Das Prinzip Dringlichkeit: Schnell und konsequent handeln im Management 3593387972, 9783593387970 [PDF]


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Table of contents :
Inhalt......Page 6
Vorwort......Page 10
»Ja, Dringlichkeit ist von großer Bedeutung, aber – «......Page 16
Selbstgefälligkeit und falsch verstandenes Dringlichkeitsempfinden......Page 19
Wahre Dringlichkeit......Page 21
Konsequenzen mangelnden Dringlichkeitsgespürs in Zeiten des Wandels......Page 26
Die Lösung dieses Problems......Page 30
Was ist unter Selbstgefälligkeit zu verstehen?......Page 33
Was ist unter einem falsch verstandenen Dringlichkeitsempfinden zu verstehen?......Page 36
Rote Flaggen sind immer zu sehen.......Page 40
Anderen die Augen für das Problem öffnen......Page 47
Echte Dringlichkeit vermitteln: Eine Strategie, vier Taktiken......Page 51
Wie und warum ein Business-Case scheitern kann......Page 52
Herzen für sich gewinnen......Page 56
Die Grundstrategie erklären......Page 62
Taktiken......Page 70
Taktik Nr. 1 Die Konfrontation mit der Realität......Page 73
»Introvertierte« Unternehmen – ein weitverbreitetes Problem......Page 74
Hören Sie auf die Mitarbeiter an der Kundenfront......Page 79
Die Macht der Bilder......Page 83
Machen Sie kein Geheimnis um schlechte Nachrichten......Page 86
Dekorieren Sie doch einmal um......Page 91
Schicken Sie Ihre Leute in die Welt hinaus......Page 93
Laden Sie Außenstehende ein......Page 97
»Importieren« Sie Informationen auf die richtige Weise......Page 100
Unproduktive Hektik......Page 105
Taktik Nr. 2 Selbst mit der gebotenen Dringlichkeit handeln (Tag für Tag)......Page 107
Schnell reagieren, sofort handeln......Page 108
Die Norm: Musterbeispiele an Un-Dringlichkeit......Page 113
Großreinemachen......Page 118
Dringlichkeit zur Schau stellen......Page 121
Dringlichkeit ist ansteckend......Page 124
Dringliche Geduld......Page 127
Taktik Nr. 3 Die einer Krise innewohnenden Chancen erkennen......Page 129
Krisen durch Kontrollsysteme vermeiden – ist mit Vorsicht zu genießen!......Page 130
Krisen geschickt ausnutzen – ist auch mit Vorsicht zu genießen!......Page 133
Keine Krise in Sicht? Basteln Sie sich eine! Oder lieber doch nicht?......Page 142
Vier grobe Fehler, die es unbedingt zu vermeiden gilt......Page 146
Krisenbilanz......Page 151
Taktik Nr. 4 Der richtige Umgang mit Neinsagern......Page 154
Das NoNo-Problem......Page 155
Ein NoNo im Boot bringt es garantiert zum Kentern......Page 158
Werden NoNos ignoriert, laufen sie zu Höchstform auf......Page 164
NoNo-Ablenkungsmanöver......Page 169
Die NoNo-Radikallösung......Page 172
Einen NoNo dem Druck der Öffentlichkeit aussetzen......Page 174
Das Gespür für Dringlichkeit bewahren......Page 179
Hohe Dringlichkeit führt zum Erfolg, schwindende Dringlichkeit führt in das Chaos......Page 181
Das Problem mit dem schnellen Erfolg......Page 184
Gefahr erkannt, Gefahr gebannt – mit der richtigen Strategie und geeigneten Taktiken......Page 187
Das Gefühl für Dringlichkeit bewahren: Eine Erfolgsgeschichte......Page 190
Das Gespür für Dringlichkeit in der Unternehmenskultur verankern......Page 194
Die Zukunft beginnt heute......Page 198
Konzentrieren Sie sich auf schnelle, einfache Aktionen......Page 199
Beginnen Sie jetzt......Page 200
Fakt ist.........Page 202
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Das Prinzip Dringlichkeit: Schnell und konsequent handeln im Management
 3593387972, 9783593387970 [PDF]

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Zitiervorschau

Das Prinzip Dringlichkeit

John P. Kotter ist einer der wichtigsten Management-Vordenker unserer Zeit. Er ist Professor für Unternehmensführung an der Harvard Business School und Autor zahlreicher Bücher über zentrale Management-Themen.

John P. Kotter

Das Prinzip Dringlichkeit Schnell und konsequent handeln im Management

Aus dem Englischen von Birgit Schöbitz

Campus Verlag Frankfurt/New York

Die englischsprachige Ausgabe erschien 2008 unter dem Titel »A Sense of Urgency« im Verlag Harvard Business Press. © 2008 Harvard Business School Publishing Corp.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-38797-0

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2009 Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main Umschlaggestaltung: Anne Strasser, Hamburg Satz: Publikations Atelier, Dreieich Druck und Bindung: Freiburger Graphische Betriebe Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1. Alles beginnt mit Dringlichkeit »Ja, Dringlichkeit ist von großer Bedeutung, aber …« . . Selbstgefälligkeit und falsch verstandenes Dringlichkeitsempfinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahre Dringlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsequenzen mangelnden Dringlichkeitsgespürs in Zeiten des Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lösung dieses Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Selbstgefälligkeit und falsch verstandenes Dringlichkeitsempfinden . . . . . . . . . . . . . . .

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Was ist unter Selbstgefälligkeit zu verstehen? . . . . . . . . . . . . . . 32 Was ist unter einem falsch verstandenen Dringlichkeitsempfinden zu verstehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Rote Flaggen sind immer zu sehen. Immer. . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Anderen die Augen für das Problem öffnen . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3. Echte Dringlichkeit vermitteln: Eine Strategie, vier Taktiken . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wie und warum ein Business-Case scheitern kann Herzen für sich gewinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Grundstrategie erklären . . . . . . . . . . . . . . . . . Taktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Prinzip Dringlichkeit

4. Taktik Nr. 1: Die Konfrontation mit der Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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»Introvertierte« Unternehmen – ein weitverbreitetes Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hören Sie auf die Mitarbeiter an der Kundenfront . . . . Die Macht der Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Machen Sie kein Geheimnis um schlechte Nachrichten . Dekorieren Sie doch einmal um . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schicken Sie Ihre Leute in die Welt hinaus . . . . . . . . . . . Laden Sie Außenstehende ein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Importieren« Sie Informationen auf die richtige Weise Unproduktive Hektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Taktik Nr. 2: Selbst mit der gebotenen Dringlichkeit handeln (Tag für Tag) . . .

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Schnell reagieren, sofort handeln . . . . . . . . . . . . Die Norm: Musterbeispiele an Un-Dringlichkeit Großreinemachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dringlichkeit zur Schau stellen . . . . . . . . . . . . . Dringlichkeit ist ansteckend . . . . . . . . . . . . . . . . Dringliche Geduld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Taktik Nr. 3: Die einer Krise innewohnenden Chancen erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Krisen durch Kontrollsysteme vermeiden – ist mit Vorsicht zu genießen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krisen geschickt ausnutzen – ist auch mit Vorsicht zu genießen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keine Krise in Sicht? Basteln Sie sich eine! Oder lieber doch nicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vier grobe Fehler, die es unbedingt zu vermeiden gilt . . . . . Krisenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Taktik Nr. 4: Der richtige Umgang mit Neinsagern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das NoNo-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein NoNo im Boot bringt es garantiert zum Kentern . . Werden NoNos ignoriert, laufen sie zu Höchstform auf NoNo-Ablenkungsmanöver . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die NoNo-Radikallösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einen NoNo dem Druck der Öffentlichkeit aussetzen . . 8. Das Gespür für Dringlichkeit bewahren

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Hohe Dringlichkeit führt zum Erfolg, schwindende Dringlichkeit führt in das Chaos . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem mit dem schnellen Erfolg . . . . . . . . . . . . . . Gefahr erkannt, Gefahr gebannt – mit der richtigen Strategie und geeigneten Taktiken . . . . . . . . . . . . . . . Das Gefühl für Dringlichkeit bewahren: Eine Erfolgsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gespür für Dringlichkeit in der Unternehmenskultur verankern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die Zukunft beginnt heute

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Konzentrieren Sie sich auf schnelle, einfache Aktionen Beginnen Sie jetzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fakt ist … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register

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Vorwort

In diesem Buch geht es um ein scheinbar recht einfaches und wenig ausuferndes Thema – wie verhelfen Sie möglichst vielen Menschen zu einem stark ausgeprägten Gefühl für Dringlichkeit? Ich bin davon überzeugt, dass dieses Thema angesichts unserer schnelllebigen, turbulenten Zeit zunehmend an Bedeutung gewinnt. Auch die kompetentesten Führungskräfte und selbst unerschöpfliche Ressourcen können Unternehmen nicht immer vor den Schäden bewahren, die aus dem Mangel an Dringlichkeitsempfinden entstehen. Sogar in schwierigen Zeiten lassen sich ganz hervorragende Ergebnisse für Führungskräfte, Mitarbeiter und die Gesellschaft erzielen, wenn Dringlichkeit der ihr gebührende Stellenwert eingeräumt wird. Mein Weg zu diesen Erkenntnissen begann vor elf Jahren mit der Veröffentlichung von Chaos, Wandel, Führung1. Als Grundlage diente die Untersuchung von 100 Unternehmensinitiativen, mit denen größere Änderungsvorhaben durchgesetzt werden sollten: die Implementierung neuer Wachstumsstrategien, die Umstellung auf neue IT-Systeme oder kostensenkende Umstrukturierungsmaßnahmen. Das schockierende Ergebnis der Untersuchung war, dass in über 70 Prozent der Fälle, in denen gravierende Veränderungen zwingend umgesetzt werden mussten, die Vorhaben entweder nicht vollständig durchgeführt wurden, ganz scheiterten oder nur mit immensem finanziellem Mehraufwand, mit Verspätung und beträchtlicher Frustration seitens aller Beteiligter

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zu Ende gebracht wurden. Wir stellten jedoch auch fest, dass in rund 10 Prozent die ursprünglichen Erwartungen an die Vorhaben sogar übertroffen wurden. Und wir stellten zu unserer Überraschung fest, dass in diesen 10 Prozent ein gemeinsames Grundmuster erkennbar war, das ich in einem achtstufigen Modell des Wandels beschrieben habe und dessen erster Schritt darin besteht, das Gefühl für Dringlichkeit in ausreichendem Maß zu wecken und aufrechtzuerhalten. 2002 brachten Dan Cohen und ich das Buch The Heart of Change2 heraus, in dem wir unsere Untersuchungsergebnisse weiter ausführten. In Hunderten von Interviews sammelten wir Informationen, um die kleinen, aber wichtigen Ereignisse zu dokumentieren, die sich in jeder Phase eines größeren Änderungsvorhabens abspielen. Erneut bestätigten sich die schockierende Misserfolgsquote von 70 Prozent sowie die kleine, aber feine Erfolgsquote von 10 Prozent der Fälle, in denen die Erwartungen mehr als erfüllt wurden. Und wir stellten fest, dass in den erfolgreich umgesetzten Änderungsinitiativen Emotionen eine erstaunlich wichtige Rolle gespielt hatten. In dem 2006 in deutscher Sprache erschienenen Buch Das PinguinPrinzip3, das ich mit Holger Rathgeber geschrieben habe, verpackten wir unsere Ergebnisse in die Form einer bebilderten Fabel, um das komplexe Thema des Wandels und die damit verbundenen Emotionen am Beispiel einer Pinguinkolonie und der in ihr lebenden Charaktere leichter verständlich darzustellen. Beim Schreiben des Pinguin-Prinzips fiel mir das erste Mal auf, wie oft ich schon nach dem schlimmsten Fehler gefragt worden war, den man bei Änderungsinitiativen begehen kann. Ich dachte darüber nach und kam zu dem Schluss, dass die richtige Antwort lauten muss: Der schlimmste Fehler ist, zu versäumen, bei ausreichend vielen Menschen für ein ausreichend starkes Dringlichkeitsgefühl zu sorgen, denn dann fehlt die sichere Basis, von der aus man sich mit einem großen Sprung bereitwillig auf neues Terrain vorwagen kann.

Vorwort

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Um zu überprüfen, ob meine Antwort tatsächlich richtig war, und natürlich auch, weil mich dieses Thema brennend interessiert, entwickelte ich einen systematischen Fragenkatalog für meine Interviews mit Führungskräften: Wie stark ist das Gefühl für Dringlichkeit unter Ihren Mitarbeitern und Kollegen ausgeprägt? Woher wissen Sie, dass Sie mit Ihrer Einschätzung richtig liegen? Wie erklären Sie sich den Mangel an Dringlichkeit, falls dem so ist? Und was genau unternehmen Sie, um ihn zu beheben? Welche Maßnahmen ergreifen Sie? Wie erfolgreich – oder erfolglos – sind diese Maßnahmen? Inwiefern könnte es Ihr Unternehmen (oder Ihre Karriere) schädigen, wenn diese Maßnahmen erfolglos blieben (Zeigen Ihre Maßnahmen Erfolg, beschreiben Sie bitte, woraus genau sie bestehen)? Die Antworten auf meine Fragen ließen sehr interessante Schlussfolgerungen zu. 1. Sie haben mich endgültig davon überzeugt, dass jedes Änderungsvorhaben mit dem Gefühl für Dringlichkeit steht oder fällt. Ist zu Beginn zu wenig Dringlichkeit und zu viel Selbstgefälligkeit vorhanden, wird die Umsetzung des Vorhabens ungemein schwierig. Und wenn sich die Schwierigkeiten zu einem unüberwindlichen Hindernis auftürmen, scheitert das Projekt zwangsläufig, was schmerzhaft und enttäuschend ist. Und genau so kommt die erschütternde Misserfolgsquote von 70 Prozent zustande. 2. Selbstgefälligkeit ist ein weitverbreitetes Übel, das oft nicht einmal erkannt wird. Erfolg verleitet dazu, in Selbstgefälligkeit zu schwelgen, wobei es keine Rolle spielt, wie lange der Erfolg zurückliegt. Selbst wenn die besten Zeiten eines Unternehmens schon seit zehn Jahren vorbei sind, kann sich die damals entstandene Selbstgefälligkeit locker bis heute gehalten haben, da sie von den Betroffenen meist nicht als solche empfunden wird. So mag ein kluger, gebildeter Manager der Tatsache gegenüber blind sein, dass zwei Hierarchieebenen unter ihm eine Selbstgefälligkeit herrscht, die jeden seiner ehrgeizigen Zukunfts-

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pläne durchkreuzen wird. Und sollte besagter Manager gar selbst in Selbstgefälligkeit schwelgen, ist fraglich, ob er sich dessen bewusst ist. 3. Dringlichkeit hat nicht nur einen Gegner. Ebenso verbreitet und sogar noch gefährlicher als die Selbstgefälligkeit ist ein falsches oder fehlgeleitetes Dringlichkeitsempfinden. Hat es sich in einem Unternehmen eingeschlichen, gehen die Mitarbeiter zwar auch sehr energisch ans Werk, allerdings aus Angst, Wut oder Enttäuschung, und sicher nicht zu dem Zweck, gemeinsam und möglichst schnell einen Sieg für das Unternehmen als Ganzes zu erringen. Falsche Dringlichkeit ist meist mit unproduktiven und planlosen Aktionen verbunden, die außer Stress wenig bringen: Mitarbeiter eilen von einer Besprechung zur nächsten, produzieren Berge von Unterlagen und drehen sich endlos im Kreis, wobei sie die Orientierung verlieren und gar nicht mehr in der Lage sind, großartige Gelegenheiten zu erkennen und die wirklich wichtigen Probleme zu lösen. 4. Die Unterscheidung zwischen dem richtigen und dem falschen Gefühl für Dringlichkeit ist schwierig, und die Verwechslungsgefahr ist enorm. Oft wird die hektische und planlose Betriebsamkeit als Beweis dafür gesehen, dass die Dringlichkeit eines Projekts allen bewusst ist, weshalb der Verantwortliche das Projekt weiter vorantreibt, nur um bald von ganz ähnlichen Schwierigkeiten ausgebremst zu werden, die mit übermäßiger Selbstgefälligkeit einhergehen. Projektteams erbringen enttäuschende Leistungen, Unternehmen erzielen enttäuschende Ergebnisse – mit zum Teil tragischen Konsequenzen für die Mitarbeiter. 5. Und das ist die gute Nachricht: Ein fehlgeleitetes Dringlichkeitsempfinden lässt sich ebenso gut erkennen wie die Selbstgefälligkeit, und beides lässt sich in ein echtes Gefühl für Dringlichkeit umwandeln. Es gibt eine geeignete Strategie, und es gibt praktikable Taktiken. Die Beschreibung der zur Verfügung stehenden Methoden nimmt einen Großteil dieses Buches ein.

Vorwort

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6. Mit der gebotenen Dringlichkeit handeln zu können wird immer wichtiger, weil der Wandel sich heutzutage nicht mehr nur schubweise, sondern kontinuierlich vollzieht. Früher war etwa eine größere Fusion ein zwar großes, aber in sich geschlossenes Unterfangen, das aufgrund der Integrationsmaßnahmen diverse Veränderungen nach sich zog, die jedoch im überschaubaren Rahmen blieben. Heutzutage sind Fusionen, neue strategische Ausrichtungen, umfangreiche Systemumstellungen, Umstrukturierungsmaßnahmen und ähnliche Änderungsinitiativen an der Tagesordnung. Für schubweise Veränderungen sind auch nur zeitlich begrenzte Dringlichkeitsschübe erforderlich. Um aber mit dem permanenten Wandel Schritt halten zu können, ist ein permanent stark ausgeprägtes und anhaltendes Dringlichkeitsgefühl erforderlich. Es wird zwar auch weiterhin Veränderungsschübe geben, doch da die zeitlichen Abstände immer kürzer werden, zeichnet sich global betrachtet der Trend zu kontinuierlichen Veränderungen ab. Und dies wiederum verlangt jedem Unternehmen ein Höchstmaß an dringlicher Handlungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft ab. Anders ausgedrückt: Ein sicheres Gefühl für Dringlichkeit ist nicht länger nur als wesentliches Element großangelegter Veränderungsinitiativen, sondern als wesentliches Element der unternehmerischen Überlebensstrategie zu betrachten. Ich habe im Zuge des achtstufigen Modells für erfolgreiche Änderungsinitiativen ausführlich über Dringlichkeit geschrieben. Was gibt es Neues darüber zu sagen? Den Lesern, die meine Bücher über Unternehmensführung und den Wandel bereits kennen, sei versichert, dass ich mich in diesem Buch viel eingehender mit dem Thema befasse, weil es mir heute noch viel wichtiger erscheint als jemals zuvor. Intensiv gehe ich darauf ein, was unter Dringlichkeit zu verstehen ist und wie sich konstruktive, echte Dringlichkeit von destruktiver vermeintlicher Dringlichkeit un-

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terscheiden lässt. Ich stelle weitere Taktiken vor, mit denen sich das Gefühl für Dringlichkeit wecken lässt, und ich lasse Sie anhand vieler Fallbeispiele an den Erfahrungen und Lösungsvorschlägen teilhaben, die ich in den letzten paar Jahren zum Thema Selbstgefälligkeit gesammelt habe. Die Fallbeispiele in diesem Buch beschreiben die Erfolge und Misserfolge ganz unterschiedlicher Persönlichkeiten, zu denen ein 62-jähriger CEO ebenso zählt wie ein 22-jähriger Universitätsabsolvent. Die Misserfolge mahnen zur Vorsicht, die Erfolge aber inspirieren, so hoffe ich, zur Nachahmung. Rund drei Viertel der Beispiele beziehen sich auf US-amerikanische Unternehmen und Institutionen, wobei sich das Grundprinzip aber meiner Ansicht nach nahezu unverändert auf andere Kulturkreise übertragen lässt. Viele Menschen haben dazu beigetragen, dass dieses Buch geschrieben werden konnte. Eine bloße Auflistung ihrer Namen scheint mir unangebracht, um meine Dankbarkeit auszudrücken, weshalb ich lieber davon absehe. Ich bedanke mich hiermit aus ganzem Herzen bei sehr vielen Menschen. Und dabei möchte ich es belassen. John P. Kotter Cambridge, Massachusetts 1 Die englischsprachige Ausgabe erschien 1996 unter dem Titel Leading Change bei Harvard Business School Press. Die deutschsprachige Ausgabe erschien beim Econ Verlag. 2 Die englischsprachige Ausgabe erschien 2002 unter dem Titel The Heart of Change. Real Life Stories of How People Change Their Organizations bei Harvard Business School Press. Eine deutschsprachige Ausgabe gibt es bislang nicht. 3 Die englischsprachige Ausgabe erschien 2006 unter dem Titel Our Iceberg is Melting bei St. Martin’s Press. Die deutschsprachige Ausgabe erschien 2006 unter dem Titel Das Pinguin-Prinzip. Wie Veränderung zum Erfolg führt im Droemer Verlag.

Kapitel 1

Alles beginnt mit Dringlichkeit

Wir sind viel zu selbstgefällig und zu träge. Und das ist uns noch nicht einmal bewusst.

»Ja, Dringlichkeit ist von großer Bedeutung, aber …« »Natürlich ist Dringlichkeit ein wichtiger Faktor«, bestätigt er mir. »Selbstgefälligkeit ist heutzutage wirklich ein gravierendes Problem, bei uns hält sie sich jedoch zum Glück sehr im Rahmen. Unser größtes Problem ist die Umsetzung unserer Innovationsinitiative.« Mein Gesprächspartner ist ein kluger Mann, der die Chancen und Schwierigkeiten des Wettbewerbs besser versteht als seine Mitbewerber, weshalb er auch trotz guter finanzieller Ergebnisse Veränderungen anstrebt. Tatsache aber ist, dass seine ausgeklügelte Initiative von den Mitarbeitern nicht bereitwillig umgesetzt wird. Woran das wohl liegt? Es liegt daran, dass viele der Ansicht sind, man sei als Firma doch schon innovativ genug. Das wird zwar nie ausdrücklich gesagt, aber dennoch aufrichtig geglaubt. Andere halten dieses »Innovationsding« nur wieder für eine Modeerscheinung, die in vier Wochen niemanden mehr interessiert. Weshalb also dafür Zeit verschwenden? Dann gibt es die fleißigen Listenschreiber, die sich über das Für und Wider diverser Innovationen auslassen und sich dabei vor allem darüber Sorgen machen, inwiefern sich

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Das Prinzip Dringlichkeit

die neue Initiative negativ auf ihren vermeintlich sicheren Arbeitsplatz auswirken könnte. Wieder andere ärgern sich darüber, die Initiative einfach ungefragt vor die Nase gesetzt bekommen zu haben. Diese Leute sind höchst aktiv, das schon. Allerdings bestehen ihre Aktivitäten darin, das Vorhaben möglichst unauffällig zu sabotieren. »An dem Gefühl für Dringlichkeit mangelt es nicht«, versichert mir eine Führungskraft. »Jeder Mitarbeiter weiß, dass wir in Schwierigkeiten stecken und unbedingt etwas verändern müssen. Dass es im Gesundheitswesen kriselt, ist nun wirklich kein Geheimnis. Uns brennt es gehörig unter den Füßen, von Selbstgefälligkeit kann nicht mehr die Rede sein. Das größte Problem ist jetzt, alle auf die neue Strategie einzuschwören.« Aus der Perspektive der Leitungskraft betrachtet scheint die Einschätzung korrekt – und ist es zum Teil auch. Die neue Strategie könnte den Betrieb nicht nur wieder auf Erfolgskurs bringen, sondern vielleicht sogar an die Spitze. Allerdings hat sich die inzwischen als passé betrachtete Selbstgefälligkeit noch lange nicht verabschiedet. Warum nicht? Sind die Mitarbeiter etwa faul und inkompetent? Wohl kaum. Und selbst wenn es das eine oder andere schwarze Schaf in der Belegschaft gibt, kann das nicht das Problem sein. Zwei Hierarchieebenen tiefer leben die Mitarbeiter in einer ganz anderen Arbeitswelt. Hier stehen die wenigsten je unter dem Beschuss der Börsianer oder im Kreuzfeuer der Kritik seitens der Kunden. Hier bricht nichts zusammen, es bröckelt ja noch nicht einmal an der Fassade, jedenfalls nicht in der eigenen Abteilung. Die paar Mitarbeiter, die unter dem Steinschlag diverser Lawinen leiden, die an höherer oder doch zumindest anderer Stelle ausgelöst wurden, ärgern sich nur maßlos über den oder die Verursacher. Doch anstatt mit dem richtigen Gespür für Dringlichkeit Eigeninitiative zu zeigen und das Problem heute noch anzupacken, bleiben sie untätig und beschweren sich lieber. »Klar muss sich im Marketing gewaltig etwas verändern«, schimpft der wü-

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tende Rechnungsprüfer. »Sie können sich gar nicht vorstellen, was die dort alles verbocken.« »Von dem, was Sie unter Dringlichkeit verstehen, haben wir hier mehr als genug«, fährt er schon fast trotzig fort. »Alle rennen aufgescheucht durch die Gegend. Was glauben Sie, wie sehr diese Hetzerei an den Kräften und Nerven zehrt? Lange halten wir das nicht mehr durch.« Ein Übermaß an Dringlichkeit? Nun, womit er Recht hat, ist, dass alle abgehetzt und erschöpft wirken. Doch der Rechnungsprüfer und die meisten anderen verwechseln die hektische Betriebsamkeit mit echter Dringlichkeit. Das sind jedoch zwei Paar Stiefel. Die Hektik entsteht, da die Mitarbeiter zum Teil mit 15 Aufgaben gleichzeitig jonglieren müssen, von denen keine einen entscheidenden Beitrag zum Unternehmenserfolg leistet. Die hektische Betriebsamkeit zehrt immens an den Kräften der Mitarbeiter und erstickt jedes echte Gefühl für Dringlichkeit im Keim. Wer an einem einzigen Arbeitstag neun Besprechungen zu neun verschiedenen Themen über sich ergehen lassen muss, ist einfach nicht mehr in der Lage, sich heute noch einer wirklich dringlichen Angelegenheit zu widmen. »Wir müssen innerhalb eines Monats 2 000 bis 3 000 Leute entlassen«, berichtet er mir. »Und das Schlimmste daran ist, dass wir nie in diese Notlage geraten wären, wenn wir letztes Jahr schon etwas unternommen hätten«, fährt er frustriert fort. »Warum haben Sie dann nicht schon letztes Jahr etwas unternommen?«, frage ich ihn. Als ein Mann, der lieber vorwärts stürmt, als nachträgliche Überlegungen anzustellen, fällt ihm die Antwort schwer. Schließlich meint er: »Im Nachhinein würde ich sagen, wir waren zu selbstgefällig. Ein bisschen zu arrogant.« Auf meine Frage, wie er sich die Selbstgefälligkeit und Arroganz erklärt, antwortet er: »Ich vermute mal, wir waren in der Vergangenheit einfach zu erfolgreich.« Mit dieser Vermutung liegt er wohl richtig.

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Selbstgefälligkeit und falsch verstandenes Dringlichkeitsempfinden Wir haben ein ernstes Problem. Wird jetzt nichts dagegen unternommen, wird es sich in Zukunft nur weiter verschärfen. Die Lösung, die vielen als offensichtlich erscheint, trägt in Wahrheit nur zur Verschlechterung der Lage bei. Doch es gibt eine wirkliche Lösung, und sie behebt nicht nur das Problem, sondern ermöglicht es Unternehmen, Nationen und Individuen, großartige Leistungen zu vollbringen. Das Problem ist die Selbstgefälligkeit. Jeder ist ihr schon des Öfteren begegnet, was aber nichts daran ändert, dass ihr Einfluss und ihre Ausbreitung maßlos unterschätzt werden. Tatsache ist, dass wir von extrem destruktiver Selbstgefälligkeit umgeben sind, die hartnäckig geleugnet wird, egal, wie offensichtlich sie ist. Wer in Selbstgefälligkeit schwelgt, ist mit dem Status quo meist höchst zufrieden, auch wenn er das Gegenteil behauptet. Seine Taten strafen seine Worte Lügen. Aus Unachtsamkeit verpassen selbstgefällige Menschen die besten Gelegenheiten und laufen blindlings in die größten Gefahren. Sie klammern sich an alte Gewohnheiten, an den bewährten Standard, der die Arbeitszeit, die Kleiderordnung, die Orientierung an Produkten oder Prozessen oder auch nichts im Speziellen regelt. Einem Außenstehenden mag sofort ins Auge stechen, wie gefährlich die in einem Unternehmen herrschende Selbstgefälligkeit ist, wie schlampig gearbeitet wird, weil man sich voller Arroganz auf früheren Erfolgen ausruht. Die selbstgefälligen Insider aber – so kompetent und intelligent sie sein mögen – sind dafür völlig blind. Vielleicht geben sie zu, dass es irgendwo anders Schwierigkeiten gibt, die Betonung liegt dabei aber auf irgendwo anders. Sie jedenfalls wissen, was sie zu tun haben, und davon lassen sie sich nicht abbringen. Wenn die Uhren gemächlich ticken und sich das Unternehmen gut positioniert hat, ist diese Einstellung zwar problematisch,

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aber auch nicht bedrohlicher als andere Probleme. In unserer schnelllebigen und sich permanent verändernden Welt kann eine so einlullende Zufriedenheit mit dem Status quo allerdings katastrophale Folgen haben. Viel zu häufig glauben Manager angesichts hektischer Aktivitäten, das Problem mit der Selbstgefälligkeit hätte sich ja wohl erledigt. Ihre Mitarbeiter eilen im Laufschritt von Termin zu Termin, bereiten umfangreiche PowerPoint-Präsentationen vor, arbeiten endlos erscheinende Aufgabenlisten ab und scheinen bereit zu sein, den Status quo aufzugeben. Das riecht doch förmlich nach einem ausgeprägten Dringlichkeitsgefühl, oder? Dieses hektische Gebaren ist jedoch selten mit der zielgerichteten Entschlossenheit gekoppelt, schnell zu handeln, um am besten noch heute einen Sieg zu erringen, sondern entsteht vielmehr aus einem enormen Leistungsdruck, der letztendlich Ängste und Ärger schürt. Die daraus entstehende Hektik ist der eigentlichen Sache nicht dienlich, sondern lenkt eher von ihr ab. Sie zeugt von einem falsch verstandenen Dringlichkeitsgefühl, das sich noch viel destruktiver auswirken kann als die Selbstgefälligkeit, weil es den Mitarbeitern die letzten Kraftreserven raubt und somit produktive Ergebnisse verhindert. Weil sie so oft mit echter Dringlichkeit verwechselt wird, sorgen Führungskräfte oft auch noch absichtlich für Hektik. Der frustrierte Chef muss nur »Los Leute, macht endlich!« brüllen, und schon springen alle wie von der Tarantel gestochen auf: Sie spurten durch die Flure, reden sich in zig Besprechungen den Mund fusselig, bilden Arbeitsgruppen, schreiben unzählige EMails – na endlich, da kommt doch der Stein ins Rollen! Was da ins Rollen kommt, ist jedoch eine unkontrollierbare Lawine, die nichts als Trümmer hinterlässt. Das Problem mit der Selbstgefälligkeit lässt sich nur auf eine einzige Art und Weise lösen, nämlich ein echtes Dringlichkeitsgefühl zu vermitteln. Die damit einhergehenden Überlegungen, Ge-

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Das Prinzip Dringlichkeit

fühle und Aktivitäten kommen ganz ohne entmutigend lange Aufgabenlisten, ohne eine endlose Abfolge von Besprechungen und ohne den Adrenalinkick aus, der sich langfristig sowieso von selbst erschöpft. Wer wahre Dringlichkeit empfindet, konzentriert sich ausschließlich auf Angelegenheiten oberster Priorität und streicht Belanglosigkeiten aus dem Terminkalender. Die Antriebskraft wahrer Dringlichkeit ist der Wille zum Sieg, nicht die Angst vor der Niederlage. Wer wahre Dringlichkeit empfindet, will jeden Tag etwas Wichtiges vollbringen, und zwar ohne sich dabei so zu überfordern, dass er im Dauerlauf auf einen Herzinfarkt zusteuert. In einer turbulenten Zeit wie der unsrigen, in der nicht nur jederzeit neue Mitbewerber oder politische Entwicklungen unverhoffte Schwierigkeiten bereiten können, sondern der technologische Fortschritt ständig alles verändert, sind sowohl das selbstgefällige Beharren auf dem Status quo als auch die nervöse Hektik aufgrund fehlgeleiteter Dringlichkeit zunehmend riskante Verhaltensweisen. Sie sind tickende Zeitbomben, die jederzeit im Unternehmen explodieren können und oft auch noch hervorragend getarnt sind, was sie gleich doppelt gefährlich macht. Ein untrügliches Gefühl für Dringlichkeit entwickelt sich zusehends zu einem unschätzbar wertvollen Überlebensvorteil. Die Ergebnisse meiner jüngsten Untersuchungen lassen diesbezüglich keinen Zweifel zu. Wahre Dringlichkeit ist ein entscheidender Vorteil, den man sich verschaffen und bewahren muss. Wie das geht, erfahren Sie in diesem Buch.

Wahre Dringlichkeit Dringlichkeit heißt, es ist notwendig, eine Angelegenheit höchster Priorität kurzfristig zu erledigen. Wer wahre Dringlichkeit verspürt, kommt gar nicht erst auf die Idee, eine Angelegenheit höchs-

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ter Priorität auf irgendwann später zu verschieben, nur weil sie momentan gerade nicht so gut in den Zeitplan passt. Nein, er erledigt sie gleich, wobei gleich bedeutet, sich Tag für Tag um sichtbare Fortschritte bei der Erledigung zu bemühen. Höchste Priorität genießen alle Angelegenheiten, die über Sieg oder Niederlage, über Überleben oder Untergang entscheiden können. Wahre Dringlichkeit zu empfinden bedeutet nicht, sich damit zu begnügen, dass sich das Projektteam heute noch trifft, sondern darauf zu pochen, dass bei dem Treffen heute noch etwas Wichtiges erreicht wird. Die Triebfeder zu dringlichem Handeln ist die innere Überzeugung, dass sich ständig neue Chancen bieten und neue Risiken auftun, ganz unabhängig davon, was im Arbeitsumfeld ansonsten als gut oder schlecht betrachtet wird. Die Bereitschaft zu dringlichem Handeln entsteht nicht aus Zufriedenheit, Angst, Frustration oder Wut, sondern aus dem instinktiven Willen, jetzt die Initiative zu ergreifen und zu gewinnen. Entschlossenheit, Mut und Siegeswille führen ganz automatisch dazu, sich aufmerksam und proaktiv zu verhalten, das interne und externe Umfeld genau zu beobachten, um nur ja nichts zu übersehen, was für den Erfolg und das Überleben von Bedeutung sein könnte. Selbstgefälligkeit und falsch verstandene Dringlichkeit dagegen machen blind für externe Geschehnisse, sodass meist übersehen wird, was dem Wohl des Unternehmens zugute käme. Menschen, die mit einem untrüglichen Gefühl für Dringlichkeit ausgestattet sind, leiten Informationen über gute Gelegenheiten oder potenzielle Gefahren an die zuständigen Führungskräfte weiter – unverzüglich, nicht erst irgendwann, wenn man sich wieder einmal zufällig über den Weg läuft. Menschen, die mit einem untrüglichen Gefühl für Dringlichkeit ausgestattet sind, freuen sich jeden Tag darauf, gemeinsam mit den Kollegen an einem Strick zu ziehen. Sie krempeln tatkräftig die Ärmel hoch und springen auch bereitwillig ein, wo Not am Mann ist, um kluge Initiativen zu unterstützen. Sie setzen sich nach Kräften

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Das Prinzip Dringlichkeit

dafür ein, sinnvolle Vorhaben ins Rollen zu bringen und zügig umzusetzen. Sie schleichen nicht im Schneckentempo dahin, wenn das Ziel nur im Volltempo erreicht werden kann. Das Gespür für Dringlichkeit ist eine positive und zielgerichtete Kraft. Da es die Sinne und den Blick für das Wesentliche schärft, besteht so gut wie keine Gefahr, sich in unwichtigen Dingen zu verzetteln, an Projekten festzuhalten, die kaum etwas zum Gesamterfolg beitragen, oder kritische Situationen womöglich zu verschlechtern, weil man planlos Maßnahmen ergreift, ohne sich vorher schlau zu machen. Oft höre ich den Einwand, das Gefühl für Dringlichkeit ließe sich langfristig nicht aufrechterhalten, ohne geistige und körperliche Erschöpfungszustände unter den Mitarbeitern zu riskieren. Doch trotz höchster Wachsamkeit, Aktivität und Reaktionsgeschwindigkeit verursacht das Gespür für Dringlichkeit kaum nennenswerten Stress, denn es motiviert ja gerade dazu, sich von all den unwichtigen Aufgaben zu befreien, die lediglich viel Zeit und Kraft kosten, aber keinen echten Wert für das Unternehmen schöpfen. Wer entschlossen darauf hinarbeitet, ständig kleinere und größere Siege zu erringen, verschwendet keine Zeit mit belanglosen oder gewohnheitsmäßigen Aktivitäten, die außer zusätzlichem Stress nichts bringen. Das Gefühl für Dringlichkeit ist nicht das Produkt des früheren Erfolgs oder der jüngsten Niederlage, sondern das Produkt von Menschen aus allen Unternehmensebenen, die durch ihre Führungsstärke dafür sorgen, dass es als wertvoller Wettbewerbsvorteil geschaffen und bewahrt wird. Diese Führungspersönlichkeiten nutzen eine Strategie, mit der sie Herz und Verstand ihrer Mitarbeiter gewinnen. Zu dieser Strategie gehören vier Taktiken, die Sie bald kennenlernen werden. Sie und viele andere können sie jederzeit anwenden. Das Gespür für Dringlichkeit findet sich viel seltener, als man im Allgemeinen glaubt. Darauf zu verzichten kann sich heutzu-

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Selbstgefälligkeit, falsch verstandenes und wahres Gefühl für Dringlichkeit Fasch verstanSelbst-

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Das Prinzip Dringlichkeit

Fasch verstanSelbst-

denes Gefühl

gefälligkeit

für Dringlichkeit Dringlichkeit

Wahres Gefühl für

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tage jedoch kaum jemand leisten. Viel häufiger trifft man auf Selbstgefälligkeit, die sich ungestört ausbreiten kann, weil kluge, erfahrene und gebildete Menschen sie nicht als Gefahr erkennen. Auch ein fehlgeleitetes Gefühl für Dringlichkeit findet man häufig vor, weil hektische Betriebsamkeit oft mit produktiver Betriebsamkeit verwechselt wird.

Alles beginnt mit Dringlichkeit

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Konsequenzen mangelnden Dringlichkeitsgespürs in Zeiten des Wandels Ein unzureichendes Maß an dem Gespür für Dringlichkeit zieht gerade in einer Zeit des Wandels gravierende Konsequenzen nach sich. Die Geschwindigkeit, mit der sich der Wandel vollzieht, nimmt seit Jahrzehnten fast überall zu. Diese Tatsache ist zwar keine neue Erkenntnis, kann aber gar nicht oft genug betont werden. Die Argumente, dass uns der Wandel schon immer begleitet hat oder sich in Zyklen vollzieht, gehen am eigentlichen Problem vorbei, denn beide mögen über einen Zeitraum von 1 000 Jahren gesehen zutreffen. Für uns ist relevant, dass hier und jetzt und auch über die nächsten fünf oder zehn Jahre die Geschwindigkeit, mit der sich der Wandel vollzieht, immer weiter zunehmen wird. Und die daraus entstehenden Konsequenzen betreffen nahezu jeden. Allein der technologische Fortschritt wirkt sich auf nahezu jedes Unternehmen aus und erfasst auch die Branchen, die als etabliert und ausgereift gelten. Durch die Globalisierung werden neue Märkte erschlossen, und um sie auch ausschöpfen zu können, muss in Büroräume, Marketingkampagnen, Mitarbeiter und vieles mehr investiert werden. Mit der Globalisierung betreten neue Mitbewerber die Bühne, die möglicherweise neue Produktivitäts- und Qualitätsstandards setzen, denen sich ihre Mitspieler anpassen müssen. Internationale politische Ereignisse können sorgfältig ausgetüftelten Plänen einen Strich durch die Rechnung machen. Durch eine Fusion kann praktisch über Nacht ein übermächtiger Konkurrent entstehen. Unzählige Statistiken belegen die Tendenzen, von denen ich hier zwei erwähnen möchte, die ich für besonders interessant halte: Die Volumen der Fusionen und Übernahmen beliefen sich in den USA im Jahr 1986 auf 173 Millionen US-Dollar, im Jahr 1996 waren das immerhin schon 469 Millionen US-Dollar und im Jahr 2006 unglaubliche 1,484 Milliarden US-Dollar. Diese

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Zahlen verdeutlichen nicht nur den Anstieg der Gesamtsummen, sondern auch, dass die Geschwindigkeit, mit der die Beträge steigen, stetig zunimmt. Ähnliches zeigt sich auch an der Anzahl der in den USA angemeldeten Patente. Waren es im Jahr 1986 noch 132 000, wurden im Jahr 1996 schon 211 000 und im Jahr 2006 452 000 Patente angemeldet. Diese Spirale dreht sich schneller und schneller. Um angemessen auf den Wandel reagieren zu können, muss man natürlich erkennen, was sich um einen herum und in der ganzen Welt verändert. Menschen, denen es am Gespür für Dringlichkeit mangelt, neigen jedoch dazu, auf einem Auge blind zu sein. Oder sie erkennen die Zeichen der Zeit, können oder wollen aber nicht glauben, was sie sehen. Erschwerend kommt hinzu, dass der externe Wandel nach internen Veränderungen verlangt. Immer mehr Prozesse müssen effizienter gestaltet werden. Neue Arbeitsmethoden und Produkte sind zu entwickeln. Innerbetriebliche Umstrukturierungen sind erforderlich, um kunden- und wachstumsorientierter arbeiten zu können. Neue Geschäftsmodelle sind zu entwickeln, die von der Belegschaft auch akzeptiert werden müssen. Aufgekaufte Unternehmen müssen erfolgreich in die eigenen Strukturen integriert werden. Keine dieser Veränderungen lässt sich auch nur annähernd so schnell, geschickt und effizient wie nötig umsetzen, wenn Mitarbeiter in Selbstgefälligkeit schwelgen und es am untrüglichen Gespür für Dringlichkeit mangelt. Nach einigen Jahren intensiver Analyse schätze ich, dass über 70 Prozent der als notwendig erachteten Veränderungen entweder überhaupt nicht umgesetzt werden – auch wenn sich einige Verantwortliche ihrer Notwendigkeit durchaus bewusst sind –, nicht vollständig umgesetzt werden – auch wenn sich einige nach allen Kräften dafür einsetzen –, nur unter beträchtlichem finanziellem Mehraufwand oder viel später als geplant umgesetzt werden, und das Endergebnis die ursprünglichen Erwartungen meist nicht erfüllt. Eine 70-prozentige Feh-

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lerquote stellt für jedes Unternehmen, jede Regierung, jede Volkswirtschaft und jede Gesellschaft einen enormen Hemmschuh dar. Und so schmerzhaft die Verluste für die Investoren auch sein mögen, von den Nachteilen sind alle betroffen: Mitarbeiter, Kunden, unsere Familien. Es geht aber auch anders und vor allem besser. Wir haben viele Fallbeispiele dokumentiert, bei denen die Herausforderungen des stetigen Wandels von den betroffenen Menschen bemerkenswert gut gemeistert wurden. In jedem dieser mustergültigen Fälle war ein gemeinsames Grundmuster erkennbar, dessen acht Schritte ich ausführlich in drei Büchern beschrieben habe: Chaos, Wandel, Führung, Das Pinguin-Prinzip und, nur in Englisch erschienen, The Heart of Change. Korrekt angewendet, lassen sich mit dieser Methode ausgezeichnete Resultate erzielen, was durch mehrere Studien eindeutig nachgewiesen werden konnte. Der erste Schritt dieses Prozesses beinhaltet, in möglichst vielen Mitarbeitern ein Gefühl für Dringlichkeit zu wecken und aufrechtzuerhalten. Dieser erste Schritt stellt das größte Problem für Unternehmen und Institutionen dar, was allerdings nicht heißen soll, dass die anderen Schritte des Veränderungsprozesses gut umgesetzt würden. Genau das passiert eben nicht. Die klügsten Planer und Macher scheitern oft genug daran, ein gutes Führungsteam zusammenzustellen oder klare Ziele zu formulieren. Sie bemühen sich zu wenig um die Unterstützung wichtiger Mitarbeiter oder um die Beseitigung von Hindernissen, die denen im Wege stehen, die sich für den Wandel engagieren möchten. Sie versäumen es, für kurzfristige Erfolge zu sorgen, die dem Vorhaben mehr Glaubwürdigkeit und Antrieb verleihen würden. Sie lassen in ihren Bemühungen nach, lange bevor der Veränderungsprozess abgeschlossen ist, und sie ergreifen keine geeigneten Maßnahmen, um die Veränderungen nachhaltig zu verankern. Aber, und das will ich ausdrücklich noch einmal betonen, das größte Problem ist

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Das Prinzip Dringlichkeit

Alles beginnt mit dem Gefühl für Dringlichkeit 1. Das Gefühl der Dringlichkeit wecken. Ein Unternehmen, das gewinnen will, sorgt zuerst dafür, dass möglichst viele seiner Mitstreiter ein ausreichendes Gespür für Dringlichkeit empfinden, um aktiv nach Chancen und Problemen Ausschau halten und sofort entsprechend handeln zu können.

2. Ein Führungsteam zusammenstellen. Herrscht das Gefühl der Dringlichkeit vor, erkennen Ihre Mitarbeiter kritische Angelegenheiten als solche und bilden umgehend kompetente Teams, die durchsetzungsfähig und engagiert genug sind, um selbst durch schwierige Umwälzungen zu führen, auch wenn einzelne Teammitglieder bereits überlastet und erschöpft sein sollten.

3. Zielvorstellungen und Strategien entwickeln. Kompetente und hochmotivierte Teams formulieren gemeinsam überzeugende Zielvorstellungen und Strategien, welche die Richtung weisen – auch wenn die besten Strategien möglicherweise schwer erreichbar sind.

4. Kommunikation. Die in dringlicher Mission agierenden Teams setzen sich unermüdlich dafür ein, dass alle Entscheidungsträger und Meinungsmacher die Zielvorstellungen und Strategien verstehen und sich mit ihnen identifizieren können, damit das Gefühl für Dringlichkeit alle Unternehmensebenen durchdringt und noch weiter verstärkt wird.

5. Handlungsfreiräume gewähren. Die in dringlicher Mission agierenden Teams gewähren all denen, die sich für die Verwirklichung von bestimmten Zielen engagieren möchten, ausreichend Handlungsfreiraum und Entscheidungsbefugnisse und räumen Hindernisse aus dem Weg – auch wenn es sich um große Hindernisse handelt.

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6. Kurzfristige Erfolge. Die Dringlichkeitsteams sorgen dafür, dass motivierte Mitarbeiter so schnell wie möglich einige sichtbare, eindeutige Erfolge erzielen, um Skeptikern und Zynikern den Wind aus den Segeln zu nehmen.

7. Nur nicht nachlassen. Die Dringlichkeitsteams verhindern, dass sich nach den ersten Erfolgen wieder Selbstgefälligkeit breitmacht. Stattdessen drängen sie energisch darauf, dass jede Phase des Veränderungsprozesses umgesetzt wird, bis das ultimative Ziel erreicht ist.

8. Veränderungen fest verankern. Die Dringlichkeitsteams machen sich dafür stark, jede vollzogene Veränderung fest zu verankern, indem sie in die Unternehmensstruktur, die Systeme und vor allem in die Kultur integriert wird.

und bleibt das mangelnde Gespür für Dringlichkeit. Diesen Mangel zu beheben ist der erste Schritt von vielen, die zwingend erforderlich sind, um sich in Zeiten des Wandels erfolgreich behaupten zu können.

Die Lösung dieses Problems Ein Grund, weshalb das Gefühl der Dringlichkeit in Unternehmen eher die Ausnahme darstellt, ist, dass es sich nicht von selbst einstellt. Es muss entwickelt und bewusst gepflegt werden. Anders verhält es sich mit Selbstgefälligkeit, die sich nach einer gewissen Zeit in vielen Unternehmen wie selbstverständlich ausbreitet und sich sogar dann noch hartnäckig hält, wenn das Unternehmen in ernsthafte Schwierigkeiten gerät. Vielleicht gesellen sich auch noch Nervosität, Angst und Ärger hinzu, und die darauffolgende

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Das Prinzip Dringlichkeit

hektische Betriebsamkeit vermittelt fälschlicherweise den Eindruck eines echten Dringlichkeitsgefühls. Selbst in Betrieben, in denen in regelmäßigen Abständen – beispielsweise alle fünf Jahre – routinemäßig ein größerer Veränderungsprozess stattfindet, bereitet der kontinuierliche Wandel beträchtliche Probleme, weil sich nach einigen Erfolgen sofort wieder die Selbstgefälligkeit breitmacht. Doch genau der kontinuierliche Wandel ist es, dem sich mehr und mehr Unternehmen stellen müssen. Die Entwicklung von zyklischen zu kontinuierlichen Veränderungen macht es erforderlich, nicht nur alle paar Jahre, sondern permanent mit der gebotenen Dringlichkeit zu handeln. Das Dringlichkeitsproblem ist nicht auf bestimmte Organisationsformen oder Gruppen beschränkt. Es betrifft Gewinner ebenso wie Verlierer, Unternehmen ebenso wie Regierungen. Die Konsequenzen, die aus dem Mangel an Gespür für Dringlichkeit entstehen, können einen Industriebetrieb ebenso unterminieren wie ein einzelnes Büro oder eine ganze Nation. Umgekehrt gilt aber auch, dass die Behebung dieses Mangels beträchtlich dazu beiträgt, die Ergebnisse zu erzielen und die Arbeits- und Lebensbedingungen zu schaffen, die wir uns alle wünschen. In den vergangenen 35 Jahren habe ich mich ausführlich damit beschäftigt, welche konkreten Beiträge die Menschen zum Erfolg ihrer Unternehmen leisten, und zwar unabhängig davon, wie schwierig die Umstände sind. Meine Arbeit brachte mich auf dieses Thema und auf die Idee, dieses Buch zu schreiben. Auf den folgenden Seiten will ich meine Erkenntnisse mit Ihnen teilen. Ich möchte Ihnen eine Strategie und vier Taktiken vorstellen, mit denen außergewöhnlich erfolgreiche Menschen es schaffen, das Gefühl der Dringlichkeit zu wecken, zu erhalten und außergewöhnliche Leistungen zu vollbringen, von denen Investoren, Mitarbeiter, die Volkswirtschaft und auch sie selbst profitieren. Manche dieser Methoden liegen auf der Hand, andere sind ganz unglaublich und wieder andere ein echter Geheimtipp.

