeltung „Welt“ – in näheren synthetischen Strukturen, die erst auszulegen wären. Dazu gehört auch das durch leibliches Walten vermittelte einfühlende Erfahren von Anderen und von da aus die Konstitution der in meiner personal eigenen Sphäre konstituierten primären Erfahrungswelt als Welt für alle, die von mir aus durch Einfühlung erfahrbar sind, für mich Mitsubjekte sind. Habe ich damit viel gewonnen? So viel, dass ich schon sehe: Richte ich den Blick auf mich und rein auf mein Bewusstseinsleben mit den in ihm rein wurzelnden Habitualitäten als verharrenden Eigenheiten des Ich in ihm selbst, so ist es apodiktisch evident, dass, solange dieses Leben die eigenwesentliche Form eines menschlich-personalen hat – also in Korrelation einerseits in sich Leiblichkeit als Organ der Erfahrungswelt und des praktischen Weltlebens in Erfahrungsgeltung hat und andererseits eine raumzeitliche Welt, ein Universum raumzeitlicher Realitäten –, es ebenso lange unmöglich ist, dass mein Leib nicht sei. Die Möglichkeit, dass mein Leib nicht sei, besagt ja für mich die Vorstellbarkeit, dass meine Leiberfahrung unstimmig wird und so, dass ihre Seinsgewissheit zur Evidenz des Nichtseins wird. Aber damit wäre eine Wandlung in meinem personalen Bewusstseinsleben bezeichnet, durch die es seine menschlich-seelische Wesensgestalt verlöre. Der seiende Leib, der für mich Seinssinn habende, und die seiende Welt, die jeweils und fortdauernd für mich Seinssinn hat, sind nichts anderes als Korrelate derjenigen seelischen Seins- und Lebensstruktur, die mein menschliches Ich in seiner eigenwesentlichen Reinheit ausmacht. Es ist ein vollkommner Widersinn, dass in dieser Korrelation das eine Glied sei, das reine Ich in der Reinheit seines Bewusstseinslebens und seiner ichlichen Habitualität, das Glied, das „menschliche Seele“ heißt, und dass das Korrelat nicht sei oder „ganz anders“ sei, von völlig unbekannter Art sei und dgl. Wir können demnach auch sagen: Der cartesianische Dualismus, der traditionelle Realismus, der personales Ich (als Seele) von der körperlichen Welt und unserer seelischen Welt überhaupt trennt und für die intentionale Korrelation blind ist, ist widersinnig. Aber wie steht es nun mit der Apodiktizität des „Ich bin“, während ich in Selbstwahrnehmung bin? Ist es a priori notwendig, dass ich

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Mensch bin, also dass mein reines Ich in seinem Bewusstseinsleben die Gestalt hat, so verläuft und früher so verlief, so intentionale Seinserwerbe schaffend, dass Welt als Korrelat für mich ist und dann natürlich dass für mich mein Leib konstituiert ist als Wahrnehmungsorgan, als Organ eines durch die konstituierten Seinseinheiten motivierten weltpraktischen Lebens? Ist eine Abwandlung meines reinen IchSeins denkbar, in der ich, obschon in Abwandlung meines faktischen menschlich-personalen Seins noch ich, dasselbe Ich, wäre, aber nicht mehr menschliches, nicht mehr Person eines Leibes und dadurch für mich selbst psychophysisch objektiviert seiend in der Welt, durch Beziehung auf die bleibend konstituierte Leiblichkeit mitlokalisiertes Ich in der Raumzeitlichkeit? Das sind Fragen, die nicht so leicht zu beantworten sind. Aber bleibt nicht jedenfalls dies, dass ich in Selbstwahrnehmung meiner selbst p ersonal apodiktisch gewiss b in, nämlich so weit, dass diese Selbsterfahrung, wie viel auch in den mir zugegoltenen Bestimmungen modalisierbar ist, doch h in sich t lich d es Ich - Po ls und der u roriginalen B estände prinzipiell n ie modalisierb ar ist? Jedes Sich-Umdenken der Selbstwahrnehmung, soweit es irgend Erdenkliches ergibt, ergibt notwendig abermals, vergegenwärtigend, einen möglichen Bestand uroriginalen Für-mich-Seins, einen Ich-Zustand, auf den reflektierend ich finde, dass ich in ihm für mich selbst uroriginal wäre und als dasselbe Ich, das ich jetzt wirklich bin. Ein Zweifelhaftsein, ein Nichtigsein in evidenter Ursprünglichkeit ist hier ein Widersinn. Sinngemäß ist es ein Bewusstsein, auf das reflektierend ich meiner selbst als in ihm seiend innewürde. Diese apodiktische Evidenz entspringt in ausschließlicher Einstellung auf mein personales, mein rein ichliches Sein, auf mein Sein als Ich der Intentionalität. Die Ausschließlichkeit der hier fraglichen Einstellung muss nun wohl überlegt werden. Es ist eine Einstellung der Reflexion, in der ich ausschließlich in Seinsgeltung setze und in Seinsgeltung halte, was ich in der Reflexion als seiend vorfinde. Wenn ich, als mein methodisches Tun aussprechend, von mir spreche, von meinem entschlossenen Vorhaben und Ausführen, so werde ich als Ich dieses reflektierenden Geschehens thematisch, dank einer neuen Reflexion, die nicht vermengt werden darf mit der ersten Reflexion, in der ich als reflektierendes Ich mit meinem entsprechenden Tunwollen und Tun

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sowie der habituellen Entschlossenheit zu konsequenter Reflexion, anonym bleibe. Dass das der Fall ist, ist selbst Ergebnis einer neuen Reflexion, so dass ich davon zunächst nichts wissen darf. Indessen, zum konsequenten Reflektieren und zum Habituellen des Entschlossenseins, immerfort und ausschließlich das reflektiv sich Darbietende in Geltung zu setzen und zu behalten, gehört eben auch dies, dass ich Reflexionen höherer Stufe in ihrer iterativen Vermöglichkeit in das Feld – das alsbald in seiner offenen Endlosigkeit sich eröffnende – frei möglicher, zulässiger reflektiver Geltungen einbeziehe. Doch jetzt bedarf es der Neuüberlegung hinsichtlich der „Ausschließlichkeit“ der reflektiven Haltung als Haltung im Gelten sowie hinsichtlich der Ordnung der einzelnen Reflexionsakte und der Festlegung, Setzung der in Seinsgewissheit auftretenden Themen (Gegenstände dieser Akte). Vollziehe ich im natürlich-naiven Weltleben Reflexionen auf mich (wie wenn ich auf mich sozusagen ausdrücklich den Blick richte) und auf mein erfahrendes oder sonstiges Erleben und Tun, so wird dabei zwar thematisch das Ich und sein spezifisch Subjektives, aber so, dass zugleich auch das, worauf das Ich in seinem Bewusstseinsleben bezogen ist – zum Beispiel in der Reflexion auf das „Ich nehme wahr“ das Wahrgenommene – thematisch wird bzw. thematisch bleibt. Überlegen wir genauer, so wird es uns klar, dass in allem natürlichen, wachen Ichleben als einem in Aktionen und Affektionen des Ich verlaufenden Bewusstseinsleben der jeweilig einzelne Akt, das einzelne Affiziert-, von umweltlichen Gegenständen „Gereizt“-, im Gefühl Berührt-Werden nichts Isoliertes ist und ebenso wenig die Kette der jeweilig aufeinander folgenden und sich verflechtenden Akte und Affekte. Achten wir der Einfachheit halber nur auf Akte, so ist in ihnen das Ich in verschiedenen Weisen gerichtet auf etwas (aktive Intentionalität, Intentionalität im engeren Sinn), aber jedes solches Sich-Richten hat immer schon und notwendig seinen Horizont, nämlich der „Gegenstände“; das Worauf des Aktes ist aktuelles Thema aus einem universalen Gegenstandsfeld, mit Gegenständen, die nicht aktuell gegenständlich sind, aber bewusstseinsmäßig mitgeltend als Potentialitäten einer aktuellen Thematisierung. In der natürlichen Einstellung ist die Welt das Universalfeld aller IchAktivität und die universale Stätte der Affektionen, der Motivanten zu neuen Zuwendungen, neuen Akten, Beschäftigungen.

Nr. 25 Die apodiktische G ewissheit meines menschlich-leiblichen Seins als Teil der apodiktischen Gewissheit d es Seinsbodens „ Welt “. Zurückweisung des cartesischen Zweifelsversuchs1

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Ich setze voraus (es ist die Bodengewissheit für alle weiteren Überlegungen, obschon nicht explizit als das ausgesprochen): In d er Welt – schon im Ausdruck liegt, dass ich der Welt gewiss bin – b in ich ein Mensch unter sonstigen Dingen, deren jedes seine Stelle hat (Orts- und Zeitstelle) in der universalen Raumzeitlichkeit. Zu mir als Menschen gehört, wie zu jedem Menschen, dass ich von mir selbst und von anderen Dingen der Welt Erfahrung habe, näher Wahrnehmung als Bewusstsein, als Gewissheit des Unmittelbar-für-mich-da. Von vergangenen Dingen habe ich Erinnerung, so wie sie für mich wahrgenommene waren und als das für mich in Gewissheit selbst da, und zwar in der anschaulichen Erinnerung in der Weise einer Gewissheit, in der ich direkt das Selbst-Dagewesene gleichsam wiedersehe, es als es selbst wieder „vergegenwärtige“. Ich bin auch im Voraus gewiss, von Dingen, die ich direkt wahrnehme oder von denen ich sonst in dergleichen Weisen der Selbstvergegenwärtigung unmittelbar erfahrende Gewissheit habe als gegenwärtigen, vergangenen oder künftigen, eine direkte Erfahrung gewinnen zu können; ich kann vom wirklich Erfahrenen aus Zugangswege zu Nicht-Erfahrenem finden, von dem ich zunächst eine vage, eine mehr oder minder unklare, leere Vorvergegenwärtigung habe. Ich setze voraus, dass ich ferner in all dem mitunter die Seinsgewissheit, die ich von dem Erfahrenen habe und von dem indirekt, vorgreifend Vermeinten, nicht festhalten kann, dass sie in Zweifel und eventuell in die Gewissheit des Nichtseins oder Nicht-Soseins sich wandelt. Dabei ist auch im Voraus selbstverständlich, dass ich – auch wo ich noch nicht zweifle und so überhaupt – eine Seinsgewissheit der Nachprüfung unterziehen, das Sein und Sosein des dabei Vorstelligen in Frage stellen und Wege zu 1

Mai 1937.

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einer bewährenden oder entwährenden zweifellosen Entscheidung suchen kann, im Voraus dessen gewiss, dass entweder das Vorstellige und mir bisher als Sein Geltende in „Wahrheit“ oder „wirklich“ ist, nämlich endgültig, ein für alle Mal entscheidbar, oder endgültig nicht ist, als mit endgültig entscheidbar Seiendem in Widerstreit. Über all dergleichen Selbstverständlichkeiten mache ich im Leben keine langen Reden, aber praktisch verfüge ich doch über sie und bringe Einzelnes davon, meist nur implizit andeutend, zum Ausdruck, wie wenn ich etwa, zweifelhaft werdend, sage: „Etwas stimmt da nicht – was spricht dagegen?“ (Womit streitet meine Überzeugung, meine Erinnerung, eventuell auch diese Wahrnehmung? – Und dann natürlich nach dem, was über das eigentlich Wahrgenommene hinaus in der Apperzeption des daseienden Dinges, Vorgangs etc. in Mitgeltung ist.) Im Weltleben ist da beständig ein Bo d en vo n selbstverständlichen, stillen Überzeugungen, und genauer überlegt, ist es klar, dass die beständige Seinsgewissheit der Welt mit den Dingen, mit all dem Realen, das ich in unaufhörlichem Wechsel im Leben in Jeweiligkeit als daseiend, als Welt ausmachend in Geltung habe, mit der Sicherheit, dass Welt ein Un iversu m w irk lich er, in en t sch eid b arer Wah rh eit seien d er D in ge ist, sich in Aussagen der Art, wie ich sie früher in höchst unvollständiger Weise ausgesprochen habe, analytisch auseinanderlegt. Es ist nun auch offenbar, dass zu solchen, die Weltgewissheit, die ich habe, auslegenden (also bloß „analytischen“) Aussagen notwendig mitzuzählen ist die folgende: Was zur wirklichen Welt gehört, ist mir jeweils nur in einem kleinen Umfang bekannt, im Übrigen ins Endlose unbekannt, obschon der Umkreis des schon Bekannten sich unwillkürlich oder willkürlich ständig erweitert. Zunächst gilt das schon von der Sphäre aktuell erfahrener Dinge gegenüber den unerfahrenen, was hervorzuheben ist, weil offenbar alle Bewährungsfragen hinsichtlich des in der Welt Seienden mich zurückführen auf Erfahrungen, obschon Erfahrung ohne weiteres nicht schon endgültig die Wirklichkeit erweist. Nun ist aber der Umkreis d es aktuell Erfahrenen – ein in ständig strömender Bewegung veränderlicher Umkreis, so Verschiedenes da immer wieder auch anders ist – erfahren in unmittelbarer Seinsgewissheit; aber dieser Umkreis ist so beschaffen, dass er u n t er allen U m st än d en mein menschliches, mein leiblich-personales D asein unter den Erfahrungsgegebenheiten hat, und nicht nur das. Obschon

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ich mich wie über anderes, so auch über mein menschliches Sein in beiderlei Hinsicht täuschen kann, es kann unmöglich dazu kommen, dass ich die Wirklichkeit meines Leibes und meiner Seele, überhaupt mein menschliches Sein in der Welt bezweifelte etc.1 Andere Dinge, die ich erfahre, können sich trotzdem hinterher als Illusionen erweisen, als mit den wirklich und endgültig erweisbaren Dingen in Widerstreit. Es ist aber undenkbar, dass mein Leib und dass mein personales Sein, mein Sein als Mensch, ganz und gar als ein Schein sich herausstellte – auf dem Boden der mir als wahr und wirklich seiend geltenden Welt. Von m einem m enschlichen S ein h abe ich – auf d iesem B oden – apodiktische G ewissheit. Offenbar hängt das damit zusammen, dass die Erfahrung jedes anderen Realen der Welt in einer unablösbaren Weise die an jeder solchen Erfahrung notwendig beteiligte L eib essin n lich k eit vo rau sset zt, also, wenn auch unausgesprochen, die Gewissheit von meinem Leib voraussetzt, eben als in allen Dingerfahrungen fungierend. Genauer besehen ist aber dieses Mitfungieren nicht erfahren, so wie sonst ein körperliches Geschehen erfahren ist, sondern als in b es onderer Weise su b jek t iv, nämlich: Ich erfahre meinen Leib in ganz einzigartiger Weise und erfahre ihn, als in welchem ich Kinästhesen dirigiere, in deren Mitfolge dingliche Aspekte verlaufen u. dgl. Doch die genauere Auslegung führt auf nicht geringe Umständlichkeiten. Es genügt, auf diese Erfahrungs- und Geltungszusammenhänge den Blick hinzuleiten und dabei, wenn auch nur im Allgemeinen und vorläufig, verständlich zu machen, dass der versuchsmäßige Ansatz einer Möglichkeit der Verwandlung des eigenen leibseelischen Seins, so wie es in der schlichten Selbsterfahrung gegeben ist, in einen Schein, die ganze Welt in einen Schein verwandeln müsste – während wir in allen diesen Auslegungen die Welt als selbstverständlich seiende, als Bodengewissheit haben, so wie sie im natürlichen Dahinleben uns je fraglos gilt. In dieser seienden Welt sind wir, bin ich, der Erfahrende, Erkennende, Wertende, Handelnde, kurz: der lebendige Mensch, immerfort das Zentrum; sie ist als meine Erfahrungswelt immerfort und notwendig u m m ich h eru m o rien t iert – was übrigens wieder einen großen Titel für Auslegungen bezeichnet.

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Die Täuschung kann nur mein Sosein betreffen.

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Haben wir uns dieses Sein der Welt als Vorgegebenheit in unserem Weltleben, rein analytisch auslegend, klar gemacht, oder genauer als Vorgegebenheit meines menschlichen Lebens, und uns klar gemacht – als darin beschlossen –, dass zum analytischen Bestande dieser Welt ich als Men sch gehöre, mir inmitten der Welt direkt vorgegeben, vo rgegeben als Mensch, der erfährt, denkt, handelt etc. – in der Welt –, so wird uns die Betrachtungsart doch sehr bedenklich, in welcher nach dem Vorgang von D escart es ein reines Ich und reines Bewusstsein in apodiktischer Gewissheit gewonnen werden soll, als Fundament, von dem aus allererst auf das wirkliche Sein und Sosein aller Dinge und so einer Welt geschlossen werden muss – geschlossen, d. i. die reine Selbsterkenntnis ist letzte Prämisse für alle streng begründbaren Welterkenntnisse. D escart es gewinnt das reine Ego und sein reines Bewusstseinsleben durch seine Methode eines ins Universale ausgespannten Zweifels, er konstruiert ein Universum des Zweifelsmöglichen und macht den hypothetischen Ansatz, dass dasselbe, total gefasst, nicht existierte. Er glaubt, damit die Möglichkeit des Nichtseins der Welt herausstellen zu können, der Welt, die mir, die dem Erkennenden jeweils naiv gewiss ist; und im Kontrast dazu ergibt sich die Apodiktizität des Ich als Subjekt d es Weltbewusstseinslebens, dessen, wo rin Welt naiv gewiss war. Wenn die Welt nicht wäre, so wäre ich doch. Wenn ich die ganze Welt ihrem Sein nach bezweifeln kann, und das kann ich, wenn sie von mir als m ö glich erw eise n ich t seien d anerkannt werden muss, so ist doch unzweifelhaft dies, dass ich sie bezweifle, dass ich bin. Ich bin, ob sie ist oder nicht ist. Indessen, es ist nachzuweisen, dass von vornherein d er Rek u rs auf Zweifelsmöglichkeiten, als Möglichkeiten des Nichtseins, das S ein d er Welt voraussetzt. Zum Sein der Welt selbst, als der mir ständig geltenden in natürlicher Einstellung des Lebens, gehört, wie ihre analytische Auslegung zeigt, dass ich, der ich sie ständig in Geltung habe, ih r selb st notwendig zu geh ö re. Ihrer gewiss, bin ich auch meiner gewiss, und zwar als zu ihrem Realitätenbestand n o t w en d ig gehörig. Notwendig, denn die Welt, von der hier die Rede ist, von der für mich je die Rede sein, die für mich je Sinn und Geltung haben kann, die ich, aus meinem natürlichen Interessenleben in Reflexion übergehend, zum Thema

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von Überlegungen mache, ist vorweg und immerfort die, die mir seinsgewiss ist; und ich bin also immer und bei allem in Betracht Gezogenen der Betrachter, der Überlegende, Urteilende etc. Aber ich bin das – ich sehe das ohne weiteres und in apodiktischer Evidenz – als Mensch, der ihr selbst zugehört. Was immer mir als Reales gewiss ist, hat, auch wenn es nicht purer Körper ist, seine Körperlichkeit, als das Ort- und Zeitstelle; und ohne mein sinnlich-leibliches Fungieren kann nichts für mich als Körper erfahren sein, und zugleich bin ich in meinen Akten von meiner körperlichen Leiblichkeit untrennbar. Ich bin Mensch nach Leib und Seele. Und in seelischer Hinsicht bin ich als verleiblichtes Ich in der Welt und als das Subjekt alles erfahrenden etc. Bewusstseins von der Welt etc. Ferner bin ich dabei meiner nicht nur gewiss als im Wechsel verschiedene Dinge der Welt erfahrend, nicht selbst Erfahrenes induzierend, antizipierend etc., sondern auch dessen gewiss, dass jedes Bewusstsein, jedes MirGelten von Realem unvollkommen ist und nur relativ zu vervollkommnen, und zwar so, dass ich bei jedem einzelnen Dinglichen (immer als mir seinsgewissen) von ihm notwendig einen Horizont von unbekannten, noch unbestimmten Eigenheiten in Mitgewissheit habe, als unbestimmten, aber bestimmbaren. Aber nicht nur das. Es kann im Fortgang der Erfahrung, im Versuch, das Unbekannte in ein Bekanntes zu verwandeln, sich ein Zweifel herausstellen, schließlich die Seinsgeltung in Schein sich verwandeln usw. So ist alles, was mir von einem Ding und von dem Sein des Dinges unter anderen Dingen und schließlich von der Welt als Universum der Dinge gilt, f raglich; ich kann immerfort hinsichtlich der Einzelheiten und Mehrheiten und Beziehungen usw. fragen, wie es mit dem „Wirklich“-Sein und So-Sein steht, ich kann Wege der Bewährung und Entwährung versuchen. So habe ich immerfort Weltgewissheit, und doch ist alles in ihr Seiende möglicherweise fraglich. Aber wenn ich dabei auch gewiss bin – und diese Gewissheit gehört dazu wesentlich –, dass jede Frage entscheidbar ist, so ist es doch klar zu machen, dass jede Bewährung (und Widerlegung) einer fraglichen Seinsgewissheit notwendig einen Boden der Seinsgewissheit voraussetzt, und zwar so, dass, wenn irgendein Ding zweifelhaft wird, vorausgesetzt ist, dass andere Dinge für mich in ungebrochener Seinsgewissheit mir gelten. Jede Bewährung oder Widerlegung setzt für Dinge das Sein anderer Dinge, also schließlich das Sein von Welt voraus. Wie, das ist näher zu

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untersuchen. Also d ass jedes einzelne Ding zweifelsmöglich werden kann, ist n icht äquivalent d amit, d ass d ie Totalität d er Welt zweif elsmö glich ist. Die ständige Relativität der Gültigkeit der Welt für mich hinsichtlich all ihrer einzelnen weltlich Seienden und Soseienden kann nicht die Gültigkeit des Seins der Welt für mich aufheben. Jeder Zweifel gründet darin, dass gegen die fragliche, gegen die bisher ungebrochene Seinsgeltung von dem und dem ein Protest erhoben wird von anderem, das mir dabei völlig gewiss ist. Lege ich analytisch aus, als was ich mich in der Welt finde, so finde ich mich als Welt vorstellend, und zwar als in der Vermöglichkeit, jedes einzelne von der Welt mir Geltende in Frage zu stellen, und finde, dass meine Welterkenntnis notwendig in einer Relativität ist, in einer notwendigen und nie aufhebbaren Unvollkommenheit, derart, dass das, was unter dem Titel „Welt“ mir gewiss ist, den Sinn eines Universums von Dingen hat, deren Sein und Sosein nie schon entschieden ist, und dass durch allen Wechsel der Seinsmodalitäten und Korrekturen verbleibt doch als immerfort sich restaurierende totale Seinsgeltung: die Welt. E s ist , gen au überlegt, f ür das Ich, d as in dieser Weise Weltbewusstsein hat, schlechthin unmöglich, sich die Welt als nichtseiend vo rzu st ellen, während es das für jedes einzelne Seiende (nur sein eigenes Sein, als menschliches Subjekt ausgenommen) prinzipiell tun kann. Das Nichtsein der Welt ist nur hypothetisch ansetzbar, so wie ein Widersinniges doch als seiend ansetzbar ist. Oder anders ausgedrückt: Apodiktisch ist die Gewissheit vom Sein der Welt als Welt, von der der Erkennende lauter Einzelgewissheiten hat, die unvollkommen sind, und die dabei in der Fraglichkeit von Sein und Nicht-Sein, wie in der Relativität der Bekanntheit und Unbekanntheit stehen. Ich bin Mensch in der Welt. Aber alles für die Welt zu Erfragende und zu Erkennende führt letztlich auf mich als Subjekt zurück. Denn andere Subjekte sind für mich seiend nur auf Grund meiner Erfahrung, meines Denkens, meines Fragens und Mich-Entscheidens. Die Hauptsache ist dann die, dass für mich jede auf Sein und NichtSein bezogene Frage des gewöhnlichen realen Sinnes das Sein der Welt voraussetzt, d. h. jede Frage setzt voraus unfraglich Geltendes, einen Frage-Boden: Welt ist dann notwendig geltendes Universum

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von Dingen – als Seienden in Fraglichkeiten, aber so, dass jedes in Frage Kommende ein Unfragliches voraussetzt.1 Natürlich habe ich das, was apodiktische Weltgeltung ausmacht, mit all den zugehörigen Relativitäten aus offener Unbestimmtheit und offen möglicher Korrektur, nicht ändern können, außer insofern als ich eben in mein bisheriges Weltleben diesen Eingriff getan habe, der darin besteht, dass ich das Weltleben eben nicht mehr in der alten Weise fortführe, dass ich – statt fortgesetzt im Vollzug meiner Seinsgeltungen und Seinsmodalisierungen zu leben, statt z. B. von dem mir in schlichter Erfahrung als daseiend Geltenden, etwa der Speise, die mich zum Essen motivierte, mich weiter bestimmen zu lassen, und statt so überhaupt mein natürliches Interessenleben fortzusetzen – Halt mache (Stopp). Das Inhibieren der Seinsgeltung, das ihren Vollzug Unterbinden, unterbindet die ganze natürliche Lebensweise. Sofern dieses Außer-Vollzug-Setzen in eins, universal, den Gesamthorizont von Seinsgeltungen umfasst, umfasst es in der Tat das, was der Seinssetzung („die“ Welt) ihren eigenen, von der Seinssetzung einzelner Dinge grundverschiedenen, aber auf diese bezogenen Sinn gibt. Und nun ist zu überlegen, was damit geleistet ist und geleistet sein kann, ob das nicht Aufhebung des Ich selbst und seines Lebens bedeutet. Nicht das ist das Wesentliche, dass ich, das Sein der Welt bedenkend, in skeptische Verwirrungen geraten und so von dem de omnibus dubitandum zum Zweifel an dem Sein der Welt als Totalität von Seienden übergehen kann. Ebenso wie es wohl möglich ist, dass ich in Verwirrung, etwa in einer Geistesumnachtung, zweifelhaft würde und sogar leugnen könnte, dass 2 + 1 = 1 + 2 sei. Eine solche Zweifelsmöglichkeit ist etwas ganz anderes als diejenige, durch die ich die Mö glich k eit eines Nicht-Seins einsehe, oder einsehe, dass das Bezweifelte wirklich zweifelhaft oder das als seinsgewiss mir Gegebene trotz dieser Gewissheit und eventuell trotz unmittelbarer Wahrnehmungsgewissheit Möglichkeiten des Nicht-Seins, Möglichkeiten des Zweifelhaftwerdens a priori offen lässt. Dieser letztere Fall kommt hier in Frage, es ist der der Apodiktizität. Apodiktisch gehört zu jeder Dingerfahrung, dass sie, auch wenn gegen ihre Seins1

Dieses kann aber selbst fraglich werden und willkürlich in Frage gestellt, aber nur so, dass dann anderes als fraglos seiend bewusst ist.

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geltung faktisch nichts spricht, doch Möglichkeiten des Nicht-Seins offen lässt, dass also im Fortgang der Erfahrung doch das Erfahrene (durch Proteste von Seiten anderer Seinsgewissheiten, die mir fest gelten) als nichtseiend preisgegeben werden muss. Dasselbe besagt: Apodiktisch gehört zum Wesen einer Dingerfahrung überhaupt, dass ihre Seinsgeltung selbst keine apodiktische ist. Andererseits, wenn das auch für eine jede gilt und so für eine jede, die mir als faktischer Zweifelsboden für andere Seinsgewissheiten, aber auch Fraglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten usw. dient, so bleibt doch unzerbrechlich die Weltgewissheit, nämlich so, wie sie jederzeit für mich besteht. Nämlich in der ständigen Erfahrungs- und Erkenntnisbewegung, in immer neuen Einbrüchen von einzelnen Fraglichkeiten und Durchstreichungen des soeben noch ganz sicher Geltenden, ergibt in apodiktischer Notwendigkeit die wirkliche und im Voraus apodiktisch mögliche Korrektur immer wieder ein Universum fester Geltung, fest in dieser Weise, die für alles einzelne Zweifel, Korrektur nicht ausschließt und, obschon nicht für alles, so für gelegentliche Gruppen von Einzelheiten immer auch erwarten lässt. So zeigt die Reflexion Weltgewissheit in ihrer Beziehung auf die Gewissheit von einzelnen Realen, wobei analytisch in der Weltgewissheit eben dies liegt, dass sie Totalität von einzelnen gewissen bzw. zur Gewissheit zu bringenden Realen ist. An dieser Form der Weltgewissheit kann keine Willkür etwas ändern. Das Einzige, was möglich ist durch unsere Willkür, ist, dass wir, dass ich, der die Welt als die mir geltende erwäge, eine universale Epoché vollziehe hinsichtlich der Weltgeltung, also hinsichtlich des endlosen Horizontes der angedeuteten Erfahrungs- und Erkenntnisbewegung, der damit sonst Hand in Hand gehenden Bewegung meines Weltlebens – eine Epoché, in der ich im Voraus jeder Seinsgeltung, die in dieser Bewegung totaliter auftritt und auftreten würde, mich enthalte und damit mich des ständigen Bodens meines In-der-Welt-Lebens enthebe.

V. DIE REALITÄTENSTRUKTUR DER LEBENSWELT – NATUR ALS ABSTRAKTE KERNSCHICHT DER WELT

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Der n atürliche Weltbegriff. Systematischer Abbau d er konkreten Erfahrungswelt auf die abstrakte Kernschicht „ Natur “ im Ausgang von der konkreten Erfahrungswelt.1

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§ 1. Die Aufgabe der Herausstellung des Apriori der konkreten Erfahrungswelt und die Idee eines abstraktiven Verfahrens zwecks Rekonstruktion ihrer vollen Konkretion

Der „natürliche Weltbegriff“ – die notwendige eidetische Struktur einer Umwelt überhaupt in Bezug auf eine selbst eidetische, von ihr unabtrennbare Subjektivität überhaupt, welche in Bezug auf sie eine Subjektivität ist, für die die Welt als ihre Umwelt da ist, in einem weitesten Sinn vorhanden, erfahren, erfahrbar ist, und zugleich eine Subjektivität ist, die der Welt selbst zugehört als in ihr seiend. 20 Wir können die Doppelheit auch dahin bezeichnen: Die Subjektivität ist zugleich in d ie Welt h in ein leb en d (hineinerfahrend, erkennend oder auch hineinwertend, -greifend, -fürchtend, -sorgend, von ihr leidend, durch sie beglückt, in vielfacher Weise in sie hineinhandelnd) und zugleich in d er Welt vo rh an d en, für sich und die 25 Anderen vorhanden, erfahren und erfahrbar in den entsprechenden Erfahrungsweisen der Reflexion. Beides hängt dann sofort auch dadurch zusammen, dass die Subjektivität einerseits im weitesten Sinn 15

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handelndes Subjekt ist (und so Subjekt für alle Arten von Stellungnahmen, Aktarten) und andererseits b eh an d elt es (bewertetes etc.) O b jek t ist, behandelt als innerweltliches Seiendes. Wenn wir von der „natürlichen“ oder vielmehr der notwendigen Weltvorstellung sprechen, so meinen wir die Welt, wie sie in menschlicher Erfahrung erfahren ist, und zwar rein als erfahrene, die Welt „ rein er E rf ah ru n g “. Wir stellen das Erfahren gegenüber dem theoretisierenden Bestimmen, und wir fragen nach derjenigen Erfahrungswelt, die in jedem guten oder schlechten Theoretisieren und auch sonstigem wechselnden Interpretieren, Auffassen als das oder jenes vorangeht.1 Also wir fragen nach einer als wesensnotwendig erkennbaren Erfahrungsgestalt einer Welt überhaupt (bzw. der uns allen gemeinsamen Welt), die eben n o t w en d ig überall voranliegt, zugrunde liegt, wenn überhaupt die Subjektivität dazu übergeht, über die von ihr erfahrene sich Gedanken zu machen, sie so oder so zu interpretieren, im Einzelnen oder als ganze Welt. Machen wir in unserem erfahrenden Leben, wie wir evidenterweise können, einen besinnlichen Halt, hinblickend auf das erfahrend Gegebene, also im Bewusstsein des Selbst-da, in seiner Selbstheit erfasst Gegebene. In der Methode der eidetischen Verallgemeinerung versuchen wir, frei variierend, reine Möglichkeiten und in Bezug auf sie die durchgehenden Wesensallgemeinheiten zu gewinnen. Wir können dabei verschieden verfahren, um eine „t ran szen d en t ale E rf ah ru n gsleh re“ zu begründen. 1) Die Welt ist Welt f ü r u n s, die von u n s erfahrene. Und sie ist als das selbst in reflektiver Erfahrung gegeben; als d ie Welt ist sie, wie wir hinzufügen müssen, gegeben in der sich immer wieder herstellenden Einstimmigkeit unserer Erfahrungen, unter Ausscheidung eventueller einzelner Unstimmigkeiten. Genauer: Ich, der Reflektierende, betrachte die Welt; sie ist m ein e Umwelt als die m ein er Erfahrung gegebene; und sofern ich mich eins weiß in wirklicher und möglicher Komprehension mit „Anderen“, bekannten und unbekannten in „offener Unendlichkeit“, gilt mir die Welt als u n ser aller gem ein sam e. Ich halte diese faktische Korrelation „wir und unsere Welt“ fest und, sie frei variierend innerhalb der dadurch vorgezeichneten Identität in der Variation, erwäge ich, was zu einer 1

Ähnliches gilt aber für alle unsere Aktionen hinsichtlich der vorhandenen Welt.

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gemeinschaftlichen (möglichen kommunikativen) Subjektivität überhaupt und Umwelt überhaupt gehört oder zu einer Welt überhaupt als Umwelt einer kommunikativen Subjektivität. Ich erkenne, dass zum Wesen dieses Verhältnisses gehört, dass zwar möglicherweise die Subjekte schlafen können, aber dass sie notwendig auch müssen wach sein können und nicht immer schlafen können, wenn von ihrer Welt soll die Rede sein können. Wäre sie nicht w irk lich Erfahrungswelt, so wäre sie überhaupt nicht U m w elt für diese Subjekte, – wobei immer voraussetzt ist, dass wir die Allheit miteinander in möglicher Komprehension stehender Subjekte in eins nehmen. Es ist nun Wesenseinsicht, dass diese Subjektivität nicht nur, was das Erfahrene anlangt, sich auf die Welt wirklich bezieht, sondern dass wache Subjektivität auch in verschiedener Weise aktive Subjektivität ist und sein muss. (Dass die Subjektivität nicht immer schlafende sein kann, das ist nicht bloß leere Möglichkeit.) Es ist danach auch Wesenseinsicht, dass die Umwelt nicht bloß überhaupt durch Erfahren und weiterhin als erfahrbare vo rh an d en ist, sondern sich durch die mannigfaltige Aktivität der Subjekte, in verschiedener Weise gestaltende ist, durch die Aktivität einer Subjektivität, die sich auf sie richtet, an ihr sich betätigend, mit ihr beschäftigt und dadurch ihr neue Gestalt, neue Beschaffenheiten erteilend; und zwar sei das so gemeint, dass die einstimmig erfahrene Welt als solche in dieser Erfahrung sich selbst gibt als von der Subjektivität her so und so gestaltet und wieder neu gestaltet: dass sie in der Erfahrung selbst erfahren ist als mit dem und jenem „Sinn“ ausgestattet, der entweder als frisch aus der Betätigung werdend und geworden erfahren ist oder auf solchen subjektiv-aktiven Ursprung zurückweist. Ist es möglich, dass der Subjektivität ihre Umwelt ohne alle Gestaltung gegeben wäre und sie dann erst anfinge, sie zu gestalten? Doch welche Möglichkeiten überhaupt hier bestehen, reine, eidetische Möglichkeiten, soll eben die Variation ergeben. Dabei können wir von hier aus so vorgehen, dass wir, von dem Faktum universaler umweltlicher Erfahrung mit ihren Subjekten und Subjekttätigkeiten ausgehend, überlegen: Wann immer ein Subjekt und die mannigfaltigen Subjekte sich weltlich betätigen mögen, in Notwendigkeit ist ihnen eine Welt schon vorgegeben, wie immer ihre Besonderheit sein mag. Welche E rf ah ru n gsgest alt en hat eine Umwelt über-

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haupt und in apriorischer Notwendigkeit als p rak t isch e U m w elt („praktisch“ im weitesten Sinn, als von einer Subjektivität, die ihr selbst zugehört als in ihr seiende und in sie hineinhandelnde, hineinlebende, gestaltet)? Natürlich führt das korrelativ auch auf die Frage: Wie ist eine umweltbezogene Subjektivität, in ihren einzelnen Subjekten und in ihren Gemeinschaften, notwendig sich betätigend und jeweils betätigen könnend und dadurch ihre Umwelt mitschaffend? – Es ist dabei zu beachten, dass die Subjektivität selbst umweltliche Subjektivität ist, dass also in die Universalität der Frage auch die Bildung der Gemeinschaften, auch jedes soziale Handeln und Leisten gehört und schließlich auch die Selbstbildung, die Selbstgestaltung, in der das Einzel-Ich mit sich selbst in Gemeinschaft tritt, und in gewisser Weise auch die Gemeinschaft. In dieser Forschung wird immer eine Welt schon vorausgesetzt, und Strukturbegriffe werden als reine Begriffe gebildet aus den Handlungen, aus den praktischen Gestalten, die sich als notwendige – als notwendig wirkliche und notwendig mögliche – ergeben und die ihre notwendige Typik aufweisen. Alle in die Betrachtung tretende Umwelttypik ist aus der eidetischen Betrachtung des praktischen Lebens und der praktischen Lebenswelt gewonnen, zunächst aus der Betrachtung dessen, was sich aus dem im Blick auf diese Welt als das „im m er w ied er“ und ü b erall Gegebene dem Typus nach darbietet und darbietet unter dem Gesichtspunkt einer aus der aktiven Lebendigkeit der Subjekte gewordenen Form, als eine Welt, die „Bedeutung“ hat, d. i. Erfahrungseigenheiten hat, die aus solcher Aktivität stammen. Dahin gehört natürlich auch die wahrnehmende, überhaupt erfahrende, erkennende, aussagende, überhaupt sprachliche Aktivität, sofern sie ja den Charakter des „bekannt“ und „allbekannt“ schafft gegenüber dem Unbekannten, Fremden. Mit ihr verflicht sich die wertende Aktivität usw. 2) Wenn die Aufeinanderbezogenheit von Subjektivität und Umwelt hiermit ein notwendiges Strukturensystem für jede Umw elt ü b erh au p t ergibt als solche einer kommunikativen Subjektivität, so ist damit n o ch n ich t gesagt, dass wir damit schon d as gesamte apriorische S trukturensystem einer möglichen Erfahrungswelt einer kommunikativen Subjektivität gewinnen, und dass nicht eine ganze Weltstruktur mit einem a priori in sich geschlossenen Strukturensystem vorausgesetzt ist, ohne dass ein weltbezoge-

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nes inneres oder äußeres Tun kein konkretes Substrat haben könnte. Alle Praxis schafft ein G ebilde, indem sie eine praktische Mat erie f o rm t. Diese mag selbst schon geformt sein und so in infinitum. Mit diesem „in infinitum“ kommen wir in Schwierigkeiten,1 wenn wir uns, wie es bisher geschah, immer auf die offen endlose kommunikative Subjektivität beziehen und sie uns, was vielleicht selbst als zu den Wesensnotwendigkeiten gehörig sich herausstellt, als sich endlos fortpflanzende Generationsreihe voraussetzen, in die jedes Individuum hineingeboren wird und hineinwächst. Übersehen dürfen wir dabei nicht, dass das Hineingeborene der typischen Form „Kind“ die allgemeinsame Umwelt der „Erwachsenen“ erst erwerben muss und dass es im Einzel-Ich kein unendlich Offenes geben kann. Das weist uns darauf hin, dass wir in rechter Weise „kommunikativ“ („sozial“) und „einzelsubjektiv“ in Bezug setzen müssen. Überhaupt die Ausführung eines von dem praktischen Rayon her ausgehenden Programms vollständiger apriorischer Strukturenbetrachtung hat ihre Schwierigkeiten in der Bestimmung der Grenzen und Voraussetzungen ihres erschauten Apriori. Es bedarf hierbei jedenfalls einer selbst eidetisch vorgezeichneten Systematik der Aufgaben und der miteinander sich verflechtenden und als Voraussetzung und Vorausgesetztes begrenzenden apriorischen Strukturen. Jedes Vorgehen ist, wie einzusehen, notwendig einseitig; und die Einseitigkeit gründet darin, dass jede erfahrene Konkretion notwendig einseitig erfahren ist, und zwar speziell auch in dem Sinn, dass „erfahren“ heißt: in einer bevorzugten Blickrichtung erfahren und das in dieser Richtung Liegende erfassen und in der eidetischen Methode dann variieren. Von diesem in aktive Variation Genommenen der in anderer Blickrichtung liegenden Gegebenheiten unterscheidet sich aber das von der Konkretion, was als unerfasster und eventuell als noch unexplizierter Horizont in Leerantizipation das motivierend ist, was noch nicht bereits im Blickfeld selbst liegt als Feld des Wahrnehmungsbereiten (des gewahrend direkt zu Erfassenden). Was in der gewahrend tätigen Erfahrung ungewahrt, unerfasst bleibt, also sozusagen außer Rechnung, das ist in ihr unbestimmt; und in der eidetischen Betrachtung ist es variabel in besonderem 1

Mehr Klarheit schaffen.

