Bild und Habitus 3531142933, 9783531142937 [PDF]


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Table of contents :
Cover......Page 1
Bild und Habitus......Page 3
ISBN 3531142933......Page 4
Danksagung......Page 5
Inhalt......Page 6
1. Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen......Page 10
2. Empirische Fallrekonstruktionen......Page 190
3. Fazit und Ausblick: Praxeologische Rezeptionsforschung......Page 392
4. Literatur......Page 399
Anhang: Transkriptionsregeln......Page 413
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Bild und Habitus
 3531142933, 9783531142937 [PDF]

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Zitiervorschau

Burkard Michel Bild und Habitus

Burkard Michel

Bild und Habitus Sinnbildungsprozesse bei der Rezeption von Fotografien

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

. . 1. Auflage April 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Monika Mülhausen / Nadine Kinne Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN-10 3-531-14293-3 ISBN-13 978-3-531-14293-7

Danksagung

Diese Arbeit entstand im Rahmen des Bildwissenschaftlichen Kolloquiums an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg mit finanzieller Förderung des Landes Sachsen-Anhalt. Dafür bedanke ich mich ganz herzlich. Ganz besonderer Dank gilt dem Betreuer der Arbeit Prof. Dr. Jürgen Wittpoth, sowie Prof. Dr. Burkhard Schäffer, der mich in die Dokumentarische Methode und das Gruppendiskussionsverfahren einführte. Für Ihre vielfältige Beratung und Unterstützung möchte ich auch Prof. Dr. Ralf Bohnsack, Prof. Dr. Jürgen Straub, Prof. Dr. Gerhard Riemann und Prof. Dr. Winfried Marotzki ganz herzlich danken. Besonders danken möchte ich schließlich auch den Teilnehmern der Gruppendiskussionen – ohne sie wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen.

Inhalt

1.

Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen .................... 11

1.1 Problemstellung ....................................................................................... 1.1.1 Der Sinn des Bildes und die Aktivität der Rezipierenden ............. 1.1.2 Die Interaktion von Bild und Rezipierenden im Focus der Rezeptionsforschung ............................................... 1.1.2.1 Beiträge der Literaturwissenschaft .................................. 1.1.2.2 Beiträge der Kommunikationswissenschaft ..................... 1.1.3 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit ...............................................

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1.2 Das Bild: Anschauliche Evidenz und polyseme Textualität ................... 1.2.1 Die abbildliche Ebene: Das Bild als Ersatzreiz ............................ 1.2.1.1 Bild- vs. Wirklichkeitswahrnehmung .............................. 1.2.1.2 Bild vs. Sprache ............................................................... 1.2.2 Die sinnbildliche Ebene: Das Bild als Text .................................. 1.2.2.1 Ikonische Gliederung ....................................................... 1.2.2.2 Dimensionen der Offenheit .............................................. 1.2.3 Fazit ...............................................................................................

46 47 48 55 64 69 76 93

1.3 Die Rezipierenden: Der Habitus als „sozialisierte Subjektivität“ ........... 96 1.3.1 Der Habitus als praktischer Sinn .................................................. 98 1.3.1.1 Präreflexivität ................................................................... 99 1.3.1.2 Geschichtlichkeit und Körperlichkeit ............................ 103 1.3.1.3 Homologie, Kollektivität und Distinktion ..................... 105 1.3.2 Die Genese des Habitus .............................................................. 109 1.3.2.1 Die Kapitalstruktur als Basis des Habitus ...................... 110 1.3.2.2 Die Erlebnisaufschichtung als Basis des Habitus .......... 113 1.3.2.3 Der Habitus als akkumulierte Erfahrung ....................... 116 1.3.3 Der Habitus als modus recipiendi ............................................... 121 1.3.3.1 Der Habitus als Erwartungshorizont (model of the world) ...................................................... 128 1.3.3.2 Der Habitus als System von Schemata (model for acting) ........................................................... 133

Inhalt

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1.3.4 Fazit ............................................................................................ 139 1.4 Der Sinn: Interaktionsprodukt von Bild und Rezipierenden ................. 1.4.1 Achsen der Interaktion von Bild und Rezipierenden .................. 1.4.1.1. Vertikale Achse: Ebenen des Sinns im Ikonokraphie/ Ikonologie-Modell ........................................................ 1.4.1.2 Horizontale Achse: Der Sinn als Bezugsgröße .............. 1.4.2 Rezeptionstheoretische Aspekte des Ikonographie/IkonologieModells ........................................................................................ 1.4.2.1 Die „subjektiven Quellen der Interpretation“ ................ 1.4.2.2 Die kategoriale Differenz von Vor-/Ikonographie und Ikonologie ...................................................................... 1.4.3 Rezeptionstheoretische Erweiterung des Ikonographie/ Ikonologie-Modells ..................................................................... 1.4.3.1 Wechsel des ikonologischen Bezugshorizonts .............. 1.4.3.2 Wissenssoziologische Aspekte des Ikonographie/ Ikonologie-Modells ....................................................... 1.4.4 Fazit ............................................................................................. 2.

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Empirische Fallrekonstruktionen ...................................................... 191

2.1 Methodologie und Methode .................................................................. 2.1.1 Gruppendiskussionsverfahren ..................................................... 2.1.1.1 Zugang zum konjunktiven Erfahrungsraum .................. 2.1.1.2 Stellenwert und Formalstruktur der Sinngehalte ........... 2.1.2 Dokumentarische Methode ......................................................... 2.1.2.1 Genetische Perspektive .................................................. 2.1.2.2 Der Habitus als Basis ikonologischer Sinnbildung ....... 2.1.2.3 Verstehen vs. Interpretieren ........................................... 2.1.2.4 Sinngenese, Soziogenese und Kausalgenese ................. 2.1.2.5 Komparative Analyse ..................................................... 2.1.2.6 Abduktiver Schluss ........................................................ 2.1.2.7 Standortgebundenheit der Interpretation und Reflexion 2.1.3 Forschungspraxis ........................................................................ 2.1.3.1 Auswahl der Bilder ........................................................ 2.1.3.2 Auswahl der Gruppen .................................................... 2.1.3.3 Auswahl der Fälle .......................................................... 2.1.3.4 Interaktionen und Transformationen .............................

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Inhalt

2.2 Rezeption eines syntagmatisch offenen Bildes ..................................... 2.2.1 Komparative Analyse der Einstiegssequenzen ........................... 2.2.1.1 Einstiegssequenz der Gruppe AH .................................. 2.2.1.2 Einstiegssequenz der Gruppe SA ................................... 2.2.1.3 Einstiegssequenz der Gruppe ND .................................. 2.2.1.4 Resümee und Ausblick .................................................. 2.2.2 Detailanalyse gruppenspezifischer Besonderheiten .................... 2.2.2.1 Syntagmatische Offenheit: Rezeption der Leerstelle .... 2.2.2.2 Generierung einer untersuchungsleitenden Fragestellung ................................................................. 2.2.3 Interaktion von Gruppe ND und Bild „Shantytown“ .................. 2.2.3.1 Bildorientierte Sinnbildungsphase ................................. 2.2.3.2 Gruppenorientierte Sinnbildungsphase .......................... 2.2.4 Resümee ...................................................................................... 2.2.4.1 Orientierungsmuster der Gruppe ND ............................. 2.2.4.2 Bild „Shantytown“ in der Perspektive der Gruppe ND . 2.3 Rezeption eines syntagmatisch geschlossenen Bildes . ......................... 2.3.1 Komparative Analyse der Einstiegssequenzen ........................... 2.3.1.1 Einstiegssequenz der Gruppe AH .................................. 2.3.1.2 Einstiegssequenz der Gruppe SA ................................... 2.3.1.3 Einstiegssequenz der Gruppe ND .................................. 2.3.1.4 Resümee und Ausblick .................................................. 2.3.2 Rekonstruktion von Vergleichshorizonten ................................. 2.3.2.1 Gruppe AH: „Heile Welt“ als impliziter ikonologischer Sinn ...................................................... 2.3.2.2 Gruppe SA: „Heile Welt“ als reflexive Unterstellung ... 2.3.3 Konfrontation der Vergleichshorizonte mit der Sinnbildung von Gruppe ND ........................................................................... 2.3.3.1 „Heile Welt“ als impliziter Gegenstandshorizont .......... 2.3.3.2 Fremdbestimmtheit als Erlebnishintergrund .................. 2.3.3.3 „Posieren für’s Familienalbum – kontrastiver Vergleich mit Gruppe AH............................................... 2.3.4 Resümee ...................................................................................... 2.3.4.1 Orientierungsmuster der Gruppe ND ............................. 2.3.4.2 Bild „Familie“ in der Perspektive der Gruppe ND ........

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Inhalt

3. Fazit und Ausblick: Praxeologische Rezeptionsforschung ..................................................... 393 4. Literatur .................................................................................................... 401 Anhang: Transkriptionsregeln ................................................................................... 415

1. Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

„Wie gelangt der Sinn in das Bild?“ fragte Roland Barthes zu Beginn der 60er Jahre. Offenbar liegt der Sinn nicht ‚im’ Bild begründet, sondern muss erst in das Bild ‚hineingetragen’ werden. Obwohl ‚auf den ersten Blick’ zu sehen ist, was auf einem gegenständlichen Bild ‚drauf’ ist, bleibt der Sinn des Bildes oftmals unklar. Trotz ihrer ikonischen Exaktheit zeichnen sich gegenständliche Bilder durch ein hohes Maß an semantischer Unbestimmtheit aus. Erst im Prozess der Bildrezeption, d.h. in der Auseinandersetzung der Rezipierenden mit einem Bild entsteht der Sinn – und verändert sich mit ihnen. Dadurch kommt es zu einer Vielfalt an Bedeutungszuweisungen an ein und dasselbe Bild. Dass Medientexte generell (und nicht nur Bilder) hinsichtlich ihres Sinns unabgeschlossen und auf den aktiven Beitrag der Rezipierenden angewiesen sind, gehört mittlerweile zu den Grundannahmen der Rezeptionsforschung. Sie spricht von einer „Interaktion“ zwischen Medientext und Rezipierenden. Wie jedoch die Aktivität der Rezipierenden bei dieser Interaktion handlungstheoretisch zu konzeptualisieren ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die vorliegende Arbeit schlägt vor, die Habitustheorie Pierre Bourdieus für die Rezeptionsforschung fruchtbar zu machen und Bildrezeptionsprozesse als habitusspezifische Praktiken zu rekonstruieren. 1.1 Problemstellung Von einer „Bilderflut“ sprach Karl Pawek, der Gründer und Herausgeber der Zeitschrift „Magnum“, bereits im Jahr 1963 und rief das „optische Zeitalter“ aus. Nicht allein die Menge von Bildern in Illustrierten und dem damals ‚neuen Medium’ Fernsehen veranlasste Pawek von einer neuen „Epoche“ zu sprechen. Mehr noch konstatierte er eine „neue Mentalität“, eine neue Denkweise, die nichts weniger als die bisherige abendländische Denktradition ablösen sollte. „Seit zweieinhalbtausend Jahren sucht der abendländische Denker in der Wirklichkeit nur das Gedankending (logoi, noemata, ideai, eidos, species, forma, universale, Begriff, idea, Apriori, Gesetz ...), und hat er sich dieses beschafft, kann er die sinnliche Wirklichkeit fahrenlassen,

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

denn sie ist für ihn dann nur mehr Abfall, Müll, ausgelaugter Stoff seines philosophischen Laboratoriums. Das, was die Augen sehen können, das einzelne Ding, ist nicht Gegenstand der Wissenschaft. Erst das Generelle ist es.“ (Pawek 1963, S. 18)

Die neue Denkweise des „optischen Zeitalters“ zeichne sich dagegen dadurch aus, dass sie „vom Besonderen und vom Ereignis (und nicht mehr bloß vom Allgemeinen und vom Gedanken)“ ausgehe (ebd. S. 307). Das Besondere und Ereignishafte habe seit dem zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts eine neue Bedeutung für die menschliche Erkenntnis und Wirklichkeitserfahrung gewonnen (ebd. S. 60, 70). Nach Ansicht Paweks lehnt sich der „moderne Mensch“ gegen die „Begriffs-Diktatur“ auf. „Er sucht ihrer Enge zu entfliehen, den Maschen ihrer Konstruktionen zu entkommen und im offenen Feld, am offenen Meer der Wirklichkeit dem Nicht-Katalogisierten, dem NichtSystematisierten, dem Nicht-Bloß-Gedachten zu begegnen. Gerade die Flut der Bilder schätzt er in dieser Hinsicht als spezielle Möglichkeit einer neuen Wirklichkeitserfahrung. In ihr erblickt er das offene Meer der Wirklichkeit.“ (ebd. S. 86)

Symptom und ‚Werkzeug’ des neuen Denkens sei die Fotografie (vgl. ebd. S. 60). Denn was sich im Foto der Erkenntnis darbiete, präsentiere sich nicht in jener rational-begrifflichen Form, die seit Descartes als die einzig wahre Form von Erkenntnis angesehen werde. Das Foto sei vielmehr in seiner Konkretheit „gedanklich nicht ausschöpfbar“ und hinsichtlich seiner Bedeutung nicht vollständig definierbar (ebd. S. 83), da es in sich zahllose Verweisungen und Verbindungen darstelle. „Man kann zum Photo gedankliche Bezüge herstellen, aber man kann nie erschöpfend mitteilen, was das Photo zeigt, weil es zuviel zeigt. Es wird immer ein unausdeutbarer Rest bleiben. Das ist das Recht des Konkreten, vielschichtig zu sein und in vielen Beziehungen zu stehen.“ (ebd. S. 83 f.) Gerade die Berücksichtigung des „Spezifischen, Konkreten, Individuellen, Besonderen“ (ebd. S. 94) sei es aber, was die durch Fotografien vermittelbare Erkenntnis auszeichne. Von der Wissenschaft werde sie jedoch „diffamiert“ (ebd. S. 150) und vom „durchschnittliche(n) Intellektuelle(n) unserer Tage“ (ebd. S. 85) „in geistiger Hinsicht nicht ernst“ genommen (ebd.). Von einer „tiefgreifenden Wandlung im abendländischen Geiste“ (ebd. S. 307) sei daher zu sprechen, „wenn das ‚Besondere’ nicht nur als Sensation für die Masse, als Futter für ein neues ‚Analphabetentum’ auftritt, sondern den Anspruch auf Erkenntniswert, auf Aussage, Dokumentation und Gültigkeit erhebt.“ (ebd. S. 70). Folgt man jedoch bspw. der „Burda Akademie zum Dritten Jahrtausend“, so ist die „tiefgreifende Wandlung im abendländischen Geiste“, von der Pawek sprach, mittlerweile Wirklichkeit geworden: „Der Paradigmenwechsel vom geschriebenen Wort zum Bild als demjenigen Medium, über das Wissenswertes kommuniziert wird, ist bereits vollzogen und lässt sich weder per Gesetz noch per Vermeidungsstrategie verhindern – ebenso wenig wie die Ausbreitung der

Problemstellung

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Schrift und des Buchdrucks oder die Verbreitung des Telefons und des Fernsehens aufgehalten werden konnten.“ (Maar 2000, S. 18 f.) Was die quantitative Dimension dieses „Paradigmenwechsels“ betrifft, so lässt sich für den Bereich der medial verbreiteten Botschaften ein Trend vom ‚Wort zum Bild’ in den letzten Jahrzehnten nicht übersehen. Vergleicht man das Medienangebot, das Paweks Zeitdiagnose im Jahr 1963 zugrunde lag und ihn zur Verwendung der Metapher von der „Bilderflut“ veranlasste (Pawek 1963, S. 14 passim), mit dem heutigen Angebot, so wird man eine fulminante Steigerung bildhafter Darstellungsformen feststellen.1 Eine ähnliche Entwicklung lässt sich für den Bereich der privaten Bildproduktion vermuten. So reportiert Mirzoeff, dass im Jahr 1991 in den USA 41 Millionen Fotos aufgenommen wurden – und zwar täglich (Mirzoeff 1999, S. 71). Was immer mit diesen Fotos geschieht, sie tragen zur Vermehrung der weltweiten Bildermenge bei. Hinzu kommen neuartige bildgenerierende Verfahren in der wissenschaftlichen Anwendung, bspw. in der Medizintechnik, die zwar nicht mehr dem engeren Bereich der Fotografie zuzurechnen sind (von dreidimensionalen Röntgenbildern über Ultraschalldarstellungen bis zu Kernspintomogrammen), die sich aber gleichwohl einer genuin bildlichen Vermittlungsweise von Wissen bedienen (vgl. Englmeier 2000). In der Metapher von der „Bilderflut“ scheint der mengenmäßige Zuwachs an Bildern seinen feststehenden Begriff gefunden zu haben.2 Die qualitative Dimension der Hinwendung zum Bild, die es erst rechtfertigen würde von einem „Paradigmenwechsel“ oder einer „tiefgreifenden Wandlung im abendländischen Geiste“ zu sprechen, wird in jüngerer Zeit unter den Stichworten des „pictorial turn“ (Mitchell 1994), des „iconic turn“ (Boehm 1994a) und des „imagic turn“ (Fellmann 1991, 1995) verhandelt.3 Durch eine 1

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3

So weitete sich in dieser Zeit der Bildanteil innerhalb bereits existierender und weiterbestehender Zeitungs- und Zeitschriftentitel (bspw. des „Spiegel“) erheblich aus – und zwar sowohl im redaktionellen Teil als auch in den Werbeanzeigen (vgl. Kroeber-Riel 1993, S. 3 ff.) Hinzu kam eine Vielzahl neuer Vertreter etablierter Mediengattungen, die gleichfalls zu einer Steigerung der Bildermenge führte: Zum einen erschienen eine Reihe neuer, stark bildlastiger Zeitschriftentitel (bspw. „Max“, „Focus“, „GEO“, „Fit for Fun“, sowie eine Fülle von reich bebilderten Titeln aus den Bereichen „Computer“ und „TV-Programm“). Zum anderen potenzierte sich in Deutschland im gleichen Zeitraum die Zahl der (bewegten) Bilder, die über das ebenfalls schon etablierte Medium „Fernsehen“ verbreitet werden, da zusätzlich zu den beiden öffentlich-rechtlichen Sendern mehrere Dutzend privater Fernsehkanäle auf Sendung gingen. Schließlich tragen in jüngster Zeit eine Reihe neuartiger Verbreitungs- und Wiedergabetechnologien (Computer, Internet, Video, DVD, Foto-Handy u.a.m.), die teilweise unter dem Begriff der „neuen Medien“ zusammengefasst werden, zu einer Vermehrung der Bilder bei. Dass die Metapher von der „Bilderflut“ mittlerweile zu einem etablierten Begriff geronnen ist, mag durch die Tatsache illustriert werden, dass eine Suchanfrage am 27.5.2001 bei Yahoo 1050 Treffer zu diesem Begriff erbrachte, knapp vier Jahre später (am 3.5.2005) bereits 67.600. Alle drei Autoren beziehen sich explizit auf den von Richard Rorty geprägten Begriff des „linguistic turn“, mit dem dieser die sprachwissenschaftliche Wende in der Philosophie des 20. Jahrhunderts bezeichnet hatte (Rorty 1967).

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

eigenartige Spannung und ein Unbehagen („peculiar friction and discomfort“; Mitchell 1994, S. 13) innerhalb der intellektuellen Debatte macht sich für Mitchell der „pictorial turn“ bemerkbar – und weniger durch das Aufkommen neuer und beeindruckender visueller Darstellungsmöglichkeiten. Die besondere Problematik von Bildern und das Unbehagen an ihnen lässt sich nach Mitchell vereinfacht auf den Begriff bringen, dass wir trotz ihrer Ausbreitung und Ubiquität „still do not know exactly what pictures are, what their relation to language is, how they operate on observers and on the world, how their history is to be understood, and what is to be done with or about them.“ (ebd.) Problematisch erscheint demnach nicht allein die Frage, was Bilder sind, sondern auch, wie mit ihnen umzugehen sei. „What ever the pictorial turn is“ – führt Mitchell daher u.a. aus – it „is the realization that spectatorship (the look, the gaze, the glance, the practices of observation, surveillance, and visual pleasure) may be as deep a problem as various forms of reading (decipherment, decoding, interpretation, etc.) and that visual experience or ‘visual literacy’ might not be fully explicable on the model of textuality.“ (Mitchell 1994, S. 16) Zum „pictorial turn“ gehört demnach das Problembewusstsein dafür, dass es unterschiedliche Modi der Bildbetrachtung gibt, die sich nicht vollständig in Sprachlichkeit überführen lassen. Auch nach Ansicht Gottfried Boehms wirft die „diffuse Allgegenwart des Bildes“ (ders. 1994a, S. 11) eine Reihe elementarer Fragen auf: „Was macht Bilder sprechend? Wie lassen sich der Materie (der Farbe, der Schrift, dem Marmor, dem Film, der Elektrizität etc.) aber auch dem menschlichen Gemüt Bedeutungen überhaupt einprägen? Wie verhält sich das Bild (und mit ihm alle nicht-verbalen Ausdrucksformen der Kultur) zur alles dominierenden Sprache?“ (ebd.) Wie Mitchell macht Boehm seinen „iconic turn“ nicht ausschließlich am Bild fest, sondern gleichfalls am Umgang mit dem Bild, an der Relation von Bild und Betrachter und damit am Akt des Sehens, dessen Geschichte er – auch darin zeigt sich eine Parallele zu Mitchell – als „immer noch kryptisch“ bezeichnet (Boehm 1994a, S. 17). Die Wendung zum Bild ist somit zugleich von einer gewissen Ratlosigkeit begleitet. Aufklärung sucht Boehm bei den Vorläufern des „iconic turn“, die er bereits im 19. Jahrhundert ausmacht. So verweist er auf den Kunsthistoriker Konrad Fiedler (1841-1895), dem das Verdienst zukomme, das Sehen aus seiner passiven Rolle befreit und es als „aktive und insoweit selbstbestimmte Tätigkeit“ beschrieben zu haben (Boehm 1994a, S. 17). Sehen sei daher nicht als „photographischer Abbildungsprozess“ (ebd.) zu beschreiben. Verfolgt man die Argumentation Fiedlers weiter, so ergibt sich aus dem aktiven und produktiven bzw. konstruktiven Sehen, dass die Wahrnehmungserlebnisse durch keine äußere Wirklichkeit determiniert werden, sondern „erst mit unserem eigenen Dasein das gegeben ist, was wir als vorhanden anzu-

Problemstellung

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sprechen vermögen. (...) Nicht dem Menschen, sondern durch den Menschen offenbart sich alles, was wir meinen können, wenn wir von Natur, Seiendem, Wirklichkeit, Welt reden.“ (Fiedler 1887, S. 185 f.)4 Als wichtige Wegbereiterin des „iconic turn“ im 20. Jahrhundert nennt Boehm (wie auch Mitchell) die Phänomenologie, insbesondere in der Spielart Merleau-Pontys. Dessen Beitrag zum „iconic turn“ sieht Boehm vor allem darin, dass er das Verhältnis von Bild und Auge neu gedacht habe. Merleau-Ponty habe dabei mit dem naiven Alltagsverständnis gebrochen, demzufolge der Sehende der Realität als einem Objekt gegenüber stehe. Als leiblich Handelnder sei der Sehende vielmehr in die Welt eingebunden. Damit verliere das Sehen „seine konstruktive Statik und technische Abstraktheit, – gewinnt die ihm eigentümliche Prozessualität zurück, seine Einbindung in den Körper, dessen Augen sehen.“ (Boehm 1994a, S. 19) Sehen wird demnach wesentlich körperlich betrachtet. Es ist auf die handelnde Auseinandersetzung des Körpers mit der Welt bezogen. Sehen und körperliche Bewegung greifen ineinander: Zum einen, da der Körper selbst Teil der sichtbaren Welt ist, zum andern, da Sehen sich in Bewegung – der Augen und des ganzen Körpers – vollzieht. „Dieses erstaunliche Ineinandergreifen von Sehen und Bewegung, an das man nicht genug denkt, verbietet es, das Sehen als Denkoperation aufzufassen, die vor dem Geist ein Bild oder eine Darstellung der Welt aufbauen würde, einer Welt der Immanenz und der Ideen.“ (Merleau-Ponty 1984a, S. 16) Den Ertrag eines solcherart konzipierten, körperlichen Sehens sieht Boehm darin, dass es den Zugang zur Wirklichkeit gestalte, „ohne sich in die Aporien der Selbstreflexion zu verstricken und sich dem Begriff zu unterwerfen, aber auch ohne zur Fabel reiner Ursprünglichkeit Zuflucht zu nehmen. Das Auge erschließt sich eine prae- oder nonverbale Sinnwelt, deren Reichtum nur unvollkommen in Sprache übersetzt werden kann.“ (Boehm 1986, S. 296) Wie Mitchell verbindet Boehm mit der „Wende zum Bild“ somit die Möglichkeit eines Erkenntnisgewinns, der sich begrifflichem Denken widersetzt (bzw. – in der Diktion Paweks – sich gegen die „Begriffs-Diktatur“ auflehnt) und nicht ohne Verlust in Sprache überführt werden kann (vgl. Boehm 1994a, S. 11). Mit der Betonung der Körperlichkeit des Sehens und der Ablehnung der „Fabel seiner reinen Ursprünglichkeit“ stellt sich die weitergehende Frage nach dem – räumlich, historisch und sozial zu bestimmenden – Standort des Körpers und der damit verbundenen spezifischen Perspektive des Sehens. Diesen Punkt behandelt Boehm jedoch nicht.

4

An anderer Stelle hält Fiedler zum produktiven Sehen fest: Alles „was jenseits der Sinnesempfindung vorausgesetzt werden mag, kann nicht anders, als unzugänglich gedacht werden; alles was diesseits der Sinnesempfindung wahrgenommen wird, ist bereits ein Produkt der menschlichen Natur.“ (Fiedler 1879, S. 73)

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

Eine körperliche Komponente verbindet auch Ferdinand Fellmann mit seinem Begriff des „imagic turn“. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Problemstellungen (philosophische Hermeneutik 1991, Kognitionswissenschaft 1995) versteht er unter „imagic turn“ ganz allgemein die „Hinwendung (...) zum Thema Bildlichkeit“ (ders. 1995, S. 21). Die verstärkte Thematisierung von Bildern sei jedoch nicht nur auf die „Bilderflut“ durch die elektronischen Medien zurückzuführen (Fellmann 1995, S. 22). Fellmann konstatiert vielmehr ebenfalls eine qualitative Veränderung, einen „Wandel des Menschenbildes“, der eine „signifikante Verschiebung in der Theorie des Geistes“ nach sich ziehe (ebd.): „Gegenüber der rationalistischen Auffassung vom Menschen als Vernunftwesen und dem damit verbundenen logozentrischen Mentalismus setzt sich immer mehr die Einsicht durch, dass der Mensch als körperliches Wesen aus dem Wechselspiel von triebhaftem Willen und Umwelt lebt und dass folglich geistige Funktionen nicht mehr unabhängig von der körperlichen Organisation begriffen werden können. Die Entdeckung der geistigen Dimension des Körpers führt immer mehr zu der Überzeugung, dass weder Empfindungen noch Begriffe, sondern Bilder die fundamentale Schicht der Kognition ausmachen.“ (ebd.)

Als körperliches Wesen denkt der Mensch demnach „in Bildern“. Mit der „visuellen Wende“ werde daher zugleich die Vorstellung verknüpft, dass Bilder sich in vielen Bereichen besser als Worte eignen, um Wissen zu vermitteln (Fellmann 1998, S. 187). Auch wenn Pädagogik und andere mit der Wissensvermittlung beschäftigte Disziplinen sich diese Auffassung zu Eigen und sich diverse Bildtechniken zunutze gemacht habe, sei aber dennoch Skepsis an den Möglichkeiten von Bildern zur Wissensvermittlung angebracht: „Ein Bild sagt zwar mehr als tausend Worte, aber gerade deshalb sagt es oft zu viel. Es lenkt vom Wesentlichen ab und schränkt die Fähigkeit zur Abstraktion ein, auf die wir in den Wissenschaften angewiesen sind.“ (ebd.) Begriffliches Denken lässt sich demnach nicht vollständig durch bildliches Denken ersetzen. Anders ausgedrückt: Die Erfordernisse wissenschaftlicher Erkenntnis kollidieren mit der bildlich-körperlichen Struktur menschlichen Denkens. Im Zusammenhang mit der Vermittlung von Wissen sieht Fellmann demnach jene Vielschichtigkeit von Bildern, die Pawek positiv vermerkt hatte, als problematisch an. Aus der Perspektive Paweks könnte ihm diese kritische Einschätzung daher als ‚Diffamierung’ von Bildern durch das wissenschaftliche Denken ausgelegt werden. Nach Ansicht Fellmanns sei es fraglich, ob nur deshalb, weil bildliche Vermittlungsformen von Wissen neben begriffliche Formen treten (diese aber nicht ablösen), von einer „visuellen Wende“ die Rede sein könne. Symptomatisch für diese kritische Einschätzung von Bildern ist auch der alarmierende Unterton in der – von Pawek noch positiv konnotierten – Metapher

Problemstellung

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von der „Bilderflut“: Das sprachliche Bild der „Bilderflut“ erweckt die Vorstellung einer lebensbedrohlichen Welle, die alles, was lieb und teuer ist, hinwegspült und gegen die es daher Dämme zu errichten gilt. Ohne auch nur annähernd einen Überblick über die apokalyptischen Visionen von der „Bilderflut“ innerhalb der Medien- und Kulturkritik geben zu können, sei exemplarisch auf Vilém Flussers Schreckensszenario verwiesen: „Was so entsetzlich an der Bilderflut ist, sind drei Momente: dass sie an einem für ihre Empfänger unerreichbaren Ort hergestellt werden, dass sie die Ansicht aller Empfänger gleichschalten und dabei die Empfänger füreinander blind machen und dass sie dabei realer wirken als alle übrigen Informationen, die wir durch andere Medien (inklusive unserer Sinne) empfangen. Das erste besagt, dass wir den Bildern verantwortungslos, aller Antwort unfähig gegenüberstehen. Das zweite, dass wir dabei sind zu verdummen, zu vermassen und allen menschlichen Kontakt zu verlieren. Und das dritte, dass wir die weitaus meisten Erlebnisse, Kenntnisse, Urteile und Entscheidungen den Bildern zu verdanken haben, dass wir demnach von den Bildern existentiell abhängig sind.“ (Flusser 1996a, S. 85)

Nicht neuartige und von einer „Begriffs-Diktatur“ bislang unterdrückte Erkenntnisse und Erfahrungen jenseits der Sprachlichkeit werden demnach durch die Flut der Bilder ermöglicht, sondern Verantwortungslosigkeit, Sprachlosigkeit, Verdummung, Vermassung, Isolation und Abhängigkeit sind deren Auswirkungen. Gerade darin besteht nach Ansicht Mitchells das Paradox der gegenwärtigen Situation, das zum Virulentwerden des „pictorial turn“ geführt habe: Einer Furcht vor den Bildern, die so alt ist wie die Bilder selbst, stehen nun die Möglichkeiten ihrer technischen Realisierbarkeit gegenüber: „The fantasy of a pictorial turn, of a culture totally dominated by images, has now become a real technical possibility on a global scale.“ (Mitchell 1994, S. 15) Die „Wende zum Bild“ wird somit von sehr unterschiedlichen Erwartungen begleitet. Zumindest hinsichtlich ihrer quantitativen Dimension sind sich ‚Ikonophile’ und ‚Ikonophobe’ einig, dass die Wende flutgleich über uns hereinbricht. Ob mit dem „pictorial turn“ auch ein neues Zeitalter anbricht – diese Frage, die wohl überhaupt erst aus der Rückschau zu beurteilen sein wird (vgl. Boehm 1994b, S. 325), soll hier nicht beantwortet werden. Auch soll nicht geklärt werden, ob Bilder ‚verdummen’ oder zu neuen Erkenntnissen führen. Statt sich mit längerfristigen Wirkungen oder epochalen Verschiebungen zu beschäftigen, erscheint es vielmehr sinnvoll, mit der Analyse sozusagen einige Schritte zurückzugehen und zunächst zu fragen, wie Menschen sich mit Bildern auseinandersetzen. Diese Auseinandersetzung soll unter dem Aspekt der Rezeption beleuchtet werden, bei der Bilder als prinzipiell sinnvoll erlebt werden. Damit soll die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass Bildrezeptionsprozesse auch in Aporien münden, bei denen sich der Sinn eines Bildes nicht erschließt. An einige Überlegungen zum „pictorial“, „iconic“ bzw. „imagic turn“ soll im Folgenden angeschlossen werden, da sie den zeitdiagnostischen Hintergrund der

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

Untersuchung bilden. Sie werden im Folgenden schrittweise zu entfalten und zu explizieren sein. 1.1.1 Der Sinn des Bildes und die Aktivität der Rezipierenden Wendet man sich der Frage nach dem Sinn eines gegenständlichen Bildes, insbesondere einer Fotografie zu, dann stößt man auf ein merkwürdiges Phänomen: Einerseits ist es unmittelbar evident, was auf dem Bild ‚drauf’ ist, d.h. der Referentenbezug des Bildes ist ‚auf einen Blick’ ohne besonderes Vorwissen durch Wiedererkennen herzustellen: Auf einer Postkarte mit dem Eiffelturm erkennt man mühelos das entsprechende Bauwerk wieder. Die Frage nach dem Sinn des Bildes erscheint in dieser Perspektive möglicherweise trivial. Da ein Foto in bestimmten Aspekten eine Ähnlichkeit aufweist mit dem, was es abbildet – dieser kontrovers diskutierte Punkt wird unter 1.2.1.2 ausführlicher erörtert werden –, erlaubt es eine leichte Wiedererkennbarkeit des Abgebildeten. Eine besondere Kompetenz zum „Bilderlesen“ ist dafür nicht erforderlich.5 In dieser Hinsicht fungiert ein Bild als Abbild. Boehm stellt fest, dass sich Abbilder darin erschöpfen, „existierende Dinge oder Sachverhalte nochmals zu zeigen“ (Boehm 1994a, S. 16) Dabei würden sie sich als „eine Art Double der Sache darbieten“ (ebd.). Diesen Darstellungsmodus machen sich Pass- und Fahndungsfotos zunutze, aber auch Abbildungen in Prospekten, Katalogen und auf Internetseiten. Weil die Abbildungen eine Ähnlichkeit mit den abgebildeten Personen oder Objekten aufweisen, erkennt man Menschen auf der Straße, die man bislang nur von Fotos in der Zeitung kannte, und kann sich ein Möbelstück per Katalog bestellen, ohne bei der Lieferung völlig von seinem Aussehen überrascht zu werden. Die anschauliche Evidenz eines Fotos wird durch die Aufnahmetechnik ‚verbürgt’. Geradezu einen „Zwang zur Evidenz“ (Pawek 1963, S. 58) übe die Fotografie auf den Betrachter aus, „weil in ihren Vorgang etwas eingeschaltet ist, das jeder Idealität entzogen ist und das abseits vom Geiste sich vollzieht, jener winzige, aber unentbehrliche mechanische Vorgang, der entscheidet, ob eine photographische Aufnahme gemacht wurde oder nicht, nämlich jener das Bild zeichnende Einfall des Lichtes auf ein lichtempfindliches Material in der Kamera.“ (ebd.) Aufgrund dieses Wissens über das fotochemische Aufzeichnungsverfahren wird einem Foto oftmals ein „truth factor“ (vgl. Fiske 1990, S. 96) zugesprochen. Da ein Foto scheinbar rein technisch, ohne das manipulieren5

Verwechslungen sind dabei im gleichen Umfang möglich wie im Umgang mit der Wirklichkeit: Genauso wie ich Herrn X mit Herrn Y verwechseln kann, kann ich ein Foto, das Lichtreflexe von Herrn X fixiert, für ein Foto von Herrn Y halten.

Problemstellung

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de Eingreifen eines Menschen hergestellt wird, zeigt es vermeintlich die ‚objektive Wahrheit’. Fotos scheinen „die Realität der von ihnen gemeinten Vision zu beglaubigen.“ (Kracauer 1993 S. 401 f.) Nach Roland Barthes vermittelt ein Foto die Gewissheit des „es ist so gewesen“ (Barthes 1989, S. 117). Darin liege für jeden Betrachter eines Fotos „ein ‚fundamentaler Glaube’, eine ‚URDOXA’, die nichts zerstören kann, es sei denn, man beweist mir, dass dieses Bild keine Photographie ist.“ (ebd., Herv. i. Orig.)6 Da das Vertrauen in den „truth factor“ bzw. in das „es ist so gewesen“ der Fotografie vom Wissen über den fotografischen Herstellungsprozess abhängt, dürfte es abnehmen, wenn sich die Kenntnis über (elektronische) Möglichkeiten der Bildbearbeitung, -verfremdung und erzeugung weiter verbreitet. Auch wenn dieser Art bearbeitete oder erzeugte Bilder nicht mehr unbedingt als „Fotografien“ zu bezeichnen sind, können sie dazu beitragen, das Vertrauen in ‚echte’ Fotos zu erschüttern. Denn für den Betrachter sind dann Bilder, die aufgrund ihres fotochemischen Herstellungsprozesses in einem kausalen Verhältnis zu ihrem Referenten stehen, nicht ohne weiteres zu unterscheiden von Bildern, die bspw. elektronisch erzeugt wurden und daher einen fingierten Referentenbezug haben. Wenn der Betrachter im Unklaren darüber ist, welcherart Bild er vor sich hat, wird er mit seinem Vertrauen in die technisch verbürgte Authentizität des Dargestellten vermutlich zurückhaltender sein (vgl. Pietraß 2003). Auf der anderen Seite zeichnen sich Fotografien außer durch ihre visuelle Evidenz und unmittelbare Anschaulichkeit durch eine Unabgeschlossenheit bzw. „Offenheit“ des Sinns aus. Oben wurde bereits auf die „Vielschichtigkeit“ von Fotografien (Pawek) und ihren Bedeutungsüberschuss hingewiesen, der daraus resultiere, dass ein Foto „zuviel“ zeigt (Pawek, s.o.; Fellmann, s.o.). Aber nicht nur durch ein „Zuviel“ an Sichtbarkeit entziehen sich Fotos einer eindeutigen Definierbarkeit ihrer Bedeutung (Pawek). Nach Barthes kommt ihnen auch eine grundsätzliche „Vieldeutigkeit“ zu: „Jedes Bild [ist] polysemisch“ (Barthes 1990b, S. 34) stellt er apodiktisch fest und wirft die eingangs bereits zitierte Frage auf: „Wie gelangt der Sinn in das Bild?“ (ebd. S. 28). Damit grenzt er sich implizit von substantialistischen Auffassungen des Sinns ab (vgl. Warning 1975, S. 9 passim).7 Der Sinn ist in dieser Perspektive demnach keine Entität, die fest und unveränderlich ‚im’ Bild angelegt wäre und in eindeutiger und gleichblei6 7

Dass dieser Vertrauensvorschuss gegenüber dem fotografischen Bild zu Zwecken der Lüge und Manipulation ausgenutzt werden kann, muss nicht eigens betont werden und soll im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter vertieft werden (vgl. dazu Nöth 1997a; Doelker 1997, S. 23 ff.). Der substantialistische Sinnbegriff ist als „Container-Modell“ der Bedeutung vielfältig kritisiert worden. Es geht von der Annahme aus, dass der Sinn vom Produzenten einer Botschaft (eines Bildes, Sprachtextes, Filmes etc.) in die Botschaft wie in einen „Container“ hineingelegt und zum Rezipierenden „rübergeschoben“ wird, der den Sinn dann unverändert wieder herausnimmt (Vgl. Brinker/Sager 1989, S. 126 f.; Krippendorff 1994, S. 86 f.; Holly 1995, S. 118; Lakoff/Johnson 1998, S. 18 ff. sowie hier 1.4.1.1).

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

bender Weise von den Rezipierenden dem Bild ‚entnommen’ werden könnte. Der Zusammenhang von Bild und Sinn ist vielmehr ‚fragwürdig’, auf irgendeine Weise muss der Sinn erst mit dem Bild in Verbindung gebracht werden. Ein Bild, das auf der abbildlichen Ebene bspw. einen unrasierten Mann mit Zigarette und breitkrempigem Hut zeigt, gibt von sich aus keinen Hinweis darauf, ob es sich um einen Landstreicher, den „edlen Wilden“ oder den „Marlboro-Cowboy“ handelt. Ein Foto von einem Mann mit Helm, der mit einem Knüppel auf eine am Boden liegende Person einschlägt, lässt es offen, ob hier ein behelmter Demonstrant einen Polizisten verletzt, ob ein Polizist mit Helm einen Demonstranten schlägt, ob sich dies in einem demokratischen Rechtstaat zuträgt und als legitimes Durchsetzen des staatlichen Gewaltmonopols anzusehen ist oder als gesetzeswidriger Übergriff, oder ob es sich um eine brutale Unterdrückungsmaßnahme in einem diktatorischen Gewaltregime handelt.8 Obwohl der visuelle Sachverhalt auf der abbildlichen Ebene eindeutig ist, kann es zu unterschiedlichen Bilddeutungen kommen, der Sinn des Bildes ist offen. Trotz und wegen der Offenheit des Bildsinns sind diese und weitere Lesarten des Bildes möglich. Die Offenheit des Sinns bedeutet daher nicht die Abwesenheit von Sinn, sondern ermöglicht vielmehr eine Vielfalt von Sinnbildungen. Mit ihnen wird die reine Abbildungsebene überschritten. Man kann daher zwischen dem Bild als Abbild und dem Bild als Sinnbild unterscheiden. Fotografien zeichnen sich demnach durch eine eigentümliche Kombination von Informationsreichtum und ikonischer Exaktheit auf der einen Seite und semantischer Unbestimmtheit bzw. Mehrdeutigkeit auf der anderen Seite aus. Diese für Fotografien charakteristische Dualität von abbildlicher Prägnanz und sinnbildlicher Unbestimmtheit sieht John Berger darin begründet, dass Fotografien keine „Deutung“ der von ihnen abgebildeten Szene darstellten, sondern eine (fotochemische) „Spur“. Daher fixierten sie keine Bedeutungen, sondern Erscheinungen (vgl. Berger 1991, S. 54 f.): „photographs do not in themselves preserve meaning. They offer appearances – with all the credibility and gravity we normally lend to appearances – prised away from their meaning. Meaning is the result of understanding functions.” (Berger 1991, S. 55) Der Sinn einer Fotografie ist demnach das Ergebnis des Verstehensprozesses. Erst im Verstehensakt gelangt der Sinn in das Bild. Der Sinn ‚existiert’ daher nicht vor dem Ver8

Bei Wittgenstein finden sich weitere Beispiele: „Denken wir uns ein Bild, einen Boxer in bestimmter Kampfstellung darstellend. Dieses Bild kann nun dazu gebraucht werden, um jemand mitzuteilen, wie er stehen, sich halten soll; oder, wie er sich nicht halten soll; oder, wie ein bestimmter Mann dort und dort gestanden hat; oder etc. etc.“ (Wittgenstein 1995, S. 249, PU § 22) Ebenfalls in den Philosophischen Untersuchungen: „Ich sehe ein Bild: es stellt einen alten Mann dar, der auf einen Stock gestützt einen steilen Weg aufwärts geht. – Und wie das? Konnte es nicht auch so aussehen, wenn er in dieser Stellung die Straße hinunterrutschte? Ein Marsbewohner würde das Bild vielleicht so beschreiben. Ich brauche nicht zu erklären, warum wir es nicht so beschreiben.“ (ebd. S. 309, PU § 140b)

Problemstellung

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stehen und ‚wartet’ nicht ‚abholbereit’ im Bild auf die Rezipierenden. Verstehen ist daher – eine Formulierung Gadamers aufgreifend – nicht als ein „Finden von Sinn“ im Bild zu betrachten, sondern als ein „Einlegen von Sinn“ (Gadamer 1983, S. 150 f.). In semiotischer Terminologie lässt sich dies so ausdrücken, dass den bildlichen Signifikanten im Rezeptionsprozess Signifikate zugeordnet werden. Bei den Signifikanten handelt es sich um das Bild als materiellen Zeichenträger, beim Signifikat um den Zeicheninhalt als immaterielle „Vorstellung“ (vgl. Nöth 2000, S. 74 f.). Das Signifikat darf somit nicht mit dem dingweltlichen Objekt (dem „Referenten“) gleichgesetzt werden, auf das ein Zeichen verweist. Aus der Kombination von Signifikant und Signifikat resultiert der Sinn (vgl. Fiske 1990, S. 106; Eco 1977a; S. 112; Nöth 1985, S. 92). Der Sinn ist demnach konstitutiv auf den Beitrag der Rezipierenden angewiesen: Sie verbinden die bildlichen Signifikanten im Rezeptionsprozess mit Signifikaten. Die Bilder selbst bieten lediglich den „Anlass“ (vgl. Winter 1992, S. 24) komplexerer Sinnzuschreibungen, die über die reine Abbildlichkeit hinausgehen. Der aktive Beitrag der Rezipierenden zur Sinnbildung steht daher auch im Zentrum der Rezeptionsforschung und bildet eine ihrer wesentlichen Prämissen (vgl. Livingstone 1996, S. 165; Hasebrink/Krotz 1996, S. 7; Charlton 1997, S. 16). Der Zusammenhang von Signifikant und Signifikat, der von den Rezipierenden aktiv herzustellen ist, wird in der Zeichentheorie Ferdinand de Saussures als „arbiträr“, d.h. als „willkürlich“ gedacht (vgl. Saussure 1967, S. 79 ff.). Als „willkürliches Prinzip“ (Jakobson 1962, S. 428) bezeichnet jedoch Roman Jakobson Saussures Prinzip von der „Willkürlichkeit des Zeichens“. Der Zusammenhang von Signifikant und Signifikat sei nicht arbiträr, sondern eine „gewohnheitsmäßige, erlernte Kontiguität, die für alle Mitglieder der gegebenen Sprachgemeinschaft obligat ist.“ (ebd.) Für sprachliche Zeichen illustriert Jakobson dies so: „Es ist durchaus nicht willkürlich, sondern schlechthin obligat, im Französischen für ‚Käse’ fromage und im Englischen cheese zu sagen.“ (ebd.) Die Verknüpfung von Signifikant und Signifikat ist demnach durch Lernen und Gewohnheitsbildung konventionalisiert und im Rahmen einer Gemeinschaft von Zeichenverwendern sozial fundiert. Der sinnhafte Zusammenhang von Signifikant und Signifikat beruht auf den Konventionen einer sozialen Gemeinschaft. Daran anschließend ist zu fragen, wie der Sinn bei Fotografien (auf sinnbildlicher Ebene) durch Konventionen geregelt wird, d.h. wie ‚Bildgemeinschaften’ die Zuordnung von Signifikant und Signifikat sanktionieren.9 Diese 9

Fotografien ließen sich dann allen drei Kategorien im Zeichenmodell von Charles S. Peirce zuordnen: Aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit dem Gegenstand, auf den sie sich beziehen, können sie auf der abbildlichen Ebene als Ikons bezeichnet werden. Als fotochemische „Spur“ (Berger) stehen sie zu dem Gegenstand, den sie zeigen, in einem kausalen Verhältnis und können daher als Index betrachtet werden. Regeln schließlich auf sinnbildlicher Ebene Konventionen die Relation von Signifikant und Signifikat, so kann die Fotografie auch der Kategorie des

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

Frage lässt sich weiter differenzieren: Kommt es bei unterschiedlichen ‚Bildgemeinschaften’ zu unterschiedlichen Sinnbildungen, mithin zu einer Pluralität von Sinnbildungen? Wodurch konstituieren sich ‚Bildgemeinschaften’, welche Reichweite und welchen Kollektivitätsgrad haben sie? Zudem stellt sich die Frage, wie die Konventionen einer ‚Bildgemeinschaft’ das sinnhafte Erleben von Fotografien durch den einzelnen Akteur „infiltrieren“, d.h. wie die subjektiven Sinnzuweisungen gesellschaftlich durchwirkt sind. Denn schließlich wird das Signifikat – gemäß kultureller Konventionen – im Erleben der Rezipierenden mit dem Signifikanten verknüpft. 10

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Symbols zugeordnet werden (vgl. Peirce 1983, S. 65; Jakobson 1964/67, S. 288; Eco 1977b, S. 62 f.). An dieser Stelle kreuzen sich semiotische und phänomenologische Fragestellungen. Eine Verschränkung dieser beiden Perspektiven scheint bei der Beschäftigung mit dem Thema „Bildrezeption“ hilfreich, wenn nicht gar unerlässlich zu sein. „Nur ein zeichentheoretisches und phänomenologisches Bildverständnis“, so argumentiert Martin Seel – „wird dem Phänomen des Bildes gerecht“ (Seel 2000, S. 284). Obwohl von phänomenologischer Seite teilweise der Auffassung widersprochen werde, dass Bilder immer auch Zeichen seien – sie gestehe lediglich zu, dass Bilder Zeichen sein können (Seel 2000, S. 282; Wiesing 1998, S. 95) –, ist Seel der Ansicht, dass zwischen phänomenologischen und semiotischen Ansätzen zur Bildtheorie „kein echter Widerstreit“ (Seel 2000, S. 281) besteht. Auch Sachs-Hombach und Rehkämper postulieren eine Vereinbarkeit von „perzeptuellen“ und „zeichentheoretischen“ Ansätzen (dies. 1999, S. 13) und plädieren für ihre Zusammenführung in einer „übergreifenden Theorie“ (ebd.). Eine Zusammenführung von Phänomenologie und Semiotik ist aber insofern hinfällig, als die beiden Ansätze bereits über vielfältige Berührungspunkte verfügen. So weist Holenstein auf die Bedeutung hin, die Husserl für Jakobson gespielt hat (Holenstein 1975, S. 55 ff.) und führt aus, dass Jakobsons Strukturalismus das „Rüstzeug“ (ebd., S. 14 f.) dafür biete, die gleiche Problematik, die die Phänomenologie vorwiegend in psychologischen Begriffen beschrieben habe, nunmehr semiotisch zu fassen. „Der Ausgangspunkt der Transzendentalphilosophie ist die Feststellung, dass alles Bewusstsein ‚Bewusstsein von etwas’ ist und dass uns die Welt prinzipiell nicht anders gegeben sein kann als in einer subjektiven Erscheinungsweise, als wahrgenommene, erinnerte, phantasierte, gedachte oder sonstwie bewusste. Vom Strukturalismus wird der Blick auf die wurzelhafte Gebundenheit der subjektiven Konstitution der Welt an Zeichensysteme gelenkt.“ (ebd. S. 15) Intentionalität kann demnach als zeichenhafter Prozess beschrieben werden – ein Gedanke, der in Abschnitt 1.4 unter Bezug auf den relationalen Sinnbegriff in Alfred Schütz´ phänomenologischer Soziologie wieder aufgenommen wird. In vergleichbarer Weise hat auch Münch Husserls Konzept der Intentionalität zeichentheoretisch gedeutet und auf Husserls Beschäftigung mit semiotischen Fragestellungen hingewiesen (Münch 1993, S. 116 ff.). Wie beim Zeichen sei bei Intentionen eine sinnliche Grundlage gegeben, die ihnen als Anhalt diene und der beim Zeichenmodell der Signifikant entspreche. Die sinnliche Grundlage werde durch die Intention auf einen gemeinten Gegenstand bezogen, der mit dem Signifikat gleichzusetzen sei (Münch 1993, S. 218 f.). Umgekehrt entwickelte Merleau-Ponty seinen phänomenolgischen Bildbegriff in Auseinandersetzung mit der Zeichentheorie Saussures und griff seinen Gedanken von der Dualität des Zeichens auf (vgl. Merleau-Ponty 1984b, insbes. S. 75; Boehm 1994a, S. 21; Boehm 1986, S. 300 ff.). Darin sieht Seel auch den gemeinsamen Nenner von phänomenologischen und semiotischen Bildtheorien: „Bilder sind überschaubare Flächen, die etwas sichtbar machen – auf diese Basisformel könnten sich beide Seiten einigen.“ (Seel 2000, S. 281)

Problemstellung

1.1.2

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Die Interaktion von Bild und Rezipierenden im Focus der Rezeptionsforschung

Der Aktivität der Rezipierenden kommt insbesondere dann eine entscheidende Rolle zu, wenn das Bild nicht als Abbild, sondern als Sinnbild betrachtet wird, d.h. wenn mit ihm Signifikate nicht aufgrund einer Ähnlichkeitsrelation, sondern auf der Basis von Konventionen im Erleben der Rezipierenden verknüpft werden. In dieser Interaktion von Bild und Rezipierenden, in der die Rezipierenden Signifikate an die Signifikanten des Bildes herantragen, entsteht der Sinn. Sie ist deshalb für die Rezeptionsforschung zentral (vgl. Charlton 1997, S. 16; Livingstone 1996, S. 165 f.).11 In der Vorstellung von der Interaktion als dem Ort der Sinnerzeugung fließen zugleich mehrere Forschungstraditionen zusammen, die sich in unterschiedlicher Weise mit der Rezeption von „Botschaften“ beschäftigen. Als Oberbegriff für alle denkbaren Arten von Botschaften – vom Buch über Zeitungen, Fernsehsendungen, Radiofeatures, Musikvideos, Kinofilmen, bis zu Internetpages und noch weiter – hat sich der Begriff des „Textes“ eingebürgert (vgl. Livingstone 1995, S. 65). Dass auch Fotografien als Texte zu beschreiben sind, wird unter 1.2.2 ausführlich diskutiert. Als Terminus für die Rezipierenden hat sich der Begriff des „Lesers“ etabliert – egal, ob es sich um die Leser von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen handelt oder aber um die Zuschauer von Fernsehsendungen, Kinofilmen, die Hörer von Radiosendungen, die User von Computerprogrammen oder die Betrachter von Bildern (vgl. Charlton 1997, S. 16 f.; Jäckel/Peter 1997, S. 52; Livingstone 1996, S. 165; Winter 1992, S. 24). „Text“ und „Leser“ sind demnach die beiden Faktoren, aus deren Interaktion der Sinn hervorgeht. Die Analyse der beiden Faktoren fiel lange Zeit in die Zuständigkeitsbereiche je unterschiedlicher Disziplinen, wodurch eine Perspektivierung auf ihre Interaktion erschwert und verzögert wurde. Die Texte wurden in erster Linie von den Geisteswissenschaften, die Rezipierenden bevorzugt von den Sozialwissenschaften untersucht, wobei jede Seite dazu neigte, den jeweiligen Gegenpol als unveränderlich und abstrakt zu betrachten bzw. als blinden Fleck vollkommen zu vernachlässigen (vgl. Livingstone 1995, S. 85; Ludes/Schütte 1997; Faulstich 1998a; Schmidt 2000, S. 72 ff.). Aus einer geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Texten erwuchsen die eher textorientierten „Medienwissenschaften“, aus der sozialwissenschaftlichen, insbesondere quantitativ verfahrenden Beschäftigung mit den Rezipierenden entwickelte sich die Kommunikationswissenschaft (vgl. Ludes/Schütte 1997, insbes. S. 37 ff.; Faulstich 11

„In general, studies of reception focus on the interaction between audience and message as the central locus of meaning production. This interaction can be considered central in a theoretical as well as a practical respect.“ (Jensen 1986, S. 78).

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

1998a). Während die geisteswissenschaftlichen „Textwissenschaften“ dazu tendierten, sich in philologisch-hermeneutischer Perspektive mit der Interpretation „werkimmanenter“ Sinnstrukturen zu befassen und dabei den sinnkonstruierenden Beitrag der Rezipierenden zu übersehen (vgl. Warning 1975; Jensen/Rosengren 1990, S. 216 f.; Schanze 1997, S. 193 f.), betrachteten die sich am naturwissenschaftlichen Exaktheitsideal orientierenden Sozialwissenschaften den Text überwiegend als Stimulus, der als unabhängige Variable allenfalls quantitativ (inhaltsanalytisch) untersucht wurde (vgl. Weidenmann 1988, S. 72; Faulstich 1991, S. 150 f.; Livingstone 1995, S. 65; Maletzke 1998, S. 49 f., vgl. ebd. S. 175 ff.; hier 1.2.2). So lassen sich auch die Traditionen der Rezeptionsforschung etwas vergröbernd in einen geisteswissenschaftlichen und einen sozial-wissenschaftlichen Flügel aufteilen (vgl. Jensen 1996). Beide Richtungen öffneten sich jedoch für die jeweilige ‚Gegenseite’ und begannen Texte und Rezipierende in ihrem Zusammenspiel in den Blick zu nehmen. Livingstone nennt als einen wichtigen Impulsgeber für diese Öffnung Umberto Eco und seine literaturwisssenschaftliche Arbeit „The Role of the Reader“ von 1979 (Livingstone 1996, S. 163), in der er festgestellt hatte: „Die Zusammenarbeit des Lesers vorauszusetzen bedeutet nicht, die strukturelle Analyse durch außertextuelle Elemente zu entweihen. Der Leser als aktive Hauptperson der Interpretation ist ein Teil des Bildes des generativen Prozesses des Textes.“ (dt. Eco 1995a, S. 192) Den Beitrag der Rezipierenden als konstitutiv für den Sinn eines (Medien-) Textes erkannt zu haben, hält Livingstone (dies. 1996, S. 163) daher für einen wesentlichen Entwicklungsschritt bei der Konvergenz von (geisteswissenschaftlicher) Medienwissenschaft und (sozialwissenschaftlicher) Kommunikationswissenschaft. Für die Forschungspraxis postuliert sie daher: „Texte und Leser können nicht mehr als unabhängig voneinander angesehen und separat betrachtet werden, denn sie sind interdependente, aufeinander bezogene, gemeinsame Produzenten von Bedeutung, wobei Texte nicht festgelegt und abgeschlossen und die Zuschauer nicht nur aktiv oder passiv sind.“ (ebd., S. 172) Unter dem Begriff der „Social Semiotics“ plädiert Jensen für eine Konvergenz der beiden Forschungstraditionen. Nur so seien medial vermittelte Kommunikationsprozesse adäquat zu untersuchen. Denn: „Mass communication is embedded in material social institutions and practices; it also works through language, pictorial signs, and other semiotic systems.“ (Jensen 1996, S. 63) Als besonders fruchtbaren Beitrag der Geisteswissenschaften sieht Jensen ihre „emphatische“ Hingabe an die Sprachanalyse und die Entwicklung eines entsprechenden Untersuchungsinstrumentariums an (Jensen 1991, S. 18). Davon könne eine an der Interaktion von Text und Lesern interessierte Rezeptionsforschung in doppelter Hinsicht profitieren. Zum einen ermögliche das elaborierte Analy-

Problemstellung

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seinstrumentarium der Geisteswissenschaften eine differenzierte Untersuchung des Interaktionsfaktors „Text“ – allerdings, so merkt Jensen an, führe die Sprachzentriertheit der Geisteswissenschaften zu einer „certain blindness to non-alphabetic modes of communication, not least today´s visual forms of communication.“ (ebd.). Zum andern könne eine empirisch verfahrende Rezeptionsforschung auch in methodologischer Hinsicht die sprachwissenschaftlichen Erträge der Geisteswissenschaften nutzen. Jensen macht sich nämlich insbesondere für eine qualitative Untersuchung der Text-Leser-Interaktion stark, da nur sie in der Lage sei, den Prozess der Sinnproduktion in seinen sozialen und kulturellen Dimensionen zu erfassen (Jensen 1996, S. 64; vgl. Jensen/Rosengren 1990, S. 231). Die Erkenntnisse der Sprachwissenschaften lassen sich hier auf die Analyse von ‚Metatexten’ anwenden, d.h. von Texten, die von empirischen Rezipierenden in der Auseinandersetzung mit Medientexten produziert werden – bspw. (verschriftlichte) Texte von narrativen Interviews oder Gruppendiskussionen. Jensen fasst daher zusammen: „Hence, for the purpose of qualitative research language and other semiotic systems represent both an analytical object and a central tool of analysis.“ (Jensen 1991, S. 19). Die Konvergenz der beiden Traditionen ist demnach nicht nur für die theoretische Konstruktion des Problembereichs von Belang, sondern auch für die empirische Forschungspraxis. Auf geisteswissenschaftlicher Seite öffnete sich insbesondere die Literaturwissenschaft12 für die Interaktion von Text und Lesern. Die Kunstwissenschaft, die als die ‚Wissenschaft vom Bild’ gelten kann, nahm Fragen der Rezeption dagegen nur zögernd in Angriff. So konstatiert der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp, dass der in der Literaturwissenschaft vollzogene „Paradigmenwechsel“ hin zur Rezeptionsforschung ohne Beteiligung der Kunstwissenschaft stattgefunden habe – mehr noch: sie habe es „in der Regel noch nicht 12

Auch die Geschichtswissenschaft interessiert sich im Rahmen der historischen Lektüreforschung nicht nur für Quellentexte, sondern auch dafür, wie historische Texte von ihren Lesern rezipiert wurden. Der ‚Ort des Sinns’ wird auch hier in die historisch zu bestimmende Interaktion von Text und Lesern gelegt. Unbefriedigend seien daher Ansätze, so der Historiker Roger Chartier, „die das Lesen als transparentes Verhältnis begreifen: zwischen einem vollkommen abstrakten, einzig in seinem Sinngehalt und unter Abzug aller ihn tragenden Objekte aufgefassten ‚Text’ und einem nicht minder abstrakten, ohne Rücksicht auf seine historisch und sozial unterschiedlichen Weisen der Textaneignung gesehenen ‚Leser’. Die Texte ruhen aber nicht in ihren – handgeschriebenen oder gedruckten – Objekten wie in Behältern und schreiben sich nicht in den Leser ein wie in ein weiches Wachs. Um die Lektüre als konkretes Geschehen zu begreifen, muss man sich vor Augen führen, dass an jedem Prozess der Sinnbildung – also der Deutung – zwei genau spezifizierte Parteien beteiligt sind: Leser mit bestimmten, nach Positionen und Dispositionen unterschiedenen Kompetenzen, charakterisiert durch ihre Lesepraktiken – und Texte, deren Bedeutung von ihrer jeweiligen diskursiven und formalen – sagen wir, wenn es sich um gedruckte Texte handelt: typographischen – Anordnung abhängt. (...) Die Sinnproduktion, die ‚Geltung’ des Textes für den Leser erscheint (...) als veränderliche und differenzierte Relation, die abhängig ist von den – gleichzeitigen oder zeitlich getrennten – Variationen des Textes, seiner Druckgestalt und den Modalitäten seiner Lektüre (...).“ (Chartier 1992, S. 20)

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

einmal für nötig“ gehalten, diese Entwicklung zu Kenntnis zu nehmen (Kemp 1992, S. 8). Daher wird im Folgenden verstärkt auf literaturwissenschaftliche Ansätze zur Rezeptionsforschung zurückgegriffen. Dies ist nicht allein durch den Mangel an genuin bildwissenschaftlichen Ansätzen zu rechtfertigen, sondern zum einen durch den Hinweis auf die semiotische Konzeption des Textbegriffs, der gleichermaßen sprachliche Zeichenketten als auch Bilder unter sich vereint.13 Zum andern dadurch, dass es – wie Sachs-Hombach und Rehkämper argumentieren – durchaus legitim sei (und wissenschaftsgeschichtlich sogar die Regel), wenn eine gerade erst entstehende Wissenschaft wie die „Bildwissenschaft“ Anleihen bei ihren „Vorreiterdisziplinen“ macht und sich an ihnen orientiert (dies. 1999, S. 12). 1.1.2.1 Beiträge der Literaturwissenschaft Auf Ecos Rolle als Impulsgeber wurde oben schon hingewiesen. Bereits in seinem „offenen Kunstwerk“, das erstmals 1962 (hier: 1977a) erschien, hatte Eco vorgeschlagen, sowohl Wahrnehmungs- als auch Verstehensprozesse als „interaktive Beziehung (...) zwischen den Reizen und der Welt des Empfängers“ zu denken (Eco 1977a, S. 133). In dieser Interaktion entsteht der Sinn eines „Reizes“. Will man daher „die Bedeutungsmöglichkeiten einer kommunikativen Struktur untersuchen, so kann man vom Pol ‚Empfänger’ nicht absehen. Sich in diesem Sinne mit dem psychologischen Pol zu beschäftigen, bedeutet die Anerkennung der (für die Erklärung von Struktur und Wirkung der Botschaft unerlässlichen) formalen Möglichkeit, dass eine Botschaft vielleicht nur Sinn hat, sofern sie durch eine gegebene Situation (eine psychologische und damit geschichtliche, soziale, anthropologische im weiteren Sinne) interpretiert wird.“ (Eco 1977a, S. 133)

Daher sei es „notwendig“, so Eco, sich diese „interaktive Beziehung (...) näher anzusehen“ (ebd.). Dieses Postulat wurde teilweise etwas einseitig aufgefasst, indem in der „Euphorie“ (vgl. Jäckel 1996b, S. 149) über den aktiven Beitrag der Rezipierenden zur Sinnbildung der Beitrag des Textes vergessen wurde (vgl. Livingstone 1995, S. 29; Müller/Wulff 1997). Dieser Tendenz zur Vereinseitigung versuchte Eco in den Folgejahren entgegenzusteuern und hebt in einem Rückblick 30 Jahre nach Erscheinen seines „offenen Kunstwerks“ nochmals den interaktiven Charakter der Sinnbildungsprozesse hervor. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer „Oszillation“ der Sinnbildung zwischen Initiativen des Textes und Initiativen des Lesers (Eco 1992, S. 22). Bei der Analyse 13

Dass gleichwohl Besonderheiten bildlicher Zeichen und Texte zu berücksichtigen sind, die sich einer Subsumtion unter das Modell der Sprache entziehen, wird unter 1.2.1 erörtert werden.

Problemstellung

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von Sinnbildungsprozessen gehe es daher um das „Feststellen der Bedingungen für die Interaktion zwischen uns und etwas, das uns gegeben und dessen Konstruktion gewissen Zwängen unterworfen ist“ (ebd. S. 21; Herv. i. Orig.), nämlich von Texten, „die von unseresgleichen hergestellt wurden und die in gewissem Sinn (...) schon da sind, auch bevor sie gelesen und interpretiert werden – und sei es nur als grammatologische Spuren, die für den, der keine Vermutungen über ihre Herkunft anstellt, keine Bedeutung haben.“ (ebd.; Herv. i. Orig.). Die „Logik der Signifikanten“ (Eco 1972, S. 163) bilde daher die „Grenzen der Interpretation“ – so der Titel der Studie, in der Eco Rückschau auf die Rezeption seines „offenen Kunstwerks“ hält (ders. 1992) –, welche eine Dialektik zwischen der Freiheit der Interpretation und der Treue zum strukturierten Kontext der Botschaft aufrechterhält.“ (Eco 1972, S. 163) Strukturmerkmale des Textes setzen der interpretatorischen Aktivität des Lesers demnach Grenzen. Der Leser kann nicht jede beliebige Bedeutung aus einem Text herauslesen. Damit wendet sich Eco gegen radikal dekonstruktivistische Ansätze, die die Sinnbildung in keiner Weise durch den Text fixiert sehen, sondern sie vollständig dem Belieben des Lesers überantworten (Eco 1992, S. 74 ff.; vgl. Eco 1996; Eagleton 1994, S. 111 ff.; Straub 1999, S. 226 ff.). Die Text-Leser-Interaktion wird nach Ansicht Ecos vielmehr durch die gleiche Instanz strukturiert, die auch nach Saussure und Jakobson den Zusammenhang von Signifikant und Signifikat stabilisiert, nämlich durch die ‚Macht der Gewohnheit’ einer Gemeinschaft von Zeichenverwendern (vgl. Eco 1992, S. 438). „Sobald jedenfalls die Gemeinschaft dazu veranlasst wird, hinsichtlich einer bestimmten Interpretation übereinzukommen, wird ein Signifikat hervorgebracht, das, wenn nicht objektiv, so doch zumindest intersubjektiv und jedenfalls privilegiert im Verhältnis zu jeder anderen ohne den Konsens der Gemeinschaft zustande gekommenen Interpretation ist.“ (ebd., S. 439) Diese von einer Gemeinschaft getragenen und sanktionierten Gewohnheiten führen zur Herausbildung von „Dispositionen“ (Eco 1996, S. 160), die den Mitgliedern der betreffenden Gemeinschaft eine bestimmte Umgangsweise mit einem Text nahe legen. Auf Eco bezieht sich auch die Rezeptionsäshetik der „Konstanzer Schule“, als deren Hauptprotagonisten Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser angesehen werden können. Jauß bezeichnet das Prinzip des „offenen Kunstwerks“ als „die große Entdeckung Umberto Ecos“ (Jauß 1987, S. 9), die auf der Erkenntnis beruhe, „dass ein Kunstwerk durch eine von Haus aus mehrdeutige Botschaft ausgezeichnet ist, und zwar derart, dass es die aktive Mitwirkung des Lesers, des Betrachters oder des Zuschauers benötigt, um seine Sinnfülle in einer Dialektik von Form und Offenheit zu entfalten, ohne darum aufzuhören, in der Vielfalt seines Verständnisses ein Werk zu sein.“ (ebd.) Anfang der 70er Jahre hatte Jauß mit seiner „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissen-

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

schaft“ für eine stärkere Berücksichtigung der Historizität des Kunstwerks plädiert, die „nicht allein in seiner darstellenden oder expressiven Funktion, sondern gleich notwendig auch in seiner Wirkung“ liege (Jauß 1970, S. 163). Denn die „scheinbare Selbstverständlichkeit, dass im literarischen Text Dichtung zeitlos gegenwärtig und ihr objektiver, ein für allemal geprägter Sinn dem Interpreten jederzeit unmittelbar zugänglich sei,“ müsse „als ein platonisierendes Dogma der philologischen Metaphysik“ in Frage gestellt werden (ebd. S. 183). Daher sei Literaturgeschichte aus der historisch sich verändernden „Interaktion von Werk und Menschheit“ zu rekonstruieren (ebd. S. 163). Damit wendet sich Jauß sowohl gegen den Historismus, der von seinem eigenen historischen Standpunkt zu abstrahieren versucht, um das Werk vor seinem Entstehungshintergrund zu interpretieren, als auch gegen positivistische Ansätze, die in „blinder Empirie“ (Jauß 1970, S. 154) nur den Text unter Ausblendung jeglicher historischer Bedingtheit untersuchen. Stattdessen schlägt er vor, den „Erwartungshorizont“ der Entstehung des Werkes mit dem seiner Rezeption zu vermitteln (Jauß 1991, S. 658), wobei der (Erwartungs-) Horizont „als geschichtliche Begrenzung und zugleich als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung alle Bildung von Sinn im menschlichen Handeln und primären Weltverstehen konstituiert.“ (ebd. S. 657) Während Jauß mit seiner Berücksichtigung der historischen Standortgebundenheit des Lesers eher die strukturellen Rahmenbedingungen der Rezeption in den Blick nimmt und dabei auch auf ihre lebensweltliche Fundierung hinweist (vgl. Jauß 1970, S. 177, S. 203), richtet Wolfgang Iser seinen Blick mehr auf den „Akt des Lesens“ (ders. 1976) an sich, wobei er u.a. phänomenologische und semiotische Perspektiven miteinander verbindet (vgl. Iser 1975c, S. 332). Wie Eco und Jauß stellt Iser fest, dass Bedeutungen „überhaupt erst im Lesevorgang generiert“ werden (Iser 1975a, S. 229), „sie sind das Produkt einer Interaktion von Text und Leser und keine im Text versteckten Größen, die aufzuspüren allein der Interpretation vorbehalten bleibt. Generiert der Leser die Bedeutung eines Textes, so ist es nur zwangsläufig, wenn diese in einer je individuellen Gestalt erscheint.“ (ebd.) Gleichwohl billigt Iser dem Text die Steuerungsfunktion zu, der sich der Leser unterordnen muss (Iser 1976, S. 257). Unter Bezug auf gestaltpsychologische Überlegungen argumentiert Iser, dass Sinn durch Konsistenzbildung entsteht. „Die Gestalt als eine konsistente Interpretation erweist sich als ein Produkt, das aus der Interaktion von Text und Leser hervorgeht und daher weder auf die Zeichen des Textes noch auf die Dispositionen des Leser ausschließlich zu reduzieren ist.“ (Iser 1976, S. 194) Unter „Gestalt“ versteht Iser die konsistente, d.h. schlüssige und sinnvolle „Gruppierung“ von Textelementen nach Maßgabe einer vom Leser an den Text herangetragenen Matrix, die ihrerseits vom Text strukturiert werden kann. „Der Gruppierungsef-

Problemstellung

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fekt und die von ihm hervorgebrachte Gestalt sind im Text selbst nicht gegeben, sondern nur eine vom Text ausgelöste Operation, durch die die individuellen Dispositionen des Lesers, seine Bewusstseinsinhalte, seine epochalen, schichtenspezifisch bedingten Anschauungen sowie seine eigene Erfahrungsgeschichte in mehr oder minder massiver Weise mit den Zeichen des Textes zu einer Sinnkonfiguration zusammengeschlossen werden. Deshalb spielen im Lesevorgang die Einstellungen, Erwartungen und Antizipationen des Lesers eine nicht unwesentliche Rolle, denn Gestalten können sich erst im Zusammenspiel mit solchen Einstellungen bilden.“ (Iser 1975b, S. 264). Letztlich ist Iser aber nicht am empirischen Realleser interessiert, sondern am im Text angelegten „impliziten Leser“, der in Analogie zu Ecos „Modell-Leser“ als Teil der Textstrategie „in der Lage ist, an der Aktualisierung des Textes so mitzuwirken, wie es sich der Autor gedacht hat“ (Eco 1987b, S. 67). So wurde ihm denn auch „Textfixiertheit“ und „übertriebene Berührungsangst“ gegenüber soziologischer Forschung vorgeworfen, was die Gefahr in sich berge, dass der Text „zu einer selbstgenügsamen Wesenheit mit quasi-menschlichen Fähigkeiten stilisiert wird“ (Link 1976, S. 44; vgl. auch Scheffer 1992, S. 200f.). Im Gegensatz zu Iser überantwortet Stanley Fish die ‚Deutungshoheit’ bei der Interpretation eines Textes den Rezipierenden (vgl. Eagleton 1994, S. 53). Er argumentiert, dass die Interpretation nicht lediglich die Bedeutung eines Textes, sondern den Text hervorbringe (Fish EA 1980, hier: 1994, S. 331). „Indeed, the text as an entity independent of interpretation (...) is replaced by the texts that emerge as the consequences of our interpretive activities. There a still formal patterns, but they do not lie innocently in the world; rather, they are themselves constituted by an interpretive act. The facts one points to are still there (...) but only as a consequence of the interpretive (man-made) model that has called them into being.“ (Fish 1994, S. 13)

Die „interpretativen Aktivitäten“ der Rezipierenden bringen den Text hervor. Fish kennt keine „Logik der Signifikanten“, die wie bei Eco die Sinnbildung begrenzen würde. Gleichwohl ist Fish nicht der Ansicht, dass jede beliebige Interpretation gerechtfertigt sei. So seien bspw. Lesarten des Gedichts „The Tyger“ von Blake, die behaupten wollten, „that the poem is an allegory of the digestive processes or that it predicts the Second World War“, völlig unhaltbar (Fish 1994, S. 342). Dies jedoch nicht, weil der Text einige Lesarten zulassen und andere verbieten würde. Da der Text nach Ansicht Fishs selbst Produkt der Interpretation ist, kann er die Interpretation nicht steuern oder einschränken (ebd.). Dass die Aktivität der Rezipierenden dennoch nicht in Willkür umschlägt, liege daran, dass die Rezipierenden durch die Gepflogenheiten ihrer sozialen Gemeinschaft geprägt und limitiert seien (Fish 1994, S.331 f.). Die interpretativen Strategien beruhen auf sozialen Konventionen (ebd.). „That is,

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

the ‘you’ who does the interpretative work (…) is a communal you and not an isolated individual.“ (ebd.) Unsere Deutungen und Denkweisen bewegen sich innerhalb etablierter Bahnen, die wir gar nicht verlassen können, „because the mental operations we can perform are limited by the institutions in which we are already embedded.“ (ebd.) Für diese Beschränkung der Interpretationsfreiheit durch die Gemeinschaft, zu der die Rezipierenden gehören, hat Fish den Begriff der „Authority of Interpretive Communities“ – so auch der Untertitel seiner Abhandlung – geprägt. „Indeed, it is interpretive communities, rather than either the text or the reader, that produce meanings and are responsible for the emergence of formal features.“ (Fish 1994, S. 14) Bedeutung wird auch bei Fish nicht als immanentes Merkmal des Textes angesehen, sondern als Ergebnis sozialer Praxis. Mit Fish verlagert ein Vertreter der Literaturwissenschaft, deren Interesse traditionellerweise dem Text gilt, seine Perspektive auf soziale Prozesse und nimmt damit einen genuin sozialwissenschaftlichen Blickwinkel ein. Er betrachtet soziale Prozesse als konstitutiv für einen, wenn nicht den zentralen Untersuchungsgegenstand der Geisteswissenschaften, nämlich den Text. Damit bettet er textorientierte Fragestellungen in sozialwissenschaftliche Fragestellungen ein. Dies leisten auch andere (literaturwissenschaftliche) Ansätze, die den aktiven Beitrag des Lesers zur Sinnbildung berücksichtigen. Gegenüber der These von der Aktivität des Lesers nimmt Fish jedoch eine bemerkenswerte Nuancierung vor. Er betont, dass es weder der Text noch der Leser ist, der die Bedeutung produziert, sondern die interpretive community. Damit ist nicht einfach eine Addition von mehreren Einzel-Lesern gemeint, sondern eine qualitative Verschiebung verbunden. Mit der Überantwortung der Deutungshoheit an eine Interpretationsgemeinschaft wird die Aktivität der Interpretation zu einem kollektiven Prozess, der die Autonomie des Einzelnen restringiert – „meanings and texts produced by an interpretive community are not subjective because they do not proceed from an isolated individual but from a public and conventional point of view.“ (Fish 1994, S. 14) Die Autorität der Interpretationsgemeinschaft wird jedoch nicht als Zwang gegenüber dem einzelnen ausgeübt, er ist vielmehr selbst Produkt der Interpretationsgemeinschaft – genauso wie der Text und seine Bedeutung, die von der Interpretationsgemeinschaft hervorgebracht werden. Since „the thoughts an individual can think and the mental operations he can perform have their source in some or other interpretive community, he is as much a product of that community (acting as an extension of it) as the meanings it enables him to produce.“ (Fish 1994, S. 14) Dabei muss der einzelne Akteur die Regeln seiner Interpretationsgemeinschaft nicht explizit und absichtsvoll lernen, er beherrscht sie vielmehr implizit durch sein praktisches Eingebundensein in das jeweilige

Problemstellung

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„Spiel“ einer Interpretationsgemeinschaft (Fish 1994, S. 343). Fish greift zur Illustration auf das „Spiel“ zurück, das innerhalb der interpretive community des literarischen Systems, bestehend aus Schriftstellern, Kritikern, Verlagsangehörigen, Studierenden und Lehrenden der Literaturwissenschaft etc., gespielt wird. Wer diesem System angehört, d.h. „Produkt“ dieses Systems ist, „weiß“ quasi instinktiv, welche Wege der Interpretation in diesem System akzeptabel sind und welche nicht. „Nowhere is this set of acceptable ways written down, but it is a part of everyone´s knowledge of what it means to be operating within the literary institution as it is now constituted.“ (Fish 1994, S. 342 f.) Die Angehörigen einer Interpretationsgemeinschaft stützen sich demnach auf unartikuliertes Wissen, which „is shared by everyone who plays that game“ (Fish 1994, S. 343). Verbunden sind die Mitglieder einer Interpretationsgemeinschaft durch „a bundle of interests, of particular purposes and goals, its perspective is interested rather than neutral“ (Fish 1994, S. 14). Auf Basis gemeinsam geteilter Ziele, Perspektiven und Interessen entwickelt eine Interpretationsgemeinschaft ihre spezifischen Normen, die Interpretationen sanktionieren und so zur Hervorbringung von Texten und ihren Bedeutungen beitragen (vgl. Fish 1994, S. 306). Trotz seiner Offenheit für sozialwissenschaftliche Perspektiven kann bei Fish eine gewisse Ungenauigkeit im Umgang mit sozialwissenschaftlichen Kategorien festgestellt werden. So bleibt er m.E. in der Frage ambivalent, wodurch sich eine interpretive community konstituiert. Fish scheint zu schwanken zwischen der Vorstellung von interpretive communities als relativ stabilen Einheiten, die durch die Teilhabe an bestimmten Lebensformen mit ihren spezifischen Wertmustern bestimmbar sind und in institutionellen Strukturen wurzeln, einerseits (vgl. Fish 1994, S. 303 f.; S. 335) und andererseits der Auffassung, dass interpretive communities kontextabhängig sind und daher je nach Situation emergieren und sich anschließend wieder auflösen (Fish 1994, S. 307 f.; S. 334). Damit zusammen hängt die Frage, welchen Kollektivitätsgrad und welche Reichweite die von den interpretive communities hervorgebrachten Interpretationen haben. Hier differenziert Fish m.E. zu wenig bzw. gar nicht – für ihn ist schlicht alles in gleicher Weise interpretationsbedingt. Er widerspricht der Auffassung, ein Text könne auf irgendeinem Niveau, auf der Ebene der Buchstaben, der Verteilung von Druckerschwärze auf dem Papier oder der Atome eine unbezweifelbare, nicht-interpretationsabhängige Grundlage für höherstufige Interpretationsprozesse bieten (Fish 1994, S. 331). Dies sei nicht möglich, da „all objects are made and not found, and (...) they are made by the interpretive strategies we set in motion.“ (ebd.) Auch wenn Fish darin zugestimmt werden kann, dass Texte keine „data bruta“ (sensu Taylor 1975) sind und dass selbst die Wahrnehmung von Druckerschwärze auf einem Blatt Papier als eine bestimmte Buchstabenfolge einen

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

konstruktiven bzw. „interpretationsimprägnierten“ (vgl. Lenk 1993, S. 380 passim) Akt darstellt, sind m.E. Unterschiede hinsichtlich des Kollektivitätsgrades von Interpretationen festzuhalten. Dies betont auch Eagleton, der deutlich macht, dass die Interpretation von zehn schwarzen Zeichen als das Wort „Nachtigall“ mit sehr viel höherer Kollektivität geteilt wird als romantisierende Assoziationen von ländlicher Idylle und Abendfrieden, die sich mit dem Wort „Nachtigall“ verbinden lassen, oder Interpretationen von Keats´ „Ode an eine Nachtigall“. Während die Behauptung, die zehn Zeichen bedeuteten „Nachtgespenst“ und nicht „Nachtigall“ innerhalb des deutschen Sprachsystem falsch ist, lässt sich bei den romantisierenden Assoziationen oder der Gedichtinterpretation kaum von Wahrheit oder Falschheit sprechen (Eagleton 1994, S. 54 f.). Eagleton schlägt daher vor, Interpretationen, denen „alle mehr oder weniger zustimmen würden“, als Tatsache zu bezeichnen (ebd.). Obwohl auch Tatsachen im Sinne Eagletons auf Interpretationen beruhen, sind sie weitgehend der ‚Hoheit’ von interpretive communities entzogen, sofern man interpretive communities nicht mit einer ganzen Sprachgemeinschaft gleichsetzt. Deren Interpretationsstrategien fußen sozusagen auf der Ebene der Tatsachen – bzw. anders ausgedrückt: Allgemein geteilte Interpretationen ‚verästeln’ sich in spezifischere Interpretationen, die nur innerhalb spezieller interpretive communities Geltung beanspruchen können. In ähnlicher Weise argumentiert Eco, der die Aktivität der Rezipierenden ebenfalls durch die Konventionen einer (Interpretations-) Gemeinschaft begrenzt sah. Er plädiert für die Vorstellung eines „wörtlichen Sinns“ (Eco 1992, S. 17), den es innerhalb jeder Sprache gebe und der im Wörterbuch an erster Stelle stehe und den jedermann als erstes nennen würde, wenn man ihn nach der Bedeutung eines bestimmten Wortes fragen würde. „Keine Theorie der Rezeption käme um eine solche erste Einschränkung herum. Jeder Akt der Freiheit seitens des Lesers kann nur nach und nicht vor der Anwendung dieser Einschränkung kommen.“ (Eco 1992, S. 17). Deshalb ist es für Eco möglich, von einer „Logik der Signifikanten“ zu reden ohne dabei den Text als „datum brutum“ zu petrifizieren. Die Annahme einer „wörtlichen“ Bedeutung als allgemein geteilter Interpretation erlaubt es, von einer Text-Leser-Interaktion bzw. einer „Oszillation“ der Sinnbildung zwischen Text und Leser zu sprechen und dabei nicht in einen naiven (Text-) Realismus zu verfallen.14 An dieser Stelle lässt sich ein Bogen schlagen von literaturwissenschaftlichen Überlegungen zu fotografiebezogenen Fragestellungen: In seiner „Rhetorik 14

Fish scheint dagegen einen jener Extremfälle zu bilden, bei denen das zwischen Text und Rezipierenden oszillierende Pendel einseitig auf die Seite der Rezipierenden bzw. der Interpretationsgemeinschaften ausschlägt (vgl. Eco 1992, S. 22). Als Produkt der Interpretation kann der Text nicht als Faktor angesehen werden, der in der Interpretation mit den Rezipierenden interagiert und dadurch zur Sinnerzeugung beiträgt. Fishs Ansatz kann daher allenfalls am Rande dem Modell der Text-Leser-Interaktion zugeordnet werden.

Problemstellung

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des Bildes“ stellt Barthes bei Fotografien mehrere Bedeutungsebenen fest und identifiziert u.a. eine „buchstäbliche“ Bedeutung (Barthes 1990b, S. 31), die als äquivalent zur „wörtlichen“ Bedeutung im Sinne einer allgemein geteilten Interpretation angesehen werden kann. Die „buchstäbliche“ Bedeutung bei Fotografien entspricht weitgehend dem, was oben als die Abbildungsfunktion eines Fotos bezeichnet wurde. Nach Barthes bereitet die „buchstäbliche“ Bedeutung von Fotografien, genauso wie Abbildungsfunktion und „wörtliche“ Bedeutung, kaum Interpretationsprobleme und führt zu Ergebnissen, die unter den meisten Betrachtenden konsensfähig sein dürften. Wie aber im Folgenden noch argumentiert wird, beruht diese Übereinstimmung auf höchstem Kollektivitätsgrad bei Fotografien nicht auf Konventionen, sondern auf Ähnlichkeit (1.2.1.2). Auch der Medienwissenschaftler John Fiske postuliert bei Bildern eine vergleichsweise stabile „wörtliche“ Bedeutung, die zugleich Basis und Begrenzung für komplexere Sinnkonstruktionen bildet: „A fictional image of a white hero shooting a Hispanic villain can never mean anything outside those terms. But within those terms there is considerable space for the negotiation of meaning: the reader can bring left- or right-wing politics to bear, racist or nonracist ideologies (...).“ (Fiske 1987, S. 84). Es scheint daher sinnvoll zu sein, verschiedene Ebenen der sinnproduzierenden Text-Leser-Interaktion zu unterscheiden und sie hinsichtlich ihres Kollektivitätsgrades zu differenzieren. In diesem Zusammenhang ließe sich dann auch die Reichweite von interpretive communities näher bestimmen und deren Interpretionen von allgemein geteilten Interpretationen – „Tatsachen“ im Sinne Eagletons – unterscheiden. Trotz seiner Unschärfen fand der Begriff der interpretive community auch außerhalb des literaturwissenschaftlichen Diskurses Eingang in die Rezeptionsforschung.15 1.1.2.2 Beiträge der Kommunikationswissenschaft Um die Interaktion von Text und Leser in den Blick zu bekommen, mussten sich die textorientierten Geisteswissenschaften für die Rezipierenden öffnen und deren aktiven Beitrag zur Sinnbildung würdigen. In den sozialwissenschaftlichen Kommunikationswissenschaften fehlte dagegen nicht nur ein differenzierter Textbegriff, sondern auch ein Modell, das die Rezipierenden als aktiv Handelnde zu beschreiben erlaubte. Zunächst soll auf die Differenzierung des Textbegriffs eingegangen werden. In behavioristischer Tradition wurden Texte lediglich als unabhängige Stimuli betrachtet. Als abhängige Variable wurden in 15

Z.B. Carragee 1990, S. 82 ff., insbes. S. 85 f.; McQuail 1994, S. 379; Mikos 1994, S. 118 ff.; Schrøder 1994; Jensen 1991, S. 28, S. 42; Jensen 1995, S. 91 ff.; Jensen 1996, S. 70 f.; Anderson 1996, S. 87 f.; Hepp 1998, S. 145 ff.; Alasuutari 1999, S. 5 ff.

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

erster Linie die Wirkungen untersucht, die diese Stimuli auf die Rezipierenden ausübten. Das hinter dieser Logik stehende „Stimulus-Response-Modell“ wurde jedoch als „Mythos“ in der Geschichte der Kommunikationswissenschaft entlarvt (Esser/Brosius 2000, S. 55). Seine Grundannahme „Gleiche Stimuli haben gleiche Wirkungen“ (vgl. Kübler 1994, S. 147 ff.; Merten 1994, S. 291 ff., insbes. S. 294; Winter 1995, S. 4 ff.; Merten 1996, S. 7) sei in dieser Reinform niemals Basis der empirischen Kommunikationsforschung gewesen. Vielmehr seien bereits in ihrer Frühphase vielfältige intervenierende Variable berücksichtigt worden (Esser/Brosius 2000, S. 56 ff.). Diese Variablen setzten jedoch auf der Seite der Rezipierenden an und unterschieden hier bspw. personale und soziale Einflussgrößen (ebd.). Interpretationsprobleme oder eine mögliche Bedeutungsvielfalt der Stimuli wurden dabei jedoch nicht gesehen. Auch wenn nicht „unmittelbar“ vom Stimulus auf eine Wirkung geschlossen wurde – wie es der „Mythos“ des Stimulus-Response-Modells will –, wurde der mediale Stimulus doch als ‚monolithische’ Einheit gesehen, dessen quasi ‚objektiv’ feststellbaren Merkmale nicht weiter differenziert wurden. Der Beitrag des Stimulus zur Medienwirkung konnte demnach (unbeschadet der intervenierenden Variablen) durch eine Inhaltsanalyse erschlossen werden (vgl. Merten 1994, S. 303). So sieht denn auch Schulz die Leistung der Inhaltsanalyse darin, dass sie „präzise und quantitativ die Ausprägung der Mitteilungsmerkmale“ dokumentiert, „die als unabhängige Variablen in die Wirkungsüberprüfung einbezogen sind.“ (Schulz 1986, S. 112) 16 Da Texte in dieser Perspektive als monolithische Einheiten angesehen werden, deren vermeintlich objektiven Merkmale inhaltsanalytisch ‚ausgezählt’ werden können, stellt sich gar nicht erst die Frage nach dem Sinn eines Textes (vgl. Schreiber 1990, S. 99 ff.; Jäckel 1996b, S. 155). Sie verschwindet hinter dem inhaltsanalytisch erfassten, im Text sedimentierten ‚Informationsgehalt’ (vgl. Schreiber 1990, S. 213 f.; McQuail 1994, S. 248 ff.). Genauso erübrigt sich die Frage nach unterschiedlichen Lesarten eines Textes, wenn „präzise und quantitativ“ messbare Textmerkmale das als Wirkung konzeptualisierte Rezep16

Wie Michel de Certeau deutlich macht, wird nicht nur innerhalb der kommunikationswissenschaftlichen Inhaltsanalyse von scheinbar manifesten Inhalten auf die – zumeist negativen – Wirkungen der entsprechenden Botschaft geschlossen, sondern auch in weiten Teilen der Kulturkritik: „Die Elite, die immer geneigt ist zu glauben, dass ihre eigenen kulturellen Vorbilder für das Volk im Hinblick auf eine Erziehung des Geistes und die Erhebung der Gefühle notwendig sind und die über das ‚schlechte Niveau’ der Presse und des Fernsehens entsetzt ist, geht grundsätzlich davon aus, dass die Öffentlichkeit von den Produkten geformt wird, die man ihr vorsetzt. Aber das ist eine Fehleinschätzung des ‚Verbrauchers’. Man ist der Meinung, dass ‚assimilieren’ notwendigerweise bedeutet, dem ‚ähnlich zu werden’, was man aufnimmt, und nicht es an das ‚anzupassen’, was man ist, es sich zueigen machen, es sich anzueignen oder wiederanzueignen.“ (de Certeau 1988, S. 294 f.) Von als wenig anspruchsvoll eingeschätzten Medienprodukten wird dann auf deren „volksverdummende“ Wirkung geschlossen.

Problemstellung

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tionsergebnis beeinflussen (dazu kritisch z.B. Holzer 1994, S. 13 ff.; Merten 1994, S. 291 ff.). Von einer Interaktion zwischen Text und Leser kann daher im Rahmen des Wirkungsmodells nicht gesprochen werden (vgl. Charlton 1997, S. 19). Dass aber auch die quantitative Inhaltsanalyse einen Akt der Deutung darstellt, mithin nur eine von mehreren Lesarten ergibt (vgl. Saxer 1997, S. 18), wurde oftmals ebenso übersehen wie die prinzipielle Interpretationsabhängigkeit von Texten (vgl. Jäckel 1996b, S. 155).17 So kann der Inhaltsanalyse ein „Mangel an grundlegenden sprach-, speziell an bedeutungstheoretischen Kenntnissen“ vorgeworfen werden (Straßner 1986, S. 144). Obwohl die funktionale Rolle des Textes als wesentliche Determinante des Kommunikationsprozesses in diesem Modell erheblich ist (auch wenn ihm teilweise nur eine schwache Wirkung zugesprochen wird; vgl. im Überblick Maletzke 1998, S. 81 ff.), bleibt seine Konzeption weit hinter den Textkonzeptionen aus Literaturwissenschaft, Linguistik und Semiotik zurück. In dem Bemühen, Medieninhalte und -aussagen durch quantifizierende Verfahren zu erfassen, sieht Faulstich eine „Verweigerung gegenüber den Einzelwerken“ (Faulstich 1991, S. 150f.) und stellt fest: „Medienanalyse kann sich nicht in Inhaltsanalyse erschöpfen“ (ebd.). Einen differenzierteren Textbegriff liefert das Encoding/Decoding-Modell von Stuart Hall. Bereits seit 1973 zirkuliert es als „graues Papier“, seit 1980 liegt es als publizierter Aufsatz in englischer Sprache vor, seit 1999 in deutscher Übersetzung. Bis weit in die 90er Jahre wurde es in Deutschland kaum beachtet (Winter 1995, S. 83). In seinem Erscheinen wird jedoch oftmals „the birth of reception studies in mass communication research“ (Alasuutari 1999, S. 2) gesehen, da es die Verschiebung von einer technischen zu einer semiotischen Betrachtungsweise des Medientextes mit sich brachte (ebd.). Als „richtungsweisende Alternative zum Mainstream der amerikanischen Kommunikationsforschung“ (Winter 1995, S. 92) eröffnete es eine „neue Forschungsperspektive“ (ebd.), indem es „Text und Kontext der Medien-rezeption“ (ebd.) in die Analyse einbezog. Dadurch wurde es der „zentrale Ausgangspunkt der Medienstudien der Cultural Studies“ (Hepp 1999, S. 117) und kann als „grundlegend“ (Krotz 1997b, S. 74) für diese Forschungstradition insgesamt betrachtet werden.18 Gegen die Annahmen des Wirkungsmodells gerichtet stellt Hall fest, dass eine Medienbotschaft zunächst verstanden werden müsse, bevor sie eine wie auch 17

18

In neueren Arbeiten zum Thema „Inhaltsanalyse“ wird dieser Punkt verschiedentlich angesprochen: „Fest steht, dass der Forscher eine von ihm wesentlich mitbestimmte Interpretationsweise verbindlich macht und nicht etwa ‚objektive’ Mitteilungen beschreibt.“ (Früh 1991, S. 45) Die Polysemie des Textes wird jedoch nicht als empirisch zu bearbeitendes Problem betrachtet, sondern auf eine – willkürlich privilegierte – Lesart reduziert. Die Forschungslinien der Cultural Studies kreuzen sich immer wieder mit den Argumentationssträngen, die im Rahmen dieser Arbeit entwickelt werden. Berührungspunkte und Abgrenzungen werden jeweils deutlich gemacht.

Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

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immer geartete Wirkung haben kann: „Before this message can have an ‘effect’ (however defined), satisfy a ‘need’ or be put to a ‘use’, it must first be appropriated as a meaningful discourse and be meaningfully decoded.“ (Hall 1980, S. 130). Als „meaningful discourse“ (ebd. S. 130) stellt Hall den Text ins Zentrum seines Kommunikationsmodells und betrachtet den Kommunikationsprozess als Ineinandergreifen unterschiedlicher sozialer Praktiken (ebd., S. 128). „The ‘object’ of these practices is meaning and messages in the form of sign-vehicles of a specific kind organized, like any form of communication or language, through the operation of codes within the syntagmatic chain of a discourse.“ (ebd.) Abbildung 1 Ê Ê

encoding meaning structures 1

framework of knowledge relations of production technical infrastructure

programme as ‚meaningful’ discourse

Ì decoding meaning structures 2

Ì framework of knowledge relations of production technical infrastructure

Quelle: Hall 1980, S. 130

Hall stützt sich somit auf einen semiotischen Textbegriff und argumentiert, dass die „sign-vehicles“, d.h. die Signifikanten bzw. „Zeichenträger“ des Medientextes durch Codes zu bedeutungsvollen Botschaften werden. Das bedeutet: Die Produzenten von medialen Botschaften – also Fernsehsender, Radiostationen, Zeitungsverlage etc. – emittieren immer nur die Signifikanten einer Botschaft, denen die Rezipierenden dann nach Maßgabe eines Codes Signifikate zuordnen und sie so mit Sinn anreichern können. Auch die Botschaftsproduzenten legen ihrer Signifikantenemission einen Code zugrunde, auf dessen Basis sie die Botschaft ebenfalls als sinnhaft erleben. Dieser Prozess des Encodierens auf der Produzentenseite „is framed throughout by meanings and ideas: knowledge-in-

Problemstellung

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use concerning the routines of production, historically defined technical skills, professional ideologies, institutional knowledge, definitions and assumptions, assumptions about the audience“ (Hall 1980, S. 129) Mit der Anwendung des semiotischen Textmodells hofft Hall die Medienforschung aus der Umklammerung des Behaviourismus zu befreien, der insbesondere die Analyse des Medieninhalts beschränkt habe (Hall 1980, S. 131). Ein Kerngedanke des Encoding/Decoding-Modells besteht nun darin, dass der Code, den die Rezipierenden beim Decodieren auf den Text anwenden (d.h. nach dessen Maßgabe sie den Signifikanten Signifikate zuordnen), nicht mit dem Code, der dem Encodieren bei der Produktion zugrunde lag, übereinstimmen muss (Hall 1980, S. 131). „What are called ‘distortions’ or ‘misunderstandings’ arise precisely from the lack of equivalence between the two sides in the communicative exchange.“ (ebd.) Der Decodierungsprozess, von dem etwaige Wirkungen wesentlich abhängen, kann demnach nicht vollständig durch den Encodierungsprozess des Textproduzenten beeinflusst und kontrolliert werden. Daraus resultieren unterschiedliche Lesarten („readings“) eines Textes. Wie auch die Prozesse des Encodierens sind nach Ansicht Halls die Decodierungsleistungen durch Wissensstrukturen gerahmt, die durch die sozialen und ökonomischen Verhältnisse der Rezipierenden geprägt sind (ebd. S. 130). Hall spricht hier von einem „re-entry into the practices of audience reception and ‘use’“ (ebd.), der nicht in behaviouristischer Terminologie beschrieben werden könne (ebd.). Die unterschiedlichen Lesarten korrespondieren daher mit dem gesellschaftlichen Standort der Rezipierenden. Da es keine zwangsläufige Korrespondenz zwischen Encoding und Decoding gibt, kann der Produzent zwar eine bestimmte Lesart anstreben, er kann sie aber nicht garantieren (ebd. S. 135). Die sich ergebende Bedeutungsvielfalt nennt Hall „Polysemie“ (ebd. S. 134). Mit seiner semiotischen Differenzierung des Textbegriffs entkleidet Hall den Text zugleich seiner determinatorischen Wirkmächtigkeit. Die Hinwendung der Kommunikationswissenschaft zum Text geht daher mit der Annahme der relativen „Schwäche“ des Textes einher. Nicht mehr als monolithischer Block übt er konstante Wirkungen auf unterschiedliche Rezipierende aus. Vielmehr ist er auf die bedeutungskonstruierende Aktivität der Rezipierenden angewiesen, die zu polysemen Ergebnissen führt. Eine stärkere Berücksichtigung des Textes bedeutet somit auch eine ‚Aufwertung’ der Rezipierenden. Darin sieht auch John Fiske einen wesentlichen Beitrag des Encoding/Decoding-Modells: „The value of the theory lies in its freeing the text from complete ideological closure, and in its shift away from the text and towards the reader as the site of meaning.“ (Fiske 1987, S. 64) Fiske konstatiert in diesem Punkt eine „essentielle“ Überschneidung zwischen Halls Encoding/Decoding-Modell und Ecos Theorie

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

des „aberrant decodings“ (Fiske 1987, S. 65), die Eco im Anschluss an sein „offenes Kunstwerk“ entwickelt hat (Eco 1979; dt. 1995a). Wenn Hall als ein Wegbereiter des Modells der Text-Leser-Interaktion angesehen werden kann, so liegt dies jedoch daran, dass er die Interpretationshoheit nicht vollständig den Rezipierenden überlässt. Die Rezipierenden sind nicht nur durch die gesellschaftlich konventionalisierten Codes in ihrer Interpretationsfreiheit eingeschränkt, auch der Text setzt nach Ansicht Halls gewisse Grenzen der Interpretation. Hall distanziert sich explizit von einer inhaltsanalytischen Untersuchung des Texts, spricht dem Text jedoch gleichzeitig eine „privilegierte“ Rolle im Kommunikationsprozess zu (ebd. S. 129). Denn im Encodingprozess werde ein Rahmen von „limits and parameters“ festgesetzt, innerhalb dessen sich das Decoding zu bewegen habe (ebd. S. 135). „If there were no limits, audiences could simply read whatever they liked into any message.“ (ebd.) Zwar gebe es solche Formen totalen Missverstehens. Zwischen Encoding und Decoding müsse es jedoch ein Mindestmaß an „Reziprozität“ geben, damit man noch von einem kommunikativen Austausch reden könne (ebd. S. 135 f.). Damit wendet sich Hall auch gegen Vorstellungen von der Allmacht der Rezipierenden, wie sie etwa bei einigen Vertretern des „Uses-and-gratifications“Ansatz zu finden sind. Rezipierende nutzen hier Medientexte zu selbstgesetzten Zielen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen (vgl. Schmidt/Zurstiege 2000, S. 120 ff.). Lautete die zentrale Frage des Wirkungsmodells „Was machen die Medien mit den Menschen?“, so kann beim „Uses-and-gratification-approach“ die Frage umgedreht werden: „Was machen die Menschen mit den Medien?“ Er kann daher als Antipode des Wirkungsmodells betrachtet werden. Aus diesen Extrempositionen bildet das Encoding/Decoding-Modell eine „Synthese“ (Winter 1995, S. 83) und schlägt einen „Mittelweg“ (Winter 1997, S. 51) ein, indem es Vorstellungen von der Macht der Medien und der Aktivität der Rezipierenden verknüpft (vgl. Hepp 1999, S. 110 f.). Dieser Mittelweg weist deutliche Parallelen auf mit der „Oszillation“ der Sinnbildung, die Eco in seinen „Grenzen der Interpretation“ postuliert und die er zwischen den Initiativen des Texts und den Initiativen des Lesers ansiedelt. Dass ein Text eine Vielfalt von Lesarten zulässt, heißt auch nach Ansicht Ecos nicht, dass jede Lesart gerechtfertigt sei. Es bedeute vielmehr, „dass der interpretierte Text seinen Interpreten Zwänge auferlegt. Die Grenzen der Interpretation fallen zusammen mit den Rechten des Textes (was nicht heißen soll, sie fielen zusammen mit den Rechten seines Autors)“ (Eco 1992, S. 22). Dieses Wechselspiel von Rezipientenaktivität und Strukturierungsleistungen des Textes kennzeichnet das Modell der Text-Leser-Interaktion. Das Encoding/Decoding-Modell kann daher als wichtiger Beitrag bei der Hinwendung der Kommunikationswissenschaft zu einer Analyse der Text-LeserInteraktion betrachtet werden.

Problemstellung

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Was bei Hall jedoch tendenziell unterbelichtet bleibt, ist der Prozess der Interaktion selbst. Trotz der Betonung der Rezipientenaktivität findet die Handlungsdimension bei Hall nämlich nur eine geringe Berücksichtigung. Zwar bezieht sich Hall wiederholt auf „practices“ (z.B. Hall 1980 S. 128 u. S. 130), er setzt jedoch nicht bei den Sinnsetzungsaktivitäten der Rezipierenden an. Weder stellt er die unterschiedlichen Lesarten im Durchgang durch das Erleben der Rezipierenden dar, noch rekonstruiert er deren subjektive Orientierungen. Hall beschreibt vielmehr den Beitrag der Rezipierenden (wie auch den der Produzenten) im Wesentlichen durch deren strukturelle Rahmenbedingungen, d.h. durch deren soziale, ökonomische und kulturelle Positionierung innerhalb der Sozialstruktur. So charakterisiert Hall die unterschiedlichen Lesarten, zu denen es beim Decodieren eines Medientextes kommt, durch die gesellschaftliche Position, an der die jeweiligen Rezipierenden situiert sind. Er identifiziert drei idealtypische Positionen mit den entsprechenden Lesarten, die er durch ihre relationale Nähe bzw. Distanz zum gesellschaftlichen „Machtzentrum“ definiert (vgl. Hall 1980, S. 136 ff.). Pointiert könnte man daher sagen, dass die Rezipierenden als ‚strukturalistische Marionetten’ konzipiert werden, die lediglich die mit ihrer Positionierung verbundenen Prägungen ausagieren (vgl. Krotz 1997b, S. 77). Krotz diagnostiziert in diesem Zusammenhang einen „kulturellen Determinismus“, bei dem „die kommunikativen Aktivitäten der Individuen auf die kulturelle Wirklichkeit eines strukturierten gesellschaftlichen Lebens“ bezogen würden (ebd. S. 78). Eine andere Perspektive, die man als komplementär zu strukturorientierten Modellen bezeichnen kann, nehmen handlungstheoretische Modelle ein. Nicht gesellschaftliche Strukturen werden hier als bestimmend für Sinnbildungsprozesse angesehen, sondern das aktive Handeln der Rezipierenden. Medienrezeption wird in handlungstheoretischer Tradition daher aus der Perspektive der Rezipierenden rekonstruiert und nicht über ihre Verortung innerhalb der Gesellschaftstruktur. Nicht makroskopische Strukturen der Medienrezeption werden untersucht, sondern die „Regeln, Formen und Funktionen der Auseinandersetzung von Individuen und Gruppen mit Massenmedien“ (Neumann-Braun 2000, S. 189; Herv. i. Orig.) werden in mikroskopischer Einstellung analysiert. Im Rahmen der Handlungstheorie wird Medienrezeption als eine Form sozialen Handelns betrachtet, die in Alltagsroutinen eingebettet ist (vgl. Charlton 1997, S. 22). Auch hier wird der Text weder als Stimulus betrachtet, der eine kausale Wirkung auf die Rezipierenden ausübt, noch als Container, in den der Textproduzent eine gleichbleibende Bedeutung hineingelegt hätte, die von den Rezipierenden in unveränderter Weise dem Text entnommen werden könnte. Die Bedeutung eines Textes muss vielmehr im handelnden Umgang der Rezipierenden mit einem Text aktiv erzeugt werden. Medienrezeption wird daher als eine

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

„konstruktive, sinnerzeugende Aktivität“ der Rezipierenden verstanden (Neumann-Braun 2000, S. 190), bei der die „Sinnsymboliken der Medienproduzenten (...) vom Medienrezipienten sinndeutend und sinninterpretierend verarbeitet“ werden (Charlton/Neumann-Braun 1992, S. 10). Auch handlungstheoretische Rezeptionsansätze lassen sich daher dem Modell der Text-Leser-Interaktion zuordnen (vgl. Charlton 1997, S. 24 ff.). Ihr Beitrag zur Öffnung der sozialwissenschaftlichen Kommunikationsforschung zu diesem Modell besteht jedoch weniger in der Einführung eines differenzierten Textbegriffs19 als vielmehr in der differenzierten Beschreibung der Rezipientenaktivität durch den Rückgriff auf unterschiedliche handlungstheoretische Ansätze. Sie berufen sich insbesondere auf den Symbolischen Interaktionismus (z.B. Renckstorf 1989; Charlton 1996; Krotz 1996) und die phänomenologische Soziologie nach Alfred Schütz (z.B. Renckstorf 1989; Bachmair 1990, 1996; Jäckel 1996a). Damit tragen sie in je unterschiedlicher Weise zur Überwindung eines wenig spezifischen und oftmals allzu emphatischen Begriffs von Rezipientenaktivität bei (vgl. Jäckel 1996b, S. 149). Denn der Begriff der Aktivität, der im Zentrum der neueren Rezeptionsforschung steht und Bestandteil einer Definition von „Medienrezeption“ wurde (Charlton, s.o.), erweist sich als nicht unproblematisch. Wie bereits erwähnt wurde, wird die These von der Rezipientenaktivität teilweise radikalisiert und als Autonomie gegenüber textlichen und gesellschaftlichen Restriktionen interpretiert. Häufig wird Aktivität auch als „zielgerichtet“ verstanden, die sich an „Nutzen-Kalkulationen“ zur Optimierung von Bedürfnisbefriedigungen orientiert (vgl. Maletzke 1998, S. 121 f.). Renckstorf stellt fest, dass den publikumszentrierten Modellen „die in vielfältigen Interaktionszusammenhängen stehenden, sich ihrer Ziele, Absichten und Interessen grundsätzlich bewussten – zur Reflexion fähigen – Menschen als Ausgangspunkte dienen“ (Renckstorf 1989, S. 328). Mit dem Begriff des „aktiven Publikums“ werden daher oftmals Vorstellungen vom autonomen Individuum verbunden, das sich und seine Bedürfnisse genauestens kennt und Medienangebote zu selbst gesetzten Zielen nutzt.20 19

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Teilweise wurde der Interaktionsfaktor „Text“ im Rahmen handlungstheoretischer Modelle sogar als ausgesprochen defizitär kritisiert. So moniert z.B. Sutter „medientheoretische Lücken insbesondere im Hinblick auf die mediale Formproblematik“ (Sutter 1995, S. 349). Diesen Vorwurf entkräften Charlton u.a. jedoch weitgehend durch den expliziten Bezug auf die semiotischen Textmodelle von Eco, Barthes u.a. (Charlton 1997, S. 24 ff.; Sutter/Charlton 1999, S. 97 ff.). Teilweise wird der sinnerzeugenden Aktivität der Rezipierenden auch emanzipatorisches Potential zugesprochen, da sich die Rezipierenden durch „oppositionelle“ Lesarten (vgl. Hall 1980, S. 137) der bedeutungsoffenen Medienangebote etwaigen Beeinflussungsabsichten der Medienproduzenten entziehen könnten. Bezogen auf das Fernsehen spricht Fiske von einer „semiotic democracy“, worunter er „its delegation of production of meanings and pleasures to its viewers“ versteht (Fiske 1987, S. 236). Zwanzig Jahre früher hatte Eco ganz im Jargon der Zeit eine „semiologische Guerilla“ postuliert: Da die Produzenten medialer Botschaften immer

Problemstellung

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„The very definition of the active audience as it is found in the communication literature implies a vigilant, self-directed, rationalistic consciousness aware of its needs and motivations, bending media materials in pursuit of these motivations and in the maintenance of cognitive independence.“ (Biocca 1988, S. 63) Verbunden ist mit diesem Menschenbild zumeist das Prinzip des „Methodologischen Individualismus“, bei dem als Untersuchungseinheit das „monadische Individuum“ definiert wird, das über sein sinnkonstruierendes Handeln Auskunft geben kann. Impliziert wird damit zugleich die Vorstellung vom sich selbst völlig durchsichtigen Individuum.21 Diese Vorstellung lässt jedoch einige Fragen offen: Zum einen klärt sie nicht die Herkunft der Bedürfnisse und Orientierungen, die die Medienrezeption leiten. „Woher und wodurch (...) das Subjekt die Erkenntnis und schlüssige Wahrnehmung seiner Bedürfnisse gelernt hat und wie es sie unter wechselnden Bedingungen ständig anpasst, vor allem mit welchen Widersprüchen, Selbsttäuschungen und Abstrichen es sich einigermaßen seine Identität gegenüber den versierten, oftmals kontraproduktiven Offerten der Medien behauptet – dies kümmert die solcherart orientierte Rezeptionsforschung wenig.“ (Kübler 1989, S. 31)

Zum anderen gehen Ansätze, die Aktivität tendenziell mit Autonomie gleichsetzen, an der sozialen Verankerung von Sinnbildungsprozessen vorbei. Sie nehmen sozusagen die entgegengesetzte Position zu Hall ein, dem „kultureller Determinismus“ vorgeworfen wurde, und verwenden damit einen ‚unsoziologischeren’ Akteursbegriff als bspw. die literaturwissenschaftlichen bzw. semiotischen Theorien von Fish und Eco (vgl. Morley 1996, S. 38). In der Betonung der individuellen, rationalen und reflektierten Nutzung von Medienangeboten sieht Biocca Nachwirkungen des cartesianischen Rationalismus und Individualismus, die fester Bestandteil unserer intellektuellen Kultur seien. Aus dieser Tradition heraus würden kognitive Prozesse häufig als bewusst und einer Introspektion zugänglich beschrieben (Biocca 1988, S. 62). Nach Ansicht Morleys machen dagegen die Arbeiten von Marx, Freud, Lacan, Foucault und anderen deutlich,

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nur auf die formale Gestaltung der Botschaft einwirken können (die Signifikantenstruktur), nie aber direkt auf das Bewusstsein der Rezipierenden, d.h. auf die Bedeutungszuweisung (Signifikate), ist ihren Absichten ein gewisser Riegel vorgeschoben (Eco 1967, S. 149): „Denn immerhin hat der Empfänger ja beim Empfang der Botschaft noch einen Rest von Freiheit, nämlich sie anders zu lesen.“ (ebd.). Im Sinne einer Guerilla-Strategie gelte es daher, nicht die Fernsehsender und Rundfunkanstalten zu stürmen, sondern die Plätze „in der ersten Reihe“ vor dem Fernseher zu besetzen (vgl. ebd. S. 154). Insbesondere der Uses-and-Gratification-Approach wird in dieser Weise charakterisiert (vgl. Kübler 1989, S. 30 f.; Jäckel 1996a, S. 94 f.; Jäckel 1999, S. 73). Dieser Ansatz, von dem sich Hall abgrenzte (s.o.), leitete den Paradigmenwechsel ein hin zu einer Berücksichtigung der Rezipientenaktivität (vgl. Holzer 1994, S. 23 ff.; Schrøder 1999, S. 39 ff.; Schmidt/Zurstiege 2000, S. 121).

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

„dass das Konzept des bewussten menschlichen Subjekts als Quelle von Bedeutung und Handlung im gesellschaftlichen Leben höchst problematisch ist. Daher sind die Argumente gegen eine ‚Dezentrierung’ des Subjekts bzw. die Thesen von der ‚individuellen Subjektivität’, wie wir sie kennen (und leben), ein historisch spezifisches kulturelles Produkt und keineswegs eine einfache universelle Wahrheit, die sich als Grundlage einer wertfreien Wissenschaft eignet.“ (Morley 1996, S. 40)

Die Focussierung auf die Text-Leser-Interaktion als dem Ort der Sinnbildung erfordert demnach nicht nur einen differenzierteren Textbegriff, sondern auch eine genauere Beschäftigung mit dem Beitrag der Rezipierenden. Wie deren sinnkonstruierende Aktivität zu konzeptualisieren ist, hängt ganz wesentlich von dem Handlungsmodell und der Konstruktion des dahinterstehenden Menschenbildes ab. Einige Stichworte wurden bereits genannt, die sich als Postulate und Desiderate nun aufgreifen lassen. Sie lassen sich in weiten Teilen in Frontstellung zu cartesianischen Annahmen des Handelns bringen. Die grundsätzliche Aktivität des Sehens wurde bereits unter Bezug auf Fiedler herausgearbeitet. Dass dieses aktive Sehen zumindest bei der Rezeption von Bildern nicht im Sinne eines autonomen und rationalen Handelns zu begreifen ist, das sich in den Bahnen begrifflichen Denkens vollzieht, wurde im Zusammenhang mit den qualitativen Verschiebungen erörtert, die mit Paweks These vom „optischen Zeitalter“ und dem „pictorial“, „iconic“ und „imagic turn“ verbunden werden. Die Auseinandersetzung mit Bildern erfolgt demnach jenseits der „BegriffsDiktatur“ (Pawek) und lässt sich nicht vollständig in Sprache überführen. Dem begrifflich-subsumierenden und fotografisch-registrierenden Sehen hatte Merleau-Ponty das körperlich-handelnde Sehen gegenübergestellt (vgl. MerleauPonty 1984a, S. 16). Dass Sinnbildungsprozesse überdies keine individuellen Akte darstellen, sondern durch die Konventionen einer Gemeinschaft von Zeichenverwendern geprägt sind, wurde unter Bezug auf Jakobson und Eco herausgearbeitet. An die These von der sozialen Verankerung der Sinnbildung konnte mit Stanley Fishs Konzept der „interpretive community“ angeknüpft werden. Fish hatte auch die Bedeutung unartikulierten Wissens betont, das aus der Teilhabe an einer interpretive community erwächst und die Sinnbildungsprozesse mitbeeinflusst. Als problematisch erwies sich hier der ungeklärte Institutionalisierungsgrad der „Interpretationsgemeinschaften“, sowie ihr Kollektivitätsgrad. In der Auseinandersetzung mit einem m.E. allzu pauschalen Interpretationsbegriff, der nicht differenziert zwischen der interpretativen Gegenstandskonstruktion und der interpretativen Sinndeutung, wurde dafür plädiert, verschiedene Ebenen der Text-Leser-Interaktion zu unterscheiden. Mit Eco wurde argumentiert, die Interaktion als „Oszillation“ der Sinnbildung zwischen Text und Leser zu begreifen und so die Strukturierungsleistungen des Textes angesichts einer postulierten Rezipientenaktivität nicht aus dem Blick zu verlieren. Mit diesen Stichworten und Überlegungen lässt sich der Problemhintergrund abstecken, vor

Problemstellung

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dem die vorliegende Arbeit angesiedelt ist. Bevor zentrale Aspekte weiter entfaltet und dargelegt werden, soll zunächst die Zielsetzung und der Aufbau der Arbeit dargelegt werden. 1.1.3 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit Im Zentrum der Arbeit steht die Interaktion von Fotografien und Rezipierenden. Sie wird als der Ort der Sinnbildung verstanden. Es geht somit um die Frage, die Barthes so formuliert hat: „Wie gelangt der Sinn in das Bild?“ (s.o.) und die Boehm folgendermaßen ausgedrückt hat: „Was macht Bilder sprechend? Wie lassen sich der Materie (...) aber auch dem menschlichen Gemüt Bedeutungen überhaupt einprägen?“ (s.o.) Um das Entstehen von Sinn bei der Rezeption von Fotografien detailliert zu untersuchen, wird das Zusammenspiel von Fotografie und Rezipierenden in ihrer Prozesshaftigkeit in actu rekonstruiert. Damit ergibt sich nahezu zwangsläufig ein qualitatives Forschungsdesign: Ist die Frage nach subjektiven Sinnkonstruktionen ohnehin schon eine geradezu prototypische Problemstellung qualitativer Forschung, so macht die Focussierung auf den Prozess der Sinnbildung ein qualitatives Design vollends zur Methode der Wahl (vgl. Jensen 1996, S. 64). Obwohl bei rekonstruktiven Verfahren der konkrete Fall in seiner Singularität einen höheren Stellenwert hat als verallgemeinerbare Aussagen, zielt die Arbeit nicht ausschließlich auf die möglichst „dichte Beschreibung“ (Geertz) einzelner Bild-Rezipierenden-Interaktionen. Vielmehr geht es auch ganz wesentlich um das Prinzip der empirischen Sinnbildungsrekonstruktion. Die konkreten Rezipierenden und Bilder sind daher als ‚EpiPhänomene’ zu betrachten, an denen die Sinnbildungen ‚plastisch und lebendig’ sichtbar werden. An ihnen wird exemplarisch vorexerziert, wie das Oszillieren der Sinnbildung zwischen Bild- und Rezipienteneinfluss aufgeschlüsselt und nachgezeichnet werden kann. Nicht die einzelnen Bilder und Rezipierenden an sich sind von Interesse, sondern die Art des Zugriffs auf deren Interaktion. In der Entwicklung und Erprobung eines geeigneten Instrumentariums zur Erfassung und Beschreibung der Sinnbildungsprozesse, das es erlaubt sowohl den Beitrag der Rezipierenden als auch den Beitrag des Bildes zu benennen, liegt daher ein wesentliches Ziel der Arbeit. Um die Herstellungsweise von Sinn in ihrer Prozesshaftigkeit einerseits, andererseits aber auch die kollektive, vor-begriffliche und körperliche Dimension menschlichen Handelns in den Griff zu bekommen und so zu einem differenzierteren Begriff der Aktivität von Rezipierenden zu gelangen, bietet es sich an, auf das Habitus-Konzept zurückzugreifen, für das Pierre Bourdieu die vermutlich elaborierteste Theorie vorgelegt hat. Denn Bourdieu definiert den Habitus

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

nicht nur als kollektiv geteiltes „System der organischen oder mentalen Dispositionen und der unbewussten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungs-schemata“ (Bourdieu 1974, S. 40), sondern auch als spezifischen „modus operandi“, der als inkorporierte generative Formel die Herstellung aller Praktiken eines Akteurs strukturiert und sich in der Prozesshaftigkeit einer Handlung als unbeabsichtigtes Symptom der Milieuzugehörigkeit des Akteurs dokumentiert (vgl. Bourdieu 1987, S. 281). Bourdieus Habituskonzept verbindet unter dem Begriff einer „praxeologischen“ Handlungstheorie somit eine handlungstheoretische mit einer sozialstrukturellen Perspektive. Obwohl sich Bourdieu wiederholt mit der Rezeption von Kunstwerken beschäftigt hat (z.B. Bourdieu 1974, 1999), fand seine Habitustheorie innerhalb der medien- und kommunikationswissenschaftlichen Rezeptionsforschung nur wenig Berücksichtigung. Als Desiderat wurde eine Konzeptualisierung der Rezipienten-aktivität im Rahmen der praxeologischen Handlungstheorie jedoch verschiedentlich angemahnt (z.B. Schrøder 1994, S. 344 f.; Krotz 1997a, S. 123; Krotz 1997b, S. 85; Wittpoth 1999). Ein Beitrag zur Einlösung dieses Desiderats soll mit dieser Arbeit geleistet werden. Bei der Kunstrezeption unterscheidet Bourdieu zwei Arten der Sinnbildung: Zum einen den intellektualistischen „Akt des Entzifferns“ (Bourdieu 1999, S. 491) von Bedeutungen, zum anderen ein „ursprüngliches Verstehen“ auf Basis der praktischen Schemata des Habitus, die als Elemente des unartikulierten Wissens das Bewusstsein niemals streifen (ebd. S. 491 f.). Im Rahmen einer habitusorientierten Theorie der Kunstwahrnehmung gelte es daher, dieses „ursprüngliche Verstehen“ zu untersuchen und als eine „theorie- und begriffslose Praxis“ (Bourdieu 1999, S. 492) zu beschreiben. In dieser Perspektive wird das aktive Verknüpfen von Signifikant und Signifikat in der Text-Leser-Interaktion somit nicht als „philologisches“ Entziffern, sondern als soziales Handeln begriffen (vgl. Bourdieu 2001a, insbes. S. 124). Die vorliegende Arbeit zielt daher auch auf die theoretische Reflexion des habitusspezifischen Rezeptionsmodus, der von anderen handlungstheoretischen Ansätzen der Rezeptionsforschung abgegrenzt wird. Dabei verspricht die Habitustheorie außerdem eine eigenständige Aufschlüsselung des Polysemiekonzepts: Da der Habitus in milieuspezifischen Strukturen wurzelt und durch sie geprägt wird, erfahren auch seine Produkte – im vorliegenden Fall die Sinnkonstruktionen bei der Rezeption von Fotografien – eine milieuspezifische Prägung. In vergleichender Perspektive müssten demnach bei unterschiedlichen Habitusformen unterschiedliche bzw. polyseme Lesarten ein und desselben Bildes zutage treten. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil werden die theoretischen Hintergründe der Arbeit expliziert und diskutiert. In jeweils eigenen Abschnitten werden die beiden Faktoren der „Interaktion“ von Bild und Rezipierenden sowie deren gemeinsames ‚Produkt’, der Sinn behandelt. Zunächst (1.2)

Problemstellung

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wird der Interaktionsfaktor Bild besprochen und unter dem Aspekt der Rezeption rekonstruiert. Sodann (1.3) werden die Rezipierenden aus der Perspektive der Habitustheorie beschrieben. Im letzten Abschnitt des ersten Teils schließlich (1.4) wird der Sinn als Produkt der Interaktion von Bild und Rezipierenden erörtert. Im zweiten Teil der Arbeit werden Bildrezeptionsprozesse als habitusspezifische Praktiken empirisch rekonstruiert. Die im ersten Teil der Arbeit gewonnenen Kategorien dienen dabei als Unterscheidungen, um das empirische Material zu strukturieren. Als adäquates Verfahren zur Rekonstruktion habitusspezifischer Rezeptionsprozesse empfiehlt sich das Gruppendiskussionsverfahren in Verbindung mit der Dokumentarischen Methode nach Ralf Bohnsack. Nach einer Darstellung der damit verbundenen Methode und Methodologie (2.1) folgen zwei exemplarische Fallrekonstruktionen – zunächst die Analyse der Rezeption eines „offenen“ (2.2), sodann eines „geschlossenen“ Bildes (2.3). Im dritten Teil der Arbeit wird schließlich der empirische Ertrag der Untersuchung für eine „praxeologische Rezeptionsforschung“ diskutiert, die den Habitus der Rezipierenden in ihr Zentrum rückt.

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

1.2 Das Bild: Anschauliche Evidenz und polyseme Textualität Bilder22 können unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden. Hier interessieren sie als potentiell sinnvoll erlebbare Kommunikationsmittel in einer Rezeptionsbeziehung. Da der Sinn als Interaktionprodukt von Bild und Rezipierenden verstanden wird, muss untersucht werden, inwiefern Bilder die Sinnkonstruktion einerseits strukturieren, andererseits aber auch Freiräume der Interpretation lassen. Diese „Dialektik von Form und Offenheit“ (Eco 1972, S. 166), die zu einem „Oszillieren“ (Eco 1992, S. 22) der Sinnbildung zwischen Bild und Rezipierenden führt, lässt sich mit einem semiotischen Vokabular beschreiben. Ein Bild wird dann als Zeichen angesehen. Um aber einer ‚linguizistischen’ Vereinnahmung des Bildes vorzubauen, die aus einer unbedenklichen Applikation semiotischer Konzepte Saussure´scher Provenienz´ droht, muss auch die Besonderheit bildlicher Zeichen herausgearbeitet werden. Denn Bilder, insbesondere Fotografien, zeichnen sich durch eine eigentümliche „Doppelnatur“ aus: Auf abbildlicher Ebene kommt gegenständlichen Bildern eine anschauliche Evidenz zu, mit der sie sich auf die abgebildete Szene beziehen. Auf sinnbildlicher Ebene weisen sie ein hohes Maß an semantischer Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit auf (vgl. 1.1.1). Diese charakteristische Doppelnatur gegenständlicher Bilder spitzt die Frage nach der „Oszillation“ der Sinnbildung im Vergleich zu anderen Zeichensystemen noch einmal zu: Durch ihre unmittelbare Anschaulichkeit stehen gegenständliche Bilder im Verdacht, die Sinnbildung in besonderer Weise einzuschränken (es scheint ja vollkommen „offensichtlich“, was ein Bild zeigt), gleichzeitig aber legen sie – aufgrund ihrer semantischen Unabgeschlossenheit und Unbestimmtheit – die Vermutung nahe, sie reglementierten die Sinnbildung weniger stark als andere Zeichensysteme und ließen den Rezipierenden erhebliche Freiräume. Entlang der Leitdifferenz von Abbild und Sinnbild bewegt sich die Diskussion in diesem Kapitel. Zunächst (1.2.1) wird die anschauliche Evidenz der abbildlichen Ebene untersucht, durch die sich gegenständliche Bildzeichen von anderen, insbesondere sprachlichen Zeichen unterscheiden. Zugleich rücken dadurch die Wahrnehmungserlebnisse, die gegenständliche Bilder vermitteln können, in die Nähe der Wahrnehmungserlebnisse, die die Wirklichkeit vermittelt. Daher wird zunächst die Bildwahrnehmung der Wirklichkeitswahrnehmung gegenübergestellt (1.2.1.1). Denn obwohl Barthes speziell die Fotografie als „perfektes Analogon“ der Wirklichkeit (Barthes 1990a, S. 13) bezeichnet hat, unterscheiden sich die 22

Da sich die Arbeit mit der Rezeption von Fotografien beschäftigt, wird „Bild“ hier synonym mit „Foto“ verwendet. Auf die Besonderheiten fotografischer Bilder im Gegensatz zu anderen gegenständlichen Bildern wird jeweils eingegangen. Die meisten Überlegungen haben allerdings auch Geltung für nicht-fotografische, gegenständliche Bilder.

Das Bild

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Wahrnehmungserlebnisse. Im Vergleich lassen sich Besonderheiten der Wahrnehmung von Bildern herausarbeiten. Da Bilder als Zeichen verstanden werden, wird in einem zweiten Schritt das Problem der Bildlichkeit im Vergleich mit und in Abgrenzung von dem Zeichensystem der Sprache untersucht (1.2.1.2). Dabei stehen zwei Aspekte im Zentrum der Überlegungen: Zum einen die Ikonizität von Bildern, durch die sie sich auf der abbildlichen Ebene von der Konventionalität sprachlicher Zeichen unterscheiden. Zum andern die „anschauliche Simultaneität“ (Imdahl), die der Diskursivität der Sprache gegenübersteht. Sodann (1.2.2) wird die sinnbildliche Ebene von Fotografien untersucht und gefragt, wie Fotos trotz ihrer anschaulichen Evidenz Anlass für unterschiedliche Sinnzuschreibungen sein können, d.h. wie das Verhältnis von visueller Bestimmtheit und semantischer Unbestimmtheit beschrieben werden kann. Dazu bietet sich der semiotische Begriff des „Textes“ an, den John Fiske im Anschluss an Stuart Hall als „structured polysemy“ definiert (Fiske 1987, S. 65): Bilder sind in dieser Perspektive mehrdeutige (polyseme) Kommunikationsangebote, die die Sinnbildung aber nicht völlig freigeben, sondern sie strukturieren. Unter Bezug auf dieses Konzept lässt sich das ‚Ineinandergreifen’ von Initiativen der Rezipierenden und Initiativen des Bildes modellieren. Für ein weiteres Merkmal von Texten sensibilisieren verschiedene Ansätze der Semiotik. Texte strukturieren demnach nicht nur die Sinnbildung, sie weisen selbst auch eine interne Strukturiertheit in kleinere zeichenhafte Einheiten auf. Ob Fotografien auch vor dem Hintergrund dieser Ansätze als Texte bezeichnet werden können, d.h. ob auch gegenständliche Fotografien eine interne Strukturiertheit in kleinere zeichenhafte Einheiten aufweisen, wird unter 1.2.2.1 diskutiert. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse erlauben sodann (1.2.2.2) die Entwicklung eines differenzierteren Verständnisses der Polysemie von Bildern, indem zwischen zwei „Dimensionen der Offenheit“ unterschieden wird. 1.2.1 Die abbildliche Ebene: Das Bild als Ersatzreiz Die Frage, was ein Bild sei, wird oftmals in sehr grundsätzlicher Weise gestellt und findet ihren Niederschlag in ebenso grundsätzlichen Aufsatz- bzw. Buchtiteln: „Was ist ein Bild?“ (Boehm 1994); „Was ist ein Bild?“ (Polanyi 1994); „Was ist ein Bild?“ (Mitchell 1990); „What is the Image?“ (Peternák 1999); „What is a Picture?“ (Boas/Wrenn 1964). Eine Annäherung an eine mögliche Antwort soll hier über die Frage „Was ist ein Bild nicht?“ gesucht werden. Ein Bild kann den Eindruck eines Wirklichkeitsausschnitts vermitteln, ist jedoch nicht mit ihm identisch. Es tut dies, indem es in eine Zeichenrelation eintritt, die sich vom Signifikationsmodus sprachlicher Zeichen in wesentlichen Punkten

Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

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unterscheidet. Bilder lassen sich daher zum einen von der Wahrnehmung der ‚Wirklichkeit’, auf die sie sich beziehen, zum andern vom Zeichensystem der verbalen Sprache abgrenzen. Auf diese Weise soll versucht werden, dem spezifisch bildlichen Zeichencharakter näherzukommen, den Langer als „präsentativen Symbolismus“ (dies. 1984, S. 103) bezeichnet. Zwar handelt es sich auch bei Bildern um ein Zeichensystem („Symbolismus“), aber um ein Zeichensystem, das „unmittelbar zu den Sinnen spricht“ und „zuerst und hauptsächlich eine unmittelbare Präsentation eines Einzeldinges“ ist (ebd., S. 102). Es geht hier nicht um die abschließende Klärung des „Wesens“ von Bildern, noch um die Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen zur Beantwortung der Frage „Was ist ein Bild?“ (vgl. Sachs-Hombach/Rehkämper 1998, S. 122) Vielmehr sollen einige Aspekte von Bildern erörtert werden, die im Interaktionsprozess mit Rezipierenden von Relevanz sein können. 1.2.1.1 Bild- vs. Wirklichkeitswahrnehmung Kamera und Auge Fotografien haben einen intimen Bezug zur abgebildeten Wirklichkeit.23 Zum einen weist der Wahrnehmungseindruck, den eine Fotografie ermöglicht, in bestimmten Aspekten Ähnlichkeit mit dem Wahrnehmungseindruck des abgebildeten Gegenstandes auf. Diesen Aspekt von Fotografien machen sich bspw. Pass- und Fahndungsfotos zu Nutze. Er war Gegenstand einer kontroversen Debatte, auf die unter 1.2.1.2 näher eingegangen wird. Es kann jedoch festgehalten werden, dass Fotografien auf der Ebene des Wiedererkennens von Personen und Objekten kaum Schwierigkeiten des Verstehens bereiten (Gombrich 1984, S. 278 f., Espe 1990, S. 26; Kübler 1994, S. 24). Zum andern steht ein fotochemisch hergestelltes Bild in einem kausalen Verhältnis zur abgebildeten Wirklichkeit (Nöth 2000, S. 496; Nöth/Santaella 2000, S. 365): Die von den Gegenständen der Wirklichkeit reflektierten Lichtstrahlen fallen durch das Objektiv einer Kamera auf den lichtempfindlichen Film, wie durch die Linse des menschlichen Auges auf die Retina.24 Dennoch dürfte es kaum zu einer 23 24

Schuster und Woschek (1989, S. 14) sprechen von der „‚magische(n)’ Verwandtschaft von Bild und Realität“ und berichten von einem Experiment, bei dem sich die Versuchspersonen weigerten, dem Bild der eigenen Mutter die Augen auszustechen. Es muss hier nicht betont werden, dass die Sinnesreize keineswegs als data bruta zu verstehen sind, die einer Deutung vorausgehen und unabhängig von ihr gedacht werden könnten. Weder für die Wirklichkeitswahrnehmung noch für die Bildwahrnehmung soll hier ein naiver Abbildrealismus postuliert werden. Wahrnehmung – sowohl der Wirklichkeit als auch von Bildern – wird vielmehr als ein wesentlich aktiver und konstruktiver Prozess aufgefasst, der im Rahmen

Das Bild

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Verwechslung von Bild und abgebildetem Gegenständen kommen. Denn: „The projected image of these objects is focussed, cropped and distorted by the flat, rectangular plate of the camera which owes its structure not to the model of the eye, but to a particular theoretical conception of the problems of representing space in two dimensions.” (Tagg 1988, S. 3) Die Fotografie unterscheidet sich jedoch nicht nur durch ihre Zweidimensionalität, die aus der monokularen Aufnahmetechnik der Kamera im Gegensatz zum binokularen Sehen des Augenpaares resultiert, vom dreidimensionalen ‚Blick auf die Welt’. Sie weist überdies eine doppelte Fixierung auf: Zum einen wird aus dem kontinuierlich ablaufenden Wahrnehmungsfluss ein Moment ‚herausgegriffen’ und in seiner Dynamik ‚eingefroren’. Im Gegensatz zur Wirklichkeitswahrnehmung ist das fotografische Bild statisch. Zum andern wird auch der Betrachter fixiert. Der unaufhörlich schweifenden Blick, dem sich in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit auch bei ruhendem Körper eine permanente Verschiebung der Perspektiven, Ansichten und räumlichen Konstellationen bietet, wird bei der Betrachtung einer Fotografie auf eine einzige Ansicht mit einem starren Gefüge der Relationen festgelegt.25 Das sukzessive ‚Abtasten’ des Bildes mit den Augen führt zu keiner Verschiebung der Perspektivenverhältnisse. Eine Perspektivänderung durch Herumgehen um abgebildete Objekte erlaubt eine zweidimensionale Fotografie ohnedies nicht. Die Konstruktionen der Wirklichkeitswahrnehmung zeichnen sich daher u.a. dadurch aus, dass sie aufgrund der sensomotorischen Aktivität des konstruierenden Akteurs reichhaltiger und komplexer werden können, während die Konstruktionen der Bildwahrnehmung bei gleicher sensomotorischer Aktivität sehr viel eher einen ‚Sättigungsgrad’ erreichen, d.h. keine weitere Detaillierung oder Reorganisation der Konstruktionen erfahren. Einansichtigkeit Die Zweidimensionalität und doppelte Statik des Bildes sind aber nicht unbedingt als Defizit gegenüber der Wirklichkeitswahrnehmung zu sehen, sondern können als Bedingung für die Frage nach Sinn und Bedeutsamkeit betrachtet werden26. Darauf weist auch Max Imdahl hin und hält zunächst einmal fest:

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dieser Arbeit allerdings nicht weiter erörtert wird. Vgl. dazu Anderson 1988, Nicolaisen 1994, Waldmann 1990 und speziell zur Bildwahrnehmung Weidenmann 1988. Die beiden Arten der Fixierung können auch unabhängig voneinander auftreten: Bei statischen, figurativen Skulpturen wird aus einem Bewegungsablauf ein Moment herausgegriffen und zur Pose fixiert, der Betrachter kann aber um die Skulptur herumgehen und sie aus wechselnden Perspektiven wahrnehmen. Bei der Betrachtung eines Films wird innerhalb einer Sequenz und bei unbewegter Kamera dagegen nur die Ansicht des Betrachters festgelegt, die Dynamik der Diegese wird jedoch nicht angehalten. Als defizitär mögen die genannten Unterschiede erscheinen, wenn mit der Fotografie die Hoffnung verknüpft wird, sie könne Wirklichkeit ‚einfangen’ und ‚auf Zelluloid bannen’.

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„Faktisch ist jedes Bild eine Fläche.“ (Imdahl 1994, S. 319). Im Gegensatz zu „dreidimensionalen Gegebenheiten“ (ebd.) wie bspw. Plastiken oder alltagsweltlichen Gegenständen können Bilder daher nicht in beliebig vielen Ansichten gesehen werden. Zu klären sei jedoch, ob diese „Festlegung des zu Sehenden auf nur eine Ansicht“ (ebd.) als Reduktion der visuellen Erfahrung zu betrachten sei oder ob sich gerade dadurch ein sonst nicht zu vermittelnder Sinn erschließe. Dies würde bedeuten, so Imdahl weiter, dass jede denkbare „Sichtbarkeitsalternative“ (ebd.) den durch die realisierte Ansicht vermittelten Sinn „vernichtet“ (ebd.), d.h. dass sich das Bild gerade in seiner „Einansichtigkeit“ (ebd.) erfüllt. Darin unterscheide sich das Bild von allen übrigen Wahrnehmungsformen der visuellen Welt. Dies wiederum bedeute, „dass das im Bild zu Sehende – wie immer es auf die außerbildliche visuelle Welt hinweist oder auch nicht – außerhalb des Bildes keine Existenz hat und insofern mit dem Bild selbst identisch ist.“ (ebd.) Wenn die „Festlegung auf nur eine Ansicht“ des Bildes im Vergleich zur Wirklichkeitswahrnehmung nun keine ‚Reduktion’ bzw. kein ‚Defizit’ darstellen soll – worin könnte der ‚Gewinn’ oder zumindest die Besonderheit bestehen? Die Frage lässt sich leichter beantworten, wenn man sie differenziert: (a) Was sind die Besonderheiten einer Festlegung auf eine Ansicht? (b) Was sind die Besonderheiten einer Festlegung auf diese Ansicht? Bei der Festlegung auf eine Ansicht (a) wird der kontinuierliche Wahrnehmungsfluss und damit die dynamische Wirklichkeitserfahrung ‚angehalten’. Statt einer kontinuierlichen Abfolge von permanent wechselnden Ansichten wird nur eine Ansicht im Bild isoliert. Bei der Festlegung auf diese Ansicht (b) wird der Betrachter in einer bestimmten Perspektive fixiert. Aus einer Vielzahl von Alternativen wird eine spezielle Perspektive in der Besonderheit ihrer visuellen Relationen ausgewählt. Zwei Arten der Wahrnehmungsfixierung Die Fixierung der dynamischen Wirklichkeitswahrnehmung auf nur eine Ansicht (a) leistet einen Beitrag zur Erfüllung dessen, was Gottfried Boehm (1978, S. 457) als das „Wesen der Bildlichkeit“ bezeichnet hatte, das darin bestehe, „nicht abzubilden, sondern sichtbar zu machen, was ohne das Bild und von ihm unablösbar, nicht sichtbar wäre.“ (ebd.) Um die Diktion vom „Wesen“ nicht aufzugreifen, könnte man etwas spröder von einer „Problemstellung“ sprechen, die bereits in der Frühphase der Fotografie virulent war. Im Jahr 1872 wurde der Fotograf Eadweard Muybridge beauftragt zu untersuchen, ob es im Bewegungsablauf eines galoppierenden Pferdes einen Moment gebe, in dem sich alle vier Beine des Tieres gleichzeitig in der Luft befinden. Muybridge untersuchte den Galopp mit einer Reihe von Kameras, die er parallel zur Rennstrecke und damit zum Lauf des Pferdes aufbaute und die durch eine Automatik ausgelöst wurden

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(vgl. Busch 1995, S. 368 f.). „Muybridges Studien zerlegten den Bewegungsablauf in eine nur durch technische Bedingungen begrenzte Folge von Einzelmomenten – und aus diesem Grund wirkten sie als Wahrnehmungssensation. Sie zerrütteten die Posen der Kunst, in denen diese die Bewegung zum Bild verdichtet hatte, sie verunsicherten aber gleichzeitig die Vorstellungskraft der Anschauung.“ (ebd. S. 370) Die einzelnen Bewegungsmomente widersprachen sowohl den Darstellungen galoppierender Pferde, die bis dahin in der Malerei üblich waren, als auch den Vorstellungen, die man sich aufgrund der Beobachtung galoppierender Pferde gemacht hatte. „Diese Experimente demonstrierten in eindrücklicher Weise, dass es Ereignisse gab, die nur fotografisch sichtbar gemacht werden können oder wahrnehmbar sind.“ (Oeder 1988, S. 206) Durch die „Festlegung auf eine Ansicht“ wurde ein visueller Sachverhalt im eigentlichen Sinne erst sichtbar, d.h. der ‚Sicht’ eines Betrachters überhaupt erst zugänglich gemacht. Nur durch Fixieren der dynamischen Wirklichkeitswahrnehmung im Bild konnte der Bewegungsablauf des Pferdes eingehend betrachtet werden. Die „Festlegung auf eine Ansicht“ kann aber auch als Auswahl (b) einer ganz bestimmten Ansicht aus einer Vielzahl von Alternativen verstanden werden. Damit wird eine bestimmte Konstellation der visuellen Relationen, die sich nur von einem bestimmten Blickpunkt aus ergibt, den verworfenen Alternativen vorgezogen und als Bildkomposition installiert. Wird diese Komposition von den Betrachtenden als nicht-kontingent erlebt, so ergibt sich daraus die Frage nach dem Sinn und der Bedeutsamkeit genau dieser Konstellation. Die Ansicht eines Fotos fixiert als „Kairos“ nicht nur einen bestimmten Moment aus dem Gesamtzusammenhang eines komplexeren Handlungsablaufs vor der Kamera. Sie fixiert auch die spezifische Perspektive, aus der heraus sich die konkrete Konstellation der abgebildeten Personen, Gegenstände etc. zueinander als die charakteristische Bildkomposition des jeweiligen Fotos ergibt, die sich bei einer Bewegung der Kamera selbst (bzw. des Beobachters) verschieben und zu einem anderen Bild führen würde. Die Fixierung einer bestimmten Perspektive führt zu einer „szenischen Konfiguration“ und „planimetrischen Ordnung“ (Imdahl 1994, S. 309), die in ihrem ‚So-Sein’ zur Konstitution des spezifischen ikonischen Sinn eines Bildes beitragen. Mit diesen beiden Komponenten lässt sich der ikonische Sinn sowohl inhaltlich, d.h. unter Bezug auf die abgebildete Szene, als auch formal beschreiben. An anderer Stelle spricht Imdahl von der inhaltlichen Komponente des ikonischen Sinns auch als „szenischer Choreographie“ (Imdahl 1996a, S. 19) und versteht darunter die „szenische Konstellation der in bestimmter Weise handelnden oder sich verhaltenden Figuren in ihrem Verhältnis zueinander“ (ebd.). Die formale Charakterisierung des ikonischen Sinns bezeichnet er auch

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als „planimetrische Konfiguration“ (ebd. S. 26), die, „insofern sie bildbezogen ist, nicht von der vorgegebenen Außenwelt, sondern vom Bildfeld“ ausgeht, „welches sie selbst setzt“ (ebd.). Dieser bildspezifische ikonische Sinn, der außerhalb eines Bildes nicht anzutreffen ist, erschließt sich nach Ansicht Imdahls durch eine „spezifisch ikonische Anschauungsweise“ (Imdahl 1996, S. 626), die man auch als „Ikonik“ bezeichnen kann. Die vermeintlich defizitäre „Einansichtigkeit“ des Bildes erhebt demnach erst die Frage nach dem genuin bildlichen, ikonischen Sinn. „Wie sollte man (...) veranlasst sein, statt jener sinnstiftenden Bindungen des zu Sehenden an die prinzipiell unräumliche Kontinuität einer Ebene andere oder sogar wechselnde perspektivische Ansichten herbeizuwünschen – unter Verlust des Bildsinns?“ (Imdahl 1996, S. 319 f.) Rahmen Ein Bild ist aber nicht nur dynamisch und dimensional auf eine statische Fläche begrenzt, es ist auch in der Fläche umgrenzt. Als weiteres wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Bild- und Wirklichkeitswahrnehmung kann daher der Rahmen genannt werden. Nach Ansicht Hickethiers wird das Bild in seiner „Bildhaftigkeit“ (Hickethier 1993, S. 46 f.) durch den Rahmen „bestimmt“ (ebd.). Denn durch den Rahmen werde das Abgebildete nicht nur von den visuellen Erscheinungen der Wirklichkeit abgehoben, isoliert und aus den optischen Konstellationen herausgelöst, in die es in der Alltagswahrnehmung eingebunden ist. Der Rahmen erkläre das in ihm Gezeigte vielmehr zu etwas „Zusammengehörendem“ (ebd.). „Was in der Realität als zufällig und ungeordnet erscheint, erhält durch den Rahmen eine innere Ordnung. (...) Die Bildgrenze und das durch sie formulierte Format schaffen eine innerbildliche Anordnung der Elemente, grenzen Dinge aus und erklären das innerhalb der Bildgrenzen Gezeigte zu einer eigenen Welt, zu einem Kosmos“ (Hickethier 1993, S. 46 f.). Der Rahmen kann den Eindruck vom Bild als einem „Ganzen“ vermitteln, aus dem heraus nach hermeneutischer Maxime seine Einzelelemente zu verstehen sind und umgekehrt. Durch die Evozierung einer Teil-Ganzes-Relation trägt auch der Rahmen dazu bei, dass sich die Frage nach dem Sinn eines Bildes stellt. Die Teile in Relation zum Ganzen bilden eine Struktur, die den Eindruck einer „Ordnung“ bzw. eines „Kosmos“ erwecken (vgl. dazu auch 1.2.2.1). „Dabei ist es so, dass der Ausschnitt nicht nur zur Folge hat, dass Wirklichkeit ausgegrenzt wird. Er wirkt auch auf das Eingegrenzte, also den Bildinhalt, und zwar so, dass die im Bild erscheinende Natur, die durch den Ausschnitt sozusagen einen Rahmen bekommt, einen geordneteren Eindruck macht, als das in Wirklichkeit der Fall ist.“ (Buddemeier 1982, S. 160)

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„Kosmos“ und „Ordnung“ können als das Gegenteil von Chaos und Kontingenz verstanden werden. Wenn ein Bild den Eindruck einer Ordnung vermittelt, dann präsentiert es sich noch nicht automatisch als sinnvoll geordnet, es legt aber durch seine Zurückweisung der Kontingenz die Frage nach dem Sinn nahe. Die Betrachtenden werden dann eingeladen, die Relationen der Bildstruktur, d.h. die Beziehungen der einzelnen Bildelemente zueinander und zum Bildganzen inhaltlich zu bestimmen und so mit Sinn anzureichern. Der Rahmen vermittelt die Erwartung einer sinnvollen Ordnung.27 Auch die Umgrenzung des Bildes ist demnach nicht als „Reduktion“ gegenüber der Wirklichkeitswahrnehmung zu sehen. Durch ihre Zweidimensionalität, Statik, Monoperspektivik und Umgrenztheit kann eine Fotografie den Eindruck eines geordneten Kosmos erwecken, durch den sie anders als die Wirklichkeitswahrnehmung einen Bedeutsamkeitsverdacht auf sich ziehen kann. Privater und öffentlicher Gebrauch der Fotografie Der Bedeutsamkeitsverdacht eines Bildes stellt jedoch lediglich eine Potentialität dar, die in der konkreten Rezeption aktualisiert werden muss. Kommt diese Potentialität jedem Foto zu? Man mag versucht sein, einen Unterschied zwischen „bedeutenden“ Fotos einerseits und „alltäglichen“ Fotos andererseits zu machen, die keinen Bedeutsamkeitsverdacht auf sich zu ziehen scheinen, da sie eine scheinbar banale, willkürlich ausgewählte Situation zeigen.28 Eine andere Unterscheidung erscheint jedoch fruchtbarer: Mit John Berger kann zwischen zwei Arten des Gebrauchs von Fotografien unterschieden werden, dem privaten und dem öffentlichen: „The private photograph – the portrait of a mother, a picture of a daughter, a group photo of one´s own team – is appreciated and read in a context which is continous with that from which the camera removed it.“ (1991, S. 55; Herv. i. Org.). Daran lässt sich folgende Überlegung anschließen: Befinden sich Rezeptions- und Produktionskontext in einem Kontinuum, d.h. war der Bildbetrachter auch Teil der Aufnahmesituation, dann, so kann ange27

28

Noch aus einer anderen Perspektive lässt sich der Rahmen als konstitutiv für die Sinnbildung ansehen. Alfred Schütz nennt die Wohlumgrenztheit als Bedingung für die Sinnhaftigkeit eines Erlebnisses. „Wenn ich von einem dieser Erlebnisse aussage, dass es sinnhaft sei, so setzt dies voraus, dass ich es aus der Fülle der mit ihm zugleich seienden, ihm vorausgegangenen und ihm nachfolgenden schlicht erlebten Erlebnisse ‚heraushebe’, indem ich mich ihm ‚zuwende’. Wir wollen ein so herausgehobenes Erlebnis ein ‚wohlumgrenztes Erlebnis’ nennen und von ihm aussagen, dass wir mit ihm einen ‚Sinn verbinden’.“ (Schütz 1974, S. 53) Als Beispiele wäre an die ersten Fotos nach dem Einlegen eines neuen Films zu denken, die nur den Fußboden zeigen oder an Fotos, die als „Schnappschüsse“ im privaten Kontext aufgenommen wurden und ein willkürliches Arrangement von Personen und Objekten zeigen (etwa bei einer privaten Feier, im Urlaub o.ä.). Trotz ihres Rahmens stellt sich bei diesen Fotos nicht unbedingt ein „geordneter Eindruck“ ein, der das Bild einem ikonischen Bedeutsamkeitsverdacht aussetzt.

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nommen werden, wird das Wissen um die Zufälligkeit der räumlichen Konfiguration in der Aufnahmesituation möglicherweise auf die zweidimensionalen Relationen des Bildes übertragen, der Bedeutsamkeitsverdacht kann dann ausbleiben. Dabei wird nicht das Kontinuum des Erlebens als kontingent erlebt – so die These –, sondern das Herausgreifen einer willkürlichen Konstellation. Der Sinn der Aufnahmesituation erscheint unmittelbar evident, so dass der spezifisch ikonische Sinn des Bildes aus dem Blick gerät: Das Bild erscheint als Bild banal, alltäglich und „unbedeutend“. Das, was man über die Entstehungssituation weiß, überlagert den Blick auf die Struktur des Bildes. Die persönliche Verbundenheit mit dem abgebildeten Ereignis kann es schwierig machen, von dieser Verbundenheit zu abstrahieren und das Bild als Bild (und nicht als Spur des Ereignisses) mit einer ikonischen Struktur zu betrachten. Wird das gleiche Foto dagegen in einer Situation betrachtet, die für die Rezipierenden in keinem kontinuierlichen Verhältnis zur Aufnahmesituation steht, so können die ikonischen Strukturen einen genuin bildlichen Bedeutsamkeitsverdacht auf sich ziehen. Es handelt sich demnach um keinen bildimmanenten Unterschied zwischen „bedeutenden“ und „alltäglichen“ Bildern, sondern um unterschiedliche Weisen des Gebrauchs. Denn bei öffentlichem Gebrauch, für den nach Berger die Relation der „strangeness“ zwischen Bild und Betrachtenden konstitutiv ist (Berger 1991, S. 56), kann ein vermeintlich „alltägliches“ Foto (z.B. als Abbildung in einer Zeitschrift, oder in einer Fotoausstellung – vergrößert auf 2 x 3 m) durchaus unter Bedeutsamkeitsverdacht gestellt werden. Entscheidend ist keine Eigenschaft des Bildes selbst, sondern sein Bezug zu den Rezipierenden: Was im einen Kontext als selbstevident und trivial empfunden werden mag, kann in einem anderen Kontext als beziehungsreiches Deutungsangebot erscheinen, das eine eingehendere Interpretation erheischt. Rhetorischer und referentieller Rezeptionsmodus Ob die ikonische Struktur als kontingent oder nicht-kontingent erlebt wird, hängt demnach nicht vom Bild, sondern von der Betrachtungsweise ab. Als eine Art der Betrachtungsweise, die ein kontingentes Erleben der Ikonik vermutlich begünstigt und die Rezipierenden daher ‚blind’ macht für den ikonischen Bildsinn, wurde der private Gebrauch einer Fotografie herausgearbeitet. Der Unterschied der Betrachtungsweisen ist jedoch nicht zwingend an die Differenz von öffentlichem und privatem Gebrauch gebunden: Genauso wie es möglich ist, dass auch im privaten Gebrauch die ikonische Struktur eines Fotos als nichtkontingent erlebt wird, so kann sie im öffentlichen Gebrauch auch als kontingent erlebt werden. Es lassen sich daher unabhängig von der Frage der Gebrauchsweise (privat vs. öffentlich) zwei Rezeptionsmodi unterscheiden:

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Beim rhetorischen Rezeptionsmodus (vgl. Katz 1996, S. 18 ff.) werden die „planimetrische Ordnung“ und die „szenischen Konstellationen“ des Bildes als nicht-kontingent erlebt. Das heißt jedoch nicht, dass das ikonische Beziehungsgefüge bereits mit einem klar umrissenen Sinn erfüllt ist. Es wird lediglich als potentiell bedeutsam angesehen.29 Im rhetorischen Rezeptionsmodus wird das Bild als Bild, d.h. als zweidimensional gestaltetes oder ausgewähltes Artefakt betrachtet, die Rezipierenden haben ein „awareness of the constructedness“ des Bildes (Katz 1996, S. 20). Das spezifische ‚So-sein’ der bildinternen Relationen, die statische Konfiguration der Bildelemente in der Bildfläche und der Bildausschnitt als Resultat einer Auswahlentscheidung werden als prinzipiell relevant für die Bildung einer Sinnhypothese angesehen. Vom rhetorischen Rezeptionsmodus lässt sich der referentielle Rezeptionsmodus unterscheiden, in dem die ikonische Struktur des Bildes als kontingent erlebt wird. In ihm wird das Bild nicht als Bild, sondern als „Fenster zur Welt“ betrachtet, durch das man auf eine soziale Situation blicken kann, die in ihren räumlichen Bezügen zwar als zufällig, als Situation aber durchaus als sinnvoll erlebt werden kann. Die ikonische Konfiguration wird dabei nicht als potentiell bedeutsam und absichtsvoll komponiert erlebt. Die bildinternen Relationen erscheinen als wahllos herausgegriffen und kontingent. Dieser Rezeptionsmodus, der nicht zwischen Bild- und Wirklichkeitswahrnehmung unterscheidet, kann mit Weidenmann (1988, S. 77 ff.) auch als ökologisches Bildverstehen bezeichnet werden. 1.2.1.2 Bild vs. Sprache Bilder als Zeichen Der Verweis eines Bildes auf einen Wirklichkeitsausschnitt kann als Zeichenrelation konzeptualisiert werden. Eine elementare Zeichendefinition lautet „aliquid stat pro aliquo.“ (Eco 1985, S. 30; vgl. Eco 1987a, S. 38) Damit ist die für Zeichen konstitutive Differenzierung in Ausdruck und Inhalt, in Signifikant und Signifikat verbunden, die je nach semiotischer Tradition um weitere Dimensionen erweitert werden kann. Dass die Betonung des Zeichencharakters von Bildern mittlerweile durchaus als „üblich“ (Wiesing 1998, S. 95) betrachtet werden kann, lässt sich an der Etablierung einer eigenständigen Forschungsrichtung 29

Im Verstehensmodell von Weidenmann (ders. 1988) entspricht dem rhetorischen Rezeptionsmodus das indikatorische Bildverstehen: Es konzentriert sich auf die „Nicht-Zufälligkeit einer Reizkonstellation“ (ebd., S. 176): „Das verstehende Subjekt wertet perzipierte Besonderheiten von Bildelementen indikatorisch als Resultate absichtsvoller Entscheidungen des Bildproduzenten aus.“ (ebd.)

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„Bildsemiotik“ (Nöth 2000, S. 471 ff.; Nöth/Santaella 2000, Blanke 1998, Sonesson 1993) und an der Quantität der Literatur zum Thema Bildsemiotik ablesen, von der Sonesson bereits Anfang der 90er Jahre feststellte, dass ein vollständiger Überblick „natürlich schon lange nicht mehr möglich“ ist (Sonesson 1993, S. 128). Gleichwohl gibt es kritische Stimmen, die den Zeichenstatus von Bildern zumindest als prekär erscheinen lassen: „Wenn eines vom Bild grundsätzlich gilt, dann eine Unverträglichkeit gegenüber der Trennung von abstrakten Zeichen und ihnen transzendenten Sinn. Bildlichkeit fällt vor die metaphysische Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem, Innen und Außen, Sinnlichkeit und Begriff, Form und Inhalt.“ (Boehm 1978, S. 449) Als „verheerend“ wird dabei die Übertragung des „Modellcharakters“ der Sprache auf das Bild angesehen, der darin bestehe, „Sinn von der Weise seines sinnlichen Erscheinens abzulösen“ (ebd.). Für die untersuchungsleitende Frage „Was ist ein Bild nicht?“ lässt sich daher folgern: Bilder können als Zeichen betrachtet werden, die jedoch nicht in allen Punkten nach dem Zeichensystem der Sprache zu modellieren sind. Unterschiede zwischen bildlichen und sprachlichen Zeichensystemen, die auch Konsequenzen für die Sinnbildungsprozesse haben können, lassen sich unter den Stichworten Ikonizität und Simultaneität erörtern. Ikonizität Sprachliche Zeichen sind konventionell, die sprachlichen Signifikanten /hut/ stehen bspw. mit ganz anderen Signifikaten in Verbindung, je nachdem, ob sie nach den Regeln des deutschen oder englischen Sprachcodes korreliert werden. Entsprechend ändert sich die Bedeutung des Zeichens. Die Signifikanten selbst haben weder etwas Hut- noch etwas Hüttenhaftes an sich. Langer hält als Merkmal sprachlicher Zeichen daher fest, „dass sie keinen Wert haben außer als Symbole (oder Anzeichen); an sich betrachtet sind sie gänzlich belanglos. (...) Dies ist die Quelle der mehrfach in der Forschung hervorgehobenen ‚Transparenz’ der Sprache. Vokabeln an sich sind so wertlos, dass wir ihr physisches Vorhandensein überhaupt nicht mehr wahrnehmen und uns nur ihrer Konnotationen, Denotationen und anderer Bedeutungen bewusst werden.“ (Langer 1984, S. 83)

Dies ist bei gegenständlichen Bildern anders. Sie können zu den ikonischen Zeichen30 im Sinne Peirces (vgl. Nöth 2000, S. 193 f.) gerechnet werden, die definiert werden als „Klasse von visuellen oder akustischen Zeichen, die in unmittelbar wahrnehmbarer Beziehung zur bezeichneten Sache stehen, indem sie Aspekte des realen Objekts abbildhaft imitieren und dadurch eine Ähnlich30

Das Adjektiv „ikonisch“ zu „Ikon“ (Zeichenklasse) darf nicht verwechselt werden mit „ikonisch“ als Adjektiv zu „Ikonik“ im Sinne Imdahls (s.o.).

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keit oder Gemeinsamkeit von Merkmalen aufweisen.“ (Bußmann 1990, S. 323) Bilder haben demnach einen „eigenen Wert“ und können auch „an sich“ betrachtet werden. Durch die „Ähnlichkeit oder Gemeinsamkeit“ der Merkmale ist ihre Beziehung zu dem, was sie bezeichnen zudem motiviert, das Bildzeichen ist „self-contained“ (Fiske/Hartley 1989, S. 41) und beruht nicht lediglich auf Konventionen. Oben wurde bereits festgestellt, dass gegenständliche Fotografien in einer Ähnlichkeitsrelation stehen. Nach C.W. Morris kann das Maß der Ähnlichkeit zwischen einem ikonischen Zeichen und seinem Referenzobjekt als „Ikonizität“ bezeichnet werden (Morris 1973, S. 99; Bußmann 1990, S. 323). Die Frage nach der Ähnlichkeit von Bildern war Gegenstand einer so kontroversen Debatte, dass Eco sich bemüßigt fühlte rückblickend feststellen: „Es war keine Diskussion zwischen Verwirrten“ (Eco 2000, S. 387 f.). Sie soll hier nicht in allen Details aufgerollt, sondern nur in groben Zügen wiedergegeben werden. Zentrale Frage war, ob Bilder auf die Wirklichkeit verweisen, da sie der Wirklichkeit ähnlich sind. Zu den prononciertesten ‚Ähnlichkeitsgegnern’ gehören Nelson Goodman und der ‚frühe’ Eco. Unabhängig von einander veröffentlichten sie 1968 Arbeiten, in denen sie die Ähnlichkeitsrelation als irrelevant ablehnten: Goodman seine „Languages of Art“ (dt.: „Sprachen der Kunst“, hier: 1995) und Eco die „Struttura Assente“ (dt.: „Einführung in die Semiotik“, 1972). Beide nahmen Bezug auf Gombrichs „Art and Illusion“ von 1960. Gombrich vertrat dort die Auffassung, dass die Verweisfunktion von Bildern auf kulturellen Konventionen beruhe, nicht aber auf einer Ähnlichkeit von Bild und Abgebildetem. Diese Behauptung widerrief Gombrich jedoch 1982 (hier: 1984) wieder: Bilder „sind verständlich, weil sie den Dingen oder Geschöpfen, die sie repräsentieren, mehr oder minder ähnlich sehen. Diese naheliegende Unterscheidung zwischen Bildern, die als Nachahmungen unmittelbar verständlich sind, und Wörtern, die auf ‚Konvention’ beruhen, beherrscht seit Platon die Diskussion über Symbole und Semiotik. (...) Wir können ein Bild lesen, weil wir es als eine Nachahmung der Realität in einem bestimmten Medium erkennen. Leider muss ich mich hier schuldig bekennen, diese so plausible Ansicht in Frage gestellt zu haben.“ (Gombrich 1984, S. 274).

Gombrich kommt daher zu dem Ergebnis: „Eine Photographie lesen zu lernen scheint jedenfalls etwas ganz anderes zu sein als die Erlernung eines willkürlichen Kodesystems.“ (ebd., S. 278) Während Goodman seine Ansicht in Auseinandersetzung mit Gombrich präzisierte31, vollzog Eco eine schrittweise Wandlung vom ‚Ähnlichkeitsgegner’

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„Ich behaupte nicht, Darstellung sei eine reine Sache der Konvention, sondern bin der Ansicht, dass man zwischen dem, was Konvention ist und was nicht, keine strenge Grenze ziehen kann. (...) Auch ich leugne nicht, dass der Realismus in der Darstellung etwas mit Ähnlichkeit zu tun hat, sondern betone nur dass sie sich gegenseitig beeinflussen und dass es weder für den Rea-

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zum Befürworter eines differenzierten Ähnlichkeitsbegriffs. Er verlagerte zunächst die Ähnlichkeitsbeziehung von der Relation Bild – Wirklichkeit auf die Relation Bild – Wahrnehmungsmodell, wobei er das Wahrnehmungsmodell als kulturspezifisch auffasste (Eco 1987a, S. 272). „Wenn das ikonische Zeichen mit irgendetwas Eigenschaften gemeinsam hat, dann nicht mit dem Gegenstand, sondern mit dem Wahrnehmungsmodell des Gegenstandes.“ (Eco 1972, S. 213) Eco erläutert dies anhand eines Plakats, das ein Glas mit eisgekühltem Bier zeigt, und fragt, welche Merkmale das Plakat mit einem echten Glas Bier gemeinsam hat. „Auf der Druckseite finden wir weder Bier, noch Glas, noch feuchten und eiskalten Beschlag.“ (Eco 1972, S. 201) Von einer direkten Ähnlichkeit zwischen ikonischem Zeichen und abgebildeter Wirklichkeit könne daher nicht geredet werden. Die vom Bild gelieferten Erfahrungsdaten würden vielmehr genauso behandelt wie die von der „Sinneswahrnehmung“ (Eco 1972, S. 202) gelieferten Erfahrungsdaten: Sie werden selektioniert und strukturiert „auf Grund von Annahmen, die von der vorhergehenden Erfahrung abhängen, und folglich auf Grund von erlernten Techniken, also auf Grund von Codes.“ (ebd.; Herv. i. Orig.) Nöth konstatiert hier eine „neue Sichtweise der Ikonizität als einer Bedeutungsbeziehung und nicht einer Objektrelation“ (Nöth 2000, S. 196). Doch während Eco in der Folgezeit (1976, hier: 1987a) für eine „Eliminierung des ‚ikonischen Zeichens’“ (Eco 1987a, S. 287) plädierte, räumte er in jüngerer Zeit ein, „dass es semiosische Phänomene gibt, bei denen man, auch wenn man weiß, dass es sich um ein Zeichen handelt, dieses, ehe man es als Zeichen für etwas anderes wahrnimmt, zuerst als Gesamtheit von Reizen wahrnehmen muss, die den Eindruck erzeugt, man befinde sich vor dem Objekt.“ (Eco 2000, S. 429) Wie der ‚späte’ Eco nunmehr deutlich macht, kann die Herstellung einer Ähnlichkeitsrelation zwischen Bild- und Wirklichkeitswahrnehmung der Konstruktion eines Wahrnehmungsmodells vorausliegen (Eco 2000, S. 408 ff.), d.h. die Ähnlichkeit besteht demnach nicht auf Grundlage dieses Modells, sondern unmittelbar zwischen Bild- und Wirklichkeitswahrnehmung (vgl. Eco 2000, S. 552 f., Anm. 19). Das Bild fungiert dann als „Ersatzreiz“, da „diesselben Rezeptoren erregt werden, die in Gegenwart des wirklichen Reizes erregt würden“ (Eco 2000, S. 404). Um auf das Beispiel des Bierglases zurückzukommen, so haben die Farbpigmente auf dem Papier keine Ähnlichkeit mit einem realen Glas Bier, wohl aber der von ihnen produzierte Ersatzreiz mit dem Eindruck, den ein reales Bierglas vermittelt. Der „eigentliche Kern des Missverständnisses“, so stellt Eco rückblickend fest, liege „beim unmittelbaren Übergang von der primären Ikonizität der Wahrlismus noch für die Ähnlichkeit eindeutige oder absolute Kriterien gibt.“ (zitiert nach Gombrich 1984, S. 280, Anm.).

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nehmung (also von der Evidenz, dass perzeptiv Ähnlichkeitsbeziehungen bestehen) zu einer Theorie der instituierten Gleichartigkeit bzw. der Erzeugung des Ähnlichkeitseffektes.“ (Eco 2000, S. 400 f.) Die Mittel zur Erzielung des Ähnlichkeitseffekts müssen selbst keine Ähnlichkeit mit den abgebildeten Objekten haben und können auf Konventionen beruhen. Gleichwohl kann sich das Erleben der Ähnlichkeit unmittelbar und ohne Kenntnis der entsprechenden Gestaltungskonventionen einstellen.32 Auch Gombrich äußerte sich „überzeugt, dass wir bei der Analyse der Rolle, die die Konvention beim Bildermachen spielt, zwei verschiedene, wenn auch miteinander eng verzahnte Dinge berücksichtigen müssen: einerseits die Methode der Darstellung, das Idiom, in der sie abgefasst ist (...), andererseits ihre Bedeutung für den Betrachter.“ (Gombrich 1984, S. 281; vgl. auch Boehm 1986, S. 301; Boehm 1994b, S. 338) Ähnlichkeit kann mit (konventionellen) Mitteln hergestellt („inszeniert“) werden, zur Rezeption der Ähnlichkeit ist die Kenntnis dieser Mittel jedoch nicht unbedingt nötig. Wie Gruppe P (z.B. 1995, s.o.) empfiehlt Eco bei Bildern daher die Unterscheidung von figurativen und plastischen Elementen (Eco 2000, S. 430)33: Die figurative Bildschicht steht im Zentrum, wenn „there is something in the ‘thing’ serving as the expression of the sign which is instrumental in producing an illusion of literally seeing in the twodimensional surface of the expression plane the projection of a scene extracted from the real world of three-dimensional existence (with, or without, a suggestion of lineal perspective)“ (Sonesson 1996, S. 86).

Die figurative Bildschicht bringt somit eine „reale Szene“ zum Vorschein. Bei gegenständlichen Bildern kann diese „reale Szene“ Teil der natürlichen Welt sein oder (v.a. bei Zeichnungen und Gemälden) Teil der kulturellen Welt – wie bspw. im Fall von Einhorn-Darstellungen (vgl. Eco 2000, S. 430). Abstrakte Gemälde haben dagegen keine figurative Bildschicht. Bei ihnen steht die plastische Bildschicht im Vordergrund. Sie wird betrachtet „in the case of which 32

33

Eco verdeutlicht dies mit folgendem Vergleich: „Wer jemals in einer Parfümfabrik war, wurde mit einer merkwürdigen olfaktorischen Erfahrung konfrontiert. Wir alle erkennen (auf der Ebene der Wahrnehmungserfahrung) ohne jede Schwierigkeit den Unterschied zwischen dem Duft eines Veilchens und dem des Lavendels. Will man aber industriell Veilchen- oder Lavendelessenzen erzeugen (die dieselbe, wenngleich etwas verstärkte Sinnesempfindung wie diese Pflanzen hervorrufen sollen), so mischt man Substanzen zusammen, die den Besucher mit einem Pesthauch unerträglichen Gestanks überfallen. Das heißt, dass man, um den Eindruck des Duftes von Veilchen oder Lavendel zu erzeugen, chemische Substanzen, die sehr schlecht riechen (obwohl das Endprodukt sehr wohlriechend ist) zusammenmischen muss. Ich weiß nicht, ob die Natur so verfährt, aber es liegt wohl auf der Hand, dass es eine Sache ist, den Sinneseindruck (fundamentale Ikonizität) eines Veilchenduftes zu empfangen, und eine andere, denselben Eindruck zu erzeugen. Das zweite erfordert den Einsatz einiger Techniken, um Ersatzreize zu erzeugen.“ (Eco 2000, S. 401) Gruppe P stellt den plastischen Bildelementen ikonische (iconic) Elemente gegenüber. Um die Begriffsverwirrung zwischen ikonisch als Ableitung sowohl von „Ikonizität“ als auch von „Ikonik“ nicht noch zu vergrößern, wird im weiteren der Terminologie Ecos gefolgt.

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meanings are derived from the properties which the expression plane of the picture really possesses, when considered as made up of mere two-dimensional shapes on a surface.“ (Sonesson 1996, S. 87)34 Auf der figurativen Ebene lässt sich ein gegenständliches Bild demnach als Abbild, auf der plastischen Ebene (wie ein gegenstandsloses Bild auch) als ‚Bildding’ betrachten, das durch eine bestimmte Verteilung von Rasterpunkten und Farbpigmenten, die Papierstruktur und -textur etc. charakterisiert wird. Die Ähnlichkeit zwischen der Wahrnehmung einer Fotografie und dem abgebildeten Wirklichkeitsausschnitt wird dann durch Manipulation der plastischen Elemente der Fotografie produziert, aber weitgehend auf der figurativen Ebene rezipiert. Dabei müssen die plastischen Bildelemente nicht erst als Ausdruck (Signifikant) eines Zeichens wahrgenommen werden, damit ihr Inhalt (Signifikat)35 auf der figurativen Ebene erkannt werden kann. Da das Bild auf der figurativen Ebene als Ersatzreiz wirkt, erkennt man die Szene vielmehr unmittelbar und quasi ‚automatisch’. Man muss also nicht erst erkennen, dass man vor einem bildlichen Zeichen steht, um die abgebildete Szene zu erkennen. Diese Rezeptionsstufe kann daher als „vor-semiotisch“ bezeichnet werden. Anders ist dies bspw. bei sprachlichen Zeichen: Bevor man die von einem Flugzeug in den Himmel geschriebenen Buchstaben entziffern kann, muss man erkannt haben, dass es sich bei den Kondensstreifen um die Ausdruckseinheiten (bzw. Signifikanten) eines Zeichens handelt.36 Eco unterscheidet hier zwei „Modalitäten“ der Rezeption: „Definieren wir als Modalität Alpha jene, bei der man, noch ehe man entscheidet, ob man den Ausdruck einer Zeichenfunktion vor sich hat, durch Ersatzreize jenes Objekt oder jene Szene wahrnimmt, die man dann als Ausdrucksebene einer Zeichenfunktion wählt.“ (Eco 2000, S. 437) Ihr gegenüber steht Modalität Beta, „bei der man, um die Ausdrucksebene von Zeichenfunktionen wahrzunehmen, erst einmal vermuten muss, dass es sich um Ausdrücke handelt, und bei der die Vermutung, sie seien Ausdrücke, ihre Wahrnehmung leitet.“ (Eco 2000, S. 437) Da Fotografien als Ersatzreize fungieren, erschließt sich die abgebildete Szene nach Modalität Alpha „unwillentlich“ bzw. „unwillkürlich“, d.h. ohne dass die Rezi34 35 36

Da bei gegenständlichen Bildern beide Bildschichten gegeben sind und je nach „Focussierung“ der Betrachtung in den Vorder- oder Hintergrund rücken, könnte man auch von figurativer bzw. plastischer „Perspektive“ oder „Lesart“ reden. Die Begriffe Zeicheninhalt und Zeichenausdruck entstammen dem Zeichenmodell von Hjelmslev und entsprechen Signifikat und Signifikant in Saussures Modell (vgl. Eco 1977b, S. 87; Nöth 2000, S. 81). Dies gilt selbstverständlich für alle Arten von Buchstaben. Am Extrembeispiel der Kondensstreifen lässt sich jedoch besonders anschaulich verdeutlichen, dass konventionelle Zeichen zunächst als Zeichen erkannt werden müssen, um verstanden werden zu können. Man denke auch an mimische Zeichen, wie z.B. ein Augenzwinkern, das als bloßes Lidzucken übersehen werden könnte, wenn es nicht in seiner Zeichenfunktion erkannt wird.

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pierenden sich erst entschließen müssten, ein Zeichen zu „lesen“. Hierzu merkt der ‚späte’ Eco an: „Nach fast vierzig Jahren Diskussion muss man wieder Barthes recht geben, der bei Fotografien (nicht bei Gemälden) von Botschaften ohne Code sprach. Er sprach von eben dem, was ich heute als Modalität Alpha bezeichne. In diesem Sinn sagt er, dass das Bild lediglich denotiere.“ (Eco 2000, S. 557, Anm. 35; vgl. Barthes 1964, hier: 1990b, S. 31 f.).37 Simultaneität Unter 1.2.1.1 wurde auf die ikonische Sinnstruktur des Bildes hingewiesen (ikonisch hier zu Ikonik im Sinne Imdahls), mit der sich das Bild als potentiell bedeutsam von der Wirklichkeitswahrnehmung abhebt. Damit verbunden ist eine Eigenschaft von Bildern, die sie auch vom Bedeutungssystem der Sprache unterscheidet. Denn die ikonische „Sinnstruktur lässt sich nicht als Vorgang erzählen, weil sie sich von narrativer Sukzession wie ebenso von empirischer Geschehenserfahrung unterscheidet. (...) Jene hochkomplexe Sinnstruktur bedarf des Bildes, und sie bezeugt zugleich die spezifische Vergegenwärtigungskraft von Bildlichkeit.“ (Imdahl 1994, S. 310) Statt durch narrative Sukzession zeichnen sich Bilder durch „anschauliche Simultaneität“ (ebd. S. 309) aus. Mit ihrer Simultaneität stehen Bilder im Gegensatz zur linearen Diskursivität der Sprache. „Sie bieten ihre Bestandteile nicht nacheinander, sondern gleichzeitig dar, weshalb die Beziehungen, die eine visuelle Struktur bestimmen, in einem Akt des Sehens erfasst werden. Daher ist ihre Komplexität nicht wie die des Diskurses nach Maßgabe dessen begrenzt, was der Geist vom Beginn eines Auffassungsaktes bis zu seinem Ende behalten kann.“ (Langer 1984, S. 99)

Auch an die Überlegungen zur Rahmung des Bildes lässt sich hier anknüpfen: Unter 1.2.1.1 wurde festgestellt, dass durch den Rahmen eine Teil-GanzesRelation im Sinne der Hermeneutik installiert wird. Unter Bezug auf die Simultaneität kann nun argumentiert werden, dass das „Ganze“ des Bildes – anders als 37

In den 60er Jahren hatte Roland Barthes einen wesentlichen Grundstein zu einer Semiotik des Bildes gelegt und sich insbesondere mit Fotografien beschäftigt. Dabei hatte er argumentiert, dass sich bei der Fotografie u.a. eine „buchstäbliche“ Botschaft ausmachen lasse: „Die Signifikate dieser (...) Botschaft werden von den wirklichen Objekten der Szene gebildet und die Signifikanten von eben diesen fotografierten Objekten, denn es ist evident, dass bei der analogischen Darstellung die Beziehung zwischen der bedeuteten Sache und dem bedeutenden Bild nicht mehr ‚arbiträr’ ist (...). Die Besonderheit dieser (...) Botschaft liegt darin, dass die Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant gleichsam tautologisch ist.“ (Barthes 1990b, S. 31) Die Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant müsse daher nicht durch einen Code geregelt werden, es handele sich vielmehr um eine Botschaft ohne Code (ebd. S. 32). Dies macht nach Barthes auch den „Sonderstatus” (ders. 1990a, S. 13) des fotografischen Bildes aus: „Es ist eine Botschaft ohne Code“ (ebd.; Herv. i. Orig.). „Diese Besonderheit ist auch auf der Ebene des Wissens anzutreffen, das für die Lektüre der Botschaft aufgeboten wird: Um diese letzte (oder diese erste) Ebene des Bildes zu ‚lesen’, benötigen wir kein anderes Wissen als das mit unserer Wahrnehmung verknüpfte“ (Barthes 1990b, S. 32).

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

beim sukzessiven Rezipieren eines linearen Textes – den Rezipierenden von Anfang an verfügbar ist. Aus der Simultaneität der bildlichen Präsentationsweise wird oftmals die Auffassung abgeleitet, Bilder könnten ‚auf einen Blick’ erfasst werden (z.B. Weidenmann 1988, S. 120). Damit unterscheide sich die Fotografie auch von der Wahrnehmung der Wirklichkeit: „Die Photographie erspart dem Betrachter Zeit und Mühe, indem sie die im Raum in unterschiedlicher Distanz zum Betrachter ausgebreiteten Gegenstände auf ein und dieselbe Bildfläche holt und dabei unterschiedslos scharf abbildet. Die solchermaßen dargebotene Natur kann vom Betrachter auf einen Blick erfasst werden.“ (Buddemeier 1982, S. 162) Dabei wäre sicherlich zunächst hinsichtlich des Komplexitätsgrades der Bilder zu differenzieren, sowie der Begriff des „Erfassens“ zu präzisieren. Doch unabhängig davon kann die Auffassung, ein Bild werde aufgrund seiner simultanen Darstellungsweise „auf einen Blick“ erfasst, zum einen unter Hinweis auf empirische Untersuchungen zum Blickverlauf (z.B Kroeber-Riel 1993, S. 55 ff.) kritisiert werden, zum anderen durch Überlegungen, die davor warnen, Simultaneität quasi zu entdynamisieren und als „präsentisch“ (Boehm 1978, S. 458) aufzufassen. Denn die Simultaneität bildlicher Präsentation ist nicht unbedingt gleichzusetzen mit einer Simultaneität bildlicher Rezeption. Gleichwohl muss deshalb nicht ins entgegengesetzte Extrem verfallen werden wie dies Gombrich tut: „Bilder-Lesen geht nicht in einem vor sich, sondern stückweise. Man überlässt sich zunächst dem Zufall und versucht danach, den gefundenen Einzelheiten weiter nachzugehen, bis sich ein zusammenhängendes Bild ergibt.“ (Gombrich 1978, S. 271) Dem Erfassen des Bildes ‚auf einen Blick’ setzt er das ‚stückweise’ Lesen entgegen, an dessen Ende sich erst ein simultanes Bildganzes ergibt. Eine Vermittlung der beiden Extrempositionen schlägt Boehm vor, indem er ein als ‚dialektisch’ zu bezeichnendes Verhältnis von Sukzession und Simultaneität entwickelt (Boehm 1996, S. 161). ‚Auf einen Blick’ präsentiert sich demnach das „Bildganze“, nicht jedoch die vielfältigen Beziehungen, die die einzelnen Bildelemente zum simultanen Ganzen und untereinander unterhalten können, und so zur Konstitution des spezifisch ikonischen Sinns beitragen. M.a.W.: ‚Auf einen Blick’ lässt sich das Bild als simultanes Ganzes erfassen, nicht jedoch in seinen vielfältigen Bezügen ausschöpfen (vgl. auch 1.2.2.1). Dabei könne „jedes Element über das Potential seiner unausdrücklichen Verknüpfungen (...) auf sehr verschiedene Weise simultan gesehen werden“ (Boehm 1996, S. 161) Denn anders als bei der linearen Diskursivität der Sprache sind im Bild nur in geringem Maße ‚Pfade’ angelegt, denen eine sukzessive Betrachtung folgen könnte. Daraus ergibt sich eine höhere Vielfalt an Verknüpfungsmöglichkeiten als beim Sprachtext (vgl. Boehm 1996, S. 156 sowie Sauer-

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bier 1985, S. 149). Denn im Gegensatz zur Sprache gibt es bei Bildern (fast) keine syntaktischen Regeln im Sinne einer Grammatik, die die Beziehungen der einzelnen Bildelemente eindeutig strukturieren könnte. Die Bildsyntax stellt die Bildelemente nebeneinander und addiert sie. Lediglich analoge Relationen werden dabei deutlich, z.B. Raumbeziehungen, Helligkeits- und Farbunterschiede, Größenrelationen. Logische Verknüpfungen dagegen, z.B. der Kausalität, der Negation, der Opposition, aber auch des zeitlichen Vorher/Nachher stellen Bilder nicht her (vgl. Espe 1990, S. 25). Ansätze einer Bildgrammatik wären z.B. Kompositionsregeln, die Größe, Zentralität und Nähe zum Betrachter mit Wichtigkeit assoziieren. Diese Regeln sind jedoch nicht in dem Maße verbindlich (wie etwa die der Sprachgrammatik), dass ein Abweichen zu „sinnlosen“ Bildern führen würde. Es gibt grammatisch falsche Sätze, aber keine grammatisch falschen Fotografien (vgl. Plümacher 1999, insbes. S. 55 f.). Unter 1.2.2.2 wird das Problem der syntaktischen Verknüpfungen bei Bildern ausführlicher erörtert. Im Gegensatz zu verbalen Texten, die ein vollständiges „Abtasten“ aller Zeichen einfordern, macht der präsentative Symbolismus eine Selektion und Reduktion der rezipierten Bilddaten möglich und – angesichts der Fülle der angebotenen Information – auch nötig (vgl. Langer 1984, S. 101) Im sukzessive ablaufenden Rezeptionsakt wird in die Simultaneität des Bildes eine lineare Struktur ‚implantiert’, die syntaktisch kaum gesteuert wird. Der ‚Pfad’ durch das Bild wird daher in hohem Maße von den Rezipierenden bestimmt. Was sie rezipieren, in welcher Reihenfolge sie rezipieren, mit welchen inhaltlichen Bestimmung sie die Beziehungen zwischen den Bildelementen aufladen und was jenseits ihres Rezeptionspfades liegt und daher der Rezeption entgeht, wird keineswegs vollständig durch das Bild determiniert.38 Nicht nur durch die Aktualisierung und inhaltliche Aufladung der relationalen Verknüpfungen, sondern auch durch die Selektion der rezipierten Bilddaten ergeben sich bei Fotografien trotz ihres hohen Ikonizitätsgrades für die Rezipierenden erhebliche Mitwirkungsmöglichkeiten an der Sinnbildung. „Die wechselseitigen Verweise unter der Bedingung des Kontrastes sind in hohem Maße vieldeutig, sie erlauben die Artikulation eines Bildsinnes, der zwar absolut präzise ist (kein Jota des Bildes ist veränderbar), aber dennoch nicht die Gestalt eines apophantischen Satzes oder einer Behauptung hat.“ (Boehm 1996, S. 162)

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Dass es wahrnehmungspsychologische Gesetzmäßigkeiten gibt, denen zufolge bspw. „Primärreize“ gesteigerte Aufmerksamkeit auf sich ziehen, soll hier nicht bestritten werden. Im vorliegenden Zusammenhang werden Bilder jedoch nicht unter wahrnehmungspsychologischem Aspekt als Stimuli behandelt, sondern als kulturelle Artefakte, die als sinnvoll erlebt werden können.

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Bilder unterscheiden sich u.a. durch ihre Ikonizität und Simultaneität von sprachlichen Zeichensystemen. Daraus ergibt sich eine eigentümliche Kombination von unmittelbarer Anschaulichkeit, visueller Evidenz und Präsenz einerseits bei gleichzeitiger Nicht-Diskursivität und das heißt: Unartikulierbarkeit andererseits. Was ein Bild „als hochkomplexe szenische Simultaneität zur unmittelbaren Anschauung vergegenwärtigt, ist im Medium der Sprache weder als empirische Tatsache zu beschreiben noch auch als imaginierte Vorstellung zu erzeugen.“ (Imdahl 1994, S. 310) Bilder lassen sich nicht vollständig in diskursive Sprache übersetzen. Sie enthalten ein Surplus, das diskursiv nicht thematisiert werden und sich begrifflicher Subsumtion entziehen kann, das sich aber den Rezipierenden möglicherweise in vor-begrifflicher und präreflexiver Weise vermittelt. Präsentative Symbole machen das, „was nicht dem sprachlichdiskursiven Zugriff und der bewussten Kontrolle untersteht, in gewissem Maße ‚handhabbar’. Sie spielen mit vorbewusstem Material, stiften Verbindungsbrücken zwischen Unbewusstem und Bewusstsein“ (Straub 1999, S. 308). Sie leben daher „von der Spannung zwischen manifestem und latentem Sinn.“ (ebd.) Bilder sind somit nicht als reine Zeichenträger aufzufassen, die lediglich als ‚Verpackung’ im Dienst eines auch diskursiv auszudrückenden Inhalts stehen. „Wäre das Dargestellte erst einmal als ‚Etwas’, als der Inhalt von Begriffen oder als eine Art von Ding bestimmt, das dann auch noch angeschaut werden könnte, dann würde sich auch außerhalb des Bildes – letztlich ohne das Bild – sagen lassen, was doch in seiner Eigenart nur unter den Bedingungen der Bildlichkeit und nur in einem jeweiligen Artefakt zu erfahren ist. Dem Bildsinn würde dann eine Idee, oder kurz gesagt ein sprachlich formulierbarer Begriff, vorauslaufen, dem er sich nachordnet. Von einer genuinen, aus Begriff und Verstand nicht abzuleitenden Sinnesleistung und nur ihr innewohnenden Bedeutungen könnte nicht die Rede sein.“ (Boehm 1996, S. 150)

Diese „Eigenartigkeit“ des Bildes gilt es im Blick zu behalten, wenn das Bild mit semiotischem Instrumentarium als Zeichen untersucht wird. 1.2.2 Die sinnbildliche Ebene: Das Bild als Text Aus der Gegenüberstellung von Bild- und Wirklichkeitswahrnehmung einerseits und dem Vergleich von bildlichem und sprachlichem Zeichensystem andererseits wurde deutlich, dass gegenständliche Bilder zwar Rezeptionsvorgaben machen (insbesondere durch ihre Ikonizität), dass diese Vorgaben aber keine Determinanten der Sinnbildung sind (bspw. wegen der „offenen“ Syntax von

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Bildern). Entlang dieser Leitdifferenz bewegt sich die weitere Untersuchung. Zur Konzeptualisierung dieser Ambivalenz eignet sich der semiotische Begriff des Textes. Er grenzt sich sowohl vom geisteswissenschaftlichen Begriff des „Werkes“ ab, mit dem oftmals Vorstellungen einer kristallinen Abgeschlossenheit und überhistorischen Gültigkeit verbunden sind (vgl. Barthes 1971, hier: 2005; Baasner 1996, S. 21; Schanze 1997, S. 193 f.), als auch vom StimulusBegriff der sich am Ideal naturwissenschaftlicher Exaktheit orientierenden Sozialwissenschaften. Die Problematik des Werkbegriffs beschreibt Eco in seinem „offenen Kunstwerk“ und trägt (bereits im Titel) zu seiner Überwindung bei. Einerseits sei ein (Kunst-) Werk nämlich eine vom Künstler geschaffene „in sich geschlossene Form“ (Eco 1977a, S. 29 f.), die „so wie er sie hervorgebracht hat, verstanden und genossen“ werden will (ebd.). Zu diesem Zweck hat der Künstler „ein Gewebe von kommunikativen Wirkungen derart organisiert, dass jeder mögliche Konsument (...) das Werk selbst, die ursprünglich vom Künstler imaginierte Form nachverstehen kann.“ (ebd.) Dieser traditionellen Auffassung vom Kunstwerk als (ab-) geschlossener Einheit, die Eco nicht in Abrede stellt, setzt er das Konzept der Offenheit zur Seite: Denn „andererseits bringt jeder Konsument bei der Reaktion auf das Gewebe der Reize und dem Verstehen ihrer Beziehungen eine konkrete existentielle Situation mit, eine in bestimmter Weise konditionierte Sensibilität, eine bestimmte Bildung, Geschmacksrichtungen, Neigungen, persönliche Vorurteile, dergestalt, dass das Verstehen der ursprünglichen Form gemäß einer bestimmten individuellen Perspektive erfolgt.“ (ebd.)