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Die gute Nachricht – ja, die gibt es auch – ist, dass der permanente Wandel nicht nur Gefahren, sondern ebenso fantastische Chancen hervorbringt. Wäre dem nicht so, könnte man sich den Wandel ja auch ersparen. Um diese fantastischen Chancen ergreifen zu können, sind verschiedene Fähigkeiten und entsprechende Ressourcen erforderlich, doch der erste Schritt ist und bleibt, in möglichst vielen Mitarbeitern ein möglichst stark ausgeprägtes Gefühl für Dringlichkeit zu wecken. Wenn Sie diesen ersten Schritt meistern, befinden Sie sich bereits auf dem besten Weg, Großartiges zu vollbringen. Nicht nur für sich und Ihr Unternehmen, sondern auch für die Gesellschaft.

Kapitel 2

Selbstgefälligkeit und falsch verstandenes Dringlichkeitsempfinden

Um ein untrügliches Gespür für Dringlichkeit entwickeln zu können, muss man sich zuerst darüber klar werden, was ihm entgegensteht: Selbstgefälligkeit und falsch verstandenes Dringlichkeitsempfinden.

Was ist unter Selbstgefälligkeit zu verstehen? Wer selbstgefällig ist, schwelgt im Gefühl der Selbstzufriedenheit. Selbstgefälligkeit ist oft mit einer Blindheit gegenüber Gefahren und Problemen und einer Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten gekoppelt. Ich will mich hier vor allem auf zwei Schlüsselbegriffe konzentrieren. Der erste davon ist »Gefühl«. Selbstgefälligkeit ist ein Gefühlszustand, der sich nicht aufgrund eines bewussten Gedankenprozesses einstellt, sondern das Produkt unbewusster Vorgänge auf emotionaler Ebene ist. Es wird sich noch zeigen, dass diese Unterscheidung ungemein wichtig ist, denn im Allgemeinen herrscht die Ansicht, Selbstgefälligkeit löse sich in Luft auf, wenn man sie mit den »harten Fakten« konfrontiere. Der zweite Schlüsselbegriff ist »Selbst«. Wie das Wort schon impliziert, beschreibt Selbstgefälligkeit den Gefallen an der eigenen Person und den eigenen Fähigkeiten. Es ist ein Gefühl, das den Menschen auf unbewusster emotionaler

Selbstgefälligkeit und falsch verstandenes Dringlichkeitsempfinden

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Selbstgefälligkeit Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gibt es sie auch in Ihrem Umfeld.

Wie entsteht Selbstgefälligkeit? Selbstgefälligkeit ist fast immer das Produkt tatsächlicher oder eingebildeter Erfolge. Sie kann sich sehr hartnäckig halten, auch wenn die erfolgreichen Zeiten schon längst vorüber sind, denn das Schwelgen in Selbstgefälligkeit verhindert oft eine objektive Einschätzung der Lage.

Wie denkt ein selbstgefälliger Mensch? Dass er selbstgefällig ist, denkt er sich jedenfalls nicht. Typische Gedankengänge sind: »Ich tue das Richtige.« Oder: »Es ist nicht immer einfach, aber ich weiß, was ich wie zu tun habe, und da lasse ich mir von niemandem hineinreden! Wenn es Schwierigkeiten gibt, ist es nicht meine Schuld, sondern die eines anderen (die andere Abteilung, der Chef oder ein Mitbewerber, der sich nicht an die Spielregeln hält).«

Was empfindet ein selbstgefälliger Mensch? Tief in seinem Inneren empfindet er Zufriedenheit mit der gegebenen Situation. Vielleicht klammert er sich nur deshalb an das gewohnte und bekannte Prozedere, weil er eine – oft unbegründete – Angst vor den Konsequenzen des Wandels für seine Person empfindet.

Wie verhält sich ein selbstgefälliger Mensch? Auffällig ist, dass er sich meist ganz anders verhält, als seine Worte vermuten lassen (obwohl auch seine Worte ihn schon oft als selbstgefällig enttarnen). Ihm fehlt es an der nötigen Aufmerksamkeit, um sich bietende Chancen und lauernde Gefahren für das Unternehmen erkennen zu können. Externe Ereignisse interessieren ihn weitaus weniger als betriebsinterne Vorgänge. (Fortsetzung nächste Seite)

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Er arbeitet langsam und gemächlich, selbst wenn der Erfolg nur durch Reaktionsschnelligkeit gesichert werden kann. Ein selbstgefälliger Mensch ist ein Gewohnheitstier und zeichnet sich so gut wie nie durch Eigeninitiative und Innovationsfreude aus.

Sind bestimmte Menschen besonders anfällig für Selbstgefälligkeit? Nein. Jeder – der Fabrikarbeiter, Sie, ich, Ihr Vorgesetzter – kann ihr zum Opfer fallen.

Ebene dazu veranlasst, etwas zu tun oder zu unterlassen, und so sein Verhalten bestimmt. Auch dieser Punkt ist ungemein wichtig, denn er erklärt, weshalb selbstgefällige Menschen zwar durchaus in der Lage sind, ein Problem zu erkennen, aber kaum den Schluss ziehen, dass dieses Problem eine Änderung ihrer Verhaltensweise erfordert. So gut wie nie empfinden sich selbstgefällige Menschen als solche, ganz im Gegenteil: Sie glauben, sich den Umständen entsprechend absolut vernünftig zu verhalten. Sie verfechten ihren Standpunkt mit unglaublicher Vehemenz und kontern bisweilen mit völlig unhaltbaren Argumenten. Konfrontiert man sie mit den »harten Fakten« einer Gefahr oder Chance, rattern sie ihre eigenen, höchst selektiven Gegenargumente herunter und halten den anderen für jemanden, der sich völlig unnötig Sorgen macht. Selbstgefällige Menschen als solche zu identifizieren ist manchmal ziemlich schwierig, denn auf den ersten Blick scheinen sie vernünftig, umsichtig und klug zu sein. Und was noch schlimmer ist: Sie halten sich selbst für vernünftig, umsichtig und klug. Fast jeder, dem Sie sagen, Sie hielten ihn für selbstgefällig, wird das abstreiten, weil er davon überzeugt ist, Sie irren sich. Meistens ist er beleidigt (und zwar so richtig) oder fragt sich, was Sie eigentlich wirklich im Schilde führen. Selbst bei gravierenden Problemen,

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die sich nicht mehr so einfach abstreiten lassen, reagiert ein selbstgefälliger Mensch eher empört und entgegnet so etwas wie »So schlau bin ich auch, um zu sehen, dass es Schwierigkeiten gibt.« Bohrt man etwas weiter nach, zeigt sich üblicherweise, dass der Selbstgefällige der Ansicht ist, nicht er, sondern die anderen würden die Schwierigkeiten ignorieren, und alle Probleme ließen sich lösen, wenn doch nur die anderen endlich etwas ändern würden. Selbst hoch intelligente Menschen können trotz dringend notwendiger Veränderungen erstaunlich gut in Selbstgefälligkeit schwelgen. Gründe dafür gibt es zahlreiche, allen voran die vermeintliche Sicherheit früherer Erfolge. Das bequeme finanzielle Polster ist vielleicht über viele Jahre gewachsen, und als ein vom Erfolg verwöhntes Unternehmen konnte man schon immer jeder Gefahr von außen trotzen – bis jetzt. Es bestand keine Notwendigkeit, den Blick nach außen zu richten, weshalb man sich ganz auf sich selbst konzentrieren konnte, um das immer weiter wachsende Unternehmen zu managen. Auch der für den Wettbewerb so wichtige Kampfgeist kann sich sehr leicht nach innen richten und sich in der betriebsinternen Bürokratie austoben. Probleme und Chancen, die sich in der Außenwelt entwickeln, werden überhaupt nicht mehr oder nur schemenhaft erkannt. Selbstgefälligkeit breitet sich aus, wodurch das sowieso schon schwindende Interesse an externen Entwicklungen noch geringer, der Wirklichkeit noch weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird und das Maß an Selbstgefälligkeit immer weiter steigt.

Was ist unter einem falsch verstandenen Dringlichkeitsempfinden zu verstehen? Zunächst einmal hat es absolut nichts mit Selbstgefälligkeit zu tun. Während selbstgefällige Menschen einfach nur alles so bei-

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behalten möchten, wie es gerade ist, sind von falsch verstandenem Dringlichkeitsgespür getriebene Menschen überaus aktiv. Während der Selbstgefälligkeit eine gewisse Apathie innewohnt, zeichnet sich falsch verstandenes Dringlichkeitsgefühl durch ein hohes Energiepotenzial aus. Während der Selbstgefälligkeit das Gefühl zugrunde liegt, alles wäre in bester Ordnung, liegen dem falsch verstandenen Gespür für Dringlichkeit Angst und Wut zugrunde. Und weil Angst und Wut Energien freisetzen, vermitteln sie den trügerischen Eindruck eines echten Dringlichkeitsempfindens, denn die der Angst und Wut innewohnende Kraft äußert sich in emsiger Betriebsamkeit. Diese führt jedoch selten zu produktiven, sondern in den meisten Fällen zu destruktiven Ergebnissen. Menschen, die sich maßlos über ihren Vorgesetzten, über Gewerkschaftsforderungen oder die Marketingabteilung ärgern, vergeuden ihre Zeit damit, nach dem betrieblichen Äquivalent geeigneter Schusswaffen zu suchen. Sie verschwenden Stunden darauf, eine PowerPoint-Präsentation zu erstellen, mit der sich eine gute Idee einer anderen Abteilung gezielt abschießen lässt. Sie bekriegen Gewerkschaftsvertreter auch dann noch, wenn diese ein Friedensangebot unterbreiten. Sie leisten passiven Widerstand, um Projekte zu Fall zu bringen (nach dem Motto »Ach, ich wusste ja gar nicht, dass ich das heute hätte erledigen sollen!«), und gehen bei Konflikten sofort in die Offensive (zum Beispiel durch lautstarkes Gebaren), was vernünftige, sachliche Diskussionen unmöglich macht. All diese Verhaltensweisen kosten viel Energie, tragen aber absolut nichts dazu bei, dass Chancen besser ergriffen und Gefahren geschickter vermieden werden können.

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Falsch verstandenes Dringlichkeitsempfinden Auch davon gibt es in Ihrem Umfeld sicherlich genug. Wie entsteht ein falsch verstandenes Dringlichkeitsempfinden? Es ist fast immer ein Produkt eines Misserfolgs oder eines unerträglichen Drucks, unter dem ein Team oder eine Arbeitsgruppe leidet. Wie denkt ein Mensch, der aus dem falsch verstandenen Gefühl für Dringlichkeit heraus handelt? Dass alles in Ordnung ist, denkt er sich jedenfalls nicht. Typische Gedankengänge sind: »Die Situation ist verfahren, die Zustände sind chaotisch!« oder: »Mein Chef verlangt von mir, das Unmögliche möglich zu machen.« Was empfindet ein Mensch, der aus dem falsch verstandenen Gefühl für Dringlichkeit heraus handelt? In der Regel Angst, Wut, Frustration und Erschöpfung. Wie verhält sich ein Mensch, der aus dem falsch verstandenen Gefühl für Dringlichkeit heraus handelt? Auf den ersten Blick so, als würde er echte Dringlichkeit empfinden, weshalb die Verwechslungsgefahr enorm groß ist. Auf den zweiten Blick aber kommt bei all seiner Betriebsamkeit kaum etwas Produktives zustande. Seine Aktivitäten sind hektisch und zielen zumeist darauf ab, sich abzusichern oder andere anzugreifen, wobei die Lösung der eigentlichen Probleme oder das Ergreifen guter Gelegenheiten ins Hintertreffen gerät. Er eilt gehetzt von Termin zu Termin, redet sich den Mund fusselig, sichert sich möglichst nach allen Seiten ab und ist am Ende des Arbeitstages nur noch eins: völlig erschöpft. Sind bestimmte Menschen besonders anfällig für ein falsch verstandenes Dringlichkeitsempfinden? Nein. Jeder – der Fabrikarbeiter, Sie, ich, Ihr Vorgesetzter – kann davon ergriffen werden.

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Ein von Wut gekennzeichnetes Betriebsklima entsteht unter anderem aus gescheiterten Änderungsvorhaben. Die erfolglosen Bemühungen haben die Mitarbeiter bis zu einem Punkt erschöpft, frustriert oder verletzt, an dem sie nur noch mit Wut reagieren, sobald man mit dem Finger auf einen wunden Punkt deutet. Eine weitere Quelle können auch momentane Schwierigkeiten sein, von denen die Mitarbeiter in den wenigsten Fällen annehmen, sie hätten Schuld daran. Gefühle der Angst und Besorgnis unterscheiden sich deutlich vom Schwelgen in Selbstgefälligkeit, führen aber im Endeffekt auch wieder zu vergleichbaren Ergebnissen. Wen die Angst packt, der sorgt sich vor allem um seinen Arbeitsplatz, seine berufliche Zukunft oder den Fortbestand seines Teams. Ängstliche Menschen sind zum einen damit beschäftigt, nach möglichen Bedrohungen Ausschau zu halten, die ihre Position gefährden könnten, und zum anderen mit der Suche nach einem sicheren Versteck. Wer Angst hat und sich versteckt, wird aber nie mit der gebotenen Dringlichkeit auf die realen Chancen und Probleme eines Unternehmens reagieren (können). Angst und Besorgnis haben viele Ursachen, allen voran ist auch hier wieder – wie bei der Wut – der Misserfolg früherer Änderungsvorhaben zu nennen. Mitarbeiter, welche die schmerzliche Erfahrung machen, dass sie zum Wohl der Allgemeinheit immer mehr zurückstecken sollen, ohne dass sich für sie irgendetwas zum Guten verändert, können überaus ängstlich werden. Ihre Erfahrung lehrt sie, sich bei neuen Änderungsinitiativen zu schützen, indem sie alles tun, was ihre Vorgesetzten von ihnen verlangen, selbst wenn es total sinnlos ist – oder am besten die Flucht zu ergreifen. Ebenso wie sich die Selbstgefälligen ihrer Selbstgefälligkeit oft nicht bewusst sind, ist auch den Ängstlichen und Wütenden meist nicht klar, dass sie aus einem falsch verstandenen Gefühl für Dringlichkeit heraus handeln. Es ist schon erstaunlich, wie gut

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manche Leute darin sind, ihre Ängste und Sorgen nicht nur vor anderen, sondern auch vor sich selbst zu verbergen.

Rote Flaggen sind immer zu sehen. Immer. So gut sich Gefühle auch verbergen lassen, zeigt sich doch am Verhalten eines Menschen sehr deutlich, wie es um sein Gefühl für Dringlichkeit bestellt ist. Die Warnsignale, die auf einen Mangel an Dringlichkeit hindeuten, kann man gar nicht übersehen. Die roten Flaggen sind immer vorhanden. Ein Beispiel: Ein Technologieunternehmen hatte sich auf das sogenannte Data Warehousing spezialisiert, das Sammeln von Daten aus unterschiedlichen Quellen, die für spätere Analysezwecke in einer zentralen Datenbank abgelegt werden. Außenstehende waren von dem Unternehmenserfolg schwer beeindruckt, doch intern hatte man schon erkannt, dass die Gewinne und Marktanteile schrumpften. Das Unternehmen hatte seine Vorreiterrolle verloren und konnte nicht länger mit technologischen Durchbrüchen aufwarten, mit denen es sich in der Anwendung aufkommender Nanotechnologien einen Namen gemacht hatte. Erste rote Flagge Anstatt zu sagen: »Dem Problem müssen wir uns umgehend stellen, um wieder auf Erfolgskurs zu kommen und uns für die Zukunft zu positionieren« und den Worten Taten folgen zu lassen, bat das Führungsgremium den Chefstrategen darum, verschiedene Unternehmensberater zu kontaktieren und Angebote einzuholen. Es dauerte vier Monate, bis alle Angebote vorlagen und geprüft waren, und schließlich ein Berater damit beauftragt wurde, die Geschäftstätigkeit unter die Lupe zu nehmen und Änderungsvorschläge auszuarbeiten. Nach weiteren neun Monaten lag der erste Entwurf einer neuen Unternehmensstrategie vor.

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Zweite rote Flagge Mit der Unterstützung seiner engsten Mitarbeiter wählte der Unternehmenschef die geeignetsten Kandidaten für die Arbeitsgruppe aus, die für die Umsetzung der neuen Strategie sorgen sollte, von der man sich versprach, das Ruder herumreißen zu können. Von den zehn Topmanagern des Unternehmens waren gerade einmal zwei in der Arbeitsgruppe. Der Unternehmenschef gehörte nicht dazu. Dritte rote Flagge Es gestaltete sich schwierig, einen Termin für die erste Besprechung festzulegen, da die Mitglieder der Arbeitsgruppe alle sehr beschäftigt waren. Erst vier Wochen, nachdem sie mit ihrer Aufgabe betraut worden waren, kamen sie das erste Mal zusammen. Vierte rote Flagge Vorrangiges Diskussionsthema dieser ersten Besprechung sollte sein, wie sich die neue Unternehmensstrategie am besten umsetzen ließe. Stattdessen drehte sich die Diskussion immer wieder darum, worauf die neue Strategie genau abziele und ob es überhaupt die richtige sei. Niemand schritt ein und sagte: »Wir können es uns nicht erlauben, ständig vom Thema abzuschweifen.« Keiner der Anwesenden gab offen zu: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich alles verstehe, was die Berater hier auf 100 Seiten ausgeführt haben. Bitte erklären Sie mir einige Punkte, sonst werde ich diesem Team keine große Hilfe sein können.« Schon gar nicht wagte jemand zu fragen: »Warum bin ausgerechnet ich für dieses Team ausgewählt worden?« oder: »Tragen die beiden Rivalen um den Chefsessel hier womöglich einen Machtkampf aus?« Den vier Teammitgliedern, die der Ansicht waren, das Unternehmen hätte schon viel früher handeln müssen, das Hinzuziehen externer Berater wäre unklug gewesen und der größte Fehler wäre es, nur zwei Topmanager des Führungsgremiums in das Team zu holen, schien einige Male gleich der Kragen zu platzen. Doch sie beherrschten sich, da sich außer ihnen niemand aufzuregen schien. Vielleicht waren sich die anderen elf Teammitglieder auch einfach nur unsicher, was zu tun war, und taten deshalb lieber gar nichts.

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Fünfte rote Flagge Die einzige Entscheidung, zu der man sich bei diesem ersten Treffen durchrang, war, dass man sich ein zweites Mal treffen musste. Also zückte jeder seinen Terminkalender. Fast jeder, denn einige hatten ihn gar nicht dabei. Nach langwierigem Hin und Her einigte man sich schließlich auf einen Termin in vier Wochen, von dem zwei Teammitglieder schon wussten, dass sie aufgrund anderweitiger Verpflichtungen verhindert wären – aber das verschwiegen sie lieber. Sechste rote Flagge Zwischen dem ersten und zweiten Treffen passierte wenig, außer dass hinter vorgehaltener Hand darüber getratscht wurde, wer wohl aus welchem Grund in die Arbeitsgruppe berufen worden war, und weshalb man ausgerechnet diese Beraterfirma beauftragt hatte. Andere tuschelten darüber, wem man die Verantwortung für die Krise in die Schuhe schieben könnte. Keiner fühlte sich dazu berufen, derartige Gespräche zu unterbinden. In das Klagelied einzustimmen war ja auch viel bequemer. Siebte rote Flagge Bei der zweiten Besprechung wurde beschlossen, eine Untergruppe für die »Kommunikation der Strategie« zu bilden. Die Entscheidung, wer dieser Gruppe angehören sollte, zog sich fast bis zum Ende des Besprechungstermins hin. Kurz vor Schluss wagte ein der Verzweiflung naher »Kommunikationsbeauftragter« die Frage: »Ja, aber was sollen wir denn kommunizieren?« Für die Klärung dieser Frage blieb leider nicht mehr genügend Zeit. Achte rote Flagge Die Gewinnspannen und Marktanteile schrumpften auch sechs Monate nach diesem zweiten Treffen weiter. Hinsichtlich der technologischen Entwicklung waren minimale Verbesserungen erzielt worden, die jedoch kaum ins Gewicht fielen und schon gar nicht den Leistungen der Arbeitsgruppe zu verdanken waren. Der zunehmend frustrierte Unternehmenschef traf sich immer häufiger mit dem Leiter der Arbeitsgruppe, bat einen weiteren Berater um Hilfe und vergeudete viel Zeit damit, sich auf Vorstandssitzungen vorzubereiten, da er seinem Führungsgremium gegenüber

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zunehmend in Erklärungsnot geriet. Als dem Unternehmenschef immer deutlicher anzusehen war, wie unzufrieden er war, wurden eilig noch mehr Unterarbeitsgruppen gebildet, noch mehr Projekte angestoßen, noch mehr Besprechungen abgehalten, noch mehr Berichte verteilt. Der Vertriebsleiter präsentierte dem Führungsgremium satte 60 mit Daten gespickte PowerPoint-Folien, mit denen er überzeugend darlegte, dass einzig und allein die Entwicklungsabteilung für die Schwierigkeiten verantwortlich war. Daraufhin verfiel die gesamte Entwicklungsabteilung in hektische Betriebsamkeit. Allerdings aus Panik und nicht aus dem Wunsch heraus, die Bedürfnisse der Kunden zu verstehen, bessere Produkte zu entwickeln und sich im Wettbewerb erfolgreich durchzusetzen.

Die diesem Szenarium zugrunde liegenden Probleme sind ein Übermaß an Selbstgefälligkeit und fehlgeleitetes statt zielgerichtetes dringliches Handeln. Hätte das Führungsgremium von Anfang an die Dringlichkeit des Problems in vollem Umfang erkannt, hätte es auch Mittel und Wege gefunden, um sich voll und ganz auf den Änderungsprozess und die mit ihm verbundenen Probleme zu konzentrieren. Eine so dringliche Angelegenheit lässt überhaupt keine andere Alternative zu. Niemals wäre man auf die Idee gekommen, die Lösung des Problems externen Beratern zu übertragen und neun Monate auf den Lösungsvorschlag zu warten. Und schon gar nicht wäre man auf die Idee gekommen, ein hundertseitiges Beraterwerk einer 15-köpfigen Arbeitsgruppe auf den Tisch zu knallen, der zu allem Überfluss nur zwei Leute aus der Führungsriege angehörten. Hätten die Mitglieder der Arbeitsgruppe die notwendige Dringlichkeit empfunden, hätten sie sich die Zeit für ihre Besprechungen kurzerhand verschafft. Für eine Angelegenheit oberster Priorität verschiebt man eben andere Termine. Das versteht sich eigentlich von selbst, auch wenn man dadurch einem anderen auf die Füße treten könnte, weil man einen lange vorher vereinbarten Termin doch noch absagen muss.

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Ein echtes Gefühl für die Dringlichkeit dieser Angelegenheit hätte schon bei der ersten Besprechung für die richtige Einschätzung der Lage gesorgt. Jeder Einzelne hätte aufmerksam zugehört und sich eingebracht. Man wäre sich absolut einig gewesen, »dass wir uns in einer absolut inakzeptablen Situation befinden. Seit mindestens einem Jahr steht fest, dass wir sowohl die Produktentwicklung als auch den Verkauf radikal verändern müssen. Diese Angelegenheit duldet keinen Aufschub. Die Zukunft unseres Unternehmens, unsere Arbeitsplätze und unser Selbstverständnis stehen auf dem Spiel. Die neuen Entwicklungen in unserer Branche stellen auch für unsere Mitbewerber eine enorme Herausforderung dar. Wenn wir uns jetzt einen Vorsprung verschaffen, können wir uns sogar noch besser positionieren als früher. Das kann uns allerdings nur gelingen, wenn wir jetzt sofort aktiv werden.« Mit dem richtigen Gespür für Dringlichkeit hätten einige Mitglieder der Arbeitsgruppe schon vor dem ersten Treffen über die Zusammensetzung ihres Teams diskutiert und sich dafür eingesetzt, die richtigen Leute an Bord zu holen. Sie hätten das Problem erkannt und sofort versucht, es zu lösen – ungeachtet der hierarchischen, unternehmenspolitischen oder bürokratischen Hürden. Genauso muss man als dringlich empfundene Angelegenheiten anpacken, daran führt kein Weg vorbei. Mit dem richtigen Gespür für Dringlichkeit hätte niemand Zeit darauf verschwendet, einen Sündenbock ausfindig zu machen. Keiner wäre auf die Idee gekommen, zehn weitere Unterarbeitsgruppen zu bilden, die sich nur gegenseitig in die Quere kommen, unzählige zeitraubende Besprechungstermine erforderlich machen und keine koordinierte Vorgehensweise erkennen lassen. Stattdessen hätte jeder die dringende Notwendigkeit verspürt, die strategischen Empfehlungen der Berater weiter auszufeilen und so schnell wie möglich umzusetzen. Und um sich gleichzeitig auch den regulären Tagesgeschäften widmen zu können – Produktion, Vertrieb und Verkauf –, wären alle unwichtigen Aktivitäten aus

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Haben sich in Ihrem Unternehmen Selbstgefälligkeit und ein falsch verstandenes Dringlichkeitsempfinden ausgebreitet?

Wenn Sie den folgenden Aussagen zustimmen, ist dies sehr wahrscheinlich der Fall.

• Die Lösung schwerwiegender Probleme wird meist Unternehmensberatern oder einer Arbeitsgruppe übertragen, die sich selten aus den Mitarbeitern zusammensetzt, die ihr eigentlich angehören sollten. • Es ist grundsätzlich schwierig und mühselig, Termine für wichtige Besprechungen festzulegen, weil alle immer »wahnsinnig beschäftigt« sind. • Bürokratische und unternehmenspolitische Hürden, die wichtige Projekte blockieren, werden nicht in aller Offenheit diskutiert oder aus dem Weg geräumt. • In Besprechungen, in denen eigentlich Sofortmaßnahmen beschlossen werden sollen, kann man sich lediglich darauf einigen, dass ein neuer Besprechungstermin vereinbart werden muss. • Diskussionen drehen sich meist um interne Angelegenheiten und nicht um Marktereignisse, neue Technologien, Wettbewerber und so weiter. • Über jedes noch so uninteressante Thema wird eine aufwändige PowerPoint-Präsentation erstellt. • Die Mitarbeiter hetzen von einer Besprechung zur nächsten und reiben sich dabei auf. Aus Erschöpfung und Konzentrationsmangel werden Gefahren und Chancen nicht oder nicht rechtzeitig als solche erkannt. • Fundierte Fakten, die auf potenzielle Bedrohungen oder hervorragende Chancen hinweisen, werden üblicherweise mit extrem selektiven Gegenargumenten entkräftet. • Probleme werden grundsätzlich anderen in die Schuhe geschoben. Es sind immer die anderen, die etwas ändern müssen (nie derjenige, der die Sache vermasselt hat).

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• Wichtige Angelegenheiten werden durch passiven Widerstand blockiert. »Ach, das hätte heute erledigt werden müssen? Das wusste ich nicht.« • Es wird viel über frühere Fehlschläge diskutiert, aber nicht, um aus den Fehlern zu lernen, sondern um neue Vorhaben zu kippen oder hinauszuzögern. • Alle schreien laut: »Wir müssen jetzt etwas unternehmen«, und niemand rührt einen Finger. • Wichtige Diskussionen werden auffällig oft durch sarkastische Bemerkungen gestört. • Einzelne Projektaufgaben, die für den Erfolg eines Vorhabens ausschlaggebend sind, werden nicht termingerecht oder nur schlampig ausgeführt.

der Zeitplanung gestrichen worden, um die Aufgaben bewältigen zu können, ohne sich dabei zu verausgaben. In dem eben geschilderten Fall kam ein einst erfolgreiches Unternehmen zu Schaden. Mitarbeiter verloren ihren Arbeitsplatz, Kunden erlitten Verluste, weil vereinbarte Lieferungen nicht erfolgten, Aktionäre büßten im Schnitt 35 Prozent ihres investierten Kapitals ein. Alle irgendwie an dem Unternehmen Beteiligten standen auf der Verliererseite. Auf der Gewinnerseite stand einzig und allein der schärfste Konkurrent – zumindest eine Zeit lang. Dank der starken Marke, der Größenvorteile und nicht zuletzt dank ausgezeichneter Mitarbeiter gelang es dem Unternehmen, letztendlich wieder Fuß zu fassen. Bis es so weit war, mussten jedoch enorme hausgemachte und somit überflüssige Schwierigkeiten überwunden werden. Die herben Verluste der Aktionäre, Mitarbeiter und Unternehmenskunden hätten vermieden werden können und müssen. Warnhinweise gab es mehr als genug. Wie konnten sie nur übersehen werden? Zum einen, weil unterschätzt wurde, wie wichtig es ist, die Dringlichkeit einer Sache zu erken-

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nen, und zum anderen, weil nicht wahrgenommen wurde, in welchem Ausmaß sich Selbstgefälligkeit breitgemacht hatte. Man schenkte weder dem einen noch dem anderen Problem besondere Aufmerksamkeit, weil niemandem so recht klar war, worauf man achten musste. Einige Führungskräfte erkannten zwar die ersten Anzeichen der drohenden Gefahr, wussten aber nicht, wie sie sich abwenden ließ, oder ergriffen ungeeignete Gegenmaßnahmen. Andere ließen sich von der hektischen Betriebsamkeit vorgaukeln, anstelle der Selbstgefälligkeit wäre nun endlich ein echtes Gefühl für die Dringlichkeit getreten. Alles Mängel und Fehleinschätzungen, die sich korrigieren lassen. Und angesichts des allgegenwärtigen Wandels in unserer heutigen Zeit wird diese Korrektur immer dringlicher fällig.

Anderen die Augen für das Problem öffnen Für das nächste Fallbeispiel müssen wir nicht einmal die Branche wechseln. Es wird Ihnen zeigen, dass die Korrektur der eben erwähnten Mängel sowie die Lösung des Problems nicht ausschließlich Chefsache sind. Die Firma, in der die 27-jährige Caroline Ortega arbeitet – übrigens erst der zweite Arbeitgeber, für den sie nach ihrem Studium tätig wurde –, ist ein vergleichsweise kleines Data Warehouse, dem der Änderungsprozess nichtsdestotrotz ebenso große Schwierigkeiten bereitete wie dem großen Unternehmen. Die gleich zu Beginn des Projekts begangenen Fehler waren nahezu identisch, allen voran das Versäumnis, dem Management und der Belegschaft die Dringlichkeit des Vorhabens zu vermitteln. Unter Carolines Kollegen herrschte keine gute Stimmung. Zur Selbstgefälligkeit gesellte sich Frustration, was dazu führte, dass bei jeder auftauchenden Schwierigkeit nach einem Sündenbock

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aus einer anderen Abteilung oder dem Management gesucht wurde. Über die Arbeitsgruppe, die sich aus »hohen Tieren« zusammensetzte, wusste niemand etwas Genaues, außer, dass sie offensichtlich nichts zustande brachte. Wohin Caroline auch blickte, überall flatterten rote Flaggen. Beunruhigt beschloss sie, sich bei befreundeten Kollegen über die Führungsriege der Firma zu informieren. Sie erfuhr, dass der Verwaltungschef (dem die Personalabteilung, die Rechtsabteilung und die Gebäudeverwaltung unterstanden) bei allen den Ruf genoss, ein aufgeschlossener, zugänglicher Mensch ohne Standesdünkel und enger Vertrauter des Firmenchefs zu sein. Also rief Caroline im Büro des Verwaltungschefs an und bat um einen Gesprächstermin, der ihr nach anfänglichen Schwierigkeiten dann auch gewährt wurde. Ursprünglich waren 30 Minuten vorgesehen, doch letztlich unterhielten sich beide eine gute Stunde. Während der nächsten drei Wochen plauderte der Verwaltungschef mit verschiedenen Mitarbeitern aus Carolines Umfeld am Mittagstisch über dieses und jenes. Immer häufiger tauchte er in den diversen Abteilungen und Büros der Firmenzentrale auf, um sich umzusehen und umzuhören. Er führte intensive Gespräche mit vier Führungskräften der mittleren Managementebene, die er nun schon seit 27 Jahren kannte. Er ließ sich die aktuellsten Berichte über die für den US-amerikanischen Markt geplanten Marketingkampagnen, Produktentwicklungsprojekte und Qualitätsverbesserungsprogramme zuschicken. In Anbetracht der komplizierten Technik kein einfacher Lesestoff. Dann verschob er die geplante Geschäftsreise nach Europa und verabredete sich mit dem Firmenchef zu einem ausgedehnten Abendessen, um Klartext zu reden. In den darauffolgenden vier Wochen hatte der Firmenchef seinerseits viele Verabredungen zum Mittagessen, sah sich in seinem Betrieb um und ließ sich Berichte zuschicken, die im Normalfall nie auf seinem Schreibtisch landeten. Nachdem sein Blick für das

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Ausmaß der in seinem Betrieb herrschenden Selbstgefälligkeit erst einmal geschärft worden war, fiel ihm plötzlich auch auf, dass in der Firmenzeitung nur nette Belanglosigkeiten berichtet wurden. Nach Informationen über die Kunden, den Markt oder gar über die Herausforderungen, die es zu bewältigen gab, suchte er vergebens. So konnte es nicht weitergehen. Wild entschlossen, Abhilfe zu schaffen, stellte er die Arbeitsgruppe neu zusammen, änderte die Tagesordnung für die Jahreskonferenz des Managements und schlug einen anderen Ton im Umgang mit seinen Mitarbeitern an. Er bat auch die anderen Vorstandsmitglieder darum, mit offenen Augen und Ohren durch das Unternehmen zu gehen, um sich selbst von der herrschenden Stimmung überzeugen zu können. Dabei fiel ihm auch das erste Mal auf, wie vehement sogar einige der Topmanager den Status quo verteidigten und Diskussionen über dringend erforderliche Veränderungsmaßnahmen unterbanden. Als dem Firmenchef bewusst wurde, wie stark dadurch jegliche aufkeimende Dringlichkeit in der Führungsriege unterdrückt wurde, ging er das Problem mit einer für ihn untypischen Entschlossenheit und Geschwindigkeit an (und sein Stellvertreter verabschiedete sich in den Vorruhestand). Die Moral dieser langen Geschichte: Das Einschreiten des Verwaltungschefs und des Firmenchefs – und noch einiger anderer – brachte den Stein ins Rollen, und nachdem der Anfang gemacht war, entwickelte sich unter den Mitarbeitern erstaunlich schnell ein echtes Gefühl für die Dringlichkeit der Änderungsinitiativen. Über einen Zeitraum von zwei Jahren wurden viele Änderungen hinsichtlich der Produktentwicklung, der Herstellung, des Vertriebs und der Wartung (bei der es weitaus gravierendere Probleme gab, als dem Firmenchef jemals in den Sinn gekommen war) umgesetzt. Das Ergebnis: Die Gewinnspannen stiegen, die Marktführerposition wurde zurückerobert, fast alle Arbeitsplätze blieben erhalten und der Aktienkurs brach entgegen der Prognose einiger Analysten nicht ein.

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Viele Menschen – vor allem der Verwaltungschef und der Firmenchef – haben dazu beigetragen, dass diese Geschichte ein glückliches Ende nahm. Den wichtigsten Beitrag aber lieferte zweifellos Caroline, die trotz ihrer relativen Unerfahrenheit im Berufsleben vorbildliche Eigeninitiative und beträchtliche Führungsqualitäten bewies. Ein Beitrag, der von dem Mann, der diese Firma leitete, auch gebührend honoriert wurde. Es ist oft nur ein einzelner Mensch, der den ersten Schritt unternimmt, um das Problem übermäßiger Selbstgefälligkeit zu lösen. Vielleicht ist es der Unternehmenschef, vielleicht aber auch jemand wie Caroline. Wichtig ist nur, dass dieser Mensch die wahre Natur der Selbstgefälligkeit erkennt, ein falsch verstandenes von einem echten Dringlichkeitsempfinden unterscheiden kann und bereit ist, etwas dagegen zu unternehmen. Und von diesen Menschen brauchen wir dringend ganz viele.

Kapitel 3

Echte Dringlichkeit vermitteln: Eine Strategie, vier Taktiken

Der sogenannte Business-Case gewann in der Geschäftswelt in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung. Typischerweise dient dieses Werkzeug dazu, anhand von Fakten und Kennzahlen, betriebswirtschaftlichen Untersuchungen und qualitativer Logik zu demonstrieren, welchen Stellenwert eine Angelegenheit einnimmt und welche Vorgehensweise am sinnvollsten ist. Wer einen Business-Case vorlegt, versucht damit auch, die Selbstgefälligkeit zu erschüttern – egal, ob explizit beabsichtigt oder nicht –, denn die grundsätzliche Botschaft eines BusinessCase lautet: »Wir sind auf dem besten Weg, unsere Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel zu setzen. Es gelten mittlerweile andere Maßstäbe in unserer Branche, und hier ist der Beweis. Schaut euch die Fakten an, Leute! Wir müssen etwas unternehmen!« Manchmal stellt ein Business-Case auch den Versuch dar, die von einem falsch verstandenen Dringlichkeitsempfinden ausgelöste hektische Betriebsamkeit in produktive Bahnen zu lenken, indem die Botschaft vermittelt wird: »Es stimmt, wir stecken in der Klemme. Doch wir können uns nur aus dieser misslichen Lage befreien, wenn wir uns auf dieses oder jenes konkrete Ziel konzentrieren. Hier steht klipp und klar, was die einzig logische und richtige Vorgehensweise ist.« Eine ausführliche Untersuchung von Business-Cases ist unserem Zwecke höchst dienlich, da aus ihr hervorgeht, mit welcher Strategie sich das Gespür für Dringlichkeit am besten we-

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cken und sich somit auch der Unternehmenserfolg nachhaltig sichern lässt. Diese Untersuchung ist auch deshalb unerlässlich, weil Business-Cases als eigentlich hervorragend geeignete Mittel gegen Selbstgefälligkeit, Angst und Wut weitaus häufiger kläglich versagen, als man vermuten könnte.

Wie und warum ein Business-Case scheitern kann Der neue Leiter der IT-Abteilung war ein kluger, höchst qualifizierter Mann, der an einer Eliteuniversität studiert hatte. Schnell wurde ihm klar, dass das veraltete IT-System seines Arbeitgebers unbedingt überholt werden musste. Für den Vertrieb, die Betriebsführung, das Berichtswesen der Finanzabteilung und das computergestützte Lernen waren mittlerweile wesentlich leistungsfähigere Software, preisgünstigere und schnellere Server sowie bessere Firewalls auf dem Markt. Seiner Ansicht nach stellte das veraltete System schon jetzt ein echtes Problem dar, in spätestens zwei bis drei Jahren aber würde man damit überhaupt nicht mehr arbeiten können. Dem IT-Leiter war klar, dass die Firmenleitung das IT-Problem entweder nicht erkennen oder zumindest stark unterschätzen würde. Wenn man das Projekt angesichts der zu erwartenden Kopfschmerzen, die jede größere Systemumstellung früher oder später mit Sicherheit bereitete, überhaupt genehmigen würde, bekäme er ganz sicher nicht die dafür erforderlichen Ressourcen in vollem Umfang genehmigt. Als ihn der CEO darum bat, einen Business-Case auszuarbeiten, anhand dessen der Vorstand darüber entscheiden konnte, schöpfte er Hoffnung, sein Projekt doch verwirklichen zu können. Mit der Unterstützung seiner drei engsten Mitarbeiter und eines renommierten Beratungsunternehmens verfasste der IT-Lei-

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ter ein umfangreiches, sehr ausführliches Dokument, in dem er genau erklärte, weshalb die veralteten Hardware- und Softwaresysteme bald nicht mehr tragbar wären. Er stellte verschiedene Vorgehensweisen mitsamt ihrer jeweiligen Kosten- und Nutzenanalyse vor und arbeitete eine sehr gut durchdachte Empfehlung aus. Sein Dokument sollte die Skeptiker davon überzeugen, dass die kostspielige Systemumstellung dringend erforderlich war. Gleichzeitig sollte es den Ängstlichen vor Augen halten, dass geeignete Systeme verfügbar waren und in der Implementierungsphase nur mit minimalen Unterbrechungen gerechnet werden musste. Der in seiner Endfassung knapp 150 Seiten lange BusinessCase enthielt die genaue Zustandsbeschreibung und einen Vergleich der eigenen Systeme mit denen der Mitbewerber und den besten Praktiken anderer Branchen. Die Chancen, welche die Systemumstellung hinsichtlich Marktposition und Rentabilität in sich barg, wurden beurteilt und, wann immer möglich, beziffert. Auch die Risiken, mit denen gerechnet werden musste, sollte die Systemumstellung nicht erfolgen oder auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden, wurden unter Betonung der geschätzten finanziellen Verluste beurteilt. Dem folgten eine detaillierte Aufstellung der Hard- und Software, der Hersteller und der Preise, eine ausführliche Investitionsanalyse, ein ebenfalls ausführlicher und in Zeitabschnitte unterteilter Implementierungsplan und Erläuterungen, wie sich welche möglichen Ausfälle und Störungen während der Umstellungsphase minimieren ließen. Während der darauffolgenden drei Monate war der BusinessCase Thema mehrerer Vorstandssitzungen. Natürlich gab es dazu jede Menge Fragen, doch in dem sorgfältig ausgearbeiteten Bericht waren fast alle Antworten zu finden. Als man sich auf eine leicht geänderte Fassung des ursprünglichen Plans einigen konnte,

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gab der CEO grünes Licht. Die Systemumstellung konnte in Angriff genommen werden. In sechs Sitzungen stellte der IT-Leiter allen Führungskräften der sechs Geschäftsbereiche seinen Business-Case vor. Sein Vortrag bestand aus einer PowerPoint-Präsentation mit Dutzenden von Folien und einer anschließenden Frage-und-Antwort-Runde. Obwohl viele Bedenken geäußert wurden, die sich vor allem auf Ausfälle und Störungen während der Umstellungsphase bezogen, schienen die meisten Führungskräfte – wenn auch nur zögerlich – einzusehen, dass die Umstellung unumgänglich war. Als der CEO der Ansicht war, die Initiative hätte genügend Befürworter gewonnen, gab er den Startschuss für die praktische Umsetzung des Plans. Als zwölf Monate später die für Systemumstellungen typischen und eigentlich kaum vermeidbaren Probleme auftraten – die im Business-Case ja schon größtenteils beschrieben worden waren –, nahm die Kritik an dem Großprojekt zu und die Kooperationsbereitschaft ab. Genau in der Situation, in der man mit vereinten Kräften vorgehen muss, um sich ausweitende Probleme zu lösen, wurde dem Projekt die breite Unterstützung entzogen. Als Folge wurden wichtige Meilensteine und Zwischenziele immer häufiger nicht erreicht, und die tatsächlichen Kosten überstiegen das geplante Budget schon jetzt. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit stellte der frustrierte IT-Leiter heraus, dass die dem Business-Case zugrunde liegenden Argumente nach wie vor galten: Das alte ITSystem stellte in vielerlei Hinsicht einen immensen Wettbewerbsnachteil dar, die Investitionserträge der Mitbewerber lagen weit über dem eigenen und so weiter. Es half nichts, er bekam immer weniger Rückendeckung. Letztendlich wurde die Systemumstellung doch noch abgeschlossen. Mit einem Jahr Verspätung, einer Budgetüberschreitung um 40 Prozent und einer Verbesserung der Systemkapazitäten um lediglich 70 anstatt der erwarteten 100 Prozent. Der IT-Leiter wechselte daraufhin zu einer anderen Firma.

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Im obigen Beispiel habe ich bewusst auf Einzelheiten wie Branche, Unternehmensgröße, Anzahl der Zweigstellen und deren Standorte verzichtet, denn im Wesentlichen spielt sich eine Geschichte wie diese in jeder Branche, in jedem Land und in jeder Regierungsinstitution nach demselben Grundmuster ab. Und deshalb können auch aus jeder x-beliebigen derartigen Geschichte dieselben wichtigen Lektionen gelernt werden. Zweifellos spielte der Business-Case eine wichtige Rolle, um die IT-Initiative überhaupt ins Rollen zu bringen. Außer den ITExperten kannte sich kaum jemand so gut mit der Hard- und Software aus, um sagen zu können, welche Möglichkeiten überhaupt bestanden und mit welchen Risiken gerechnet werden musste, wenn das alte System beibehalten wurde. Wie auch? Die anderen Manager hatten zu viele andere Verpflichtungen. Dass immer mehr finanzielle Mittel angefordert wurden, als die Budgets vorsahen, war an der Tagesordnung, weshalb die Bereitschaft, hohe Summen in die IT-Aufrüstung zu investieren, von Anfang an recht gering war. Einigen Führungskräften war durchaus klar, wie veraltet und unproduktiv das vorhandene Rechnersystem war, doch sie waren sich nicht sicher, wie das Problem gelöst werden konnte. Dann wurde der sorgfältig ausgearbeitete, umfangreiche und mit Zahlen untermauerte Business-Case vorgelegt, den die Mehrheit der Manager für sinnvoll hielt. Und selbst wenn sie vielleicht nicht hundertprozentig von dieser Analyse überzeugt waren, empfanden sie es doch als sehr beruhigend, dass es jemand auf sich genommen hatte, seine Hausaufgaben zu erledigen. In der IT-Abteilung hielt nicht jeder Mitarbeiter die empfohlene Lösung in technischer Hinsicht für optimal, doch keiner konnte mit einer gleichermaßen gründlich recherchierten Alternativlösung aufwarten. Ähnlich verhielt es sich mit den Managern, die angesichts des Projektumfangs und der möglichen Ausfälle und Störungen die größten Bedenken hatten, aber weder über die Fachkenntnisse noch über die Zeit verfügten, einen

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praktikablen Gegenvorschlag auszuarbeiten. Im Großen und Ganzen schien das Vorhaben auf ausreichend Akzeptanz und Zustimmung zu stoßen, um sich an die Umsetzung wagen zu können. Aber: Das Vorhaben wurde fast ausschließlich auf intellektueller Ebene akzeptiert. Jeder vernünftig denkende Mensch konnte sehen, dass die Zahlen stimmten, die Rechnung aufging, die Argumente logisch klangen, die Investitionsanalyse unter den gegebenen Bedingungen nicht hätte besser ausfallen können. Wer sich über mögliche Systemausfälle und Störungen Sorgen machte, konnte nachlesen, womit gerechnet werden musste, und Lösungsvorschläge waren ja auch schon da – ob gut oder schlecht, würde sich erst im Ernstfall zeigen. Und diejenigen, die über die Höhe der Ausgaben erschraken oder gewaltige Implementierungsprobleme auf sich zukommen sahen, erfuhren aus dem BusinessCase, dass die Alternative – nichts oder zu wenig zu verändern – noch riskanter war. Und so bestand die Zustimmung aus einem rein intellektuellen »Also gut. Wenn es denn sein muss, bin ich wohl dafür, aber eigentlich habe ich ja keine andere Wahl.« Das Problem in derartigen Fällen ist nicht, dass der BusinessCase auf wackeligen Beinen steht, nicht durchdacht ist oder dass nicht genügend Fakten präsentiert werden, sondern dass nur der Verstand, nicht aber das Herz angesprochen wird.