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Sinn, obschon es nicht aktiv variiert wird im reinen Überhaupt. Es ist variabel im Sinne des o ffen-unbestimmt Bleibenden, wobei die Weise, wie es notwendig mitzugehört und durch Notwendigkeiten eventuell gebunden ist, jeder Fixierung noch entbehrt. Diese Offenheit stört nicht die Möglichkeit der Gewinnung eines Apriori, das sich auf das aktuell Variierte bezieht und auf diese Variation einsichtig bezogen ist. Aber dann hat das Apriori einen offenen Horizont für weitere zu gewinnende apriorische Einsichten. So ist ja auch das geometrische Apriori mit unbestimmten Horizonten behaftet. Eine mögliche Figur kann nicht möglicherweise nur als Figur sein; aber die Blickrichtung des Geometers geht nur auf Figur und lässt das Qualifizierende der Figur offen, damit offen das zugehörige, für ihn außer Frage stehende Apriori, – so sehr hier mit den geometrischen sich verflechtende Notwendigkeiten zusammenhängen. Daraus geht hervor: Die Abstraktion einer Nat u r ist möglich in der Art, wie die Abstraktion des geometrischen Raumes möglich ist (wobei diese freilich mit in jene Abstraktion hineingehört). Ein in sich geschlossenes strukturelles Apriori wird dadurch abgegrenzt, dass im möglichen Faktum der Boden für eine geschlossene Wissenschaft geschaffen wird, und zwar in völliger Unabhängigkeit von dem Apriori, das zur konkreten Welt in ihren Bedeutungen gehört und zur übrigen Welt überhaupt, auch zur abstraktiv ausgeschlossenen personalen Subjektivität. Freilich Selbständigkeit im Sinne einer Ab st rak t io n. Dagegen, wenn wir das Ap rio ri d er konkreten Erfahrungswelt suchen, haben wir keine solche selbständig zu betrachtende Struktur. Die Einstellung auf die „praktische“ Umwelt liefert ein universales Apriori von Strukturen, die zu einer geistig bedeutsamen Welt und einer Umwelt überhaupt (als notwendig geistig bedeutsamer) gehören; aber da behandeln wir notwendig mit die Subjekte als tätige und ihre selbst weltlichen Tätigkeiten; und die Natur ist auch, obschon nicht gereinigt durch Abbau, eine mit eingehende Struktur, von der auch beständig die Rede ist, nur dass sie eben nicht ihr reines geschlossenes Apriori herausgestellt hat. Um das volle Apriori d er erfahrbaren Umwelt, in ihrer vollen Konkretion genommen, zu gewinnen, müssen wir ein bewusst ab st rak t ives Verf ah ren einschlagen, das systematisch die S t ru k t u rsch ich t en herausschaut, sie abstraktiv für sich fasst, aber dabei beständig der korrelativen Abstraktionen sich versichert, um damit

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die Gesamtabstraktion der Konkretion, sozusagen, aufbauen zu können. Mit anderen Worten: Man befragt die Konkretionen von einer ersten, zufällig oder wesentlich bevorzugten geraden Blickrichtung aus nach ihren „Horizonten“ und den darin liegenden bestimmbaren 5 Unbestimmtheiten und ihren notwendigen Strukturformen. In dieser Hinsicht werden verschiedene Abstraktionen nötig, wobei aber auch noch die Aufgabe sein kann festzustellen, inwiefern es sich jeweils um eine Abstraktion im Wesenssinn (der auf notwendige Wesenszusammenhänge, Wesensbedingtheiten der Ergänzung verweist) handelt.

§ 2. Der geordnete abstraktive Abbau alles Subjektiven der konkreten Erfahrungswelt zwecks Gewinnung der bloßen Natur: der Abbau der Prädikate geistiger Bedeutung, der Gefühls- und Wertprädikate, der Stimmungscharaktere, der subjektiven Erscheinungsweisen sowie der Abbau der leiblichen welterfahrenden Animalien zu Organismen

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Wie sollen wir systematische Abstraktion vollziehen, die konkrete Welt ihrer gesamten sich eventuell herausstellenden Strukturtypik nach in Strukturschichten zerfällen mit relativ geschlosse20 nem Wesensgehalt und Wesensgesetzen? Wir nennen dieses abstraktive Verfahren auch „Abbau“ der konkreten Welt, deren erstes Endziel wir bezeichnen als Ab b au alles in t en t io n al G eist igen und bloß Subjektiven zur abstraktiven Gewinnung der b lo ß en Nat u r. Diese ist in der Faktizität das Thema der physikalischen 25 Naturwissenschaften und eidetisch der Ontologie der bloßen – physischen – Natur. 1) Das Erste, was sich in der konkreten Umwelt als Allgemeinstes und – wie es scheint – strukturell Wesenhaftes hervorhebt, ist die Unterscheidung zwischen Subjekten1 und Nicht-Subjekten (D in gen, 30 wie wir kurzweg sagen), unangesehen, ob die Subjekte vergemeinschaftet oder nicht vergemeinschaftet sind, ob die Dinge vereinzelt oder gruppenweise verbunden oder gar alle miteinander verbunden sind zu einer geschlossenen endlosen „Dingwelt“. 1

Subjekte = Menschen und Tiere. Vgl. 5).

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2) In der konkreten Erfahrungswelt haben die Dinge überall Präd ik at e geist iger B ed eu t u n g, auf Subjekte bezogen, die durch ihre Akte sich mit Dingen beschäftigen oder beschäftigt haben und ihnen schließlich in diesen „geistigen Prädikaten“ – wir könnten sagen „personal gestifteten“ – Ursprung gegeben haben. Wir bauen diese Prädikate abstraktiv ab, ohne Frage also, wiefern solche Prädikate notwendig zu einer Umwelt gehören, – wie sie es übrigens, was ohne weiteres einzusehen ist, tun. 3) Im Erfahren, letztlich im Wahrnehmen, ist uns das Erfahrene bewusst als seien d; es gilt uns, den Erfahrenden, als seiend, d. i. das Erfahren selbst birgt in sich vom Ich her eine „Seinssetzung“, den Seins-„Glauben“. Nur durch Erfahren und von diesem Glauben her ist für uns eine Welt „da“, seiend. Aber dieser Glaube kann sich modalisieren, die Seinsgewissheit in Zweifel etc. übergehen. Offenbar ist „die Welt“ und sind die Dinge vor allem theoretischen Denken für uns nicht bloß überhaupt aus Erfahrung her geltend, sondern d ie Welt als „ wahrhaft und wirklich seiend “ gemeinte ist die in Konsequenz sich bestätigender E rfahrung, in einer idealen Konsequenz einstimmig fortgehender Erfahrung sich als seiend b ezeu gen d e Geltungseinheit.1 Wir setzen also ideell voraus, dass eine solche durchgehende Einheit aus einstimmiger Erfahrungsbetätigung sich durch alle vereinzelten Erfahrungsdurchstreichungen hindurch erhalten wird, wie sie sich bisher erhalten hat. Wir können unsere Beschreibung und Wesensbetrachtung nun an diese Id ee binden, – und wir tun es ohne weiteres, wo wir vom Wesen der Welt und einer möglichen Welt überhaupt sprechen und dieses erforschen wollen. Es mag Fragen geben nach Strukturnotwendigkeiten von Dingerfahrenem und Welterfahrenem im Erfahren selbst und ohne Bindung an die Idee also, dass die Erfahrung zu einem ideellen System in infinitum fortgehender Einstimmigkeit der erfahrenden Selbst-Bestätigung gehören möge, aber hier bevorzugen wir Erfahrenes innerhalb dieser Idee. Dann ist also die Untersuchung auf d as Ap rio ri d er E rf ah ru n gsw elt überhaupt gerichtet, das wir vom Exempel der faktisch erfahrenen aus, aber unter der Idee gewinnen, dass diese als erfahrene zunächst reine Erfahrungswahrheit hat, 1

Hier ist nur gesagt, dass wir unter „Welt schlechthin“ die Welt einstimmiger Erfahrung meinen wollen.

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sich in infinitum als dieselbe erfahrene und in steter Bestätigung sich durchhalten würde in entweder wirklicher oder möglicher Erfahrung (frei ins Spiel zu setzender Erfahrungsbetätigung). Und in der Variation muss dann diese Voraussetzung für jede abgewandelt gedachte Welt gelten bleiben. 4) Wir bauen, ehe wir an das erstzubetrachtende Apriori, das der bloßen Dinge, herangehen, von diesen nicht nur die Prädikate personaler Bedeutsamkeit ab, sondern auch derartige Prädikate wie die wechselnden G ef ü h lsp räd ik at e; und zwar meinen wir hier nicht nur die ak t iven Wert u n gen, das aktive Gefallen oder Missfallen, das aktive Schätzen, Werten als schön, als reizend usw., sondern die ohne jede aktive Beteiligung der erfahrenden Subjekte auftretenden S timmungscharaktere und ebenso alle Charaktere triebhaften, instinktiven und sonstigen Reizes, den sie üben, und so überhaupt den weiten Bestand von Erfahrungsmomenten, die wir den Dingen selbst nicht zurechnen, obschon diese sich, sei es gelegentlich oder notwendig, in irgendwelchen solchen Momenten in der Erfahrung geben. Wenn wir so sprechen vom D in g selb st, das in von Moment zu Moment wechselnden Bestimmungen ist und in ihrem Wechsel (im Wechsel dinglicher Zustände) d asselb e verbleibt, mit denselben ihm zukommenden Eigenschaften, die sich nur zuständlich besondern, so haben wir schon eine Einstellung, in der all jenes „Subjektive“ außer Acht gelassen ist. Dinge, die da in der vorausgesetzten Einstimmigkeit der Erfahrung „sind“, haben ihr erfahrenes und fortgesetzt erfahrbares „Wesen“, ein zum „D in g selb st“ gehöriges eigenes „was es ist“; und nur dasjenige Wechselnde in diesem Was kommt in Frage, worin sich identische, als verharrendes Wesen vereinigte Eigenschaften bekunden. In einem erfahrbaren wechselnden Was bekundet sich und ist erfahren ein bleibendes Was, im Was der Zustände das eigenschaftliche Was. Dieses ist von jenem untrennbar, wenn überhaupt Dingliches erfahren ist. Das Stimmungsmäßige, das Traurige und Heitere einer Landschaft zum Beispiel, oder der Auffälligkeitscharakter im Ding, das Fremdartige usw. gehört nicht zum D in g selb st . Und nicht bloß nicht, weil es überhaupt Wechselndes ist. Es gehört nicht zu dem identischen Ding selbst in seiner Identität des eigenschaftlichen Soseins im wechselnden zuständlichen Sosein. Im Wechselnden des Gefühls, der „subjektiven“ Färbung, Anmutung und dergleichen

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liegt ein Z u f älliges, das anders hätte sein können, während doch Zuständliches und Eigenschaftliches dasselbe geblieben wäre und damit das Ding „selbst“. 5) Zum Subjektiven, das außer Betracht bleibt bei einer Einstellung auf pure Dinglichkeit, gehören auch alle su b jek t iven E rscheinungsweisen, in denen sich schon nach Ausschaltung des soeben beschriebenen Subjektiven jedes Ding darbietet: seine wechselnden Perspektiven, die Unterschiede der Orientierung als räumlicher und zeitlicher und alles, was in dieser Hinsicht sonst zu nennen wäre. Also das Hier und Dort, das Jetzt und Soeben-gewesen, die Gestaltperspektive und Farbenperspektive usw. Wenn wir das Ding und so die ganze Dingwelt in dieser Art abstraktiv begrenzen, und zwar rein als das in einstimmiger Erfahrung in Selbigkeit und in seinem individuellen Eigenwesen zu Erfahrende, so haben wir d ie Id ee „ b lo ß e Nat u r “ gewonnen. Zu ihr gehört dann die Idee einer „apriorischen Ästhetik“ oder – wie wir sagen können – einer Ontologie einer erfahrenen Natur überhaupt, so wie sie in (einstimmiger) Erfahrung selbst sich überhaupt bezeugt bzw. bezeugen würde. Aus der Welt ist nun gewissermaßen die gesamte Kulturwelt verschwunden; wir machen uns für sie – thematisch – blind. Aber nicht nur das. Wir haben alles „bloß“ Subjektive thematisch ausgeschaltet. Wir hätten auch von vornherein so unterscheiden können: In der Erfahrung geben sich die Dinge in wechselnden Weisen. Wir unterscheiden aber dasjenige, was dem Ding selbst im infiniten Zusammenhang wirklicher und möglicher einstimmiger Erfahrung als sein Eigenes, von ihm also jedenfalls nicht Trennbares und Wegzudenkendes zukommt – solange wir es selbst festhalten als d asselb e Erfahrbare –, von dem, was ihm zwar in der Erfahrung, also für das Subjekt, jeweils zukommt, aber nicht als sein Eigenes, sondern eben nur subjektiv, als Bestandstück des „wie es erfahren ist“. Es ist aber nicht gesagt, dass neben dem, was zur Eigenheit des Dinges selbst und der dinglichen Welt gehört, ihm nicht auch in unbedingter Notwendigkeit Subjektives zugehört, sei es in der Weise von irgendwelchen Gefühlen und Stimmungen (wozu wir auch das „Gleichgültigsein“ als ein stimmungsmäßiges, wenn auch neutrales Gestimmtsein rechnen), sei es in der Weise der Perspektivität. Genauer: Die einen haben nicht besondere Beziehung zur bestimmten

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Eigenheit des Dinges (in seiner Abstraktion als Dinges möglicher Erfahrung überhaupt). Der Wechsel z. B. von Gefühlsfärbungen steht in außerwesentlicher Beziehung zu dem Ding selbst innerhalb der Natur, so wie es „in sich selbst ist“ und so wie es in seiner Eigenheit als dasselbe für mich erfahren sein kann zu verschiedenen Zeiten und als das dasselbe von jedermann in der Gemeinschaft. Dagegen stehen die Perspektiven in einem wesentlichen Zusammenhang mit dem D ing innerhalb seiner d inglichen Natur: Denke ich es von wem immer und wann immer, also auch von mir wann immer erfahren, so bin ich und sind die Erfahrenden überhaupt an den einen und selben Zusammenhang von Perspektiven gebunden. Jedes Ding ist notwendig in Perspektiven erfahren, die eine innerwesentliche Beziehung zu dinglichen Eigenbestimmungen haben, als denen, die sich in diesen Perspektiven „darstellen“; und jedermann, der vom Ding dieselbe Eigenheit erfahren haben soll, und in konsequenter Ausweisung, muss es in denselben perspektivischen Zusammenhängen erfahren wie denen, die eben diese und keine andere Eigenheit darstellen. Die eventuelle Notwendigkeit d er subjektiven Mo d i vo n Art d er G ef ü h le, die den einzelnen Dingen speziell anhaften oder (zeitweise) als Stimmungen allen Dingen meiner oder unserer gemeinsamen Erfahrung überhaupt, besteht also höchstens darin, dass irgendeine Wesensgesetzmäßigkeit es fordert, dass – wie sehr solche Charaktere auch individuell und in der Kommunikation wechseln mögen, überhaupt wechseln innerhalb der Einstimmigkeit wirklicher und möglicher Erfahrung, in den verschiedenen Erfahrungen von demselben – doch irgen d w elch e solche Charaktere da sein müssen, wobei ihre Bestimmtheit statt durch die Eigenheit des Dinges selbst nach eventuellen Wesensgesetzen gebunden wäre, die hinüberführen in die Zusammenhänge alles Subjektiven sonst, in die das Eigenheitliche durch Erfahrung und zunächst durch die notwendigen Erscheinungsweisen eingeflochten ist. Indem wir die reine Natur abstraktiv herauskristallisiert haben, haben wir auch als Korrelat ein Reich des mit der reinen Natur und dem reinen Naturding verflochtenen Dinglich-Subjektiven aufgewiesen, – eben dadurch, dass wir abstrahierend hinweisen mussten auf das, was in der konkreten Welterfahrung mit da ist, aber als das, wovon thematisch Abstand genommen werden soll. Innerhalb d ieses Subjektiven hat sich zunächst eine Scheidung aufgedrängt

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zwischen jenem Wesensnotwendigen, das zu dem erfahrungsmäßigen Eigensein der reinen Natur (wir werden schlechthin von nun an sagen „Natur“) in besonderer Beziehung steht als das „Mannigfaltige“ seiner „Darstellungen“ – das konstitutive Subjektive der Natur –, und dem übrigen Subjektiven, dessen besondere Ursprünge im Zusammenhang der erfahrenden Subjektivität in Frage bleiben. Ehe wir von dieser Scheidung Gebrauch machen, gehen wir in dem Versuch einer O rdnung der Abstraktionen und der von ihnen ausgehenden Fragestellungen weiter. 6) Wie steht es mit dem Gegenglied der Abstraktion erster Stufe: Dinge und S u b j e k t e? – Wir hätten vielleicht besser unterschieden: Dinge und Menschen (wie ich, der Erfahrende, ein Mensch bin) und Tiere, die stufenweise analog mit Menschen sind, die mindestens wie sie Subjekte sind, die Erfahrungen haben und eine gewisse Erfahrungsgemeinschaft mit uns Menschen. Menschen und Tiere, allgemein: An im alien als Gegenstände mundaner Erfahrung, haben ihr Eigensein, das wir wieder abscheiden können gegenüber allem Subjektiven aus dem erfahrungsmäßigen Wie, in dem sie sich „uns“ geben, uns Menschen, die erfahren sind als dieselbe Welt erfahrend, als wie ich sie erfahre, und erfahren bzw. erfahrbar sind als Wesen, mit denen ich, der Erfahrende (und dann jeder andere Erfahrende ebenso), mich über das identisch Erfahrene verständige oder verständigen kann. Soweit dasselbe gilt für Tiere, nennen wir sie „höhere T iere“. Hinsichtlich der intersubjektiven Erfahrungswelt sind sie mit uns dann vergemeinschaftet, wenn auch darum nicht hinsichtlich der Möglichkeit von dem, was bei uns Menschen im spezifischen Sinn an höherstufigen Akten verwirklicht und zu verwirklichen ist. Animalien als O b jek t e sind erfahren als in gewisser Weise seelisch lebende Wesen, und zwar als solche lebend in „ihrem Leib“, ausschließlich durch ihr „Seelisches“, d. i. als Subjekte auf Gegenstände der übrigen allgemeinen Umwelt bezogen. Subjekte als solche sind nicht nur als in der Welt seiende erfahren, sondern auch erf ah ren als erf ah ren d von ihrer Umwelt. Und jedes Subjekt erfährt sich selbst – was selbst eine intersubjektive Erfahrung ist – als welterfahrend, wobei es sich schließlich auch als erfahrendes weltliches Objekt findet. Jedes Subjekt ist, können wir sagen, „seelisch“ in die Welt hineinerfahrendes, das bald im prägnanten Sinn, als erfahrend auf die Umwelt „gerichtet“, in anfangender und fortschrei-

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tender Kenntnisnahme, bald in einem weiteren Sinn die Außenwelt durch Erfahrungserscheinungen bewusst hat, sie sehen, hören etc. kann, ohne darauf zu achten und damit erfahrend-tätig beschäftigt zu sein. Subjekte haben nicht nur solches anschauende, wahrnehmende oder erinnerungsmäßig anschauliche „Bewusstsein von“ Weltlichem, sondern auch sonstiges Bewusstsein von solchem, z. B. ein signitives Darauf-Bezogensein in einem leeren, an ein indizierend Gegenwärtiges geknüpftes Denken oder auch in einem Denken höheren Sinnes, das wir „logisches“ nennen usw. Zu diesem psychischen oder, wie man auch aus verständlichen Gründen – nicht ohne Gefahr übrigens – sagt, „inneren“, „bewusstseinsmäßigen“, „intentionalen“ Bezogensein auf die Umwelt gehört auch die m en sch lich e Praxis, das in die Welt Hineinwirken und nicht bloß Hineinvorstellen und Hineinerfahren. Das auf umweltliche Dinge praktisch Wirken (sie stoßen, schieben, künstlerisch formen) ändert die allgemeinsam erfahrene Umwelt, und zwar die Weltobjekte, auf die da gewirkt wird, obschon das innere Wirken auch praktische Intention sein kann, die die intendierte Objektänderung nicht erzielt. Aber nicht alle innere Aktivität (und gar Passivität, verstanden als nicht vom Ich her tätiges Bewussthaben von Weltlichem) erwirkt im intendierten Objekte eine Änderung seines Eigenseins und seiner eigenschaftlichen Bestimmtheiten. So nicht das bloß erfahrende Tätigsein, im tätigen Wahrnehmen. Nun spielt hier aber die L eib lich k eit eine besondere Rolle. Alles Wahrnehmen vollzieht sich in der Weise eines besonderen Im-Leibbewusst-Tätigseins: Leibesglieder, „Organe“ genannt, oder den ganzen Leib bewegen, etwas abtasten, die Augen bewegen usw., eventuell aber auch „gehend“ sich betätigen. Diesem inneren, subjektiven „Bewegen“ entspricht objektiv-weltlich eine Änderung, die da wieder „Bewegung“ (des Leibes) heißt. Bloßes Wahrnehmen ist dabei ein solches inneres Bewegen des Leibes, wodurch eben normalerweise – rein im Rahmen der Erfahrung gesprochen – keine objektive Änderung des Wahrnehmungsobjektes entspringt, während sie darum doch gelegentlich sich zeigt. Jedenfalls ist sie dann eben nicht reine Wahrnehmungsbetätigung. Der Leib fungiert aber nicht bloß als Wahrnehmungsorgan (bzw. als darin beschlossene als zu einem Organ geeinigte Mannigfaltigkeit von Einzelorganen). Vielmehr alles psychische Wirken eines Subjektes auf seine Umwelt, d. i. auf die

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Weltobjekte außer ihm, vollzieht sich notwendig durch Vermittlung des subjektiven Wirkens auf seine Leiblichkeit. Wir können nun bei jedem Menschen und Tier, als Objekt in der Welt, ab st rah ieren von seiner seelischen Innerlichkeit, von allem seinem Bewussthaben in Form der Passivität und Aktivität. Dann reduziert sich sein Leib auf ein b lo ß es D in g, und alle Bestimmungen der spezifischen Leiblichkeit – wie dass sie Wahrnehmungsorgane hat und als ganze Organ ist, dass sie zugleich als Organ der Umweltlichkeit verändernden Handlungen (der Handlungen im gewöhnlichen Sinn) fungiert – fallen fort und dabei natürlich all das somatologisch Psychische, das Im-Leibe-seelisch-Leben des Subjektes. Offenbar ergibt hier die naturale Abstraktion ein Nat u rd in g, nur au sgezeich n et d u rch eine eigenartig ihm zukommende Typik, eben diejenige, die einen (rein physisch betrachteten) Organ ism u s charakterisiert und welche offenbar je nach der Stufe der Ähnlichkeit mit menschlicher Leiblichkeit den Anhalt bietet für die Interpretation eines Organismus als eines animalisch lebenden. (Die Pflanzen, soweit sie in diese Analogie einzubegreifen sind, fallen dann unter den weitesten Begriff des animal.) In der abstraktiven Einstellung auf die Natur würde sich also unter den sonstigen Naturobjekten nur eine Klasse auszeichnen durch eine ausgezeichnete Typik als menschliche Leibkörper und von da aus eine weite Reihe von verwandten Typen, alle schließlich befasst unter dem Typus „Organismus“

§ 3. Allnatur und Allgeist. Das Fehlen einer geschlossenen Erfahrungseinheit alles Subjektiven. Die Universalität der subjektiven Erscheinungsweisen und die eigenwesentlich geschlossene seelische Innerlichkeit der Leiber

Wir gewinnen also damit erst die Alln at u r als das Universum aller Naturdinge, das sich bei näherer Betrachtung bald als eine real 30 verbundene und dabei offen endlose Mannigfaltigkeit zeigt. Ihr gegenüber steht nun der Allgeist. Warum sträuben wir uns, dieses Wort anzuwenden? Warum tritt es in der Sprache, im Leben nicht auf oder rein in einem Sinn auf, der hier unmöglich in Frage sein kann? In der Tat aus gutem Grund. Die thematische Abstraktion 35 der Allnatur ergibt eine in sich geschlossene und thematisch für sich

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zu erforschende Struktur der konkret vollen Erfahrungswelt, der Welt, in der wir leben, wirken, schaffen, der Welt, die durch keine künstlichen Abstraktionen „abgebaut“ und von allem „bloß Subjektiven“ „abgehäutet“ ist. Aber was nun übrig ist, das gesamte hierbei Außerthematische, ist keine Einheit des Subjektiven, welche ebenso als eine Erfahrungs-„Welt“, als ein Allgeist, ein geistiges All, eine ähnlich geschlossene Erfahrungseinheit wäre, thematisch ebenso oder ähnlich zu behandeln wie die Wissenschaft von der Natur oder in eidetischer Einstellung eine Erfahrungsontologie der Natur. Sowie wir über die thematischen Mauern, die wir hinsichtlich der Natur fest umgrenzen konnten – und nicht erst wir, da es die große Tat der neuzeitlichen Naturwissenschaft war und das, was ihr den eigenen Sinn gab und es ermöglichte, diese Mauern aufzurichten –, steigen, sowie wir sogar diese Mauern übersteigen und nach einem Außerhalb derselben fragen, um es seinerseits zum Thema zu machen, kommen wir in Verlegenheit. Das Nich t - Nat u rale, die G eist igk eit, siegt in der konkreten Erfahrungswelt überall, es heftet sich an alles an, aber in sehr verschiedener Weise. Überlegen wir. Vom Bisherigen geleitet, ergibt sich offenbar: 1) Alle Naturobjekte in gleicher Weise haben in der Erfahrung, in der wir sie allein betrachten wollten, ihre mannigfaltigen konstitutiven „Erscheinungsweisen“ und darüber hinaus vielerlei subjektive Modi einer vom Standpunkt ihrer objektiven Eigenheit zufälligen Art. 2) Das betrifft also auch die L eib er als Naturobjekte. Zu Leibern gehört aber noch eine total andersartige Subjektivität, die wir „seelisch e ‚ In n erlich k eit ‘“ nennen, wenn wir über die Mauer, die den Leibkörper abschließt, hinaussehen und von der bloßen Körperlichkeit aus nun fragen, was sie zum Menschen, zu diesem Menschen, zu diesem Tier „macht“. Dabei stoßen wir auf eine freilich in sich völlig geschlossene Einheit jeder zu einem Leib gehörigen „Innerlichkeit“. Und alles „innerlich“ Psychische finden wir in eigentümlicher Weise zen t riert unter dem Titel „Ich“. Es fehlt hier ein hinreichend klares und allgemeines und ohne spezielle Bezüglichkeiten ausgeprägtes und ausprägendes Wort. Jedem Leib, auch dem tierischen, gehört eine solche Ich-Zentrierung zu und eine allgemeine Strukturform, die alles Psychische also umfasst,

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wonach das eine und selbe Ich dieses Leibes in einem mannigfaltigen Ich-Leben lebt, wobei jedes solche Leben den Charakter der ichbezogenen, ich-zentrierten In t en t io n alit ät (Bewusstsein-von) hat. Diese Intentionalität ist teils aktive, vom Ich-Zentrum, dem identisch verbleibenden Ich ausstrahlende Tätigkeit (ich erfahre, ich denke, ich wünsche, ich will etc.), teils auf das Ich-Zentrum hingehende Affektion, aus einem Medium einer Intentionalität her, die in gewissem Sinn schlafend ist und einen „dunklen“ passiven Lebensuntergrund ausmacht, nie vom Ich-Zentrum abgeschnitten und doch nur vereinzelten Momenten nach zu Affektion und dann eventuell antwortender Aktion sich wandelnd. Die Ich sind aber nicht bloß Einheitspunkte für ihr Leben, sie haben auch erfahrungsmäßig ihre „Vermögen“, ihre Habitualitäten, ihre bleibenden Kenntnisse, bleibenden Erfahrungsüberzeugungen, Denküberzeugungen, Willensüberzeugungen (Entschlüsse) etc., kurzum, sie sind in einem ersten Sinn personale Ich. Hier haben wir jedenfalls ein eigen w esen t lich G esch lo ssenes, aber für jeden Leib ein b esonderes, also – leibnizisch gesprochen – wir kommen auf Seelen als Mo n ad en. Aber im universalsten Rahmen der erfahrenen Welt haben wir die vielen miteinander wie immer „verflochtenen“ Dinge, darunter die vielen Leiber und „an“ ihnen, und doch in einem ganz besonderen Sinn, einem unphysischen, „an“ sie „geheftet“ die zugehörigen Seelen bzw. Subjekte, personalen Ich.

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Der n aturale Kern d er Welt in seinem jeweiligen Erfahrungssinn ist ein Erzeugnis erfahrenden T uns. G leichstellung der n aturalen Erscheinungsweisen und der Kulturgebilde. Erscheinungsweisen als Gegenstände der Praxis 1 D ie p erso n ale Welt, die Welt, mit der es in höherer Stufe die Geisteswissenschaften (die Geschichte, die Kulturwissenschaften) zu tun haben, ist immerfort d ie aktuell erfahrene Welt in ihrem erf ah ru n gsm äß igen Wie, wobei die erfahrende Identifizierung und Bestimmung auf die Realit ät sein h eit en geht, aber dabei beständig interessiert bleibt auch für das intersubjektiv verstehbare und bestimmbare „Wie es den jeweiligen Personen erscheint“.2 Das betrifft natürlich auch die Zeitlichkeit. Es wird über Gegenwart, Vergangenheit usw. ausgesagt; und tausend Jahre später versteht jeder diese völlig subjektiv-relative Bestimmungsweise; er identifiziert das, was früher „Gegenwart“ war, mit dem, was für ihn tausendjährige Vergangenheit ist, und weiß doch in Rechnung zu ziehen, was es historisch bedeutet, dass es für das vergangene Subjekt Gegenwart und damit ursprüngliche Aktualitätssphäre war, während dasselbe für den tausend Jahre späteren Historiker als Vergangenheit erledigt ist und außerhalb der Sphäre praktischer Möglichkeiten – für ihn – liegend. So haben wir3 hinsichtlich der Erfahrungswelt, die uns jetzt gilt, ein doppeltes Formensystem zu studieren: das der uns geltenden realen Welt selbst, die da erfahren ist, und das der Mannigfaltigkeit von „Darstellungen“, in denen sie sich für die Erfahrenden darstellt, und zwar so, dass diese Darstellungen in ihrer Mannigfaltigkeit und

1 Pfingstwoche 1926. – Thema: Die Erfahrungswelt, konkret als personale Welt in eidetischer Betrachtung ihrer formalen Notwendigkeiten. Von da aus Übergang in die phänomenologische Reduktion als neuartige Erfahrungseinstellung auf die konkrete transzendentale Subjektivität und ihr formales Apriori. 2 Das individuell Reale ist das Identische in der subjektiven und intersubjektiven Intentionalität von Erscheinungen und somit nur individuell bestimmt in Bezug auf die Subjektivität und letztlich in Bezug auf mich, den Aussagenden. 3 Doch wir Geisteswissenschaftler.

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jedes möglicherweise Erfahrene selbst in seinem Wie der Darstellung einen nicht minder intersubjektiven und damit „objektiven“ erfahrbaren Bestand ausmachen. Da ist aber zu bemerken: Zum Wesen eines personalen Subjekts (des Einzelnen wie der Gemeinschaft) gehört es, p rak t isch zu sein, Aktivität zu üben und dadurch Gebilde zu erzeugen und physische, da eine reale Umwelt für die Person immerzu vorausgesetzt ist, die notwendig als real in einem Wie der Orientierung etc. erscheint. So haben wir immer einen in einem Wie vorausgehenden „ Stoff “ und das daraus E rzeu gt e, das als Erzeugnis seinen geist igen S in n hat.1 Doch das eigentliche Erzeugen, das von neuem Realen aus realem Stoff, ist nicht die einzige Tätigkeitsleistung und nicht die unterste. Der Stoff der geformt wird, wird im eigentlichen Erzeugen verändert (wie beim Modellieren, Drechseln, Schnitzen etc.). Er kann aber auch unverändert bleiben und nur einen neuen geistigen Sinn annehmen, wie wenn ein Baum einen religiösen Sinn erhält, einzelsubjektiv oder intersubjektiv. Betrachten wir nun aber die Aktion des äußeren Erfahrens, des Erfahrens in Hinsicht auf naturale Beschaffenheiten, so ändert diese Aktion nichts am erfahrenen Realen, es verwandelt Apparenz in neue Apparenz; unter „Festhaltung“ des in den früheren zur Kenntnis Gekommenen2 vollzieht es stetige Kenntniserweiterung als fortschreitende Erfahrung vom selben sich nach seinem leibhaftigen Sein immer mehr enthüllenden Realen. Danach kann man sagen: Das schon erfahrene Reale, erfahren in einem Erfahrungssinn, gewinnt im m er neuen E rfahrungssinn, und dieser neue ist das „E rzeugnis“ des erfahrenden Tuns. Demgemäß rücken die Erscheinungsweisen, die zu dem naturalen Kern der Welt gehören, in eine Klasse zusammen mit den Vergeistigungen der Realität jeder Art, wie denen, die Kunstwerke und sonstige Kulturobjekte mit geistigen Charakteren erscheinen lassen.3 Wenn die Natur als Kernstruktur herausgestellt ist, haben wir einerseits die Mannigfaltigkeit der subjektiven „Erscheinungsweisen“

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Notabene. Nicht nur Werk. Auch jede Handlung ist ein „Gebilde“. Erhaltung in Seinsgeltung. 3 Gleichstellung der Erscheinungsweisen der Natur, als zur Aktion des äußeren Erfahrens gehörig, und der geistigen Gebilde im Sinn der Kunst etc. 2

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oder besser der „subjektiven“ Gestalten, die die Natur selbst in der personalen Umwelt haben kann als die identisch geltende, sich bewährende, – andererseits die mannigfaltigen subjektiven Erscheinungsweisen, die nicht minder als praktisch verwirklichte und zu verwirklichende in die personale Umwelt gehören, zu den Naturrealitäten als solchen gehören. Freilich, die geistige Bedeutung als Werkzeug, als Kunstgebilde etc. ist eine rein geistig-personale Leistung und steht d arin nicht gleich den naturalen Erscheinungsweisen, als diese schon aus der passiven Konstitution her dasein müssen und als systematischer Erscheinungshorizont vorgezeichnet, um in ihrem System abgewandelt zu werden. Aber immerhin bleibt es dabei, dass in der Subjektivität und subjektiven Praxis die Welt immerzu U m w elt ist als subjektiv gegeben und aus Tätigkeiten der Subjektivität sich abwandelnd und dass die personale Praxis ihren praktischen Wirkungsbereich hat in einer Realitätenwelt, die nur in ihren subjektiven und durch subjektive Aktivität veränderten Gestalten praktische Welt, personale Umwelt ist. Dadurch wird der Begrif f d er U m welt freilich zweid eu t ig, weil er bald die Realitäten selbst in ihrer Identitätserhaltung meint mit ihren realen Beschaffenheiten, bald die eigentlich praktische und eigentlich für die Subjekte in Erfahrung, im Gemütsverhalten und Willensverhalten zugängliche Welt, die Realitätenwelt im jeweiligen Wie.1 Dabei kommt aber noch Folgendes in Betracht. Alles, was für die Subjektivität gegenständlich ist oder gegenständlich wird, ist selbst notwendig in einem Wandel subjektiver Modi begriffen. Das gilt auch für die Gegenstände im subjektiven Wie-Charakter von denen wir sprechen. Aber gegenständlich können auch su b jek t ive Mo d i werden bzw. die Gegenstände in diesen Modis, d. i., sie werden zu Substraten von Aktionen, z. B. von Kenntnisnahmen und erkennenden Aktionen sonst. Statt einen Berg in seiner Realität kennen zu lernen, z. B. hinsichtlich seiner geologischen Eigenschaften oder seiner Raumform, Größe usw. und dabei in Kenntnisnahme zunächst von Erscheinung zu Erscheinung fortzuschreiten, von Apparenz zu Apparenz, von Aspekt zu Aspekt, wobei diese Erscheinungsweisen nicht selbst Gegenstände der Erkenntnis sind, kann ich diese oder 1

Doppelsinn von „Umwelt“: Welt schlechthin und Welt im subjektiven Wie.