Im Kunstwerk sind nach Ansicht Ecos beide Aspekte verbunden. Er spricht daher von einer „Dialektik von Form und Offenheit“ (ebd. S. 179 ff.; s.o.).39 Auch Roland Barthes hält in seinem Aufsatz „Vom Werk zum Text“ (ders. 1971, hier 2005) fest, dass der „Text“ im Gegensatz zum „Werk“ grundsätzlich „mehrschichtig“ ist (ebd. S. 45). Dabei sei der Unterschied nicht gleichzusetzen mit dem zwischen „Klassik“ und „Avantgarde“ (ebd. S. 42). Wesentlich sei vielmehr eine spezifische Art des Umgangs (vgl. ebd.): Während Werke beim Lesen „konsumiert“ werden, wird mit und auf Texten „gespielt“ – in des Wortes voller Bedeutung (ebd. S. 48). Der Text dient dabei einerseits als „Partitur“ (ebd. S. 49) und „fordert vom Leser eine praktische Mitarbeit.“ (ebd.) Analog zu Ecos Konzept der Offenheit gewährt der Text nach Ansicht Barthes´ andererseits auch einen „Spielraum (wie eine nicht ganz schließende Tür, ein Apparat 39

In Lévi-Strauss´ Kritik an Ecos Konzept des „offenen Kunstwerks“ kommt die traditionelle Auffassung vom (geschlossenen) Charakter des (Kunst-) Werks deutlich zum Ausdruck: „Was ein Kunstwerk zu einem Kunstwerk macht, ist nicht, dass es offen, sondern dass es geschlossen ist. Ein Kunstwerk ist ein Gegenstand, der mit präzisen Eigenschaften ausgestattet ist (...) und der vollständig auf der Grundlage dieser Eigenschaften definiert werden kann.“ (zitiert nach Eco 1987b, S. 6)

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‚Spiel’ hat).“ (ebd. S. 48). Während das „Werk“ statisch und mit seinem Urheber verbunden bleibt, löst sich der „Text“ von seinem Produzenten und entfaltet ein unkontrollierbares Eigenleben (ebd. S. 46 f.). Dem ‚ehernen’ Werkbegriff der Geisteswissenschaften steht in den Sozialwissenschaften, die sich mit Fragen der Bildrezeption beschäftigen, oftmals ein Desinteresse am Bild selbst gegenüber. Faulstich (1991) konstatiert eine „Verweigerung gegenüber den Einzelwerken“ (ebd. S. 150), da „die Aussage oder der Inhalt (...) lediglich durch quantifizierende Verfahren erhoben“ (ebd. S. 151) werde (vgl. 1.1.2.2). Empirische Untersuchungen zum Bildverstehen beschränken sich, so kritisiert Weidenmann den Umgang mit Bildern speziell innerhalb der Psychologie, auf wahrnehmungspsychologische Fragestellungen und übersähen dabei, dass Bilder auch eine kommunikative Funktion erfüllen. Diese Begrenzung sei in der Mehrzahl der empirischen Studien gegeben – „in ihnen werden Bilder als Stimuli definiert, nicht aber als absichtsvoll hergestellte Produkte, die kommunikativ bedeutsam sind.“ (Weidenmann 1988, S. 72) Kritik am „Objekt der Wahrnehmung“ der empirischer Sozialforschung übt auch Livingstone (1995) – es sei durch zwei entgegengesetzte Extreme geprägt: Entweder würde das „object of perception“ (ebd. S. 65) als Stimulus konzipiert, der in seiner Bedeutung geschlossen, eindeutig und fixiert sei oder aber als „‘blooming, buzzing confusion’, that which is wholly open, multiple, and variable in meaning“ (ebd.). Noch problematischer als die Entscheidung für eines der beiden Extreme sei aber das implizite und unartikulierte Hin- und Herwechseln zwischen ihnen – „a confusion which arises from the conventions of psychological theorising which permit an avoidance of specifying the object of perception.“ (ebd.) Dagegen führt Livingstone den Begriff des Textes ins Feld: „The concept of the text (...) has been adopted by the humanities and some social sciences because it lies between the extremes of open and closed, it is a historical and cultural construct rather than an a priori given, and it breaks down and complicates the simple linear relationship between stimulus and response, speaker and hearer, subject and object.“ (ebd. S. 65)

Der Textbegriff ‚verkompliziert’ demnach die Rezeptionsbeziehung bzw. positiv formuliert: er erlaubt deren Problematisierung und damit auch ihre eingehende Analyse. Diese Zwischenstellung des Text-Begriffs zwischen den Extrempunkten der völligen Freigabe der Sinnbildung einerseits und ihrer vollständigen Determiniertheit durch inhärente Stimulus-Merkmale andererseits findet sich auch bei John Fiske. Unter Bezug auf Stuart Hall bezeichnet er „Text“ als „structured polysemy“ (Fiske 1987, S. 65) und definiert ihn als „potential of unequal meanings, some of which are preferred over, or proffered more strongly than, others, and which can only be activated by socially situated viewers in a process of negotiation between the text and their social situation.“

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(ebd.). Die bedeutungsgenerierende Interaktion mit den (sozial positionierten) Rezipierenden wird somit Teil der Text-Definition, da nur in ihr das Bedeutungspotential des Textes „aktiviert“ werden kann. Als „Text“ wird innerhalb der Cultural Studies „grundsätzlich jede zu untersuchende kulturelle Manifestation“ bezeichnet (Jurga 1997, S. 127; vgl. auch Hepp 1999, S. 30; Jäckel/Peter 1997, S. 52; Krotz 1992, S. 415 + S. 418 f.), demnach auch Fotografien. Diese Praxis soll nicht unreflektiert übernommen werden, da die Anwendung des Textbegriffs auf Fotografien nicht ganz unproblematisch ist. Die Übertragung des Textbegriffs auf gegenständliche Fotografien soll unter zwei Aspekten diskutiert werden. Dabei kann zum einen an Fiskes Definition vom Text als „structured polysemy“ angeknüpft werden: Können auch Fotos als „strukturierte Polysemien“ bezeichnet werden, d.h. als Kommunikationsangebote, die mehrdeutig (polysem) sind, obwohl sie die Sinnbildung nicht völlig freigeben? Zum andern soll an semiotische Theorien angeschlossen werden, die als weiteres wesentliches Merkmal von Texten ihre interne Strukturiertheit in kleinere zeichenhafte Einheiten ansehen (vgl. u.a. Lotman 1973, S. 90; Nöth 2000, S. 392; Biti 2001, S. 799 f.).40 Texte strukturieren demnach nicht nur die Polysemie, sie sind auch ihrerseits strukturiert. So sieht eine elementare Definition den Text als eine „Folge von Zeichen“ (Jäckel/Peter 1997, S. 52). „Folge“ darf bei Bildern jedoch nicht mit „linear“ und „sequentiell“ gleichgesetzt werden, sondern muss als simultane Präsentationsweise von Zeichen in der Bildfläche verstanden werden. Mit der simultanen und präsentativen Symbolik von Bildern ist die Textdefinition von Lindlof vereinbar, der einen Text als „coherent cluster of signifiers“ bezeichnet (Lindlof 1995 zit. nach Jurga 1997, S. 127 f.). Auch Fiske stellt die interne Strukturiertheit von Texten heraus und bezieht den Text-Begriff auch auf ikonische Zeichen: „a text is composed of iconic or symbolic signs.“ (Fiske 1990, S. 66) Damit stellt sich jedoch das Problem, auf welcher Ebene ikonische Zeichen anzusiedeln sind: Ist das Bild als Ganzes ein ikonisches Zeichen (wie oben argumentiert wurde) oder bildet es einen „ikonischen Text“, der sich aus mehreren ikonischen Zeichen zusammensetzt? Dass sich bei einem Bild einzelne Elemente ausmachen lassen, wurde oben bereits implizit vorausgesetzt. Ob diese Voraussetzung haltbar ist und wenn ja, ob diese Elemente zeichenhaften Charakter haben, wird unter 1.2.2.1 untersucht.

40

Abweichend äußert sich bspw. Thürlemann: „Als Text wird jedes in sich geschlossene bedeutungstragende Ganze (Äußerung) bezeichnet.“ (Thürlemann 1990, S. 189). Auch Eco sieht die interne Strukturierung nicht als notwendige Bedingung für das Vorliegen eines Textes an (vgl. 1972, S. 235; 1987a, S. 286). Damit ist jedoch nicht ausgesagt, dass „Bildtexte“ keine interne Strukturierung aufweisen. Diese Frage ist jedoch unabhängig von ihrer Eignung als Kriterium der Textförmigkeit für den Fortgang der Untersuchung von Belang.

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Kann eine interne Struktur von Fotografien plausibel gemacht werden, so stellt sich die weitergehende Frage nach der Organisation dieser Struktur. Denn dass diese „Folge von Zeichen“ nicht lediglich nebeneinandergestellt werden kann, um einen Text zu ergeben, hebt Lotman (1973) hervor. Er definiert „Text“ außer durch die Merkmale der „Ausdrücklichkeit“ und der „Abgegrenztheit“ durch die Eigenschaft der „Strukturalität“: „Der Text stellt nicht eine einfache Aufeinanderfolge von Zeichen zwischen zwei äußeren Grenzen dar. Für einen Text ist charakteristisch die innere Organisation, die ihn auf der syntagmatischen Ebene in ein Strukturganzes verwandelt.“ (ebd. S. 90) Die interne Organisation hebt auch Hepp unter Bezug auf den innerhalb der Cultural Studies vertretenen Textbegriff hervor, spricht jedoch nicht von Zeichen, sondern neutraler von „Elementen“, aus denen sich ein Text zusammensetzt. Texte sind „kulturelle Produkte, die konventionell als Einheit von unterschiedlichen, miteinander ‚verwobenen’ Elementen wahrgenommen werden. (...) Die Beziehung, in der einzelne Elemente eines Textes zueinander stehen, wird selbst als durch Konventionen vermittelt gedacht (...).“ (Hepp 1999, S. 278) Oben wurde jedoch aufgezeigt, dass es bei Bildern kaum Konventionen gibt, die die interne Organisation im Sinne einer Syntax regeln. Dieser Aspekt wird unter 1.2.2.2 erörtert, wenn es um die Polysemie des fotografischen Bildes geht. Dass Fotografien auch als Zeichen aufgefasst werden können, wurde oben bereits postuliert. Unter Bezug auf Barthes wurde jedoch deutlich, dass es sich um eine besondere Art von Zeichen handelt, nämlich um „tautologische“ Zeichen, bei denen der Zusammenhang von Signifikant und Signifikat nicht durch einen Code geregelt ist. In dieser Hinsicht ist der Sinn eines fotografischen Zeichens selbstevident, da es ein „perfektes Analogon der Wirklichkeit“ (Barthes 1990a, S. 13) darstellt. Unter dem Aspekt der Polysemie wird nun unter 1.2.2.2 zu klären sein, wie eine Fotografien trotz ihres tautologischen Verhältnisses zur Wirklichkeit und ihrer anschaulichen Evidenz als Text gesehen werden kann, „der nicht eine absolute Wirklichkeit richtig abbildet, sondern mittels Zeichen Bedeutungen, oder genauer Anlässe für Bedeutungen, produziert“ (Winter 1992, S. 24) – m.a.W.: Wie aus einem Abbild ein Sinnbild wird. Dabei wird insbesondere zu untersuchen sein, wie es auf sinnbildlicher Ebene zu einer Pluralität von Sinnbildungen kommt, weil ein Foto auch mit Bedeutungen angereichert werden kann, die die Ähnlichkeitsrelation übersteigen und daher nicht vollständig vom Bild kontrolliert werden.41 Zu diesem Zweck wird auf Basis der unter 1.2.2.1 gewonnenen Erkenntnisse ein differenzierterer Begriff der Polysemie

41

Auch innerhalb der Cultural Studies verknüpft sich mit dem Konzept des Textes ein spezielles Interesse für dessen unterschiedliche Lesarten (vgl. Krotz 1992, S. 418), d.h. für die Vielfalt von Sinnbildungen, die auf Grundlage eines Textes zustande kommen.

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von Bildern entwickelt und vorgeschlagen, hinsichtlich der Sinnbildung zwischen zwei Dimension der Offenheit zu unterscheiden. 1.2.2.1 Ikonische Gliederung Ein wesentliches Merkmal von Texten scheint ihre interne Strukturiertheit in zeichenhafte Einheiten zu sein. Von einer internen Struktur der Bilder wurde oben bereits ausgegangen, als die Relationen zwischen einzelnen Bildelementen erörtert wurden. Doch wie bereits an der Frage der bildlichen Syntax deutlich wurde, ist eine Übertragung linguistischer Modelle und Begrifflichkeiten auf die präsentative Symbolik der Bilder nicht unproblematisch. Dennoch lieferte die Linguistik immer wieder ‚Stichworte’, die die Beschäftigung mit Bildern leiteten. Auch das Problem der internen Strukturierung von Bildern wurde nach linguistischen Vorgaben diskutiert und gefragt, ob Bilder wie die verbale Sprache eine „doppelte Gliederung“ in bedeutungstragende (Morpheme bzw. Moneme) und bedeutungsdifferenzierende (Phoneme) Einheiten aufweisen. Ein Morphem besteht aus einer Kombination von Phonemen und „ist die kleinste sprachliche Einheit, die eine Bedeutung hat, mit anderen Worten: Morpheme sind die kleinsten sprachlichen Zeichen (= Einheiten aus Ausdrucks- und Inhaltsseite).“ (vgl. Pelz 1998, S. 115 f.) Setzen sich auch Bilder aus Zeichen zusammen, d.h. aus Einheiten von Ausdruck und Inhalt? Eine Gliederung des Bildes in zeichenhafte Einheiten wird von einer Reihe von Autoren bestritten. Langer sieht ein Bild zwar aus kleineren Einheiten gebildet, spricht ihnen jedoch den Zeichencharakter ab: „Betrachten wir nun die uns vertrauteste Art eines nicht diskursiven Symbols, ein Bild. Es setzt sich zwar wie die Sprache aus Elementen zusammen, die jeweils verschiedene Bestandteile des Gegenstandes darstellen; aber diese Elemente sind nicht Einheiten mit unabhängigen Bedeutungen. Die Licht- und Schattenflächen, aus denen ein Porträt, z.B. eine Photographie, besteht, haben an sich keine Bedeutsamkeit. Einer isolierenden Betrachtung würden sie lediglich als Kleckse erscheinen. Und doch sind sie getreue Darstellungen visueller Elemente, die den visuellen Gegenstand bilden. Sie stellen aber nicht Stück für Stück die Elemente dar, die einen Namen haben; es gibt nicht einen Klecks für die Nase, einen für den Mund usw.; ihre Formen vermitteln in gar nicht zu beschreibenden Kombinationen ein totales Bild, in dem sich benennbare Züge aufweisen lassen. Die Abstufungen von Licht und Schatten lassen sich nicht aufzählen. Sie lassen sich nicht, jede für sich, in Beziehung setzen zu einzelnen Teilen oder charakteristischen Zügen, mittels derer es möglich wäre, die porträtierte Person zu beschreiben. Die ‚Elemente’ die die Kamera darstellt, sind nicht die ‚Elemente’, die die Sprache darstellt. Sie sind tausendmal zahlreicher. (...) Dass ein Symbolismus mit so vielen Elementen, so myriadenfachen Zusammenhängen, sich nicht in Grundeinheiten aufbrechen lässt, versteht sich von selbst. Es ist unmöglich, das kleinste unabhängige Symbol zu finden und es zu identifizieren, wenn dieselbe Einheit in anderen Zusammenhängen erscheint. Die Photographie hat daher kein Vokabular.“ (Langer 1984, S. 100 f.)

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

Goodman spricht in diesem Zusammenhang von der syntaktischen Dichte des Bildes. „Ein Schema ist syntaktisch dicht, wenn es unendlich viele Charaktere bereitstellt, die so geordnet sind, dass es zwischen jeweils zweien immer ein drittes gibt.“ (Goodman 1995, S. 133) Bspw. lassen sich unbegrenzt viele Abstufungen der Ausdehnung eines „Kleckses“ zwischen zwei Extremen finden und zwischen zwei Farbtönen immer noch eine weitere, dazwischenliegende Nuancierung. Bei sprachlichen Zeichen lässt sich dagegen keine Zwischenposition zwischen den Buchstaben „a“ und „b“ angeben. „Der Grund für die syntaktische Dichte von Bildsystemen liegt darin, dass es für Bilder keine Alphabete gibt, kein endliches Inventar von wohlunterschiedenen Zeichen, aus denen alle Charaktere des Systems nach bestimmten Kompositionsprinzipien aufgebaut werden könnten. Und damit entfällt auch die Möglichkeit, zwischen den konstitutiven und den kontingenten Merkmalen von Bildern zu unterscheiden.“ (Schantz 1999, S. 99) Nach Goodman sind sprachliche Zeichensysteme zudem im Gegensatz zu Bildern disjunkt: die Realisierung eines (bspw. handschriftlichen) Buchstabens muss sich immer eindeutig einem „Charakter“ zuordnen lassen, d.h. eine Realisierung muss entweder „a“ oder „b“ sein, sie kann nicht ambivalent bleiben. „Die Disjunktivität ist verletzt, wenn irgendeine Marke zu verschiedenen Charakteren gehört, ganz gleich, ob zur selben Zeit oder zu verschiedenen Zeiten.“ (Goodman 1995, S. 135) Disjunktivität ist bei Bildern jedoch kaum gegeben. Um mit Langer zu reden: Der gleiche „Klecks“, der in einem Bildkontext für ein Auge steht, kann in einem anderen Kontext z.B. für einen Bergsee stehen. Als Extrem lässt sich auf Wittgensteins Beispiel des Hasen-Enten-Kopfes verweisen (Wittgenstein 1995, S. 520), bei dem das gleiche Bildelement in der einen Perspektive als Entenschnabel, in der anderen Perspektive als Hasenohr betrachtet werden kann. Auch der ‚mittlere’ Eco kann im Bild keine stabile innere Zeichenstruktur erkennen: „Zwar lassen sich im ikonischen Kontinuum relevante diskrete Einheiten identifizieren, doch scheinen sie sich anschließend sofort wieder aufzulösen, ohne in einem neuen Kontext funktionieren zu können. Zuweilen sind es große, konventionell erkennbare Einheiten, dann wieder Liniensegmente, Punkte, dunkle Flecken (wie bei einer schematischen Zeichnung des menschlichen Gesichts, wo ein Fleck das Auge und ein Halbkreis den Mund bedeutet; aber es genügt, den Kontext zu verändern, und der Halbkreis bedeutet, sagen wir, eine Banane und der Fleck eine Nuß).“ (Eco 1987a, S. 285)

Bilder scheinen sich demnach intern nicht in kleinere Bildeinheiten gliedern zu lassen, die sich als Ausdruckselemente (Signifikanten) mit Inhaltselementen (Signifikate) korrelieren lassen. Bilder könnten dann auch nicht als Texte betrachtet werden, da hierfür eine interne Strukturierung als konstitutiv angesehen wurde.

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Leicht erkennbare Einheiten Das Problem hatte Eco folgendermaßen formuliert: „Niemand zweifelt daran, dass Bilder einen bestimmten Inhalt übermitteln. Versucht man, diesen Inhalt zu verbalisieren, so stößt man auf leicht erkennbare semantische Einheiten: z.B. eine Wiese mit einem Haus, zwei Pferde, einen Hund, einen Baum, ein Mädchen. Gibt es nun im Bild Ausdrucks-Einheiten, die diesen Inhalts-Einheiten korrespondieren?“ (Eco 1987a, S. 283) Wie der ‚mittlere’ Eco diese Frage beantwortet, wurde oben dargelegt. Gleichwohl liegt in seiner Frage der Schlüssel zu einer differenzierteren Antwortmöglichkeit. Denn zwischen Ecos (und Langers) Aussage, ein Bild gliedere sich nicht in unterscheidbare, zeichenhafte Ausdruckseinheiten, sondern lediglich in Flecken und Kleckse, und Ecos Zugeständnis, ein Bild weise leicht erkennbare semantische Einheiten auf, liegt m.E. ein Bruch der Analyseebenen: Wie oben gezeigt wurde, empfiehlt es sich, im Anschluss an Gruppe P zwischen zwei Arten von Bildelementen bzw. zwei Bildschichten zu unterscheiden: Mit dem ‚späten’ Eco wurden sie als die figurative und die plastische Bildschicht bezeichnet (vgl. 1.2.1.2). Beide Bildschichten haben eine Inhalts- und eine Ausdrucksseite (Sonesson 1993, S. 157, Anm. 16), d.h. eine ‚bedeutete’ und eine ‚bedeutende’ Seite.42 Nach dem Zeichenmodell von Hjelmslev können sowohl die Inhalts- als auch die Ausdrucksseite eines Zeichens wiederum in Substanz und Form unterteilt werden (vgl. Eco 1977b, S. 86 f.). Bei einem gegenständlichen Bild lassen sich demnach (1) figurative (f) und plastische (p) Bildschicht unterscheiden, die (2) beide jeweils wieder eine Inhalts- (fI und pI) und eine Ausdrucksseite (fA und pA) haben, die ihrerseits (3) in Substanz (fIS, pIS, fAS, pAS) und Form (fIF, pIF, fAF, pAF) gegliedert werden können. Mit Thürlemann kann nun gefolgert werden, dass die Substanz der Ausdrucksseite für beide Bildschichten – figurative und plastische – identisch ist (fAS = pAS), nicht jedoch die Form der Ausdrucksseite (fAF z pAF). „Es muss (...) präzisiert werden, dass die gleiche Ausdruckssubstanz nach unterschiedlichen Prinzipien artikuliert, somit verschiedenen bedeutungskonstitutiven Gliederungen unterworfen werden kann. Der Betrachter mag gegenüber der malerischen Fiktion wie gegenüber der visuell wahrnehmbaren Welt reagieren und die gemalte Fläche als Darstellung von Räumen, Gegenständen, Tieren und Menschen betrachten >i.e. die figurative Perspektive; B.M.@; er kann die bildliche Substanz aber auch ‚physiognomisch’ auffassen und die Farb-Form42

Da nicht in Frage steht, dass das Bild als Ganzes ein ikonisches Zeichen ist (mit der entsprechenden Unterteilung in Inhalts- und Ausdrucksseite), sondern erörtert wird, ob es in zeichenhafte Einheiten gegliedert ist, liegt hier keine petitio principii vor.

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Konfigurationen mit Hilfe synästhetischer Kategorien wie ‚warm’ oder ‚kalt’, ‚weich’ oder ‚hart’ deuten. >i.e. die plastische Perspektive; B.M.@“ (Thürlemann 1990, S. 13; Herv. B.M.) Figurative und plastische Bildschicht stützen sich demnach auf die gleiche Ausdruckssubstanz des Bildes (die gleiche materielle Grundlage des Bildes als manifester Zeichenträger), jedoch in je unterschiedlich Formung bzw. Artikulation der Ausdruckssubstanz (in je unterschiedlicher Weise der „Gruppierung“; Thürlemann 1990, S. 29 f. vgl. auch S. 181 f.). Möchte man daher den figurativen Inhaltselementen (Baum, Haus, Mädchen) die entsprechenden Ausdruckseinheiten im Bild zuordnen, so wirkt sich eine Indifferenz gegenüber den Bildschichten hinsichtlich der Ausdruckssubstanz nicht aus (fAS = pAS), wohl aber hinsichtlich der Ausdrucksform (fAF z pAF). Eco ordnet jedoch den Inhaltseinheiten der figurativen Bildschicht auf der Ausdrucksseite die Formen (Flecken, Halbkreise, Linie) der plastischen Bildschicht zu (pAF statt fAF) und kommt deshalb zu dem Ergebnis, dass es keine Korrespondenz von Inhalt und Ausdruck gibt. Als figurative Ausdrucksformen wären stattdessen „baumhafte“, „haushafte“ und „mädchenhafte“ Elemente zu identifizieren (vgl. Thürlemann 1990, S. 33 f.). „Die figurative Lektüre des Bildes (...) hat zur Folge, dass der Betrachter die Elemente, Einheiten der Ausdrucksebene, einzeln oder in Gruppen zusammengefasst, als Vertreter von Gegenständen der natürlichen Welt versteht und sie mit den gleichen Begriffen der Umgangssprache benennt, die er bei der Lektüre der natürlichen Welt verwendet.“ (Thürlemann 1990, S. 29)

Diese vielleicht etwas kompliziert anmutende Aufschlüsselung entspricht durchaus der intuitiven Auffassung, dass sich in einem gegenständlichen Bild figurative ‚Gestalten’ als semantische Einheiten artikulieren und identifizieren lassen. Der entscheidende Punkt bei der Identifikation figurativer Ausdrucksformen, die ein Bild intern strukturieren, liegt darin, die Analyse nach Maßgabe der Inhaltsseite durchzuführen. Dass gegenständliche Bilder einen Inhalt übermitteln, hält auch Eco für unbezweifelbar (s.o) und setzt diese Annahme an den Beginn seiner Überlegungen. Nur lässt er sich von diesen Inhalten nicht bei der Identifizierung der entsprechenden Ausdruckseinheiten leiten, wie dies Thürlemann postuliert: „Bei der semiotischen Analyse wird die Beschreibung vom Prinzip der Relevanz geleitet: Es werden nur jene Elemente des Ausdrucks berücksichtigt, die mit der Inhaltsform korreliert werden können, die bedeutungskonstitutiv sind. Die semiotische Beschreibung der visuellen Erscheinungen der Werke (Ausdrucksdimension) kann grundsätzlich nur in Abhängigkeit von der Analyse des Inhalts vorgenommen werden.“ (Thürlemann 1990, S. 12)

Relevanzsetzungen und Inhaltsdeutungen sind aber auf rezipierende Subjekte verwiesen mit ihren sich soziokulturell unterscheidenden Dispositionen. Die

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Gliederung des Bildes in kleinere Einheiten erfolgt demnach auf Grundlage einer Inhaltshypothese in konkreten Rezeptionsakten. Die Inhaltsform als Basis der Ausdrucksform Das erkenntnistheoretische Prä der Inhaltselemente vor den Ausdruckselementen43 hatte Eco bereits in einem sehr frühen Aufsatz (1964, hier: 1995b) hervorgehoben und auf die Unmöglichkeit einer rein formalen Ausdrucksanalyse hingewiesen, da „jede Bemühung, eine signifikante Form zu definieren, ohne sie gleichzeitig mit einem Sinn in Zusammenhang zu bringen, vergeblich und trügerisch ist. Ein absoluter Formalismus ist lediglich ein maskierter ‚Inhaltismus’. Formale Strukturen isolieren heißt, sie als relevant für eine ‚globale’ Hypothese anerkennen. Es gibt keine Analyse von relevanten signifikanten Aspekten, die nicht bereits Interpretation und damit Sinnerfüllung wäre. Folglich ist jede strukturelle Analyse eines Textes gleichzeitig eine Überprüfung von sozialpsychologischen und ideologischen Hypothesen, selbst wenn diese nur latent sind.“ (Eco1995b, S. 333 f.)

Auch der Kunsthistoriker Erwin Panofsky verwarf die Möglichkeit einer rein formalen Bildbeschreibung und betonte die Notwendigkeit einer inhaltlichen Charakterisierung relevanter Bildeinheiten. „Nun bedarf es keiner Erörterung, dass eine in diesem strengen Sinne formale Beschreibung praktisch ein Ding der Unmöglichkeit ist: Jede Deskription wird – gewissermaßen noch ehe sie überhaupt anfängt – die rein formalen Darstellungsfaktoren bereits zu Symbolen von etwas Dargestelltem umgedeutet haben müssen; und damit wächst sie bereits, sie mag es machen wie sie will, aus einer rein formalen Sphäre schon in eine Sinnregion hinauf.“ (1987a, S. 187). Auch bei Panofsky findet sich die Auffassung vom unmittelbaren („noch ehe sie überhaupt anfängt“) und unvermeidlichen („sie mag es machen wie sie will“) Charakter des Erfassens eines figurativen Gehalts, der für gegenständliche Bilder, insbesondere Fotografien postuliert wurde. Dies deckt sich mit Ecos Vorstellung der „Modalität Alpha“, nach der das Erfassen von figurativen Inhaltseinheiten erfolge: Die abgebildete Szenerie mit ihren Einzelheiten wird demnach unwillentlich qua „Ersatzreiz“ wahrgenommen – unabhängig davon, ob man sich zuvor bewusst macht, „einen Ausdruck einer Zeichenfunktion vor sich zu haben“ (Eco 2000, S. 436). Wie oben dargelegt (1.2.1.2), bezieht sich der ‚späte’ Eco hier auf Roland Barthes (Eco 2000, S.

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Inhaltshypothesen werden auf Basis der als Ersatzreiz wahrgenommenen Szene gebildet. Da der Ersatzreiz aber in der Ausdruckssubstanz verwurzelt ist (Eco 2000, S. 405), liegt an erster Stelle die Ausdruckssubstanz. Der Inhalt hat lediglich hinsichtlich der artikulierten Formen ein erkenntnistheoretisches Prä vor dem Ausdruck (vgl. auch Eco 2000, S. 437).

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557, Anm. 35), der in seiner „Rhetorik des Bildes“ bei der Betrachtung einer (fotografischen) Werbeanzeige festgestellt hatte: „Ohne jegliches Wissen fahre ich fort, das Bild zu ‚lesen’ und zu ‚begreifen’, dass es auf einem Raum eine gewisse Anzahl identifizierbarer (benennbarer) Objekte versammelt, und nicht bloß Formen und Farben. Die Signifikate dieser (...) Botschaft werden von den wirklichen Objekten der Szene gebildet und die Signifikanten von eben diesen fotografierten Objekten, denn es ist evident, dass bei der analogischen Darstellung die Beziehung zwischen der bedeuteten Sache und dem bedeutenden Bild nicht mehr ‚arbiträr’ ist (...).“ (Barthes 1990b, S. 31)

Eine ‚primäre’ bzw. ‚vor-semiotische’ Inhaltserfassung erfolgt demnach unmittelbar, ohne vorheriges ‚Entziffern’ von Ausdruckseinheiten. Gleichwohl ergeben sich aus dieser primären Inhaltserfassung die Ausdruckseinheiten, die das Bild strukturieren und somit zum Text machen. Durch ein strukturierendes „Sehen als“ (Lenk 1995, S. 109 f.) wird das Bild in distinktive Einheiten gegliedert. Die aus der strukturierenden Rezeption resultierenden Einheiten entsprechen am ehesten den bedeutungstragenden Einheiten der verbalen Sprache. Dass ein Bild zumindest diese Gliederungsebene aufweist, scheint weithin akzeptiert zu sein (Nöth 2000, S. 478 f.).44 Damit erweisen sich gegenständliche Bilder als intern strukturiert und können unter diesem Aspekt als Texte betrachtet werden. Die Bildelemente als Zeichen Ein Bild lässt sich auf figurativer Ebene ausgehend von den Inhaltseinheiten in Ausdruckseinheiten gliedern und erweist sich somit als intern strukturiert. Gleichzeitig lassen sich diese ‚Untereinheiten’ – da sie sich in eine Inhalts- und in eine Ausdrucksseite gliedern lassen – als Zeichen betrachten. Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass in der figurativen Lektüre „Einheiten der Ausdrucksebene (...) als Vertreter von Gegenständen der natürlichen Welt“ verstanden und „mit den gleichen Begriffen der Umgangssprache“ benannt werden (Thürlemann 1990, S. 29). Der Segmentierung von Bildern in Ausdruckseinheiten liegen demnach die gleichen inhaltlichen Prinzipien zugrunde, die die Wahrnehmung der „Dingwelt“ strukturieren. Die „Gegenstände der natürlichen Welt“ sind jedoch keine ‚neutralen’ Objekte, sondern selbst klassifiziert und haben Zeichencharakter. Wie Vološinov deutlich macht, „kann jedes beliebige Ding aus der Natur, der Technik oder dem Bereich der Konsumgüter zum Zeichen werden“ (Vološinov 1975, S. 56) Barthes stellt sogar fest, „dass das Objekt 44

Die kontrovers diskutierte Frage, ob Bilder außerdem in bedeutungsdifferenzierende Einheiten gegliedert werden können (bspw. unterschiedliche Belichtungsgrade, Perspektive, Einstellungsgröße, Unschärfe, Körnung etc.) soll an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden (vgl. dazu Eco 1972, S. 246; Espe 1983; Barthes 1990b, S. 31 u. S. 39; Fiske 1996, S. 127; Nöth 2000, S. 478 f.)

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immer ein Zeichen ist“ (Barthes 1988a, S. 192; Herv. B.M.). Zu der gleichen Einschätzung gelangt Lenk und konstatiert: „Alle Objekte werden interpretativ gesehen und konstituiert. Jeglicher Gegenstand in der Welt und die Unterteilung dieser in Gegenstände, Klassen, Strukturen usw. ist interpretationsimprägniert.“ (Lenk 1993, S. 380) Nach Maßgabe dieser zeichenhaften Objekte werden Bilder in Inhaltseinheiten gegliedert, denen dann Ausdruckseinheiten zugeordnet werden. M.a.W.: Die Identifikation der Einheit „Baum“ im Bild installiert nicht lediglich ein bildinternes Zeichen (Inhalt + Ausdruck), sondern ‚lädt’ es überdies mit der Bedeutung auf, die auch ein realer Baum als zeichenhaftes Objekt hat. Der Zeichenstatus der Bildelemente erschöpft sich demnach nicht in ihrer Verbindung von Inhalts- und Ausdrucksseite, sondern erlangt eine zusätzliche Dimension durch die „Interpretationsimprägniertheit“ (Lenk 1993, S. 274) des strukturierenden Sehens. Im Anschluss an Sauerbier (1985, S. 124 f.) kann zwischen der Gegenstandsbedeutung, die jedem Objekt bzw. jeder Person45 der „Dingwelt“ zukommt, und der Zeichenbedeutung von Bildern unterschieden werden. In der figurativen Lesart von Bildern finden die Gegenstandsbedeutungen der abgebildeten Objekte Eingang in die Zeichenbedeutung des Bildes. Das zeichenhafte Objekt der „Dingwelt“ fungiert als Zeichenlieferant (Mosbach 1999, S. 85) für das Bild. Wie aber aus Abschnitt 1.2.1.1 hervorgeht, übersteigt die Zeichenbedeutung eines Bildes die Summe der Gegenstandsbedeutungen der abgebildeten Objekte. Durch interne Verweisungszusammenhänge und Relationierungseffekte ist eine semantische Ganzheit prinzipiell mehr als die bloße Addition ihrer Einzelteile (unter 1.2.2.2 wird ausführlicher darauf eingegangen). Der Zeichenbedeutung eines Bildes kommt überdies aufgrund der genuin bildlichen Eigenschaften (Zweidimensionalität, doppelte Fixierung, Rahmung, Simultaneität, Ikonik etc.) der spezifisch ikonische Sinn (sensu Imdahl) zu, der sich nicht aus den einzelnen Gegenstandsbedeutungen ableiten lässt. Sauerbier sieht daher zwei „komplementäre Fehler“ bei der semiotischen Analyse von Fotografien: Zum einen die Nicht-Beachtung der Zeichenhaftigkeit der Objekte, die zum Gegenstand der Abbildung werden. Zum andern die Reduktion der Fotografie auf die Abbildung der Objekte, ohne dass das Surplus der Zeichenbedeutung berücksichtigt werde – „besprochen wird dann nur, was angeblich auf den Fotos ‚drauf’ sei.“ (Sauerbier 1985, S. 124 f.) Das Übersehen der Zeichenbedeutung entspricht weitgehend dem, was oben als „referentieller Rezeptionsmodus“ bzw. „Modalität Alpha“ bezeichnet wurde.

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Dass auch Menschen als Zeichen fungieren können, arbeitet Mosbach (1999, insbes. S. 177 ff.) heraus. Im weiteren werden unter „Objekt“ sowohl Personen, Tiere, Pflanzen und Sachen verstanden.

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Die Zeichen, aus denen sich der Bildtext zusammensetzt, sind demnach „reichhaltiger“ als sprachliche Zeichen, in die keine Gegenstandsbedeutung einfließt und die Langer „an sich betrachtet“ deshalb als „gänzlich belanglos“ bezeichnet hatte (vgl. Langer 1984, S. 83, sowie Boehm 1986, S. 301; 1.2.1.2). Obwohl die isolierte Betrachtung und Identifizierung sprachlicher Zeichen (Buchstaben oder Worte) belanglos sein mag, so ist sie immerhin möglich. Dies ist bei Bildelementen nicht der Fall: „Es ist unmöglich, das kleinste unabhängige Symbol zu finden und es zu identifizieren, wenn dieselbe Einheit in anderen Zusammenhängen erscheint. Die Photographie hat daher kein Vokabular.“ (Langer 1984, S. 101; Herv. B.M.) Es gibt bei Fotografien keinen klar umgrenzten Bestand an kleinsten Einheiten (wie die Buchstaben des Alphabets bei der Sprache), aus denen sich alle Bildtexte aufbauen ließen. Es wurde hier argumentiert, dass ein Bild (mindestens) in bedeutungstragende Einheiten gegliedert und deshalb als Text betrachtet werden kann. Es kann jedoch nicht behauptet werden, dass diese Einheiten unabhängig von ihrem Bildkontext identifizierbar sind. Nur als „Teil einer bezeichnenden Konfiguration“ (Sonesson 1993, S. 145) gewinnen die Bildelemente, die „für sich genommen bedeutungslos sind“, eine spezifische Bedeutung (ebd.). 1.2.2.2 Dimensionen der Offenheit Im Folgenden soll nun untersucht werden, inwieweit ein Bild Freiräume der Interpretation lässt, d.h. wie ein Foto der Doppelnatur des Textes gerecht wird und im Sinne der Definition Fiskes (s.o.) nicht nur als „strukturiert“, sondern auch als „polysem“ angesehen werden kann. Die Unabgeschlossenheit eines Textes hinsichtlich seines Sinns wird im Anschluss an Ecos „offenes Kunstwerk“ (zuerst 1962, hier: 1977a) als „Offenheit“ bezeichnet. Damit ist die Vorstellung verbunden, dass der Sinn konstituitiv auf den Beitrag der Rezipierenden verwiesen ist. Das Konzept der „Offenheit“ wurde in der Folgezeit zu einer zentralen Metapher der Rezeptionsforschung – teilweise mit anderen Akzentuierungen als bei Eco (vgl. Fiske 1987, S. 94 f.; Livingstone 1995, S. 40 f.; 1996, S. 165; Liebes 1996, S. 177 ff.). Dass der Sinn eines Textes sich aus der Interaktion von Text und Rezipierenden ergibt, der Text für sich genommen daher offen für unterschiedliche Sinnbildungen ist, wird jedoch weithin als common sense der Rezeptionsforschung geteilt (vgl. 1.1.1 und 1.1.2). Unter Rückgriff auf zeichentheoretische Überlegungen lässt sich die Verwiesenheit des Sinns auf den Beitrag der Rezipierenden weiter verdeutlichen. Die Einheiten, die aus der strukturierenden Rezeption resultieren, können als Zeichen betrachtet werden und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen können

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sie als Einheit von Inhalt (Signifikat) und Ausdruck (Signifikant) formal als Zeichen beschrieben werden. Zum andern kommt den Bildelementen Zeichenstatus zu, da sie die Gegenstandsbedeutungen der dingweltlichen Objekte ins Bild „importieren“, auf die sie auf abbildlicher Ebene qua Ersatzreiz verweisen und die selbst Zeichencharakter haben. Auch deren Bedeutung setzt sich aus Signifikant und Signifikat zusammen bzw. muss von den Akteuren durch die aktive Verknüpfung von Signifikant und Signifikat erst hergestellt werden. Eco spricht daher von einer „fundamentalen Offenheit“ (Eco 1977a, S. 134) der Sinnbildung, die nicht nur der Rezeption von Bildern, sondern „jedem Wahrnehmungsakt zugrunde“ liegt (ebd.). Eco argumentiert an dieser Stelle von einem explizit phänomenologischen Standpunkt aus, wobei er sich auf Husserl und Merleau-Ponty bezieht. Semiotische und phänomenologische Argumentationsweisen lassen sich – wie bereits erwähnt (vgl. 1.1.1) – verschränken, indem einerseits die sinnhafte Einheit von Signifikant und Signifikat in das Erleben der Zeichenverwender verlagert wird und andererseits jedwede Art von „Wahrnehmungsakt“ (Eco) in semiotischer Begrifflichkeit als Zusammenspiel von Signifikant und Signifikat beschrieben wird (vgl. Iser 1975c, S. 332; Münch 1993, S. 218 f.; Schalk 2000, S. 38 ff.). Die „fundamentale Offenheit“, die sich aus dem ‚lockeren’ Zusammenhang von Signifikant und Signifikat ergibt, ‚überlagert’ quasi die unmittelbare Evidenz visueller Wahrnehmungserlebnisse. Sie wird nun diskutiert. Anschließend wird das Konzept einer zweiten Art von Offenheit entwickelt und der „fundamentalen Offenheit“ gegenübergestellt. Es wird vorgeschlagen, zwischen diesen beiden Arten der Offenheit zu unterscheiden, um die Polysemie von Bildern differenzierter betrachten zu können. Fundamentale Offenheit Die „fundamentale Offenheit“ prägt nach Ansicht Ecos „jeden Augenblick unserer Erkenntniserfahrung“ (Eco 1977a, S. 51), d.h. nicht nur die Rezeption von Bildern, sondern auch die Wahrnehmung der Objektwelt. Dieser Gedanke lässt sich weiter entfalten, wenn man Barthes These vom „Objekt als Zeichen“ (ders. 1988a, S. 192; s.o.) wieder aufgreift. Denn „die Signifikate der Objekte hängen stark vom Empfänger der Mitteilung ab, nicht vom Sender, das heißt vom Leser des Objekts. Das Objekt ist polysemisch, das heißt, es ist mehreren Sinnlektüren zugänglich“ (ebd., S. 195). Das Objekt als Zeichen entstammt nämlich keinem exakt bestimmbaren Zeichenvorrat, innerhalb dessen es eine eindeutige Position hätte und sich durch seine Relationen zu den anderen Elementen definieren

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könnte.46 Die Bedeutung des Objektzeichens ergibt sich nicht aus dem Bezug zu einem klar festgelegten Gesamtsystem (wie es bspw. das Alphabet für die Bedeutung eines Buchstabens bildet), da es für die wenigsten Objektzeichen ein eindeutiges Bezugssystem gibt (vgl. Eco 1977b, S. 84 f.; Barthes 1983, S. 46 ff.). Die Konsequenz führt Mirzoeff aus: „If the total system cannot be known, then it is of little use to insist that the concrete example is a manifestation of that system. Thus the sign becomes highly contingent and can only be understood in its historical context.” (Mirzoeff 1999, S. 14) Diesen historischen Kontext stellen die Rezipierenden her, d.h. sie tragen historisch je unterschiedliche Bezugssysteme an ein Objekt heran. So variiert bspw. die Bedeutung des Objekts „VW Käfer“ je nach dem Bezugssystem, das an das Objekt herangetragen wird. Lautet das Bezugssystem „studentische Verkehrsmittel“ mit u.a. den Elementen „Fahrrad“, „ÖPNV“ und „zu Fuß“, dann kommt der Alternative „VW Käfer“ die Bedeutung eines vergleichsweise komfortablen und luxuriösen Verkehrsmittels zu. Wird das Bezugssystem durch die Alternativen „Mercedes“, „BMW“ und „Audi“ gebildet, dann verschiebt sich die Bedeutung des „VW Käfer“ ins Gegenteil und er erscheint als eher armseliges Fahrzeug. Konstituiert sich das Bezugssystem durch die Alternativen „Fiat Punto“, „Renault Clio“ und „VW Polo“, dann wiederum erscheint der „VW Käfer“ als altertümliche Variante des Systems „Kleinwagen“, der möglicherweise Kultstatus zugesprochen werden kann. Die Wahl des Bezugssystems, und d.h. die Konstituierung seiner Elemente, mit denen das in Frage stehende Objekt in Relation gesetzt wird, hängt von den Rezipierenden bzw. der Situation ab und wird nicht durch das Objekt selbst ‚mitgeliefert’. Ob ein „VW Käfer“ als nobel, armselig oder ‚kultig’ angesehen wird, hängt daher vom Bezugssystem ab, das die jeweiligen Rezipierenden auf den „VW Käfer“ applizieren. Das Objekt selbst ist offen für unterschiedliche Sinnzuschreibungen und ermöglicht ein hohes Maß an Polysemie, da die Gesamtheit aller denkbaren Bezugssysteme und somit auch die Gesamtheit aller Bedeutungen nicht antizipiert werden können. Für den einzelnen Betrachter mag die Sinnzuschreibung an ein gegebenes Objekt jedoch oftmals zwangsläufig und eindeutig erscheinen, da er sein Bezugssystem möglicherweise für alternativlos und unhinterfragbar hält bzw. es ihm reflexiv überhaupt nicht verfügbar ist. Die relationale Sinnzuschreibung wird dann objektivierend in das Objekt projiziert und als objektimmanentes Merkmal empfunden. Erst für einen Beobachter zweiter Ordnung präsentiert sich dann eine Vielfalt von Sinnzuschreibungen aufgrund der unterschiedlichen Bezugssysteme verschiedener Betrachter erster Ordnung. Die Polysemie des 46

Jensen erläutert die dahinter stehende Grundannahme der Semiotik: „The meaning of signs (...) is determined not by any immanent features, but by their position – their relations of difference – within the total system of meaning production.” (Jensen 1996, S. 70)

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Objekts ist daher nicht unbedingt dem subjektiven Erleben eines einzelnen Betrachters zuzuordnen, sondern vielmehr als Ergebnis einer Vielzahl von Interaktionen des Objekts mit den Bezugssystemen unterschiedlich sozial und historisch situierter Rezipierender. Bieten sich dem subjektiven Erleben mehrere Deutungsalternativen an, sollte man m.E. eher von „Doppel- bzw. Mehrdeutigkeit“ oder „Ambiguität“ sprechen. Als Beispiel könnte hier abermals auf den Hasen-/Entenkopf verwiesen werden, auf den sich Wittgenstein bezieht. Der Begriff der „Polysemie“ könnte dann für jene Fälle reserviert werden, in denen sich im einzelnen Rezeptionsakt eine eindeutige Bedeutung einstellt und nur der Vergleich mehrerer Rezeptionsakte für einen Beobachter zweiter Ordnung eine Pluralität der Sinnbildungen zu Tage fördert. In diesem Sinn ist m.E. auch Ecos „fundamentale Offenheit“ (Eco 1977a, S. 134) zu verstehen. Unter Bezug auf Dewey und Piaget argumentiert Eco, „dass die Wahrnehmung (...) eine Beziehung sei, in der meine Erinnerung, meine unbewussten Überzeugungen, die Bildung, die ich aufgenommen habe (in einem Wort die erworbene Erfahrung) sich mit dem Komplex der Reize integrieren, um ihnen so, zugleich mit einer Form, den Wert mitzuteilen, den sie für mich gewinnen im Hinblick auf die Ziele, die ich mir vorsetze.“ (ebd. S. 134 f.; Herv. i. Orig.)

Die „Fundamentalität“ der Offenheit leitet Eco aus der „konstruktive(n) Aktivität des Subjekts“ (ebd., S. 138) ab, die einen konstitutiven Beitrag zur Sinnbildung leistet.47 Der „Entstehungsort“ des Sinns ist daher die Interaktion von „Reiz“ und Subjekt (vgl. ebd. S. 133), der „Reiz“ allein ist hinsichtlich der Sinnbildung unabgeschlossen bzw. „offen“ für eine Vielzahl von Interaktionsmöglichkeiten. Je nach Beitrag des Subjekts variiert der Sinn, der dem „Reiz“ zugeordnet wird. Bislang war überwiegend von der Polysemie der Objekte die Rede. Als „Gegenstandsbedeutung“ (vgl. Sauerbier 1985, S. 124 f.; s.o.) fließt sie in eine Fotografie und trägt dort zur Polysemie bei. Die fundamentale Offenheit, mit der auch die Wirklichkeitswahrnehmung behaftet ist, findet somit auch Eingang in das Foto. In diesem Zusammenhang ist Barthes´ Diktum zu verstehen, demzufolge „jedes Bild polysemisch“ ist: „es impliziert eine unterschwellig in seinen Signifikanten vorhandene ‚fluktuierende Kette’ von Signifikaten, aus denen der Leser manche auswählen und die übrigen ignorieren kann.“ (Barthes 1990b, S. 34) Die Gegenstandsbedeutungen übersteigen somit die „buchstäbliche“ Bedeutung der Fotografie, die Barthes als „tautologisch“ bezeichnet hatte 47

Ohne an dieser Stelle näher darauf eingehen zu wollen, sei angemerkt, dass Eco hier ein ‚Konglomerat’ sowohl präreflexiver („unbewussten Überzeugungen“) als auch reflexiv verfügbarer Dispositionen („die Ziele, die ich mir vorsetze“) auf der Subjektseite als Instanzen der Sinnbildung postuliert. Diese Dispositionen tragen zur Konstitution eines Bezugssystems bei.

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(1990b, S. 31). Obwohl ein Foto qua Ersatzreiz auf einen VW Käfer verweist (und nicht auf ein Fahrrad), wird diese buchstäbliche Bedeutung immer von „kulturellen“ (vgl. Barthes 1990b, S. 31) bzw. „symbolischen“ (ebd. S. 32) Bedeutungen überlagert – m.a.W.: Was ein Foto von der Wirklichkeit zeigt, ist unmittelbar gegeben. Da die Wirklichkeit aber selbst mehrdeutig ist, fließt diese Mehrdeutigkeit auch in das Foto ein. Die fundamentale Offenheit resultiert jedoch nicht nur aus den einzelnen, in das Bild importierten Gegenstandsbedeutungen der abgebildeten Objekte, die als „fluktuierende Kette von Signifikaten“ verstanden werden können, sondern auch aus der Zeichenbedeutung des Bildes als Ganzem. Auch die Abbildung komplexerer Szenen und Situationen unterliegt der Einordnung in unterschiedliche Bezugssysteme, woraus sich eine prinzipielle Offenheit der Sinnbildung ergibt. Das ‚reine’ Erfassen der buchstäblichen Bedeutung eines Fotos bezeichnete Barthes als „utopisch“ (1990b, S. 37), vielmehr würden die buchstäbliche und die kulturelle Bedeutung gleichzeitig rezipiert (ebd. S. 32). Der „Buchstabe des Bildes entspricht im Grunde dem ersten Grad des Intelligiblen (unterhalb dieses Grads würde der Leser nur Linien, Formen und Farben wahrnehmen), aber dieses Intelligible bleibt aufgrund seiner Dürftigkeit virtuell, da jede beliebige, aus einer realen Gesellschaft stammende Person immer über ein höheres Wissen als das anthropologische Wissen verfügt und mehr wahrnimmt als den Buchstaben“ (Barthes 1990b, S. 37).

Die fundamentale Offenheit, die jedem Wahrnehmungsakt zugrunde liegt, kann daher nicht als Textmerkmal am Bild festgemacht werden, sondern reflektiert eine grundlegende Bedingung der Rezeption. Dies hat auch Eco so gesehen und sich von objektivierenden und reifizierenden Vorstellungen von „Offenheit“ abgegrenzt: „Das Modell eines offenen Kunstwerks gibt nicht eine angebliche objektive Struktur der Werke wieder, sondern die Struktur einer Rezeptionsbeziehung.“ (Eco 1977a, S. 15) Offenheit ist daher als relationale Größe zu verstehen, die sich aus der Beziehung zwischen dem Text und seinen unterschiedlich soziohistorisch situierten Rezipierenden ergibt. Neben jener „fundamentalen“ Offenheit bzw. „Unabgeschlossenheit“, die „jeden Augenblick unserer Erkenntniserfahrung“ prägt (Eco 1977a, S. 51) und somit jeden Rezeptionsprozess begleitet, scheint es jedoch eine ‚graduelle’ bzw. ‚partielle’ Offenheit zu geben, die auf formalen Merkmalen der Textstruktur beruht. „Some texts are more open than others, and this openness is controlled by different textual strategies.“ (Fiske 1987, S. 179) Nur vor diesem Hintergrund ist es möglich, zwischen „offenen“ und „geschlossenen“ Texten zu unterscheiden. Während geschlossene Texte demnach die Sinnbildung mehr oder weniger determinieren, lassen offene Texte Freiräume der Interpretation und führen so zu einem höheren Maß an Polysemie. Obwohl sich Eco im „offenen

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Kunstwerk“ gegen diese Auffassung von Offenheit als Strukturmerkmal des Textes wandte, spricht er in späteren Arbeiten (z.B. 1979) selbst in objektivierender Weise von „open vs. closed texts“. Aber auch hier ist die „Rolle des Lesers“ konstitutiv für die Textanalyse (vgl. Eco 1979, S. 4). Im Folgenden wird daher vorgeschlagen, zwei Arten von Offenheit zu unterscheiden. Dabei wird mit dem ‚frühen’ Eco die grundsätzliche Auffassung vertreten, dass Offenheit prinzipiell als relationale Größe zu betrachten ist, die keine „objektive“ Struktur der Texte charakterisiert, sondern die „Struktur einer Rezeptionsbeziehung“. Offenheit zweiten Grades: Leerstellen Das Konzept einer „Offenheit zweiten Grades“ (Eco 1977a, S. 139) stellt Eco bereits im „offenen Kunstwerk“ der „fundamentalen Offenheit“, die für jeden Wahrnehmungsakt konstitutiv ist, gegenüber. Sie beruht nicht allein auf der Rezeptionsbeziehung, „sondern auf den Elementen, die zum ästhetischen Resultat zusammentreten, selbst.“ (ebd., S. 85). Bei einem solcherart offenen Text sind „die Zeichen als Konstellationen komponiert (...), bei denen die strukturelle Relation nicht von Anfang an in eindeutiger Weise festgelegt ist.“ (ebd., S. 159; Herv. B.M.). Wesentlich für eine Applikation dieses Konzepts einer Offenheit zweiten Grades auf Fotografien ist daher die Annahme, dass auch ein Foto als Text zu beschreiben sei, der sich in zeichenhafte Elemente gliedern lasse und auf der figurativen Ebene als System von Zeichen und Relationen zu verstehen sei. Diese Annahme wurde oben hinreichend plausibilisiert. Die bildimmanente Offenheit zweiten Grades ist in besonderer Weise auf die Zusammenarbeit mit den Rezipierenden angewiesen. Denn „die Ordnungslosigkeit der Zeichen, die Desintegration der Umrisse, das Explodieren der Konfigurationen lädt uns dazu ein, selbst Beziehungen herzustellen.“ (ebd., S. 183) Daher darf auch diese Art von Offenheit nicht reifizierend als ‚objektives’ Strukturmerkmal des Textes verstanden werden. Auch die bildimmanente Offenheit ist nur relational auf soziohistorisch situierte Rezipierende zu denken, da sie nur vor der Kontrastfolie kultureller Konventionen als Abweichung hervortritt (vgl. ebd., S. 89). Texte, die aufgrund ihrer Offenheit „für eine Kultur Elemente der Krise sind, können für eine andere an Monotonie grenzende Muster von Regelhaftigkeit sein.“ (ebd., S. 141). Eco nennt weitere Merkmale der Offenheit zweiten Grades, die hier nicht aufgegriffen werden. Im Zentrum soll vielmehr die Unbestimmtheit bildinterner Relationen stehen. Sie können mit einem von Wolfgang Iser in die Literaturwissenschaft eingeführten Begriff als „Leerstellen“ bezeichnet werden: „Indem die Leerstellen eine ausgesparte Beziehung anzeigen, geben sie die Beziehbarkeit der bezeichneten Positionen für die Vorstellungsakte des Lesers

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frei; sie ‚verschwinden’, wenn eine solche Beziehung vorgestellt wird.“ (Iser 1976, S. 284) Leerstellen werden begrenzt von Elementen des Textes, die die „Konturen“ der Leerstelle bilden und im Gegensatz zur Leerstelle bestimmt (Iser 1975a, S. 235) sind (nicht jedoch geschlossen, was ihre eigene Interpretierbarkeit betrifft). Die Möglichkeit einer Unterscheidung von „ausgesparten“ Leerstellen und „gegebenen“ Textelementen wird von Stanley Fish vehement bestritten (vgl. 1.1.2.1). Er kritisiert an Iser, „that the distinction between what is given and what is supplied won´t hold up because everything is supplied, both the determinate and the indeterminate poles of the ‚aesthetic object’.“ (Fish 1989, S. 83) Wie in Abschnitt 1.1.2.1 bereits dargelegt wurde, betrachtet Fish nicht lediglich die Bedeutung eines Textes als interpretationsabhängig, sondern den Text insgesamt. In seiner polemischen Kritik an Iser betont er daher, dass auch die gegebenen Textelemente Produkte einer Interpretationsstrategie der Rezipierenden seien (Fish 1989, S. 77) und resümiert: „there can be no category of the ‚given’ if by given one means what is there before interpretation begins.“ (Fish 1989, S. 78) Eine Unterscheidung von „gegebenen“ Textstellen und „Lücken“ (Leerstellen) im Text bedeutet m.E. aber nicht, die gegebenen Stellen als ‚objektive’ und interpretationsunabhängige data bruta zu betrachten. Als Zeichen sind auch die gegebenen Elemente prinzipiell interpretationsabhängig – genauso wie die Leerstellen: Auch für die Offenheit zweiten Grades, die Leerstellen, gilt Ecos Feststellung, derzufolge Offenheit „nicht eine angebliche objektive Struktur der Werke wieder>gibt@, sondern die Struktur einer Rezeptionsbeziehung.“ (Eco 1977a, S. 15). Aber obwohl sowohl die gegebenen Elemente als auch die Leerstellen von den Rezipierenden konstruiert werden, kann eine Unterscheidung zwischen der Offenheit der Leerstellen als „Lücke“ zwischen zwei zeichenhaften Textelementen und der Offenheit der zeichenhaften Textelemente selbst getroffen werden. Ein Beispiel aus der Literatur soll dies verdeutlichen: „Jean war siebzehn, als der Krieg anfing, und sie fühlte sich entlastet dadurch. Jetzt war ihr alles aus der Hand genommen; sie brauchte kein schlechtes Gewissen mehr zu haben.“ (Barnes 1991, S. 28) Für die meisten Leser dürfte sich in dieser Passage, die zu Beginn eines Kapitels steht, eine Leerstelle auftun: Die Relation zwischen zwei Ereignissen, dem Kriegsausbruch und den Gefühlen Jeans, ist „ausgespart“. Man erfährt nicht, warum sich Jean durch den Kriegsausbruch entlastet fühlt. Vor einem vermutlich weithin geteilten Erwartungshorizont würde man mit dem Ereignis eines Kriegsausbruchs eher das Gefühl der Bedrückung verbinden. Dass sich jemand durch ein solches Ereignis entlastet fühlt, ist nicht auf Anhieb in Kongruenz mit den Normalitätsschemata dieses weithin geteilten Erwartungshorizonts zu bringen. Diese Schemainkongruenz, die nur relational auf einen

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bestimmten Erwartungshorizont mit seinen spezifischen Normalitätsschemata bezogen zu denken ist, konstituiert die Leerstelle als „ausgesparte Beziehung“ (Iser 1976, S. 284). Bezogen auf die Normalitätsschemata eines anderen Erwartungshorizonts mag das Gefühl der Entlastung bei einem Kriegsausbruch schemakongruent sein, in diesem Fall würde keine Leerstelle zu Tage treten. Eine wahrgenommene – besser: konstruierte Leerstelle mag dagegen die Vorstellungstätigkeit der Rezipierenden zu Spekulationen anregen, wie sich diese Leerstelle wohl konsistent schließen lasse, welche ‚Geschichte’ dahinterstehe etc. „Gegeben“ sind dagegen die Konturen der Leerstelle: Kriegsausbruch, ein siebzehnjähriges Mädchen namens Jean und ihre emotionale Reaktion auf den Kriegsbeginn. Eine Interpretation dieser Passage, die davon ausginge, dass Jean ein verwirrter Greis oder durch den Kriegsbeginn entsetzt sei oder sich durch den Beginn der Sommerferien entlastet fühle, wird durch den Text nicht gedeckt. Sie wäre auch in empirischen Rezeptionsprozessen als echtes „Missverständnis“ zu bezeichnen, die vermutlich keine intersubjektive Geltung beanspruchen könnte. Gleichwohl sind auch die gegebenen Textpassagen, die die Konturen der Leerstelle bilden, nicht interpretationsresistent. Auf zwei Ebenen sind auch sie interpretationsabhängig: Zum einen könnte man sagen, dass es bereits einen Akt der Interpretation darstellt, eine bestimmte Verteilung von Druckerschwärze auf dem Papier als das Wort „Krieg“ zu entziffern. Zum andern werden mit dem Wort „Krieg“ je nach Erwartungshorizont unterschiedliche Vorstellungen verbunden: Ein deutscher Student im Frühjahr 1914 mag anders darüber gedacht haben als ein deutscher Student des Jahres 2005 oder jemand, der als Kleinkind die Nächte im Bombenkeller verbracht hat (vgl. 1.1.2.1). Die gegebenen Elemente unterliegen demnach der fundamentalen Offenheit, für die oben angenommen wurde, dass sie sich einem Beobachter erster Ordnung kaum erschließt, sondern als Offenheit, d.h. als Unabgeschlossenheit und Mehrdeutigkeit des Sinns, vornehmlich im kontrastiven Vergleich für einen Beobachter zweiter Ordnung hervortritt: Einem Beobachter erster Ordnung mag die Bedeutung des Wortes „Krieg“ zwingend und alternativlos erscheinen, so dass er möglicherweise einem „objektivistischen Fehlschluss“ erliegt und seinen Konstruktionsakt reifizierend in das Zeichen projiziert. Anders dagegen die Leerstelle: Sie wird von den Rezipierenden als „ausgesparte Beziehung“ konstruiert, d.h. die Offenheit der textinternen Relationen wird bereits von den Beobachtern erster Ordnung als Offenheit erlebt und nicht erst im kontrastiven Vergleich von Beobachtern zweiter Ordnung. Gegen Fish muss daher betont werden (vgl. 1.1.2.1), dass es zwar keine Wahrnehmung gibt, die nicht zugleich auch Interpretation wäre, dass es aber durchaus einen Unterschied gibt zwischen

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der Interpretation eines „gegebenen“ Zeichens und dem Erleben einer Bestimmungslücke als offen. „Als sie selbst lassen >die Leerstellen; B.M.@ sich daher auch nicht beschreiben, denn als ‚Pausen des Textes’ sind sie nichts; doch diesem ‚nichts’ entspringt ein wichtiger Antrieb der Konstitutionsaktivität des Lesers. Immer dort, wo Textsegmente unvermittelt aneinanderstoßen, sitzen Leerstellen, die die erwartbare Geordnetheit des Textes unterbrechen.“ (Iser 1976, S. 302)

Auch Leerstellen sind jedoch keine Strukturmerkmale des Textes, sondern relational auf die „Ordnungserwartungen“ der Rezipierenden bezogen, vor deren Hintergrund sie als Schemainkongruenzen sichtbar werden. Auf Fotografien bezogen lässt sich sagen, dass die gegebenen Elemente sehr viel unmittelbarer gegeben sind als sprachliche Zeichen, da sie sich als Ersatzreize nach Modalität Alpha vermitteln. Sie konstituieren das, was Barthes die „buchstäbliche“ Botschaft einer Fotografie genannt hat (ders. 1990b, S. 32), zu deren Lektüre „wir kein anderes Wissen als das mit unserer Wahrnehmung verknüpfte“ (ebd.) benötigen. Trotz ihrer unmittelbaren Evidenz sind auch sie nicht interpretationsresistent, sondern unterliegen aufgrund ihrer jeweiligen Gegenstandsbedeutungen der fundamentalen Offenheit: Das Foto eines VW Käfers vermittelt als Ersatzreiz einen Wahrnehmungseindruck, der dem bei Betrachtung eines realen VW Käfers sehr nahe kommt – und nicht dem bei Betrachtung eines Fahrrades. Unabhängig von dieser Festlegung kann er als luxuriös, armselig, altertümlich oder ‚kultig’ u.a.m. betrachtet werden. Leerstellen ergeben sich auch hier aus der Inkongruenz von den Schemata, die die Rezipierenden auf ein Bild applizieren und den bildinternen Relationen. Sie sind daher nicht als Strukturmerkmal am Bild abzulesen, sondern nur aus der Beziehung von Bildstruktur und applizierten Schemata. Stellen wir uns ein Foto vor, das neben einem VW Käfer noch ein Nilpferd und einen Mann in Ritterrüstung zeigt. Die Bildelemente „VW Käfer“, „Nilpferd“ und „Ritter“ sind gemäß Modalität Alpha auf der figurativen Ebene gegeben. Trotz ihres unmittelbaren Gegebenseins unterliegen sie der fundamentalen Offenheit und sind daher (jeweils für sich) vielfältig interpretierbar. Vor meinem Erwartungshorizont sind überdies die bildinternen Relationen nicht geklärt, sondern offen: In welchem Verhältnis stehen die figurativen Bildelemente (VW Käfer, Nilpferd, Ritter) zueinander? Welche ‚Geschichte’ steckt dahinter, d.h. welche ‚Umstände’ habe diese Elemente zusammengeführt? Die Relationen lassen sich nicht auf Anhieb in Einklang mit den Schemata bringen, die ich auf das Bild zu applizieren versuche. Zwischen den genannten Elementen klaffen für mich Leerstellen. Die Ungeklärtheit dieser bildinternen Relationen kann demnach auch von einem Beobachter erster Ordnung als Offenheit

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empfunden werden. Besteht jedoch zwischen der Rezeption des Bildes und seiner Produktion ein Kontinuum, d.h. kann die Betrachtung als „privater Gebrauch“ im Sinne Bergers (siehe 1.2.1.1) bezeichnet werden, so mögen die Relationen durch die Vertrautheit mit der Aufnahmesituation inhaltlich zu bestimmen sein: Wir kennen dann die ‚Umstände’ und Hintergründe der Fotoaufnahme, die zu einem ‚Zusammentreffen’ dieser Bildelemente geführt haben – die bildinternen Relationen lassen sich semantisch schließen, die Leerstellen verschwinden. Da Leerstellen als Konstruktionen zwischen „gegebenen“ Textelementen auftreten, können sie mit Iser auf der syntagmatischen Achse verortet werden (Iser 1976, S. 327). Es wird daher vorgeschlagen, die Offenheit zweiten Grades, die durch die Unbestimmtheit bildinterner Relationen gekennzeichnet ist und weitgehend Isers Leerstellen-Konzept entspricht, „syntagmatische Offenheit“ zu nennen. Die Offenheit ersten Grades, die nach Eco (1977a, S. 138) „wesenhaft“ für Erkenntnis überhaupt ist und jedem Wahrnehmungsakt zugrunde liegt, soll entsprechend als „paradigmatische Offenheit“ bezeichnet werden. Syntagmatische vs. paradimatische Offenheit Mit Syntagma und Paradigma werden die beiden Dimensionen bzw. Achsen bezeichnet, auf denen Zeichen in Relation zu anderen Zeichen stehen können. Das Syntagma oder die syntagmatische Achse ist die Dimension des Textes, d.h. die Relationierung der in einem Text auftretenden Zeichen. Die Zeichen sind hier nach dem Prinzip der Kontiguität, d.h. der räumlichen Nähe, miteinander in praesentia kombiniert und bilden so den Text. Quasi ‚senkrecht’ zur syntagmatischen Achse steht die paradigmatische Achse: „Ein Paradigma gleicht einem Vorrat von ähnlichen und doch unterschiedenen Termen, aus dem im aktuellen Diskurs ein Term benutzt ist (Prinzip der Selektion); es verbindet Terme in absentia in einer virtuellen Gedächtnisreihe, d.h. Terme, die aktuell nicht realisiert, aber virtuell vorhanden, nämlich unbewusst mitgedacht (= unbewusst assoziiert) sind.“ (Gallas 1972, S. XVI)

Das Paradigma bildet demnach das Bezugssystem, vor dessen Hintergrund ein Zeichen verstanden wird. Je nach Paradigma erscheint ein VW Käfer als nobel, ärmlich oder ‚kultig’. Aus der Vielzahl unterschiedlicher Paradigmen, die einem Zeichen „unbewusst assoziiert“ werden können, ergibt sich die „fundamentale“ bzw. paradigmatische Offenheit seiner Bedeutung. Festzuhalten bleibt, dass das Paradigma hier als virtuell, d.h. lediglich in absentia „mitassoziiert“, und als unbewusst, d.h. dem reflexiven Zugriff nicht direkt verfügbar, definiert wird.

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Die Unterscheidung von Syntagma und Paradigma geht auf Ferdinand de Saussure zurück, der das Paradigma als „assoziative Beziehung“ bezeichnet hat (vgl. Saussure 1967, S. 148). Saussure betont den unabgeschlossenen Charakter der paradigmatischen bzw. assoziativen „Gedächtnisreihe“ und stellt fest, dass der „Geist“ (ebd. S. 150 f.) nicht nur Assoziationen herstellt zwischen Elementen, die „irgend etwas Gemeinsames an sich haben“ (ebd.). Durch Assoziationen stellt er auf der virtuellen Gedächtnisreihe vielmehr auch Beziehungen her, die sich nur bei einem konkreten Einzelfall ergeben. Daher sei die Zahl der paradigmatischen Assoziationsbeziehungen unbegrenzt – sie bieten sich „weder in bestimmter Zahl noch in bestimmter Ordnung dar“ (ebd.).48 Die paradigmatische Assoziation ist demnach prinzipiell unbestimmt und unabgeschlossen bzw. offen. Bei der Bildrezeption kann sie sowohl durch ein einzelnes Bildelement als auch durch das Foto als Ganzes ausgelöst werden. Wie Ecos fundamentale Offenheit ist die paradigmatische Assoziation bei jedem Erkenntnisvorgang gegeben, da „etwas als etwas erkennen heißt: es von allen anderen erkennbaren Dingen unterscheiden.“ (Frank 1984, S. 44) Und dies bedeutet: es auf einer mitgedachten „Gedächtnisreihe“ verorten und in seiner Relation zu den „anderen erkennbaren Dingen“ als identisch, ähnlich oder verschieden wahrnehmen. Die paradigmatische Offenheit eines Bildes resultiert somit aus der prinzipiellen Verwiesenheit des Sinns auf den Beitrag der Rezipierenden, die ein gegebenes bildliches Zeichen mit einer „paradigmatischen Gedächtnisreihe“ assoziativ in Beziehung setzen. Die paradigmatische Offenheit ist daher kein Merkmal des Textes, sondern kennzeichnet – wie Eco bzgl. der „fundamentalen Offenheit“ feststellt – die „Struktur einer Rezeptionsbeziehung“ (Eco 1977a, S. 15; s.o.). Die verschiedenen Sinnkonstruktionen, die aus den Interaktionen des Bildes mit unterschiedlichen Rezipierenden hervorgehen, können für sich betrachtet jedoch abgeschlossen und eindeutig sein. Da eine neutrale, d.h. betrachterunabhängige Bildanalyse nicht möglich ist (vgl. Barthes 1990b, S. 37 f., der eine rein „buchstäbliche“ Lektüre als utopisch bezeichnet hatte), manifestiert sich die paradigmatische Offenheit nicht am Bild selbst (jeder noch so analytische Blick verortet das Bild unweigerlich auf einem Paradigma und reichert es mit Sinn an), sondern nur im kontrastiven Vergleich mehrerer Interaktionen eines Bildes mit unterschiedlichen Rezipierenden als Vielfalt unterschiedlicher Sinnbildungen. Die paradigmatische Offenheit ist daher – wie bereits erwähnt – nur für einen Beobachter zweiter Ordnung im Vergleich mehrerer Sinnbildungsprozesse 48

Über die soziale Genese und den Kollektivitätsgrad der paradigmatischen Gedächtnisreihen macht Saussure keine Aussagen, sondern stellt lediglich fest: „ihr Sitz ist im Gehirn“ (Saussure 1967, S. 148). Fiske (1987, S. 163) spricht von einem „paradigmatic set“, das einen „ideological frame“ bereitstellt, „within which the possible meanings are negotiated.“ Diese Frage wird an dieser Stelle nicht weiterverfolgt, sondern in Kapitel 1.4 wieder aufgegriffen.

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feststellbar; für Beobachter erster Ordnung kann die paradigmatische Verortung eines gegebenen Zeichens durchaus (ab-) geschlossen und zwingend erscheinen. Für einen Beobachter zweiter Ordnung ist paradigmatische Geschlossenheit jedoch nicht denkbar. Die syntagmatische Offenheit kann dagegen eine konsistente Sinnbildung bereits auf der Beobachtungsebene erster Ordnung behindern und sich im jeweiligen Sinnbildungsprozess selbst als das Erleben einer Schemainkongruenz manifestieren. Zwar ist auch die syntagmatische Offenheit relational auf das Bezugssystem der Rezipierenden verwiesen und darf nicht objektivierend als Strukturmerkmal des Textes missverstanden werden. Als „Leerstelle“ wird sie jedoch im Erleben der Rezipierenden als „Bestimmungslücke“ zwischen den in praesentia „gegebenen“ Zeichen des Textes konstruiert. Dass sich aus der syntagmatischen Offenheit – im Gegensatz zur paradigmatischen Offenheit – ein Verstehensproblem auf der Beobachtungsebene erster Ordnung ergeben kann, lässt sich mit einer Überlegung Wittgensteins verdeutlichen: Bei ihm finden sich drei Arten des Nicht-Verstehens von Bildern: „(...) Das Bild ist etwa ein Stilleben; einen Teil davon aber verstehe ich nicht: ich bin nicht fähig, dort Körper zu sehen, sondern sehe nur Farbflecke auf der Leinwand. – Oder ich sehe alles körperlich, aber es sind Gegenstände, die ich nicht kenne (sie schauen aus wie Geräte, aber ich kenne ihren Gebrauch nicht). – Vielleicht aber kenne ich die Gegenstände, verstehe aber, in anderem Sinne – ihre Anordnung nicht.“ (Wittgenstein 1995; PU § 526).

Beim ersten Verstehensproblem („sehe nur Farbflecke“) wird die plastische Bildschicht nicht ‚transparent’, so dass das Bild nicht nach Modalität Alpha als Ersatzreiz wirken kann. Dieses Verstehensproblem dürfte sich eher bei Gemälden und kaum bei Fotografien einstellen. Beim zweiten Problem („es sind Gegenstände, die ich nicht kenne“) handelt es sich um eine Schwierigkeit, die sich auch beim Umgang mit den entsprechenden Gegenständen der (außerbildlichen) Dingwelt einstellen würde. Zwar werden die Gegenstände auf der figurativen Ebene nach Modalität Alpha als Gegenstände erkannt, nicht jedoch wiedererkannt. Es handelt sich daher um ein Defizit des zuhandenen Wissensvorrats und nicht um ein eigenständiges Problem beim Verstehen von Bildern. Das dritte Problem („verstehe ihre Anordnung nicht“) bezieht sich auf Probleme der syntagmatischen Offenheit: Die Relationierung der gezeigten Gegenstände ist unklar, zwischen ihnen befinden sich Leerstellen, sie lassen sich nicht in eine übergeordnete, konsistente Zeichenbedeutung überführen. Syntagmatische Offenheit kann daher für einen Beobachter erster Ordnung ein Verstehensproblem darstellen.

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88 Syntagmatische Geschlossenheit

Es mag der Eindruck entstehen, dass die syntagmatische Offenheit bei Bildern unvermeidlich ist, da bildliche Texte kaum durch syntaktische Regeln strukturiert (vgl. 1.2.1.2) und daher in ihren immanenten Relationen weniger festgelegt sind als sprachliche Texte. Wie Boehm feststellt, enthalten sie „stets mehr Verbindungspotential ihrer Einzelelemente, als es für das Ablesen ihres bloßen ‚Inhalts’ notwendig wäre.“ (Boehm 1996, S. 156) Barthes sieht an dieser Stelle Berührungspunkte zwischen der Syntax des Bildes und der Syntax der Dingwelt: „Die Syntax der Objekte ist natürlich eine äußerst elementare Syntax. Wenn man Objekte zusammenstellt, kann man ihnen nicht so komplizierte Koordinationen wie in der menschlichen Sprache zuweisen. In Wirklichkeit sind die Objekte – ob es sich nun um die Objekte eines Bildes oder um die tatsächlichen Objekte eines Zimmers handelt – immer nur durch eine einzige Verknüpfungsform verbunden, durch die Parataxe, das heißt durch die bloße und einfache Nebeneinanderstellung von Elementen.“ (Barthes 1988a, S. 195)

Doch trotz der ‚schwachen’ Syntax von Bildern sind die bildimmanenten Relationen nicht prinzipiell ungeklärt. Kulturelle Konventionen stellen vielmehr Muster zur relationalen Verknüpfung von Bildelementen und zur semantischen Aufladung ihrer Beziehungen zur Verfügung, die über die von Barthes festgestellte „Parataxe“ hinausgehen. Sie können sich einerseits durch die Gegenstandsbedeutungen der abgebildeten Objekt ergeben, d.h. im referentiellen Rezeptionsmodus: Die visuelle Verknüpfung eines schwarz gekleideten Mannes und einer Frau im weißen Schleier ist vor dem Hintergrund einer bestimmten kulturellen Tradition nicht rein parataktisch zu verstehen, sondern mit dem semantischen Gehalt „Hochzeitspaar“ angereichert – unabhängig davon, ob sie realiter oder auf einer Fotografie betrachtet werden. Andererseits gibt es auch auf der Ebene der Zeichenbedeutung, d.h. im rhetorischen Rezeptionsmodus, kulturelle Konventionen, die die bildinternen Relationen mit Bedeutung anreichern und so den Bereich der reinen Parataxe überschreiten. Als stereotype Konfigurationen bedienen sie die Schemata etablierter Ikonographien. Zu denken wäre bspw. an die Fotogenres des „Klassenfotos“ oder des „Familienfotos“. Die Verknüpfung der abgebildeten Personen ist nicht lediglich eine räumliche Nebeneinanderstellung, sondern impliziert für die Rezipierenden, die mit den entsprechenden Konventionen vertraut sind, eine komplexere Aussage („Dies ist eine Schulklasse“; „Dies ist eine Familie“). Die Relation zwischen den Personen ist vor dem Hintergrund des kulturellen Musters keineswegs kontingent, sondern ‚sinnhaft aufgeladen’ bzw. in der Diktion Isers „bestimmt“ (vgl. ders. 1976, S. 303). Es liegt demnach keine Leerstelle vor, das Bild ist – vor dem

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Hintergrund der entsprechenden kulturellen Konventionen – syntagmatisch geschlossen. Anders ausgedrückt: Es existiert ein kulturelles Schema, an das sich die Personen oder Objekte assimilieren lassen. Mit Dux kann unter „Schema“ ein System „konstanter Relationen“ (Dux 1982, S. 251) verstanden werden. Er weist auch auf die hohe Affinität von Schema und sprachlichem Begriff hin. In den Prozess der zunächst handlungspraktisch fundierten Schemabildung steige dann die Sprache ein und steigere dadurch die Effizienz der Schemata (ebd. S. 99). Mit den kulturell entwickelten Schemata korrelieren dann die begrifflichen Schemata der Sprache (vgl. 1.3.3.2 und 1.4.3.2). Lässt sich ein Bild an ein Schema assimilieren, d.h. lassen sich seine internen Relationen nach Maßgabe dieses Schemas schließen (semantisch bestimmen), so lässt es sich „auf einen Begriff“ bringen. Durch die syntagmatische Schließung lassen sich Bilder unter das begriffliche Raster etablierter Schemata subsumieren. Bildlichkeit wird dann in Sprachlichkeit überführbar. Mit der Subsumtion unter ein begriffliches Raster wird die Basis für eine zweite Sinnstufe geschaffen: Nicht mehr das konkrete Bild in seiner individuellen Anschaulichkeit ist Grundlage der Sinnbildung, sondern das begriffliche Schema, das das Muster zur syntagmatischen Schließung bereitstellt. Fiske/Hartley weisen auf eine Konsequenz hin, die sich für Fotografien aus dem Übergang von der ersten zur zweiten Sinnstufe ergibt: „that is they lose their iconic specificity of reference“ (dies. 1989, S. 57). Auf der zweiten Sinnstufe partizipiert die prinzipiell singuläre und konkrete Fotografie an der Allgemeinheit und Abstraktheit des schematischen Begriffs. Fiske/Hartley verdeutlichen dies anhand eines Fotos, das zwei Kinder beim Verlassen der Schule zeigt. Sie vergleichen die Verwendung des gleichen Fotos in einem Familienalbum mit der im Rahmen eines Posters einer Verkehrssicherheitskampagne (In der Begrifflichkeit von Berger (s.o.) kann man hier auch vom privaten vs. öffentlichen Gebrauch der Fotografie sprechen). „Here it would become less specific and more generalized. The relation between signifier and signified would change: the signifier would remain the same, but the signified would change from ‘Matthew and Lucy coming home from school, July 1978’, to a more generalized sign of ‘children leaving school’.“ (ebd. S. 52) Bedingung dafür ist allerdings, dass sich die Kinder an das kulturell konventionalisierte Schema „Kinder auf dem Schulweg“ assimilieren lassen (m.E. sind dafür bspw. Schulranzen unerlässlich). „The more the children appear to be culturally typical on this poster (…), the wider would be the acceptance of this new sign.“ (ebd. S. 52) Je mehr das bildliche Syntagma dem entsprechenden Schema entspricht, desto leichter fällt die Assimilation. Die sich fortsetzende assoziative Gedankenkette setzt dann nicht mehr ausschließlich am konkreten und singulären Bild an, sondern auch am abstrakten und allgemeinen Begriff. Die Verknüpfungen können dann

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identisch sein mit denen, die sich mit den sprachlichen Zeichen des entsprechenden Begriffs assoziieren lassen. Von Modalität Alpha zu Modalität Beta Der Übergang von der ersten zur zweiten Sinnstufe markiert einen wesentlichen „Umschlagspunkt“ (vgl. Eco 2000, S. 436 ff.) bei der Bildrezeption. Wird dem bildlichen Syntagma auf der zweiten Sinnstufe systematisch ein begriffliches Schema zugeordnet, dann wird aus der Fotografie ein codierter Text. Darauf weist Blanke am Beispiel eines Familienbildes hin: „Die Interpretation der dargestellten Gruppe von Menschen als Familie beruht nicht auf einer Ähnlichkeitsrelation (...), sondern auf der Kodierung.“ (Blanke 1998, S. 296) Auf Grundlage eines kulturellen Codes erfolgt die Schließung der bildinternen Relationen, wodurch die einzelnen Personen in das Syntagma „Familie“ eingebunden werden. Der ‚späte’ Eco spricht in diesem Zusammenhang vom Umschlagen der Bildrezeption von Modalität Alpha in Modalität Beta: Nach dem Erkennen der Szene durch Ersatzreize (= Modalität Alpha) ist es möglich, „das Bild als Ausdruck zu benutzen, der mich auf einen Inhalt verweist.“ (= Modalität Beta) (Eco 2000, S. 439 f.). Das Bild wird nicht mehr lediglich als Ersatzreiz für die abgebildete Szene betrachtet, sondern als codierter Text, der zu lesen ist. Modalität Beta liegt vor, wenn einzelne Bildelemente miteinander verknüpft und das Syntagma geschlossen wird. „Denn nachdem man, mittels Ersatzreizen, Dinge wahrgenommen hat, sucht man in ihrer Zusammenstellung nach einem Erzählzusammenhang, verlässt die Naturgegebenheit der Wahrnehmung, tritt in die Kunstwelt der Intertextualität ein und erinnert sich nicht mehr an andere Dinge, sondern an andere Geschichten.“ (Eco 2000, S. 451 f.; Herv. i. Orig.)

Dabei kann bereits von Modalität Beta gesprochen werden, wenn nur der Versuch unternommen wird, die Bildelemente unter ein begriffliches Raster zu subsumieren – auch wenn dieser Versuch letztlich scheitert und das Syntagma offen bleibt.49 49

In diesem Zusammenhang ist es wichtig daran zu erinnern, dass die einzelnen Bildelemente immer schon „interpretationsimprägniert“ rezipiert werden, d.h. keineswegs nur auf der „buchstäblichen“ Ebene, sondern immer schon mit kulturellen bzw. symbolischen Bedeutungen aufgeladen. Diese symbolische Bedeutungsebene wird in das Bild über die Gegenstandsbedeutungen der dingweltlichen Objekte „importiert“, d.h. sie kommt auch den Objekten selbst und nicht nur den auf sie verweisenden Bildelementen zu. Auch in direkter Auseinandersetzung mit der „Dingwelt“ wird die „Semantik des Objekts“ (Barthes) rezipiert. Das bedeutet aber, dass die symbolische Aufladung der Bildelemente noch zur Modalität Alpha zu rechnen ist, denn „Modalität Alpha liegt vor, wenn man ein Gemälde (oder ein Foto, oder ein Bild im Film, siehe die Reaktion der ersten Zuschauer der Lumières, als sie auf der Leinwand sahen, wie ein Zug in den Bahnhof einfährt) so wahrnimmt, als wäre es die wirkliche ‚Szene’.“ (Eco 2000, S. 436).

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Der gleiche Sachverhalt, den der ‚späte’ Eco als Übergang zu Modalität Beta bezeichnet, lässt sich mit dem ‚frühen’ Eco als Applikation eines „ikonographischen Codes“ auf das Bild beschreiben. Er hält damals jedoch auch noch das, was er später „Modalität Alpha“ nennt, prinzipiell für codiert und spricht von einem „Basis-Code“: „Für den ikonographischen Code (...) werden die Signifikate des Basis-Codes zu Signifikanten.“ (Eco 1972, S. 243) Unabhängig von der Frage des Basis-Codes lässt sich das Prinzip des ikonographischen Codes betrachten. Eco erläutert dies anhand des Beispiels der Judith- bzw. Salome-Bilder50: „Ein ikonographischer Code z.B. codifiziert einige Bedingungen der Erkennbarkeit und setzt fest, dass eine halbnackte Frau mit einem Männerkopf auf einem Teller Salome konnotiert, während eine bekleidete Frau mit einem abgeschlagenen Kopf in der linken Hand und einem Schwert in der rechten Hand Judith konnotiert.“ (Eco 1972, S. 243)

Auch hier werden nach kulturellen Mustern die einzelnen Elemente des bildlichen Syntagmas (halbnackte Frau + Teller + abgeschlagener Männerkopf) zu einer übergeordneten Zeichenbedeutung integriert („Salome“), d.h. das visuelle Syntagma wird im Vollzug gelingender Sinnbildung geschlossen. Die ikonographische Bedeutung resultiert nicht aus den einzelnen Bildelementen, sondern aus deren Kombination, d.h. aus der syntagmatischen Relationierung der einzelnen Elemente. Der ikonographische Code liefert ein kulturelles Muster, mit dessen Hilfe eine ‚Geschichte’ erzählt werden kann, die die syntagmatische Offenheit schließt, d.h. die Relationen zwischen den Bildelementen sinnvoll klärt. Der Übergang von Modalität Alpha zu Modalität Beta kann daher als (der Versuch) der Schließung des bildlichen Syntagmas auf Basis eines konventionellen (ikonographischen) Codes verstanden werden.51 50

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Bei dem Beispiel der Judith- bzw. Salome-Bilder, auf das sich vor Eco auch der Kunsthistoriker Erwin Panofsky gestützt hat (Panofsky 1987a, S. 194 ff.; 1987b, S. 218 f.; vgl. hier 1.4), handelt es sich um Darstellungen biblischer Erzählungen, die jeweils eine junge Frau mit einem abgeschlagenen Männerkopf zeigen: Die alttestamentliche Heldin Judith hält üblicherweise in der einen Hand den Kopf des Holofernes, in der anderen ein Schwert, mit dem sie den Tyrannen eigenhändig geköpft hat. Salome dagegen, Tochter des Herodes aus dem neuen Testament, wird für gewöhnlich ohne Schwert, aber mit einem Teller dargestellt, auf dem sie das Haupt Johannes des Täufers hält. Er wurde auf ihren Wunsch von den Henkern ihres Vaters geköpft. Dass dieser Vorgang aber nicht unbedingt als Konnotation bezeichnet werden kann, macht Sonesson in seiner Kritik an Barthes´ Verwendung des Begriffs deutlich (Sonesson 1993, S. 135) und illustriert dies ebenfalls anhand des Judith/Salome-Beispiels: „‘Judith’ and ‘Salome’ are in fact shown to share certain features and to differ in others. Unlike the features of a phoneme, those of these iconographies are themselves signs, but it does not follow that they constitute a connotational language. Also the feature ‘young girl’ (...) may be analysed further, and ‘Salome’ could be a part of a more complete iconography, but these are not reasons for thinking that there are infinite layers of connotational languages.“ (Sonesson 1989, S. 124) Denn beim Übergang von den Bildelementen „Männerkopf“, „halbnackte Frau“ etc. zu „Salome“ wird ein neues Zeichen höherer Ordnung, ein „zusammengesetztes“ (composite) Zeichen ge-

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Die ikonographische Bedeutungszuweisung kann als – hochgradig konventionalisierte – Form der paradigmatischen Verortung eines bildlichen Syntagmas betrachtet werden, die durch den ikonographischen Code hergestellt wird. Ein Code kann als systematische Korrelation von Signifikant und Signifikat beschrieben werden, die durch Konvention auf Dauer gestellt und stabilisiert wird (vgl. Eco 1977b, S. 86; Eco 1985, S. 242 ff.; hier 1.1.1). Als Signifikant fungiert hier das Gesamtbild, d.h. das geschlossene Syntagma, das die einzelnen Bildelemente zusammenfasst. Ihm wird als Signifikat das begriffliche Schema zugeordnet. Diese codierte Verknüpfung setzt die paradigmatische Offenheit jedoch nicht außer Kraft: Zum einen lässt sich ein Bild zusätzlich zu den codierten Bedeutungen mit privaten Assoziationen und „Gedankenreihen“ in Verbindung bringen. Zum andern schreibt ein Bild nicht vor, nach welchem Code es mit einer ikonographischen Bedeutung zu verbinden ist. So mag es Fälle geben, in denen sich auf ein und dasselbe Bild mehrere etablierte ikonographische Codes applizieren lassen. Zudem ist auch eine ikonographisch hergestellte Bedeutung der paradigmatischen Offenheit ausgesetzt: Auch das Signifikat „Salome“ bspw. bietet Anschlussmöglichkeiten für weitere paradigmatische Assoziationen. Die paradigmatische Offenheit ist daher sowohl bei einer Rezeption nach Modalität Alpha, wie nach Modalität Beta gegeben: Gedankliche Assoziationen auf der paradigmatischen Achse lassen sich sowohl an die buchstäbliche Botschaft „halbnackte Frau“ (die aus einem einzelnen Bildelement besteht), als auch an die symbolische Botschaft „Salome“ (die aus einem Syntagma mehrerer Bildelemente besteht) anknüpfen. Das Vorhandensein einer etablierten Ikonographie stellt daher nur einen Sonderfall der paradigmatischen Assoziation dar, indem einige der gedanklichen Verknüpfungen durch kulturelle Konventionen geregelt sind. Diese Fragen stehen im Zentrum von Kapitel 1.4 und werden dort wieder aufgegriffen. Resümee Nicht nur unter dem Aspekt der internen Strukturierung, sondern auch unter dem Aspekt der Polysemie können Bilder als Texte betrachtet werden. Sie können als prinzipiell mehrdeutige Anlässe für Sinnzuschreibungen konzeptualisiert werden. An Eco anknüpfend wurden zwei Arten von Offenheit unterschieden, die „fundamentale“ paradigmatische Offenheit und die syntagmatische Offenbildet, nicht aber ein vorhandenes Zeichen mit einer konnotativen Bedeutung versehen. „Entire signs, complete with expression and content, are put together to form new, composite expressions and contents, instead of using one sign, as in the case of connotational language, to build up the very expression plane of a new sign. Actually, ‘Salome’ and ‘Judith’ are simply composite signs.“ (ebd.)

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heit, die in Anlehnung an Isers Leerstellenbegriff konzeptualisiert wurde. Beide Arten von Offenheit überlagern und durchdringen sich gegenseitig. Die paradigmatische Offenheit begleitet jeden Wahrnehmungs- und Interpretationsprozess und ist daher immer gegeben. Sie ist für einen Beobachter erster Ordnung als Offenheit kaum wahrnehmbar, sondern tritt überwiegend für einen Beobachter zweiter Ordnung im Vergleich mehrerer gelingender Sinnbildungsprozesse zutage. Als Leerstelle wird die syntagmatische Offenheit definiert, d.h. als semantische Unbestimmtheit der Relationen zwischen gegebenen Bildelementen. Voraussetzung für eine Applikation des Leerstellenkonzepts auf Bilder war die Argumentation, dass sich Bilder auf der figurativen Ebene in Inhaltseinheiten gliedern lassen und somit eine interne Strukturierung aufweisen. Auf syntagmatischer Ebene kann ein Bild offen oder geschlossen sein. Ein offenes Syntagma weist Leerstellen auf, die bereits von einem Beobachter erster Ordnung erlebt werden. Sie sind auf die Normalitätserwartungen der jeweiligen Rezipierenden bezogen und können zu Spekulationen über ihre Schließung anregen. Ein geschlossenes Syntagma lässt sich an ein etabliertes (ikonographisches) Schema assimilieren, das von den Rezipierenden an ein Bild herangetragen wird. Die Rezeption wechselt von Modalität Alpha zu Modalität Beta, wenn der Zusammenhang zwischen den Bildelementen als prinzipiell bedeutsam angesehen wird. Die Rezipierenden versuchen dann das bildliche Syntagma durch Integration der bildlichen Elemente in ein Schema zu schließen bzw. eine „Geschichte“ zu erzählen, die eine sinnvolle Verbindung zwischen den Bildelementen herstellt. Sowohl die Konstatierung von Leerstellen, als auch die Assimilation an Schemata stellen Konstruktionsakte dar, die konstitutiv auf den Beitrag der Rezipierenden verwiesen sind. Bei unterschiedlichen Dispositionen der Rezipierenden variiert daher das Produkt dieser Interaktion. Auch hier liegt daher eine Quelle der Polysemie. 1.2.3 Fazit Eine Verortung der Arbeit im Rahmen des Theoriemodells der Text-LeserInteraktion impliziert die Annahme der Kategorien „Text“ und „Leser“ (Groeben 1997, S. 42). Es gehört somit zu den Prämissen einer solcherart orientierten Rezeptionsforschung, dass es etwas ‚zu Rezipierendes’ gibt, d.h. dass die Sinnkonstruktionen der Rezipierenden intentional auf Texte gerichtet sind. Der Begriff der Interaktion legt zudem nahe, dass auch der Text einen konstitutiven Beitrag zur Sinnbildung leistet. Texte dienen in dieser Perspektive zumindest als Anlässe von Bedeutung (Winter 1992, S. 24). Damit wird radikalkonstruktivistischen Ansätzen widersprochen, die Kommunikationsphänomene

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„radikal aus der Innenperspektive eines realitätskonstruierenden Systems“ heraus erklären (Charlton 1997, S. 32, Anm. 1). Eine solche Beschränkung „auf die Idee, auf das Subjekt, auf den Zeichengebrauch“ bezeichnet auch Luhmann (1996, S. 16, Fn. 7) als „logisch unmögliche Position. Man kann im Gebrauch von Unterscheidungen wie Idee/Realität, Subjekt/Objekt oder Zeichen/Bezeichnetes nicht die eine Seite der Unterscheidung aufgeben, ohne auf die Unterscheidung selbst zu verzichten. Es gibt (siehe Husserls ‚Phänomenologie’) kein objektloses Subjekt, keine Idee ohne Bezug auf Realität, keinen referenzlosen Zeichengebrauch.“ (ebd.)

Gleichwohl kann an den Basisannahmen des (‚nicht-radikalen’) Konstruktivismus festgehalten werden: „Konstruktivistische Theorien behaupten, dass kognitive Systeme nicht in der Lage sind, zwischen Bedingungen der Existenz von Realobjekten und Bedingungen ihrer Erkenntnis zu unterscheiden, weil sie keinen erkenntnisunabhängigen Zugang zu solchen Realobjekten haben.“ (Luhmann 1996, S. 17) Daher ist es nicht möglich, erkenntnisunabhängige Aussagen über Bilder als Realobjekte zu machen und sie quasi ‚neutral’ und ‚vor’ jeder Interaktion mit konkreten Rezipierenden zu analysieren. Nur im Durchgang durch das Erleben empirischer Rezipierender lässt sich ein Zugang zu Bildern gewinnen – allerdings nicht zu den Bildern ‚an sich’, sondern zu den Bildern ‚als Konstruktionen’ der empirischen Rezipierenden. Statt Bilder unmittelbar zu analysieren, beobachtet man – als Beobachter zweiter Ordnung – die Rezeptionsprozesse der Beobachter erster Ordnung. „Man erkennt dann, wie deren ‚frames’ ihre Erkenntnis formen. Aber das führt nur zu einer Wiederholung des Problems auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung.“ (Luhmann 1996, S. 17) Bei den in diesem Abschnitt entwickelten Unterscheidungen handelt es sich somit nicht um ‚objektive’ Strukturmerkmale des Bildes, sondern um metatheoretische Begriffe, mit deren Hilfe Beobachtungsprozesse zweiter Ordnung strukturiert und Bilder als Untersuchungsobjekte konstruiert werden sollen. Sie fungieren als begriffliches Instrumentarium zur Rekonstruktion der Interaktion von Bild und Rezipierenden. Die Konstruktion des Interaktionsfaktors „Bild“ erfolgt daher mit relationalen Begriffen, die bereits auf den Beitrag des Interaktionsfaktors „Rezipierende“ bezogen sind.52 Ihre Darlegung dient der Reflexion und Explikation der (meta-) theoretischen Vorannahmen, die in die Beobachterperspektive zweiter Ordnung einfließen und aus der heraus die Sinnbildungsprozesse betrachtet werden. Die Unterscheidungen definieren den Bezugs52

Abbild vs. Sinnbild, referentieller vs. rhetorischer Rezeptionsmodus, private vs. öffentliche Gebrauchsweise, Erleben der ikonischen Struktur als kontingent vs. nicht-kontingent, figurative vs. plastische Perspektive, buchstäbliche vs. symbolische Botschaft, Rezeption nach Modalität Alpha vs. Beta, syntagmatische vs. paradigmatische Offenheit.

Das Bild

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rahmen der empirischen Untersuchung und werden sozusagen als ‚Fragen’ an das Datenmaterial herangetragen, um es zum ‚Sprechen’ zu bringen. Der Erkenntnisgewinn liegt dann in den ‚Antworten’, die sich auf diese ‚Fragen’ ergeben. Daran wird sich auch die Qualität der ‚Fragen’, d.h. des begrifflichen Instrumentariums erweisen und gegebenenfalls zu einer Neuausrichtung und Präzisierung der Unterscheidungen führen.

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

1.3 Die Rezipierenden: Der Habitus als „sozialisierte Subjektivität“ Mit der These vom aktiven Beitrag der Rezipierenden zur Sinnbildung stellt sich die Frage nach dem Menschenbild der Rezeptionsforschung. Oftmals wird mit der Annahme der Publikumsaktivität die Vorstellung von den Rezipierenden als autonome Individuen verbunden, die sich und ihre Interessen genauestens kennen und Medien zu selbstgesetzten Zielen nutzen. Exemplarisch findet sich diese Auffassung im Uses-and-Gratification-Ansatz. Analog zum „Homo oeconomicus“ der Rational-Choice-Theorien werden die Rezipierenden hier als eine Art ‚Übermenschen’ gedacht, die in voller Kenntnis ihrer selbst eine Optimierung ihrer Chancen im Sinne einer rationalen Kosten-Nutzen-Abwägung bewusst und zielgerichtet verfolgen (vgl. Biocca 1988, S. 63, 67; Kübler 1989, S. 31; Jäckel 1996a, S. 63 ff., insbes. S. 66 ff.; hier 1.1.2.2). Verbunden ist mit diesem Menschenbild zumeist das Prinzip des „Methodologischen Individualismus“, bei dem als Untersuchungseinheit das „monadische Individuum“ definiert wird. Von diesen Vorstellungen der Publikumsaktivität lässt sich die im Rahmen dieser Arbeit eingenommene Forschungsperspektive abgrenzen durch die Annahme, dass der Beitrag der Rezipierenden – zumindest auch – (a) präreflexiv und (b) kollektiv sei. Dem sich selbst völlig durchsichtigen Individuum wird hier die Vorstellung einer „‚normale(n)’, für menschliche Existenz konstitutive(n) Intransparenz“ gegenübergestellt, „die sowohl im individuellen Selbstverhältnis wie im gesellschaftlich-geschichtlichen Leben unaufhebbar scheint“ (Angehrn 1999, S. 224). „Wir bedienen uns einer Sprache, die wir nicht geschaffen haben, wir handeln nach Mustern, die wir unserer Kultur entnehmen; unsere Äußerungen sind mit Bedeutungen aufgeladen, die wir nicht hervorgebracht haben, teils gar nicht kennen. Unsere geschichtliche Verwurzelung, unser sozialer Ort, unsere psychische Verfassung gehen in Richtung unseres Wünschens und Denkens ein, ohne dass wir diese kennen.“ (ebd., S. 224 f.)