Herzen für sich gewinnen Die für den Erfolg entscheidende kompromisslose Handlungsbereitschaft ist nicht nur das Produkt rationaler Überlegungen wie: »Es ist nur logisch und versteht sich somit von selbst, dass wir auf diese Chance oder Bedrohung (zum Beispiel aufgrund eines veralteten IT-Systems) sofort reagieren.« Aufrichtig empfundene

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Dringlichkeit entsteht immer auch auf der emotionalen Ebene: aus dem festen Willen, sich für den Sieg einzusetzen, und zwar jetzt! Wenn es darum geht, Mitarbeiter zu einer Änderung ihrer Verhaltensweisen zu motivieren – sich konzentriert, schnell und zielgerichtet den wirklich wichtigen Angelegenheiten zu widmen; erforderliche Initiativen unbeirrbar ins Rollen zu bringen oder die anderer Teams und Abteilungen zu unterstützen; sich dafür stark zu machen, dass ehrgeizige Ziele trotz aller Hürden erreicht werden können; zu versuchen, jeden Tag einen Schritt voranzukommen und dabei alles Unwichtige von der Aufgabenliste zu streichen, um sich die Zeit zu verschaffen, das Wichtige zu erledigen –, bewirken emotionale Argumente weitaus mehr als Appelle an die Vernunft. Zu dieser Schlussfolgerung kam auch ich erst im Zuge meiner Recherchen für Heart of Change, denn der Rolle der Emotionen wird weder in Lehrbüchern noch in der Managementpraxis besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Eine Redensart besagt, dass ein guter Anführer immer Herz und Verstand seiner Gefolgsleute für sich gewinnt. Das Interessante daran ist, dass eben nicht von dem Verstand alleine die Rede ist, und bezeichnend ist, dass das Herz vor dem Verstand genannt wird. Auch das für selbstgefällige Menschen typische Klammern an alte Gewohnheiten oder die unproduktive Hektik derjenigen, die aus einem falsch verstandenen Gefühl für Dringlichkeit heraus handeln, sind Verhaltensweisen, die wenig mit Logik, dafür umso mehr mit Emotionen zu tun haben. Wird aber eine Aufgabe zur Herzensangelegenheit, steigen das Gespür für Dringlichkeit und der Energiepegel ganz von alleine. Ich will damit jedoch nicht behaupten, bewusste Gedankenprozesse spielten überhaupt keine Rolle. Wer denkt, das, was er tut, sei doch sowieso das einzig Richtige, schwelgt nur noch mehr in Selbstgefälligkeit und klammert sich noch hartnäckiger an alte Gewohnheiten. Wer denkt, die Situation sei völlig verfahren, gerät nur noch mehr in unpro-

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duktive Hektik. Wer denkt, er sei von großartigen Chancen und gefährlichen Risiken umgeben, empfindet nur noch mehr echte Dringlichkeit. Bewusste Gedanken stärken unbewusste Emotionen wie Zufriedenheit mit dem Status quo, Wut, Angst oder zielstrebige Entschlossenheit, und diese wiederum üben beträchtlichen Einfluss auf die Verhaltensweisen aus. Die Richtigkeit dieser Behauptung lässt sich anhand vieler geschichtlicher Beispiele belegen. Es wäre Martin Luther King jr. sicherlich nicht gelungen, den Zorn der afroamerikanischen Bevölkerung zu besänftigen und die teils selbstgefälligen, teils besorgten weißen Amerikaner gleichermaßen mitzureißen, wenn er seine berühmte Rede in Washington mit den Worten eröffnet hätte: »Ich habe einen strategischen Plan.« Vernünftige Argumente für umwälzende Veränderungen gab es zuhauf, und viele seiner Zeitgenossen hatten sie wieder und wieder ins Feld geführt: Die Rassentrennung widersprach vielen der von Amerika so geschätzten Werten, und aus Widersprüchen entsteht selten etwas Gutes. Die Ausgrenzung der afroamerikanischen Arbeitskräfte schädigte die US-amerikanische Wirtschaft, die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen schwarzen und weißen Amerikanern kosteten Menschenleben und Geld, und der unchristliche Umgang mit den afroamerikanischen Mitbürgern rüttelte am Fundament des christlichen Glaubens, auf dem die amerikanische Nation aufgebaut worden war. King streifte diese Argumente in seiner Rede zwar auch, zielte mit seinen klugen, poetischen und leidenschaftlichen Worten über Moral und Gerechtigkeit aber mitten ins Herz seiner Zuhörer. Er traf so exakt ins Schwarze, dass sich Zorn, Angst und Selbstgefälligkeit in die Entschlossenheit verwandelten, endlich etwas zu bewegen. Endlich das Richtige zu tun, und zwar sofort. Mit seiner Rede erreichte er Millionen von Menschen, die entweder live dabei waren oder der Ansprache über Funk und Fernsehen lauschten. Das Gefühl für Dringlichkeit stieg in ungeahnte Dimensionen an und

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ließ den Worten Taten folgen. Was noch ein Jahr davor als undenkbar galt, geschah: Das Gesetz zur Aufhebung der Rassentrennung wurde verabschiedet. Wichtig ist, selbst mit Herz und Verstand ans Werk zu gehen, um auch Herz und Verstand Ihrer Mitstreiter zu gewinnen. Die prinzipielle Schwierigkeit ist, die auf den Verstand abzielenden rationalen Argumente eines Business-Case als emotionale Erfahrung zu vermitteln, die das Herz überzeugt. Dazu ist es erforderlich, fundierte, ehrgeizige und logisch nachvollziehbare Zielsetzungen so zu präsentieren, dass sie von anderen als aufregende, Mut machende und trotz aller Schwierigkeiten erreichbare Ziele empfunden werden. So lässt sich der aufrichtige Wunsch wecken, den Weg mit aller Entschlossenheit zu verfolgen und jetzt damit zu beginnen, den großen Plan zu verwirklichen. Business-Cases mit emotionaler Tiefenwirkung zeichnen sich durch fünf Besonderheiten aus. Erstens, sie vermitteln Erfahrungen. Die in dem Dokument mit dem Namen »Business-Case« schriftlich aufgeführten Fakten, abstrakten Vorstellungen und Datenanalysen tragen natürlich ihren Teil zum erwünschten Sinneswandel bei, doch wie schnell und radikal sich dieser vollzieht, hängt von verschiedenen Faktoren ab, mit denen die Inhalte emotional erfahrbar gemacht werden und die von Fall zu Fall variieren können: In welchem Stil sollte das Dokument geschrieben sein? Umfasst es viele oder wenige Seiten, beinhaltet es Bilder und anschauliche Grafiken – vielleicht in Farbe, um sie ansprechender und verständlicher zu gestalten? Wird der Business-Case schriftlich präsentiert? Oder mündlich, wobei die Gelegenheit besteht, gleich im Anschluss Fragen zu klären? Wird das Dokument nur vom Topmanagement oder der gesamten Belegschaft gelesen? Soll es gleich morgens oder erst kurz vor Feierabend verteilt werden? Wer stellt den Business-Case in welchem Rahmen vor? Der CEO auf der Jahreskonferenz des Managements oder ein Fachgruppenleiter bei der

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wöchentlichen Mitarbeiterversammlung? Mit welchen nonverbalen Botschaften – mit freundlichem Lächeln, mit Stirnrunzeln oder leidenschaftlicher Begeisterung – soll der Business-Case untermauert werden? Diese und viele andere Faktoren entscheiden darüber, ob ein Business-Case auf emotionaler Ebene überzeugt. Schlecht vorgebracht, kann selbst der brillanteste Business-Case auf Desinteresse stoßen, Misstrauen wecken, Ärger schüren oder Spott ernten. Nichts davon ist dazu geeignet, das Gefühl für Dringlichkeit zu vermitteln, um sich als Team, als Unternehmen oder als Nation auf der Gewinnerseite positionieren zu können. Zweitens, sie sprechen die Sinne an, um die Dringlichkeit erfahrbar zu machen. Mitarbeiter haben ja nicht nur Ohren, sondern auch Augen und Vorstellungskraft. Wer sich selbst von etwas überzeugen, es mit eigenen Augen sehen kann, kann es gleich viel besser begreifen. So lässt sich zum Beispiel bei einem Gang durch die Fabrikanlage die Dringlichkeit einer Angelegenheit möglicherweise förmlich riechen oder fühlen. Sinneswahrnehmungen können enorm viel bewirken. Denn im Zusammenspiel können sie so überzeugend, überraschend oder dramatisch sein, dass sie unsere Verhaltensweisen nicht nur auf rationaler, sondern auch auf emotionaler Ebene beeinflussen. Drittens, die Erfahrungsvermittlung dient nicht dem Zweck, irgendeine beliebige emotionale Wirkung zu erzielen. Es ergibt wenig Sinn, die Zufriedenheit mit dem Status quo durch Angst und Ärger zu ersetzen oder umgekehrt. Den Lesern eines Business-Case soll gezielt die Erfahrung vermittelt werden, dass kein Anlass zu Angst und Ärger besteht, weil sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen werden. Dass die Lage kritisch ist, die Krise sich aber durchaus als Segen erweisen könnte. Den Spöttern und Gegnern des Wandels muss überzeugend dargelegt werden, dass sich die schmerzlichen oder peinlichen Erfahrungen früherer Änderungsvorhaben nicht noch einmal wiederholen werden. Botschaften wie diese dringen bis auf die emotionale

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Ebene vor, denn sie werden als optimistisch, glaubwürdig, engagiert, überzeugend und ganz offensichtlich dringlich empfunden (zu offensichtlicher Dringlichkeit später noch mehr). Viertens, der erhoffte Sinneswandel wird nicht explizit gefordert, sondern subtil und mit Fingerspitzengefühl gefördert. Wenn Sie zum Beispiel möchten, dass Ihr Business-Case konzentriert und in einem Rutsch gelesen wird, um seine volle Wirkung zu entfalten, passen Sie eine gute Gelegenheit dafür ab. Ist diese gekommen, verkneifen Sie sich langatmige Erklärungen wie: »Sarah, Sie sind doch gerade auf dem Sprung, um Ihr Flugzeug zu erwischen, nicht wahr? Ich möchte Ihnen etwas zum Lesen mitgeben, da Sie während des Flugs eher Zeit haben, sich das Dokument von vorne bis hinten durchzulesen. Ich befürchte, es würde Sie weniger beeindrucken, wenn Sie zwischenzeitlich immer wieder mit anderen Dingen beschäftigt sind, daher drücke ich es Ihnen jetzt zwischen Tür und Angel als Reiselektüre in die Hand.« Wenn Sie einem Kollegen zu einer persönlichen Erfahrung verhelfen möchten, kündigen Sie es ihm vorher nicht erst umständlich an: »David, wenn wir jetzt zusammen in die Werkstatt gehen, werden wir uns nicht im Büro des Werkstattleiters verstecken und uns die Sache durch die Glasfront ansehen. Wir mischen uns unter die Arbeiter, weil ich möchte, dass Sie sich selbst von dem Gestank und dem Lärm überzeugen, dass Sie sich die Beschwerden anhören und am eigenen Leib erfahren, wie unangenehm es ist, in dieser Werkstatt zu arbeiten.« Manche Dinge sind einfach schwierig zu erklären und noch schwieriger zu verstehen, weshalb Sie auf Erklärungsversuche verzichten sollten, ohne dies als unehrlich oder manipulativ zu empfinden. Fünftens, Erfahrungen lassen uns über die eigene Nasenspitze hinaus sehen. Sie lassen uns emotional hinter Zielen stehen, die weit über die Aufrechterhaltung des Status quo, die Lösung eines momentanen Problems oder graduelle Veränderungen hinausge-

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hen. Letztendlich ist es der Unterschied zwischen dem, was man hat, und dem, was man sich von Herzen wünscht – nicht nur das, was der Verstand als vernünftig erachtet –, der Unterschied zwischen nüchterner Realität und ehrgeizigen Wunschträumen, aus dem heraus die Entschlossenheit und die Willenskraft entstehen, die mit dem Gefühl für Dringlichkeit einhergehen.

Die Grundstrategie erklären Am Beispiel einer meiner Lieblingsgeschichten möchte ich Ihnen erklären, wie ein Business-Case Herz und Verstand gewinnen und der Dringlichkeit Vorschub leisten kann. Schauplatz war die Jahreskonferenz des Topmanagements eines milliardenschweren Unternehmens. Auf dem Programm standen unter anderem die Vorträge zweier Geschäftsbereichsleiter, die ich der Einfachheit halber Manager 1 und Manager 2 nennen möchte. Manager 1 sollte am Nachmittag des ersten Tages seine Rede halten, Manager 2 am Vormittag des zweiten Tages. Neben dem Unternehmenschef waren unter den insgesamt 150 Zuhörern sowohl gleichgestellte als auch untergeordnete Managementkollegen. Manager 1 betrat mit seinen Unterlagen das Podium, bat darum, die Beleuchtung herunterzudimmen, und begann seinen Vortrag, zu dem parallel eine PowerPoint-Präsentation ablief. Alle 30 bis 60 Sekunden wurde eine neue, mit Informationen gespickte Folie gezeigt. Viele enthielten nur Zahlen und Diagramme. Ein Drittel seiner Aufmerksamkeit schenkte Manager 1 seinen Unterlagen, ein Drittel den Folien und ein weiteres Drittel dem Publikum, das jedoch mehr oder weniger im Dunkeln saß und kaum zu sehen war. Trotz seines Lampenfiebers – schließlich hält man nicht alle Tage einen wichtigen Vortrag vor so hohen Tieren –

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drückte sich Manager 1 sehr wortgewandt und gut verständlich aus. Ganz offensichtlich wusste er genau, wovon er sprach, und wenn er tatsächlich einmal den Faden verlor, lieferte ihm die aktuell angezeigte Folie immer das richtige Stichwort, um seinen Vortrag fortsetzen zu können. Seine Präsentation war in drei Teile gegliedert: 1. Die Beschreibung, mit welchen Problemen man gerade konfrontiert war, 2. die Vorstellung einer neuen Strategie, um die Probleme zu überwinden, und 3. ein Vorschlag zur Implementierung der neuen Strategie. Für die anschließende Diskussion waren 30 Minuten vorgesehen, und die Fragen und Kommentare ließen sich grob in drei Kategorien unterteilen: Fragen, die der Klärung dienen sollten (»Wollen Sie damit sagen, dass …?«), sehr diplomatisch geäußerter Widerspruch hinsichtlich der Daten und logischen Zusammenhänge (diplomatisch in dem Sinne, dass niemand die Richtigkeit der Daten ausdrücklich anzweifelte) und Äußerungen, die andeuteten, dass man seinen Schlussfolgerungen und Vorschlägen zustimmte (»Was Sie über dieses und jenes gesagt haben, erscheint mir aus folgendem Grund sinnvoll.«). Manager 2 war seine Nervosität deutlich anzumerken. Er legte seine Unterlagen auf das Rednerpult und stellte sich daneben. Da das Licht im Saal automatisch ausging und nur das Podium von einem Scheinwerfer beleuchtet wurde, stand er nun ebenfalls im Dunkeln. Er versuchte, die etwas seltsame Situation mit einem Scherz zu überspielen: »Kerry [der Finanzleiter des Unternehmens] behauptet ja immer, wir würden alle im Dunkeln tappen. Wie Recht er doch hat!« Doch anstatt sich jetzt in das Scheinwerferlicht auf der Bühne zu begeben, bat er darum, sämtliche Scheinwerfer wieder einzuschalten. Er machte noch einen kleinen Witz, der mit höflichem Gelächter quittiert wurde. Dann begann er mit

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seinem einstündigen Vortrag, für den er nur ganz wenige PowerPoint-Folien vorbereitet hatte. Er geriet gelegentlich ins Stocken und konnte sich weit weniger gut ausdrücken als Manager 1. Wie dieser plädierte auch er für Veränderungen, doch auf entwaffnend offene, direkte und schlichte Art und Weise. Er stützte sich auf nur wenige, dafür aber aussagekräftige Statistiken. Größtenteils war sein Vortrag eher ungewöhnlich, denn die Hälfte der Zeit berichtete Manager 2 über den Bankrott der väterlichen Firma und die Schwierigkeiten, in die seine ganze Familie dadurch geraten war. Er erzählte von einem Freund, der bei einem Konkurrenzunternehmen seines jetzigen Arbeitgebers angestellt war und ihm kürzlich, im Zuge einer feuchtfröhlichen Kneipentour, interne Informationen über die neuesten Wettbewerbsstrategien des Mitbewerbers verraten hatte. Er sprach darüber, wie unglaublich stolz er als junger Mann darauf war, für ein Unternehmen zu arbeiten, das damals in allen Geschäftsbereichen als Marktführer galt. Er gab zu, dass ihn eines der letzten Kundengespräche zutiefst überrascht und erschüttert hatte. Und er erzählte, dass er mit seiner Frau immer häufiger über seinen Vorruhestand diskutierte, diese Möglichkeit bisher aber immer wieder verworfen hatte, weil er sich erhobenen Hauptes aus dem Arbeitsleben verabschieden wollte. Nicht als Verlierer, sondern als Gewinner. Und genau das hätte er verdammt noch mal vor! Damit beendete er seinen Vortrag, der mit dem längsten Applaus belohnt wurde, der in den zwei Konferenztagen gespendet wurde. Ich weiß nicht, ob die beiden Manager den Effekt ihres jeweiligen Auftritts gezielt geplant hatten, denn ich habe mich mit keinem der beiden je unterhalten. Dass mit ihren Auftritten auf derselben Bühne, vor demselben Publikum und relativ kurz hintereinander sehr unterschiedliche Effekte erzielt wurden, weiß ich aber sicher. Einsetzende Dunkelheit signalisiert unserem Unterbewusstsein, dass der (Arbeits-)Tag sich dem Ende neigt und bald Schla-

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Das Prinzip Dringlichkeit

fenszeit ist. Und wenn sich der Körper auf die Ruhephase einstellt, lassen die Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit tendenziell nach. Gehen im Kino die Lichter aus, schalten wir nicht so leicht ab, denn von dem folgenden Spielfilm verspricht man sich schließlich Unterhaltung. Von dem Vortrag eines Managers wohl eher nicht. Ein großes, massives Rednerpult kann den Eindruck eines Schutzschilds vermitteln, hinter dem sich der Redner verschanzt. Mit so einem Schutzschild distanziert man sich von seinem Publikum. Man schirmt sich ab, was wiederum dazu führen kann, dass das Publikum eine skeptische und ablehnende Haltung einnimmt. Die Distanz zwischen Redner und Publikum wird durch die steife Förmlichkeit von Podiumsvorträgen in alter Manier nur noch vergrößert und ist sowieso nicht mehr zeitgemäß. Steht ein Mensch auf der Bühne im Rampenlicht, wird damit der Eindruck vermittelt, er wäre irgendeine Berühmtheit. Kaum jemandem stößt das sauer auf, wenn es sich tatsächlich um einen Filmstar oder prominenten Politiker handelt, aber bei einem Kollegen? Da mag sich der eine oder andere schon fragen, ob der Kerl nicht ein bisschen anmaßend oder gar ein größenwahnsinniger Blender ist. Und falls dieser Verdacht aufkommt, sinkt die Bereitschaft, ihm seine ungeteilte Aufmerksamkeit und Unterstützung zu schenken, rapide. Eng beschriebene PowerPoint-Folien, die sich von den hinteren sieben Stuhlreihen eines Konferenzsaals nicht mehr entziffern lassen, kommen bei dem Publikum auf eben diesen hinteren Reihen überhaupt nicht gut an. Kleingeschriebenes erweckt aus diversen Gründen Misstrauen, was dem Zweck der Veranstaltung nicht unbedingt dienlich ist. Einigen Teilnehmern drängen sich ganz von selbst Fragen wie diese auf: »Ist es dem Redner denn egal, ob ich den Text lesen kann, weil er mich für zu dumm hält, ihm folgen zu können?«, »Ist diese Detailversessenheit nicht ein-

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fach nur Angeberei?« oder »Ist diese winzige Schriftart Absicht, weil er etwas verheimlichen will?« Kommen wir zu Manager 2, der mit seinem Auftritt einen völlig anderen Effekt erzielte. Eine Prise Humor kann Wunder bewirken, und je witziger und harmloser humorvolle Bemerkungen sind, umso positiver ist der Effekt. Humor lässt den Stresspegel sinken und wirkt entspannend, was jede Menge Vorteile nach sich zieht. Wenn Zuhörer über den Witz eines Redners lachen können, heißt das auch, dass sie sich von ihm verstanden fühlen. Der unbewusste Gedanke ist: Das ist einer von uns. Empfinden die Zuhörer den Redner als einen der ihren, schlägt ihm deutlich weniger Misstrauen entgegen. Sie mögen seinen Ausführungen durchaus skeptisch gegenüberstehen, doch Skepsis ist kein Grund, sich der Kommunikation zu verweigern. Misstrauen schon. Laut den jüngsten Erkenntnissen auf dem Gebiet der Neurologie ist das menschliche Gehirn eher darauf programmiert, Geschichten zu verarbeiten anstatt PowerPoint-Präsentationen und abstrakte Ideen. Geschichten mit dramatischen Höhepunkten berühren uns gefühlsmäßig und bleiben uns vor allem viel länger in Erinnerung als nüchterne Fakten auf PowerPoint-Folien. Wer seine Zuhörer an persönlichen Erlebnissen teilhaben lässt, schafft damit eine relativ intime Atmosphäre. Intimität impliziert Freundschaft, und einem Freund gegenüber kommt nicht der Verdacht auf, er wolle sich auf Kosten der Kollegen persönliche Vorteile verschaffen. Auf intellektueller Ebene mag man sich vielleicht daran stören, wenn ein Redner während seines Vortrags einmal den Faden verliert oder sich gelegentlich verspricht. Sofern diese kleinen Ungeschicklichkeiten aber im Rahmen bleiben, bringen die meisten Menschen nicht nur Verständnis dafür auf, sondern dem Redner auch mehr Sympathie entgegen als einem perfekten Rhetoriker. Es macht ihn menschlicher und verletzlicher. Von einem verletzlichen Menschen geht weniger Gefahr aus, das heißt, in seiner

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Gegenwart kann man sich eher entspannen. Unbeholfenheit wirkt immer echt und ehrlich, Perfektion dagegen eher gekünstelt und falsch. Und genau deshalb schlägt einem perfekten Redner und seiner Botschaft mehr Ablehnung entgegen. Weshalb all dies eine so wichtige Rolle spielt, lässt sich rational nicht erklären. Es kommt doch eigentlich nicht auf die Form, sondern auf den Inhalt an: Entweder es ist ein durchdachter Plan, der auf fundierten Fakten beruht, oder eben nicht. Doch ein durchdachter Plan allein reicht oft nicht aus, um das Gefühl für Dringlichkeit zu vermitteln. Schon gar nicht in einem vom Erfolg verwöhnten Unternehmen, in dem die Selbstgefälligkeit herrscht und jeder Plan, der auf Veränderungen abzielt, von vorneherein als schlechter Plan abgestempelt wird. Sechs Monate nach der Jahreskonferenz des Topmanagements wehte in dem Unternehmen ein frischer Wind. Mit einem ganz neuen Gefühl für Dringlichkeit machten sich die Führungskräfte daran, die beträchtlichen Schwierigkeiten zu überwinden. Der Vortrag von Manager 2 hatte dazu beigetragen, die Selbstgefälligen wachzurütteln, die Ängstlichen zu beruhigen und die Wütenden zu beschwichtigen. Es war ein wichtiger Beitrag, dem viele weitere Maßnahmen folgten. Mehrere Ereignisse führten zu dem wichtigen Richtungswechsel: Erstens, eine emotional bewegende Rede auf einer wichtigen Konferenz, an der einflussreiche Entscheidungsträger teilnahmen. Zweitens, verstärktes Gespür für Dringlichkeit unter den Konferenzteilnehmern inklusive Unternehmenschef. Drittens, ein aufgrund der empfundenen Dringlichkeit hervorragend zusammengestelltes Spitzenteam aus höchst kompetenten und engagierten Mitarbeitern, die der Herausforderung gewachsen waren. Viertens, die Formulierung einer neuen Zielsetzung und Strategie, die das Spitzenteam unter Berücksichtigung der von Manager 1 erarbeiteten Vorschläge in Kooperation mit anderen Führungskräften erarbeitete. Fünftens, die ausführliche und intelligente Kommunikation des Business-Case, für

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den sich das Spitzenteam mit Herz und Verstand stark machte – und immer weiter vorantrieb. Die theoretischen Lektionen in Management-Lehrbüchern und die praktischen Erfahrungen in den Betrieben legen jetzt vielleicht die Vermutung nahe, mein Plädoyer für mehr Gefühl wäre stark übertrieben. Sicher, der Mensch ist ein emotionales Geschöpf, doch wir alle werden schließlich dazu erzogen, vernünftiger zu handeln als unsere Vorfahren, die instinktiv angriffen oder flohen, wenn sie Wut oder Angst empfanden. Und überhaupt laufen die meisten Managementsitzungen doch sehr zivilisiert ab. Meistens halten sich alle strikt an die Regeln und steuern durchdachte, kluge Argumente bei. Fakten werden nach logischen Kriterien gesammelt und ausgewertet. Sowohl das Erkennen als auch das Lösen von Problemen ist eine reine Denkaufgabe. Das alles mag zutreffen. Dennoch sprechen die Ergebnisse neurologischer und psychologischer Studien in zunehmendem Maß dafür, dass unter der ruhigen, rationalen Fassade des Menschen die Emotionen brodeln. Dieses Bild scheint zu vielen klischeehaften Vorstellungen – dem Buchhaltertyp zum Beispiel, der tagaus, tagein endlose Zahlenkolonnen prüft – nicht so recht zu passen. Allerdings bin ich nach 30 Jahren, in denen ich mich damit beschäftigt habe, wie großartige Führungspersönlichkeiten ihre Mitarbeiter zu ungeahnten Leistungen beflügeln, indem sie deren Herz und Verstand gewinnen, davon überzeugt, dass diese Menschen den Neurologen und Psychologen Recht geben würden. Großartigen Führungspersönlichkeiten ist – vielleicht auch nur instinktiv – klar, dass eine langjährige Erfolgsgeschichte dazu führen kann, dass sich ein solides, aber nach innen ausgerichtetes Unternehmen entwickelt, in dem sich unter zu vielen Mitarbeitern Selbstgefälligkeit breitmacht. Scheiterte ein Unternehmen in der jüngeren Vergangenheit an einer Zielsetzung oder der Umsetzung von Änderungsvorhaben, schürte der Misserfolg Angst und Wut unter den Mitarbeitern. Die daraus

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Strategien, um das Gefühl für Dringlichkeit zu verstärken Ausführlich und umfassend informieren Gut recherchierte, wichtige Informationen, die auf fundierten und logisch nachvollziehbaren Fakten beruhen und neue Anforderungen und (vermutlich ehrgeizige) neue Ziele definieren

† können den Verstand überzeugen, selten aber auch das Herz, weshalb der Mangel am Gefühl für Dringlichkeit nicht vollständig behoben wird (und das ist der Normalfall).

Herz und Verstand gewinnen Ein logisch vorgetragener Business-Case, der Teil einer emotional überzeugenden Gesamterfahrung ist, in der neue Anforderungen emotional definiert werden, sodass die neuen Ziele nicht nur als ehrgeizig betrachtet werden, sondern tatsächlich den Ehrgeiz wecken, sie unbedingt erreichen zu wollen

† überzeugt den Verstand und gewinnt das Herz, wodurch das notwendige Gefühl für Dringlichkeit geschaffen wird.

entstehende Betriebsamkeit war selten produktiv, da nicht das Wohl des Unternehmens, sondern die Angst um den Arbeitsplatz oder die Wut auf Kollegen im Mittelpunkt der Aktivitäten standen. Selbstgefälligkeit, Angst und Wut sind in unserer von zunehmendem Wettbewerbsdruck und Wandel geprägten Welt nicht einfach nur problematisch, sondern unter Umständen tödlich. Und mit einer rein auf den Verstand abzielenden

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Strategie lässt sich die potenziell tödliche Gefahr nicht abwenden.

Taktiken Untersucht man einmal, wie es manchen Menschen gelingt, mit der gebotenen Dringlichkeit zu handeln, um inmitten des permanenten Wandels Spitzenleistungen zu vollbringen, kristallisieren sich vier Taktiken heraus, die diese Menschen einsetzen. Erstens, sie konfrontieren Leute mit einem nach innen gerichteten Tunnelblick mit der Realität, betrachten ihre Mission aber nicht schon damit als erfüllt, die Fakten auf den Tisch zu knallen oder sie als neue Zielsetzungen in PowerPoint-Präsentationen zu verpacken, wie es Manager 1 in unserem letzten Fallbeispiel tat. Stattdessen vermitteln sie – wie Manager 2 – mithilfe anderer Mitstreiter, geeigneter Informationen und der richtigen Art von Business-Case Erfahrungen, die auf emotionaler Ebene überzeugen. Zweitens, sie gehen mit gutem Beispiel voran – Tag für Tag. Sie finden nicht nur die richtigen Worte, sondern lassen ihren Worten vor allem auch Taten folgen. Sie agieren in aller Öffentlichkeit und möchten möglichst vielen als Vorbild dienen. Mit allem, was sie tun und sagen, versuchen sie, der Selbstgefälligkeit, der Angst und der Wut entgegenzuwirken. Drittens, sie nutzen Krisen, gehen dabei jedoch äußerst umsichtig vor. Sie sehen in jeder Krise nicht nur eine Gefahr, sondern auch die Chance, schwerfällige, erstarrte Unternehmensstrukturen aufzubrechen. Ein Bruch mit alten Gewohnheiten ruft immer emotionale Reaktionen hervor, und behutsam ausgeführt, wirkt er der Selbstgefälligkeit des Managements und der Belegschaft entgegen. Wer dabei allerdings nicht mit Umsicht und Fingerspit-

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zengefühl vorgeht, löst genau die unproduktive Hektik aus, die aus einem falsch verstandenen Dringlichkeitsempfinden heraus entsteht. Viertens, schlägt einer Änderungsinitiative vehemente Ablehnung entgegen, lösen sie dieses Problem. Sie finden sich nicht einfach damit ab, dass es immer Leute gibt, die der Dringlichkeit bei jeder Gelegenheit entgegenwirken und jedem neuen Vorschlag ein Nein entgegenschmettern. Sie nehmen den ewigen Neinsagern, die dem Wandel Steine in den Weg legen und der Selbstgefälligkeit, der Angst und Wut ihrer Kollegen ständig neue Nahrung geben, den Wind aus den Segeln. Es gibt Abhilfemaßnahmen, die wenig Wirkung zeigen, und es gibt drei, die gut funktionieren. Sie setzen alle vier Taktiken auf eine Weise ein, die nicht nur den Verstand, sondern auch und vor allem das Herz berührt. Damit wird sowohl auf intellektueller Ebene als auch in den tieferen Schichten des Unterbewusstseins Einfluss auf die persönlichen Einstellungen, die Gedanken, Gefühle, Hoffnungen, Träume und Verhaltensweisen ausgeübt. Die selbstgefällige Zufriedenheit mit dem Status quo, Zukunftsängste und der Ärger über ausweglos erscheinende Situationen verwandeln sich in die Entschlossenheit, sich jetzt für den Erfolg starkzumachen. Alle großartigen Führungspersönlichkeiten bedienen sich dieser Taktiken, doch um sie einzusetzen, sind weder besondere Fähigkeiten noch außergewöhnliche Führungsqualitäten oder eine starke persönliche Ausstrahlung erforderlich. Einige Taktiken sind zwar nur hochgestellten Entscheidungsträgern vorbehalten, andere aber stehen jedem zur Verfügung. Für alle Taktiken jedoch gilt: Sie sollten viel, viel häufiger eingesetzt werden. Unbedingt!

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Den Dringlichkeitsdruck erhöhen Die Strategie • Schaffen Sie in Ihrem Unternehmen eine wachsame, aufmerksame Grundhaltung, die sich an der Realität orientiert. Sorgen Sie für gebündelte Aktionen, um gemeinsame Ziele zu verwirklichen. Motivieren Sie dazu, Tag für Tag Fortschritte zu erzielen und Aktionen, die keinen Wert schöpfen, aus der Aufgabenliste zu streichen. Denken Sie bei allem, was Sie tun, immer daran, dass neben dem Verstand auch das Herz überzeugt werden will. Die Taktiken 1. Die Konfrontation mit der Realität • Verknüpfen Sie die innerbetriebliche Realität mit den Chancen und Gefahren der Außenwelt. • Importieren Sie externe Daten, laden Sie externe Besucher ein, zeigen Sie Videos. Machen Sie sich die emotionale Überzeugungskraft von audiovisuellen Eindrücken zunutze. 2. Handeln Sie selbst immer mit der gebotenen Dringlichkeit • Treten Sie nie selbstgefällig, ängstlich oder wütend in Erscheinung. 3. Erkennen Sie die einer Krise innewohnenden Chancen • Eine Krise muss nicht unbedingt ein Fluch sein. Überlegen Sie sich sorgfältig, ob sie sich nicht vielleicht als Segen erweist und Ihnen dabei hilft, der Selbstgefälligkeit Herr zu werden. • Gehen Sie mit Bedacht und höchster Aufmerksamkeit vor. Eine zu blauäugig gehandhabte Krise kann sich als tödlich erweisen. 4. Knöpfen Sie sich die ewigen Neinsager vor • Die unverbesserlichen Gegner der Dringlichkeit müssen entfernt oder unschädlich gemacht werden. Ich rede hier von den ewigen Neinsagern, die der Selbstgefälligkeit unermüdlich in die Hände spielen und nicht einmal vor destruktiven Sabotageakten zurückschrecken. (Vorsicht: Verwechseln Sie sie nicht mit den harmlosen Skeptikern.)

Kapitel 4

Taktik Nr. 1 Die Konfrontation mit der Realität

Die erste Taktik beruht auf der Beobachtung, dass Unternehmen jeder Größe und jedes Alters dazu neigen, sich zu sehr auf die betriebsinternen Vorgänge zu konzentrieren. Diese Ausrichtung nach innen kann sich zu einem Problem ausweiten, das in seiner Größenordnung und Tragweite aber meist völlig unterschätzt wird. Zwischen dem, was Mitarbeiter intern erkennen, empfinden und glauben, und dem, was außerhalb tatsächlich geschieht, liegen selbst in Unternehmen, in denen sehr gute kurzfristige Ergebnisse erzielt werden, oft Welten. Wird den externen Ereignissen zu wenig Beachtung geschenkt, geht das Gespür für Dringlichkeit verloren und Selbstgefälligkeit weitet sich aus, da die Chancen und Risiken, die sich außerhalb des Unternehmens anbahnen, nicht erkannt werden. Der Neigung, sich in sich zu kehren und in Selbstgefälligkeit zu schwelgen, lässt sich durch die Konfrontation mit der Realität sehr gut entgegenwirken. Sie überbrückt die Kluft zwischen dem, was außerhalb des Unternehmens tatsächlich geschieht, und dem, was intern wahrgenommen wird, wodurch auch der Stresspegel wieder steigt. Zur Konfrontation mit der Realität will ich Ihnen sieben Taktiken vorstellen, die Sie sehr effektiv einsetzen können, sobald Sie Folgendes erst einmal verstanden haben: Der nach innen gerichtete Tunnelblick ist problematisch; die Konfrontation mit der Realität ist nicht nur unbedingt erforderlich, sondern eine extrem wirkungsvolle Maßnahme; wahre Dringlichkeit darf

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nicht mit fehlgeleiteter Dringlichkeit verwechselt werden; und Strategien müssen immer sowohl das Herz als auch den Verstand ansprechen.

»Introvertierte« Unternehmen – ein weitverbreitetes Problem Die meisten Unternehmen scheitern früher oder später. Von den Automobilherstellern, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Markt tummelten, waren 1940 über 90 Prozent wieder von der Bildfläche verschwunden. Von den vielen neu eröffneten Restaurants können sich die wenigsten länger als zwei Jahre halten. Um sich im Konkurrenzkampf durchsetzen zu können, müssen Unternehmen diverse Interessengruppen dauerhaft zufriedenstellen. Dazu zählen natürlich die Investoren und Kunden, unter Umständen aber, salopp gesagt, auch Gott und die Welt. Zufriedene Interessengruppen bleiben dem Unternehmen treu und möchten mehr von dem, was es ihnen zu bieten hat. Mehr Produkte oder Leistungen anbieten zu können setzt Wachstum voraus. Mit dem Wachstum steigt der Verwaltungsaufwand. Immer neue und größere Abteilungen entstehen an unterschiedlichen Standorten, und die anstehenden Aufgaben müssen koordiniert werden. Das Wachstum erfordert zugleich den Bau neuer Produktionsstätten und Bürogebäude, wodurch der Verwaltungsaufwand weiter zunimmt. Je komplexer ein Unternehmen wird, umso mehr kehrt sich die Blickrichtung nach innen, denn innerbetriebliche Prozesse wie die Kommunikation, die Koordination der Aufgaben und das Gebäudemanagement erfordern höchste Aufmerksamkeit. Die Folge: Externen Entwicklungen wird immer weniger Beachtung geschenkt.

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Unternehmen, die über einen längeren Zeitraum kontinuierliches Wachstum verzeichnen, gelten als erfolgreich. Und in einem erfolgreichen Unternehmen setzt sich leicht die Ansicht durch, dass alles perfekt läuft. Warum auch nicht? Wäre dem nicht so, bliebe der Erfolg ja schließlich aus. Mit der Zeit verwandelt sich der berechtigte Stolz auf die gute Leistung in Überheblichkeit. Wer glaubt, er wüsste sowieso alles besser als die anderen, hält es für Zeitverschwendung, ihnen überhaupt zuzuhören. Und weil diese anderen, die so hartnäckig ignoriert werden, üblicherweise Außenstehende sind, verengt sich der Blickwinkel noch weiter. Ein introvertiertes Unternehmen ist blind für die positiven oder negativen Entwicklungen, die aus der Wettbewerbssituation, aus neuen Kundenbedürfnissen oder Regierungsinitiativen entstehen. Die Blindheit für Chancen und Gefahren führt unweigerlich dazu, dass das Gefühl für Dringlichkeit schwindet. Je weniger Dringlichkeit verspürt wird, umso weniger besteht Anlass dazu, der Außenwelt Aufmerksamkeit zu schenken. Zunehmende Introvertiertheit in Kombination mit nicht empfundener Dringlichkeit führt direkt in die Selbstgefälligkeit. Ein erfolgsverwöhntes Unternehmen, das sich dank einer starken, global vertretenen Marke, immenser Produktivitätsvorteile, einer Quasi-Monopolstellung oder dank patentrechtlich geschützter Produkte erst einmal eine sichere Marktführungsposition geschaffen hat, kann sogar erstaunlich lange – unter Umständen Jahrzehnte – überleben und gar wachsen, ohne sich allzu sehr für die Außenwelt zu interessieren. Anhand unzähliger Beispiele lässt sich erkennen, wie der Erfolg ein Unternehmen wachsen und an Marktmacht gewinnen lässt. Parallel dazu entsteht eine Unternehmenskultur, die von dem Glauben beherrscht wird, man hätte den Erfolg für sich gepachtet. Alles zusammen genommen schränkt das den Blickwinkel nicht nur ein, sondern lenkt die Blickrichtung nach innen um.

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Damit geht der Blick für die Realität verloren, was ein gravierendes Problem darstellt, das aber nicht gelöst wird, weil es nicht als dringlich empfunden wird. In genau diesen Teufelskreis gerieten zum Beispiel die US-amerikanischen Konzerne IBM und General Motors in den 1980er Jahren, doch auch in unserer Zeit sind einige der Topunternehmen auf dem besten Wege, den Blick für die Realität zu verlieren. Als Erster in seiner Region beschloss ein Einzelhandelsunternehmen der Lebensmittelbranche, die Angebotspalette an abgepacktem Fleisch, Obst und Gemüse in seinen zwei Supermärkten stark zu erweitern und einen ebenso guten Kundenservice zu bieten, wie er ansonsten nur in den besten der kleineren Läden zu finden war. Die Kunden waren mehr als begeistert. In einem Zeitraum von 40 Jahren wurden aus den ursprünglich zwei Supermärkten 62 Filialen mit immer größeren Verkaufsflächen, deren Größenvorteile sich in ausgezeichneten Gewinnspannen niederschlugen. Die Marke wurde so bekannt und beliebt, dass die Konkurrenz davor zurückschreckte, in der Nähe dieser Supermärkte eigene Läden zu eröffnen. Die Firmenchefs wurden nicht müde, ihre Führungskräfte und Mitarbeiter zu loben. Über viele Jahre hinweg schlich sich in den berechtigten Stolz auf den Firmenerfolg jedoch immer mehr Überheblichkeit ein. Mit zunehmender Größe und Komplexität zogen die innerbetrieblichen Vorgänge die Aufmerksamkeit auf sich, die Blickrichtung kehrte sich um und das Gespür für Dringlichkeit ging mehr und mehr verloren. Negative Auswirkungen gab es anscheinend nicht, da ja auch der Wettbewerbsdruck verschwindend gering war. Dann betrat ein neuer, innovativer Mitbewerber die Bühne. Mit hell gestalteten, geräumigeren Läden, einer größeren Auswahl an frischen Produkten und einem schnelleren Kassensystem machte er der Supermarktkette ihr abgestecktes Revier streitig. Diese jedoch würdigte den neuen Konkurrenten keines Blickes.

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Wie Erfolg ein introvertiertes Unternehmen ohne Dringlichkeitsempfinden entstehen lässt Die Folgen langjährigen Erfolgs

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† Das Gefühl für Dringlichkeit sinkt gegen null, die Unternehmensstrukturen werden immer starrer und unflexibler.

† Die Bereitschaft, nach externen Chancen, aber auch Risiken Ausschau zu halten, lässt weiter nach.

Bei Managementbesprechungen wurde kaum über den neuen Konkurrenten gesprochen, wie ich aus sicherer Quelle weiß, da ich nämlich dabei war. Man hatte ja schließlich wichtige

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interne Angelegenheiten zu diskutieren: dass in Filiale Nummer 42 die Gewinnspannen unter den Erwartungen lagen, dass die Renovierungsarbeiten in einer anderen Filiale zügig vorangingen, dass der neue Prozess zur Leistungsbewertung des mittleren Managements so gut wie einsatzfähig war. Noch erstaunlicher war, dass die meisten Führungskräfte auf wichtige Fragen zu dem neuen Mitbewerber – wie viele Supermärkte er schon betrieb, welche Strategie er verfolgte, welche Wachstumsrate er verzeichnete – keine Antwort geben konnten und ihre Unwissenheit noch nicht einmal als sonderlich tragisch empfanden. Ich möchte noch einmal betonen, dass dieses Beispiel kein Einzelfall und das Grundmuster immer dasselbe ist. Langjähriger Erfolg verleiht Selbstsicherheit, die sich allerdings nicht zwangsläufig in Selbstgefälligkeit verwandeln muss. Wenn die äußeren Umstände aufmerksam verfolgt werden und sich anbahnende Krisen, welche die Sicherheit des Arbeitsplatzes und Karrierepläne gefährden oder am Selbstwertgefühl kratzen, erkannt werden, hat die Selbstgefälligkeit gegen das immer stärker werdende Dringlichkeitsempfinden keine Chance. Denselben Effekt haben natürlich auch sich bietende Chancen, die den Arbeitsplatz sicherer machen und neue Karrierewege eröffnen, höhere Leistungsprämien in Aussicht stellen, die Zufriedenheit am Arbeitsplatz erhöhen und Vorteile für die Kunden, Investoren und Interessengruppen mit sich bringen. Werden diese Chancen erkannt, finden Führungskräfte selbst in Unternehmen, die mit dem Status quo äußerst zufrieden sind, genügend Mitstreiter, um diese Chancen zu ergreifen. Mit viel Geduld ist es möglich, eine in sich gekehrte Unternehmenskultur wieder für die Außenwelt zu öffnen. Dann werden die Mitarbeiter ganz automatisch beobachten, was sich »da draußen« tut, und die Zeichen erkennen, die auf Risiken oder Chancen hindeuten. Die Kluft zwischen der Innenwelt des Un-

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ternehmens und der Außenwelt wird kleiner, und die Selbstgefälligkeit schwindet. Auf dieses heiße Eisen werde ich später noch etwas ausführlicher eingehen. Unternehmenskulturelle Veränderungen können sich allerdings über Jahre hinziehen. Nicht immer steht so viel Zeit zur Verfügung. Muss sich die Blickrichtung schneller nach außen wenden, sind andere Lösungen erforderlich. Und zum Glück gibt es jede Menge Lösungsansätze, die Sie noch diese Woche oder schon nächsten Monat ausprobieren können. Lösungen, die auch anderen Initiativen zugute kommen und Ihnen dabei helfen, den für Sie geeigneten Weg einzuschlagen und langfristig unternehmenskulturelle Änderungen durchzusetzen.

Hören Sie auf die Mitarbeiter an der Kundenfront Einige der heute erfolgreichsten Unternehmen bedienen sich einer höchst sinnvollen und einfachen Methode, um die Kluft zwischen der Innen- und der Außenwelt zu schließen: Sie achten auf das, was die Mitarbeiter zu sagen haben, die ständig mit Kunden zu tun haben. Unter den Kundendienstmitarbeitern bei einem Autohändler, den Bankangestellten am Schalter oder dem Vertriebspersonal eines Computerhandels finden sich immer Menschen, die man einfach nur darum bitten muss, die Informationen, die sie beim direkten Kontakt mit den Kunden tagtäglich erfahren, zu sammeln. Gelangen die Informationen von der Kundenfront an die Entscheidungsträger, rückt die Realität der Außenwelt wieder mehr in den Blickpunkt des Unternehmens, und das Gefühl für Dringlichkeit wird stärker. Einige der erfolgreichsten Unternehmer unserer Zeit sind von dem durchschlagenden Erfolg dieser Methode überzeugt und hal-

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ten an ihr fest. Bei ihren regelmäßigen Stippvisiten in den diversen Büros, Läden und Produktionsanlagen nehmen sie sich die Zeit, um sich mit den Mitarbeitern an der Kundenfront zu unterhalten. Sie informieren sich über die Kunden und deren Reaktionen auf die Produkte und Dienstleistungen ihrer Firma. Sie hören ihren Angestellten aufmerksam zu und behandeln sie mit Respekt. Die Mitarbeiter wiederum spüren ganz genau, dass ihnen Respekt und Anerkennung gezollt wird, was sie dazu motiviert, noch genauer auf die Reaktionen der Kunden zu achten und die gewonnenen Informationen ungeschönt an den Unternehmenschef weiterzugeben. Dieser kann die gesammelten Daten nach Mustern untersuchen und andere Führungskräfte dazu anhalten, dasselbe zu tun und das Sammeln und Auswerten von Informationen in irgendeiner Form in ihre Tagesroutine zu integrieren. Als ein prominenter Anhänger dieser Methode ist der US-amerikanische Unternehmer Sam Walton zu nennen, dessen Einzelhandelskonzern Wal-Mart vom US-amerikanischen Wirtschaftsmagazin Fortune im Jahr 2008 erneut als umsatzstärkstes Unternehmen der Welt verzeichnet wurde. Beispiellose Erfolge verzeichnete auch Southwest Airlines unter der Leitung von Herb Kelleher, dem in der eher krisengebeutelten Flugindustrie Höhenflüge gelangen, über die sich Kunden, Angestellte und Investoren gleichermaßen freuen konnten. Den Mitarbeitern an der Kundenfront wird heutzutage zunehmend mehr Gehör und Aufmerksamkeit geschenkt, was einmal lobend erwähnt werden muss. Dazu gehört auch wirklich nicht viel: • Zu Beginn ist ein kleiner Vertrauensvorschuss erforderlich.

Glauben Sie an Ihre Mitarbeiter an der Kundenfront. Auch wenn es vielleicht in der Vergangenheit hin und wieder Schwierigkeiten gab, sind sie sicherlich klug und motiviert genug, um Ihnen als hilfreiche Informationsquelle zu dienen.

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• Zollen Sie diesen Mitarbeitern Respekt. Wer sich respektlos

behandelt fühlt, ist selten sonderlich hilfsbereit. • Unterhalten Sie sich mit diesen Mitarbeitern. Stellen Sie Fra-

gen, hören Sie zu, was man Ihnen antwortet. Verlieren Sie nicht gleich die Geduld, wenn Sie nicht sofort mit Informationen überhäuft werden. Ein gerade zum Bereichsleiter einer Einzelhandelskette beförderter Manager probierte genau das aus. Mit großem Erfolg. Und da er den Filialen in seinem Zuständigkeitsbereich sowieso regelmäßig Besuche abstattete, hielt sich der zusätzliche Aufwand sehr im Rahmen. Schon bald wussten seine Mitarbeiter, worauf es ihm ankam, und lieferten die gewünschten Informationen. Bei deren Auswertung fiel ihm auf, dass sich in einem Punkt ein Muster abzeichnete: In verschiedenen Filialen hatten sich Kunden negativ über die in den Supermärkten übliche Hintergrundmusik geäußert. So fragte er alle Mitarbeiter ganz konkret nach Kundenkommentaren zu der Dudelei und erfuhr, dass sie ausschließlich als unangenehm empfunden wurde, sofern sich die Kunden überhaupt dazu äußerten. Der Bereichsleiter beschloss, eine Kundenumfrage durchzuführen. Es musste ja nichts Aufwändiges oder Wissenschaftliches sein, eine einfache Abstimmung mithilfe von Fragebögen sollte genügen. Das Ergebnis: 50 Prozent der Kunden empfanden die Hintergrundmusik als störend und verglichen sie mit dem nervtötenden Gedudel, mit dem man oft in Aufzügen beschallt wird. 40 Prozent gaben an, die Hintergrundmusik wäre ihnen egal beziehungsweise noch nie aufgefallen, und weniger als 10 Prozent äußerten sich positiv. Parallel dazu führte das Unternehmen seine jährliche Kundenbefragung durch, doch Fragen zu der Hintergrundmusik hatte man dabei ausgespart. Der Bereichsleiter bat seinen Vorgesetzten daher um ein persönliches Gespräch, da er seine Informationen nicht einfach als nüchterne Fakten per E-Mail weiter-

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geben wollte. Stattdessen verpackte er sie in eine interessante Geschichte mit Überraschungseffekt und Spannungsbogen. Anschließend überließ er es seinem Vorgesetzten, sich die spannende Frage zu stellen: Welche anderen wichtigen Fragen haben wir in unserer Kundenumfrage eigentlich noch ausgespart? Wissen wir tatsächlich, aus welchen Einzelheiten sich die Erfahrungen zusammensetzen, die unsere Kunden beim Einkaufen in unseren Filialen sammeln? Ganz plötzlich wurde diese Angelegenheit als überaus dringlich empfunden. Nachdem der Bereichsleiter den ersten Schritt getan hatte, wurde in dieser Hinsicht etwas unternommen. Die musikalische Geschmacksfrage geklärt zu haben zog natürlich nicht sofort Profitsteigerungen oder ähnlich messbare Ergebnisse nach sich. Die Konfrontation mit der Realität erfolgt sehr oft in kleinen Schritten, die auch nur kleine Fortschritte mit sich bringen. Diese allerdings summieren sich, sodass sich mit der Zeit beträchtliche Verbesserungen bemerkbar machen. Die Klärung der Musikfrage zeigte den Führungskräften jedoch, dass die Kundenfragebögen unbedingt einer Überarbeitung bedurften. Es zeigte sich auch, dass weitere systematische Umfragen durchgeführt werden mussten, um sicherzustellen, dass die Bedürfnisse der Kunden auch tatsächlich rundum befriedigt wurden. Nach nur sechs Monaten hatte das Unternehmen Fragebögen ausgearbeitet, die an das Verkaufspersonal ausgeteilt wurden, damit diese als wichtige Informationsquellen berücksichtigt werden konnten. Zugegeben, es ist nicht gerade eine revolutionäre Taktik, die Mitarbeiter an der Kundenfront mithelfen zu lassen, den nach innen gerichteten Tunnelblick umzukehren. Umso erstaunlicher ist es, dass wenige Unternehmen diese Taktik geschickt einsetzen. Vermutlich liegt es daran, dass sich seit Jahrzehnten antiquierte Methoden der Mitarbeiterführung noch immer sehr hartnäckig halten. Bedauerlich, denn sie sind nicht nur aus der Mode, sondern heutzutage einfach nicht mehr hilfreich.