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jene unter ihnen selbst zum Gegenstand machen, zum Gegenstand der Betrachtung und Bewertung, z. B. eine bestimmte „Aussicht“ von einer Stelle, dem freien Gipfelpunkt des Berges. Diese aber hat selbst ihre wechselnden Erscheinungsweisen. Wir sagen „Heute ist keine rechte Aussicht“, wenn ein Nebelschleier die Landschaft – den Landschaftsaspekt – „verhüllt“. Und wenn wir, den Platz wechselnd, zwar schon die Aussicht zu fassen bekommen, aber nach der Stelle suchen, von der man „eigentlich“ die wahre, die schöne Aussicht hat, so sind im Wechsel der Stellen und bewusstseinsmäßig die jeweilig abgewandelten Aussichten unvollkommene Darstellungen der einen Aussicht, der wahren, die wir durch sie hindurch meinen und endlich verwirklichen. Und schließlich hat alles und jedes Subjektive, das wir, uns selbst als zur Welt gehörige Menschen fassend, betrachten, einen unaufhörlichen Wechsel subjektiver Erscheinungsweisen. Blicken wir auf diese hin, so finden wir abermals dasselbe. Also auch das gehört mit in unsere praktische Umwelt, jedenfalls sofern oder zunächst sofern als es zum Erkenntnisthema für uns werden kann. Denn, wie gesagt, schon das erfahrende Tun ist personale Praxis. Und jedes festgestellte Sein ist in seiner Art ein praktisch Erledigtes, ein personaler Besitz (und somit ein bleibendes Gebilde unserer Praxis), wie nur irgendein Besitz im gewöhnlichen Eigentumssinn. Wir haben also eine unaufhörlich wechselnde Mannigfaltigkeit von Subjektivem, aber durch dasselbe hindurch eine Identitätsmannigfaltigkeit und vereinheitlichte Mannigfaltigkeit – die der Weltrealitäten bzw. der einen realen Welt. Also das Reich des Subjektiven ist sozusagen vielfältig p o larisiert, es trägt in sich selbst als erfahren letztlich ein Polsystem – das d er realen Natur. Es ist in verschiedensten Stufen mit subjektiven Charakteren ausgestattet, die andererseits doch für alle vergemeinschafteten Subjekte des „Wir“ mit den naturalen Trägern in eins identifizierbar sind in gemeinschaftlicher Erfahrung. Alles Subjektive, auch die konkrete Subjektivität selbst, tritt in der Erfahrungsumwelt auf als Nat u ralisiert es, Naturales mit subjektivem Sinn oder Gehalt ausstattend. Wir haben so beständig eine „objektive Welt“ vorgegeben als universales Feld möglicher Erfahrung, möglichen Denkens, aber auch möglichen Wertens und Handelns. Den thematisch erfahrenden universal-theoretischen Blick können wir gerichtet haben auf die Natur,

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die Kernstruktur dieser Welt. Wir können aber auch, ohne die Natur zum theoretischen Thema zu machen, vielmehr die Personalitäten, uns selbst und die Mitsubjekte, thematisch machen.1 Noch deutlicher: Sozusagen als Weltkind kann ich im Hinblick auf und im natürlichen Durchgang des Blickes durch Leiblichkeit hindurch auf die Personen und das personale Leben gerichtet sein und finde dann, während ich die Welt im universalen Raum etc. erfahrend „gegeben“ habe, als d aseien d in wohlvertrauter Gegebenheitsweise die Personen mit ihrem rationalen Leben und darin ihr Erfahren mit all den Erscheinungen, Kenntnisnahmen usw., worin die Welt und ihre naturalen wie übernaturalen (subjektiven) Beschaffenheiten gegeben sind.2 Ich finde sie aber nicht nur (sie, die leiblichweltlichen) als erf ah ren d e, sondern auch als p rak t isch e Subjekte sonst auf die erfahrene Umwelt bezogen, dieselbe, die für mich, den Betrachtenden, die meine ist, nur in anderem subjektiven Bestand, so dass meine Praxis nicht dieselbe wie die der betrachteten Personen sein kann. So3 eingestellt, kann ich Psychologie betreiben und konkrete Geisteswissenschaft wie Sprachwissenschaft, Kulturwissenschaft jeder Art, Staats- und Gesellschaftswissenschaft usw. Sie beruhen auf den verschiedenen in dieser natürlichen Einstellung möglichen Erfahrungsrichtungen und konsequent erfahrenden Sondereinstellungen, so z. B. auf die leiblich in der Welt seienden Personen, die als personal praktische eine praktisch apperzipierte Umwelt haben und in all ihrem weltgerichteten Handeln Leistungen zu Stande bringen, die nun Stand haben in der gemeinsamen Umwelt als Gegenständlichkeiten eines neuen, praktisch erwachsenen Sinnes, den jeder nun verstehen und der jeden motivieren kann, in Schätzung und Abschätzung, zu Genuss und Begierde des Besitzes usw. Die leiblichen Personen, die Menschen, verbinden sich zu sozialen Gemeinschaften dank wechselseitiger oder einseitiger sozialer Akte; und auch diese Leistung bedeutet für jeden Menschen, der mit dabei ist, und für die Gemeinschaft 1

Das Weitere nicht genügend. Es handelt sich also um die natürlichen positiven Weltwissenschaften: physische Naturwissenschaft, Anthropologie bzw. Zoologie, Psychologie und konkrete Geisteswissenschaft. 3 Am Rand des folgendes Abschnitts notierte Husserl „ungenügend“ und versah ihn mit einer Null. – Anm. des Hrsg. 2

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selbst, die so gebildete oder eine mit dabei seiende, einen Zuwachs in der Raumwelt, innerhalb deren wie die einzelnen Menschen so die Gemeinschaften, die jene von innen her durch Vergemeinschaftung bilden, zur Umwelt gehören. 5 Vor d en Wissenschaften liegt das n atürliche Leben, es ist Welt leb en. Im Leben sind wir immer raumweltlich gerichtet; die Welt ist immerfort vorgegeben, „erfahrungsmäßig da“, ist in der Habitualität des ursprünglichen Erwerbs als Universum immerzu in f est er G elt u n g, mögen wir auch auf ein Einzelstes und ein einzel10 stes Subjektives wie eine momentane psychische Regung ausschließlich gerichtet sein. Das Einzelne ist Einzelnes aus dem universalen Rahmen der Erfahrungswelt, die in dem einen universalen Strom des Erfahrens erfahren ist – auch wo das Erfahren eben die Gestalt eines vom Ich her nicht aktiv vollzogenen, erfassend sich betätigenden 15 Erfahrens hat. Das Einzelne hat seine Umgebung, auf die wir nicht achten und die doch mit da ist, wie die offen-endlose Umwelt.1

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Die Fortsetzung des Manuskriptes ist als Beilage XXXI in Husserliana IX abgedruckt. – Anm. des Hrsg.

Nr. 28 Die allgemeine Realitätenstruktur der Welt der Erfahrung und ihre fundierende S t r u k t u r „ Na t u r “ . Regionale Artungen der S elbsterhaltung und der Veränderung von konkreten Realitäten 1

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Inhalt: Die Methode der Konzeption der invarianten Form der Welt der Erfahrung. Die Hauptstrukturen dieser Form. Die allgemeine Realitätenstruktur und darin die unbedingt allgemein fundierende re10 gionale Struktur „Natur“. Ein Stück allgemeine Deskription dieser Region. (Zuletzt Veränderungsart der Teilung besonders analysiert.)

§ 1. Methode der Konzeption der invarianten Wesensform einer möglichen Erfahrungswelt überhaupt Die Welt ist als die in einstimmiger intersubjektiver Erfahrung beständig erfahrene und erfahrbare gegeben als raumzeitliche Allheit – „Welt“ – von Realitäten, wir sagen noch besser: All-Einheit, da die im raumzeitlichen Außereinander gesonderten Realitäten in der Allheit miteinander verbunden sind. Wir scheiden allerdings zwischen der uns einzeln und in Gemein20 schaft jeweils als seiend und soseiend erfahrungsmäßig geltenden Welt und der an sich wahren, und wissen dabei, dass das, was uns jetzt aus Erfahrung als Welt-Seiendes und Welt selbst gilt, in weiterer Erfahrung seine Geltung für uns verlieren kann. Wir haben also immer eine neue uns geltende Welt und doch durch alle Wandlungen 25 hindurch die Überzeugung von derselben Welt, die uns nur wechselnd bald so, bald so zu sein scheint. Betrachten wir d ie uns jetzt geltende Welt, als wie sie in der einstimmigen Erfahrung sich ausweist und bisher auswies (wobei selbstverständlich manche Scheine wegzustreichen waren, 30 welche die Einstimmigkeit der Erfahrung hemmten), denken den E rf ah ru n gssin n dieser Welt, ihn klärend und fortführend, allseitig 15

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zu Ende. Wir verfolgen die möglichen Erfahrungen über die wirklichen hinaus als solche, welche zu dieser Welt wesentlich mitgehören, wir denken den voraussichtlichen Gang künftiger Erfahrung, mit der das Zukünftige dieser Welt zur Gegebenheit kommen muss, fortlaufend ihn uns in irgendeiner Form anschaulich machend; das alles aber in einer Weise, dass unsere wirkliche bisherige Erfahrung mit der möglichen bzw. noch ausstehenden, aber anschaulich vorgestellten im Stile einer universalen einstimmigen Erfahrung ausgebaut gedacht wird: Dann machen wir uns damit klar, was diese uns jetzt geltende Welt ist, oder – mit Beziehung auf die Vieldeutigkeit der Wege der Ergänzung durch Erfahrungsmöglichkeiten – den Spielraum von Möglichkeiten für die Bestimmung des durch unsere Erfahrung nicht voll bestimmt vorgezeichneten Seins und Soseins. Denken wir uns in anderer und wieder anderer Erfahrungsgegenwart, so wird der in dieser Art klärend auszulegende Sinn der geltenden Erfahrungswelt ein im m er w ied er an d erer sein; und jeder wird wieder seine Vieldeutigkeit haben, selbst wieder verschiedene mögliche als geltend gedachte Welten implizieren. Ebenso werden verschieden sein die mir und anderen, die unserer Erfahrungsgemeinschaft und anderen Erfahrungsgemeinschaften geltenden Welten als solche und verschiedene nach den verschiedenen Erfahrungsgegenwarten.1 Vergleichen wir, so tritt ein überall Gemeinsames hervor unter dem Titel „der jeweiligen Subjektivität geltende Welt“. Bei aller Verschiedenheit des als Welt Geltenden verbleibt offenbar eine allgem ein e F o rm st ru k t u r invariant. Und noch mehr. Denken wir, in willkürlicher Phantasieabwandlung von diesen exemplarischen Fakta ausgehend, irgendeine faktisch geltende und anschaulich ausgelegte Welt variiert in beliebige reine Möglichkeiten als anschauliche Möglichkeiten in Form möglicher einstimmig fortzudenkender Erfahrungen und überschauen wir in der Einstellung des reinen Überhaupt (der unbedingten und reinen Allgemeinheit) das Universum solcher Möglichkeiten, das alle zufälligen Fakta mitumfasst, so finden wir korrelativ die Unendlichkeit reiner Möglichkeiten (reiner Erdenklichkeiten) subjektiv geltender Welten, und alle diese Weltmöglichkei-

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Es ist Deckung schon ohne Vergleichung – kontinuierlich in der Vergegenwärtigung Anderer eo ipso Deckung.

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ten decken sich wesensnotwendig in einer invarianten Formstruktur, ohne die eine wem immer geltende Welt als solche nicht denkbar ist. Endlich machen wir uns klar, dass diese Wesen sf o rm, die wir 5 jeweils vom exemplarisch genommenen Faktum unserer jetzt uns rein erfahrungsmäßig geltenden Welt aus uns in Evidenz auslegen, eo ipso auch zugehören muss der an sich wah ren Welt, die wir allzeit der uns, der jedermann, der jeder vergemeinschaftet erfahrenden Vielheit von Subjekten faktisch geltenden gegenübersetzen. Es ist 10 offenbar, dass diese an sich wahre Welt nichts anderes ist als die uns in präsumtiver Gewissheit geltende Id ee einer für jedermann einzeln und gemeinschaftlich so erfahrbaren Welt, die in solcher Einstimmigkeit in infinitum erfahren wäre und erfahren sein würde und – wie immer die Subjekte Erfahrungswege frei einschlügen – 15 dass nie und nimmer Unstimmigkeiten hervortreten würden, nie und nimmer die Subjekte geneigt wären, als seiend Geltendes und bisher Bewährtes in der Weise von Schein zu durchstreichen, dass keinerlei Korrekturen je vorkommen würden und vorkommen könnten, die den schon geltenden Sinn in seiner Geltung betreffen würden.

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§ 2. Veränderungsarten von Realem

Nachdem wir uns der Methode der Konzeption der invarianten Form einer möglichen Welt versichert haben, versuchen wir uns in einigen Schritten der Hauptstrukturen dieser Form zu bemächtigen. Mit anderen Worten: Wir beschäftigen uns in einer Strecke mit 25 der Konzeption einer O n t o lo gie d er Welt , rein als Welt d er E rf ah ru n g oder vielmehr – und das ist ja der Sinn einer Ontologie – mit dem Apriori nicht des möglichen Welterfahrens, sondern einer möglichen Erfahrungswelt als solcher. Es ist natürlich schon ein Allgemeinstes der Form, was wir vor30 ausgeschickt haben, indem wir sagten: Die Welt ist eine All-Einheit von Realitäten, des Näheren, sie ist eine Unendlichkeit des Außereinander von Realitäten. Was diese „Unendlichkeit“ und was das Außereinander zu einer verbundenen Allheit macht, lassen wir hier außer Frage. Betrachten wir die Weltform des Außereinander 35 als Form für alles und jedes, was in der korrelativ zugehörigen Form

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Reales oder weltlich seiender konkreter Einzelgegenstand (Objekt, Ding im weitesten Sinne) ist. Jedes Reale ist im Außereinander Individuum, d. h. nur einmal vorhanden. Das heißt: Die Form des Außereinander ist die einer Stellenordnung, in der an derselben Stelle gleichzeitig nur ein Reales und an verschiedenen nur verschiedene, nicht identische Realen auftreten können. Des Näheren ist diese Stellenordnung eine zweifache und ein Miteinander in der Weise, die wir als Zeit-Räumlichkeit bezeichnen, untrennbar und an jeder Stelle verbunden. Jedes konkrete Reale hat seine Dauer und in dieser Dauer eine individuelle Stelle in der universalen Weltzeit, der universellen Ordnung einmaliger Zeitstellen (einer unendlichen kontinuierlichen linearen Ordnung, deren genauere Beschreibung wir übergehen können). Jedes Reale hat seine räumliche Gestalt-Ausdehnung und diese (mit ihr das Reale selbst) hat in jedem Zeitpunkt der Dauer eine individuelle Stelle im Raum, und darin beschlossen hat in jedem dieser Zeitpunkte jeder Punkt der räumlichen Ausdehnung seine individuelle Stelle im Raum. Der Raum selbst ist das unendliche individuelle Stellensystem der wirklichen und möglichen räumlich ausgedehnten Gestalten (purer Raumkörper) und der ihnen zugehörigen Punkte sowie Teilgestalten, derart, dass in demselben Zeitpunkt bzw. derselben Zeitdauer an derselben Stelle nicht zwei Reale sein können, dass eine im Stellenraum erdenkliche Gestalt nicht reale Gestalt für zwei Realitäten sein kann und zwei getrennte Gestalten im selben Zeitpunkt nicht Gestalten für dasselbe Reale sein können, also zwei Reale, die zusammen dauern, nicht in der identischen Dauer eine identische Gestalt bzw. eine identisch sich verändernde haben können. Hier tritt uns sogleich die Möglichkeit der G est alt än d eru n g (Deformation) entgegen. Ein Reales hat in der Dauer, in der es als dasselbe fortdauert, in jedem Zeitpunkt seine individuelle, d. i. im Lagenraum der Lage nach bestimmte Gestalt, aber zugleich in einem neuen Sinne Einheit der Gestalt in der ganzen Dauer, Einheit in der Form seiner sich kontinuierlich verändernden Gestalt (bzw. sich nicht verändernd, d. i. von Zeitphase zu Zeitphase gleich bleibend). Diese Unveränderung ist offenbar ein Grenzfall der Veränderung. Eine zweite Änderung der Gestalt oder vielmehr der gestalteten Ausdehnung ist die O rt sverän d eru n g, die notwendig eine stetige ist: Bewegung.

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Gehen wir in der etwas rohen, viel genauer durchzuführenden Beschreibung fort. Ein konkretes Reales ist nach dem Bisherigen durch die raumzeitliche Lage „individuiert“. Die Zeitlage und lagenmäßig bestimmte Zeitstrecke individuiert erst vollkommen durch die lagenmäßig bestimmte Gestaltausdehnung. Aber konkret ist es durch die zeiträumliche Fülle. (Wobei die Gestalt schon als Zeitfülle, nämlich Fülle der individuellen Dauer anzusehen ist. Aber dies gehört noch zur Individuation, zur individuierenden Form des Außereinander.) Die zeit räu m lich e Fü lle, die durch die zeiträumliche Lage bzw. lagenmäßig feste zeiträumliche Extension (Dauer, gestaltete Ausdehnung) mitindividuiert ist, ist eine Fülle von q u alit at iven Momenten; sie sind das, was sich durch die Ausdehnung hindurch dehnt, sie „qualifiziert“. Hier wären wieder die Bedingungen der Einheitlichkeit einer Qualifizierung für das Reale bzw. für die ganze zeiträumliche Ausdehnung zu erörtern, da jeder zeiträumliche Punkt seine Qualifizierung einmalig hat und zum Realen Einheit einer Gesamtqualität als Synthesis aller qualifizierten Punkte zur Einheit einer konkret erfüllten realen Ausdehnung gehört. Die Qualifizierung bringt neue Modi der Veränderung gegenüber der Bewegung und der bloßen Deformation als Veränderung der räumlichen Ausdehnungsgestalt. Und beides natürlich hat seine Wesensbedingungen. Die neue Veränderungsart ist die q u alit at ive Verän d eru n g, und zwar Veränderung der einheitlichen Qualifizierung während der Dauer, mit den zugehörigen Wesensbedingungen. Veränderungen überhaupt sind nicht beliebig als Veränderungen einer Realität, welche eine sein soll, die sich verändert und in den Veränderungen identisch bleibt. Die Realitäten im Außereinander sind vielfach voneinander abhängig; es hängen Veränderungen einer Realität von Veränderungen anderer Realitäten ab und dann auch wechselseitig. So sind Veränderungen, in denen sich ein Reales als Identisches erhält – als dasselbe im Immer-wieder-andersWerden –, geregelt, und diese Regelungen sind die Gesetzmäßigkeiten der Kausalität (wobei wir noch nicht wissen, ob „Gesetz“ einen laxen Sinn, den einer vielleicht nur ungefähren Regelung, oder einen exakten Sinn haben soll). Diese Ausführung bedarf aber noch einer wesentlichen Ergänzung, die auch in den Sinn des schon über Veränderung und Kausalität Gesagten eingreift.

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Die Realitäten der Welt – einer möglichen Welt überhaupt – haben ihre regionalen Formen; zur Struktur einer Welt überhaupt gehört ihr formaler Aufbau nach Regionen. Realitäten sind nicht von einer Art und alle Arten nicht von einer obersten Gattung, und können es nicht 5 sein. Das aber bestimmt, wie gesagt, mit die Begriffe von Veränderung und Kausalität bzw. den Sinn der Selbsterhaltung der Realitäten als identischer individueller Weltgegenstände.

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§ 3. Regionsspezifische Arten der Selbsterhaltung konkreter Realitäten und regionsspezifische Arten des Übergangs von Erhaltung zu Vernichtung In verschiedenem Sinne kann von S elb st erh alt u n g gesprochen werden und von ihrem Gegenteil, das auch nicht zu übersehen ist, wenn wir, der Erfahrung allein folgend, von der Welt als Welt der Erfahrung sprechen. a) Selbsterhaltung in Form der fortdauernden Identität in der Veränderung. Das Reale erhält sich in seiner erfüllten Dauer, indem es sich verändert, und im Sich-Verändern liegt – eben darin verharrend –: ein und dasselbe sein im Anderssein von Zeitstelle zu Zeitstelle der eigenen Dauer. Hier sind Wesensbedingungen zu erfüllen der Ermöglichung der Einheit im Anderssein. b) Das Wort „Veränderung“ wird lax gebraucht. Man könnte gelegentlich als eine der Veränderungen in der organischen Natur den Übergang von Leben zu Tod bezeichnen. Aber ein toter Organismus ist nicht mehr Organismus. Aber er ist noch ein Körper, noch zeitweise ein Gemisch von organischen Wesen und bloß unorganischen Elementen etc. Man kann noch von Einheit der Realität – in der Welt fortdauernd – sprechen, aber nicht mehr von Einheit eines Organismus. Und ist es ein Mensch, so ist das „Sterben“ des Organismus zugleich Sterben des Menschen; aber zugleich – und sei es auch notwendig – ist hier doch noch ein anderer Bruch der Selbsterhaltung: der Selbsterhaltung des Menschen als Geist und als konkreter Mensch überhaupt, zu dem wesentlich die Selbsterhaltung des Organismus als Organismus gehört. Sprechen wir von der S elb st erh alt u n g ein es Realen, so können wir geleitet sein von einer Erhaltung der Einheit der Realität, wie

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immer sie sich „verändern“, wie immer ihre Zeitfülle sich wandeln mag – wofern nur irgendeine Einheit bleibt. Dann stehen wir in der allgemeinsten Kategorie „Weltobjekt“ und halten uns nicht einmal an den prägnanten Begriff des identischen individuellen Substrates, es genügt dann Einheit eines Vorgangs. Oder wir haben ein konkretes Reales wie ein physisches Ding oder einen Organismus oder ein Tier, einen Menschen, und lassen uns angesichts dieser regionalen, unsere Erfahrung sinnbestimmenden Typik von vornherein vom Regionalen leiten. Also Selbsterhaltung eines physischen D inges. – NichtSelbsterhaltung ist ein Zerfallen in Teile und Sich-Verstreuen in alle Winde, wobei jedes Element sich erhält wieder in der Region „physisches Ding“. 1 S elb st erh alt u n g d es Organ ismu s hat sich gegenüber diejenige „Veränderung“, diejenige Wandlung der realen Zeitfülle, die seinen Tod bedeutet, die seine regionale Einheit aufhören lässt.2 Ein Organismus erhält sich in seinen echten, eigentlichen Veränderungen, denjenigen, in denen er derselbe ist und immerfort ist – lebend.3 Selbsterhaltung des Menschen ist ebenso Verharren in seinen menschlichen Veränderungen, wozu die Selbsterhaltung und das Verharren als Organismus gehört und die Selbsterhaltung als geistige Person, fortdauernd als solche in den eigentümlichen geistigen Veränderungen. Dem steht gegenüber der geistige Tod, der T o d d er Perso n als so lch er, damit in eins der Tod des Menschen, als welcher organischer und geistiger Tod in eins ist. Nehmen wir noch andere Beispiele. Eine Stadt existiert, sie lebt fort, sie erhält sich in der Welt als Einheit einer Mannigfaltigkeit von Veränderungen, Veränderungen in verschiedener Hinsicht, im Wechsel der Lebenden und Sterbenden, der hineingeborenen, eingewanderten etc. Bürger (das Analogon des Stoffwechsels bei Organismen), im Wechsel der Neubauten, der verfallenden, der niedergebrannten etc. Häuser, im Wechsel ihrer Verfassung usw. Aber sie erhält sich nicht, sondern stirbt, etwa von einem Vulkanausbruch völlig zerstört;

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= Zerstörung eines Dinges. Zerstörung des Organismus = Tod. Lebender Organismus = sich als solcher selbst erhaltender.

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sie lebt aber als dieselbe wieder auf, wenn ein Teil der geflüchteten Bürger „sie“ wieder aufbaut, ihren historischen Sinn kontinuierend. Ein Ku n st werk erhält sich regional als Kulturgebilde und im Besonderen unter der Idee „Kunstwerk“, solange sein physischer Körper nicht zerfällt und diejenige physische Erhaltung statthat, an die der geistige Sinn in Identität gebunden bleibt. Das physische Ding, der Marmorblock, kann sich forterhalten, und so ist Einheit einer Realität noch kontinuiert, aber Einheit der Realität unter dem allgemeinsten Sinn „Reales“, aber nicht unter dem Sinn „Kunstwerk“. So haben wir unter dem obersten Titel „Reales“, „sich in der Welt des individuellen zeiträumlichen Auseinander selbst erhaltendes Verharrendes“, eine Mehrheit von Regionen und innerhalb jeder Region Artungen konkreter Realitäten. Jed e h at ih re Art zerstört zu w erden, zerstört als Reales seiner Region bzw. seiner regionalen Artung, was nicht besagt: Zerstörung als Realität überhaupt. Sie kann ja die Bedeutung haben des sich trotzdem Durchhaltens realer Einheit. Aber darin liegt, dass im regionalen Wandel, der da „Zerstörung regionalen Seins“ heißt bzw. „Übergang von regionaler Erhaltung zu regionaler Vernichtung“ (z. B. nicht mehr ein Mensch sein, nicht mehr ein organisches Reales sein), ein e allgemeine Region liegt , d ie Einheit herstellt u n d  die in jeder anderen Region die f undierende sein muss. Durch alle sonstigen Regionen hindurch reicht die Region „p h ysisch e Nat u r“, und zwar im Sinne der „Physik“ in der Weise, dass jedes Reale entweder bloß physisches Objekt ist oder zugleich physisches Objekt und durch eine höhere Schicht von Bestimmungen Reales der neuen Region, wobei die bloß physischen Bestimmungen, die in sich zu einer physischen Realität geeinigt sind, und die nicht-physischen zur Einheit einer Realität zusammengehören, was für die Form der Einigung gewiss näher zu erforschende Bedingungen bedeutet, die notwendig erfüllt sein müssen.1 So ist ein Mensch nicht bloß, aber auch ein physisches Objekt, näher: real physisch als eine gewisse Vorgangseinheit, eine Vorgangsrealität und als solche verharrend, des Näheren in der Weise biophysischen Seins eines Organismus. Physisch verharren die letzten 1

Das gilt auch für Reales im weiteren Sinne von „Weltobjekt überhaupt“.

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physischen Elemente, die im Stoffwechsel durch den Organismus hindurchströmen und seine Vorgangseinheit fundierend bestimmen. Zudem verharrt die Form dieses Stromes und so, dass sie zu einem neuartigen, schon fundierten Substrat wird, zum Organismus als Substrat von organischen Eigenschaften, sich so erhaltend, verharrend in der raumzeitlichen Welt. Aber darüber hinaus hat der Mensch die geistigen Beschaffenheiten und wieder so, dass er, derselbe konkrete Mensch, zugleich in diesen als derselbe Mensch verharrt. Er ist derselbe, zu dessen individuellem Sein jene Elemente (mit denen das organische Sein „hervorgeht“) und als in sich verharrende Elemente gehören, verharrend, während sie im organischen Vorgang fungieren; aber freilich in sich auch, nachdem sie das nicht mehr tun. Desgleichen ist der Mensch derselbe in seinem Sein als seiender (lebendiger) Organismus, dessen gesamte Bestimmungen auch dem Menschen zu eigen sind, und endlich derselbe in seinen geistigen Bestimmungen. D erselb e Men sch, das ist dasselbe reale Individuum in der Welt des Außereinander, und diese d reif ält ige S elb igk eit besagt nicht ein kollektives Zusammen und Gleichzeitigsein, Zusammensein in einer Dauer, sondern es ist Selbigkeit in der Einheit eines Dauerns im besonderen Sinne einer verharrenden realen Gegenständlichkeit. Was dieses reale Einssein als einheitliches Verharren in der Mehrfältigkeit besagt und wie jeweils die Fundierung zu verstehen ist, das ist ein Problem, das gestellt und gelöst werden muss. Mit anderen Worten: Man muss daraufhin die regionale Einheit „Mensch“ (und so jede fundierte Region), als wie sie E rf ah ru n gsein h eit ist, befragen, man muss ihren Erf ah ru n gssin n, so wie er sich ursprünglich ausweist, in diesen Richtungen auslegen. Wir sagten: Jedes konkrete Reale ist auch und ist an sich zuerst Naturobjekt (physisches), und das kann man jedem Realen ansehen in einer Abstraktion, der es gleichgültig ist, welche außerphysischen Bestimmungen noch mitfungieren als reale Bestimmungen und wie sie sich wandeln. Korrelativ: Der Blick richtet sich auf diejenigen Bestimmungen, die ein Reales überhaupt haben muss, um im Außereinander raumzeitlich zu „verharren“ und in diesem Sinne sich einheitlich zu erhalten. Sie konstituieren die regionale Form „physisches Objekt“ in ihren verschiedenen ursprünglicheren und fundierten Gestalten (physikalisch und biophysisch) und zugleich zeigt sich als wesensnotwendig, dass alle physischen Objekte zur E in h eit ein er u n iversalen

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p h ysisch en Nat u r (All-Einheit der Naturobjekte) zusammengehen oder dass d ie Welt zuunterst universale Natur ist. Wenn die Welt „mehr“ ist, wenn die konkreten Realitäten der Welt ihrerseits mehr sind als bloße Natur, so muss nun erst gefragt werden, was diese leer-formale Rede vom „mehr“ bedeuten darf. Und man darf, von der gewohnheitsmäßigen Einstellung der wissenschaftlichen Naturbetrachtung missleitet, das Mehr nicht so interpretieren, wie in der Betrachtung eines Naturobjektes als eines Ganzen von Stücken, wobei in der Richtung auf ein Stück das Mehr das physische Plus ist der ergänzenden Stücke. Also wiefern überhaupt von Ganzen und Teilen, von dem ganzen Menschen und von seinem fundierenden Teil „menschlicher Körper“ und von einem ergänzenden Stück „Seele“ die Rede sein kann oder von einer objektiven Koexistenz von Leib und Seele analog wie von einer Koexistenz zweier Körper etwa zweier nur verschiedenfarbiger und durch eine besondere Kausalregelung zu einem Doppelstern „verbundener“ Körper, das muss sorgsam untersucht werden und darf nicht als Vorurteil anthropologische und psychophysische und psychologische Untersuchungen dirigieren. Vorurteile können ja blind machen für Tatsachen; Missdeutung durch sie ist Blendung, die an den Tatsachen, an ihren Einzelheiten und Verbindungsweisen verdeckt, was ursprünglich notwendig da ist. So natürlich für jede fragliche Region, obschon uns hier der Mensch im Besonderen interessieren soll als mögliches Thema theoretischen Erfahrens, als Grundlage für jedes theoretische Erkennen höherer Stufe. Vorauszustellen.1 Besprochen allgemein Veränderungsarten von Realem überhaupt, aber die Wesensscheidung der Realitäten in Regionen der Allregion, – wie wir beizufügen hätten – „mögliche Welt überhaupt“, bedingt eine Lehre von den Veränderungsarten, die zum Wesen jeder Region für sich als spezifisch regionale gehören. So wie gleich besprochen wird für die physische Region die Veränderungsart der Teilung und Verbindung. Doch ist das eigentlich eine Veränderungsart und nicht die besondere Art der Zerstörung, wenn wir eben Zerstörung „Veränderung“ nennen sollen. Diese Zerstörung, heißt es dort auch, ist Verwandlung von Realem in ein Reales hier derselben

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Dazu die Beilage ρ1 ρ2 = Beilage XXII

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Region: Veränderung unter Erhaltung des kausalen Wesens, aber im Wandel der Form der realen Selbständigkeit zur Unselbständigkeit in der Zusammenstückung und der Unselbständigkeit zur Selbständigkeit in der Teilung.

Beilage XXII Naturale Veränderungsarten von Realem: Zusammenstückung und Teilung, Mischung und Entmischung. Naturkausalität und die Möglichkeit personalen Eingreifens in das Naturgeschehen1

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Ergänzungen: Die Natur bildet eine Region, die „fundierende“. Jedes Reale hat eine Natur, auf die alle Regionen wesensmäßig zurückbezogen sind. Der Teilbarkeit der räumlichen Extension entsprechend, hat jedes Naturobjekt eine Teilbarkeit als Zerstückung in selbständige Realitäten. Ist also Zerteilung nicht eine naturale Veränderungsart? Ihr entspricht Verbindung von selbständigen Naturrealitäten zu Ganzen, in welche diese als Stücke eintreten: also die reale Zusammenstückung als Veränderungsart. Was sich da verändert, ist das Reale, das zum bloßen Stück wird, andererseits das Reale, das in eine Vielheit von Realen zerfällt.2 Aber im echten Sinne sind das nicht Veränderungen, sondern Geschehnisse, die Reale zerstören und in andere Reale verwandeln.3 Doch hat es ein Recht zu sagen, dass ein Reales in der Wandlung des Teil-Werdens oder SelbständigWerdens sein identisches Wesen erhält und nur die Form der Selbständigkeit und Unselbständigkeit habe sich gewandelt? Das identische reale Wesen betrifft auch das kausale Verhalten. Demgemäß wird jedes physische Reale mit Beziehung auf mögliche Teilung als ein Ganzes von Teilrealitäten angesehen und fortgehend, solange eine Teilung noch als möglich gedacht wird. „Akkommodation“ als eine Form des Fortgangs der Erfahrung führt die Idee einer Akkommodation in infinitum mit sich und damit einer Teilbarkeit in infinitum. Gegenstück von Zusammenstückung und Teilung ist Misc hung und E n t m i s c h u n g (Verschmelzung und Entschmelzung). Zwei unterschiedene Realitäten können nicht an demselben Ort sein, aber sie können sich mischen, 1 2 3

Wohl 1929. – Anm. des Hrsg. Das ist doch Zerstörung. Teilung und Zusammenstückung.

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besser: sie können zu einer Realität verschmelzen und wieder entschmolzen werden zu gesonderten Realitäten. G anz e und Mengen; sekundäre Realitäten. Eine Menge kann als Einheit einer Realität sich geben, sofern sie als Einheit einer Ausdehnung (durch eine sie umschließende Mengengestalt) mit Einheit einer Fülle, Einheit einer Bewegung, einer qualitativen Veränderung, in einheitlicher Kausalität unter Umständen gefasst werden kann. Mengen sind auch außereinander und im Außereinander können einzelne Objekte und Mengen sein. So können auch V orgänge und V orgänge kollekt iver F orm wie Realitäten angesehen werden – eine reale Einheit, eine Einheit im Außereinander durchhaltend. Vorgänge haben ihre Typik und haben in ihrer Typik eventuell eine Selbsterhaltung, Erhaltung einer erfahrbaren Identität im Sinne verharrenden Seins in der Einheit gebenden Typik. Organismen. Biologie. Physikalisch-chemische Einstellung: gerichtet auf letzte Teile, oder auf die in beliebig fortgesetzter Teilung der res extensa erwachsenden Realitäten der physischen Urregion und ebenso in fortgesetzter Entmischung. Idee der gesetzlichen Erkenntnis aller physischen Realitäten durch ihre physiologisch und chemisch aufbauenden Elemente, Richtung auf die universalen Gesetzmäßigkeiten der Realitäten in Teilung und Mischung. Das aber unter beständiger Betrachtung der kausalen Eigenheiten also in Bezug auf Konstellationen äußerer Umstände. Von da aus Betrachtung der Vorgänge und Versuch der Klärung der Vorgangstypik aus den Elementargesetzlichkeiten und dem Aufbau der Natur überhaupt aus dem Elementaren der Teilung und Mischung. Idee des letzten Substrates, der letzten Substanzen in der Sphäre der Natur, gegenüber den logischen Abwandlungen. Jedes N at ur- R eal e hat als Formbestimmtheit die, dass – wenn es rein für sich betrachtet wird – alle seine wirklichen und möglichen Veränderungen, auch Teilung und Mischung, und alle Vorgangsbildungen, Substratbildungen höherer Stufe unter kausaler R egelung, und zwar rein innerhalb der N at ur stehen. Damit ist nicht gesagt, dass innerhalb der bloßen Natur alles Geschehen eindeutig bestimmt ist und dass ein hyperphysisches Eingreifen, Eingreifen von Ich-Subjekten, ausgeschlossen ist, dass insbesondere das personale handelnde Wirken in der Natur ein Schein ist. E s kann sei n, dass eine universale Naturkausalität (in die also jede Naturveränderung einbezogen ist) gerade die Voraussetzung ist f ür personales „ E i n grei f en “, das also nie die Naturordnung ändern kann, da es sie gerade voraussetzt. Universale Naturkausalität lässt notwendig noch etwas offen.

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Jedenfalls aber bleibt es dabei, dass jedes physische Reale auf seine physische Umgebung und letztlich, als offene Möglichkeit, auf das ganze physische Universum außer ihm kausal bezogen ist und in all seinem Veränderungsgehaben seinen kausalen Stil, seine kausalen Eigenschaften hat, seine „Kräfte“. In ihnen drückt sich aus, dass physisch Reales unter gleichen Umständen sich gleich verhalten würde und dass induktiv sein bestimmtes Verhalten im Voraus zu erkennen ist. Jedes Reale als zu einer Region gehörig hat den kausalen Stil in Allgemeinheit, der zur Region als solcher gehört und in dem jedes physische Ding im Voraus aufgefasst wird. Darin liegt ein formaler Aufbau aus kausalen Eigenschaften. Die Induktion folgt dieser Vorzeichnung und ermöglicht die Erkenntnis von besonderen Arten der Realität dieser Region (und ähnlich für jede Region) nach den ihnen zugehörigen besonderen Kausalitäten. Zu verfolgen sind die verschiedenen Veränderungsarten und Zerstörungsarten in jeder Region als spezifisch regionale; z. B. ein Bild, das zerschnitten wird, Teile, die noch Bilder sind, im Gesamtbild aber Teilfunktion haben. Herausschneiden einer Büste aus einer Statue; ebenso „Veränderungen“ des Bildes als Zerschneiden, Zerfetzen in Fasern, die nichts mehr von Sinn an sich tragen. Veränderungen des Umarbeitens, Veränderungen des allmählichen Verderbens, des Verblassens der Farben etc. Veränderungen einer Symphonie durch „abscheuliche Reproduktion“, „Entstellung“. Veränderungen einer Maschine durch Abnutzung, Veränderungen durch Zertrümmerung. Veränderungen durch Abteilung in Teilmaschinen, die für sich funktionsfähig sind: eben noch Maschinen. Die physische Unterlage: der einheitliche bloße Naturkörper. Darüber „gebreitet“ Einheit des Zwecksinnes, eines künstlerischen Sinnes, einer Bildhaftigkeit durch Spiegelung usw.; die zugehörigen Formen der „Veränderung“, der Zerstörung der regionalen Einheit.

Nr. 29 Welt – reale und ideale G egenstände. Der n aturale Kern d er erscheinenden Realitätenwelt und die Weltlichkeit der idealen Gegenständlichkeiten 1

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Inhalt: Die Strukturtypik der vorgegebenen Welt – ihre Identitätsstruktur. Erscheinende Welt als solche: Identischer Kern, der Identitätserfassung bei der Relativität der Apperzeptionen, verschiedener mit verschiedenem Seinssinn, möglich macht. Seine Wesensform; aber zwei 10 Schichten von Wesensformen. Einerseits Form des Kernes, andererseits Form der humanen, geistigen Gehalte, geschieden nach Subjektgruppen. Erscheinungsweisen, die den einzelnen Subjekten zugehören, und solche der intersubjektiven Erfahrung.

§ 1. Die Identitätsstruktur der vorgegebenen intersubjektiv erfahrbaren Welt und ihre beiden Schichten von Wesensformen: Formen des naturalen Kerns und Formen der kulturalen Bestimmtheit. Unbedingt objektive und relativ objektive Weltwahrheit

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Die Welt, das Universum des für uns als seiend Vorgegebenen: im Besonderen Welt als Universum der realen Gegenstände, „real“ das einzelne vorgegebene Mundane. Die Fundierung der „Realitäten“. Das konkrete Reale, was vorgegeben ist in der Art, dass seine t h em at isch e Erfahrung nicht vorher der thematischen Erfahrung eines anderen bedarf. Das Konkrete geht in der Erfahrung dem 25 Abstrakten, dem unselbständig Erfahrbaren, voraus. Muss man auch sagen: „Die singuläre Einheit geht der Mehrheit – in der thematischen Erfahrung – voraus“? Aber konkrete Mehrheiten sind doch erfahren. Reale Einheit und Mehrheit – ein relativer Unterschied; die Einheit kann schon abstrakt sein. 30 Letzte Konkreta. „Letzte“ besagt nicht „Atome“. Ein Letztes ist ein singuläres Ding. Aber es ist teilbar, zerstückbar. Zerstückung 20

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ist eine der möglichen Weisen der „Veränderung“ im weitesten Sinne, wodurch konkrete Einheit in eine konkrete Mehrheit zerfällt. Stammt jeder Teil aus Teilung? Ist ein Zweig ein Teil? Ist ein Stein ein letztes Konkretum? Oder nicht vielmehr die Erde? Und ist die Erde ein 5 letztes Konkretum und nicht vielmehr Teil etc.? Führt diese Relativität mindestens im Reich der schlichten Erfahrung zu einem wirklich Letzten? Wird nicht etwas zum Teil (das vorher als etwas für sich erfasst worden war), ohne dass vorher das Ganze erfahren war und Teilung den Teil abgespalten haben müsste? Also da ist zu forschen. 10 Jedenfalls der obige Begriff des konkreten Realen wird nicht betroffen. Die S t ru k t u rt yp ik der vorgegebenen Welt, ihre Id en t it ät sst ru k t u r, die für uns, für jedermann überhaupt Identität einer allgemeinsamen Welt ermöglicht. Wir identifizieren dasselbe Ding, aber wir sagen auch: Verschiedene Menschen, verschiedene Völker 15 etc. fassen dasselbe (von ihnen als dasselbe erfahrene) Ding in verschiedenen Weisen auf.