Präreflexivität und Kollektivität sind daher eng miteinander verwoben, wenn man die präreflexiven „a-tergo-Strukturen“ nicht lediglich durch die Erfahrungsaufschichtung einer individuellen Lebensgeschichte geprägt sieht, sondern durch Gemeinsamkeiten des „Schicksals“ wie sie mit Konzepten der „Sprache“, „Kultur“, „geschichtliche Verwurzelung“ und dem „sozialen Ort“ angedeutet sind. Auf die Relevanz präreflexiver Strukturen auch für Rezeptionsprozesse wurde unter 1.2.2.2 im Zusammenhang mit der „fundamentalen Offenheit“ hingewiesen. Eco hatte festgestellt, dass jeder Wahrnehmungsprozess

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„eine Beziehung sei, in der meine Erinnerung, meine unbewussten Überzeugungen, die Bildung, die ich aufgenommen habe (in einem Wort die erworbene Erfahrung) sich mit dem Komplex der Reize integrieren, um ihnen so, zugleich mit einer Form, den Wert mitzuteilen, den sie für mich gewinnen im Hinblick auf die Ziele, die ich mir vorsetze.“ (Eco 1977a, S. 135; Herv. i. Orig.)

Im Anschluss daran wurde argumentiert, dass die Assoziationen zu einem gegeben Zeichen auf der paradigmatischen Achse unbewusst hinzugedacht würden. Mit der Berücksichtigung dieser Strukturen muss nun aber keineswegs zwangsläufig in das dem Rational-Choice-Ansatz entgegengesetzte Extrem verfallen werden und einem „orthodoxen Strukturalismus“ das Wort geredet werden, der von erfahrungsunabhängigen und deterministischen Strukturen ausgeht (vgl. Reckwitz 1997, S. 49 f.). Denn eine Berücksichtigung der Strukturebene ist nicht gleichbedeutend mit einem Ausschalten der Handlungsebene der rezipierenden Subjekte. Wenn Handeln aber nicht als mechanistisch determiniert durch die Strukturen verstanden werden soll, dann muss gefragt werden, wie die Strukturen in konkretes Handeln umgesetzt werden (vgl. Schrøder 1994, S. 344). Eine Konzeptualisierung des Rezipientenbeitrags zur Sinnbildung einerseits als aktiv – ohne dabei in das Modell des „homo oeconomicus“ abzurutschen, andererseits als strukturell geprägt – ohne dabei einem Strukturdeterminismus zu verfallen, scheint mit dem Habitus-Ansatz möglich, für den Pierre Bourdieu das wohl elaborierteste Modell vorgestellt hat.53 Mit seiner Hilfe soll ein Zugang zur sinnkonstruierende Rezeption von Fotografien entwickelt werden. Dabei wird der Schwerpunkt mehr auf dem handlungstheoretischen Aspekt der Habitustheorie liegen und weniger auf dem strukturtheoretischen. Ohne die Habitustheorie erschöpfend darstellen zu können, sollen im Folgenden zumindest einige zentrale Aspekte des Habitus herausgearbeitet werden. Zunächst wird der Habitus unter den Gesichtspunkten der Präreflexivität (1.3.1.1), der Geschichtlichkeit, Körperlichkeit und Distinktion (1.3.1.2) und der Homologie und Kollektivität (1.3.1.3) erörtert. Sodann werden zwei Konzepte der Habitusgenese (1.3.2) gegenübergestellt – Bourdieus Erklärung der Habitusgenese aus der Kapital53

Die Habitus-Theorie Bourdieus wurde verschiedentlich zur Lösung diverser Aporien der Rezeptionsforschung vorgeschlagen, von den jeweiligen Proponenten jedoch nicht weiter ausgeführt (Krotz 1997a, S. 123; Krotz 1997b, S. 85; Schrøder 1994, S. 344 f.; Müller-Doohm 1990, S. 92 f.). Bourdieu selbst beschäftigte sich wiederholt mit dem Thema „Fotografie“ (z.B. Bourdieu u.a. 1983; Bourdieu 1987, S. 68 ff, insbes. S. 85 ff.; vgl. auch Bourdieu 1974, S. 159 ff.). Diese Untersuchungen können allerdings nicht als Rezeptionsstudien im hier vertretenen Sinn betrachtet werden. Im Zentrum stehen bei Bourdieu die soziale Praxis des Fotografierens, d.h. der Produktionszusammenhang von Fotos und nicht ihre Rezeption, sowie der Legitimitätsgrad der Fotografie als Kunstform (Bourdieu u.a. 1983). Dabei interessiert sich Bourdieu primär für die ästhetische Beurteilung von Fotografien und weniger für die sinngenerierende Interaktion mit ihnen.

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struktur (1.3.2.1) und Bohnsacks soziogenetische Erklärung des Habitus aus der Erlebnisaufschichtung (1.3.2.2). Daran anschließend wird argumentiert (1.3.2.3), dass die beiden Ansätze keine unvereinbaren Gegensätze bilden, sondern eher unterschiedliche Gewichtungen aufweisen – insbesondere da auch in der Theorie Bourdieus der Ebene gemeinsamer Erfahrungen eine nicht unerhebliche Bedeutung bei der Habitusgenese zukommt. Abschließend wird der Ertrag der Habitustheorie für die Rezeptionsforschung diskutiert (1.3.3), indem die präreflexiven Dispositionen als ‚modus recipiendi’ betrachtet werden. Dabei werden zunächst Berührungspunkte und Unterschiede einer habitusorientierten Rezeptionsforschung und anderen Akteursmodellen innerhalb der Rezeptionstheorie erörtert (1.3.3.1). Sodann werden zwei Aspekte des Habitus herausgearbeitet, die einen Beitrag zur Sinnbildung leisten können (1.3.3.2 und 1.3.3.3). 1.3.1 Der Habitus als praktischer Sinn Mit dem Begriff des Habitus schlägt Bourdieu eine dialektische Überwindung vor von Subjektivismus, den er insbesondere in der phänomenologischen Soziologie Alfred Schütz´ verkörpert sieht, und Objektivismus, für den der Strukturalismus nach Lévi-Strauss exemplarisch angeführt werden kann. Gegen den Objektivismus verteidigt er die subjektive Sichtweise der sozialen Akteure, die sich nicht auf die theoretischen Modelle der Sozialwissenschaften reduzieren ließen, sondern nach der atheoretischen „Logik der Praxis“ funktionierten. Gegen den Subjektivismus betont er die Notwendigkeit, die subjektiven Sichtweisen und Orientierungen nicht lediglich nachzuzeichnen, sondern sie auf den sozialen Ort ihrer Entstehung zurückzubeziehen (vgl. Bourdieu 1992b, S. 137). Der Habitus kann daher als ‚Scharnier’ zwischen den beiden Ebenen betrachtet werden: Einerseits fungiert der Habitus als „System der organischen oder mentalen Dispositionen und der unbewussten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1974, S. 40). Andererseits ist er geprägt durch die soziale Lage des jeweiligen Akteurs, die sich nach Bourdieu durch die spezifische „Kapitalausstattung“ ergibt. Gleichwohl wird die Kapitalstruktur nicht ‚mechanisch’ in einen bestimmten Habitus übersetzt, sondern praktisch: Der Habitus wird zum einen in konkreten Handlungssituationen erworben, indem er auf dem Weg der unbewussten Mimesis inkorporiert wird. Zum anderen entfaltet er sich auch in der Handlungspraxis. Er ist sowohl ein durch Praktiken strukturiertes als auch Praktiken strukturierendes Prinzip (vgl. Bourdieu 1987, S. 729). Damit grenzt sich Bourdieu von Theorien ‚reinen’ und rationalen Erkennens ab (ebd.):

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„Die ‚Subjekte’ sind in Wirklichkeit handelnde und erkennende Akteure, die über Praxissinn verfügen (...), über ein erworbenes Präferenzsystem, ein System von Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien (das, was man gewöhnlich den Geschmack nennt), von dauerhaften kognitiven Strukturen (die im wesentlichen das Produkt der Inkorporierung der objektiven Strukturen sind) und von Handlungsschemata, von denen sich die Wahrnehmung der Situation und die darauf abgestimmte Reaktion leiten lässt. Der Habitus ist jener Praxissinn, der einem sagt, was in einer bestimmten Situation zu tun ist“ (Bourdieu 1998, S. 41 f.)

Um diesen „Praxissinn“ bzw. „praktischen Sinn“ geht es, wenn man die Habitustheorie für die Rezeptionsforschung nutzbar machen möchte. Er bietet den theoretischen Rahmen für eine präreflexive und kollektive Form der Medienrezeption, der den sozialen und historischen Ort der Rezipierenden berücksichtigt und sowohl die aktive und präreflexive Auseinandersetzung mit dem Text erklärt als auch den zuhandenen Wissensvorrat als Horizont der Rezeption einer wissenssoziologischen Analyse zugänglich macht. 1.3.1.1 Präreflexivität Grundlegend für das Verständnis des Menschenbildes, das mit Bourdieus Habitustheorie verbunden ist, ist die Einsicht, dass „wir Menschen, laut Leibniz, ‚in Dreiviertel unserer Handlungen Automaten sind’“ (Bourdieu 1987, S. 740). Verhindert worden sei diese Erkenntnis durch den „Logozentrismus und Intellektualismus der Intellektuellen, in Verbindung mit der der Wissenschaft inhärenten Voreingenommenheit für die psyche, Seele, Seelenleben, Bewusstsein, Vorstellungen, einmal ganz abgesehen vom bürgerlichen Anspruch auf den Status einer ‚Person’“ (ebd.). Argumentativer Gegner innerhalb der Sozialwissenschaften sind insbesondere die Rational Action Theory (z.B. Bourdieu 1998, S. 41, S. 168; 1998b, S. 168 ff., 1993, S. 147 f., S. 206; 1992d, S. 65 f.; Bourdieu/Wacquant 1996, S. 153), die sich in der Kommunikationswissenschaft im Uses-and-Gratification-Ansatz wiedefinden. An ihnen kritisiert Bourdieu, dass sie Handeln als finalistisch an explizit gesetzten Zielen orientiert verstehen, die mit einem Mindestmaß an Mitteln erreicht werden sollen. Als ein Beispiel, das die Unzulänglichkeit dieser Theorie illustrieren soll, führt Bourdieu die Praxis des Gabentauschs an, eine Praxis also, die auf den ersten Blick in besonderer Weise dem egoistischen Nutzenkalkül des „do ut des“ zu gehorchen scheint. Eine Gabe verpflichtet demnach zur Gegengabe bzw. erzeugt den Zwang zu einer – u.U. größeren – Gegenleistung (vgl. Bourdieu 1998, S. 164). Auf diese Gegenleistung spekuliert der Schenkende, weshalb seine Gabe ‚in Wahrheit’ kein Akt der Großherzigkeit, sondern der eigennützigen Berechnung ist. Diese Logik nennt Bourdieu die „objektive Wahrheit“ (vgl. ebd. S. 165) des Gabentauschs, die insbesondere in strukturalistischen

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Untersuchungen als Modell formuliert werde. Sie sei allerdings lediglich die „halbe Wahrheit“. Denn dem Gabentausch wohne außerdem eine „subjektive Wahrheit“ inne, die jenseits des absichtsvollen Kalküls liegt bzw. mehr noch: die darin gründet, dass die objektive Wahrheit verkannt wird. Bourdieu bezeichnet daher den Gabentausch als eines jener „sozialen Spiele, die nur gespielt werden können, wenn die Spieler sich weigern, die objektive Wahrheit des Spiels zu erkennen“ (Bourdieu 1993, S. 194). Die Verschleierung sei aber nicht so zu verstehen, „als würden die Menschen bewusst ein Auge zudrücken“ (vgl. Bourdieu 1998, S. 166). Vielmehr handelt es sich um ein „geteiltes Schweigen“ (ebd., S. 167), das nicht bewusst vereinbart werden müsste. Obwohl man die objektive Wahrheit des Gabentauschs als „common knowledge“ (ebd.) bezeichnen könnte – nach dem Motto „ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß ...“ (ebd.) –, bleibt die explizite Formulierung dieses offenen Geheimnisses tabu. Die Verschleierung wird – wie der Tausch auch – nicht absichtsvoll inszeniert, sondern durch eine Vielzahl inkorporierter sozialer Mechanismen aufrechterhalten (ebd.). Die Akteure verfügen nicht über ein doppeltes Bewusstsein, „ein zweigeteiltes, mit sich selbst zerfallenes Bewusstsein, das eine ihm sonst bekannte Wahrheit bewusst unterdrückt.“ (ebd.) Bourdieu zieht daraus die Schlussfolgerung, dass man das soziale Spiel des Gabentauschs nur erklären könne, „wenn man sich von jener Theorie des Handelns lossagt, die das Handeln als das Produkt eines intentionalen Bewusstseins versteht, eines expliziten Vorsatzes, einer expliziten Intention, die sich auf einen explizit als solchen gesetzten Zweck richtet (insbesondere den Zweck, den die objektive Analyse des Tauschs ans Licht bringt).“ (ebd.) Dem bewussten Kalkül des monadischen Individuums in der Theorie rationalen Handelns steht aber nicht das willenlose Ausagieren heteronomer Vorgaben durch eine strukturalistische Marionette gegenüber, sondern der sozial disponierte Akteur, der über einen impliziten Sinn für die soziale Praxis verfügt. Bourdieu erläutert diese Disposition u.a. mit dem „Sinn für das Spiel“, den ein Spieler zutiefst verinnerlicht hat, so dass er tut, „was er muss, zu dem Zeitpunkt, zu dem er es muss, ohne sich das, was zu tun ist, explizit als Zweck setzen zu müssen.“ (Bourdieu 1998, S. 168) Dieser „Sinn für das Spiel“, der gerade nicht in der bewussten Anwendung von Spielregeln besteht, ermöglicht es dem spielenden Akteur, sich flexibel und adäquat den unendlich variablen (Spiel-) Situationen anzupassen (vgl. Bourdieu 1992c, S. 83). Der Spiel-Sinn als Disposition des Akteurs erlaubt somit eine dialektische Überwindung der Gegensatzpaare von Spontaneität und Zwang, Freiheit und Notwendigkeit, Individuum und Gesellschaft, da der sozial disponierte Spieler zugleich frei und zwanghaft agiert (Bourdieu 1992c, S. 84). Ebenso agiert der sozial disponierte „Spieler“ beim

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Gabentausch nach der Maßgabe seines unbewussten Spiel-Sinns und nicht nach dem Kalkül des maximalen Nutzens. „So ist der Tausch von Gaben (oder Frauen, Dienstleistungen usw.), verstanden als das Paradigma der Ökonomie der symbolischen Güter, dem do ut des der ökonomischen Ökonomie insofern entgegengesetzt, als sein Prinzip nicht ein berechnendes Subjekt ist, sondern ein Akteur, der sozial dazu disponiert ist, sich ohne Absicht und Berechnung auf das Spiel des Tauschs einzulassen. Als ein solcher Akteur lebt er in Unkenntnis oder in der Verneinung der objektiven Wahrheit des Spiels, die der ökonomische Tausch ist.“ (Bourdieu 1998, S. 168)

Obwohl die soziale Praxis nicht auf der Befolgung expliziter Regeln beruht, erweckt sie für den außenstehenden Beobachter das Bild absichtsvoll aufeinander abgestimmter Regelmäßigkeit (vgl. Bourdieu 1993, S. 98 f.). M.a.W.: Die soziale Praxis ‚funktioniert’, obwohl (bzw.: weil) sie von den Akteuren nicht bewusst und absichtsvoll gesteuert wird. Die Praxis des Gabentauschs ist dabei nur ein Beispiel, an dem dieses präreflexive Handeln erörtert und die Differenz zwischen der „objektiven Wahrheit“ des Beobachters und der „subjektiven Wahrheit“ der Akteure erläutert werden kann. Erklärt wird die Praxis von Bourdieu durch eine Handlungstheorie, in deren Zentrum der Begriff des Habitus steht. Der Habitus löst das Paradox des „objektiven Sinns ohne subjektive Intention“ (Bourdieu 1993, S. 115 f.), „jener Verkettung von ‚Zügen’ (...), die objektiv wie Strategien organisiert sind, ohne das Ergebnis einer echten strategischen Absicht zu sein“ (ebd.), indem er die Steuerungsmechanismen in die präreflexive Ebene der Dispositionen verlagert. Die Handlungstheorie, die Bourdieu mit dem Begriff „Habitus“ vorschlägt, „besagt letzten Endes, dass die meisten Handlungen der Menschen etwas ganz anderes als die Intention zum Prinzip haben, nämlich erworbene Dispositionen, die dafür verantwortlich sind, dass man das Handeln als zweckgerichtet interpretieren kann und muss, ohne deshalb von einer bewussten Zweckgerichtetheit als dem Prinzip dieses Handelns ausgehen zu können“ (Bourdieu 1998, S. 167 f.).

Das mit dem Habitus verbundene Prinzip des Handelns bezeichnet Bourdieu auch mit dem scholastischen Begriff des modus operandi und versteht darunter eine „kultivierte Disposition, die kraft einfacher reflektiver Rückwendung nicht beherrschbar wird: Wenn die Individuen eher vom Habitus besessen sind, als dass sie ihn besitzen, so deshalb, weil sie ihn nur so weit besitzen, wie er in ihnen als Organisationsprinzip ihrer Handlungen wirkt, d.h. auf eine Weise, derer sie symbolisch schon nicht mehr habhaft sind.“ (Bourdieu 1979, S. 209)

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Der modus operandi bewirkt demnach die unbewusste Anpassung an beliebig viele (Spiel-) Situationen, die die Praxisformen wie strategisch geplant erscheinen lassen. Das Handlungsprinzip des modus operandi findet sich nicht nur in der physischen Auseinandersetzung der Akteure mit der Welt, sondern auch in ihrem Denken und Wahrnehmen. Als „System der organischen oder mentalen Dispositionen und der unbewussten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata (...) bedingt der Habitus die Erzeugung all jener Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen, die der so wohlbegründeten Illusion als Schöpfung von unvorhersehbarer Neuartigkeit und spontaner Improvisation erscheinen, wenngleich sie beobachtbaren Regelmäßigkeiten entsprechen“ (Bourdieu 1974, S. 40).

Damit soll nun kein Gegensatz zwischen Körper und Geist aufgebaut werden, sondern lediglich die erkenntnistheoretische bzw. „wissenssoziologische“ (Meuser 1999, S. 127) Komponente des Habitus konturiert werden. Denn tatsächlich ist auch dieser Habitusaspekt in der Praxis fundiert und an der Praxis orientiert. Gegen „intellektualistische“ und „idealistische“ Erkenntnistheorien (Bourdieu 1987, S. 729) betont die Habitustheorie, dass die Denk- und Wahrnehmungsschemata keine universellen Formen und Kategorien der Anschauung sind, sondern „in praxi wie für die Praxis funktionieren (und nicht zu Zwecken reiner Erkenntnis).“ (ebd.) Auch Denk- und Wahrnehmungsprozesse sind daher nicht als reine Leistungen des Bewusstseins zu konzeptualisieren. Sie vollziehen sich vielmehr auch auf präreflexiver und unbewusster Ebene. Als Teil des „praktischen Wissens“ (Bourdieu 1987, S. 730) arbeiten die geschichtlich ausgebildeten Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata „jenseits von Bewusstsein und diskursivem Denken“ (ebd.) bzw. „jenseits expliziter Vorstellungen und verbalem Ausdruck“ (Bourdieu 1985, S. 17). Sie ermöglichen das „praktische Erkennen der sozialen Welt“ (Bourdieu 1987, S. 730) und damit ein „‚vernünftiges’ Verhalten“ (ebd.) in dieser Welt. Aus der Teilhabe an einer gemeinsamen Handlungspraxis erwächst das „praktische Verstehen“ (Bourdieu 1993, S. 38 f.), so dass Personen mit dem gleichen Habitus „spontan aufeinander abgestimmt sind“ (Bourdieu 1992a, S. 104). Zwischen ihnen „geht alles wie von selbst, sogar die Konflikte. Sie verstehen sich durch kleinste Andeutungen ... Wo jedoch unterschiedliche Habitus auftreten, entsteht die Möglichkeit von Unfällen, Zusammenstößen, Konflikten.“ (ebd.) Die präreflexive Ebene ermöglicht somit eine Reibungslosigkeit und Unmittelbarkeit des Umgangs, die durch absichtsvolle Abstimmung kaum zu erreichen wäre (vgl. Bourdieu 1993, S. 190 f.). Dass das praktische Wissen dem reflexiven Zugriff weitgehend entzogen ist, ist daher nicht unbedingt als defizitär zu sehen, sondern als Bedingung gelingender Praxis. „Der praktische Sinn (...) sorgt dafür, dass Praktiken in dem, was an ihnen dem Auge ihrer Erzeuger verborgen bleibt (...), sinnvoll, d.h. mit All-

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tagsverstand ausgestattet sind. Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie selber wissen.“ (Bourdieu 1993, S. 127) Der präreflexive Bereich des Denkens- und Wahrnehmens bildet daher einen ‚Vorrat’ an Erfahrungen, von dem die Akteure nichts wissen, auf den sie aber gleichwohl zurückgreifen und der daher eine „Entlastungsfunktion“ im Sinne Gehlens (ders. z.B. 1986, S. 35) erfüllen kann. Zwischen reflexivem und präreflexivem Denken ist jedoch nach Ansicht Bourdieus keine absolute Trennung „nach der Maxime ‚Alles oder Nichts’“ (Bourdieu 1979, S. 207) zu ziehen, die ein „vollkommen transparentes Bewusstsein einem gänzlich opaken Unbewussten, oder einer stetigen Präsenz des Bewusstseins dessen nicht minder stetige Absenz gegenüberstellt“ (ebd.). Obwohl alle Produkte des Habitus – die „spezifischen Weisen, zu gehen, zu sprechen, wahrzunehmen, die Geschmäcker und Abneigungen“ (ebd.) – wie instinktives oder automatisches Verhalten wirkten, gehe mit ihnen stets ein „Moment partiellen, lückenhaften, diskontinuierlichen Bewusstseins“ einher (ebd.). Bourdieu hält jedoch fest, „dass das traditionell dem reflexiven Bewusstsein und der reflexiven Erkenntnis zugebilligte Privileg jeder Grundlage entbehrt“ (Bourdieu 1979, S. 209). Der „Automatismus“, der eingangs auch unter Bezug auf Leibniz zur Sprache kam, darf allerdings nicht mit einem „Mechanismus“ verwechselt werden (vgl. Bourdieu 1993, S. 115 f.). Denn als „generatives Prinzip“ (Bourdieu 1979, S. 229) bzw. „generative Formel“ (Bourdieu 1987, S. 332) erzeugt der Habitus unendlich viele Handlungen, die unvorhersehbar sind, obwohl sie nicht willkürlich sind (vgl. Bourdieu 1993, S. 105 f.). 1.3.1.2 Geschichtlichkeit und Körperlichkeit Die präreflexiven Dispositionen des Habitus sind keine universellen Kategorien, die angeboren wären, sie werden vielmehr „im Verlauf der kollektiven Geschichte ausgebildet und vom Individuum in seiner je eigenen Geschichte erworben“ (Bourdieu 1987, S. 729). Bourdieu spricht daher von einer „doppelten Geschichtlichkeit der mentalen Strukturen“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 173), die zu historisch je unterschiedlichen Praxisformen führen. Jede individuelle Lebensgeschichte ist immer schon eingebettet in die ihr vorausliegende und über sie hinausgehende Geschichte der jeweiligen Gesellschaft (-sfraktion). Sie nimmt ihren Ausgang an einem konkreten historischen Ort mit seinen ganz spezifischen Existenzbedingungen (vgl. Pkt. 1.3.2). Mit der historischen Verankerung des Subjekts grenzt sich Bourdieu von der „imaginären Anthropologie des Subjektivismus“ (Bourdieu 1993, S. 79 ff.) ab, den er exemplarisch im Existentialismus Sartres verwirklicht sieht. An ihm kritisiert er die Auffassung des „reinen, bindungs- und wurzellosen Subjekt(s)“ (ebd. S. 86) und

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„reinen, bindungs- und wurzellosen Subjekt(s)“ (ebd. S. 86) und die „Illusion eines ‚trägheitslosen Bewusstseins’ ohne Vergangenheit und Äußerlichkeit“ (ebd.; vgl. auch Bourdieu 1987, S. 736, Fn. 8). Gegen den naiven Existenzialismus, der „sich Herr und Meister seiner selbst dünkt“ (Bourdieu 1974, S. 18 f.) und „keine anderen Determinismen als seine eigenen Entscheidungen kennen will“ (ebd.), gelte es den Nachweis zu führen, „dass der Sinn der persönlichsten und ‚durchsichtigsten’ Handlungen nicht dem Subjekt gehört, das sie ausführt, sondern dem kompletten System der Beziehungen, innerhalb dessen und durch das sie sich vollziehen“ (ebd.) und das historisch zu bestimmen ist. Was nun den Erwerb der Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata im Laufe der individuellen Lebensgeschichte angeht, also die Ontogenese im Gegensatz zur phylogenetischen Entwicklung über viele Generationen hinweg (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 173), so liegt auf der Hand, dass die Dispositionen des Habitus, die den Akteuren weitgehend unbekannt sind, nicht bewusst erlernt werden. Vielmehr werden sie durch die praktische Teilhabe an gemeinschaftlichen Handlungsvollzügen erworben. Das Wesentliche des modus operandi überträgt sich „unmittelbar auf die Praxis, wird praktisch, ohne jemals die Ebene des Diskurses zu beanspruchen. Nicht ‚Modelle’, sondern die Handlungen der anderen werden nachgeahmt.“ (Bourdieu 1979, S. 189 f.) Bedingung dafür ist der „praktische Glaube“ (Bourdieu 1993, S. 124), d.h. „die unbestrittene, unreflektierte, naive, eingeborene Anerkennung“ (ebd., S. 125) der Sozialwelt als selbstverständlich und unveränderlich. Der „praktische Glaube“ – und dies ist ein entscheidender Punkt in der Argumentation Bourdieus – „ist kein ‚Gemütszustand’ und noch weniger eine willentliche Anerkennung eines Korpus von Dogmen und gestifteten Lehren (‚Überzeugungen’), sondern, wenn die Formulierung gestattet ist, ein Zustand des Leibes.“ (ebd., S. 126) Damit markiert die Habitustheorie eine deutliche Abwendung von cartesianischen Vorstellungen, in denen Körper und Geist zwei klar getrennten Sphären angehören und der Geist als „Gespenst in der Maschine“ (Ryle 1997, S. 13 passim) charakterisiert werden kann. Denn die mentalen Strukturen des Habitus sind verkörperlichte Strukturen, die in der Praxis durch Praxis inkorporiert werden. Durch die Übernahme körperlicher Haltungen, Gesten, einer Art zu gehen, den Kopf zu halten, das Gesicht zu verziehen, eines Tonfalls, bestimmter Redewendungen usw. vermitteln sich zugleich spezifische Muster des Denkens, Wahrnehmens und Beurteilens (vgl. ebd.). Durch wortloses, unbewusstes ‚Nachmachen’ überträgt sich der Habitus unmittelbar von Körper auf Körper ohne dabei das Bewusstsein der Handelnden zu streifen (vgl. Bourdieu 1999, S. 492). Auf diesem Wege der „Mimesis“ werden die grundlegenden Prinzipien und Schemata einer Gesellschaft präreflexiv „inkorporiert“.

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Voraussetzung für mimetisches Handeln ist „totales Sicheinbringen und tiefe emotionale Identifikation“ (Bourdieu 1993, S. 136). Diese tiefe emotionale Identifikation findet sich insbesondere in der Eltern-Kind-Beziehung, aber auch das bewundernde Verhältnis eines Schülers zu seinem Meister kann dadurch geprägt sein und die Grundlage der mimetischen Aneignung eines beruflichen Habitus bilden. Es mag unmittelbar einleuchtend sein, dass bspw. ein schwerfälliger Dorfschmied seine Kunst nicht mit vielen Worten an seinen Lehrling weitergibt, sondern ihn auffordert zuzugucken und es „genauso“ zu machen wie er. Im mimetischen Akt werden „Schemata von Praxis auf Praxis übertragen (...), ohne den Weg über Diskurs und Bewusstsein zu nehmen“ (Bourdieu 1993, S. 136) Nach Bourdieu erfolgt aber auch das Erlernen des „Wissenschaftlerberufs“ durch praktische Teilhabe als mimetisches Einüben eines wissenschaftlichen modus operandi. Viele wesentliche Inhalte würden nicht durch explizite Erläuterung, sondern durch den direkten und fortgesetzten Kontakt zwischen Lehrenden und Lernenden vermittelt (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 256) und den Lernenden dadurch in ‚Fleisch und Blut’ übergehen. „Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man.“ (Bourdieu 1993, S. 135) Durch körperliche Teilhabe an einer Handlungspraxis und mimetische Übernahme von präreflexiven Wendungen – des Körpers wie der Sprache – überträgt sich zugleich ein Denkstil und eine ganze Weltanschauung. Bourdieu bezeichnet den Körper daher auch als eine „Art Gedächtnisstütze“ (Bourdieu 1987, S. 739 f.), die vermittels Gesten, körperlichen Posituren etc. „eine Welt vorgefertigter Gefühle und Erfahrungen“ auftauchen lasse (ebd.). In den Körperbewegungen, die wie „grundlegende Metaphern“ (ebd.) für gesellschaftliche Werte und Bedeutungen funktionierten, schlage sich daher ein „umfassendes Verhältnis zu Welt“ (ebd.) nieder. 1.3.1.3 Homologie, Kollektivität und Distinktion Da den Praktiken eines Akteurs ein einheitlicher modus operandi zugrunde liegt, d.h. die Praktiken Produkte der gleichen „generativen Formel“ sind, weisen sie ein homologes Muster auf: Sie sind „jenseits jedes bewussten Bemühens um Kohärenz, objektiv miteinander harmonisch“ (Bourdieu 1981, S. 197). Bourdieu illustriert das Prinzip der homologen Muster, die sich trotz allen Erfindungsreichtums der Akteure in allen Handlungsbereichen durchsetzen, dabei aber nicht determinierend wirken, am Beispiel der persönlichen Handschrift: Unabhängig von Schreibmaterial und Schreibunterlage weisen die Schriftzeichen einer Person „eine sogleich augenfällige stilistische Affinität, eine ‚Familienähnlichkeit’“ auf (Bourdieu 1981, S. 198). Eine einheitliche ‚Handschrift’

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findet sich in allen Lebensbereichen, wodurch alle Praxisformen eines Habitus als „strukturierte Strukturen“ – Bourdieu bezeichnet sie auch als „opus operatum“ (z.B. ders. 1981, S. 197) – systematischen Charakter haben. Dabei leistet der modus operandi jeweils die erforderliche „Übersetzung“, mit der die Praxisformen der „Eigenlogik der verschiedenen Bereiche“ (ebd.) angepasst werden und dennoch ihren eigenen Charakter bzw. eigenen Stil bewahren. „Es gibt mit anderen Worten tatsächlich, und das ist meiner Meinung nach überraschend genug, einen Zusammenhang zwischen höchst disparaten Dingen: wie einer spricht, tanzt, lacht, liest, was er liest, was er mag, welche Bekannte und Freunde er hat usw. All das ist eng miteinander verknüpft.“ (Bourdieu 1993a, S. 31 f.)

Daher lassen sich Bereiche, „die auf der Ebene der Erscheinungen zunächst nichts miteinander verbindet“, als „Ausdruck“ (Bourdieu 1974, S. 144) ein und desselben modus operandi beobachten, da er „die Einzelmuster erzeugt, die sich dann in den verschiedenen Bereichen des Denkens und Handelns“ (ebd.) niederschlagen. Es ist wichtig zu betonen, dass die homologe Abstimmung der Praktiken in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen als Produkt des Habitus nicht bewusst durchgeführt wird, sondern sich aus den präreflexiven Dispositionen quasi ‚hinter dem Rücken’ der Akteure einstellt. Eine wesentliche Disposition, die ‚instinktsicher’ für eine Kohärenz der Praktiken sorgt, ist der Geschmack: „Das System der aufeinander abgestimmten Eigenschaften (...) gründet im Geschmack, in jenem System von Klassifikationsschemata, die nur höchst bruchstückhaft dem Bewusstsein zugänglich sind“ (Bourdieu 1987, S. 283). Die Homologie der Praxisformen ist daher insbesondere eine Affinität des Stils, den Bourdieu als „jenes besondere Markenzeichen“ definiert, „das alle Hervorbringungen desselben Habitus tragen“ (Bourdieu 1993, S. 113). Die „Einheitlichkeit des Stils“, in der sich die Logik der Praxis zeigt (ebd., S. 187) und die sich über alle Lebensbereiche erstreckt, kann daher als Lebensstil bezeichnet werden, der „jede Einzelpraxis zu einer ‚Metapher’ einer beliebigen anderen werden lässt“ (Bourdieu 1987, S. 282). „Das opus operatum weist systematischen Charakter auf, weil dieser bereits im modus operandi steckt: in den ‚Eigenschaften’ (und Objektivationen von ‚Eigentum’), mit denen sich die Einzelnen wie die Gruppen umgeben – Häuser, Möbel, Gemälde, Bücher, Autos, Spirituosen, Zigaretten, Parfumes, Kleidung – und in den Praktiken, mit denen sie ihr Anderssein dokumentieren – in sportlichen Betätigungen, den Spielen, den kulturellen Ablenkungen – ist Systematik nur, weil sie in der ursprünglichen synthetischen Einheit des Habitus vorliegt, dem einheitsstiftenden Erzeugungsprinzip aller Formen von Praxis. (...) Die Dimensionen eines Lebensstils ‚bilden mit’ den anderen, wie Leibniz sagt, ‚ein Sinnbild’ und versinnbildlichen sie.“ (Bourdieu 1987, S. 282 f.)

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Will man einen Lebensstil und den dahinterstehenden Habitus rekonstruierend erfassen (d.h. explizit und nicht intuitiv auf Basis des eigenen Habitus durch praktische Teilhabe), dann muss man an den Einzelpraktiken ansetzen – „außerhalb deren er nicht erfasst werden kann“ (Bourdieu 1981, S. 222, Anm. 40; vgl. Bourdieu 1993, S. 166, Fn. 1). Sie dürfen dann aber nicht isoliert betrachtet werden, sondern müssen auf ihren ‚metaphorischen Gehalt’ befragt werden, d.h. auf das homologe Muster, das sich in allen Praktiken eines Akteurs findet und sich nur in der Zusammenschau mehrerer Praktiken als Muster erkennen lässt. Von dieser vielleicht als „intern“ zu bezeichnenden Homologie kann eine andere Dimension der Homologie abgegrenzt werden. Denn neben der unbewussten Abstimmung aller Praxisformen eines Akteurs weisen auch die Praktiken aller Akteure innerhalb einer gesellschaftlichen Fraktion homologe Muster auf. Die Ursache liegt im Habitus, der als modus operandi „fern jedes absichtlichen Bemühens um Kohärenz“ (Bourdieu 1987, S. 281) die einheitliche Abstimmung der Praxisformen hervorbringt. Da der Habitus in gemeinschaftlichen Praktiken verwurzelt ist, handelt es sich bei ihm um ein kollektives Prinzip. Er wird durch die Konditionierungen erzeugt, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind (vgl. Bourdieu 1993, S. 98) und die nicht einzigartig sind. Mit demselben Habitus und seinen spezifischen Dispositionen sind daher alle biologischen Individuen ausgestattet, die aufgrund identischer oder ähnlicher Existenzbedingungen identische oder ähnliche Konditionierungen durchgemacht haben (ebd. S. 111 f.). Auch die Produkte dieser „identischen oder ähnlichen“ Habitus erweisen sich daher als „identisch oder ähnlich“ – auch sie haben kollektiven Charakter. Selbst der vermeintlich einzigartige Geschmack und individuelle (Kleidungs-, Einrichtungs-, Lebens-) Stil, wie auch die intimsten Arten des Denkens und Fühlens (vgl. Bourdieu 1979, S. 195) sind kollektiv geprägt. „Wenn man von Habitus redet, dann geht man davon aus, dass das Individuelle und selbst das Persönliche, Subjektive etwas Gesellschaftliches ist, etwas Kollektives. Der Habitus ist die sozialisierte Subjektivität.“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 159) Damit führt die Habitus-Theorie zur „Entdeckung der Äußerlichkeit im Herzen der Innerlichkeit, der Banalität in der Illusion der Seltenheit, des Gewöhnlichen im Streben nach dem Einzigartigen“ (Bourdieu 1993, S. 44 f.) und demaskiert so „alle Hochstapeleien der narzißtischen Ichbezogenheit“ (ebd.). Diese Erkenntnis wurde als die vierte „narzißtische Kränkung“ der Menschheit bezeichnet – nach den von Kopernikus, Darwin und Freud zugefügten (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 167). Homologie ist demnach in zwei Dimensionen zu denken: Nicht nur die Praktiken (eines Akteurs bzw. einer Gruppe von Akteuren) untereinander weisen Homologien auf, auch der „Gesamtbereich der stilistischen Möglichkeiten“ (Bourdieu 1987, S. 332), d.h. der Bereich aller denkbaren Praktiken, ist struk-

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turhomolog mit dem Raum der „konditionierenden Existenzbedingungen“. Während die erste Art von Homologie Geschmacksmuster beschreibt, lenkt die zweite Art von Homologie den Blick auf den Zusammenhang von Geschmacksstruktur und Sozialstruktur. Die Kollektivität der Habitus, die sich aus ähnlichen Existenzbedingungen ergibt und sich in homologen Praxisformen niederschlägt, führt zu einer kollektiven Identität, die wesentlich distinktiv geprägt ist (vgl. Bourdieu 1987, S. 752): „Eine jede soziale Lage ist mithin bestimmt durch die Gesamtheit dessen, was sie nicht ist, insbesondere jedoch durch das ihr Gegensätzliche: soziale Identität gewinnt Kontur und bestätigt sich in der Differenz.“ (Bourdieu 1987, S. 279) Wie unter 1.3.2 noch ausführlicher dargelegt werden wird, unterscheiden sich nach Ansicht Bourdieus die Existenzbedingungen, die die jeweiligen Habitus prägen, insbesondere durch ihre ökonomischen und kulturellen Ressourcen. Die postulierte Homologie zwischen dem Bereich der Existenzbedingungen und dem Raum der stilistischen Möglichkeiten impliziert daher, dass es ökonomisch und kulturell privilegiertere und weniger privilegierte Praktiken gibt, dass die Differenzen zwischen den Praktiken keine wertneutralen Varianten darstellen, sondern Unterschiede des Ansehens und des Prestiges. (vgl. Bourdieu 1974, S. 72 f.) In der Perspektive Bourdieus gehen mit den Unterschieden des Stils daher immer auch Unterschiede gesellschaftlicher Macht einher: Die unterschiedlichen Lebensstile haben unterschiedliche Grade an Legitimität. „Was ‚Distinktion’ ist, was ‚Unterschied’ ist, lässt sich (...) immer nur relativ sagen, in Beziehung zu anderem. Im Grunde heißt ‚distinguiert’ sein: ‚nicht populär’ sein – und sonst nichts. Per Definition sind die unteren Klassen nicht distinguiert; sobald sie etwas ihr eigen nennen, verliert es auch schon diesen Charakter. Die herrschende Kultur zeichnet sich immer durch einen Abstand aus.“ (Bourdieu 1997b, S. 39) Der ‚Kampf der Lebensstile’ geht um diesen Abstand – die Angehörigen der „herrschenden“ Gesellschaftsfraktionen sind an seiner Wahrung interessiert, die Angehörigen der aufstrebenden Fraktionen an seiner Überwindung. Homologie ist demnach nicht nur zweidimensional zu denken – als Abstimmung aller Praktiken eines Akteurs und als Abstimmung der Praktiken aller Akteure einer Fraktion, sondern impliziert bei Bourdieu immer auch eine ‚Außenseite’ des Nicht-Homologen. Über diese Außenseite definiert sich letztlich die ‚Innenseite’, d.h. eine gesellschaftliche Gruppe, die aufgrund ihrer Soziallage über einen gemeinsamen Habitus und einen entsprechenden Lebensstil verfügt, erlangt ihre wahrnehmbare Identität primär dadurch, was sie nicht ist. Die Lebensstile resultieren demnach im Wesentlichen aus den Unterschieden der Existenzbedingungen – sofern sie einen entsprechenden Ausdruck in den Praxisformen gefunden haben und dieser Ausdruck auch wahrgenommen wurde. An

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dieser Stelle werden erste Divergenzen zwischen zwei Auffassungen des Habitus deutlich, die im Folgenden eingehend diskutiert werden. 1.3.2 Die Genese des Habitus Neben Bourdieu verwendet auch die Wissenssoziologie Ralf Bohnsacks in der Tradition Karl Mannheims den Habitus-Begriff54. Beide Ansätze problematisieren das Verhältnis zwischen Praktiken und Existenzbedingungen, bei dem der Habitus eine ‚Relaisfunktion’ hat. Anhand dieser Problemstellung werden nun wesentliche Aspekte der beiden Ansätze gegenübergestellt. In der Perspektive Bohnsacks wird der kollektive Habitus weniger distinktiv, sondern primär „konjunktiv“, d.h. durch Gemeinsamkeiten des Erlebens geprägt gesehen. Zudem wird die Genese des Habitus durch Gemeinsamkeiten des Erlebens, d.h. nicht durch „objektive“ Ressourcen erklärt. Etwas verschwommen war bisher von „Existenzbedingungen“ die Rede, die einem Habitus sein charakteristisches Gesicht geben. Im Anschluss an Karl Mannheim (1980, S. 87) unterscheidet Bohnsack zwei wesentliche Prinzipien zur Erklärung der Habitus-Genese – die kausalgenetische von der soziogenetischen (Bohnsack 1999, S. 173 ff). Während er bei Bourdieus Ansatz eine „Tendenz“ (ebd. S. 175) zur kausalgenetischen Erklärung erkennt, ordnet er sein eigenes Vorgehen dem soziogenetischen Erklärungsansatz zu. Diese beiden Auffassungen über die Habitusgenese sollen nun gegenübergestellt und von einander abgegrenzt werden. Im Anschluss daran wird argumentiert, dass dem Erfahrungsbegriff bei Bourdieu eine größere Bedeutung zukommt als angesichts einer eindeutigen Zuordnung seiner Theorie zu kausalgenetischen Erklärungsansätzen zu vermuten wäre. 54

Bourdieu entlehnt den Begriff des Habitus bei dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky (Bourdieu 1974, S. 125 ff., insbes. S. 132), der in seiner Studie über „Gotische Architektur und Scholastik“ von „mental habits“ spricht (in der deutschen Übersetzung ist von „Denkgewohnheiten“ die Rede; 1989, S. 18), die als „modus operandi“ (ebd., S. 22) wirken. Panofsky seinerseits bezieht sich in seinem Aufsatz „Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst“ von 1932 (hier: 1987a) auf den Dokumentsinn nach Karl Mannheim (ebd. S. 200), dessen Träger der Habitus ist (vgl. Bohnsack 1997a, S. 197) – an dieser Stelle fällt der Begriff des Habitus jedoch nicht explizit. Panofsky beruft sich auf Mannheims Aufsatz „Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation“, dessen Titel er nicht nennt und für den er eine falsche bibliographische Angabe macht („Jahrbuch für Kunstgeschichte I (1922/23), S. 236 ff.“ statt: „Jahrbuch für Kunstgeschichte I (XV) (1921-22),4, S. 236 - 274“; hier: 1964a). Mannheim wiederum bezieht sich in diesem Aufsatz auf Panofsky und dessen Interpretation des Begriffs des „Kunstwollens“, den Panofsky im Anschluss an Alois Riegl entfaltet (Panofsky 1920; hier: 1974). Mannheim schreibt hierzu: „Hier wird an Händen einer Analyse des Riegl´schen Kunstwollens der Dokumentsinn bereits klar gesehen.“ (ders. 1964a, S. 123, Fn. 15; vgl. auch ebd. S. 128, Fn. 18). An anderer Stelle verwendet Mannheim den Begriff des Habitus ebenfalls, allerdings wenig spezifisch und stringent (1964b, S. 513; 1964d, S. 615; 1964e, S. 655). Diesen wissenssoziologischen Hintergrund des Habitus-Begriffs, an den Bohnsack anschließt, macht Bourdieu jedoch nicht deutlich.

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1.3.2.1 Die Kapitalstruktur als Basis des Habitus Der Habitus als ein System erworbener Dispositionen ist bei Bourdieu durch eine „doppelte Geschichtlichkeit“ geprägt (siehe 1.3.1.2), die in die Gegenwart hineinwirkt. „Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat.“ (Bourdieu 1993, S. 105) Diese im Habitus sedimentierte Vergangenheit fungiert „wie ein akkumuliertes Kapital“ (ebd.). Den Begriff des „Kapitals“ nimmt Bourdieu einerseits wörtlich, verwendet ihn andererseits aber auch übertragen: Wörtlich, indem er den Ertrag der im Habitus akkumulierten Geschichte (des einzelnen wie seiner gesellschaftlichen Gruppe) als „Trumpf in einem Kartenspiel“ (Bourdieu 1985, S. 10) bezeichnet oder als „Spiel-Chips“ und die gesellschaftlichen Akteure als „Spieler“. „Und jeder spielt entsprechend der Höhe seiner Chips. Wer einen großen Stapel hat, kann bluffen, kann gewagter spielen, risikoreicher.“ (Bourdieu 1997b, S. 38) Kapital wird hier als Ressource verstanden, die in einem Spiel eingesetzt werden und dadurch Gewinn bringen oder an Wert verlieren kann. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch zwischen dem Kapital als akkumulierter Vergangenheit und dem Kapital der Spielchips: Bei Glücksspielen kann – anders als im ‚wirklichen’ Leben – innerhalb „kürzester Zeit ein ganzes Vermögen gewonnen und damit ein neuer sozialer Status erlangt werden; im nächsten Augenblick kann dieser Gewinn aber bereits wieder auf Spiel gesetzt und vernichtet werden.“ (Bourdieu 1997b, S. 49) In der Welt des Glücksspiels herrscht vollkommene Konkurrenz und Chancengleichheit. In der sozialen Wirklichkeit dagegen kommt es zu einer sehr ungleichen Kapitalverteilung durch Trägheitseffekte wie z.B. der Vererbung von Kapital (vgl. Bourdieu 1997b, S. 50). Übertragen verwendet Bourdieu den Kapital-Begriff, da er ihn nicht auf ökonomische Ressourcen beschränkt, sondern ihn auch auf Bereiche bezieht, die gemeinhin als dem ökonomischen Denken entzogen gelten. Damit möchte er die seiner Ansicht nach verengte „ökonomische Ökonomie“ überwinden und eine „allgemeine Ökonomie“ formulieren, die in der Lage sein soll, „auch alle die Praxisformen miteinzubeziehen, die zwar objektiv ökonomischen Charakter tragen, aber als solche im gesellschaftlichen Leben nicht erkannt werden und auch nicht erkennbar sind. Sie verwirklichen sich nur aufgrund eines erheblichen Aufwandes an Verschleierung oder, besser, Euphemisierung.“ (ebd. S. 52) Von der Verschleierung eines ökonomischen Interesses leben vor allem jene Praxisformen, die im weitesten Sinn dem Bereich der „Kultur“ zugeordnet werden können (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 148). Sie beanspruchen für sich eine ‚Aura’ reinen Selbstzwecks, die ihren Glanz gerade aus der Zurückweisung materiellen Profitstrebens erlangt. Doch auch kulturelle Güter (sowie der Um-

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gang mit ihnen) unterliegen einer Ökonomie – jedoch mit einer eigenen Logik (Bourdieu 1987, S. 17). Für diesen Bereich prägt Bourdieu den Begriff des „kulturellen Kapitals“.55 Es kann in unterschiedlichen ‚Aggregatzuständen’ vorliegen: (1) „in verinnerlichtem, inkorporiertem Zustand, in Form von dauerhaften Dispositionen des Organismus“ (Bourdieu 1997b, S. 53), d.h. als „Bildung“, i.S.v. Kompetenz, Geschmack, Kenntnissen, Sensibilität; (2) „in objektiviertem Zustand, in Form von kulturellen Gütern, Bildern, Büchern, Lexika, Instrumenten oder Maschinen, in denen bestimmte Theorien und deren Kritiken, Problematiken usw. Spuren hinterlassen oder sich verwirklicht haben“ (ebd.); (3) „in institutionalisiertem Zustand“ (ebd.), d.h. durch Bildungszertifikate, schulische und akademische Titel bzw. Grade. Unter „Ökonomie“ im Allgemeinen, d.h. im nicht eingeschränkt ökonomischen Sinn versteht Bourdieu zunächst ein Interesse (Bourdieu 1997a, S. 79): „Ein Interesse haben heißt, einem bestimmten sozialen Spiel zugestehen, dass das, was in ihm geschieht, einen Sinn hat, und dass das, was bei ihm auf dem Spiel steht, wichtig und erstrebenswert ist.“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 148) Dieses Interesse ist aber kein bewusstes Interesse, das zielstrebig verfolgt wird, sondern ein „urwüchsiges“ Einverstandensein mit dem, was „auf dem Spiel steht“, und die „unbestrittene, unreflektierte, naive, eingeborene Anerkennung“ (Bourdieu 1993, S. 125) der Grundvoraussetzungen des jeweiligen „Spiels“. Mit dieser allgemein ökonomischen Perspektive auf die soziale Wirklichkeit ist zum einen ein universelles Prinzip verbunden, das allen Ökonomien gemeinsam ist: „die Suche nach der Optimierung.“ (Bourdieu 1997a, S. 79) Zum andern ist damit aber auch impliziert, dass der Begriff des Interesses „etwas vollkommen anderes ist als das transhistorische, universale Interesse der utilitaristischen Theorie, also die unbewusste Verallgemeinerung jener Form von Interesse, die von der kapitalistischen Wirtschaftsform erzeugt und vorausgesetzt wird. Dieses Interesse ist alles andere als anthropologisch invariant; vielmehr ist es historisch willkürlich, eine historische Konstruktion, die nur ex post durch eine historische Analyse und durch die empirische Beobachtung erkannt und nicht a priori von einer fiktiven und ganz offensichtlich ethnozentrischen Auffassung vom ‚Menschen’ schlechthin abgeleitet werden kann.“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 148 f.)

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Neben dem ökonomischen und dem kulturellen Kapital führt Bourdieu noch das soziale und das symbolische Kapital an: „Das soziale Kapital ist die Summe der aktuellen oder virtuellen Ressourcen, die einem Individuum oder einer Gruppe aufgrund der Tatsache zukommen, dass sie über ein dauerhaftes Netz von Beziehungen, einer – mehr oder weniger institutionalisierten – wechselseitigen Kenntnis und Anerkenntnis verfügen; es ist also die Summe allen Kapitals und aller Macht, die über ein solches Netz mobilisierbar sind.“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 151 f.) Das symbolische Kapital definiert Bourdieu „als wahrgenommene und als legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien (gemeinhin als Prestige, Renommee, usw. bezeichnet).“ (Bourdieu 1985, S. 11)

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Mittel wie Ziel in dieser erweiterten Ökonomie sind die unterschiedlichen Arten von Kapital, wobei die Ausstattung an Kapital zwischen den Akteuren ungleich verteilt ist – sowohl was die absolute Menge, als auch was das ‚Mischungsverhältnis’ der einzelnen Kapitalarten betrifft. Je nach Kapitalausstattung kommt es zu unterschiedlichen, die Habitus prägenden Existenzbedingungen. Sie lassen sich in einem zweidimensionalen „sozialen Raum“ verorten: Auf einer vertikalen Achse lassen sich die Besitzer umfangreichen Kapitals jenen mit geringem „Kapitalvolumen“ gegenüberstellen. Diese quantitative Dimension mit den Polen „viel“ vs. „wenig“ markiert das gesellschaftliche „oben“ und „unten“. Die horizontale Achse verläuft quer dazu zwischen dem intellektuellen („kulturellen“) Pol zur Linken und dem wirtschaftlichen („ökonomischen“) Pol zur Rechten. Diese zweite Dimension differenziert zwischen den unterschiedlichen Kapitalarten, d.h. sie gibt an, welches relative Mischungsverhältnis von kulturellem und ökonomischem Kapital bei insgesamt konstantem Kapitalvolumen vorliegt. „So bilden in der ersten, zweifellos wichtigeren Dimension die Besitzer eines umfangreichen Gesamtkapitals, etwa Unternehmer, Angehörige freier Berufe und Hochschullehrer, als Ganzes einen Gegensatz zu den am schlechtesten mit ökonomischem und kulturellem Kapital versehenen Gruppen, etwa den ungelernten Arbeitern; unter einem anderen Gesichtspunkt aber, das heißt unter dem Gesichtspunkt des relativen Gewichts des in ihrem Besitz befindlichen ökonomischen und kulturellen Kapitals, besteht zwischen den Hochschullehrern (relativ reicher an kulturellem als an ökonomischem Kapital) und den Unternehmern (relativ reicher an ökonomischem als an kulturellem Kapital) ein ganz ausgeprägter Gegensatz“ (Bourdieu 1998, S. 20).

Aus Umfang und Art des Kapitals ergibt sich für jeden Akteur (bzw. für jede „Klasse“ von Akteuren)56 eine genau bestimmbare Position im sozialen Raum, aus der sich die Relationen (Nähe bzw. Distanz) zu allen anderen (Klassen von) Akteuren bestimmen lassen. Mit dieser Position sind spezifische Vorstellungen verbunden, die Produkte des Habitus sind. Denn der Habitus ist geprägt durch die Konditionierungen, die sich durch die dauerhafte Erfahrung der mit einer bestimmten Position im Sozialen Raum verbundenen Existenzbedingungen ergeben. (vgl. Bourdieu 1992b, S. 143 f.). „Jeder Positionsklasse entspricht eine Habitus- (oder Geschmacks-) Klasse, ein Produkt der mit der entsprechenden Position verbundenen Konditionierungen, und, vermittelt über diese Habitus und ihre generativen Kapazitäten, ein systematisches Ensemble von Gütern und Eigenschaften, die untereinander durch Stilaffinität verbunden sind.“ (Bourdieu 1998, S. 20 f.) Die Dispositionen des Habitus werden demnach letztlich durch die Kapitalausstattung erklärt – Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang auch von „Lebensbedingungen“, die „objektiv klassifizierbar“ sind (Bourdieu 1987, S. 280). 56

Zu Bourdieus Verwendung des Begriffs „Klasse“ vgl. ders. 1985, insbes. S. 12 ff., sowie ders. 1997a, S. 102 ff. und S. 130 ff.

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Somit liegt die Struktur, die den Habitus hervorbringt, auf einer „anderen Ebene“ (Bohnsack 1999, S. 174) als die Produkte des Habitus, also die homologen Praktiken des Denkens, Wahrnehmens, Beurteilens und Handelns. Der Ebenenwechsel werde dabei bereits, so Bohnsack, durch die Verwendung des Begriffs „objektiv“ indiziert (ebd.). Diese Art der Erklärung bezeichnet Bohnsack im Anschluss an Mannheim als „kausalgenetisch“, da die „verschiedenen geistigen Gebilde“ (Mannheim 1980, S. 87; vgl. Bohnsack 1999, S. 175), also die sinnvollen Praktiken des Habitus, „durch gewisse relativ sinnfremde, generell faßbare (...) Komplexe (also die Kapitalkonfigurationen; R.B.) ersetzt und aus ihnen erklärt“ werden (Bohnsack 1999, S. 175 unter Berufung auf Mannheim 1980, S. 87). Davon grenzt Bohnsack sein eigenes Vorgehen als „soziogenetisch“ ab. 1.3.2.2 Die Erlebnisaufschichtung als Basis des Habitus Bohnsack schließt teilweise an die Begrifflichkeit Bourdieus an (vgl. Bohnsack 1999, S. 67 f.), entwickelt sein Habitus-Konzept aber in Auseinandersetzung mit der Wissenssoziologie Karl Mannheims. Mannheim geht wie Bourdieu davon aus, dass die soziale Lage sich in einer spezifischen Weise des Weltzugangs und der Welterfahrung niederschlägt. Darin sieht er eine zentrale Dimension der „Seinsverbundenheit des Wissens“ (vgl. Meuser 1999, S. 132) In der Frage, wie diese Orientierungen zu erklären seien, grenzt sich Bohnsack mit Mannheim aber von Bourdieu ab: „Dies insofern als die ‚Genese’ der Habitusformen und stilistischen Praxisformen, also das, was das ‚strukturierende Prinzip’ des Habitus seinerseits strukturiert, >bei Bourdieu; B.M.@ durch ‚Kapitalkonfigurationen’ erklärt wird. Dies sind ‚sinnfremd kausale Vorbedingungen der Genesis’ (Mannheim), im Unterschied zu einer sinnhaften soziogenetischen Interpretation, die die Konstitutionsbedingungen des Habitus, die ‚Seinsgebundenheit des Wissens’ in der je unterschiedlichen milieuspezifischen Erlebnisschichtung aufweist.“ (Bohnsack 1997a, S. 207 f.)

Indem Bourdieu die „Wahrheit der Erfahrungen“ (Bourdieu 1979, S. 149) kausalgenetisch aus „objektiven Strukturen“ (ebd.) zu erklären versucht, „die diese determinieren“ (ebd.) und den Niederschlag dieser Strukturen bspw. in „Preiskurven, Chancen des Zugangs zu höheren Bildungsinstitutionen >und@ Gesetze(n) des Heiratsmarktes“ (ebd.) findet, vollzieht er einen Wechsel der Ebenen zwischen den zu erklärenden sinnhaften („subjektiven“) Handlungen, Wahrnehmungen und Erfahrungen einerseits und den sinnfremden („objektiven“) Strukturen, die er zur Erklärung heranzieht, andererseits. Im Rahmen der soziogenetischen Erklärung liegen Explanans und Explanandum dagegen auf der gleichen epistemologischen Ebene, der Sphäre des Sinns: Subjektive Erfahrungen und Erlebnisse werden aus ihnen zugrundelie-

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genden „Erlebnisschichtungen“ erklärt. Nur über das subjektive Erleben der Akteure können demnach die Kapitalstrukturen Relevanz für die Habitusgenese gewinnen. Die „‚gesellschaftlichen Bedingungen’ der Erfahrungen >sind daher@ (...) nicht allein objektivistisch zu definieren (...), sondern ebenfalls im Durchgang durch das Erleben derjenigen, die Gegenstand der Forschung sind“, zu erschließen und zu explizieren, „also auf dem Weg der Rekonstruktion“ (Bohnsack 1999, S. 176). Die soziogenetischen Erklärungen sind daher dadurch gekennzeichnet, „dass sie den Sinngehalt der Kulturobjektivationen nicht wie die kausalgenetische Erklärung in naturwissenschaftlich erfassbare (sinnfreie) Prozesse auflösen, sondern ihn stets in seiner Sinnhaftigkeit als Fragment umfassender Totalitäten auffassen, die man ‚Weltanschauungen’ nennt.“ (Mannheim 1980, S. 88). Als „Fragmente“, d.h. als Teile der „umfassenden Totalitäten“ sind die zu analysierenden Praktiken somit ‚wesensgleich’ mit den „‚Weltanschauungen’“, aus denen heraus sie erklärt werden sollen. Teil und Ganzes sind somit – im Gegensatz zur kausalgenetischen Erklärung – auf der gleichen Ebene, der Ebene der Erfahrungsaufschichtung, angesiedelt. Die den Habitus formenden Erlebnisse sind aber keine Erfahrungen, die einem Akteur individuell in einzigartiger Weise zukommen würden, sondern kollektive Erlebnisse. Auch Bourdieu sieht den Habitus als wesentlich kollektiv geprägt an (vgl. 1.3.1.3). Wie oben aber bereits erwähnt wurde, grenzt sich Bohnsack nicht nur hinsichtlich der Erklärungsebene der Habitusgenese von Bourdieu ab, sondern auch bzgl. des Kollektivitätsbegriffs: Statt den Habitus wie Bourdieu im Wesentlichen durch die Unterschiede der Existenzbedingungen geprägt zu sehen, also distinktiv, hält Bohnsack Gemeinsamkeiten des Schicksals für habituskonstituierend. „Kollektive Bedeutungszusammenhänge, kollektive Orientierung setzen eine gemeinsame Erfahrungsbasis, setzen gemeinsames Erleben voraus (...).“ (Bohnsack 1989, S. 386) Auf diese Art der Kollektivität, die aus dem gemeinsamen Erleben resultiert und zur Herausbildung eines Habitus führt, bezieht sich Bohnsack mit Mannheims Begriff der „Konjunktion“ bzw. der „Konjunktivität“. Er geht wie Bourdieu davon aus, dass die Dispositionen des Habitus mimetisch vermittelt werden (vgl. Bohnsack 1999, S. 68) und den jeweiligen Akteuren reflexiv kaum verfügbar sind. Sie sind daher zum Bereich des „atheoretischen“ Wissens zu rechnen. Dieses atheoretische, im konjunktiven Erleben eingelassene Wissen ist milieuspezifisch verteilt (Bohnsack/Nohl 1998, S. 261). Unter Bezug auf die Gemeinsamkeit der Erfahrungsaufschichtung definiert Bohnsack im Anschluss an Mannheim Milieu als „konjunktiven Erfahrungsraum“ und hält fest: „Milieus sind als ‚konjunktive Erfahrungsräume’ dadurch charakterisiert, dass ihre Angehörigen, ihre Träger durch Gemeinsamkeiten des Schicksals, des biographischen Erlebens, Ge-

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meinsamkeiten der Sozialisationsgeschichte miteinander verbunden sind. Dabei ist die Konstitution konjunktiver Erfahrung nicht an das gruppenhafte Zusammenleben derjenigen gebunden, die an ihr teilhaben.“ (Bohnsack 1993, S. 115)

Damit grenzt sich Bohnsack vom symbolischen Interaktionismus ab, da die konjunktiven Erfahrungen den individuellen Interaktionen zeitlich (und logisch) vorausgehen, Sozialität demnach nicht erst „auf dem Wege wechselseitig einander interpretierender Subjekte ‚hergestellt’“ wird (Bohnsack 1997, S. 496). In dieser Abgrenzung von interaktionistischen Ansätzen decken sich die Ansätze von Bohnsack und Bourdieu, wie auch in der Auffassung, mit den Milieus seien spezifische Arten der Weltanschauung und der kognitiven Orientierung verbunden (Bohnsack/Nohl 1998, S. 261 f.). Aus der soziogenetischen Erklärung des Habitus ergeben sich auch Konsequenzen für Methodologie und Methode: Denn Erfahrung als Konstituens des Habitus ist auch für den Sozialforscher nicht hintergehbar, „einen privilegierten Zugang zur gesellschaftlichen Realität jenseits der (subjektiven) Erfahrung der Erforschten“ (Bohnsack 1997, S. 498) kann er weder für sich in Anspruch nehmen, noch erkenntnistheoretisch begründen. Während Bourdieu trotz seiner Forderung nach einer Reflexion des Forschungsprozesses („Soziologie als Sozioanalyse“; Bourdieu/Wacquant 1996, S. 95 ff.) von einer privilegierten Haltung der Forschenden gegenüber dem Forschungsgegenstand auszugehen scheint (vgl. Loos/Schäffer 2000, S. 35), betont die Wissenssoziologie die prinzipielle Ebenengleichheit alltäglicher und wissenschaftlicher Erkenntnis (vgl. Bohnsack 1997, S. 498). Die „Leitdifferenz“ (Bohnsack 1997, S. 498) von objektiver Realität und deren subjektiver Interpretation durch die Akteure, die z.B. auch von Bourdieu postuliert wird, ist in wissenssoziologischer Perspektive Mannheim´scher Prägung deshalb obsolet, da „gesellschaftliches ‚Sein’, gesellschaftliche Lagerung erkenntnistheoretisch nicht jenseits des Erlebens der Erforschten, sondern durch Gemeinsamkeiten des biographischen Erlebens hindurch theoretisch begründet und auf diese Weise auch empirisch greifbar wird.“ (ebd., Herv. B.M.). Jenseits der subjektiven Erfahrungen der Akteure lässt sich in dieser Perspektive soziale Realität nicht untersuchen. Milieuspezifische Formen der Orientierung werden nicht, wie bei Bourdieu, aus „sinnfremden“ (Mannheim) Merkmalen der Sozialstruktur erklärt, sondern aus dem konjunktiven Erfahrungsraum. Milieus konstituieren sich dabei durch mehrfache Verschränkungen, d.h. durch die Überlagerung unterschiedlicher Erfahrungsräume z.B. der Generation, des Geschlechts, der Bildung u.a. Das praktische Bewusstsein bzw. das handlungsleitende Wissen des einzelnen ist daher „immer zugleich durch unterschiedliche Erfahrungsräume, d.h. mehrdimensional strukturiert.“ (Bohnsack/Nohl 1998, S. 262). Aus den unterschiedlichen Erklärungsebenen der Habitusgenese ergeben sich die Unterschiede des methodischen Zugriffs zwi-

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schen den beiden Ansätzen: Während sich Bourdieu (insbesondere bei seinen Untersuchungen zu den „feinen Unterschieden“; 1987) überwiegend auf sozialstatistische Erhebungen und Befragungen mit Hilfe standardisierter Fragebögen stützt, geht Bohnsack qualitativ-rekonstruktiv vor. Trotz dieser Divergenzen wird im Rahmen dieser Arbeit auf beide Habitustheorien Bezug genommen. Die empirische Rekonstruktion der Interaktion von Bild und Rezipierenden wird mit Hilfe der Dokumentarischen Methode durchgeführt, die Bohnsack in Auseinandersetzung mit der Wissenssoziologie Karl Mannheims entwickelt hat (vgl. 2.1). Hierfür ist die Vorstellung vom Habitus als „konjunktiver Erfahrungsraum“ konstitutiv. Der Bourdieu´sche Habitusbegriff nimmt dagegen in der theoretischen Reflexion eine zentrale Stelle ein. Im vorliegenden Kontext müssen sich daraus jedoch keine unüberwindbaren Konsistenzprobleme ergeben. Dies umso weniger, als der strittige Punkt der Habitusgenese im Rahmen der vorliegenden Arbeit ausgeklammert bleibt. Wie auch Meuser deutlich macht, impliziert die Entscheidung für den einen Ansatz nicht notwendiger Weise eine Entscheidung gegen den anderen: „Mit Bourdieu ist festzuhalten, dass es darauf ankommt, Beziehungen zwischen Strukturen und Praktiken zu erfassen. Dies allerdings muss durch eine Rekonstruktion der Praktiken und deren Repräsentationen geschehen und insoweit als Wissenssoziologie erfolgen, nicht einfach durch eine Ableitung der Praktiken aus objektiven Strukturen, die zumindest teilweise sinnfremd als Kapitalkonfigurationen bestimmt werden“. (Meuser 1999, S. 131)

Dass sich aber auch bei Bourdieu die Ebene gemeinsamer Erfahrung als Konstituens des Habitus herausarbeiten lässt, soll nun gezeigt werden. 1.3.2.3 Der Habitus als akkumulierte Erfahrung Keine „Metaphysik der Strukturen“ Eine Ausklammerung der subjektiven Aneignung und erlebnismäßigen Verarbeitung objektiver Strukturmerkmale würde den Ansatz Bourdieus einer rein strukturalistischen Denkweise zuordnen – eine Vereinseitigung, die Bourdieus Versuch zur Überwindung des Gegensatzes von Subjektivismus und Objektivismus nicht gerecht wird (vgl. Bourdieu 1992b, S. 137). Zudem müsste man dann von einer „Metaphysik der Strukturen“ (Reichertz 1988) ausgehen, die das Handeln der Akteure durch objektive Faktoren vollständig determiniert sieht (vgl. Bourdieu 1993, S. 76 ff.). Dieser Auffassung widerspricht Bourdieu jedoch (z.B. 1993a, S. 33; vgl. auch Wittpoth 1994, S. 101 ff.):

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„Diese emanatistische Sicht, die aus der Struktur, aus Kapital oder Produktionsweise eine Entelechie macht, die von selber in einem Prozess der Selbstverwirklichung entsteht, reduziert die historisch handelnden Subjekte auf die Rolle von ‚Trägern’ der Struktur und ihre Handlungen auf simple Randerscheinungen der Fähigkeit der Struktur, sich nach ihren eigenen Gesetzen zu entwickeln und andere Strukturen zu determinieren oder zu überdeterminieren.“ (Bourdieu 1993, S. 78)

Die Übersetzung von objektiver in mentale Struktur und damit in strukturierte Subjektivität erfolgt nun auch keineswegs in „metaphysischer“ Weise (und auch nicht „mechanisch“ oder „bewusst“; vgl. Bourdieu 1987, S. 279), sondern durch „Konditionierung“ (Bourdieu 1993, S. 98) aufgrund von Erfahrungen, die für eine bestimmte Klassen (-fraktion) typisch sind (ebd. S. 112). Erfahrungen bilden quasi das Medium, über das die objektiven Strukturen handlungswirksam werden können. Nur über konditionierende Erfahrungen vermittelt haben die objektiven Strukturen eine habituskonstituierende Wirkung. „Lässt sich der gesamte Lebensstil einer Klasse bereits aus deren Mobiliar und Kleidungsstil ablesen, dann nicht allein deshalb, weil in diesen Merkmalen sich die ihre Auswahl beherrschenden ökonomischen und kulturellen Zwänge objektivieren; vielmehr auch, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse, die in diesen vertrauten Dingen gegenständliche Gestalt gewinnen – in deren Luxus wie Ärmlichkeit, deren ‚Ausgesuchtheit’ wie ‚Gewöhnlichkeit’, ‚Schönheit’ wie ‚Hässlichkeit’ – sich vermittels zutiefst unbewusster körperlicher Empfindungen und Erfahrungen aufzwingen: dem beruhigenden und diskreten Gleiten über den beigefarbenen Teppichboden ebenso wie dem kalten, nüchternen Kontakt mit grellfarbenem Linoleum, dem durchdringenden, scharfbeißenden Geruch von Putzmitteln wie dem unmerklichen Duft von Parfum.“ (Bourdieu 1987, S. 137; Herv. B.M.)

Nicht die bloße Existenz oder Nicht-Existenz von Kapital prägt die kognitive Struktur, sondern die sich aus der Kapitalausstattung ergebenden Erfahrungen von entsprechenden Freiräumen oder Zwängen: „Aus objektiven Grenzen wird der Sinn für Grenzen, die durch Erfahrung der objektiven Grenzen erworbene Fähigkeit zur praktischen Vorwegnahme dieser Grenzen“ (Bourdieu 1987, S. 734). Durativer vs. finalistischer Aspekt der Kapitalakkumulation Durch Restriktionen und Ressourcen konditionieren demnach die objektiven Strukturen (die Kapitalausstattung) die subjektiven Erfahrungen und prägen so die mentalen Strukturen. Aber auch im Erwerbsprozess von Kapital werden kognitive Orientierungsmuster über Erfahrungen strukturiert. Gerade beim kulturellen Kapital geht es nicht allein um Besitz/Nicht-Besitz, sondern auch um die Art der Aneignung, also um die spezifische Erfahrung des Kapitalerwerbs und nicht nur um das Resultat. Nicht nur der ‚Saldo’ des kulturellen Kapitals ist für die Erklärung milieuspezifischer Praxisformen von Belang (finalistischer Aspekt), sondern auch der Prozess des Erwerbs als erlebte Erfahrung (durativer

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Aspekt). Die Relevanz dieser Erfahrungsseite des Kapitalerwerbs betont Bourdieu in zweifacher Hinsicht: Zum einen, indem er der Zeit, die für den Erwerb nötig ist, Rechnung trägt. „Die Akkumulation von Kultur in korporiertem Zustand (...) setzt einen Verinnerlichungsprozess voraus, der in dem Maße, wie er Unterrichts- und Lernzeit erfordert, Zeit kostet. Die Zeit muss vom Investor persönlich investiert werden.“ (Bourdieu 1997b, S. 55). Zum andern, indem er die Bedeutung der Institution (Elternhaus vs. Schule) hervorhebt, die das kulturelle Kapital vermittelt. Von Umfang und Struktur her gleiches kulturelles Kapital kann sich sowohl im Legitimitätsgrad als auch in den Praxisformen erheblich unterscheiden – je nach den Erfahrungen, unter denen es erworben wurde (Bourdieu 1987, S. 120). Nur unter Einbeziehung der subjektiven Erfahrungen beim Erwerb des kulturellen Kapitals lassen sich innerhalb eines Bildungsmilieus Differenzierungen vornehmen, die eine Unterscheidung bspw. zwischen dem „Gelehrten“, dem „Mann von Welt“ und dem „Autodidakten“ (Bourdieu 1987, S. 125 ff.), mithin zwischen unterschiedlichen Denk- und Lebensstilen erlauben. So ist die „Kompetenz des ‚Kenners’“ (ebd. S. 121) aus dem „langem vertrauten Umgang“ (ebd.) und „wiederholten“ (ebd.), „übers normale Maß hinausgehenden“ (ebd.) „Kontakt mit kulturellen Werken und gebildeten Menschen“ (ebd.) hervorgegangen. Diese besondere Form des kulturellen Kapitals vermittelt sich somit weniger „durch Regeln und Vorschriften“ (ebd.), sondern durch die praktische Teilhabe an entsprechenden Praktiken. Will eine rekonstruktiv verfahrende Sozialforschung diese Unterschiede der Praxisformen und Orientierungsmuster erfassen, so darf sie nicht bei der Bilanzierung des Kapitalvolumens stehen bleiben, sondern muss sich auch für die mit diesem Kapital verbundenen subjektiven Erfahrungen interessieren – seien sie geprägt durch die Restriktionen bzw. Freiräume, die durch das Kapital gesetzt bzw. eröffnet werden, oder durch die Bedingungen und Umstände des Kapitalerwerbs. Diesen Aspekt hat Bourdieu immer wieder betont: „Verkörpertes Kulturkapital bleibt immer von den Umständen seiner ersten Aneignung geprägt. Sie hinterlassen mehr oder weniger sichtbare Spuren, z.B. die typische Sprechweise einer Klasse oder Region.“ (Bourdieu 1997b, S. 57) Auch beim ökonomischen Kapital ist der Erwerbsmodus von Belang: Hier unterscheidet sich der Erbe eines Vermögens signifikant vom „Self-made-man“ oder Parvenu (vgl. Bourdieu 1987, S. 138 ff.). Es geht also nicht nur um das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von Kapital, sondern immer auch um das subjektive Erleben des Kapitals und des Kapitalerwerbs. Empirisch eingelöst hat Bourdieu dieses Postulat jedoch nicht. Er geht nämlich nicht so vor, „dass er diese Umwandlungen von Zwängen (oder Freiheiten) in Präferenzen auf der Grundlage des Erlebens der Klassenangehörigen nachzeichnet, indem er die Wahrnehmung von Zwängen und Freiheiten und deren Verarbeitung in der Weise rekonstruiert, wie sie sich in den

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unterschiedlichen Erfahrungsräumen der Angehörigen verschiedener Klassen vollzieht.“ (Bohnsack 1993, S. 158)

Stattdessen setzt er auf der sozialstrukturellen Ebene an und operiert mit der (Korrespondenz-) Analyse von Sozialstatistiken. Erst in jüngerer Zeit (Bourdieu u.a. 1997) wandte sich Bourdieu auch empirisch den Erlebniswelten sozialer Akteure zu. Der Habitus als ‚Erfahrungsspeicher’ Der Habitus als strukturiertes und strukturierendes Prinzip ist in Bourdieus Theorie die Instanz, die die Umsetzung von Kapitalkonfiguration in milieuspezifische Praxisformen und Orientierungsmuster leistet. Aber auch in kausalgenetischer Perspektive darf der Habitus nicht verkürzt nur von den objektiven Strukturen her gedacht werden. Der Habitus funktioniert vielmehr, „alle vergangenen Erfahrungen integrierend, wie eine Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix“ (Bourdieu 1979, S. 169; Herv. B.M.) und „gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen“ (Bourdieu 1993, S. 101; Herv. B.M.). Das ‚Arbeitsprinzip’ des Habitus ist demnach durch die Akkumulation von Erfahrungen, durch Erfahrungsaufschichtung gekennzeichnet: „Der Habitus, der mit den Strukturen aus früheren Erfahrungen jederzeit neue Erfahrungen strukturieren kann, die diese alten Strukturen in den Grenzen ihres Selektionsvermögens beeinflussen, sorgt für eine einheitliche, von den Ersterfahrungen dominierte Aufnahme von Erfahrungen, die Mitglieder derselben Klasse statistisch miteinander gemein haben.“ (Bourdieu 1993, S. 113 f.)

Auf Basis der Ersterfahrung nimmt der Habitus eine Selektion neuer Erfahrungen vor, indem er die Konfrontation mit Erfahrungen hintertreibt, die die akkumulierte Erfahrung irritieren könnte, oder sie verwirft, wenn eine Begegnung nicht zu vermeiden ist. Durch diese Bevorzugung von Erfahrungen, die ihn selbst verstärken, versucht der Habitus seinen Fortbestand zu sichern und sich gegen Veränderungen zu wappnen (ebd.). Der Habitus ist demnach durch Erfahrungen strukturiert und strukturiert seinerseits Erfahrungen. Durch die Abwehr von Veränderungen kommt es dabei zu einer relativen „Geschlossenheit des für den Habitus konstitutiven Dispositionensystems.“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 168). Diese Geschlossenheit der Erfahrungsaufschichtung prägt nicht nur den Habitus eines einzelnen Akteurs, sondern den Habitus seines Milieus. „Durch die systematische ‚Auswahl’, die er zwischen Orten, Ereignissen, Personen des Umgangs trifft, schützt sich der Habitus vor Krisen und kritischer Befragung, indem er sich ein Milieu schafft, an das er so weit wie möglich vorangepasst ist“ (Bourdieu 1993, S. 114). Durch diese „Vermeidungsstrategien“

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(ebd.) werden Erfahrungen homogenisiert, Räume homogener Erfahrungen sind Milieus. Den Begriff „Milieu“ verwendet Bourdieu äußerst selten – wenn er dies tut, lassen sich jedoch durchaus Übereinstimmungen mit Bohnsacks Definition vom Milieu als „konjunktivem Erfahrungsraum“ (s.o.) feststellen: Ein Milieu erlangt demnach sein „Gesicht“ durch „stets konvergente Erfahrungen“ (Bourdieu 1993, S. 112). Die „konvergenten Erfahrungen“ resultieren aus den „Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, Freiheiten und Notwendigkeiten, Erleichterungen und Verboten“ (ebd., S. 100), die durch die „objektiven Strukturen“ der Kapitalausstattung gesetzt werden. Vermittelt über die „konvergenten Erfahrungen“ prägen die „objektiven Strukturen“ den praktischen Sinn des Habitus (Bourdieu 1993, S. 112). Resümee Habitus und Milieu lassen sich somit bei Bourdieu nicht auf die objektive Kapitalausstattung reduzieren. Sie sind vielmehr – und das ist die Kernthese der hier dargelegten Argumentation – auch „konjunktive Erfahrungsräume“, die sich durch gemeinsame Erfahrungsaufschichtungen auszeichnen. Spricht man von Kapitalkonfiguration so spricht man gleichzeitig von „akkumulierter Geschichte“ (Bourdieu 1997b, S. 49) oder – mit Bohnsack – von „Erlebnisaufschichtung“. In diesem Punkt unterscheiden sich Bourdieu und Bohnsack somit lediglich in der Gewichtung. Deutliche Unterschiede zwischen Bourdieu und Bohnsack gibt es v.a. hinsichtlich Methodologie und Methode (vgl. Meuser 2001). Die (noch) nicht geleistete empirische Rekonstruktion des Habitus „als Wissenssoziologie“ (Meuser 1999, S. 131) bei Bourdieu kann vor diesem Hintergrund jedoch als Desiderat formuliert werden. „Reformuliert man das Habitus-Konzept im Sinne des Begriffs der konjunktiven Erfahrung, dann wird eine sinnrekonstruierende wissenssoziologische Analyse sozialstruktureller Einbindungen möglich.“ (Meuser 1999, S. 133) Damit ist dann die Aufforderung verbunden, „nicht nach ‚objektiven’ Indikatoren wie Einkommensverteilung, Berufsfeldern, Zeitbudgets u.ä. zu suchen, sondern an der Lebenswelt als privilegiertem Untersuchungsgegenstand festzuhalten und zu schauen, in welcher Weise der von den Handelnden in situ erzeugte Sinn über die Situation hinausweist und worauf er verweist. Anders formuliert: den Text, den die Akteure produzieren, als Dokument zu begreifen, in dem sich ausdrückt, in welche transsituativen Sinnbezüge das Handeln eingebettet ist.“ (ebd. S. 131 f.)

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1.3.3 Der Habitus als modus recipiendi In der Vielfalt der Habitus-Definitionen, die Bourdieu im Laufe der Zeit vorgeschlagen hat, finden sich Elemente, die bereits nahe legen, dass auch das Rezeptionsverhalten von der generativen Formel des Habitus strukturiert wird. So wird der Habitus u.a. als „System der organischen oder mentalen Dispositionen und der unbewussten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1974, S. 40) und als „System von Wahrnehmungs- und Urteilsschemata, als kognitive und evaluative Strukturen“ (Bourdieu 1992b, S. 144) definiert, also unter starker Einbeziehung von Elementen des Wahrnehmens und Bewertens, die auch bei Rezeptionsprozessen eine herausragende Rolle spielen. Dabei knüpft Bourdieu an die phänomenologische Soziologie und die Ethnomethodologie an, er grenzt sich aber von deren Vorstellungen des „universellen Subjekts“ und des „transzendentalen Ego“ ab: „Gewiss besitzen die Akteure eine aktive Apprehension der Welt. Gewiss konstruieren sie ihre Weltsicht. Aber diese Konstruktion geschieht unter strukturellen Zwängen.“ (Bourdieu 1992b, S. 143). Der Gedanke von der ‚restringierten Aktivität bzw. Freiheit’, die es einem erlaubt nur das zu wollen, was einem ohnehin zukommt (vgl. Bourdieu 1987, S. 290, 585), ohne dabei aber in einen Determinismus abzurutschen, liegt auch dem zugrunde, was man eine „praxeologische Erkenntnistheorie“ (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 154) nennen könnte. Sie unterscheidet sich vom „positivistischen Materialismus“ in ihrer Auffassung, „dass Objekte der Erkenntnis konstruiert und nicht passiv registriert werden“ (Bourdieu 1993, S. 97). Gegenüber dem „intellektualistischen Idealismus“ betont sie, „dass diese Konstruktion auf dem System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen beruht, das in der Praxis gebildet wird und stets auf praktische Funktionen ausgerichtet ist.“ (ebd.) Überträgt man die Habitustheorie auf die Rezeptionsforschung, dann ist zu fragen, inwieweit die Dispositionen des Habitus die Wahrnehmung der sozialen Welt nicht nur in direkter Auseinandersetzung strukturieren, sondern auch die medial vermittelte soziale Welt. Auch in Rezeptionsprozessen würde der Habitus dann das Erleben der Akteure strukturieren und – aufgrund seiner unterschiedlichen milieuspezifischen Ausprägungen – zur Polysemie von Sinnbildungsprozessen beitragen. Man muss Medienrezeptionsprozesse jedoch nicht unbedingt einer praxeologischen Erkenntnistheorie unterordnen, um sie mit Bourdieu als habitusspezifische Praktiken zu konzeptualisieren. Denn Bourdieu bezieht den Habitus auf die „Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs“ (Bourdieu 1987, S. 278; Herv. B.M.), also auch auf sein Rezeptionsverhalten. Aufgrund des allen Praktiken zugrunde liegenden Habitus gibt es „einen Zusammenhang zwischen höchst disparaten Dingen: wie einer spricht, tanzt, lacht,

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liest, was er liest, was er mag, welche Bekannte und Freunde er hat usw. All das ist eng miteinander verknüpft.“ (Bourdieu 1993a; S. 31 f.) Man tut an dieser Stelle Bourdieu vermutlich keine Gewalt an, wenn man „lesen“ im Sinne der Cultural Studies allgemein auf das „Rezipieren“ von Medientexten jeder Art ausweitet (vgl. Fiske 1987, S. 16 f.; 1990, S. 3 f.; Jäckel/Peter 1997, S. 52; Hepp 1999, S. 124). Der Habitus strukturiert demnach u.a. sowohl das Wie als auch das Was der Lektüre, d.h. nicht nur die Auswahl der Medienangebote (das Was der Lektüre) wird durch den Habitus geprägt, sondern auch die Art der Rezeption (das Wie der Lektüre), ihre inhaltliche „Aneignung“. Der Habitus fungiert dann als „modus recipiendi“. Vor dem Hintergrund der Habitustheorie erfährt der in der Rezeptionsforschung etablierte Begriff des „aktiven Publikums“ (vgl. Hasebrink/Krotz 1996, S. 7; Livingstone 1996, S. 165) eine entscheidende Differenzierung. Als Produkte des Habitus sind Rezeptionsprozesse zwar ebenfalls als aktiv zu konzeptualisieren, nicht jedoch als autonom, zielgerichtet, absichtsvoll, individuell und bewusst. Die subjektive Konstruktionsarbeit der Rezipierenden muss aus der Perspektive der Habitustheorie – zumindest auch – als präreflexiv und nicht-intendiert begriffen werden. Sie ist überdies auch auf ihre soziostrukturellen Prägungen zu untersuchen. Bevor der Habitus als „modus recipiendi“ rekonstruiert wird, soll er von einigen verwandten Ansätzen in der Rezeptionsforschung abgegrenzt werden. Die Terminologie Bourdieus aufgreifend werden sie etwas vergröbernd in „subjektivistische“ und „objektivistische“ Ansätze aufgeteilt. Subjektivistische Ansätze in der Rezeptionsforschung Rezeption wird im vorliegenden Kontext unter dem Gesichtspunkt der interaktiven Auseinandersetzung von Rezipierenden und Bild betrachtet. In dieser Interaktion entsteht der Sinn, der in alltagssprachlich reifizierender Weise als „Sinn des Bildes“ bezeichnet wird. Von einer bedeutungsgenerierenden Interaktion zwischen Rezipierenden und Medienangebot gehen u.a. auch Ansätze aus, die sich auf den Symbolischen Interaktionismus berufen57 (vgl. 1.1.2.2) und in der Terminologie Bourdieus dem „Subjektivismus“ zuzurechnen sind. „In der Perspektive dieses Paradigmas wird der Mensch als kommunikatives Wesen behandelt, das in einer symbolischen Umgebung lebt, die von ihm selbst auch konstruiert wird. Menschen reagieren demnach nicht direkt auf Stimuli, sondern erleben und interagieren in Bezug auf interpretierte Symbole, also hinsichtlich deren Bedeutungsgehalte.“ (Krotz 1997b, S. 78)

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Prominentestes Beispiel im deutschsprachigen Raum dürfte der Nutzenansatz nach Renckstorf (z.B. 1989) sein. ‚Spurenelemente’ des Symbolischen Interaktionismus finden sich auch in der strukturanalytischen Rezeptionsforschung Michael Charltons und Klaus Neumann-Brauns (vgl. Neumann/Charlton 1989, S. 178).

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Ein Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung des Symbolischen Interaktionismus in der Medien- und Kommunikationsforschung formuliert Krotz (1996) in Abgrenzung vom „Mainstream“ der quantitativ-hypothesentestend operierenden Kommunikationswissenschaft (ebd. S. 53). Als einen der „zentralen Unterschiede zwischen symbolisch-interaktionistischer und herkömmlicher Sozialaber auch Mediennutzungsforschung“ bezeichnet er die „Berücksichtigung von individuell konstruierten Bedeutungsgehalten von Handlungen und Gegenständen“ (ebd. S. 54) und eben auch von Medientexten. Damit ist sowohl die Gemeinsamkeit als auch ein gravierender Unterschied zu der hier vertretenen Auffassung angesprochen: Zwar werden Medientexte als bedeutungsoffen angesehen, die erst in der Interaktion mit Rezipierenden mit Sinn aufgeladen werden, diese Sinnkonstruktionen werden aber nicht als „individuell“, sondern als kollektiv gedacht. An anderer Stelle resümiert Krotz, „dass in der symbolisch-interaktionistischen Konzeption von medienbezogener Kommunikation das Individuum mit seinen situativen Selbstdefinitionen im Vordergrund steht“ (Krotz 1997b, S. 82; Herv. B.M.). Trotz ähnlicher Auffassungen, was die Interaktion von Rezipierenden und Text als dem ‚Ort’ der Bedeutungsentstehung betrifft und die damit verbundene Vorstellung von der Rezeption als aktivem Handeln, müssen wesentliche Aspekte des Symbolischen Interaktionismus vom Standpunkt der Habitustheorie aus differenzierter betrachtet werden. Bourdieu richtet seine Kritik am Symbolischen Interaktionismus zugleich auch an die Adresse phänomenologischer Ansätze58, da beide Spielarten des „Subjektivismus“ nach seiner Ansicht zwei große Mängel aufweisen: „Einmal kann ein solcher Sozialmarginalismus, der die sozialen Strukturen als das Produkt der einfachen Aggregation von individuellen Klassifikationsstrategien und -akten versteht, das Fortbestehen dieser Strukturen ebenso wenig erklären wie das Fortbestehen der objektiven Konfigurationen, die durch sie perpetuiert oder in Frage gestellt werden. Und ebenso wenig kann er erklären, warum und nach welchem Prinzip die Arbeit der Produktion von Realität selber produziert wird. So ist es zwar richtig, bestimmten mechanistischen Auffassungen des Handelns entgegenzuhalten, dass die sozialen Akteure die soziale Realität – individuell, aber auch kollektiv – konstruieren, doch darf man darüber nicht wie manche Interaktionisten und Ethnomethodologen vergessen, dass die Kategorien, die sie bei dieser Konstruktionsarbeit ins Spiel bringen, nicht von ihnen konstruiert wurden.“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 27)

Die Kategorien liegen demnach den einzelnen Konstruktionsakten und Interaktionen voraus. Statt nur situativ ausgehandelter Sinnbezüge und Selbstdefinitionen (Krotz, s.o.) nimmt die Habitustheorie transsituative Bedeutungsdimensionen in den Blick. 58

Innerhalb der Medien- und Kommunikationsforschung kann bspw. Ben Bachmairs Ansatz der „Medienkommunikation als Alltagshandeln“ dem interpretativen Paradigma in der Tradition der phänomenologischen Soziologie Alfred Schütz´ zugeordnet werden (vgl. Bachmair 1990, 1996).

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

„Wenn also ein Franzose mit einem Algerier spricht, so sind das letzten Endes nicht zwei Leute, die miteinander reden, sondern es ist Frankreich, das mit Algerien spricht, es sind zwei Geschichten, die miteinander sprechen, es ist die ganze Kolonisation, die ganze Geschichte eines zugleich ökonomischen, kulturellen ... Herrschaftsverhältnisses.“ (Bourdieu 1993a, S. 18)

Die „Geschichte“, die in die Interaktionen mit einfließt, liegt jenseits der Interaktion und auch jenseits der einzelnen Akteure. Interpersonelle Beziehungen sind „immer nur dem Anschein nach Beziehungen von Person zu Person (...) und (...) die Wahrheit der Interaktion >liegt@ nie vollig in der Interaktion selbst (...).“ (Bourdieu 1993, S. 109 f., Fn. 1) Die Interaktion ist demnach nicht die alleinige ‚Keimzelle’ von Sinn, Kommunikation und Sozialität, sondern ihrerseits in einen umfassenderen Sinnzusammenhang eingebunden, der in der jeweiligen Interaktion unartikuliert ‚mitschwingt’ und somit präreflexiven Charakter hat. Da er über die an der Interaktion beteiligten Akteure hinausreicht, bindet er eine kollektive Ebene mit ein. Insofern ist – in Differenzierung von phänomenologischen und interaktionistischen Ansätzen – nicht ausschließlich die Ebene des Individuums zu berücksichtigen, sondern auch seine soziohistorische Verankerung. Dies hat aus Habitusperspektive sowohl eine Absage an einen „transhistorischen Begriff der Individualität“ (Chartier 1992, S. 19) zur Folge, „über den die Zeiten nichts vermögen“ (ebd.), als auch die Ablehnung eines „aus seiner Einzelheit auf universale Geltung vergrößerten Ich oder Wir unserer Tage“ (ebd.). Objektivistische Ansätze in der Rezeptionsforschung Sinnbildungen erfolgen aus der Perspektive der Habitustheorie somit nach kollektiv geteilten Mustern, die die Akteure nicht erst in konkreten Interaktionen herausbilden, sondern dem ‚Vorrat’ ihrer Kultur entnehmen. Damit gerät eine habitusorientierte Rezeptionsforschung in die Nähe von strukturtheoretischen Ansätzen, wie sie bspw. innerhalb der Cultural Studies vertreten werden. Von ihnen lässt sie sich jedoch ebenfalls abgrenzen. Obwohl es schwierig ist, vereinheitlichend von „den“ Cultural Studies zu sprechen (vgl. Jäckel 1996b, S. 158), und diese Theorie- und Forschungstradition hier nicht ausführlicher erörtert werden soll, kann als ein zentrales Merkmal die Betonung der sozialstrukturellen Ebene der Medienrezeption genannt werden. Was Bourdieu für soziale Interaktionen postuliert, dass sie nämlich als Aufeinandertreffen zweier „Geschichten“ (vgl. ders. 1993a, S. 18) zu betrachten seien, formuliert auch John Fiske für die Interaktion von Rezipierenden und Medientext: „The reader produces meanings that derive from the intersection of his/her social history with the social forces structured into the text. The moment of reading is when the discourses of the reader meet the discourses of the text.“ (Fiske 1987, S. 82 f.)

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Daraus resultiert für einen Text je nach sozialer Verortung des „Lesers“ eine Pluralität von Sinnbildungen, die im Anschluss an Barthes als „Polysemie“ bezeichnet wird. Fiske betont aber, dass mit der sozialen Verankerung der Bedeutungsbildung kein Strukturdeterminismus verbunden ist. „Meanings are determined socially: that is, they are constructed out of the conjuncture of the text with the socially situated reader. This does not mean that a reader´s social position mechanistically produces meanings for him or her in a way that would parallel the authoritarian way that texts used to be thought to work.“ (Fiske 1987, S. 80 f.)