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Die Macht der Bilder Eine Videoaufzeichnung ist gut geeignet, um Informationen über die Außenwelt in ein introvertiertes Unternehmen einfließen zu lassen. Dazu möchte ich das Beispiel einer Firma geben, die Transportcontainer nach den Spezifikationen ihrer Kunden herstellt. Erstklassige »Qualitätscontainer« natürlich, mit allem, was man sich so darunter vorstellt: Die Stahlcontainer werden nach Kundenanforderungen maßgeschneidert, weisen keine unzulässigen Abweichungen von den Vorgaben auf, sind extrem stabil und erfordern keine sonderlich aufwändigen Wartungsarbeiten. Ausgerechnet bei dem Hauptkunden der Firma entsprachen einige kleine Details jedoch nie exakt den spezifischen Anforderungen. Wann immer er eine Containerlieferung erhielt, musste der Kunde nachträglich noch Änderungsarbeiten ausführen lassen. Diese waren zwar nicht sonderlich kostenintensiv, doch wenn man maßgeschneiderte Container bestellt, die dann doch nicht den Spezifikationen entsprechen, ist das ziemlich ärgerlich, vor allem, weil der Kunde aus Kostengründen nicht einfach den Hersteller wechseln konnte. Beim Containerhersteller war das Problem natürlich bekannt, denn der Kunde hatte des Öfteren darauf hingewiesen. Seine Ansprechpartner hatten das Problem immer höflich zur Kenntnis genommen, doch nie etwas unternommen, um es zu beheben. Bei hartnäckigem Nachbohren hätte sich vermutlich herausgestellt, dass sie der Ansicht waren, sie hätten schließlich neue Standards in der Branche gesetzt, wüssten selbst am besten, wie ein Qualitätscontainer auszusehen hatte, und wenn der Kunde nachträglich Änderungen vornehmen wollte, bitte, das wäre ja wohl seine Sache. Um Abhilfe zu schaffen, beratschlagten sich die Chefs der Hersteller- und der Kundenfirma. Ergebnis dieser Besprechung war, dass sich der Kunde dazu bereit erklärte, seine speziellen Anfor-

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derungen noch einmal ganz genau zu erklären und dabei auch ruhig durchblicken zu lassen, wie unzufrieden er mit den bisherigen Lieferungen war – und zwar auf Video. In dem mit wenig Aufwand gedrehten und auf 15 Minuten zusammengeschnittenen Videofilm nannte der Kunde die wichtigsten Fakten, wobei ihm seine Verärgerung und Besorgnis überdeutlich anzuhören und anzusehen waren. Anschließend bat der Chef der Containerfirma jeweils 20 bis 30 seiner Mitarbeiter in einen Besprechungsraum, um den Videofilm nach und nach der gesamten Belegschaft vorzuführen. Einleitend begrüßte er sie mit den Worten, er wolle ihnen etwas zeigen, was er persönlich als sehr beunruhigend empfand, dann drückte er auf den Startknopf. Da die wenigsten seiner Mitarbeiter je direkt mit Kunden zu tun hatten, waren alle schockiert. Von den Fakten an sich, aber auch und vor allem von den offensichtlichen Emotionen des aufgewühlten Kunden. Einige gingen sofort in die Defensive und wehrten ab, der Kunde sei doch ein extremer Einzelfall, man produziere schließlich ein Qualitätsprodukt und sicherlich stecke hinter diesem Auftritt die Absicht, den Preis zu drücken. Andere aber, und auf die kam es an, machten sich dafür stark, Abhilfe zu schaffen, und zwar sofort. Was dann auch geschah. Das Ende der Geschichte: Das in seinen Traditionen erstarrte Unternehmen unterzog sich einer Verjüngungskur, und die Kunden waren begeistert.1 Über Jahre und Jahrzehnte konnte ich immer wieder feststellen, welch unglaubliche Wirkungen ein Videofilm hat, in dem ein für den Zuschauer wichtiges Thema offen, ehrlich und nachvollziehbar angesprochen wird. Im Gegensatz zu den aufwändig produzierten und schick gestylten Videoclips der Kategorie »PR-Material«, die von vorneherein als unglaubwürdig gelten und eher zu zynischen Bemerkungen reizen und die Selbstgefälligkeit fördern, kann ein schlichter, aber emotional bewegender und aufrichtiger Videofilm, der zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Leuten gezeigt wird, wahre Wunder wirken. Eine auf Video auf-

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gezeichnete Ansprache ist nicht einfach nur als Ersatzlösung zu betrachten, weil der betreffende Mensch nicht persönlich anwesend sein kann. Die Technik macht es möglich, dass sich mit einer Videoaufzeichnung unter Umständen sogar viel mehr bewirken lässt als mit einem Live-Auftritt, da der Film gezielt nachbearbeitet werden kann, um den gewünschten Effekt noch zu verstärken. Dies bringt mich zu einem weiteren wichtigen Punkt, der jedoch nicht nur im Zusammenhang mit Videos, sondern ganz generell zu beachten ist: Informationen werden über das Auge besser aufgenommen als über das Ohr. Auch wenn es immer heißt, man müsse einfach nur Klartext reden, die Fakten nennen, und zwar möglichst im logischen Zusammenhang, lassen sich Informationen doch auf ganz andere und garantiert eindrucksvollere Weise vermitteln. Lassen Sie andere mit eigenen Augen wahrnehmen, was Sie klarmachen möchten, anstatt sich auf Massen abstrakter Daten zu beziehen. Zweifellos mögen Datenanalysen die vernünftigere Lösung sein, da sie Unmengen von Informationen und Zusammenhängen im Überblick darstellen. Wer hätte schon die Zeit, sich von jeder einzelnen Information selbst ein Bild zu machen? Dennoch wird bei der »Vernunftlösung« ein wichtiger Faktor nicht berücksichtigt: der Unterschied zwischen dem Einfluss des logischen Verstands und dem der Emotionen auf das menschliche Verhalten. Ebenso wie der Datenimport über Mitarbeiter an der Kundenfront lässt sich auch der Einsatz von Videofilmen systematisch dazu nutzen, das Gefühl für Dringlichkeit zu stärken. Die einfachste und auf der Hand liegende Möglichkeit ist, die PR-Abteilung damit zu beauftragen, geeignete Videofilme zu drehen und regelmäßig vorzuführen. Dabei sollte den Verantwortlichen klar sein, welche Priorität diese Aufgabe genießt. Es mag keine leichte Aufgabe sein, doch ein kompetentes PR-Team wird sie sicherlich meistern können.

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Machen Sie kein Geheimnis um schlechte Nachrichten Der Chef der Containerfirma ließ jeden Einzelnen seiner Mitarbeiter an der Erfahrung teilhaben, dass es einen Kunden gab, der alles andere als glücklich und zufrieden war. Seiner Ansicht nach konnte er der allgemeinen Selbstgefälligkeit in seiner Firma nur Herr werden, indem er sie jedem Einzelnen vor Augen hielt und darauf baute, dass er den Großteil der Belegschaft dadurch wachrütteln konnte. Ich finde, das war ziemlich clever. Allerdings auch ziemlich unüblich. In der Regel scheuen Führungskräfte davor zurück, beunruhigende Nachrichten von außerhalb im Unternehmen zu verbreiten. Entweder halten sie ihre Mitarbeiter für zu ungebildet oder unerfahren, um mit schlechten Nachrichten umgehen zu können, oder befürchten womöglich, als ihr Überbringer auch gleich dafür verantwortlich gemacht zu werden. Manche machen sich Sorgen, dass die Arbeitsmoral sinkt, die Leute nur nervös werden oder gar zuhauf kündigen. Wieder andere befürchten, dass auch Analysten und Börsenmakler Wind davon bekommen und dann der Aktienkurs fällt. Ängste wie diese können jedes Unternehmen und jede Institution lähmen, selbst wenn es meist eine Handvoll Führungskräfte gibt, die dafür plädieren, Informationen in verstärktem Umfang zu sammeln und diese viel häufiger als üblich mit möglichst vielen Mitarbeitern zu teilen. In der Zweigstelle eines großen Lebensmittelherstellers setzte sich der Personalleiter vehement dafür ein, den Abschlussbericht eines Unternehmensberaters an alle Führungskräfte im Haus zu verteilen. Die zwei einflussreichsten Topmanager waren ebenso vehement dagegen. In diesem Abschlussbericht stand nämlich zu lesen, dass die neue Produktpalette an Fertiggerichten bei der Zielgruppe ihres am stärksten wachsenden Marktsegments auf wenig Interesse stieß. Noch war die Marke stark genug, um sich

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in den Supermärkten Regalfläche zu sichern und zufriedenstellende Gewinne abzuwerfen. Dennoch hatte sich der Unternehmensberater kritisch über die Produktentwicklung im Allgemeinen geäußert und zeichnete ein düsteres Bild der näheren Zukunft, sofern nicht schnellstens gravierende Veränderungen umgesetzt würden. Den beiden Topmanagern, die sich gegen die Herausgabe des Abschlussberichts ausgesprochen hatten, bereiteten vor allem zwei mögliche Konsequenzen Kopfzerbrechen: Erstens, dass die düsteren Zukunftsaussichten einige der begabtesten Führungskräfte dazu veranlassen könnten, sich lieber gleich nach einem neuen Arbeitsplatz umzusehen, und zweitens, dass sich jemand so über die schlechten Nachrichten ärgern könnte, dass er den Bericht aus lauter Wut einem Außenstehenden in die Hände spielen würde. Und dann wüssten über kurz oder lang die Investoren oder ein großer Einzelhandelskunde Bescheid – oder gleich jeder, weil die Wirtschaftspresse darüber berichten würde. Gegen diese Argumente kam der Personalleiter nicht an. In einer Krisensitzung beschloss das Topmanagement einige Sofortmaßnahmen, um das unmittelbare Problem zu lösen. Man betrieb Marktforschung mithilfe von Fokusgruppen, arbeitete in der Produktentwicklung rund um die Uhr und reagierte mit sorgfältig formulierten Antworten auf Pressefragen. Die Sofortmaßnahmen funktionierten sogar erstaunlich gut. Zwar brach der Umsatz ein Quartal lang ein, doch bei der Einführung einer neuen Produktreihe war das ja zu erwarten, lautete eine der vielen Erklärungen, die den meisten Mitarbeitern auch einleuchtete. Einige allerdings waren schon sehr enttäuscht, dass der erhoffte Erfolg trotz der großen Mühe, die man sich bei der Produktentwicklung gegeben hatte, ausblieb. Nachdem die erste große Gefahr abgewendet werden konnte, entschied der Geschäftsbereichsleiter, es wäre sicher das Beste, der Empfehlung des Unternehmensberaters zu folgen und größere Veränderungen anzupacken. Auf der Jahreskonferenz des

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Managements hielt er einen leidenschaftlichen Vortrag über die vorausschauende Zukunftsplanung und die Sicherung der Führungsposition im immer härteren Konkurrenzkampf. Drei weitere Topmanager schlugen in dieselbe Kerbe. Am Morgen des letzten Konferenztages verteilte er den Abschlussbericht des Unternehmensberaters – in abgeänderter Form, damit er nicht ganz so düster und pessimistisch klang – an die Führungskräfte und bezeichnete die Empfehlung als »mutigen Schritt nach vorne, um sich in einer Zeit des permanenten Wandels als Marktführer zu behaupten«. Am Nachmittag standen Diskussionen über die Umsetzung der Änderungsvorschläge auf der Tagesordnung. Die Teilnehmer reagierten unterschiedlich und spalteten sich in vier Lager auf. Das mit Abstand kleinste setzte sich aus den Managern zusammen, welche die externen Entwicklungen bereits mit größtem Interesse verfolgten und die Veränderungen als dringend notwendig erachteten. Der mutige Schritt nach vorne war ihrer Meinung nach längst überfällig, weshalb sie es als äußerst erfreulich empfanden, dass das Topmanagement den Stein nun ins Rollen brachte. Das größte Lager bestand aus den Managern, die angesichts der langjährigen Erfolge und der völlig unkritischen momentanen Lage keine Notwendigkeit sahen, auf eine potenziell riskante Strategie umzuschwenken. In den beiden anderen Lagern hielt man gewisse Veränderungen für notwendig, lehnte aber strikt alle konkreten Vorschläge ab, von denen man direkt betroffen war. Es herrschte Einigkeit darüber, dass es Probleme gab, aber ganz sicher nicht in den eigenen Abteilungen. Und warum sollte man die Lösung eines Problems als dringlich empfinden, wenn es doch ganz woanders auftrat? Aus diesen beiden Lagern wurden die Veränderungspläne jedenfalls nicht unterstützt. Zwölf Monate später engagierte der zutiefst frustrierte Geschäftsbereichsleiter, mehr denn je von der Notwendigkeit einer neuen Produktentwicklungsstrategie überzeugt, erneut einen Un-

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ternehmensberater, der ihn bei der Umsetzung unterstützen sollte, weil es ihm allein nicht gelungen war. Geschichten wie diese folgen immer demselben Grundmuster: Es gibt schlechte Nachrichten, und das Topmanagement hegt berechtigte Bedenken, die beunruhigenden Informationen unter der Belegschaft zu verbreiten. Über kurz oder lang beschließt das Topmanagement größere Änderungsvorhaben auf der Grundlage der ihm vorliegenden Informationen, die dem Großteil der Mitarbeiter jedoch nicht bekannt sind. Da dem Vorhaben schon auf der mittleren Managementebene keine sonderliche Dringlichkeit beigemessen wird, gestaltet sich seine Umsetzung außerordentlich schwierig und geht nur stockend voran. In der Regel scheitert das Änderungsvorhaben oder bleibt im Ergebnis weit hinter den Erwartungen des Topmanagements zurück. Mit einer Portion Überzeugungskraft, Taktgefühl und überlegtem Vorgehen lassen sich diese Probleme ganz einfach vermeiden, wenn das Topmanagement von Anfang an die richtige Haltung einnimmt und die richtigen Schritte unternimmt. • Das Topmanagement sieht nicht einfach nur ein Problem, son-

dern erkennt die damit verbundene Chance. • Das Topmanagement hat das Ziel, aber auch die Falle im Blick, wobei es Letzteres zu vermeiden gilt. Das Ziel ist, Selbstgefälligkeit durch Dringlichkeit zu ersetzen, die Falle besteht darin, dabei Ängste und Wut zu schüren und die darauf folgende Betriebsamkeit mit echter Dringlichkeit zu verwechseln. • Es gibt die schlechten Nachrichten möglichst vollständig an möglichst viele Mitarbeiter weiter. • Zudem wird klargestellt, dass Informationen aus externen Quellen überaus nützlich sind, um einen sinnvollen Aktionsplan aufzustellen, wie die für das Unternehmen wichtigen und notwendigen Veränderungen am besten umgesetzt werden können.

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• Gleichzeitig macht das Topmanagement unmissverständlich

klar, dass Schuldzuweisungen nicht toleriert werden. Zur Debatte steht ausschließlich, wie das Unternehmen wieder auf Erfolgskurs zu bringen ist. • Das Topmanagement strahlt Sicherheit und Zuversicht aus und lässt sich eventuelle vorhandene Nervosität oder Besorgnis nicht anmerken. Ebenso fehl am Platz sind Wutausbrüche und Überheblichkeit. • Das Topmanagement macht sich im Voraus Gedanken über die möglichen Reaktionen der verschiedenen Lager. Muss damit gerechnet werden, dass die geplanten Veränderungen in bestimmten Abteilungen Ängste wecken oder Zorn hervorrufen, muss das Topmanagement engagiert, zuversichtlich und selbstbewusst auftreten und eiserne Entschlossenheit demonstrieren, um Angst und Wut in ein verstärktes Gespür für Dringlichkeit umzuwandeln. Die Topmanager des Lebensmittelherstellers wollten noch nicht einmal 30, geschweige denn 300 Mitarbeiter in den Abschlussbericht des Unternehmensberaters einweihen. Das hätten sie besser tun sollen. Schon allein aus dem Grund, um das Risiko für das weitere Vorgehen zu minimieren. Sie hätten auf die sich jetzt bietende günstige Gelegenheit verweisen können (diese wäre als dringlich erkannt worden, was die Mitarbeiter mobilisiert und effiziente Maßnahmen ermöglicht hätte). Die Topmanager hätten ihre Entschlossenheit unter Beweis stellen müssen, ihren Willen, jetzt tätig zu werden, um zu siegen. Das hätte bewiesen, dass sie an den Sieg glauben, dass ein Sieg über den Fortbestand des Unternehmens entscheidet, und dass dieser Sieg möglich ist. Das hätte allen Mitarbeitern gezeigt, dass es nicht darum geht, die Schuldigen für frühere Misserfolge zu bestrafen (was Angst und falsch verstandene Dringlichkeit von vorneherein ausschließt), sondern darum, den zukünftigen Erfolg zu sichern. Das Topma-

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nagement hätte Führungsstärke beweisen müssen, um der Dringlichkeit Vorschub zu leisten, anstatt sich ausschließlich auf Schadensbegrenzung zu beschränken. Selbst wenn das Topmanagement alles richtig macht, lässt sich kaum vermeiden, dass schlechte Nachrichten in gewissem Ausmaß auch immer für schlechte Stimmung sorgen. Doch es hilft ja nichts. Mit der Verbreitung schlechter Nachrichten handeln Sie sich vielleicht kurzzeitig einige Probleme ein, doch wenn Sie sie geheim halten, gefährden Sie womöglich die Zukunft des Unternehmens, weil die Mitarbeiter sich in Sicherheit wähnen und weiterhin in Selbstgefälligkeit schwelgen. So gesehen scheint die Sache ganz einfach zu sein, oder? Vor zehn Jahren hätte ich noch behauptet, es wäre »zu einfach«, um wahr zu sein. Heute bin ich anderer Ansicht.

Dekorieren Sie doch einmal um Vor zehn Jahren war ich bei einer Firma eingeladen, und an diesen Besuch erinnere ich mich so gut, als wäre es erst gestern gewesen. Sie war in den 1950er Jahren unglaublich erfolgreich gewesen, verzeichnete jedoch zum Zeitpunkt meines Besuchs schon seit 20 Jahren rückläufige Absatzzahlen. Die Firma focht einen erbitterten Kampf um Leben und Tod aus und hatte üble Schläge einstecken müssen. Eigentlich müsste ich sagen, sie befand sich damals schon im Todeskampf. Ich war also auf so manches gefasst, aber nicht darauf, dass mich hinter den Türen der Firmenzentrale eine Fantasiewelt erwarten würde. Weit und breit deutete nichts, aber auch gar nichts darauf hin, dass die Firma um ihr Überleben kämpfte. Und das nicht erst seit kurzem, sondern schon seit 20 Jahren. Es gab keine Spuren, keine einzige Narbe von den herben Schlägen, die sie Tag für Tag einstecken musste. Nirgendwo fand sich der kleinste Hinweis da-

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rauf, dass der kontinuierliche technologische Fortschritt ein fantastisches Sprungbrett darstellte, um die Konkurrenz weit hinter sich zu lassen. In dem riesigen Raum, in dem ich auf meinen Gesprächspartner wartete, herrschte eine Stille, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Ich hatte das Gefühl, im Vorzimmer des königlichen Thronsaals zu sitzen. Als krasses Gegenbeispiel ist mir ein anderer Besuch in Erinnerung. In der Besucherecke dieser sehr erfolgreichen Firma schien das gesamte externe Umfeld an den Wänden zu hängen. Es gab Fotos von Kunden, Produktfotos und Poster, auf denen die Produktionsstätten und Zweigstellen der Firma abgebildet waren. Aus Fachzeitschriften herausgetrennte Artikel hingen ebenso an der Wand wie Briefe, in denen sich Kunden bedankten oder beschwerten, wobei die positiven Äußerungen in der Überzahl waren. Dann gab es Konstruktionszeichnungen von geplanten Produkten und zwei große Grafiken. Eine zeigte die Gewinnsteigerung über die letzten zwei Jahre (über die man sich freuen konnte), die andere zeigte die Aktienkursentwicklung (über die man sich nicht freuen konnte). Die vielen Bilder und Poster erinnerten mich stark an das Zimmer eines Teenagers, und dieser Eindruck wurde durch das Bild eines konkurrierenden CEOs, dem man einen gemalten Schnurrbart verpasst hatte, nur noch verstärkt. Auf meine neugierigen Fragen hin erfuhr ich, dass die Bilder und Poster regelmäßig ausgetauscht wurden. Mindestens einmal pro Woche wurde etwas Neues aufgehängt und etwas Altes entfernt. Normalerweise kümmerte sich der für die Besucherecke verantwortliche Mitarbeiter darum, doch im Prinzip durfte sich jeder an der Dekoration beteiligen, solange er es nicht übertrieb. Und die meisten Angestellten beteiligten sich sehr gerne daran. Da mein Gesprächspartner auf dem Flughafen aufgehalten worden war, musste ich eine Stunde auf ihn warten, was mir völlig egal war. Mir gefiel es hier unheimlich gut, und außerdem war es auch unheimlich informativ. In dieser Stunde erfuhr ich mehr

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über die Branche, die Produkte, die Wettbewerbssituation und die globalen Märkte, als mir ein Branchenexperte in einem mehrstündigen (und sicherlich langweiligen) Gespräch hätte vermitteln können. Die vielen Bilder sendeten ganz klare Signale aus: freudige Erregung, Wachsamkeit, Reaktionsgeschwindigkeit und die Bereitschaft zu kontinuierlicher Veränderung. Während ich mich nur einmal in diesem Bereich aufhielt, kommen die Mitarbeiter mindestens zweimal pro Tag an der Besucherecke vorbei. Informative, aber optisch langweilige oder immer gleichbleibende Aushänge wären vermutlich nur für neue Mitarbeiter interessant, alle anderen würden sie bald schon gar nicht mehr wahrnehmen. Aber die vielen Bilder, Poster und Aushänge waren alles andere als optisch langweilig und wurden ja regelmäßig ersetzt, sodass die neuen Informationen immer wieder aufs Neue das Interesse aller weckten. Ganz allgemein gilt, dass Bilder und Grafiken aller Art Signalwirkung haben und zum Beispiel auf externe Ereignisse hinweisen. Daher sollte auch sichergestellt werden, dass sie die richtigen Signale aussenden. Es empfiehlt sich, einen Verantwortlichen zu ernennen, der regelmäßig überprüft, welche Botschaften überhaupt vermittelt werden. Vielleicht übertragen Sie die Zuständigkeit dafür Ihrer PR-Abteilung oder dem Marketing. Das Wichtigste ist, dass derjenige, der für die optische Signalwirkung zuständig ist, versteht, worum es Ihnen geht, selbst ein gutes Auge für Bilder und Grafiken hat und weiß, dass die Konfrontation mit der Realität von nun an zu seinen Aufgaben gehört.

Schicken Sie Ihre Leute in die Welt hinaus Eine Möglichkeit, den Bezug zur Außenwelt wieder herzustellen, ist, Mitarbeiter in die Welt hinauszuschicken, damit sie sich selbst

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ein Bild darüber machen können, was sich so tut. Kehren Ihre Außenagenten zurück, haben sie sicherlich viele interessante Informationen im Gepäck und können von ihren Erfahrungen und Eindrücken berichten. Auf Anregung eines Marketingmanagers bat der CEO eines Sportartikelherstellers seine beiden IT-Manager, zwei Mal im Jahr die Außendienstmitarbeiter auf ihren Geschäftsreisen zu wichtigen Einzelhandelskunden zu begleiten. Beim ersten Mal wurde sein Vorschlag weder von den Handelsvertretern noch von den IT-Leitern sonderlich begeistert aufgenommen, doch der CEO bestand darauf. Einige der Außendienstmitarbeiter verstanden den Zweck der Übung durchaus und machten gute Vorschläge, welche Kundenbesuche diesem Zweck am besten dienen würden. Also schickte der CEO die IT-Manager von nun an regelmäßig auf die Reise mit ihnen. Auf der ersten Geschäftsreise besuchte jeder IT-Manager innerhalb von drei Tagen jeweils zwölf Kunden in drei verschiedenen Städten. Beide empfanden es als eine neue und wichtige Erfahrung, an den persönlichen Gesprächen der Außendienstler mit den Kunden teilzunehmen, anstatt nur eine schriftliche Zusammenfassung darüber zu lesen. Sie erfuhren aus erster Hand, welche Vor- und Nachteile die elektronischen Schnittstellen zwischen Kunden und Zulieferern mit sich brachten, was die Kunden von den Systemen hielten, über welche die Lieferung, Rechnungsstellung und der Kundendienst abgewickelt wurden, und was genau und aus welchem Grund bei Kunden gut oder schlecht ankam. Softwareanwendungen, die aus der Perspektive der ITExperten bisher als gut bis hervorragend erachtet wurden, erschienen aus der Perspektive der Kunden plötzlich in einem ganz anderen Licht. Vor allem aber erfuhren die beiden IT-Manager, welche spezifischen Anforderungen die Verbraucher an den Einzelhandel stellen, welche Herausforderungen der Wettbewerb mit sich bringt und welche allgemeinen Arbeitsbedingungen in

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den Betrieben der Einzelhandelskunden herrschen. Auch wenn vieles längst bekannt war, konnten die Manager doch einige neue Informationen in Erfahrung bringen. Zum einen, welche technologischen Veränderungen erforderlich waren, was direkt in ihren Zuständigkeitsbereich fiel, zum anderen aber auch, welche Bedingungen für den Einzelhandel erfüllt werden mussten und welche Konsequenzen sich daraus ergaben. Im persönlichen Gespräch mit Außenstehenden konnten auch längst bekannte Tatsachen aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden und neue Überlegungen und Empfindungen auslösen. Es war möglich, spontan nachzuhaken, wenn Fragen auftraten, und nicht nur aus den Unterhaltungen, sondern auch aus der Art, mit der die Kunden den Außendienstlern und IT-Leuten begegneten, ließen sich unmittelbar Rückschlüsse ziehen. Es handelte sich um eine beeindruckende Erfahrung. Die IT-Manager brachten Informationen und Empfindungen ins Unternehmen, die das Gefühl der Dringlichkeit für eine Verbesserung der IT verstärkten. Die Vorgehensweise des CEO machte in seinem Unternehmen Schule. Auch der für die Personalentwicklung von Führungskräften Verantwortliche schickt jedes Jahr zwei bis drei Topmanager zu einem dreiwöchigen Seminar an einer renommierten Universität. Mit großem Erfolg, denn die dort gewonnenen Erkenntnisse über ökonomische Trends, über die Wettbewerbsstrategien erfolgreicher Unternehmen und über die neuesten Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt kommen dem ganzen Unternehmen zugute. Auf den Seminaren werden nicht nur neue betriebliche Praktiken vorgestellt, sondern auch wichtige generelle Tendenzen erörtert, die für die Geschäftswelt relevant sind. Daraus lassen sich wichtige Schlüsse über die Herausforderungen ziehen, mit denen die unterschiedlichen Unternehmensabteilungen in naher Zukunft konfrontiert werden. Noch wichtiger aber ist, dass die Seminarteilnehmer bei ihrer Rückkehr die echte Dringlichkeit verspüren, ihr neu gewonnenes Wissen zu nutzen und mit allen

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zu teilen. Einen ebenso positiven Effekt versucht ein Marketingmanager dadurch zu erzielen, dass er mit seinem zehnköpfigen Team regelmäßig die Jahreskonferenz der American Marketing Association besucht. Wieder zurück, werden die Informationen nicht einfach nur per Rundmail, sondern mit der gebotenen Dringlichkeit im persönlichen Gespräch weitergegeben. Das Gefühl für Dringlichkeit stellt sich ganz von alleine ein, sobald Mitarbeitern vernünftige Möglichkeiten geboten werden, mit externen Interessengruppen in Kontakt zu treten – nicht nur mit Kunden, sondern auch mit Zulieferern, Branchenexperten, Aktionären oder Gewerkschaftsvertretern. Mitarbeiter, die von einem Ausflug in die Realität zurückkehren, bringen den »Daheimgebliebenen« immer etwas mit: Informationen, was sich in der wirklichen Welt abspielt. Und da mit diesen Informationen auch immer persönliche Erlebnisse verbunden sind, werden sie von den Ausflüglern normalerweise nicht als nüchterne Fakten präsentiert, sondern in aufregende, lustige oder dramatische Geschichten verpackt, welche die Kollegen nicht nur zum Mitdenken, sondern auch zum Mitfühlen animieren. Die in Geschichten verpackten Informationen beeinflussen die betriebsinterne Stimmung (Herz und Verstand), die so außerordentlich wichtig ist. Vor einigen Jahren unternahmen die 30 Spitzenkräfte eines milliardenschweren Unternehmens aus einem fernen Land eine zweiwöchige Reise nach Europa und in die USA. Ein junger Personalleiter hatte die Reise vorgeschlagen, und die Unternehmensführung hatte sie bewilligt. Der junge Manager hatte die Stationen der Reise bis ins Detail geplant. Die Truppe besuchte alle möglichen ausländischen Firmen, deren Geschäftstätigkeit mit der eigenen vergleichbar war. Man sah sich in ausgewählten Betrieben um, die sich durch den Einsatz bester Praktiken einen Namen gemacht hatten. Auch einige Universitäten standen auf dem Besichtigungsprogramm. Ich fragte den CEO, wie es sich sein Unternehmen leisten konnte, zwei Wochen auf das komplette

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Topmanagement zu verzichten. Erst sah er mich an, als wäre das die merkwürdigste Frage der Welt, dann antwortete er: »Na, wir delegieren eben.«

Laden Sie Außenstehende ein Die sechste Möglichkeit, in Kontakt mit der Außenwelt zu treten, ist, sich Außenstehende ins Haus zu holen. Die jährliche Managementkonferenz eines großen Produktionsbetriebs lief seit ewigen Zeiten immer nach demselben Muster ab. Mehrere 100 Teilnehmer, darunter die Vorstandsmitglieder, deren direkte Untergebene und eine Reihe weiterer hochrangiger Führungspersonen, wurden eingeladen. Es waren grundsätzlich drei Tage für die Konferenz angesetzt, und je nachdem, wie gut die Geschäfte liefen, war das Ambiente entweder luxuriös oder etwas bescheidener. An mindestens einem Nachmittag traf man sich auf dem Golfplatz. Für die Konferenz waren üblicherweise rund 15 Präsentationen und Vorträge angesetzt, die ausschließlich von betriebsinternen Topmanagern gehalten wurden. Eine hundertprozentige Insider-Veranstaltung also. Dann wurde ausnahmsweise einmal ein externer Fachmann von einer Universität eingeladen, um einen Vortrag zu halten. Da dieser beim Publikum recht gut angekommen war, standen im darauffolgenden Jahr die Reden eines Branchenexperten und dreier Kunden auf dem Programm, denen das Unternehmen nicht nur einen beträchtlichen Teil seiner Umsätze verdankte, sondern denen auch der Ruf vorauseilte, besonders glaubwürdig und unkompliziert zu sein. Alle drei wurden vor der Konferenz ausdrücklich darum gebeten, offen und ehrlich darüber zu sprechen, wie sich die Geschäftsbeziehungen zu dem Unternehmen aus ihrer Sicht darstellten: Sie sollten sich bei kritischen Äußerungen

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bitte nicht zurückhalten, die Kritikpunkte aber auch ohne Übertreibungen und Effekthascherei vorbringen. Die Auftritte der Kunden entfachten hitzige, aber überaus interessante Diskussionen. Da es sich als außerordentlich erfolgreich und produktiv erwiesen hatte, Außenstehende zu der Konferenz einzuladen, wurden auch im nächsten Jahr wieder Branchenexperten und einige Kunden und obendrein einer der wichtigsten Zulieferer eingeladen, den man ebenfalls mit Bedacht auswählte und dem man mitteilte, was man sich von seinem Auftritt erwartete. Innerhalb von drei Jahren entwickelte sich die hundertprozentige Insider-Veranstaltung zu einer Konferenz, bei welcher der Anteil von Gastrednern bei 35 Prozent lag. Die Unternehmensleitung schenkte dieser Entwicklung relativ wenig Beachtung. Für sie war es lediglich eine kleine Veränderung an der Tagesordnung eines Ereignisses, das nur einmal im Jahr stattfand. Außerhalb des Vorstands aber weckte die Entwicklung großes Interesse. Immerhin war es die Jahreshauptkonferenz und für jeden eine gute Gelegenheit, etwas darüber in Erfahrung zu bringen, was sich an der Führungsspitze eigentlich so tat und welche Pläne geschmiedet wurden. Die Tatsache, dass die einst geschlossene Gesellschaft nun Außenstehende zuließ, dass 35 Prozent der Beiträge von Externen kamen, war für alle, die nicht im Vorstand saßen, eine gewaltige und nicht zu übersehende Veränderung. Als bekannt wurde, dass der CEO die Rednerauswahl abgesegnet hatte, lauschte das Publikum den Außenstehenden und ihrer Botschaft noch aufmerksamer. Die wichtigste Botschaft war, dass sich die Welt außerhalb des Unternehmens weiterdrehte und veränderte, weshalb man sich schneller und flexibler bewegen sollte, um nicht den Anschluss zu verpassen. Das allein reichte aus, um das Gespür für Dringlichkeit zu stärken. Nicht gerade viel, aber doch genug, um die Dinge ins Rollen zu bringen. Frischen Wind können auch neue Mitarbeiter in ein Unternehmen bringen. Ich kenne einen Personalleiter, der bei jedem Vor-

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stellungsgespräch peinlich genau darauf achtet, ob er bei dem Bewerber eine Spur von Selbstgefälligkeit entdecken kann. Es bringt natürlich wenig, nur einen neuen Mitarbeiter mit einem ausgeprägten Gespür für Dringlichkeit einzustellen, da ein einzelner Mensch kaum etwas gegen die Selbstgefälligkeit vieler ausrichten kann. Werden jedoch kontinuierlich neue Mitarbeiter eingestellt, die sich durch ein gutes Gespür für Dringlichkeit auszeichnen, sieht die Sache schon ganz anders aus. Oft werden auch Unternehmensberater für eine gewisse Zeit eingesetzt, meist mit dem expliziten Ziel, Informationen von außen, neue Ideen oder Erfahrungen ins Unternehmen zu bringen. Wie effektiv dies vonstattengeht, variiert von Fall zu Fall außerordentlich. Schon jeder hat von Unternehmen gehört, denen der Einsatz von Unternehmensberatern überhaupt nichts brachte. Aber es gibt auch beeindruckende gegensätzliche Beispiele, in welchen ein Insider die Selbstgefälligkeit ohne die Hilfe von externen Beratern nie hätte reduzieren können. Obwohl es mit nur geringem finanziellen oder sonstigen Aufwand möglich ist, externe Meinungen und Informationen aus der Außenwelt zu sammeln, werden diese Möglichkeiten von Unternehmen seltsamerweise oft nicht genutzt. In einem erfolgreichen Unternehmen werden zum Beispiel immer wieder Einstellungsgespräche geführt, weil der Bedarf an Arbeitskräften mit dem Firmenwachstum zunimmt. Allerdings ist es die absolute Ausnahme, dass die Einstellungsgespräche systematisch dafür genutzt werden, etwas über den vorherigen Arbeitgeber des Bewerbers in Erfahrung zu bringen, obwohl hier die Möglichkeit bestünde, Informationen über die Konkurrenz zu sammeln. Dies erfolgt im Regelfall nur, wenn es tatsächlich zu einem Arbeitsvertrag mit dem Bewerber kommt, die möglicherweise interessanten Fakten, die abgelehnte Kandidaten zu erzählen hätten, gehen verloren. Ähnliches gilt für die Zulieferer oder Vertriebspartner einer Firma, die man nur zu einem regen Gedankenaustausch einladen müsste, um In-

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formationen zu sammeln. Diese Möglichkeiten kosten so gut wie nichts, werden aber so gut wie nie genutzt.

»Importieren« Sie Informationen auf die richtige Weise Diese Taktik ist mit Abstand die am weitesten verbreitete, um den Realitätsverlust aufzuheben. Gleichzeitig ist es auch die Taktik, die in den meisten Fällen sehr ungeschickt oder doch zumindest extrem ineffizient ins Feld geführt wird. Um sie zu nutzen, muss man sich nicht einmal aus dem Büro bequemen, sofern man nicht gerade im Außendienst tätig ist, und ist auch nicht auf die Hilfe Außenstehender angewiesen. Informationen von draußen können aus vielen Quellen stammen: aus Zeitschriften, Zeitungen, Publikationen, aus Ratgebern und dem unerschöpflichen Internet, um nur einige zu nennen. Externe Informationen einzuholen kann sich als unglaublich zeitaufwändig gestalten, muss es aber nicht, wie die Untersuchung einiger gängiger Praktiken beweist. So ist es zum Beispiel ganz unglaublich, wie viele Informationen ein 25-Jähriger heutzutage innerhalb kürzester Zeit im Internet finden und zeit- und kostensparend weitergeben kann. Um systematisch Daten über die Kundenzufriedenheit sammeln zu können, ist es auch nicht erforderlich, einem Berater 6 Millionen Dollar Honorar für die Entwicklung und Implementierung eines komplizierten Systems zu bezahlen. Es gibt auf dem Markt genügend zuverlässige und perfekt geeignete Programme, die für ein Zehntel dieser Summe oder weniger erhältlich sind, je nachdem, wie viele Kunden eine Firma hat. Es ist völlig überflüssig, Mitarbeiter mit einer Fülle unverständlicher Daten zu überfordern und sie damit zu verärgern, zu verwirren oder von ihrer Arbeit abzulenken. Daten las-

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sen sich schließlich schnell, einfach, verständlich und effizient sammeln und zusammenstellen. Sie müssen weder kompliziert sein noch teuer erkauft werden, um erstaunliche Wirkung zu zeigen, sondern nur auf geeignete Weise und zur richtigen Zeit präsentiert werden. Vor vielen Jahren, als es sich gerade durchsetzte, Computerarbeitsplätze für alle Mitarbeiter einzurichten, bekam ich zufällig mit, wie ein IT-Gruppenleiter dem CEO des Unternehmens vorschlug, eine Grafik mit der Aktienentwicklung der letzten zwei Jahre zusammen mit den Aktienkursen der sechs wichtigsten Mitbewerber auf allen Computerbildschirmen erscheinen zu lassen. Eines Morgens, als die ahnungslosen Mitarbeiter ihre Computer einschalteten, prangte die Grafik auf allen Monitoren und ließ sich bis zum Ende des Arbeitstages auch nicht entfernen. Über diese überraschend preisgegebenen Informationen wurde im ganzen Unternehmen heftig debattiert, und auch wenn nicht alle Diskussionen unbedingt produktiv verliefen, gaben sie einigen Mitarbeitern doch den Anstoß, sich um weitere Informationen zu bemühen, welche die Entwicklung des Aktienkurses erklären konnten. Mit dieser kleinen technischen Spielerei ging der CEO natürlich auch das Risiko ein, für den nicht gerade überzeugenden Auftritt auf dem Börsenparkett verantwortlich gemacht zu werden, und musste sich tatsächlich so einiges an kritischen Äußerungen anhören. Da jedoch nicht nur einige Manager, sondern die gesamte Belegschaft die ziemlich überraschenden Informationen nicht nur für ein paar Minuten, sondern einen ganzen Arbeitstag vor Augen hatten, stellte sich die Maßnahme letztendlich als außerordentlich dringlichkeitsfördernd heraus. In einem Produktionsbetrieb schlug ein PR-Mitarbeiter seinem Vorgesetzten vor, probehalber doch einmal einen Ausschnittdienst – auch Clipping Service genannt – zur Medienbeobachtung einzuschalten. Der Vorgesetzte unterbreitete den Vorschlag dem Vorstand, der ihn genehmigte. Ab dem Moment erhielt der

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PR-Mitarbeiter von dem Ausschnittdienst täglich eine Vielzahl von Medienberichten aus unterschiedlichen Quellen zugeschickt. Gemeinsam mit einem Kollegen aus der strategischen Planungsabteilung sichtete er das umfangreiche Material und wählte jeden Tag einen Bericht aus, den er für die Manager der mittleren und oberen Ebene in das Intranet stellte. Die Auswahlkriterien waren: 1. Der Bericht war für die Firma relevant, 2. der Text oder Videoclip musste in zehn Minuten gelesen beziehungsweise angesehen werden können, 3. der Bericht stammte aus einer zuverlässigen Quelle und 4. die Informationen mussten interessant, spannend oder erschütternd genug sein, damit die Manager sie auch lesen. Diese Vorgehensweise bewährte sich nicht nur, sondern wurde mit der Zeit weiterentwickelt und an die betriebsinternen Anforderungen angepasst. So erhalten heute zum Beispiel einzelne Arbeitsgruppen gelegentlich unterschiedliche Berichte mit gezielt ausgewählten Inhalten, und Führungskräfte, die etwas Interessantes lesen, weisen die für den Informationsdienst zuständigen Mitarbeiter auf die entsprechenden Artikel hin. Wie man sich leicht vorstellen kann, ist gerade Letzteres nicht immer ganz unproblematisch, denn unter Umständen muss einem hochrangigen Manager schonend beigebracht werden, dass die von ihm als relevant erachteten Artikel doch nicht so interessant sind. Im Großen und Ganzen aber hat sich diese Methode der Informationssammlung und -weitergabe nach Ansicht aller Beteiligten als sehr erfolgreich erwiesen (und diesem Urteil möchte ich mich anschließen). In den letzten zwei Jahrzehnten haben viele Unternehmen Möglichkeiten geschaffen, um Daten über die Zufriedenheit ihrer Kunden zu sammeln. Allerdings ist es nur wenigen Unternehmen gelungen, ausgereifte Systeme einzurichten, die aussagekräf-

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tige Informationen über die Beziehungen zu bestehenden und potenziellen Kunden liefern: Was genau veranlasst die Kunden, die Produkte der Firma oder dann doch die Konkurrenzprodukte zu kaufen? Welche Kundenbedürfnisse werden über die Angebotspalette befriedigt? Was wird von Kunden wie häufig reklamiert? Wie freundlich und reaktionsschnell arbeitet das Kundendienstpersonal? Einige Beratungsunternehmen verdienen sich eine goldene Nase damit, ihre Unternehmenskunden nicht nur mit den üblichen Informationen über die Mitbewerber zu versorgen, sondern auch detaillierte Daten über deren Ausgaben, Gemeinkosten, Gewinnspannen, den Kapitalfluss und vieles mehr zu liefern. Über die wichtigsten Zulieferer eines Unternehmens liegen nur selten ähnlich umfangreiche Informationen vor, obwohl dies ganz sicher auch außerordentlich hilfreich wäre. Dass der Informationsimport sinnvoll und wichtig ist, wird niemand ernsthaft bestreiten wollen. Umso bedauerlicher ist es, dass sich dabei immer wieder Fehler einschleichen, die das Gefühl für Dringlichkeit – wenn überhaupt – nur mäßig stärken: Die Fakten sind zu steril und geraten schnell in Vergessenheit. Die Daten werden nur sporadisch erhoben und besitzen somit keinerlei Aussagekraft. Die Mitarbeiter werden mit so vielen Daten überflutet, dass ihr Informationsgehalt im wahrsten Sinn des Wortes untergeht. Für einen sinnvollen und hilfreichen Datenimport empfiehlt es sich, die folgenden vier Regeln zu beachten: 1. Es müssen genügend Informationen über die Konkurrenz, die Kunden, technologische Innovationen und dergleichen gesammelt werden, und zwar systematisch. Sich mit zu wenig Daten zufriedenzugeben ist ein typischer Flüchtigkeitsfehler, der leicht zu vermeiden wäre, doch nach innen gerichtete Unternehmen begehen ihn immer wieder. 2. Eine Informationsüberflutung ist zu vermeiden, damit wichtige Informationen in der Unmenge von Memos, Berichten

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und Besprechungsterminen, mit denen die Mitarbeiter tagtäglich zu kämpfen haben, nicht einfach untergehen. Besser ist es, pro Tag einen relevanten Artikel zu versenden, den ein kompetenter Medienbeobachter nach vorgegebenen Kriterien auswählt – zum Beispiel, dass er sich in weniger als zehn Minuten lesen lässt –, anstatt den Mitarbeitern 15 Berichte zuzuschicken, für die sie Stunden zum Lesen brauchen. 3. Informationen dürfen nicht so steril verpackt werden, dass sie nach einmaliger Durchsicht sofort wieder aus dem Kurzzeitgedächtnis gelöscht werden. Interessant, spannend und auffällig präsentiert, bleiben Informationen viel besser in Erinnerung. Womit wir wieder bei dem Motto »Herz und Verstand gewinnen« wären, das eine so wichtige Rolle dabei spielt, das Gefühl für Dringlichkeit zu stärken. 4. Nützliche und interessante Informationen sollten an möglichst viele Menschen weitergegeben werden, sofern dies ohne Risiko möglich ist. Der Informationsfluss darf nicht von hierarchischen Hürden, Standesdünkel oder der Furcht vor der Reaktion auf schlechte Nachrichten ins Stocken gebracht werden. Nur wenn die Informationen ungehindert fließen, kann sich auch das Gefühl für Dringlichkeit ungehindert entfalten. Wenn es um den Informationsimport geht, ist das Internet wohl die erste und beste Adresse. Allerdings ist es wenig sinnvoll, aufs Geratewohl herumzusurfen. Nutzen Sie geschickt die Web-Seiten, Webcasts, Foren, Chatrooms, Webinars und dergleichen, auf denen Sie die für Sie relevanten Informationen finden. Die Liste der Adressen im weltweiten Netz wird täglich länger, und ich vermute, dass die Gefahr, sich im Informationsdschungel zu verlaufen, ebenfalls täglich größer wird. Wer klug ist, lernt, diese Informationsquelle so zu nutzen, dass sie den eigenen Zwecken dient – zum Beispiel dem Zweck, die Dringlichkeit diverser Angelegenheiten zu verdeutlichen.

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Stellen Sie sich einmal vor … Wie wäre es mit einem kleinen Gedankenspiel? Stellen Sie sich ein Unternehmen vor, in dem sich alle darum bemühen, dass es sich für äußere Einflüsse öffnet und offen bleibt, indem • Mitarbeiter die Möglichkeit haben, »draußen« Erfahrungen zu sammeln, • Außenstehende zum Gedankenaustausch eingeladen werden, • externe Informationen importiert und spannend aufbereitet werden, • Mitarbeitern an der Kundenfront Aufmerksamkeit geschenkt wird, • externe Ereignisse oder Erfahrungsberichte über Videofilme nahegebracht werden, • Informationen und vor allem schlechte Nachrichten nicht geheim gehalten, sondern mit allen geteilt werden, • regelmäßig informative Bilder und Grafiken an für alle Mitarbeiter zugänglichen Stellen aufgehängt werden. Fast jeder in einer Organisation oder in einem Unternehmen kann diese Taktiken anwenden, um ein Gefühl für Dringlichkeit bei seinen Kollegen oder Vorgesetzten zu schaffen. Stellen Sie sich nur einmal vor, welchen Einfluss es auf die Selbstgefälligkeit hätte, wenn viele Mitarbeiter auf den unterschiedlichsten Ebenen so vorgehen würden.

Unproduktive Hektik Auf einen sehr wichtigen Punkt will ich am Ende dieses Kapitels noch zu sprechen kommen: Eine zu drastische und unüberlegte Konfrontation mit der Realität weckt nicht automatisch das Gefühl für Dringlichkeit in Ihren Mitarbeitern. Genauso gut kann sie Ängste, Ärger und die Art von unproduktiver Hektik auslösen, die mit falsch verstandener Dringlichkeit einhergeht. Das Beste ist, dieses Problem von vorneherein zu vermeiden. Ist das nicht möglich, muss die unproduktive Betriebsamkeit möglichst

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schnell in produktive Dringlichkeit verwandelt werden. Um bei der Konfrontation mit der Realität und allen anderen hier beschriebenen Taktiken keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, benötigen Sie ein gutes Urteilsvermögen. Sie kennen Ihre Mitarbeiter, deren wahrscheinlichste Reaktionen und das herrschende Betriebsklima am besten. Überlegen Sie genau, ob die Konfrontation mit der Realität – die Konfrontation mit Informationen oder Außenstehenden – auf die von Ihnen geplante Weise und unter den gegebenen Bedingungen in Ihren Mitarbeitern tatsächlich den aufrichtig empfundenen Wunsch wecken kann, jetzt aktiv zu werden, um einen Sieg zu erringen, oder ob Sie sie damit eher erzürnen, frustrieren und verängstigen. Manchmal lässt sich der Panzer der Selbstgefälligkeit nur durch eine gut platzierte, emotionale Bombe sprengen. Allerdings muss man dann auch darauf gefasst sein, dass der anschließende explosive Gefühlsausbruch normalerweise negativ geladen ist, und Sofortmaßnahmen ergreifen, um die negative Ladung in eine positive umzupolen. Dies wiederum gelingt am besten, indem Sie möglichst viel positive Energie aus der Quelle wahrer Dringlichkeit schöpfen und in Ihr Umfeld einfließen lassen. Das heißt, Sie stellen ein Verhalten zur Schau, das von Entschlossenheit, Selbstsicherheit, leidenschaftlichem Engagement und Kompetenz zeugt und zudem erkennen lässt, dass Ihnen nicht an Schuldzuweisungen gelegen ist. Ein solches Verhalten gibt nicht nur Ihnen Kraft, Energie und Zuversicht, sondern auch anderen, und kommt somit dem Gefühl für Dringlichkeit ungemein zugute. Selbst mit der gebotenen Dringlichkeit zu handeln ist eine Taktik für sich. Eine so effiziente Taktik, dass ich ihr ein eigenes Kapitel widme. Lesen Sie also gleich weiter. 1

Dieses Beispiel kann in vollständiger Fassung und in den Worten der Hauptperson, erzählt in dem Buch Heart of Change. Real Life Stories of How People Change Their Organization von John P. Kotter und Dan S. Cohen auf den Seiten 18 bis 20, nachgelesen werden. (Boston: Harvard Business School Press, 2002)

Kapitel 5

Taktik Nr. 2 Selbst mit der gebotenen Dringlichkeit handeln (Tag für Tag)

Vielleicht kommt Ihnen folgende Unterhaltung ja irgendwie bekannt vor. »Es passiert einfach nichts! Mein Team ist unglaublich selbstgefällig geworden!« Stimmt. Es ist nachweislich noch nicht viel passiert. Der Gesprächspartner kann dies nur bestätigen. »In spätestens zwölf Monaten muss alles erledigt sein. Aber bei dem Schneckentempo kann das ja noch eineinhalb bis zwei Jahre oder ewig und drei Tage dauern. Das kann ich nicht akzeptieren! Wir müssen jetzt ordentlich Tempo machen.« Das Gegenüber ist exakt derselben Meinung. »Ich muss unbedingt mit John und Henry sprechen. So geht das nicht weiter.« Der andere hält das für eine ausgezeichnete Idee und fragt, wann das Gespräch mit John und Henry denn stattfinden soll. »Wenn ich die beiden das nächste Mal treffe. Das wird der erste Punkt auf meiner Tagesordnung sein.« Gut. Doch wann wird das konkret sein, fragt der andere. »Mal sehen. Heute ist der 28ste. Das nächste Meeting mit John und Henry in London ist am …, also zuerst muss ich zu dieser Besprechung nach New York, dann noch einmal hierher, weil für den 15ten die Auswertung der Quartalsberichte angesetzt ist. Anschließend fliege ich nach Paris und von dort aus nach London. Das wäre dann heute in vier Wochen. Hm, wenn ich

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Paris nach hinten verschiebe und zuerst nach London fliege, wäre der Termin eine Woche früher. Was meinen Sie?« Der andere meint, vier Wochen wären schon ganz schön lang. »Gut, dann zuerst nach London. Andererseits … das könnte zu Problemen mit André in Paris führen, ich weiß nicht so recht …« Wie dringend muss das Problem mit John und Henry denn aus der Welt geschafft werden, will das Gegenüber wissen. »Am besten sofort, das wissen Sie doch. Warum fragen Sie denn?« Der andere seufzt.