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Welt für mich, für uns Deutsche etc., in solchem Menschheitskreis, in dem wir uns miteinander, ich und irgendein Anderer, verständigen und dieselbe seiende Welt, dieselben Objekte haben als sich in unserer Erfahrungsgemeinschaft als identische bewährende. Diese Erfahrungsidentität schließt nicht aus, dass der gegenständliche Sinn, in dem ich und der Andere dasselbe erfahren, ein verschiedener ist. Aber soll die gemeinschaftliche Identität bewährbar sein, so muss in dem, was ich erfahre und der Andere erfährt, in dem Gehalt an inneren Merkmalen desselben, ein identischer Inhaltskern, ein objektiv für mich und f ü r jed erm an n identischer, enthalten sein. Und so hat dieselbe Welt für uns alle rein als Welt gemeinschaftlich einstimmiger Erfahrung ein unbedingt Objektives, über das hinaus dann noch Bestimmungen o f f en sind, die su b jek t iv (bzw. nach den Sondergemeinschaften, in denen ich bin und der Andere ist und in denen sich der gemeinschaftliche gegenständliche Sinn konstituiert) wechseln. In der Gemeinschaftserfahrung, aber beschränkt auf diese Gemeinschaften, bewähren sich auch diese Merkmale und gehören für ihre Glieder zum Bestande des wahren Seins der betreffenden Realitäten – für sie, diese Menschen. Dahin gehören die Produkte der Kulturwelt. Nun hat aber die Welt als Welt der Erfahrung irgendwelcher Menschen immer und notwendig solche Merkmale; und

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diese haben selbst eine allgem ein e F o rm als Prädikate einer Erfahrungswelt für Menschen. So haben wir zw ei S ch ich t en vo n Wesensformen: 1) Die Form des Kernes der unbedingt objektiven Prädikate, die offenbar die Identifikation von Weltlichem unbedingt ermöglichen, die eben individuelle Identität des Realen begründen als unbedingt allgemein erfahrbar. 2) Die Form, die darüber hinaus zu den intersubjektiv erfahrbaren Realitäten hinsichtlich der Bestimmungen gehört, die zum konkreten Gehalt des jeweils Erfahrenen und Erfahrbaren gehören als solche, die in ihrer Wesenstypik notwendig, aber doch nicht für jedermann denselben besonderen, denselben individuellen Gehalt haben müssen. Doch ist zu beachten, dass wir von dem Merkmalsgehalt sprechen, der sich für den Erfahrenden (teils unbedingt allgemein für einen jeden erdenklichen überhaupt, teils für ihn nur individuell oder in seiner Sondergemeinschaft gemeinschaftlich) in Erfahrung bewähren lässt. Das betrifft also den gegenständlichen S inn der Erfahrung, den ontischen Inhalt, Merkmalsgehalt. Andererseits, jeder Gegenstand und jedes Merkmal des Gegenstandes (jedes wahrhaft seiende) hat seine subjektiven, seine intentional konstituierenden Modi der Erfahrungsgegebenheit, seine Erscheinungsweisen, die ihre Wesensgestalten haben, ohne die einstimmige Erfahrung als Erfahrung des betreffenden Gegenstandes in seinem gegenständlichen Sinn undenkbar ist. Jeder Gegenstand ist danach und nach jedem Merkmal auch mit relativen Beschaffenheiten auszustatten, nämlich solchen, in denen rekurriert wird von dem Ontischen auf die Gegebenheitsweisen des Ontischen. So gehört also zu jedem Mundanen eine unbedingt allgemeine Wesensstruktur seiner intentional-konstitutiven Beschaffenheiten, und diese scheidet sich jener Zweischichtung des gegenständlichen Sinnes gemäß in die Wesensform der „Erscheinungsweisen“, die zu dem unbedingt objektiven Kerngehalt gehören, und in die Wesensform derjenigen Gegebenheitsmodi, in denen sich jener wechselnde Überschuss darstellt. Für die Erscheinungsweisen haben wir zu unterscheiden: diejenigen (in ihrer Wesensform), die den ein zeln erfahrenden Subjekten zugehören, und wir finden dann ihnen zugehörige Unterschiede der

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einzelpersonalen Normalität und Anomalität; weiter aber hinsichtlich der gem ein sch af t lich en Erfahrung die Wesensform der intersubjektiven Gegebenheitsweisen in der intersubjektiven Synthesis, so hier die Form der intersubjektiven Normalität und Anomalität. Diese 5 Fragestellungen betreffen jede der beiden Schichten für sich.

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Wenn wir die Welt als Welt der menschlichen Erfahrung beschreiben, als welche in der Erfahrung eines jeden Menschen konkret erfahren ist, in Wechselverständigung als dieselbe – wenn auch nicht jeder dasselbe mit demselben gegenständlichen Inhalt erfährt –, so ist zu scheiden zwischen der Nichtübereinstimmung der verschiedenen Subjekte unter dem Titel des Gegensatzes von Wahrheit und Schein und der Nichtübereinstimmung, die auf der Relativität der intersubjektiven Wahrheit beruht, sofern diese relativ sein kann auf eine besondere Subjektivität (Einzelsubjektivität und Intersubjektivität). Nun ist aber auch relative Wahrheit dieser letzteren Art – wie die eines verstandenen Werkzeugs – in ihrer Relativität m it t elb ar für jedermann erfahrbar, erkennbar (etwa durch Einverständnis in eine fremde historische Kultur). Wir haben neben der Wahrheit als objektive Wahrheit hinsichtlich der Welt selbst, die auf das geht, was für jedermann unbedingt objektiv ist, noch eine allgemeine Wahrheit, die auf das relat iv O b jek t ive geht, sofern es in dieser Relativität als der Bezogenheit auf besondere Subjektgruppen für jedermann zugänglich ist. Aber hier braucht man folgenden Unterschied: Jedermann erfährt die Welt und die konkreten Objekte der Welt und, wenn er nicht einem Schein unterliegt, dieselben wahren Objekte. Wie immer diese Identität in der Erfahrung verträglich sein mag mit Relativität auf besondere Subjekte, ohne Scheidung der beiderlei Wesensstrukturen können wir ein Ap rio ri entnehmen: Jedermann erfährt eine Welt und in Gemeinsamkeit dieselbe Welt und jedermann erfährt sie in einer allgemein gleichen Struktur als eine Mannigfaltigkeit und eine vereinheitlichte Mannigfaltigkeit von konkreten Realitäten; und diese Realitäten unterstehen einer u n iversalen T yp ik: bloße Dinge, anorganische und organische, Tiere und Menschen als ichlich lebende Wesen, diese in Gemeinschaften lebend etc. Dann hebt man die absolut identische objektive Struktur heraus. So hat man (physikalische und organische) Natur als Unterschicht aller Realitä-

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ten: Menschen (und Tiere) als ichliche, personale Einheiten waltend, fest bezogen auf physisch-organische Leiber, Gemeinschaften als Mehrheiten von Leibern, aber durch intersubjektive Verknüpfung einig. 5

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§ 2. Ideale und reale Gegenständlichkeiten. Personen und personale Gemeinschaften. Freie und gebundene Idealitäten1 (Transzendentale Idealität aller erdenklichen Gegenstände möglicher Welten, sofern „real“ heißen die transzendentalen Subjekte und ihre transzendentalen Erlebnisse, ihre transzendentalen Eigenheiten.2 Aber warum heißen sie „ideale“?) Die Welt (jede mögliche Welt) als Universum der „Realitäten“3. Hier rechnet man zur Welt unter dem Titel „realer Gegenstand“ all diejenigen mundanen Gegenstände (im Rahmen der Gegenstände überhaupt, die absolut betrachtet, wie gesagt, transzendental-ideal sind), die in der Raumzeitlichkeit als Weltform (Form aller mundanen Gegenstände) durch raumzeitliche Lokalität individuiert sind. Ideale G egenstände in der Welt haben raumzeitliches Auftreten, aber sie können an vielen raumzeitlichen Stellen zugleich, und doch numerisch identisch als dieselben auftreten.4 Wesensmäßig gehört zum Auftreten idealer Gegenstände, dass sie subjektive Gebilde sind (z. B. Gebilde kategorialer oder einer verwandten Gemütsaktivität), also in der Weltlichkeit (Raumzeitlichkeit) durch die Lokalität der Subjekte lokalisiert sind. Aber sie können in verschiedenen Zeitstellen desselben Subjekts als identisch dieselben erzeugt werden, als dieselben gegenüber den wiederholten Erzeugungen und ebenso als dieselben gegenüber den Erzeugungen verschiedener Subjekte.

1 Zu Beginn dieses Abschnitts findet sich der mit Bleistift geschriebene Vermerk Landgrebes „verwendet in Log. Studien“. Bei den „Logischen Studien“ handelt es sich um das von Landgrebe redigierte Werk Erfahrung und Urteil, wo der betreffende Abschnitt in den § 65 eingearbeitet wurde. – Anm. des Hrsg. 2 Real gegenüber transzendental-ideal. 3 Mundan-real. 4 Was hat dieser Begriff von „ideal“ mit der Rede von „transzendentaler Idealität“ zu tun?

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Ideale G egenständlichkeiten treten in der Welt auf, werden entdeckt, können, nachdem sie entdeckt sind, von neuem und beliebig oft gedacht, in ihrer Art überhaupt erfahren werden. Aber heißt es: Auch eh e sie entdeckt worden sind, haben sie schon „gegolten“, oder sie sind in jeder Zeit – wofern in ihr Subjekte da oder denkbar sind, die sie zu erzeugen das Vermögen hätten – als erzeugbar eben anzunehmen und haben ihre Weise allzeit lich en Daseins: in allen möglichen E rzeugungen wären sie dieselben. Ebenso heißt es: Mathematische und sonstige ideale Gegenstände „gibt es“, die noch niemand konstruiert hat. Ihr Dasein erweist freilich erst ihre Konstruktion (ihre „Erfahrung“); aber die Konstruktion der schon bekannten wirft voraus einen Horizont weiterer entdeckbarer, wenn auch noch unbekannter. Solange ideale Gegenstände nicht entdeckt sind (von niemandem), sind sie nicht faktisch in der Raumzeitlichkeit; und sofern es möglich ist (darüber, wie weit dies möglich ist, braucht nicht entschieden zu werden), dass sie nie entdeckt werden und nie entdeckt worden wären, hätten sie überhaupt keine Weltwirklichkeit. Aber jedenfalls, wen n sie aktualisiert sind oder „realisiert“, sind sie auch rau m zeit lich lo k alisiert, nur freilich so, dass diese Lokalisation sie n ich t w irk lich in d ivid u iert. Dass ein Subjekt einen Satz evident denkt, das gibt dem Satz Lokalität, und als gedachtem dieses Denkers etc. eine einzige, aber nicht dem Satz schlechthin, der d erselb e wäre als zu verschiedenen Zeiten etc. gedachter. Ein idealer Gegenstand kann wie die Raf f ael’sche Madonna f ak t isch eine einzige Weltlichkeit haben und faktisch nicht in zureichender Identität (des vollen idealen Gehaltes) wiederholbar sein. Aber dies Ideale ist prinzipiell doch wiederholbar, so gut wie jetzt „Faust“. Perso n en sind real, sie sind weltlich wesensmäßig in der Beziehung des Waltens in einem einzigen realen Leib. Ebenso sind personale Gemeinschaften real trotz des freien Ortswechsels der beteiligten Personen; nur haben sie eben nicht einen singulären Leib, sondern eine Mehrheit von Leibern und damit eine Lokalisation in der Raumzeitlichkeit in der Art, wie eine Mehrheit es hat. So ist ein Volk real, als Volk eine mundane vielheitlich-einheitliche Realität. Ein Staat (ein Staatsvolk) hat eine besondersartige Lokalisation,

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sofern er ein Territorium hat als eine reale Landsphäre, in der er seinen Herrschaftsbereich besitzt. Die S t aat sverf assu n g hat eine Idealität, sofern sie eine kategoriale Gegenständlichkeit ist, ein Ausdruck des Staatswillens bzw. des staatlich Gesollten, das zu verschiedenen Zeiten reaktivierbar, wiederholbar, von verschiedenen Personen nachverstehbar und identifizierbar ist. Aber in seiner Bezogenheit auf ein bestimmtes weltliches Staatsvolk und sein Territorium hat dieses Ideale doch wieder seine Realität eigener Art. Die Wiederholbarkeit (Reaktivierbarkeit) durch jedermann besagt, dass jedermann es in seinem Sollenssinn wiederholen kann, der nur identisch ist mit Beziehung auf die weltliche Lokalität.1 Aber nun sehen wir, dass auch Kulturgebilde nicht ganz freie Idealitäten sind und dass wir überhaupt scheiden müssen f reie Id ealit ät en (wie die logisch-mathematischen Gebilde und die reinen Wesensstrukturen jeder Art) und die gebundenen Idealitäten, die in ihrem Seinssinn Realität mit sich führen und damit der realen Welt zugehören. Alle Realität ist hier zurückgeleitet auf die Raumzeitlichkeit, und zwar als Form des Individuellen. Aber ursprünglich gehört sie zur Natur. Die Welt als Welt der Realitäten hat ihre Individualität von der Natur her als ihrer untersten Schicht.2

1 Eigentliche Reaktivierbarkeit durch den Bürger, uneigentliche durch den Außenstehenden. Bei einer Sozialität als einer Willensgemeinschaft kehrt in besonderer Weise das allgemeine Schema „M e n s c h a l s S u b j e k t f ü r d i e W e l t , M e n s c h a l s O b j e k t i n d e r W e l t“ wieder. Die Bürgerschaft ist Subjekt der Staatsgesetzlichkeit, sie ist in dieser Hinsicht Willenssubjekt, sofern nur der Bürger es ist (mindestens primär), der in seinem bürgerlichen Wollen (Willensrichtung) den Staatswillen in sich trägt, Funktionär desselben ist. Andererseits ist jeder Bürger Objekt, er ist den Staatsgesetzen unterworfen. 2 1) Freie Idealitäten sind an kein Territorium gebunden; sie haben ihr Territorium im Weltall und in jedem möglichen Weltall (sie sind allräumlich und allzeitlich). 2) Gebundene Idealitäten sind erdgebunden, marsgebunden, an besondere Territorien gebunden etc. Aber freilich die freien sind faktisch weltlich in einem historischterritorialen Auftreten.

Nr. 30 Natur in d er Umweltlichkeit und Natur an sich. Gewohnheitsstil der Umwelt als kausaler Stil. Gegenüber d ieser umweltlichen „ Kausalität “ d ie exakte Kausalität. Homogenisierung von irdischer Umwelt und Himmelswelt 1

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Inhalt: Die Natur in der Umweltlichkeit konstituiert als „an sich“ seiend. Das reale An-sich gegenüber der faktischen Erkenntnis. Das 10 fundamentale Problem der Konstitution des An-sich-Seins, zunächst schon in der Primordialität der ersten Genesis der Kindlichkeit. In zweiter Stufe die Konstitution der „mathematischen“ Natur als Natur an sich. Befragen wir die „alltägliche“ Umwelt unter Abstraktion von allen von der Wissenschaft herstammenden Vorstellungen, dann müssen wir sagen: Zum „An-sich“ gehört: Das Ding hat sein extensives Sein, seine Dauer, seine in der Dauer veränderliche Gestalt, seine Bewegung und Beweglichkeit, seine Veränderung in der naturalen Raumzeit. Für jede Stelle derselben ist es, was es ist, mit und unter 20 anderen Dingen, die simultan an sich sind. Und so für jede volle Dauer. Ich hätte hingehen können, ich und jedermann. Und der Leib des sich Hinbewegenden träte dann in immer neue Wahrnehmungsfelder; die für ihn dabei wahrnehmbaren Dinge und Vorgänge hätten dann zu den betreffenden Dingen bzw. zu dem Wahrnehmungsfeld, 25 worin es selbst gegeben wäre, geführt. Jedermann auf seinen Wegen kommt dann zu denselben Dingen, so wie sie selbst an der betreffenden Raumzeitstelle oder in der betreffenden Dauerstrecke sind oder waren etc. Hier ist von unbedingter Naturkausalität keine Rede. Umweltlich 30 habe ich den Gewohnheitsstil der normalen Umwelt und dazugehörig, dass gewohnterweise („normal“) sich die Bewegungen und Veränderungen – im Allgemeinen – zu beeinflussen pflegen. Das schließt nicht aus, dass manches „zufällig“, gegen alle Gewohnheit 15

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Wohl Januar (oder Februar) 1934. – Anm. des Hrsg.

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geschieht. Und wenn auch nachträglich im Erinnerungszusammenhang (oder auf Grund des Konnexes mit Andern) das Zufällige sich als verursacht „erklärt“, so ist nicht schon damit gegeben, dass eine allgemeine und notwendige Naturkausalität in allem Geschehen herrscht. Ohne Weiteres gehört sie also noch nicht zur Idee des „An-sich“. In der über das wirkliche Erfahren, meines und unseres, hinausreichenden Natur könnte (und an jeder Stelle) ganz Beliebiges von selbst geschehen, hätte geschehen sein können und würde künftig geschehen können, obschon durch den Gang des Geschehens eben ein gewohnheitsmäßiger Stil hindurchgeht, wonach ich durchschnittlich die Zukunft voraussehen und mich danach richten kann. Intersubjektiv hat zwar jeder seine individuellen Gewohnheiten, aber es ist dieselbe Welt, die jeder in seinem gewohnten Stil gegeben hat und zu welcher Voraussicht, Durchgängigkeit eines Änderungsstils gehört. Aber wie steht es, genauer betrachtet, mit der Aufeinanderbezogenheit der für einen jeden vertrauten, ihm je eigenen Umwelten? Zu meiner Apperzeption der Umwelt als seiender gehört doch schon, dass jeder Mitmensch, der mit mir in Konnex tritt, mit mir dieselbe Umwelt in der Art hat, dass er mir hinsichtlich des mir Unbekannten aus seiner Erfahrung und Induktion Mitteilungen machen kann, und so umgekehrt. Ferner, dass wir andere dabei korrigieren können. Das betrifft das An-sich-Sein der Natur, der „Welt für jedermann“ – als für jeden Menschen erfahrbare. Jeder hat seine jeweilige wirklich erfahrene Umgebung, er ist bei irgendeinem realen Sein und Geschehen zugegen. Jeder, mit dem ich mittelbar und noch so mittelbar in Konnex bin, könnte mir von seiner Umgebung Mitteilung machen, und so wir alle untereinander. Jedem seienden Objekt entsprechen die möglichen Wahrnehmungsfelder, in denen es erfahren sein könnte, jedermanns Wahrnehmungsfelder – und von mir aus, der das sagt (und irgendjemand, der das sagt), die Wahrnehmungsfelder nicht nur der mir als seiend bekannten Anderen, sondern auch der als seiend unbekannten – aber darin liegt: der möglicherweise seienden. Und dieses „möglicherweise seiend“ (aber im Spielraum der typisch vertrauten Art „Mensch“, unbestimmt allgemein) ist ein Geltungsmodus, eine Modalisierung von „seiend“.1 1

Das ist ein konstitutives Thema: Umwelt als Korrelat eines Überall-hingehen-

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Mit all dem zeigt sich nur dies, dass sich faktisch in eins mit der Konstitution einer offenen Gemeinschaft (eines offenen „wir Heimgenossen“ und dgl.) die Konstitution einer zugehörigen U m w elt m it ein em No rm alst il (einem sich allmählich und historisch nachverstehbar abwandelnden) vollzieht.1 Dazu gehört eine ungefähre Kausalität. Die Umwelt hat ihre Voraussagbarkeit (und hatte sie immer); und uns hineinversetzend in wen immer, können wir seine subjektive „Vorstellung“ der Umwelt und in ihr für jede Situation die für ihn, den jeweiligen anderen, bestehende Voraussichtlichkeit konstruieren: Voraussichtlichkeit ist gleichwertig mit Kausalität – aber keineswegs mit einer strengen, der eine unbedingt allgemeine Gesetzlichkeit unterzulegen wäre. Man kann sogar sagen: Zum normalen Stil der Umwelt gehört die o f f en e Mö glich k eit zu f älliger G esch eh n isse und vielleicht sogar eine zu diesen Unberechenbarkeiten gehörige Voraussichtlichkeit: dass, wenn längere Zeit alles normal gelaufen ist, nun doch zu erwarten sei, dass – man weiß nicht wo und worin – etwas Unerwartetes und Unerwartbares passieren wird. Das konstitutiv aufzuklären ist ein erstes Problem. Wir haben dann weiter das große Problem der unendlichen Ausweitung der Umwelt zur nicht bloß offenen irdischen Welt, in der unsere Heimwelt, und zwar in einem offenen Aneinander fremder, bekannter und unbekannter Heimwelten enthalten ist, sondern zu einem Universum, zu einer universalen Natur ins Unendliche von unserer Heimwelt aus fortlaufender wirklicher und möglicherweise an sich seiender Naturobjekte, mit einem wirklich unendlichen Raum und einer unendlichen Zeit als Form – einer Form, die auch leer sein kann. Die Wirklichkeit der unendlichen Raumzeitlichkeit besagt, es könnte wirklich an jeder Stelle, in jeder Raumsphäre Reales an sich sein, es könnte reale Bewegung ein Reales dahin führen etc. Aber auch, so scheint es, es könnte in einer Zeit, etwa einer Zeitstrecke, der Raum wirklich eine Unendlichkeit von Realitäten enthalten oder gar von vornherein zu allen Zeiten; zwischen ihnen leerer Raum. Oder auch es könnte die Welt eine endliche Anzahl von Realitäten

Könnens irgendjemandes, mit dem jedermann in Mitteilungszusammenhang treten könnte. 1 So ist das eine Anzeige für ein konstitutives Problem.

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enthalten und diese Zahl sich ständig und ins Unendliche vermehren, immer leeren Raum füllend etc. Es ist die Frage: Wie konstituiert sich – von der Philosophie her, also in weltlichem Denken von der Umweltlichkeit aus – die eine und einzige unendliche Natur und volle Welt? Und fürs Zweite: Wie steht es dabei mit der unbedingt allgemeinen Naturkausalität? Könnte nicht auch die unendliche Natur zwar ihre universale Kausalität haben, aber untermischt mit Zufällen? Oder ist das vermöge der Konstitution der Unendlichkeit ausgeschlossen? Es fragt sich also, wie die erste und so konkret schon mögliche Konstitution der Welt als Umwelt überhaupt eine darüber hinausgehende Konstitution zu einer „vollen“ Welt ermöglicht, ob hier verschiedene Möglichkeiten bestehen, und dann, welcher Seinssinn aus der Konstitution der unendlichen raumzeitlichen Welt „ursprünglich“ zugewachsen ist, welcher, mit anderen Worten, aus wirklicher Evidenz zu rechtfertigen ist. Gehen wir von der Umwelt aus, so finden wir sie in der Scheidung: ird isch e U m welt (als Welt einer im wirklichen und eigentlichen Sinn möglichen Erfahrung, in der Welt Ziel gegenwärtig möglicher Wahrnehmung ist) und h im m lisch e Welt. – Nämlich „wirkliche und eigentliche Erfahrung“ ist eine solche, die uns erfahren lässt, was wirklich ist, in seinem „es selbst“. Jede Fernerfahrung gilt als eigentliche Erfahrung mit Beziehung auf die Möglichkeit, das Ferne in Nahes und Nächstes überzuführen und so die Selbstgebung der Ferne als die der Erscheinung dessen, was in der vollkommenen Nähe gegeben wäre, zu bewähren. Die h im mlisch e Welt ist so nicht erfahren. Nehmen wir die Begriffe „Wahrnehmung“ und „Erfahrung“ weiter, so sind auch die „Himmelserscheinungen“ erfahren. Oder noch deutlicher: Die Himmelsvorgänge sind nicht wirklich und eigentlich erfahren, wenn wir uns von ihren Apperzeptionen als Fernerscheinungen leiten lassen und somit Möglichkeiten der Näherung und Nahgegebenheit implizite in Mitgeltung haben. Es ist zu fragen, was für eine Apperzeption für die Himmelserscheinungen wirklich motiviert ist, und damit, welcher Sinn von Sein aus der ihnen eigenen Weise der Wahrnehmung (erfahrenden Letzt-Bewährung) und Konstitution als dauernd seiend, als verharrend in Veränderung und Unveränderung, in Bewegung und Ruhe ihnen zukommt. Es dürfte da nicht vorweg der Begriff der

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irdischen Umwelt (von verharrendem Ding, Bewegung, Veränderung etc.) supponiert werden. Wir können auch so sagen: Wir sind, was wir sind, als Menschen in der Welt; so finden wir uns notwendig als wache Menschen. Welt, das ist All des für uns Seienden, allzeit uns horizonthaft bewusst, von uns aus orientiert etc. Reduzieren wir diese uns ständig geltende Welt auf das, was uns dabei rein aus Erfahrung gilt, abstrahierend von allen Denkbestimmtheiten, die ihren Seinssinn bestimmen, aber ständig den Erfahrungssinn als Geltungsunterlage haben, so ist die pure E rfahrungswelt zweischichtig: irdische Welt und himmlische Welt. Es sind dann die Erfahrungsmotive aufzuzeigen, die vermöge des (zu beschreibenden) Einheitszusammenhanges von Erde und Himmel die Apperzeption der Fernerscheinungen für himmlische Vorgänge nahe legen, und zwar zunächst in der Form „als ob es ferne Realitäten wären ganz wie die irdischen“. Nun ist aber klarzulegen, wie die wohlverständliche U n zu gän glich k eit ohne ernstliche Überlegung als eine Z ufälligkeit angesehen und als mögliche Hypothese eine reale Fernwelt supponiert wird und nun die empirische Welt überhaupt als unendliche Realitätenwelt zur Geltung kommt mit zugehörigem unendlichen Raum, unendlicher Zeit, allumgreifender Kausalität, innerer Unendlichkeit vermöge der Supposition einer Teilbarkeit in infinitum und exakter Naturkausalität, in der es keinen Zufall gibt. Diese naive, obschon durch Denken vollzogene Substruktion hebt die Scheidung von Erde und Himmel auf, verwandelt den Himmel in eine Sphäre von immer fernerem Irdischen, schafft eine homogene Welt, ein Universum von Seienden, die insgesamt unter dem einen, einzigen Seinsbegriff stehen, dem irdisch konstituierten. Nur dass d ie U n en d lich k eit in s Ird isch e hineingetragen ist und der endliche Limes der absoluten Nähe zu einem m at h em at isiert en L imes wird, der eine Unendlichkeit schon in sich schließt. Andererseits ist auch die Ferne ihrer Endlichkeit entkleidet und geht dadurch in den Himmel auf, der eben das überschwänglich Ferne und schließlich in infinitum Ferne geworden ist. Die irdische Welt ist Welt der Realitäten im vertrauten Sinn der menschlichen Praxis, konstituiert durch Erscheinungen, die als NahFern-Erscheinungen zurückweisen auf ein wirklich wahrnehmbares

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Ding selbst als das Maß aller Fernwirklichkeit, Fernerfahrung, die eben bewährbar ist in „Anmessung“, in Rückleitung auf das vollkommen Nahe. Die himmlische Welt ist ein eigenes, aber in bestimmter Weise mit der irdischen verbundenes Universum von Seienden, welche nicht konstituiert sind als Einheiten von Nah-FernErscheinungen – rein im Feld ihrer Erfahrung betrachtet. Sonne und Mond sind kontinuierlich wahrnehmungsmäßig da in ihrem strahlenden Leuchten. Sie treten am Himmel auf und verschwinden, werden als dieselben im Wiederkommen identifiziert, sie haben ihre Veränderungen und ihre Bewegungen, sind also verharrende Seiende im überschaubaren „Himmelsraum“, der selbst sein eigenes Sein hat, zeitweise verdeckt durch Irdisches, darunter durch Wolken und durch Nebel etc. Ebenso die Sterne. Die Fixsterne gehören fest zum Himmel selbst, und wir sagen vermöge ihrer „Scheinbewegung“: Der Himmel selbst, auf dem die Sterne sind, bewegt sich. Andererseits, die Planeten sind nicht fest am himmlischen Ort, sie wechseln ihn etc. Da ist also die Rede von verharrendem Sein, von Bewegung und Veränderung, vom Himmel, der Orte hat und eine Art Raum ist etc. Aber all diese Begriffe haben, rein aus der Erfahrung des Himmlischen geschöpft, eben eine eigene Bedeutung. Gemäß dem anderen Seinsbegriff.

VI. DIE LEBENSWELT ALS PERSONALE WELT DER PRAXIS UND WELT DER VON PRAKTISCHEN ZIELEN BEGRENZTEN ENDLICHEN ERKENNTNISINTERESSEN

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Diese Endlichkeit ist ein Grundstück der Endlichkeit des gesamten Lebens, das seinem Wesen nach als waches (durch stete synthetische Verknüpfung der Lebensweisen und Lebensgehalte der Wachperioden), tätiges Leben im weitesten Sinne p rak t isch es ist, Interessenleben, das seine jeweiligen Interessen hat, seine jeweiligen habituellen Zwecke und Zwecksynthesen, das immer neue Interessen fasst, mit den schon bestehenden verknüpft; dabei ist es sowohl als einzelpersonales Leben wie als Gemeinschaftsleben immerzu L eb en in d er E n d lich k eit, bezogen auf die Endlichkeit des individuellen Lebenshorizontes, dem jedenfalls der Tod das Ende, obschon nicht als zeitlich und inhaltlich (nach Umständen) bestimmtes, setzt. Alles Erfahren als ein Tätigsein ist interessiert, ist Tun in Interessen, auf Ziele, unmittelbare oder mittelbare, hin. Die Interessen des Lebens haben ihre Wesensformen. E rn st In t eressen als in sich Einheit bildend. Das Ernst-Leben in seinen Aktivitäten in normaler Periodizität unterbrochen durch In t eressen d es Spiels und überhaupt der Muße. Ausnahmsweise kann, als ein spezialer Interessenfall, das Erfahren bloßer Neugier und eventuell habituellen Interessen der Neugier dienen und im Zusammenhang der Muße eventuell einen festen habituellen Gang sich vorzeichnen. Sonst dient Erfahren irgendwelchen, letztlich von den 1

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Urinstinkten auslaufenden Ernst-Interessen, Interessen der gewöhnlich so genannten P raxis (wie Jagd und Ackerbau dem Interesse der Ernährung), und hat erfahrende Beziehung auf das, was die anderen tun, treiben, im Interesse der Selbstwahrung privater Interessen gegenüber denen anderer. Dabei schreibt das jeweils aktuell werdende Interesse vor, wie weit die sie fundierende Erfahrung zu gehen hat. Richtet es sich auf Jagdbeute, so ist natürlich ein aktiv erfahrendes, also hinsehendes, auslegendes Tun auf die umweltlich begegnenden Gegenstände gerichtet, die als zu erlegende Tiere in Frage kommen könnten. Und so ist ja offenbar und überhaupt jede Praxis auf umweltliches Reales der als zugehörig apperzipierten Art gerichtet, das allem voran nach dem, was es ist, wie es des Näheren ist, angesehen, erfahren werden muss. Wo die Praxis als mittelbare auf ein schon bekanntlich Da- und So-Seiendes geht und eventuell in ihrer Mittelbarkeit auch von Mitteilungen Anderer Gebrauch macht, da bedarf es nicht mehr neuer oder eigener Erfahrung, obschon letztlich auch solche Praxis auf Erfahrung zurückweist und in dem, was sie unmittelbar in Gang bringt, auch wirkliche Erfahrung betätigen muss. Aber jeweils hat solche Erfahrung ihr vorgezeichnetes E nde, d as zu überschreiten gegen den praktischen S inn d er Interessentätigkeit, d es jeweiligen praktischen Vorhabens ist. Die Endlichkeit betrifft nicht bloß die Einzelobjekte, die zur erfahrenden Betrachtung gebracht sein wollen. Das praktische Leben ist Leben in der jeweiligen praktischen Umwelt, der Umwelt, die alle Sonderinteressen begrenzt, sofern sie sich auf ihre Endlichkeit beziehen, und zwar die Sonderinteressen meiner als einzelner Person, aber auch die Interessen meiner Mitmenschen als in dieser endlichen Umwelt mitbeschlossenen. Der Hinweis auf die jeweilige endliche Umwelt, als Welt, in der die Praxis sich abspielt, und zwar „erfahrungsmäßig“ sich abspielt, ist zugleich Hinweis darauf, dass die jeweilige endliche Erfahrung als aktuelle im aktuellen Interesse n iemals iso liert ist und nicht bloß ihre synthetische Einordnung in den sukzessiv-zeitlichen Lebenshorizont hat, sondern auch E in o r dnung in einen b esonderen Horizont d er Ko exist en z, einer wahrnehmungsmäßigen Koexistenz, deren Potenzialität zunächst darin liegt, dass das darin Liegende schon originaliter da, wahrnehmungsmäßig da, für aktuelle Wahrnehmung

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bereit ist und nur die aktive Richtung darauf hin, das aktive und zunächst wahrnehmende Sich-damit-Beschäftigen fehlt, in dem allein das Daseiende seine implizite wahrnehmungsmäßigen Momente wirklich und eigentlich expliziert und so in ihrer originalen Selbstheit verwirklicht. Alles Erfahrene liegt in einem endlichen Erfahrungsfeld, alles Wahrgenommene in einem endlichen Wahrnehmungsfeld. Dieses aber hat für das praktische Ich und Wir auch nicht einen unendlichen Horizont. Genauer gesprochen: Es hat in seinem horizonthaften Verweisen auf immer neue Wahrnehmungsfelder als solche potenzieller (vermöglicher) Erfahrung von der Interessen-Subjektivität her, von ihr als Personalität, die in ihren personalen Interessen lebt, einen Horizont, der ausgezeichnet ist als Horizont der wirklichen und möglichen Interessen.1 Diese möglichen Interessen sind aber nicht leere Möglichkeiten, sondern durch einen normalen, einen vertrauten Gang der Interessenbetätigung und fortbildenden Stiftung neuer Interessen als Potenzialität vorgezeichnet, und zwar mit einer verendlichenden Struktur und eventuell verschiedenen Schichten bzw. Stufen. So bezeichnet „Heimat“ als Dorf, als Stadt, heimische Landschaft (die dörfliche etwa), Heimat im weiteren Sinn, dann Heimatland (Deutschland, Frankreich) usw. verschiedene – je nachdem die Praxis ist – in besonderer Weise „lebendige“ oder „geweckte“ Horizonte. Und korrelativ geweckt sind die Stufen der Personalitäten (Familie, das Wir als Dorfgemeinschaft, das Wir Badener, Wir Deutschen, Wir Europäer etc.), auf welche die geweckte Koexistenzsphäre als Sonderhorizont bezogen ist und in welchen die Personalitäten sich einordnen. Was damit umschrieben ist, ist der B egrif f d er p rak t isch en U m w elt. Diese aber in ihrer Endlichkeit hat immer noch einen Horizont für den praktischen Menschen: den „unausgebildeten“, vagen, mit keinen bekannten, individuell oder typisch bekannten und als das umweltlichen Objekten besetzten Horizont, den Horizont der vagen weiterreichenden Natur, und diesem entsprechende leere Möglichkeiten, dass die Praxis darin eindringen und da von neuem mit Personen in Beziehung treten könnte. So für den Menschen in der normalen Praxis, während wir dabei auf die eigenartige wissen1

Interessenhorizont.

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schaftliche Praxis, die der Theorie, der wissenschaftlichen, und in der Weise der Wissenschaft in die Unendlichkeiten eindringenden Praxis noch nicht Rücksicht genommen haben.

Nr. 32 Die zur Lebensumwelt als praktischer Welt gehörigen handelnden Menschen, Handlungen und Handlungsergebnisse mit ihrem teleologischen Gesicht 1

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Aus jedem Handeln, ob es gelingt oder misslingt, erwachsen Ergebnisse, die Absicht erfüllend oder ihr zuwider. Jedes schafft mit am Seienden, verändert, was schon ist. Jed es E rgeb n is als nunmehr Seiendes und für Menschen Seiendes hat auch in seiner Verstehbarkeit als Ergebnis, als Gelungenes oder Verfehltes, und aus einem einzelmenschlichen oder allgemeinmenschlichen Zweck, sein t eleo lo gisch es G esich t, seine ihm in Beziehung auf praktisch gerichtete Menschen und ihre Handlungen zugehörigen teleologischen Beschaffenheiten. Dies aber in der Beschränkung der Verstehbarkeit auf das Verstehen vorbereiteter Menschen. Danach gibt es allgemein erfahrbare (verstehbare) und aussagbare Prädikate, andererseits nur für individuelle Subjekte und Gruppen zugängliche. Bauen wir diese Humanisierung der Welt, die jeweils für mich, für uns schon ist, ab, so bleibt die universale Natur. Im aufsteigenden Aufbau der gewordenen und werdenden Humanisierung rekonstruieren wir ein System der Veränderungen der Welt (der konkreten, also der jeweils seienden – für alle seienden – humanisierten Welt), wonach in unterster Stufe naturale Veränderungen stehen und ein unmittelbarer Zwecksinn im Rahmen eines allgemeinsten Zwecksinnes, auf die allgemeinsten Bedürfnisse bezogen, die als unterste und allgemeinste „unmittelbare“ Erfüllbarkeit haben (oder Verfehlbarkeit). Dann die höheren Stufen, die der Mittelbarkeit. Aber nun ist zu überlegen, dass die faktische Welt, so wie sie für uns ist, einzeln und im Miteinander, und für alle Menschen ist, ihre humanen Prädikate eben als auf Menschen bezogene Prädikate hat, teils bezogen auf die unübersehbaren vereinzelten Handlungen (z. B. sich einen Apfel langen) und vorübergehenden Mo m en t an zw eck e der einzelnen Menschen und Gruppen, teils auf ihre durch Wiederholung, Wiederkehr relativ d au ern d en Z w eck e, teils bezo1

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gen auf vorübergehende und verharrende Gemeinschaften, teils auf solche, die keine Allgemeinheit von „Lebenszwecken“ haben, teils auf solche, die sie haben usw. Die Natur gibt sich zwar für jeden als überkleidet mit humanisierenden Prädikaten und sie ergibt in dieser Überkleidung eine gemeinsame Welt als menschliche U m welt in einer vielfältigen Relativität, die das Weltliche au f Men sch en d ieser Welt zurückbezieht, obschon so, dass Welt als Umwelt dieser Menschen im Allgemeinen nicht die Welt im totalen Sinne meint und ihre Menschheit korrelativ nicht die Allheit von in ihr lebenden (ob uns bekannten und zugänglichen oder uns unbekannten und unzugänglichen) Menschen. Indem sie sich als dieselbe Welt, in der sie leben (dieselbe Lebenswelt) gibt, gibt sie sich in einer Erfahrungstypik, gibt sie sich als aus Objekten bestehend, die erfahrbar, durch Erfahrung wiedererkennbar und näher erkennbar sind nicht nur in einer naturalen Typik, sondern auch in einer die humanisierenden Prädikate umfassenden Typik. Die Menschen verstehen sich als Men sch en zuunterst in ihrem leiblichen Walten, aber nicht nur das, sondern auch in ihren typischen unmittelbaren, niederstufigen Bedürfnissen und Weisen der Bedürfnisbefriedigung, dann in den Weisen der höherstufig motivierten Bedürfnisse, mit stufenweisen Zweckformen und Ergebnisformen. Die Menschen apperzipieren dieselben Dinge als Dinge derselben bzw. analogen Zweckdienlichkeit, Nützlichkeit, und bezogen auf Menschen als in en t sp rech en d er T yp ik dabei sich verhaltende, als Menschen einer praktischen Situation, zu der solches Absehen, Handeln und die humanisierte Gestalt des Ergebnisses gehört. Aber zum Aufbau einer humanen Umwelt gehört nun diese Korrelation mit, scil. die Korrelation der Humanisierung und der humanisierenden Subjektivität, insofern auch die Men sch en, die handelnden, die von Zwecktätigkeiten geleiteten, zu ihr gehören und eben auch d as Han d eln selb st und seine verschiedene, in verschiedene Dimensionen sich verteilende Typik.1 Jedenfalls, das gibt eine zur Umwelt gehörige Korrelation. Die einheitlich apperzipierte Umwelt ist einheitlich umkleidet und in jeder Einzelheit bekleidet mit subjektiv-relativen Sinnbestimmungen verschiedener Stufe, 1

Umwelt als praktische Welt des Menschen.