Der Begriff „determine“ beziehe sich nicht auf eine mechanistische 1:1Entsprechung von Ursache und Wirkung. Vielmehr sei damit die Vorstellung von Limitierung oder Begrenzung verbunden. Die Annahme sei lächerlich, dass alle Angehörigen der Arbeiterklasse („working class“) oder alle Frauen zu je identischen Sinnkonstruktionen gelangen würden, die unmittelbar von ihrer sozialen Situation bestimmt würden. Ebenso lächerlich sei jedoch die Vorstellung, dass es keine arbeiterspezifischen Erlebnisformen („working-class experience“) oder genuin weibliche Lesarten („feminine reading“) gebe. Die Grenzen der arbeiterspezifischen oder spezifisch weiblichen Erlebnisformen ließen viel Raum für je unterschiedliche Ausprägungen der Sinnbildungen, da jede Person einer Vielzahl sozialer Prägungen unterliege (vgl. ebd.). Der einzelne Akteur steht demnach im Einflussbereich unterschiedlicher Bestimmungsfaktoren, die in je unterschiedlicher Weise die Sinnbildungsprozesse bei der Medienrezeption prägen können. Dies erfordert nach Fiske auch eine Berücksichtigung in der Terminologie: „Theories deriving from both structuralism and Marxism require us to replace the notion of the individual with that of the subject.“ (Fiske 1987, S. 48) Die Theorie des Subjekts lehne die Auffassung von der Einheit des Individuums und seiner Erfahrungen ab. Denn während die Theorie des Individuums davon ausgehe, „that our experience and history are unified by our unchanging self into a coherent, unified development through time“ (Fiske 1987, S. 50), lege die Theorie des Subjekts nahe, „that as there are contradictions between the agencies of society, so there will be contradictions in the subject.“ (ebd.) Krotz erläutert die Position Fiskes und führt aus, dass das Subjekt als eine „Art kulturell und gesellschaftlich vermitteltes Individuum“ verstanden werde (Krotz 1992, S. 424). Dadurch werde im Subjektbegriff nicht nur – wie beim Konzept des Individuums – die Differenz zu anderen mitgedacht, sondern auch seine soziale und kulturelle Formung (ebd.). Bis zu diesem Punkt liegen die Gemeinsamkeiten mit der Habitustheorie auf der Hand. Wie Krotz aber weiter darlegt, werde die soziale und kulturelle Formung bei Fiske wesentlich unter dem Aspekt der Gebrochenheit und Widersprüchlichkeit gesehen, da ein Subjekt durch ganz unterschiedliche gesellschaftliche Agentu-

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ren geprägt wird (ebd.) – bzw. in der Diktion Fiskes durch die „contradictions between the agencies of society“ (s.o.). Für die Rezeptionsforschung bedeute dies, so Krotz, dass die Rezipierenden nicht mehr als Einheiten betrachtet würden, sondern „in ganz unterschiedliche subjektive ‚Komponenten’ aufgelöst“ (ebd.) würden, die jeweils durch einen Medientext angesprochen werden könnten. Je nach ‚subjektivem Splitter’, der bei der Medienrezeption mit einem Text zur Interaktion gelangt, so könnte man diese Position noch zuspitzen, ändert sich der Sinn als das Produkt der Interaktion. Jedes Subjekt ist demnach zu multiplen Lesarten eines Textes fähig. Paradoxerweise kann demgegenüber die Habitus-Theorie, die ja gerade keine individualistische Perspektive einnimmt – Bourdieu bezeichnet das Individuum als „epistemologisches Hindernis“ (ders. 1979, S. 184) –, als ‚Retterin’ der Einheit des Individuums auftreten. Obwohl die Habitus-Theorie einerseits die kollektive Verankerung „individueller“ Erfahrungen und Dispositionen betont und insofern überpersönlichen Strukturen einen großen Einfluss auf das Handeln des Einzelnen zuspricht, widerspricht sie andererseits mit der „Homologiethese“ Vorstellungen von einer Fragmentierung des Akteurs. Denn als „einheitsstiftendes Erzeugungsprinzip aller Formen von Praxis“ (Bourdieu 1987, S. 283) fungiert der Habitus als principium importans ordinem ad actum (Bourdieu 1992a, S. 102), weshalb sich ein einheitlicher modus operandi in allen Praxisformen eines Akteurs niederschlägt. Die Praxisformen weisen deshalb für den Beobachter zweiter Ordnung gerade keine Zersplitterung auf, sondern zeigen eine Regelmäßigkeit, die an die absichtsvolle Einhaltung präskriptiver Regeln oder das zielstrebige Verfolgen einer bewussten Absicht denken lässt – was in der Perspektive Bourdieus natürlich nicht die Ursachen sind. Zwar mögen auf einer oberflächlichen Ebene die Praktiken höchst disparat wirken, dies spricht jedoch nicht gegen eine sinnhafte Verbindung auf latenter Ebene. Der Grund für die vereinheitlichende Wirkung des Habitus liegt bei Bourdieu zum einen darin, dass der Habitus ein Schema des Körpers ist. Dessen Hexis kann kaum als fragmentiert gedacht werden, sondern allenfalls als „unsicher“ – dies wäre aber ebenfalls ein einheitsstiftendes Prinzip. Zum andern liegt der Grund darin, dass für jeden Habitus eine exakt definierbare Position im Sozialen Raum angegeben werden kann. In sich „widersprüchliche“ Positionen sind dabei nicht vorgesehen, da Bourdieu im Wesentlichen nur mit den beiden Dimensionen (Kapitalart und Kapitalvolumen) operiert, durch die sich der soziale Raum konstituiert. Deshalb könnte sich bei Bohnsack ein anderes Bild bieten, da er den Habitus-Begriff vielschichtig konzipiert. Bei ihm lassen sich u.a. bildungs-, generations-, geschlechtsspezifische und migrationsbedingte Erfahrungsräume differenzieren. „In diesem Sinne ist – und dies ist entscheidend – das praktische Bewusstsein oder handlungsleitende Wissen des einzelnen

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immer zugleich durch unterschiedliche Erfahrungsräume, d.h. mehrdimensional strukturiert.“ (Bohnsack/Nohl 1998, S. 262) Doch auch hier resultiert keine Fragmentierung der Akteure, sondern vielmehr eine ‚Amalgamierung’ der unterschiedlichen Erfahrungsräume zu einem in sich konsistenten Habitus. Bohnsack und Nohl sprechen dementsprechend von „Synkretismen“ zwischen den unterschiedlichen Erfahrungsräumen (ebd.) und in einer Anmerkung von einem „mehrdimensionalen Habitus“ (ebd.). Trotz unterschiedlicher und möglicherweiser konfligierender Einflussfaktoren kommt es zur Herausbildung eines Habitus, der als einheitsstiftender modus operandi eine unbeabsichtigte Strukturhomologie aller Praxisformen hervorbringt. Ordnet man die Ansätze der Cultural Studies etwas vergröbernd strukturalistischen Traditionen zu, dann lässt sich ein anderes Merkmal einer habitusorientierten Rezeptionsforschung stärker konturieren: Die stärkere Berücksichtigung der Primärerfahrung der sozialen Akteure, die im Gegensatz zu strukturalistischen Ansätzen nicht zu einer „Beurlaubung“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 28) der Akteure führt. Als „wichtigste Absicht“ seiner Arbeit (Bourdieu 1992b, S. 137) bezeichnet Bourdieu die Überwindung des Gegensatzes von Objektivismus und Subjektivismus, den er für einen der „unheilvollsten“ der Sozialwissenschaften (ebd.) hält. Mit seiner Habitus-Theorie entwirft er ein Verhältnis der beiden Momente, das er als „dialektisch“ bezeichnet, „so dass etwa das subjektivistische Moment, isoliert genommen, den interaktionistischen oder ethnomethodologischen Analysen zwar nahezustehen scheint, tatsächlich aber durch eine radikale Differenz geschieden ist: Die Gesichtspunkte werden als solche erfasst und auf die Position innerhalb der Struktur der entsprechenden Akteure bezogen.“ (ebd. S. 137 f.) Umgekehrt wird das objektivistische Moment, das eine Affinität zu strukturalistischen Theorietraditionen aufweist, um die „subjektiven Vorstellungen der Akteure“ (ebd.) erweitert. Operiert man mit dem Habitus-Begriff, so wahrt man die Einheit des Akteurs ohne dabei in einen emphatischen Subjektbegriff zu verfallen, der blind ist für die strukturelle Seinsgebundenheit des Wissens. Der doppelte Charakter des habitusspezifischen Wissens Der rezeptionsbezogene Gehalt der Habitus-Theorie lässt sich differenzierter betrachten, wenn man eine von Reckwitz vorgeschlagene Unterscheidung zugrunde legt. Er rechnet den Habitus-Ansatz zu den Modellen kollektiven und impliziten Wissens (Reckwitz 1997, S. 131 f.). Auf die hohen wissenssoziologischen Anteile in Bourdieus Habitus-Theorie hat auch Meuser (1999, S. 127) hingewiesen. Kollektive und implizite Wissensbestände zeichnen sich nach Reckwitz durch einen „doppelten Charakter“ aus (ebd.): „Wissen wirkt glei-

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

chermaßen ‚generativ’ im Sinne eines handlungsproduzierenden knowing how und ‚interpretativ’ im Sinne eines symbolischen Horizontes.“ (ebd.) Im Anschluss an Clifford Geertz bezeichnet er den handlungsproduzierenden Aspekt als model for (acting), den Aspekt des Interpretationshorizonts als model of (the world). Geertz bezieht diese Unterscheidung auf religiöse Sinnsysteme, also ebenfalls kollektive Wissensbestände mit zumindest teilweise implizitem Charakter, und führte aus, dass Religionen die Fähigkeit haben, „to serve, for an individual or for a group, as a source of general, yet distinctive, conceptions of the world, the self, and the relations between them, on the one hand – its model of aspect – and of rooted, no less distinctive ‘mental’ dispositions – its model for aspect – on the other.“ (Geertz 1993, S. 123) Entlang dieser Differenz sollen nun die rezeptionsrelevanten Aspekte des Habitus diskutiert werden. Dabei soll aber gleich mit Reckwitz darauf hingewiesen werden, dass die Trennung von „model of“ und „model for“ eine rein analytische Trennung darstellt: „Der weltinterpretierende und der handlungsgenerierende Aspekt von kollektiven, impliziten Wissensbeständen sind nun untrennbar miteinander verbunden. Genauso wie Handlungskompetenzen und -dispositionen nicht ohne Sinnmuster auskommen, haben Deutungsschemata – solange sie sozial relevant sind – unweigerlich einen dispositionalen, handlungsanleitenden Charakter.“ (Reckwitz 1997, S. 133; vgl. auch Geertz 1993, S. 124).

Sowohl model of als auch model for dienen zur Konzeptualisierung des phänomenologischen Aspekts der habitusspezifischen Rezeptionsweisen. Mit ihrer Hilfe lassen sich die subjektiven Akte des Erlebens und Verstehens beschreiben. Der sozialstrukturelle Aspekt lässt sich im Vergleich mehrerer subjektiver Sinnbildungen erarbeiten, die dann auf ihre Existenzbedingungen zurückzuführen sind – entweder in soziogenetischer Perspektive auf ihre konjunktiven Erfahrungshintergründe oder in kausalgenetischer Perspektive auf ihre Kapitalkonfiguration. 1.3.3.1 Der Habitus als Erwartungshorizont (model of the world) Zur Erläuterung seines Konzepts des model of verwendet Reckwitz den Begriff des „symbolischen Horizonts“ (s.o.). Der Begriff des Horizonts spielt in Phänomenologie (vgl. Husserl 1985, S. 26 ff.) und daran anschließend in der neueren Hermeneutik (vgl. Gadamer 1975, S. 232 ff.) eine zentrale Rolle, da „er als geschichtliche Begrenzung und zugleich als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung alle Bildung von Sinn im menschlichen Handeln und primären Weltverstehen konstituiert.“ (Jauß 1991, S. 657) Aus dieser ‚Doppelnatur’ des Horizonts – einerseits Erfahrung überhaupt erst zu ermöglichen, sie aber andererseits

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auch zu begrenzen – ergibt sich die Partikularität und Standortgebundenheit von Erfahrung: Da Erfahrung immer auf einen Horizont bezogen ist, dieser aber nie unendlich sein kann, ist Erfahrung immer begrenzt und auf den Standort bezogen, dessen Blickfeld durch den jeweiligen Horizont „definiert“ wird. Den Aspekt der Ermöglichung von Erfahrung führt Buck im Anschluss an Husserl aus: „Jeder Erfahrungszuwachs (...) geht vor sich innerhalb eines die Einzelerfahrung umfassenden, der aktuellen Wahrnehmung (...) vorausgehenden Erfahrungshorizontes, der dem einzelnen seine Stelle in einem größeren Zusammenhang zuweist, es überhaupt erst als etwas Verständliches bestimmt. Horizontalität der Erfahrung meint: alles, was wir als Neues zur Kenntnis nehmen, ist Neues innerhalb einer vorgängigen Vertrautheit, auf Grund deren uns das bisher Unbekannte immer auch schon bekannt gewesen ist. Das Neue ist Neues im Umkreis einer gewissen Bekanntheit. Es ist relativ Neues; das absolut Neue (...) wäre das absolut Unerfahrbare, weil absolut Unverständliche.“ (Buck 1981, S. 50)

Jeder Erfahrungsgegenstand ist daher relational durch den Horizont der Erfahrung bestimmt – und zwar nicht nur hinsichtlich seiner Neuheit oder Vertrautheit, sondern auch in Bezug auf alle übrigen Qualitäten. „Die Eigenschaft Rot ist keine in sich geschlossene Eigenschaft, in die ich mich einfach versenken kann, um zu erfahren, was sie ist: Ich kann kein Rot wahrnehmen oder auch nur phantasieren, ohne es gleichzeitig von einem andersfarbigen Hintergrund oder Horizont abzuheben.“ (Holenstein 1976, S. 181) Auch evaluative Urteile sind auf einen Horizont von Werten bezogen, vor dessen Hintergrund eine Einzelerfahrung als gut oder schlecht, schön oder häßlich beurteilt werden kann. M.a.W.: Je nach Horizont kommen ein und demselben „Ding“ ganz unterschiedliche Eigenschaften zu – genauer: Der Horizont trägt überhaupt erst zur Konstitution des Dinges bei, das horizontunabhängig nicht erfahrbar ist. Wird das Ding als Zeichen betrachtet, dann ist es der Sinn, der sich mit dem Horizont verändert (vgl. Gadamer 1975, S. 352). Rezeptionstheoretische Überlegungen können daher an die geisteswissenschaftliche Hermeneutik sowie an die literaturwissenschaftliche Rezeptionsästhetik anschließen (vgl. 1.1.2.1) – hier arbeitet H.R. Jauß mit dem von Karl Mannheim entlehnten Begriff des „Erwartungshorizonts“ (Mannheim 1958, S. 212), um literarische Verstehensprozesse in einer konkreten, historisch definierbaren alltäglichen Lebenspraxis zu verorten59 (Jauß 1970, S. 199; 1991, S. 751; Warning 1975, S. 24).

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Strittig ist dabei die Frage, vor welchem Horizont ein Text zu interpretieren sei – dem Horizont seiner Entstehungszeit, um die Intentionen seines Urhebers zu rekonstruieren, oder vor dem je aktuellen Horizont seiner historisch unterschiedlichen Leserschaft (vgl. Gadamer 1975, S. 286). Ohne hier zu erörtern, ob ein „historisches Verstehen“, d.h. ein Verstehen eines Textes vor seinem Entstehungshorizont überhaupt möglich ist (vgl. dazu Gadamer 1975, S. 356), kann für eine sozialwissenschaftliche Rezeptionsforschung der Grundsatz aufgestellt werden: quidquid recipitur, recipitur ad modum recipientis (zit. nach Jauß 1991, S. 739).

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„Unser Erwartungshorizont rechnet mit Ereignissen, die sich aus der Konstanz unserer gesellschaftlichen Erfahrungen ergeben (...). (...) Wir sind auf Tatsachen und Zusammenhänge bestimmter Art und bestimmter Größenordnung gefasst, die wir als ‚normal’ und wichtig empfinden. Die Tatsachen mögen dabei im Einzelnen variieren. Im Ganzen aber bleiben der Rahmen und das Koordinatensystem, in das sie sich einfügen lassen, mehr oder weniger konstant“ (Mannheim 1958, S. 212).

Da der Erwartungshorizont definiert, was als „normal“ angesehen wird, kann er auch als „Normalitätshorizont“ bezeichnet werden. Als solcher tritt er jedoch nicht ins Bewusstsein. Eine Reflexion über den Horizont macht deutlich, „was alles schon im Spiele ist bei der Erfahrung eines Gegenstandes, dieser anscheinenden Letztheit und Ursprünglichkeit eines primitiven Erfassens.“ (Husserl 1985, S. 33) Die Erfahrung des Horizonts selbst ist in der Terminologie Husserls „vorprädikativ“ (ebd.), d.h. in der alltagsweltlichen Anwendung reflexiv nicht zugänglich, da er als unartikulierter Hintergrund von Erfahrung in der Latenz verbleibt.60 An dieses phänomenologische Verständnis des präreflexiv bleibenden Horizonts schließt Bourdieu mit seinem Habitus-Begriff an und stellt fest: „Gegenstand der Erkenntnisweise, die man als phänomenologische bezeichnen kann, ist es, eine Erfahrung zu reflektieren, die definitionsgemäß nicht reflektiert wird, nämlich das erste Vertrautwerden mit der vertrauten Umwelt“ (Bourdieu 1993, S. 50). Der Habitus lässt sich daher in Übereinstimmung mit der phänomenologischen Tradition als ein der Reflexion entzogener Horizont denken, der den unreflektierten Umgang mit der vertrauten Umwelt ermöglicht. Wie aber Chartier unter Bezug auf Bourdieu deutlich macht, lässt sich das Habitus-Konzept nicht nahtlos in die phänomenologische Tradition einordnen, da der Habitus durch eine „doppelte Geschichtlichkeit“ geprägt ist. „Will man die Aneignungsweisen textueller Konfigurationen in ihrer Historizität erfassen, so muss man die Vorstellung eines universalen, abstrakten Subjekts, mit dem die Phänomenologie und – allem Anschein zuwider – die Rezeptionsästhetik arbeiten, fallen lassen.“ (Chartier 1992, S. 19)61 Die praxeologische Erkenntnis muss 60

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Dass aber auch wissenschaftliche Erkenntnis in einen Horizont unartikulierter Vorannahmen eingebunden ist, vor deren Hintergrund Einzelerfahrungen verstanden werden, hat T.S. Kuhn mit seinem Begriff des „Paradigmas“ deutlich gemacht (Kuhn 1976, S. 57 ff.; vgl. dazu auch Bohnsack 1999, S. 192 ff.; Bourdieu/Wacquant 1996, S. 256). In der fehlenden Berücksichtigung des gesellschaftlichen und historischen Ortes sieht Bourdieu auch den Hauptmangel phänomenologischer Analyse, da die von der Phänomenologie untersuchte Erfahrung „nicht universell für jedes wahrnehmende und handelnde Subjekt gültig ist“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 104). Dies ist es auch, was Bourdieu der Phänomenologie und ihren Adepten in den Sozialwissenschaften – insbesondere der Ethnomethodologie und der phänomenologischen Soziologie nach Alfred Schütz vorwirft: „Es genügt nicht, die ‚erlebte Erfahrung’ des wissenden Subjekts zu explizieren; man muss die sozialen Bedingungen dieser Erfahrungsmöglichkeit und, genauer gesagt, des Aktes der Objektivierung objektivieren.“ (Bourdieu 1993b, S. 365) Diese Kritik Bourdieus an phänomenologisch orientierten Ansätzen bedeutet aber nicht, dass phänomenologische Begrifflichkeiten mit der Habitus-Theorie unver-

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daher an dieser Stelle einen „epistemologischen Bruch“ (Bourdieu 1987, S. 15) mit der Primärerfahrungen vollziehen und nach deren gesellschaftlichen Bedingungen fragen. Dabei hält Bourdieu den phänomenologischen Ansatz, „einen account der accounts erstellen zu wollen“ für „legitim“ (ders. 1979, S. 150) und betont, dass der praxeologische Ansatz die „erworbene(n) Kenntnisse (...) >der Phänomenologie@ in sich aufnimmt“ (ebd. S. 149) und so deren „Errungenschaften“ bewahrt (Bourdieu 1993, S. 49). Eine Verknüpfung des Horizontsbegriffs mit dem Habituskonzept hat daher zunächst die Pluralität der (Erwartungs-) Horizonte in ihrer soziostrukturellen Verankerung zu berücksichtigen, kann sich sodann aber auch auf Anknüpfungspunkte innerhalb der Habitus-Theorie stützen und den Habitus mit Bourdieu als (Erwartungs-) Horizont bestimmen. So findet sich in der Habitus-Theorie Bourdieus die für den Horizont charakteristische Doppelstruktur von Erfahrungsbegrenzung und Erfahrungsermöglichung. Die Dispositionen des Habitus ermöglichen Erkenntnis, machen aber „in einem damit die Grenzen der Erkenntnis, die sie ermöglichen, unkenntlich“ und bringen „derart über den Modus der Doxa das unmittelbare Verwachsensein mit der als ‚natürlich’ erlebten und als selbstverständlich vorgegebenen Welt der Überlieferung zur Wirkung“ (Bourdieu 1979, S. 325) Dass die Grenzen der Erkenntnis aber durch den Habitus nicht nur verschleiert werden, sondern den Habitus im Sinne eines Horizonts überhaupt erst konstituieren, wird an einer besonders anschaulichen Habitus-Definition deutlich: „Der Begriff Habitus bezeichnet im Grunde eine recht simple Sache: wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person versperrt ist. Wer z.B. über einen kleinbürgerlichen Habitus verfügt, der hat eben auch, wie Marx einmal sagt: Grenzen seines Hirns, die er nicht überschreiten kann. Deshalb sind für ihn bestimmte Dinge einfach undenkbar, unmöglich, gibt es Sachen, die ihn aufbringen oder schockieren. Aber innerhalb dieser seiner Grenzen ist er durchaus erfinderisch, sind seine Reaktionen keineswegs immer voraussehbar.“ (Bourdieu 1993a, S. 33 f.)

Den Aspekt der Begrenzung, der auch in der Etymologie des Wortes „Horizont“ steckt (gr.: „horizein“ = abgrenzen) formuliert Bourdieu auch ganz prägnant: „Der Habitus ist ein System von Grenzen“ (Bourdieu 1997b, S. 33). Die Dialektik von Begrenzung und Ermöglichung von Erfahrung, die auch für den Begriff des Horizonts kennzeichnend ist, macht Bourdieu auch unter Bezug auf die

einbar wären. Denn Bourdieu lehnt die phänomenologische Tradition nicht als „falsch“ oder „verfehlt“ ab, sondern hält sie lediglich für unvollständig: „Wenn es ferner sinnvoll sein soll, daran zu erinnern – wie bereits von Husserl und Schütz aufgezeigt –, dass die Primärerfahrung des Gesellschaftlichen ein Verhältnis unmittelbaren Glaubens darstellt, das uns dazu veranlasst, die Welt zu akzeptieren, wie sie ist, dann muss man über die bloße Beschreibung hinausgehen und die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit dieser doxischen Erfahrung stellen.“ (Bourdieu 1993b, S. 367)

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sozialen und historischen Bedingungen der Entstehung des Habitus deutlich. Denn mit dem Habitus können „alle Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen, und nur diese, frei hervorgebracht werden, die innerhalb der Grenzen der besonderen Bedingungen seiner eigenen Hervorbringung liegen. Über den Habitus regiert die Struktur, die ihn erzeugt hat, die Praxis, und zwar nicht in den Gleisen eines mechanischen Determinismus, sondern über die Einschränkungen und Grenzen, die seinen Erfindungen von vornherein gesetzt sind.“ (Bourdieu 1993, S. 102)

Der Habitus ist daher „eine unbegrenzte Fähigkeit (...), in völliger (kontrollierter) Freiheit Hervorbringungen – Gedanken, Wahrnehmungen, Äußerungen, Handlungen – zu erzeugen, die stets in den historischen und sozialen Grenzen seiner eigenen Erzeugung liegen“ (ebd. S. 103). So erzeugt der Habitus auch die Doxa, d.h. er übersetzt die historische Sozialwelt in eine scheinbar natürliche, urwüchsige Lebenswelt und verschleiert zugleich diesen Übersetzungsvorgang. In der Erfahrung der Doxa „erscheint die natürliche und soziale Welt schließlich als selbstverständlich vorgegebene“ (Bourdieu 1979, S. 325). Die doxische Erfahrung der sozialen Welt kann auch als „Weltbild“ (Bourdieu 1981, S. 171) bezeichnet werden, mit dem ein spezifischer „Erfahrungshorizont“ (ebd.) verbunden ist, der als „amor fati“ (ebd.) das zu „lieben“ vorgibt, was ohnedies unausweichliches Schicksal ist (Bourdieu 1987, S. 378). Die Doxa bildet somit jene Facette des Habitus, die als model of the world den unartikulierten Horizont für jeden Rezeptionsprozess bietet (vgl. Bourdieu 1999, S. 482). Je nach mit dem Habitus verbundenem doxischen Erwartungshorizont präsentieren sich die Einzelerfahrungen unterschiedlich bzw. richtiger: werden sie in anderer Weise konstruiert. „Man kann wirklich behaupten, dass zwei Personen mit unterschiedlichem Habitus, die also nicht der gleichen Situation und nicht den gleichen Stimuli ausgesetzt sind, da sie sie anders konstruieren, nicht dieselbe Musik hören und nicht dasselbe Gemälde sehen und folglich nicht dasselbe Werturteil fällen können.“ (Bourdieu 1993c, S. 29) Als Quelle für polyseme Rezeptionsweisen lassen sich daher habitusspezifisch ausdifferenzierte (Erwartungs-) Horizonte betrachten, vor deren Hintergrund Medientexte überhaupt erst verstanden werden.62

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Als unartikulierter Horizont bzw. Hintergrund, vor dem Verstehen überhaupt erst möglich wird, haben auch Charles Taylor (1993) und John R. Searle (1997) Bourdieus Habitusbegriff interpretiert.

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1.3.3.2 Der Habitus als System von Schemata (model for acting) Die Unterscheidung von model of und model for kann (in leichter Abweichung von Reckwitz´ Verwendung der Begriffe) als Unterschied der ‚Anwendungsreichweite’ (vgl. dazu Reckwitz 1997, S. 134) gedacht werden: Während das model of the world als grundlegender Welthorizont verstanden wird, der nahezu alle Lebensbereiche rahmt und sie dadurch einer Sinndeutung zugänglich macht, kann die Anwendungsreichweite des model for als eher begrenzt angesehen werden. Das model of bildet den allgemeinen Hintergrund des Verstehens – im Sinne eines Weltbildes oder einer Weltanschauung, das model for dagegen bezieht sich auf konkrete, gegenstandsbezogene Anwendungsfälle. Dieser handlungspraktische Aspekt des Habitus (model for) kann m.E. mit Hilfe des Schema-Begriffs expliziert werden. Der Begriff des Schemas findet sich auch in den meisten Habitus-Definitionen Bourdieus. So bezeichnet er den Habitus als „System der organischen oder mentalen Dispositionen und der unbewussten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata“ (ders. 1974. S. 40), an anderer Stelle als „System von Wahrnehmungs- und Urteilsschemata, als kognitive und evaluative Strukturen (...). Der Habitus ist gleichzeitig ein System von Schemata der Produktion von Praktiken und ein System von Schemata der Wahrnehmung und Bewertung der Praktiken.“ (Bourdieu 1992b, S. 144). Die Trennung in model of und model for erfolgt aus rein analytischen Gründen, als Facetten des Habitus sind sie fest miteinander verzahnt: Die Schemata des model for erlangen ihre Prägung nur vor dem Hintergrund des model of und das model of setzt sich aus der Vielzahl der models for zusammen. Das model of übersteigt sie jedoch auch bzw. ist nicht rein additiv lediglich als Summe der models for zu verstehen, da es als Weltanschauung per definitionem nicht in einzelne Handlungsprobleme auflösbar ist. Bourdieu spricht daher vom Habitus auch als System der unbewussten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata (s.o.). Denn die Gemeinsamkeit der Existenzbedingungen und der Weltanschauung versieht die Akteure „nicht so sehr mit einzelnen und vereinzelten Denkschemata, sondern eher mit einer allgemeinen Disposition, die als Nährboden solcher, in den verschiedenen Bereichen des Denkens und Handelns applikabler Schemata ein kultivierter Habitus genannt werden kann.“ (Bourdieu 1974, S. 123) Als Aspekte des Habitus sind die praktischen Schemata des model for acting genauso wie der übergreifende Horizont des model of the world weitgehend dem reflexiven Zugriff entzogen63 und in der Handlungspraxis verwurzelt, die nicht universal

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Zur Präreflexivität von Weltanschauungen vgl. Bohnsack/Nohl (dies. 1998, S. 262), die sich auf Dilthey und Mannheim beziehen. Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Wittgenstein (z.B. 1989, §§ 94/95; vgl. auch hier Kap. 1.4).

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im Sinne einer anthropologischen Konstante zu denken ist, sondern sozial und historisch differenziert. Ohne hier auch nur ansatzweise einen Überblick über die Schematheorie geben zu können, sei kurz auf zwei ihrer ‚Gründerväter’ eingegangen – Frederic Bartlett und Jean Piaget –, um einen für Bourdieu wesentlichen Aspekt des Schemas zu konturieren und ihn in seinen Konsequenzen für den Problembereich der Rezeptionsforschung zu diskutieren. Die meisten aktuellen Schematheorien in den Sozialwissenschaften sind wesentlich durch Bartlett beeinflusst (vgl. Waldmann 1990, S. 4). Bartlett definiert „Schema“ in seiner experimentalund sozialpsychologischen Studie „Remembering“ von 1932 als „active organisation of past reactions, or of past experiences, which must always be supposed to be operating in any well-adapted organic response.“ (Bartlett 1932, S. 201) Bereits hier zeigen sich auffallende Parallelen zu einer von Bourdieus HabitusDefinitionen, der zufolge der Habitus „die aktive Präsenz früherer Erfahrungen >gewährleistet@, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen“ (Bourdieu 1993, S. 101). In seinen experimentellen Untersuchungen legte Bartlett den Versuchspersonen fremdartige Erzählungen vor und bat sie nach einiger Zeit um ein Gedächtnisprotokoll dieser Erzählungen. Dabei fand er zahlreiche Belege für die Wirksamkeit von Schemata. Denn die Versuchspersonen gaben die Erzählungen nicht einfach wieder, sondern gestalteten sie in ihrer Erinnerung um. Dabei passten sie die Erzählungen in vielfältiger Weise ihren etablierten Wissensbeständen an: Details wurden ausgelassen, andere elaboriert und fremdartige Elemente der Erzählungen wurden mit dem Weltbild der Versuchspersonen versöhnt (vgl. Waldmann 1990, S. 5). Bartlett zieht daraus den Schluss, dass Erinnerung nach Maßgabe ganzheitlicher, erworbener und veränderbarer Schemata aktiv organisiert wird (Bartlett 1932, S. 200), weshalb er sie als „active, developing patterns“ bezeichnet (ebd. S. 201). Diese Schemata operieren weitgehend unbewusst (ebd. S. 200) und strukturieren nicht nur die Erinnerung, sondern auch die Wahrnehmung (ebd. S. 20 ff.). Dabei passt das wahrnehmende Subjekt die visuellen Muster an ein Schema an, das es aus einer größeren Anzahl ‚präformierter’ Schemata auswählt. „But though it is active it is not conscious, for the observer is not aware of a search and a subsequent match. I shall call this fundamental process of connecting a given pattern with some setting or scheme: effort after meaning.“ (ebd. S. 20) Da das wahrnehmende Subjekt durch seine verfügbaren Schemata die Bedeutung aktiv miterzeugt, kommt es bei mehreren Subjekten selbst bei einfachem Wahrnehmungsmaterial zu einer „great variety“ von Bedeutungszuweisungen (ebd.).64 64

Mary Douglas weist darauf hin, dass Bartlett davon überzeugt war, dass Schemata kollektiven Charakter haben. Nur unter dem Druck des „kollektiven Unterbewussten“ seiner wissenschaft-

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Piaget geht ebenfalls von aktiven, da schemavermittelten Wahrnehmungsprozessen aus. Auch bei ihm werden die Schemata nicht als „reine Formen der Anschauung“ konzeptualisiert, die angeboren wären und universalen Charakter hätten. Vielmehr entwickeln sie sich im Laufe der Ontogenese in der handelnden Auseinandersetzung des Akteurs mit seiner Umwelt. Auch die Applikation der Schemata erfolgt als handelnde Bezugnahme. „Erkennen besteht nicht im Abbilden der Realität, sondern darin, auf diese einzuwirken und sie (scheinbar oder wirklich) so umzuwandeln, dass man sie in Funktion der Transformationssysteme versteht, an welche die einwirkenden Verhaltensakte gebunden sind.“ (Piaget 1967, S. 6) Die Grundstruktur eines Schemas besteht aus der Verbindung von Handlung und Handlungserwartung. Zur Herausbildung von Schemata kommt es, wenn in einer wahrgenommenen Situation eine bestimmte Handlung ausgeführt wird, die zu einem vorteilhaften Resultat führt. Das Wiederauftreten einer ähnlichen Ausgangssituation führt dann zu der Erwartung, dass die spezifische Aktivität wieder zu dem vorteilhaften Ergebnis führt. Nun gibt es aber niemals zwei identische Ausgangssituationen, d.h. auch abweichende Situationen werden auf die bekannte Situation zurückgeführt und mit der Handlungserwartung verknüpft. Ein positives Resultat bestätigt diese Verknüpfung und stabilisiert sie. (vgl. v. Glasersfeld 1996, S. 116 f.). Die Schemabildung kann somit als Generalisierung unterschiedlicher Ausgangssituationen verstanden werden. Einen ähnlichen Gedanken formuliert Bourdieu unter Bezug auf Piaget für die praktischen Schemata des Habitus: Sie erzeugen nach Ansicht Bourdieus das „Äquivalent eines Aktes der Verallgemeinerung“ (Bourdieu 1993, S. 163), indem sie in unterschiedlichen Situationen identische Reaktionen auslösen und dem Körper in verschiedenen Kontexten dieselbe Haltung „aufprägen“ (ebd.). Das Allgemeine komme dabei nicht in der Vorstellung oder im begrifflichen Denken, sondern im Handeln zum Ausdruck, indem es „unter ähnlichen Umständen ähnlich handelt, doch ‚ohne die Ähnlichkeit unabhängig vom Ähnlichen zu denken’, wie Piaget sagt“ (ebd.).65 Die selektive oder generalisierende Sub-

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lichen Disziplin, der Psychologie, habe er sich dem damals herrschenden Mainstream angeschlossen und seine Auffassung nicht weiterverfolgt. „Bartletts Karriere ist selbst Beleg für die These, wonach Psychologen institutionell unfähig sind, im Gedächtnis zu behalten, dass Menschen soziale Wesen sind. Sobald sie es erkannt haben, vergessen sie es auch schon wieder.“ (Douglas 1991, S. 133) Bartletts Kapitel über das kollektive Unbewusste schließt mit dem Resümee: „We therefore conclude that the hypothesis of a collective unconscious is completely lacking in proof, and that it is at present not demonstrable.“ (Bartlett 1932, S. 292) Da diese Verallgemeinerung bei Bourdieu eine Funktion des praktischen Sinns ist, erfolgt sie nach den Erfordernissen der Praxis, d.h. nach dem „Prinzip der stillschweigenden und praktischen Relevanz“ (Bourdieu 1993, S. 163). Dabei „‚wählt’ der praktische Sinn bestimmte Objekte oder Handlungen und folglich bestimmte ihrer Aspekte aus, indem er diejenigen betont, die ihn etwas angehen oder bestimmen, was er in der jeweiligen Situation zu leisten hat, oder indem er verschiedene Situationen oder Objekte als äquivalent behandelt, und unterscheidet so zwischen relevanten Eigenschaften und irrelevanten.“ (ebd.) Auch hier wird eine Quelle von Bedeutungsvielfalt angedeutet, da Situationsdefinitionen nicht nach ‚objektiven’ Kriterien der

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sumtion unterschiedlicher Situationen unter ein Schema nennt Piaget Assimilation. „Der Assimilationsbegriff ist in doppelter Hinsicht wichtig. Einmal impiziert er (...) den Begriff der Bedeutung, was wesentlich ist, da jegliche Erkenntnis sich auf Bedeutung bezieht (...). Zum anderen bringt er die fundamentale Tatsache zum Ausdruck, dass jede Erkenntnis an Verhalten oder Handeln gebunden ist und dass einen Gegenstand oder ein Ereignis erkennen bedeutet, sie sich nutzbar machen, indem man sie an Verhaltensschema assimiliert.“ (Piaget 1967, S. 6)

Nicht immer lässt sich eine Situation an ein erworbenes Schema assimilieren, das Schema kann sich als der Situation unangemessen erweisen, es kommt zu einer Perturbation, z.B. einer Enttäuschung: Das applizierte Schema erweist sich als der Situation inkongruent. Zur Überwindung der Aporie kann nun ein bereits vorhandenes Alternativschema ausgewählt und auf die Situation angewendet werden. Es können aber auch andere Aspekte der Ausgangssituation bestimmt und mit der Handlungserwartung verknüpft werden, d.h. es wird ein neues Schema gebildet bzw. ein bestehendes modifiziert. Der Organismus assimiliert nun nicht mehr die Umwelt an seine Schemata, er passt vielmehr die Schemata an die Umwelt an, er akkommodiert. Assimilation und Akkommodation sind Schlüsselbegriffe in Piagets genetischer Erkenntnistheorie, deren Grundgedanke ist, dass Erkenntnisse „weder allein aus der Erfahrung der Gegenstände, noch aus einer im Subjekt vorgeformten, angeborenen Programmierung hervorgehen, sondern aus aufeinanderfolgenden Konstruktionen mit fortwährender Elaboration neuer Strukturen.“ (Piaget 1976, S. 7). Für den vorliegenden Zusammenhang von Belang sind Piagets Überlegungen zum Wechselspiel von Assimilation und Akkomodation sowie seine praktische und präreflexive Fundierung der Schemabildung. Piaget macht jedoch deutlich, dass die mit der Schemabildung verbundene Generalisierung aus dem rein praktischen Zusammenhang enthoben und zum Gegenstand von Reflexion und sprachlicher Vermittlung werden kann. Diesen Vorgang nennt Piaget „reflexive“ bzw. „reflektierende Abstraktion“ (ders. 1976, S. 41 ff.). Von den handlungspraktischen, präreflexiven Schemata sind demnach „begriffliche“, reflexive Schemata zu unterscheiden.66

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Situation vorgenommen werden, sondern aufgrund von Relevanzsetzungen des erkennenden Subjekts. Als Produkte des praktischen Sinns weisen sie habitusspezifische Unterschiede auf. Dabei sind die beiden Schemata nicht völlig getrennten Sphären zuzuordnen. So macht Piaget deutlich, dass die begrifflichen Schemata aus der Reflexion handlungspraktischer Schemata hervorgehen (s.o.). Bourdieu bemerkt zum einen, dass die mit dem Habitus verbundenen Schemata nicht nach der „Maxime ‚Alles oder Nichts’“ vollständig dem Bereich des Vorbewussten zuzuordnen sind, sondern durchaus „ein Moment partiellen, lückenhaften, diskontinuierlichen Bewusstseins“ aufweisen können (Bourdieu 1979, S. 207). Zum andern weist er daraufhin, dass die institutionalisierten Schemata der ‚Erweckung’ durch den Habitus bedürfen. Der Habitus ermöglicht es, „Institutionen zu bewohnen (habiter), sie sich praktisch anzueignen und sie damit in Funktion, am Leben, in Kraft zu halten, sie ständig dem Zustand des toten

Die Rezipierenden

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Rekonstruiert man den Habitus als modus recipiendi, dann interessieren bei der Untersuchung der habitusspezifischen Schemata – sowohl Reckwitz´ Begriff des model for acting als auch Bourdieus Terminus des modus operandi legen es bereits nahe – die handlungspraktisch fundierten und nicht die reflexivbegrifflichen Schemata. So spricht Bourdieu ausdrücklich von habitusspezifischen Schemata, die das Denken, Wahrnehmen, Bewerten und Klassifizieren strukturieren. Bei dieser strukturierenden Tätigkeit handele es sich jedoch nicht, „wie der intellektualistische und antigenetische Idealismus so gern möchte, um ein System universeller Formen und Kategorien, sondern um die inkorporierten Schemata, die im Verlauf der kollektiven Geschichte ausgebildet und vom Individuum in seiner je eigenen Geschichte erworben, sowohl in praxi wie für die Praxis funktionieren (und nicht zu Zwecken reiner Erkenntnis).“ (Bourdieu 1987, S. 729)

Eine eingehendere Betrachtung verdient die Frage, wie diese handlungsorientierten Schemata des model for acting bei den eher handlungsentlasteten Rezeptionsprozessen medial vermittelter Botschaften, die leicht als rein „intellektualistisch“ aufgefasst werden könnten, zur Anwendung kommen können. Stärker als Bourdieu arbeitet Arnold Gehlen diesen Punkt aus. Auch er geht von der Primordialität des Handelns aus und lehnt einen Dualismus von Leib und Seele ab (ders. 1986, S. 16 f.). Handeln beschreibt Gehlen u.a. als eine „Kreisbewegung“, in der die „Zerlegung des Vorganges in Leibliches und Seelisches (...) nichts beitragen und bei der Beschreibung nur hindern >würde@, genauso, wie jede Reflexion auf diesen Unterschied während des >handelnden; B.M.@ Vollzuges (...) nur stören würde.“ (Gehlen 1986, S. 18) Gehlen erläutert dies an folgendem Beispiel: „Wenn Sie mit einem Schlüssel an einem Schloss herumprobieren, so gibt es eine Folge von sachlichen Veränderungen, die in der Ebene von Schlüssel und Schloss vor sich gehen, wenn es etwa klemmt, und Sie müssen noch etwas hin- und herprobieren. Dabei gibt es eine Serie von Erfolgen oder Misserfolgen in der Sachebene, die Sie aber sehen und hören und fühlen, die also zurückgemeldet werden, die Sie wahrnehmen; und nach dieser Wahrnehmung wieder verändern Sie die Zugriffsrichtung Ihres Handelns, verändern Sie Ihre Probierbewegungen, und schließlich kommt dann doch in der Sachebene der Erfolg, und das Schloss schnappt auf. So geht der Vorgang im Kreise, d.h. man kann einen solchen Vorgang als einen einzigen Kreisprozess beschreiben, der läuft dann über psychische Zwischenglieder, die Wahrnehmungen, und über motorische Zwischenglieder, die Eigenbewegungen, in die Sachebene weiter und zurück.“ (Gehlen 1986, S. 18)

Dieser zirkelhafte Prozess des handelnden Umgangs mit der Umwelt hat nach Gehlen „kommunikativen Charakter“ (Gehlen 1995, S. 165; S. 170), da der Buchstabens, der toten Sprache zu entreißen, den Sinn, der sich in ihnen niedergeschlagen hat, wieder aufleben zu lassen, wobei er ihnen allerdings die Korrekturen und Wandlungen aufzwingt, die Kehrseite und Voraussetzung dieser Reaktivierung. Besser noch, erst durch den Habitus findet die Institution ihre volle Erfüllung“ (Bourdieu 1993, S. 107).

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

Wechsel des „Wahrnehmungsbestandes“ unterschieden werden kann, „der auf unsere Eigenbewegungen antwortet oder der ihnen folgt von demjenigen, auf den unsere Eigenbewegungen antworten, oder der diese zur Folge veranlasst.“ (Gehlen 1995, S. 170) Die Dinge zeigen im Umgang ein Antwortverhalten (vgl. ebd. S. 171), indem sie den Handlungen durch ihren Widerstand und ihr Nachgeben etc. Wahrnehmungserlebnisse vermitteln. Umgekehrt antwortet der Akteur mit Handlungen auf die durch die Dinge vermittelten Wahrnehmungserlebnisse und tritt so mit ihnen in „eine Art sensomotorische Unterhaltung“ (ebd. S. 165). Gehlens Pointe besteht nun darin zu argumentieren, dass „die Sehdinge schon im bloßen Hinblick die ‚Umgangsqualitäten’ zeigen, die sie beweisen würden, wenn wir mit ihnen hantieren“ (ebd. S. 170; Herv. B.M.) – dann nämlich, wenn der Akteur „einen Schatz stummer Erfahrungen über erreichbare und unerreichbare Veränderungen, über die Dosierung des Krafteinsatzes“ (ebd.) gesammelt hat, „wenn also mühsam und unter Einsatz der ganzen Person Erfahrungen gemacht sind“ (ebd. S. 177). Denn „hinter dem Rücken des Bewusstseins“ kommt es zu einem zweiten Schritt des Erfahrungsaufbaus: „es haben sich höhere, symbolische, d.h. einfach: abgekürzte und damit entlastete Formen der Wahrnehmung und überhaupt des vitalen Könnens herausgebildet, die ganz weite und schwer errungene Erfahrungsketten entlasten, indem sie sie sozusagen kurzschließen. So sehen wir die Schwere, Härte, Weichheit, Nässe oder Trockenheit der Dinge, also ihre ‚Umgangswerte’, ohne zur Feststellung dieser doch ursprünglichen Tasteindrücke die Hand ausstrecken oder sonst unsere motorischen Organe einsetzen zu müssen; wir sehen schließlich ‚symbolisch’“ (Gehlen 1986, S. 35; Herv. i. Orig.).

In der optischen Wahrnehmung sind „die wahrgenommenen Dinge (...) mit Bewegungsniederschlägen und -andeutungen sichtbar geladen“ (Gehlen 1995, S. 173 f.). Schon in der Wahrnehmung enthalten sie neben den Andeutungen ihrer Umgangswerte bzw. -qualitäten „auch Suggestionen der zweckmäßigen und fruchtbaren Hantierungsansätze an ihnen und stehen so in vorhandener oder mangelnder Übereinstimmung mit den Erwartungen unserer Umgangsphantasie, welche Änderungen an ihnen sich als Folge bestimmter Änderungen unseres Verhaltens ergeben würde.“ (ebd.) Ein quaderähnlicher Gegenstand bspw. „‚bedeutet’ ein Buch, weil es sich bei weiterem Umgang in eine Serie von Gewohnheiten hineinziehen lässt, nämlich zu blättern und zu lesen.“ (ebd. S. 171) Als „Grundthese“ (ebd. S. 165) hält Gehlen daher fest, dass menschliche Erfahrung kommunikativen Charakter hat: „In erster Annäherung verstehen wir darunter dies, dass die sinnliche Erfahrung der Außenweltdinge aus einem praktischen Umgang mit ihnen herauswächst, der (...) nur als eine Art sensomotorischer ‚Unterhaltung’ mit den Dingen verstanden werden kann, deren Niederschlag (...) ihre symbolgesättigte Objektivität ist, wie man sie an jedem beliebigen Sehding als Resultat vor sich hat.“ (ebd. S. 165 f.)

Die Rezipierenden

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Nicht die Dinge selbst „‚haben’“ wir, „sondern nur als assimilierte und angeeignete eingeschmolzen in die Vielfalt unserer Tätigkeiten“ (ebd. S. 176). Aber gerade dadurch werden sie „für uns zu dem, was sie selbst sind“ (ebd.), indem sie nämlich „andeuten, was an möglichen Umgangsformen und entwickelbaren Eigenschaften in ihnen steckt.“ (ebd.) Mit Piaget lässt sich daran anschließen und folgern: „Wenn man sagt, jede Erkenntnis bestehe im Verleihen von Bedeutungen und setze eine Assimilation voraus, so behauptet man damit letzten Endes, dass das Erkennen eines Gegenstandes seine Inkorporierung in Verhaltensschemata bedeutet. Das gilt von den elementaren sensomotorischen Verhaltensweisen an bis hinauf zu den höheren logisch-mathematischen Operationen.“ (Piaget 1967, S. 8).

Auch die „Erkenntnis“ bzw. Rezeption von Bildern kann demnach als praktischer Umgang konzeptualisiert werden. Die Interaktion von Bild und Rezipierenden ist dann – im Sinne des „zweiten Erfahrungsschritts“ nach Gehlen – als symbolische „sensomotoriosche Unterhaltung“ aufzufassen. Dabei kann das Bild „Umgangsqualitäten“ sowohl im referentiellen Rezeptionsmodus zeigen, wenn nämlich die Umgangsqualitäten der abgebildeten Dinge in „Unterhaltung“ mit den Rezipierenden treten, als auch im rhetorischen Rezeptionsmodus, in dem das Bild seine Umgangsqualitäten als „Bildding“, d.h. als hergestelltes Zeichen offenbart und bspw. zum (präreflexiven) ‚Spiel’ mit Bedeutungen einlädt (vgl. 1.2.1.1). Nicht lediglich für Bilder, sondern für „Kunstwerke“ – also für Produkte, die gemeinhin in besondere Weise ein rein geistiges Erfassen zu erfordern scheinen – postuliert auch Bourdieu, dass in das „unmittelbar gegebene“ (und wie er in Klammern anfügt: „wahre“) Verständnis „praktische Schemata“ einfließen, die „als solche“ das Bewusstsein des Verstehenden „niemals streifen“ (Bourdieu 1999, S. 492). Eine Theorie von der Wahrnehmung des Kunstwerks müsse daher auch eine „Theorie der ursprünglichen Wahrnehmung als einer theorie- und begriffslosen Praxis“ aufnehmen (ebd.). 1.3.4 Fazit Nimmt man Bourdieu beim Wort, wonach der Habitus das „Erzeugungsprinzip aller Formen von Praxis“ ist (Bourdieu 1987, S. 283; Herv. B.M.), dann ist es kein großer Schritt, auch die Praxis der Bildrezeption in Habitus-Begriffen zu denken. Auch in den vielfältigen Definitionen des Habitus, die Bourdieu gibt, finden sich Anhaltspunkte, die für eine Anwendung des Habitus-Konzepts auf rezeptionsbezogene Fragestellungen sprechen. Sie verweisen auf das phänomenologische Erbe, das Bourdieu in die Habitustheorie aufnehmen und um sozialstrukturelle Aspekte erweitern möchte. So betont er die Notwendigkeit, das

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

subjektive Erleben der Akteure mit einzubeziehen, in dem die Gegenstände der Wahrnehmung überhaupt erst konstruiert werden. Dem mit dem Habitus der Akteure verbundenen Wissen ist ein „im eigentlichen Sinn konstituierendes Vermögen zuzuschreiben, das ihm gerade abspricht, wer im Namen einer objektivistischen Auffassung von Objektivität Alltagserkennen oder wissenschaftliche Erkenntnis zu einer bloßen Widerspiegelung des Wirklichen verkürzt.“ (Bourdieu 1987, S. 728)

Erkenntnis darf daher nicht „auf einen passiven Aufnahmevorgang, einen Widerspiegelungsakt“ reduziert werden (ebd.). Dagegen hält Bourdieu fest, „dass jede und zumal jede Erkenntnis von sozialer Welt einen spezifische Denk- und Ausdrucksschemata ins Werk setzenden Konstruktionsakt darstellt und dass zwischen sozialer Lage und Praxisformen oder Vorstellungen sich die strukturierende Tätigkeit von Akteuren schiebt, diese also keineswegs nur reflexhaft auf Stimuli reagieren, vielmehr auf Appelle wie Drohungen einer Welt antworten, deren Sinn sie selbst mit geschaffen haben.“ (ebd. S. 729)

Als Konstrukteure ihrer Wirklichkeit sind die Rezipierenden in der Perspektive der Habitus-Theorie aber auch nicht ‚Marionetten’ determinierender, möglicherweise gar widersprüchlicher Strukturen zu betrachten, die sich im „Subjekt“ (sensu Fiske) kreuzen. Im Rahmen ihres einheitsstiftenden Habitus sind sie vielmehr erfinderisch und vermögen im Rezeptionsprozess zwar typische und homologe, aber doch unvorhersehbare Lesarten hervorzubringen. Der Habitus erlaubt somit eine dialektische Überwindung subjektivistischer und objektivistischer Ansätze der Rezeptionsforschung. Damit lässt er sich von zwei etablierten Paradigmen abgrenzen: Vom Nutzenansatz auf der einen Seite, der sich insbesondere auf den Symbolischen Interaktionismus, aber auch auf die phänomenologische Soziologie beruft, und von Strömungen innerhalb der Cultural Studies auf der anderen Seite, die stark strukturalistisch orientiert sind. Die rezeptionsbezogenen Aspekte des Habitus lassen sich differenzierter betrachten, wenn man Reckwitz´ Unterscheidung von model of the world und model for acting aufgreift. Die Facette des model of kann dann als Erwartungshorizont verstanden werden, vor dessen Hintergrund medial vermittelte Erlebnisse überhaupt erst verstehbar werden. Die handlungspraktischen Schemata des model for können im Anschluss an die Schematheorien Bartletts und Piagets und die Kulturanthropologie Gehlens expliziert und in ihrer Eignung zur Modellierung von Rezeptionsprozessen diskutiert werden. Mit der Betonung der Körperlichkeit des Weltzugangs lässt sich die Habitustheorie auch zur Überwindung einer anderen Dichotomie heranziehen, die ebenfalls in der Kommunikationsforschung ihren Niederschlag gefunden hat, nämlich des cartesianischen Dualismus´ von Körper und Geist. Denn hinsichtlich der Methodologie und des Menschenbildes schiebt sich ein habitus-

Die Rezipierenden

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orientierter Ansatz der Rezeptionsforschung quasi zwischen zwei etablierte Strömungen innerhalb der Kommunikationsforschung: Die Auseinandersetzung von Menschen mit Medien wird im einen Fall als bewusstes Handeln aufgefasst, das explizit abfragbar ist – bspw. mittels standardisierter Fragebögen. Untersuchungen dieser Art befassen sich u.a. mit der tatsächlichen oder behaupteten Nutzung bestimmter Medien, der Erinnerung an medial vermittelte Inhalte oder der Präferenz für bestimmte mediale Genres. Dabei wird angenommen, dass die Rezipierenden über ihr Handeln und ihre Präferenzmuster Bescheid wissen und Auskunft geben können. Rezeption ist hier allein Sache des „Geistes“. Ein anderer Strang der Kommunikationsforschung sieht die Rezipierenden nicht als bewusst Handelnde an, sondern als biologische Organismen, auf die Kommuniqués als Stimuli einwirken und eine körperliche Reaktion auslösen. Über Hautwiderstandsmessungen, Feststellung von Erregungszuständen, Untersuchungen der Hirnströme und des Blickverlaufs wird in Laborexperimenten das Kommunikationsverhalten erforscht. Hier ist der Körper alleinige Rezeptionsinstanz (vgl. Heller 1988, S. 55 ff.; Kroeber-Riel 1993, S. 55 ff.; Holzer 1994, S. 16 f.; McQuail 1994, S. 295 f.; Rosenstiel/Kirsch 1996, S. 87 f.). Aus Perspektive der Habitus-Theorie werden die Akteure nicht als lediglich reagierende Organismen, aber auch nicht als sich selbst völlig transparente und individuelle ‚Geistesmenschen’ betrachtet. Die Untersuchung setzt vielmehr auf der Ebene des Handelns und der präreflexiven Dispositionen zum Handeln an, die kulturell geprägt und inkorporiert sind. Der Körper wird als Teil und Produkt der Sozialwelt betrachtet und nicht ausschließlich als biologisches System. „Als Spontaneität ohne Willen und Bewusstsein steht der Habitus zur mechanischen Notwendigkeit nicht weniger im Gegensatz als zur Freiheit der Reflexion, zu den geschichtslosen Dingen mechanistischer Theorien nicht weniger als zu den ‚trägheitslosen’ Subjekten rationalistischer Theorien. Der dualistischen Sicht, die nur den für sich selbst durchsichtigen Bewusstseinsakt oder das in der Äußerlichkeit determinierte Ding anerkennen will, muss daher die reale Logik des Handelns entgegengesetzt werden“ (Bourdieu 1993, S. 105 f.).

Mit dieser Perspektivierung ist zugleich eine Abkehr vom methodologischen Individualismus verbunden, der für die beiden anderen Richtungen kennzeichnend ist. Denn die Dispositionen des Habitus wurzeln in einer gemeinsamen Handlungspraxis und haben daher kollektiven Charakter. Da diese Praxis von der je konkreten sozialen und historischen Situation affiziert ist, ist diese Kollektivität nicht als universale anthropologische Konstante zu verstehen, sondern als (sub-) kulturspezifisch geprägt. Methodisch bedeutet dies, dass die habitusspezifischen Orientierungen nicht abgefragt werden können, da sie den Akteuren selbst nicht bewusst sind. Sie können aber auch nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden gemessen werden, da sie keine biologische Größe darstellen. Sie müssen vielmehr als kulturelle Symptome im Handeln betrachtet

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

und deshalb interpretativ erschlossen werden. Die Auseinandersetzung mit medial vermittelten Kommuniqués ist dann weder als absichtsvolle und (selbst-) bewusste Nutzung, noch als passives ‚Infiziertwerden’ mit medialen Stimuli zu konzeptualisieren, sondern als Akte des handelnden Umgangs, die in dem, „was an ihnen dem Auge ihrer Erzeuger verborgen bleibt und eben die über das einzelne Subjekt hinausreichenden Grundlagen ihrer Erzeugung verrät, sinnvoll, d.h. mit Alltagsverstand ausgestattet sind. Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie selber wissen.“ (Bourdieu 1993, S. 127) Diese Ebene des habitusspezifischen Sinns kann dann gegen eine Ebene des reflexiven Sinns abgegrenzt werden, die gleichwohl zu berücksichtigen ist. Immer jedoch wird der Sinn als Interaktionsprodukt von Rezipierenden und Bild aufgefasst. Die weithin geteilte These von der Aktivität der Medienrezeption (vgl. Hasebrink/Krotz 1996, S. 7; Livingstone 1996, S. 165) erfährt somit durch die Habitustheorie eine wesentliche Differenzierung. Zwar konstruieren die Rezipierenden auch in der Perspektive der Habitustheorie die Bedeutung von Medieninhalten aktiv – „doch darf man darüber nicht (...) vergessen, dass die Kategorien, die sie bei dieser Konstruktionsarbeit ins Spiel bringen, nicht von ihnen konstruiert wurden.“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 27). Als opus operatum des Habitus muss vielmehr auch die Praxis der Medienrezeption auf ihre kollektiven, präreflexiven, praktischen und körperlichen Dimensionen befragt werden. Wie sich habitusspezifische Rezeptionsprozesse jedoch in actu gestalten, kann nicht allein durch theoretische Reflexion geklärt werden, sondern bedarf einer empirischen Untersuchung.

Der Sinn

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1.4 Der Sinn: Interaktionsprodukt von Bild und Rezipierenden Nachdem die beiden an der Rezeption beteiligten Interaktionsfaktoren – Bild und Rezipierende – diskutiert worden sind, soll nun das Produkt dieser Interaktion, der Sinn, näher betrachtet werden. Er wird im Rahmen dieser Arbeit nicht substantialistisch verstanden, als etwas, das fest und unveränderlich im Bild angelegt wäre und in eindeutiger und gleichbleibender Weise von den Rezipierenden dem Bild „entnommen“ werden könnte. Vielmehr wird der Sinn relational als Interaktionsprodukt von Bild und Rezipierenden betrachtet. Greift man die Überlegungen der vorangegangenen Kapitel auf, so begegnen sich in dieser Interaktion nicht zwei ‚eindimensionale’ Entitäten, sondern in sich mehrschichtige Faktoren. Die Interaktion kann daher auf unterschiedlichen ‚Ebenen’ ablaufen, die bisher teils in bildbezogenen Begriffen, teils in Begriffen, die sich auf die Rezipierenden beziehen, charakterisiert wurden. Immer jedoch handelt es sich um Weisen der Bezugnahme von Rezipierenden auf das Bild, d.h. sie lassen sich nur als Relation von Bild und Rezipierenden erfassen. Um den Sinn als Interaktionsprodukt von Bild und Rezipierenden zu konzeptualisieren, bedarf es daher eines Sinnbegriffs, der dieser Relationalität Rechnung trägt. Um überdies auch der Mehrschichtigkeit der Interaktion von Bild und Rezipierenden gerecht zu werden, muss der Sinn aber nicht nur relational, sondern auch als „Mehrebenenphänomen“ konstruiert werden. Von mehreren Ebenen des Bildsinns geht das Ikonographie/IkonologieModell aus, das der Kunsthistoriker Erwin Panofsky 1932 in einer ersten Version vorgestellt hat. Mit seiner Hilfe sollen Kunstwissenschaftler zu „korrekten“ Interpretationen von Bildern gelangen (z.B. Panofsky 1987b, S. 214). Damit scheint dieses Modell denkbar weit von den Prämissen einer empirischen Rezeptionsforschung entfernt zu liegen, die Sinnbildungsprozesse prinzipiell nicht nach der Maßgabe „richtig“ oder „falsch“ beurteilt. Dennoch kann das Ikonographie/Ikonologie-Modell auch für die Untersuchung empirischer Rezeptionsprozesse fruchtbar gemacht werden. Es steht im Zentrum dieses Kapitels. Zunächst wird das Modell in seinen Grundannahmen dargestellt und in seiner ‚orthodoxen’ Lesart als kunstwissenschaftliche Methodenlehre referiert (1.4.1.1). Um aber nicht nur die unterschiedlichen Ebenen der Sinnbildung zu betrachten, sondern auch der Relationalität des Sinns als Interaktionsprodukt von Bild und Rezipierenden gerecht zu werden, wird an Alfred Schütz angeknüpft. Sein Sinnbegriff wird aufgegriffen, obwohl es dabei aus der Perspektive der Habitustheorie einige Kautelen zu berücksichtigen gilt (1.4.1.2). Sodann geht es darum, diese beiden Dimensionen der Sinnbildung – die Ebenen des Sinns und die Relationalität des Sinns – miteinander zu verbinden und in das Ikonographie/Ikonologie-Modell zu integrieren. In diesem Zusammenhang wird

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

eine ‚rezeptionsorientiert gewendete’ Lesart des Modells entwickelt und in ihrer Eignung zur Konzeptualisierung empirischer Rezeptionsprozesse diskutiert. Die Erörterung erfolgt in zwei Schritten – im ersten (1.4.2) wird quasi ‚mit’ Panofsky argumentiert, d.h. es werden im Ikonographie/Ikonologie-Modell Ansätze für eine rezeptionsorientierte Lesart herausgearbeitet. Denn entgegen dem ersten Eindruck lässt sich auch bei Panofsky die Vorstellung vom Sinn als Interaktionsprodukt von Bild und soziohistorisch situierten Rezipierenden rekonstruieren und vor dem Hintergrund von Schütz´ relationalem Sinn-Begriff präzisieren (1.4.2.1). Sodann werden die Sinnebenen des Ikonographie/IkonologieModells gegeneinander abgegrenzt und unter Bezug auf die Habitus-Theorie konturiert (1.4.2.3). In einem zweiten Schritt (1.4.3) wird dann ‚gegen’ Panofsky argumentiert, d.h. es werden ‚Bruchstellen’ deutlich gemacht, die bei einer rezeptionsorientierten Wendung des Ikonographie/Ikonologie-Modells unumgänglich sind, und somit über Panofsky ‚hinausgegangen’. Ein entscheidender Punkt ist dabei der Wechsel des Bezugshorizonts (1.4.3.1), durch den die Untersuchungsperspektive von der Bildproduktion zur Bildrezeption verlagert wird. Sodann (1.4.3.2) werden die rezeptionstheoretisch gewendeten Sinnebenen aus wissenssoziologischer Perspektive beleuchtet, indem die jeweils herangezogenen Wissensbestände hinsichtlich ihres Verbreitungs- und Reflexivitätsgrades differenziert werden. Im Zusammenhang damit lassen sich zwei Modi des Verstehens unterscheiden. Abschließend wird der Versuch unternommen, das Ikonographie/Ikonologie-Modell in Stuart Halls Encoding/Decoding- Modell zu integrieren. Neben einer Verfeinerung von Halls Modell geht es dabei um die Abgrenzung und Spezifizierung der unterschiedlichen Untersuchungsperspektiven, die bei der Analyse von Bildkommunikationsprozessen eingenommen werden können. 1.4.1 Achsen der Interaktion von Bild und Rezipierenden Aus einer eher bildorientierten Perspektive lassen sich zwei Ebenen des Sinns unterscheiden, je nachdem, ob ein Bild als Ersatzreiz nach Modalität Alpha oder als Text nach Modalität Beta rezipiert wird (vgl. 1.2.1.2 und 1.2.2.2). „Modalität Alpha liegt vor, wenn man ein Gemälde (oder ein Foto, oder ein Bild im Film (...)) so wahrnimmt, als wäre es die wirkliche ‚Szene’.“ (Eco 2000, S. 436). Mit Barthes kann diese Ebene bei der Rezeption von Fotografien als „Botschaft ohne Code“ (ders. 1990b, S. 32) bezeichnet werden, die „buchstäblich“ und „tautologisch“ (ebd. S. 31) ist und sich unwillkürlich, quasi von selbst aufdrängt. „Ohne jegliches Wissen“ (ebd.) bzw. mit „kein(em) andere(n) Wissen als >dem@ mit unserer Wahrnehmung verknüpfte(n)“ (ebd. S. 32) erlaubt das

Der Sinn

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Bild „zu ‚begreifen’, dass es auf einem Raum eine gewisse Anzahl identifizierbarer (benennbarer) Objekte versammelt, und nicht bloß Formen und Farben.“ (Barthes 1990b, S. 31) Modalität Alpha impliziert somit ein Absehen von der plastischen Bildschicht und eine Focussierung auf die figurative Bildschicht. Dabei wird auch die „Semantik des Objekts“ (im Sinne einer paradigmatischen Verortung) wie in der Auseinandersetzung mit den realen Objekten erfasst. Modalität Alpha huldigt demnach nicht dem Mythos des „reinen Auges“, sondern geht von der Interpretationsimprägniertheit jeglicher Wahrnehmung aus. Bei Modalität Beta muss man annehmen, „es handle sich um den zu Kommunikationszwecken absichtlich erzeugten Ausdruck einer Zeichenfunktion.“ (Eco 2000, S. 436) Rezipiert man ein Bild nach Modalität Beta, so stellt man Vermutungen über die Mitteilungsabsicht des Bildproduzenten an (vgl. Eco 2000, S. 450), d.h. man bemüht sich in kooperativer Weise einen intendierten Sinn zu erfassen und unterstellt deshalb eine mit dem Bildproduzenten gemeinsam geteilte Verstehensbasis, nämlich einen etablierten Code. Dabei muss das Bemühen nicht von Erfolg gekrönt, der angewandte Code nicht tatsächlich der gleiche sein, auf den sich der Bildproduzent stützte. Wesentlich ist allein, dass das Bild als „kommunikatives Faktum“ (Eco 2000, S. 450) aufgefasst wird. Modalität Beta baut dabei auf Modalität Alpha auf: „Denn nachdem man, mittels Ersatzreizen, Dinge wahrgenommen hat, sucht man in ihrer Zusammenstellung nach einem Erzählzusammenhang, verlässt die Naturgegebenheit der Wahrnehmung, tritt in die Kunstwelt der Intertextualität ein und erinnert sich nicht mehr an andere Dinge, sondern an andere Geschichten.“ (Eco 2000, S. 451 f.; Herv. i. Orig.)

Wird ein Bild nach Modalität Beta rezipiert, dann wird das bildliche Syntagma mit einer symbolischen Bedeutung angereichert und nach Maßgabe eines etablierten ikonographischen Codes geschlossen. Das Bild wird als Ausdruck benutzt, der auf einen nicht-tautologischen, codierten Inhalt verweist (vgl. Eco 2000, S. 439 f.). Nach Modalität Alpha wird das Bild als Abbild, nach Modalität Beta als Sinnbild rezipiert. Mit stärkerer Blickwendung auf die Rezipierenden kann Modalität Beta auch als reflexive Applizierung expliziter kultureller Schemata verstanden werden, die mit den begrifflichen Kategorien der Sprache korrespondieren. Diesem Prozess des Dekodierens und bewussten „Lesens“ entspricht die Rezeptionsweise, bei der bspw. einem Bild mit den Elementen „Frau“ und „abgeschlagener Männerkopf“ die Bedeutung „Judith“ zugeordnet werden kann – wenn die Frau den Männerkopf in der Hand hält, bzw. die Bedeutung „Salome“ – wenn der Männerkopf auf einem Teller liegt. Mit Gilbert Ryle kann diese reflexive Rezeptionsweise als „knowing that“ bezeichnet und einem präreflexiven „knowing how“ gegenübergestellt werden (Ryle 1997, S. 26 passim; vgl.

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

Michel 2005b). Als handlungspraktisches „Knowing how to do“ lässt sich das mit dem Habitus verbundene kollektive und implizite Wissen des „praktischen Sinns“ charakterisieren. Rezeption wird hier als unbewusste Anwendung kollektiv geteilter, handlungspraktischer Schemata vor dem Hintergrund eines fraglos und selbstverständlich gegebenen und deshalb ebenfalls präreflexiv bleibenden Erwartungshorizonts verstanden. Beide Facetten des Habitus – model for und model of – werden dabei nicht als anthropologische Konstanten, sondern als sozial und historisch geprägt aufgefasst. Die Rezeption von Bildern wird, wie andere Formen der Praxis auch, durch den einheitsstiftenden modus operandi des Habitus strukturiert. Die drei genannten Ebenen – Rezeption des Bildes als (1) Abbild, (2) visueller Text und (3) präreflexives Symbol einer Handlungsoption – bilden unterschiedliche ‚Stufen’ der Sinnbildung, die vertikal geschichtet sind – man kann daher von einer „vertikalen Achse“ der Sinnbildung sprechen. Sozusagen ‚quer’ dazu verläuft die „horizontale Achse“ der Sinnbildung. Denn auf allen drei Ebenen ist die Sinnbildung relational zu denken, da sie jeweils zwischen den beiden Polen „Bild“ und „Rezipierenden“ aufgespannt ist. Jede Ebene ist daher auch durch eine eigene Art der Interaktion (und damit auch des Sinns als Produkt der Interaktion) gekennzeichnet. Das Potential zur Integration der drei Ebenen (der vertikalen Achse) bei gleichzeitiger Berücksichtigung der beiden Pole (der horizontalen Achse) verspricht das dreistufige Ikonographie/Ikonologie-Modell des Kunsthistorikers Erwin Panofsky (hier: 1987a und b). Präzisiert man das Modell nämlich mit dem relationalen Sinnbegriff nach Schütz, dann kann der Sinn auf jeder der drei (vertikal geschichteten) Ebenen als relationales (bzw. horizontales) Interaktionsprodukt von Bild und Rezipierenden konzeptualisiert werden. Mit Hilfe des erweiterten Ikonographie/IkonologieModells sollen die eher ‚disparaten’ Elemente, die teils vom Bild, teils von den Rezipierenden her argumentieren, zusammengeführt und systematisch gegenübergestellt werden. Das Ikonographie/Ikonologie-Modell erweist sich im vorliegenden Zusammenhang als besonders angemessen, da es im Kreuzungspunkt mehrerer, für diese Arbeit relevanter Theoriestränge steht (vgl. 1.3.2). Von Panofsky übernimmt Bourdieu den Begriff des Habitus – allerdings nicht aus dem Ikonographie/Ikonologie-Modell, sondern aus seiner Studie „Gotische Architektur und Scholastik“ (Panofsky 1989, S. 18; Bourdieu 1974, S. 125 ff., insbes. S. 132). Der Sache nach ist der Habitus – ohne explizit benannt zu sein – aber auch im Ikonographie/Ikonologie-Modell präsent. Panofsky beruft sich u.a. auf den Dokumentsinn nach Karl Mannheim, in dem sich der Habitus dokumentiert. Mannheim wiederum illustriert seine Vorstellung des Dokumentsinns mit Panofskys Explikation des Riegl´schen Begriffs des „Kunstwollens“: „Hier wird

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an Händen einer Analyse des Riegl´schen Kunstwollens der Dokumentsinn bereits klar gesehen.“ (Mannheim 1964a, S. 123, Fn. 15; vgl. auch ebd. S. 128, Fn. 18) An die Mannheim´sche Wissenssoziologie schließt Bohnsack an und entwickelt seine Dokumentarische Methode, die ebenfalls auf den Habitus rekurriert. Die wechselseitige ‚Befruchtung’ von Mannheim und Panofsky bildet quasi die ‚Keimzelle’ für die Herausbildung des Habitus-Begriffs. Das Ikonographie/Ikonologie-Modell deckt jedoch nicht alle denkbaren Dimensionen der Bild-Rezipierenden-Interaktion ab. So fehlen bspw. die Ebene der Ikonik (im Sinne Imdahls) und die plastische Bildschicht (im Sinne der Gruppe P). Dies spricht aber nicht grundsätzlich gegen das Modell. Das Konzept der Ikonik wurde von Imdahl gerade in Auseinandersetzung mit und als Erweiterung von Panofskys Ikonographie/Ikonologie-Modell entwickelt (vgl. Imdahl 1980, hier: 1996, insbes. S. 92 f.) – es steht somit keineswegs im Widerspruch zu Panofsky. Als Ergänzung kann die Ebene der Ikonik auch weiterhin mitbedacht werden. Auf die plastische Bildschicht – freilich nicht unter diesem Begriff, sondern unter dem Stichwort der „formalen Beschreibung“ (Panofsky 1987a, S. 186) – hat Panofsky selbst Bezug genommen und sie für nicht relevant erklärt (ebd., S. 187). In der Tat ist zu fragen, inwieweit eine Auseinandersetzung mit der plastischen Bildschicht als Sinnkonstruktion zu bezeichnen ist. Panofsky hält eine reine formale Beschreibung zudem für unmöglich.67 Gleichwohl muss für die Rekonstruktion empirischer Rezeptionsprozesse auch die Möglichkeit einer – zumindest teilweise, wenn schon nicht „rein“ – formalen Auseinandersetzung mit der plastischen Bildschicht offengehalten werden. Die beiden Weisen der Bezugnahme auf das Bild – die ikonische (sensu Imdahl) und die plastische bzw. „formale“ – können also parallel zum Ikonographie/Ikonologie-Modell weiter mitgeführt werden. 1.4.1.1 Vertikale Achse: Ebenen des Sinns im Ikonographie/Ikonologie Modell Das Ikonographie/Ikonologie-Modell existiert im Wesentlichen in zwei Versionen, die sich weniger in ihrem zentralen Gedankengang als vielmehr in ihrer Begrifflichkeit (vgl. Kaemmerling 1987b, S. 497 ff.) unterscheiden. Auf sie 67

Auf diesen Punkt wurde bereits unter 1.2.2.1 im Abschnitt „Die Inhaltsform als Basis der Ausdrucksform“ hingewiesen und u.a. mit Eco argumentiert, dass jeder Formalismus ein „maskierter ‚Inhaltismus’“ (ebd.) ist. Panofsky führt dazu aus: „Eine wirklich rein formale Beschreibung (...) müsste sich grundsätzlich darauf beschränken, die Farben, die sich in mannigfacher Nuancierung gegeneinander absetzen, miteinander verbinden und sich höchstens zu quasi ornamentalen oder quasi tektonischen Formkomplexen zusammenbeziehen lassen als völlig sinnleere und sogar räumlich mehrdeutige Kompositionselemente zu deskribieren. (...) Nun bedarf es keiner Erörterung, dass eine in diesem strengen Sinne formale Beschreibung praktisch ein Ding der Unmöglichkeit ist.“ (Panofsky 1987a, S. 186 f.)

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

wird hier gleichermaßen Bezug genommen. Konsistenzprobleme oder Widersprüche ergeben sich dabei nicht. Panofsky unterscheidet bei gegenständlichen Bildern drei Sinn- bzw. Interpretationsebenen: Auf der ersten, der vorikonographischen Ebene wird der Phänomen-Sinn erfasst (Panofsky unterteilt ihn in den Sach- und Ausdruckssinn), indem Farben und Formen als Gegenstände und Ereignisse identifiziert werden, die dem Interpreten aus der Alltagserfahrung vertraut sind. Die Parallele zur Rezeption nach Modalität Alpha ist unschwer zu erkennen. Auf der nächsten, der ikonographischen Ebene wird unter Einbeziehung literarischen Wissens der Bedeutungs-Sinn interpretiert, indem die vor-ikonographisch erkannten Personen und Gegenstände nach Maßgabe kultureller Muster zueinander in Beziehung gesetzt werden. Bezogen auf das Judith/Salome-Beispiel heißt dies: „Frau“, „Männerkopf“, „Teller“ und „Schwert“ bilden den Bestand des Phänomensinns und können auf der vorikonographischen Ebene auf Grundlage der Alltagserfahrung von „jedermann“ (Panofsky 1987b, S. 214) problemlos wiedererkannt werden. Um auf der ikonographischen Ebene den Bedeutungssinn „Judith“ bzw. „Salome“ zu entziffern, ist eine Kenntnis der entsprechenden biblischen Erzählungen unabdingbar, zur Unterscheidung der beiden Personen sogar eine sehr intime Kenntnis. Die ikonographische Ebene zeigt somit Gemeinsamkeiten mit der Rezeption nach Modalität Beta. Auf der letzten Ebene, der ikonologischen Ebene wird der Dokument- bzw. Wesens-Sinn erschlossen, indem das Bild als Symptom bzw. Dokument für den „Habitus“ des Bildproduzenten bzw. seines soziokulturellen Milieus verstanden wird – Panofsky spricht hier u.a. von der „Grundeinstellung einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, einer religiösen oder philosophischen Überzeugung“ (Panofsky 1987b, S. 211). Erforderlich dafür ist zum einen kunstwissenschaftlicher Sachverstand, der den Überblick über eine Vielzahl anderer Produkte der in Frage stehenden Epoche ermöglicht, zum andern aber auch eine „irrationale“ (Panofsky 1987b, S. 221) Begabung zu „synthetischer Intuition“ (ebd.), die den Interpreten dazu befähigt, in unterschiedlichen Hervorbringungen den einheitlichen modus operandi einer Epoche, einer Künstlerschule oder einer Künstlerpersönlichkeit zu erkennen. Hier wird eine Schwierigkeit deutlich, die eine ausführliche Diskussion erforderlich macht (1.4.3.1): Nicht der Habitus der Bildrezipienten, sondern der Habitus der Bildproduzenten steht im Zentrum der ikonologischen Interpretation. Unproblematisch ist m.E. die Konzentration Panofskys auf Kunstwerke. Es müssen keine Kunsttheorien von Goodman (1995) über Danto (1984) bis Koppe (1983) bemüht werden, um zu zeigen, dass sich Panofskys Modell gleichermaßen auf gegenständliche Bilder anwenden lässt, die im Museum hängen (um ein äußerliches Kriterium für die Unterscheidung von Kunst vs. Nicht-Kunst anzuführen), wie auf solche, die uns auf Plakatwänden, in Zeitungsanzeigen oder in

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Familienalben begegnen (vgl. Imdahl 1996, S. 89). Beide Bildsorten können auf den drei Sinnebenen befragt werden, wobei das fallweise Ausbleiben eines ikonographischen Bedeutungssinns nicht gegen das Modell spricht, sondern – wie unter 1.2.2.2 dargelegt – als syntagmatische Offenheit zu verstehen ist, bei der Leerstellen die Applikation eines kanonischen, narrativen Schemas erschweren. Das Ausbleiben eines ikonographischen Sinnes hatte Panofsky selbst vorgesehen und von einem „unmittelbaren Übergang“ von Vor-Ikonographie zu Ikonologie gesprochen – „wie es bei der europäischen Landschaftsmalerei, bei Stillleben und Genremalerei der Fall ist, gar nicht zu reden von ‚nicht-gegenständlicher’ Kunst.“ (Panofsky 1987b, S. 214) Auf ikonologischer Ebene dokumentiert sich der Habitus des Bildproduzenten auch in kommerziellen Werbefotos oder privaten Amateurfotos (vgl. Bourdieu u.a. 1983). Schwerwiegender ist das Problem, dass Panofskys Modell als methodisches ‚Werkzeug’ für die ‚professionelle’ Bildinterpretation innerhalb der Kunstwissenschaft entwickelt wurde und nicht zur Rekonstruktion empirischer Rezeptionsprozesse (vgl. Panofsky 1987b, S. 214, Eberlein 1996, S. 169 u. 173). Mit seiner Hilfe sollen Kunsthistoriker zu „korrekten“ Interpretationen von Bildern gelangen (vgl. Panofsky 1987b, S. 214, 215, 218, 221, 223). Als korrekt sieht Panofsky eine Interpretation an werden, die die „geschichtliche Wahrheit“ (Panofsky 1987a, S. 206, Anm. 16) von Bildern erfasst, indem sie aus den Bildern „das herausholt, was sie ‚sagen’, (...) >bzw.@ was sie ‚sagen wollen’“ (ebd.). Polyseme Lesarten, wie sie im Focus einer empirischen Rezeptionsforschung stehen, finden bei Panofsky somit keinen Raum.68 Die ikonologische Methode ist vielmehr als ein Beitrag zu verstehen, dem professionellen Kunstbetrachters das notwendige „geistig-kulturelle Rüstzeug“ (Panofsky 1978a, S. 21) zu vermitteln, das dem „naiven Kunstbetrachter“ abgeht. Dabei ist die Unprofessionalität des naiven Betrachters nicht darin begründet, dass er nichts weiß, sondern vielmehr, dass er nicht weiß, was er weiß. „So genießt der ‚naive’ Betrachter nicht nur das Kunstwerk, sondern würdigt und interpretiert es unbewusst auch; und niemand kann ihn tadeln, wenn er es tut, ohne sich darum zu kümmern, ob seine Würdigung und seine Interpretation richtig oder falsch sind, und ohne zu erkennen, dass sein eigenes kulturelles Rüstzeug, wie es nun einmal ist, tatsächlich etwas zum Gegenstand seines Erlebnisses beiträgt.“ (ebd.) Auch der naive Betrachter bringt sein Rüstzeug mit, nur bleibt ihm dieser Umstand meist unbe68

Auch Bourdieu geht bei der Rezeption von Kunstwerken nicht von einer Pluralität legitimer Sinnbildungen aus, sondern spricht von spezifischen Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, die Kunstwerke jeweils „objektiv erfordern“ (Bourdieu 1999, S. 493) und deren Verkennung zu „Anpassungsfehlern“ (ebd. S. 494) führt (vgl. auch Bourdieu 1974, S. 159 ff.). Der „Anpassung“ von Bildern an die „subjektiven Erfordernisse“ der Rezipierenden – um es in der Diktion Bourdieus auszudrücken – gilt dagegen das Erkenntnisinteresse der empirischen Rezeptionsforschung.

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wusst und er meint, das Bild ‚objektiv’ zu erfassen. „Den völlig ‚naiven’ Betrachter gibt es nicht.“ (ebd.). Der Kunsthistoriker unterscheidet sich nach Ansicht Panofskys vom „naiven“ Betrachter dadurch, dass er sich seiner Situation bewusst ist: „Er weiß, dass sein spezifisches kulturelles Rüstzeug nicht unbedingt mit demjenigen von Menschen in einem anderen Land und aus einer anderen Epoche harmoniert.“ (ebd.) Ziel der ikonologischen Methode ist es daher u.a., dem professionellen Betrachter sein „naives“, d.h. präreflexives „Rüstzeug“ bewusst zu machen, damit er davon abstrahieren kann und so statt zu einer impliziten zu einer expliziten Interpretation gelangen kann. Wie Panofsky spricht auch Mannheim von einem naiven Verstehen, das mit „geistigen Realitäten“ vergangener Epochen (Mannheim 1980, S. 276) so umgeht, „als seien sie zeitgenössisch, als sei der eigene Erfahrungsraum nur zeitlich ausgedehnt“ (ebd.). Dem Verstehen stellt Mannheim das Interpretieren gegenüber. Er definiert „Verstehen“ als „das geistige, vorreflexive Erfassen“, während er „unter Interpretation (...) die stets auf diesen Erfassungen beruhende, aber sie niemals erschöpfende theoretisch-reflexive Explikation des Verstandenen“ fasst (ebd., S. 272) Das Ikonographie/ Ikonologie-Modell soll den professionellen Bildbetrachter dazu befähigen, das Stadium des „naiven“ Verstehens zu überwinden und zu einer reflektierten Interpretation zu gelangen. Um ein Bild methodisch kontrolliert zu interpretieren, muss der Kunsthistoriker zu einer „Angleichung“ (Panofsky 1978a, S. 21) an das „kulturelle Rüstzeug“ jener Epoche kommen, aus der das Bild stammt. Denn Bezugspunkt für eine „korrekte“ Interpretation im Sinne Panofskys sind die Intentionen des Werks, die sich aus seinem historischen Entstehungskontext ergeben und die oftmals mehr umfassen als die bewussten Intentionen des Bildproduzenten (vgl. ebd. S. 19). Dabei wird sich der professionelle Bildbetrachter „mehr und mehr an die ursprüngliche ‚Intention’ der Werke anpassen“ (ebd.), d.h. er wird sich von seinem eigenen „kulturellen Rüstzeug“ lösen und eine Assimilation („Angleichung“ bzw. „Anpassung“) seiner Interpretationsschemata an die Produktionsschemata des Bildes erreichen. Diese Assimilation leistet der Kunsthistoriker, indem er „möglichst viel über die Umstände lernt, unter denen die Gegenstände seiner Studien geschaffen wurden.“ (ebd. S. 21) Dabei wird er u.a. auch „alles tun, um sich mit den gesellschaftlichen, religiösen und philosophischen Einstellungen anderer Epochen und Länder vertraut zu machen, um sein eigenes subjektives Empfinden (...) zu korrigieren.“ (ebd. S. 22). Panofsky formuliert daher für jede Interpretationsebene „objektive Korrektivprinzipien“ (1987a, S. 199, 203 vgl. 1987b, S. 214 ff.), die verhindern sollen, dass die Interpretation zur „‚schweifenden Willkür’“ (1987a, S. 199, 202) wird. In ihnen findet nicht nur die historische Besonderheit des Entstehungszusammenhangs eines Bildes, sondern auch die methodische Kontrolle und Orientierung an Rationalitätsstan-

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dards, durch die sich die Interpretation von der Deutung unterscheidet, ihre systematische Berücksichtigung. Die Korrektivprinzipien sollen die „korrekte“ Interpretation gewährleisten und so die historisch „wahre“ Bedeutung eines Bildes zu Tage fördern. Diese Bedeutungen sind nach Ansicht Panofskys in den Bildern „ausgedrückt“ (Panofsky 1978a, S. 19) und „manifestieren“ sich in ihnen (ebd.). Der Interpret findet sie sozusagen im Bild auf und holt sie von dort hervor. Panofsky scheint somit implizit dem „Container-Modell“ der Bedeutung verpflichtet zu sein, demzufolge der „Sender Bedeutungen in Äußerungen reinpackt wie in einen Container, so verpackt hinüberschickt zum Empfänger, der sie dann umgekehrt wieder auspackt.“ (Holly 1995, S. 118; vgl. hier 1.1.1). Dieser Verdacht wird durch weitere Äußerungen Panofskys erhärtet (z.B. ders. 1987a, S. 200, S. 202; 1987b, S. 212; S. 223). Die Container-Metapher kommt der Auffassung entgegen, eine „korrekte“ Interpretation könne die „wahre“ und „richtige“ Bedeutung eines Bildes erschließen, die im Bild auf den Interpreten mit dem angemessenen Werkzeug ‚wartet’. Diese Metaphorik widerspricht jedoch der für die Rezeptionsforschung zentralen Auffassung, dass der Sinn eines Bildes erst in der Interaktion mit den Rezipierenden erzeugt wird (Jensen 1986, S. 78; vgl. Livingstone 1996, S. 172, hier 1.1.2). Um ihr gerecht zu werden, bedarf es eines relationalen Sinnbegriffs, der als Bezugsgröße zwischen Bild und Rezipierenden zu denken ist. Ein solcher Sinnbegriff wird im Folgenden entwickelt. Anschließend wird er auf seine Vereinbarkeit mit dem Ikonographie/Ikonologie-Modell überprüft, um Panofskys Modell für die empirische Rezeptionsforschung fruchtbar zu machen. 1.4.1.2 Horizontale Achse: Der Sinn als Bezugsgröße Aus der Annahme, der Sinn gehe aus der Interaktion von Bild und Rezipierenden hervor, ergibt sich als komplementäre Annahme, dass das Bild für sich genommen hinsichtlich des Sinns unabgeschlossen bzw. „offen“ ist. Unter Bezug auf strukturalistisch geprägte Zeichenbegriffe der Semiotik wurde dies so begründet, dass den materiellen Zeichenträgern des Bildes erst im Rezeptionsakt durch die Betrachtenden Signifikate zugeordnet werden (vgl. 1.1.1 und 1.2.2). Der Sinn eines bildlichen Zeichens ergibt sich somit aus der relationalen Verbindung von manifestem Zeichenträger (Signifikant) und dem von den Rezipierenden hinzugedachten Zeicheninhalt (Signifikat) (vgl. Eco 1977, S. 112; Nöth 1985, S. 92). Ein solcherart relational konzipierter Sinnbegriff kann auch mit John Berger plausibel gemacht werden, der Fotografien als Zitate von Erscheinungen bezeichnet (vgl. 1.2.1.1):

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

„Das Herausnehmen eines Zitats schafft Diskontinuität, die sich im vieldeutigen Sinn einer Photographie spiegelt. Alle photographierten Ereignisse sind vieldeutig – nur nicht für die Betrachter, deren persönliche Beziehung zu dem Ereignis so beschaffen ist, dass ihr eigenes Leben die fehlende Kontinuität herstellt.“ (Berger 2000, S. 128)

Daran lässt sich folgende Überlegung anschließen: Gelingt eine Überbrückung der Diskontinuität, d.h. lässt sich das bildliche Zitat in einen (hinzugedachten) Kontext einordnen, so schwindet die Vieldeutigkeit (Polysemie), das Bild erlangt einen ‚eindeutigen’ Sinn. Dies leistet beim privaten Gebrauch des Bildes (sensu Berger; vgl. 1.2.1.1) die „persönliche Beziehung“ des Bildbetrachters zum fotografierten Ereignis: Er weiß aus welchem Sinnzusammenhang das Foto eine Erscheinung zitiert und kann daher den fehlenden Kontext aus seiner Erinnerung ergänzen. Beim öffentlichen Gebrauch, also bspw. bei der Rezeption (massen-) medial verbreiteter Bilder, muss die Überbrückung der Diskontinuität zur Reduzierung der Polysemie auf andere Weise geleistet werden. Barthes nennt als eine Strategie der Monosemierung die sprachliche Verankerung einer Fotografie (Barthes 1990b, S. 34): Durch einen begleitenden Sprachtext (bspw. ein Titel, eine Unterzeile, eine Headline) wird der fehlende Kontext ergänzt und das Bild in seiner Bedeutung erläutert. Gibt es keine sprachliche Verankerung des Sinns, so bleibt es den Rezipierenden überlassen einen Kontext zu konstruieren. Dabei sind sie nicht allein auf ihren selbst gesammelten Erfahrungsschatz angewiesen. In vielen Fällen können sie auch auf typisiertes Wissen zurückgreifen, das im gesellschaftlichen Wissensvorrat sedimentiert ist (vgl. Schütz/Luckmann 1979, S. 277 ff. und S. 379 ff.). Immer jedoch geht es darum, das isolierte Bild (als „herausgenommenes Zitat“) mit anderen Wissensbestandteilen zu kontextualisieren bzw. in Beziehung zu setzen und es so mit Sinn anzureichern. Auf diesen Wissenshintergrund, der als Kontext für die Bilderfahrung dient, wurde unter 1.3.3.1 auch mit dem Begriff des „(Erwartungs-) Horizonts“ Bezug genommen. Auch hier ergibt sich der Sinn relational aus der Beziehung von Horizont und Bilderfahrung. Als model of the world wurde diese Facette des mit dem Habitus verbundenen präreflexiven Wissens dem model for acting gegenübergestellt. Der model for-Aspekt des Habitus wurde mit Hilfe der Schematheorie rekonstruiert (1.3.3.2). Und auch hier lässt sich eine relationale Auffassung des Sinns nachweisen: Mit Piaget kann festgehalten werden, „dass das Erkennen eines Gegenstandes seine Inkorporierung in Verhaltensschemata bedeutet.“ (Piaget 1967, S. 8). Sinn entsteht hier aus der im Schema stabilisierten Verknüpfung von Handlung und Handlungserwartung, die aus früheren Erfahrungen resultiert. Dieser Zusammenhang, so wurde mit Gehlen argumentiert, zeigt sich bei „Sehdingen“ (Gehlen 1995, S. 170) auf Basis eines „Schatz(es) stummer Erfahrungen“ (ebd.) „schon im bloßen Hinblick“ (ebd.).

Der Sinn

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Die Bedeutung eines „Sehdings“ – bspw. eines Bildes – ergibt sich somit aus der Verbindung von „Hinblick“ und „stummer Erfahrung“. Sinn ist demnach immer auf ein Sinn konstruierendes, bildexternes Subjekt verwiesen und daher konstitutiv relational. Diese Überlegungen lassen sich mit dem Sinn-Begriff konturieren, den Alfred Schütz entwickelt hat. Seine phänomenologische Perspektive bedarf aus der Sicht der Habitus-Theorie jedoch anschließend einer Differenzierung. Schütz hält fest: „Sinn ist eine im Bewusstsein gestiftete Bezugsgröße, nicht eine besondere Erfahrung oder eine der Erfahrung selbst zukommende Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beziehung zwischen einer Erfahrung und etwas anderem. Im einfachsten Fall ist dieses andere eine andere als die aktuelle, so z.B. eine erinnerte Erfahrung. Die gerade vergangene Erfahrung, deren Erlebnisevidenz noch nachhallt, wird mit Bezug auf jene nur erinnerte als gleich, ähnlich, entgegengesetzt usw. erfasst. Das andere kann jedoch auch etwas Verwickelteres als eine einzelne Erfahrung sein: ein Erfahrungsschema, eine höherstufige Typisierung, eine Problemlösung oder Handlungsrechtfertigung.“ (Schütz/Luckmann 1984, S. 13)

In phänomenologischer Perspektive wird Sinn nicht ‚objektivistisch’ einem Artefakt (bspw. einem Bild) als inhärente Eigenschaft zugesprochen, sondern nur im Durchgang durch das subjektive Erleben eines Akteurs gedacht. Schütz postuliert jedoch darüber hinaus, dass Sinn nicht einer Erfahrung allein zukommt, sondern immer nur der Beziehung einer Erfahrung und „etwas anderem“. Sinn wird demnach prinzipiell relational hergestellt. Die beiden „Pole“ der Relation sind jeweils Erfahrungen (bzw. „höherstufige“ Erfahrungssysteme). Schütz definiert Erfahrung als eine besondere Art des Erlebnisses: „Erlebnisse heben sich im Bewusstseinsstrom ab; Erfahrungen sind durch Aufmerksamkeit ausgezeichnete Erlebnisse.“ (ebd.). Auf die Rezeption von Bildern übertragen, wäre die „aktuelle“ Erfahrung die Hinwendung auf das Erlebnis des Bildes im Bewusstseinsstrom. Diese Erfahrung wird im Bewusstsein mit einer anderen Erfahrung verknüpft bzw. in Beziehung gesetzt, die nicht dem aktuellen Erleben, sondern dem Wissensvorrat entstammt (vgl. Schütz/Luckmann 1979, S. 95). Diese Verknüpfung von aktueller und früherer Erfahrung ist der Sinn. Bei den früheren Erfahrungen lassen sich nun wiederum zwei unterschiedliche Modi des Wissens unterscheiden: Denn der Akteur muss die früheren Erfahrungen nicht selbst gemacht haben, sondern kann auch auf „übermittelte“ Erfahrungen zurückgreifen (Schütz/Luckmann 1979, S. 29), die als Typisierungen im Wissensvorrat sedimentiert sind. Schütz geht davon aus, dass die weitaus meisten der lebensweltlichen Typisierungen sprachlich objektiviert sind: „Das, was für den einzelnen typisch relevant ist, war meist schon für seine Vorgänger typisch relevant und hat folglich in der Sprache semantische Entsprechungen abgelagert. Kurzum, die

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

Sprache kann als die Sedimentierung typischer Erfahrungsschemata, die in einer Gesellschaft typisch relevant sind, aufgefasst werden.“ (Schütz/Luckmann 1979, S. 283)

Sinnbildung erfolgt dann u.a. durch Subsumtion aktueller Erfahrungen unter bekannte Typisierungen, die mit sprachlichen Kategorien korrespondieren. Schütz beschreibt das sinnkonstruierende In-Beziehung-Setzen der beiden Erfahrungskomponenten u.a. als Erfassen ihrer Relation „als gleich, ähnlich, entgegengesetzt usw.“ (s.o.). Damit wird ein sehr elementarer Akt der Sinnkonstruktion geschildert, der auf dem Vergleichen und Wiedererkennen beruht und der Identifikation von Erfahrungen dient. Dieser sehr elementare Vorgang deckt sich mit den Prozessen, die im Rahmen einer vor-ikonographischen Bildbeschreibung zu leisten sind. Auch hier werden abgebildete Personen und Objekte identifiziert, indem sie wiedererkannt werden, d.h. indem sie mit der erinnerten Erfahrung von entsprechenden Personen und Objekten ‚abgeglichen’ und „als gleich, ähnlich, entgegengesetzt usw.“ klassifiziert werden. Wie Schütz weiter ausführt, werden aus subjektiven Sinnsetzungen „gesellschaftliche Sinnsysteme“ (Schütz/Luckmann 1984, S. 13) geschaffen: „In allen Gesellschaften werden Stileinheiten des Sinns als kommunikative Gattungen objektiviert und bilden Sinnsetzungstraditionen. In Schriftkulturen werden zusätzlich auch literarische Genres ‚bereitgestellt’, die den Einzelnen noch stärker von eigenständigen Sinnsetzungen und findungen entlasten können. Kommunikative Gattungen reichen von alltäglichen Sprichwörtern bis zu Fabeln, von Fluch- und Schimpfwortkonventionen bis zu Heiligenlegenden.“ (ebd.)

Die Sinnbildung unter Bezug auf diese „literarischen Genres“ weist eine Parallele zur ikonographischen Interpretation auf, für die Panofsky als Grundlage „literarisch übermitteltes Wissen“ (1987a, S. 188) angibt und deren Bereich er als „die Welt spezifischer, sich in Bildern, Anekdoten und Allegorien manifestierender Themen oder Konzepte“ (1987b, S. 211) bezeichnet. Nach Schütz dienen diese konventionalisierten Sinnmuster und Sinnsetzungstraditionen der Entlastung des Einzelnen von „eigenständigen Sinnsetzungen und -findungen“. Dennoch ist auch hier der Sinn relational auf das rezipierende Subjekt verwiesen: Die Beziehung zwischen der aktuellen Erfahrung (des Bildes) und den bildexternen Daten muss auch durch den „entlasteten Einzelnen“ erst ‚gestiftet’ und aktualisiert werden. Nur kann er dabei auf literarische Genres, kommunikative Gattungen etc. als etablierte und konventionalisierte Deutungsressourcen zurückgreifen, die aber (wie seine „eigenen“, erinnerten Erfahrungen auch) Inhalte des Bewusstseins sind (Signifikate) und nicht Inhalte des zu deutenden Bildes (Signifikanten). Es deutet sich hier bereits eine Parallele von Schütz´ relationalem Sinnbegriff und Panofskys Ikonographie/Ikonologie-Modell an, die unter 1.4.2.1 noch ausführlicher diskutiert werden soll.