Schnell reagieren, sofort handeln Szenenwechsel zu einer anderen Führungskraft in einer anderen Firma. Diese Führungskraft weiß, dass dringliches Handeln heutzutage unverzichtbar ist, um überhaupt eine Chance zu haben, mit dem sich immer schneller vollziehenden Wandel Schritt halten zu können. Sie weiß, dass der Mangel an dem Gefühl für Dringlichkeit notwendige Aktionen unterschiedlichster Art entweder ganz blockiert oder wirkungslos verpuffen lässt. Wohin sie auch blickt, überall begegnen ihr vor Selbstgefälligkeit strotzende oder von nervöser Hektik befallene Kollegen und Untergebene. Sie weiß aus Erfahrung, dass das vergiftete Betriebsklima nach einer Strategie verlangt, die sowohl auf rationaler als auch auf emotionaler Ebene greift. Sie hat bereits einige Maßnahmen ergriffen, die der Konfrontation mit der Realität dienen, doch damit will sie sich nicht begnügen. Was kann sie denn noch unternehmen? Im Zuge einer Geschäftsreise nach Asien begegnet sie Ninan, der ihr eine weitere Möglichkeit aufzeigt. Ninan arbeitet in Indien als Büroleiter für eine Firma, die Outsourcing-Dienste anbietet. Das größte seiner drei kleinen Büros

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befindet sich in Hyderabad. Hyderabad ist ein schnell wachsendes High-Tech-Zentrum am Puls der Zeit, das den Eindruck vermittelt, der Wind des Wandels wehe so beständig, dass mangelndes Gespür für Dringlichkeit ein Fremdwort sein müsste. Ninan weiß es besser. Er erkennt die großen Chancen und potenziellen Risiken und weiß zugleich, dass die Selbstgefälligkeit in einigen erfolgsverwöhnten Unternehmen alarmierende Ausmaße annimmt. Die meisten Angestellten der Firma arbeiten in Bangalore. Auf dem globalisierten Outsourcing-Markt sind vergleichsweise billige, aber gut ausgebildete junge Arbeitskräfte, die zudem Englisch sprechen, ein enormer Wettbewerbsvorteil. Der Erfolg schlägt sich in einer jährlichen Wachstumsrate von 40 Prozent nieder, und sowohl Ninans direkter Vorgesetzter als auch der CEO der Firma setzen sich nach allen Kräften dafür ein, kontinuierlich hohe Wachstumsraten zu erzielen. Die Konkurrenz schläft schließlich nicht, und nicht nur in Indien betreten immer neue Mitbewerber die Bühne. Daher muss die Firma schnell wachsen, um die Produktivität weiter zu steigern, die Kosten weiter zu senken und sich in der Branche einen Ruf zu verschaffen, der jedem Vergleich standhält. Außerdem glauben Ninans Vorgesetzter und der CEO, dass es bald keine großen Unterschiede mehr zwischen den Lohnkosten für indische und US-amerikanische Arbeitskräfte geben wird, wodurch ein wichtiger Wettbewerbsvorteil verloren ginge. Ninan stimmt all diesen Überlegungen hundertprozentig zu. Des Weiteren rät er dringend dazu, ein wachsames Auge auf all die vielen Mitbewerber zu haben, die aus allen Richtungen und mit den verschiedensten Strategien zum Angriff blasen. Die Ninan unterstellten Mitarbeiter sind jung, meist ledig und mit ihren Einkommen mehr als zufrieden. Sie haben noch nie berufliche Rückschläge einstecken müssen, schlechte Zeiten in der Firma erlebt oder ihren Arbeitsplatz verloren. Sie freuen sich unbändig darüber, dass sie sich einen wesentlich höheren Lebens-

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standard leisten können als ihre Eltern. Der eine oder andere etwas ältere Mitarbeiter mag sich vielleicht Sorgen über seine Zukunft machen, doch die meisten Jungen und Alten können sich nicht vorstellen, dass es mit dem guten, gesicherten Leben auch einmal vorbei sein könnte. Für Ninan ist diese »Alles ist super«-Einstellung ein deutliches Zeichen für Selbstgefälligkeit und somit ein potenzielles Problem, das jederzeit über ihn hereinbrechen kann. Doch in seinen drei Büros herrscht eine Wachsamkeit, die so gut wie keine Selbstgefälligkeit aufkommen lässt. Wie ihm das gelingt, zeigt sich, wenn man Ninan bei der Arbeit beobachtet. Egal, ob sich Ninan nur kurz mit jemandem unterhält, an einer Sitzung teilnimmt oder eine E-Mail versendet, er geht mit offensichtlicher Dringlichkeit ans Werk. Ruft ihn jemand an, um ihn um die Zusendung wichtiger Informationen zu bitten, versichert Ninan, er hätte sie in spätestens 24 Stunden, auch wenn der Anrufer selbst es gar nicht so eilig hat. Am Ende eines produktiven Meetings verkündet Ninan, was er in der kommenden Woche unternehmen wird, um die beschlossenen Maßnahmen umzusetzen, selbst wenn der Maßnahmenkatalog als Ganzes auf Monate ausgelegt ist. Seine Aussagen sind immer eindeutig: »Am Dienstag bespreche ich die Sache mit Raj.« Dann will er von jedem Einzelnen genau wissen, was er in der kommenden Woche zu tun gedenkt. Und zwar ganz genau. Und er hört sich die Antworten aufmerksam an und nickt dann und wann zustimmend: »Ja, gute Idee. Ja, das bringt uns weiter.« Ninan versendet keine einzige E-Mail ohne irgendeinen Kommentar, und wenn es nur ein kurzer Satz ist, in dem er darauf hinweist, dass die Konkurrenz unablässig daran arbeitet, schnellere, bessere oder günstigere Dienste anzubieten. Fragt ihn ein Mitarbeiter, wann er Zeit habe, über eine wichtige Angelegenheit zu sprechen, antwortet er meistens »Jetzt!«. Wer es dann wagt, im Terminkalender zu blättern und kopfschüttelnd zu beteuern,

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dass er so schnell nicht umdisponieren kann, erntet einen bösen Blick vom Boss. Und wer nicht zeitnah auf Ninans E-Mails antwortet, erhält dieselbe E-Mail noch einmal zur Erinnerung zugeschickt. Ninan führt seine Mitarbeiter zwar mit strenger Hand, Abmahnungen und Beschimpfungen haben sie allerdings nicht von ihm zu befürchten. Er ist ein netter Chef, der viel lobt, optimistisch auf gute Chancen verweist und immer wieder betont, wie wichtig es ist, stolz auf die eigenen Leistungen sein zu können. Er lächelt und lacht viel und kann sich in einer Art und Weise für Dinge begeistern, die aufrichtig wirkt und es zweifelsohne auch ist. Mit seinem Verhalten animiert er seine Mitarbeiter dazu, mit einem Lächeln ans Werk zu gehen, und steckt sie mit seiner freudigen Begeisterung an. Er ist alles andere als ein gestresster Manager, der den Druck an andere weitergibt. Nichtsdestotrotz strahlt er in allen Gesprächen und Aktionen sehr deutlich aus, dass er von allen Mitarbeitern konstante Wachsamkeit erwartet, anstatt sich auf den Lorbeeren auszuruhen, da der bisherige Erfolg keine Garantie dafür ist, dass auch die Zukunft so rosig sein wird. Eine Botschaft wie diese wirkt sich nicht nur darauf aus, welche Überlegungen seine Mitarbeiter anstellen, sondern vor allem darauf, was sie empfinden und wie sie sich verhalten: weniger selbstgefällig, dafür umso tatkräftiger. Sich auf der einen Seite den laufenden Tagesgeschäften, der Einhaltung von Terminen und der Aufrechterhaltung des Leistungsniveaus zu widmen und auf der anderen Seite den Wandel voranzutreiben, um der Konkurrenz immer einen Schritt voraus zu sein, muss ein schwieriger Spagat sein. Doch all das gelingt Ninan auch, ohne sich körperlich und geistig zu erschöpfen und 100 Stunden pro Woche zu arbeiten. Wie schafft er das nur? Er schafft es, weil er delegiert und alles aus der Tagesroutine streicht, was sich als unrentabel erweist, erklärt Ninans Vorgesetzter. So

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war zum Beispiel einmal eine methodische Vorgehensweise vorgegeben, um bei Kundenbesuchen möglichst viele Informationen zu sammeln. Nach zwei Jahren wurde der Nutzen im Verhältnis zum Aufwand immer geringer, weshalb dieses Vorgehen aus den Firmenvorgaben gestrichen wurde. Dasselbe Schicksal ereilte die monatlichen Berichte über die Leistungen der einzelnen Mitarbeiter, die bei nur 25 Mitarbeitern durchaus sinnvoll gewesen waren, angesichts der stark gewachsenen Belegschaft inzwischen aber viel zu aufwändig wurden. Mit seiner Einstellung und seinem Verhalten ist Ninan sogar ein Vorbild für seine Vorgesetzten, die im täglichen Miteinander viel von ihm lernen und dazu übergehen, ihrerseits zu delegieren und zu streichen. Die drei kleinen Büros, die nur einen Bruchteil der Firma darstellen, sind nach Einschätzung von Ninans Vorgesetzten die Zweigstellen, in denen das geringste Maß an Selbstgefälligkeit und das stärkste Gefühl für Dringlichkeit vorherrschen. Und die erstaunlichen Gewinne, die in diesen schnell wachsenden Büros verzeichnet werden, seien vor allem Ninans persönlicher Einstellung und seinem vorbildlichen Verhalten zu verdanken. Doch was genau macht Ninan eigentlich? • Sicher tragen seine Worte über den Wettbewerb, den Markt

und die Bequemlichkeit viel dazu bei, die Notwendigkeit des dringlichen Handelns zu verdeutlichen. • Und weil er ständig darüber spricht, wirken seine Worte umso eindringlicher. • Vor allem aber praktiziert er selbst, was er anderen predigt, Stunde um Stunde, Tag für Tag. Bei jedem Gespräch, in jeder Sitzung und jeder E-Mail wird für alle Mitarbeiter offensichtlich, wie wachsam, engagiert und unermüdlich Ninan nach Chancen und Gefahren Ausschau hält, um Erstere beim Schopf zu ergreifen und Letztere rechtzeitig abzuwenden. Sein vorbildliches Verhalten reizt zur Nachahmung,

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er motiviert seine Mitarbeiter dazu, es ihm nachzutun, er reißt sie geradezu mit und spart nicht mit Lob. Mit seinen Worten und Taten sendet Ninan eindeutige Signale aus, die keine Missverständnisse aufkommen lassen. Seine Botschaften treffen immer ins Schwarze. Ninan ist eine unablässig sprudelnde Quelle dringlichen Handelns. Was veranlasst Ninan dazu, vorbildliche Dringlichkeit zu leben? Sein Vorgesetzter beschreibt ihn als einen ganz normalen Menschen, der weder mit außergewöhnlichen Talenten noch mit besonderer Genialität ausgestattet ist. Aus irgendeinem Grund hat Ninan gelernt, sich vorbildlich zu verhalten. Auf die Frage, wie schwierig es ist, dies zu lernen, zuckt sein Vorgesetzter mit den Schultern und meint, es wäre überhaupt nicht schwierig, man müsse nur verstehen, worum es geht. Und auf die Frage, wie verbreitet dieses Verhalten unter den Führungskräften der Firma sei, gibt der Vorgesetzte bedauernd die Antwort: »Leuten aus meiner Generation hat man es leider nicht beigebracht.«

Die Norm: Musterbeispiele an Un-Dringlichkeit Jeder Mensch sendet unablässig Signale aus. Wie, wann und wo wir etwas sagen, ist dabei manchmal aufschlussreicher als die rein inhaltliche Botschaft. Unsere Tonlage, unser Gesichtsausdruck und unsere Körpersprache werden von anderen Menschen ebenso wahrgenommen wie die Geschwindigkeit, mit der wir auf bestimmte Dinge reagieren. Mitarbeiter und Kollegen nehmen – vielleicht unbewusst – auch Kleinigkeiten zur Kenntnis, zum Beispiel, ob eine Führungskraft pünktlich zur Besprechung erscheint. Signale wie dieses tragen erheblich dazu bei, ob sich ein Gefühl für Dringlichkeit einstellt oder nicht. Ninan war sich dieser Tatsache zumindest instinktiv bewusst und nutzte sie, um seine Mit-

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arbeiter zu motivieren. Eine Führungskraft wie Ninan ist aber leider nicht die Regel. Tony Crandell ist der Direktor zweier großer Krankenhäuser im Mittleren Westen der USA und ein sehr gebildeter, umsichtiger und extrem engagierter Mann. Eines Tages sollten sich in seinem Büro der Chefchirurg des einen Krankenhauses, der Finanzleiter, der Teamchef einer Arbeitsgruppe, die sich um Kostensenkung bemühte, ein Mediziner, der ebenfalls dieser Arbeitsgruppe angehörte, und ein externer Berater zu einer Besprechung einfinden. Geplant war, dass die Teilnehmer den Direktor über die neuesten Entwicklungen bei der Zusammenlegung einiger sich überlappender Leistungsbereiche informieren, einer großangelegten Einsparmaßnahme also, bei deren Umsetzung in den letzten zwölf Monaten jedoch kaum Fortschritte erzielt worden waren. Frustrierend, aber kein Grund, sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben, befand der Direktor. Die für neun Uhr geplante Besprechung begann mit zehn Minuten Verspätung. Der Direktor bot seinen Führungskräften Kaffee und Tee an, was alle bis auf einen dankend ablehnten. Dann erteilte Crandell dem Teamchef der Arbeitsgruppe das Wort. Als dieser nach 20 Minuten mit seinem Bericht zu Ende war, bat der Direktor die anderen Teilnehmer, sich dazu zu äußern. Der Finanzleiter sprach sich vehement für zügige Kostensenkungen aus, da man jetzt schon unter großem Druck stand und dieser in Zukunft nur zunehmen könne. Der Chefchirurg wies – zum wiederholten Mal – auf die Probleme hin, die sich aus der Zusammenlegung bestimmter Bereiche ergeben würden. Der Direktor zeigte sich verständnisvoll und leitete seine wohlüberlegten und immer in kollegialem Tonfall geäußerten Entgegnungen oft mit einem »Das ist richtig, aber …« ein. Dass die größte Sorge des Chefchirurgen war, die Zusammenlegung könnte zur Folge haben, dass unzufriedene Ärzte scharenweise die Flucht ergreifen, war dem Direktor bekannt.

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Die Diskussion verlief zum Teil sehr lebhaft, und zwar meistens dann, wenn der Finanzleiter gerade einmal wieder eine spitze Bemerkung eingeworfen hatte. Die Diskussion wurde unterbrochen, als die Sekretärin anklopfte, den Kopf durch die Tür steckte und meinte, ein Vorstandsmitglied wäre am Telefon und wolle den Direktor sprechen. Mit einem bedauernden Blick in die Runde à la »So ein hohes Tier darf man einfach nicht warten lassen, das wissen Sie ebenso gut wie ich« entschuldigte sich der Direktor für ein paar Minuten. Es dauerte auch wirklich nicht lange, und man nahm die Diskussion wieder auf, wurde aber bereits um kurz nach zehn Uhr erneut von der Sekretärin unterbrochen, die den Direktor darauf hinwies, dass seine nächsten Gesprächspartner bereits im Vorzimmer warteten. Der Direktor bedankte sich bei den Anwesenden, die bereits ihre Unterlagen zusammengepackt hatten und aufgestanden waren, für ihre Unterstützung, erwähnte aber auch, dass der Vorstand den langsamen Fortschritt des Projekts mit zunehmender Unzufriedenheit aufnahm. Die Führungskräfte verließen sein Büro, die im Vorzimmer Wartenden kamen herein. Ein fliegender Wechsel. Im Großen und Ganzen ein Meeting, wie es tagtäglich Tausende überall auf der Welt gibt. Ein Meeting, das der Norm entspricht, den Anforderungen einer sich rapide verändernden Welt aber längst nicht mehr gerecht wird. Das Gesundheitswesen im Allgemeinen und Krankenhäuser im Besonderen sind als Beispiele für Un-Dringlichkeit hervorragend geeignet. Innerhalb weniger Jahrzehnte stiegen in den USA die Ausgaben für das Gesundheitswesen von 4 auf 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Und nichts spricht dafür, dass sich diese Kostenexplosion nicht auch in Zukunft mit ungebremster Geschwindigkeit fortsetzen wird. Nach Meinung einiger Experten werden sich infolge der kürzlich in Washington verabschiedeten Gesetze die Ausgaben vermutlich auf 20 Prozent des BIP erhöhen. Und doch tragen diese gewaltigen Summen kaum etwas

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dazu bei, das im Vergleich zu anderen Industrienationen in vielerlei Hinsicht kränkelnde US-amerikanische Gesundheitssystem zu sanieren oder das Einkommen der Ärzte spürbar zu verbessern. Im Gegenteil, wenn man bedenkt, wie viele Ärzte sich darüber beklagen, dass ihr mageres Einkommen in keinem Verhältnis zu den enormen Ausbildungskosten steht, dass sie vor lauter Papierkram immer weniger Zeit für ihre Patienten haben und ständig neue Gesetze sie in der Ausübung ihres Berufs zunehmend einschränken. Dass sich das amerikanische Gesundheitswesen in einer gewaltigen Krise befindet, ist für so ziemlich jeden offensichtlich. Ebenso offensichtlich ist der vielerorts beträchtliche Mangel an dem Gespür für Dringlichkeit, sich dieser Krise jetzt zu stellen, wie das soeben geschilderte Beispiel über das Meeting im Büro des Krankenhausdirektors zeigte. Und mit seinem Verhalten trug der Direktor absolut nicht dazu bei, diesen Mangel bei seinen teils selbstgefälligen, teils frustrierten und teils wütenden Führungskräften zu beheben. Das Meeting begann schon einmal mit zehn Minuten Verspätung. Lächerlich, könnte man meinen, doch Ninan wäre da ganz anderer Ansicht. Immerhin sendet eine verspätet eröffnete Besprechung eine eindeutige Botschaft. Kaffee zu reichen, und zwar in Porzellantassen, ist auch ein unübersehbares Signal. Unsere indische Führungskraft hätte entweder ganz darauf verzichtet oder jeden, der ohne Kaffee nicht leben kann, gebeten, sich einen aus dem Automaten mitzubringen. Der Direktor versäumte es, gleich zu Beginn der Besprechung klarzustellen, dass die Betriebskosten der Krankenhäuser nicht mehr tragbar waren. Auch unterließ er es, Tacheles zu reden: nämlich, dass die gegenwärtigen Ausgaben die Ressourcen so erschöpfen könnten, dass für zukünftige Projekte nicht mehr ausreichend Mittel zur Verfügung standen. Somit ließen sich vielleicht wichtige Verbesserungen hinsichtlich der medizinischen Versorgung nicht umsetzen, was wiederum für die Ärzteschaft nicht akzeptabel wäre. Versäumnisse, die ebenfalls

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etwas signalisierten. Er hätte das Vorstandsmitglied auch zurückrufen können, nach dem wichtigen Meeting. Doch das Telefonat war ihm wichtiger – ein weiteres Signal. Der Direktor hätte den Teamchef der Arbeitsgruppe lange vor der Besprechung darum bitten können, die Zusatzkosten aufzulisten, die aufgrund des schleppenden Projektfortschritts aufliefen. Tat er aber nicht. Er hätte von Anfang an seine Entschlossenheit demonstrieren können, dieses Meeting erst zu beenden, wenn die Kostenfrage geklärt ist – zum Wohle des Krankenhauses, der Patienten und aller Mitarbeiter. Er hätte sich mit aller Dringlichkeit dafür einsetzen müssen, das Vorhaben schneller voranzutreiben. Hätte er, hat er aber nicht. Und er hätte die Besprechung so beenden können, wie Ninan prinzipiell jede beendet: Mit einer klaren Ansage, welche Aufgaben jeder Anwesende einschließlich er selbst in der kommenden Woche (nicht bis irgendwann) zu erledigen hat. Eine Besprechung, in der es um überlebensnotwendige Themen geht, beendet man auch nicht, nur weil zu wenig Zeit dafür angesetzt wurde. Nein, man sagt die nächste ab und macht dem Finanzleiter, dem Teamchef und den anderen klar, dass auch sie umdisponieren müssen, weil die laufende Besprechung oberste Priorität genießt. Und so weiter. Dann hätten der Direktor und seine Führungskräfte so lange diskutiert, bis konkrete Maßnahmen beschlossen waren. Seinen nächsten Gesprächspartnern im Vorzimmer hätte er angesichts der Dringlichkeit der Angelegenheit durchaus erklären können, weshalb er sie hatte warten lassen. Vielleicht stimmen Sie meinen Ausführungen zu dem wenig vorbildlichen Verhalten des Direktors im Prinzip zu, können sich aber nicht vorstellen, dass sich daraus sonderlich gravierende Konsequenzen ergeben. Der erfolgreiche indische Manager ist da ganz anderer Meinung. Seiner Ansicht nach ist die Sache ganz einfach: Der sich immer rasanter vollziehende Wandel an allen Wettbewerbsfronten verlangt nach einer Armee reaktionsschneller Fußsoldaten. Schnelligkeit wiederum hängt von der

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empfundenen Dringlichkeit ab, und diese wiederum kann, sollte und muss von den Führungskräften und dem obersten Boss vorgelebt werden. Zu jeder Zeit.

Großreinemachen Frage: Was unterdrückt jegliches Gefühl für Dringlichkeit ganz gewaltig? Antwort: Ein voller Terminkalender.

Heutzutage ist ja fast jeder fürchterlich beschäftigt. Mit Dutzenden von Aktivitäten unterschiedlichster Art, die oft gar nichts miteinander zu tun haben. Bei dem Krankenhausdirektor war dies ganz bestimmt der Fall. Besprechungen werden im Eiltempo vorangetrieben, weil es schon immer so war und sich jeder auf die straffe Zeitplanung eingestellt hat. Doch wer von einer ergebnislosen Besprechung zur nächsten hetzen, sich von Termin zu Termin mit einem anderen Thema befassen muss, hat weder die Zeit noch die Kraft, sich irgendeiner Angelegenheit mit der gebotenen Dringlichkeit zu widmen. Inmitten eines solchen Wirrwarrs an Aufgaben hat Dringlichkeit keine Chance. Erschöpfung ist der Feind von Dringlichkeit. Im Gegensatz zu Crandell, dem Krankenhausdirektor, streicht der indische Manager Ninan radikal alle Angelegenheiten niedriger Priorität aus seinem Terminkalender und seiner Tagesroutine. Was dann noch übrig bleibt, wird effizient strukturiert. So verschafft sich Ninan die Zeit und den Freiraum, um schnell handeln zu können. Dank seiner strukturierten Vorgehensweise kann er den Fortschritt der in den Besprechungen beschlossenen Aktionspläne sehr schnell nachverfolgen und hat zudem immer die Zeit, auch ganz spontane Ideen umzusetzen, die wichtigen lau-

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fenden Projekten zugutekommen. Ohne sich abhetzen zu müssen, kann er sich ausführlich den Dingen widmen, die seiner Ansicht nach oberste Priorität genießen, hat Zeit für produktive Gespräche und kann sich in aller Ruhe über Kunden, Konkurrenten und die technologischen Fortschritte in seiner Branche informieren. Mit seinem mustergültigen Verhalten sendet Ninan Signale aus, die von seinen Mitarbeitern teils bewusst, teils unbewusst wahrgenommen werden. Sie verstehen diese Signale in gewisser Weise als Erlaubnis, selbstständig zu delegieren und Unwichtiges zu streichen, obwohl es den Konventionen und gesellschaftlichen Regeln der indischen Tradition eher widerspricht, dass Untergebenen derartige Entscheidungsbefugnisse zustehen. Ganz anders verhält es sich hingegen mit dem Krankenhausdirektor. Statt sich Freiraum zu verschaffen, lässt er es zu, dass seine Mitarbeiter Probleme an ihn weiterdelegieren und sein sowieso schon enger Zeitplan noch weiter gestrafft werden muss. Mit Traditionen zu brechen – die monatliche Besprechung über was auch immer –, deren Nutzen in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zu dem Zeitaufwand stehen, kommt ihm wohl nie oder selten in den Sinn. Wenn Ninan seinen Mitarbeitern mitteilt, dass die Zeit drängt, dass ein Projekt nicht erst in zwölf, sondern schon in sechs Monaten abgeschlossen sein muss, verleiht er seinen Worten mit seinem Verhalten Glaubwürdigkeit. Wenn Crandell seine Mitarbeiter zu schnellerem Handeln anhält, wirkt das eher unglaubwürdig. Durch sein Verhalten untergräbt er seine Glaubwürdigkeit. Oft ist ein überfüllter Terminkalender daran schuld, dass Worte und Taten nicht zusammenpassen, was schlimme bis tödliche Folgen nach sich ziehen kann. Wie oft reden Führungskräfte darüber, was in unseren immer turbulenteren Zeiten richtig und wichtig ist, senden aber über ihre nonverbalen Botschaften gegenteilige Signale aus! Mit widersprüchlichen Botschaften lässt sich das Gefühl für Dringlichkeit bei ihren Empfängern wohl

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kaum verstärken. Das Einzige, was damit sehr schnell erreicht wird, ist, dass derjenige, der sie aussendet, hinter vorgehaltener Hand Hohn und Spott erntet. Was in aller Welt kann also einen erfahrenen, intelligenten Menschen wie den Krankenhausdirektor zu einem Verhalten veranlassen, mit dem er sich der Lächerlichkeit preisgibt? Mit Sicherheit liegt ihm nicht daran, die Erfolgsaussichten seines Vorhabens zu schmälern. Im Gegenteil, aber … • Er ist ein Sklave alter Gewohnheiten, die sich in der Vergan•







genheit als hilfreich erwiesen haben. Er orientiert sich an Traditionen, die sich in der Unternehmenskultur verankert haben, der Realität aber nicht mehr gerecht werden und ihn die falsche Richtung einschlagen lassen. Nichts von dem, was er vor vielen Jahrzehnten in der Ausbildung lernte, ist geeignet, um sich den Anforderungen des 21. Jahrhunderts erfolgreich zu stellen. Als Chef der alten Schule fühlt er sich für zu viele Aufgaben zuständig, weshalb seine Mitarbeiter nur zu gerne die Verantwortung an ihn weitergeben. Niemand macht ihn auf diese Probleme aufmerksam. Entweder sind seine Mitarbeiter ebenso blind wie er, oder sie schrecken vor einer Konfrontation mit ihrem Vorgesetzten zurück.

Könnte er sein Verhalten nicht einfach ändern? Es soll ja Leute geben, denen das gelingt. Sich von alten Gewohnheiten zu trennen und gegen die Konventionen zu verstoßen ist nicht einfach. Und wenn das Problem noch nicht einmal erkannt wird, ist es sogar unmöglich. Der Knackpunkt ist daher, die eigenen Verhaltensweisen kritisch unter die Lupe zu nehmen, um erkennen zu können, ob man dem Gespür für Dringlichkeit einen Riegel vorschiebt und damit ein Risiko eingeht, das sich heutzutage eigentlich niemand mehr leisten kann. Der Krankenhausdirektor, ein eigentlich kluger und engagierter Mann, war für dieses Problem

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ebenso blind wie die meisten seiner Mitarbeiter. Und die, die es erkannten, gingen nicht energisch genug vor, um es zu lösen. Ninan hätte für diese Situation bestimmt kein Verständnis.

Dringlichkeit zur Schau stellen Führungskräfte, die wie der indische Manager Ninan anderen als Vorbild dienen möchten, verschaffen sich ganz gezielt Möglichkeiten, um ihr mustergültiges Verhalten zur Schau zu stellen. Möglichst oft sollen möglichst viele Mitarbeiter sich selbst davon überzeugen können, dass sie ihren Worten Taten folgen lassen. Eine Seltenheit in der heutigen Geschäftswelt, in der es eher die Regel ist, sich in den Büros oder Besprechungsräumen zu verschanzen, wo man nur mit wenigen und meist immer denselben Mitarbeitern zu tun hat. David Bauman leitet eine Fabrik, in der spezielle Komponenten für ein technologisch hochmodernes Produkt gefertigt werden. Ihm unterstehen insgesamt 1 000 Mitarbeiter, die – mit Ausnahme der Manager – allesamt gewerkschaftlich organisiert sind. David Bauman hat an der städtischen Universität studiert, ist ein ausgeglichener Mensch, der keine offensichtliche Autorität ausstrahlt, und besitzt einen trockenen Humor. Der finanzielle Erfolg seiner Fabrik ist beachtlich, und Jahr für Jahr werden bessere Ergebnisse erzielt, weil das Management unablässig kleinere und großangelegte Veränderungen umsetzt, um die Produktivität zu steigern, die Ausfallzeiten zu senken, die Arbeitssicherheit zu verbessern und Liefertermine hundertprozentig einzuhalten. Einer der Manager zeigte mir einmal voller Stolz, welche Umbauarbeiten in den vergangenen zwei Jahren in den Werkhallen durchgeführt worden waren und welchen Bereich man sogar ein zweites Mal umgestaltet hatte. An keinem anderen Produktionsstandort

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des Unternehmens werden vergleichbar gute Ergebnisse erzielt, und in keiner anderen Fabrik werden die kontinuierlichen Verbesserungsprozesse von den Mitarbeitern als ähnlich dringend empfunden wie in Davids. Das ausgeprägte Gefühl für Dringlichkeit wird zweifellos von verschiedenen Faktoren begünstigt, und einer der offensichtlichsten ist das täglich zur Schau gestellte Verhalten der Führungskräfte. David verbringt täglich mindestens eine Stunde in der Fabrik und verlangt von all seinen Untergebenen einschließlich des Rechnungsprüfers dasselbe. Er nutzt seine täglichen Stippvisiten dafür, um Beziehungen zu seinen Mitarbeitern aufzubauen und zu pflegen. So bleibt er hie und da stehen, um ein paar Takte zu plaudern. Oft unterhält er sich über Sport oder erkundigt sich nach dem Befinden der Familie, meist aber drehen sich die Gespräche um Produktivität, Qualität, Sicherheit, Liefertreue, Kunden und Wettbewerbsfähigkeit. David und seinen Managementkollegen kommt es dabei nicht darauf an, den Mitarbeitern auf die Finger zu schauen oder sie auszuhorchen. Ich konnte mich selbst davon überzeugen, dass sich die Führungskräfte und Fabrikarbeiter auf gleicher Augenhöhe austauschen und es nur selten zu Meinungsverschiedenheiten kommt. Dieser intensive Austausch ist jedoch extrem wirkungsvoll, denn dadurch werden eindeutige, in sich schlüssige Botschaften täglich aufs Neue vermittelt. Diese lauten: »Nicht nachlässig werden! Sichere Arbeitsplätze, sauberes, angenehmes und ungefährliches Arbeiten, aber auch Lohnerhöhungen, die nicht der Inflationsrate zum Opfer fallen, sind nur dann möglich, wenn wir schneller, schlauer und besser als die Konkurrenz sind. Und weil die nicht schläft, ist das kein Kinderspiel. Ja, bisher waren wir extrem erfolgreich, und darauf können wir stolz sein. Dass wir die Schwierigkeiten der Vergangenheit gemeistert haben, sagt jedoch wenig darüber aus, wie gut wir für künftige Probleme und Chancen gerüstet sind.«

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Die Fabrikarbeiter haben Tag für Tag persönlichen Kontakt mit ihren Vorgesetzten. Das ist etwas ganz anderes, als sich nur flüchtig zu begrüßen, wenn man sich zufällig auf dem Parkplatz begegnet. Tag für Tag leben die Führungskräfte ihren Mitarbeitern vor, was unter dringlichem Handeln zu verstehen ist. Das ist etwas ganz anderes, als nur Rundmails zu versenden, in denen zu guter Leistung und mehr Produktivität aufgefordert wird. Die Art und Weise der Unterhaltungen hängt natürlich von der Persönlichkeit des jeweiligen Managers ab. David, der Werksleiter, ist ein bescheidener, zurückhaltender Mensch, und entsprechend leise redet er. Trotzdem, oder gerade deswegen, vermittelt er seinen Gesprächspartnern immer das Gefühl, er wünsche sich nichts sehnlicher, als in einem Siegerteam mitzuspielen. Die Sprache des Rechnungsprüfers, wie sollte es anders sein, ist natürlich gespickt mit Zahlen, dennoch aber (normalerweise) durchaus verständlich. Wer sich mit ihm unterhält, weiß, dass er die Zahlen nur deshalb fallen lässt, weil er das Team loben oder zur Vorsicht mahnen will. Ein anderer Manager scheint ständig unter Strom zu stehen und rauscht üblicherweise im Eiltempo durch die Fabrik, was gelegentlich für Unruhe sorgt. Im Allgemeinen aber nimmt es ihm niemand übel, da er sich immer darum bemüht, niemanden zu hetzen oder zu überrumpeln. Und dann wäre da noch der Manager, der mit seinem großartigen Sinn für Humor auch als Komiker Karriere machen könnte. Wann immer er sich unterhält, brechen die Arbeiter normalerweise in schallendes Gelächter aus. Seine Witze sind aber alles andere als platt, denn er setzt sie gezielt dafür ein, um ernste Botschaften zu vermitteln. Die Botschaften des Managements kommen bei jedem einzelnen Mitarbeiter an – an jedem Tag in jedem Jahr. Dass die Mitarbeiter alle an einem Standort arbeiten, ist natürlich praktisch. Es wäre schwieriger für David, wenn er für zehn überall auf der Welt verstreute Fabriken zuständig wäre. Schwieriger, aber nicht

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unmöglich, denn das Prinzip bleibt dasselbe. Er bräuchte eben neun Mitstreiter, die seine Botschaften zuverlässig in den anderen Fabriken verkünden. Stellen wir eine einfache Rechnung an, um die Geschichte einmal aus einer ganz anderen Perspektive zu betrachten. Jeder der zehn Manager in Davids Betrieb unterhält sich täglich mindestens eine Stunde mit den Arbeitern. An fünf Arbeitstagen also fünf Stunden, und da es zehn Manager sind, multiplizieren wir fünf mal zehn und erhalten 50 Stunden, von denen wir zehn Stunden abziehen, in denen über private Dinge geplaudert wird. Bleiben immer noch 40 Stunden, die wir mit 50 Wochen multiplizieren. Das Ergebnis: 2 000 Stunden. Und dabei haben wir in der Rechnung nur die Topmanager und ihren täglichen Rundgang durch die Fabrik berücksichtigt. Für vorbildliches Verhalten braucht man keinen Doktortitel. Gesunder Menschenverstand reicht aus, um das Richtige zu tun. Und in dem eben geschilderten Beispiel profitiert der ganze Betrieb davon, der nämlich trotz härtestem Wettbewerb seit vielen Jahren auf der Gewinnerseite steht.

Dringlichkeit ist ansteckend In David Baumans Fabrik war er es, der den Dringlichkeitsvirus in Umlauf brachte. Zuerst ließ sich sein direkter Untergebener davon anstecken. Etwas zögerlich zwar, doch David half ein bisschen nach, und schon bald übernahm der Mitarbeiter viele seiner Verhaltensweisen. Somit gab es schon zwei Vorbilder, an deren Verhalten sich die Vorarbeiter und das Produktionspersonal in der Fabrik ein Beispiel nehmen konnten. Zur Schau gestellte Dringlichkeit wirkt tatsächlich ansteckend und breitet sich aus, bis alle von ihr ergriffen werden.

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Je mehr Mitarbeiter von dem Dringlichkeitsvirus befallen werden, umso positiver werden die Effekte. Einer dieser Effekte ist, dass sich bestimmte Probleme, die Führungskräfte heutzutage vor immense Herausforderungen stellen, teilweise oder auch ganz in Wohlgefallen auflösen. Zu nennen wären hier der an Verbitterung grenzende Spott, mit der Mitarbeiter auf Änderungsvorhaben oder andere großangelegte Initiativen reagieren, weil diese bisher als willkürlich, schmerzhaft oder misslungen empfunden wurden, und das dem Topmanagement entgegengebrachte Misstrauen, weil die Führungsriege zwar voller Enthusiasmus, aber ineffizient und inkompetent zu Werke ging. Die Mitarbeiter ausführlicher und besser zu informieren kann bei der Lösung dieser Probleme ebenfalls helfen. Reale Chancen – die nicht nur rational, sondern vor allem auch emotional als wertvoll angesehen werden – können positive Aufbruchstimmung verbreiten und schlechte Schwingungen verdrängen. Ebenso kann es sich als äußerst hilfreich erweisen, die ewigen Neinsager unschädlich zu machen, die Veränderungen hassen und aktiv Stimmung gegen entsprechende Pläne machen (mehr zu diesen Gesellen später). Und entwaffnende Ehrlichkeit ist auch nicht verkehrt: »Machen wir uns nichts vor! Wir haben diese Vorschläge jetzt schon so lange wieder und wieder durchgekaut, dass sie uns entweder im Hals stecken bleiben oder aus den Ohren herauskommen. Schluss damit! Ab sofort machen wir Folgendes …« Letztendlich aber ist das beste Mittel gegen Spott, Verbitterung und Pessimismus, den Dringlichkeitsvirus in Umlauf zu bringen. Es braucht dazu nur einen Menschen, der den Anfang macht. Von ihm aus breitet er sich aus und erfasst Tag für Tag mehr Mitarbeiter, die mit der gebotenen Dringlichkeit ans Werk gehen. Erst ist es nur einer, dann sind es zwei, dann schon zehn, dann ganz viele.

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Dringlichkeit vorleben Streichen und Delegieren • Ein überfüllter Terminkalender hindert Sie daran, Dringlichkeit oder das Gefühl dafür vorzuleben. • Streichen Sie unwichtige Termine. • Ziehen Sie sich aus Projekten zurück, an denen Sie nicht unbedingt beteiligt sein müssen. • Delegieren Sie. Delegieren Sie, so viel Sie können. • Lassen Sie es nicht zu, dass Untergebene Ihnen unnötige Aufgaben aufhalsen. Schnelles Handeln • Nutzen Sie den durch Streichen und Delegieren geschaffenen zeitlichen und gedanklichen Freiraum, um auf Telefonate, spontan angesetzte Besprechungstermine und E-Mails, in denen es um Angelegenheiten höchster Priorität geht, mit der gebotenen Dringlichkeit zu reagieren. • Beenden Sie jede Besprechung prinzipiell mit einer eindeutigen Ansage, wer wann welche Aufgabe zu erledigen hat. Emotionale Botschaften vermitteln • Betonen Sie die Notwendigkeit, in Bewegung zu bleiben, mit der Zeit zu gehen und der Konkurrenz eine Nasenlänge voraus zu bleiben, immer wieder aufs Neue – mit sichtlicher und spürbarer Leidenschaft. • Zeigen Sie Gefühl. • Reißen Sie andere mit. Den Worten Taten folgen lassen • Reden Sie nicht nur darüber, was sich in Ihrem Wettbewerbsumfeld so tut, sondern stellen Sie unter Beweis, dass Sie alle Entwicklungen aufmerksam beobachten. • Reden Sie nicht nur darüber, wie wichtig es ist, gute Gelegenheiten zu ergreifen, sondern packen Sie jede sich bietende energisch beim Schopf. Ausnahmslos. Dringlichkeit zur Schau stellen • Stellen Sie Ihre Reaktionsfreude, Leidenschaft, Worttreue und noch vieles mehr gut sichtbar für alle unter Beweis, damit möglichst viele Mitstreiter Ihrem Beispiel folgen. Das Gefühl für Dringlichkeit ist extrem ansteckend, nutzen Sie es aus.

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Dringliche Geduld Eine Anmerkung noch, um Missverständnisse zu vermeiden: Mit der gebotenen Dringlichkeit ans Werk zu gehen bedeutet nicht, sich permanent abzuhetzen oder mit der Stoppuhr die Geschwindigkeit der Mitarbeiter zu messen und sie zu immer höherem Tempo anzutreiben. Damit erreichen Sie nur, dass der Stresspegel im Allgemeinen und Ihr Frustrationspegel im Besonderen steigen, wenn Ziele nicht in der erwarteten Geschwindigkeit erreicht werden. Damit verbreiten Sie unproduktive Hektik und leiten das Gefühl für Dringlichkeit in falsche Bahnen. Die Gefahr ist nicht zu unterschätzen, denn selbst Menschen, die im Prinzip verstehen, dass in Zeiten des ständigen Wandels das Gespür für Dringlichkeit an Bedeutung gewinnt, tappen immer wieder in diese Falle. Weil mit echter Dringlichkeit sofortiges Handeln verbunden ist, lässt man sich leicht dazu hinreißen, auch sofortige Ergebnisse zu erwarten. Was darüber leicht in Vergessenheit gerät, ist, dass große Taten nur über längere Zeiträume zu vollbringen sind. Mit der gebotenen Dringlichkeit ans Werk zu gehen, um ein modernes, wettbewerbsfähiges und erfolgreiches Unternehmen zu erschaffen, bedeutet jedoch auch, geduldig ans Werk zu gehen. Großartige Errungenschaften – nicht zu verwechseln mit hektischen Aktivitäten – brauchen ihre Zeit – vielleicht Jahre. Die richtige Einstellung möchte ich als »dringliche Geduld« bezeichnen, was wie ein Widerspruch in sich erscheint, es aber nicht ist. Die richtige Einstellung ist, täglich mit der gebotenen Dringlichkeit zu handeln und sich dabei realistische Ziele zu setzen. Das bedeutet, sich täglich für diese Ziele einzusetzen und aufmerksam nach Möglichkeiten Ausschau zu halten, um ihnen stetig näher zu kommen, sich aber auch gleichzeitig in Geduld zu üben, weil es realistisch betrachtet auch mal fünf Jahre dauern kann, bis ehrgeizige Ziele erreicht werden. Dringliche Geduld. Diese

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zwei Wörter reichen aus, um die innere Einstellung und das Gefühl auszudrücken, durch die sich wahre Dringlichkeit auszeichnet. Die Bezeichnung »dringliche Geduld« habe ich von dem indischen Manager Ninan übernommen. Ich finde sie sehr zutreffend. Um eine Vorbildfunktion zu übernehmen und mit der gebotenen Dringlichkeit ans Werk zu gehen, müssen bestimmte Verhaltensweisen an den Tag gelegt werden. Wenn Ihnen das Grundprinzip erst einmal klar ist, werden Sie feststellen, dass es sich ganz einfach auf jede beliebige Situation übertragen lässt. Unterziehen Sie Ihr Verhalten einer kritischen Prüfung. Bitten Sie eine Person Ihres Vertrauens darum, Sie genau zu beobachten. Können Sie anderen die Dringlichkeit wichtiger Angelegenheiten vermitteln? Strahlen Sie die Notwendigkeit zu dringlichem Handeln aus? Verhalten Sie sich so, wie Sie es von anderen erwarten? Praktizieren Sie, was Sie predigen? Es ist sehr gut möglich, dass die Verhaltensweisen, die Sie nun an den Tag legen sollen, auch für Sie etwas ganz Neues sind. In der hohen Schule des Managements werden sie nämlich nicht gelehrt. Aber nur Mut. Sie können sie sich selbst aneignen. Am besten fangen Sie gleich heute noch damit an.

Kapitel 6

Taktik Nr. 3 Die einer Krise innewohnenden Chancen erkennen

Eine Krise kann ein Fluch, aber auch ein Segen sein, wobei der zweite Aspekt wohl den wenigsten Menschen auf Anhieb in den Sinn kommt. Es ist auch nicht weiter verwunderlich, dass mit einer Krise erst einmal schreckliche Ereignisse, Verletzte, auf ewig traumatisierte Menschen oder zerplatzte Zukunftsträume assoziiert werden. In der Geschäftswelt wird es als eine der wichtigsten Managementaufgaben betrachtet, Krisen zu vermeiden oder bei unvermeidlichen Krisen durch ausgezeichnetes Krisenmanagement und kompetente Schadensbegrenzung zu glänzen. So dienen Systeme zur Budgetierung, zur Budgetprüfung und Finanzkontrolle dem Zweck, die Gefahr plötzlicher finanzieller Krisen weitgehend auszuschließen. Qualitätssicherungssysteme dienen dem Zweck, das Vertrauen der Kunden nicht zu verspielen und Schadenersatzklagen aufgrund mangelhafter Produktqualität zu vermeiden. Jede Schadensbegrenzung – oft die Aufgabe von Juristen, PR-Profis und anderen Experten – dient dem Zweck, die finanziellen und sonstigen Schäden einer unvermeidlichen Krise so klein wie nur möglich zu halten. Eine Krise kann jedoch auch aus einer ganz anderen Perspektive betrachtet werden: Sie kann für die notwendige Unzufriedenheit sorgen, durch die Veränderungen erst möglich werden. Niemand springt freiwillig von einem Schiff, doch wenn das Schiff brennt, sieht die Sache ganz anders aus. Im ManagementJargon spricht man daher von einer »Burning Platform«. So ge-

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sehen muss eine Krise nicht unbedingt ein Fluch sein. Ganz im Gegenteil. Unter bestimmten Bedingungen ist sie sogar ein Segen und unverzichtbar, um mit dem Wandel Schritt halten zu können. Aus der Perspektive der Burning Platform ist die Gefahr, in der ein in Selbstgefälligkeit schwelgendes Unternehmen schwebt, sehr deutlich auszumachen. Ebenso deutlich zu sehen ist, wie schwerfällig und in sich erstarrt die Unternehmensstrukturen sind. So selbstgefällig die Mitarbeiter aber auch sein mögen, werden sie doch ziemlich schnell aktiv, sobald ihnen die ersten Flammen um die Beine züngeln. Und wenn alles mit beträchtlicher Geschwindigkeit in Bewegung gerät, lösen sich erstarrte Strukturen von selbst auf, wodurch ein Neuanfang möglich wird. Frage:

Ist eine Krise nun eher ein Fluch oder ein Segen? Sollte man Krisen besser vermeiden beziehungsweise ihren Schaden möglichst begrenzen, oder sollte man das Schiff in Brand stecken?

Antwort: Weder noch. Frage:

Was soll diese Antwort bedeuten, wenn es doch darum geht, das Gefühl für Dringlichkeit zu stärken?

Antwort: Sie bedeutet so einiges!

Lassen Sie es mich erklären.

Krisen durch Kontrollsysteme vermeiden – ist mit Vorsicht zu genießen! Gerade im Moment habe ich in den Nachrichten gehört, dass der Mitarbeiter eines Finanzinstituts 7 Milliarden US-Dollar in den Sand gesetzt hat. Der Berichterstattung zufolge mangelte es in

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dem Finanzinstitut an adäquaten Kontrollsystemen. Erstaunlich, dass Reporter auch maßlos untertreiben können. Um kleinere Probleme und ausgewachsene Krisen zu vermeiden, gibt es in Unternehmen und Institutionen prinzipiell zwei verschiedene Methoden, um die Arbeits- und Verhaltensweisen der Mitarbeiter zu steuern. Zur ersten gehören die formellen und starren Betriebsstrukturen, Prozesse, Systeme und Unternehmensregeln, während zur zweiten informelle und subtile Einflussfaktoren wie ungeschriebene Gesetze unter Kollegen, Lob und Anerkennung seitens der Vorgesetzten und vor allem unternehmenskulturelle Konventionen gehören. Insbesondere große Konzerne verlassen sich fast ausschließlich auf die formellen Mechanismen, da sie greifbar und messbar sind und den Anforderungen entsprechend entwickelt und implementiert werden können, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass diese Systeme ihren Zweck auch erfüllen. Die informellen und subtilen Regelungsmethoden finden sich vor allem bei kleinen oder neu gegründeten Firmen, da diese die systematische Kontrolle ihrer Mitarbeiter entweder ablehnen oder es an Wissen und Erfahrung mangelt, gute Kontrollsysteme einzurichten. Ohne ausreichende Kontrolle – ob formell oder informell – ist das Risiko ziemlich hoch, dass 7 Milliarden US-Dollar in den Sand gesetzt werden. Allerdings besteht bei jedem Kontrollsystem im Allgemeinen und bei formellen im Besonderen auch immer die Gefahr, dass es sich mit der Zeit zu einem so starren und schwerfälligen Prozess entwickelt, dass es jede unternehmerische Kreativität und Innovationsfreude im Keim erstickt und den Wandel behindert oder sogar ganz verhindert. Hinzu kommt, dass starre Kontrollsysteme die Aufmerksamkeit nach innen lenken – schließlich muss jeder ständig darauf achten, die geltenden Regelungen und Hierarchiewege zu befolgen –, wodurch externe Ereignisse an Bedeutung verlieren, das Ausmaß der Selbstgefälligkeit steigt und der Blick für die Realität noch weiter getrübt wird.

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Bricht tatsächlich eine Krise aus, schreien auf Sicherheit bedachte Krisenmanager meist sofort nach professionellen Schadensbegrenzern. Die Auswahl ist groß, denn eine ganze Branche bietet entsprechende Dienste an, die als Schadensbegrenzung, Schadensminimierung, Schadenskontrolle und dergleichen bezeichnet werden und größtenteils von PR-Fachleuten, Kommunikationsexperten und Rechtsanwälten ausgeführt werden. Einige dieser Spezialisten leisten wirklich großartige Arbeit, wenn es darum geht, die Schäden in Krisensituationen auf ein Minimum zu beschränken. Ein professioneller Schadensbegrenzer zeichnet sich durch folgende Qualitäten aus: 1. Er weiß eine Krisensituation weitgehend vor den Augen der Öffentlichkeit zu verbergen, weil Angst und Empörung die Lage nur verschlimmern. 2. Er legt überzeugend dar, dass die Krise keine wirkliche Krise ist oder bereits überwunden wurde, um – wie bei Punkt 1 – zu vermeiden, dass die Situation außer Kontrolle gerät. 3. Er wirkt besänftigend auf diejenigen ein, die über die Situation erbost sind, wobei er gleichzeitig darum bemüht ist, den (finanziellen) Schaden für das Unternehmen zu minimieren. Muss damit gerechnet werden, dass eine Krise verheerende Folgeschäden nach sich zieht, können sich Schadensbegrenzer als wertvolle Helfer in der Not erweisen. Oft gelingt es ihnen, das endgültige Aus für ein Unternehmen abzuwenden oder eine Schädigung des guten Rufs zu verhindern, von der es sich vielleicht nie wieder erholen würde. Schadensbegrenzer können Karrieren retten oder auch große Projekte, die dem Wohl der Öffentlichkeit dienen. Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass die Schadensbegrenzung vor allem dem Schutz Einzelner dient, anstatt dem großen Ganzen zugutezukommen. Schlimmer noch, sie verhindert, dass die einer Krise innewohnende Chance genutzt werden

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kann, auf die es jedoch gerade heutzutage immer mehr ankommt. Die Chance, das Gespür für Dringlichkeit zu vertiefen und Kräfte zu mobilisieren, damit notwendige Schritte unternommen werden, damit sich das Unternehmen in der heutigen Zeit schnellen Wandels erfolgreich behaupten kann.