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mit Bestimmungen, die in ihrer Apperzeption implizieren die sie leistenden intentionalen Subjektivitäten. Diese, als Menschen apperzipiert, haben dann auch selbst solche ihnen zugemessenen intentionalen Prädikate, während sie zugleich als Subjekte der Intentionalität gelten, die als ursprünglich handelnde oder als sonstwie praktisch motivierte, als verstehende und praktisch affizierte, Möglichkeiten erwägende und sich entscheidende in Geltung sind. Das aber nicht vereinzelt, sondern als Subjekte in intentionaler Gemeinschaft. Somit ist in der Weltapperzeption immerzu unterschieden: ich, wir, unsere jeweils seiende Welt, unsere fortgehende intentionale Vergemeinschaftung und Praxis. Diese Welt ist Welt für den Menschen, der doch wacher Mensch in irgendeiner Praxis ist, immerzu seinen Horizont von Mitsubjekten hat, motiviert, sich mit ihnen zu verbinden, immerzu in praktischen Interessen in Bezug auf diese Verbindung. Zur Umwelt gehört als der praktisch objektiven: 1) die ihm als seiend vorgegebene Welt und 2) das Umweltliche, das in den Stadien der Fertigung ist. 3) Dabei hat man den Menschen apperzipiert in seiner sozialen Verbundenheit als den Fertigenden, als den Handelnden, in seinem Handeln, und aus diesem das Korrelat, das Ergebnis, aus Ergebnisstadien werdend (dem Unfertigen, aber in der Unfertigkeit schon Seienden). Das U n f ert ige kann im kontinuierlichen Fertigen sein; es kann aber auch als unfertig (als im Werk) verharren – weil der Zweckwille und die sozial verbundene Subjektivität in ihrem Zweckwillen verharrt – als Zwischenprodukt, das noch im Werk ist. Es kann aber auch „für immer“ so bleiben und ist dann vorhanden, ist in der humanisierten Welt da in dem Typus „unfertig geworden“, „halb fertig“, „Zwischenprodukt“. Praktische Umwelt, Welt des Menschen und für den Menschen ist also zw eid eu t ig. Urteilsmäßig besteht die Welt, das Universum des Seienden, aus Menschen, schlafenden und wachenden, handelnden und nicht handelnden, aus fertigen und unfertigen praktischen Ergebnissen, aber innerhalb dieser universalen Seinssphäre haben wir den beständigen Unterschied der praktischen Umwelt: einerseits die für den Menschen oder die Menschen als f ert ige p rak t isch e/ Welt und als im Werk stehende, und andererseits die f ert igen d en Menschen.

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Aber die für uns seiende Welt ist weiter als die für uns jeweils seiende praktische Umwelt. – Der Mensch in der jeweiligen praktischen Einstellung, die eine wechselnde ist je nach den wachen praktischen Interessen, habituellen Zwecken etc.; über das jeweils Praktische 5 hinaus haben wir das jeweils Irrelevante. Aber Irrelevantes kann für diese oder eine neue Interessenrichtung relevant werden. Auch ist alles, was zu irgendeinem unserer Interessen gehört, in unserem Bewusstseinsfeld ausgezeichnet. Und auch dieser weiteste Kreis des für uns Praktischen hat seine Sphäre des Unpraktischen, Interesse10 losen. Das universale „theoretische Interesse“ umfasst dann alles, auch dieses Interesselose, das vertrauterweise doch möglicherweise interessant werden kann. Das schon Seiende besagt für die natürliche Einstellung nicht das schon Fertige, soweit eben natürliche Einstellung bezogen ist auf 15 Praxis – in der Welt.

Beilage XXIII Das Wertantlitz der vorgegebenen Welt. Das urnormale Gesicht der Weltumgebung. Anomalität und Normalität. Akterfüllung als Zielenthüllung1 Akte auf dem Untergrund der Weltgeltung als der der Vorgegebenheit. Das Aktleben als auf die vorgegebene W elt gerichtet, sie zweckmäßig, sie zu einer wertvollen Welt zu gestalten. Sie ist immer schon vorgegeben als Welt mit Werten, und Werten, die in wertenden Akten, Akten des fühlenden Wertens und in der positiven Erfüllung des Genießens (Wert-Erfahrens) 25 zugeeignet werden. Sie hat immer schon eine Schichte von Objekten, die teils positiv wert, teils als unwert und teils als gleichgültig erfahren werden, und hat immer schon von da aus einen Horizont der Wertigkeiten, von Objekten, die, wenn sie in ihrem Sein durch Erfahrung zugeeignet werden, sich als positiv oder negativ wert (unwert) oder als Adiaphora 30 herausstellen würden. Dabei sind auch schon vorbekannt Gradunterschiede der Werte nach höher und nieder, in positiver und negativer Hinsicht; mit den entsprechenden Aufeinanderbeziehungen. Insofern ist sie z uunterst eine Wertewelt – noch vor der handelnden P raxis, die ein Besonderes bezeichnet, wenn unter „Handeln“ das Entwerfen von Möglichkeiten 20

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des Andersseins und Im-Anders-höherwertig-Seins (darin beschlossen des Minder- oder Unwert-Seins) verstanden wird. In der W el t l eben i st auf ei ne w ert vol l e W el t hi n l eben, während die jeweils schon seiende Welt teils wertvoll, teils unwert, teils wertlos (gleichgültig) ist. Hinleben ist aber aktiv sein, verändern, und zwar verändernd (wo es möglich ist und dann eo ipso wo es Not tut) eingreifen, aus Wertlosem in dem doppelten Sinne positiv Wertes, aus Niederem Höherwertes schaffen. Für einen jeden hat die Welt ihr subjektives Wertrelief, W ert ant l i t z, ihre subjektiven Zweckhaftigkeiten; und jeder korrelativ Betroffene lebt darin, dass er genießt und entbehrt, entbehrend begehrt, strebend in der Hoffnung ist, praktische Möglichkeiten erschaut, das Entbehrte zu erringen und zu genießen. Genuss ist jeweils Ruhepunkt zwischen Hoffnung und Erfüllung. Ein Dahinleben in dieser Form im Bewusstsein seiner Ständigkeit – solange es währen mag – nennen wir Leb en i n d er „ u rn o rm al en “ F o rm, in der elementaren, primären „Sel bst erhal t ung“. Es ist Leben in der Periodizität von Genießen, nach Sättigung wieder Entbehren, nach neuen Werten (zu genießenden) Suchen bzw. es auf sie als handelnd zu gestaltende Abgesehenhaben. Mit dem Lauf solchen Lebens ist eo ipso gegeben ein jeweils ihm anhaftender und im Fortgang ständig sich erneuernder vorzeichnender H ori z ont des F o rt l eb en s i n d i eser F o rm, eines Lebensverlaufes, der wie in rückschauender Erinnerung so in der Vorschau den Charakter eines einheitlich ständig wertvollen Lebenslaufes hat. Die W eltumgebung des Subjekts hat in diesem urnormalen Lebensverlauf in entsprechender Ständigkeit ein urnorm al es G esi c ht, sie hat selbst in ihrem Wandel – in Rückschau und Vorschau – den Charakter einer für dieses Subjekt w ert vol l en W el t. Ihre Werthaftigkeit zeichnet sich kontinuierlich in jeder Phase vor. Der das Subjekt ständig befriedigende Lebenslauf (als das im positiv fühlenden Werten bewusst) hat sein Korrelat in einer Umwelt, die in ihrem Wandel wert ist, die das Leben lohnt. Doch das Letztere, wie oben die Rede von Selbsterhaltung, verweist schon von der Urnormalität auf die ihr zugeordnete Anom al i t ät. Diese ist hier wie überall, wo dieser Begriff seine Rolle spielt, fundiert in der entsprechenden, also genetisch und bewusstseinsmäßig voranliegenden Normalität. Andererseits gehört sie selbst insofern wesentlich ihr zu als von ihr im Leben untrennbar, als ein konkret voller Lebenslauf notwendig offen lässt und in Voraussicht hat, was in vager Allgemeinheit „Unglück“ heißt: Das normale, glückende oder glückhafte Leben wird in dieser Werthaftigkeit gebrochen durch Zufälle, Krankheit, Verwundung und sonstige Schicksale, bzw. sie bedrohen im Voraus furchterweckend die weitere Möglichkeit eines normalen Lebens. – Zunächst innerhalb der Allgemeinheit der urnormalen Selbsterhaltung in ihrem wesentlichen Bewusstsein der Ständigkeit: Das Subjekt wird gehemmt im

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Einzelnen in Genuss und praktischem Streben nach neuem zu Genießenden (Werten), wird enttäuscht durch Versagen seiner Kräfte oder in der Erfahrung der Ungangbarkeit seiner Wege, seiner Mittel. Es findet normalerweise wieder Möglichkeiten normalen Erzielens und Genießens. Die Gesundheit, die Kraft kehrt wieder; es zeigen sich für das alte Ziel andere Wege, oder anstatt des unmöglich gewordenen Zieles ergeben sich neue gleichwertige oder höherwertige, eventuell aber minderwertige, aber immer noch positivwertige, die einen, obschon nun nicht voll befriedigenden Genuss ermöglichen. Solches und Ähnliches ist vorweg schon vertraut und im Horizont als typisch möglicher Horizont von Widerständen und Überwindungen. Man kann leben, sich erhalten, indem man zu Genuss kommt. – Geht es nicht so, dann schließlich anders. Schließlich mag doch das Ständigkeitsbewusstsein die Gestalt haben „es kommt immer wieder anders – es geht auch so“. Das gilt in niederen Formen schon für tierische Subjekte, wie immer besondert in den verschiedenen Stufen der Tierheit. Auch für Menschen hat es verschiedene und individuell sich abwandelnde Gestalten, aber im Rahmen der höheren, für den Menschen normalen Typik. (Dies alles, was wir hier beschreiben, muss wohl verstanden werden, nämlich rein als Ergebnis einer innengewandten Besinnung, aus dem, was unserem eigenen Weltleben in seiner Intentionalität selbst immerfort bewusstseinsmäßig eingezeichnet und vorgezeichnet ist, ob nun der achtende Blick darauf ruht oder nicht.) Betrachten wir nun aber neuartige, nicht auf einzelne Akte bzw. Zielungen bezogene Hemmungen, sondern in ihrem bewusstseinsmäßigen Sinne, also auf das gesamte Aktleben bezogene, so wie es jeweils horizonthaft als ganzer, offen endloser Lebenslauf bewusst ist. Auch solche Hemmungen gehören allgemein zum natürlichen Weltleben. Die instinktive Furcht: die momentane oder länger dauernde „lähmende“ Furcht mit ihren instinktiven (nachher zielmäßigen und aktiven) Reaktionen – so bei einem plötzlichen Einbruch von unverständlich Neuem in die vertraute Umwelt, z. B. bei großen Naturereignissen (Gewitter, Erdbeben etc.), Furcht vor „wilden“, furchtbaren Tieren. Instinktive Furcht ist zunächst blind wie Instinkte überhaupt. Hier wie sonst zeigt erst die Erfahrung des eintretenden Wohls oder – wie hier – Wehes, also durch Erfüllung, woraufhin der Instinkt zielt; und demgemäß nimmt er nach dieser Erfahrung die intentionale Gestalt einer verständlich gerichteten und nicht mehr „blinden“ Bewusstseinsweise an; er hat seine positive oder negative „Zielstellung“ in sich (das, woraufhin er strebt oder wovon weg). Doch nun müssen wir bedenken, dass ein Subjekt nicht allein ist, schon vermöge seines generativen Ursprungs und seiner inneren, durch Erinnerung jedem Ich vertrauten und zugänglichen Entwicklung von Kindheit zu

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Reife. Von Anfang an findet sich jedes Subjekt, schon so, wie es weltkindlich lebt (als ein Kind, das bewusstseinsmäßig raumzeitliche Umwelt hat, in die es aktiv hineinlebt), in ursprünglicher Gemeinschaft mit anderen. In dieser Gemeinschaft hat es in seinem wachen Dasein seine Welt bewusst als die allgemeinsame raumzeitliche reale Welt. Allgemeinsam ist sie den für es bewusstseinsmäßig Seienden, für die ihm (gegenwärtigen und nicht gegenwärtigen) bekannten, aber auch für den offenen Horizont der ihm unbekannten. Für mich und für alle meines persönlichen Horizontes ist diese Allgemeinsamkeit im Seinssinn, mit dem sie mir bewusst sind, mitbeschlossen. Auf diese gemeinsame Welt sind ferner bewusstseinsmäßig alle in ihren wertenden und praktischen Aktivitäten und mit den sie fundierenden und in diese eingehenden doxischen Aktivitäten bezogen – bewusstseinsmäßig. Vermöge dieser Bezogenheit hat die reale Welt für die Einzelnen und die in der Verbundenheit miteinander lebenden Gemeinschaften bewusstseinsmäßig ihr jeweiliges, ihnen geltendes, auch doxisch und urteilsmäßig erfahrbares bzw. ansprechbares Gesicht, für jede solche Personalität das ihre, sich für sie in ihrem Weltleben wandelnd. Dies, wenn auch nur im Rohen genauer anzudeuten, überlegen wir Folgendes: Mich besinnend, finde ich mich der Welt bewusst, des Näheren auf sie in mannigfachen Akten bezogen: erfahrend Kenntnis nehmend, fühlend, wertend, handelnd Erfahrenes gestaltend. In allen Akten, Ich-Tätigkeiten, habe ich etwas vor. Aber die aktuellen Vorhaben sind dabei Aktualisierungen von habituellen, von Interessen. In jedem Akte habe ich letztlich etwas vor; jeder ist ein Tun entweder in freiem Sich-Auswirken, sein Vorhaben in vermittelnden Stadien des Tuns in der synthetischen Einheit eines voll erzielenden Tuns zu seinem Ende Bringen (Vollenden). Oder das „andere“, das, worauf ich hinaus will, kann „unbewusst“ sein; der Akt kann blind auf sein Ziel hinlaufen. Gleichwohl ist dabei das Ziel und in den vermittelnden Stadien der Weg bzw. die Wegstelle als auf dem Weg zum Ziele hin in gewisser Weise bewusst, in der Akt-Intentionalität impliziert. Das Implizierte expliziert sich in der Erzielung; sie ist für einen blinden Akt sein Ziel enthüllend. Während das Ich auf dem Weg ist in den vermittelnden Stadien der Erzielung, enthüllt sich ihm in jedem Stadium der Weg als das, worauf es vordem und von Anfang an (vom Einsatzstadium des Aktes an) hinauswollte, aber in der Weise, dass es dadurc h weiter auf etwas, obschon noch blind, fortwill. Mit der Enthüllung des Endes ist dieses eo ipso als Ende seines Weges enthüllt. In jeder Enthüllung (schon in jeder Enthüllungsphase) liegt Erfüllung des mit dem Einsatzpunkt des Aktes einsetzenden Strebens, Abzielens. Mit anderem Worte: Es tritt damit ein Meinen auf, nun bewusstseinsmäßig selbst an der Stelle, selbst am Ziel zu sein, ein Meinen, es nun nicht mehr bloß vorzuhaben, vorzumeinen, sondern es selbst zu haben, als nun

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wirkliches Meinen. Diese als aktuelle Erfüllung sich vollziehende aktuelle Zueignung als Selbsthaben ist die E vi denz. Im prägnanten Sinne Evidenz ist der vollendete Akt, der als solcher den ganzen Prozess der Vollendung in dem retentionalen Modus der synthetischen Kontinuität der Noch-Geltung und Fort-Geltung der in modifizierter Weise noch bewussten früheren Stadien in sich schließt. Dazu gehört das wesensmäßige Vermögen der erinnernden Wiederholung nicht nur als eines Aktes, der sich erfüllt in der erinnernden Modifikation des vergangenen Aktgeschehens als solchen, also in der Selbsthabe dieses Vergangenseins, sondern vielmehr als Reaktivierung der NochGeltung und Fort-Geltung. Der Akt als mein sich erfüllendes Absehen auf etwas ist nach der Erfüllung nicht einfach vorüber, so wenig wie, während sie verläuft, die Zwischenstadien als vermittelnde Wegerfüllungen einfach vorüber sind. Sie gelten fort auch nach ihrem ursprünglichen Vorübersein; in der Modifikation des Behaltens behalte ich eben das, was ich vorhin im Modus des Evidenten selbst hatte, während ich es, wie es im Sinn dieser Modifikation liegt, nicht mehr selbst habe. Und ebenso für den zu Ende gekommenen Gesamtakt bzw. mit dem vollendeten Weg und dem Ziele selbst. Eben dies Behalten reicht weiter. Ich kann – und im Bewusstsein des freien Beliebens (obschon diese Freiheit wie jede eines „Ich kann“ gehemmt sein kann) –, was ich behalten habe oder im Modus des Behaltenen habe, reaktivieren und wieder reaktivieren. Das aber selbst dann, wenn ich in andere Akte eingehe, die mit dem fraglichen kein Aktganzes bilden (also nicht auf ein höheres Telos hinauswollen), und nicht nur das, – auch wenn ich schlafend meine gesamten Vorhaben schlafen lasse.

Nr. 33 Personale Struktur der Welt. Meine konkrete E rfahrungswelt implizierend den Horizont der p raktisch verbundenen Mitmenschen. Personale Substanz und personale Zuständlichkeit. D as Moment der E rfahrung in allem p ersonalen T un1

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Betrachten wir die Welt so, wie sie uns in konkreter Weise in der strömenden Welterfahrung, Weltapperzeption gegeben ist, so dient eine zunächst rohe Strukturanalyse von Abbau und Aufbau dazu, uns allgemein fühlbar zu machen, dass die Welt (als wie sie jeweils mir in konkret erfahrender Apperzeption gilt) nicht etwa mit einem gegenständlichen Sinn in Geltung ist, so wie etwa der herrschende Naturalismus ihn annimmt2, einfach als ein Inbegriff, als eine unendliche Totalität von Realitäten, denen bloß ihre Kategorien oder regionalen Allgemeinheiten und innerhalb derselben ihre eigenschaftlichen, ihre relationalen, ihre kausalen Beschaffenheiten abzufragen wären. Es liegt in der konkreten Erfahrungswelt vielmehr eine Zweiseitigkeit unter den Titeln „Subjektivität“ und „Objektivität“ oder „personale Struktur“ und korrelativ „sachliche, gegenständliche Struktur“; doch sind alle Worte hier von einer schwankenden Unklarheit der Bedeutung und einer begreiflich zu machenden Unzulänglichkeit. Die Welt, von der ich jetzt und hier, von der ich jeweils überhaupt spreche, ist die jeweils von mir einheitlich erfahrene, einheitlich apperzipierte Welt, in dieser Erfahrung für mich Sinn habend und für mich Sinn habend als meine und zugleich unsere Welt (unsere: der für mich aus meiner Erfahrung seienden, mitseienden Anderen). Diese Welt ist für mich einem Kern nach „Natur“; dieser ist aber universal umkleidet und in den Einzelheiten einzeln bekleidet mit „personal-relativen “ S innesmomenten (auf Subjekte zurückweisenden) verschiedener Stufe. Es sind Bestimmtheiten, die in

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10.1.1932. Dazu 4 f. =S. 323,36–324,31.

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ihrer Apperzeption (der sie als Sinn intentional in sich tragenden Apperzeption) mitimplizieren die Apperzeption der durch ihr praktisches Leben ursprünglich die Seinsgeltung dieses Sinnes schaffenden Subjektivitäten. Diese aber sind hierbei in Geltung als Menschen. Also jede Apperzeption, jede Erfahrung von Weltlichem m it „ p ersonal-relativen “, dem Weltlichen selbst zugemeinten Momenten impliziert intentionale Apperzep t io n vo n Men sch en , und zwar von Menschen, die als p rak tisch-personale Ich-Subjekte ein mehr oder minder vereinheitlichtes praktisches Leben führen – das tun sie nämlich in verschiedenen zur Praxis gehörigen Formen: als praktisch affiziert, als praktische Möglichkeiten ergreifend, überlegend, sich für sie entscheidend, sie wieder fallen lassend usw. – und die, dabei von flüchtigen oder habituell fortdauernden Zwecken, von vereinzelten oder systematisierten, stufenweise aufeinander gebauten geleitet, ein mannigfaltiges, mehr oder minder vereinheitlichtes praktisches Leben führen. Menschen als intentionale Subjekte und Subjekte praktischer Menschlichkeit sind nicht nur vereinzelt praktisch lebend, Zwecke verfolgend, Zwecke handelnd realisierend (oder verfehlend), von singulären Interessen aufsteigend zu allgemeinen, die vielfältigen singulären umspannend-organisierend – ich sage: nicht nur vereinzelt –, sondern menschliches Leben ist immerzu Leben als Menschen mit dem Horizont der Mitmenschlichkeit und ist nicht bloß ein zusammen und nebeneinander Erleben im Bewusstsein, dass andere auch da sind, sondern ein Mit ein an d er- L eb en in dem Sinn irgendwelcher niederer oder höherstufiger Formen der Sozialität. Es ist ein Leben im miteinander und gegeneinander Handeln, miteinander und gegeneinander Zwecke Entwerfen, eventuell als vereinbarte Gemeinschaftszwecke, miteinander Wollen, gleichgeordnet oder im Ineinander des Herrschens und Dienens usw. Es ist das, was S o zialit ät ausmacht, Leben in einer p raktischen Verbundenheit, die aus den einzelnen Personen personale Verbände, Willenseinheiten höherer Stufe macht. Im menschlichen Leben entspringt Menschsein – im personalen Leben das Personsein. Im Leben des Menschen, der in jeder schon menschlichen Reifestufe schon Mensch, d. i. Person ist, ist es die Person, die praktisches Subjekt neuer, im weitesten Sinn praktischer Akte ist und in ihnen wieder zur Person, Person mit neuen

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personalen Eigenschaften wird, in denen seiend sie Subjekt der neuen personalen Aktionen wird.1 So sind die Menschen immerzu erfahren, erfahrend verstanden. Jeder, sich als Mensch und dann als Mensch unter Menschen erfahrend, erfährt sich als fortdauernd seiende Person unter Personen, als Ich-Subjekt fortdauernder, als Subjekt ihm bleibend gültiger (obschon nicht gerade aktuell betätigter und bewusst vorgestellter) Z w eck e, und dabei privater und sozialer, d. i. im letzteren Fall als Subjekt von Zwecken, in deren bleibender Willentlichkeit – wir können schwer sagen: Zwecklichkeit – die eigene Willentlichkeit vereint, „vereinbart“ ist mit derjenigen der anderen, die seine praktischen Genossen sind. So „verstehen“ sie sich (oder: so erfahren sie sich) und darin aber auch als darin – bei aller Identität eigenen Seins und Miteinander-Seins – sich Verändernde. Bleibende Willentlichkeiten aber haben ihre „Stiftung“, ihren Ursprung in Willensakten im weitesten Sinn praktischer Akte: wie Akten des Erfassens praktischer Möglichkeiten, der Willensbejahung oder Abweisung derselben, der handelnden Verwirklichung, des handelnden Misslingens usw. Perso n alit ät en werden, wenn sie im jeweiligen Anschauungsfeld explizit erfahren sind, n o t w en d ig zu gleich in d ieser m eh rf ach en Weise erf ah ren : als schon personal seiend, aber auch als die, die schon seiend in irgendeiner Praxis (im weitesten Sinn) begriffen sind und dadurch zugleich ihr personales Sein verändernd.2 Aber wir müssen noch eines hinzufügen: In diesen Veränderungen ihres verharrenden Seins – das nicht zu verwechseln ist mit den Akten als dahinströmenden Erlebnissen und als in diesem lebendigen Strömen verschiedene Aktmodi annehmend und Aktsynthesen eingehend – hat die verharrende Person (bzw. Sozialität) eine immer neue p erso n ale Z u st än d lich k eit. So, wenn wir unter „Zuständlichkeit“ eben die Phasen eines veränderlichen Seienden innerhalb der Dauer dieses Seienden verstehen. Hier handelt es sich um die eigene Zeitlichkeit, die der Personalität eigentümliche

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Sein als Person ist immerzu Zur-Person-Werden. Und doch wieder erhaltend, sofern sie nur so werdende Personen in neuem Stile sind, als Personen sich erhalten. 2

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Fortdauer (der einzelnen und der sozial vereinten). In jeder Phase dieser Dauer (der Stelle darin) hat sie ihre Zuständlichkeit (ihre habituelle Stellung als habituelle Willensstellung, die ihr Schon-Sein macht, gegenüber dem durch den jeweiligen Akt Neu-Werden). Aber im Wandel dieser Zuständlichkeit aus ihren Akten und letztlich ihren praktischen Entscheidungen, bewahrt sie ihre Identität. Als identische jeweils verstanden, nämlich als in diesem Sinn verharrende, ist sie in ihrem bleibenden Charakter – universal als einheitliche, ungebrochene Individualität – verstanden. Offenbar bezieht sich die engere Rede von einer „Persönlichkeit“ (und nicht jedermann sei wirklich eine Persönlichkeit!) auf einen besonderen, einen ausgezeichneten und bewerteten Typus dieser Individualität. Verstehen wir in formaler Allgemeinheit unter „Substanz“ ein Verharrendes in Veränderungen, so wäre hier von personaler Substanz zu sprechen oder der Substanz des Menschen. Es würden sich dann verschiedene prägnante Begriffe von Substanz (ob ein Mensch ernstlich „Substanz“ hat oder nicht) ergeben, deren Erörterung nicht in unser jetziges Niveau gehört. Von vornherein müssen wir aber hinzufügen, dass das personale Sich-Verändern und In-Veränderungen-Verharren in seinem eigentümlichen Sinn das Un verän d ert -Bleiben nicht so ohne weiteres zulässt. Nämlich hier gibt es nur die eine einzige Form der dauernden Ruhe, des unverändert Bleibens, die des traumlosen Schlafes, der als solcher nicht einmal Träume als verharrende Erwerbe konstituiert. Für das w ach e Ich gibt es nur Fortdauern in Veränderung, mit einem sedimentierten Untergrund, der seine Jeweiligkeit der Unveränderung hat; für es fällt der doppelte Sinn der Rede von Dauern (der ja sehr häufig schon das Unverändert-Bleiben mitmeint) fort.1 Offenbar ist das nicht ein zufälliges Faktum, sondern eine Wesenstatsache, die anders undenkbar wäre. Man sieht hier auch schon die Undenkbarkeit einer Welt, deren Subjektivität von Jetzt zu Jetzt schlafend wäre, und – was ziemlich gleichwertig ist – einer Welt ohne Subjekte. Welt als Welt, die ihren Sinn aus Erfahrung hat, ist Welt einer wachen

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Dazu: Das personale Dasein ist zwar „substanzielles“ Verharren in seinen personalen Veränderungen und sich in der Wachheit notwendig und kontinuierlich Verändern, aber in jedem Augenblick haben wir die Scheidung im Dasein zwischen schlafendem und wachem Sedimentiertem und sedimentiert Unverändertem etc.

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Subjektivität, von der allein nachher schlafende Subjektivität ihren sekundären Erfahrungssinn gewinnen kann. Was wir bisher besprochen haben, lenkte beständig den Blick auf die eine Seite der Welt als konkrete Erfahrungswelt (als Welt, wie sie für uns jeweils in ihrer ganz konkreten Geltung ist). Es war die Seite der Subjektivität, der Subjektivität in der Welt, für die Welt zugleich ist, in deren Funktionen Welt Seinsgeltung hat und immer neu gewinnt – in den Subjekten, die selbst zu ihr gehören. Der Gegentitel lautet „O b jek t ivit ät“. Hier darf man nicht etwa meinen, es handele sich um die Kontrastierung von Menschen (bzw. Tieren) auf der einen Seite und bloßen Sachen, den nicht psychisch lebenden Dingen, den Nicht-Animalien, auf der anderen Seite. So bedeutsam dieser Unterschied auch ist, es ist ein solcher, der selbst innerhalb der „Objektivität“ liegt. Denn auch Menschen sind Weltobjekte, obschon sie doch zugleich auf der Subjektseite stehen – eben als Personen. Aber Subjektivität und Objektivität sind nicht getrennte Schichten oder Abteilungen innerhalb einer unendlichen Vielheit irgendwie miteinander verbundener Realitäten, letztlich als Weltall ein Ganzes ausmachend. Vielmehr: Wo immer wir von Welt sprechen oder vor dem Sprechen als wache Subjekte Welt erfahren, sind wir ja selbst als die Sprechenden und sonstwie als Wachaktivitäten Übende eben Subjekte dieses Erfahrens: erfahrend fungierend. „Erfahrende Subjekte“, das besagt nicht: Subjekte, die unter dem Titel „Erfahren“ eine spezielle Aktivität vollziehen. Erfahren und Akte üben, welche Akte immer, ist untrennbar eins; k ein Ak t , in dem n icht auch, als zu seinem konkreten Bestande geh ö ren d , ein E rf ah ren läge. Das nicht als ein abzutrennendes Stück, sondern als in der Aktintentionalität implizierte erfahrende Intentionalität, die je nach der Art und dem Modus des Aktes ihre Besonderheiten gewinnt. Wenn hier und so in unseren Betrachtungen überhaupt von E rf ah ren die Rede ist, darf man nicht unterschieben, es sei von einem neugierigen Sich-Ansehen oder einem in spielerischer Muße sich in ein bloßes Weltbetrachten Verlieren die Rede oder aber von einem theoretisch interessierten Erfahren (beobachtend, experimentierend) im Ernste der Wissenschaft. Als wache Ich sind wir – und zunächst bin ich – fungierende Subjekte für die Welt, die die meine ist, als die, die in meinem strömend erlebenden Leben ständig erfahren ist. Fungierendes Subjekt für die

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Welt bin ich aber als irgendwie in die für mich in kontinuierlicher Erfahrung seiende Welt hineinlebend. Und nun sagt „hineinleben“ mehr als das bloße Erfahren, sondern es besagt: ichlich sich richten, als Ich, auf etwas hin gerichtet, sich betätigen, in verschiedenen möglichen Weisen damit beschäftigt sein. Dieses Beschäftigt-Sein, im weitesten Sinn wollend (willentlich strebend) Auf-etwas-aus-Sein, bei ungehemmtem Streben es verwirklichend Erreichen, ist Bewussthaben (dessen bewusst sein) in Form aktiver, deutlicher: thematisierender Intentionalität. Dahin gehört schon das thematische aktive Erfahren, das aktive Wahrnehmen usw., insbesondere dann aber das im menschlichen Sinn praktische Themen Haben in praktischen Akten. Andere Ausdrücke sind: als praktische Ich-Person interessiert sein, meine schon bestehenden praktischen Interessen aktualisieren und letztlich meine Absichten, meine Zwecke handelnd verwirklichen bzw. praktisch fördern in vorbereitenden Handlungen. Das praktische Interesse mit allen ihm zugehörigen Modis von Willensakten (Akten des „Interesses“ im ausgezeichneten Sinn) geht von dem für mich (bzw. für uns) schon Seienden, schon Wirklichen auf das „S ein so llen d e“. So natürlich nicht ethisch gesprochen, sondern rein vom Willen her gesprochen, vor dem im Übergang von dem Erfassen der praktischen Möglichkeit zur Willensbewegung (dem fiat) die Vorhabe als Vorhabe, als Gewolltes, d. i. eben als Seinsollendes dasteht. Hat die Handlung ihr Ziel erreicht, so wandelt sich das „Seinsollende“ in nunmehr Seiendes. Bei dem hat es sein „Bewenden“, solange das fortstrebende praktische Ich nicht abermals dieses schon Seiende zu einem praktisch möglichen Andersseienden, in diesem Anderssein Seinsollenden wandelt und es als ein neues Seiendes verwirklicht. Das jeweils schon Seiende als für mich, das praktische Ich, schon seiend und als „Stoff“, Material für alles Handeln schon vorausgesetzt (in seiner Jeweiligkeit des Schon-Seins), ist eben für mich als Erfahrenes.

Nr. 34 Formstrukturen der als personale Welt vorgegebenen Welt 1

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§ 1. Zeug und Zwecke, einzelpersonale und gemeinschaftliche. Schon seiende Welt als Materie für die seinsollende Welt. Natur als letzte Materie Sein von realen „Dingen“, Vorgängen. Ich kann immer wieder erfahren und erfahrend mich überzeugen – und jedermann, und jedermann dabei in Konnex mit jedermann durch Sprache. Aber ebenso: Sein von Sachwerten, von Nützlichkeiten, Zweckmäßigkeiten, von Sachen, die Zweckform haben, Werken, Sachen in Stadien der Bearbeitung, Arbeiten, erkennbar als angefangene, verdorbene Arbeiten etc. An den Dingen, Vorgängen, an einer Gruppe von Dingen in ihrer Konfiguration sich ausdrückend zum Beispiel ein ästhetischer Zweck (z. B. Sternordnung) oder sonst ein Zweck (die Straßenallee nicht nur ästhetisch, sondern mit dem Zweck „schattende Allee“ etc.). Die Zweckform des Hammers. Der Holzstiel. – Wozu? Und der schwere Hammerkopf: sein Dazu. Jedes in besonderer vertrauter Gestalt, und als Ko rrelat: „etwas“ dadurch zu erzielen (nicht alles und jedes, sondern Nägel in die Wand schlagen, in hölzerne Bretter einschlagen etc. oder unebene Metallplatten gerade klopfen etc.). „Das ist ein Hammer.“ – Er hat in seinem Aufbau, in seinen Erfahrungseigenschaften Zweckform, also eine seiende Beschaffenheit. Seiend: Ich kann die Apperzeption als Hammer bewähren, mich überzeugen, und „jeder“ kann es. Das ist eine allgemeine Zweckmäßigkeit, für viele Zwecke eine Art Mittel, eine Art Nutzbarkeit. Zwecke gegenüber zweckmäßigen Materialien und Werkzeugen. (Z eu g ist, was durch seine dingliche Artung, seine Natur, oder durch seine werkmäßige Ausgestaltung als Werkzeug einem Endzweck dient.) Z w eck e selb st sin d S eien d es. Individuelle Zwecke und Allgemeinzwecke. 1 1933 oder 1934. Manches Gute zur Beschreibung der vorgegebenen Welt, nur ganz unsystematisch angefangen. Es bedarf einer kategorialen Strukturlehre – angefangen von der Kategorie „Substrat“, reales.

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Jeder Beruf hat einen allgemeinen B eru f szw eck für den, der den Beruf betreibt. „B eru f“ – eine Weise des ganzen Lebens (oder eines Lebenshorizontes), im Ich-Subjekt des Berufes eine habituelle Gerichtetheit darauf, eine solche Weise des Lebens durchzuführen. Diese Weise ist bestimmt durch den allgemeinen und habituellen Willen auf einen allgemeinen Zweck hin, darauf, im weiteren Leben immer wieder Werke als einzelne Zweckobjekte im Typus des allgemeinen Zweckes zu gestalten. Z w eck e als habituelle Willensgerichtetheiten (eventuell flüchtig vorübergehende Willensgerichtetheiten) in Personen: ein zelp erso nale Zwecke und gemeinschaftliche Zwecke. Gemeinzwecke, nicht nur gleiche Zwecke verschiedener Personen – Gerichtetheit etwa auf ein Werk als das, woran ich und ein anderer „zusammen arbeiten“. Dabei gehört zu eines jeden Wollen das simultane oder überhaupt Zugleich-Wollen des Partners – ein In ein an d er d er Wo llu n gen, ein Zweck, den jeder derselben als solchen von sich aus durch den anderen und der andere von sich aus durch mich hindurch hat. Und so ist d erselb e Zweck für einen jeden der Partner der seine, in dessen Sinn das Seinsollen und Mitbeteiligung des anderen liegt und zugleich umgekehrt. Verein szw eck – als allgemeinsamer für die Vereinsmitglieder und den Verein als Verein. Nat io n ale Z w eck e, auf die eines jeden Konnationalen Leben gerichtet ist; das nationale Ganze ist Ganzes aus der Einheit des nationalen handelnden Lebens mit der Einheit nationaler Zwecke etc. Zur vorgegebenen Welt gehört Vorgegebenheit nicht nur für einzelne Personen, sondern für Personen in ihren „ ab gesch lo ssen en “ Men sch h eit en, die ringförmig selbst Glieder sind in höherstufigen Gemeinschaften von Menschheiten. – Im offenen Horizont Idee einer Allm en sch h eit als Totalität der offenen Mannigfaltigkeit von menschheitlichen Lebenseinheiten. Die Welt als Universum von Seienden – in der ständigen Vorgegebenheit für uns alle, die selbst für alle vorgegeben sind als Seiende, als seiende Menschen. Allheit des Seienden als Welt hat zum Untergrund seiende Nat u r. Aber das darf nicht missverstanden werden. Als ob Natur konstituiert wäre als ein geltendes Universum für sich, als ob wir Menschen sozusagen gelegentlich den Einfall hätten, mit Naturobjekten etwas zu machen, uns naturale Materie zweckhaft zu gestalten. Wir Menschen als Menschen sind zwecktätig, immer schon Zwecke habend und in

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allen Akten Zwecke fördernde, erfüllende, erweiternde etc. Subjekte. Nat u r ist ein e Ab st rak t io n; und alles auf Natur eingeschränkte erfahrende Tun (Explikation etc.) ist eben Einschränkung im Dienst, in Funktion für menschliches Streben, für zweckhaftes. Welt ist immer schon und mit all den Zweckgestalten, den erledigten, Feld für Zwecktätigkeiten, für den Zukunftshorizont zu konzipierender und zu erfüllender Zwecke. Die Natur hat für uns Menschen überhaupt und ständig (einzeln und in Gemeinsamkeit) Zweckhaftigkeit; sie ist ständig bezogen also auf Menschen, diese oder jene, und auf Menschengruppen, Familien, Völker, auf Vereine, Stände etc. innerhalb der Völker. Die Zwecke selbst sind d en Menschen und ihren Gemeinschaften zugehörig, m it ihr S ein ausmachend. Die Zweckhaftigkeiten sind also subjektive, einzelsubjektive oder gemeinschaftssubjektive, an den für sie als seiend geltenden Dingen (den vorhandenen) seiende Eigenschaften, diesen von den betreffenden Subjekten zugeeignet als subjektive praktische Geltungen, als Geltungsgehalt eigener Art, als „Ausdruck“, als „Bedeutung“ für die betreffenden Personen, einzelne oder in ihren Gruppen. Sie verweisen sie auf ihre wirklichen oder möglichen Zwecke – Zwecke, die diese haben, die sie haben als jetzt wirkliche oder als gelegentlich unter Umständen voraussichtlich aktuell erstrebte. Zwecke als Mittelzwecke oder, wenn man will, vermittelnde Ziele und Werke, und schließlich Endzwecke. Wesensmäßig haben aber die Substrate von Zweckhaftigkeiten let zt e Kern e: Nat u r, abstraktiv. Ziele, Zwecke sind in der Welt, sofern Menschen als Zwecke habende und Zwecke erfüllende, nach Zwecken gestaltende und damit Zweckgeformtes schaffende Menschen in der Welt sind. Menschen sind in der Welt in Verbundenheiten, verbundenen Gemeinschaften. Das Menschen Verbindende ist ihre allgem ein sam e G elt u n gsw elt, in der die allmenschliche Natur – wenn wir Welt wirklich als schon allheitlich konstituiert denken – den wesensmäßigen, durch alle Stufen der Gemeinwelt hindurchgehenden Kern ausmacht. Seiende Welt ist der allgemeine Boden menschlichen Daseins, oder besser: das ständig horizonthafte Universum von Materialien, womit wir Menschen zweckhaft tätig sind und sein werden. Die schon seiende Welt ist universale Materie f ür die seinsollende und sollensmäßig sein w erdende Welt, Universum dessen, womit wir Neues gestalten; und wir als Menschen

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sind eben zweckhaft strebende Subjekte, einzeln und miteinander. Schon seiende Welt, das ist die gegenwärtige Welt, in der gegenwärtig wir in die Zukunft hineinleben oder die wir zur künftigen Gegenwart gestalten. Korrelativ: In der gegenwärtigen Welt seiend, sind wir als 5 die, die sie gestaltet haben, sind wir als Subjekte dieses unseres Erwerbs und unserer vorgerichteten Zwecke bestrebt, aus dem, was unsere Habe ist, neue künftige Habe zu schaffen. Unser Jetzt-Sein, wir in aktueller Wirklichkeit, ist habendes Sein und Habe aus Habe intendierendes Sein, auf Seinsollendes Gerichtetsein. Seiende Welt 10 ist Material für künftig seiende Welt, für seinsollende, von uns zu erzeugende. Seiende Welt als menschliche ist im m er sch o n von uns als Zwecksubjekten gewordene (aber sie hat immerfort einen Kern Natur als let zt e Mat erie, die nicht erzeugte ist, nicht Zweckhaftigkeitsbeschaffenheiten als Erwerbe hat). „Immer schon“ – das scheint 15 unmöglich, klingt paradox und wird zum Problem.

§ 2. Das Kulturgesicht der von Subjekten her entsprungenen Welt. Praktische Nahwelt und außerpraktische Fernwelt Die nähere Überlegung führt in die G en erat ivit ät der Subjektivität als Welthabe konstituierende und auf die Relativität der Seinsweisen von Menschheit und Welt (bzw. der Begriffe „Menschheit“ und „Welt“). Welt in Relativität ist korrelativ zu einer jeweiligen AllGemeinschaft von Subjekten, als welche, miteinander lebend und alle miteinander, teils unmittelbar, teils mittelbar ständig in Zwecktätig25 keiten und Zwecken verbunden, in der Welt walten. Diese als ihre Welt hat immer schon ein aus solchem früheren Walten stammendes Kulturgesicht für sie, eine allgemeine Zweckhaftigkeit und zu Zwecken Berufenheit, Geeignetheit, und in eins damit den Charakter einer als Basis und Material für die seinsollende – sein sollend gemäß 30 den in den Subjekten schon verwurzelten, ihr jeweiliges Subjektsein ausmachenden Zwecken.1 Weiter gehört aber zu diesen Subjekten ein 20

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Diese allgemeine Welt und allgemeine Zweckhaftigkeit hat aber Probleme, da doch für jedermann „die Welt“ ein anderes Gesicht hat.