Der Sinn

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Als problematisch erweist sich aus der Perspektive der Habitustheorie jedoch Schütz´ Auffassung, wonach Sinn prinzipiell nur reflexiv zu erfassen sei: „Denn Sinn ist nichts anderes, als eine Leistung der Intentionalität, die aber nur im reflexiven Blick sichtbar wird“ (Schütz 1974, S. 69) bzw. sich „erst in der reflexiven Zuwendung konstituiert“ (ebd., S. 113). Im Zusammenhang mit seiner relationalen Definition des Sinnbegriffs hält Schütz fest, dass Erfahrungen als aktuelle Bewusstseinsvorgänge „von sich aus noch keinen eigentlichen Sinn“ haben (Schütz/Luckmann 1984, S. 13). „Den erhalten sie erst in reflexiven, nachträglichen Bewusstseinsleistungen. (...) Erst wenn ich wohlumschriebene Erlebnisse, also Erfahrungen, über ihre Aktualität hinaus reflexiv erfasse, werden sie erinnerungsfähig, auf ihre Konstitution hin befragbar, sinnvoll.“ (ebd.; Herv. B.M.) Aktuelle und frühere Erfahrung werden demnach in einem reflexiven Akt miteinander in eine sinnhafte Beziehung gesetzt. Ihre Präreflexivität ist nun aber gerade ein wesentliches Merkmal der auf Basis des Habitus ablaufenden Prozesse (vgl. 1.3.1.1): „Jenseits von Bewusstsein und diskursivem Denken“ operieren die praktischen Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata des Habitus (Bourdieu 1987, S. 730). Als atheoretisches und inkorporiertes Wissen entzieht sich das mit dem Habitus verbundene praktische Wissen für die Akteure weitgehend sprachlicher Explikation und reflexiver Durchdringung. Sinnbildungen, die sich aus der relationalen Verbindung dieses praktischen Wissens mit einer aktuellen Erfahrung ergeben, sind daher ebenfalls weitgehend der Reflexion entzogen. Damit ist die Sinnbildung, wie Schütz sie beschreibt, von denjenigen Sinnbildungsprozessen abzugrenzen, die durch den modus operandi des Habitus strukturiert werden. Wie Waldenfels (1979, S. 3) in seiner Kritik an Schütz jedoch deutlich macht, ist die Reflexivität des Sinns weder zwingend, noch unter Bezug auf Husserl zu begründen, auf den sich Schütz bezieht. „Husserl verlegt den Sinn der Akte keineswegs erst in die Reflexion, sondern ordnet sie jedweder Intentionalität zu.“ (ebd.) Zwar mache, so Waldenfels weiter, „erst die reflexive Zuwendung den gemeinten Sinn prädizierbar“ (ebd.). Daraus könne jedoch nicht gefolgert werden – wie Schütz dies tut –, dass das aktuelle Erleben noch nicht sinnhaft ist.69 „Das träfe höchstens dann zu, wenn der Reflexion ein unartikulierter Lebensstrom vorausginge, was schwerlich mit den Strukturierungsleistungen der präreflexiven und vorprädikativen Erfahrung vereinbar ist.“ (ebd.) In diesem Zusammenhang spricht Bourdieu, bezogen auf 69

„Denn da der Begriff des sinnvollen Erlebnisses immer voraussetzt, dass das Erlebnis, dem Sinn prädiziert wird, ein wohlunterschiedenes sei, so zeigt sich mit großer Klarheit, dass Sinnhaftigkeit nur einem vergangenen, d.h. nur einem Erlebnis zuerkannt werden kann, das sich dem rückschauenden Blick als fertig und entworden darbietet. Nur für den rückschauenden Blick also gibt es wohlunterschiedene Erlebnisse. Nur das Erlebte ist sinnvoll, nicht aber das Erleben. Denn Sinn ist nichts anderes, als eine Leistung der Intentionalität, die aber nur im reflexiven Blick sichtbar wird.“ (Schütz 1974, S. 69; Herv. im Orig.).

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

diesem Zusammenhang spricht Bourdieu, bezogen auf das mit dem Habitus verbundene „praktische Wissen“, auch von einer „Intentionalität ohne Intention“ und „praktische(r) Intentionalität“ (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 41), „die im Sinne eines Prinzips von Strategien ohne strategischen Plan, ohne rationales Kalkül, ohne bewusste Zwecksetzung funktioniert.“ (Bourdieu 1989, S. 397) Auch diese „intentionslose Intentionalität“ (ebd.) kann als relational und sinnhaft verstanden werden (vgl. Bourdieu 1979, S. 178 f.). Sinn kann demnach auch präreflexiv auf Basis des Habitus erzeugt werden. Dieser präreflexive Sinn, der sich den Akteuren aufgrund „praktischen Wissens“ erschließt, kann ebenfalls als „Bezugsgröße“ einer aktuellen Erfahrung (bspw. der Betrachtung eines Bildes) und präreflexiver, „früherer“ Erfahrungen gedacht werden, die Bestandteil des mit dem Habitus verbundenen, inkorporierten praktischen Wissens sind. Auch der präreflexive Sinn kann demnach als Relation von aktueller (Bild-) Erfahrung und dem früherer Erfahrung beschrieben werden. Das Herstellen dieser Relation, d.h. die Sinnbildung als „unmittelbar gegebenes Verständnis“ (vgl. Bourdieu 1999, S. 492; hier 1.3.3.2), erfolgt dann ebenfalls präreflexiv auf Basis der praktischen Schemata des Habitus, die „als solche“ das Bewusstsein des Verstehenden „niemals streifen“ (ebd.). Es lassen sich somit zwei Ebenen der Sinnbildung unterscheiden, die unter 1.4.2.2 und 1.4.3.2 noch genauer von einander abgegrenzt werden: Der prinzipiell reflexiven Sinnbildung nach Schütz lässt sich die präreflexive Sinnbildung der Habitustheorie gegenüberstellen. Sie sind jedoch nicht als einander ausschließende Alternativen zu betrachten (vgl. Bourdieu 1989, S. 397), sondern lassen sich nur zu analytischen Zwecken trennen. Auf beiden Ebenen lässt sich der Sinn im Anschluss an den Sinnbegriff von Alfred Schütz relational als Bezugsgröße zwischen einer aktuellen und einer im Wissensvorrat sedimentierten, „früheren“ Erfahrung beschreiben. Der relationale Sinnbegriff erlaubt zum einen ein Anknüpfen an semiotische Zeichenbegriffe, zum andern lässt sich damit auch die sinnkonstituierende Interaktion von Bild und Rezipierenden beschreiben, wobei auch der Beitrag des Bildes nicht objektivistisch (als datum brutum) begriffen wird, sondern nur erfahrungsvermittelt im Durchgang durch das Erleben der Rezipierenden. Die Vorstellung vom Sinn als Bezugsgröße bedeutet somit eine Absage an den substantialistischen Sinnbegriff des „ContainerModells“, da der Sinn nicht mehr unabhängig vom sinnkonstruierenden Akteur gedacht werden kann. Da der Sinn immer relational auf die jeweiligen Rezipierenden bezogen ist, verändert er sich in Abhängigkeit von ihnen. Er kann daher nicht als unveränderlich im Text ruhend begriffen werden, wo er von einer „korrekten“ Interpretation „aufgefunden“ wird. Dass diese Auffassung durchaus mit Panofskys Ikonographie/Ikonologie-Modell zu vereinbaren ist, soll nun gezeigt werden.

Der Sinn

1.4.2

157 Rezeptionstheoretische Aspekte des Ikonographie/Ikonologie-Modells

Obwohl Panofsky als Kunsthistoriker nicht an einer möglichen Vielfalt empirischer Rezeptionsprozesse interessiert ist, sondern nur an der einen und historisch „korrekten“ Interpretation, lässt sich auch mit der empirischen Rezeptionsforschung an das Ikonographie/Ikonologie-Modell anschließen. Entgegen dem ersten Eindruck lassen sich bei Panofsky nämlich Indizien für einen relationalen Sinnbegriff nachweisen. Sie können nun vor dem Hintergrund von Schütz´ Konzeption des Sinns als Bezugsgröße präzisiert und konturiert herausgearbeitet werden (1.4.2.1). Dabei zeigt sich, dass bei Panofsky der Sinn auf allen drei Interpretationsebenen als Interaktionsprodukt von Bild und Betrachter rekonstruiert werden kann. Diese Relation von Bild und Betrachter lässt sich im Rahmen des Ikonographie/Ikonologie-Modells weiter spezifizieren, indem untersucht wird, wie auf den drei Ebenen die sinnhafte Beziehung zwischen den beiden Interaktionsfaktoren in der Bildrezeption jeweils hergestellt wird (1.4.2.2). Zwischen der vor-ikonographischen und der ikonographischen Ebene einerseits und der ikonologischen Ebene andererseits zeigen sich dabei deutliche Unterschiede. Sie lassen sich zum einen mit dem Begriff der Intentionalität, zum andern mit dem semiotischen Begriff des Codes herausarbeiten. Auch durch diese Präzisierung der Differenz von Vor-/ Ikonographie und Ikonologie gewinnen die rezeptionstheoretischen Aspekte des Ikonographie/IkonologieModells Kontur. 1.4.2.1 Die „subjektiven Quellen der Interpretation“ Panofsky ist am Ideal historischer „Korrektheit“ einer Bildinterpretation orientiert. Wie bereits dargelegt wurde, muss sich der Kunsthistoriker dazu nach Ansicht Panofskys vom „geistig-kulturellen Rüstzeug“ seiner eigenen soziohistorischen Situation lösen, d.h. „sein eigenes subjektives Empfinden (...) korrigieren“ (Panofsky 1978a, S. 22) und zu einer „Angleichung“ u.a. an die „gesellschaftlichen, religiösen und philosophischen Einstellungen“ (ebd.) der Entstehungssituation des zu interpretierenden Bildes kommen. Den „völlig ‚naiven’ Betrachter“ gibt es nach Ansicht Panofskys nicht (ebd. S. 21). Damit berücksichtigt er die Standortgebundenheit des wissenschaftlichen Bildinterpreten – allerdings als Hindernis auf dem Weg zu einer „korrekten“ Interpretation. Mit Hilfe der „Korrektivprinzipien“, die Panofsky für jede Sinnstufe angibt, soll dieses Hindernis überwunden werden (vgl. 1.4.1.1). Hier bietet sich ein erster Anknüpfungspunkt für eine sozialwissenschaftliche Rezeptionsforschung, die die soziale und historische Prägung von Bildbetrachtern nicht als zu eliminie-

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

renden ‚Störfaktor’ ansieht, sondern als Untersuchungsgegenstand. Denn mit der Berücksichtigung des historisch und sozial definierten Standpunkts des wissenschaftlichen Bildinterpreten nimmt Panofsky die Relation BildBetrachter in den Blick, die für die empirische Rezeptionsforschung zentral ist (vgl. Jensen 1986, S. 78). Die standortabhängige Perspektivik des Bildbetrachters sieht Panofsky jedoch nicht nur als Hindernis für eine „korrekte“ Interpretation an. Sie stellt seiner Ansicht nach zugleich auch eine unverzichtbare Ressource für die Sinnbildung dar, ohne die eine „korrekte“ Interpretation unmöglich ist. Denn für jede Sinnstufe nennt Panofsky „subjektive Quellen der Interpretation“ (Panofsky 1987a, S. 203) als Voraussetzung für eine gelingende Interpretation. Bei den „subjektiven Quellen“ bzw. der „subjektiven Ausrüstung“ (Panofsky 1987b, S. 222) handelt es sich um „das Erkenntnisvermögen und de(n) Erkenntnisbesitz des interpretierenden Subjekts“ (Panofsky 1987a, S. 199; vgl. 1987b, S. 222). Auf Basis dieser Fähigkeiten und Wissensbestände des rezipierenden Akteurs ist der Sinn zu erschließen.70 Sie bilden auf allen drei Ebenen die „Grundlage“ (vgl. Panofsky 1987b, S. 214) für die jeweilige Sinnbildung und sind für sie „ebenso unerlässlich wie ausreichend“ (Panofsky 1987b, S. 215 passim). „In welcher Schicht wir uns auch bewegen: Unsere Identifizierungen und Interpretationen hängen von unserer subjektiven Ausrüstung ab“ (Panofsky 1987b, S. 222). Da es sich dabei jedoch um subjektive, d.h. um standortgebundene und perspektivische Erkenntnisquellen handelt, garantieren sie nicht die „Korrektheit“ der Sinnbildungen (Panofsky 1987b, S. 215 ff.). Allein auf Basis der „subjektiven Quellen der Interpretation“ kommt es somit zu Sinnbildungen, die vom Standort und der Perspektive des Betrachters abhängen und mit ihnen variieren. Das Ikonographie/Ikonologie-Modell lässt somit Raum für eine Vielfalt von Sinnbildungen. Erst die Korrektivprinzipien gewährleisten nach Ansicht Panofskys die „Korrektheit“ der Sinnbildungen (bzw. der einen Sinnbildung). Suspendiert man deren Geltung und verabschiedet sich vom Ideal einer „korrekten“ Interpretation, so lässt sich auch mit den Erfordernissen der empirischen Rezeptionsforschung an das Ikonographie/Ikonologie-Modell anschließen. Denn durch Suspendierung der Korrektivprinzipien bekommt die „naive“ und „unkorrigierte“ Auseinandersetzung mit dem Bild Raum zur Entfaltung. Als Grundlage der Sinnbildung sind dann ausschließlich die „subjektiven Quellen“ in ihrer historischen und sozialen Standortgebundenheit von Belang. Die Sinnbildung auf Basis der „subjektiven Quellen“ kann auch bei Panofsky durchaus als relational und als Bezugsgröße im Schütz´schen Sinne rekonstruiert werden, die sich aus der Interaktion von Bilderfahrung und „frühe70

Auf die wissenssoziologischen Implikationen der subjektiven Erkenntnisquellen und die unterschiedlichen Arten des Wissens wird unter 1.4.3.2 eingegangen.

Der Sinn

159

rer Erfahrung“ ergibt. So bezeichnet Panofsky den Phänomensinn als „die Zusammenbeziehung der Erfahrungsvorstellung mit der Bildgegebenheit“ (1987a, S. 194; Herv. B.M.). Seine Konstruktion beschreibt er folgendermaßen: „Diese rein phänomenale Beschreibung setzt nun wirklich nichts weiter voraus, als dass wir uns das Bild gut ansehen und es auf Vorstellungen beziehen, die uns aus der Erfahrung geläufig sind.“ (ebd., S. 190; Herv. B.M.). Der Phänomensinn wird somit hergestellt, indem eine Beziehung gestiftet wird zwischen Bild und früheren „Erfahrungen“. Bildexterne Wissenselemente und Bild treten in Interaktion, um den Sinn hervorzubringen. Auch bzgl. der Konstruktion des Bedeutungssinns auf ikonographischer Ebene spricht Panofsky davon, dass die Rezipierenden bildexterne Erfahrungen („eine literarische Quelle“ bzw. „Bestandteile des eigenen Bildungsbesitzes“; ebd., S. 194) an ein gegebenes Bild „‚anlegen’“ (ebd.) bzw. mit ihm „in Zusammenhang“ (ebd.) bringen und so „die Zusammenbeziehung der außerkünstlerischen Vorstellung (in diesem Falle also eines literarisch überlieferten Inhalts) mit der gegebenen Bilderscheinung“ (ebd.; Herv. B.M.) leisten. Auch hier entsteht der Sinn in der Interaktion von Bild und bildexternem Wissen („etwas bildungsmäßig Hinzugewusste(m)“; Panofsky 1987a, S. 187; Herv. B.M.) und lässt sich als Bezugsgröße dieser beiden Faktoren beschreiben. Hinsichtlich der ikonologischen Herstellung des Dokumentsinns lässt sich bei Panofsky schließlich die Auffassung rekonstruieren, dass das Bild „im Zusammenhang mit unseren allgemeinen Informationen über seine Epoche, Nationalität, Klasse, intellektuelle Tradition und sofort“ zu interpretieren sei (Panofsky 1987b, S. 209; Herv. B.M.). Auch hier ergibt sich der Sinn aus der Relation von Bild und bildexternem Wissen bzw. – in semiotischer Terminologie – aus der Verknüpfung von Signifikant und Signifikat. Die „subjektive Quelle“ bzw. Fähigkeit zum Erfassen des Dokumentsinns auf ikonologischer Ebene bezeichnet Panofsky als „synthetische Intuition“ (Panofsky 1987b, S. 221; Herv. B.M.) – eine Begabung also, die in besonderer Weise auf das Herstellen von Relationen und Zusammenhängen (Synthesen) gerichtet zu sein scheint.71 Obwohl eine sozialwissenschaftliche Rezeptionsforschung ein anderes Erkenntnisinteresse mit dem Thema „Bild“ verbindet als die Kunstwissenschaft, kann auch sie an das als kunstwissenschaftliche Methode konzipierte Ikonographie/Ikonologie-Modell Panofskys anknüpfen. Da sie nicht dem Ideal einer „korrekten“ Interpretation verpflichtet ist, sondern an der Vielfalt empirischer Rezeptionsprozesse interessiert ist, hat sie die Geltung der Korrektivprin71

Auch in den Theorien Karl Mannheims und Ernst Cassirers, auf die sich Panofsky in den beiden Versionen seines Ikonographie/Ikonologie-Modells bezieht (vgl. ders. 1987a, S. 200; 1987b, S. 212 und S. 221), lassen sich relationale Sinnkonzepte nachweisen (z.B. Mannheim 1964c, S. 353; ders. 1980, S. 276; Cassirer 1927, S. 143 f.)

Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

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zipien zu suspendieren und ihr Augenmerk auf die Interaktion der „subjektiven Quellen der Interpretation“ mit dem Bild zu richten, aus der auf drei Ebenen drei Arten des Sinns entstehen. Auf allen drei Ebenen konnte der Sinn bei Panofsky relational als Interaktionsprodukt von Bild und „subjektiven Quellen“ rekonstruiert werden. Gleichwohl gibt es zwischen den beiden ‚unteren’ Sinnebenen und der ikonologischen Ebene wesentliche Unterschiede. Sie sollen nun erörtert werden. 1.4.2.2 Die kategoriale Differenz von Vor-/Ikonographie und Ikonologie Intentionalität Zwischen der vor-ikonographischen und der ikonographischen Sinnebene einerseits und der ikonologischen Ebene andererseits sieht Panofsky einen grundlegenden Unterschied (vgl. Panofsky 1987b, S. 213 f.). Er stellt fest, dass die Ikonologie im Gegensatz zu den beiden anderen Interpretationsebenen nicht aus der Analyse, sondern aus der Synthese hervorgeht (ebd.). Nach den Darlegungen des vorigen Abschnitts kann dies aber nicht so verstanden werden, dass Panofsky für die ersten beiden Sinnebenen einem „Container-Modell“ der Bedeutung verpflichtet wäre. Der Sinn kann bei Panofsky vielmehr auf allen drei Ebenen relational rekonstruiert werden. Eine Annäherung an die Besonderheit der ikonologischen Ebene muss daher auf anderem Weg gesucht werden. In einem Brief an William S. Heckscher äußert sich Panofsky dazu folgendermaßen: „Der Unterschied zwischen Ikonographie und Ikonologie ist meiner Meinung nach nicht so sehr ein Unterschied von Objekten als vielmehr der Vorgehensweise – die, wie es Vorgehensweisen ipso factum tun, eine andere Objektart erzeugt.“ (Heckscher 1987, S. 162 f., Anm. 52). Die Besonderheit der ikonologischen Vorgehensweise führt Panofsky in der späteren Fassung des IkonologieAufsatzes aus und schlägt vor, den Begriff „Ikonologie“ überall dort zu verwenden, „wo Ikonographie aus ihrer Isolierung geholt und mit anderen Methoden – der historischen, der psychologischen, der kritischen, welcher auch immer – vereinigt wird, Methoden, die wir versuchsweise anwenden, um das Rätsel der Sphinx zu lösen.“ (1987b, S. 213) Mit der Methodenvielfalt ist auch eine andere Perspektive auf das Bild verbunden, in der das Bild nicht als „Monument“, sondern als „Dokument“ (vgl. Bätschmann 1992, S. 70) betrachtet wird: Suchen wir ein Bild als ein „Dokument“ einer bestimmten Künstlerpersönlichkeit, einer bestimmten Epoche „oder einer bestimmten religiösen Einstellung zu verstehen, beschäftigen wir uns mit dem Kunstwerk als einem Symptom von etwas anderem, das sich in einer unabsehbaren Vielfalt

Der Sinn

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anderer Symptome artikuliert, und wir interpretieren seine kompositionellen und ikonographischen Züge als spezifischere Zeugnisse für dieses ‚andere’. Die Entdeckung und die Interpretation dieser ‚symbolischen’ Werte (die dem Künstler selber häufig unbekannt sind und die sogar entschieden von dem abweichen können, was er bewusst auszudrücken suchte) sind der Gegenstand dessen, was wir – im Gegensatz zur ‚Ikonographie’ – ‚Ikonologie’ nennen können.“ (Panofsky 1987b, S. 212)

Sie werden synthetisch eruiert, insbesondere durch intensives vergleichendes Quellenstudium (ebd., S. 221). Ein entscheidender Unterschied der Ikonologie zur Vor-/Ikonographie wird im vorliegenden Zitat in Klammern angeführt: Der Ikonologie geht es um denjenigen Sinn, der dem Bildproduzenten oftmals „unbekannt“ bleibt und sich unintendiert ‚hinter seinem Rücken’ in das Bild ‚einschleicht’. Der ikonologische Sinn beruht im Gegensatz zu den beiden anderen Sinnarten auf keiner Intention des Bildproduzenten. Panofsky bezieht sich in diesem Zusammenhang explizit auf Karl Mannheim (vgl. 1.4.1) und greift dessen Begriff des Dokumentsinns auf (Panofsky 1987a, S. 200). Als „letzter wesensmäßiger Gehalt“ dokumentiert sich der Dokumentsinn auf der ikonologischen Sinnebene als „die ungewollte und ungewusste Selbstoffenbarung eines grundsätzlichen Verhaltens zur Welt, das für den individuellen Schöpfer, die individuelle Epoche, das individuelle Volk, die individuelle Kulturgemeinschaft in gleichem Maße bezeichnend ist“ (Panofsky 1987a, S. 200). An anderer Stelle prägt Panofsky für diese „Grundhaltung einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, einer religiösen oder philosophischen Überzeugung“ (ders. 1978a, S. 18), deren Symptome sich auf der ikonologischen Sinnebene des Bildes dokumentieren, den Begriff des „Habitus“ (mental habits) (ders. 1989, S. 18; vgl. 1.3.2 und 1.4.1), der sich als „modus operandi“ (ebd., S. 22), d.h. als generatives Prinzip auch „in einer unabsehbaren Vielfalt anderer Symptome artikuliert“ (1987b, S. 212). Von dort übernimmt Bourdieu seinen Habitus-Begriff (Bourdieu 1974, S. 132) und definiert ihn u.a. als „kollektiv Unbewusstes“ (ebd. 139)72. Im Folgenden wird daher der modus operandi, der sich auf der ikonologischen Sinnebene dokumentiert, auch im Sinne von Bourdieus Habitus-Begriff verwendet. Mit Bourdieu kann daher bzgl. der Symptome des ikonologischen Sinns von einer „intentionslosen Intentionalität“ (Bourdieu 1989, S. 397; s.o.) gesprochen werden. In der späteren Fassung seines Ikonographie/Ikonologie-Modells bezieht sich Panofsky nicht mehr auf Mannheims Dokumentsinn. An seine Stelle rückt er „symbolische Werte“ (Panofsky 1987b, S. 212) und knüpft damit an Ernst 72

Bourdieus Panofsky-Rezeption ist es zu großen Teilen zu verdanken, dass der deutschsprachige Leser Panofskys die ikonologische Sinnebene überhaupt mit dem Begriff des „Habitus“ in Verbindung bringt. In den deutschen Ausgaben der Aufsätze Panofskys finden sich zwar Paraphrasen des mit dem Habitus Gemeinten, der explizite Ausdruck „Habitus“ fällt jedoch nicht. Auch in der deutschen Übersetzung von „Gotische Architektur und Scholastik“ ist nicht von „Habitus“, sondern von „Denkgewohnheit“ (ebd., S. 18) die Rede.

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“ an (Cassirer EA 1923, 1924, 1929; hier: 1997b). Dittmann bezweifelt, dass Panofsky damit am Kriterium der Unbewusstheit festgehalten hat: „Nur für Mannheims ‚Dokumentsinn’ ist die Unbewusstheit, das prinzipiell Atheoretische von ausschlaggebender Bedeutung.“ (Dittmann 1987, S. 347). Demgegenüber vertritt Heidt die Auffassung, dass Panofsky auch „mit dem Gehalt der ‚symbolischen Werte’ die unbewusst wirksame Grundhaltung des Künstlers meint, dass er den Cassirer-Begriff für seine Methode als gleichbedeutend mit dem Dokumentsinn verwendet.“ (Heidt 1977, S. 255) Ergänzend lässt sich darauf hinweisen, dass Panofsky auch in der zweiten, an Cassirer orientierten Version davon spricht, dass die symbolischen Werte „dem Künstler selber häufig unbekannt sind und (...) sogar entschieden von dem abweichen können, was er bewusst auszudrücken suchte“ (1987b, S. 212). Sollte man sich an der Relativierung der Unbewusstheit durch das Adverb „häufig“ stoßen, so kann mit Bourdieu argumentiert werden, dass die Frage nach der Bewusstheit habitusspezifischer Dispositionen nicht nach der Maxime „Alles oder Nichts“ zu entscheiden sei (Bourdieu 1979, S. 207). Mit den prinzipiell zwar präreflexiven Praktiken des Habitus gehe vielmehr stets ein „Moment partiellen, lückenhaften, diskontinuierlichen Bewusstseins“ einher (ebd.). Die Nicht-Intentionalität kann somit als ein Charakteristikum des ikonologischen Sinns herausgearbeitet werden. Entsprechend sind die vor-ikonographische und die ikonographische Sinnstufen durch Intentionalität gekennzeichnet (vgl. Panofsky 1978a, S. 17). Panofsky unterscheidet zwischen dem nicht-intentionalen Gehalt der ikonologischen und dem intentionalen Sujet der ikonographischen Sinnstufe: „Gehalt mag, im Gegensatz zum Sujet, mit den Worten Peirces als dasjenige beschrieben sein, was ein Werk preisgibt, aber nicht prunkend hervorkehrt. Es handelt sich um die Grundhaltung einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, einer religiösen oder philosophischen Überzeugung – all das wird unbewusst von einer einzigen Person ausgewiesen und in einem einzigen Werk 73 verdichtet.“ (1978a, S. 18)

Intentional „zur Schau gestellt“ wird bei einem Bild – auch wenn es dem Bereich der Kunst zuzurechnen ist – immer auch ein kommunikativer Inhalt. Denn jedes Bild ist nach Ansicht Panofskys zumindest auch ein „Kommunikationsmittel“ (Panofsky 1978a, S. 17), dessen Intention „auf die zu übermittelnde 73

Das Peirce-Zitat wird in der ersten Fassung des Ikonologie-Aufsatzes lediglich einem „geistvollen Amerikaner“ zugeschrieben und auf Englisch wiedergegeben (1987a, S. 201). Demnach ist der Gehalt (der Dokumentsinn der ikonologischen Sinnstufe) das, was ein Bild „betrays“, das Sujet (der Bedeutungssinn der ikonographischen Sinnstufe) das, was ein Bild „parades“ (ebd.). M.E. lässt sich für den Unterschied zwischen den Sinnstufen eine glücklichere Übersetzung als die oben zitierte vorschlagen: Der Bedeutungssinn ist das, was ein Bild (intentional) zur Schau stellt („parades“), während der Dokumentsinn das ist, was ein Bild darüber hinaus (nicht-intentional als Symptom des Habitus) verrät („betrays“).

Der Sinn

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Information“ gerichtet ist (ebd.). Auf der ikonographischen Sinnstufe dienen Bilder daher in einer zweckrationalen Beziehung auch den Mitteilungsabsichten des Bildproduzenten. Dabei hat die Intentionalität Konsequenzen für den spezifischen Kommunikationsmodus. Die intentionale Mitteilungsabsicht ist auf konventionelle Zeichen angewiesen, mit deren Hilfe der Bildproduzent seine Intentionen zu verwirklichen sucht, d.h. er wird Mittel einsetzen, von denen er annehmen kann, dass der Bildrezipient sie kennt und versteht.74 Umgekehrt wird ein kooperativer Bildrezipient nach Hinweisen im Bild suchen, aus denen er die Mitteilungsabsicht des Bildproduzenten erschließen kann. Der ikonographische Bedeutungssinn basiert daher (wie die entsprechende Sinnebene in Mannheims Wissenssoziologie) „auf wechselseitigen (reziproken) Motivunterstellungen, die gesellschaftlich institutionalisiert, also ‚objektiviert’ sind und die explizit oder ‚wörtlich’ zum Ausdruck gebracht werden.“ (Bohnsack 1999, S. 68) Die ikonographische Sinnebene zeichnet sich demnach dadurch aus, dass gesellschaftlich institutionalisierte und daher konventionalisierte Bedeutungsschemata zur Anwendung kommen. Die ikonographische Sinnstufe ist daher in höherem Maße durch Konventionalität gekennzeichnet als die ikonologische Sinnstufe (vgl. Kaemmerling 1987a, S. 12). Die Konventionalität wird auch anhand der Interpretationsquellen und der Korrektivprinzipien deutlich, die Panofsky für die ikonographische Interpretation angibt: Sie stützt sich auf „literarisches Wissen“ (1987a, S. 203) bzw. die Kenntnis „literarischer Quellen“ (1987b, S. 223) – also jene Art von kanonisiertem Wissen, die auch nach Schütz mit einer aktuellen Erfahrung in eine sinnhafte Beziehung treten kann: „In allen Gesellschaften werden Stileinheiten des Sinns als kommunikative Gattungen objektiviert und bilden Sinnsetzungstraditionen. In Schriftkulturen werden zusätzlich auch literarische Genres ‚bereitgestellt’, die den Einzelnen noch stärker von eigenständigen Sinnsetzungen und findungen entlasten können.“ (Schütz, s.o.) Dabei ist es keineswegs zwingend, dass sich die Konventionen von Bildproduzent und Bildrezipient decken, d.h. dass die Mitteilungsabsicht des Bildproduzenten ihr Ziel erreicht. Mit Hilfe der Korrektivprinzipien soll sich der Interpret daher an den Konventionen des Bildproduzenten orientieren. Für den Bedeutungssinn der ikonographischen Sinnstufe nennt Panofsky als Korrektivprinzip die „Typenlehre, wobei ich unter ‚Typus’ eine solche Darstellung verstehe, in der sich ein bestimmter Sachsinn mit einem bestimmten Bedeutungssinn so fest verknüpft hat, dass sie als Träger dieses Bedeutungssinnes traditionell geworden ist“ (1987a, S. 194; Herv. B.M.). 74

Dabei kann er sich bei Fotografien unterhalb der ikonographischen Ebene mit ihren konventionellen Zeichen auch auf die vor-ikonographische Ebene stützen. Da Fotos auf dieser Ebene als „Ersatzreize“ für die abgebildete Szene fungieren, kann er davon ausgehen, dass die Rezipierenden den vor-ikonographischen Phänomensinn wie intendiert verstehen.

Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

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Im Vergleich zum Sach- bzw. Phänomensinn der vor-ikonographischen Sinnstufe bedeutet ikonographische Konventionalität, dass die ‚amorph fließende’ Wirklichkeit, die den ‚Rohstoff’ der Fotografie bildet, zu einer etablierten Konfiguration, einem „Typus“75, ‚geronnen’ oder ‚erstarrt’ ist und somit auf einer höheren Stufe als das bloße vor-ikonographische Gegenstandserkennen ein sinnhaftes ‚Entziffern’ dieser Konfiguration erlaubt. Als Beispiel kann die stabile „Verknüpfung“ der Bildelemente „halbnackte Frau“, „abgeschlagener Männerkopf“ und „Schwert“ (= vor-ikonographischer Sach- bzw. Phänomensinn) zum traditionellen Typus der „Judith-Darstellung“ (= ikonographischer Bedeutungssinn) genannt werden (vgl. auch 1.2.2.2). Hinsichtlich der reziproken Motivunterstellung und der Kooperationsbereitschaft der Rezipierenden, die sich auf gemeinsam geteilte Konventionen stützt, kann auch auf die eingangs festgestellte Parallelität von Ikonographie und Modalität Beta verwiesen werden: Bei Modalität Beta muss man annehmen, „es handle sich um den zu Kommunikationszwecken absichtlich erzeugten Ausdruck einer Zeichenfunktion“ (Eco 2000, S. 436), „durch den der Autor mir Interpretationsmöglichkeiten nahelegt“ (ebd. S. 450). Rezeption gemäß Modalität Beta liegt daher vor, wenn sich die Rezipierenden Gedanken über die Mitteilungsabsicht des Autors machen und „Vermutungen darüber anstellen, was der Zeichner >oder allgemeiner: der Bildproduzent; B.M.@ (...) möglicherweise auch hätte sagen wollen“ (ebd.). Die Auswahl dessen, was auf vor-ikonographischer Ebene an einzelnen Bildelementen im Bild dargestellt wird, als auch die narrative Konfiguration der Bildelemente auf ikonographischer Ebene unterliegen im Prinzip (wenn auch nicht in jedem Fall) einer intentionalen Steuerung durch den Bildproduzenten. An diesen Intentionen können sich die Rezipierenden orientieren, ohne dass sie sie tatsächlich treffen müssen. Der Dokumentsinn der ikonologischen Ebene unterliegt dagegen nicht den Intentionen des Bildproduzenten, sondern dokumentiert sich ohne sein Wissen und seine Absicht im Bild. Regel vs. Regelmäßigkeit Der typisierenden Intentionalität auf der Seite des Bildproduzenten entspricht im Idealfall (d.h. im Fall der sich erfüllenden Kommunikatorintention) die kooperative Einstellung auf der Seite der Rezipierenden. Sie ist sensibilisiert für die Mitteilungsabsicht des Bildproduzenten, die ihr jenseits des Bildes oftmals nicht zugänglich ist. Um den vom Bildproduzenten intendierten Sinn zu eruieren, müssen die Rezipierenden daher einen ‚relationierenden Akt’ von Bild und Bewusstseinsinhalt vollziehen, der reziprok ist zu der Verknüpfung, die der 75

Der Begriff des „Typus“ ließe sich unter Bezug auf das Stereotypenkonzept präzisieren (vgl. dazu Mosbach 1999, S. 128).

Der Sinn

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Bildproduzent ‚im Sinn’ hatte. M.a.W.: Dem bildlichen Signifikanten müssen die gleichen Signifikate zugeordnet werden. Dies wird umso leichter gelingen, je institutionalisierter und konventionalisierter das ‚Zuordnungsverhältnis’ geregelt ist, d.h. wenn es eine explizite Zuordnungsregel gibt. Eine solche Regel, die die Zuordnung von Signifikant und Signifikat durch Konventionen institutionalisiert und damit stabilisiert, ist ein Code (vgl. Eco 1977b, S. 86; 1985, S. 242 ff.). Anhand des Code als expliziter (Zuordnungs-) Regel soll ein weiteres Merkmal für den kategorialen Unterschied zwischen Vor-/Ikonographie und Ikonologie erörtert werden, das mit dem Merkmal der Intentionalität zusammenhängt. Durch eine Regel wird nämlich auf der Ebene der Vor-Ikonographie und der Ikonographie der Zusammenhang von bildlichen Signifikanten und Signifikat hergestellt – im Gegensatz zur Ikonologie. Für den Bereich der Ikonographie wurde bereits unter 1.2.2.2 festgestellt, dass sich die Rezeption nach Modalität Beta durch die Applikation eines begrifflichen Schemas auf der Grundlage eines ikonographischen Codes auszeichnet. Eine bestimmte Konfiguration von Personen und Gegenständen als „Familie“, „Schulklasse“, „Salome“ oder „Judith“ zu deuten, beruht auf einem konventionell festgelegten kulturellen Code. Das Wiedererkennen der einzelnen Bildelemente im Bereich der Vor-Ikonographie, das weitgehend der Rezeption nach Modalität Alpha entspricht, wurde oben allerdings mit Barthes als „tautologisch“ und als Rezeption einer Botschaft „ohne Code“ bezeichnet (vgl. 1.2.1.2 und 1.2.2.2). Wie aber auch Eco in seiner Würdigung von Barthes hervorhebt, spricht Barthes ausdrücklich von Fotografien, bei denen das elementare Wiedererkennen tautologisch und ohne Code erfolge (Eco 2000, S. 557, Anm. 35). Gleichwohl kann das Wissen um den tautologischen Abbildungsmodus der fotografischen Darstellung als Regelwissen verstanden werden, auf das sich Bildproduzent und Rezipierende im Sinne von Erwartungserwartungen gleichermaßen stützen können: Der Bildproduzent kann davon ausgehen, dass die Rezipierenden auf der Fotografie einer Rose eine Rose sehen, die Rezipierenden können davon ausgehen – wenn sie sich in kooperativer Einstellung um ein Verstehen der Intentionen des Bildproduzenten bemühen – , dass er ihnen auf dem Foto eine Rose zeigen wollte. Insofern liegt auch bei der vorikonographischen Botschaft ohne Code eine Reziprozität der Erwartungen vor, die aufgrund des Wissens um die Tautologie des Abbildungsverhältnisses als gemeinsamer Verstehensbasis vermutlich stabiler ist als ein (lediglich) konventionalisierter Code. Bei Zeichnungen oder Gemälde dagegen kann auf vor-ikonographischer Ebene durchaus von einem (Darstellungs-) Code geredet werden, der den Zusammenhang von Signifikant und Signifikat regelt. Wie Panofsky anhand von Franz Marcs Gemäldes „Mandrill“ in der Hamburger Kunsthalle erläutert, ist

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

der vor-ikonographische Darstellungscode von Zeichnungen oder Gemälden historischem Wandel unterworfen76: „Wir wissen alle, was ein Mandrill ist; aber um ihn in diesem Bild zu ‚erkennen’, müssen wir, wie man zu sagen pflegt, auf die expressionistischen Darstellungsprinzipien, die hier die Gestaltung beherrschen, ‚eingestellt’ sein. Und die Erfahrung hat gelehrt, dass dieser uns heute sehr harmlos erscheinende Mandrill zur Zeit seiner Erwerbung einfach nicht erkannt wurde (die Leute suchten verzweifelt nach der Schnauze, um sich von da aus einigermaßen zurechtzufinden) (...). (...) Die Hamburger konnten im Jahre 1919 den von Franz Marc gemalten Gegenstand nicht identifizieren, weil ihnen die darstellerischen Prinzipien des Expressionismus bisher noch nicht vorgekommen waren“ (1987a, S. 190 f.)77

Die von Panofsky eingeführten „Korrektivprinzipien“ haben dabei den Zweck, die Kenntnis von ‚untergegangenen’ Codes zu reaktivieren. Seine Korrektivprinzipien können daher auch als Korrelationsregeln von Codes rekonstruiert werden: Die unterschiedlichen Darstellungscodes regeln demnach auf vorikonographischer Ebene in der Diktion Panofskys, „wie (...) Gegenstände und Ereignisse durch Formen ausgedrückt“ (Panofsky 1987b, S. 223) werden. Die „Formen“ bilden die Signifikanten, denen durch den vor-ikonographischen Code „Gegenstände und Ereignisse“ als Signifikate zugeordnet werden. Für den Bereich der Ikonographie regelt ein Mitteilungscode „wie (...) bestimmte Themen oder Vorstellungen durch Gegenstände und Ereignisse ausgedrückt“ (1987b, S. 223) werden. Hier fungieren die „Gegenstände und Ereignisse“ (also die Signifikate des vor-ikonographischen Codes) als Signifikanten des ikonographischen Codes, die mit „Themen und Vorstellungen“ als Signifikate korreliert werden. Der ikonographische Mitteilungscode dient der Mitteilungsabsicht des Bildproduzenten und erlaubt das Verstehen von zu Typen verfestigten Themen und Vorstellungen. Im Bereich der Vor-Ikonographie und der Ikonographie haben die Codes den Status expliziter (oder zumindest explizierbarer) Regeln, im Sinne präskriptiver Vorschriften, die zwischen Bildproduzent und -rezipient ein gemeinsam geteiltes Wissen darstellen können. Bei Fotografien, die auf vorikonographischer Ebene als Botschaften ohne Code angesehen werden, bildet das Wissen um die Tautologie des Abbildungsmodus das gemeinsam geteilte Regelwissen. Wenn sich beide Seiten an dieses Regelwissen ‚halten’ (bzw. beide Seiten Zugang zu dem gleichen Regelwissen haben), kann auf seiner Basis eine Verständigung erzielt werden. 76

77

Eine Besonderheit von Bildern aus dem Bereich der Kunst ist es, dass ihre Darstellungscodes oftmals Idiolekte darstellen, d.h. manche Darstellungscodes kommen nur bei einem einzigen Bild zur Anwendung. Die Betrachter müssen hier den ‚Schlüssel’ zur Decodierung dem Bild selbst entnehmen, während sie ihn bereits anwenden (vgl. Weidenmann 1988, S. 120). Es sei angefügt, dass der von Panofsky im Jahr 1932 als „sehr harmlos“ empfundene expressionistische Darstellungscode kurze Zeit später als „entartet“ verfemt wurde, d.h. die Zuordnungsregel von vor-ikonographischem Signifikant und Signifikat wurde durch die NSIdeologie als „krankhaft“ abgelehnt.

Der Sinn

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Kann auch im Zusammenhang mit der Ikonologie von einem Code im Sinne einer expliziten Regel gesprochen werden, die eine gemeinsame Basis der Verständigung zwischen Bildproduzent und Bildrezipient sein kann? Zwar nennt auch Panofsky für den Bereich der Ikonologie Korrektivprinzipien, deren sprachlicher Ausdruck sich ebenfalls in der Form eines Korrelationscodes wiedergeben lässt: Dieser Code macht Aussagen darüber, „wie (...) wesentliche Tendenzen des menschlichen Geistes >= Signifikat; B.M.@ durch bestimmte Themen und Vorstellungen >= Signifikant; B.M.@ ausgedrückt“ werden (1987b, S. 223). Als Kennzeichen ikonologischer Sinnbildung wurde oben jedoch deren Nicht-Intendiertheit herausgearbeitet. Der Bildproduzent hat nicht die Absicht, einen ikonologischen Sinn zu kommunizieren und kann deshalb auch nicht zweckrational nach kommunikativen Mitteln suchen, die auf Kooperation beim Bildrezipienten stoßen könnten. Die ikonologische Interpretation stützt sich vielmehr auf unbeabsichtigte und dem Bildproduzenten unbewusste Symptome im Bild, die die Weltanschauung des Entstehungskontextes „verraten“, aber nicht intentional „zur Schau stellen“. Nach Ansicht Ecos widerspricht die NichtIntentionalität jedoch nicht dem Vorhandensein eines Codes. Der Code stellt einen „konventionalisierten und sozialisierten“ Zusammenhang her zwischen Signifikant und Signifikat, „wobei es nicht nötig ist, dass der Signifikant absichtlich emittiert wird. (...) Ein Krankheitssymptom ist dann Zeichen, wenn – unabhängig von der Absicht des Patienten – ein Kode der medizinischen Semiotik besteht.“ (Eco 1977b, S. 170 f.). Der Code ist in diesem Fall jedoch keine präskriptive Regel, auf die sich Zeichenproduzent (der Patient) und Zeichenrezipient (der Arzt) als gemeinsame Basis reziprok beziehen. Der medizinische Code ist nur dem Rezipienten bekannt. Ähnlich verhält es sich bei der ikonologischen Interpretation des Dokumentsinns. Sie zielt auf die „Weltanschauung“ (Panofsky 1987b, S.223), die sich einer expliziten Typisierung entzieht und nur „vom Rezeptiven aus“ (Mannheim 1964a, S. 118; vgl. Bohnsack 1989, S. 382, 1999, S. 55) erfasst und einer Typisierung unterworfen werden kann78, d.h. die Typisierung folgt einer Erfassung der Symptome. Zunächst präsentieren sich die Symptome nicht als von einer expliziten Regel geordnet, sondern als Regelmäßigkeit, d.h. als statistisch messbare Häufigkeit. Bourdieu bedient sich zur Unterscheidung von Regel und Regelmäßigkeit einer Begrifflichkeit Quines: Eine 78

Auf den impliziten Charakter der Weltanschauung bzw. des Weltbildes, das sich nicht in konventionellen „Typen“ artikuliert, weist auch Wittgenstein hin: „Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.“ (Wittgenstein 1989, § 94) Und: „Die Sätze, die dies Weltbild beschreiben, könnten zu einer Art Mythologie gehören. Und ihre Rolle ist ähnlich der von Spielregeln, und das Spiel kann man auch rein praktisch, ohne ausgesprochene Regeln lernen.“ (ebd. § 95; vgl. auch hier 1.3.3.2)

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

explizite Regel leitet (guide) Praktiken präskriptiv, eine Regelmäßigkeit passt (fit) deskriptiv auf beobachtete Praktiken (post festum bzw. „vom Rezeptivem her“) (Bourdieu 1979, S. 162; 1993, S. 75). Die Symptome des Habitus, auf die die ikonologische Interpretation zielt, zeichnen sich durch eine Regelmäßigkeit aus, die den Anschein erweckt, sie seien Produkte einer bewussten Regelbefolgung oder -anwendung (vgl. 1.3.1.1). Sie wirken „objektiv ‚geregelt’ und ‚regelmäßig’ (...) ohne aus dem ordnenden Handeln eines Dirigenten hervorgegangen zu sein“ (Bourdieu 1993, S. 99) und „ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein“ (ebd.). Damit die charakteristischen Symptome eines Habitus überhaupt als Regelmäßigkeit wahrgenommen werden können, muss der Interpretation eine Vielzahl von Produkten zugrunde liegen, die Erzeugnisse des gleichen modus operandi sind. Deshalb ist nach Panofsky zur Eruierung des Dokumentsinns auch ein breit angelegtes, vergleichendes Quellenstudium nötig (vgl. Panofsky 1987b, S. 221), da nur im Vergleich „Strukturhomologien“ hervortreten können. Und in diesem Sinne kann nun auch die Besonderheit des ikonologischen Vorgehens als synthetisch vom analytischen bzw. beschreibenden Vorgehen im Bereich der Vor-/Ikonographie abgegrenzt werden, da es sich nicht allein auf das in Frage stehende Werk konzentriert, sondern in komparativer Analyse (vgl. Panofsky 1987b, S. 213 f. und S. 224, Anm. 3) so viele andere Dokumente hinzuzieht und nebeneinander stellt (= Synthese), „wie nur zu bewältigen sind“ (vgl. ebd.). Sie bilden im Bereich der Ikonologie die Korrektivprinzipien, die – anders als bei der Vor-/Ikonographie – dem Bildproduzenten reflexiv nicht zugänglich waren und sich erst post festum ergeben. Die beobachtete Regelmäßigkeit der Habitussymptome lässt sich erst zu einem expliziten Code systematisieren, nachdem sich die regelmäßige Korrelation von Signifikant und Signifikat, die der Code beschreibt, bereits ‚ergeben’ hat. Die dokumentarische Perspektive der ikonologischen Interpretation ist daher eine Beobachterperspektive zweiter Ordnung (vgl. Bohnsack 2001b, S. 2). Diese Systematisierung von Signifikant und Signifikat post festum kann mit Bourdieu als Kodifizierung bezeichnet werden. „Die Kodifizierung stellt einen grundlegenden Wandel dar, eine Veränderung des ontologischen Status, die sich vollzieht, sobald durch die Kodifizierung, eine juridische Tätigkeit, von in praktischem Zustand beherrschten sprachlichen Schemata zu einem Kode, einer Grammatik übergegangen wird.“ (Bourdieu 1992a, S. 103). Als Kodifizierung kann die Rekonstruktion des Dokumentsinns bezeichnet werden, da sie die „generative Formel“ (Bourdieu 1987, S. 332) hinter der Regelmäßigkeit der Habitussymptome expliziert und somit ebenfalls einen radikalen Bruch zwischen Praxis und ‚Grammatik der Praxis’ vollzieht. Eine solche Explikation symptomatischer Regelmäßigkeiten ist aber auch im ‚außerwissenschaftlichen’ Kontext

Der Sinn

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denkbar. Der ursprünglich diffuse ikonologische Dokumentsinn kann sich auch in lebensweltlichem Kontext durch Kodifizierung zu einem ikonographischen Typus verfestigen und so die alltagssprachliche bzw. ‚alltagsbildliche’ Verständigung erleichtern.79 „Kodifiziert werden die Dinge klarer, einfacher, mitteilbarer; Kodifizierung macht einen kontrollierten Konsens über den Sinn, ein homologein, möglich: Man ist sicher, dass den Wörtern derselbe Sinn beigelegt wird.“ (Bourdieu 1992a, S. 106 f.) Dem Gewinn an Kommunikationsmöglichkeit steht der Verlust an Spezifität und Unmittelbarkeit durch Generalisierung gegenüber: „Die Formalisierung, hier verstanden im logischen und mathematischen wie juridischen Sinn, ermöglicht das Übergehen von einer dem Einzelfall verhafteten zu einer übergreifenden Logik. Sie vermittelt den Praktiken, insbesondere denjenigen der Kommunikation und Kooperation, die Beständigkeit, die jenseits individueller Abweichungen und zeitlicher Schwankungen Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit verbürgt.“ (Bourdieu 1992a, S. 107)

Wird ein solcherart formalisierter und explizierter „kommunikativ-generalisierender“ (vgl. 1.4.3.2) Code Teil des common sense, so können sich Kommunikator und Rezipierende reziprok auf ihn beziehen. Als weiterer Unterschied zwischen Vor-/Ikonographie und Ikonologie bleibt daher der Status des Codes festzuhalten: Im Bereich der Vor-/ Ikonographie fungiert der Code (bzw. bei Fotografien das Wissen um die tautologische Darstellungsweise) als explizite, präskriptive Regel, die als gemeinsame Basis zwischen Bildproduzent und -rezipient Verstehen ermöglicht und „leitet“. Im Bereich der Ikonologie dokumentiert sich der Habitus des Entstehungskontext als vom Bildproduzenten nicht-intendiertes Symptom, das zusammen mit anderen Produkten des gleichen modus operandi eine Regelmäßigkeit aufweist, die nur vom „Rezeptiven her“ erfassbar und deskriptiv kodifizierbar ist. Untersucht der Rezipient das Bild auf nicht-intendierte Symptome für den Habitus des Bildproduzenten, der sich im Bild dokumentiert, dann betrachtet er das Bild aus einer Beobachterperspektive zweiter Ordnung als Dokument. Diese Perspektive kann daher als dokumentarisch bezeichnet werden. Bei der vor-/ikonographischen Interpretation kann im Prinzip auf eine explizite Regel Bezug genommen werden, mit deren Hilfe der Sinn deduktiv erschlossen werden kann. Bei der ikonologischen Interpretation gibt es eine solche Regel nicht. In einem ab79

Bei Bildmedien wäre hier z.B. an stilistische Eigentümlichkeiten zu denken, die zu einer begrifflich benennbaren ‚Masche’ werden – im Bereich des Films könnte bspw. der Typ des „film noir“ genannt werden. Unter diesem Begriff lassen sich post festum eine Reihe (nicht intendierter) ikonologischer Besonderheiten zusammenfassen, die sich nach und nach als codierte Bedeutungsgehalte im Rahmen von Remakes, Persiflagen, Werbespots etc. als Zitate aufgreifen und gezielt einsetzen lassen. Allgemeiner könnte man den Prozess der Kodifizierung auch in der Transformation authentischer Stile in bemühte Manierismen sehen (vgl. Bialostocki 1981, S. 58).

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

duktiven Schluss muss daher auf den Sinn und zugleich auf den hinter der Regelmäßigkeit stehenden modus operandi geschlossen werden. Für eine Umsetzung im Rahmen einer empirischen Rezeptionsforschung lassen sich folgende Überlegungen anschließen: Für den Bereich der VorIkonographie und der Ikonographie ist zunächst festzuhalten, dass die Intentionen des Bildproduzenten häufig nicht jenseits des Bildes zugänglich sind, d.h. selbst bei Einnahme einer kooperativen Einstellung ist nicht gewährleistet, dass der rezipierte Phänomen- bzw. Bedeutungssinn tatsächlich dem vom Bildproduzenten intendierten entspricht.80 Dieses Problem ist für eine empirische Rezeptionsforschung aber unerheblich, für sie gilt, was Eco für die Literatursoziologie festgestellt hat: Sie „befasst sich hauptsächlich mit dem, was der einzelne oder eine Gemeinschaft mit Texten anfangen. Sie kümmert sich in diesem Sinn nicht um die Unterscheidung zwischen intentio auctoris, operis oder lectoris, weil sie nur den Umgang der Gesellschaft mit den Texten registriert, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob dieser Umgang richtig oder falsch sei.“ (Eco 1992, S. 38 f.) Für die Rekonstruktion empirischer Rezeptionsprozesse ist vielmehr eine Unterscheidung und Beschreibung der jeweils angewandten „subjektiven Quellen der Interpretation“ (vgl. 1.4.2.1) entscheidend, d.h. für die VorIkonographie die praktische Erfahrung als Basis für ein Wiedererkennen von Personen und Gegenständen und für die Ikonographie die Applizierung kulturell konventioneller Schemata als Voraussetzung der Interpretation etablierter bzw. „typisierter“ Themen. Da in alltagsweltlichen Rezeptionssituationen die Korrektivprinzipien keine Geltung haben (vgl. 1.4.2.1), erfolgt die vor/ikonographische Aneignung des Bildes vermutlich nach den Bedingungen der Rezipierenden, d.h. nach ihren Codes, die sich u.U. mit den Codes der Produktion decken können (vgl. ausführlich 1.4.3.2). Wie lässt sich auf ikonologischer Ebene mit den Erfordernissen empirischer Rezeptionsforschung an das Ikonographie/Ikonologie-Modell anschließen? Prinzipiell lässt sich auch hier der unter 1.4.2.1 vorgeschlagene Weg beschreiten, indem die „subjektiven Quellen der Interpretation“ beibehalten und die Korrektivprinzipien suspendiert werden. Dabei ergeben sich allerdings gewisse Schwierigkeiten. Denn mit der Suspendierung der Korrektivprinzipien und dem Verzicht auf eine vergleichende Analyse mehrerer Erzeugnissen des gleichen modus operandi (was für empirische Rezeptionssituationen der Normalfall sein dürfte) begibt sich die ikonologische Interpretation der spezifisch dokumentarischen Perspektive, d.h. sie ist überhaupt nicht mehr in der Lage Regelmäßigkeiten zu entdecken. Sie kann daher nicht an den Symptomen für den Habitus des 80

Bei Fotografien kann aufgrund der von Barthes herausgearbeiteten Tautologie der Darstellungsweise davon ausgegangen werden, dass sich rezipierter und intendierter Phänomensinn decken.

Der Sinn

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Entstehungskontextes orientiert sein. Zudem muss es als äußerst unwahrscheinlich angesehen werden, dass empirische Rezipierende überhaupt in der Kategorie des Habitus denken. Zwar soll damit nicht ausgeschlossen werden, dass auch in empirischen Rezeptionssituationen eine dokumentarische Perspektive eingenommen (in der vergleichenden Betrachtung mehrerer Fotos etwa) und die Spekulationen über den Habitus des Bildproduzenten angestellt werden können. Es hieße jedoch einen ‚scholastischen Fehlschluss’ begehen, wollte man diese genuin philologische Betrachtungsweise aus einer Beobachterperspektive zweiter Ordnung als gängigen alltagsweltlichen Rezeptionsmodus empirischen Rezipierenden unterstellen. Obwohl eine empirische Rezeption auf der ikonologischen Sinnstufe demnach nicht am Habitus des Entstehungskontexts orientiert sein wird, birgt das Konzept der Ikonologie Potential, das sich nach einer Rekonzeptualisierung für die empirische Rezeptionsforschung fruchtbar machen lässt. Dies wird im nächsten Abschnitt erörtert. 1.4.3 Rezeptionstheoretische Erweiterung des Ikonographie/ Ikonologie-Modells Um auch die an historischer Exaktheit orientierte Ikonologie für die Analyse empirischer Rezeptionsprozesse fruchtbar zu machen, werden einige Akzentverschiebungen innerhalb des Ikonographie/Ikonologie-Modells notwendig. Denn Panofsky interessiert sich auf ikonologischer Ebene für den Habitus des Bildproduzenten und fahndet im Bild nach seinen Symptomen. Eine habitusorientierte Rezeptionsforschung nimmt dagegen die Habitus der Rezipierenden in den Blick und befragt nicht das Bild, sondern die Sinnbildungsprozesse nach Symptomen des Habitus. Trotz dieser Unterschiede kann eine habitusorientierte Rezeptionsforschung auch auf ikonologischer Ebene an das Modell Panofskys anschließen. Die Akzentverschiebungen und Reformulierungen, die dabei gegenüber Panofskys ursprünglicher Konzeption des Ikonographie/IkonologieModells nötig werden, sollen nun erörtert werden. 1.4.3.1 Wechsel des ikonologischen Bezugshorizonts Aus hermeneutischer Perspektive kann man den Habitus mit dem Begriff des „Horizonts“ vergleichen (vgl. 1.3.3.1), „sofern er als geschichtliche Begrenzung und zugleich als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung alle Bildung von Sinn im menschlichen Handeln und primären Weltverstehen konstituiert.“ (Jauß 1991, S. 657) Panofsky bezieht als Kunsthistoriker den Dokumentsinn auf den

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

Habitus des Produktionskontextes. Bezugshorizont, vor dem er den ikonologischen Gehalt eines Bildes interpretiert, ist demnach der historische Horizont der Entstehungszeit und des Entstehungsortes des Bildes. Dass der Bezug der Interpretation auf den Entstehungshorizont jedoch nicht unproblematisch ist, zeigt die Geschichte der Hermeneutik. Die Problematik ergibt sich aus dem möglicherweise erheblichen zeitlichen Abstand zwischen dem Horizont des Werks und dem des Interpreten. Diese Kluft zwischen den Horizonten und die unterschiedlichen Vorschläge zu ihrer Überwindung sind zentrale Problemstellungen in der Geschichte der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik. Als unproblematisch habe der historische Abstand zwischen dem Horizont des Textes und dem Horizont des Interpreten nur gegolten, solange „der Geistbegriff des deutschen Idealismus oder später das Exaktheitsideal des Positivismus der Interpretation den unmittelbaren Zugriff zu verbürgen schien.“ (Jauß 1991, S. 657) Das Problem des historischen Abstands zwischen dem Horizont des Textes und dem Horizont des Interpreten hat Panofsky deutlich gesehen. Zwar ist er an den bewussten und unbewussten Intentionen des Bildproduzenten interessiert, er ist sich aber über die Subjektivität und Standortgebundenheit der Interpretation im Klaren: „Schließlich ist unsere Einschätzung jener ‚Intentionen’ unvermeidlich von unseren eigenen Einstellungen beeinflusst, die ihrerseits ebenso von unseren individuellen Erfahrungen wie von unserer historischen Situation abhängig ist.“ (Panofsky 1978a, S. 18) Um dennoch die Kluft zwischen den Horizonten zu überwinden, ist nach Ansicht Panofskys eine Annäherung des Interpretationshorizonts an den Entstehungshorizont nötig. Dies soll mit Hilfe der Korrektivprinzipien geleistet werden. Sie vermitteln für alle drei Interpretationsstufen eine Einsicht in die jeweilige Traditionsgeschichte und ermöglichen die „Korrektheit“ (Panofsky 1987b, S. 214) der Interpretation. Unter Rückbezug auf die Korrektivprinzipien wird der zeit- und ortsgebundene Blickwinkel des Interpreten quasi „entsubjektiviert“ und „neutralisiert“. Dabei ist die Orientierung am Entstehungskontext im Bereich der ikonologischen Interpretation des Wesens- bzw. Dokumentsinns besonders prekär. Denn einerseits ist es „die höchste Aufgabe der Interpretation, in jene letzte Schicht des ‚Wesenssinnes’ einzudringen. Sie hat erst dann ihr eigentliches Ziel erreicht, wenn sie die Gesamtheit der Wirkungsmomente (also nicht nur das Gegenständliche und Ikonographische, sondern auch die rein ‚formalen’ Faktoren der Licht- und Schattenverteilung, der Flächengliederung, ja selbst der Pinsel-, Meißel- oder Stichelführung) als ‚Dokumente’ eines einheitlichen Weltanschauungssinns erfasst und aufgewiesen hat.“ (Panofsky 1987a, S. 201).

Andererseits handelt es sich bei der „subjektiven Quelle der Interpretation“ auf der ikonologischen Ebene um eine in „eminentem Maße subjektive, man möchte sagen: absolut persönliche Erkenntnisquelle“ (Panofsky 1987a, S. 201), die in besonderem Maße der Korrektur bedarf (Panofsky 1987b, S. 221).

Der Sinn

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Wenn nun im Rahmen der vorliegenden Untersuchung die Standortgebundenheit der Rezipierenden keineswegs „korrigiert“ werden soll, sondern vielmehr deren „naiver“ (Panofsky, Mannheim; s.o.) Horizont als Bezugsgröße der Sinnbildung rekonstruiert wird81, dann ist auch der Bruch mit Panofskys Konzept keineswegs so brachial, wie es auf den ersten Blick erscheinen könnte. Zum einen gesteht Panofsky selbst einem „unkorrigierten“ Zugang zum Bild eine gewisse Berechtigung zu: „Es lässt sich ja eine Betrachtungsweise denken, die sich von den historischen Korrektiven grundsätzlich unabhängig erklärt und nur die einzige Forderung anerkennt, dass das von ihr entworfene Bild der jeweils betrachteten Einzelerscheinungen ein in sich einheitliches und sinnvolles sei, gleichviel ob es in irgendwelche geschichtlichen Zusammenhänge hineinpasst oder nicht. Eine solche Betrachtungsweise (die aus den Texten weder das herausholt, was sie ‚sagen’, noch was sie ‚sagen wollen’, sondern das, was sie im Hinblick auf jenes Einheitsprinzip ‚hätten sagen müssen’) ist aber nicht mehr ‚Interpretation’, sondern freischöpferische ‚Rekonstruktion’, d.h., ihr Wert oder Unwert bestimmt sich nicht mehr nach dem Maßstab geschichtlicher Wahrheit, sondern nach dem Maßstab systematischer Originalität und Folgerichtigkeit.“ (Panofsky 1987a, S. 205 f., Fn. 16)

Zum andern lässt sich auch mit einer rezeptionsorientierten Rekonzeptualisierung des Ikonologie-Konzepts direkt an Panofsky anschließen: Denn Panofskys Suche nach Symptomen des Produktionshabitus im Bild bedeutete bei ihm keineswegs eine ‚positivistische’ Verkürzung der Untersuchung auf das Bild allein. Denn bei der „absolut persönlichen Erkenntnisquelle“ der ikonologischen Sinnebene handelt es sich um nichts anderes als um den Habitus des wissenschaftlichen Bildinterpreten, den er als ‚Werkzeug’ in die Analyse des Produktionshabitus einbringen muss. Grundlage der ikonologischen Interpretation ist nämlich eine „irrationale“ (Panofsky 1987b, S. 221) Begabung des Bildinterpreten zu „synthetischer Intuition“ (ebd.): Der Wesens- bzw. Dokumentsinn wird „intuitiv“ (ebd.) erfasst, indem „das eigene weltanschauliche Urverhalten des Interpreten“ (Panofsky 1987a, S. 201) bzw. die „Psychologie und die ‚Weltanschauung’ des Interpreten“ (Panofsky 1987b, S. 221) – also nichts anderes als der Habitus eines Rezipienten – mit dem Bild interagiert. Die ikonologische Interpretation zielt auf den Habitus (des Bildproduzenten) und bedient sich dabei des Habitus (des Interpreten) als „subjektiver Quelle der Interpretation“. An dieser Stelle wird der doppelte Charakter des Habitus deutlich: Er ist zugleich Prinzip der Erzeugung als auch der Wahrnehmung und Bewertung. Denn nach Bourdieu fungiert der Habitus nicht nur produktiv als Erzeugungsprinzip wahrnehmbarer 81

Das Wechseln der Interpretationsperspektive vom ‚rückwärts’ gewandten Blick auf die Entstehungszeit hin zu den Fragestellungen, die in der Gegenwart an den Text gerichtet werden, die Anerkennung der Wandelbarkeit und historischen Verankerung des Sinns und die grundsätzliche Austauschbarkeit der Bezugshorizonte sind auch innerhalb der geisteswissenschaftlichen, und d.h. eher textorientierten Hermeneutik legitime Optionen (vgl. z.B. Jauß 1970, S. 163; ders. 1991, S. 670).

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

Praktiken (wie z.B. der Produktion eines Bildes), sondern auch rezeptiv „als System von Wahrnehmungs- und Urteilsschemata, als kognitive und evaluative Strukturen“ (Bourdieu 1992b, S. 144; vgl. 1.3.3). „Der Habitus ist gleichzeitig ein System von Schemata der Produktion von Praktiken und ein System von Schemata der Wahrnehmung und Bewertung der Praktiken.“ (ebd.) Er ist daher gleichermaßen als „sinnvolle Praxis und sinnstiftende Wahrnehmung hervorbringende Disposition“ (Bourdieu 1987, S. 278) zu begreifen. Von seinem eigenen Habitus zum Habitus des Bildproduzenten gelangt der wissenschaftliche Bildinterpret nach Panofsky, indem er diese „in so eminentem Maße subjektive(n), man möchte sagen: absolut persönliche(n) Erkenntnisquelle“ (1987a, S. 201; s.o.) seines Habitus den Korrektivprinzipien unterwirft – zum einen, indem er („synthetisch“) nach Strukturhomologien fahndet, in denen sich der gleiche Produzentenhabitus dokumentiert. Zum andern, indem er sich in Auseinandersetzung mit der „allgemeinen Geistesgeschichte“ (Panofsky 1987a, S. 203) bzw. mit der „Geschichte kultureller Symptome“ (Panofsky 1987b, S. 223) eine Vorstellung über das „weltanschaulich Mögliche“ (Panofsky 1987a, S. 203) verschafft und sich so einen Zugang zu historischen Habitusformen erarbeitet. Auch hier ist nicht das Bild allein Grundlage der ikonologischen Interpretation. Der ikonologische Dokument- bzw. Wesenssinn ist vielmehr „zwischen“ Bild und dem außerhalb des Bildes liegenden „weltanschaulichem Urverhalten“ (ebd., S. 201) angesiedelt. Die wesentliche Akzentverschiebung bei einer rezeptionsorientierten Perspektive auf Panofskys Ikonographie/Ikonologie-Modells besteht daher darin, die Interaktion von Bild und Rezipientenhabitus nicht den Korrektivprinzipien zu unterwerfen, sondern sie „naiv“ (s.o.) miteinander interagieren zu lassen. Die Ausklammerung der Korrektivprinzipien lässt Raum für eine Pluralität rezipientenbezogener ikonologischer Interpretationen. Ziel ist dann nicht mehr die „historische Wahrheit“ über den Entstehungszusammenhang eines Bildes. Nicht mehr der modus operandi, der als unbewusstes Prinzip hinter der Erzeugung des Bildes stand und aus Symptomen im Bild erschlossen werden kann82, steht dann im Blickpunkt, sondern der Habitus der Rezipierenden, der in der Interaktion mit dem Bild zur Generierung des ikonologischen Dokumentsinns führt. Immer jedoch ergibt sich der ikonologische Dokumentsinn aus der Interaktion von Bild und ‚einem’ Habitus. Unterschiedlich ist jedoch der ‚Ort’ bzw. das ‚Medium’, in dem sich die Symptome des Habitus dokumentieren. Der Rezeptionshabitus dokumentiert sich ebenfalls als nicht-intendiertes Symptom, allerdings nicht im 82

Prinzipiell hat eine empirische Rezeptionsforschung allerdings keine Vorgaben zu machen: Es ist ja auch der Fall denkbar, dass sich Rezipierende als „Schüler Panofskys“ erweisen und das Bild auf den Habitus des Produzenten beziehen. Es wäre dann freilich zu fragen, inwieweit sich hier auch der spezifische Habitus der Rezipierenden dokumentiert.

Der Sinn

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Bild selbst, sondern im Prozess der Rezeption. Der Rezeptionsprozess ist einer Interpretation zweiter Ordnung nur in versprachlichter Form, bspw. als Gruppendiskurs über ein Bild, zugänglich. Auch ein Diskurs enthält, „da er nach einem nicht bewusst beherrschten modus operandi gestaltet wird, eine, wie die Scholastik sagt, ‚objektive Absicht’, die über die bewussten Absichten seines scheinbaren Urhebers hinausgeht“ (Bourdieu 1993, S. 106) und die sich als „symptomatische Regelmäßigkeit“ ebenfalls nur vom Rezeptiven her erfassen lässt. Im Diskurs über das Bild dokumentiert sich dann der Rezipientenhabitus. Die Pointe der Rekonzeptualisierung der Ikonologie besteht darin, den Sinn als Dreh- und Angelpunkt aufzufassen (und sich somit aus einer etwaigen Fixierung auf innerbildliche Symptome zu befreien) und ihn auch auf der ikonologischen Stufe als Interaktionsprodukt von Bild und Habitus zu begreifen. Über diesen Dreh- und Angelpunkt lässt sich dann die Perspektive vom Produktionshabitus auf den Rezipientenhabitus richten. Der ikonologische Dokumentsinn kann dann weiterhin als Interaktion von Bild und nicht-intendierten HabitusEinflüssen definiert werden. Als Konstanten des Dokumentsinns können außerdem die Nicht-Intentionalität, das symptomhafte Auftreten und die Regelmäßigkeit, die sich aus keiner expliziten Regel ergibt und nur vom Rezeptiven erfassbar ist, festgehalten werden. Die durch den ikonologischen Wesens- bzw. Dokumentsinn gestiftete Verbindungen von „reine(n) Formen, Motive(n), Bilder(n), Anekdoten und Allegorien“ (Panofsky 1987b, S. 212) einerseits und der „ungewollte(n) und ungewusste(n) Selbstoffenbarung eines grundsätzlichen Verhaltens zur Welt, das für (...) die individuelle Epoche, das individuelle Volk, die individuelle Kulturgemeinschaft in gleichem Maße bezeichnend ist“ (Panofsky 1987a, S. 200) andererseits hatte Panofsky auch als „‚symbolische’ Werte“ im Sinne Cassirers bezeichnet (Panofsky 1987b, S. 212). Auch mit Blick auf Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“ kann ein ‚Switchen’ der Perspektive vom Produzenten- zum Rezipientenhabitus bei gleichzeitiger Bezugnahme auf Panofskys Ikonographie/Ikonologie-Modell gerechtfertigt werden. Cassirer definiert „symbolische Form“ folgendermaßen: „Unter einer ‚symbolischen Form’ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.“ (Cassirer 1997a, S. 175). Zielt die ikonologische Interpretation auf den symbolischen Gehalt im Sinne Cassirers, so ist die Lesart durchaus legitim, dass der „geistige Bedeutungsgehalt“, durch den der symbolische Gehalt mitkonstituiert wird, nicht zwangsläufig auf der Seite des Bildproduzenten gesucht werden muss. Es kann vielmehr auch gefragt werden, welche „geistigen Bedeutungsgehalte“ unterschiedlich historisch und sozial situierte Rezipierende an ein „konkretes sinnliches Zeichen“ knüpfen und ihm „innerlich zueignen“.

Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

176 1.4.3.2

Wissenssoziologische Aspekte des Ikonographie/ Ikonologie-Modells

Kollektive Wissensbestände als Ressource der Sinnbildung Nach der rezeptionsorientierten Rekonzeptualisierung der ikonologischen Sinnstufe lassen sich nun alle drei Sinnebenen vergleichen und unterscheiden. Der Sinn ist auf jeder Stufe relational zu definieren und geht, wie oben dargelegt wurde, aus der Interaktion von Bild und bildexternen Wissen hervor, das durch die Rezipierenden an das Bild herangetragen wird. Für jede Sinnstufe gibt Panofsky als jeweils notwendige Wissensbestandteile „subjektive Quellen der Interpretation“ (1987a, S. 203) bzw. die notwendige „Ausrüstung für die Interpretation“ (1987b, S. 223) an. Befragt man diese Interpretationsquellen – unter Suspendierung der Korrektivprinzipien – nach ihrem gesellschaftlichen Verbreitungsgrad, so lassen sich mit Panofsky drei abgestufte Kollektivitätsgrade angeben. Je nachdem, welche Wissensart aktiviert und mit dem Bild in Relation gesetzt, bewegt sich der Rezipient auf der vor-ikonographischen, der ikonographischen oder der ikonologischen Ebene. Im Folgenden sollen nun die drei Sinnstufen hinsichtlich der Art des Wissens und seines Verbreitungsgrades bzw. der „Anwenderreichweite“ (Reckwitz 1997, S. 134) verglichen werden. Mit Panofsky ist dabei festzuhalten, dass sich die drei Stufen nur zu analytischen Zwecken trennen lassen, im Erleben der Rezipierenden aber „miteinander zu einem einzigen organischen und unteilbaren Prozess verschmelzen“ (Panofsky 1987b, S. 222). Vor-Ikonographie Aktivieren die Rezipierenden ihre „vitale Daseinserfahrung“ (Panofsky 1987a, S. 203), zu der insbesondere das Wissen über das „Aussehen“ von Personen, Tieren und Objekten gehört, so rezipieren sie das Bild auf der vorikonographischen Ebene und produzieren den Phänomensinn. „Diese rein phänomenale Beschreibung setzt nun wirklich nichts weiter voraus, als dass wir uns das Bild gut ansehen und es auf Vorstellungen beziehen, die uns aus der Erfahrung geläufig sind.“ (Panofsky 1987a, S. 190) Diese Erfahrungen werden auf allgemeinstem Kollektivitätsgrad geteilt: „Jedermann kann die Gestalt und das Verhalten menschlicher Wesen, von Tieren und Pflanzen erkennen (...).“ (Panofsky 1987b, S. 214) Die vor-ikonographische Beschreibung verbleibt „noch in einer Region von Sinnvorstellungen, die dem Betrachter aufgrund seiner optischen Anschauung, seiner Tast- oder Bewegungswahrnehmung, kurz aufgrund seiner unmittelbaren Daseinserfahrung zugänglich und vertraut sind.“ (Panofsky

Der Sinn

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1987a, S. 187) In ähnlicher Weise hatte Barthes das für die Rezeption der „buchstäblichen“ Bedeutungsebene bei Fotografien aufzubietende Wissen charakterisiert83: „Um diese letzte (oder diese erste) Ebene des Bildes zu ‚lesen’, benötigen wir kein anderes Wissen als das mit unserer Wahrnehmung verknüpfte“ (Barthes 1990b, S. 32). Barthes führt aus, dass die Signifikate dieser Botschaft „von den wirklichen Objekten der Szene gebildet und die Signifikanten von eben diesen fotografierten Objekten“ (ebd. S. 31). Diese Beziehung von Signifikant und Signifikat bezeichnet er als tautologisch (ebd.). Unter Bezug auf die in 1.2 entwickelte eher bildbezogene Begrifflichkeit lässt sich formulieren, dass es auf der vor-ikonographischen Ebene um das Erfassen der Inhaltsseite der figurativen Bildelemente geht (vgl. 1.2.2.1), d.h. die Ausdruckssubstanz des Bildes (der materielle Zeichenträger) wird nicht auf der plastischen Bildebene als Ansammlung von Flecken und Klecksen betrachtet, sondern in die semantischen Einheiten der figurativen Schicht gegliedert. 84 Entsprechend formuliert Panofsky, dass man den Phänomensinn erfasst, „indem man reine Formen identifiziert, nämlich: gewisse Konfigurationen von Linie und Farbe oder gewisse eigentümlich geformte Bronze- oder Steinstücke als Darstellungen natürlicher Gegenstände wie menschlicher Wesen, Tiere, Pflanzen, Häuser, Werkzeuge und so fort“ (Panofsky 1987b, S. 210). Bei Zeichnungen und Gemälden ist dafür u.U. die Kenntnis eines Darstellungs-Codes erforderlich – aber auch nicht zwangsläufig, wie unter 1.2.1.2 festgestellt wurde. Insbesondere bei Fotografien erfolgt das Erfassen der figurativen Elemente unwillkürlich nach Modalität Alpha, in der das Bild als Ersatzreiz für den abgebildeten Gegenstand wahrgenommen wird. „Modalität Alpha liegt vor, wenn man ein Gemälde (oder ein Foto, oder ein Bild im Film, siehe die Reaktion der ersten Zuschauer der Lumières, als sie auf der Leinwand sahen, wie ein Zug in den Bahnhof einfährt) so wahrnimmt, als wäre es die wirkliche ‚Szene’.“ (Eco 2000, S. 436). Als Grundlage der vor-ikonographischen Sinnbildung nennt Bätschmann die „Erfahrung im aristotelischen Sinn wie auch in umgangssprachlicher Verwendung (das Vertrautsein mit alltäglichen Handlungs- und Sachzusammenhängen und die Fähigkeit sicherer Orientierung) und die Prädikation (d.h. die sprachlichen Unterscheidungs- und Orientierungshandlungen).“ (Bätschmann 83

84

Wie Sonesson deutlich macht, lassen sich die weiteren Sinnebenen von Barthes und Panofsky nicht parallelisieren, obwohl dies wiederholt versucht wurde. Lediglich die „unterste“ Ebene – die „buchstäbliche“ bei Barthes und die vor-ikonographische bei Panofsky – könnten als deckungsgleich betrachtet werden. Dafür spricht auch der hier erörterte Punkt des aufzubietenden Wissens (vgl. Sonesson 1989, S. 124; vgl. hier 2.3.2.2). An dieser Stelle wird deutlich, dass sich das Ikonographie/Ikonologie-Modell nur auf gegenständliche Bilder anwenden lässt oder zumindest erhebliche Schwierigkeiten bei der Applikation auf gegenstandslose, abstrakte Kunst bereiten würde (vgl. Bätschmann 1985, S. 105 ff.).

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

1985, S. 106) Vor allem die zweite Komponente streicht einen neuen Aspekt der Vor-Ikonographie heraus: Die Identifikation der figurativen Elemente erfolgt als prädikatives Urteil der Form „S ist p“, wobei S der bildliche Signifikant (die Ausdruckssubstanz) ist und p sein (tautologisches) Signifikat (eine figurative Inhaltseinheit). Durch den Akt der Prädikation wird etwas als etwas wiedererkannt und somit eine Gegenstandsidentifikation erbracht. „Jede Deskription wird – gewissermaßen noch ehe sie überhaupt anfängt – die rein formalen Darstellungsfaktoren bereits zu Symbolen von etwas Dargestelltem umgedeutet haben müssen; und damit wächst sie bereits, sie mag es machen wie sie will, aus einer rein formalen Sphäre schon in eine Sinnregion hinauf.“ (Panofsky 1987a, S. 187) Bezogen auf das Judith/Salome-Beispiel könnten vor-ikonographische Prädikationen „Das ist ein Schwert“ und „Das ist eine Frau“ lauten (vgl. Bätschmann 1992, S. 115). An diesem Beispiel wird deutlich, dass mit der Prädikation eine Subsumtion unter ein allgemeines begriffliches „Raster“ („Schwert“, „Frau“) verbunden ist. Darauf weist auch Schütz mit Bezug auf Husserl hin: „Für das Verständnis des Urteilsgeschehens ist es wichtig zu sehen, dass jedes prädikative Urteil eine Allgemeinheitsform enthält, eine Bestimmung des Gegenstandes ‚als’ so und so seiend.“ (Schütz 1971b, S. 137). Dadurch ergibt sich eine Typisierung und Generalisierung der wiedererkannten Personen und Objekte. Da nach Panofsky das für die vor-ikonographische Prädikation aufzubietende Wissen „jedermann“ zur Verfügung steht (s.o.), können diese Typisierungen nicht primär aus individuellen Erfahrungen resultieren, sondern müssen mit hohem Kollektivitätsgrad geteilt werden. Diese Typisierungen gehen daher dem einzelnen Prädikationsakt voraus und bilden einen präexistenten Stamm kollektiv geteilter Schemata, die in der Sprache sedimentiert sind (vgl. Schütz/Luckmann 1979, S. 194 f.). „Das, was für den einzelnen typisch relevant ist, war meist schon für seine Vorgänger typisch relevant und hat folglich in der Sprache semantische Entsprechungen abgelagert. Kurzum, die Sprache kann als die Sedimentierung typischer Erfahrungsschemata, die in einer Gesellschaft typisch relevant sind, aufgefasst werden.“ (Schütz/Luckmann 1979, S. 283) In der Sprache als einem „einheitlich objektivierenden Medium“ sind „die über viele Generationen angehäuften und als bewährt bestätigten Ergebnisse der Typenkonstitution und Typenabwandlung“ (Schütz/Luckmann 1979, S. 282) abgelagert. Bezogen auf die vorikonographische Rezeption von Fotografien bedeutet dies, dass insbesondere bei einem höheren Anonymitätsgrad zwischen Bild und Betrachtenden (vgl. Schütz/Luckmann 1979, S. 110 f.), d.h. bspw. bei öffentlichem Gebrauch im Gegensatz zu privatem Gebrauch im Sinne Bergers (vgl. 1.2.1.1), die genuin singulären abgebildeten Personen und Objekte unter allgemeine und sprachlich verfasste Schemata subsumiert werden (vgl. auch Schütz 1982, S. 91 ff.). Die

Der Sinn

179

Applikation von Schemata als ein „Dazwischentreten“ zwischen zu erkennender Welt und deren Erkenntnis kann dabei verkannt werden, was sich in einer Reifizierung der Schemata niederschlagen kann (vgl. Städtler 1998, S. 125). Im Bereich der Vor-Ikonographie geht es demnach nicht um das Erfassen von data bruta (sensu Taylor 1975, S. 173 f.), sondern um einen deutenden Akt (vgl. Panofsky 1987a, S. 199). Auch die vor-ikonographische Beschreibung ist eine Konstruktion, die aber nach Panofsky „recht einfach“ (1987b, S. 214) zu leisten sei. Sie erfolgt auf Basis allgemein geteilter, generalisierter Typisierungen, denen die begrifflichen Schemata der Sprache entsprechen. Lediglich ein unvertrauter Darstellungscode kann sich als Hemmfaktor erweisen. Da das auf dieser Sinnstufe einbezogene bildexterne Wissen einen allgemeinen Kollektivitätsgrad besitzt, postuliert Panofsky für die Konstruktion des Phänomensinns eine hohe Übereinstimmung zwischen unterschiedlichen Rezipierenden, d.h. eine Einigung über den Phänomensinn ist auch unter Rezipierenden möglich, die über wenige Gemeinsamkeiten verfügen. Ikonographie Greifen Rezipierende nicht mehr nur auf allgemeines Weltwissen (im Sinne Panofskys), sondern auch auf kulturspezifisches Wissen zurück, um ein Bild zu verstehen, so bewegt sich die Rezeption auf ikonographischer Ebene und produziert den Bedeutungs-Sinn. Um eine ikonographische Deutung leisten zu können, „muss ich nicht nur mit der praktischen Welt von Gegenständen und Ereignissen vertraut sein, sondern auch mit der mehr als bloß praktischen Welt von Bräuchen und kulturellen Traditionen, die einer bestimmten Zivilisation eigentümlich sind.“ (Panofsky 1987b, S. 208). Zur Illustration der unterschiedlichen Kollektivitätsgrade des Wissens bei vor-ikonographischer und ikonographischer Rezeption führt Panofsky einen „australischen Buschmann“ (1987b, S. 208) ein: Auf einer Abendmahlsdarstellung würde er auf Grund seiner praktischen Erfahrung 13 Männer um einen Tisch wiedererkennen und insofern eine vorikonographische Beschreibung liefern, die nicht von der vor-ikonographischen Beschreibung eines beliebigen anderen Betrachters abweichen würde. „Die ikonographische Analyse, die sich mit Bildern, Anekdoten und Allegorien statt mit Motiven befasst, setzt natürlich weit mehr voraus als jene Vertrautheit mit Gegenständen und Ereignissen, wie wir sie durch praktische Erfahrung erwerben. Sie setzt eine Vertrautheit mit bestimmten Themen oder Vorstellungen voraus, wie sie durch literarische Quellen vermittelt wird, sei es durch zielbewusstes Lesen oder durch mündliche Tradition. Unser australischer Buschmann wäre außerstande, das Sujet des letzten Abendmahles zu erkennen.“ (Panofsky 1987b, S. 217).

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

Die ikonographische Analyse stützt sich auf die allgemeinen Konventionen und das „literarische Wissen“ (Panofsky 1987a, S. 203) einer Kultur. Dazu gehören insbesondere etablierte und kanonisierte Geschichten, Fabeln, Erzählungen, Mythen, Sprichworte, typische „Themen und Vorstellungen“ (ebd., S. 223), die unter den Angehörigen einer Kultur gemeinsamer geistiger Besitz sind und auf die sich Bildproduzent und -rezipient reziprok beziehen können. Diese kanonisierten Geschichten und Erzählungen erlauben eine sinnvolle Verbindung herzustellen zwischen den einzelnen, vor-ikonographisch wiedererkannten Bildelementen. Ein Bild mit einem Soldaten auf einem Pferd, Schwert, Mantel und Bettler (= vor-ikonographische Beschreibung) lässt sich bei Kenntnis der entsprechenden Legende als eine Darstellung des Heiligen Martin identifizieren und das Bild eines Cowboys auf einem Pferd, monumentaler Landschaft und Zigaretten unter Einbeziehung des Wissens um Werbeimages als eine Inszenierung der Marlboro-Welt. Die ikonographische Sinnebene weist somit Ähnlichkeit mit der Rezeption nach Modalität Beta auf: „Denn nachdem man, mittels Ersatzreizen, Dinge wahrgenommen hat, sucht man in ihrer Zusammenstellung nach einem Erzählzusammenhang, verlässt die Naturgegebenheit der Wahrnehmung, tritt in die Kunstwelt der Intertextualität ein und erinnert sich nicht mehr an andere Dinge, sondern an andere Geschichten.“ (Eco 2000, S. 451 f.; Hervh. i. Orig.)

Die Erzählungen gehören zum expliziten Bestand einer Kultur (vgl. Bruner 1997, S. 64), der Zusammenhang von Bildelementen und Erzählung ist als Regel kodifiziert, die eine Verwirklichung der Mitteilungsabsicht des Bildproduzenten ermöglicht. Die vor-ikonographischen Elemente lassen sich nach Maßgabe einer kanonisierten Erzählung unter ein stereotypes Schema subsumieren bzw. sinnvoll in eine kanonisierte Erzählung integrieren. Die Reichweite des ikonographischen Wissens umfasst nach Panofsky die „kulturellen Traditionen“ einer „bestimmten Zivilisation“ (s.o.). Wie an seinem Beispiel des „australischen Buschmanns“ deutlich wird, hat das für die vor-ikonographische Beschreibung notwendige Wissen einen allgemeinen, das für die ikonographische Analyse nötige Wissen einen auf einen bestimmten Kulturkreis eingeschränkten Verbreitungsgrad. Anders formuliert: Während auf der vor-ikonographischen Ebene Rezipierende aus unterschiedlichen Kulturen auf Basis „beinahe anthropologischen Wissens“ (Barthes 1990b, S. 32) zu einer übereinstimmenden Deutung des Phänomen-Sinns kommen dürften, die von „jedermann“ (Panofsky 1987b, S. 214) geteilt wird, werden ikonographische Deutungen des Bedeutungs-Sinns kulturspezifische Variationen aufweisen.

Der Sinn

181

Ikonologie Noch enger umgrenzt ist das für die ikonologische Rezeption aufzubietende Wissen. Panofsky nennt hier als subjektive Quelle „das eigene weltanschauliche Urverhalten des Interpreten“ (Panofsky 1987a, S. 201). Damit ändert sich nicht nur die Reichweite des Wissens, sondern ganz entscheidend auch die Art des Wissens und der Modus der Sinnbildung. Denn gemeinsame „Weltanschauungen sind in Gleichartigkeiten des handlungspraktischen Wissens fundiert. ‚Weltanschauungen sind nicht Erzeugnisse des Denkens’, wie Dilthey (...) formuliert hat, d.h., sie sind nicht Produkte des reflektierenden, des theoretischen oder ‚diskursiven’ Bewusstseins. Sie sind also auch nicht explizit abfragbar oder Produkte intendierter Selbstpräsentation.“ (Bohnsack/Nohl 1998, S. 262)

Wie oben argumentiert wurde, kann das „weltanschauliche Urverhalten“ mit dem Habitus-Begriff Bourdieus gleichgesetzt werden (vgl. Bohnsack 1997a, S. 197). Als „Weltanschauungssinn“ (Panofsky 1987a, S. 201) bleibt der Habitus den Akteuren weitgehend unbewusst (vgl. Bourdieu 1979, S. 179) und operiert „jenseits expliziter Vorstellung und verbalem Ausdruck“ (Bourdieu 1985, S. 17). Der Zugriff auf das Bild erfolgt auf ikonologischer Ebene daher intuitiv (Panofsky 1987b, S. 221) und auf der Grundlage „subjektiver“ und „irrationaler“ (ebd.) Erkenntnisquellen. Ebenso sind auch die Interaktionsprodukte von Bild und Habitus, der Wesens- bzw. Dokumentsinn, in rezeptionsorientierter Perspektive dem reflexiven Zugriff des Bildbetrachters entzogen. Der Bereich „des atheoretischen, des fraglos gegebenen oder stillschweigenden Wissens“ und der daraus resultierenden Sinnbildungen kann als milieuspezifisch bezeichnet werden (Bohnsack/Nohl 1998, S. 261). Als nicht-intendiertes Symptom äußert sich der ikonologische Sinn in bildbezogenen Diskursen und kann nur aus einer Beobachterperspektive zweiter Ordnung erfasst werden. Insofern unterscheidet sich die Art des Wissens und die aus der Interaktion mit diesem Wissen resultierende Sinnbildung auf ikonologischer Ebene erheblich von den beiden anderen Sinnstufen. Mit einem solcherart konzeptualisierten atheoretischen Wissens- und Sinnbegriff sind zudem Vorstellungen von Sozialität und Kommunikation verbunden, die sich deutlich von den Auffassungen Schütz´ abheben. Die beiden Vorstellungen sollen nun gegenübergestellt und voneinander abgegrenzt werden. Auf diese Weise lassen sich die Sinnbildungen auf vor-ikonographischer und ikonographischer Ebene noch deutlicher von den Sinnbildungen auf ikonologischer Ebene unterscheiden.

Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

182 Kommunikation vs. Konjunktion

Schütz setzt mit seinen Überlegungen zum sinnhaften Aufbau der sozialen Welt bei den Sinnsetzungsaktivitäten des handelnden Ego an. Sozialität bildet sich bei ihm erst über Interaktion mit Alter Ego heraus, bei der sich die Handelnden wechselseitig gleiche Motive unterstellen. „Ich nehme in Übereinstimmung mit meinem verfügbaren Wissensvorrat an, dass er von denselben Motivtypen geleitet wird, die mich und viele andere früher in typisch ähnlichen Umständen geleitet haben. (...) Wir nennen dies die Idealisierung der Reziprozität der Motive.“ (Schütz 1971a, S. 26) Bohnsack spricht hier von einem „individualistischen Kommunikationsmodell“ (Bohnsack 1993a, S. 46) und führt aus: „Die beteiligten Akteure vermögen ihre bereits im vorhinein subjektiv entworfenen zweckrationalen Handlungspläne erst in der Kommunikationssituation zu koordinieren, um Inter-Subjektivität herzustellen. Dies entspricht einer Kommunikation innerhalb rollenförmiger oder organisierter Sozialbeziehungen.“ (ebd.) Waldenfels kritisiert den Ansatz von Schütz als „egozentrisch“ (1979, S. 5) und setzt ihm einen grundlegenderen Begriff der Sozialität entgegen, der jeder Interaktion vorausliegt. Denn das Verstehen „eröffnet nicht erst den Zugang zu den Anderen, sondern ist von vornherein in einen sozialen Kontext eingebettet. Man müsste dementsprechend die ‚Generalthesis des alter ego’, die die Existenz und Gleichartigkeit anderer Subjekte voraussetzt, umformen in eine ‚Generalthesis des Wir’, die nicht formal anzusetzen wäre, sondern als ein konkretes Einverständnis und mögliches Nichteinverständnis, das von vornherein auch praktisch und affektiv geprägt ist“. (Waldenfels 1979, S. 7)

Das Postulat einer „Generalthesis des Wir“ lässt sich mit dem Modell des „konjunktiven Erfahrungsraums“ nach Mannheim erfüllen, das Bohnsack aufgreift (vgl. 1.3.2.2). Es basiert auf einer „andere(n), fundamentalere(n) Sozialität, bei der die Diskursbeteiligten durch Selbstverständlichkeiten miteinander verbunden sind.“ (Bohnsack 1997, S. 497) Alltagspraxis und Alltagskommunikation wurzeln hier in Gemeinsamkeiten der Alltagsroutine, in Gemeinsamkeiten des Schicksals und des biographischen Erlebens (vgl. Bohnsack 1993a, S. 46), die milieuspezifisch sind (vgl. Bohnsack/Nohl 1998, S. 261). Die Betonung der unmittelbaren Vertrautheit im Medium konjunktiver Verständigung unter Angehörigen eines Milieus bedeutet nun aber keineswegs, dass damit die von Schütz entwickelte Konzeption von Sozialität und Kommunikation obsolet wäre. Es können vielmehr zwei Modi des Verstehens und der Kollektivität unterschieden werden, die aber in vielen Situationen alltäglicher Verständigung gleichzeitig auftreten (Bohnsack 1997b, S. 54; vgl. auch Bourdieu 1989, S. 397). Die Verständigung auf Basis wechselseitiger Typisierungen, die bei Schütz im Zentrum steht, bezeichnet Bohnsack als „kommunikativ-generalisierendes“ Verstehen

Der Sinn

183

(Bohnsack 1997a, S. 197). Denn Schütz geht davon aus, dass die weitaus meisten der lebensweltlichen Typisierungen sprachlich objektiviert sind (vgl. Schütz/Luckmann 1979, S. 283; s.o.). Da sie mit den Kategorien der Sprache korrespondieren, lassen sie sich begrifflich-theoretisch explizieren (vgl. Bohnsack 1993a, S. 47) und sind insofern kommunizierbar. Sie umfassen rollenspezifisches und institutionalisiertes Wissen, das aber nicht zwangsläufig auf selbst gemachten Erfahrungen des Akteurs beruhen muss (s.o.). Diese sprachlich sedimentierten Typisierungen stellen dem Akteur (kommunikative) Orientierungsschemata zur Verfügung (Bohnsack 1997b, S. 54). Mit Hilfe dieser Orientierungsschemata wird alltägliche Verständigung im kommunikativen Modus möglich. Sie beruht auf „Interpretationen im Sinne des typisierenden Erfassens von Um-Zu-Motiven auf der Basis einer – wie es bei Schütz (...) heißt – ‚Reziprozität der Perspektiven’, also einer wechselseitigen Perspektivübernahme. Voraussetzung dafür ist die ‚Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme’, also die (selbstverständliche) Annahme oder Unterstellung, dass es möglich ist, eine Kongruenz herzustellen zwischen dem ‚Orientierungsschema’ des Handelnden und dem ‚Analyseschema’ des interpretierenden ‚Mitmenschen’ (...).“ (Bohnsack 1997b, S. 57)

Die Kongruenz von Orientierungs- und Analyseschema wird durch einen institutionalisierten Code ermöglicht, der als explizite Regel die Kommunikation leitet. Als explizite und begriffliche Typisierungen gehören die kommunikativgeneralisierenden Orientierungsschemata zum gemeinsam geteilten Wissensbestand einer Kultur (vgl. Bohnsack/Nohl 1998, S. 261) und ermöglichen daher die Verständigung „über die Grenzen von Wir-Gruppenbeziehungen, Milieus und kulturellen Segmentierungen hinweg oder zwischen diesen“ (ebd.). Von diesem Bereich der kommunikativ-generalisierenden Verständigung auf Basis kulturspezifischer Orientierungsschemata grenzt Bohnsack den Modus der konjunktiven Verständigung ab. Er beruht – wie bereits erwähnt – auf Gemeinsamkeiten der Milieuzugehörigkeit und ermöglicht „unmittelbares Verstehen der anderen im Medium von Gemeinsamkeiten der Handlungspraxis und des sozialisationsgeschichtlichen Erleben“ (Bohnsack 1997b, S. 57; Herv. i. Orig.). Aus dieser Teilhabe an einem konjunktiven Erfahrungsraum erwächst ein spezifischer Habitus, der die Akteure mit praktischem Wissen versieht (vgl. 1.3.2). Dieses praktische Wissen umfasst auch die Weil-Motive bei Schütz (vgl. Bohnsack 1997b, S. 55) und bildet einen konjunktiven Orientierungsrahmen, der unter Milieuangehörigen intuitives Verstehen ermöglicht (ebd., S. 54). Als praktische, atheoretische und inkorporierte Wissenselemente entziehen sich die im konjunktiven Orientierungsrahmen sedimentierten Erfahrungen für die Akteure weitgehend sprachlicher Explikation und reflexiver Durchdringung. Die Verständigung unter Milieuangehörigen im konjunktiven Modus stützt sich daher auf präreflexive ‚Anspielungen’, erlebnisgesättigte Erzählungen, meta-

184

Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

phorische Umschreibungen, szenische Darstellungen etc., d.h. auf Ausdrucksformen, deren Sinngehalt sich für Außenstehende nur schwer erschließt. Als Milieufremde sind sie auf den kommunikativen Modus angewiesen und müssen sich den impliziten Sinngehalt durch begrifflich-theoretische Explikation erarbeiten (vgl. Bohnsack 1993a, S. 46 f.). Die impliziten und atheoretischen Anspielungen des konjunktiven Modus lassen sich jedoch nicht im gleichen Maße wie die kommunikativ-generalisierenden Codes zu einer expliziten Regel kodifizieren (vgl. 1.4.2.2). Kommunikatives Orientierungsschema und konjunktiver Orientierungsrahmen bilden die beiden Facetten des Orientierungsmusters (vgl. Bohnsack 1997b, S. 54).85 Die beiden Modi der Verständigung stellen keine sich ausschließenden Alternativen dar, sondern treten in vielen alltäglichen Verständigungssituationen gleichzeitig auf und überlagern sich gegenseitig. Nur zu analytischen Zwecken sind sie zu trennen. Sowohl sprachlich sedimentierte kommunikative Erfahrungen als auch präreflexive konjunktive Erfahrungen gehören prinzipiell zu jenem Bereich früherer Erfahrungen, die gemäß der SinnDefinition von Schütz mit einer aktuellen Erfahrung in Beziehung gesetzt werden können und so Sinn hervorbringen (vgl. 1.4.1.2). Mit den Konzepten „kommunikatives Orientierungsschema“ und „konjunktiver Orientierungsrahmen“ lassen sich nun die Unterschiede von Vor/Ikonographie und Ikonologie jenseits der Dichotomie bewusst/unbewusst beschreiben (vgl. dazu auch Bohnsack 1997a, S. 197). Unter Bezug auf den Zuwachs an Kommunizierbarkeit und die Abnahme an Unmittelbarkeit und Spezifität durch Generalisierung – beides Folgen der Kodifizierung – war unter 1.4.2.2 der Verständigungsmodus im Bereich der Vor-Ikonographie und der Ikonographie vorgreifend als „kommunikativ-generalisierend“ bezeichnet worden. Nun lässt sich analog dazu der atheoretische und nicht-intentionale Charakter des ikonologischen Verständigungsmodus als konjunktiv bezeichnen. Auf der Basis der konzeptionellen Unterscheidung von Kommunikation und Konjunktion lassen sich relevante Merkmale der für Ikonographie bzw. Ikonologie jeweils charakteristischen Wissensbestände gegenüberstellen86 und in Anlehnung an die Schemata Panofskys (1987a, S. 203; 1987b, S. 223) tabellarisch aufbereiten: 85

86

Um einer Begriffsverwirrung vorzubeugen, sei darauf hingewiesen, dass beide unter 1.3.3.1 und 1.3.3.2 diskutierte Aspekte des habitusspezifischen Wissens – Erwartungshorizont (model of the world) und System von handlungspraktischen Schemata (model for acting) – unter den Begriff des habitusspezifischen, konjunktiven Orientierungsrahmens fallen. Der hier in Abgrenzung zum konjunktiven Orientierungsrahmen eingeführte Begriff des kommunikativgeneralisierenden Orientierungsschemas deckt sich mit dem unter 1.2.2.2 und 1.3.3.2 erwähnten reflexiv-begrifflichen Schema. Tentativ und simplifizierend lassen sich weitere Merkmale von kommunikativer und konjunktiver Verständigung als Gegensatzpaare einander gegenüberstellen und hinsichtlich ihres sprachlichen Objektivierungsgrades (begrifflich vs. atheoretisch), des Grades der Reflexivität

Der Sinn

185

Abbildung 2

Gegenstandsbereich Operation Interaktionsprodukt Wissensbasis

Vor-Ikonogr. Ikonographie Personen/Objekte Ereignis/ „Geschichte“ Wiedererkennen Wissen Phänomensinn Bedeutungssinn

Ikonologie „Symbolische Werte“, Habitus Intuition Dokumentsinn

Vitale Daseinserfahrung

Weltanschauung Habitus

Konventionen, kanonisiertes Wissen Kultur

Kollektivitäts- allgemein Grad Verstehenskommunikativ-generalisierend Modus OrientierungsOrientierungsschema muster

Milieu konjunktiv Orientierungsrahmen

Integration des Ikonographie/Ikonologie-Modell in das Encoding/ Decoding-Modell An dieser Stelle lässt sich nun ein Bogen schlagen zum Encoding/DecodingModell von Stuart Hall, das im ersten Kapitel als „grundlegend“ für die Rezeptionsforschung vorgestellt wurde (1.1.2.2). Auch Hall arbeitet verschiedene Ebenen der Bedeutung eines Textes heraus. Er unterscheidet „zwischen jenen Aspekten eines Zeichens, die in jeder Sprachgemeinschaft zu jedem Zeitpunkt als ihre ‚wörtliche’ Bedeutung“ wahrgenommen werden und „den eher assoziative Bedeutung für das Zeichen“ (Hall 1999, S. 101). Vor allem jene assoziativen Bedeutungen seien es, die zu Polysemie führen. Doch auch in diesem Bereich dürfe Polysemie nicht mit „Pluralismus“ verwechselt werden (ebd. S. 103), auch hier schlage der aktive Beitrag der Rezipierenden nicht in absolute Autonomie um. Denn auch nach Ansicht Halls führen kollektive Wissensbe(explizit vs. implizit), der Erkenntnisweise (theoretisch-explikativ vs. praktisch-intuitiv), der Gebrauchsweise (konventionalisiert vs. habitualisiert), der Aneignungsweise (kognitiv vs. mimetisch), der Konservierung (kanonisch-kodifiziert vs. inkorporiert), der Motivation (funktionales Um-zu-Motiv vs. weltanschauliches Weil-Motiv), der Normativität (Ethik vs. Ethos), der Performativität (rollenförmig vs. „naiv“), der Rationalität (instrumental vs. traditional) und der Verständlichkeit (vermittelt vs. unmittelbar) unterscheiden.