Krisen geschickt ausnutzen – ist auch mit Vorsicht zu genießen! Nach dem Ende des Kalten Krieges überschwemmte ein russisches Unternehmen den US-amerikanischen Markt mit seinen Produkten. Das um 25 Prozent gestiegene Produktvolumen auf dem Markt ließ natürlich die Preise in den Keller fallen, und der bis dahin als Marktführer geltende US-amerikanische Hersteller erlitt herbe Umsatzverluste. Die Gewinnspannen schrumpften zusehends, und die Finanzanalysten legten nahe, die Belegschaft sofort drastisch zu reduzieren. Gespräche mit Regierungsvertretern, in denen das amerikanische Unternehmen darum bat, den russischen Konkurrenten mit hohen Einfuhrzöllen in Schach zu halten, verliefen ergebnislos. Unzählige Artikel in den Wirtschaftsblättern sorgten dafür, dass die Krise des amerikanischen Unternehmens zum Tagesgespräch wurde. Im Unternehmen selbst war es mit der Selbstgefälligkeit erst einmal vorbei. An ihre Stelle traten die Angst um den Arbeitsplatz, die Wut auf die Regierung, von deren Seite keine Unterstützung zu erwarten war, und der Wunsch, die Schuldigen ausfindig zu machen, die für die unhaltbare Situation zur Verantwortung gezogen werden konnten. Hektische Betriebsamkeit brach aus, die jedoch zu keinen produktiven Ergebnissen führte – ein typischer Fall falsch verstandener Dringlichkeit. Die Medienberichte wurden immer vernichtender. Angesichts der unfairen russischen Konkurrenz, die durch nichts zu schlagen

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war, war in einigen Artikeln schon von bevorstehenden Massenentlassungen die Rede. Von dringlichem Handlungsbedarf dagegen sprach niemand. Weshalb auch? Die meisten hielten dieses Thema für völlig überflüssig, da die chaotischen Aktivitäten mit echter Dringlichkeit verwechselt wurden. Während um sie herum immer heftiger gestritten und gezankt wurde, beschloss ein kleiner Kreis aus Führungskräften der mittleren Managementebene, sich inoffiziell zusammenzusetzen, um über die Chancen zu diskutieren, die sich aus der momentanen Krise ergaben. Sie beobachteten, wer aus welchen Gründen wie reagierte, und kamen einstimmig zu dem Schluss, dass einer der leitenden Generaldirektoren die Sache so zu sehen schien wie sie. Diesen baten sie um ein Gespräch, das weitere mit dem CEO nach sich zog, was wiederum zu Diskussionsrunden im größeren Kreis führte, in denen heftig, aber produktiv debattiert wurde. Das einfache, aber eindeutige Ergebnis war: »Wir müssen etwas unternehmen, und zwar sofort. Nach Schuldigen zu suchen bringt uns nicht weiter. Wenn wir es geschickt angehen, überstehen wir nicht nur die momentane Krise, sondern können uns so positionieren, dass wir für die Zukunft gerüstet sind. Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass der Wettbewerb immer härter, die Zeiten immer unsicherer werden.« Die spürbare Dringlichkeit, mit der diese Botschaften im Unternehmen kommuniziert wurden, zeigte Wirkung. Die von Angst, Wut und Schuldzuweisungen geprägte Untergangsstimmung, die sich unter dem Management und der Belegschaft ausgebreitet hatte, schlug in eine Aufbruchstimmung um, die jedem das deutliche Gefühl vermittelte, jetzt schnell, beherzt und klug handeln zu müssen. Eine ganze Reihe von Maßnahmen, die schon seit Jahren überfällig waren, wurde zügig umgesetzt: Mit dem Einverständnis der Gewerkschaft wurden Arbeitsprozesse umstrukturiert, wodurch sich einige Aufgabenbereiche erweiterten. Das Topmanagement schaffte eine Hierarchieebene ab und bot

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Mitarbeitern großzügige Abfindungen an, um Entlassungen zu vermeiden. Den begabtesten Nachwuchstalenten unter den Führungskräften wurde mehr Verantwortung übertragen, obwohl sie streng gesehen eigentlich noch zu jung und unerfahren für ihre neuen Zuständigkeiten waren. Außerdem wurden die Löhne der Vertriebsmitarbeiter dem marktüblichen Standard angepasst. Dank der durchdachten und kompetenten Umsetzung dieser und weiterer Maßnahmen gelang es dem Unternehmen, sich neu zu positionieren und in der zunehmend globalisierten Branche wieder wettbewerbsfähig aufzutreten. Um eine plötzliche Krisensituation als Chance nutzen zu können, muss es einige Menschen geben, die in ihr nicht nur ein gewaltiges Problem sehen, sondern die Krise nach einer fantastischen Gelegenheit durchsuchen. Menschen, die nicht gleich in den Krisenmanagement-Modus verfallen und nach einem ganzen Heer von Schadensbegrenzern rufen. Diese Menschen wissen aber auch, dass nicht in jeder Krise eine Chance steckt. Sie denken sich nicht einfach nur »Hurra, das Schiff steht in Flammen«, denn sie wissen ganz genau, dass wütende, panische oder verängstigte Mitarbeiter leicht in die planlose Betriebsamkeit verfallen, die mit einem falschen Gefühl für Dringlichkeit einhergeht. Und das entstehende Chaos kann die Situation ganz schnell beträchtlich verschlimmern. Diese Menschen untersuchen eine Krise daher gezielt nach ihrem potenziellen Vorteil, der nicht vorhanden sein muss, aber vorhanden sein kann. Jeder, der mit offenen Augen und Ohren durch das Arbeitsleben geht, kann die mit einer Krise einhergehende Chance erkennen. Zählt derjenige nicht zu den Spitzenführungskräften seines Unternehmens, sucht er sich einen gleichgesinnten Verbündeten in der Führungsriege, um sich die erforderliche Rückendeckung und Unterstützung zu verschaffen, um die Chance ergreifen zu können. Diejenigen, die in derartigen Situationen führende Funktionen übernehmen, erkennen intuitiv oder aufgrund bewusster Überle-

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gungen, dass die größte Herausforderung darin besteht, die Mitstreiter auf emotionaler Ebene zu motivieren. Ihnen ist klar, dass bloße Fakten, Zahlen und Argumente viel zu steril und abstrakt sind, um unter den Mitarbeitern eine optimistische Aufbruchstimmung verbreiten zu können. Ihnen ist klar, dass Angst- und Wutgefühle in produktive Bahnen gelenkt werden müssen, denn genau diese negativen Empfindungen sind es, welche die Krisensituation als hoffnungslos erscheinen lassen. Und ohne Hoffnung auf Besserung kann kein Gespür für Dringlichkeit aufkommen. Und weil diese Menschen wissen, wie wichtig die Hoffnung auf bessere Zeiten ist, zeichnen sie durch engagiertes, überzeugendes und optimistisches Auftreten und eiserne Entschlossenheit ein hoffnungsvolles Bild der Zukunft. Sie wissen, dass langatmige Vorträge, die zwar inhaltlich korrekt sein mögen, aber auf emotionaler Ebene keinerlei Eindruck hinterlassen, wirkungslos verhallen, weshalb sie darauf keine Zeit verschwenden Das wahrscheinlich Wichtigste aber ist, dass diese Menschen hervorragend zwischen falsch verstandener und echter Dringlichkeit unterscheiden können. Für sie ist ein plötzlicher Energieschub unter der Belegschaft noch lange kein Beweis dafür, dass die Dringlichkeit eines Vorhabens tatsächlich auch richtig erkannt wurde. Sie betrachten Nervosität und Angst nicht als positive Antriebskräfte, die möglichst auch noch angeheizt werden müssen. Daher werden wohlüberlegte Maßnahmen ergriffen, um Gefühle der Angst und Wut in die zielgerichtete Entschlossenheit zu verwandeln, jetzt alle Kräfte zu mobilisieren, um einen Sieg zu erringen. Diese wohlüberlegten Maßnahmen setzen voraus, die unterschiedlichen Reaktionsweisen der Mitarbeiter vorauszusehen. Dann nämlich kann bereits im Vorfeld geplant werden, welche Maßnahmen in welcher Reihenfolge zu ergreifen sind, um echte Dringlichkeit zu vermitteln und sich den maximalen Vorteil aus der Krise zu verschaffen. Proaktives Vorgehen lautet die Devise.

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Wie all diese Punkte zusammenspielen, will ich Ihnen an einem Beispiel verdeutlichen. Die 42-jährige Irene Goodwin ist seit zehn Jahren bei ihrem Arbeitgeber beschäftigt und leitet die Marketingabteilung. An einem Freitagnachmittag, kurz vor Feierabend, wurde Irene von ihrem Vorgesetzten mitgeteilt, dass man das Budget aller Abteilungen für das kommende Geschäftsjahr um 20 Prozent gekürzt hatte. Den Ausschlag dazu hatte die neueste Gewinnprognose gegeben, die sehr zu wünschen übrig ließ und dem Vorstand angesichts des sowieso ständig schwankenden Aktienkurses große Sorgen bereitete, erklärte ihr Vorgesetzter. Irene konterte mit dem auf der Hand liegenden Gegenargument: Bei schrumpfenden Gewinnen wäre es doch eher kontraproduktiv, ausgerechnet der Marketingabteilung das Budget zu kürzen. Doch ihr Vorgesetzter war nicht gewillt, darüber zu diskutieren. Der Vorstand hätte keine Zeit, die Budgets für Dutzende von Abteilungen in der Firmenzentrale, den Zweigstellen und den Vertriebsstellen einzeln festzulegen, gab er ihr zu verstehen. Irene wollte schon erwidern, dass der Vorstand die ganze Angelegenheit völlig falsch anpackte, schluckte ihre Einwände jedoch hinunter, weil ihr klar war, dass diese Diskussion die reinste Zeitverschwendung wäre. Nachdem sie sich von ihrem ersten Schock und Ärger erholt hatte, überlegte sie sich lieber, ob sie diese plötzliche Krisensituation nicht zu ihrem Vorteil nutzen könnte. Als Irene die Marketingabteilung übernommen hatte, war ihr schon bald aufgefallen, dass ihre Mitarbeiter sehr viel Wert auf Qualität legten, sich aber kaum Gedanken über finanzielle Aspekte machten. Sämtliche Versuche, ihre Mitarbeiter zu mehr Kostendisziplin zu erziehen, waren an einer kleinen Gruppe langjähriger Mitarbeiter gescheitert, die lautstark darauf verwiesen, man habe sich in der Marketingabteilung schon immer der Qualität verschrieben, und unter den »zwanghaften Bemühungen, ein paar Cent hier und da zu sparen, um kurzfristig die Gewinnspan-

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nen zu beschönigen« würde die Qualität langfristig leiden. Irene dagegen fand, dass ihr Team ziemlich verschwenderisch mit den finanziellen Ressourcen umging, anstatt sie dafür zu nutzen, besseres und kreativeres Marketing zu betreiben. Irene schmiss kurzerhand ihre Wochenendpläne über den Haufen, schnappte sich Stift und Zettel und dachte angestrengt über ihre Situation nach. Wie würden wohl die Mitarbeiter und die Fachgruppen ihrer Abteilung auf die Budgetkürzung reagieren? Sie erstellte eine Namensliste. Einige, so entschied sie, wären zumindest im ersten Moment einfach nur sprachlos, während die langjährigen Mitarbeiter sicherlich einen Wutanfall bekämen. Ein paar würden die Budgetkürzung als Zeichen dafür deuten, dass sie – Irene – das Vertrauen des Topmanagements verloren hatte. Einer ihrer Spitzenmitarbeiter liebäugelte sowieso schon mit einem attraktiven Jobangebot von einer anderen Firma und könnte sofort seine Kündigung einreichen. Von dreien ihrer direkten Untergebenen nahm Irene an, sie würden in dem Problem dieselbe Chance erkennen wie sie selbst. Irene machte sich über jeden Mitarbeiter und jede Fachgruppe ihre Gedanken. Welche Optionen hatte sie? Welches Vorgehen war am besten? Womit sollte sie anfangen? Sollte sie noch am Wochenende einige Telefonate führen oder eine Besprechung einberufen? Oder sollte sie ihren Plan besser erst am Montagvormittag in die Tat umsetzen? Sie entschied sich dafür, bis Montag zu warten, dann aber gleich mit ihrem besten Mitarbeiter zu sprechen, dem 35-jährigen Manager, der momentan überlegte, ob er das Unternehmen verlassen oder doch bleiben sollte. Ihrer Einschätzung nach ging es ihm weniger um das um 10 Prozent höhere Gehalt, das ihm von der Konkurrenzfirma angeboten wurde, sondern darum, sich größeren Herausforderungen stellen zu können, bessere Karriereaussichten und mehr Entscheidungsbefugnisse zu haben, um seine (sehr guten) Ideen umsetzen zu können. Außerdem glaubte

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Irene, dass es sich sehr positiv auf die Gespräche mit den anderen Mitarbeitern auswirken würde, wenn sie diesen Mann auf ihre Seite ziehen könnte. Sie bat ihren besten Mann in ihr Büro und erzählte ihm ohne weitere Umschweife, was sie am Freitag erfahren hatte, wie überrascht sie von der Budgetkürzung gewesen war und wie sehr sie sich darüber geärgert hatte. Irene hielt sich nicht zurück und sprach mit einer emotionalen Intensität, die weit über eine bloße inhaltliche Schilderung hinausging. Sie plädierte dafür, die Budgetkürzung als wertvolle Chance zu begreifen, um »einmal gründlich auszumisten«, gab aber auch ehrlich zu, dass die Sache extrem schwierig werden würde. Sie machte klar, welche Veränderungen denkbar waren und inwiefern die gesamte Abteilung dadurch bei der Führungsriege an Ansehen gewinnen könnte – wodurch sich nicht zuletzt auch ganz neue Karriereaussichten ergeben könnten. Natürlich hatte ihr Mitarbeiter einige Fragen (Sind Entlassungen geplant? Müssen wir beim Materialeinkauf sparen? Uns von einigen Zulieferern trennen?), die Irene aber ohne Zaudern und Zögern umfassend beantworten konnte, weil sie sich bereits im Vorfeld die passenden Antworten auf seine möglichen Fragen zurechtgelegt hatte (Ja, leider geht es nicht ganz ohne Entlassungen, aber wir werden uns nur von den Mitarbeitern trennen, die schon seit längerem als Wackelkandidaten aufgefallen sind, weil ihre Leistungen zu wünschen übrig lassen). Irene machte ihrem Mitarbeiter keinerlei Versprechungen hinsichtlich eines höheren Gehalts oder erweiterter Entscheidungsbefugnisse, machte aber klar, dass sie sich nach Kräften für die Interessen ihrer Mitarbeiter einsetzen würde, falls es der Abteilung gelänge, die erforderlichen Veränderungen umzusetzen. Abschließend teilte sie ihm mit, dass außer ihm noch niemand in der Abteilung Bescheid wusste. Sie hätte sich zuerst an ihn gewandt, weil sie ihn für den einflussreichsten Mitarbeiter hielt, der ihr helfen könnte, die Krisensituation in eine Erfolgsgeschichte zu

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verwandeln. In nur einer Stunde hatte Irene es geschafft, dass ihr bester Mann (nach anfänglichem Zögern) damit einverstanden war, zu bleiben und sie tatkräftig zu unterstützen. Der zweite Schritt von Irenes Plan bestand darin, mit den dreien ihrer Untergebenen zu sprechen, die ihrer Meinung nach am ehesten ihre Ansicht teilten. Sie rechnete damit, dass sie diese drei relativ schnell für ihre Sache gewinnen konnte, vor allem, wenn sie erfuhren, dass ihr Kollege sich entschieden hatte, das verlockende Jobangebot der Konkurrenz auszuschlagen. Außerdem konnten sie zu fünft innerhalb kurzer Zeit viel mehr erreichen, als es ihr alleine möglich wäre. Wenn die anderen Mitarbeiter in ihrer Abteilung erst einmal sahen, mit welcher Dringlichkeit das Fünferteam ans Werk ging, ließen sie sich vielleicht davon anstecken und wären weniger ängstlich oder wütend. Es sollte sich herausstellen, dass Irene mit ihren Vermutungen völlig richtig lag. Irenes Plan umfasste vier weitere Schritte, die sie in Einzelgesprächen hinter verschlossenen Türen vorantrieb. Dafür reservierte sie sich den Montag von sieben Uhr morgens bis zum Feierabend. In den Details verliefen die Einzelgespräche zwar sehr unterschiedlich, da Irene konkret auf die Persönlichkeit des jeweiligen Mitarbeiters einging, doch die Botschaften, die sie vermittelte, waren immer dieselben: Fakt war, die Budgetkürzung stellte einen harten Schlag für die gesamte Abteilung dar und mit ein paar kleinen Änderungen hier und da käme man nicht weiter. Fakt war, dass man auf der oberen Führungsebene an der Kürzung festhielt und ihr zu verstehen gegeben hatte, dass die Angelegenheit nicht verhandelbar war. Fakt war auch, und das kam für die meisten ihrer Mitarbeiter überraschend, dass bereits fünf (dann sechs, dann sieben) Leute in der Abteilung ihre Ansicht teilten, man müsse über die Budgetkürzung nicht übermäßig enttäuscht sein, man dürfe sie nicht nur als schreckliche Krise sehen, die nach sofortiger Schadensbegrenzung verlange, denn sie böte

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schließlich auch eine großartige Gelegenheit für Verbesserungen. Statt der Angst und Wut weiter Nahrung zu geben, gelang es Irene, in ihren Mitarbeitern das Gefühl des dringenden Handlungsbedarfs zu wecken. Alle sahen ein, dass es zugleich notwendig und auch möglich war, schnell zu reagieren. Bis auf eine Ausnahme verliefen die Diskussionen genauso, wie es Irene sich vorgestellt hatte. Was in den darauffolgenden vier Wochen alles geschah, ist eine ziemlich lange Geschichte. Ich fasse daher nur noch einmal die wichtigsten Stationen zusammen: 1. Irene wird mit einer unerwarteten Krisensituation konfrontiert. 2. Sie reagiert weder panisch, noch betreibt sie Schadensbegrenzung. 3. Sie überlegt sich, wie ihre Mitarbeiter die Krise aufnehmen und darauf reagieren werden. 4. Auf der Basis dieser Überlegungen entwickelt sie einen Plan, den sie auch sofort in die Tat umsetzt. 5. Sie ist schonungslos ehrlich. 6. Sie vermittelt überzeugend, dass dringender Handlungsbedarf besteht, und geht mit gutem Beispiel voran. 7. Sie stellt klar, dass man mit der Situation umgehen kann und wird! 8. Die gesamte Abteilung wird von dem Gefühl für Dringlichkeit ergriffen. 9. Es werden Aktionspläne geschmiedet, die früher auf extremen Widerstand gestoßen wären. 10. In Irenes Fall verfolgte ihr Vorgesetzter erstaunt die Aktivitäten in ihrer Abteilung und war davon gebührend beeindruckt. Zwei Jahre später leisteten Irene und ihre Mitarbeiter innovative und effektive Marketingarbeit, während die meisten anderen Ab-

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teilungen noch immer schwer mit den Budgetkürzungen zu kämpfen hatten und die meisten anderen Mitarbeiter nichts anderes als Angst oder Wut empfanden. Von der Arbeit der Marketingabteilung profitierten alle: das Unternehmen als Ganzes, die Mitarbeiter und die Aktionäre. Die Unternehmensleitung hatte allen Grund zur Freude. Und die Mitarbeiter der Marketingabteilung hatten allen Grund, auf ihre gemeinsame Leistung stolz zu sein.

Keine Krise in Sicht? Basteln Sie sich eine! Oder lieber doch nicht? Der Burning-Platform-Spezialist rät: Ist weit und breit keine Krise in Sicht, wenn man eine braucht, bastelt man sie sich eben selbst. Nicht darauf warten, nicht darauf hoffen, dass die nächste Krise bestimmt irgendwann kommt. Nein, man überlegt sich eine Strategie, und dann hält man sich daran. Aber Vorsicht! Die Krise Marke Eigenbau ist nur dann eine vernünftige Lösung, wenn Sie die Situation auch wirklich richtig einschätzen können. Weil dringend notwendige Änderungsvorhaben immer wieder ins Stocken gerieten, trickste der Finanzleiter an der Jahresbilanz einer Fluggesellschaft und schuf so den größten Verlust in der Geschichte des Unternehmens – nur auf dem Papier, versteht sich. Allerdings erregte dieser Jahrhundertverlust bei wirklich jedem Mitarbeiter die größte Aufmerksamkeit. Die einen konnten nur staunen, andere zeigten sich extrem erbost oder ängstlich, doch dem allseits beliebten, charismatischen CEO gelang es, die negativen Gefühle zu kanalisieren, sodass die Dringlichkeit der Änderungsvorhaben allen bewusst wurde. Mit bemerkenswerter Führungsstärke führte er seine Mitarbeiter von dem brennenden Schiff zu neuen Ufern, ohne dass es zu erwähnenswerten Panikre-

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Das Prinzip Dringlichkeit

aktionen oder Streitereien kam. Im Zuge des Wandels wurden innerhalb von drei Jahren Dutzende von Maßnahmen durchgeführt, welche die Fluggesellschaft kundenorientierter, produktiver und profitabler machten. Auch wenn die Fluggesellschaft im branchenübergreifenden Vergleich in puncto Effizienz und Kundenorientierung nicht gerade zu den Besten gehörte, hatte die selbst gebastelte Krise doch Veränderungen ermöglicht, die sie zu einem neuen und besseren Unternehmen machten. Nach einem Wechsel an der Führungsspitze verkündete der neue CEO, er erwarte, dass sich sämtliche Unternehmensbereiche auf dem ersten oder zweiten Platz ihrer jeweiligen Branche positionierten. Falls dies nicht gelänge, so teilte er den verantwortlichen Managern mit, würden die Bereiche verkauft oder aufgelöst. Sehr überzeugend verwies der CEO auf einige sehr renommierte Firmen, die diese Strategie bereits mit großem Erfolg verfolgten, denn es war nun einmal eine Tatsache, dass im harten Wettbewerb nur überleben konnte, wer sich als Branchenführer etablierte. Diese Ankündigung, mit der sich der CEO wild entschlossen zeigte, ein wahrhaft herausragendes Unternehmen zu schaffen, »auf das wir alle stolz sein können«, stellte für jeden Manager, dessen Bereich zu diesem Zeitpunkt schlechter positioniert war, eine gewaltige Krisensituation dar. Einigen gelang es, in der Krise für das notwendige Gespür für Dringlichkeit zu sorgen, um drastische Verbesserungen zu erzielen, indem sie ihren Führungsteams ehrgeizige Ziele vorgaben, die nicht als Bestrafung, sondern als spannende Herausforderung empfunden wurden. Anderen gelang es nicht, und ihre Bereiche wurden verkauft oder aufgelöst. Auch wenn einige Unternehmensbereiche tatsächlich vor unlösbaren Problemen standen, trugen in den meisten dieser Fälle die Bereichsleiter durch falsches Verhalten zur Verschlechterung der Situation bei, indem sie sich von Angst- oder Wutgefühlen leiten ließen, ihren Führungsteams Ziele vorgaben, die unmöglich zu erreichen waren, oder so oft von einem Scheitern sprachen, dass sie

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es geradezu herbeiredeten. Dank der großartigen Leistung der erfolgreichen Geschäftsbereiche und des Verkaufs der unrentabel gewordenen Bereiche gelang dem Unternehmen eine großangelegte Neupositionierung des gesamten Unternehmensportfolios, was nicht nur die prozentual vom Umsatz geschöpften Betriebsgewinne, sondern auch den Aktienkurs steigen ließ. Mir sind einige Beispiele bekannt, in denen eine Krise durch ehrgeizige Zielvorgaben geschaffen wurde. Ein guter Freund von mir sagt immer, das Ziel muss so hoch gesteckt werden, dass es unmöglich auf den ausgetretenen betrieblichen Pfaden erreicht werden kann. Auf ein wirklich ehrgeiziges Ziel dürfen die Mitarbeiter ruhig mit einem erstaunten »Aber hallo!«, aber keinesfalls mit Sprachlosigkeit reagieren. Und besser früher als später muss dieses »Aber hallo!« um ein paar optimistische Worte ergänzt werden: »Aber hallo! Das wird hart, aber es ist zu schaffen. Es ist eine Herausforderung, der wir uns gerne stellen!« Was nicht passieren sollte, ist, dass Ihre Mitarbeiter sagen, »Aber hallo! Wer hat sich denn diesen Blödsinn ausgedacht?« Mir sind andere Beispiele bekannt, in denen eine Krise durch die Konfrontation mit der Realität ausgelöst wurde. Üblicherweise dient dieses Vorgehen dem Zweck, betriebsblinden Mitarbeitern die Augen zu öffnen für die Welt, die außerhalb der eigenen vier Wände existiert und in der große Gefahren (und fantastische Chancen) für die gesamte Branche lauern, oder für neue Technologien oder auch neue Gesetzesinitiativen, die für die Geschäftstätigkeit relevant sind. Es ist zwar kaum zu glauben, aber es stimmt: Ein in sich gekehrtes Unternehmen ist blind und taub. Ohne jemanden, der darauf hinweist, dass gleich nebenan eine Bombe eingeschlagen hat, nimmt es noch nicht einmal den Knall zur Kenntnis. Krisensituationen können dafür genutzt werden, das Gefühl für Dringlichkeit zu verstärken, ganz gleich, ob man sich nun eine eigene Krise schafft oder unvermittelt in eine gerät. Die

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Das Prinzip Dringlichkeit

Vorgehensweise und notwendige Haltung zu einer Krise sind in beiden Fällen gleich. Es gilt, in der Krise auch die Chance zu sehen und sich, falls nötig, einflussreiche Verbündete zu suchen. Es gilt, proaktiv zu handeln, anstatt davon auszugehen, dass eine Krise keinen Platz für Selbstgefälligkeit bietet und die erforderlichen Maßnahmen automatisch ergriffen werden. Es gilt zu erkennen, dass der Mensch nicht nur ein denkendes, sondern vor allem ein fühlendes Wesen ist, weshalb den Emotionen eine zentrale Rolle zukommt, die bei allen Aktionen berücksichtigt werden muss. Im Gegensatz zum Krisenopfer muss ein Krisenmacher zudem darauf achten, dass seine Aktion unmöglich übersehen oder missverstanden werden kann – wie der Jahrhundertverlust bei der Fluggesellschaft oder die klare Ansage, dass jeder, der es nicht auf den ersten oder zweiten Platz schafft, verloren hat. Diese Aktionen sind alles andere als subtil. Sie sind nicht nur einem kleinen Kreis Auserwählter bekannt. Aktionen wie diese schaffen Krisen, die ganz sicher nicht mit ein paar geringfügigen Veränderungen bewältigt werden können. Es brennt lichterloh, es raucht und qualmt an allen Ecken und Enden. So ein Feuer lässt sich nicht mit einem läppischen Eimer Wasser löschen. Wer eine Krise erzeugt, um das Gespür für Dringlichkeit zu verstärken, muss unbedingt eine Problemsituation schaffen, von der niemand ernsthaft glaubt, sie sei ja nur halb so tragisch oder ließe sich durch minimale Veränderungen überwinden. Gelingt das nicht, ist das Scheitern vorprogrammiert. Das vermutlich Wichtigste, was es bei einer absichtlich heraufbeschworenen Krise zu beachten gilt, ist, dass sie einen klaren Bezug zu der jeweiligen Geschäftstätigkeit und den damit verbundenen Schwierigkeiten erkennen lässt. Die Krise Marke Eigenbau ist schließlich keine List, die jenseits der realen Gegebenheiten erfunden wird. Es ist zwar verlockend, weil relativ einfach, sich eine solche List auszudenken, allerdings laufen Sie damit Ge-

Die einer Krise innewohnenden Chancen erkennen

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fahr, die Energie, die Ihre Mitarbeiter daraufhin entwickeln, in die falschen Bahnen zu lenken und Ihren guten Ruf zu verlieren, sobald man Ihre List durchschaut hat.

Vier grobe Fehler, die es unbedingt zu vermeiden gilt Wenn Sie vorhaben, mit einer Krise die Selbstgefälligkeit zu erschüttern und durch ein ausgeprägtes Gefühl für Dringlichkeit zu ersetzen, wenden Sie dabei eine Taktik an, die Sie sich bildlich so vorstellen sollten: Sie kann Sie zu einer potenziell reichhaltigen Goldgrube führen, der Weg dorthin verläuft jedoch durch tödlichen Treibsand und Feindesland. Beschreiten Sie diesen Weg fröhlich vor sich hin pfeifend, ohne sich der Gefahren vor Ort bewusst zu sein, laufen Sie möglicherweise ins Verderben. Grober Fehler Nr. 1 Sich darauf verlassen, dass eine Krise automatisch das Gefühl für Dringlichkeit erhöht und sich Verbesserungen somit von selbst ergeben. Beispiel: Jahr für Jahr schrumpften die Gewinnspannen eines europäischen Bekleidungshändlers weiter, weil im oberen Preisspektrum zunehmend Modeboutiquen, im unteren Preisspektrum zunehmend Billiganbieter den Markt übernahmen. Dann erschien im Wall Street Journal Europe völlig überraschend ein hochbrisanter Artikel, in dem ausführlich über die immensen Probleme des Unternehmens berichtet wurde. Dem CEO war zwar schon zwei Wochen im Voraus bekannt, dass der Artikel gedruckt werden würde, doch anstatt seine Mitarbeiter vorzuwarnen oder zu versuchen, die Veröffentlichung zu verhindern, zog er es vor, untätig zu bleiben. Nicht nur, dass er außer seinem engsten Vertrauten niemanden informierte, er machte sich auch kaum Gedanken darüber, was wohl passieren würde, wenn der Artikel erschien, und was genau er unternehmen konnte, um die

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Das Prinzip Dringlichkeit

zu erwartende Angst, Wut und Verwirrung unter seinen Mitarbeitern in produktive Bahnen zu lenken. Dann war es so weit. Eine ausgewachsene Krise brach über die Firma herein, und was tat der CEO? Nichts. Er ging einfach davon aus, dass der heftig hereinbrechende Sturm die Selbstgefälligkeit schon von selbst in alle Winde verstreuen und seine Firma in die richtige Richtung wehen würde. Fehlanzeige! Anstatt die Mitarbeiter aufzurütteln und aktiv werden zu lassen, hatte die Krise zur Folge, dass viele Manager aus Angst, in der Presse für Fehlentscheidungen verantwortlich gemacht zu werden, davor zurückschreckten, wichtige Entscheidungen zu treffen. Die größte Sorge der meisten Führungskräfte war, dass überstürzte Aktionen womöglich noch viel mehr Schaden anrichten könnten. So blieben alle lieber in Deckung und drückten sich vor der Verantwortung, und das exakt zu einem Zeitpunkt, zu dem der CEO seine Entscheidungsträger am dringlichsten gebraucht hätte. Die besten Voraussetzungen für den Wandel – die Burning Platform – waren gegeben. Von einem Plan, wie diese Krise genutzt werden konnte, um die Firma in eine bessere Zukunft zu führen, war jedoch weit und breit nichts zu sehen. Grober Fehler Nr. 2 Einen herben Rückschlag heraufbeschwören, weil sich die Mitarbeiter betrogen fühlen. Es ist nun einmal wirklich kein schönes Gefühl, wenn man glaubt, über den Tisch gezogen worden zu sein. Wenn einer absichtlich eine Krise auslöst, in der andere zu Schaden kommen können, riecht das nach Sabotage oder Wahnsinn, was für reichlich Empörung und Wut, aber sicher nicht für ein Gefühl für Dringlichkeit sorgt. Werden Empörung und Wut nicht geschickt umgelenkt, entstehen daraus weitere Probleme, die extrem schwierig zu lösen sind. Dann ist die Krisenbastelstrategie nicht nur kläglich gescheitert, sondern trägt erheblich zur Verschlechterung der Gesamtsituation bei. Dazu das Beispiel eines Unternehmens aus dem Mittleren Westen der USA, das Komponenten für die Automobilindustrie herstellt. Der Leiter des größten Unternehmensbereichs stand vor dem Problem,

Die einer Krise innewohnenden Chancen erkennen

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dass neue Marktanforderungen nach größeren Veränderungen verlangten, die von seinen Führungskräften und Mitarbeitern jedoch einfach nicht umgesetzt wurden. Er kam zu dem Schluss, dass ihm wohl nichts anderes übrig bliebe, als eine Krisensituation zu schaffen. Seit vielen Jahren hatte das Unternehmen ausschließlich die großen Automobilhersteller in Detroit beliefert, doch seit einiger Zeit bemühte man sich verstärkt darum, auch ausländische Kunden zu gewinnen – mit mäßigem Erfolg. Außerhalb der USA wurden eine Fertigungsgenauigkeit und Qualität der Komponenten vorausgesetzt, die sein Betrieb nicht bieten konnte. Aufgrund der langjährigen Geschäftstätigkeit des Unternehmens, das seine größten Erfolge vor allem in der Mitte des 20. Jahrhunderts gefeiert hatte, herrschte in den Produktionsstätten ein von selbstgefälliger Überheblichkeit geprägtes Klima, in dem man sich keinen Deut um die Außenwelt scherte. Trotz stagnierender Umsatzerlöse und beunruhigender Prognosen stießen die Veränderungspläne des Bereichsleiters auf Desinteresse und Widerstand, vor allem bei den Gewerkschaftsvertretern. Das Änderungsvorhaben sollte eigentlich innerhalb eines Jahres abgewickelt werden, doch immer wieder gerieten diverse Projekte ins Stocken. Anstatt die Verantwortlichen für versäumte Termine und nicht erreichte Meilensteine zur Rechenschaft zu ziehen, gab sich der Bereichsleiter mit den fadenscheinigen Erklärungen und Ausreden seiner Leute zufrieden. Als ein junger Ingenieur ihn darauf aufmerksam machte, dass man der Nachfrage nach innovativen Elektronikmodulen bereits stark hinterherhinkte, ordnete der Bereichsleiter eine Untersuchung der Angelegenheit an, die er allerdings schön bürokratisch organisierte und die somit auch schön langsam verlief. Mit diesen und anderen Maßnahmen schuf er absichtlich die Voraussetzungen für eine ordentliche Krise, die dann auch nicht allzu lange auf sich warten ließ. Als ein Mitbewerber innovative Bauteile auf den Markt brachte, verlor das Unternehmen knapp 10 Prozent seiner Anteile auf dem US-amerikanischen Markt, und in den Produktionsstätten im Ausland brach der Umsatz um rund ein Drittel ein. Das Ergebnis: die miserabelste Jahresbilanz in 75 Jahren Geschäftstätigkeit. Vier Monate wurde in der Fachpresse begeistert

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Das Prinzip Dringlichkeit

über die spektakuläre Innovation der Konkurrenz berichtet und über die möglicherweise gravierenden Probleme des Unternehmens spekuliert. Und nachdem genügend Öl ins Feuer gegossen worden war, brach ein gewaltiger Feuersturm los. Die freigesetzten Energien äußerten sich jedoch nicht in einem gesteigerten Dringlichkeitsempfinden, sondern entfachten Wut und mit ihr das Bedürfnis, denjenigen ausfindig zu machen, der für die Krise verantwortlich war. Irgendwer setzte das Gerücht in die Welt, der Bereichsleiter würde doch schon seit einem Jahr bewusst darauf hinarbeiten, die Krise heraufzubeschwören. Anstatt sich energisch den Tatsachen zu stellen und die eigentlichen Probleme anzugehen, richtete sich der geballte Zorn nahezu aller Mitarbeiter gegen den Bereichsleiter. Grober Fehler Nr. 3 Darauf hoffen, dass die nächste Krise schon kommen wird – irgendwann. Entscheidet man sich für die Strategie der Burning Platform, sollte man sich lieber nicht darauf verlassen, dass sie von selbst Feuer fängt. Das Problem ist nämlich, dass entweder gar nichts passiert, das Feuer an der falschen Stelle oder zur falschen Zeit ausbricht oder zu klein oder zu groß ausfällt. Wer mit dem Feuer spielen will und dabei eine »Abwarten und Tee trinken«-Strategie verfolgt, wird sich höchstwahrscheinlich nicht nur die Finger verbrennen. Erfreut nahm der CEO eines Energieversorgungsunternehmens die Ankündigung der Regulierungsbehörde auf, man werde einige Bestimmungen lockern, um den Energiemarkt zu liberalisieren und in der Zukunft für mehr Wettbewerb zu sorgen. Politische Machtspielchen zögerten die Verabschiedung der neuen Gesetze im Kongress immer wieder hinaus, und die Gesetze, die schließlich doch in Kraft traten, waren so oft überarbeitet worden, dass sie weit weniger unternehmerische Freiheiten mit sich brachten, als der CEO gehofft hatte. Somit blieb auch die erhoffte Krise aus. Das Unternehmen verlor nach der Aufhebung des Energiemonopols zwar Marktanteile, strich aber dank der staatlichen Subventionen trotzdem Gewinne ein, was die Selbstgefälligkeit nur stärkte. Frustriert warteten die Fürsprecher des Wandels auf das Inkrafttreten neuer

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Gesetze, die für das kommende Jahr angekündigt worden waren. Und sie warteten und warteten auf die Krise, die nicht kommen wollte. Grober Fehler Nr. 4 Es gibt Menschen, die Krisen um jeden Preis vermeiden wollen. Warum wohl? Weil ihnen die Angst vor den verheerenden Konsequenzen im Nacken sitzt. Es ist ganz klar ein grober Fehler, diese Gefahr zu unterschätzen. Beispiel: Ein Unternehmen verlor Dutzende seiner Großkunden an einen Konkurrenten, weil dieser eine brandneue Technologie einsetzte, die erst seit kurzem durch die immer kleiner gewordenen Mikrochips möglich war. Mit dieser Entwicklung hätte man jedoch rechnen können. Da das Management jedoch der Ansicht war, so eine Burning Platform käme doch wie gerufen, um die in Selbstgefälligkeit schwelgende Belegschaft wachzurütteln, nahm es die alarmierenden Warnsignale nicht ernst genug. Die Einnahmen gingen drastisch zurück, die Verluste wurden immer gravierender, der Aktienkurs rutschte in den Keller, Mitarbeiter wurden entlassen oder verließen das sinkende Schiff. Nur einige Unverbesserliche sahen in all dem noch immer keinen Grund zur Beunruhigung. Der finanzielle Kollaps hatte zur Folge, dass die Gelder nicht mehr ausreichten, um die Betriebsmittel zu modernisieren, neue Hard- und Software zu kaufen und in die Forschung und Entwicklung zu investieren, was unbedingt notwendig gewesen wäre, um das Überleben zu sichern. Die paar Angestellten, die den dringenden Handlungsbedarf erkannten, fühlten sich von diesen Aufgaben überfordert. Die Führungskräfte, die ihrem Unternehmen die Treue gehalten hatten, arbeiteten bis zur Erschöpfung daran, den Betrieb am Laufen zu halten und die Krise irgendwie zu überwinden, um die Zukunft des Unternehmens zu sichern. Und wer nicht über kurz oder lang aus Wut oder Frustration über die aufgezwungene Situation das Handtuch warf, fühlte sich bald so entkräftet, dass der Energiepegel zu einem Zeitpunkt, in dem eine gemeinsame gewaltige Anstrengung erforderlich gewesen wäre, auf den Nullpunkt gesunken war. Und nicht nur der Energiepegel, sondern auch die Arbeitsmoral. Das Unternehmen verzeichnete im-

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Das Prinzip Dringlichkeit

mer herbere Verluste, wurde zu einem Schnäppchenpreis verschleudert und häppchenweise den Geiern zum Fraß vorgeworfen. Zusammengefasst: Die Burning Platform war da, von Veränderungen, die das Unternehmen für die Zukunft rüsten sollte, war jedoch weit und breit nichts zu sehen. Von allen Risiken, die mit einer Krise einhergehen, ist das soeben beschriebene das größte. Anstatt das Gespür für Dringlichkeit zu verstärken, wird unternehmerischer Selbstmord begangen. Zum Glück passiert das nicht allzu oft, denn das Management und die Belegschaft spüren instinktiv, wie gefährlich die Lage ist, und geben sich die allergrößte Mühe, sie heil zu überstehen. Trotzdem sollte man immer daran denken, dass eine Krise auch tödlich verlaufen oder ein Unternehmen zumindest schwer anschlagen kann. Man merke sich also: Um das Gefühl für Dringlichkeit zu stärken, mag es ungefährlichere Taktiken geben, als eine Krise heraufzubeschwören.

Krisenbilanz Im Umgang mit Krisen ist Naivität unangebracht. Die in den Unternehmen eingerichteten Kontrollsysteme sowie die verschiedensten Arten der Schadensbegrenzung gibt es aus gutem Grund. Gleichzeitig sollten Sie sich aber klarmachen, dass Kontrollsysteme die in einem Unternehmen herrschende Selbstgefälligkeit immens stärken können, was sich heutzutage als zunehmend verheerend erweist. Wird eine Krise geschickt gehandhabt – wie das geht, wissen Sie ja nun –, stellt sie eine hervorragende Gelegenheit dar, für das erforderliche Maß an Dringlichkeit zu sorgen. Und eine solche Gelegenheit sollten Sie sich keinesfalls entgehen lassen. Dass sich das Gefühl für Dringlichkeit mithilfe einer Krise stärken lässt, ist eine erwiesene Tatsache. Voraussetzung ist nur, dass folgende Richtlinien befolgt werden:

Die einer Krise innewohnenden Chancen erkennen

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• Betrachten Sie eine Krise auch immer als Chance, nicht nur als











Schreckensereignis, das nach sofortiger Schadensbegrenzung verlangt. Denken Sie immer daran, dass in einer Krise nicht automatisch die Selbstgefälligkeit schwindet und das Gefühl für Dringlichkeit zunimmt. Ohne Ihr kompetentes Eingreifen löst eine Krise unweigerlich Ängste, Wutausbrüche und gegenseitige Schuldzuweisungen aus, führt zu einem Verlust wertvoller Ressourcen und nimmt meist ein tragisches Ende. Um mithilfe einer Krise die Selbstgefälligkeit erschüttern zu können, müssen die Probleme so offensichtlich, eindeutig und gravierend sein, dass niemand auf die Idee kommt, sie ließen sich mit einigen kleinen Veränderungen lösen. Widerstehen Sie dem Impuls, schlechte Nachrichten herunterzuspielen oder zu verheimlichen, falls Sie dazu neigen. Ob auferlegte oder selbst gebastelte Krise, wichtig ist in jedem Fall, proaktiv zu handeln. Überlegen Sie sich im Voraus, wie Ihre Mitarbeiter reagieren werden, planen Sie im Vorfeld, welche Maßnahmen Sie ergreifen und wie sich diese Maßnahmen zügig umsetzen lassen. Denken Sie bei Ihrer Planung daran, dass Sie Ihre Mitarbeiter nicht nur auf rationaler Ebene überzeugen, sondern auch und vor allem auf emotionaler Ebene ansprechen müssen. Und dafür sind leidenschaftlicher Einsatz, überzeugendes und optimistisches Vorgehen, offensichtliche Dringlichkeit und eiserne Entschlossenheit Ihrerseits allemal besser geeignet als jeder noch so analytisch geniale Bericht. Verlassen Sie sich nie darauf, dass die nächste Krise schon von selbst kommen wird. Es ist geradezu paradox, sich in Geduld zu üben, wenn doch gerade dringender Handlungsbedarf besteht, um gravierende Probleme zu lösen. Konfrontieren Sie Ihre Mitarbeiter und Kollegen mit der Realität, und handeln Sie selbst mit der gebotenen Dringlichkeit.

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Das Prinzip Dringlichkeit

• Ist weit und breit keine Krise in Sicht, besteht die Möglichkeit,

eine zu forcieren. In Anbetracht der damit verbundenen Risiken für das Unternehmen und auch für Sie selbst – falls man Sie als Risikomacher identifiziert, werden Ihre Mitarbeiter aus nachvollziehbaren Gründen wenig Verständnis dafür zeigen, dass Sie sie absichtlich in Gefahr bringen – sollten Sie größte Sorgfalt und Vorsicht walten lassen. • Erkennen Sie in einer Krise eine hervorragende Chance, sind aber kein einflussreicher Entscheidungsträger, suchen Sie sich einen Verbündeten aus den oberen Reihen, der die Führung übernehmen kann. Machen Sie sich die Risiken bewusst, und handeln Sie klug und umsichtig. Das müssen wir alle. Wer jedoch in der Lage ist, die einer Krise innewohnende Chance zu erkennen und zu nutzen, kann dadurch vielleicht auch das unternehmerische Risiko als Ganzes schmälern.

Kapitel 7

Taktik Nr. 4 Der richtige Umgang mit Neinsagern

Vor einigen Jahren schrieb ich mit Holger Rathgeber eine Fabel über eine Kaiserpinguin-Kolonie, die auf einem Eisberg in der Antarktis lebt – auf einem schmelzenden Eisberg, weshalb wir unserem Buch den Titel Our Iceberg is Melting gaben1. Es handelt davon, dass sich die Lebensbedingungen in unserer turbulenten Zeit permanent verändern. Am Beispiel der Kaiserpinguine werden die damit einhergehenden Enttäuschungen, Ängste und Probleme beschrieben, die uns Menschen nur allzu bekannt sind. Im Gegensatz zur großen Mehrheit der über den Erdball verstreuten »Menschenkolonien« gelingt es unserer Pinguin-Kolonie aber, ihre Probleme zu lösen. Eine Glanzleistung, die in der Realität des 21. Jahrhunderts nur den herausragendsten Unternehmen gelingt. Einer der Hauptcharaktere der Pinguin-Kolonie trägt den Namen NoNo. Damit dürfte die Frage, wie er auf neue Vorschläge reagiert, bereits hinlänglich beantwortet sein. NoNo gibt sich jedoch nicht mit dem Neinsagen zufrieden, sondern leistet höchst aktiven Widerstand, und das oft mit großem Erfolg. Neinsager besitzen einen hervorragenden Killerinstinkt, wenn es darum geht, dringend erforderlichen Änderungsvorhaben und Aktionsplänen den Garaus zu machen. Sollte es ihnen einmal nicht gelingen, Anti-Selbstgefälligkeitsmaßnahmen zu sabotieren, verlegen sie sich eben darauf, unterschwellige Wut- und Angstgefühle zu schüren und für möglichst viel sinn-

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Das Prinzip Dringlichkeit

und zwecklose Hektik zu sorgen, damit ein eventuell aufkeimendes Gespür für Dringlichkeit in falsche Bahnen gelenkt wird. In jedem Unternehmen und jeder Institution gibt es mindestens einen Mitarbeiter, der zu allem Nein sagt. Mindestens, denn ein NoNo kommt selten allein. Diese Neinsager sind störende bis lästige Zeitgenossen, die uns bisweilen wirklich auf die Palme bringen können. Eigentlich sind die Neinsager eine echte Plage. Sie werden von denjenigen, die ein Problem und den damit verbundenen dringenden Handlungsbedarf erkennen, oft als unüberwindliche Fortschrittsbremse angesehen. Fortschrittsbremse ja, unüberwindlich nein. Sie werden gleich erfahren, mit welchen drei Methoden sich diese Gesellen unschädlich machen lassen und mit welchen zwei Methoden Sie sich keinen Gefallen erweisen.

Das NoNo-Problem Unser NoNo ist nicht einfach nur ein skeptischer Kerl, sondern er kann aus dem Stegreif jederzeit zehn gute Argumente für oder gegen alles Mögliche abrufen: Warum alles so, wie es ist, völlig in Ordnung ist; weshalb es die Probleme und Hürden, die anderen Kopfzerbrechen bereiten, in Wahrheit gar nicht gibt; warum man sich unbedingt erst ausführlicher informieren muss, bevor man zur Tat schreitet und so weiter. Als ein Pinguin, der in der Kolonie in der Mitte der Hackordnung steht, den Oberpinguinen berichtet, seiner Ansicht nach sei das Schmelzen ihres Eisbergs ein lebensbedrohendes Problem, reagiert NoNo auf die für ihn typische Art:

Der richtige Umgang mit Neinsagern

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»Dieser Grünschnabel behauptet, schmelzendes Eis habe den Kanal entstehen lassen. Doch vielleicht stimmt das nicht. Er behauptet, der Kanal werde in diesem Winter zufrieren und das Wasser in einer Höhle einschließen. Doch vielleicht kommt es gar nicht so weit! Er behauptet, das Wasser werde gefrieren. Doch vielleicht wird das gar nicht passieren! Und er behauptet, gefrierendes Wasser dehne sich immer aus. Vielleicht irrt er! Und selbst wenn alles, was er sagt, wahr sein sollte – ist unser Eisberg wirklich so zerbrechlich, dass ihn gefrierendes Wasser in einer Höhle zerbersten lassen kann? Woher wissen wir, dass seine Darlegungen nicht bloß Theorie sind? Spekulationen? Panikmache?!!! Kann er garantieren, dass seine Daten und Schlüsse 100prozentig korrekt sind?«

Vernichtender Rundumschlag erfolgreich ausgeführt. Und Tusch! Auch wenn Sie nun glauben, dass doch in jedem von uns zumindest ein kleiner NoNo steckt, bin ich dagegen der Überzeugung, dass es eher der Skeptiker in uns ist, der uns anstehende Veränderungen misstrauisch beäugen lässt. Und eines kann ich Ihnen versichern: Selbst der umgänglichste NoNo ist nicht einfach nur ein Skeptiker. Sofern sich nicht zu viele Skeptiker auf einem Haufen tummeln, ist es durchaus hilfreich, wenn hin und wieder Zweifel am Nutzen diverser Vorhaben angemeldet werden. Oft sind es die Skeptiker, die andere davon abhalten, sich vor lauter Begeisterung zu irgendwelchen schlecht durchdachten Dummheiten hinreißen zu lassen. Und ein skeptischer Mensch kann sich in den größten Befürworter eines Vorhabens verwandeln, wenn es gelingt, seine Zweifel vollständig zu zerstreuen. Ein Skeptiker lässt sich eines Besseren belehren, ein Neinsager nicht. Ein echter Neinsager scheut vor nichts zurück, um diejenigen, die sich für dringlicheres Handeln einsetzen, in Misskredit zu bringen. Ein echter Neinsager wird alles tun, um sämtliche Pläne zu boykottieren, die darauf abzielen, das Gespür für Dringlichkeit zu verstärken. Die Gefahr, die von den NoNos unter uns ausgeht, wird meistens stark unterschätzt. Ein großer Fehler, der weitere Fehler nach sich zieht: zum Beispiel Fehler im Umgang mit Neinsagern.