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Horizont von künftigen Stiftungen neuer Zwecke und damit ein Horizont von Entwertungen, Umwandlungen (Modalisierungen) von früher her bestehender Zwecke (Bruch ihrer Fortgeltung, Preisgabe oder kritische Änderung). Die All-Gemeinschaft ist eine generative. Jedes Einzelsubjekt steht in seiner Generation, in seiner Familie, ist Kind seiner Eltern, Geschwister seiner Geschwister. Das ergibt Urgemeinschaft zwischen verschiedenen Subjekten derselben Familie, und von da aus und in weiterer Verflechtung der Sippenbeziehungen: Verbundenheit von verschiedenen Personen durch Verheiratung und durch Mittelbarkeiten der Generation, Verbundenheit zur Einheit einer Sippe. Das ist nun ein eigenes Thema für genauere Beschreibungen. Sie sollen zur Wesensbeschreibung der Einheit einer All-Gemeinschaft führen als einer relativen oder relativ werdenden einheitlichen Menschheit, welcher korrelativ ihre Welt als ihre, als für sie seiende, als von ihr gehabte entsprechen soll und als die, in der sie lebt, an der sie das universale Material für ihr Zweckleben hat, ihr Affektions- und Aktionsfeld. Diese Welt hat eine Seinstypik schon aus dem generativen Leben dieser All-Gemeinschaft. Doch genauer besehen, hat sie es in verschiedener Weise. S eien d e Welt trägt in sich die Unterscheidung zwischen p rak t isch er Nahwelt und Fernhorizont, Fernwelt, die in der praktischen Gegenwart (der konkreten und in ihrer Gegenwartskünftigkeit) p rak t isch au ß er Frage bleibt. Wandlung einer wandernden Gemeinschaft, eines Stammes. Das gegenwärtige Territorium (nämlich die praktische Nahwelt), auf dem der Stamm eine Zeit gelebt hat – eine Zeit, die zur Aktualität der konkreten Gegenwart gehört – wird verlassen; wandernd bewegt sich der Stamm in den vordem außerpraktischen Horizont hinein. Er nimmt seine bewegliche Habe mit; sie gehört also mit all dem bei der Wanderung und im neuen dauernden Territorium Hinzuerworbenen zu diesem ständig mit hinzu. Solche Wandlungen können sich beliebig wiederholen mit dieser Bewegung von Territorium und Habe bzw. der Beweglichkeit des Sinnes außerterritorialer Fernwelt. Andererseits kann eine All-Gemeinschaft sesshaft werden, sie verharrt auf ihrem Territorium, und durch Bearbeitung des Bodens wird er selbst zur Habe. Zum Boden, Erdboden, rechnet dann natürlich nicht die Erde in unserem Sinne; das „Land“ hat seine unzugänglichen, unbekannten, aber in entsprechender Vag-

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heit mitverstandenen Tiefen, die wie die offene Länderweite, aber auch wie der Himmel und die Himmelsvorkommnisse außerpraktische Horizonte bleiben. Freilich nur in einem bestimmten Sinn, dessen Umschreibung wieder eine Aufgabe ist.

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§ 3. Territorium und das von Urbedürfnissen bestimmte Zweckleben. Primäres und sekundäres Zweckleben. Lebensverbundenheit in einer All-Gemeinschaft Das T errit o riu m und das ihm zugehörige Z w eck leb en , d as bestimmt ist durch die m enschlichen U rbedürfnisse, das Instinktive, das Zweckleben, als das der periodischen Befriedigung dieser eben periodisch sich meldenden und zu erfüllenden Bedürfnisse. Von da aus: das Arb eit sf eld, die Arbeitszwecke. Andererseits die Kausalität der Außenhorizonte. Von da die „religiösen“ Mächte und das auf sie bezügliche sekundäre Zweckleben: der Mensch, der die Götter, die Schicksalsmächte (die in sein primäres Zweckleben störend oder fördernd eingreifenden) bestimmen, sie für sich gewinnen will. Die Welt, die aktuell gegenwärtig seiende, hat diese Doppelschicht: auf der einen Seite ihren Außenhorizont, andererseits einen Kern primärer Zweckhaftigkeit (Umwelt von Arbeit und Spiel, von verharrenden Zweckobjekten, eventuell Zweckvorgängen aus Arbeit und aus Spiel; doch ist auch der Unterschied zwischen E rn st - Z eu g und S p iel- Z eu g in seiner Weise ein Unterschied von primär und sekundär Bedeutsamem). Aufbau einer All-Gemeinschaft aus Gemeinschaften, die ihr Sein mit ihrer Zeitdauer haben, zudem flüchtige Vereinbarungen, Zwecke und Handlungen, andererseits eine All-Gemeinschaft unter AllGemeinschaften und offener Horizont von solchen Gemeinschaften. Ich – All-Gemeinschaft. Ich gehöre einer All-Gemeinschaft n o t w en d ig an. „Ich bin“, dazu gehört: Ich bin unter den Genossen meiner All-Gemeinschaft und sie sind für mich, jeder als ein „anderes Ich“, als Ich seiner All-Gemeinschaft, aber derselben, die ich „die meine“ nenne. Ich sage: Jeder ist personales Zentrum seiner Außenmenschheit, oder jeder ist in seiner All-Gemeinschaft so, dass für ihn sich dieselbe in der Form „ich und meine Außenmenschheit“

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darstellt. Aber ich weiß mich als Ich nicht nur meines „Volkes“, meiner All-Gemeinschaft, sondern durch diese hindurch als Deutscher etwa im europäischen Zusammenhang, unter den europäischen Nationen und ihren Menschen etc. So bin ich auch Zentrum einer weiteren Außenmenschheit, die aber gegliedert ist in deutsche und außerdeutsche Nationen. Für meine und eine jede All-Gemeinschaft gilt Analoges wie für mich und einen jeden innerhalb meiner Gemeinschaft. Jede ist das ichartige Zentrum für die anderen. Oder: Die deutsche Nation (von mir gesprochen als meine Nation) und die Nationen außer uns, unter denen wir leben, jetzt in der übernationalen Verbundenheit, die nicht Nation ist. Ich und die Anderen in meiner nächsten All-Gemeinschaft, durch die vermittelt ich zu Menschen sonst „in Beziehung“ bin. Zu meinen „Genossen“ (den „Nächsten“) bin ich zunächst „in Beziehung“. Was ist das „zu Anderen, seinen Nächsten in Beziehung sein“? – Ich „lebe“. Mein Leben als Ich ist Bewusstseinsleben. Meine Beziehung zu Anderen ist Bewusstseinsbeziehung. Die Beziehung meines Lebens zu ihrem Leben, dessen ich in meinem Leben als des ihren bewusst werde, ist die der Lebensgemeinschaft. Ihrer bewusst, bin ich auch dessen bewusst, dass wir miteinander leben; und darin liegt: Wir leben in einer Lebensverbundenheit im weitesten Sinne. Der weiteste Rahmen dafür, die weiteste Verbundenheit als Form für alle Verbundenheiten im ausgezeichneten Sinne, ist der des Bewusstseins als F ü rein an d er- d a- S ein: Jeder Andere, der in meinem Bewusstsein für mich da ist als Anderer, als Genosse und Subjekt seines Lebens, ist mir bewusst als in seinem Leben meiner als Subjekt meines Lebens bewusst. Jedes Ich ist Ich in seinem Leben und impliziert darin, als aller Anderen Bewusstseinsleben bewusst seiend, eben alle anderen Leben. So sind wir alle in „Ko n n e x“. Und dass das so ist, das ist selbst in meinem Bewusstseinsleben beschlossen und für mich rein aus mir selbst, aus Reflexion auf mein Selbstsein im Selbstbewusstsein zu entnehmen. Der Konnex als Bewusstseinskonnex zwischen mir und meinen Anderen und aller meiner Genossenschaft mit allen ist ein Konnex durch Vermittlung, wobei sich nächster Konnex mit den unmittelbar Nahen von dem ferneren und immer ferneren Konnex unterscheidet. In meinem Bewusstseinsleben bin ich aber in ständiger Beziehung auf die für mich seiende Welt. Wie ist diese Beziehung im

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Verhältnis zu den Konnexbeziehungen zu charakterisieren? Beide Beziehungen sind untrennbar miteinander verflochten (ein Wort, das eigentlich nicht passt in seiner äußeren Bildlichkeit).

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§ 4. Bewusstseinsmäßig bleibende Bedürfnisse und die uns bewusstseinsmäßig gemeinsame Welt als Interessenfeld. Der ursprüngliche und der phänomenologische Begriff von „Horizont“ Die Bewusstseinsbeziehung auf Andere – die Bewusstseinsbeziehung auf Welt, oder sagen wir auf die universale raumzeitliche Natur. Diese Nat u r- Welt, das „Universum“, umfasst alle Realitäten, oder vielmehr hat für uns Seinssinn als Realitäten-All physischer Realitäten, unorganischer und organischer (Tiere als Realitäten, Menschen als Realitäten). Jedes Reale hat nach Gestalt und Stelle räumliches Dasein und in der Zeit seine Zeitstelle mit seiner Dauer. Jedes Reale hat seine Körperlichkeit, die eben Raumzeitlichkeit hat und das ihr Eigene der res extensa. Darüber hinaus haben alle oder gewisse organische Körper Eigenschaften der Leiblichkeit und damit niederes oder höheres Seelenleben. Zudem hat alles Reale für uns irgendwelche praktische Bedeutsamkeit, nämlich für unsere Zwecke, für uns als Personen, die wir, in der Welt lebend, mit den Dingen irgendetwas vorhaben. Als Personen haben wir eben unsere „Interessen“, und die Welt, das Universum der Realitäten, ist unser Interessenfeld. Wir sin d im m erf o rt in B et rieb , getrieben von unseren Instinkten, unseren Bedürfnissen, u n seren h ab it u ellen Z w eck en, auf Grund derer, die wir schon haben, neue und immer wieder neue bildend. Einmal uns eigen geworden, regieren sie in ihrer Art, solange sie dauern, solange wir sie nicht aufheben, unser Leben. In der periodischen Wiederholung gleichartiger Bedürfnisse und normalerweise erfolgender und entsprechender Erfüllung erwachsen uns die b ew u sst sein sm äß ig bleibenden B edürfnisse, so zum Beispiel aus dem urinstinktiven Nahrungsbedürfnis der durch unser, durch jedes Leben hindurchgehende Zweck der normalen täglichen Ernährung in periodischer Stillung des periodisch sich einstellenden Bedürfnisses, sich zu sättigen.

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Die Welt als Interessenfeld ist die uns bewusstseinsm äß ig gem ein sam e Welt, die Welt, für welche aber jeder von uns in sein er Weise interessiert ist. Jeder hat seine Interessen und ist von ihnen in seiner Weise bewegt. In eines jeden Leben hat unter den für ihn bestehenden Interessen jeweils ein Interesse seine Zeit („es ist an der Zeit“) und, in die Form der Aktivität übergehend, findet es seine freie Erfüllung, oder es nimmt die Form der Hemmung an (das verstanden als Hemmungsform des Aktes). Jeder hat dabei Interessen, die unmittelbar oder mittelbar Erfüllung finden und finden können bzw. hinsichtlich der Widerstände, der Hemmungen unmittelbar und mittelbar. Interessen haben in ihrem Sinn selbst die Unmittelbarkeit oder Mittelbarkeit. Interessen sind in Interessen fundiert, also sind auch Wollungen, Handlungen in Wollungen bzw. Handlungen fundiert. So für einen jeden Einzelnen. Bleiben wir zunächst in dieser Einzelheit. Ich habe bewusstseinsmäßig in Geltung die Welt, und zwar in meiner Weise, als die, die sie jetzt für mich ist. Ich habe mein Wahrnehmungsfeld orientiert um meine ständig für mich daseiende, in ihm selbst wahrgenommene Leiblichkeit. Jeder Andere ebenso, aber er hat seine „Weltvorstellung“, Welt als die ihm geltende, sein Wahrnehmungsfeld, in ihm seinen Leib als Orientierungszentrum. Jeder hat die im Felde der Wahrnehmung ihm unmittelbar gegebenen mundanen Gegenstände, und das sind nicht ohne weiteres dieselben, als welche ich gegeben habe. Und jeder hat hinsichtlich der gemeinsam wahrgenommenen Gegenstände jedenfalls dieselben als die verschiedener Perspektiven, verschiedener Momente, Seiten, Beschaffenheiten der Dinge, die jeweils wirklich von ihm wahrgenommen sind etc. Die mir geltende Welt reicht über das Wahrnehmungsfeld hinaus; es hat seinen nicht wahrnehmungsmäßigen Horizont; abgesehen davon das Wahrnehmungsfeld in seiner orientierten Gegebenheitsweise, darin all die darin in eins wahrgenommenen (wahrnehmungsmäßig koexistierenden) Gegenstände ihre Abschattungsweisen der Nähe und Ferne haben und worin ein Umkreis äußerster noch wahrgenommener Ferne auszuzeichnen ist. Das ist sogar, und zwar in der Schicht visueller Wahrnehmung, also für das Sehfeld, das konkret gesehene Gegenwartsfeld von der Welt, der u rsp rü n glich e B egrif f vo n „ H o rizo n t “. Freilich ist das Wort nicht eindeutig in Gebrauch. Es bezeichnet auch das ganze visuelle Feld, das All dessen, was im Ho-

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rizontkreis liegt. Wir gebrauchen das Wort in der Phänomenologie, um das über d as Wahrnehmungsfeld h inaus G eltende zu bezeichnen und dann weiter f ü r alle äh n lich en Fälle (für Erinnerungsfelder usw.).

Nr. 35 Lebenswelt als Umwelt einer Menschheit, in sich geschlossen lebend. Lebenswelt als h istorische Welt. Lebenswelt als generative H eimwelt oder Fremdwelt, als völkische Umwelt und als Welt von sachlichen Ausdrucksgebilden 1

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§ 1. Die Epoché von naiver Wissenschaft und Philosophie und die erkenntnistheoretische Besinnung auf das natürliche vorwissenschaftliche Leben und seine Welt 10

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Wir sind in einer geänderten Einstellung gegenüber der normalen des Erfahrungslebens. Wir sind nicht natürlich-naiv interessiert, wir folgen nicht unseren alltäglichen Vorhaben; unser eventuelles Interesse für wahres Sein, ob es einer sonstigen Praxis dient oder ein eigenes Interesse der Neugier, des reinen Wissenwollens ist, wird nicht betätigt. Die Einstellung der griechischen Philosophie: die auf eine endgültige, irrelative Wahrheit und als Ziel die Herausstellung des Seins an sich, der Erkenntnis des Seienden, wie es in sich selbst absolut ist. Der griechische Philosoph übernimmt aus dem menschlichen Leben das Wissen um die Fehlbarkeit der alltäglichen Meinungen der Menschen, und nicht nur der traditionalen, auch selbst der Erfahrungen; er übernimmt zunächst auch die in der Praxis des Lebens innerhalb der vertrauten Lebensumwelt eines jeden in Einzelheit und Gemeinschaft herrschende und sich bewährende Überzeugung, dass Meinungen bewährt werden können, so dass sie zu praktisch zuverlässigen Wahrheiten werden, dass dabei auch die in den lebendigen Erfahrungen liegenden Seinsgewissheiten vervollkommnet werden können, so dass sie zu vollzureichenden Selbsterfassungen und Selbsthaben des Seienden werden für die jeweiligen praktischen Erfordernisse. Aber er ist auch innegeworden der Relativität dieser Selbsthaben und aller aus der Erfahrung entsprungenen und sich durch sie bewährenden Meinungen und selbst Wahrheiten. Den 1

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Wechsel der Situationen der Menschen und der diese Situationen bestimmenden praktischen Interessen überschauend, findet er sich in der einheitlich seienden Welt, findet er darin die Menschen mit ihren Interessen und Situationsauffassungen, und er findet die Welt als eine immerfort für alle seiende, als die eine und selbe Welt, in der sie leben, in die sie hineinerfahren, hineinwerten, hineinhandeln, von der sie sich wechselnde Meinungen machen, Auffassungen, Geltungsaspekte, je nach ihren praktischen Einstellungen. Alsbald entspringt in ihnen wie selbstverständlich die Überzeugung, dass es möglich sein müsse, eine alle Relativitäten übersteigende Seinserkenntnis durch eine entsprechende Erk en n t n ism e t h o d e zu gewinnen, in der apodiktisch gewiss wird, wie das Seiende an sich selb st, also irrelat iv und für jedermann ist, der eben nur dieser Methode gemäß erkennt. Das Relative ist das bloß Subjektive, das zur subjektiven Situation Gehörige; das Irrelative ist das, was alles bloß Subjektive transzendiert, also die Unterschiede der Menschen, ihrer subjektiven Meinungen, Erfahrungen, Auffassungen, und sie überwindet eben durch die Methode der πιστ µη. Die Besinnung über die Möglichkeit einer solchen Methode und korrelativ über die Erfordernisse eines An sich Seienden und seine Beziehungen zu dem bloß Subjektiv-Relativen führt alsbald, wenn auch immer noch sehr naiv, zu universalen Betrachtungen. Fragen der Möglichkeit einer Erkenntnis eines An-sich und Versuche seiner wirklichen Bestimmung können nicht einzelweise oder gebietsoder klassenweise gestellt werden an die in der L eb en su m welt , der Welt d er δοξα, sich darbietenden prätendiert Seienden. Das Problem ist universales Weltproblem, und so ist die Philosophie von vornherein universale Seinstheorie und Erkenntnis- bzw. Wissenstheorie, wobei das Sein An-sich-Sein bedeuten soll, das Wissen also entsprechend korrelativ zu verstehen ist.1 Die Naivität musste als Naivität entdeckt und überwunden werden. Das Gewissen in dieser Hinsicht zu wecken und ständig die Richtung fühlbar zu machen, in der die Möglichkeit und der Sinn einer

πιστ µη und damit auch einer δξα verständlich werden konnte (in 1 Die Supposition eines der Unendlichkeit der Relativität unterzulegenden An-sich und der Möglichkeit einer Methode, es zu erkennen, und wiederum die Naivität, in der solche Methode versucht wurde und eindrucksvolle Ergebnisse zeitigte.

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Gegenrichtung der rechtmäßige, der wesensmögliche Sinn an sich seiender Welt als eines Universums von einzelnen an sich Seienden), war die von der Sophistik an fortlaufende Funktion des Skeptizismus. Aber er muss aus dem verfahrenen Negativismus die Umwendung gewinnen in die positive Fragestellung. Naive Philosophie ist ein Vorurteil und ihre Ergebnisse, ihre Theorien als naive entbehren letzter Einsicht, also zwingender Begründung. Philosophie (im alten Sinne) als universale Wissenschaft vom Universum des absolut Seienden gegenüber dem bloß Subjektiv-Relativen der menschlichen allgemeinen Erfahrung, und sich in diesem vermeintlich bewährt Seienden bekundend und prinzipiell von ihm unterschieden, wird zum Problem; zum Problem wird die Möglichkeit absoluter Erkenntnis einer echten, einer πιστ µη als Erkenntnis des An-sich und die Möglichkeit einer philosophischen Universalwissenschaft, die alles „echte“ Wissen umspannt. Philosophie kann nur werden durch „Erkenntnistheorie“, Wissenstheorie, durch Besinnung radikalster Art über den möglichen Sinn einer Philosophie, über den Sinn und die mögliche Verwirklichungsweise einer Methode, in der wir als Subjekte der bloßen δξα zu Subjekten der πιστ µη werden. Diese „Erkenntnistheorie“ tritt zunächst natürlich nicht selbst als Philosophie auf, nicht selbst als „Wissenschaft“, deren Ziel ja sein sollte absolute Welterkenntnis, während ihr Ziel Besinnung über die Möglichkeit der „Wissenschaft“ ist. Will sie ein Wissen von dieser Möglichkeit, will sie es als echtes Wissen schaffen, also wieder durch Erkennen, durch ein einsichtiges Begründen, so hat dieses Wissen einen neuen Sinn, nicht den der Philosophie, der Wissenschaft im ursprünglichen, im jetzt eben fraglichen Sinn. Sollte und musste später auch das ein rechtmäßiges Problem sein und sollte zum Problem werden, wie dieses Wissen der Besinnung über die philosophische Besinnung (das Wissen, das nachmals „Wissenschaftstheorie“ heißt) möglich ist bzw. wie die Erkenntnisweise dieser Besinnung ihre Echtheit gewinnt, so konnte es jedenfalls nicht zunächst das Problem sein und noch nicht aufgewiesen, ob es Problem werden muss. Die „Erkenntnistheorie“ der prätendierten Erkenntnis einer an sich seienden Welt ist nicht die Theorie der Möglichkeit von Erkenntnissen, die in jener absoluten Welterkenntnistheorie betätigt werden sollen. Es kommt nicht auf die Namen an. Nennen wir diese Besinnungen mit ihren Evidenzen, Erfahrungen, Erkenntnissen aller Stufen nicht

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„Philosophie“, nicht „Wissenschaft“, zunächst um reinlicher Scheidung willen, oder nennen wir sie höchstens „Wissenschaft im zweiten Sinne“. Indem wir nun zu ihr hingezwungen werden, vollziehen wir eo ipso eine E p o ch é. Da Welt an sich und jedwede Wahrheit an sich, als solche unselbständiges Bestandstück einer universalen Weltwahrheit an sich, in Frage steht, so müssen alle naiven Philosophien, alle naiven Wissenschaften eingeklammert sein, und das sagt: Wir dürfen nie vergessen, dass wir nicht naive Wissenschaften in ihren Ergebnissen voraussetzen dürfen, da in allen die Seinsgeltung der absoluten Welt steckt oder da alle etwas von diesem An-sich herausgestellt zu haben prätendieren. Die bewusst durchgeführte Epoché hinsichtlich der absoluten Welt wirft uns zurück auf die Welt des vorwissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Lebens, auf das natürliche Leben und im Besonderen auf das Erkennen in natürlicher Einstellung – wie es scheint. In ihr sind die Wissenschaften, die für uns da sind, in Seinsgeltung als Vorkommnisse der Kultur, so wie sie es vor dem Übergang in unsere erkenntniskritische Einstellung waren; nur dass sie jetzt als Theorien über die absolute Welt in Frage stehen und eingeklammert sind. Darin liegt nicht, dass wir unsere eventuellen Überzeugungen von ihrer Wahrheit aufgegeben haben, sondern nur, dass wir von diesen keinen Gebrauch machen wollen und als Erkenntniskritiker sie in Frage halten und die neue Fragedimension für sie eröffnet haben, die den Titel hat „Möglichkeit eines An-sich und von Erkenntniswegen zu einem An-sich“. Auch hinsichtlich der relativen Wahrheiten und Welten hat der „erkenntnistheoretisch“ sich Besinnende eine eigentümliche Einstellung und eine andere als der im „natürlichen“ (vorwissenschaftlichen) Leben Stehende und in ihm natürlich Urteilende und Erkennende. „Natürlich leben“ ist als Mensch in „seiner“ Welt – wir sagen: seiner „Umwelt“ – leben, ist für uns und für jedes Wir, in dem jeder sich schon findet, in der entsprechenden Umwelt als der „unseren“ leben; und so lebend, in sie hineinlebend, hat er sie als offenen Seinshorizont, ist sie Boden allen Urteilens und Glaubens. Natürlich leben ist einen Weltboden h aben, in einer festen Normalität, wir können auch sagen: in einer festen Traditionalität, obschon diese Festigkeit, die Art, wie eine solche Welt als altvertraute

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Lebenswelt umgrenzt ist, näherer Auslegung bedarf. Wer als in seiner Welt lebend urteilt, urteilt über das Seiende, das er entweder erfährt oder vom Erfahrenen aus induktiv antizipiert. Das Erfahren ist hier schlichte Rezeptivität, geradehin Erfassen dessen, was schlicht da ist,1 was hingenommen ist als schlechthin seiend. Das spezifische Wahrheitsinteresse (theoretische Interesse) terminiert in schlichten Erfahrungen, die sich in festen Habitualitäten im Rahmen der als Horizont vorgegebenen Lebenswelt bewegen. Als „erkenntnistheoretisch“ uns Besinnende stehen wir nicht mehr und vor allem nicht erfahrend und urteilend auf dem Boden meiner und unserer vorgegebenen Welt. Ich bin in einer Motivation, welche mich zwingt, diesen Boden aufzugeben – in einem gewissen Sinne. Das macht es nicht, dass ich mich über meine jeweilig treibenden praktischen Interessen erhebe und, als im Wir stehend, über „unsere“ Interessen (z. B. in der Volksgemeinschaft über die nationalen) und bloß kennenlernen will, was ist, und nicht, was es mir und uns wert ist und daraufhin praktisch in Frage kommt. Dieses pure Interesse für das, was wirklich ist und was es ist – das theoretische in einem allerweitesten Sinne – ist noch weit von jenem Interesse am „an sich“ Seienden, oder jenes erste An-sich ist nur ein relatives An-sich.

§ 2. Das natürliche Weltleben als Leben in traditional bestimmten Heimwelten. Begegnung mit fremden Menschheiten und ihren Welten. Historizität menschlichen Lebens und seine konkret erfüllte generative Welt (völkische Umwelt)

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Natürliches Weltleben ist geradehin in seiner vertrauten Tradition leben. Denken wir ein erstmaliges Eintreten eines Konnexes mit Menschen einer fremden Menschheit. Es ist dann ebenso, wie 30 wenn wir in unserer Welt einem anderen Menschen begegnen und dessen innewerden, dass seine Erfahrungen anomal von den unseren differieren, während normaler Konnex darin besteht, dass unser aller Erfahrungen einstimmig sind oder, genauer, dass wir, einander 1

Als Herauserfahren aus diesem ständigen Horizont.

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verstehend, ohne weiteres uns verstehen, uns wechselseitig erfahren (in der Weise der Einfühlung) als dieselbe Umwelt in gleichem Sinne erfahrend, nur jeder von seiner Stelle aus in entsprechenden, aber im Stellungswechsel sich austauschenden Erscheinungsweisen. Innerhalb unserer Lebenswelt haben wir in doxischer Hinsicht (in Hinsicht auf Sein und Nichtsein) Einstimmigkeit und Streit; aber der Streit ist jeweils auszugleichen durch eine auf dem immer schon hergestellten Boden der Einstimmigkeit durch zusammenstimmende Erfahrung und Induktion sich gemeinsam ergebende Wahrheit. Allerdings haben wir in unserer Lebenswelt als seiend in Sonderheit verbundene Menschengruppen, deren jede ihre Sondertradition hat und dementsprechend eine Spezialumwelt, eine Gemeinsamkeit ihr in Sonderheit geltender Überzeugungen und darunter erfahrender. Aber die hier bestehenden und verbleibenden Differenzen halten sich in der überspannenden Einheit einer T radition, in der ein gemeinsamer Weltboden der verbindende ist. Er ermöglicht die Wechselverständigung aller in der Einheit eines Volkes (oder gar einer europäischen Kulturmenschheit von Nation zu Nation), wonach eine id en t isch e Welt mit identischen Objekten für alle da ist, die für die verschiedenen Subjekte und Subjektgruppen von ihrer besonderen Traditionalität her Verschiedenes bedeuten, als das verschiedene für sie geltende Bedeutungsprädikate der Erfahrung haben. Das einfühlende Nachverstehen kann dahin führen, dass man eo ipso auch die Mitgeltung vollzieht, ohne dass man sich genötigt sieht, die eigene, aus eigener Tradition entsprungene Geltung zu ändern, oder dass man die fremde Geltung als unverträglich mit der eigenen empfindet und, an der eigenen festhaltend, die fremde negiert. Das kann auch bei einem tief dringenden und mit dem Anspruch der Erfahrung auftretenden Nachverstehen so bleiben. Ich „versetze mich anschaulich“ in das Innenleben des Anderen, in sein Fühlen und Denken, etwa als „Junker“, während ich in der Traditionalität des bürgerlichen Städters lebe; so glaube ich, ihn ganz zu verstehen, in mir seine Weise, die Umwelt zu erfahren, über sie zu denken und vor allem – was zugrunde liegt – seine Weise, in wertendem Fühlen und Wollen dazu sich zu verhalten, nachgestalten zu können. Freilich ist das eine Täuschung, sofern sein Leben der personalen Aktivität und Affektivität nicht bloß das ist, was ich nachbildend in meinem Bewusstseinsleben, mich in das seine hineinversetzend, haben kann.

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Nur aus der Geschichte dieses Menschen könnten wir ihn wirklich verstehen, könnten wir seine Weise, affiziert zu werden und in Gefühl und Wille, leidend und handelnd zu reagieren, wirklich verstehen. Aber damit kommen wir nicht so leicht zu Ende! Wir haben alle eine einheitliche Lebenswelt, einen gemeinsamen Seinsboden von Natur, menschlichem und tierischem Dasein, und auch eine gewisse Breite der Gemeinsamkeit all dieser Realitäten in Hinsicht auf Ku lt u rb ed eu t sam k eit en. Aber zu dieser Welt gehört auch, dass sie von den Menschen verschieden aufgefasst wird, dass sie insbesondere hinsichtlich der Bedeutungsprädikate den Menschen der verschiedenen Gemeinschaften und Gemeinschaftstraditionen verschieden gilt. Eben das gehört also mit zu unserer Welt als der Welt unserer deutschen Menschheit, die in ihrer personalen Gemeinschaftsschichtung eine Menschheit mit Arbeitern, Stadtbürgern, Beamten, Adeligen etc. für uns ist, und, d iesen G ru p p e n en t sp rech en d , ein versch ied en es G esich t hat: Zum Junker gehört, dass er sie so ansieht, zum Arbeiter etc. In dieser meiner Welt lebend, weiß ich, wie jedermann diese Welt als die seine hat; das gehört zur Welterfahrung bzw. zur Welt selbst, als wie sie für mich gemäß meiner Erfahrung ist. Im Übrigen ist unsere Welt für uns, allgemeiner gesprochen, eine Welt von Dingen, die unsere Menschheit gestaltet, der sie aktiv handelnd oder rezeptiv, aber apperzipiert von unserer Tradition aus, Seinssinn verliehen hat; und diese allgemeine Sinnbezogenheit verstehen wir alle, obschon wir nach Individuen und Gruppen in angegebener Weise hinsichtlich der Geltung und der Tiefe des Verständnisses differieren. U n sere Welt als d ie u n serer Historizität ist eine E inheit normaler Vertrautheit; dazwischen mögen Dinge, Tiere, Menschen hereinkommen (Meteore, „fremde“ Menschen), die als „fremde“ diese vertraute Welt verwirren. Wie ist es nun, wenn ein Fremdling uns in unserer Welt begegnet? Ihn als Menschen (und schon für das Tier gilt es) verstehen, das ist: ihn als p erso n ales Ich sein er U m w elt verstehen und ihn verstehen als in derselben Umwelt lebend wie wir, die ihm Begegnenden. Aber wir sagen dabei doch: Er kommt aus einer anderen Welt, er ist Kind einer anderen Menschenwelt, geworden, erzogen in einer anderen historischen Tradition. Er tritt in unsere Welt, und sie ist ihm doch nicht die, die sie uns ist. Ebenso, wenn wir etwa nach China

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reisen, so treten wir in die Welt von Dingen, die von den Chinesen in ihrer Historizität humanes Gesicht, das der Bedeutungsprädikate, gewonnen haben, die als ihre Sinngebilde ihnen gelten. Wir mögen apperzeptiv sofort antizipieren, dass es da auch individuelle und soziale Schichtung entsprechender Differenzen unter diesen Chinesen geben wird, aber unsere Apperzeption, die allgemeine wie die spezielle, ist zunächst eine Leerantizipation. Wir apperzipieren sie als Menschen, wir apperzipieren sie in Leben und Treiben als Menschen ihrer Kultur, aber eben dies Leben und Treiben und diese für sie ohne weiteres seiende Kultur und das Wie und Was des Für-sie-Seins verstehen wir nicht.1 Natürliches L eben ist L eben aus eigener – h eimatlicher – T rad it io n . Aber zur Heimat gehört auch eine Mitgegebenheit von Fremde und vielgestaltiger Fremden, deren jede unverstanden-verstandene Welten mit sich führt. Natürliches Leben ist Leben in einer Erfahrung und Praxis, die aus der eigenheimatlichen Tradition gespeist ist, von daher ihre Geltungen hat, die aber in Erfahrung und Praxis auch mit dem Fremden zurechtkommen muss, so wie ich es von mir und meiner eigenen Traditionalität aus auffasse, es immer neu in seinen Abwandlungen, wirklich oder vermeintlich korrigierenden und bereichernden „Erfahrungen“, kennenlerne. Immer ist es das, was es für mich ist, in seinem Seinssinn von meiner traditionalen Umwelt und meiner ureigenen Historizität her verstanden und gestaltet. Hier ist natürlich auch möglich die Begründung eines habituellen „theoretischen Interesses“, die „Welt“, d. h. die Heimwelt und von ihr aus systematisch die fremden Heimwelten kennenzulernen. Jede hat ihr Territorium; alle Territorien verteilen sich im Raum und in der einheitlichen Natur, die durch alle hindurchgeht und jeder Heimwelt ihre eigene Heimnatur als Kernbestand zuteilt. Das ist die normale Dauerform einer Koexistenz von Heimwelten. Eine andere Möglichkeit ist die der Überfremdung der historisch stabil gewordenen Heimwelt durch Fremde, die nicht einzeln in sie einbrechen, sondern einbrechen als total fremde Menschheit in die eigene, wobei die fremden Territorien sich decken. Wir haben eben die Fälle von Menschheiten, die in historisch dauernder Bodenständigkeit leben auf einem Territorium, dessen Identität zu ihrer historischen Tradition 1

Vgl. hierzu Text Nr. 17. – Anm. des Hrsg.

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gehört als traditionale Identität (Heimat als identisches Vaterland), Menschheiten in Sesshaftigkeit; wir haben Menschheiten in nomadischem Leben, das Land, der individuelle naturale Untergrund des Daseins, ist ein wandelbarer und von der personalen Lebensaktivität her sich wandelnder Bestand. Wir haben das Miteinander von sesshaften und von nomadischen Menschheiten. Für sesshafte ist die Eroberung die Überfremdung unter Aneignung des identischen Heimlandes.1 Sowie andere fremde Menschheiten in unseren Konnex treten, verliert jede Menschheit ihre relativ abgeschlossene Heimwelt. Es tritt notwendig eine Mischung der Traditionen ein; und je nachdem kann im einheitlichen Strom der Mischung ein verschiedener Mischungscharakter erwachsen, z. B. kann die traditionale Typik der einen Menschheit erkennbar prävalieren und die Typik der verbundenen Menschheit wesentlich bestimmen, die Typik der anderen Menschheit ganz überfremden, oder es kann ähnlich wie bei sonstigen Mischungen das Mischungsergebnis den Komponenten gleiches Gewicht erteilen usw. Das ergibt also überhaupt für das praktische Verhältnis fremder Menschheiten zueinander (auch Tierheiten) verschiedene historisch faktische Möglichkeiten und verschiedene Wesensmöglichkeiten. Danach sind auch die Möglichkeiten des Wechselverständnisses von Fremden und seine Tragweite zu überlegen, und so die Möglichkeiten einer „geisteswissenschaftlichen“, einer „anthropologischen“ und „historischen“ Erkenntnis fremder Menschheiten, ihrer fremden Umwelt, der fremden Gestalten von personalen Verbänden, von Sozialitäten, der fremden Typen von Sitten, von religiösen Sitten, Rechtssitten, Sprachsitten etc., der fremden Typik der Sachenwelt in ihren versachlichten Bedeutsamkeiten usw. Voraus müssen aber die möglichen Formen einer Menschheit erwogen werden, und das, was durch all diese Formen in varian t hindurchgeht: dass z. B. jeder Einzelmensch Einzelner ist in einer generativen Kette, in der generative Tradition statthat, während doch (wie in jedem Falle der Eingemeindung von Fremden) auch Menschen verschiedener gene-

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Nomadische Völker. Aber gehört es nicht zum Wesen eines solchen Volkes, dass es in einem Wanderleben doch ein einheitliches Territorium hat als sein bleibendes vertrautes „Vaterland“, eben das, das es durchwandert? Ein anderes ist es, dass sesshafte Völker ihr Vaterland aufgeben und sich ein neues suchen, d. i. sich ein neues gestalten.

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rativ geschlossener Zusammenhänge eine Menschheit bilden können. (Doch ist offen zu halten die Möglichkeit, dass letztlich alle Menschen überhaupt, die andere je als Menschen verstehen können, – sei es faktisch, sei es aus Wesensgründen – aus einem einzigen generativen Zusammenhang die andere jeerstammen.) Der Mensch – auch das Tier – ist wesensmäßig, was er ist, aus einer generativen Tradition. Was macht das Spezifische des Menschen? Was das Spezifische seiner Umwelt, seiner historischen Raumzeitlichkeit? Ist es nicht seine Hist o rizit ät im prägnanten menschlichen Sinne, menschliches Leben in einem Heimatland, in einer raumzeitlichen Umwelt (einer faktisch oder eventuell wesensmäßig endlichen Umwelt), die von der Menschheit ihren Seinssinn empfangen hat, als ein humanes Gepräge, in dem die historische Zeitlichkeit als die des menschlichen sinnbildenden Lebens sich ausdrückt? Aber was hier zunächst zu sagen ist: Ein Mensch als Mensch ist nur Glied einer „Menschheit“, eines Volkes in einem bestimmten Sinn. Menschen, koexistierend in einer raumzeitlichen ständigen Gegenwart als einer bewusstseinsmäßig-habituell für sie konstituierten, und zwar konkret als eine ständig gegenwärtige raumzeitliche Umwelt, die das Gepräge dieser „Menschheit“ – als von ihr menschlich gestaltet, personalen Sinn habend – besitzt, für jedermann als das unmittelbar oder mittelbar verständlich. Aber das gehört schon zur Tierheit, soweit sie einfühlungsmäßig noch irgend verstanden wird, also wirklich erfahren als „Animalität“; obschon die tierische Umweltlichkeit als Ausdruck tierischen Daseins außerordentlich primitiv ist im Vergleich mit der menschlichen. Das Wesentliche der menschlichen Umwelt ist, dass sie in Stufen der Mittelbarkeit eine konkret erfüllte gen erat ive zeit lich e Welt in verschiedener Weise ausdrückt und für jedermann in seiner Gegenwart verständlich, nämlich mit einem Sinn, der von jedermann unmittelbar oder mittelbar enthüllt, zur Wiedergegebenheit gebracht werden kann bzw. zur vorzubildenden Zukunftsgegebenheit. Der Mensch hat nicht nur seine gegenwärtige Umwelt als die von ihm direkt primordial erfahrene und ihm zugängliche, sowie die ihm im Konnex mit den für ihn selbst zur gegenwärtigen Umwelt gehörigen Volksgenossen zugängliche Welt in der sekundären Zugänglichkeit vermöge ihrer unmittelbaren und mittelbaren, faktischen oder möglichen Mitteilungen. Für den Menschen zugänglich und durch Ausdruck in seiner Gegenwart mitgege-

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ben ist auch die Kontinuität der vergangenen Gegenwarten als der konkreten Gegenwarten (Umwelten) der vergangenen Generationen und in induktiver Antizipation auch die der künftigen Gegenwarten der nachfolgenden Generationen. Es ist für den Menschen nicht nur 5 überhaupt raumzeitliche Welt konstituiert, sondern eine b esondere rau m zeit lich e Welt innerhalb der All-Welt (raumzeitlich über diese besondere hinausreichenden und als offener Horizont endlos jedem Menschen mitgeltenden). Es ist ein endlicher Raum in seiner eigenen sukzessiven Zeitlichkeit, konkret erfüllte endliche Raumzeit10 lichkeit, und zwar erfüllt als vö lk isch e U m welt mit Realitäten, die im generativen Menschentum im Konnex der miteinander lebenden, miteinander wirkenden Menschen ihren Seinssinn empfangen haben als einen Allgemeinsinn, einen Seinssinn, der für jedermann (dieses Volkes) Geltung hat als Seinssinn für jedermann.