186

Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

stände zu einer Begrenzung der Sinnbildung: „Jede Gesellschaft bzw. Kultur neigt mit variierenden Graden der Geschlossenheit dazu, ihre jeweiligen Klassifizierungen der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Welt durchzusetzen.“ (Hall 1999, S. 103) Dies gilt sowohl für den Encoding- als auch für den Decoding-Prozess, die Hall symmetrisch, aber voneinander weitgehend unabhängig konzipiert (vgl. Diagramm in 1.1.2.2). Das ‚Bindeglied’ zwischen beiden Prozessen bildet die Signifikantenstruktur des Textes, der je nach gesellschaftlichem Code unterschiedliche Signifikate zugeordnet werden. Da die gesellschaftlichen Hintergründe, in denen die Codes verankert sind, von Textproduzent und Textrezipient nicht identisch sein müssen, kann es zu erheblichen Unterschieden zwischen der encodierten und der decodierten Bedeutung kommen. Denn auf beiden Seiten wird die Sinnproduktion „durchgängig von Bedeutungen und Vorstellungen gerahmt“ (Hall 1999, S. 95), die sich aus den besonderen soziokulturellen Bedingungen des Produktions- bzw. Rezeptionsmilieus ergeben. Auch wenn Hall den Begriff des Milieus nicht explizit verwendet und auch nicht an Bourdieu anknüpft, lassen sich in seiner Beschreibung der Hintergrundbedingungen, die sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Texten prägen, Hinweise dafür finden, dass diese Prozesse u.a. durch habitusspezifische modi operandi strukturiert werden: So werde die (En-) Codierung gerahmt „vom angewandten Wissen aus den Produktionsroutinen, von historisch bestimmten technischen Fertigkeiten, professionellen Ideologien, von institutionellem Wissen, Definitionen und Annahmen, von den Einschätzungen des Publikums etc., die den Aufbau des Programms strukturell mitbestimmen.“ (Hall 1999, S. 95) Analog wirken auch bei der Decodierung Hintergrundbedingungen, die sowohl durch unterschiedliche Wissensbestände als auch durch materielle Ressourcen und Engpässe geprägt werden. In der Interaktion der jeweiligen Hintergrundbedingungen mit der Signifikantenstruktur des Textes entsteht der Sinn. Hall differenziert allerdings nicht explizit zwischen absichtsvollen En- bzw. Decodierungsleistungen und eher „unterschwelligen“, d.h. präreflexiven Prozessen. Dies hat ihm auch verschiedentlich Kritik eingebracht. So monierten u.a. Fiske/Hartley und Morley, das Modell gestatte keine Unterscheidung zwischen den von den Produzenten „bewusst zur Manipulation“ eingesetzten Codes und den Codes, die „automatisch in die Encodierung ein>fließen@.“ (Winter 1995, S. 91) Auf der Seite der Decodierung lasse es nicht zu „die Pole Verständnis/Unverständnis in Bezug auf die textuelle Konstruktion und Zustimmung/Ablehnung trennscharf auseinanderzuhalten.“ (ebd.) In ähnliche Richtung zielt auch die von Hepp vorgetragene Kritik, das Modell erlaube nicht, „zwischen den einzelnen Bedeutungsebenen eines Kommunikats und den Intentionen der Textproduzenten zu unterscheiden, beide verschmelzen im Begriff des Encoding. Ebenso wer-

Der Sinn

187

den mit Decoding sowohl eher unbewusst ablaufende Phänomene wie das ‚Verstehen’ bzw. ‚Missverstehen’ von Medientexten gefasst als auch kommunikative oder doch zumindest innere Handlungen wie ‚Übereinstimmen’ oder ‚Ablehnen’.“ (Hepp 1999, S. 117)

Außerdem erwiesen sich in empirischen Untersuchungen die drei idealtypischen Lesarten, die Hall entwickelt hat, als zu eng und ihre Korrelation mit Klassenunterschieden als zu rigide. Sie böten daher nur „ein grobes und beschränktes Raster für die Erfassung der empirischen Ergebnisse“ (Winter 1995, S. 92). Zumindest einem Teil der Kritik lässt sich begegnen, wenn man das rezeptionsorientiert rekonzeptualisierte Ikonographie/Ikonologie-Modell in das Encoding/Decoding-Modell integriert. Insbesondere die Unterscheidung von intendierten und nicht-intendierten Beiträgen zur Sinnbildung lässt sich mit der Differenz von Ikonographie und Ikonologie durchführen. Durch den Bezug auf die Habitus-Theorie lässt sich zudem die Forderung nach einer weniger ‚grobmaschigen’ Beschreibung der Rezipierenden (und auch der Produzierenden) einlösen. Denn das Habitus-Konzept erlaubt jenseits einer klassentheoretischen Engführung die differenzierte Charakterisierung unterschiedlicher „interpretive communities“. Anhand der grafischen Darstellung lassen sich nun die unterschiedlichen Forschungsperspektiven von Panofsky, Hall und einem rein rezeptionsorientierten Ansatz verdeutlichen87 (siehe folgende Seite). Während Panofsky vom im Zentrum stehenden Bild den linken ‚Ast’ zurückverfolgt, um das Bild mit den dahinterstehenden Habitus-Formen in Beziehung zu setzten, geht es Hall um das Verhältnis der beiden Äste zueinander: Er ist am Grad der Übereinstimmung von intendierter und tatsächlich realisierter Lesart interessiert. Ein rein rezeptionsorientierter Ansatz bildet das Korrelat zu Panofskys Vorgehen und nimmt ausschließlich den rechten Ast in den Blick. Zwar spielt der rechte Ast auch bei Panofsky eine Rolle, jedoch nur als ‚Störfaktor’, der mit Hilfe der Korrektivprinzipien auszuschalten ist. Bei der Untersuchung empirischer Rezeptionsprozesse bleibt der linke Ast unberücksichtigt – unter anderem auch deshalb, weil die vom Bildproduzenten intendierte Lesart meist gar nicht zugänglich ist und daher nicht als Richtschnur für die Überprüfung des Übereinstimmungsgrades von intendierter und realisierter Lesart dienen kann. Zudem sind in dokumentarischer Perspektive gerade jene Beiträge zur Sinnbildung relevant, die jenseits des intentionalen Zugriffs der Akteure als Symptome nur für einen Beobachter zweiter Ordnung erfassbar werden.

87

Die kursiv gesetzten Begriffe stehen jeweils für die aus der (deutschen) Originalversion von Halls Modell übernommenen Termini (Hall 1999, S. 97).

Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

188 Abbildung 3

Programm als „sinntragender“ Diskurs Bild = Signifikantenstruktur

Ü (En-) Kodieren Produktion ž Bedeutungsstrukturen 1 SINN 1 Ikonologie Dokument-/ Wesenssinn

Ikonographie Bedeutungssinn

VorIkonographie Phänomensinn

Þ Dekodieren Rezeption   Bedeutungsstrukturen 2 SINN 2 VorIkonographie Phänomensinn

Ikonographie Bedeutungssinn

Ikonologie Dokument-/ Wesenssinn

n

n

n

n

n

n

Weltanschauung/ Habitus konjunktive O-rahmen

Kulturelle Konventionen (allg.) kom.-gen. O-schema

Vitale Daseinserfahrung kom.-gen. O-schema

Vitale Daseinserfahrung kom.-gen. O-schema

Kulturelle Konventionen (allg.) kom.-gen. O-schema

Weltanschauung/ Habitus konjunktive O-rahmen

Wissensrahmen ž Produktionsverhältnisse ž Technische Infrastruktur

Wissensrahmen ž Produktionsverhältnisse ž Technische Infrastruktur

1.4.4 Fazit Zur Konzeptualisierung des Sinns als Interaktionsprodukt von Bild und Rezipierenden empfiehlt sich ein relationaler Sinnbegriff, wie er sich auch in semiotischen Zeichenmodellen findet: Der Sinn eines Zeichens ergibt sich aus der relationalen Verbindung von manifestem Zeichenträger (Signifikant) und dem von den Rezipierenden hinzugedachten Zeicheninhalt (Signifikat). Mit einem relationalen Sinnbegriff operiert auch Alfred Schütz: „Sinn ist eine im Bewusstsein gestiftete Bezugsgröße, nicht eine besondere Erfahrung oder eine der Erfahrung selbst zukommende Eigenschaft.“ (Schütz/Luckmann 1984, S. 13) An diesen Sinnbegriff soll angeschlossen werden, obwohl es dabei einige Kautelen zu berücksichtigen gilt. Insbesondere kann Schütz nicht in seiner Vorstellung von der prinzipiell reflexiven Sinnbildung und in seiner Auffassung von auf Interaktion beruhender Sozialität gefolgt werden. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit sind gerade habitusspezifische, und d.h. präreflexive Sinnbildungsprozesse von Interesse, die in einer konjunktiven, d.h. konkreten Interaktion vorausliegenden Form von Sozialität wurzeln. Ein Anknüpfen an den relationalen Sinnbegriff

Der Sinn

189

nach Schütz bietet mehrere Vorteile: Der relationale Sinnbegriff erlaubt eine Verknüpfung mit dem Modell der Text-Leser-Interaktion, sowie einen Anschluss an semiotische Zeichenmodelle. Überdies ermöglicht er eine Prononcierung und Konturierung von Panofskys Ikonographie/Ikonologie-Modell. Denn auch bei Panofsky lässt sich ein relationaler Sinnbegriff nachweisen. Sinn entsteht hier durch die „Zusammenbeziehung“ von Bild und den „subjektiven Quellen der Interpretation“ bzw. der „subjektiven Ausrüstung“ der Betrachtenden. Um zu einer „korrekten“, d.h. methodisch abgesicherten und reflektierten Interpretation zu gelangen und zu verhindern, dass die Sinnbildung zur „schweifenden Willkür“ (Panofsky 1987a, S. 199) gerät, muss sich der wissenschaftliche Interpret „Korrektivprinzipien“ unterwerfen. Sie sind zu suspendieren, wenn man das Ikonographie/Ikonologie-Modell für die Beschreibung empirischer Rezeptionsprozesse nutzen möchte, von Prozessen also, die prinzipiell nicht nach der Maßgabe „richtig“ oder „falsch“ zu beurteilen sind. Mit Panofsky können drei Ebenen der Bild-Betrachtenden-Interaktion unterschieden werden, aus denen drei Sinn-Arten resultieren: Der Phänomensinn, der Bedeutungssinn und der Dokumentsinn. Das jeweils aufzubietende Wissen lässt sich hinsichtlich seines Kollektivitätsgrades unterscheiden. Zudem gibt es zwischen Phänomensinn und Bedeutungssinn einerseits und Dokumentsinn andererseits einen kategorialen Unterschied zwischen den aufzubietenden Wissensarten: Während sich Phänomen- und Bedeutungssinn auf kommunikativ-generalisierende Wissensressourcen stützen, kommen bei der Bildung des Dokument-Sinns konjunktive Erfahrungsgehalte zur Interaktion. Deren Symptome sind in der kunstwissenschaftlichen Perspektive Panofskys im Bild aufzuspüren, nach einer rezeptionsorientierten Wendung jedoch im Diskurs über das Bild. Sie sind Symptome für den Habitus – für den Produktionshabitus in der Perspektive Panofskys, für den Rezipierendenhabitus in der Perspektive der Rezeptionsforschung. Damit erweist sich das Ikonographie/Ikonologie-Modell für die vorliegende Fragestellung als besonders angemessen, da sich direkte Anschluss-möglichkeiten sowohl an Bourdieus Habitustheorie als auch an die Dokumentarische Methode Bohnsacks ergeben. Entgegen Panofskys eigener Einschätzung, eine kunstwissenschaftliche Methode entwickelt zu haben (s.o.), ist Bätschmann der Ansicht, es handele sich in erster Linie um ein Modell. „Modell nenne ich eine Konstruktion, in der Gegenstände, Tätigkeiten und Ziele miteinander verknüpft sind und die als leitende Vorstellung für die Entwicklung von Methoden einerseits und von Theorien andererseits dient. Als Methode bezeichne ich ein Verfahren, dessen Voraussetzungen, Schritte und Ziele reflektiert, argumentativ gesichert und deshalb überprüfbar und wiederholbar sind.“ (Bätschmann 1985, S. 95)

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Problemhintergrund und theoretischer Bezugsrahmen

Da nicht angegeben werde, wie auf der ikonologischen Ebene „das Explanans >also der Dokumentsinn; B.M.@ gefunden werden soll (außer durch Intuition), noch wie das Explanandum aus dem Explanans abgleitet werden soll“, handele es sich bei dem Ikonographie/Ikonologie-Ansatz um ein Modell. Als Modell wird der Ansatz auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit angesehen. Mit seiner Hilfe lässt sich die „Oszillation“ (Eco 1992, S. 22) der Sinnbildung zwischen Bild und Rezipierenden nachzeichnen und gleichzeitig die von den Rezipierenden an das Bild herangetragenen Wissensressourcen in kommunikativgeneralisierende und konjunktive Erfahrungsgehalte differenzieren. Innerhalb dieses Modells kann die Sinnbildung als Interaktion von Bild und Rezipierenden in actu nachgezeichnet, expliziert und interpretiert werden. Wie eingangs bereits erwähnt, finden nicht alle unter 1.2 entwickelten bildbezogenen Kategorien und Kriterien Eingang in das Ikonographie/ Ikonologie-Modell. Sie werden parallel dazu weiter mitbedacht. Damit erweist sich das rezeptionsorientiert reformulierte Ikonographie/Ikonologie-Modell als hinreichend offen für die Rekonstruktion empirischer Rezeptionsprozesse. Zugleich ermöglicht es die Formulierung von Fragen, die in dokumentarischer Perspektive an das empirische Datenmaterial gestellt werden und es so zum ‚Sprechen’ bringen können.

2. Empirische Fallrekonstruktionen

Wurden bisher die einzelnen Faktoren der Bild-Rezipierenden-Interaktion, sowie deren Interaktionsprodukt, der Sinn, aus den Perspektiven unterschiedlicher Bezugstheorien rekonstruiert, so soll nun die Interaktion selbst in ihrer Prozesshaftigkeit im Zentrum stehen. Gleichzeitig wird damit der Schritt von allgemein-abstrakten Betrachtungen hin zur Analyse konkreter Einzelfälle vollzogen. Die im ersten Teil der Arbeit diskutierten Überlegungen stellen dabei (metatheoretische) Unterscheidungen dar, die an das empirische Datenmaterial herangetragen werden und so zu einer differenzierten Beschreibung der BildRezipierenden-Interaktion beitragen können. Umgekehrt soll aber auch das empirische Material zu einer Reflexion und Weiterentwicklung der Beschreibungsinstrumente beitragen. Dabei geht es um eine beispielhafte Rekonstruktion der Sinnbildungsprozesse, bei der weniger die konkreten (Einzel-) Fälle als vielmehr das allgemeine Prinzip der Analyse von Bild-RezipierendenInteraktionen von Interesse ist. Als „Fall“ wird im vorliegenden Zusammenhang die Interaktion einer Fotografie mit einem (bzw. mehreren) Rezipierenden betrachtet (vgl. Flick 2000, S. 180). Dabei geht es zunächst darum, die (Sinn-) Konstruktionen der Rezipierenden als „Konstruktionen ersten Grades“ (Schütz 1971a, S. 68) in phänomenologischer Perspektive zu re-konstruieren und sie so einem methodisch kontrollierten Fremdverstehen zugänglich zu machen. Da auch die Rekonstruktionen der Forschenden Konstruktionen sind, stellen sie Konstruktionen zweiten Grades dar, „das heißt Konstruktionen von Konstruktionen“ (ebd.). Wie aber im Zusammenhang mit Bourdieus Kritik an der phänomenologischen Soziologie Alfred Schütz´ dargelegt wurde (vgl. 1.3.3.1 und 1.4.1.2), muss eine an habitusspezifischen Praktiken interessierte Sozialforschung einen „Bruch“ mit dem „von der Sozialphänomenologie explizierten erlebten Sinn“ der Akteure (Bourdieu 1993, S. 52) vollziehen und sozusagen einen Schritt weiter gehen. Sie hat demnach die Konstruktionen zweiten Grades zu transzendieren und nach den Entstehungsbedingungen jener Konstruktionen ersten Grades zu fragen. Dies leistet die Dokumentarische Methode wie sie von Ralf Bohnsack im Anschluss an Karl Mannheim entwickelt wurde.1 Der Doku1

Auf die vielfältigen Überkreuzungen und wechselseitigen Bezugnahmen von Bourdieus Habitustheorie, Panofskys Ikonographie/Ikonologie-Modell, Mannheims Wissenssoziologie und

Empirische Fallrekonstruktionen

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mentarischen Analyse von Bild-Rezipierenden-Interaktionen gilt daher der zweite Teil der vorliegenden Arbeit. Die Dokumentarische Methode ermöglicht dabei ein Nachzeichnen des prozesshaften Entstehens von Sinn in nascendi und eine Beschreibung der Oszillation des Sinns zwischen dem Beitrag des Bildes und dem Beitrag der Rezipierenden in actu. Im ersten Abschnitt dieses zweiten Teils (2.1) wird das Verfahren der Datengewinnung und -auswertung erläutert. Nach diesen Vorbemerkungen zu Methodologie und Methode folgen exemplarische Rekonstruktionen von empirischen Sinnbildungsprozessen, zu denen es bei der Rezeption von zwei Fotografien kam. Als erstes (2.2) werden die Sinnbildungsprozesse rekonstruiert, die sich in der Interaktion der Rezipierenden mit einem syntagmatisch „offenen“ Foto entwickelten. Danach (2.3) folgt die Rekonstruktion von Sinnbildungsprozessen, die sich bei der Rezeption eines syntagmatisch „geschlossenen“ Fotos ergaben. 2.1 Methodologie und Methode Die Dokumentarische Methode kann als das adäquate Verfahren angesehen werden, um kollektive und präreflexive Orientierungen zu rekonstruieren, die sich als Symptome des Habitus in der Auseinandersetzung mit einem Bild dokumentieren. Um Daten für eine solche Dokumentarische Interpretation zu gewinnen, hat sich das Gruppendiskussionsverfahren etabliert, nachdem es durch Bohnsack eine metatheoretische Neuakzentuierung erfahren hat (Bohnsack 1989; vgl. Loos/Schäffer 2000). Da sich das Erkenntnisinteresse auf habitusspezifische Modi der Rezeption richtet, stehen Sinngehalte zur Rekonstruktion an, die sich insbesondere durch ihre Präreflexivität und Kollektivität auszeichnen. Diese Sinngehalte sind in kollektiven Praktiken fundiert, die der reflexiven Durchdringung und der sprachlichen Explikation durch die Akteure weitgehend entzogen sind. Sie lassen sich deshalb per definitionem nicht durch explizite Einzelbefragungen eruieren. Diese Schwierigkeit, die einer Selbstexplikation durch die Akteure entgegensteht, sieht auch Bourdieu und führt aus, „dass der Handelnde, sobald er über seine Praxis nachdenkt und sich damit sozusagen theoretisch in Positur wirft, keine Chance mehr hat, die Wahrheit seiner Praxis und vor allem die Wahrheit des praktischen Verhältnisses zu Praxis zu formulieren: die wissenschaftliche Frageder daran anschließenden Dokumentarischen Methode Bohnsacks wurde oben bereits hingewiesen (vgl. 1.4.1). Die im Rahmen dieser Arbeit vorgenommenen Konzeptualisierungen von Rezipierenden, Bild und Sinn finden mit der Dokumentarischen Methode somit eine besonders gegenstandsangemessene Rekonstruktionsmethode.

Methodologie und Methode

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stellung verführt ihn, gegenüber seiner eigenen Praxis einen Standpunkt einzunehmen, der nicht mehr der des Handelns ist, ohne deswegen der Standpunkt der Wissenschaft zu sein.“ (Bourdieu 1993, S. 165)

Das Besondere der Praxis sei es vielmehr, dass sie Fragen nach ihrer Begründung und ihrem Daseinsgrund gar nicht zulasse. Allein schon die explizite Frage nach dem praktischen Wissen mache es unmöglich, dass sich das Wesentliche der Praxis erschließt (ebd.). Wie Bohnsack deutlich macht, ist auch die kollektive Dimension habitusspezifischen Handelns auf der Grundlage von Einzelinterviews, d.h. in individueller Isolierung der Erforschten nicht in valider Weise zu erheben und auszuwerten (Bohnsack 1997, S. 492). Kollektive Erfahrungen würden vielmehr „dort zur Artikulation gebracht, wo diejenigen in Gruppen sich zusammenfinden, denen diese Erfahrungen gemeinsam sind. Zu ihrer Artikulation bedarf es der wechselseitigen Bezugnahme und Herausforderung im (Gruppen-) Diskurs.“ (ebd.) Sowohl die Dokumentarische Methode als auch das Gruppendiskussionsverfahren wurden in der Literatur in Teilaspekten oder in Gesamtdarstellungen bereits ausführlich erörtert.2 Da zudem im Zuge der Falldarstellungen (2.2 und 2.3) immer wieder der methodische wie auch der methodologische Hintergrund reflektiert werden, sollen an dieser Stelle einige Hinweise auf wesentliche Prinzipien von Gruppendiskussionsverfahren (2.1.1) und Dokumentarischer Methode genügen (2.1.2). Nach der Darlegung dieser allgemeinen methodologischen und methodischen Überlegungen folgt sodann (2.1.3) die Darstellung des konkreten Vorgehens bei der Datengewinnung und -auswertung. 2.1.1 Gruppendiskussionsverfahren Ein wesentlicher Punkt der Neuakzentuierung, die Bohnsack dem Gruppendiskussionsverfahren gegeben hat, betrifft den Kollektivitätsbegriff. In Abgrenzung bzw. Weiterentwicklung von anderen Verfahren, die ebenfalls unter dem Begriff der „Gruppendiskussion“ laufen (vgl. Bohnsack 1997, S. 492 ff.; Bohnsack 2000, S. 369 ff.; Bohnsack/Schäffer 2000, S. 1 ff.; Loos/Schäffer 2000, S. 7 ff.), knüpft Bohnsack an Vorstellungen von Kollektivität an, die mit Mannheims Begriff des „konjunktiven Erfahrungsraums“ verbunden sind (vgl. Mannheim 1980, S. 211 ff.; sowie hier 1.3.2.2). Kollektivität wird hier nicht fremdbestimmt als von außen kommender gesellschaftlicher Zwang im Sinne Durkheim´scher „gesellschaftlicher Tatsachen“ gedacht. Dem Mannheim´schen konjunktiven 2

Vgl. bspw. Bohnsack 1989; 1993; 1997; 1997a; 1999; 2000; 2001a; 2001b; Bohnsack u.a. 1995, S. 7 ff. und S. 425 ff.; Bohnsack/Nohl 1998; Bohnsack/Schäffer 2000; Loos/Schäffer 2000; Meuser 1999; 2001; Michel 2001; 2005a; Nohl 2001; Schäffer 1996; Straub 1999.

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Erfahrungsraum entsprechend beruht Kollektivität vielmehr auf gemeinsam geteilten bzw. strukturidentischen Erfahrungen (Bohnsack/Schäffer 2000, S. 5), die einen spezifischen Habitus hervorbringen. Konjunktive Erfahrungsräume lassen sich daher dadurch charakterisieren, „dass ihre Angehörigen, ihre Träger durch Gemeinsamkeiten des Schicksals, des biographischen Erlebens, Gemeinsamkeiten der Sozialisationsgeschichte miteinander verbunden sind. Dabei ist die Konstitution konjunktiver Erfahrung nicht an das gruppenhafte Zusammenleben derjenigen gebunden, die an ihr teilhaben.“ (Bohnsack 1999, S. 131) 2.1.1.1 Zugang zum konjunktiven Erfahrungsraum Einen validen Zugang zu dieser Ebene von Sozialität und dem damit verbundenen praktischen Wissen versprechen die selbstläufigen Diskussionen von Realgruppen. Unter „Realgruppen“ werden Gruppen mit einem konjunktiven Erfahrungsraum verstanden, die nicht eigens zum Zweck einer Gruppendiskussion ‚zusammengestellt’ wurden, sondern über eine gemeinsame Interaktionsgeschichte verfügen, da sie im Alltag durch eine gemeinsame Handlungspraxis miteinander verbunden sind (bspw. in einer „Clique“). In den Diskursen von Realgruppen werden jene präreflexiven und kollektiven Orientierungen, die aus einem konjunktiven Erfahrungsraum resultieren und einen spezifischen Habitus prägen, zur Artikulation gebracht (vgl. Bohnsack 2000, S. 377 f.). Durch das Prinzip der „Selbstläufigkeit“ soll der Gruppe Gelegenheit gegeben werden, ihr gruppenspezifisches Relevanzsystem möglichst ungehindert und unbeeinflusst zu entfalten. Nur dann lässt sich untersuchen, innerhalb welcher (konjunktiver Orientierungs-) Rahmen bestimmte Themen verhandelt werden. Den Forschenden kommt daher die (etwas paradoxe) Aufgabe zu, unter den Gruppenmitgliedern einen Diskurs zu initiieren, ohne ihn (allzusehr) zu strukturieren. Dadurch soll dem Diskurs die Möglichkeit gegeben werden, sich auf die Erlebniszentren der Gruppe einzupendeln, von denen aus ein Zugang zur Rekonstruktion der zentralen Orientierungsmuster der Gruppe gefunden werden kann. Das Ziel der Selbstläufigkeit ist erreicht, wenn sich der Gruppendiskurs nach einem Initialimpuls durch die Diskussionsleitung ohne weitere Interventionen durch die Forschenden weiterentwickelt bzw. sich sogar dramaturgisch steigert bis das Thema (oder die Themen) für die Gruppe erschöpfend behandelt wurde. Der Idealfall wäre die Herstellung einer ‚natürlichen’ Gesprächssituation der Gruppe, bei der sie die Gegenwart der Forschenden ‚vergisst’ (vgl. Bohnsack 1997, S. 499; Bohnsack 1999, S. 75, S. 213; Bohnsack/Schäffer 2000, 7 f.; Loos/Schäffer 2000, S. 49 f.).

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Auch wenn mit der Initialfrage der Gruppe ein Thema vorgegeben wird – in der Regel das im Zentrum der Untersuchung stehende, im vorliegenden Fall also die zu rezipierenden Fotografien – bleibt das Ziel die Selbstläufigkeit des Diskurses. Denn von Interesse ist, wie sich die Gruppen mit einem Thema auseinandersetzen, d.h. innerhalb welcher Orientierungsrahmen ein (möglicherweise auch fremdbestimmtes) Thema behandelt wird. Im Gruppenvergleich kann dieses allen Gruppen in gleicher Weise ‚vorgesetzte’ Thema als „tertium comparationis“ (dazu unten mehr) fruchtbar gemacht werden, indem es die gruppenspezifischen Besonderheiten, d.h. die unterschiedlichen „Wie“ der Sinnbildung, besonders deutlich hervortreten lässt. Bohnsack spricht in diesem Zusammenhang von der „methodisch kontrollierte(n) Verschränkung zweier Diskurse“ (Bohnsack 1999, S. 212), nämlich dem Diskurs der Gruppenmitglieder untereinander auf der einen Seite und dem Diskurs der Gruppe mit den Forschenden auf der anderen Seite. Selbstläufigkeit bedeutet hier, den Diskurs der Gruppenmitglieder untereinander so weit wie möglich in den Vordergrund zu stellen (Bohnsack/Schäffer 2000, S. 7; vgl. hier 2.1.3.4). In selbstläufigen Diskursen von Realgruppen dokumentiert sich dann der spezifische modus operandi einer Gruppe, der durch den konjunktiven Erfahrungsraum der Gruppe geprägt wurde. 2.1.1.2 Stellenwert und Formalstruktur der Sinngehalte ‚Wofür’ eine einzelne Gruppe bzw. der Diskurs einer Gruppe ‚steht’, war lange Zeit umstritten, d.h. es war unklar, inwieweit von einer Gruppendiskussion weitergehende Schlüsse gezogen und Generalisierungen geleistet werden können. Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts standen sich scheinbar unvereinbare Extrempositionen gegenüber, die sich anhand der Gegensatzpaare „Prozess vs. Struktur“ und „Emergenz vs. Repräsentanz“ diskutieren lassen (Loos/Schäffer 2000, S. 87 ff.; Bohnsack/Schäffer 2000, S. 6 f.). Mit dem Gegensatzpaar „Prozess vs. Struktur“ wird die Frage aufgeworfen, ob mit dem Gruppendiskussionsverfahren nur Erkenntnisse über die Prozesse der konkreten Gruppe gewonnen werden können, oder ob sich auch Strukturen herausarbeiten lassen, die auf tieferliegende „Großgruppenphänomene“ wie Milieu, Geschlecht, interpretive communities oder Generation verweisen (Loos/Schäffer 2000, S. 87 f.). Im ersten Fall sind die Ergebnisse nur für die jeweilige Gruppe aussagefähig und haben nur eine lokale und temporäre, d.h. situative Gültigkeit. Im zweiten Fall können die zutage tretenden Orientierungsmuster als „Epi-Phänomene“ für jene tieferlegenden bzw. übergeordneten Strukturen angesehen werden. Damit zusammen hängt die Gegenüberstellung von „Emergenz vs. Repräsentanz“: In prozessorientierter Sicht emergiert in einer Gruppendiskussion

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Empirische Fallrekonstruktionen

lediglich situativ zufälliger Sinn, der ohne Kenntnis des Kontexts – für Teilnehmende wie für Forscher – nicht nachvollziehbar ist. Weitere Diskussionen der gleichen Gruppe führen in dieser Perspektive zu völlig andersartigen Ergebnissen, da sich auch die Situationsdefinition geändert hat. Dagegen betont die „Repräsentanzperspektive“, dass in der Diskussion von Realgruppen nicht situativ zufälliger Sinn „ausgehandelt“ wird. Sie geht vielmehr davon aus, dass sich in der Diskussion über die Gruppe hinausgehende Strukturen repräsentieren, die der jeweiligen Diskussion zugrunde bzw. ihr vorausliegen (vgl. Loos/Schäffer 2000, S. 87 f.; Bohnsack/Schäffer 2000, S. 6 f.; Bohnsack 2000, S. 371 ff.). Die Weiterentwicklung des Gruppendiskussionsverfahrens durch Bohnsack besteht – neben der Neuausrichtung des Kollektivitätsbegriffs – nun darin, diese Gegensätze zu überwinden bzw. zu integrieren. In der Diskussion einer Realgruppe emergiert demnach weder situativ zufälliger Sinn, noch ist die Sinnbildung losgelöst von ihrer Prozesshaftigkeit allein auf das Wirken tieferliegender Strukturen zu verkürzen. Vielmehr manifestieren sich im Prozess des Gruppendiskurses Muster kollektiver Orientierungen, die über die jeweilige Gruppe hinaus auf übergeordnete bzw. tieferliegende soziale Zusammenhänge verweisen und sie repräsentieren. Für diese Verschränkung der verschiedenen Perspektiven haben Loos und Schäffer den Begriff der „repräsentanten Prozessstruktur“ geprägt (dies. 2000, S. 88; vgl. Bohnsack/Schäffer, S. 5). Vermittlungsinstanz zwischen der Prozessstruktur des Diskurses und der Ebene der „Großgruppenphänomene“ ist der Habitus: Er ist durch jene tieferliegenden Strukturen geprägt („strukturierte Struktur“; Bourdieu 1981, S. 197; Bourdieu 1993, S. 98 f.; Bourdieu/Wacquant 1996, S. 173) und erzeugt seinerseits als generative Formel die eigentümliche Prozessstruktur des Gruppendiskurses („strukturierende Struktur“; ebd.). Als „repräsentante Prozessstruktur“ artikuliert sich der modus operandi eines bestimmten Milieus in den selbstläufigen Diskussionen von Realgruppen. Richtet man bei einer Gruppendiskussion die Perspektive auf die Modi ihrer Erzeugung, also auf die generative Formel des gruppenspezifischen Habitus, dann erweist sich ihre auf den ersten Blick „scheinbar emergente und kontingente Prozesshaftigkeit (...) sehr wohl strukturiert“ (Loos/Schäffer 2000, S. 89). Bohnsack hält daher fest, dass die Gruppe nicht „der soziale Ort der Genese und Emergenz“ kollektiver Erlebnisschichtungen sei, sondern derjenige ihrer „Artikulation und Repräsentation“ (Bohnsack 2000, S. 378). Die Gruppe sei daher ein „‚Epi-Phänomen’“, das einen empirisch validen Zugang zur Artikulation kollektiver Sinnzusammenhänge eröffne (ebd.). Die hinter der Themenabfolge liegende Prozessstruktur einer Gruppendiskussion erschließt sich durch eine Analyseeinstellung, die nicht auf das „Was“ der thematischen Inhalte gerichtet ist, sondern auf das „Wie“ der Bearbeitung dieser Themen (Loos/Schäffer 2000, S. 89). Auf die Sinnbildungsprozesse bei

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der Rezeption von Fotografien bezogen heißt dies, dass sich der habitusspezifische Sinn primär nicht darin äußert, was die Rezipierenden (thematisch) über die Bilder sagen, sondern wie sie sich (szenisch, metaphorisch, stilistisch, praktisch u.a.) zu einem Bild ins Verhältnis setzen. Daher gewinnt die detaillierte Analyse der Formalstruktur von (verschriftlichten) Gruppendiskussionen ein besonderes Gewicht bei der Untersuchung habitusspezifischer Sinnbildungsprozesse. Die Rekonstruktion setzt hier zum einen bei der Organisation des Diskurses an, zum anderen bei seiner Dramaturgie (vgl. Bohnsack 2000, S 376). Unter der Diskursorganisation wird die Art und Weise verstanden, wie die Gruppenmitglieder aufeinander Bezug nehmen. Sie vermittelt einen Eindruck von der kollektiven Praxis der Gruppe und ermöglicht dadurch die Überwindung einer individuell-intentionalistischen Interpretationsperspektive, bei der die Intentionen der einzelnen Gruppenmitglieder Bezugspunkte sind, nicht aber habitusspezifische und d.h. kollektive und nicht-intentionale Praktiken (vgl. Loos/Schäffer 2000, S. 63 ff.; Bohnsack 1999, S. 154 f.; S. 241, Anm. 43). Die Rekonstruktion der Diskursdramaturgie zeichnet den Diskursverlauf hinsichtlich seiner interaktiven Steigerungen und Verdichtungen nach. Phasen hoher interaktiver und metaphorischer Dichte bezeichnet Bohnsack als „Focussierungsmetaphern“ (z.B. 1999, S. 154). Interaktive Dichte und lebendige Anschaulichkeit der Beschreibung können als Beleg für die „Authentizität“ der Darstellung, d.h. für die hohe erlebnismäßige Verankerung einer Schilderung angesehen werden. Solche diskursdramaturgisch herausgehobenen Höhepunkte des interaktiven Engagements markieren Zentren des gemeinsamen Erlebens einer Gruppe (vgl. Bohnsack 1999, S. 183). Dramaturgische Steigerungen versprechen daher Zugang zu den konjunktiven Erlebniszentren einer Gruppe und damit zur Rekonstruktion ihres konjunktiven Orientierungsrahmens. Die metaphorische Verdichtung, d.h. die bildhafte Sprache der Darstellung verweist auf das präreflexive, wesentlich handlungspraktisch fundierte Erleben der Gruppe, für dessen Beschreibung (noch) keine kommunikativ-generalisierenden Begriffe zur Verfügung stehen. Mittels sprachlicher Bilder, Inszenierungen, Anspielungen, Umschreibungen, exemplifizierender Erzählungen etc. sucht die Gruppe im wechselseitigen, sich oftmals gegenseitig ‚hochschaukelnden’ Diskurs ihre kollektiv geteilten Erfahrungen zu benennen. Zentren des kollektiven Erlebens lassen sich somit – durch die Identifikation und Interpretation von Focussierungsmetaphern – anhand der formalen Struktur der Diskursgestaltung rekonstruieren. Sie liefert daher wichtige Anhaltspunkte für eine Rekonstruktion des gruppenspezifischen modus operandi (vgl. Bohnsack 1999, S. 75, 100 f., 152, 183). Damit sind bereits Fragen der Auswertung und Interpretation berührt, auf die nun eingegangen werden soll.

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2.1.2 Dokumentarischen Methode Lässt man Realgruppen über Fotografien diskutieren, so können mit Hilfe der Dokumentarischen Methode die präreflexiven und kollektiven Orientierungen des gruppenspezifischen Habitus rekonstruiert und in ihrem Beitrag zur Sinnbildung gewürdigt werden. Im Gruppendiskurs manifestiert sich der Sinnbildungsprozess in nascendi, der in der Interaktion von Fotografie und Rezipierenden entsteht. Einige Prinzipien der Dokumentarischen Methode sollen nun dargelegt werden. 2.1.2.1 Genetische Perspektive Um die kollektive und präreflexive Dimension der mit dem Habitus verbundenen Sinnkonstruktionen in ihrer Prozesshaftigkeit adäquat rekonstruieren zu können, bedarf es einer Forschungsperspektive, die sich von der Perspektive der phänomenologischen Soziologie unterscheidet bzw. über sie hinausgeht. Denn die phänomenologische Soziologie wendet sich in „natürlicher Einstellung“ dem gleichen Gegenstand zu wie die Akteure selbst, nämlich dem – für Akteur wie für Forschende gleichermaßen reflexiv verfügbaren – kommunikativen Sinn (vgl. Bohnsack 1997b, S. 54; Bohnsack 2001b; hier 1.4.3.2). Als Konstruktionen zweiten Grades zeichnet sie diese Sinnbildungen ersten Grades nach ohne nach ihrem Konstitutionszusammenhang zu fragen (vgl. Bourdieu 1979, S. 150 f.). Es liegt auf der Hand, dass eine begriffliche Explikation der praktischen Wissensbestände und der mit ihnen verbundenen Sinnbildungsprozesse im konjunktiven Modus, die den Akteuren selbst intentional nicht verfügbar sind, mit der „natürlichen Einstellung“ der Lebenswelt brechen muss, d.h. die Perspektive der Epoché einnehmen muss (vgl. Bohnsack 1999, S. 97). Diese Orientierung auf das praktische Wissen ist nur „vom Rezeptiven aus“ (Mannheim 1964a, S. 118; vgl. Bohnsack 1989, S. 382, 1999, S. 55), d.h. für einen Beobachter zweiter Ordnung zu leisten. Sie hat nicht das Was des von den Akteuren reflexiv erfassbaren Sinns zum Gegenstand, sondern ist auf das „Wie, also auf die Logik oder den modus operandi der Prozesse der Herstellung von Sinnzuschreibungen“ gerichtet (Bohnsack 2001a, S. 3; Herv. i. Orig.). Diese Perspektive wird von Bohnsack im Anschluss an Mannheim als „genetische Analyseeinstellung“ (ebd.) bezeichnet. Sie ist konstitutiv für die Dokumentarische Methode und zielt auf die Rekonstruktion konjunktiver Sinngehalte. Gleichwohl wird damit im vorliegenden Zusammenhang die Frage nach dem „Was“, d.h. nach den kommunikativen Sinngehalten nicht obsolet. Denn wie im Anschluss an Panofskys Ikonographie/Ikonologie-Modell argumentiert

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wurde, ist der Sinn bei der Rezeption von Fotografien als Mehrebenenphänomen zu beschreiben. Neben den habitusspezifischen Sinnbildungsprozessen auf ikonologischer Ebene sind daher auch die kulturspezifischen Sinnbildungsprozesse auf ikonographischer und die „allgemein anthropologischen“ (Barthes) Sinnbildungsprozesse auf vor-ikonographischer Ebene zu berücksichtigen. Da es auf vor-ikonographischer und ikonographischer Ebene um inhaltlich-thematische Sinnkonstruktionen im Medium kommunikativ-generalisierender Verständigung geht, erschließen sich diese Sinnbildungen – anders als die habitusspezifischen Sinnbildungen auf der ikonologischen Ebene – durch „Was“-Fragen (vgl. Bohnsack 2001b, S. 2 ff.). In einem zweiten Schritt sind jedoch auch diese vorikonographischen und ikonographischen Sinnbildungs-prozesse auf ihren habitusspezifischen Gehalt zu befragen. Denn mit Karl Mannheim kann man davon ausgehen, dass sich ein spezifischer Habitus auch im „Was“ der Rede dokumentiert, d.h. darin, dass eine Person oder Gruppe „gerade dies sagt (und nicht etwa einen anderen theoretischen Gehalt)“ (Mannheim 1964a, S. 134). Bohnsack spricht in diesem Zusammenhang von der „charakteristischen Selektivität“ eines Habitus bei der Behandlung eines Themas (Bohnsack 1999, S. 46), die nur vom „Rezeptiven“ in vergleichender Perspektive sichtbar wird (vgl. ebd. S. 47). Auch die vor-ikonographischen und ikonographischen Sinnbildungen lassen sich daher in genetischer Einstellung interpretieren. Als Beobachtungen erster Ordnung werden die Sinnkonstruktionen der Rezipierenden somit auf allen drei Ebenen im Rahmen der Dokumentarischen Analyse aus einer Beobachterperspektive zweiter Ordnung betrachtet (vgl. Bohnsack 2001b, S. 1 ff.). 2.1.2.2 Der Habitus als Basis ikonologischer Sinnbildung Bei dieser Überlagerung der Interpretationsebenen empfiehlt es sich, die ikonologische Ebene etwas genauer anzusehen: In Panofskys ursprünglichem, d.h. nicht rezeptionsorientiert gewendeten Modell (vgl. 1.4.3.1) entspricht die ikonologische Interpretation der dokumentarischen Analyse (vgl. Bohnsack 2001a, S. 6 f.; 2001b, S. 2 und S. 4), da sie auf die Explikation des sich im Bild dokumentierenden Habitus des Bildproduzenten zielt. Hier gilt es nun zu differenzieren: Auch in Panofskys ursprünglicher Konzeption der ikonologischen Interpretation, die auf den Habitus des Bildproduzenten gerichtet war, wird die Basis der Interpretation durch den Habitus des (kunstwissenschaftlichen) Bildbetrachters gebildet (vgl. Panofsky 1987a, S. 201). Auch der wissenschaftliche Interpret produziert demnach in der Interaktion mit dem Bild auf Basis seines Habitus zunächst intuitiv Sinn – Panofsky spricht hier von einer „irrationalen“ (ders. 1987b, S. 221) Begabung zu „synthetischer Intuition“ (ebd.). Die ikonologische

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Interpretation zielt somit auf den Habitus (des Bildproduzenten) und bedient sich dabei des Habitus (des Interpreten). Denn der „Habitus ist gleichzeitig ein System von Schemata der Produktion von Praktiken und ein System von Schemata der Wahrnehmung und Bewertung der Praktiken“ (Bourdieu 1992b, S. 144). Auf diese Besonderheit dokumentarischer Deutungen hat auch Mannheim hingewiesen und festgehalten, dass „der Geist, die Weltanschauung einer Epoche etwas >ist@, das auch aus der Substanz des verstehenden Subjektes heraus erfasst wird, weshalb die Geschichte der dokumentarischen Deutungen der Vergangenheit die Geschichte der deutenden Subjekte mitenthält.“ (Mannheim 1964a, S. 128 f.; vgl. ebd. S. 126). Erst durch die Korrektivprinzipien (vgl. 1.4.2.1.) und die begrifflich-theoretische Explikation des intuitiv Verstandenen wird die ikonologische Sinnkonstruktion auf Basis des (Betrachter-) Habitus in eine reflektierte, (kunst-) wissenschaftliche Analyse überführt. Der Unterschied zwischen der (intuitiven) ikonologischen Sinnbildung auf Basis des (Betrachter) Habitus als Beobachtung erster Ordnung einerseits und deren reflektierender Interpretation als einer Beobachtung zweiter Ordnung andererseits lässt sich mit Karl Mannheims Unterscheidung von „Verstehen“ und „Interpretieren“ präzisieren. 2.1.2.3 Verstehen vs. Interpretieren Mannheim definiert Verstehen als „das geistige, vorreflexive Erfassen“, während er „unter Interpretation dagegen die stets auf diesen Erfassungen beruhende, aber sie niemals erschöpfende theoretisch-reflexive Explikation des Verstandenen“ fasst (Mannheim 1980, S. 272; vgl. dazu auch Bohnsack 1999, S. 67 ff. u. S. 143 ff.; hier 1.4.1.1). Auch bei Mannheim beruht die begriffliche Interpretation somit „stets“ auf dem intuitiven und präreflexiven Verstehen bzw. geht das „vorreflexive“ (s.o.) und „naive“ (vgl. Mannheim 1980, S. 276) Verstehen der Interpretation voraus. Eine kunstwissenschaftliche Analyse hat bei der ikonologischen Sinnbildung somit das intuitiv Verstandene durch „theoretischreflexive Explikation“ in eine Interpretation zu überführen. Nach einer rezeptionsorientierten Wendung des Ikonographie/Ikonologie-Modells verbleibt die ikonologische Sinnbildung jedoch im Bereich des intuitiven Verstehens, d.h. sie wird durch die Bildbetrachtenden nicht in eine begrifflich-reflexive Interpretation überführt. Das intuitive Verstehen auf ikonologischer Ebene als Interaktion von Bild (-erfahrung) und (Betrachter-) Habitus kann somit als gemeinsame Ausgangsbasis dokumentarischer Interpretationen sowohl im Rahmen der Kunstwissen-

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schaft, als auch im Rahmen der Rezeptionsforschung betrachtet werden. Doch während eine kunstwissenschaftliche Interpretation dem Bild gegenüber eine Beobachterperspektive zweiter Ordnung einnehmen möchte, um den im Bild sich dokumentierenden modus operandi des Bildproduzenten zu eruieren, wird sich eine dokumentarisch verfahrende Rezeptionsforschung aus einer Beobachterperspektive zweiter Ordnung dem intuitiven Verstehen zuwenden, um den im Verstehensprozess (und nicht im Bild) sich dokumentierenden modus operandi der Rezipierenden zu erfassen.3 Dabei ist der sich im Verstehensprozess dokumentierende ikonologische Sinn einer dokumentarischen Interpretation nur in versprachlichter Form, bspw. einer Gruppendiskussion zugänglich. 2.1.2.4 Sinngenese, Soziogenese und Kausalgenese Die auf das „Wie“ der Sinnbildung, d.h. auf den modus operandi bzw. die „generative Formel“ des Habitus (Bourdieu 1987, S. 332) gerichtete genetische Analyseeinstellung lässt sich weiter differenzieren hinsichtlich der Art der genetischen Erklärung. Je nach den existentiellen Hintergründen, aus denen die Genese der Sinnkonstruktionen erklärt wird, unterscheidet Bohnsack im Anschluss an Mannheim (Mannheim 1980, S. 85 ff.) drei Arten der genetischen Erklärung: Neben den bereits vorgestellten kausalgenetischen (1.3.2.1) und soziogenetischen (1.3.2.2) Erklärung nennt er die sinngenetische Erklärung (Bohnsack 1999, S. 177; 2001b, S. 7 ff.). Bei ihr werden unterschiedliche ikonologische Deutungen nebeneinandergestellt und auf ihren „geistigen Ursprung“ (Mannheim 1964f, S. 402; vgl. ders. 1980, S. 86 f.), d.h. auf die zugrundeliegenden bzw. sie hervorbringenden Habitus bezogen. Soziogenetische und kausalgenetische Interpretationen gehen noch einen Schritt weiter, indem sie nicht nur die Genese der Sinnkonstruktionen aus den Habitus, sondern überdies noch die Genese der Habitus aus den sie hervorbringenden existentiellen Hintergründen erklären – aus den konjunktiven Erfahrungen im Fall der Soziogenese und aus 3

Dass sich die dokumentarische Interpretation des Verstehensprozesses zunächst wiederum als intuitives Verstehen – diesmal auf Basis des Habitus des Rezeptionsforschers – vollzieht, muss nicht eigens betont werden. Mit der Betonung der Rolle, die der Habitus des Bildbetrachters beim unkorrigierten Verstehen auf ikonologischer Ebene hat, soll nicht ausgeschlossen werden, dass auch in diesem intuitiven Verstehensprozess ein Bezug zum Habitus des Bildproduzenten hergestellt wird. Wie Bohnsack (2001) deutlich macht, können gerade bei Fotografien auf der Produktionsseite unterschiedliche Habitusaspekte ausgemacht werden: Neben dem modus operandi des Fotografen kann sich auch der Habitus oder Stil der abgebildeten Personen und der zu ihnen gehörenden Objekte im Bild dokumentieren. Diese Habitusaspekte können sich durchaus auch einem intuitiven Betrachter erster Ordnung erschließen. In der Perspektive der Bild-Rezipierenden-Interaktion gehen sie jedoch im Interaktionsfaktor „Bild“ auf. Relevant für ein ikonologisches Verstehen werden sie erst im Durchgang durch das Erleben konkreter Rezipierender, d.h. unter Bezug auf je unterschiedliche Rezeptionshabitus.

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der Kapitalkonfiguration bei der Kausalgenese (vgl. Bohnsack 2001b, S. 8 ff.). Dieser über die Sinngenese hinausführende Schritt der Sozio- oder Kausalgenese gehört nicht mehr zum Forschungsumfang der vorliegenden Arbeit. Sie verbleibt vielmehr im Bereich der Sinngenese. Wie bei allen Arten der genetischen Interpretation wird auch bei der sinngenetischen Interpretation die Frage nach dem faktischen Wahrheitsgehalt und der normativen Richtigkeit der Äußerungen, die Gegenstand der Interpretation sind, „in Klammern gesetzt“ (Mannheim 1980, S. 66), d.h. die Dimension, die mittels der „Was-Fragen“ eruiert werden, bleibt hinsichtlich ihres Geltungsanspruchs ausgeklammert (vgl. ebd. S. 88; Bohnsack 1997a, S. 203). Dadurch hebt sich die genuin wissenssoziologische Analyseeinstellung der Dokumentarischen Methode sowohl von ‚objektivistischen’ bzw. ‚(naiv-) realistischen’ Ansätzen ab, die nach dem „Was“ der Wirklichkeit jenseits milieuspezifischen Erlebens fragen, als auch von der erkenntnislogischen Differenzierung zwischen „objektiver Realität“ und „subjektiver Erfahrung“ (Bohnsack 1997a, S. 203). Die Dokumentarische Methode reflektiert vielmehr die (erlebnismäßige) Herstellung von Wirklichkeit (ebd.) und beansprucht für sich keinen privilegierten Zugang zur sozialen Realität jenseits der (subjektiven) Erfahrung der Akteure (Bohnsack 1997, S. 498). Der sozialwissenschaftliche Interpret verfügt daher auch nicht über einen privilegierten Horizont des „Allgemeinen“, vor dem er die Besonderheit des jeweiligen Falles interpretieren könnte (vgl. Bohnsack u.a. 1995; S. 425). Damit die Forschenden die fremden Orientierungsmuster und Alltagspraktiken aber nicht lediglich vor dem Hintergrund ihrer eigenen Orientierungen und Praktiken betrachten, ist das methodisch kontrollierte Fremdverstehen auf empirisch fundierte Vergleichshorizonte angewiesen. Sie werden in komparativer Perspektive rekonstruiert.

2.1.2.5 Komparative Analyse Die komparative Perspektive kann als eines der Grundprinzipien der Dokumentarischen Methode bezeichnet werden (Bohnsack u.a. 1995, S. 425). Sie erfüllt mehrere Funktionen: So erschließen sich fallspezifische Besonderheiten des „Wie“ einer Praxis nur in vergleichender Perspektive. Um die besondere Ausprägung einer Praktik zu erkennen, bedarf es der Kenntnis weiterer Ausprägungsformen der gleichen ‚Praxisgattung’. Daher gilt es, mehrere Gruppen in der Behandlung des gleichen Themas nebeneinander zu stellen und zu vergleichen. Durch diesen „Kontrast in der Gemeinsamkeit“ (Bohnsack 1999. S. 40 f.) treten die jeweiligen Besonderheiten der Gruppen hervor. Nur im Vergleich zeigen sich die jeweiligen modi operandi der Gruppen. Das gemeinsame Thema

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– im vorliegenden Kontext die konstant bleibende Reihe der präsentierten Bilder – stellt dabei das tertium comparationis des Vergleichs dar, d.h. das „den Vergleich strukturierende gemeinsame Dritte“ (Bohnsack 1999, S. 210). Innerhalb bzw. unterhalb der Behandlung eines gemeinsamen ‚Generalthemas’ (wie der Rezeption des gleichen Fotos) lässt sich nach weiteren ‚tertia comparationis’ fahnden. Die Konstruktion dieser Art von tertium comparationis, die sich nicht so umstandslos wie ein gemeinsames ‚Generalthema’ aus der Anlage der Untersuchung ergibt, stützt sich zunächst auf die impliziten Erfahrungen des Interpreten, die als solche einen „blinden Fleck“ – wie Bohnsack unter Bezug auf Luhmann formuliert (Bohnsack 2001b, S. 11 f.) – des Vergleichs bilden und somit der Aufmerksamkeit des Interpreten entzogen sind. Auf diese Weise fließt die Standortgebundenheit auch wissenschaftlicher Beobachter in die Interpretation ein. Sie lässt sich zwar nicht ausschalten, wohl aber in gewissem Umfang einer methodischen Kontrolle unterziehen, indem an die Stelle der impliziten Vorannahmen des Interpreten empirisch rekonstruierte Vergleichshorizonte treten (vgl. ebd. sowie Nohl 2001, S. 9 ff.). Dies leistet ebenfalls die komparative Analyse von Vergleichsgruppen. Statt dem Fall präkonstruierte Kategorien ‚überzustülpen’, die die Wahrnehmung der Forschenden strukturieren und selektionieren, werden am empirischen Material Kategorien generiert, die zu neuartigen Erkenntnissen verhelfen. Mit Hilfe der komparativen Analyse lassen sich zudem die Reichweite und der Kollektivitätsgrad von Sinnbildungsprozessen untersuchen. Kommt es bei Gruppen aus unterschiedlichen Milieus, aber gleichem Kulturkreis zu gruppenübergreifenden Sinnkonstruktionen, so können sie der milieuübergreifenden, kulturspezifischen ikonographischen Sinnebene zugeordnet werden. Unterschiede zwischen den Gruppen, d.h. gruppenspezifische Sinnbildungen verweisen auf milieuspezifische Besonderheiten, die auf der ikonologischen Ebene anzusiedeln wären. Gemeinsamkeiten der Sinnbildung bei Gruppen aus unterschiedlichen Kulturkreisen legen schließlich die Vermutung nahe, dass sie auf „beinahe anthropologischem“ (Barthes) Wissen beruhen und demnach der vorikonographischen Sinnebene zuzurechnen sind. Sinneinheiten, die im Gruppenvergleich bei konstantem Bild und maximalem Kontrast zwischen den Gruppen übereinstimmend zutage treten, sprechen an diesen Punkten für eine starke Steuerungsfunktion des Bildes – die „Oszillation der Sinnbildung“ (Eco) schlägt hier stark zugunsten des Bildes aus. Nur in vergleichender Analyse mehrerer Gruppen erschließt sich auch die paradigmatische Offenheit. Im Gegensatz zur syntagmatischen Offenheit macht sie sich auf der Beobachtungsebene erster Ordnung nicht als Verstehenshindernis bemerkbar, sondern erschließt sich erst für einen Beobachter zweiter Ordnung im Vergleich mehrerer Sinnbildungsprozesse

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unterschiedlicher Rezipierender als Vielfalt der Sinnbildungen bzw. als „Polysemie“ (vgl. 1.2.2.2). Die komparative Perspektive erstreckt sich jedoch nicht nur auf den Vergleich unterschiedlicher Gruppen. Auch innerhalb des Diskurses einer Gruppe lässt sich in vergleichender Perspektive nach Symptomen des Habitus fahnden. Denn der Habitus wird nicht nur distinktiv durch die Abgrenzung von Habitus anderer Milieus bestimmt, sondern auch durch seine interne ‚Stimmigkeit’, d.h. dadurch, dass alle „Praxisformen und Werke eines Akteurs fern jedes absichtlichen Bemühens um Kohärenz in objektivem Einklang miteinander“ stehen (Bourdieu 1987, S. 281). In allen Praktiken eines Akteurs dokumentiert sich der Habitus daher als homologes Muster (vgl. 1.3.1.3). Diese Homologien werden ebenfalls in vergleichender Analyse sichtbar, indem verschiedene Praktiken eines Akteurs – bei der Rekonstruktion von Gruppendiskussionen entsprechend sprachliche Äußerungen einer Gruppe – auf wiederkehrende Muster befragt werden. Nicht nur durch den „Kontrast in der Gemeinsamkeit“, sondern auch durch „Gemeinsamkeiten in der Gemeinsamkeit“ wird der Habitus sichtbar. 2.1.2.6 Abduktiver Schluss Die Suche nach Homologien beschreibt Mannheim als „ein Suchen nach Bestätigung, nach ‚homologen’, dasselbe dokumentarische Wesen bekundenden Momenten“ (Mannheim 1964a, S. 121) und nicht im Sinne einer „Addition, als hätte man in einem dokumentarischen Fragment nur ein Stück eines gesuchten Ganzen, als suchte man durch Hinzufügung weiterer Sinnesmomente ein Gesamtbild zusammenzustellen.“ (ebd.) Der modus operandi dokumentiert sich vielmehr in jeder einzelnen Praktik (vgl. Panofsky 1987b, S. 209).4 Sichtbar wird er allerdings erst durch eine „Synopsis“ (Mannheim 1964a, S. 108 f.), d.h. in der Zusammenschau mehrerer homologer Einzelpraktiken. Im Vergleich der Äußerungen eines Akteurs bzw. einer Gruppe wird somit an „grundverschiedenen objektiven und ausdrucksmäßigen Momenten stets ein Identisches, nämlich das gleiche Dokumentarische“ (Mannheim 1964a, S. 121) erfasst, d.h. die hinter den „grundverschiedenen Momenten“ stehende generative Formel des Habitus (vgl. 1.3.2.2). 4

Auch Panofsky favorisiert für seine auf den Habitus des Bildproduzenten zielende ikonologische Methode die komparative Analyse. Eine einzelne Beobachtung gewinne ihre Bedeutung nämlich nur dann, „wenn sie sich auf andere, analoge Beobachtungen (...) beziehen lässt“ (Panofsky 1987b, S. 224, Anm. 3). Daher bezeichnet Panofsky die Ikonologie auch als eine „Interpretationsmethode, die aus der Synthese, nicht aus der Analyse hervorgeht“ (ebd., S. 214), und stellt eine Parallele mit der Ethnologie her, da auch sie eine „vergleichende Disziplin“ sei (ebd., S. 213 f.).

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Die homologen Muster werden im Rahmen der Dokumentarischen Methode als „Dokumente“ für etwas sie übersteigendes – den Habitus – aufgefasst (vgl. Mannheim 1964a, S. 108 f.). Für diesen Schritt von der Betrachtung der unterschiedlichen und scheinbar unzusammenhängenden Einzeläußerung zur übergreifenden generativen Formel des Habitus ist nach Panofsky eine „irrationale“ (Panofsky 1987b, S. 221) Begabung zu „synthetischer Intuition“ (ebd.) erforderlich. Auf dem Wege der Intuition, d.h. durch eine reflexiv nicht (vollständig) kontrollierte ‚Denkbewegung’ werden demnach unterschiedliche Praktiken einer Synthese unterzogen und so als Teil eines übergreifenden Musters bzw. einer homologen Struktur begriffen. Auch Bourdieu sieht eine „vernunftgetragene Intuition der Homologien“ als Grundlage seiner „komparativen Methode“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 268). Schäffer spricht in diesem Zusammenhang von einer „Initialzündung“ (Schäffer 1996, S. 55), die den Blick von scheinbar isolierten Praktiken auf ein sie verbindendes Muster lenkt. Basis dieses fruchtbaren, aber nur wenig planbaren Vorgangs innerhalb der dokumentarischen Analyse ist der Habitus des Forschers (vgl. Bohnsack 1999, S. 201; Panofsky 1987a, S. 201). Dadurch ist der Forschungsprozess vom soziohistorischen Standort des Forschenden abhängig. Unter dem Begriff der „Standortgebundenheit“ wird darauf noch eingegangen. Dieser „irrationale“ Sprung von der einzelnen Praktik zur zugrundeliegenden Regel (der generativen Formel des Habitus) lässt sich formal als „abduktiver Schluss“ beschreiben. Bei der Abduktion wird von einer für den Interpreten überraschenden Einzelbeobachtung, die sich unter keine ihm bekannte Regel fassen lässt, in einem kreativen Schluss auf eine neue Regel geschlossen, die in der Lage ist, die aktuelle wie auch weitere Einzelbeobachtungen zu erklären (vgl. Bohnsack 1999, S. 204; Nöth 2000, S. 67 ff.). Dabei handelt es sich um eine zirkelhafte Bewegung (vgl. Nöth 2000, S. 419), da sie ausgehend von der „intuitiv“ erfassten Regel wieder auf die Ebene der Einzeläußerungen zurückkehrt und dort nach weiteren Belegen für die Regel sucht. Dadurch gewinnt die Regel Plausibilität. Bohnsack spricht in diesem Zusammenhang von einer reflexiven Beziehung zwischen Einzelbeobachtungen und allgemeiner Regel (ders. 1999, S. 32). Auf die begriffliche Explikation dieser zunächst nur intuitiv erahnten Regel, d.h. des konjunktiven Orientierungsrahmens des Habitus, zielt die dokumentarische Analyse (Bohnsack 2001b, S. 8). 2.1.2.7 Standortgebundenheit der Interpretation und Reflexion Obwohl das implizite und milieuspezifische Wissen der Forschenden eine unabdingbare Voraussetzung für wissenschaftliche Erkenntnis darstellt, gilt es der

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Gefahr der Nostrifizierung zu begegnen, bei der milieufremde Sinnzusammenhänge bedenkenlos den Orientierungsmustern der Forschenden subsumiert werden. Bleibt der Habitus des Forschers als Vergleichshorizont implizit, so ragt seine Standortgebundenheit unreflektiert in die Interpretation hinein. Um dem gegenzusteuern, bedarf es empirisch fundierter und begrifflich explizierter Vergleichshorizonte. Auch hier erweist sich die komparative Analyse als Mittel der Wahl. Damit eliminiert der Forscher seine Standortgebundenheit zwar nicht, er unterzieht sie jedoch einer reflektierten, methodischen Kontrolle, das Verhältnis zu seiner Forschungspraxis wird reflexiv (vgl. Bohnsack 2001b; S. 12). Aus der (Reflexion der) Standortgebundenheit des Forschers ergibt sich als komplementäres Prinzip die methodische Fremdheitshaltung den Erforschten gegenüber. Der Forscher hat – wenn er dem gleichen Kulturkreis wie die Erforschten angehört – zwar Anteil an den allgemein verbreiteten kommunikativen Wissensbeständen, die milieuspezifischen konjunktiven Wissensbestände der Erforschten sind ihm in ihrer andersartigen Regelhaftigkeit jedoch nicht unmittelbar zugänglich. Der wissenschaftliche Interpret hat somit keinen unmittelbar verstehenden Zugang zu diesem konjunktiven Wissen, sondern ist auf dessen begrifflichtheoretische Explikation im Zuge der reflektierenden Interpretation angewiesen. Eine Missachtung der Fremdheitsrelation würde ebenfalls zu einer Nostrifizierung führen, bei der ein vermeintlich unmittelbares Verstehen den Äußerungen der Erforschten inadäquate Bedeutungen zuordnen würde. Der Standort des Interpreten macht sich nicht nur im Interpretationsprozess und in der Praxis der Erkenntnisgenerierung bemerkbar, sondern auch im Rahmen der sprachlichen Darstellung und Vermittlung von Erkenntnissen. Mannheim betont, dass „die Grundform der Mitteilung geschehener Dinge die Erzählung“ ist, „hinter der der Erzähler steht. Bis in die exaktest getriebene Historie hinein bleibt diese Urform der Perspektivität bestehen“ (ders. 1980, S. 213, Herv. i. Orig.). Die Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse ist daher immer auch im Wortsinn „Poesie“, d.h. „gemachtes“ (gr. „poiein“ = machen), und nicht die getreue Wiedergabe dessen, was „wirklich“ gewesen ist. Um die Interpretation von Daten und die Darstellung von Ergebnissen dennoch durchschaubar und intersubjektiv nachprüfbar zu machen, schlägt Bohnsack vor, sowohl die Daten bzw. Originaltexte (d.h. die Transkripte der Gruppendiskussionen) als auch ihre Interpretationen offenzulegen, und so die Möglichkeit zu einer konstruktiven Kritik zu eröffnen (Bohnsack u.a. 1995, S. 15).

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2.1.3 Forschungspraxis Bis eine Gruppendiskussion durchgeführt werden kann und zu interpretierende Diskussionstexte vorliegen, müssen eine Reihe von Auswahlentscheidungen getroffen werden. Der Forschungsprozess selbst lässt sich als eine Abfolge und teilweise auch Überlagerung mehrerer Interaktionsprozesse beschreiben, an die sich verschiedene Transformationsprozesse anschließen. Die Auswahlentscheidungen betrafen (1) die präsentierten Bilder, (2) die Gruppen und schließlich (3) die Fälle, d.h. die Interaktionsprozesse von Bildern und Gruppen, die einer Rekonstruktion unterzogen wurden. Diese Auswahlentscheidungen werden im Folgenden ausführlicher dargestellt. Danach werden die Transformations- und Interaktionsprozesse erörtert. 2.1.3.1 Auswahl der Bilder Aus der unüberschaubaren ‚Bilderflut’ (vgl. 1.1) musste eine begrenzte Auswahl an Fotos getroffen werden, die innerhalb einer Gruppendiskussion präsentiert werden konnte. Um die Vergleichbarkeit der Sinnkonstruktionen zwischen den Gruppen zu gewährleisten, sollten alle Gruppen die gleiche Reihe von Bildern gezeigt bekommen. Quelle waren medial verbreite Fotografien. Ein inhaltlichthematischer Schwerpunkt wurde nicht gesetzt. Die Zahl der präsentierten Bilder wurde auf sechs begrenzt, damit der zeitliche Rahmen der Diskussionen auf ein für die Gruppen akzeptables Maß beschränkt bleiben konnte. Da die Bilder aus ihren Trägermedien (Zeitschriften, Bücher) kopiert und auf ein annähernd gleiches Format vergrößert wurden, erwies es sich als praktikabel, ausschließlich Schwarz-Weiß-Ablichtungen zu präsentieren. Eine wesentliche Unterscheidung, die bzgl. der Bilder auf theoretischer Basis getroffen worden war, betraf die Differenzierung zweier Arten von Offenheit (vgl. 1.2.2.2): Während die paradigmatische Offenheit grundsätzlich jedem Rezeptionsakt zukommt, ergibt sich die syntagmatische Offenheit aus der Wahrnehmung semantisch unbestimmter bildinterner Relationen („Leerstellen“) durch die Beobachter erster Ordnung. Es gibt daher Bilder, die von den Beobachtern erster Ordnung als syntagmatisch offen erlebt werden, und solche, die von ihnen als syntagmatisch geschlossen wahrgenommen werden. Die syntagmatische Offen- bzw. Geschlossenheit von Bildern ist dabei immer relational auf die unterschiedlichen Erwartungshorizonte sozial und historisch situierter Rezipierender zu beziehen und nicht als ‚inhärente’ Eigenschaft des Bildes zu reifizieren. Dennoch musste ein Kriterium gefunden werden, mit dem a priori die syntagmatische Offenheit bzw. Geschlossenheit der Bilder abgeschätzt wer-

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den konnte, sollte das Spektrum möglicher Sinnbildungen nicht bereits durch die Bildauswahl auf eine der beiden ‚Bildarten’ verkürzt werden. Dazu wurde eine Heuristik entwickelt, die sich auf zwei Überlegungen stützen konnte: Da syntagmatische Offenheit den Akteuren als Leerstelle reflexiv verfügbar ist und als Verstehenshindernis auf ikonographischer Ebene auftritt, kann der Horizont, vor dem sich syntagmatische Offenheit als Schemainkongruenz abhebt, dem Bereich des kommunikativ-generalisierenden Wissens zugerechnet werden. Gehören Forscher und Erforschte dem gleichen Kulturkreis an, so hat auch der Forscher Zugang zu diesem Wissen. Er kann daher auf Basis seiner kommunikativ-generalisierenden Wissensbestände zu einer Einschätzung der syntagmatischen Offenheit oder Geschlossenheit eines Bildes gelangen. Damit hängt die zweite Überlegung zusammen: Unter Bezug auf Dux wurde oben auf die Affinität von syntagmatisch geschlossenen Bildern und sprachlichen Begriffen hingewiesen (vgl. 1.2.2.2). Syntagmatisch geschlossene Bilder lassen sich demnach problemlos an etablierte begriffliche Schemata assimilieren, bei syntagmatisch offenen Bildern gelingt dies nicht ohne weiteres. Daran anschließend kann eine Art ‚Faustregel’ zur Unterscheidung von syntagmatisch offenen und geschlossenen Bildern vorgeschlagen werden: Lässt sich für ein Bild ein ebenso prägnanter, wie erschöpfender Bildtitel finden – im Idealfall sollte er aus nur einem Wort bestehen und alle Bildelemente ‚ohne Rest’ abdecken –, dann kann von einem syntagmatisch geschlossenen Bild gesprochen werden. Lässt sich ein Bild nicht ‚auf den Begriff bringen’, d.h. erweist sich die Suche nach einem Bildtitel, der alle Bildelemente abdeckt ohne dabei ‚sperrig’ zu werden, als schwierig oder unmöglich, dann kann von einem syntagmatisch offenen Bild ausgegangen werden. Auf Basis dieser ‚Faustregel’ wurden je drei syntagmatisch offene und geschlossene Bilder ausgewählt. Wie die Auseinandersetzungen der Gruppen mit den Bildern zeigten, hat sich die Heuristik als „Faustregel“ gut bewährt.5 Um der Gefahr zu begegnen, dass sich die Diskussion in der Applikation eines schlagwortartigen Begriffs erschöpft und ins Stocken gerät, wurde die Bildpräsentation mit einem syntagmatisch offenen Bild begonnen. Die Ungeklärtheit bildinterner Relationen, so wurde angenommen, verführt die Gruppen eher dazu, sich ausführlich und selbstläufig zu den Bildern zu äußern. Danach wurde zwischen offenen und geschlossenen Bildern abgewechselt. 5

Dass die Heuristik in der Tat nur den Status einer groben und vorläufigen „Faustregel“ hat, wurde an einem Fall deutlich: Ein als syntagmatisch geschlossen klassifiziertes Bild wies für eine Gruppe eine Leerstelle auf. Aufgrund ihres beruflichen Spezialwissens entdeckte sie eine Unstimmigkeit im Bild, die als Bestimmungslücke innerhalb des Syntagmas bezeichnet werden kann und die sowohl dem Autor als auch den Vergleichsgruppen auf Basis ihres kommunikativ-generalisierenden Wissens nicht auffiel. Dieser Fall wird im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht rekonstruiert (vgl. dazu ausführlicher Michel 2001).

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2.1.3.2 Auswahl der Gruppen Bei der Auswahl der Gruppen galt es über persönliche Kontakte den Zugang zu einem möglichst breiten Spektrum an Realgruppen herzustellen. Wichtiger als eine (wie auch immer zu bestimmende) ‚vollständige’ Abdeckung des Milieuspektrums war dabei die Analyse möglichst unterschiedlicher Gruppen. Denn um in sinngenetischer Perspektive Bildrezeptionsprozesse in ihrer Unterschiedlichkeit nebeneinander stellen, vergleichen und auf ihren jeweiligen „geistigen Ursprung“ (Mannheim 1964f, S. 402; vgl. ders. 1980, S. 86 f.), d.h. auf die sie hervorbringenden Habitus zurückführen zu können, bedarf es nur einiger exemplarischer Realgruppen, die sich hinreichend voneinander unterscheiden, um unterschiedliche Milieus mit ihren spezifischen Habitus repräsentieren zu können. Diskussionen konnten mit drei Realgruppen durchgeführt und ausgewertet werden. Vordergründig lassen sich die drei Gruppen durch ihren Beruf charakterisieren, da sie sich an der Arbeitsstelle bzw. in der Berufsschule kennen gelernt haben. Innerhalb dieser Institutionen bilden sie jedoch „Cliquen“ und verbringen auch ihre Freizeit häufig miteinander. Es würde daher vermutlich eine Verkürzung ihrer konjunktiven Erfahrungsräume bedeuten, würde man sie auf ihre berufsmilieuspezifische Dimension reduzieren. Die jeweiligen Institutionen stellen somit vermutlich nur Facetten der gruppenspezifischen konjunktiven Erfahrungsräume dar. Da eine Rekonstruktion der Habitusgenese (in kausaloder soziogenetischer Perspektive) im Rahmen dieser (sinngenetisch operierenden) Arbeit aber nicht geleistet wird, müssen einige Hinweise auf mögliche Aspekte der milieuspezifischen Hintergründe genügen. Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass sich die Habitusunterschiede zwischen den Gruppen auch auf bildungsmilieuspezifische Unterschiede zurückführen lassen: Die Gruppen sind in sich von den Schulabschlüssen ihrer Mitglieder her sehr homogen, untereinander jedoch sehr heterogen. Eine geringere Rolle bei den Unterschieden zwischen den Gruppen spielt vermutlich die Dimension der Generationenzugehörigkeit, da es sich bei allen Gruppen um junge Erwachsene zwischen 20 und 30 Jahren (mit je einem „Ausreißer“ nach oben und unten) handelt. Die Mitglieder aller Gruppen sind unverheiratet und kinderlos. Im Stil „impressionistischer“ Skizzen (vgl. Matt 2000, S. 584), an die sich die Ergebnisse eines flankierend eingesetzten Fragebogens anschließen, werden die Gruppen nun kurz vorgestellt. Die Skizze stützt sich jeweils auf den ersten Teil der Diskussionen, der die Gruppe als Gruppe zum Thema hatte. Wörtliche Zitate oder Zitatparaphrasen werden durch Anführungszeichen kenntlich gemacht.

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Gruppe AH Bei Gruppe AH handelt es sich um fünf junge Frauen zwischen 18 und 24 Jahren, die alle die Mittlere Reife haben und sich über die Berufsschule kennen, die sie zum Zeitpunkt der Diskussion in einer süddeutschen Stadt (75.000 EW) parallel zu ihrer Arzthelferinnen-Ausbildung besuchen. In der betrieblichen Ausbildung arbeiten sie bei Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen. Die Gruppenmitglieder unternehmen auch „privat“ viel gemeinsam, in den Ferien der Berufsschule sehen sie sich jedoch eher selten. Gemeinsames Gesprächsthema der Gruppenmitglieder sind oft die Erlebnisse in ihren Arztpraxen. Obwohl sie die Erfahrungen jeweils alleine machen, können sie sich im Gruppenzusammenhang sehr gut darüber austauschen. So fühlen sich die fünf Frauen durch die Verantwortung, die auf ihnen lastet, überfordert. Die Ausbildung in der Praxis wird von den „Chefs“ nach Ansicht der Gruppenmitglieder nicht besonders ernst genommen: „Da heißt´s immer: jetzt net. Da is´ immer Hektik.“ Den „Chef“ interessiert nur, „dass die Praxis läuft und dass ma´ net fehlt. Wenn man in der Schul´ is, isses schon schlimm genug.“ Obwohl die „Chefs“ wenig erklären, erwarten sie von den „Lehrlingen“, dass sie alles können – „sonst krieg´sch einen auf den Deckel“. Besonders beim Notfalldienst, den die Gruppenmitglieder teilweise allein zu verantworten haben, fühlen sie sich allein gelassen: „Wenn dann nur des Telefon klingelt, denk´ ich mir: Ohje, hoffentlich isch nix !“ Die „Chefs“ kommen den Gruppenmitglieder manchmal wie „kleine Kinder“ vor, da sie „verwöhnt“ sind und erwarten, dass man ihnen alles hinstellt. Sie wollen nur die „Arbeit abschieben“. Gleichzeitig können die „Chefs“ nach Ansicht der Gruppenmitglieder nicht ertragen, wenn eine Arzthelferin „mal fünf Minuten nichts zu tun hat“. Da finden sie gleich was zu putzen – bspw. das „Patientenklo“. Wenn der „Chef“ schlecht gelaunt ist, müssen es die Arzthelferinnen „ausbaden“. Und auch zu den Patienten müssen die Gruppenmitglieder immer freundlich sein: „Die erwarten von Dir, dass Du ihnen in den Arsch kriechst, musst immer lachen und musst Dir immer des blöde Gelabere anhören.“ Als Arzthelferin habe man „keine Rechte, nur Pflichten“. Daher sei es „kein so´n Traumberuf, wie sich´s jeder vorgestellt hat“. Der Kontakt zur Gruppe wurde über eine Lehrkraft der Berufsschule hergestellt. Die Diskussion fand im Sommer 1999 am frühen Nachmittag nach der letzten Schulstunde der Gruppe in einem Klassenzimmer der Berufsschule statt. Drei Schulbänke wurden als Diskussionstisch zusammengeschoben, an dem die Gruppe und der Diskussionsleiter saßen. Da aus organisatorischen Gründen die Gruppe nicht bewirtet werden konnte, war ihr als Motivation zur Teilnahme an der Diskussion über die Mittelsperson ein „kleines Dankeschön“ versprochen worden. Nach der Diskussion bekam jedes Gruppenmitglied vom Diskussions-

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leiter DM 30. Da einige Gruppenmitglieder einen Bus erreichen mussten, löste sich die Runde nach dem Ende der Diskussion schnell auf. Als Deckname wählte die Gruppe „Die flotten AH´s“ – hier abgekürzt zu „Gruppe AH“. Aus dem flankierend eingesetzten Fragebogen ergeben sich folgende Daten: Aw ist 20 Jahre alt. Sie ist evangelisch und lebt bei den Eltern, die beide Arbeiter sind und im eigenen Haus wohnen. Der Wohnort hat 700 Einwohner. An einer hauswirtschaftlichen Schule hat sie die Mittlere Reife erworben. Bw ist 24 Jahre alt, evangelisch und lebt bei ihrem Vater, der im eigenen Haus wohnt. Sie leben in der Stadt, in der sich auch die Berufsschule befindet. Der Vater ist Kraftfahrer von Beruf, die Mutter Verwaltungsangestellte. Von der 1. bis zur 10. Klasse besuchte sie eine Waldorfschule, danach für ein Jahr den Grundlehrgang einer privaten kaufmännischen Schule. Während dieser Zeit ging sie abends an die Volkshochschule, wo sie den Hauptschulabschluss erlangte. Um die Mittlere Reife zu erwerben, ging sie an eine kaufmännische Schule, hörte jedoch nach einem halben Jahr wieder auf. Sie arbeitete dann 41/2 Jahre bei der Bereitschaftspolizei und erlangte dort die Mittlere Reife. Cw ist 21 Jahre alt. Sie ist katholisch und lebt mit ihrem Partner in einem 6-Familienhaus zur Miete, das sich in einem Ort mit 1.600 Einwohnern befindet. An einer hauswirtschaftlichen Schule hat sie die Mittlere Reife erworben, machte ein einjähriges Vorpraktikum in einem Behindertenkindergarten. Danach war sie für ein Jahr als Au-Pair in „Amerika“. Dw ist 21 Jahre alt, evangelisch und lebt mit ihrem Partner bei den „Schwiegereltern“ in einem Ort mit 50.000 Einwohnern. Ihr Vater ist „Fuhrparkleiter bei der Stadt“, ihre Mutter Verkäuferin. Nach Grund- und Hauptschule erwarb sie an einer Wirtschaftsschule die Mittlere Reife und absolvierte eine Ausbildung zur Beamtin des mittleren Verwaltungsdienstes. Ew ist 18 Jahre alt, evangelisch und lebt mit ihren Eltern im Haus der „Oma“. Der Wohnort hat 3.000 Einwohner. Ihr Vater ist „selbständig“, ihre Mutter Verkäuferin. Die Mittlere Reife erlangte sie an der Realschule.

Gruppe SA Gruppe SA besteht aus zwei Frauen (27 und 28 Jahre alt) und einem Mann (35). Die Gruppenmitglieder kennen sich über die Arbeit in einem mittelständischen Fachverlag, wo sie in unterschiedlichen Abteilungen beschäftigt sind. Der Verlag hat seinen Sitz in einer süddeutschen Kleinstadt mit 14.000 Einwohnern, die auch ein Kurort ist. Die nächsten Großstädte sind ca. 60-70 km entfernt, so dass ein tägliches Pendeln für die Gruppenmitglieder nicht in Frage kommt. Sie wohnen daher in dem Kurort bzw. in seiner ländlichen Umgebung. Sowohl in dem durch ältere Kurgäste geprägten Ort, als auch im Verlag fühlen sich die Gruppenmitglieder als Außenseiter. Die Gruppe wird daher als „Auffangbecken“ für die Gruppenmitglieder bezeichnet, die es als „Einzelne“ in den Kurort „verschlagen“ hat. Vom „Rest der Belegschaft“ unterscheiden sich die Gruppenmitglieder „durch verschiedene Merkmale wie ‚nicht-verheiratet’, ‚keine Kinder’, ‚jünger als 50’“. Neu in den Verlag hinzukommende, jüngere Volontäre wollen die Gruppenmitglieder jedoch „nicht dabei haben“. Sie bezeichnen sich daher als „schon ein bisschen eigen“ und „gewöhnungsbedürftig“. Im Kurort gibt es eine „mehr oder weniger unerträgliche“ Kneipe, in der sich

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nur die „Landeier“ treffen. Da es somit „gar keine“ Möglichkeiten zum Weggehen gibt, „rottet“ man sich in einer Wohnung zum gemeinsamen Kochen, Backen, Videos anschauen oder „Entspannungsblödeln“ zusammen. Die beiden weiblichen Gruppenmitglieder, die auch gemeinsame Urlaubsreisen unternommen haben und gelegentlich in die Großstadt zum „Typenaufreißen“ fahren, vermissen an ihrem Wohnort das urbane Leben – „man weint sich dann so gegenseitig aus“. Das männliche Gruppenmitglied wird dagegen als „einzelgängerisch“ beschrieben und bezeichnet sich selbst als „überzeugten Landmann“. Die Diskussion fand an einem Sommerabend des Jahres 1999 nach Feierabend der Gruppenmitglieder statt. Der Kontakt zur Gruppe wurde über einen Arbeitskollegen der Gruppenmitglieder hergestellt, in dessen Wohnung die Gruppendiskussion durchgeführt wurde. Die Mittelsperson ist selbst nicht Teil der Gruppe und war während der Diskussion nicht anwesend. Außer den drei Gruppenmitgliedern und dem Diskussionsleiter war die Katze der Mittelsperson im Raum, auf die während der Diskussion teilweise eingegangen wurde. Die vier Personen saßen auf einem Sofa und Sesseln um einen Couchtisch, auf dem die Mikrophone aufgestellt waren. Während der Diskussion wurden alkoholische und non-alkoholische Getränke konsumiert, in der Diskussionspause zwischen dem ersten (nicht-transkribierten gruppenbezogenen) und dem zweiten (transkribierten bildbezogenen) Teil wurde am Couchtisch Pizza gegessen. Die vom Diskussionsleiter bereitgestellte Bewirtung bildete für die Gruppe den Anreiz zur Teilnahme an der Diskussion. Nach dem Ende der Diskussion blieben die Gruppe, die Kontaktperson und der Diskussionsleiter noch bis in den späteren Abend zusammen. Die Gruppe wählte im Anschluss an die Diskussion als Decknahme den Begriff „still alive“, der hier als „Gruppe SA“ abgekürzt wird. Aus dem Fragebogen ergeben sich folgende Informationen: Aw ist 28 Jahre alt, konfessionslos und wohnt alleine zur Miete in einem Ort mit 14.000 Einwohnern. Ihr Vater ist von Beruf kaufmännischer Angestellter, ihre Mutter Sekretärin. Nach dem Abitur studierte sie an einer Universität „Wirtschaftswissenschaften, Marketing, Psychologie, Personal“. Nach einem Verlagsvolontariat ist sie zum Zeitpunkt der Diskussion Anzeigenleiterin. Bm ist 35 Jahre alt, konfessionslos, alleinstehend und wohnt zur Miete. Sein Wohnort hat 600 Einwohner. Der Vater ist leitender Angestellter, die Mutter Hausfrau. Nach dem Gymnasium studierte er Geschichte und Politikwissenschaft, schloss sein Studium mit dem M.A. ab und promovierte zum Dr.phil. Nach einem Volontariat wurde er vom Verlag als Redakteur übernommen und baute eine Fachzeitschrift auf. Beim gleichen Verlag wechselte er dann in eine andere Redaktion, in der er nun als Redakteur arbeitet. Cw ist 27 Jahre alt, katholisch, alleinstehend und wohnt in einem Ort mit 14.000 Einwohner zur Miete. Ihr Vater ist Automechaniker, ihre Mutter Hausfrau. Nach dem Abitur studierte sie an einer Fachhochschule BWL und schloss ihr Studium mit einem Diplom ab. Nach einem Volontariat ist sie nun Redakteurin in einem Fachverlag.

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Gruppe ND Die Gruppe besteht aus zwei Frauen (beide 21 Jahre alt) und einem Mann (24), die alle das Abitur haben und gerade eine Banklehre absolvieren. Die Gruppenmitglieder kennen sich über die Berufsschule, die sie parallel zur betrieblichen Ausbildung in einer süddeutschen Großstadt (130.000 EW) besuchen. Die Gruppenmitglieder wohnen in der Großstadt bzw. in ihrem Einzugsgebiet und haben dort auch ihre Kindheit und Jugend verbracht. Bereits am ersten Tag in der Berufsschule haben die Gruppenmitglieder zueinander gefunden, da sie als Abiturienten nicht nur deutlich älter als ihre 16jährigen Mitschüler sind, sondern diese auch als „ganz anders, von ihrer Art, ihrem Verhalten“ empfinden. Im Gegensatz zu ihren Mitschülern sind die Gruppenmitglieder als Abiturienten von bestimmten Unterrichtsstunden befreit. Diese Freistunden verbringen sie gemeinsam. In der Berufsschule gibt es eine weitere Gruppe von Mitschülern, von der sich Gruppe ND abgrenzt – die „Sparkassenklasse“. Dabei handelt es sich um Azubis, die auf die besonderen Gepflogenheiten der Sparkassen vorbereitet werden. Nach Ansicht der Gruppe leben diese Azubis „in einer anderen Welt“, die eine „Katastrophe“ sei: „Wenn die in eine normale Bank gehen, gibt´s Ärger“. Auch in der Bank unterscheiden sich nach Ansicht der Gruppe „Azubis“ mit Abitur deutlich von denen ohne Abitur: „Abiturienten haben einen ganz anderen Umgang mit den Kunden“. Dabei kommt es manchmal zu kritischen Situationen, die die Gruppenmitglieder zu meistern gelernt haben: „Wenn der sein Konto überzieht, dann sperr´ ich ihm halt sei´ Karte. Mein Gott: Soll er halt Geld einzahlen !“ Unverschämtheiten von Kunden am Telefon nehmen sich die Gruppenmitglieder im Gegensatz zu manchen Kollegen nicht zu Herzen. Das männliche Gruppenmitglied schildert, wie er neulich in einem solchen Fall reagiert hat: „In dem Ton unterhalte ich mich nicht weiter. Und hab´ aufgelegt.“ Die korrekte Kleidung, die von den Gruppenmitgliedern als „Bankern“ erwartet wird, bringt es zwar manchmal mit sich, dass sie als „Spießer“ betrachtet werden. Andererseits hat dieses Outfit auch seine „Vorteile“: „Wenn Du so in ein Geschäft kommst, wirst Du schon anders bedient, als wenn Du in zerschlissener Jeans kommst.“ Zum Zeitpunkt der Diskussion haben zwei Gruppenmitglieder ihre Abschlussprüfungen bereits abgelegt, einem weiblichen Mitglied steht sie unmittelbar bevor. Das eine weibliche Gruppenmitglied freut sich auf das BWL-Studium, das sie nun aufnehmen möchte („raus aus der Bank, raus aus der Kasse: Ich hab´ heute schon wieder einen Fehlbetrag gehabt“), die andere Frau ist „einfach nur froh, wenn die Schule um ist“. Sie möchte ebenfalls BWL studieren. Das männliche Gruppenmitglied hat sich gegen ein Studium an der Fachhochschule entschieden. Er hat

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„einfach kein Bock mehr auf den ganzen Tag Schul´“ und strebt jetzt die berufliche Weiterbildung zum Fachwirt an. Der Kontakt zur Gruppe wurde über eine Kontaktperson hergestellt, die mit einem Gruppenmitglied das Zimmer während eines kurzen Krankenhausaufenthaltes teilte. Die Diskussion fand an einem Sommerabend im Jahr 1999 in der Wohnung des Autors und Diskussionsleiters statt. Die drei Gruppenmitglieder und der Diskussionsleiter saßen auf Stühlen um einen Tisch im Wohnzimmer. Zwei Gruppenmitglieder kamen gerade vom gemeinsamen Schuhekauf, ein weibliches Mitglied direkt aus der Bank. Während der Diskussion wurden alkoholische und non-alkoholische Getränke getrunken. In der Pause zwischen dem ersten und zweiten Diskussionsteil wurde in der Küche ein gemeinsamer Imbiss eingenommen. Die Bewirtung war der Gruppe als „Dankeschön“ für die Teilnahme in Aussicht gestellt worden. Nach der Diskussion blieben die Gruppenmitglieder und der Diskussionsleiter noch einige Zeit zusammen sitzen und unterhielten sich. Die Gruppe wählte für sich den Decknamen „Die Nadelstreifengruppe“, der hier zu „Gruppe ND“ abgekürzt wird. Folgende Daten gehen aus dem Fragebogen hervor: Aw ist 21 Jahre alt, katholisch, und lebt bei ihren Eltern in deren eigenem Haus. Der Wohnort hat 3.500 Einwohner. Ihr Vater ist kaufmännischer Angestellter, die Mutter nicht berufstätig. Nach dem Abitur nahm sie ihre Banklehre auf. Danach möchte sie BWL studieren. Bm ist 24 Jahre alt, katholisch und wohnt bei seinen Eltern in einem Ort mit 4.000 Einwohnern. Sein Vater ist Kraftfahrer, die Mutter „Laborgehilfin“. Nach dem Abitur absolvierte er eine Banklehre und arbeitet nun als Berater in einer Bank. Er plant die Weiterbildung zum Fachwirt. Cw ist 21 Jahre alt, evangelisch und lebt mit ihrem Partner bei ihren Eltern. Der Vater ist Buchbinder, die Mutter gelernte Großhandelskauffrau, arbeitet zur Zeit aber als Hausfrau. Nach dem Abitur absolvierte Cw eine Banklehre und arbeitet zum Zeitpunkt der Diskussion als Bankkauffrau. Sie hat die Absicht, ein BWL-Studium aufzunehmen.

2.1.3.3 Auswahl der Fälle Alle 18 Bild-Rezipierenden-Interaktionen (3 Gruppen x 6 Bilder) wurden einer Volltranskription und einer formulierenden Interpretation unterzogen. Da die Fallrekonstruktionen sehr detailliert durchgeführt wurden, war es nötig, sich auf wenige Fälle zu konzentrieren, die dann exemplarisch analysiert wurden. Im Zentrum stehen dabei die Auseinandersetzungen mit zwei Bildern: Mit dem syntagmatisch offenen Bild „Shantytown“ und dem syntagmatisch geschlossenen Bild „Familie“.6 Bild „Shantytown“ wurde als vorletztes und Bild „Familie“ 6

„Shantytown“ entstammt einem Fotoband von Eugene Richards („Below the Line. Living Poor in America”, Mount Vernon/New York, 1987) und ist der Name einer Obdachlosensiedlung in New York, in der das Foto aufgenommen wurde. „Familie“ entstammt einem „Stockbuch“ von

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als letztes der insgesamt sechs Bilder präsentiert. Die analysierten Fälle wurden weniger nach inhaltlichen, als vielmehr nach Gesichtspunkten der Diskursdramaturgie ausgewählt. Bei einer groben Übersicht über das transkribierte Diskussionsmaterial fiel eine Passage im Fall der Interaktion von Bild „Shantytown“ und Gruppe ND sowohl durch die Lebhaftigkeit und Engagiertheit der Diskursorganisation, als auch durch die metaphorische Steigerung besonders auf (ND 913-939). Die Interpretation setzte jedoch nicht unmittelbar bei der betreffenden Passage an. Vielmehr wurde der gesamte Fall, in den die Passage eingebettet war, in seiner Sequentialität entfaltet und rekonstruiert. Dabei wurde der Fall immer wieder mit Vergleichsfällen kontrastiert – sowohl gruppenintern, d.h. mit Interaktionen von Gruppe ND und anderen Bildern, als auch gruppenextern, d.h. mit den Interaktionen der beiden anderen Gruppen und Bild „Shantytown“. Da sich geeignete tertia comparationis konstruieren ließen, konnte der Fall auch mit Interaktionen der beiden Vergleichsgruppen und anderen Bildern verglichen werden. Auf diese Weise bildete sich ein ‚rhizomartiges’ Netz von vergleichenden Interpretationen, in dem ineinander ‚verschachtelte’ Fälle Gegenhorizonte für einander abgaben. Statt der Analyse isolierter Fälle entstand ein ‚Geflecht’ von Fällen, das seinen Ausgangspunkt von einem diskursdramaturgisch identifizierten Fall nahm. Da der zuerst rekonstruierte Fall eine Interaktion mit einem syntagmatisch offenen Bild umfasste, lag es nahe, im Kontrast dazu die Interaktion der gleichen Gruppe mit einem syntagmatisch geschlossenen Bild zu untersuchen. Um den Weg der eingeschlagenen Sequenzanalyse fortzusetzen, wurde das in den Diskussionen unmittelbar auf Bild „Shantytown“ folgende (syntagmatisch geschlossene) Bild „Familie“ ausgewählt. Die ‚Rhizombildung’ setzte sich fort und verfeinerte sich. Trotz der Konzentration auf zwei Fälle konnten so eine Reihe weitere Fälle in die Rekonstruktion einbezogen werden. 2.1.3.4 Interaktionen und Transformationen Weitere Aspekte des Forschungsprozesses können als Interaktionen und Transformationen beschrieben werden. Interaktionen lassen sich auf vier Ebenen ausmachen. Bohnsack unterscheidet bei Gruppendiskussionen zwei Ebenen der Interaktion, zum einen (a) die Interaktion der Gruppenmitglieder untereinander, zum andern (b) die Interaktion der Gruppenmitglieder mit dem Diskussionsleiter. Dabei handelt es sich um Diskurse, die ineinander „verschränkt“ und in ihrer Verschränkung methodisch zu kontrollieren sind (Bohnsack 1999, S. 212). 1991, d.h. einem Fotoband, aus dem Werbeagenturen vorproduzierte Bilder zur Illustration von Werbeanzeigen buchen können.