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Das Prinzip Dringlichkeit

Wie unterscheiden sich Skeptiker von Neinsagern? Der Skeptiker

Der Neinsager

In der Aus-

Der Skeptiker hat keine

Der Neinsager nutzt seinen

wertung ihrer

Erfahrung im Umgang mit

Erfahrungsschatz aus-

Erfahrungen

der aktuellen Situation,

schließlich als Munitionsla-

denn eine Gefahr oder

ger, um gegen jedes not-

Gelegenheit dieser Art hat

wendige Änderungs-

sich bislang nie ergeben.

vorhaben möglichst

Oder er hat die Erfahrung

schwere Geschütze

gemacht, dass mit dieser

auffahren zu können.

oder einer vergleichbaren Situation bisher nicht sehr geschickt umgegangen wurde. Hinsichtlich

Der Skeptiker will umfas-

Der Neinsager pfeift zwar

ihres Infor-

send informiert werden,

eigentlich auf Informati-

mations-

um sich selbst davon

onen, wird das aber natür-

bedarfs

überzeugen zu können,

lich nie zugeben. Ganz im

dass eine geplante Neue-

Gegenteil, denn er verlangt

rung notwendig, sinnvoll

lautstark nach immer wei-

und praktikabel ist. Ein

teren Beweisen für die Not-

Vertrauensvorschuss ist

wendigkeit der geplanten

von ihm nicht zu erwar-

Veränderung.

ten. In der Aus-

Der Skeptiker sichtet,

Der Neinsager sichtet, sor-

wertung von

sortiert und analysiert

tiert und analysiert sämt-

Informationen

sämtliche Informationen

liche Informationen eben-

sehr sorgfältig, was ver-

falls sehr sorgfältig, um

nünftig ist, aber oft dazu

sich exakt diejenigen he-

führt, dass er schier

rauszupicken, die gegen

unendlichen Informations-

das geplante Vorhaben

bedarf anmeldet. Er ist

sprechen. Er ist eben

eben nicht sehr risikofreu-

extrem engstirnig.

dig.

Der richtige Umgang mit Neinsagern

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Der eine ist

Der Skeptiker ist eher der

Der Neinsager ist der aktive

eher passiv,

passive Typ, obwohl es

Typ, der sowohl auf als

der andere

natürlich die berühmten

auch hinter der Bühne

geradezu

Ausnahmen gibt, die sich

emsig die Fäden zieht. Ein

hyperaktiv.

gerne von etwas überzeu-

hyperaktiver Störenfried,

gen lassen möchten und

der unablässig Sand ins

sich aktiv darum bemü-

Getriebe streut.

hen. Normalerweise aber vertritt der Skeptiker die Ansicht, die Überzeugungsarbeit müsse von anderen geleistet werden. Steckbrief

Nervt gelegentlich und

Bestärkt die Selbstgefälli-

kann sich als Bremsklotz

gen, schürt häufig latent

erweisen. Andererseits ist

vorhandene Ängste und

es oft ihm zu verdanken,

hat es immer darauf abge-

dass naive Gipfelstürmer

sehen, ein aufkommendes

in ihrer kindlichen Begeis-

Gefühl für Dringlichkeit im

terung nicht die gesamte

Keim zu ersticken. Er boy-

Seilschaft in Gefahr brin-

kottiert den Wandel und ist

gen.

somit ein extrem gefährlicher Zeitgenosse.

Ein NoNo im Boot bringt es garantiert zum Kentern Die meisten Menschen kennen nur zwei Möglichkeiten, mit einflussreichen Neinsagern umzugehen, und dummerweise funktionieren beide nicht besonders gut. Die eine ist, sich den Neinsager ins Boot zu holen. Jerry Blackburn war Geschäftsführer eines erfolgreichen Beratungsunternehmens. Unter seiner Führung hatte man sich seit Jahren auf das Qualitätsmanagement nach Six Sigma konzen-

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Das Prinzip Dringlichkeit

triert, was der einst kleinen Firma zu schnellem Wachstum verhalf. Dank des wachsenden Erfahrungsschatzes, cleverer Investitionen in effizientere Tools und einer aggressiven Verkaufspolitik zählte das Unternehmen bald zu den drei besten in der stark fragmentierten Beratungsbranche. Eines Tages wartete einer von Blackburns zuverlässigsten und erfahrensten Geschäftspartnern mit schlechten Nachrichten auf: Neueste Informationen ließen unter den Unternehmen eine nachlassende Begeisterung hinsichtlich Six Sigma erkennen, und man müsse sich damit befassen, auch wenn sich diese Entwicklung in den eigenen Unternehmensbilanzen noch nicht bemerkbar gemacht hatte. Jerry und er müssten sich unbedingt mit den potenziellen Geschäftskunden treffen, die auf ihre kürzlich unterbreiteten Vorschläge nicht eingegangen waren. Außerdem sollten Jerry und er auch dringend Termine mit den bestehenden Kunden vereinbaren, die weniger Beraterdienste in Anspruch nahmen, als man erwartet hatte. Jerry war mit beiden Vorschlägen einverstanden. Nach den Gesprächsterminen kamen die beiden Berater zu dem Schluss, dass das Interesse an Six Sigma in der Tat nachließ, es dafür aber ein gesteigertes Interesse an anderen Qualitätsmanagementmethoden gab. Blackburn trommelte sofort sein Führungsteam zusammen, um diese Information weiterzugeben. Er hielt es für zwingend notwendig, sich schnell umzuorientieren. Neue Geschäftsoptionen, die über großes Wachstumspotenzial verfügten und in die vorhandenen Kapazitäten und Erfahrungen optimal einfließen konnten, mussten genutzt werden. Jerry wies nachdrücklich darauf hin, dass es eine Zeit lang dauern würde, sich auf einem neuen Gebiet fundiertes Wissen anzueignen, die gewohnten Umsätze zu erzielen und sich im Wettbewerb erneut so gut zu positionieren. Er teilte seinem Führungsteam außerdem mit, welche Risiken sie seiner Überzeugung nach eingingen, wenn sie zu lange zögerten:

Der richtige Umgang mit Neinsagern

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1. kurzfristig stagnierende Gewinne, die gleichzeitig geringere Leistungsprämien bedeuteten, was einige der besten Mitarbeiter dazu veranlassen könnte, sich bei der Konkurrenz zu bewerben; 2. langfristig von aggressiveren Mitbewerbern auf einen der unteren Plätze verwiesen zu werden. Blackburn ließ keine Zweifel daran aufkommen, was er für das Richtige hielt, und so waren die meisten der elf Topmanager nicht nur von dem, was sie da zu hören bekamen, sondern vor allem von seiner Überzeugungskraft ziemlich überrascht. Es entbrannte eine hitzige Diskussion, in deren Verlauf sich das Team in zwei mehr oder weniger gleich starke Lager aufsplittete: in Befürworter und Gegner von Blackburns Vorhaben. Zehn Minuten vor dem Ende der Besprechung ergriff ein sehr erfahrener Berater das Wort. Er erinnerte daran, dass vor knapp fünf Jahren auch schon einmal einige Leute geunkt hatten, die guten Zeiten wären vorüber, doch dass ihr Unternehmen weiterhin gute Wachstumsraten verzeichnete. Das stimmte. Er wies darauf hin, dass mindestens zwei ihrer Mitbewerber eine Zeit lang verkündet hatten, Six Sigma hätte an Nutzen und Beliebtheit eingebüßt, und doch hatten sich Blackburn und die Kollegen vor Aufträgen kaum retten können. Stimmte auch. Außerdem, und das stimmte ebenfalls, fehlte der hieb- und stichfeste Beweis für die Richtigkeit der Informationen, da Blackburn doch nur mit ein paar Kunden gesprochen hatte. Und da man momentan doch alle Hände voll zu tun hatte, riet er dringend dazu, sich doch lieber auf das Tagesgeschäft und die laufenden Projekte zu konzentrieren, anstatt sich in Spekulationen zu verlieren. Abschließend warnte der Berater noch davor, das mittlere Management und die Nachwuchskräfte mit den beunruhigenden Informationen zu belasten, denn das wäre seiner Meinung nach ein großer Fehler. Zukunftsängste lenkten schließlich von den aktu-

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ellen Verpflichtungen ab, und das wäre riskant. Seine so vernünftig klingenden Ausführungen in den letzten Minuten der Besprechung hatten zur Folge, dass die Mehrheit der Befürworter ins gegnerische Lager überlief. Einige Stunden später hielten ein sehr unglücklicher Blackburn, einer seiner engsten Vertrauten und der Partner, der ihn als Erster auf das Problem aufmerksam gemacht hatte, Kriegsrat hinter verschlossenen Türen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Sie waren sich schnell einig, dass es in jedem Aktionsplan einen einflussreichen und absolut unberechenbaren Faktor geben würde: ihren NoNo. Nach einigem Hin und Her beschlossen sie, man müsse vor allem aussagekräftige Informationen einholen. Zu diesem Zweck bildeten sie einen Arbeitskreis, dem sie selbst, ein für alles aufgeschlossener Kollege und der Neinsager angehörten. Es war sicher besser, ihn mit ins Boot zu holen und im Auge zu behalten, bevor er heimlich, still und leise anderswo Sabotage betreiben konnte, lautete die einhellige Meinung. Blackburns Hoffnung, der Arbeitskreis würde sich innerhalb von zwei Monaten mindestens sechs Mal treffen, um die Informationen entweder zu widerlegen oder zu bestätigen und im letzteren Fall die gesamte Truppe zu schnellem Handeln zu motivieren, erfüllte sich jedoch nicht. Ihr Neinsager war nämlich »wahnsinnig beschäftigt«. So traf sich der Arbeitskreis zwar schon sechs Mal, aber nicht innerhalb von zwei, sondern von sechs Monaten, und zu einer einstimmigen Meinung hatte man sich selbst nach einem halben Jahr noch nicht durchringen können. Freundlich, aber bestimmt zerpflückte der Neinsager mit unerbittlichem Scharfsinn jede noch so fundierte Datenanalyse. Er vereinbarte Termine mit Kunden, bei denen das Unternehmen eine stagnierende Auftragslage festgestellt hatte, sagte sie aber wiederholt ab, weil ihm eine unerwartete Krisensituation, unaufschiebbare Verpflichtungen oder Terminüberschneidungen dazwischenkamen. An den harten Fakten, die

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die anderen Arbeitskreismitglieder zwischenzeitlich zusammengetragen hatten, hatte er immer etwas auszusetzen. Entweder trafen sie nur eingeschränkt zu, setzten voraus, dass auch die Bedingungen X, Y und Z erfüllt wurden, oder sie waren nicht hundertprozentig nachweisbar. Gleichzeitig klagte er immer wieder darüber, die Datenerhebung und -auswertung koste so viel Zeit und Energie, dass die laufenden Projekte vernachlässigt würden. Nach einer besonders unerfreulichen Arbeitskreissitzung schlug Blackburn seinem Partner vor, ernsthaft darüber nachzudenken, ob man sich nicht besser von NoNo trennen sollte. Ihn feuern, natürlich möglichst taktvoll und diplomatisch, und es nach außen als einen Abschied aus persönlichen oder sonstigen Gründen darzustellen. Wäre er erst einmal aus dem Weg, könnte man sich endlich den wirklich wichtigen Dingen widmen. Sein Partner wandte ein, das wäre ziemlich riskant. Schließlich sei NoNo für das größte Projekt des Unternehmens verantwortlich und leiste als Projektleiter hervorragende Arbeit. Er hielte jeden Termin ein, überzöge nie das Budget und sein Kunde sei höchst zufrieden mit ihm und seiner Arbeit. Blackburn verfolgte die Idee mit der Kündigung vorläufig nicht weiter, da andere geschäftliche Angelegenheiten seine ganze Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. NoNo blieb also mit im Boot, der fünfköpfige Arbeitskreis wurde unverändert beibehalten und traf sich auch weiterhin nur sporadisch. Eineinhalb Jahre, nachdem Jerry und sein Partner im Zuge ihrer Kundengespräche von den beunruhigenden Tendenzen gehört hatten, verzeichnete das Unternehmen die ersten Umsatzrückgänge seit seiner Gründung. In der Zeitschrift Business Week wurde über ein kleineres Beratungsunternehmen berichtet, das dem Einsatz einer neuen Qualitätsmanagementtechnik eine jährliche Wachstumsrate von sage und schreibe 50 Prozent zu verdanken hatte. Zwischen den Zeilen konnte Blackburn eindeutig herauslesen, dass

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die besten Tage seines Unternehmens gezählt waren. Seine Strategie, NoNo in den Arbeitskreis einzubinden, der den Wandel vorantreiben sollte, hatte eben diesen zu lange hinausgezögert. Frustrierend! Von diesem Schlag hat sich das Unternehmen bis heute nicht vollständig erholt. Neinsager sind echte Dringlichkeitskiller. Sie lähmen den Tatendrang und fügen den Unternehmen, für die sie arbeiten, großen und mitunter nicht wiedergutzumachenden Schaden zu. Sich solche Leute in ein Führungsteam zu holen erscheint oft als die beste oder einzige realistische Möglichkeit, sie unter Kontrolle zu halten, doch wie sich in Blackburns Fall herausstellte, weiß sich der Neinsager der Kontrolle ganz gut zu entziehen. Es ist ziemlich schwierig, darauf Einfluss zu nehmen, dass so jemand produktive Beiträge leistet, denn sein Talent, Diskussionen ins Stocken geraten zu lassen und geplante Maßnahmen hinauszuzögern, ist nicht zu unterschätzen. Wenn früher oder später klar wird, dass die Zusammenarbeit mit ihm nicht funktioniert, stellt sich üblicherweise die Frage, ob man den Neinsager nicht nur aus dem Boot, sondern gleich ganz aus der Firma hinauswerfen sollte. So gerne die Blackburns dieser Welt nun energisch die Kündigung aussprechen würden, lähmt sie doch die Furcht vor den damit verbundenen Konsequenzen. Der Störenfried ist einflussreich und mächtig. Seine kurzfristigen Ergebnisse sind großartig, und wer könnte diese Spitzenkraft überhaupt ersetzen? Die Kündigung bleibt also unausgesprochen, weshalb die Geschichte meistens ebenso traurig endet wie in Jerry Blackburns Fall. Dabei scheint die Strategie, einen NoNo mit ans Ruder zu lassen, ihn in das Topteam einzubinden, so vernünftig zu sein. Vor allem, weil oft gar nicht klar ist, wie man ihn eigentlich daran hindern sollte, sein Mitspracherecht einzufordern. Und im Team besteht ja eine gute Chance, dass er sich der Meinung der Mehrheit beugt und letztendlich zustimmt, dass man sich eines Pro-

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blems annehmen sollte oder sich eine Chance nicht entgehen lassen darf. Zumindest sollte es mit vereinten Kräften möglich sein, den Unruhestifter unschädlich zu machen. Nur leider geht diese Strategie so gut wie nie auf. Einem Neinsager gleichberechtigtes Stimmrecht zu gewähren ist keine gute Idee, weil er die Grundregeln der gemeinsamen Entscheidungsfindung nicht beachtet. Er ist nicht daran interessiert, Informationen einer objektiven Prüfung zu unterziehen, auch wenn er das Gegenteil behauptet. Er ist nicht bereit, sich von seiner vorgefassten Meinung abbringen zu lassen, ganz gleich, was die anderen sagen. Und einen Mehrheitsbeschluss wird er ganz bestimmt nicht widerspruchslos akzeptieren. Ein Neinsager hat sich üblicherweise jede Menge Tricks angeeignet, um das produktive Arbeiten in einem Team zu untergraben, und setzt diese ständig ein, auch wenn es ihm selbst vielleicht gar nicht bewusst ist. Das Resultat: Kostbare Zeit wird vergeudet. Die Dringlichkeit des Vorhabens wird weder schnell genug noch deutlich genug erkannt. Die erforderlichen Maßnahmen werden nicht schnell genug ergriffen und zeigen oft nicht die gewünschte Wirkung, weil es bereits bei ihrer Planung an Umsicht und Weitsicht mangelt. Fast jeder, der sich einen Neinsager ins Boot holt, kommt über kurz oder lang an den Punkt, an dem er diese Entscheidung bitter bereut.

Werden NoNos ignoriert, laufen sie zu Höchstform auf Eine weitere bevorzugte Umgehensweise mit diesem Typ ist, ihn auszugrenzen und, soweit es geht, zu ignorieren, damit man sich in Ruhe an die Verwirklichung des großen Plans machen kann. Man denkt sich, sicher, der Neinsager ist schon ziemlich störend,

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aber mal ehrlich: Was kann ein einzelner Widerstandskämpfer denn schon ausrichten? Überlegungen wie diese legen die eben beschriebene Strategie nahe, zumal es ja oft auch an besseren Alternativen mangelt. Der Haken an der Sache ist aber, dass der NoNo schamlos sein Unwesen treibt, wenn er einfach ignoriert wird. Zuerst einmal wird er auf alle einreden, von denen er sich Unterstützung verspricht. Auf die seinen Argumenten Aufgeschlossenen, die Ängstlichen und Wütenden, die noch ein Hühnchen mit denen zu rupfen haben, die sich gerade für notwendige Veränderungen stark machen, um neue Chancen ergreifen und neuen Bedrohungen ausweichen zu können. In seine Propaganda lässt er immer Bemerkungen einfließen, die nicht als falsch widerlegt werden können. »Die machen sich einfach viel zu viele Sorgen«, »So schlimm, wie sie es uns verkaufen wollen, ist das Problem doch gar nicht«, »Die sollten sich lieber auf ihre eigentlichen Aufgaben konzentrieren, sonst bringen sie uns wirklich noch in Schwierigkeiten«. Ein gewitzter NoNo kann immer sehr überzeugend darlegen, dass es das Klügste wäre, alles so zu lassen, wie es ist. Und wenn man unbedingt ein funktionierendes System verändern wolle, dann dürfe das nur in kleinen Schritten erfolgen. Ein cleverer Neinsager findet den Schwachpunkt in jeder Argumentationskette. Er weiß ganz genau, dass Ängste schüren das beste Mittel ist, um kein Gespür für Dringlichkeit aufkommen zu lassen, um die gerade erst geweckte Entschlossenheit, Chancen zu ergreifen und Gefahren zu vermeiden, gleich wieder im Keim zu ersticken. Ein einzelner NoNo kann eine aktive Widerstandsbewegung ins Leben rufen, was er auch oft tut. Als erfahrener Partisane vermeidet er Konfrontationen auf breiter Front, sondern platziert seine Sabotageakte an den Flanken. Bei Gesprächen unter vier Augen, bei Teamsitzungen und bei Privatgesprächen nach Feierabend lässt er immer die passenden Bemerkungen fallen, um Zweifel zu sähen und latente Ängste zu schüren. Ein NoNo

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kämpft unermüdlich für seine Sache, und bei so viel Engagement bleibt der Erfolg nicht aus. Die pausenlose Propagandaarbeit des NoNos – und in dieser Hinsicht macht er nie eine Pause – kann dazu führen, dass eine Art Bürgerkrieg im Unternehmen ausbricht. Und das Dringendste, was es dann zu tun gibt, ist, den Krieg zu gewinnen. Wen interessiert es da noch, den Kundendienst zu verbessern, fortschrittliche Technologien zu implementieren oder sich wieder mehr auf den Markt und den Wettbewerb zu konzentrieren? Genau dazu kam es vor einigen Jahren in einem bekannten USamerikanischen Unternehmen. Schauplatz der Ereignisse war der Geschäftsbereich Produktion, dessen Leiter davon überzeugt war, man müsste der unaufhaltsamen Globalisierung der Branche dringend mehr Aufmerksamkeit widmen, zumal das Unternehmen bislang 90 Prozent seiner Geschäfte auf US-amerikanischen Märkten tätigte. Da die Lage momentan jedoch noch nicht wirklich kritisch war – die Gewinne stiegen zwar nicht um Riesensummen, aber noch stiegen sie –, beschloss der Bereichsleiter, der erste Schritt in die richtige Richtung wäre, das in Selbstgefälligkeit schwelgende Management aufzurütteln. Allerdings war ihm auch von Anfang an klar, dass sein Stellvertreter ihm in allen Punkten widersprechen würde. Dieser nämlich glaubte, das Unternehmen säße so fest im Sattel, dass sich zum jetzigen Zeitpunkt jegliche Diskussion über »Globalisierung« erübrige. Um das weitere Vorgehen zu besprechen, holte er sich fünf ausgewählte Steuermänner ins Boot und ließ den stellvertretenden Bereichsleiter bewusst außen vor. Diese fünf organisierten diverse inoffizielle Gesprächsrunden, zu denen sie jeweils 20 weitere Führungskräfte einluden. Dabei präsentierten sie Fakten und Zahlen, die belegten, in welchem Umfang die Konkurrenz ihre Geschäftstätigkeit bereits auf asiatische Märkte ausgedehnt hatte. Sie erläuterten anschaulich, mit welchen Nachteilen zu rechnen wäre, wenn man nicht bald eigene Expansionspläne entwickelte, um den Vorsprung der Kon-

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kurrenz möglichst schnell aufzuholen. Die Botschaft war unmissverständlich: Wir müssen sofort handeln. Diese Gesprächsrunden erwiesen sich anfangs als recht effektiv, doch kurz darauf stellte das Fünferteam fest, dass das überall aufkeimende Gefühl, man müsse wirklich dringend etwas unternehmen, ganz plötzlich wieder erstarb. Erstaunt nahm man das Problem unter die Lupe und fand an allen Ecken und Enden die Fingerabdrücke des stellvertretenden Bereichsleiters. Der ausgegrenzte und ignorierte Stellvertreter beteiligte sich hinter den Kulissen sehr lebhaft an der Globalisierungsdiskussion und hatte überzeugende Argumente beizusteuern. Wann immer ihm ein potenzieller Globalisierungsgegner über den Weg lief, kam er auf das Thema zu sprechen und ließ die seiner Sache dienlichen Argumente einfließen. »Erst kürzlich habe ich in einer Fachzeitschrift gelesen, dass Mitbewerber A auf dem indischen Markt satte 50 Millionen pro Jahr Minus macht.« »Haben Sie den Artikel in der New York Times auch gelesen? Da hieß es, dass die Spannungen zwischen Indiens neureicher Elite und der bettelarmen Mehrheit der Bevölkerung mit wachsender Besorgnis beobachtet würden. Das könnte für ausländische Unternehmen dort gravierende Folgen haben! Und außerdem ….« Natürlich betonte er auch immer, wie riskant überstürzter Aktionismus wäre. »Es ist doch selbstverständlich, dass wir uns auch ausländische Märkte erschließen werden, aber es kommt auf das richtige Timing an!« Er verwies auf die kontinuierlich guten Ergebnisse und betonte, dass das Wachstumspotenzial auf den US-amerikanischen Märkten noch gar nicht voll ausgeschöpft werde. »Es besteht überhaupt keine Notwendigkeit, jetzt in ein so riskantes Unterfangen zu investieren.« Der stellvertretende Bereichsleiter war so schlau, sich nie zu unqualifizierten Äußerungen hinreißen zu lassen, die ihn als unverbesserlichen Pessimisten disqualifiziert hätten. Immer bestätigte er zuerst, wie richtig und wichtig die angestellten Überlegungen wä-

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ren, bevor er sie nach allen Regeln der Kunst zerpflückte. »Keine Frage, die Fakten an sich sind absolut korrekt, aber wenn man auch nur eine Sekunde darüber nachdenkt, zeigt sich, dass sie für uns nicht relevant sind. Man muss sich nur einmal unsere Gewinnspannen in den Vereinigten Staaten vor Augen halten und mit denen vergleichen, die wir in den nächsten fünf Jahren in Asien zu erwarten hätten. Also, ich weiß ja nicht …«. Da diese konspirativen Einzelgespräche hinter dem Rücken und ohne Wissen des Bereichsleiters und seines Teams stattfanden, konnte der Stellvertreter ungestört seine Schreckensszenarien an die Wand malen und unter Teilen der Belegschaft Ängste schüren. Mit dem Ergebnis, dass von der anfänglich verspürten Dringlichkeit bald keine Rede mehr sein konnte. Jeder noch so unerfahrene NoNo kann sich in seinem direkten Umfeld als ungemein störend erweisen, doch ein einflussreicher, mächtiger NoNo kann den Betriebsablauf eines ganzen Unternehmens stören. Rational betrachtet scheint sein Verhalten nicht sonderlich klug zu sein. Rational betrachtet sollte selbst einem NoNo klar sein, dass er die Zukunft seines Arbeitgebers und damit auch seine eigene berufliche Zukunft gefährdet, wenn er sich weigert, sich objektiv mit den vorgetragenen Fakten auseinanderzusetzen. Es sind jedoch keine rationalen Überlegungen, die einen NoNo zu seinem Verhalten bewegen. Die Beweggründe sind emotionaler Natur. Unsicherheit und Zukunftsängste: Jede Veränderung ist ein Risiko, und jedes Risiko weckt Ängste. Oder Wut und Frustration: Es ist gemein und ungerecht, dass man ihn ausgebootet hat, und genau deshalb boykottiert er jetzt diejenigen, die das Steuer übernommen haben. Der gemeine NoNo ist ein eher hilfloser Spielball seiner emotionalen Triebkräfte, doch es gibt auch die von Ehrgeiz und Geltungsbewusstsein besessenen Exemplare, die ganz bewusst in dem Gefühl schwelgen, um die ihnen zustehende Machtposition betrogen worden zu sein.

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Zugegeben, die Versuchung ist groß, diese lästigen Zeitgenossen einfach zu ignorieren. Schließlich hat man wirklich Besseres und Dringenderes zu tun, als sie auf Schritt und Tritt zu beobachten, um herauszufinden, was sie gerade im Schilde führen. Wenn man nicht aufpasst, halst man sich damit womöglich so viel Arbeit auf, dass man kaum noch Zeit hat, die Geschäfte ordentlich zu führen. Ignorieren wir sie einfach! Ja, diese Entscheidung entbehrt nicht einer gewissen Logik. Ja, manchmal funktioniert das mit dem Ignorieren sogar. In der Praxis aber hat sich diese Strategie in den meisten Fällen als ungeeignet erwiesen.

NoNo-Ablenkungsmanöver Es gibt eigentlich nur drei wirkungsvolle Ansätze, mit denen Unternehmen ihr NoNo-Problem lösen können. Erstens, man ergreift Maßnahmen, um die Sabotageversuche der Neinsager zu sabotieren. Zweitens, man setzt sie ein für alle Mal vor die Tür. Drittens, man enttarnt den Saboteur in aller Öffentlichkeit und setzt ihn somit unter Druck. Die aktive Gegensabotage lässt sich auf verschiedene Art und Weise betreiben. Versetzen Sie den Störenfried kurz- oder langfristig irgendwo hin, wo keinerlei Gefühl für Dringlichkeit vonnöten ist. Lassen Sie ihn mit Leuten zusammenarbeiten, die auf Ihre Anweisung hin gemeinsam darauf aufpassen, dass er kein Unheil stiftet. Oder überhäufen Sie ihn mit so viel Arbeit, dass er viel zu beschäftigt ist, um an Sabotage auch nur zu denken. Diese Maßnahmen haben sich in der Praxis bewährt. Sicher ist sicher, dachte sich Stephen O’Malley, und ergriff gleich alle drei. Er schickte seinen NoNo auf eine wichtige, zeitraubende Mission nach Shanghai, fernab der Londoner Firmenzentrale. Der Auftrag lautete, die in China in Schwierigkeiten

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Warum Neinsager so gefährlich sind Sie ergreifen Maßnahmen, die das Gefühl für Dringlichkeit stärken sollen (Konfrontation mit der Realität, Dringlichkeit Typische Neinsager-

zur Schau stellen, Krisen als

Propaganda:

Chancen nutzen).

†

»Es läuft doch alles super, das war schon immer so und wird auch immer so bleiben.« »Wer garantiert eigentlich für die Richtigkeit dieser Behauptungen?« »Alles nur Panikmache. Das ist ganz

„ „ „

Selbstgefälligkeit, Wut- und Angstgefühle halten sich hartnäckig oder nehmen gar zu.

†

schlecht für die Arbeitsmoral, ihr werdet schon sehen!« »Die da oben sollten sich lie-

Von geschärfter Aufmerksam-

ber auf die Quartalsergeb-

keit, größerer Bereitschaft,

nisse konzentrieren.« »Soll

sofort etwas zu unternehmen,

das etwa heißen, wir würden

Gelegenheiten zu nutzen,

unsere Aufgaben nicht or-

Änderungsinitiativen zu unter-

dentlich erledigen?«

stützen und Führungsstärke zu beweisen, um ihrem Unternehmen zu einem Sieg zu verhelfen, fehlt weit und breit jede Spur.

geratene Niederlassung des expandierenden Finanzdienstleisters wieder auf Erfolgskurs zu bringen. Das größte Problem war mangelnde Disziplin, und sein chinesisch-amerikanischer NoNo verstand sich meisterhaft darauf, für Disziplin und großartige Ergebnisse zu sorgen. Der NoNo war nicht gerade begeistert, nach

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China versetzt zu werden, doch das Problem musste ja tatsächlich gelöst werden, er war der geeignetste Mann dafür, und sein Vorgesetzter signalisierte keinerlei Diskussionsbereitschaft. O’Malley zog einen Mitarbeiter in der chinesischen Niederlassung ins Vertrauen und erklärte, weshalb er gerade diesen Manager nach Shanghai versetzte: In der Londoner Zentrale habe sich Selbstgefälligkeit breitgemacht, und dieser spezielle Neinsager untergrabe jede seiner Bemühungen, die Dringlichkeit zu verdeutlichen, mit der dieses Problem gelöst werden musste. O’Malley äußerte sich in keiner Weise abfällig über seinen Managerkollegen, machte aber unmissverständlich klar, wie viel davon abhing, dass dieser Mensch nicht noch mehr Unfrieden und Zwistigkeiten in der Londoner Zentrale stiftete. Er bat seine Vertrauensperson darum, dafür zu sorgen, dass der NoNo in seiner neuen Position in Shanghai gut ausgelastet war, indem man ihn kontinuierlich auf immer wieder neue – natürlich reale – Probleme mit Mitarbeitern, gesetzlichen Bestimmungen, bürokratischen Hürden und Kunden hinwies. O’Malleys Vertrauensmann erfüllte seinen Geheimauftrag. Angesichts der nicht enden wollenden Schwierigkeiten in Shanghai war der NoNo von morgens bis abends schwer beschäftigt. In London tauchte er nur noch selten auf, was zum einen nicht notwendig und zum anderen zeitlich oft nicht machbar war. Wenn er einmal in der Firmenzentrale zu Besuch war, fand er zwar immer noch Mittel und Wege, unter den Kollegen Unfrieden zu stiften, doch da er nie lange blieb, konnte er keinen wirklichen Schaden anrichten. O’Malleys Strategie ging voll und ganz auf. Geschickte Ablenkungsmanöver zeichnen sich dadurch aus, dass sie den (oder die) Neinsager dauerhaft davon abhalten, der Dringlichkeit zu schaden. Die Betonung liegt hierbei auf dauerhaft, denn kurzfristige Ablenkungen haben nicht den gewünschten Effekt. Geschickte Ablenkungsmanöver zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie sich auf reale Herausforderungen beziehen,

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welche die gesamte Aufmerksamkeit und Zeit des Neinsagers in Anspruch nehmen. Erfundene Probleme haben nicht den gewünschten, sondern den unangenehmen Effekt, dass die Glaubwürdigkeit und Integrität des Erfinders völlig zu Recht infrage gestellt wird. Und dies kann weitere, sehr unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen. Geschickte Ablenkungsmanöver haben sich in ausweglos erscheinenden Situationen schon oft als sehr wirkungsvoll erwiesen. In O’Malleys Firma war es schon so weit gekommen, dass viele der jungen, dynamischen Nachwuchsmanager extrem frustriert oder wütend waren oder sich bereits nach einem anderen Arbeitgeber umsahen. Sämtliche Bemühungen ihrerseits, die Kollegen mit ihrem Elan mitzureißen, wurden von dem einflussreichen NoNo hartnäckig sabotiert. Sie sahen O’Malleys vorherige Strategie – den NoNo zu ignorieren – scheitern. Ihn in das Führungsgremium mit einzubeziehen würde ebenso wenig bringen, das war den meisten ebenfalls klar. Unter denjenigen, die noch immer darauf hofften, O’Malleys würde ihn bestimmt bald feuern, machte sich zunehmend Enttäuschung breit, und diejenigen, die diese Hoffnung längst aufgegeben hatten, stellten sich heimlich schon mal bei anderen Firmen vor. Als sich dann abzeichnete, dass O’Malleys Ablenkungsmanöver funktionierte, dachte niemand mehr an Kündigung. Frustration und Wut wurden durch Tatendrang ersetzt, neue Kraft erfüllte die so entmutigten Mitarbeiter, und der Firma gelang es, neue Geschäftsfelder zu erschließen.

Die NoNo-Radikallösung Die Lösung, den NoNo einfach vor die Tür zu setzen, ist mit deutlich weniger Aufwand verbunden. Vielleicht gewährt man ihm noch eine letzte Chance. »Das Problem ist, dass Sie mit Ih-

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rem Verhalten die Zukunft der Firma gefährden, und das kann ich nicht zulassen. Entweder Sie ändern sich, oder Sie gehen. Ihre Entscheidung.« Allerdings wird sich ein waschechter NoNo aller Wahrscheinlichkeit nach niemals ändern, selbst wenn er das Gegenteil behauptet. Also setzen Sie ihn kurzentschlossen vor die Tür oder machen ihm ein attraktives Angebot, damit er freiwillig das Feld räumt. Sie versetzen ihn nicht auf einen verantwortungsvollen Posten in weiter Ferne, sondern auf einen Posten, der ihm klarmacht, was Sie von ihm halten. Akzeptiert er weder Ihr großzügiges Abfindungspaket noch den neuen Posten, müssen Sie eben konsequent bleiben und die Kündigung aussprechen. Sind derartige Radikallösungen aus arbeitsrechtlichen Gründen nicht möglich, müssen Sie umdisponieren. Es gibt für alles eine Lösung. Eine gerade in westeuropäischen Unternehmen völlig legale und nicht unübliche Praxis ist eine Umstrukturierungsmaßnahme, die den Posten eines Neinsagers doch tatsächlich wegrationalisiert. Sofern Sie ihm aufrichtig ins Gesicht sagen, dass er den Unternehmenserfolg sabotiert und Sie gar keine andere Wahl haben, als sich von ihm zu trennen, brauchen Sie auch kein schlechtes Gewissen zu haben. Lassen Sie sich gar nicht erst auf eine Diskussion über Moral und Arbeitsethik ein, denn ein waschechter NoNo verhält sich selbst ausgesprochen unmoralisch und verantwortungslos. Weshalb sollten Sie ihm das Recht auf einen Posten zusprechen, wenn er durch sein Verhalten Tausende von Arbeitsplätzen gefährdet und keinerlei Rücksicht auf die anderen Angestellten und deren Familien nimmt? Viele empfinden diese Radikallösungen als geschmacklos oder zu riskant, weshalb sie oft gar nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Hat Ihr spezieller NoNo viele einflussreiche Freunde, ist das Risiko auch nicht von der Hand zu weisen, vor allem, wenn die Kündigung nicht in beiderseitigem Einverständnis erfolgt. Handelt es sich bei ihm um einen langjährigen Mitarbeiter, ist es nicht nur ziemlich brutal, ihm zu kündigen, sondern aufgrund des Kündi-

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gungsschutzes vielleicht gar nicht möglich. Bei einem langjährigen Mitarbeiter haben Sie vielleicht auch ganz grundsätzlich moralische Hemmungen, ihm überhaupt mit Kündigung zu drohen. Letztendlich aber haben Sie nur die Wahl zwischen zwei Alternativen: Sie sehen zu, wie Ihr NoNo jeglichem Gefühl für Dringlichkeit einen Riegel vorschiebt, notwendige Maßnahmen sabotiert und somit die Erfolgsaussichten des gesamten Unternehmens drastisch schmälert. Oder Sie ergreifen Maßnahmen, die kurzfristig unangenehme Folgen haben könnten, das kritische NoNo-Problem aber langfristig lösen. Ihre Entscheidung! Leider entscheiden sich sehr viele Menschen dafür, keine unangenehmen Schritte zu unternehmen.

Einen NoNo dem Druck der Öffentlichkeit aussetzen Die dritte und letzte Möglichkeit, einen kleineren NoNo ganz klein zu kriegen, ist, ihn taktisch geschickt und sozial verträglich als Saboteur zu enttarnen. Der gesellschaftliche Druck gibt ihm dann ganz von allein den Rest. Auch dazu ein Beispiel: Auf Anregung des Unternehmenschefs hatten alle seiner rund 300 Angestellten unser Pinguin-Prinzip gelesen, über das nun in kleinen Gesprächsrunden diskutiert wurde. Die Fabel mit den putzigen Pinguinen entschärfte die Diskussion über die geplanten Veränderungen beträchtlich. Die Mitarbeiter hätten es sicherlich als deutlich bedrohlicher empfunden, wenn die Besprechungen unter dem Motto »Was müssen wir verändern, um überleben zu können?« gestanden hätten. Nach einer dieser Besprechungen kaufte eine Verwaltungssekretärin in der Spielwarenabteilung eines großen Kaufhauses einen gut 75 Zentimeter großen Plüschpinguin, den sie am nächsten Tag neben ihrem Schreibtisch aufstellte und ihm ein Schildchen um den Hals

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hängte, auf dem zu lesen war: »Unser NoNo heißt …«. Als sie von der Mittagspause zurückkam, hatte jemand den Namen eines Managers eingetragen. Wer auch immer am Nachmittag an ihrem Schreibtisch vorbeikam, warf einen Blick auf den Pinguin und sein Namensschild. Einige verdrehten die Augen, andere nickten zustimmend, wieder andere lachten amüsiert. Es dauerte nicht lange, bis der Manager, der unwissentlich als Namenspate fungierte, Wind davon bekam und ebenfalls vorbeikam. Die Sekretärin beteuerte ihre Unschuld, sie wusste ja wirklich nicht, wer seinen Namen auf das Schild geschrieben hatte. Der Manager bewies zumindest etwas Humor und rang sich ein Lachen ab. Tags darauf hatte irgendein Mitarbeiter dem Pinguin ein neues Namensschild verpasst. Die Wirkung bei den Mitarbeitern war ähnlich, doch der neue unfreiwillige Namenspate fand es überhaupt nicht komisch. Nichtsdestotrotz waren die beiden NoNos öffentlich enttarnt worden. Die Mitarbeiter, die ganz genau wussten, dass die beiden Manager nicht einfach nur besonders skeptisch waren, sondern systematisch die produktiven Diskussionsrunden sabotierten, die der Unternehmenschef ins Leben gerufen hatte, schöpften den Mut, ganz offen über das Neinsager-Problem zu sprechen – mit befreundeten Kollegen, mit ihren Vorgesetzten und zum Teil auch mit den NoNos selbst. Es ist zum Teil vielleicht der Harmlosigkeit der Pinguin-Fabel zu verdanken, dass die Enttarnung der NoNos auf freundliche und humorvolle Art erfolgte – »Jetzt ist es heraus! Haha! Unsere NoNos heißen Harry und Jim!« In all der Witzelei steckte jedoch eine sehr ernste Botschaft, die sich wie ein Lauffeuer verbreitete und dem Unternehmenschef ebenso zu Ohren kam wie Harry und Jim. Diese beiden hatten einen Warnschuss vor den Bug erhalten, was dazu führte, dass sie sich spürbar zurücknahmen. Brach in den Managementsitzungen das typische NoNo-Verhalten doch noch gelegentlich durch, quittierten es ihre Kollegen meist mit humorvollen Bemerkungen wie »Oh nein, nein, ich will

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nicht, nein …«, worüber alle lachen konnten, und die Diskussion lief anschließend ungestört weiter. Ich glaube nicht, dass sich NoNos wie Harry und Jim von Grund auf verändern, doch immerhin haben sie ihre Verhaltensweisen geändert. Wäre auch nur einer dieser beiden Manager ein mit allen Wassern gewaschener, einflussreicher, gewitzter NoNo gewesen, wäre er in die Rolle des bemitleidenswerten Opfers einer Hetzkampagne geschlüpft. Dann hätte er sicherlich den einen oder anderen Unterstützer gefunden, seine Sabotagestrategie etwas modifiziert und weiterbetrieben. Doch die beiden waren keine schwergewichtigen NoNos, und mit Ausnahme einiger sehr enger Freunde kam niemand auch nur auf die Idee, sie als Opfer zu betrachten. Sie wurden einfach unschädlich gemacht, und ihrem kontraproduktiven Verhalten, das jedem sauer aufstieß, weil es dem Unternehmen schadete, wurde endgültig ein Riegel vorgeschoben. Und dies wiederum war einer sehr klugen und kreativen Verwaltungssekretärin zu verdanken. (Wie der Zufall manchmal so spielt, habe ich gerade eine EMail erhalten, die nicht besser passen könnte. Darin steht: »Übrigens, kaum dass ich wieder in Deutschland war, bekam ich es doch gleich mit Ihren Pinguinen zu tun. Unser Führungsgremium hat allen Managern ein Exemplar Ihres Buches zukommen lassen, weil wir die Planung unserer Budgets und Geschäfte letztes Jahr ganz unter das Motto des Pinguin-Prinzips gestellt hatten. Es ist wirklich sehr interessant, wie gut sich NoNos beherrschen können, wenn sie erst einmal beim Namen genannt werden. Keiner will sich nachsagen lassen, er wäre rein aus Prinzip schon mal gegen alles.« Der Absender dieser Mail kommt aus der Nähe von Frankfurt, die Verwaltungssekretärin aus New Jersey. Was sagt uns das? Es sagt uns, dass das Problem überall auftritt und die Lösung überall funktioniert.) Ich muss Sie noch einmal ausdrücklich warnen: Unterschätzen Sie niemals den Schaden, den ein zu allem entschlossener Neinsa-

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ger anrichten kann. Traurig, aber wahr ist, dass er alle Bemühungen, die Selbstgefälligkeit ins Wanken zu bringen und das Gefühl für Dringlichkeit zu verstärken, zunichte machen kann, dass er die notwendigen Vorhaben so lange hinauszögern kann, bis sie ihren Sinn und Zweck nicht mehr erfüllen, und somit eine Gefahr für die Überlebensfähigkeit und das Wachstum eines Unternehmens ist. Ich möchte auch noch einmal ausdrücklich betonen, dass hier nicht von einem vorsichtigen Skeptiker die Rede ist, der sich durch überzeugende Argumente immerhin auch mal dazu bewegen lässt, seine Meinung zu ändern. Der NoNo ist eine ganz eigene Spezies. In unserer Zeit des permanenten Wandels eine extrem gefährliche Spezies. Die gute Nachricht lautet: Selbst der mächtigste NoNo muss nicht die unüberwindliche Fortschrittsbremse sein, als die er vor allem aus der Perspektive untergeordneter Hierarchieebenen erscheinen mag. Zum Glück! Auch mit Neinsagern in Machtpositionen lässt sich mit einer der drei Strategien fertig werden, die ich Ihnen vorgestellt habe. Der beste Beweis ist, dass selbst einem über 100 Jahre alten Großkonzern wie der General Electric Company (GE) gelang, was viele für ein Ding der Unmöglichkeit hielten: sich im letzten Quartal des 20. Jahrhunderts erfolgreich dem Wandel zu stellen. Und das, obwohl sich im Unternehmen unzählige NoNos tummelten. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe damals Untersuchungen bei GE durchgeführt. Wenn nur 5 Prozent der vielen hunderttausend Beschäftigten dieser Spezies angehörten, müssen es somit weit über 500 gewesen sein. Wie gut es gelungen ist, mit den männlichen und weiblichen Vertretern der Spezies umzugehen, zeigt sich an den innovativen medizintechnischen Gerätschaften im Geschäftsbereich Health Care, an den geräuscharmen und umweltschonenden Flugzeugtriebwerken des Geschäftsbereichs Aviation, an den fantastischen Tools, die in der Finanzsparte GE Capital entwickelt werden, an den beliebten Unterhaltungssendungen der NBC Universal-

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Gruppe und an den unerwartet hohen Kapitalerträgen für die Investoren. Falls Sie in einem Anflug von Pessimismus einmal glauben sollten, Sie könnten angesichts der subversiven Kreativität Ihrer NoNos auch gleich das Handtuch werfen und jeden Gedanken an Fortschritt und Wandel verwerfen, Kopf hoch! Was andere können, können Sie doch schon lange! Also: 1. Erkennen Sie, wer Ihre Neinsager sind. 2. Machen Sie sich klar, dass sie nicht nur lästig, sondern extrem gefährlich sind. 3. Halten Sie sich an die drei Strategien, die funktionieren, und vergessen Sie diejenigen, die normalerweise nicht funktionieren. 4. Fahren Sie fort, ein herausragendes, modernes Unternehmen aufzubauen. Ein Unternehmen, das den Investoren, den Mitarbeitern, Kunden und der Volkswirtschaft gute Dienste leistet. 1 Diese Geschichte ist nachzulesen in Das Pinguin-Prinzip. Wie Veränderung zum Erfolg führt (von John P. Kotter und Holger Rathgeber, Droemer Knaur, 2006).

Kapitel 8

Das Gespür für Dringlichkeit bewahren

Unternehmen und Institutionen, denen es gelingt, sich das Gespür für Dringlichkeit langfristig zu bewahren, schaffen sich die besten Voraussetzungen, um dauerhaft großartige Erfolge und traumhafte Ergebnisse erzielen zu können. Wie gefällt Ihnen die Aussicht, Ihre Investoren mit Kapitalerträgen und Ihre Kunden kontinuierlich mit innovativen Produkten und Dienstleistungen zu überraschen, die alle Erwartungen übertreffen? Wie wäre es, wenn Ihre Mitarbeiter voller Stolz und Elan zu Werke gingen, weil die Geschäfte dank ihres unermüdlichen Engagements besser und besser laufen, wofür sie natürlich angemessen entlohnt werden? Um das Gespür für Dringlichkeit langfristig bewahren zu können, muss es jedoch nicht nur nach allen Regeln der Kunst geweckt, sondern sorgfältig gehegt und gepflegt werden. Eines ist sicher: Das Gespür für Dringlichkeit schwächt sich mit der Zeit wieder ab, sofern es nicht in der Unternehmenskultur verankert wurde, und genau das wird allzu oft versäumt. Und selbst wenn eine von Dringlichkeit geprägte Unternehmenskultur geschaffen wurde, besteht die Gefahr, dass in ruhigen Zeiten, in denen keine Notwendigkeit besteht, eine offensichtliche Krisensituation zu meistern, die Zufriedenheit mit dem Status quo wieder die Oberhand gewinnt. Stabilität und Sicherheitsdenken stellen sich nach dem inzwischen bekannten Grundmuster ganz automatisch wieder ein: Dringliches Handeln zieht Erfolg und Erfolg zieht Selbstgefälligkeit nach sich.

Das Gespür für Dringlichkeit bewahren

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Dieser Automatismus greift insbesondere dann, wenn dank einer gemeinsamen Kraftanstrengung gerade ein großartiger Sieg errungen wurde. Wer die Früchte seiner harten Arbeit erntet, empfindet dies oft als Zeichen, dass die Krise überstanden ist und die Zeiten vorüber sind, in denen Opfer gebracht werden mussten, und dass die Fehler oder Schicksalsschläge der jüngsten Vergangenheit sich in der absehbaren Zukunft nicht wiederholen werden. Gerade nach einem großartigen Sieg ist die Gefahr am größten, dass die Dringlichkeit rapide gegen null sinkt und sich die Selbstgefälligkeit wieder ausbreitet. Diese Entwicklung ist immer problematisch, in unseren Zeiten des Wandels aber potenziell tödlich. Wie sich Erfolg als Dringlichkeitskiller erweisen kann

Wichtige(s), eindeutige(s) und spürbare(s) Erfolgserlebnis(se)



Gespür für Dringlichkeit

hoch

niedrig

über die Zeit

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Hohe Dringlichkeit führt zum Erfolg, schwindende Dringlichkeit führt in das Chaos Als er vor einigen Jahren zum Bereichsleiter befördert worden war, wurden in dem für ihn neuen Geschäftsfeld schon seit geraumer Zeit rote Zahlen geschrieben. Der Abschwung in der Wohnungsbaubranche hatte auch die Möbelindustrie schwer getroffen. Obwohl viele seiner erfahrensten Mitarbeiter darin keinerlei Anlass zur Besorgnis sahen, da die schlechten Ergebnisse ihrer Ansicht nach lediglich die Schwierigkeiten widerspiegelten, mit denen der gesamte Industriezweig zu kämpfen hatte, sah der Bereichsleiter in dem Problem ein gutes Mittel, der Dringlichkeit Vorschub zu leisten. Es gelang ihm, ein hochmotiviertes Team aus einflussreichen Führungskräften zu bilden, eine neue Zielvorgabe und Strategie für seinen Geschäftsbereich zu formulieren und die Mehrheit der Führungskräfte davon zu überzeugen, dass die Umsetzung der neuen Strategie oberste Priorität genoss. Über einen Zeitraum von drei Jahren wurde eine ganze Reihe von Maßnahmen umgesetzt – Einstellung einer Produktlinie, Verbesserung der angeschlagenen Beziehungen zu einigen wichtigen Großkunden, stärkere Orientierung an den Märkten statt an den Produkten, Abschaffung überflüssiger bürokratischer Hürden –, sodass aus den roten wieder schwarze Zahlen wurden. Es war ein hartes Stück Arbeit, doch da viele Mitarbeiter an einem Strang zogen und zurücksteckten, wo es notwendig war, blieb der Erfolg nicht aus: Bereits nach eineinhalb Jahren zeichnete sich eine beeindruckende Verbesserung der Geschäftsergebnisse ab. Als der offizielle Bericht über die Gewinnsteigerung im dritten Quartal bestätigte, was inoffiziell schon allen bekannt war, feierten die erschöpften, aber glücklichen Führungskräfte und Mitarbeiter ihren Sieg. Diejenigen, die für dasselbe Gehalt die doppelte und dreifache Arbeit geleistet hatten, rechneten mit einer dicken Belohnung und sahen der jährlichen Leistungsbewertung

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und der Neuberechnung der Bonuszahlung erwartungsvoll entgegen. Viele Mitarbeiter waren einfach nur glücklich, dass es durch ihren unermüdlichen Einsatz gelungen war, den Geschäftsbereich zu retten, und feierten ihre vielen Überstunden ab, um wieder Kraft zu tanken. So gut wie jeder verhielt sich, als wäre die Schlacht endgültig gewonnen, denn die Firma befand sich ja offensichtlich wieder auf sicherem Erfolgskurs, während andere in der Branche noch immer darum kämpften, die Krise irgendwie zu überleben. Die Folge: Die von jedem so deutlich verspürte Dringlichkeit löste sich quasi über Nacht in Luft auf. Auch der CEO und der Bereichsleiter waren stolz auf den Sieg und erleichtert wegen der abgewendeten Gefahr. Doch auf Drängen einer jungen, dynamischen Frau aus dem strategischen Planungsteam entwickelten sie ehrgeizige Zukunftspläne für die Firma, die weit mehr beinhalteten, als den gerade eingeschlagenen Kurs beizubehalten. Sie sahen in den Erfolgen – die sich in immer höheren Gewinnspannen, beträchtlichen Kapitalflüssen und steigenden Nettoeinnahmen niederschlugen – den siegreichen Abschluss der ersten Phase, der noch viele weitere folgen sollten. Phase zwei des ehrgeizigen Zukunftsplans bestand daraus, mit hochwertigeren Produkten die Gewinne weiter zu maximieren und in allen US-amerikanischen Bundesstaaten Fuß zu fassen. Um seinen Führungskräften und Mitarbeitern Phase zwei des Plans schmackhaft zu machen, setzte der Bereichsleiter eine Reihe von Besprechungen an, in denen er die Grundidee des Plans erläuterte, ihn mit überzeugenden Argumenten untermauerte und ausführte, welches Ziel er im kommenden Geschäftsjahr anpeilte. Seine Ausführungen stießen jedoch nur auf Unverständnis oder Desinteresse. Seine Leute hörten ihm nur mit halbem Ohr zu, und manche hielten es nicht einmal für erforderlich, an den Besprechungen teilzunehmen. Kein Wunder also, dass der Sinn und Zweck von Phase zwei den meisten verborgen blieb. Die Besprechungen wur-

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den als übliche Managementmeetings betrachtet, bei denen man sich doch sowieso oft nur langweilte. Als dringend notwendig galten sie schon mal gar nicht. Die Mobilmachung des Bereichsleiters war für seine Mitarbeiter nichts anderes als das übliche Managementgetue. Alles ist gut, es läuft doch hervorragend, schienen sich alle zu denken. Eine nachvollziehbare Einstellung, nachdem beständig immer großartigere Ergebnisse erzielt wurden. Einige ließen sich den großen Plan zwar ausführlich erklären, sahen aber nicht ein, weshalb man ihn ausgerechnet jetzt in die Tat umsetzen sollte. Das war doch riskant, oder? Wieso sollte man jetzt ein neues Risiko eingehen, nachdem man sich in den letzten Jahren so verausgabt hatte, um Risiken zu vermeiden? Unser heutiger Erfolg spricht doch für sich! Andere fanden es geradezu unglaublich, dass ihnen von der Führungsriege immer noch mehr abverlangt werden sollte. Kriegen sie den Hals denn niemals voll? Sehen sie denn nicht, was wir leisten? Haben sie sich dem Vorstand gegenüber zu irrwitzigen Zusagen hinreißen lassen? Was soll das Ganze eigentlich? Die roten Flaggen flatterten munter an allen Ecken, doch der Bereichsleiter und der CEO ignorierten oder unterschätzten die Gefahr. Unbeirrt schmiedeten die beiden Manager weiter an ihrem großen Plan. Je mehr sie ins Detail gingen, umso mehr begeisterte sie die Vorstellung, zu expandieren und neue Produktlinien zu entwickeln. »Jetzt ist der beste Zeitpunkt, um ehrgeizige Pläne zu verwirklichen!«, erklärten sie einem objektiven Beobachter. »In schwierigen Zeiten hat man andere Sorgen, aber jetzt sind wir hervorragend aufgestellt! Jetzt haben wir die finanziellen Ressourcen, um die mit Sicherheit auftretenden Schwierigkeiten zu meistern, um unseren Führungskräften attraktive Anreize zu bieten und den eingeschlagenen Kurs beizubehalten, solange die Konkurrenz lieber kleine Brötchen backt.« Wild entschlossen, Phase zwei zu einem Erfolg werden zu lassen, nutzten die beiden Manager alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, um ihr Vor-

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haben durchzusetzen, wozu unter anderem gehörte, das eine oder andere Budget umzuverteilen und den einen oder anderen Mitarbeiter zu befördern oder in eine andere Position zu versetzen. Nach 18 Monaten geriet Phase zwei ins Stocken, obwohl sich immer deutlicher abgezeichnet hatte, dass die Strategie durchaus sinnvoll war und die Aussicht auf attraktive Prämien einige Führungskräfte zu Höchstleistungen angespornt hatte. Die allgemeine Selbstgefälligkeit, in der die große Mehrheit der Belegschaft schwelgte, hatte sich in Kombination mit dem aktiven Widerstand einiger verärgerter Mitarbeiter zu einem Bremsklotz ausgewachsen, der die Umsetzung des Plans zuerst verlangsamte und schließlich zum Stillstand brachte. Frustriert versuchte der Bereichsleiter, das Vorhaben wieder ins Rollen zu bringen. Ohne Erfolg, was ihn noch mehr frustrierte. Er warf das Handtuch und wechselte zu einem anderen Unternehmen, und mit ihm verlor der CEO seinen besten Manager und stärksten Verbündeten. Viele ehrgeizige Vorhaben erleiden aus den gleichen Gründen dasselbe Schicksal, was dem CEO und dem Bereichsleiter aber vermutlich kein großer Trost gewesen wäre, wenn sie davon gewusst hätten.