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§ 3. Die menschliche Umwelt, sich konstituierend durch Ausdruck und Ausdrucksverstehen. Die Welt der versachlichten Geistigkeit mit ihrem Ineinander von Sinnbeständen. Intentionaler Konnex einander fremder Völker – übergreifende Historizität

Die U m w elt d es Men sch en (der natürlich Volksgenosse ist, und sie, genommen so, wie er sie als Volksgenosse hat), ist nicht bloß überhaupt bewusstseinsmäßig und habituell von ihm wahrgenommenes, von ihm erinnerungsmäßig und sonstwie erfahrenes Universum von Realitäten in der Form der Raumzeitlichkeit, sondern sie ist 25 erfahren als m enschliches D asein ausdrückend, indem sie von dem Menschen her Seinssinn hat, d. h. Welt ist, die ist, wie sie ist, aus seinem – und den Menschen der Volkheit und im Miteinander des völkischen Seins – Leben und Streben, aus seinem Absehen, Erwägen, Entwerfen, Handeln, aber auch aus seinem Verfehlen, 30 Misslingen, Verwerfen usw. ihren umweltlichen Sinn, Sinn für den Menschen habend. Es ist freilich ein sehr schwer auszulegendes Ineinander des ichlichen Wirkens, aus dem diese Welt entspringt, und schon jenes, in dem diese Welt ihren jeweils lebendigen konkreten Seinssinn als Umwelt enthüllt, nämlich als ein sehr verwickeltes 35 Ineinander intentionaler Fundierungen. 20

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Hier nur das Roheste: Menschen sind in der völkischen Umwelt, in der sie sich als reife Menschen in jeder Besinnung schon finden, f ü rein an d er d a d u rch Au sd ru ck. Das Primitivste und Fundamentalste in der Fundierungsstufung ist der Au sd ru ck d er ich lich en D asein sw eise, der personalen im weitesten Sinne, in der körperlichen L eiblichkeit.1 Der Leib, als Leib erfahren, ist Urorganon des Ich, der Körper, der wahrnehmungsmäßig in seiner körperlichen Gestalt und seinem Gestaltenwandel, in seinen Bewegungen, Deformationen, in seinen Wandlungen der sinnlichen Qualitäten unmittelbar einfühlungsmäßig verstanden (und in dieser Weise „wahrgenommen“) wird als Körper, worin ein Anderer, ein Ich, waltet – wahrnehmend oder ursprünglich bewegend-handelnd (stoßend etc.). Das aber natürlich so, dass jeder der hierbei fraglichen und kontinuierlich verlaufenden körperlichen Vorgänge seinen besonderen unmittelbar einfühlungsmäßigen Seinssinn des entsprechenden Waltens jenes Ich hat, seines die Augen dahin Richtens und visuell erscheinende Dinge in den und den Erscheinungsweisen Erfahrens usw. Indem aber der Andere als anderes Ich eben damit vorweg verstanden ist, hat er im Voraus als einen noch unbestimmten Leerhorizont eben das, was er als intentionale Modifikation meines Ich übernommen hat. Mein ichliches Sein ist: in meiner Umwelt tun und leiden, meine habituellen Interessen haben, jetzt irgendeines derselben verwirklichen, Interessen des Ernstlebens oder der Muße, des Spiels, der Neugier. Der Andere wird nun nicht nur als leiblich waltend verstanden, sondern auch als irgendetwas dabei vorhabend, irgendwie dabei konkret ichlich lebend. Die B est im m t h eit d er Ap p erzep t io n dieses Lebens und der Bewusstseinsweisen, der Akte und ihres ständigen Milieus der Habitualitäten wird nun ermöglicht durch Au sd ru ck in ein em zw eit en S in n e. In meinem typischen Verhalten zu meinen Umgebungen in ihrer Typik haben sie für mich eben aus diesem Verhalten als dessen intentionales Korrelat ichlichen Sinn für mich. Mit der Einfühlung geht dieser Sinn auch in seiner Typik über auf die gemeinsame umweltliche Umgebung,

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Erster Ausdruck durch Leiblichkeit.

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und ich kann den Anderen konkreter verstehen, z. B. dass sein Tun Essen einer Speise ist oder seine Bewegung eine Hinbewegung, die Speise zu erlangen, oder sein Tun ein Speisekochen usw. Ist das Sich-wechselseitig-Verstehen und das Sich-Verstehen in Konnex des Miteinander, des sich vergemeinschaftenden intentionalen Lebens, aufgeklärt, so tritt als grundlegend für menschliches Dasein als personales Sein unter Personen weiter auf die Mit t eilu n g und der höherstufige leibliche Ausdruck der Red e (einschließlich jeder mitteilenden Tätigkeit und schon des Hinzeigens auf etwas) und korrelativ die Rede selbst, nicht als Reden, sondern als erzeu gt e Red e, als ausgesprochenes Wortgebilde oder Schriftgebilde, das in der Umwelt ist, den Redenden gegenüber, im Raum durch den Raum hindurchschallend, und das als schriftliche Mitteilung ein fortdauerndes Dasein hat, auch wenn der sich Mitteilende nicht mehr da ist. Die Wegweiser, die Briefe etc. drücken, sooft sie von anderen und uns verstanden werden, aus; sie werden in ihrem Seinssinn verstanden als Zweckgebilde mitteilender Subjekte. Aber so treten sie andererseits in eine Reihe mit den sonstigen Gebilden der versach lich t en G eist igk eit, verstehbar und verstanden als Gebilde von Personen, einzelnen oder in ihrem Handeln vergemeinschafteten (wobei die Vergemeinschaftung die des Handelns mit Blick auf ein Gemeinwerk sein kann, auf eine praktische Gemeinschaftsleistung, aber auch darin bestehen kann, dass das Handeln der einen gegen das der anderen gerichtet ist, z. B. in der Weise kriegerischer Zerstörung, Sabotage etc.). Der Sachbestand in seiner sinnlichen Gestalt drückt in der mannigfach sonst personal bedeutsamen Umweltlichkeit und durch sie mit motiviert eben solchen personal umweltlichen Sinn wie Kriegszerstörung, Sabotage allverständlich aus. So ist menschliche Umwelt ein vielfältig fundiertes Ineinander von Sinnbeständen, die nur durch Ausdruck und das Ausdrucksverstehen als eine sehr vermittelte Erfahrungsart da sind und ihre Weise haben im Fortgang dieser Ausdruckserfahrung sich zu stützen, zu bewähren oder auch zu entwähren als falsche Auffassungen. So ist die Umwelt des Menschen durchaus U m w elt d u rch Au sd ru ck und nicht nur durch den allgemeinsten leib lich en Au sd ru ck, der überhaupt es macht, dass Menschen füreinander als IchSubjekte da sind, also in einer leeren Unbestimmtheit ihrer Personalität, sondern durch Au sd ru ck sgeb ild e, d ie ein b leib en d es

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D asein in d er U m welt h ab en. Eben dieses bleibende Sein ist es, das im Kommen und Gehen der Generationen ein Verharren bezeichnet, das jede neue Generation noch verstehen kann und verstehen muss als Ausdruck für das Dasein vergangener Generationen, die in derselben Welt, und zwar in diesem selben Territorium gelebt und gelitten, gehandelt, sich ihre jeweilige gegenwärtige Ausdrucksumwelt geschaffen haben, die nun mindestens in einigen Beständen traditional und in verständlicher Abwandlung (Vergilbung, Verwitterung, Ruine) noch jetzt da ist und jetzt in dieser Sinnabwandlung Bestand der jetzigen Umwelt ist.1 Das ist also im Rohen Andeutung des Weges, um die SeinssinnKonstitution der geschichtlichen Welt und der geschichtlichen Menschheit zu verstehen, die als geschichtliche nur konkret bestimmte und in geschichtlicher Zeitlichkeit seiende ist als die ihrer vergangenen umweltlichen Gegenwart. Diese aber ist ihrerseits in traditionalen Abwandlungen in der gegenwärtigen als Bekundung da, als Ausdruck, der nicht nur Gegenwart, sondern eben Vergangenheit – menschliche Vergangenheit, die einer vergangenen Lebensumwelt (Kulturwelt), ist. Von der historischen Vergangenheit her hat die historische Zukunft ihren Sinn, wie überhaupt Vergangenheit der ständige Boden ist für den Vorwurf, für die Vorerwartung, Vorzeichnung einer Zukunft. Wir haben nun als Erstes – in der Tat an sich Erstes – den Menschen als Glied eines Volkes als einer ursprünglich Historie begründenden und nur so zunächst ermöglichten Lebensgemeinschaft generativ verbundener und verflochtener Menschen betrachtet. Es wäre von da aus auf Grund und unter Leitung von historischen Beispielen ein Entwurf der Wesensnotwendigkeiten und Wesensmöglichkeiten

1 Ausdrücklich betont sei – was nicht unwichtig ist –, dass Ausdruck nicht ohne weiteres identisch ist mit Gegenständlichkeit in subjektiver Bedeutsamkeit. Ausdruck im ursprünglichen Sinne ist ein praktisches Gebilde von Menschen in ihrer weltlichen Umgebung, das als weltliches seine Körperlichkeit hat und dabei eine sinnlich wahrnehmungsmäßige typische Struktur, die in allen Komponenten verstanden ist als gebildet von Menschen, sei es absichtlich oder als verständlicher Nebenerfolg menschlichen absichtlichen Tuns (eine Lagerstätte als Ausdruck von Menschen, die sich da ihren Ruheplatz wählten, wobei sich das Ruhen im zerdrückten Gras ausdrückt etc.). Die Sterne haben auch geistige Bedeutung und gehen auch in die historische Umwelt ein, aber sind nicht eigentlich ursprünglich Ausdruck.

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der Struktur einer völkischen Menschheit oder ihrer Umwelt (der sie selbst und ihre Menschen im jetzigen Sinne dieses Wortes als Objekte zugehören) zu versuchen. Jedes Volk, jede vaterländische Umwelt in ihrer Geschichtlichkeit hat aber eine umgebende Welt; da kann Territorium an Territorium, Volk an Volk „angrenzen“. Hier tritt die Gemeinschaftsbeziehung auf, der intentionale Konnex einander „fremder“ Völker und Welten – und eine übergreifende Historizität, die aber einen wesentlich neuen Charakter hat, aber in die alte Form einmünden kann, nämlich wenn die Völker sich zu einem Volk höherer Stufe vereinigen, wobei ihre Umwelten sich entsprechend vereinigen. Die Vereinigung ist dann eine höhere Stufe der Einigung der innerhalb einer völkischen Umwelt einigen Standesumwelten. Die Völker mögen dabei ihre Sonderhistorien, ihre Sondertraditionen noch lebendig erhalten, aber diese gehen dann ein in die mit der gewordenen Einigkeit anhebende und fortlaufende „U n iversalgesch ich t e“, als eine in G eschichten fundierte Geschichte. So bildet die europäische Menschheit ein Volk höherer Stufe in der Einheit einer Geschichte, der eine einheitliche europäische Kulturwelt entspricht, in die die Kulturwelten der Sondervölker als fundierende Glieder eingeordnet sind. Aber diese Einigung ist selbst ein „historischer“ Prozess. Fremde Völker können in der Fremdheit bleiben, sich oberflächlich berühren, voneinander schicksalsvolle einzelne Wirkungen erfahren.

Nr. 36 Vorauswissen und das Interesse an gesichertem Wissen als Bestandstücke lebensweltlicher Praxis1

§ 1. Das Wissen von der im Leben vorgegebenen Welt impliziert Vorauswissen von ihren künftigen Veränderungen und Unveränderungen.

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Universales Wissen, universale Wissenschaft aus absoluter Begründung als Leitidee für Begründung der transzendentalen Phänomenologie. Ausgang von der im wachen menschlichen Dasein stets lebendigen Seinsgewissheit, universal gesprochen: Weltgewissheit, erwachsen und fortwachsend als Tradition. – Eine lebendige Weltgewissheit, die in aller Wissenschaft vorausgesetzt ist und auch neben der Wissenschaft einhergeht. Unser waches Leben ist Leben in die für uns (für einen jeden, für jedes Wir) als seiend vorgegebene Welt hinein, als von ihr, von dem jeweilig für uns Seienden Motiviert- (Affiziert-)Sein und daraufhin sich aktiv so und so Verhalten. Ich (das jeweilige Einzelsubjekt) habe als mir geltend meine Umwelt, eben die aus meinem Leben, meinem erfahrenden, meinem denkenden Leben mir geltende. Diese Ausdrucksweise muss richtig, muss in dem vollen, ihr zugehörigen Sinne verstanden werden. Die mir geltende Welt enthält, als für mich seiende, auch all das, was ich unmittelbar oder mittelbar anderen verdanke, also alles mir als Tradition im gewöhnlichen Sinne Zugewachsene, wie natürlich auch alles, was ich überhaupt unmittelbar oder mittelbar der Mitteilung durch andere verdanke. (Auch das ist in einem weiteren Sinne Tradition.) Aber die anderen, von denen ich übernommene Tradition habe, sind für mich selbst seiende Andere aus meinem Leben, aus meinem erfahrenden, meinem wie immer aus meinen Bewusstseinsweisen Sinn und Geltung habenden. Dahin gehört offenbar auch alles, was für mich aus meinem handelnden Leben für mich geworden ist, wie auch das, was im Handeln anderer, 1

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eventuell im verbundenen Zusammenhandeln mit anderen, geworden ist – für mich auf dem Wege der einfühlenden Erfahrung, in der ich den Seinssinn „Andere“ und den ihres jeweiligen Handelns wie ihrer sonstigen Akte gewinne. Handeln, eigenes und fremdes, bezieht sich, sofern es für mich ist, auf die mir und diesen anderen schon als seiend geltende Welt – die eine und selbe, und doch für jeden aus seiner Tradition, seiner individuellen (im ursprünglich eigenen Leben erworbenen) und seiner auf andere (für ihn seiende) bezogenen. Nehmen wir uns zunächst, wie wir im Moment der Besinnung uns eben finden, als seiend in der Welt, die uns gilt und wie sie in diesem Moment uns gilt. Als Menschen haben wir unsere Vorhaben oder sind gar schon begriffen in einer aktuellen Praxis, von jeweiligen flüchtigen oder verharrenden „Lebensinteressen“ bewegt. Das Vorhaben geht auf Sein, Anderssein, das noch nicht ist, beruht aber allzeit natürlich auf Seinsgewissheit, auf Seinsgeltung, deren ich gewiss bin (so auch in Gemeinsamkeit). Darin kann ich mich täuschen, das gefährdet meine Absicht als in der Seinsgewissheit fundierte. Das weiß ich aus vorgekommenen Enttäuschungen. Daraus erwächst eine Motivation auf gesicherte Gewissheit dessen, was ist, und meines Vermögens der Änderung. Motiviert ist also Seinsbegründung, In-Frage-Stellen und zunächst Aufsuchung der fundierenden Geltungen und ihrer Tragweite, Begründung der praktischen Möglichkeiten, Feststellung der Grenzen meines Könnens. Wissen und Handeln. Universales Wissen, Wissenschaft – universale Praxis. Die Welt, das Universum des objektiven Seienden, der Seinsboden für alle Praxis. Das Seiende, das anders werden soll. Das Weltzugehörige als Objektives – ebenso als Andersseinsollendes, von sonstigen Menschen, einzeln und gemeinsam erstrebt. Die Menschen, Willenssubjekte, sind in der Welt, und wollend haben sie ihre als sein sollend geltenden Ziele. Eben als von ihnen Gewolltes, je als ein anders Sein, als es faktisch gegenwärtig für sie ist. Die Men sch en sind aber in jeder Weltgegenwart, wie sie zeitweilig sind, und sind für Andere wie anderes zeitweilig (in jeweiliger Gegenwart) seiende Wirklichkeiten, die anders sein könnten und sein sollten – also f ür Andere praktische Objekte. Als das, wie alle Objekte, können sie für andere Subjekte (und für sich selbst in Bezug auf sich selbst) nur praktisch werden, wenn ihr Fortdauern in Unveränderung und Veränderung (also wenn die objektive Zu-

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kunft) vo rau sgeseh en werden kann, wie sie ohne Eingreifen des Willens sein würde und wie sie im und durch ihn als handelnden sein würde. Die Welt in ihrem objektiven Sein ist für uns zunächst vor aller Wissenschaft in der Art objektiv, dass für sie eine gewisse Vorausgewissheit für die praktischen Subjekte besteht, dass sie einen praktischen Situationsbereich hat, in dem sie ein Vorwissen von dem Kommenden als von selbst, d. i. ohne den Willen des handelnden Subjekts Kommenden und von dem als in praktischer Möglichkeit Kommenden (aus dem eventuellen Willen her) ermöglicht. Oder besser: So ist d ie im Leben vorgegebene Welt, d ass d ieses Vorauswissen in gewissem Maße b eständig m it da ist. (Andererseits gehören die Subjekte als die, die ihr psychisches Dasein, ihr psychisches Leben und darunter ihr praktisches Leben, ihr praktisches Vorwissen haben, selbst mit zur Welt, zur Welt jedermanns. Das heißt: Auch die Vorkommnisse der Willenssphäre sind in gewissem Maße voraussehbar; und auch Andere als personal-psychische Subjekte sind eventuell p rak t isch e O b jek t e, auf die Handeln anderer und ihr Sich-selbst-Behandeln bezogen ist, und dadurch bezogen, dass sie so und auch als Willenssubjekte und als sich jeweils so und so im Wollen Verhaltende voraussehbar sind.) Ich bin in einer jeweiligen Lebensgegenwart als waches Ich normalerweise (als reifer Mensch) ein Ich meiner habituell eigenen p rak t isch en In t eressen. Innerhalb derselben ist jeweils eines momentan das aktuell treibende; ihm zugehörig ist ein Feld praktischer Möglichkeiten und ein Zukunftsfeld des in ihnen beschlossenen Vorauswissens, ausgehend aus dem Wissen, dem auch hier mehr oder minder weit reichenden Wissen der gegenwärtigen Umwelt. Ich kann mich d iesem Vo rau swissen, wie es als ursprünglich erwachsenes, also traditionales lebendig ist, h in geb en, wie in den alltäglichen Verrichtungen, wie in den wohlgeübten Tätigkeitsweisen, die mein Berufsleben, meine normale Berufspraxis jeweils fordert. Ich bin aber auch vertraut mit den Mö glich k eit en d es Misslin gen s und, damit zusammenhängend, den Mö glich k eit en , d u rch b esseres Vorauswissen sie zu verhüten. An die Stelle des naiven Tuns und naiven Sich-tragen-Lassens von Gewöhnung, Übung, Tradition kann treten das vernünftige Sich-Besinnen (wie ich weiß). Und ein n eu es Wissen, ein neues über das, was ist und was auf Grund dessel-

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ben für mich praktisch möglich ist, k an n selb st ein p rak t isch es Z iel sein, ein Ziel, das bloß Mittel ist, um meine aktuellen Interessen zu fördern. S o erwächst innerhalb d er allgemeinen und jeweils konkreten Interessenpraxis d as Streben n ach d em Wissen: Wie es sich mit den Sachen und mit den Menschen in der Umwelt verhält; was jetzt wirklich da ist und wie beschaffen es ist und wie es voraussichtlich sein wird etc. Wo Andere mit in Rechnung sind, gehört dazu, wie gesagt, auch das Wissen über ihre jeweiligen Interessen, über ihr voraussichtlich so und so interessiertes Eingreifen, vorher über die für sie individuell bestehenden und für sie überschaubaren praktischen Möglichkeiten etc. Das Wissen, das hier bezweckt wird als Mit t el für das Handeln, ist also b ezogen auf d as aktuelle, von seinen Interessen b ew egt e Ich, das seiner jeweiligen Vorhaben, und ist für dieses Ich Mittel für gelingendes und hinsichtlich des Gelingens gesichertes Handeln. Für verschiedene handelnde Individuen ist es ein verschiedenes, und verschieden ist die Weise, wie Sicherheit als persönliche gewonnen wird – bis auf das Formal-Allgemeine: Es besteht in der In h ib ieru n g der „Neigungen“, die das selbstverständlich praktisch zu Tuende in der vertrauten Situation ausmachen. Dem „Trieb“, der Gewohnheit, der Routine usw. widerstehen in Fällen, wo die schon wachsame und selbst geübte Sorge um Sicherheit durch Umstände geweckt wird, durch Verdachtsmomente, die auf Möglichkeiten anomalen Ganges der Situation verweisen. Sich zurückhalten, statt passiv Folge zu leisten, sich besinnen, erst Klarheit über die Möglichkeiten, die Seinsmöglichkeiten und praktischen Möglichkeiten, sich verschaffen, um dann erst zu entscheiden. Anstelle des passiven Vorwissens tritt nun ein verantwortliches Urteil, ein aktiv sich für das, was hier und voraussichtlich ist, entscheiden und ebenso ein Urteil über das, was praktisch möglich ist, um danach das neue, nicht nur auf Sein, sondern auf das Seinsollen, auf das Fiat gehende Willens-Ja zu sprechen. Das In t eresse am Wissen, dienend für das Handeln der jeweiligen Individuen in ihrer individuellen Situation, ist hier selbst ein B estandstück individuell verschiedener Praxis, also fern von aller Allgemeingültigkeit der dabei gewonnenen Urteile.

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die lebenswelt als personale welt der praxis § 2. Die intersubjektiven Welten des Handelns und das Erwachen des Interesses an der einen objektiven Welt für alle

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Aber sind wir nicht ein er u n d d erselb en Welt immerfort gewiss, in der wir alle sind, innerhalb deren alle praktischen Möglichkeiten und alle praktischen Interessen, praktischen Vorhaben aller Individuen und individuellen Gruppen bodenständig sind? Ist es nicht d ieselb e, die einem Jeden im Wechsel seiner Stellungen anders orientiert erscheint und die den verschiedenen Individuen, den in demselben gegenwärtigen Moment zugleich seienden, als d ieselb e, nur je für sie verschieden orientierte, gilt? Freilich, jeder hat zudem seine subjektiven Auffassungsweisen, so wie auch ganze kommunizierende Menschheiten, Nationen, Kulturwelten, je ihre gemeinsamen, aber von anderen solchen Menschheiten verschiedenen Auffassungsweisen haben. In gewisser Weise ist also Welt für den Menschen, ist Welt für eine Menschheit etwas individuell Wechselndes, während wir doch dessen gewiss zu sein glauben, ja gewiss sind, dass eine Welt ist, die nur verschieden aufgefasst ist, die eine wirklich wirkliche Welt gegenüber der vermeintlichen, der erscheinenden, der auffassungsmäßig den Erfahrenden und sonstwie weltlich Lebenden geltenden Welt. Die H an d eln d en bzw. die kommunikativ im Handeln Verbundenen h ab en ih re su b jek t ive Welt; sie ist die, in der sie bewusstseinsmäßig leben, die für sie in ihrem praktischen Dasein die Boden gebende ist. Sie ist die Welt ihrer subjektiven Wahrheit. Denn Wahrheit und Irrtum ist für jede solche subjektive Welt unterschieden. Jeder, seiner Welt bewusst, unterscheidet in ihr Wirklichkeit und Schein. Erfahrend ist er gewiss; aber im Gang des Erfahrens treten die Unstimmigkeiten auf, die aus der schlicht gewissen Erfahrung den Seinszweifel – wir könnten ganz gut sagen: den Erfahrungszweifel (die modalisierte Erfahrung) – machen und schließlich eventuell zur Durchstreichung des Seins führen in Form des erfahrenden Bewusstseins der Illusion. Alles Ab seh en au f sich eres Wissen im Rahmen d er alltäglichen, ursprünglich t raditionalen P raxis und damit auf sicheres Handeln (sicheres Gelingen) b et rif f t „ subjektive “ Wahrheiten d ieser individuellen Sphäre gegenüber d en subjektiv ausweisbaren Falschheiten. Was meinen wir, wenn wir von d er Welt sprechen – gelegentlich,

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im Leben selbst, das doch im Allgemeinen in engen Interessen und Vorhaben gebunden ist?1 Nicht ist das Meinen, das aufmerkende und beschäftigte Leben, gewöhnlich auf die Welt gerichtet, sondern auf die jeweils „in Frage kommenden“ Dinge, Vorgänge usw., eben die relevanten, die jeweiligen Gegenstände „von Interesse“. Verschiedene Motive führen uns über diese enge Sphäre hinaus, eben als Enge eines weiteren Weltkreises. Im Rahmen unserer aktuellen Interessen werden Andere für uns von Interesse und durch sie hindurch wird eventuell mittelbar von Interesse, was für uns ursprünglich nicht von Interesse war. Wir werden aufmerksam darauf als etwas, was schon vordem für uns da war, nur als irrelevant unbeachtet geblieben; wir werden motiviert, uns umzuschauen und das schon für uns Daseiende, uns schon in gewisser Weise Bewusste, aber Unbeachtete uns anzusehen oder es erinnernd zu vergegenwärtigen, um da zu entnehmen, was für die Anderen Thema ihrer Überlegungen, ihrer Vorhaben, ihrer wählenden Entscheidungen gewesen war. Auch wird in unserem Leben öfters die weitere menschliche Umwelt von Interesse: die Stadtgemeinschaft oder Dorfgemeinschaft, der Stand, das ganze Volk und die Staatsordnung usw.; und eben damit werden wir auch öfters motiviert, die Aufmerksamkeit auf die immer schon daseiende ganze Umwelt und eine Umwelt verschiedener Weiten zu richten als die der für uns seienden Menschen in ihren personalen Beziehungen und bezogen auf ihre Situationen, diese innerhalb der Häuser, der Städte, der Landschaften usw.; wir werden motiviert, eine Welt von Dingen, von Tieren, Menschen usw., die für alle immer da ist – wirklich erfahren oder nicht erfahren, beachtet oder unbeachtet, unklar, leer oder gar nicht in besonderen Vorstellungen vorstellig, und doch da, verfügbar –, thematisch zu machen, wo ein Interesse dafür rege wird. Die alltägliche Praxis ist eben nicht nur die nächste, die des wirklichen Tages und der Stunde, die der nächsten Interessen, da vielmehr menschliches Leben in einer In t eressen verf lech t u n g und In t eressen ein h eit lebt, die ihr Korrelat hat in einer immer schon und für alle miteinander unmittelbar und mittelbar Kommunizierenden gemeinsamen Welt. Freilich ist diese Welt, was so „Welt“ gewöhnlich heißt, immer noch individuell – nämlich auf die jeweilige,

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Wie wird die Welt von Interesse?

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wenn nicht einzelne, so vergemeinschaftete Personalität bezogen, die im aktuell werdenden Interesse in den thematischen Blick tritt –, aber jede solche Personalität steht in einem Horizont w eit erer und lässt die Möglichkeit offen, den Blick auf die Weiten, auf das horizonthaft 5 Mitdaseiende zu richten, auf die weiteren Menschheiten, der weiteren Welten.

Nr. 37 G r u n d m o d i d e s H a n d e l n s u n d d i e zum H andeln gehörigen Horizonte: Momentanhorizont, eigentlich p raktischer Horizont, Universalhorizont „ Welt “. Die Welt d er Werke und Güter1

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§ 1. Modi des Ich-tue – Modi des Zugewendetseins. Vordergrund, Hintergrund und der ständige Universalhorizont „Welt“ als implizierter Hintergrund 10

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Im entwickelten Leben, das Weltleben ist, haben wir in den modalen Unterschieden des ichlichen Gerichtetseins, das Weltlich-Gerichtetsein ist – selbst in der freien Phantasie gilt: die Fiktion ist Fiktion von Weltlichem –, stets Modi eines Ich-tue, in dem schon ein Ich-kann beschlossen ist, ein schon entsprechend ausgebildetes Vermögen, das geweckt ist und im Prozess des Ich-tue, sich (mehr oder minder weit) erfüllend, verwirklicht oder in der Weise der Modalisierung einen Bruch der Erfüllung erfährt. Das Ich-kann wird zweifelhaft, die Erzielung misslingt, es wird anders als vorausgesehen, vorausgesetzt, erstrebt worden. Wie vielstufig das Vermögen und korrelativ das Ziel als Ende seiner Vermittlungen auch ist oder wie einfach, wie schlicht die ichliche „Intention-auf“, es ist immerzu Abzielung aus Vermögen. Also das schlichte Vorstellen, das in irgendeinem sonstigen Abzielen als fundierende Unterlage fungiert, als vermittelnder Durchgang, oder das assoziativ auftaucht und den Modus der Intention annimmt, in welchem ich mich auf das Vorgestellte richte, gehört schon hierher. Was zur Vorstellung kommt, ist vorgegeben. Und richte ich mich darauf, es erfassend, es „setzend“, so heißt das: Ich setze ein mit einer „vorgezeichneten“ Verwirklichung; das Vorgestellte ist ein Antizipierend-in-Gewissheit-Haben eines Weges auf es, auf das für mich im Voraus „Seiende“ hin, d. i. eines DahinKönnens, Daraufhin-Zugang-Habens. Natürlich denken wir hier so1

Wohl Juni 1930. Dieser Text ist eine Fortsetzung des bislang nicht veröffentlichten Textes A VI 14a/4–13 („Geburt, Tod“). – Anm. des Hrsg.

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gleich daran, dass jedes Vermögen, also jeder Modus des Ich-tue, der Intentionalität des wachen „entwickelten“ Ego (wie ein solches das phänomenologisierende Ego schon ist), seinerseits zurückweist in der Genesis auf ein früheres Tun und auf Mannigfaltigkeiten des Tuns, auf eine Einheitsbildung der tuenden Intentionalitäten, eine Vermögensbildung, durch die allererst vorgegebenes Sein ist als etwas, womit man sich nun so oder so in neuen Weisen beschäftigen kann, in Intentionalitäten immer neuer Stufe als Wachbetätigungen des Ich. Wir haben aber hier, wo noch Schlaf und Ohnmacht in Frage ist – obschon nach möglichen Belehrungen für die ersten Anfänge der Genesis und somit ausschließlich in Frage ist Schlaf und Ohnmacht des entwickelten Menschen-Ich –, eben in der Weltlichkeit zu verbleiben. In dem Dabeisein der Intentionalität haben wir nun, ob es wahrnehmendes, überhaupt erfahrendes oder überlegendes, bewertendes, real handelndes ist, die Unterschiede der Konzentration kennengelernt, und es ist klar, dass hier eine Gradualität waltet, nach deren Limes Null wir fragen können. Doch haben wir noch in anderer Richtung vorzugehen. Das Dabeisein des Ich, offenbar auch zu nennen als ak t u elles In t eressiert sein (obschon Interesse normalerweise die höheren Stufen der Gradualität des Interesses bezeichnet), kann zunächst verstanden werden als „eigentlich und wirklich“ Dabeisein – erfahrend Dabeisein; der Prozess des Tuns, welche Ziele er auch hat, ist dann verwirklichend. Im engeren Sinne heißt „erfahren“ (wahrnehmen, anschaulich wiedererinnern) ein als seiend schon Vorgegebenes zur Selbstgegebenheit bringen, schon Daseiendes kennen lernen etc. Doch in einem weiteren Sinne, der dem alltäglichen Leben keineswegs fremd ist, kann jede aktive Verwirklichung „Erfahrung“, jedes Verwirklichen „Erfahren“, „Erfahrungen machen“ (dann auch im Sinne der Habitualität) heißen. Der Handwerker in seinem Tun macht Erfahrungen und gewinnt im habituellen Sinn Erfahrung, d. i. er gewinnt das meisterliche Vermögen, es immer wieder so zu machen, und das gemäß der praktischen Apperzeption als sich typisch übertragender Intentionalität. Er gewinnt das Vermögen, wie man dergleichen zustande bringt. Handlung und Ergebnis sind dann aber auch in Einstellungsänderung Vorgegebenheiten für doxische Erfahrung, für diese dann schon Seiendes und für diese Vorstellbares in Richtung auf Sein und Sosein.

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So verschiebt sich, für das alltägliche Leben in gleichgültiger Weise, der Sinn der Rede von Erfahrung (Wahrnehmung, Wiedererinnerung, Phantasie usw.). Danach haben wir zunächst das Dabeisein der ursprünglich zeitigenden Modi, der anschaulichen (wobei Anschauung irgendein Modus von Erfahrung in dem nunmehr weiteren Sinn ist). Aber ihnen gegenüber steht das unanschauliche „Vorstellen“: Auch auf unanschaulich Vorschwebendes kann das Ich aktuell interessiert gerichtet sein. Haben wir schon im Anschaulichen das näher und ferner Dabeisein mit Gradualitäten der Erfüllung des Interesses, die nicht zu verwechseln sind mit Gradualitäten der Konzentration, so haben wir mit dem Unanschaulichen eine neue Weise des Dabeiseins, die selbst wieder ihr eigentümliches „nah“ und „fern“ hat und zudem den Modus des erfüllenden Übergangs in die Modi der Anschaulichkeit. Das ergibt einen Begriff von Hintergründen – der anschaulichen Sphäre intentionaler Gegebenheiten. Aber nun kommt auch ein ganz anderer Unterschied von Vordergrund und Hintergrund überall in Frage, wo das Ich wach ist, d. i. in irgendeinem aktuellen Gerichtetsein, Interessiertsein (Akt), sei es bei anschaulich Gegebenen dabei, daran sich irgend betätigend (Vordergrund im vorigen Sinne), sei es bei unanschaulich Vorstelligem (Hintergrund). Nämlich das Dabeisein des Ich hat Modi der Aufmerksamkeit, der attentio, des primär oder sekundär Dabeiseins, und dann heißt das primäre Objekt des Aktes (das sehr wohl eine Mannigfaltigkeit „implizieren“ mag) „Vordergrund“ und das sekundäre in seinen eventuellen Abstufungen „Hintergrund“. Die attentionalen Modi sind nicht bloß Modi der doxischen, auf Sein und Sosein gerichteten Akte, sondern aller Akte, auch der wollend-handelnden usw. Ferner, ein neuer Unterschied von Vordergrund und Hintergrund, der nah mit dem vorigen zusammenhängt, ist der Unterschied zwischen dem, worauf das Ich exp lizit gerichtet ist, und dem, worauf es im p lizit gerichtet ist. Jedes irgend attentionale Objekt, jedes der aktuellen Richtung darauf hin, in dem oder jenem attentionalen Modus, hat seinen impliziten „Horizont“, jedes seinen Außenhorizont, den der nicht attentionalen Welt außer ihm, jedes seinen Innenhorizont. Gebraucht man für das, was attentional bewusst ist (bewusst im gewöhnlichen prägnanten Sinne), auch die gewöhnliche Rede von „Meinen“ mit dem Korrelat „Meinung“, so ist das im

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ersten und ausgezeichneten Sinne Gemeinte – die Seinsmeinung, urteilende Meinung, Willensmeinung –, eben das, worauf wir primär achten, womit wir primär beschäftigt sind, wobei wir als Handelnde primär dabei sind; und wir haben demgegenüber das implizit Mitgemeinte, das nebenbei Bemerkte, das nebenbei im praktischen Griff und Zug Gehabte usw. Aber darüber hinaus haben wir jeweils eine implizierte Mitmeinung, ohne die keine Meinung in dem einen und anderen Sinne ist. Und das ist die Horizontmeinung. Jedes einzelne attentional Gemeinte, jede aktuelle Intention auf ein Objekt, z. B. auf ein optisch anschaulich Gegebenes, zeigt, näher betrachtet, Unterschiede von explizit und implizit Gemeintem. Das Ding ist attentional gemeint, aber explizit gemeint ist dabei das Ding „von vorn“; das Unsichtige davon (die unsichtigen „Seiten“) ist implizit gemeint. Es kann zwar das Ding von einer anderen Seite oder ein Moment des eventuell durch weitere Wahrnehmung sichtig Werdenden auch in der expliziten Weise antizipierend gemeint sein, aber es bleibt dann immer und immer wieder explizit Ungemeintes übrig. Dabei geht der attentionale Strahl im Anschauen stetig auf das Objekt als das Identische dieser und aller weiteren möglichen Erscheinungsweisen nach Seiten, nach Perspektiven der Nähe und Ferne etc. Aber alle diese Erscheinungsweisen in ihrer bloßen Möglichkeit sind bloß impliziert, sind Horizont, und so all das schon Bekannte und noch Unbekannte, das in ihnen liegt und sich in den „subjektiven“ (im freien Können sich verwirklichenden) Verläufen zeigen würde. Und doch ist nicht die bloße Vorderseite gemeint, nicht sie das Objekt schlechthin. Und sagen wir mit Evidenz „Das Ding ist, was es ist als Ding aller verborgenen und synthetisch zu vereinheitlichenden Seiten“, so sind sie implizite mitgemeint. Zu dieser Implikation gehört offenbar der beständige Unterschied zwischen relativer Bestimmtheit und Unbestimmtheit, gehört die mannigfaltige Bestimmbarkeit, wonach das Horizontmäßige allzeit einen „Spielraum“ von Möglichkeiten, aber einen „vorgezeichneten“ befasst. Aber nun kommt gegenüber dem ganzen jeweiligen Bestand dessen, bei dem wir aktuell dabei sind – sei es erfahrend (anschaulich) dabei, sei es unanschaulich –, darauf gerichtet als „Vordergrund“, noch ein anderer Begriff von Hintergrund in Frage. Wach ist das Ich, sofern es in Akten, in Modis des Interesses auf dies oder jenes gerichtet ist. Also was vorher unterschieden war, ob anschaulicher Vorder-

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grund oder unanschaulicher Hintergrund, das überträgt sich offenbar auf ein unanschaulich vorstelliges Ding, worauf wir gleichwohl „gerichtet“ sind. Hier ist der Horizont ein m it t elb arer; das Objekt in der Gegebenheitsweise der Unanschaulichkeit (eigentlich gesprochen eine Un-Gegebenheit) hat als nächsten Horizont eine eigentliche Gegebenheit des Objekts und nicht eine beliebige. „Fällt uns“ eine bekannte Person unanschaulich „ein“, so ist sie schon gemeinte in einer gewissen Situation, in einer gewissen Nähe oder Ferne, von einer gewissen Seite. Und wird das nun anschaulich, was vorher bloß horizontmäßig bewusst war (und sich erst durch Wiedererinnerung fester bestimmend), so geraten wir in das Horizontmäßige der nunmehrigen Anschauung, das seinerseits seine eigentümlichen Stufen hat. So ist es überhaupt für jedes erdenkliche Gemeinte in Einzelheit. Und zudem hat jede ihre Außenhorizonte, nähere und fernere. Stets handelt es sich um unanschauliche Mitmeinungen und als implizite um nicht-attentionale Einzelvorstellungen. Wo solche auftreten, geschieht das in der Form der explizierenden Verdeutlichung oder klärenden Anschaulichmachung (oder passiven Anschaulichwerdung) von schon vorausgegangenen impliziten Horizonten und in einem sie stets übergreifenden Medium der Horizontalität. Was immer wir in der Weltlichkeit wach erleben und explizit bewusst (im aktuellen Interesse) haben, horizontmäßig haben wir „Umgebungen“ mitgemeint, nähere Umgebungen, Umgebungen dieser Umgebungen usw. in fortgehender iterierter Implikation. Beispiel: Dieser Tisch hier ist im Zimmer für mich, so wenig ich, auf ihn ausschließlich gerichtet, darauf achte; die Umgebung ist mitgemeint – ohne sie ist dieser Tisch vorweg, so wie ich ihn meine, nichts – vor aller nachkommenden Überlegung und Feststellung. Würde ich mich auf diese Umgebung richten, so käme ich zunächst auf das Zimmer, zu dessen Mitmeinung die Wohnung gehört, zur Mitmeinung der Wohnung dann die Straße, die Stadt usw. Es ist klar, dass alle solchen Mitmeinungen, die wir stufenweise durch entsprechende aktuelle Meinungen enthüllen, eben nur Aktualisierungen (und dabei gemäß der Eigenheit horizontmäßiger Implikation zugleich Näherbestimmungen) sind, die im Voraus schon im Gesamthorizont des aktmäßig gemeinten Objekts impliziert waren. Der Horizont hat in sich Horizonte, in gewisser Abstufung der relativen Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit. Vermöge ihrer relativen Unbestimmtheit, die zugleich relative Bestimmtheit nach Form und

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nach darin sich besondernden „Spielräumen“ ist, sprechen wir auch von vorgezeichneter Form und wechselnden Sondervorzeichnungen. Allgemein aber sprechen wir von eigentlicher oder expliziter Intentionalität und von impliziter oder Horizontintentionalität, wobei die letztere nur insofern „uneigentlich“ heißt, als sie eine Potenzialität der verdeutlichenden und klärenden wirklichen Intentionen, der aktuellen, besagt, die aber nichts weniger als eine leere Möglichkeit ist. Daran liegt es, dass jede aktuelle Intention bzw. jede aktuelle Meinung (das aktuell Gemeinte als solches) sich befragen lässt und in der Befragung erst die volle, die explizite Meinung hervorgehen lässt, in ihrem vollen gegenständlichen Sinne. Die Antwortleistung auf diese Befragung ist die „Auslegung“, die Interpretation, die einerseits noematisch geradehin den gegenständlichen Sinn und in der Gegenseite die noetischen Horizonte (die Erscheinungsweisen, die ichlichen Modi) enthüllt. Wie weit werden wir aber in noematischer Richtung, wo wir weltlich waches Ich sind, geführt? Von Umgebung zu Umgebung der Umgebung fortschreitend, und so immer wieder, kommen wir doch schließlich auf die ganze Welt. Das wache Ich ist weltlich beschäftigt, aber jeweils mit dem oder jenem ihm anschaulich oder unanschaulich im intentionalen Blick Stehenden, jeweils Weltliches in einem attentionalen Bereich umspannend. Ab er st et s ist d ab ei die ganze Welt der implizite H intergrund, der ständige Universalhorizont. Achten wir aber auf die Welt, wie sie in irgendeinem Momente für uns ist als zunächst impliziter Horizont oder vielmehr als das partiell explizit von ihr Gegebene und das ins Unendliche implizit Mitgemeinte und so in verschiedenen und beliebigen Momenten, so sehen wir, dass es sich ähnlich wie bei einem einzelnen Ding verhält hinsichtlich seiner Innenhorizonte, der noematischen und noetischen. Von Moment zu Moment haben wir die Aktrichtung auf die Welt, aber während von uns besondere Weltobjekte, Gruppen, Zusammenhänge explizit anschaulich, eventuell auch unanschaulich gemeint sind, ist „Welt“ ein unexpliziter Universalhorizont, durch den nicht diese Einzelheiten als die Welt gemeint sind, sondern als die „Seite“ gewissermaßen, in der sie sich darstellt, während die Meinung über sie hinaus in den Horizont geht, der in den neuen Momenten ein anderer ist, weil in ihnen andere Seiten zu expliziter Gegebenheit kommen und als Darstellungen der Welt verwirklicht sind. So wie

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im Fortgang von Wahrnehmung zu neuen Wahrnehmungen desselben Dinges dieses in immer neuen Seiten, aber als dasselbe sich selbst gibt vermöge einer näher zu erforschenden Synthesis kontinuierlich erfüllender Identifikation, in der horizontmäßig Leeres durch An5 schauliches seine Erfüllung erhält, so verhält es sich mit der Welt als der einen und selbigen in Selbstdarstellung durch ihre anschaulichen „Seiten“, durch die wirklich sich zeigenden Dingfelder.