Das Problem mit dem schnellen Erfolg Wer wagt, gewinnt. Daher ist es eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, dass sich die großen Fortschritte, die sich aus dem geschickten Einsatz mutiger Strategien, aus ungebremster Innovationsfreude, aus der Aufrüstung mit modernsten Informationstechnologien und der Anwendung exzellenter Managementmethoden ergeben, nicht gleichzeitig auch in kurzfristigen Gewinnsteigerungen niederschlagen. Und ein schneller Erfolg, der für alle spürbar und offensichtlich ist, beweist, dass der ihm zugrunde liegende visionäre Zukunftsplan Hand und Fuß hatte. Schneller Erfolg kann Skeptiker in

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Verbündete verwandeln und den Einfluss der Zyniker und Neinsager drastisch schmälern. Wird der Erfolg gebührend gefeiert, fühlen sich diejenigen, die sich mit aller Kraft für ihn einsetzen, geehrt und geschätzt. Sind erste spürbare Erfolge nicht relativ schnell absehbar, verlieren diejenigen, die für das Gesamtwohl des Unternehmens persönliche Abstriche machen, den Mut, die Skeptiker melden immer mehr Zweifel an dem Vorhaben an, und die Neinsager gewinnen an Macht. Mit dem Erfolg geht jedoch ein nicht zu unterschätzendes Problem einher: Das Problem, sich das Gespür für Dringlichkeit zu bewahren, um bestimmte Aufgaben zu Ende zu führen und zugleich das erreichte hohe Leistungsniveau aufrechtzuerhalten. Es wird immer Menschen geben, denen klar ist, dass das ultimative Ziel noch lange nicht erreicht ist und noch viel Arbeit vor allen liegt. Es wird immer Menschen geben, die auf weitere Chancen hinweisen, die es zu ergreifen gilt. Und es wird immer Menschen geben, die dazu ermahnen, jetzt bloß nicht die Hände in den Schoß zu legen, sondern den Fortschritt und das Wachstum weiter voranzutreiben, um den bisherigen Erfolg nicht wieder aufs Spiel zu setzen. Diese Menschen sind üblicherweise aber in der Minderzahl. Die überwältigende Mehrheit der Führungskräfte und Mitarbeiter schwelgt nach erzielten Erfolgen in Selbstgefälligkeit, und zwar ohne sich dessen bewusst zu sein, was die Sache noch schlimmer macht. Angesichts ihres großartigen Erfolgs empfinden sie keine Notwendigkeit mehr, sich weiterhin um ihn zu bemühen. Erfolg dient ihnen als guter Grund dafür, nachlässig zu werden. Von persönlichen Opfern zum Wohle der Allgemeinheit wollen sie nichts mehr sehen und hören. Sinkt die Bereitschaft zu dringlichem Handeln, geht der Schwung der Erfolgswelle verloren, gewinnen Selbstgefälligkeit, Angst und Wut wieder an Einfluss. Und sie ein zweites Mal auszumerzen gestaltet sich oft als extrem schwieriges Unterfangen. Stellen Sie sich die Situation so vor: Ein Omnibus voller Fahrgäste hat

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eine Panne, was an sich schon ärgerlich ist, doch zu allem Überfluss regnet es auch noch in Strömen. Die Fahrgäste dazu zu bewegen, jetzt auszusteigen, um dem Busfahrer zu helfen, ist ein hartes Stück Arbeit. Die einen finden es im warmen Bus gerade recht gemütlich, schmökern in einem Buch oder hören Musik und finden, es sei ja wohl nicht ihr Problem, den Bus wieder zum Laufen zu bringen. Die anderen erwarten, dass die Verantwortlichen gefälligst einen Kraftfahrzeugmechaniker oder einen Ersatzbus schicken, und zwar möglichst schnell. Und wieder andere regen sich darüber auf, dass sie aufgrund der Panne zu spät zur Arbeit, nach Hause oder zu einer Verabredung kommen, und lassen ihre Wut an dem Busfahrer aus. Stellen Sie sich vor, wie der Busfahrer in dieser Situation versucht, die Fahrgäste dazu zu animieren, die Ursache der Panne zu finden und zu beheben. Vielleicht bittet und bettelt er, weil ein Fahrgast dringend ins Krankenhaus muss, um einem Familienangehörigen Mut zu machen, der sich gleich einer komplizierten Operation unterziehen muss. Vielleicht setzt er auf vernünftige Argumente und erklärt, dass es Stunden dauern kann, bis der Ersatzbus eintrifft. Vielleicht verkündet er voller Optimismus, dass man den Bus ganz schnell wieder zum Laufen bringt, wenn nur alle mit anpacken. Stellen Sie sich weiter vor, dass daraufhin die meisten Fahrgäste tatsächlich aussteigen, Regen hin oder her. Einem der Helfer fällt ein, wie sich das Problem vielleicht ganz einfach lösen ließe: Man müsse den Bus nur ins Rollen bringen, dann könne der Busfahrer die Kupplung kommen lassen und schon spränge der Motor wieder an. Gute Idee! Jetzt steigen auch die letzten Fahrgäste aus, um dabei zu helfen. In einem gemeinsamen Kraftakt gelingt es, den schweren Bus anzuschieben, der Fahrer lässt die Kupplung kommen, und der Motor springt wirklich an! Geschafft! Vom Regen durchnässt, verschwitzt, aber glücklich steigen alle wieder ein, die Fahrt kann weitergehen. Da hat man doch echt mal was erlebt, worüber man im Kreis der Familie berichten kann. Irgendwie sind alle unheimlich stolz auf

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ihre Leistung, auch wenn es ihnen im Moment vielleicht gar nicht so bewusst ist. Einer der Fahrgäste reißt bereits Witze über das ungewöhnliche Erlebnis und bringt alle zum Lachen. So weit, so gut. Und nun stellen Sie sich vor, was passiert, wenn der Motor nach zehn Minuten wieder streikt. Wie schwer wird es der Busfahrer wohl haben, dieselben Leute, die bereits wissen, welch schweißtreibende, anstrengende Arbeit ihnen im strömenden Regen bevorsteht, ein zweites Mal zum Mithelfen zu animieren?

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt – mit der richtigen Strategie und geeigneten Taktiken Der schnelle Erfolg muss das Gefühl für Dringlichkeit nicht notwendigerweise in Luft auflösen. Der erste Schritt zur Lösung dieses Problems ist, es als solches zu erkennen. Der zweite Schritt ist, zu wissen, welche Gegenmaßnahmen zur Verfügung stehen, und der dritte Schritt ist, diese Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Die geeigneten Gegenmaßnahmen haben Sie bereits kennengelernt: Die Konfrontation mit der Realität, selbst mit der gebotenen Dringlichkeit ans Werk zu gehen, jeden Business-Case mit emotionalen Inhalten zu füllen, sich die Neinsager vorzuknöpfen und vielleicht sogar eine Krise heraufzubeschwören. Da es nun aber nicht darum geht, das Gespür für Dringlichkeit überhaupt erst einmal zu erzeugen, sondern darum, es aufrechtzuerhalten, müssen diese Taktiken unter Berücksichtigung dessen, welche Resultate damit bereits erzielt wurden, immer und immer wieder zum Einsatz kommen. Stellt sich nach den Vorträgen der zur Jahreskonferenz geladenen externen Gäste nicht mehr der gewünschte Aha-Effekt ein, müssen Sie sich etwas anderes einfallen lassen, um diese Wirkung zu erzielen. Zum Beispiel, indem Sie nicht die Führungskräfte

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eines Unternehmenskunden zur Managementkonferenz, sondern einige seiner Techniker zu einer Besprechung des Entwicklungsteams einladen. Vielleicht laden Sie einige ausgewählte Kunden auch zu einer Besprechung der Bereichsleiter ein, oder einer Ihrer Geschäftspartner weiß aus eigener Erfahrung, wie negativ sich ein Nachlassen des Gefühls für Dringlichkeit auswirkt, und kann einen kleinen Vortrag darüber halten. Oder Sie wagen etwas so Unkonventionelles und dementsprechend Aufsehenerregendes, wie einen Kunden an der Budgetbesprechung teilnehmen zu lassen. War es in Ihrem Unternehmen noch nie Tradition, Mitarbeiter auf Lehrgänge zu schicken, brechen Sie mit dieser Tradition. Allein schon der Bruch mit alten Gewohnheiten kann so viel Aufmerksamkeit erregen, dass man Ihnen sehr viel genauer zuhören wird, wenn Sie erklären, weshalb Sie Lehrgänge und Schulungen plötzlich für notwendig erachten. Haben Sie der Dringlichkeit mithilfe externer Daten erfolgreich Vorschub geleistet, lässt sie sich möglicherweise dadurch aufrechterhalten, dass Sie nun nicht mehr die gewohnten, sondern neue Kanäle nutzen, um Informationen einfließen zu lassen. Und es gibt ja nicht nur jede Menge Datenquellen und Informationskanäle, sondern auch jede Menge verschiedener Arten von Daten, die auf interessante, spannende und eindringliche Weise präsentiert werden können. Sind die Informationen über schrumpfende Marktanteile nicht mehr alarmierend genug, müssen Sie mit schockierenderen Fakten aufwarten, die unmissverständlich klarmachen, dass die Zufriedenheit mit den eigenen Spitzenleistungen nicht unbedingt begründet ist oder sich das hohe Leistungsniveau ohne weitere Veränderungen langfristig nicht halten lässt. Falls Ihr unablässig zur Schau gestelltes Gefühl für Dringlichkeit beginnt, anderen ein klein wenig auf die Nerven zu gehen, sollten Sie sich umgehend überlegen, womit genau Sie andere nerven. Vielleicht hat sich Ihr Spruch »Wer rastet, der rostet!« durch die ständige Wiederholung abgenutzt? Lassen Sie sich ein

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neues Motto einfallen, das dasselbe ausdrückt. Ist Ihr unerschütterlicher Optimismus vielleicht etwas zu dick aufgetragen? Bewahren Sie sich ihn, aber zeigen Sie ihn auf andere Weise. Sind Sie zu ungeduldig und schicken zu schnell Erinnerungsmails, wenn die erste nicht sofort beantwortet wird? Dann gewöhnen Sie sich an, gleich bei der ersten Mail freundlich darauf hinzuweisen, bis wann Sie die Antwort benötigen. Käme Ihnen eine kleine Krise gerade recht, denken Sie darüber nach, wie sich eine herbeiführen ließe, beachten Sie aber immer die bereits besprochenen Vorsichtsmaßnahmen und Grundregeln. Vielleicht sollten Sie das von Ihrer überaus selbstgefälligen Entwicklungsabteilung fabrizierte neue Produkt einfach auf den Markt bringen, obwohl Sie sich wirklich nicht vorstellen können, dass es sich als Verkaufsschlager erweist. Sofern sich das finanzielle Risiko im Rahmen hält und Sie nicht befürchten, Ihren guten Ruf zu schädigen, sollten Sie diese Idee zumindest einmal überdenken. Und falls ein paar NoNos ihr Unwesen treiben, überlegen Sie sich, welche Gegenmaßnahmen nach den soeben erzielten schnellen Erfolgen am sinnvollsten sind. Vielleicht haben Sie ja jetzt zum ersten Mal etwas in der Hand, um dieser Plage Herr zu werden. Knöpfen Sie sich diese Kerle unbedingt vor. Zu glauben, Sie könnten das NoNo-Problem vernachlässigen, weil die Neinsager Ihnen ja früher auch nicht in die Quere kamen, wäre fatal. Vielleicht haben Sie Ihre NoNos mit Ihren ersten Maßnahmen zur Förderung des Dringlichkeitsempfindens einfach überrumpelt. Ein zweites Mal wird Ihnen das nicht gelingen. Stellen Sie fest, dass sich ein Aspekt Ihres vorgelebten Gefühls für Dringlichkeit als besonders wirkungsvoll erweist, konzentrieren Sie sich verstärkt darauf und verfeinern Sie ihn weiter. Vergessen Sie zum Beispiel gelegentlich, am Ende einer Besprechung die Aufgaben der kommenden Tage noch einmal präzise zusammenzufassen, obwohl sich genau das als außerordentlich nützlich er-

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wiesen hat, achten Sie explizit darauf, dass Ihnen diese Gewohnheit in Fleisch und Blut übergeht. Haben Sie in Ihrem Arbeitsumfeld die meisten schon erfolgreich mit dem Dringlichkeitsvirus angesteckt, sollten Sie Ihren Wirkungskreis erweitern. Besuchen Sie andere Zweigstellen, oder probieren Sie aus, ob sich das Virus auch über Telefonkonferenzen übertragen lässt. Ich möchte auch an dieser Stelle noch einmal betonen, wie wichtig es ist, jede dieser Taktiken umsichtig und klug einzusetzen. Unbedingt zu vermeiden ist, dass Angst- und Wutgefühle geschürt werden, die zu der Art von unproduktiver Betriebsamkeit führen, die ein typisches Zeichen für falsch verstandene Dringlichkeit ist. Sollten Sie selbst einmal frustriert sein, dürfen Sie sich nicht zu Wutausbrüchen und Verhaltensweisen hinreißen lassen, die zwar vielleicht etwas in Bewegung setzen, aber ganz bestimmt niemanden zu dem emotionalen Engagement, den Überlegungen und Handlungen motivieren, ohne die nachhaltiger Erfolg nicht möglich ist.

Das Gefühl für Dringlichkeit bewahren: Eine Erfolgsgeschichte Die folgende Geschichte ist in den Worten des Managers wiedergegeben, der sie selbst erlebt hat: »Als wir mit unseren Änderungsvorhaben begannen, waren alle hochmotiviert, da ein Scheitern das Aus für unser Unternehmen bedeutet hätte. Nachdem wir die ersten Erfolge verbuchen konnten, herrschte begeisterte Aufbruchstimmung. Dieses Erfolgserlebnis beflügelte uns zu Höchstleistungen, und neue Herausforderungen weckten in allen den gesunden Ehrgeiz, sie zu bewältigen. War ein Änderungsvorhaben umgesetzt, folgte gleich das nächste, und dieses Tempo behielten wir auch bei, da wir uns immer an den besten unserer Mitbewerber maßen. Wir beleuchteten die

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Stärken und Schwächen all unserer Geschäftsbereiche aus verschiedenen Perspektiven. Außerdem reservierte ich mir jeden Monat einen Tag, an dem ich nichts anderes tat, als mit meinen Mitarbeitern zu sprechen. Ich wollte allen verständlich machen, warum wir welche Änderungen durchführten, an welchen Erfolgskriterien wir uns orientierten und gegen welche Mitbewerber wir uns durchsetzen mussten. Wir veranstalteten Podiumsdiskussionen mit anschließender Frage-und-Antwort-Runde, und als dies aufgrund der stetig wachsenden Mitarbeiterzahl nicht mehr möglich war, gingen wir dazu über, einmal im Monat eine Telefonkonferenz abzuhalten. Nachdem wir uns die Position des Marktführers erobert hatten, wurde der Vergleich mit den Mitbewerbern zu einem wahren Vergnügen. Es war eine unumstößliche Tatsache, dass wir allen anderen Konkurrenten um Meilen voraus waren. Angesichts dieses überwältigenden Erfolgs machte sich langsam die Selbstgefälligkeit breit. Es lief alles einfach perfekt. Zu perfekt. Wir waren die Besten, weshalb sollten wir uns immer wieder neu erfinden? Warum weiter daran arbeiten, ein für die Zukunft optimal gerüstetes Unternehmen aufzubauen, das allen Stürmen trotzen kann? ›Wir sind doch schon die Nummer eins‹, hörte ich die ersten Leute sagen. Oder, was für mich persönlich viel schlimmer war: ›Was will der Chef denn noch alles? Ist er denn niemals zufrieden?‹ Das war gar nicht gut, ich musste der aufkeimenden Selbstgefälligkeit schnell einen Riegel vorschieben. Die Frage war nur, wie? Wir probierten einen neuen Ansatz aus, der darin bestand, uns aus der Perspektive der Investoren unter die Lupe zu nehmen. Das heißt wir untersuchten, wie es auf dem Gesundheitssektor im Vergleich zu anderen um unsere Attraktivität als Investitionspartner bestellt war. Das gab einen neuen Anreiz, denn nun lautete die Botschaft: Wir konkurrieren mit anderen Unternehmen nicht nur um lukrative Aufträge, sondern auch um finanzkräftige Investoren. Es geht nicht länger nur darum, wie gut wir das Unternehmen führen, wie erfolgreich wir im Vergleich mit anderen abschneiden, die exakt dieselben Produkte und Dienstleistungen wie wir anbieten. Es geht darum, der Tatsache ins Auge zu blicken, dass es in unserer Branche Unternehmen gibt, die ganz erstaunliche Innovationen hervorbringen. Und sie erhalten jede Menge Aufmerksamkeit und jede Menge Geld von den Investoren. Mag sein, dass wir in dem, was wir tun, die

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Besten sind. Doch wenn es einem anderen Unternehmen gelingt, Investoren ein Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 50 zu bieten, können wir mit unserem KGV von 12 keinen Blumentopf gewinnen. Es war sehr interessant zu beobachten, wie dieser neue Ansatz aufgenommen wurde. Zuerst bestand noch etwas Erklärungsbedarf, doch nachdem das Management und andere leitende Mitarbeiter verstanden hatten, worauf wir hinauswollten, verspürten die meisten ziemlich schnell erneut die Notwendigkeit zu dringendem Handeln. Die Möglichkeit, dass wir für potenzielle Geldgeber uninteressant sein könnten, wurde zunehmend als Risiko empfunden, das es durch die Verbesserung unserer ja eigentlich guten Position zu vermeiden galt. Zudem schärfte sich der Blick dafür, wie viele neue Mitbewerber es gab, die uns hinsichtlich einiger unserer Angebote das Leben schwermachten. Natürlich gab es noch einige Kollegen, welche die Angelegenheit anders sahen und Einwände äußerten. ›Der Vergleich mit Firma X hinkt, denn dort hat man sich auf netzbasierte Software spezialisiert. Für die Investoren gelten daher auch ganz andere Entscheidungskriterien. Sie investieren, weil sie einen Newcomer mit innovativer Technologie interessant finden. Für uns aber sprechen andere Gründe, daher ist der Vergleich nicht sinnvoll.‹ Der Gedanke, die anderen könnten einem nichts anhaben, sie spielten keine Rolle, und deswegen könne man sich sicher fühlen, ist vermutlich nur allzu menschlich. Meiner Erfahrung nach kann man aber gar nicht oft genug darüber sprechen, wie gefährlich dieser Gedanke ist. Man muss den Leuten helfen, diesen Irrglauben abzulegen. Um Mitarbeiter wachzurütteln und anzuspornen, ist es oft notwendig, sie mit einem externen Problem zu konfrontieren. Sie ohne konkreten Anlass zu immer besseren Leistungen anzufeuern funktioniert nicht. Die Leute verstehen nicht, wozu das gut sein soll. Sie glauben einem nicht, und das wirkt sich eher kontraproduktiv aus. Die Aussicht, mehr Geld zu verdienen, hilft da auch nicht weiter. Nur ein reales Problem, das außerhalb des Unternehmens existiert und von jedem wahrgenommen werden kann, motiviert Mitarbeiter dazu, kontinuierlich an Verbesserungen zu arbeiten. Dann nämlich denken sie sich: ›Stimmt, wir sind noch lange nicht am Ziel. Wir können als Unternehmen noch viel besser werden. Wir müssen besser werden, wir müssen uns mehr anstrengen, und ich bin bereit, meinen Beitrag dazu zu leisten.‹«1

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Am Anfang der Geschichte sorgte eine Krise für das notwendige Gefühl für Dringlichkeit, und als die Krise überwunden war und sich die Selbstgefälligkeit ausbreitete, holte der Manager Informationen ein, die es ermöglichten, sein Unternehmen mit den besten seiner Mitbewerber zu vergleichen. Die Taktik ging auf. Das Gespür für Dringlichkeit wurde wieder geweckt, doch es verschwand auch sofort wieder, nachdem das Unternehmen auch den besten der Mitbewerber überholt hatte. Jetzt breitete sich die Selbstgefälligkeit sogar in noch höherem Maße aus. Eine erneute Konfrontation mit der Realität war fällig, doch diesmal mit anderen Daten, die einen neuen Aspekt der Realität zeigten. Der Manager kommunizierte unablässig und persönlich mit allen Mitarbeitern, um zu verdeutlichen, worüber er sich Sorgen machte, woran er glaubte und mit welcher Entschlossenheit er sich engagierte. Die Selbstgefälligkeit wich erneut dem Gefühl für Dringlichkeit. Gemeinsam mit allen Mitarbeitern konnte der Manager ein sich dynamisch weiterentwickelndes Unternehmen erschaffen, von dessen Art das Gesundheitswesen (zu unser aller Wohl) noch viele weitere gebrauchen könnte. Als ich die Geschichte zum ersten Mal hörte, hatte ich mit meinen Recherchen für dieses Buch noch nicht begonnen. Deshalb schenkte ich dem beiläufigen Kommentar des Managers, wie wichtig es sei, ständig dieselben, in sich schlüssigen Botschaften zu kommunizieren, relativ wenig Beachtung. Heute aber bin ich davon überzeugt, dass er dadurch mit einfachen Worten ausdrückte, wie energisch und gezielt er drei der hier beschriebenen Taktiken nutzte: die Konfrontation mit der Realität, ohne Ausnahme selbst mit der gebotenen Dringlichkeit zu handeln und aktiv nach Chancen zu suchen, die mit einer Krise einhergehen können. Um als Musterbeispiel für gelebte Dringlichkeit dienen zu können, versteht es sich eigentlich von selbst, dass das vorbildliche Verhalten auch inhaltlich kommuniziert werden muss. Dasselbe gilt für die Konfrontation mit der Realität, und ob eine

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Krise sinnvoll und produktiv genutzt werden kann oder nicht, hängt größtenteils davon ab, wie gut und wie häufig dieses Vorhaben kommuniziert wird. Und auch im Umgang mit Neinsagern muss verständlich und nachvollziehbar kommuniziert werden, weshalb diese Sorte Mitarbeiter nicht eingestellt oder nicht befördert werden darf und weshalb das Vorgehen gegen sie zwar hart erscheinen mag, aber völlig berechtigt und moralisch vertretbar ist. Ihr Unternehmen feiert Erfolge, und schon ist es um das Gefühl für Dringlichkeit nicht mehr gut bestellt. Bevor die Selbstgefälligkeit die Oberhand gewinnt, müssen Sie geeignete Mittel und Wege finden, um dem Gefühl für Dringlichkeit zu einem Comeback zu verhelfen. Die Selbstgefälligkeit nimmt ab, es geht wieder voran und der Fortschritt beschert weitere, noch größere Unternehmenserfolge. Das Spiel beginnt von vorne: Das Gespür für Dringlichkeit schwächt sich ab, die Selbstgefälligkeit nimmt wieder zu. Jetzt müssen Sie schnellstmöglich andere geeignete Mittel und Wege finden, um Abhilfe zu schaffen. Dadurch wird es letztendlich möglich, Erfolge zu erzielen, die von den Pessimisten unter Ihren Mitarbeitern als absolut unrealistisch bezeichnet wurden. Erfolge, von denen alle profitieren. Das Geheimnis des Erfolgs muss nicht unbedingt kompliziert sein, wie Sie sehen. Und wenn Sie dieses Buch gelesen und verstanden haben, kennen Sie ein kleines, einfaches Erfolgsgeheimnis, mit dem sich Großes bewirken lässt.

Das Gespür für Dringlichkeit in der Unternehmenskultur verankern Das Problem, dass nach Erfolgen immer wieder die Selbstgefälligkeit an die Stelle des Dringlichkeitsempfindens tritt, lässt sich

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ein für alle Mal dadurch lösen, dass dringliches Handeln in der Unternehmenskultur verankert wird. Und umso deutlicher sich der Übergang von periodischen zu kontinuierlichen Veränderungen abzeichnet, umso mehr gewinnt diese kulturelle Verankerung an Relevanz. In einer vom Dringlichkeitsempfinden charakterisierten Unternehmenskultur wird es zur Selbstverständlichkeit, dass jeder einzelne Mitarbeiter günstige Gelegenheiten ergreift, wachsam nach Risiken Ausschau hält und sich aus eigenem Willen tatkräftig dafür einsetzt, dem Unternehmen zum Sieg zu verhelfen. Arbeits- und Verhaltensweisen, die von wachsamer Aufmerksamkeit zeugen, von der realistischen Beurteilung externer Ereignisse, Reaktionsfreude, der Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und auf Letzteres keine Zeit und Energie zu verschwenden, von der Bereitschaft, notwendige Änderungen schnellstmöglich umzusetzen, und von Führungsqualitäten, die unabhängig von der hierarchischen Position den Wandel vorantreiben, sind dann nicht länger die Ausnahme, sondern die Regel. Wie jede andere Kultur wird auch eine »Kultur der Dringlichkeit« nach den bekannten Richtlinien geschaffen: Zuerst sorgen Sie dafür, dass die richtigen Verhaltensweisen übernommen werden. Stellen Sie sicher, dass die Teams oder Abteilungen, die sich in Ihrem Sinne verhalten, dadurch auch spürbare Erfolge verbuchen. Stellen Sie zudem sicher, dass die Erfolge die Dringlichkeit nicht gleich wieder unterminieren und Ihre Mitarbeiter nicht in alte Gewohnheiten zurückfallen. Bedienen Sie sich aller zur Verfügung stehenden Managementmethoden – Beförderung geeigneter Kandidaten, finanzielle Anreize oder Gehaltserhöhung, struktureller Aufbau der Teams und Abteilungen –, um gewährleisten zu können, dass die gerade erst als dringend erkannten Aufgaben nicht unter dem Druck kurzfristiger betrieblicher Zwänge vernachlässigt werden und Entscheidungen getroffen

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Das Gefühl für Dringlichkeit auch nach großen Erfolgen bewahren 1. Rechnen Sie mit diesem Problem, und stellen Sie sich rechtzeitig darauf ein.

2. Entwickeln Sie eine Lösung dafür.

3. Selbst wenn Sie Punkt eins und Punkt zwei versäumt haben, müssen Sie sofort eine oder mehrere der folgenden Taktiken einsetzen, sobald Sie merken, dass das Gefühl für Dringlichkeit nachlässt: a) knallharte Konfrontation mit einem neuen Aspekt der Realität, b) Dringlichkeit auf neue Art und Weise vorleben, c) eine neue Krisensituation nutzen oder herbeiführen, d) die noch übrigen NoNos unschädlich machen.

Am allerwichtigsten: Arbeiten Sie beständig daran, ein Gefühl für Dringlichkeit in der Unternehmenskultur zu verankern.

werden, die zwar momentan richtig erscheinen, dem Unternehmen langfristig aber schaden. Betrachten Sie unternehmenskulturelle Neuerungen wie ein zartes Pflänzchen, das bei schlechter Behandlung ziemlich schnell eingehen kann. Ein kleiner Fehler, und schon lässt es die Blätter hängen. Wenn Sie Ihren stärksten Befürworter des Wandels als Belohnung sofort in eine Führungsposition in der Firmenzentrale befördern und der Kandidat, der auf den frei gewordenen Posten nachrückt, der neuen dringlichen Handlungsweise wenig Verständnis entgegenbringt, kann sich Ihre Entscheidung als extrem kontraproduktiv erweisen. Üben Sie sich in Geduld, denn Menschen ändern sich nicht über Nacht. Es dauert seine Zeit, bis neue Verhaltensweisen verinnerlicht

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werden. Bevor sie in Ihrem Unternehmen zur Regel werden, müssen sie langsam einsickern und auf der Grundlage geteilter Wertvorstellungen wurzeln und wachsen. Noch hat es sich nicht durchgesetzt, das Gespür für Dringlichkeit in der Unternehmenskultur zu verankern und dadurch zu bewahren. Das wird sich bald ändern. Zumindest einige kluge und vorausschauende Führungskräfte werden erkennen, dass eine Kultur der Dringlichkeit in unserer turbulenten, schnelllebigen Welt die Grundlage für den nachhaltigen Unternehmenserfolg bildet. Mit etwas Mühe und vielleicht einer Portion Glück wird es diesen Führungskräften mit der Zeit gelingen, eine solche Kultur in ihren Unternehmen zu etablieren – was vielen Menschen zugutekommen wird.

1 Auf Englisch nachzulesen in dem Buch The Heart of Change. Real Life Stories of How People Change Their Organizations von John P. Kotter und Dan S. Cohen (Boston: Harvard Business School Publishing, 2002, S. 144–146).

Kapitel 9

Die Zukunft beginnt heute

Unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen verändern sich permanent. Daher wird das in diesem Buch besprochene Thema in absehbarer Zukunft aller Wahrscheinlichkeit nach immer relevanter werden. Auf vielen verschiedenen Schauplätzen tun sich Schlag auf Schlag neue Chancen und neue Gefahren auf. Und die Verschärfung des Wettbewerbs, der rasante technologische Fortschritt, die immer weiter voranschreitende Globalisierung und der unersättliche Bedarf an Innovationen erhöhen das Tempo, in dem sich der Wandel vollziehen muss, stetig. Auch wenn in jeder Branche, auf jeder Hierarchie- oder Verwaltungsebene und in jedem Land vielleicht etwas andere Maßstäbe gelten, lässt sich doch eine allgemeingültige Schlussfolgerung ziehen: Wer sich mit dem Status quo zufrieden gibt und in Selbstgefälligkeit schwelgt – auch wenn etwas ganz anderes behauptet wird –, bringt sich in immer größere Gefahr. Wer vor Angst gelähmt oder vor Wut blind ist, konzentriert sich nicht auf die wirklich wichtigen Aufgaben, sondern verschwendet viel Zeit und Energie auf unproduktive oder gar überflüssige Aktivitäten. Die Konsequenz: zunehmende Schwäche und eine immer größer werdende Angriffsfläche, was sich im Konkurrenzkampf als tödlich erweisen kann. Nur wer sich energisch, entschlossen und tatkräftig für den Sieg einsetzt, jetzt sofort – wer ein untrügliches Gespür für Dringlichkeit besitzt –, kann sich so positionieren, dass er sich bietende Chancen ergreifen und Ziele verwirklichen kann, von denen andere nur träumen.

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Konzentrieren Sie sich auf schnelle, einfache Aktionen Jeder Leser kann diesem Buch Dutzende nützlicher Anregungen entnehmen, die für eine Vielzahl spezieller Situationen geeignet erscheinen. Mein Rat: Weniger ist mehr. Widerstehen Sie der Versuchung, sich alles zu notieren, was Sie gerne einmal ausprobieren möchten, denn diese Liste wäre sicher viele Seiten lang. Und eine so lange Liste wirkt meist nicht gerade ermutigend, sondern eher abschreckend. Wer sich zu viel vornimmt, erreicht am Ende gar nichts. Ebenso wie Sie ab jetzt nur noch Angelegenheiten oberster Priorität in Ihren Terminkalender eintragen, nehmen Sie sich am besten auch nur drei oder vier einfach umzusetzende Maßnahmen vor, die Sie auch sofort durchführen können – was Sie auch unbedingt tun sollten. Im Berufsleben wird üblicherweise linear gedacht und geplant. Das heißt man überlegt sich, in welcher logischen Reihenfolge die geplanten Schritte erfolgen müssen. Was ist zuerst zu tun, was baut darauf auf, was kommt dann als Nächstes? Meist ist diese Herangehensweise auch notwendig und richtig. Bei der taktischen Planung, wie sich das Gefühl für Dringlichkeit in Ihrem Unternehmen fördern lässt, ist die lineare Denkweise aber nicht grundsätzlich die beste. Das Problem ist nämlich, dass die im zweiten Schritt logisch erscheinende Taktik möglicherweise schwierig umzusetzen ist. Und wenn es dabei zu Verzögerungen oder Störungen kommt, gerät Ihr ganzes Vorhaben ins Stocken. Und ein ausgebremstes Vorhaben ist ja genau das, was Sie mit Ihren Bemühungen, der Selbstgefälligkeit, der Angst und Wut entgegenzuwirken, unbedingt vermeiden möchten. Die Alternative zu seitenlangen Listen oder der logisch-linearen Planung ist, sich darauf zu konzentrieren, was schnell und einfach ist – was ruckzuck umgesetzt werden kann. Seien Sie ruhig einmal opportunistisch. Sorgen Sie dafür, dass sich etwas tut.

Die Zukunft beginnt heute

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Probiert man etwas Neues aus, ist es immer schwierig, einen Anfang zu finden, denn abhängig von der jeweiligen Situation ist es mal dieser, mal jener Schritt, der sich als erster anbietet. Achten Sie einfach darauf, welche Reaktionen Sie mit Ihrer Maßnahme auslösen. Bleiben die gewünschten Reaktionen aus, brechen Sie sie ab. Stellt sich der gewünschte Effekt ein, machen Sie weiter. Setzen Sie etwas in Bewegung, das von selbst an Tempo gewinnt. Und ist der Stein erst einmal ins Rollen gekommen, können Sie sich an größere Maßnahmen heranwagen, die mehr Planung erfordern oder ressourcenintensiver sind.

Beginnen Sie jetzt Ruckzuck-Aktionen müssen normalerweise nicht in ein neues Projekt verpackt werden, und ganz bestimmt finden Sie in Ihrem Terminkalender immer genügend Platz, um sie sich für die kommende Woche oder spätestens den kommenden Monat einzutragen. Für Ruckzuck-Aktionen sind meist auch keine zusätzlichen Ressourcen erforderlich, denn der ihnen zugrunde liegende Gedanke ist, die sowieso geplanten oder laufenden Aktionen mithilfe der vorgestellten Taktiken dringlichkeitsfördernd zu gestalten. Anstatt eine Projektgruppe zu gründen, die gut und gerne drei bis sechs Monate damit beschäftigt ist, einen Wandel in der Unternehmenskultur herbeizuführen, können Sie genauso gut schon morgen damit anfangen, die Notwendigkeit unternehmenskultureller Veränderungen in jedem Meeting anzusprechen. »Ist unser übliches Prozedere hinsichtlich X denn überhaupt noch zeitgemäß und wettbewerbsfähig?«, wobei X für das Thema steht, das in dem Meeting besprochen wird. Selbst mit der gebotenen Dringlichkeit zu handeln ist die Taktik, die am schnellsten Wirkung zeigt. Die anderen drei Taktiken

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sind ebenfalls sofort einsetzbar, brauchen aber etwas länger, um Ergebnisse erkennen zu lassen. Stellen Sie die Unternehmenskultur also nicht nur in Ihrem morgigen Meeting zur Diskussion, sondern geben Sie deutlich zu erkennen, für wie dringlich Sie die Angelegenheit erachten. Das heißt keinesfalls, dass Sie sich ausschließlich auf dieses Thema versteifen sollten, was Ihrer Glaubwürdigkeit schaden und Fragen hinsichtlich Ihrer eigentlichen Motivation aufwerfen könnte. Nein, zeigen Sie einfach, wie energisch Sie sich der Sache anzunehmen gedenken, wie sehr Ihnen das Thema Unternehmenskultur am Herzen liegt und dass Sie davon überzeugt sind, man müsse diese Frage sehr schnell klären. Anstatt sich der langwierigen Suche nach einem geeigneten Beratungsunternehmen zu widmen – die Budgetierung, die Auswahl potenzieller Berater und die Prüfung der Angebote können durchaus ein Jahr dauern –, das Ihnen eine verwertbare Marktanalyse vorlegen kann, können Sie oder Ihre Mitarbeiter genauso gut selbst im Internet recherchieren. Informieren Sie sich systematisch über Märkte, Produkte, Mitbewerber und technologische Trends, und entscheiden Sie auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse über das weitere Vorgehen. Ein Beratungsunternehmen hinzuzuziehen mag zwar trotzdem sinnvoll sein, und es spricht nichts dagegen, die Konfrontation mit der Realität mithilfe eines Beraters morgen in die Wege zu leiten. Es spricht aber auch alles dafür, dass Sie sich mithilfe des Internets sofort selbst über die wichtigsten Fakten informieren. Anstatt Ihrem NoNo mit einer miesen Leistungsbeurteilung erst Ende des Jahres einen Schuss vor den Bug zu versetzen, können Sie sich genauso gut sofort mit einem befreundeten Kollegen beratschlagen, mit dem Sie sich sowieso heute zum Mittagessen verabredet haben. Ob Sie den NoNo mit einer entsprechend schlechten Leistungsbeurteilung in seine Schranken verweisen oder nicht, können Sie sich ja immer noch überlegen. Trotzdem

Die Zukunft beginnt heute

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sollten Sie auch sofort etwas gegen seine Sabotageakte unternehmen, und für den ersten Kriegsrat mit Ihrem Verbündeten bietet sich die Verabredung zum Essen doch hervorragend an. Diese schnell und einfach umzusetzenden Maßnahmen haben zudem den Vorteil, dass Sie sich dabei sehr schnell Fähigkeiten aneignen, auf die es in Zukunft in zunehmendem Maße ankommen wird. Fähigkeiten, die sich angesichts der Tendenzen, die unsere Welt und unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen kontinuierlich umgestalten, wohl die meisten von uns erst noch aneignen müssen.

Fakt ist … Wenn man sich auf etwas verlassen kann, dann darauf, dass sich die Geschwindigkeit erhöht. Dringliches Handeln ist zwingend erforderlich, und dringliches Handeln ist möglich. Betrachten wir es einmal aus einer Perspektive, die auch die letzten Zweifel beseitigt – der nationalen und globalen Perspektive: Klimawandel, Terrorismus, die Rolle, welche die neuen Wirtschaftsmächte China und Indien auf der Bühne der internationalen Handelsbeziehungen heute spielen, die Diskussion über die ethische Vertretbarkeit der Genmanipulation und der Biowissenschaften, die Notwendigkeit, die gravierenden Bildungsdefizite der Schulsysteme auszumerzen und die sozialen Sicherheitsnetze zu reformieren. Hand aufs Herz: Werden die großen Probleme unserer Zeit mit der ihnen gebührenden Dringlichkeit angepackt? Geredet wird viel davon, doch Dringlichkeit beweist sich nicht über Worte, sondern über Taten. Planloser Aktivismus, zielloses Gerenne, endlose Abfolgen von Besprechungen und schicke Präsentationen sind keine Beweise für echte Dringlichkeit. Echte Dringlichkeit zeigt sich daran, dass nicht nur einige

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wenige, sondern viele Menschen jetzt mit Aufmerksamkeit, Flexibilität, Reaktionsfreude und Führungsstärke ans Werk gehen. Stellen wir uns die wichtige Frage: Wo stehen wir – wo steht die Menschheit – heute? Haben wir die besten Voraussetzungen geschaffen, um auch den nachfolgenden Generationen ein Leben in Sicherheit und Wohlstand zu ermöglichen? Fakt ist, es besteht dringender Handlungsbedarf. Wir müssen und können noch vieles viel besser machen.

Register

Ablenkungsmanöver, geschickte 170f. Adrenalinkick 20 Aktionen, planlose 12 Aktionen, unproduktive 12 Aktivitäten, belanglose 22 Aktivitäten, gewohnheitsmäßige 22 Aktivitäten, hektische 19, 37, 126 Änderungsinitiativen 10, 13, 38, 48, 70, 169 Änderungsvorhaben 9 – 11, 38, 59, 67, 88, 124, 141, 147, 153, 156, 189 Anerkennung 79, 130 Arbeitsmoral 85, 149, 169, Ärger 19, 29, 59, 70, 104, 136 Argumente, emotionale 56 Arroganz 17f. Ausschnittdienst 100f. Außenstehende, Einladung von 96f., 104 Außenwelt, Bezug zur 76, 92 Ausstrahlung, persönliche 70 Belanglosigkeiten 20, 24, 48

Besorgnis 38, 83, 89, 166, 180 Betriebsamkeit, hektische 12, 17, 24, 30, 42, 46, 50, 132 Betriebsamkeit, planlose 12, 134 Betriebsamkeit, produktive 24 Bilder, Signalwirkung von 92 Bombe, emotionale 105 Botschaften, emotionale 125 Botschaften, nonverbale 59, 118 Botschaften, widersprüchliche 118 Burning Platform 128f., 141, 146, 148 – 150 Business-Case 50 – 55, 58 – 61, 66, 68f., 186 Clipping Service 100 Datenimport 84, 102 Desinteresse 59, 147, 181 Diskussionen, Unterbinden von 48 Dringlichkeitskiller 162, 179 Druck, gesellschaftlicher 173 Ebene, emotionale 32, 34, 56, 59, 69, 107, 135, 151 Ebene, intellektuelle 55, 65, 70

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Ebene, rationale 59, 107, 151, Ehrlichkeit, entwaffnende 124 Eigeninitiative 16, 49 Einschätzung, objektive 33 Einstellungen, persönliche 70, 111 Emotionen 10, 56f., 67, 83f., 144 Entscheidungsbefugnisse 28, 118, 137f. Entscheidungsträger 28, 66, 70, 78, 146, 152, Entschlossenheit 21, 48, 57f., 61, 70, 89, 105, 116, 135, 151, 164, 192 Enttäuschung 12, 153, 171 Entwicklungen, externe 35, 73, 87 Erfahrungen, Vermitteln von 58 Erfolg, langjähriger 67, 76f., 87 Erfolge, kurzfristige 27, 29 Erlebnisse, persönliche 65, 95 Erschöpfung 37, 44, 117, 149 Erschöpfungszustände 22 Fähigkeiten, Fehleinschätzung von 32 Fehlschläge, frühere 45 Fingerspitzengefühl 60 Flaggen, rote 39 – 41, 47, 182 Fortschritt, technologischer 20, 25, 91, 118, 197 Frustration 9, 21, 23, 37, 46, 126, 149, 167, 171 Führungskräfte, Verhalten der 112, 121 Führungsqualitäten 49, 70, 194 Führungsteam, Zusammenstellung eines 27f.

Gedankenprozesse, bewusste 32, 56 Geduld, dringliche 126f. Gefahren, Blindheit gegenüber 32, 74 Gefahren, potenzielle 21 Gegenargumente, selektive 34, 44 Gegenmaßnahmen, ungeeignete 46 Gelegenheiten, gute 21, 37, 125 Geschäftsmodelle, neue 26 Geschichten, Verarbeitung von 65 Gespräche, persönliche 93 Gewohnheiten 18, 56, 69, 119, 187, 194 Glaubwürdigkeit 27, 118, 171, 200 Globalisierung 25, 165, 197 Grafiken, Signalwirkung von 92 Handlungsbereitschaft, kompromisslose 55 Handlungsfreiräume 28 Hektik 17, 19f., 107, 154 Hektik, unproduktive 56, 70, 104, 126 Humor 65, 120, 122, 174 Informationsüberflutung 102 Innovationsinitiative, Umsetzung der 15 Interessengruppen, externe 95 Kommunikation 28, 41, 65f., 73 Kontrollsysteme 129f., 150 Kooperationsbereitschaft 53 Kosten- und Nutzenanalyse 52

Register

Krisen, anbahnende 77 Krisen, Nutzen von 69, 132, 134, 136, 152, 169, 195 Krisenmanagement 128, 134 Kritik 16, 53, 97 Kunden, Kontakt mit 78 Kundenbesuche 93, 111 Kundenfragebögen 81 Kundenfront, Mitarbeiter an der 78f., 81, 84, 104 Kundenkommentare 80 Kundenumfrage 80f. Leistungsdruck 19 Marktposition, starke 76 Medienbeobachtung 100 Meilensteine 53, 147 Meinungsmacher 28 Misstrauen 59, 64f., 124 Mitarbeiter, neue 92, 97f. Mitbewerber, innovative 75 Mut 21, 58, 174, 184f. Nachrichten, schlechte 85f., 88, 90, 103f., 151, 158 Niederlage, Angst vor der 20 Priorität, oberste 20f., 42, 116, 118, 125, 180, 198 Produktivitätsstandards 25

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Sabotage 71, 146, 160, 164, 168, 175, 201 Schadensbegrenzung 90, 128, 131, 134, 139f., 150f. Schuldzuweisungen 89, 105, 133, 151 Schwierigkeiten, hausgemachte 45 Selbstzufriedenheit 32 Sicherheit, Ausstrahlen von 89 Sicherheit, vermeintliche 35 Sieg, Wille zum 20f., 56, 89 Siege, eingebildete 23 Siegeswille 21 Signale, Aussenden von 92, 112, 118 Signalwirkung, optische 92 Sinneswahrnehmungen 59 Sinneswandel 58, 60 Skeptiker 29, 52, 65, 71, 155 – 157, 176, 183f. Spott 59, 119, 124 Status quo 18 – 20, 23, 48, 57, 59f., 70, 77, 178, 197 Stolz, berechtigter 74f. Strategien, Entwicklung von 28 Stress 12, 22 Stresspegel 65, 72, 126 Sündenbock 43, 46 Sympathie 65 Tiefenwirkung, emotionale 58 Tunnelblick 69, 72, 81

Qualitätsstandards 25 Realitätsverlust 99 Respekt 79f.

Überheblichkeit 74f., 89, 147 Überlebensstrategie, unternehmerische 13

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Überlegungen, rationale 55, 167 Umfeld, externes 21, 91 Umfeld, internes 21 Umstrukturierung, innerbetriebliche 26 Umstrukturierungsmaßnahmen 9, 13, 172 Unterbewusstsein 63, 70 Unternehmensberater 39, 44, 85 – 89, 98 Unternehmenskultur 74, 76 – 78, 119, 178, 193 – 196, 199f. Veränderungen, kontinuierliche 13, 30, 194 Veränderungen, unternehmenskulturelle 78, 199 Veränderungen, Verankerung von 27, 29 Veränderungsmaßnahmen, erforderliche 48 Verhalten, vorbildliches 111f., 116, 123, 192 Verhaltensweisen, Änderung von 34, 56, 175

Vertrauensvorschuss 79, 156 Video 71, 82 – 84, 101, 104 Vorbildfunktion 127 Wachsamkeit 22, 92, 109 Wandel, Geschwindigkeit des 25 Wandel, kontinuierlicher 13, 30 Wandel, Modell des 10 Wandel, permanenter 13, 31, 69, 87, 176 Warnhinweise 45 Warnsignale 39, 149 Wettbewerbsdruck 68, 75 Wettbewerbsfähigkeit 50, 121 Wettbewerbsvorteil 22, 108 Widerstand, aktiver 153, 164, 183 Widerstand, passiver 36, 45 Zielvorstellungen, Entwicklung von 28 Zuversicht, Ausstrahlen von 89 Zyniker 29, 184