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§ 2. Wahrnehmen und Erfahren als Modi welterwerbenden Tuns. Der zu jedem Tun gehörige lebendige Könnenshorizont und der offene praktische Horizont „Welt“ Von den impliziten Horizonten wissen wir überhaupt nur durch Befragung und durch höherstufige Intention auf Enthüllung – oder früher noch durch reflektive Akte, Akte reflektiver Erfahrung, in denen wir uns auf das schlicht erfahrende Tun, etwa das unseres Schlicht-auf-ein-Ding-wahrnehmend-Gerichtetseins, richten und dabei auf die wechselnden Weisen achten, in denen das wahrgenommene Ding als solches sich uns darstellt. In der Vielgestaltigkeit des wahrnehmenden Erlebens bzw. des darin als wahrgenommen Erlebten in seinem wahrnehmungsmäßigen Wie haben wir innerhalb der Einheit einer Wahrnehmung unterscheidbar vielerlei kontinuierlich ineinander übergehende Wahrnehmungen. Sie ist ein Ganzes der Wahrnehmung mit im Allgemeinen wohlunterscheidbaren Teilen, die selbst Wahrnehmungen sind, inhaltlich unterschieden und im Allgemeinen und nicht etwa in Gleichheit sich wiederholend. Und alle sind bewusstseinsmäßig Wahrnehmungen von demselben; eine Einheit der Intention geht durch sie hindurch und eine Einheit der Intention auf ein und dasselbe, Einheit des Bewusstseins von dem einen Ding, das in jeder dieser Teilwahrnehmungen (Wahrnehmungsstrecken, Wahrnehmungsphasen) in verschiedenen Merkmalen, nach verschiedenen Seiten, in denen sie zusammenhängend auftreten, sich, als wie es selbst ist, zeigt. Im Fortschreiten der Wahrnehmung als Intention auf das Ding, wie es als es selbst, originaliter ist, erfüllt sich diese Intention, so dass das, was je in Sonderheit als es selbst auftritt, zur Kenntnis kommt, als worin das „Ding“, als Ziel der Intention, zur

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Kenntnis kommt, und im Fortschreiten immer wieder das neu Auftretende, das aber wieder in der Art, dass das einmal selbst Erfasste, auch wenn es im Fortgang aus der originalen Erscheinungsweise (der eigentlich wahrnehmungsmäßigen Gegebenheit) wieder heraustritt oder „sichtige Seite zur unsichtigen wird“, in lebendiger Fortgeltung verbleibt, in den Status frischer Habitualität der Kenntnis, des frisch lebendig Erworbenen übergegangen. So ist im Schlusspunkt des Wahrnehmungsprozesses – so weit er überhaupt reicht – das Ding zur Wahrnehmung, zur ursprünglichen Kenntnis gekommen nicht als das bloß, das die letztsichtliche Seite hat oder sie gar ist, sondern als synthetische Einheit, die sich in allen bislang sichtlichen Seiten gezeigt hatte und in der kontinuierlichen Synthesis erworben worden war und im Schlusspunkt eben lebendiger Erwerb ist. Auch nachher ist er nicht verloren, er ist noch nach der Wahrnehmung als dieser Erwerb retentional im Modus des Abklingens verharrend, unanschaulich in den „unbewussten Hintergrund“ versinkend und doch bereit, eventuell wiedererweckt zu werden, wieder aufzuleben als anschauliche Wiedererinnerung und mit einer neuen Wahrnehmung in Synthesis zu treten, einer neuen, die dann als Wahrnehmung von demselben sich gibt, das früher wahrgenommenen war (in Erinnerung stehend) und sich jetzt, sei es mit denselben, sei es mit neuen, dann die erworbene Kenntnis abermals erweiternden Beständen darstellt. Sehen wir uns reflektierend diese Weise an, wie wir in wahrnehmender Intention geradehin leben, auf etwas, auf das Ding, hinleben (eine Reflexion, die ein Wahrnehmen höherer Stufe ist, ist auf das geradehin, schlicht verlaufende „Ich nehme das Ding wahr“ gerichtet), so ist es evident, dass das wahrnehmende Intendieren in jeder Phase des Wahrnehmens auf den jeweiligen Seitenbestand gerichtet ist, aber zugleich in ihm nicht letztlich terminiert, sondern durch ihn hindurch auf das neu Wahrzunehmende gerichtet ist und auf das, was sich in der neuen Phase als erfüllender Gehalt bietet, sei es für das schon soeben Gesehene, aber sich in seinem eigenen Gehalt erfüllend Identifizierende (eventuell unter Bereicherungen), sei es auf das noch nicht Gesehene. So ist die Intention immerfort transzendierend, immerfort hat sie Vo rh o rizo n t e; im Übergang sehen wir das Vorgerichtetsein und das Worauf der Richtung in der Erfüllung.

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Aber die Reflexion zeigt uns noch mehr. Die Intention ist eine praktische Intention, und zwar eine in praktischer Verwirklichung begriffene. Es ist leicht zu merken, dass die praktische Richtung eine von mir aus, dem Wahrnehmenden, eingeschlagene ist, während ich zu Anfang und selbst von jeder Wahrnehmungsphase aus immer wieder nach mehreren Dimensionen geradehin oder kombiniert meine Richtung wählen könnte. D as Wah rn eh m en ist ein Tun und, näher b esehen, ein mittelbares, unmittelbar ein leib lich es T u n. Ich bewege tastend die Hand in der oder jener vertrauten Richtung, in einer im Voraus vertrauten Richtungsmannigfaltigkeit, ich bewege das Auge in der vertrauten lokomotorischen Mannigfaltigkeit und eventuell dabei zugleich den Kopf, den Oberkörper, oder ich bewege mich gehend, nähertretend, mir die Sache näher anzusehen usw. So ist mein Tun in einer Vielheit von vertrauten Systemen der Kinästhesen, die sich selbst zu einem kombinierten Gesamtsystem verbunden haben, verlaufend. Dieses Tun ist aber bloß D u rch gan g. Denn in vertrauter Weise sind unter normalen Umständen mit diesen Kinästhesen Dingerscheinungen assoziiert, derart, dass, wenn ich gerade in einer bestimmten kinästhetischen Lage bin – und in irgendeiner bin ich immer (ich habe irgendeine körperliche Haltung) – und dabei eine gewisse Erscheinung habe, z. B. eine visuelle, ich damit für jede einzuschlagende kinästhetische Richtung in kontinuierlichem kinästhetischem Ablauf im Voraus eine bestimmte Synthesis der Kenntnisnahme des Erscheinenden vorgezeichnet habe als einen bestimmten geweckten synthetischen Horizont. Welche ich nun wirklich gegebenenfalls einschlage, bestimmt mein besonderes Interesse und bestimmen im Gang der Verwirklichung der Kenntnisnahme bzw. des sich selbst darstellenden Gegenstandes als solchen die jeweils von dem gerade Dargestellten aus geweckten neuen Interessen.1 Sind wir so weit, so ist es offenbar, dass das Wahrnehmen und Erfahren (zunächst das von Dingen, dann aber ganz allgemein), des Weiteren aber jedwedes, ob anschauliche oder unanschauliche Meinen ein T u n ist, ein Tun sehr verschiedener Modi, mit sehr verschiedenen Implikationen und Implikationen von Implikationen verschiedener Stufen, sich jeweils in Synthesen der erfüllenden Ver1

Vgl. hierzu die Beilage XXV. – Anm. des Hrsg.

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wirklichung explizierend. Aber auch die Erfüllungsformen sind noch T u n und haben als solche ihre impliziten Horizonte, Horizonte möglicher Erfüllung. Dabei betonen wir von neuem, dass Anschauungen, dass insbesondere Erfahrungen als allgemeiner Titel für Erfüllungsgestalten nicht in dem engen Sinn der traditionellen Psychologie und Erkenntnistheorie zu nehmen sind, in dem es sich um ein besonderes Tun, um ein besonderes Intendieren, Abzielen, Interessiertsein handelt, um Interesse am Sein und Sosein, das, sich auswirkend, hinaufführt in prädikatives Urteilen und Theoretisieren, dessen Absehen auf Wahrheit und wahres Sein (eben im theoretischen Sinne, in dem der Wissenschaft) gerichtet ist. Jeder Akt, jede Intention im spezifischen Sinne, also das, was das Leben des wachen Ich charakterisiert, ist irgendein Modus des „Ich bin tuend gerichtet“, wir könnten auch sagen: ein Modus der ich lich en P raxis, des „Ich handle“. (Das Heranziehen möglichst vieler gewöhnlich in engerer, aber doch wieder gelegentlich sich erweiternder Bedeutung gebrauchten Worte von ungefähr gleicher Bedeutung ist methodisch wertvoll, nämlich geeignet, in Reflexion auf den vertrauten Gebrauch derselben an beliebigen Beispielen den phänomenologischen Blick auf das allgemeinst Wesentliche zu lenken.) Jedes beliebige „Ich bin auf etwas gerichtet“ – und sei es auch auf ein völlig unanschaulich als Einfall Affizierendes (Einfall einer Erinnerungssituation, Einfall eines wissenschaftlichen Gedankens, Einfall einer praktischen Möglichkeit) – gehört hierher. Der Affektion folgend, mich darauf richtend, bin ich in einem Modus des Tuns, mindestens etwa hingewendet bin ich schon auf dem Wege, „es mir näher zu bringen“, zu verdeutlichen, zu klarer Erinnerung zu kommen, die „vage Vorstellung“ der praktischen Möglichkeit explizit als Möglichkeit für mich klar zu machen (als Möglichkeit zu verwirklichen); und das möge dann Einleitung sein für darin sich fortgesetzt neu und wieder neu fundierende Intentionen und verwirklichende Handlungen. Dabei gehört wesensmäßig zu jedem Tun, zu jeder Praxis ein „p rak t isch er H o rizo n t“, ein Horizont dessen, was ich in meiner horizontmäßig bewussten Situation kann. Dieses Ich-kann ist nicht Sache des mich von außen her induktiv Betrachtenden, induktiv meine Weise, auf das Umweltliche zu reagieren, Verfolgenden und von daher „objektiv“ meine Dispositionen, meine objektiven Fähigkeiten, Geschicklichkeiten etc. Feststellenden. Vielmehr

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handelt es sich um den in dem gegebenen Moment leb en d igen Könnenshorizont, um den mir b ewussten Herrschaftsbereich, um mein mir wohl bewusstes Verm ö gen – aber bewusst nicht in Form von Akten, sondern in Form eben des H o rizo n t es, ohne den kein Akt Akt ist, ohne den keine Praxis den mindesten Sinn hat. Worauf ich wahrnehmend „hinauswill“, als Ende des praktischen Weges, das liegt mitsamt diesem Wege horizontmäßig in jeder Phase des Wahrnehmens selbst; und selbst wenn ich ziellos herumsehe und ganz „unwillkürlich“, so habe ich nur wechselnde, momentan aufgenommene und wieder fallen gelassene „Ziele“. (Solche Weisen der Intentionalität sind selbst Modi des Tuns, zu denen auch das „Fallenlassen“ des jeweiligen Zieles gehört, und nicht minder auch gehört dazu jene Passivität des Sich-tuend-Fortziehenlassens, die wir der im ausgezeichneten Sinne freien Aktivität gegenüberstellen mögen.) Eine nähere Betrachtung zeigt, dass alles und jedes, was wir als impliziten Horizont aufweisen können und aufgewiesen haben – also schließlich d ie gan ze Welt – situationsmäßig oder horizontmäßig bewusst ist. Die Welt, wie sie jeweils für mich als in der lebendigen Intentionalität oder Aktivität Stehenden von Moment zu Moment sich verschiebend, Welt für mich oder vorgegeben-gegebene Welt ist, ist Verm ögen sh o rizon t oder ist mein in dem Modus impliziten Bewusstseins für mich offener p raktischer Horizont, der, in den ich hineinvorstelle, hineinerfahre, hineindenke, hineinwerte und im gewöhnlichen Sinn zwecktätig gestaltend hineinhandle. Er ist H o rizo n t aller u n d jed er Praxis, über den jede besondere Praxis – in ihrer besonderen Situation, in der besonderen Weise, wie die Welt für den faktisch Handelnden oder auf ein praktisches Ziel Absehenden horizontmäßig bewusste ist – verf ü gt. Die besondere, die Praxis im hic et nunc, hat, eben als Weise ihres Verfügens über die Welt, im prägnanten Sinne einen (ihren) praktischen Horizont: Praktisch bin ich auf ein Ziel gerichtet als Ende eines praktischen Weges, und das liegt im Horizont als das praktische Woraufhin. (Darüber später ausführlicher.) Im Handeln, im Fortgang des betreffenden Tuns in seiner relativen Einheit und in seiner synthetischen Verknüpfung mit neuem und neuem Tun und dessen Auswirkungen vollzieht sich immer nur ein Verwirklichen dessen, was im praktischen Horizont liegt, d. i. für mich Gekonntes ist, und zwar Gekonntes, dem mein Absehen gilt.

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Mich p rak t isch b esin n en, ist nichts Anderes als, statt geradehin mein praktisches Interesse, die lebendige Intention in der lebendigen Situation, sich auswirken zu lassen, vielmehr das Universum meiner praktischen Möglichkeiten (mein hic et nunc bestehendes Vermögen) 5 überschauen und mir in „möglicher Erfahrung“ in allen Richtungen die möglichen Erfüllungen vergegenwärtigen. Wesensmäßig entspricht also jedem Tun (das Tun ist in seinem aktuellen, aber unthematischen Können) ein mögliches Tun neuer Stufe, also ein (wenn auch sehr unvollkommen ausgebildetes, aber auszubildendes) Verm ö gen 10 h ö h e r e r S t u f e, eben das zum Tun in seinem Augenblick gehörige Vermögen, es thematisch zu machen, es auszulegen, den impliziten Horizont zu explizieren. Die Explikate sind dabei nicht wirkliche Erfüllungen (wirklich ausführendes Tun und gar nach allen Möglichkeiten praktischer Richtungen), sondern eine eigenartige Verge15 genwärtigungsmodifikation derselben, die da „mögliche Erfahrung“ heißt, ein freilich leicht irreführendes Wort. Es ist phänomenologisch gesprochen ein positionaler Modus, der seine Weise der Bewährung hat, und nicht so etwas wie bloße Phantasie.1

§ 3. Der innerhalb des Universalhorizontes „Welt“ ausgezeichnete spezifisch praktische Horizont. Praxis und Pragma. Das Woraufhin von Handlungen: Werke und Vorgangstaten

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Es ist klar geworden, dass zur Einheit eines Handelns zwar wie selbstverständlich der unendliche Welthorizont in seiner Vermögens25 potenzialität gehört, dass aber jedes Handeln von Anfang an und in seinem Gang auf ein ausgezeichnetes p raktisches Feld, auf eine ausgezeichnete implizite Intentionalität bezogen ist. Das praktische Interesse – auf ein Endziel hin – zentriert den besonderen darauf bezogenen praktischen Horizont. Was hier „p rak t isch er 30 H o rizo n t“ heißt, hat also innerhalb des Universalhorizontes „Welt“ eine Auszeichnung in der Weise der „ Lebendigkeit “, und so

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Nähere Ausführungen über praktische Horizonte und ihre intentionale Struktur XIX ff. = S. 372–375.

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in jeder Phase der ausführenden Praxis. Während derselben ist er in seiner Weise eine synthetische Einheit der kontinuierlichen Momentanhorizonte und der diskret an verschiedenen Stellen – etwa wo ein Mittel verwirklicht worden ist und nun ein neu gewendeter Weg zu entwerfen ist – ansetzenden Horizonte. Dieser spezifisch praktische Horizont hat dann selbst wieder seinen Horizont, insofern als er den Hintergrund der weiten Welt hat, die „praktisch“, für die in Werk seiende Praxis, nicht in Frage kommt, außerhalb des besonderen praktischen Interesses ist und doch in seiner Weise lebendig, mit da, mit bewusst und nur in einem ausgezeichneten Sinne „unbewusst“. Nennen wir das im besonderen Sinne Praktische „das jeweils Thematische“, so haben wir also einen t h em at isch en H o rizo n t und einen außerthematischen Horizont zu unterscheiden. Jede Praxis (Handeln) hat einen Ausgangspunkt in der vorgegebenen Welt und als thematischen Horizont einen Handlungsweg zum Endpunkt. Ist im Endpunkt das Telos gegeben, so heißt es z. B. „Werk“. Der Weg ist da der weltliche Vorgang der Ausführungsstadien, der Zwischenstufen in ihrem einheitlichen handelnd geschehenden Vonstatten-Gehen. Doch kann das Telos auch in einem Geschehen selbst liegen; dann ist die Handlung, das im Handeln von Anfang bis Ende Geschehende, das Telos, der Zweck des Handelns.1 In jedem Fall unterscheidet sich also Praxis (H an d eln ) und P ragm a (H an d lu n g). Für den Handelnden ist das Handeln nicht thematisch, er ist nicht darauf gerichtet; thematisch ist die Handlung, und durch sie hindurch ist er auf sein Telos (Pragma im vorzüglichen Sinne) gerichtet, auf das Werk durch die Werkstadien hindurch, auf die Einheit der zu vollendenden Handlung, auf das jeweilige Stadium der Handlung und zugleich durch es hindurch auf das nächste und so immerfort, bis das Ganze vollendet ist. Im Handeln ist d as also von der Welt thematisch. 1 Zugangstätigkeiten! Also das ist keine vollständige Disjunktion. Beispiel: eine schöne Aussicht. Sie ist kein Werk, aber auch kein Vorgangsgut. Ebenso eine schöne Farbe, die ich wahrnehmend verwirkliche, um sie zu genießen. Allgemein heißt das Telos „Tat“. Die Taten zerfallen in W e r k e und V o r g a n g s ta te n (im Springen der Sprung, im Tanzen der Tanz, im Spielen das Spiel jeder Art). Beiderseits ist zu bemerken, dass die Handlung teils im eigentlichen Handeln, teils in natürlich von selbst geschehenden Abläufen ihrem Ziele zustreben kann, also in der letzteren Strecke ohne aktuelles, strebendes ichliches Verwirklichen (Trocknenlassen der Farben in der Malerei, Kochenlassen etc.).

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Im intersubjektiv vergemeinschafteten Handeln ist Einheit einer Handlung möglich, die auf ein Gemeinschaftswerk oder eine Gemeinschaft von einzelsubjektiv intendierten Bewegungen (subjektiven Tätigkeiten) geht, z. B. in letzter Hinsicht Einheit einer Massenturnübung, eines Marsches der Marschkolonne etc. Einzelsubjektiv können Einzelhandlungen zusammengeschlossen sein zur Einheit einer Handlung; einzelne, gleiche oder verschiedene, die für sich ihr Telos hatten, können wiederholt werden in der Absicht, aus ihnen ein Ganzes herzustellen, als Einheit einer Handlung der einen oder anderen Art. S o erwächst eine p raktische Welt aus der P raxis, einzelsubjektive praktische private Umwelt aus dem eigenen Handeln für sich, intersubjektive praktische Umwelt – die Kulturwelt. Aus der Praxis erwächst das praktische Gebilde, die Werktat und Vorgangstat. Es ist intersubjektiv umweltlich für die praktisch gerichtete Intersubjektivität: So wie es aus der Praxis entspringt als ihr Thematisches, so wird es auch vom Unbeteiligten, aber Interessierten nachverstanden. Das bleibende Werk, auch wo es nicht vor seinen Augen ersteht, wird durch Einfühlung ursprünglich verstanden als früher, als von irgendjemand etc. handelnd entsprungen. Die Vorgangstat in ihren Nachstadien, in denen sie von selbst als natürliche Folge weiterläuft (der Absicht gemäß, eventuell unabsichtlich), ist ebenso ohne das handelnde Tun mitaufzufassen. Was so objektiv da ist als verharrendes Sein oder Geschehen aus Praxis, kann hinterher wieder in Praxis genommen werden, zu neuen Taten „verwertet“ nach neuen Zwecken, und kann dann auch als Gebilde aus der Synthesis beider Handlungen aufgefasst werden. Voran liegt eine „b lo ß e Nat u r“, eine unbehandelte. Jede Tätigkeit weist zurück und führt letztlich zurück auf reale Dinge und Vorgänge, die in Kultur genommen worden sind, aber nicht schon Kultur sind. Mit Rücksicht darauf, dass das bloß Naturhafte letztlich Au sgan g f ü r Ku lt u rgeb ild e gewesen sein musste und dass dergleichen überhaupt seiner Art nach in Taten eingehen, zu Werken handelnd gestaltet werden kann etc., wird es in neuen Fällen der Erfahrung davon als solches apperzipierbar, und ebenso wird dann auch das schon kulturhaft Gebildete apperzipierbar als Ausgang wieder für Neubildungen seiner typischen Art nach. Es ist seiner Art nach nützlich und anderes unnütz (wo die Ähnlichkeit zur Benützung geführt hat, aber der Erfolg versagt blieb). Aber es fehlt hier

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noch die vielseitige Phänomenologie des Gelingens und Misslingens. Überhaupt ist all das noch einseitig. Werk e sind Güter – mehr oder minder verharrende Güter, Güter im gewöhnlichen prägnanten Sinne. Vo rgan gst at en sind nicht verharrende, sondern im Vorgehen vergehende Güter, im Vorgehen genossen oder zu genießen, es sei denn, dass sie zu bleibenden Vorgängen geworden sind über das Handeln hinaus und so bleibend nützlich, bleibend für den Genuss bereit. Also das Problem von handelndem Absehen-auf – und Genuss.1 Handlungen, die auf verharrende Güter gerichtet sind, sie zu erzeugen als Werke. Handlungen, die selbst gut sind, im Verlauf genossen werden, Handlungen, die bloße Zugangstätigkeiten sind zu dem, was schon da ist oder zu einem Sosein, Taten, in denen nur der Zugang verwirklicht wird zu der Selbsthabe und dem Genuss dessen, was an Sein und Sosein schon da ist. Und das Herlangen einer Frucht zum Genuss, in der Absicht, sie essend zu genießen, das Umdrehen eines Dinges, um seine schöne Farbe zu sehen. Der momentane Genuss – die verharrende Zufriedenheit – die sich fortsetzende Stimmung. Das Tier und sein Leben in der Gegenwart, im Tag, in der Beschränktheit eines engen Lebenshorizontes, der hier „Gegenwart“ heißt. Die Stimmung der Zufriedenheit (Periodizität der „normalen“ Instinktbefriedigung). Der Mensch und sein Lebenshorizont in der generativen Erweiterung; die Konstitution der Einheit eines Menschenlebens. Menschliche Vergangenheit als gegenwärtig verfügbare Einheit von der Kindheit bis zur impressionalen Gegenwart. Menschliche Zukunft als praktische Zukunft von dieser Gegenwart bis zum Tode – oder auch als in das künftige Menschenleben hineinreichendes in infinitum.

Ist die eine Welt nur die von der jeweiligen Praxis und ihrem Augenblick aus, also in einem jeweiligen Weltaspekt vorgegeben das Universalfeld, in dem alle Praxis sich hält, so liegt darin, dass dieser Welthorizont, in der Kontinuität des wachen Lebens und in der Folge immer neuer Akte sich unaufhörlich wandelnd, eine verb o rgen e S yn t h esis durchmacht, durch die eben immerfort die eine Welt 35 „bewusst“ sein und bewusst bleiben kann, während doch nur ganz 30

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Darüber spätere Blätter = S. = wohl die §§ 4 und 5 von Text Nr. 37.

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ausnahmsweise ein eigener Aktus sich auf die Welt, sie damit thematisierend, richtet. Und selbst wenn das geschieht, so gilt dasselbe während der Strecke kontinuierlicher Thematisierung für den zu ihr gehörigen Welthorizont. Auch das wird erst sichtlich bzw. ausgelegt 5 durch eine Reflexion höherer Stufe auf den synthetischen Gang der totalen Weltwahrnehmung und durch Rückgang auf die systematisch möglichen Erfahrungen, in denen das auf die Welt als Universum bezogene Vermögen sich in seine Dimensionen und Schichten auslegt.1 Nennt man durchaus rechtmäßig die Welt d as u n iversale p rak 10 t isch e F eld und immer gegenwärtig dem wachen Ich aus einem lebendigen Horizont als Vermögen (einem Vermögen, das eine bestimmte Könnensstruktur von hier und jetzt aus gekonnter Erfahrungen bezeichnet und in lebendiger Synthesis eine Identitätsstruktur implizierend), so fühlt man dabei doch einen Anstoß. Man wird 15 doch sagen: In jeder Praxis hat der Handelnde lebendig bewusst, obschon unthematisch, einen b esonderen p raktischen Horizont, ein Feld seiner besonderen praktischen Möglichkeiten, das zwar im Rahmen der immerfort horizontmäßig mitgemeinten Welt steht, aber von diesem Universalhorizont unterschieden ist.

§ 4. Die besondere Lebendigkeit des spezifisch praktischen Horizontes

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Akte, explizite Richtungen des Ich auf irgendetwas, jeder ein SichRichten und Gerichtetsein des Ich, sind entweder selb st än d ige (oder relativ selbständige) Akte – auf Endziele gerichtet – oder 25 unselbständige Akte, Akte im Dienst, auf Mittel für Zwecke, auf Zwischenziele (in Bezug auf Endziele) gerichtet. Die ersteren als herrschende herrschen durch die dienenden hindurch. Noetisch scheiden sich die Endzielungen und vermittelnden Zielungen, noematisch Endziele (Z weck e) und Mit t el, Durchgangsziele. Betrachten wir 30 Akte reflektiv, und zwar vor der vollendeten Ausführung – mögen es Akte sein, die als Entschlüsse auf eine fernere Zukunft gerichtet sind, oder solche, die schon als handelnde einsetzen, als Anfang einer unmittelbaren Ausführung –, so zeigt es sich, dass sie horizontmäßig, 1

Vgl. hierzu die Beilage XXIV. – Anm. des Hrsg.

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und zwar als ihren ausgezeichneten, ihren eigentlich p rak t isch en H o rizo n t die ganze Aktivität „implizieren“ (mit allen in ihr sich abhebenden Sonderakten), welche eventuell nachher als wirklich ausführende sich verwirklicht. D ie Verwirklichung enthüllt uns, was im Voraus p raktische Meinung war, was d en spezifisch p rak t isch en H o rizo n t au sm ach t e. In der Ausführung haben wir einen einheitlichen Actus, d. h. durch ihren ganzen Processus hindurch geht kontinuierlich eine einzige Zielung als das, was das Ich im Voraus und immerfort will; und diese Endzielung geht durch alle in den verschiedenen Stadien des Prozesses nacheinander einsetzenden Sonderakte, Sonderzielungen hindurch. Jede dieser Sonderzielungen, jede als Sondertätigkeit in ihrem Processus der Sonderverwirklichung ist unselbständig, es hat bei ihrem Ende nicht sein Bewenden. Sie trägt in sich die Endzielung und nicht als von ihrer Zielung Unterschiedenes, sondern in ihr zielt die Endzielung; in ihrer Verwirklichung, also in dem Sondertun vollzieht sich das Zweck-Tun, die Zweckverwirklichung. Das Ich ist beständig das auf das Endziel hinstrebende, und als das ist es das Mittel erstrebend, das also in sich auf das Endziel gerichtet ist. Und eben damit, korrelativ, „liegt“ im Zwecksinn der Mittelsinn – nämlich wie im Endziel einer Wendung sie als Weg dahin liegt – und „liegt“ korrelativ im Wege das Ziel, im Mittel der Zweck. (Es ist ganz so wie in der Korrelation von Herr und Diener, in der sich das hier Gesagte von einem Ich auf eine Vergemeinschaftung mit einem anderen Ich überträgt: Im Handeln des Dieners, wo es eben dienendes für den Herrn ist, handelt der Herr, im Befehl und der befohlenen Ausführung wirkt sein Actus sich durch das Vermittelnde eines anderen Ich aus.) So verstehen wir, was ein spezifisch praktischer Horizont und seine ganz b esondere Lebendigkeit besagt: Die praktische Intention, die Intention überhaupt als Actus des Ich (WachIntention) ist Gerichtetsein ausschließlich durch den im Horizont „vorgezeichneten“ Weg zum Ende.1 Das gilt zwar auch an und für sich für jeden Actus, der als vermittelnder auf den Plan getreten ist, aber dann in dem Sinne, dass er die Form des dienenden hat und sein Weg nur zu einem vermittelnden Ende führt, durch das hindurch der Endactus auf den Endzweck geht. 1

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Alles Tun steht unter dieser Regel, dass das Ich auf irgendein Endziel gerichtet ist und dass also jedes Tun, für sich betrachtet, entweder Tun in der Einheit einer Endzielung ist, selbständiges Tun, handelndes, ist oder aber unselbständiges, dienendes Tun ist, Tun in dienender Zielung, welche Bestandstücke der Endzielung ist. Im Grenzfalle haben wir selbständige Zielungen und selbständige Tätigkeiten, die keine unselbständigen, aber für sich abgehobenen MittelTätigkeiten in sich schließen. Sofern jede solche Tätigkeit, wie auch jede einfache Mittel-Tätigkeit, ein kontinuierlich sich auswirkendes Tun ist, ist natürlich jede Phase dieser Kontinuität vermittelnde, und es gilt Ähnliches für sie wieder von dem, was wir als herrschende und dienende Tätigkeiten unterschieden haben. Stets haben wir das Zielen durch relativ schon Verwirklichtes hindurch, nur dass hier eben kein abgesondertes Tun für sich vorliegt und kein Sonderziel für sich, kein relatives Ende, bei dem das Ich Halt macht mit dem wenn auch vorläufigen „erzielt“. Dieses „vorläufig“ kann freilich wieder verschiedene Modi haben. Die mannigfaltigen Tätigkeiten sind im entwickelten Ich (und Wir) vielfältig verflochten, immer höheren Endzwecken zugeordnet. Aber bei relativen Enden, welche sehr vielfältige und weite Strecken des Lebens in Anspruch nehmen, hat es auch für langhin sein Bewenden; der Endzweck tritt in den Hintergrund und für längere Lebensstrecken, obschon er doch habituell verborgen da ist. Hier fällt uns ein neuer Modus der Intention auf, den wir schon an den aktuell handelnden, verwirklichenden Intentionen aufweisen können hinsichtlich ihrer Vergangenheitsstrecken, obschon hier in einer Besonderheit. Die handelnde Intention hat ihr u rq u ellen d es Jetzt und von da aus ihren ichlichen Zukunftshorizont, als Horizont der Antizipation des jet zt zu T u en d en, des in Verwirklichung Begriffenen, bis zum Endziel hin reichend. Sie hat andererseits ihren von diesem Urjetzt (der Phase urquellender Intentionalität) aus einen ichlichen Vergangenheitshorizont, als das schon praktisch E rled igt e, als das, was der Endzielung schon genuggetan, was schon aus der ichlichen Leistung geworden ist als ihr gemäß. Die zielende Thesis (Setzung) ist in kontinuierlichem Strömen in Verwirklichung, das Ich ist dabei stetig antizipierend, vormeinend auf das noch ferne Endziel, auf die noch fernen Zwischenstadien, in denen es zu werden hat, gerichtet, vor-gerichtet. Es ist andererseits „noch“ auf das schon

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Erledigte gerichtet, als das vom Endziel, was das Ich schon hat und festhält (praktische Intention), damit weiter zu bauen, zu ergänzen, es schließlich zur Gänze zu bringen. Das Intendieren ist in der Verwirklichung, es tätig zum Intendierten „selbst“, zu seiner Wirklichkeit 5 zu bringen. Der Vo r- H o rizo n t ist die Strecke des Vo rgrif f s, der Nach-Horizont der des Noch-im-Griff. Der Strom der Aktivität als verwirklichender ist der einer kontinuierlichen aktiven Synthesis, einer identifizierenden, ein Strom, in dem kontinuierlich Vorgriff zum S elb st grif f wird (dasselbe Moment, das jetzt vorgegriffen ist, 10 ist im nächsten verwirklicht), und in welchem anderes, das noch im Griff Stehende oder soeben in diesen Modus Getretene, seinerseits eine identifizierende Abwandlung erfährt als dasselbe in den ablaufenden Wandlungen der Retention. Diese kontinuierliche Synthesis, ist hinsichtlich ihrer strömenden Horizontstruktur des Näheren so zu 15 beschreiben.

§ 5. Der „lebendige praktische Horizont“ und die Welt der Güter

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Von Anfang an haben wir den Richtungsstrahl auf das im urquellenden Jetzt erfüllend Eingetretene. Er bleibt beweglich stetig auf das immer neu als verwirklicht Eintretende gerichtet. Horizontmäßig ist er in jedem Jetzt auf alle künftigen Phasen bis zur Endphase gerichtet. Und so haben wir in jedem Jetzt ein auf alle künftigen Phasen gehendes Strahlenbündel, das des Vorgriffs, aber in einer wundersamen Implikation, da jedes jetzt aktuell geweckte Strahlenbündel die Kontinuität der künftigen Strahlenbündel schon „impliziert“. Andererseits haben wir das auf das gesamte bisher vom Ziel Verwirklichte gehende Strahlenbündel des retentionalen Im-Griff-Habens. In der Kontinuität des Prozesses bleibt die Strukturform erhalten, aber diese Strahlenbündel sind dann im Wandel einer Deckungssynthesis, die wir schon angedeutet haben. In dieser Art ist also der „lebendige“ praktische Horizont zu beschreiben. Des Näheren ist aber noch beizufügen bei Zusammenhängen von Mittel und Zweck und somit bei Handlungen, die in relative, in vermittelnde Handlungen sich gliedern, die Auszeichnung, die im Vorgriff die Mittel und die vermittelnden Tätigkeiten (die Wege, Methoden) auf sie hin haben, die

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Auszeichnung, dass die Horizontintentionen in sich vorzeichnende Abhebungen haben ihnen gemäß; und ebenso hinsichtlich der Strecke des schon Erledigten, hinsichtlich der erworbenen Mittel als Enden ihrer Wege. Ist die Verwirklichung zu Ende gekommen, so ist also das Ziel erreicht; aber es ist nur erreichtes Ziel dadurch, dass es im Schlusspunkt des Prozesses vermöge seiner Form der erledigenden Integration den Erwerb noch im Griff hat, die kontinuierlich integrierte Summe. Das Ende hat in seinem urquellenden Jetzt nur Sinn aus der Retention, während die Protention als praktische verloren gegangen ist oder höchstens ihren Gehalt wie in einer gewissen Klasse von Fällen stabilisiert hat. War das Absehen darauf gerichtet, zu tanzen, so ist der vollendete Tanz erzielter mit dem Sinn, der aus bloßer Retention stammt. Der Tanz ist mit der Vollendung vorüber und Erwerb in Form der lebendigen Retention. Handelt es sich aber um das Malen eines Bildes, so gehört zum Absehen eben auch dies, als Bild ein fortdauerndes Gebilde zu schaffen, so dass das fertige Bild im Momente der Fertigkeit den protentionalen Horizont hat einer gleichbleibenden Fortdauer, wobei aber der Sinn „Bild“, in dem es dauernd ist, Forterstreckung der Retention ist, in der der Sinneserwerb des Malens sich ursprünglich konstituiert hat. Das Bild habe ich gemalt, nicht nur um mich momentan am Gestalten zu erfreuen und nachher eine Weile am fertigen Bild, sondern um es dauernd zu besitzen, nämlich wieder und wieder mich daran freuen zu können im Zusammenhang meines Lebens bei Gelegenheit sicherlich wiederkommender Stunden der Muße etc., und ich habe es gemalt für unser Publikum. So macht sich das Kind Bogen und Pfeil und hebt beides sich auf, um in der Wiederkehr der Spielstunden damit immer wieder spielen zu können. So erhalten überhaupt Dinge eine bleibende Zweckgestalt, in der sie für uns umweltlich zu Gütern werden, genauer gesprochen, zu dem, was wir gewöhnlich „G ü t er“ nennen, das sind Gegenstände, die irgendwie tätig gestaltet worden sind „zu dem Ende“, dass sie in ihrer nunmehr bleibenden Gestalt immerzu bereit sind, sei es, als Mittel zu dienen, um – und eventuell immer wieder in Wiederholung – gewisse Zwecke oder Arten von Zwecken zu verwirklichen (Werkzeuge), sei es dazu, genossen zu werden, worin aber schließlich alle Zwecktätigkeit mündet.

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Ko n su m gü t er und überhaupt Güter, die sich verbrauchen (abnützen, schließlich unbrauchbar werden), und id eale G ü t er, die Ewigkeitswerte, Ewigkeitsgüter sind. Güter haben also für endliche Zeit oder ins Unendliche, „für immer“, ihr Dasein in der Welt und haben als Bestandstücke der Welt ihre bleibende Geltung, Bedeutung für uns, deren Güter sie sind, aus der praktischen Intention, die sich in ihnen verwirklicht hat. Diese Intention hat den Charakter der Intention auf bleibende Bestimmungfür und letztlich für irgendwelchen Genuss, in dem seinerseits ein Bedürfnis sich befriedigt. Das Bleibende, das schon im Absehen, in der Intention au