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Bei der Untersuchung von Rezeptionsprozessen kommt – der hier vorgeschlagenen Konzeption von Rezeption folgend – als weitere Interaktionsebene (c) die sinngenerierende Interaktion von Text und Rezipierenden hinzu. Als vierte Ebene (d) kann eine weitere Text-Rezipierenden-Interaktion genannt werden (die Bohnsack Interaktion (b) zuordnet; vgl. ebd.): Die interpretierende Interaktion des Forschers mit dem (verschriftlichten) Diskussionstext. Im Überblick: (a) Interaktion der Gruppe untereinander (b) Interaktion Gruppe mit dem Diskussionsleiter (c) Interaktion von Bild und Rezipierenden (d) Interaktion Diskussionstext – Forscher Interaktion (c) bildet den Kern der Untersuchung. Da sie aber als „repräsentante Prozessstruktur“, d.h. in ihren präreflexiven, kollektiven und milieuspezifischen Ausprägungen rekonstruiert werden soll, steht zugleich die konjunktive Praxis der Gruppenmitglieder untereinander, d.h. Interaktion (a) im Blickpunkt. Denn in der kollektiven Praxis von Interaktion (a) wird Interaktion (c) in ihren habitusspezifischen Dimensionen aktualisiert. Diese Interaktionen werden durch die Interpretation der verschriftlichten Diskussionstexte untersucht, d.h. auf dem Wege der Interaktion (d) des wissenschaftlichen Interpreten mit den Diskussionstexten. Als der Prozess, durch den die Interaktionen (c) und (a) rekonstruiert werden, geht somit auch Interaktion (d) in dieser Arbeit auf: Schriftlich fixiert und begrifflich expliziert bildet sie als Rekonstruktion der Fälle den Inhalt der Abschnitte 2.2 und 2.3 dieser Arbeit. Nur am Rande berücksichtigt wird jedoch Interaktion (b). Sie steht am Beginn einer jeder Gruppendiskussion, da die Diskussion vom Diskussionsleiter durch eine direkte Ansprache der Gruppenmitglieder eröffnet wird. Damit sich die Relevanzsysteme der Gruppe entfalten können, ist das Ziel jedoch die Herstellung eines möglichst selbstläufigen Gruppendiskurses (s.o.). Dieses Ziel ist erreicht, wenn Interaktion (b) durch Interaktion (a) überlagert wird (vgl. Bohnsack/Schäffer 2000, S. 7). Daher ist zunächst zu klären, (1) wie die Interaktion des Diskussionsleiters mit den Gruppenmitgliedern gestaltet wurde, und sodann, (2) ob diese Interaktion (b) – gemäß dem Postulat der Selbstläufigkeit – durch Interaktion (a) der Gruppenmitglieder untereinander ‚absorbiert’ wurde. Zu (1): Allen Gruppen wurde vor der Diskussion für Ihre Teilnahme gedankt und Anonymität zugesichert. Das Projekt, dessen Teil die Diskussion sei, wurde betont unpräzise umschrieben als „Untersuchung, wie Menschen Bilder wahrnehmen“ – eine Frage, bei der es per se „kein richtig und kein falsch“ gebe und deren Untersuchung allein an der ‚subjektiven Sicht’ der Gruppenmitglieder interessiert sei. Den Gruppen wurde vorab auch erläutert, dass sich der Diskus-

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sionsleiter möglichst aus der Diskussion zurückziehen werde und sich die Gruppe so unterhalten solle, wie sie es sonst auch tut. Die Gruppendiskussionen selbst wurden durch den Diskussionsleiter in zwei Teile von jeweils ca. 1 Std. Dauer gegliedert. Der erste Teil hatte die Gruppe als solche zum Thema, der zweite die Rezeption der ausgewählten Fotografien. Der erste Teil, der nicht transkribiert und interpretiert wurde, hatte zum einen die Funktion, dem Forscher einen gewissen Einblick in den Gruppenzusammenhang zu verschaffen, zum andern sollte er als ‚Warming-up’ die Gruppe weg vom kommunikativgeneralisierenden Austausch mit dem Forscher und hin zur konjunktiven Verständigung untereinander führen. Dies sollte als Vorbereitung für eine konjunktive Auseinandersetzung mit den Bildern im 2.Teil der Diskussion dienen. Damit die Diskussion durch die Initialfrage möglichst wenig vorstrukturiert wurde und sich von Anfang an eine Selbstläufigkeit entfalten konnte, wurde sie offen, betont vage und unpräzise gestellt („Also, mich würde mal interessieren, woher ihr euch eigentlich kennt ... oder was ihr so macht, wenn ihr zusammen seid, also, was euch so als Gruppe zusammenführt ...“ ). Dadurch wurde die Gruppe zu detaillierten und ‚erlebnisgesättigten’ Erzählungen animiert, knappe ‚EinWort-Antworten’ konnten so vermieden werden. Im zweiten Teil der Diskussion wurden die sechs Fotografien (für Interaktion (c)) nacheinander in einer bei allen Gruppen gleichbleibenden Reihenfolge präsentiert. Die Fotografien lagen als schwarz-weiß Kopien im Format von ca. 18 x 24 cm vor und waren auf schwarzes Tonpapier aufgezogen. Die Initialfrage lautete beim ersten Bild: „Was geht Euch durch den Kopf, wenn Ihr dieses Bild seht?“ Den Rhythmus des Bilderwechsels bestimmte die Gruppe – sei es, indem sie explizit, d.h. in direkter Interaktion (b) mit dem Diskussionsleiter das nächste Bild forderte („Weiter“), sei es indem sie durch eine sehr deutliche Pause signalisierte, dass die Sinnbildung für sie zu einem Abschluss gekommen war. Teilweise wurden solche Pausen vom Diskussionsleiter zum Anlass genommen, die Gruppe durch eine immanente Nachfrage um eine stärkere Detaillierung zu bitten. Obwohl die Rhythmisierung des Bilderwechsels in Interaktion (b) erfolgte, kann sie als Beleg für die Selbstläufigkeit der Gruppendiskussion gesehen werden: In ihr zeigt sich, dass die Gruppe die Diskussion nach ihrem eigenen Relevanzsystem strukturiert und sowohl Dauer wie auch Intensität der Auseinandersetzung bestimmt. An die Einzelpräsentationen der Bilder schloss sich eine Resümeephase an, in der alle Bilder noch einmal zusammen der Gruppe vorgelegt wurden. Diese Phase wurde durch den Diskussionsleiter mit der Frage nach einem Präferenzurteil initiiert: „Wenn Ihr Euch jetzt alle Bilder anschaut, gibt es eines, das Euch besonders gut gefällt?“ Außer bei Gruppe SA wurde auch noch nach dem Bild gefragt, das der Gruppe am wenigsten gefällt. Diese Phase führte dazu, dass die Gruppen im Vergleich aller Bilder ihre Einschätzun-

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gen zu einzelnen Bildern stärker konturieren konnten und so zu einer stark resümierenden und verdichteten Sinnbildung kamen. Damit markierte diese Phase – nachdem die Gruppe in der Auseinandersetzung mit dem letzten Bild zu einem Ende gekommen war – die Koda des gesamten Diskursverlaufs. Nach dieser ‚eigentlichen’ Diskussion, d.h. nach Abschalten des Aufzeichnungsgeräts erkundigte sich der Diskussionsleiter nach den Empfindungen der Gruppe während der Diskussion und fragte sie nach ihrer Meinung über die Diskussion. Es gehört zum Ethos und Menschenbild qualitativer Forschung, die Erforschten nicht als „Vpn“ zu betrachten, sondern Ihnen als ganzheitliche und vielschichtige Persönlichkeiten aufrichtiges Interesse und Respekt entgegen zu bringen. Daher ist es wichtig, die Diskussion auch für die Gruppe zu einem gewinnbringenden Erlebnis zu machen und zu einem befriedigenden Abschluss zu führen. Mit diesem Schlussgespräch tritt wieder Interaktion (b) in den Vordergrund und überlagert Interaktion (a). In diesem Zusammenhang muss auch daran erinnert werden, dass sich in Interaktion (b) ‚leibhaftige’ Menschen begegnen, d.h. Menschen mit inkorporierten Habitus, die die gegenseitige Wahrnehmung strukturieren und als strukurtierte Struktur wahrgenommen werden (vgl. Bourdieu 1998, S. 21 f.). Auch der Habitus des Diskussionsleiters ist daher ‚Teil’ der Gruppendiskussion. Nicht nur die Gruppenmitglieder lassen ihre Habitus mit der Situation interagieren, sie beurteilen (präreflexiv auf Basis ihrer Habitus) vermutlich auch den Habitus des Diskussionsleiters. Als Gegenhorizont wird dieser hypothetisch unterstellte Habitus daher möglicherweise hinter den Sinnbildungen der Gruppe aufgespannt. Der Diskussionsleiter kann sich – genauso wie der wissenschaftliche Interpret der Diskussionstexte – nicht auf die Rolle des ‚neutralen’ Wissenschaftlers zurückziehen. Seine Rolle in der Gruppendiskussion erschöpft sich nicht in rein funktionalen Tätigkeiten (Initiieren der Diskussion, Präsentieren der Bilder etc.), sondern kann auch auf die Sinnbildungsprozesse der Gruppe abfärben. Diese Faktoren sind nicht ‚auszuschalten’, sondern nach Möglichkeit methodisch zu kontrollieren. Dieser Punkt leitet über zu Frage (2). Zu (2): Die Rekonstruktion der Gruppendiskussionen muss für die unterschiedlichen Interaktionsebenen sensibilisiert sein. Insbesondere hat sie ihr Augenmerk auf Interventionen durch den Diskussionsleiter zu richten und deren „Karriere“ zu verfolgen, d.h. zu prüfen, inwieweit Interaktion (a) durch Interaktion (b) überlagert wurde. Wieder kommt der komparativen Perspektive eine wichtige Rolle zu. So lassen sich zum einen im gruppeninternen Vergleich recht deutlich jene Passagen, in denen sich die Gruppe auf kommunikativgeneralisierender Ebene mit dem Diskussionsleiter unterhält, von jenen unterscheiden, in denen die Gruppe sich untereinander im konjunktiven Modus verständigt. Zum anderen kann der Einfluss des – bei allen Diskussionen identi-

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schen – Diskussionsleiters als tertium comparationis betrachtet werden, das in der Auseinandersetzung mit den Gruppen deren jeweilige Besonderheiten im gruppenexternen Vergleich hervortreten lässt: Auch in der Auseinandersetzung mit dem (für alle Gruppen gleichen) Diskussionsleiter zeigen sich die gruppenspezifischen Habitus. Transformationen mussten auf drei Stufen geleistet werden: (1) Die Gruppenmitglieder mussten ihren visuellen Eindruck von den präsentierten Bildern in der Gruppendiskussion in verbale Ausdrücke transformieren. (2) Die mündlichen Äußerungen der Gruppenmitglieder wurden durch Transkription in einen schriftlichen Text transformiert. (3) Der verschriftlichte Originaltext wurde schließlich durch zwei Interpretationsschritte – die formulierende und die reflektierende – in zwei Metatexte transformiert. Transformation bedeutet hier, dass es von einer Stufe zur nächsten zu Veränderungen und nicht lediglich zu 1:1 ‚Abbildungen’ in einem anderen ‚Medium’ kommt. Bei der Erstellung eines schriftlichen Textes (2) und der sich darauf beziehenden Interpretationen (3) als begriffliche Explikation der sich im Text dokumentierenden konjunktiven Orientierungsrahmen handelt es sich um intendierte Transformationen (vgl. Bohnsack 1999, S. 199 f.). Dagegen stellt die erste Transformation, die Verbalisierung der visuellen Rezeptionserlebnisse, zunächst eine bloße Notwendigkeit dar, da Rezeptionsprozesse anders als in versprachlichter Form einer Analyse nicht zugänglich sind. Daher soll die erste Transformation eingehender betrachtet werden. Bilder – so wurde im ersten Teil der Arbeit festgehalten – lassen sich nämlich nicht vollständig unter das begriffliche Raster der Sprache subsumieren. Gottfried Boehm hatte unter Bezug auf Merleau-Ponty konstatiert: „Das Auge erschließt sich eine prae- oder non-verbale Sinnwelt, deren Reichtum nur unvollkommen in Sprache übersetzt werden kann.“ (Boehm 1986, S. 296) Mit Boehm kann das Problem der ersten Transformation nun zugespitzt werden: Nicht das Bild als solches steht hier in seiner Sprachlichkeit oder NichtSprachlichkeit zur Debatte, sondern die „Sinnwelt“, die sich das „Auge“, d.h. das rezipierende Subjekt im Rezeptionsprozess „erschließt“. Mit der ersten Transformationsstufe werden somit nicht Probleme einer adäquaten Bildanalyse mit den Mitteln der Sprache berührt, sondern die Frage nach der Verbalisierung eines Rezeptionsprozesses. Rezeption wird im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht als ‚Abbildungsprozess’ des Bildes in Sprache verstanden, sondern als Interaktionsprozess, bei dem auf unterschiedlichen Ebenen Sinn produziert wird. Legt man überdies Panofskys Ikonographie/Ikonologie-Modell einer differenzierteren Betrachtung der unterschiedlichen Sinnebenen – bzw. in Boehms Diktion: der unterschiedlichen „Sinnwelten“ – zugrunde, dann lässt sich das Problem der Transformation auf die ikonologische Sinnebene konzentrieren.

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Begreift man nämlich das vor-ikonographische Wiedererkennen einzelner Bildelemente mit Bätschmann als prädikativen Akt (ders. 1985, S. 106) und die ikonographische Sinnbildungen als kommunikativ-generalisierende Schemaapplikationen (vgl. 1.4.3.2), dann wird die Sprachaffinität dieser Sinnebenen deutlich. Die Transformation in verbale Ausdrücke kann dann hier als weniger problematisch betrachtet werden. Jene „prae- oder non-verbale Sinnwelt“, von der Boehm spricht, ist vielmehr der ikonologischen Sinnebene sowie – in Ergänzung des Ikonographie/ Ikonologie-Modells – der ikonischen Sinnebene nach Imdahl zuzuordnen. Auf diesen beiden Ebenen konstruieren die Rezipierenden durch unmittelbares Verstehen (sensu Mannheim) jenen Sinn, der „jenseits von Bewusstsein und diskursivem Denken“ (Bourdieu 1987, S. 730) angesiedelt ist und der daher „nur unvollkommen in Sprache übersetzt werden kann“ (Boehm, s.o.). Boehm formuliert jedoch nicht, dass dieser genuin bildliche Sinn nicht, sondern lediglich „unvollkommen“ in Sprache übersetzt werden könne. In umschreibender, diffuser, anspielungsreicher, szenischer, ‚bildlicher’, d.h. metaphorischer Sprache lässt sich dieser Sinn – so kann daran anschließend argumentiert werden – wenn schon nicht begrifflich fassen, so doch zumindest teilweise ‚andeuten’ und ‚darstellen’. Auf eine begriffliche Explikation dieser sich im Diskurs über das Bild dokumentierenden szenischen und vor-sprachlichen Sinngehalte zielt die Dokumentarische Methode. Auf vor-begrifflichen Darstellungen, Umschreibungen, Anspielungen, metaphorischen Verdichtungen und Inszenierungen richtet sie ihr besonderes Augenmerk. Sie kann daher als geeignetes Verfahren betrachtet werden, um den „Reichtum“ (Boehm) jener „prae- oder non-verbalen Sinnwelten“, den sich das „Auge“ bei der Rezeption eines Bildes „erschliesst“, auszuloten. Wird die Verbalisierung der Rezeptionserlebnisse daher nicht auf das thematische „Was“ der Sinnbildungen reduziert, sondern auch unter dem Aspekt der präreflexiven Herstellung von Sinn, d.h. des „Wie“ der Sinnbildung untersucht, so wird an der Sprache des Gruppendiskurses eine Qualität herausgearbeitet, die im Anschluss an Boehm als deren ‚bildlicher Reichtum’ bezeichnet werden könnte. In genetischer Analyseeinstellung lässt sich die Differenz von unmittelbarem, vor-sprachlichen Bildverstehen im Rezeptionsprozess und der sprachlichen Diskussion über das Bild zwar nicht einebnen. Die Verbalisierung durch die Rezipierenden wird jedoch nicht auf die Ebene sprachlichbegrifflicher Explikation verkürzt, sondern auch auf ihren ‚bildhaften’ Gehalt befragt. Betrachtet man zudem den Gruppendiskurs nicht als ‚literarisches’ Datum, sondern als kollektive soziale Praxis, dann erscheint die erste Transformation auf ikonologischer und ikonischer Ebene nicht als (‚philologische’)

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Versprachlichung, sondern als praktische Aneignung des Bildes durch die Gruppe. Die erste Transformation umfasst noch einen weiteren Aspekt: Die Transformation des simultanen Bildes (vgl. 1.2.1.2) in die sequentielle Linearität des Gruppendiskurses. Auch hier gilt, dass der Gruppendiskurs nicht das Bild ‚abbildet’, sondern dass sich im Gruppendiskurs der Sinnbildungsprozess niederschlägt. Eine sequentielle Struktur oder „Sprachlichkeit“ des Bildes wird damit nicht behauptet. Unter 1.2.1.2 wurde argumentiert, dass die Simultaneität bildlicher Präsentation nicht gleichzusetzen ist mit einer Simultaneität bildlicher Rezeption. In der sequentiellen Struktur des Gruppendiskurses zeigt sich daher die Prozesshaftigkeit der Sinnbildung als einer in der Zeit ablaufenden Handlung. Da die Sinnbildung nicht auf das Bild allein, sondern auf die Interaktion von Bild und Rezipierenden zurückgeführt wird, manifestieren sich in diesem Interaktionsprozess auch die Beiträge der Rezipierenden. Es kann daher argumentiert werden, dass die sich in der Zeit entfaltende Sequentialität des Sinnbildungsprozesses auf die Relevanzsysteme der handelnden Rezipierenden verweist. Die Sequentialisierung, die kein ‚objektives’ Merkmal des Bildes ist, sondern erst im Rezeptionsvorgang hergestellt wird, erlaubt daher Rückschlüsse auf die Relevanzysteme der Rezipierenden. Wenn die Rekonstruktion somit der Sequentialität der Gruppendiskurse folgt, so nicht deshalb, weil angenommen würde, dass sich darin eine sequentielle Struktur des Bildes niederschlägt, sondern weil sich in der sequentiell entfaltenden Sinnbildung die Relevanzsetzungen der Rezipierenden dokumentieren. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass auch das Bild durch unterschiedliche Akzentuierungen (Hell-Dunkel-Verteilung, Vordergrund/Hintergrund, Gestaltgesetze etc.) einen Beitrag zur sequentiellen Strukturierung des Rezeptionsprozesses leistet. Daher kommt auch hier der komparativen Analyse eine herausragende Rolle zu: Unterschiede der Sequentialisierung zwischen den Gruppen können als Manifestationen der gruppenspezifischen Relevanzsysteme, gruppenübergreifende Gemeinsamkeiten als Beitrag des Bildes aufgefasst werden. Dabei können gruppenübergreifend geteilte Sequentialisierungen allerdings auch auf kulturelle Konventionen – der Bildrezeption genauso wie der Bildproduktion – verweisen, die somit weniger auf Seiten des Bildes, als vielmehr ebenfalls auf der Seite der Rezipierenden zu verorten wären.

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Empirische Fallrekonstruktionen

2.2 Rezeption eines syntagmatisch offenen Bildes Abbildung 4

Bild „Shantytown“ dürfte wohl auf die meisten Betrachter verwirrend wirken. Auf Anhieb lässt sich nur schwer eine in sich konsistente ‚Geschichte’ erzählen, die alle Bildelemente in einen sinnvollen Zusammenhang bringen könnte. Das kulturelle Wissen stellt keine ikonographische Matrix bereit, die eine eindeutige Klärung aller bildinternen Relationen herbeiführen könnte. Auf Basis der oben vorgestellten ‚Faustregel’ kann das Bild daher als „syntagmatisch offen“ bezeichnet werden, da sich nur schwer ein gleichermaßen prägnanter wie erschöpfender Bildtitel finden lässt. Gleichwohl handelt es sich dabei lediglich um eine erste heuristische Klassifizierung. Die Frage der syntagmatischen Offen- bzw. Geschlossenheit ist a priori nicht endgültig zu klären, sondern immer relational auf den Erwartungshorizont sozial und historisch situierter Rezipierender bezogen. Dass in der Überschrift dieser Fallrekonstruktion bereits von der Rezeption eines „syntagmatisch offenen Bildes“ die Rede ist, stellt somit einen Vorgriff dar, dessen Berechtigung im Zuge der Fallrekonstruktion noch einzulösen ist. Bei der Rekonstruktion der Sinnbildungsprozesse soll ein „Fall“, d.h. die Interaktion einer Gruppe mit dem Bild, im Zentrum stehen. Es wird dies der Rezeptionsprozess von Gruppe ND sein. Er wurde nach formalen Gesichtspunkten ausgewählt (vgl. Bohnsack 1999, S. 153 f.). Beim Fall der Interaktion von Bild „Shantytown“ mit Gruppe ND zeigte sich nämlich eine diskursdramaturgisch herausgehobene Passage, die einen guten Zugang zum Relevanzsystem der Gruppe ND verspricht. Um die Sinnbildung in ihrer Prozesshaftigkeit zu

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rekonstruieren, d.h. um die sich sequentiell entfaltende Prozessstruktur der Herstellung von Sinn in actu zu verfolgen, muss jene diskursdramaturgisch herausgehobene Passage in ihrer sequentiellen Einbettung in die Gesamtstruktur des Falles betrachtet werden. Daher beginnt die Interpretation mit der Einstiegssequenz des Falles, d.h. mit dem Moment, in dem die Gruppe den ersten Blick auf das Foto wirft. Dabei werden auch die Einstiegssequenzen der beiden anderen Gruppen in Bild „Shantytown“ in komparativer Perspektive einer reflektierenden Interpretation unterzogen (2.2.1). Auf diese Weise wird der „zentrale Fall“ von Anfang an vor dem Hintergrund empirisch fundierter Vergleichshorizonte interpretiert. Aus der Rekonstruktion dieser ersten Auseinandersetzungen der Gruppen mit Bild „Shantytown“ ergeben sich weitergehende Fragen: Die erste betrifft die syntagmatische Offenheit des Bildes, die direkt im Anschluss an die Analyse der Einstiegssequenzen untersucht wird. Die zweite Frage bezieht sich auf eine Besonderheit der Sinnbildung von Gruppe ND bei der Rezeption von Bild „Shantytown“, die im Fallvergleich hervortrat. Die Klärung dieser Frage strukturiert die weitere Fallrekonstruktion, bei der der Diskurs von Gruppe ND im Zentrum steht. Er lässt sich in eine eher bildorientierte Phase (2.2.3.1) und eine eher gruppenorientierte Phase (2.2.3.2) aufteilen. Nachdem die Auseinandersetzung von Gruppe ND mit Bild „Shantytown“ in ihrer Sequentialität und in ständigem Vergleich mit den beiden anderen Gruppen rekonstruiert wurde, wird der Fall in seiner Gesamtgestalt resümierend gewürdigt (2.2.4). 2.2.1 Komparative Analyse der Einstiegssequenzen Von allen drei Gruppen wird zunächst die Einstiegssequenz in Bild „Shantytown“ interpretiert, d.h. von den Gruppen AH und ND jeweils das erste Segment, bei Gruppe SA wird das zweite Segment miteinbezogen, da es dramaturgisch noch zum Einstieg zu rechnen ist. Diese „reflektierenden Interpretationen“ nehmen nicht zuerst nur jeweils eine Gruppe in den Blick, um sie nach vollendeter Interpretation mit den anderen Gruppen zu vergleichen, sie erfolgen vielmehr von Anfang an in komparativer Perspektive. Denn: „Reflexion setzt Gegen- oder Vergleichshorizonte voraus. Und eine Reflexionsleistung, die empirisch-methodisch kontrolliert vollzogen werden soll, muss sich auf empirisch fundierte und nachvollziehbare Gegenhorizonte stützen.“ (Bohnsack 1999, S. 41). Die Gruppen geben füreinander die empirisch fundierten Vergleichshorizonte ab und ‚bespiegeln’ sich dadurch gegenseitig. Nur im komparativen Vergleich, d.h. in Bearbeitung eines gemeinsamen Themas (hier die Rezeption von Bild „Shantytown“) werden die Besonderheiten des Falls überhaupt sichtbar. Durch den komparativen Vergleich der Einstiegssequenz in die Auseinanderset-

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zung mit dem Bild erfolgt quasi ein ‚Herantasten’ an einen Fall (vgl. Bohnsack 1989, S. 382). Dadurch bekommt der Interpret nach und nach ein ‚Gespür’ für die Struktur des Falles bzw. der Fälle und relativiert den Einfluss seines eigenen Habitus ohne ihn bei der Interpretation ‚auszuschalten’. Die ‚Ineinanderschachtelung’ von Vergleichshorizonten, bei denen ein Fall vor dem Hintergrund der anderen Fälle interpretiert wird, für deren Interpretation er seinerseits den Vergleichshorizont abgegeben hat, macht es unvermeidlich, dass es zu scheinbaren Redundanzen kommt. Dabei handelt es sich jedoch um ‚Spiralbewegungen’, die eben nur scheinbar Wiederholungen darstellen und sich idealerweise dem gleichen Problem aus einer neuen Perspektive annähern. Obwohl die Gruppendiskussionen aus der Perspektive der Dokumentarischen Methode als kollektive Praxis betrachtet werden (und nicht als intentionalistische Einzeläußerungen), legt es die Diskursorganisation der Einstiegssequenzen bei allen drei Gruppen nahe, mit der Analyse auf der Ebene der Einzeläußerungen zu beginnen. Denn die Diskursorganisation kann hier als ein „Abfeuern“ schlagwortartiger Einzelassoziationen beschrieben werden, die sich erst im weiteren Fortgang der Diskussion „verdichten“ und aufeinander Bezug nehmen.7 Anhand der Einstiegssequenzen soll auch das Prinzip einer detaillierten reflektierenden Interpretation exemplarisch demonstriert werden. 2.2.1.1 Einstiegssequenz der Gruppe AH AH 492-504 ?w: Jesus ! Ew: Des sin jedenfalls Schwarze. ?w: ja. Ew: ... und da hängt e´ Jesusbild Dw: ((gleichzeitig mit Bw:)) ... s´is a .... na gut: die habbe au n´bißchen Schnaps ... wahrscheinlich Bw: ((gleichzeitig mit Dw:)) s´passt wie die Faust auf´s Auge Dw: ((gleichzeitig mit Aw:))... des is Schnaps Aw: ((gleichzeitig mit Dw:)) Ds´is ne Bar, oder? Bw: Mhm ... auf jeden Fall is er ... hat er Alkohol .... in der Hand Dw: ((gleichzeitig mit Bw:)) n´Flachmann ... Bw: ((gleichzeitig mit Dw:)) ... und der Jesus guckt zu Dw: ... s´ Abendmahl kann´s net sein ...

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Diesen Prozess hat Burkhard Schäffer mit dem Prozess der Kristallbildung verglichen, bei dem zunächst Einzeläußerungen („Kristallisationskeime“) aufeinander folgen, die schließlich „Bindungen“ eingehen und so ein „Kristallgitter“ bzw. eine komplexere Diskursstruktur ergeben.

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Vorikonographische Phase: Bestimmung des visuellen Tatbestands. Übergang zu ikonographischen Beschreibungen. 492: Ausruf oder Proposition ?w „Jesus!“. Dabei kann es sich zum einen um einen Ausruf der Überraschung oder des Schreckens handeln (vgl. Duden 11 1992, S. 365)8 oder um eine prädikative Bestimmung eines Bilddatums auf vorikonographischer Ebene. Die zweite Hypothese wird bestätigt (495): „ ... und da hängt e´Jesusbild“. Möglicherweise hat aber die erste Hypothese ebenfalls Bestand und die Proposition „Jesus!“ ist doppeldeutig aufzufassen – sowohl als prädikative Bestimmung als auch als Ausruf der Überraschung. 493: Proposition Ew und Ratifikation ?w: „Des sin jedenfalls Schwarze“. Die Formulierung „des sin“ verweist auf den prädikativen Charakter der vorikonographischen Proposition. Wie aus (505) deutlich wird, wird der Begriff „Schwarze“ nicht adjektivisch, sondern substantivisch zur Bezeichnung von Menschen schwarzer Hautfarbe verwendet. Die Formulierung „jedenfalls“ hat eine bilanzierende Implikation: Egal, was noch im Bild entdeckt werden mag, eines ist zumindest schon mal geklärt: Das sind jedenfalls Schwarze. Diese These der ‚progredierenden’ Bilanzierung wird durch den Fortgang der Proposition bestätigt: „und da hängt e´Jesusbild“ (495). Der visuelle Tatbestand wird sukzessive bilanziert: Schwarze und ein Jesusbild. Die Formulierung „Jesusbild“ verweist auf eine etablierte Objektkategorie und weniger auf einen gerade vollzogenen Interpretationsakt Auch der (dialektspezifisch verkürzte) unbestimmte Artikel „ein“ („e“) Jesusbild verweist darauf, dass offenbar ein Exemplar einer bekannten Gattung „Jesusbild“ vor-ikonographisch wiedererkannt wird. 496/497: Anschlussproposition Dw: „... s´is a ... na gut: die habbe au n´bißchen Schnaps ... wahrscheinlich“ Der erste Teil der Proposition bleibt Fragment – möglicherweise wollte Dw eine Sinnhypothese formulieren, die sie während der Formulierung wieder als unplausibel verworfen hat. Der weitere Fortgang der Proposition wird durch ein konzedierendes „na gut“ eingeleitet. In der alltagssprachlichen Verwendung signalisiert die Wendung „na gut“ meist ein Abweichen von einer bislang eingenommenen Position. Im vorliegenden Fall weicht Dw möglicherweise von der Sinnhypothese ab, die sie gerade formulieren wollte. Eventuell weicht sie aber nicht von einer selbst formulierten (bzw. zu formulierenden) Proposition ab, sondern von ihrer Vorrednerin und deren Beendigung der bilanzierenden Tatbestandsaufnahme. Dafür spricht, dass 8

Die Definitionen aus unterschiedlichen Nachschlagewerken können als Vergleichshorizonte betrachtet werden. Sie geben auf der kommunikativ-generalisierenden Ebene Bedeutungen des kanonisierten Common-Sense wieder, die sich nicht unbedingt mit den Bedeutungen decken müssen, die die Gruppenmitglieder den jeweiligen Begriffen beilegen.

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Dw eine inhaltliche Ergänzung der Bilddaten liefert, die über „Schwarze“ und „Jesusbild“ hinausgeht und diese Ergänzung durch ein „auch“ („au“) hervorhebt: „die habbe au n´bißchen Schnaps“. Mit der Formulierung „na gut“ wird der Proposition von Ew nicht direkt widersprochen, sondern sich quasi Ew´s Proposition zu eigen gemacht, um dann einem Einwand (des Bildes) nachzugeben: „Das sind jedenfalls Schwarze und da hängt ein Jesusbild – Punkt. Mehr ist zu diesem Bild nicht zu sagen.“ – „Na gut: etwas gibt es noch zu bemerken ....“. Das Abweichen von einer fremden Position mit der konzedierenden Formulierung „na gut“ könnte dafür sprechen, dass diese Position zwar von einer anderen Person ausgesprochen wurde, aber dem gemeinsamen geistigen Zusammenhang entstammt. Die Feststellung, die Personen im Bild hätten auch ein bißchen Schnaps, wird durch ein abschwächendes „wahrscheinlich“ in Zweifel gezogen. 498 Kommentar Bw: „Des passt wie die Faust auf´s Auge“ Übergang von der vor-ikonographischen zur ikonographischen Ebene bzw. ikonologischen Ebene; Feststellung einer Schemainkongruenz. Der Ausdruck „etwas passt wie die Faust auf´s Auge“ bedeutet üblicherweise (Duden 11 1992, S. 538), dass etwas überhaupt nicht zusammenpasst. Ein offenkundiges Missverhältnis widerspricht den Erwartungen und kann eine Überraschung auslösen, die zu dem Ausruf „Jesus!“ führen kann. Dies würde für die erste unter Proposition 492 aufgestellte Hypothese sprechen, wonach es sich bei der ersten Stellungnahme der Gruppe AH zu Bild „Shantytown“ („Jesus !“) zumindest auch um einen Ausruf handelt und nicht (ausschließlich) um eine vor-ikonographische Prädikation. Offen bleiben muss die Frage, ob der Ausruf eher Ausdruck der Überraschung oder des Entsetzens ist. Unklar bleibt zunächst auch, zwischen welchen der genannten Bildelemente das Missverhältnis besteht, d.h. welches Bildelement „wie die Faust auf´s Auge“ zu welchem/welchen Bildelement/-en passt. Im bisherigen Diskurs wurden die Schwarzen, das Jesusbild und der Schnaps thematisiert. Ein Missverhältnis zwischen Bildelementen, also Elementen des Bildsyntagmas, ist das Kennzeichen einer syntagmatischen Leerstelle. Dabei kommt es zwischen dem bildlichen Syntagma und dem Schema, das die Rezipierenden an das Bild herantragen, zu einer Inkongruenz. 499 Affirmation der hypothetischen Proposition von (496) durch Dw: „... des is Schnaps“ Auf vor-ikonographischer Ebene erfolgt eine Prädikation, mit der Dw ihre zuvor nur probabilistisch („wahrscheinlich“, 496) geäußerte Proposition bekräftigt. 500 Frage Aw: „Ds is ne Bar, oder?“ Aw schlägt eine situative Schließung des Syntagmas vor, in dem sie Personen, Alkohol und Örtlichkeit in ein übergeordnetes Schema integriert, das vermutlich weniger auf dem Wiedererkennen (einer Bar) beruht, sondern mehr auf konventionalisiertem Wissen über die

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typischen Elemente einer Bar. Die Frage ist daher dem ikonographischen Bereich zuzuordnen. Die Frageform und das nachgestellte „oder“ markieren eine Unsicherheit über die Adäquatheit des Schemas „Bar“. 501 Anschlussproposition Bw: „Mhm ... auf jeden Fall is er ... hat er Alkohol ... in der Hand“ Die Unsicherheit Aw´s kann nicht beseitigt werden, sondern wird durch ein indifferentes „Mhm“, das weder als Zustimmung noch als Widerspruch gewertet werden kann, fortgeführt. Die Unsicherheit auf ikonographischer Ebene (ist es eine Bar?) wird durch Rückzug auf vorikonographisches ‚Terrain’ umgangen, indem konstatiert wird, was unbezweifelbar feststeht: er hat Alkohol. Die Abkehr von Spekulationen wird verstärkt durch die Wendung „auf jeden Fall“. Sie weist eine funktionale Ähnlichkeit auf mit der oben (493) festgestellten progredierenden Bilanzierung. An dieser Stelle könnte man von einer regressiven Bilanzierung sprechen, da von einer ikonographischen Hypothese auf die weniger komplexe vor-ikonographische Ebene zurückgegangen wird und dort eine unbezweifelbare Gewissheit hergestellt wird. Zudem bezieht sich die Bilanzierung auf eine zeitlich frührere Proposition, während die progredierende Bilanzierung sich prospektiv auf noch gar nicht geäußerte Propositionen bezog. Die Gewissheit, die auf ikonographischer Ebene (noch) nicht erreichbar ist, wird durch vor-ikonographische Exaktheit kompensiert. Statt eines qualitativen Interpretationsfortschritts (Übergang auf die komplexere ikonographische Ebene) wird die vor-ikonographische Datenbasis quantitativ vergrößert: Er hat Alkohol und er hat ihn in der Hand. Diese Rückbindung an Bilddaten und der (vorläufige) Verzicht auf die Addition konventionellen Hintergrundwissens kann als eine (vorläufige) Bevorrechtigung des Bildes für die Sinnbildung (im Vergleich zum Anteil des Betrachters) angesehen werden. 502 Ergänzung Dw: „n´Flachmann“. Dw präzisiert die Beschreibung Bw´s ebenfalls vor-ikonographisch und leistet damit ebenfalls einen Beitrag zur Vergrößerung der vor-ikonographischen Datenbasis. 503 Vollendung der Proposition 501 durch Bw: „... und der Jesus guckt zu.“ Statt der Formulierung Ew´s (495) „da hängt ein Jesusbild“ wird der abgebildeten Jesus zum Akteur, der Teil des Geschehens wird: er guckt zu. Mit der Vollendung der Proposition 501 hat nun Bw die Konturen der Leerstelle benannt, die sie unter 498 konstatiert hatte: Alkohol und Jesus. 504 Exkludierende Proposition Dw: „... s´Abendmahl kann´s net sein.“ Versteht man unter dem Stichwort „Abendmahl“ nicht ein Synonym für „Abendessen“, sondern „christliche Abendmahlfeier“, so wird hier ein Schema in die Debatte gebracht, das die Elemente „Jesus“ und „Alkohol“ integriert. Dieses Schema ist auf der ikonographischen Ebene anzusiedeln. Die Schemaapplikation erfolgt jedoch nach dem Ausschlussverfahren: Das kann es nicht sein. Der

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Versuch, die vor-ikonographische Ebene zu überwinden und zu einer weitergehenden Sinnhypothese zu gelangen, erfolgt zögernd und absichernd: Zwar wird eine globale Rahmenhypothese vorgeschlagen („Abendmahl“), doch wird sie zugleich negiert. Es findet sich hier wieder das Muster der ‚Terrainsicherung’ bzw. der Bilanzierung des Unbezweifelbaren, das bereits in 493 und 501 festgestellt wurde. Resümee Am ‚augenfälligsten’ sind für Gruppe AH offenbar die Bildelemente „Jesus (bild)“, „Schwarze“ und „Schnaps/Alkohol/Flachmann“. Sie werden gleich zu Beginn des Rezeptionsprozesses genannt und bilden in der Perspektive der Gruppe den vor-ikonographischen Bestand des Bildes. Dabei konstatiert die Gruppe eine syntagmatische Leerstelle, deren Konturen die „gegebenen“ Bildelemente „Alkohol“ und „Jesus (-bild)“ sind. Diese Leerstelle scheint eine erhebliche Störung der Normalitätserwartungen der Gruppe darzustellen, da sie durch die drastische Formulierung „s´passt wie die Faust auf´s Auge“ (498) charakterisiert wird. Insgesamt scheint die Gruppe dazu zu tendieren, auf vorikonographischer Ebene ‚unbezweifelbare Gewissheiten’ zu bilanzieren, die gegen (nicht benannte) Irritationen ‚gesichert’ werden sollen. Als Indikator dafür wurde das defensiv wirkende „jedenfalls“ (493) angesehen. Für den defensiven Charakter der Auseinandersetzung spricht auch der Rückzug auf die vor-ikonographische Ebene (501), nachdem zuvor ein ikonographisches Schema („Bar“) versuchsweise appliziert wurde. Lediglich eine globalere Sinnhypothese wird formuliert – allerdings negativ in exkludierender Weise: „s´Abendmahl kann´s net sein ...“ (504). Auch hier kann das Muster der defensiven Bilanzierung gesehen werden: „So viel steht jedenfalls fest: Das kann es nicht sein.“ Trotz der überwiegend schlagwortartig verkürzten Propositionen weisen die einzelnen Beiträge eine enge Verzahnung und hohe gegenseitige Bezugnahme auf. Als Beispiele kann auf eine Kurzratifikation (494), Anschlusspropositionen, die mit „und“ beginnen (495, 503), Zustimmung ersuchende Fragen („oder?“, 500) und inhaltliche Bezugnahmen bzw. Elaborationen (496, 498, 501, 502, 503) verwiesen werden. Insgesamt werden unter reger Beteiligung nahezu aller Gruppenmitglieder schlagwortartig die vor-ikonographischen Impressionen geäußert, die vermutlich nach Modalität Alpha unwillkürlich erfasst werden. Der Übergang zu Modalität Beta wird geleistet, indem die Bildelemente „Alkohol“ und „Jesusbild“ aufeinanderbezogen werden und nach einer ‚Geschichte’ gesucht wird, die diese Verbindung erklären und in Übereinstimmung mit den Normalitätserwartungen bringen könnte. Eine solche Geschichte findet sich jedoch (vorerst) nicht.

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2.2.1.2 Einstiegssequenz der Gruppe SA SA 618-636 Bm: Mir sind net sozialkritisch .... Aw: Uuuups ! Cheerio ! Bm: ... (unverständlich) rausfinden. Bushmills? Aw: Oahne: Des sin üble ... B/C: (Laut, unverständlich durcheinander) Cw: ((jauchzend)) ... der Dschieses ...! Bm: ((jauchzend)) im Hintergrund ! ...der is klasse ! ((Jauchzer)) ... im Bildmittelpunkt! B/C: (durcheinander, unverständlich) Cw: ... Schwarzafrika Aw: Oah: Des isn Schwarzer !!! Bm: Ja, und ... Cw: Gut. Alle: ((Lachen)) Cw: Woran hast des gemerkt? Und so schnell ... Bm: ((Lachen)) Cw: Wahnsinn. Aw: Oaaah: Der sieht aus wie aus Carwash ..... ((singt:)) The Carwash titlit, ((wieder normal:)) der hat so ... Cw: Sin des Soulsänger ? Ne, glaub´ ich net ...

Vorikonographische Phase: Bestimmung des visuellen Tatbestands. Ikonographische und ikonologische Elemente. 618 Exkludierende Proposition Bm: „Mir sind net sozialkritisch ...“ Unklar ist, auf welche Personengruppe mit dem Personalpronomen „mir“ (i.e. süddt. für „wir“) Bezug genommen wird: Die Gruppe SA oder den gesamten Kommunikationskontext, zu dem auch – quasi als Kommunikator – der Diskussionsleiter und das präsentierte Bildmaterial gehören würden. Das „wir“ kann aber auch als Anrede verwendet werden, vor allem in spöttischen oder ironischen Unterstellungen. Da sich der Sprecher mit einbezieht, wird der Unterstellung die Schärfe genommen. Als gruppeninterner Vergleich kann die Sequenz 158-161 herangezogen werden, die der Einstiegssequenz von Bild 2 entnommen wurde: Bm: Aw: Cw: Aw:

ja, es is alles ... fremdländisch, irgendwie. Ja ... Mhm. Mir ham´s schon mit den Rassen ...

Bild 2 zeigt eine Asiatin. In Proposition 158 wird vermutlich der Bezug zu Bild 1 hergestellt, auf dem die Gruppe Asiaten oder Südamerikaner zu erkennen

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Empirische Fallrekonstruktionen

glaubte. Mit der Wendung „alles“ (158) wird eine verallgemeinernde Aussage über die gesamte Reihe der präsentierten Bilder getroffen. Daher kann argumentiert werden, dass in Proposition 161 ein Resümee über das bisher gezeigte Bildmaterial gezogen wird und als verbindendes Element der Bilder die Thematisierung von Menschen unterschiedlicher geographischer Herkunft („Rassen“) festgestellt wird. Die Formulierung „Mir ham´s ...“ dient demnach nicht der Charakterisierung der Gruppe, sondern im Gegenteil der Beschreibung des der Gruppe präsentierten Bildmaterials. Analog kann dann gefolgert werden, dass Proposition 618 ebenfalls nicht der Gruppencharakterisierung dient, sondern der Beschreibung des Bildes bzw. seiner unterstellten Kommunikationsabsicht. Akzeptiert man diese Deutung, dann kann die ‚eingemeindende’ Formulierung („mir“ bzw. „wir“) evtl. als Ironiesignal (sensu Weinrich 1966, S. 60) aufgefasst werden. Die Proposition wäre dann ironisch zu verstehen (sowie auf das Bild zu beziehen). Der propositionale Gehalt könnte dann etwa folgendermaßen wiedergegeben werden: Das Bild hat (sehr wohl) sozialkritische Implikationen. Die erste Stellungnahme zum Bild würde demnach eine sehr globale Wertung bzw. Rahmenhypothese enthalten. Versteht man unter „Sozialkritik“ in allgemeiner Weise „Kritik an sozialen Missständen“ und zieht in Betracht, dass Kritik immer nur vor dem Hintergrund (impliziter oder expliziter) Normen geübt werden kann, dann wird mit dem Stichwort „Sozialkritik“ zugleich ein Werthorizont an das Bild herangetragen, vor dem die abgebildete Situation als kritikwürdig erscheint. Damit wird gleich zu Beginn der Auseinandersetzung mit dem Bild die ikonologische Ebene in sehr komplexer Weise berührt: Dem Bild wird ein den ikonographischen Tatbestand übersteigender, ikonologischer Sinngehalt der Sozialkritik unterstellt, der nur vor dem weltanschaulichen Hintergrund einer sozialen Ethik zu verstehen ist. Dieser Sinngehalt wird dem Bild als Kommunikationsabsicht bzw. als „preferred reading“ (Stuart Hall 1980; S. 135) unterstellt. Dieses wahrgenommene Kommunikationsangebot wird nicht angenommen, sondern nun im DecodingProzess mit einem „oppositional-reading“ (ebd. S. 137) konfrontiert, nämlich der ironischen Lesart. Fasst man die Ironisierung als habitusspezifischen Ausdruck des modus operandi von Gruppe SA auf, dann ist dieses „oppositionalreading“ ebenfalls auf ikonologischer Ebene zu verorten. Interessant dabei ist, dass dem „oppositional reading“ eine Decodierung im Sinne des „preferred reading“ vorausgeht, d.h. dass die oppositionelle Lesart den Rezipierenden nicht als die einzig denkbare Lesart erscheint, sondern durchaus als eine Lesart, die von einer anderen, als intendiert unterstellten Lesart abweicht:9 Der sozialkritische Impetus wird wahrgenommen, aber nicht 9

Diese Möglichkeit hat Hall ebenfalls gesehen: „... it is possible for a viewer perfectly to understand both the literal and the connotative inflection given by a discourse but to decode the

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angenommen, sondern durch Ironisierung unterlaufen. Mit der Etikettierung „sozialkritisch“ wird der gesamte Assoziationshof, der sich daran anschließen könnte, benannt (auf den Begriff gebracht), als gemeinsames Wissen der Gruppe abgerufen, reflexiv zugänglich gemacht und dadurch ‚gebannt’, d.h. sämtliche Debatten, die sich anschließen könnten, werden ‚angetippt’ und abgekürzt. Insofern changiert die Proposition 618 wie eine Kippfigur zwischen einem ironisierten „Das Bild hat sozialkritische Implikationen“ und der wörtlichen Bedeutung „mir sind net sozialkritisch ...“ i.S.v.: „wir haben kein Interesse an einem sozialkritischen Diskurs/sind nicht sozialkritisch eingestellt.“ Damit wird der Rahmen festgelegt, innerhalb dessen das Bild verhandelt werden soll: Nicht sozialkritisch, sondern ironisch. 619 Ausrufe Aw „Uuuups ! Cheerio !“ Der erste Teil kann als Ausdruck der Überraschung aufgefasst werden, wobei zunächst offen bleiben muss, worauf sich die Überraschung bezieht. „Cheerio“ ist der englischsprachige Ausdruck für „Prost“. In „Cheerio“ verdichten sich möglicherweise zwei Assoziationsstränge: Es wird Alkohol getrunken und die Szene trägt sich in einem englischsprachigen Land zu. 620 Fragment Bm „(unverständlich) rausfinden“. Frage Bm „Bushmills?“ Mit der fragmentarischen Proposition wird evtl. auf Proposition 615 Bezug genommen, in der Aw mutmaßte, dass anhand der Diskussion nichts „herausgefunden“ werden könne. Dagegen spricht, dass Bm inzwischen Proposition 618 geäußert hat und es wenig wahrscheinlich ist, dass er nun an eine davorliegende Proposition anschließt. „Bushmills“ ist eine irische Whiskey-Marke. Vermutlich wird der in 619 eröffnete Assoziationshof „Alkohol“ spezifiziert. 621 Ausruf + fragmentarische bestimmende Proposition Aw „Oahne: Des sin üble ...“ Der Ausruf „Oahne“ kann als Ausdruck involvierter Überraschung verstanden werden. Das Fragment hat prädikativen Charakter. Nicht näher bestimmte Bildelemente werden als „übel“ klassifiziert. Da es sich dabei um ein stark wertendes Adjektiv handelt, kann argumentiert werden, dass hier die ikonologische Ebene berührt ist. 622 Eine Phase hoher Involviertheit und interaktiver Dichte beginnt/ 623 Ausruf Cw „... der Dschieses ...!“ „Dschieses“ ist die englische Aussprache von Jesus. Vermutlich wird damit auf das Jesusbild im Bildhintergrund Bezug genommen. Die englische Aussprache signalisiert evtl. ironische Distanz. Sie verweist auf den Jargon der „Sponti-Szene“ der 80er Jahre, in dem insbesondere das Adjektiv „dschiesesmäßig“ üblich war. Ist diese Herkunft zutreffend, so message in a globally contrary way. He/she detotalizes the message in the preferred code in order to retotalize the message within some alternative framework of reference. This is the case of the viewer who listens to a debate on the need to limit wages but ‘reads’ every mention of ‘national interest’ as ‘class interest’.“ (Hall 1980, S. 137 f.).

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kann sie als Beleg für die respektlose Konnotation der englischen Aussprache dienen. Der Ausruf wäre dann als Bezug auf die ikonologische Ebene zu verstehen. Möglicherweise ist die englische Aussprache dem in 619 („Cheerio“) aufgespannten Bezugssystem geschuldet. 624 Anschlussausrufe Bm „im Hintergrund ! ... der is klasse ! ((Jauchzer)) ... im Bildmittelpunkt !“ Die Vermutung von 623 wird bestätigt, dass sich der Ausruf auf das Jesusbild bezieht. Es wird extrem positiv bewertet („klasse !“). Der Ausruf „klasse“ kann als Ausdruck johlender Begeisterung verstanden werden und steht dadurch ebenfalls in ironischer Distanz zu dem so bewerteten Gegenstand. Mit dem Übergang von der Feststellung, das Jesusbild befinde sich im „Hintergrund“ zu der Aussage, es sei im „Bildmittelpunkt“, ist ein Perspektivwechsel von einer referentiellen zu einer rhetorischen Lesart verbunden: Im ersten Fall ist das Bezugssystem der abgebildete Raum, in dessen Hintergrund sich das Jesusbild befindet. Der Blick auf das Bild entspricht der referentiellen „Fenster-zur-Welt-Einstellung“. Mit der Aussage, das Jesusbild befinde sich im Bildmittelpunkt, wird die ikonische Struktur (im Sinne Imdahls berücksichtigt). Das Bild wird als Artefakt und (zweidimensionales) Zeichen wahrgenommen, das komponiert ist und einen Mittelpunkt hat. Diese Einstellung, die ein Bild als „gemachtes“ Zeichen begreift, wurde unter 1.2. 1.1 als rhetorisch bezeichnet. Es kann nun angenommen werden, dass der Übergang vom referentiellen zum rhetorischen Rezeptionsmodus zugleich das Bezugssystem für die positive Bewertung („klasse“) verdeutlicht: Im Anschluss an Katz und Livingstone kann diese Rezeptionsweise als „ästhetisch“ bezeichnet werden.10 „Klasse“ ist nicht der Umstand, dass im abgebildeten Raum ein Jesusbild hängt, sondern das Jesusbild im Gesamtkontext des bildlichen Zeichens. Die ästhetisierende Einstellung kann der ikonologischen Ebene zugerechnet werden, da sich in ihr möglicherweise eine „ungewollte und ungewusste Selbstoffenbarung eines grundsätzlichen Verhaltens zur Welt“ (Panofsky 1987a, S. 200) dokumentiert – dies be10

Katz und Livingstone operieren mit (verschiedenen Versionen) einer Typologie von Lesarten, die aus der Kombination von zwei Dimensionen hervorgehten: (I) „referential vs. rhetorical“ und (II) „closed vs. open“ (vgl. Katz 1996; Livingtone 1995, S. 197). Katz erläutert die beiden Dimensionen: „The one (Referential/Rhetorical) has to do with awareness of the constructedness of the text. The other (Closed/Open) has to do with reader´s sense of being able to negotiate with the text.“ (Katz 1996, S. 20, Anm. 4) Die Dimension closed/open deckt sich somit nicht mit den hier vertretenen Offenheitskonzepten. Die sich aus der Kombination der Dimensionen ergebenden idealtypischen Lesarten lassen sich im Anschluss an Livingstone als „moral readings“ (referential + closed), „ideological readings“ (rhetorical + closed), „ludic or playful readings“ (referential + open) und „aesthetic readings“ (rhetorical + open) bezeichnen (vgl. Livingstone 1995, S. 197). Geht man davon aus, dass Gruppe SA ein „awareness of the constructedness of the text“ hat, das Bild also im rhetorischen Modus als hergestelltes Zeichen rezipiert, und dass die Gruppe zudem der Auffassung ist, dass ihr das Bild keine „fertige“ Bedeutung vorsetzt, sondern sich eine Vielzahl von Bedeutungen „abhandeln“ lässt, ihr Rezeptionsmodus mithin am Pol „open“ anzusiedeln ist, dann kann die Herangehensweise der Gruppe SA an Bild „Shantytown“ im Sinne der Typologie als „ästhetisch“ bezeichnet werden.

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darf jedoch weiterer empirischer Fundierung. Sie kann dann zugleich als Beleg für die ironisierende Rezeptionsweise angesehen werden. Ein Bild, dem sozialkritische Implikationen als bevorzugte Lesart unterstellt werden, unter ästhetischen Gesichtspunkten zu würdigen, erfordert eine ironische Distanz zum referentiellen Bildgehalt. 625 Hohe interaktive Dichte Die Würdigung des Jesusbildes als Besonderheit kann als Erleben einer Schemainkongruenz aufgefasst werden. Wie Gruppe AH empfindet offenbar auch Gruppe SA eine Leerstelle zwischen dem Jesusbild und dem übrigen Bildsyntagma. Darauf wird später noch ausführlicher eingegangen. Diese Schemainkongruenz erst führt von einer distanziert-ironischen Haltung dem Bild gegenüber (aufgrund seiner sozialkritischen Implikationen) zu einer erhöhten Involviertheit, die sich in der hohen interaktiven Dichte niederschlägt. Mit Weidenmann (1988, S. 88) kann argumentiert werden, dass ein erhöhter Normalisierungsbedarf – wie er durch eine Schemainkongruenz gegeben ist – zu einer erhöhten Verstehensintensität führt. 626 Proposition Cw „... Schwarzafrika ...“ Cw schlägt eine Lokalisierung der Szene in Schwarzafrika vor. Der Begriff „Schwarzafrika“ wirkt antiquiert und erweckt beim Interpreten Assoziationen von Abenteuergeschichten aus der Kolonialzeit („Der dunkle Kontinent“; „Tim und Struppi im Kongo“), die oftmals rassistisch durchtränkt waren. 627 Ausruf + bestimmende Proposition Aw „Oah: Des isn Schwarzer !!!“ Der Ausruf weist strukturelle Parallelen mit Aw´s Ausruf 621 auf. Beide Ausrufe gliedern sich in einen exklamatorischen Teil („Oah“), der als Ausdruck plötzlicher Erkenntnis interpretiert werden kann, und einen deskriptiv-referentiellen Teil („Des isn Schwarzer !!!“) mit prädikativem Charakter. Der propositionale Gehalt des deskriptiv-referentiellen Teils klassifiziert eine abgebildete Person nach ihrer Hautfarbe und ihrem Geschlecht und ist dem vor-ikonographischen Bereich zuzuordnen. Dem Begriff „Schwarzer“ wohnt keine diskriminierende Konnotation inne. Zwischen der unmittelbaren Evidenz der vorikonographischen Deskription, die auf einem quasi ‚schlagartigen’ Erkennen nach Modalität Alpha beruht, und der zeitlichen Verzögerung, mit der der Ausruf nach Beginn der Bildpräsentation erfolgt, besteht eine gewisse Diskrepanz: Die ‚plötzliche’ Erkenntnis eines wenig komplexen Bilddatums findet sehr schleppend statt. 628-633 Reaktionen von Bm und Cw auf Ausruf 627. Die Reaktionen 628 („Ja und ...“) und 629 („Gut“) können so verstanden werden, dass die vorikonographische Beschreibung Aw´s in 627 als selbstverständlich, evident und trivial empfunden wird. Beide Reaktionen signalisieren, dass nach dem fulminanten Ausruf „Oah“ eine weiter- oder tiefergehende Erkenntnis zu erwarten ist. Sie bestätigen somit die oben angesprochene Diskrepanz zwischen der Plötz-

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lichkeit der Erkenntnis und der Trivialität des Erkenntnisinhalts. Das allgemeine Lachen in 630 (unter Einschluss Aw´s) ratifiziert diese Einschätzung einer Diskrepanz und überführt sie in Komik. In 631 macht Cw die beiden Komponenten der Diskrepanz ironisierend explizit: Die Frage, woran Aw erkannt hat, dass es sich um einen Schwarzen handelt, thematisiert die Trivialität ein vorikonographisches Bilddatum ausdrücklich zu benennen. Die Feststellung „Und so schnell ...“ bezieht sich auf ironische Weise auf die zeitliche Verzögerung zwischen Bildwahrnehmung und dem Ausruf plötzlicher Erkenntnis. Das (implizite) Wissen um das unwillkürliche und plötzliche Erfassen einer bildlichen Szene nach Modalität Alpha bildet somit den als normal angesehenen Gegenhorizont, vor dem die schleppende, quasi mühsam ‚entzifferende’ Erkenntnisleistung Aw´s als komisch erscheint. Bm quittiert in 632 Cw´s ironische Explizierung der Komik von Aw´s Ausruf mit Lachen oder setzt das allgemeine Lachen von 630 fort. Cw setzt in 633 die Ironisierung von Aw´s Ausruf fort, in dem sie sich von der Erkenntnis Aw´s scheinbar beeindruckt zeigt und „Wahnsinn“ ausruft. Es wäre auch denkbar, dass Cw hier die Ironieebene verlassen hat und der Ausruf „Wahnsinn“ Ausdruck ernsthaften Entsetzens über die Trivialität von Aw´s Ausruf ist. Kontrastiver Vergleich Bezüglich des expliziten vor-ikonographischen Wiedererkennens des Schwarzen als Schwarzen lässt sich ein kontrastiver Vergleich mit den beiden anderen Gruppen anstellen. Gruppe AH 493-494 Ew: Des sin jedenfalls Schwarze. ?w: ja.

Auch in Gruppe AH wird vor-ikonographisch festgestellt, dass ein Schwarzer zu sehen ist. Diese Feststellung wird von den übrigen Gruppenmitgliedern jedoch nicht als so banal empfunden, dass sie zu ironisieren wäre, sondern wird als sinnvoller Beitrag ratifiziert (494). Wie in der Detailanalyse des Diskurses von Gruppe AH bereits dargelegt wurde, findet hier im Sinne einer ‚Terrainsicherung’ eine Bilanzierung unbezweifelbarer visueller Tatbestände statt. Bei Gruppe ND fällt im Vergleich mit den beiden anderen Gruppen auf, dass nicht explizit thematisiert wird, dass es sich bei dem Protagonisten um einen Schwarzen handelt. Daran lassen sich zwei Spekulationen anschließen: (1) Gruppe ND ist in dieser Frage näher mit Gruppe SA als mit Gruppe AH verwandt und empfindet den vor-ikonographischen Tatbestand der schwarzen Hautfarbe so evident,

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dass eine Thematisierung überflüssig bzw. komisch wäre. (2) Gruppe ND ist weder mit Gruppe AH noch mit Gruppe SA verwandt und findet – wie Gruppe AH – die schwarze Hautfarbe des Protagonisten durchaus bemerkenswert, hat aber – anders als Gruppe AH – noch zu klärende Gründe, dies nicht anzusprechen. Zurück zu Gruppe SA: 634/635 Ausruf + bestimmende Proposition, illustrierende Gesangseinlage, fragmentarische Beschreibung Aw: „Oaaah: Der sieht aus wie aus Carwash ..... ((singt:)) The Carwash titlit, ((wieder normal:)) der hat so ...“ Aw geht nicht auf die Ironisierung ihrer Proposition ein, sondern lässt sich in ihrer Bildbetrachtung nicht irritieren. Es findet sich wieder das Muster von 621 und 627 bestehend aus Exklamation und Proposition. Die dreimalige Einleitung einer Proposition mit der Exklamation „Oah !“ (bzw. einmal „oahne !“) durch Aw hat etwas formelhaftes und inszeniertes. Dies stünde im Widerspruch zur Annahme, es handele sich um spontane Ausrufe echter Überraschung, die vermutlich der Ironisierung durch Bm und Cw zugrundeliegt. In der Proposition wird das Aussehen (vermutlich des Schwarzen) durch einen Vergleich näher bestimmt. Die Wendung, er sieht aus wie „aus“ Carwash, legt die Vermutung nahe, bei Carwash handele es sich um einen Film. Die abgebildete Person hat vermutlich Ähnlichkeit mit einer Figur aus dem Film Carwash. Da Aw die Person im Erzählzusammenhang des Films „Carwash“ verortet, den sie aufgrund ihres literarischen (bzw. cineastischen) Wissens kennt, kann diese Sinnbildung der ikonographischen Ebene zugeordnet werden. Durch die Gesangseinlage wird der Assoziationshof des Filmtitels musikalisch illustriert. Darauf folgt eine fragmentarische Anschlussproposition („der hat so ...“), mit der eine Person näher spezifiziert wird. Offen bleiben muss die Frage, ob nun Bezug auf den Akteur in Carwash genommen oder wieder die Person im Bild charakterisiert wird. 636 Frage + Antwort Cw: „Sin des Soulsänger? Ne, ich glaub net ...“ Der Bezug zu Musik („Soulsänger“) wurde möglicherweise durch die Gesangseinlage von Aw angeregt. Obwohl auch denkbar wäre, dass „Soulsänger“ auf Personen im Film Carwash referentialisiert wird, kann doch davon ausgegangen werden, dass diese Kategorisierungshypothese auf das Bild bezogen wird. Insbesondere das Verwerfen der Hypothese („Ne, ich glaub net ...“) spricht dafür, dass die Hypothese nicht anhand der Erinnerung an den Film Carwash überprüft wird, sondern mit dem aktuell gegebenen Bild. Resümee Im Gegensatz zu Gruppe AH bilanziert Gruppe SA nicht erst den vorikonographischen Bestand des Bildes, sondern steigt in sehr komplexer Weise auf ikonologischer Ebene in das Bild ein. Durch Ironiesignale („mir“ (wir) statt:

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das Bild) wird eine ‚doppelbödige’ Bezugnahme auf das Bild angezeigt: Die Einstiegsproposition ist möglicherweise gleichzeitig ‚wörtlich’ wie auch ironisch zu verstehen: ‚Das Bild hat sozialkritische Implikationen, denen wir uns aber durch Ironie entziehen.’ Denn: „Mir sind net sozialkritisch ...“ (618). Beide Lesarten verweisen auf einen Habitus, der zum einen das Bild mit dem Wertehorizont einer bestimmten Weltanschauung konfrontiert, vor dem die abgebildete Szene kritikwürdig wirkt. Zum anderen befähigt der Habitus aber auch dazu, ein „sozialkritisches Bild“ (um eine unzulässig reifizierende Formulierung zu verwenden) ästhetisch zu erleben. Diese ironische oder trivialisierende Haltung dokumentiert sich auch in der englischen Aussprache des Wortes „Jesus“ („Dschieses“). Diese ästhetizistische Betrachtungsweise wird zudem daran deutlich, wie das Jesusbild bewertet wird: Zum einen verweist die Würdigung „klasse“ nicht auf sakrale Konnotationen, die einem Jesusbild in einer christlich geprägten Kultur auch zugesprochen werden könnten, sondern mehr auf einen besonders gelungenen Scherz. Zum andern wird an dieser Stelle ein Wechsel des Bezugshorizonts deutlich: Das Jesusbild ist nicht im „Hintergrund“ des abgebildeten Raumes, sondern im „Bildmittelpunkt“ der Bildfläche. Damit findet die ikonische Struktur (im Sinne Imdahls) Berücksichtigung. Diese Art der Bezugnahme kann als rhetorisch bezeichnet werden, da das Bild als hergestelltes Zeichen und nicht als „Fenster-zur-Welt“ erlebt wird. Die Stimmung angeregter Amüsiertheit, die aus der Wertung „klasse“ spricht, zieht sich durch die gesamte Einstiegssequenz: So auch in Aw´s dreimaliger, vermutlich inszenierter Überraschung, die jeweils mit dem Ausruf „Oah“ bzw. „Oahne“ beginnt. Als inszeniert entpuppt sich die Überraschung in Proposition 627, in der der Protagonist als Schwarzer prädiziert wird. Dies wird an den Reaktionen der übrigen Gruppenmitglieder deutlich, die eine komische Diskrepanz zwischen der Dramatik des Ausrufs und der Trivialität seines Inhalts bemerken. Sie nehmen damit implizit Bezug auf Modalität Alpha, der zufolge elementare Bildelemente unwillkürlich und quasi ‚schlagartig’ als Ersatzreize erfasst werden. Mit der ironischen Nachfrage an Aw „Woran hast des gemerkt? Und so schnell ...“ (631), verweist Cw implizit auf zwei Merkmale der Rezeption nach Modalität Alpha, die sie hier als selbstverständlich unterstellt: (a) Die Rezeption nach Modalität Alpha erfolgt „tautologisch“ (Barthes), d.h. sie bedarf keiner Indizes, „an“ denen der vor-ikonographische Bestand abzulesen wäre. Die figurativen Bildelemente sprechen vielmehr ‚für sich’. (b) Das Erfassen nach Modalität Alpha erfolgt unmittelbar und plötzlich – die zeitliche Verzögerung, mit der Aw ihre Feststellung macht, wirkt daher komisch. Die sich anschließende Heiterkeit reflektiert die Diskrepanz zwischen dem Unwillkürlichen und Plötzlichen des Erfassens wesentlicher Bildelemente nach Modalität Alpha und dem zeitlich verzögerten Ausruf.

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Mit ihrer formelhaften Wiederholung des Ausrufs „Oah“ gibt sich Aw somit überraschter als sie ist. Möglicherweise wird hier ein naives Entsetztsein über den ‚Schwarzen Mann’ vorgespielt, das auch im kolonialistischen Begriff „Schwarzafrika“ aufflackert. Ein gedankenexperimentell erzeugter Assoziationshof lässt an stereotype Witzschemata von ‚Menschenfressern’ denken, die Knochen im Haar tragen, mit Baströckchen bekleidet sind und gerade einen Missionar in einem riesigen Topf kochen. Aw liefert mit ihren durch „Oah“ eingeleiteten Ausrufen eine szenische Darstellung des Überwältigtseins vom Anblick eines exotischen Menschen, die sie dabei gleichzeitig ironisiert. Sie spielt damit möglicherweise auf eine Wissensebene an, auf der einerseits das Klischee vom ‚Schwarzen Mann’ abrufbar ist, andererseits aber auch als Versatzstück für die Produktion von Komik verwendbar ist – d.h. auf der das Klischee weder tatsächlich angstvoll besetzt, noch als potentiell rassistisch tabuisiert ist. Das Klischee vom ‚Schwarzen Mann als Menschenfresser’ eignet sich in dieser Perspektive zum frivolen Spiel mit ethnischen Stereotypen. Dieses komplexe Hintergrundwissen setzt Aw mit ihrer Inszenierung möglicherweise als konjunktiven Orientierungsrahmen voraus. Von den anderen Gruppenmitgliedern wird dieses Hintergrundwissen an dieser Stelle jedoch nicht aktiviert. Die ironische Assoziationskette ‚zündet’ im Diskurs daher nicht. Der Ausruf wird stattdessen vor einem anderen Hintergrund, nämlich dem des Wissens um die Rezeption nach Modalität Alpha, als komisch empfunden. Dieses Wissen um das eigentlich schlagartige Erfassen einer bildlichen Szenerie nach Modalität Alpha wird vermutlich allgemein geteilt. Bemerkenswert ist, dass die Gruppe hier den Rezeptionsprozess reflektiert und dadurch aus der ‚verzögerten Plötzlichkeit’ Komik schöpfen kann. Ein ganz anderer, aber ebenfalls stereotyper Assoziationshof wird mit dem Ausruf „Cheerio“ (619), möglicherweise auch mit der Anspielung „Bushmills“ (620), dem musikalisch untermalten Hinweis auf „Carwash“ (634) und der Erwägung, es handele sich um „Soulsänger“ (636) angedeutet: Die abgebildete Person ist demnach ein amerikanischer Schwarzer, die dem Stereotyp zufolge alle Musiker (Blues, Soul, Jazz) sind. Im Gegensatz zum ‚MenschenfresserSchema’ wird dieses Klischee nicht nur szenisch (Gesangseinlage; 634), sondern auch begrifflich entfaltet (636). Obwohl das Stereotyp vom Schwarzen als Musiker in den anderen Gruppendiskussionen nicht vorkommt, kann daher argumentiert werden, dass es sich um ein kommunikativ-generalisierendes Schema handelt, mit dessen Hilfe der Versuch einer ikonographishen Deutung unternommen wird. Dieses stereotype Schema wird jedoch verworfen (636). Als vor-ikonographische Sachverhalte fallen auch Gruppe SA als erstes die Bildelemente „Alkohol“, „Schwarzer“ und „Jesusbild“ ins Auge. Gruppe SA nimmt jedoch nicht wie Gruppe AH eine prädikative Beschreibung vor, sondern

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benennt die Bildelemente ‚indirekt’, d.h. indem sie sie in einen anspielungsreichen gruppeninternen ‚Jargon’ übersetzt. Dass es sich um die gleichen Elemente handelt, die auch Gruppe AH identifiziert hat, kann dabei teilweise nur vermutet werden: Einfach ist es noch beim Hauptprotagonisten, wobei auch hier der Prädikationsakt („Das ist ein Schwarzer“) – wie eben dargelegt – zu einer anspielungsreichen Performance gerät, deren Anspielungspotential von einem außenstehenden Interpreten nur erahnt werden kann. Ähnlich verhält es sich mit dem Jesusbild, das wie ein alter Bekannter als „der Dschieses“ begrüßt wird. Auch damit ist vermutlich eine weitreichende Indexikalität verbunden, die sich nur durch unmittelbare Teilhabe am Gruppendiskurs erschließt. Noch hermetischer ist die Identifikation des Alkohols, der durch die schlagwortartig verkürzten Äußerungen „Cheerio“ (619) und „Bushmills“ (620) angesprochen wird. Die Gegenstandsidentifikation ist von der Extension vermutlich deckungsgleich mit der durch Gruppe AH geleisteten Beschreibung („Schwarzer“, „Jesusbild“, „Alkohol“), von der Intension ist sie jedoch mit weitreichenden „Gedankenketten“ (Saussure) assoziiert. Die Gegenstandsidentifikationen sind somit ikonologisch aufgeladen, da die Gedankenketten zum großen Teil mit impliziten Wissensbeständen bestückt sind, die dem konjunktiven Bereich zuzuordnen sind. Der insgesamt sehr lebhafte Interaktionsstil der Gruppe ist charakterisiert durch einen ironisch-zynischen Grundton, der auch gegenseitige ‚Frotzeleien’ unter den Gruppenmitgliedern einschließt. In anspielungsreichen Propositionen werden einige ikonographische Deutungen als naheliegend unterstellt, ‚angetippt’ und dann ironisch unterlaufen. Die Gruppe distanziert sich dadurch von – aus ihrer Sicht – (allzu) erwartbaren Deutungsmustern (Sozialkritik, ‚Menschenfresserromantik’) und spielt eine Überlegenheit gegenüber den Interaktionsangeboten des Bildes aus, indem sie sie persifliert. Nimmt man die Begrifflichkeit von der Bild-Rezipierenden-Interaktion weiter beim Wort, dann fällt eine Besonderheit ins Auge: Denn eine Ausnahme hinsichtlich des ironischen Rezeptionsstils in der Einstiegssequenz bildet m.E. die Auseinandersetzung der Gruppe mit dem Jesusbild: An dieser Stelle behält Bild „Shantytown“ in der Interaktion mit der Gruppe die ‚Oberhand’: Die Gruppe lässt sich durch dieses Bildelement ‚packen’, begeistern, auf einen neuen Gedankenpfad führen, der sich nicht durch ein überdrüssiges ‚kennen wir schon’ (wie im Fall der Sozialkritik) abtun lässt. Die Gruppe erhebt sich an dieser Stelle nicht über das Bild und schafft so (ironische) Distanz, sondern sie ‚applaudiert’ dem Bild („klasse“) wegen seiner vermeintlich „inhärenten“ Ironie.11 Statt 11

Auch die „inhärente“ Ironie ist kein „objektives“ Merkmal des Bildes, sondern eine Konstruktion der Gruppe. Deutlich wird dies u.a. daran, dass die Vergleichsgruppen bei Bild „Shantytown“ keine „inhärente“ Ironie feststellen. Der Unterschied zwischen Ironisierung und dem Erleben von inhärenter Ironie lässt sich mit Stuart Halls Lesarten-Konzept erläutern (vgl. 1.4.3.2): Bei der Ironisierung wird dem Bildproduzenten eine ironiefreie Lesart als intendierte

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durch ironische Distanz und Abgeklärtheit ist die Auseinandersetzung mit dem Bild an dieser Stelle durch hohe Involviertheit (Jauchzen; 623/624; hohe interaktive Dichte, 625) gekennzeichnet. Es kommt somit bzgl. des Jesusbildes zu einer ‚Komplizenschaft’ zwischen Gruppe und Bild „Shantytown“ – nicht nur die Gruppe versteht sich unmittelbar im konjunktiven Modus, sie fühlt sich auch im Einklang mit dem Bild. 2.2.1.3 Einstiegssequenz der Gruppe ND ND 749-764 Aw: Ui ((2)) Ja: Alkohol (birgt) Birne hohl, ne. Cw: ((lacht)) Cw: Ja und hinten drin .... ((lacht)) Bm: Ja, trink mer den Wein ... Cw: ((lacht)) im Hintergrund ... dieses .... Bm: Jesusbild Cw: Jesusbild Aw: Des schaut aus wie die Strohrumflasche, was der in der Hand hat Bm: S´is aber klar ... zumindest, was in den Becher eing´schenkt wird. Cw: Hm. Aw: Ja, des is so´n Flachmann wahrscheinlich. Cw: ((gleichz. mit Aw p)) Und er schaut auch schon n´bißchen stark konzentriert Aw: ((gleichz. mit Cw n)) Der hält seine Hand total komisch .. Ja. Der hält seine Hand auch´n bißchen komisch .. wiewie .. wie einer, der n´bißchen so behindert is und die Hand nicht richtig halten kann. Der verdreht die irgendwie so. Cw: Hm.

Ikonologischer Einstieg; Vor-ikonographische Bestimmung des visuellen Tatbestands. 749 Ausruf Aw „Ui“; 2 sec Pause; Proposition Aw „Ja: Alkohol (birgt) Birne hohl, ne.“ Der Ausruf „Ui“ kann als Ausdruck der Überraschung oder Verwunderung verstanden werden. Da sich eine Pause von 2 Sekunden anschließt, kann der Ausruf auch auf eine Ratlosigkeit hindeuten. Die Pause nach dem Ausruf lässt den Einstieg verhalten oder ‚gebremst’ erscheinen. Der Beginn der darauf folgenden Proposition mit „Ja“ lässt sich evtl. so interpretieren, dass die Ratlosigkeit überwunden ist und ein Einstieg in das Bild gefunden wurde. Der EinLesart im Sinne eines „preferred reading“ (Hall 1980, S. 135) unterstellt, die durch die Ironisierung dann mit einer ironischen Lesart als „oppositional reading“ (ebd.) konterkariert wird. Beim Erleben einer inhärenten Ironie wird dagegen die ironische Lesart als das vom Bildproduzenten intendierte „preferred reading“ unterstellt und nicht mit einem „oppositional reading“ unterlaufen.

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stieg besteht aus einer sich reimenden Wendung über die negativen Folgen des Alkoholkonsums. Aufgrund des Reimes kann davon ausgegangen werden, dass es sich um eine etablierte und kanonisierte Wendung im Sinne eines Sprichworts oder einer Redensart handelt. Das Prädikat des Sprichworts muss vermutlich „bringt“ (statt „birgt“) heißen, „Birne“ bedeutet umgangssprachlich „Kopf“, so dass der Inhalt der sprichwörtlichen Wendung etwa folgendermaßen wiedergegeben werden kann: Alkoholkonsum führt zu geistiger Demenz. Mit dem angehängten „ne“ (i.e. umgangssprachlich für „nicht wahr?“) bezieht sich Aw auf allgemein geteiltes, zustimmungsfähiges Wissen: Sie erläutert das Sprichwort nicht weiter, sondern setzt es als bekannt voraus. Der Weg aus der ersten Ratlosigkeit („Ui“ + Pause) führt demnach über eine standardisierte Wendung mit normativen Gehalt. Dass eine sprichwörtliche Wendung den Einstieg ermöglicht, kann als Beleg dafür angesehen werden, dass der Einstieg problematisch ist. Denn Sprichwörtern kommt oftmals die Aufgabe zu, in unübersichtlichen Situationen (moralische) Orientierung zu bieten. Zudem haben Sprichwörter einen überpersönlichen und kollektiven Charakter12. Durch den Bezug auf eine kollektive und kanonisierte Erfahrungsebene entgeht Aw der Notwendigkeit, eine eigene und persönliche Stellungnahme zu formulieren. Auch dies kann als Beleg für die Schwierigkeit gesehen werden, einen Zugang zum Bild zu finden. Eine eigene Stellungnahme wird möglicherweise als riskant angesehen. Eine nachvollziehbare Verknüpfung von Sprichwort und Bild lässt sich über den Begriff „Alkohol“ herstellen. Das Bildelement „Alkohol“ haben auch die Vergleichsgruppen im Bild „Shantytown“ entdeckt. Gruppe ND stellt hier jedoch keine explizite Verknüpfung zum Bild her – etwa durch eine deiktische Prädikation („dort ist Alkohol“ oder „diese Person hat Alkohol“) –, sondern lässt den Begriff lediglich über dem Bild ‚schweben’. Das Sprichwort stellt einen kausalen Zusammenhang her zwischen Alkoholkonsum und geistiger Demenz („Birne hohl“). Diese negative Folge des Alkoholkonsums lässt sich nicht unmittelbar im Bild lokalisieren. Zu fragen ist daher, ob geistige Demenz von der Gruppe generell und unabhängig vom konkreten Bild mit dem Thema „Alkohol“ assoziiert wird. Oder ob „Birne hohl“ allgemeiner auf die gesamte Situation bezogen wird und als Metonymie für jene sozialkritischen Implikationen zu verstehen ist, die Gruppe SA in Bild „Shantytown“ gesehen hat. Beachtung verdient dann das kausale Erklärungsmuster des Sprichworts. Es sieht den Alkohol als Ursache für die Verelendung der Akteure („Alkohol 12

„Das Sprichwort unterscheidet sich durch die Formulierung einer kollektiven Erfahrung vom individuellen Aphorismus, durch die syntaktisch abgeschlossene, oft eine Kausalbeziehung enthaltende Form von der Redensart, durch die Anonymität und den nicht mehr rekonstruierbaren Situationskontext seiner ersten Verwendung von der dichterischen Sentenz (Zitat).“ (Meyers Taschenlexikon, Bd. 21, S. 28)

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bringt Birne hohl“). Bei Gruppe SA lässt sich dagegen eine umgekehrte Kausalitätsbeziehung rekonstruieren: Sie schlägt als Bildtitel „kleine“ bzw. „feuchte Fluchten“ (SA 787-791) vor. Durch Alkoholkonsum – so können diese Titelvorschläge interpretiert werden – versuchen die Bildakteure einer frustrierenden Wirklichkeit zu entfliehen. In dieser Perspektive führen die (elenden) äußeren Umstände zum Alkoholkonsum – und nicht umgekehrt, wie im Sprichwort von Gruppe ND nahegelegt. In der Perspektive von Gruppe ND haben die abgebildeten Akteure ihre Misere durch ihren Alkoholkonsum selbst herbeigeführt und sind daher auch selbst dafür verantwortlich. Für Gruppe ND übt Bild „Shantytown“ demnach keine Sozialkritik (nicht die sozialen Umstände sind für das Elend verantwortlich), sondern ‚Individualkritik’ an den abgebildeten Personen. Die ‚Anklage’, die das Bild in einer sozialkritischen Lesart auch an die Bildbetrachter richten könnte, wird von Gruppe ND nicht angenommen, sondern an das Bild zurückdelegiert. Mitleid oder Gefühle der Solidarität mit den abgebildeten Personen sind in dieser Perspektive fehl am Platze. Im Sprichwort und seiner Applikation auf Bild „Shantytown“ dokumentiert sich somit eine Art ‚individualistische Ethik’, der zufolge „jeder seines Glückes bzw. Unglückes eigener Schmied“ ist. Dies kann als Indiz für den Habitus der Gruppe ND gewertet werden. Obwohl das Sprichwort in kodifizierter (vgl. 1.4.2.2), d.h. kommunikativ-generalisierter Form vorliegt, könnten sich in seiner Applikation auf das Bild möglicherweise Facetten des Habitus dokumentieren. Insofern wird der Einstieg in das Bild auf ikonologischer Ebene vorgenommen. Denn die kausale Verbindung von Alkoholkonsum und geistiger Demenz ist vermutlich nicht rein deskriptiv aufzufassen, sondern als Kritik. Diese Kritik ist auf das Bild zu beziehen und reflektiert zugleich eine sie fundierende Moral. Mit einer moralisierenden Wendung setzt Gruppe ND das Bild in Beziehung zum eigenen Wertekanon. Sie bezieht somit in ihrer Eingangsäußerung zunächst einmal moralisch Stellung – sowohl i.S.v. „Statement abgeben“ als auch von „Position beziehen“. Obwohl die Applikation des Sprichworts auf das Bild bei Gruppe ND in der Schwebe bleibt, kann argumentiert werden, dass mit einer Moralisierung zugleich auch eine Individualisierung verbunden ist: Moralisches Versagen wird einem Einzelnen zugerechnet – und nicht etwa sozialen Umständen. Es kann daher angenommen werden, dass das Sprichwort in referentieller „Fenster-zur-Welt“-Einstellung auf das Verhalten einer oder mehrerer abgebildeter Person (-en) bezogen wird. Auch in der Moralisierung an sich dokumentiert sich dann ein individualistisches Ethos. Von diesem Vorgehen kann nun auch der Einstieg von Gruppe SA in das Bild unterschieden werden („Mir sind net sozialkritisch ...“; 618). Wie Gruppe ND setzt sie das Bild in Bezug zu ihrem Wertesystem. Im Gegensatz zu Gruppe ND legt Gruppe SA jedoch keinen referentiellen, sondern den rhetorischen Rezeptionsmodus an das Bild an.

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Gruppe ND bewertet in referentieller „Fenster-zur-Welt“-Einstellung das Verhalten der abgebildeten Personen moralisch („Alkohol bringt Birne hohl“), während Gruppe SA in rhetorischer Perspektive das Bild als Zeichen in einen ideologischen Rahmen stellt („Sozialkritik“) – den sie dann durch Ironisierung ästhetisiert. 750 Paraverbale Äußerung Cw (Lachen): Aus dieser Art der Reaktion Cw´s geht nicht hervor, ob sie die moralisierende Rahmung Aw´s ratifiziert oder sich von ihr distanziert. Offenkundig ist die Ratlosigkeit noch nicht überwunden. Das Risiko einer moralischen Fehldeutung ist möglicherweise noch virulent. 751 fragmentarische Proposition Cw „Ja und hinten drin .... ((lacht))“ Die Formulierung „hinten drin“ verweist auf eine räumliche Dimension des Bildes und stützt die oben formulierte Auffassung, das Bild würde referentiell rezipiert. Der Beginn der Proposition mit „ja“ signalisiert einen Bezug auf eine vorausgegangene Proposition. 752 Hortativer Ausruf Bm „Ja, trink mer den Wein ...“ Durch den Beginn mit „ja“ wird möglicherweise wieder eine Bezugnahme signalisiert. Die Thematisierung von „Wein“ und „trinken“ stellt den Bezug zur Eröffnungsproposition her. Gleichzeitig wird der moralische Gehalt dieser Proposition dadurch relativiert und in Frage gestellt, dass eine dem Sprichwort konträre Forderung an die Gruppe („mer“ bzw. „wir“) gestellt wird: „Alkohol mag zu geistiger Demenz führen, uns hält es jedoch nicht davon ab, Wein zu trinken.“ Die in 749 vertretene moralische Haltung wird in Frage gestellt. Die Formulierung erinnert im Stil an weinselige Trinklieder, in denen der Weinkonsum gefeiert wird. Damit ironisiert Bm die Proposition Aw´s und signalisiert, dass diese moralische Rahmung des Bildes noch nicht ganz treffend ist: Die moralische Abgrenzung vom Bildgeschehen lässt sich nicht über das Kriterium „Alkoholkonsum“ durchführen, da sich die Gruppe selbst den Vorwurf des Alkoholkonsums machen lassen muss. Fraglich ist, ob Bm nur diesen speziellen Vorschlag Aw´s ironisiert oder das Bemühen insgesamt, einen moralischen Zugang (bzw. eine Abgrenzung) zu gewinnen. 753 Lachen + fortführende fragmentarische Proposition Cw: „((lacht)) im Hintergrund ... dieses ...“ Auch hier bleibt unklar, ob Cw durch ihr Lachen die vorausgegangene Proposition ratifiziert oder sich von ihr distanziert. Vom propositionalen Gehalt wiederholt sie ihre fragmentarische Proposition von 751. 754/755 Stichwort Bm „Jesusbild“, aufgreifende Wiederholung Cw „Jesusbild“. Bm sekundiert mit dem Begriff „Jesusbild“, da Cw in 753 offenkundig der passende Begriff fehlt, den sie in 755 aufgreift. Alkohol und Jesusbild sind die Bildelemente, die als erstes thematisiert werden. Ein Bezug zwischen ihnen wird nicht hergestellt.

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756 Bestimmende vor-ikonographische Proposition Aw: „Des schaut aus wie die Strohrumflasche, was der in der Hand hat.“ Nach ihrem Vorschlag einer moralischen Deutung auf ikonologischer Ebene (749) zieht sich Aw auf die vor-ikonographische Ebene zurück. Sie greift die Neuentdeckung von Bm und Cw („Jesusbild“) nicht auf, sondern bleibt bei ‚ihrem’ Thema „Alkohol“. Zwei mögliche Deutungen bieten sich zunächst an: (1) Sie widerspricht der Ironisierung durch Bm. (2) Sie fügt sich der Ironisierung. Für (2) spricht, dass sie statt einer erneuten globalen Deutung auf ikonologischer Ebene nun eine weitgehend ‚risikofreie’ vor-ikonographische Beschreibung liefert. Für (1) spricht, dass sie Bm´s Hinweis auf den Weinkonsum der Gruppe entgegenhält, dass im Bild nicht der sozial akzeptierte Wein getrunken wird, sondern hochprozentiger Strohrum, der sehr viel eher zu einer „hohlen Birne“ führt als Wein. Sie würde demnach einen Beleg für ihre ikonologische Einstiegsproposition anführen. Dagegen spricht, dass sie Bm nicht explizit widerspricht und der Stil ihrer Proposition nichts Opponierendes oder sich Rechtfertigendes hat, sondern mehr wie lautes Nachdenken wirkt. Daran anschließend lässt sich eine dritte Deutungsmöglichkeit vorschlagen: Es wird unter den Gruppenmitgliedern keine Kontroverse ausgetragen. Vielmehr nähert sich die Gruppe gemeinschaftlich in dialektischer Argumentation einer einheitlichen Feststellung des visuellen Sachverhalts an. Diese Deutungsmöglichkeit wird im weiteren Fortgang der Diskussion zu überprüfen sein. 757 Antithetische Proposition mit relativierendem Zusatz Bm: „S´is aber klar ... zumindest, was in den Becher eing´schenkt wird.“ Zu Aw´s These (756), es handele sich möglicherweise um Strohrum, stellt Bm die Antithese (signalisiert durch das „aber“) auf, dass es sich nicht um Strohrum handeln kann, da das Getränk – anders als Strohrum – „klar“ ist. Diese Dialektik wird innerhalb der Proposition fortgesetzt, da Bm seine Antithese relativiert („zumindest“), d.h. eine Antithese zur Antithese formuliert. Unklar ist jedoch, welche anderen, denkbaren Fälle Bm mit der Relativierung ausschließt: Die Annahme ist wenig plausibel, Bm wollte zugestehen, dass sich in der Flasche möglicherweise doch eine nicht-klare Flüssigkeit befindet und nur die aus der Flasche ausfließende Flüssigkeit sei klar. Die Relativierung ist daher möglicherweise eine Relativierung um der Relativierung willen, d.h. Bm macht formal ein Zugeständnis, um zu signalisieren, dass er an der dialektischen Weiterentwicklung interessiert ist und nicht gegen Aw opponieren möchte. 758 Deliberation oder Zustimmung Cw: „Hm“ / 759 Ergänzende Proposition Aw: „Ja, des is so´n Flachmann wahrscheinlich“ Aw nimmt das Angebot Bm´s zur dialektischen Weiterentwicklung an, indem sie formal zustimmend an seine Proposition anschließt („ja“), um dann ihre These (Strohrumflasche“; 756) und seine Antithese („klar“; 757) zu einer Synthese zu integrieren: es ist ein

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„Flachmann“ (i.e. Strohrumflasche mit klarem Inhalt). Auch Aw macht deutlich, dass sie keine apodiktische Aussagen formuliert, sondern durchaus für konstruktiven Widerspruch im Sinne dialektischer Weiterentwicklung offen ist, indem sie abschwächende Wendungen einbaut: Es handelt sich um „so´n“ Flachmann, d.h. um „irgendeinen“ Vertreter der als vage anzusehenden Kategorie „Flachmann“ und auch dies ist nicht sicher, sondern lediglich „wahrscheinlich“. 760 Anschließende Proposition Cw: „Und er schaut auch schon n´bißchen stark konzentriert.“ Der Sinnbildungsprozess bzgl. der Flasche ist (vorläufig) abgeschlossen: Es handelt sich um einen Flachmann. Daran anschließend eröffnet sich ein Assoziationshof, d.h. neue Denkmöglichkeiten bieten sich an. Dies wird sichtbar an der interaktiven Dichte: Aw und Cw reden gleichzeitig. Cw beginnt ihre Proposition mit „und“. Damit und mit dem Adverb „auch“ schließt sie an die vorherige Proposition an. Die Proposition ist daher vermutlich als Beleg für die (Syn-)These zu verstehen, dass es sich bei der Flasche um einen Flachmann handelt. Dies wird dadurch belegt, dass ein nicht näher spezifizierter Mann („er“) „n´bißchen stark konzentriert schaut“. „Konzentriert“ ist daher möglicherweise im Sinne von „betrunken“ zu verstehen. Auch die nähere Bestimmung des „Konzentrationsgrades“ mit „stark“ verweist auf die Bedeutung „betrunken“: jemand ist stark betrunken, aber hoch konzentriert (im wörtlichen Sinn). Die Formulierung „n´bißchen stark konzentriert“ ist in sich widersprüchlich: „n´bißchen“ schwächt das Konzentriertsein ab, während es durch „stark“ gesteigert wird. Zusammen mit dem vermutlich metaphorisch verwendeten Begriff „konzentriert“ ist der propositionale Gehalt dieser Äußerung durch den Widerspruch schwammig und ambivalent. Diese Widersprüchlichkeit ist möglicherweise ein Indiz für eine Inkongruenz zwischen Bild und den Schemata, die Cw an das Bild heranträgt. 761-763 Proposition, Affirmation, Vergleich Aw: „Der hält seine Hand total komisch ... Ja. Der hält seine Hand auch´n bißchen komisch ..... wiewie ... wie einer, der n´bißchen so behindert is und die Hand nicht richtig halten kann. Der verdreht die irgendwie so.“ Der erste Teil der Proposition überlappt sich mit Proposition 760 von Cw. Darauf bezieht sich vermutlich die zwischengeschaltete Affirmation durch Aw („Ja“). Aw wiederholt ihre Beschreibung der Handhaltung, schwächt sie allerdings ab: Im ersten Ansatz wird die Handhaltung als „total komisch“ beschrieben, nach der Bezugnahme auf Cw nur noch als „n´bißchen komisch“. Es kann vermutet werden, dass Aw die abschwächende Form von Cw´s Proposition („n´bißchen stark konzentriert“) übernommen hat. Evtl. kann diese mimetische Verhaltensübernahme als Beleg für eine affektive Nähe der Gruppenmitglieder gesehen werden (vgl. Gebauer/Wulf 1998, S. 26 f.). Die Handhaltung wird vermutlich als komisch i.S.v. „abnorm“, d.h. „nicht mit den Erwartungen übereinstimmend“ verstanden. Diese empfundene

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Abweichung von der Norm führt Aw näher aus und behält dabei die abschwächende Formulierung („n´bißchen“) bei: er hält die Hand „wie einer, der n´bißchen so behindert is“. Das zwischengeschobene „so“ hat eine zusätzlich abschwächende Funktion bzw. signalisiert, dass die Schemaapplikation „behindert“ nicht ganz zutreffend ist, sondern nur „so“ im weiteren Sinn. Dennoch wird die Besonderheit der Handhaltung und ihre Normabweichung nicht wertneutral festgestellt, sondern als krankhaft. Im Weiteren wird sie als „nicht richtig“ und „verdreht“ (763) bezeichnet. In den Gruppen SA und AH wird die Handhaltung nicht gewürdigt, bei Gruppe ND dagegen bereits in der Einstiegssequenz. Der Protagonist wird nicht näher spezifiziert, sondern lediglich mit „der“ tituliert. Resümee Wie auch Gruppe SA steigt Gruppe ND auf der ikonologischen Ebene in Bild „Shantytown“ ein. Nach einem Ausdruck der Überraschung oder Verwunderung und einer Pause folgt die Applikation eines moralisierenden Sprichwortes über die demenzfördernde Wirkung des Alkoholkonsums. Im Sprichwort dokumentiert sich eine individualistische Ethik, der zufolge jeder seines Glückes eigener Schmied ist. Anders als von Gruppe SA in der Schlussphase nahegelegt, ist vor dem Hintergrund des Sprichworts der Alkoholkonsum nicht Folge der Verelendung, sondern deren Ursache. Obwohl das Sprichwort nur ‚lose’, d.h. ohne deiktische Prädikation auf das Bild bezogen wird, lassen sich Anknüpfungspunkte rekonstruieren: Zum einen bezieht sich die allgemein gehaltene Formulierung „Alkohol“ vermutlich auf die auch von den anderen Gruppen bemerkte konkrete Schnapsflasche im Bild. Zum anderen zielt die moralische Verurteilung auf ein Individuum, das (moralisch) versagt hat. Da sich die Verurteilung auf den Alkoholkonsum bezieht, kann vermutet werden, dass sie auch der Person mit der Flasche gilt. Und schließlich kann überlegt werden, ob die im Sprichwort genannten negativen Folgen des Alkoholkonsums („Birne hohl“) als Metonymie für die gesamte bildliche Szenerie anzusehen ist, die bei Gruppe SA zu der Assoziation „Sozialkritik“ führte – ob also nicht nur die Flasche und der Protagonist mit der moralischen Verurteilung angesprochen werden, sondern die Situation insgesamt. Auffallend ist die moralische Bestimmtheit auf ikonologischer Ebene bei gleichzeitiger prädikativer Unbestimmtheit auf vorikonographischer Ebene: Ohne sich konkret auf das Bild zu beziehen, distanziert sich Aw moralisch vom Bild. Bereits die erste Bemerkung baut eine ‚Front’ zwischen Gruppe und Bild auf, indem der Vorwurf der ‚selbstverschuldeten Verblödung’ an das Bild bzw. die abgebildeten Akteure herangetragen wird.

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An diese ikonologische Deutung wird nicht direkt angeschlossen – zunächst folgt ein Lachen und dann der Ansatz zu einem Themenwechsel („Ja und hinten drin ...“; 751). Bevor der Themenwechsel durchgeführt werden kann, wird dann doch noch auf die moralisierende Bezugnahme eingegangen, indem sie scherzend in Frage gestellt wird: „Ja, trink mer den Wein ...“ (752). Die moralische Verurteilung scheint nicht aufrecht zu halten zu sein, da die Gruppe selbst Alkohol konsumiert. Bm, der während der Diskussion Wein trinkt, schlüpft quasi in die Rolle des schunkelnden Trinkers, der alle Warnungen über die Folgen des Alkoholkonsums in den Wind schlägt. Affirmativ lädt er zu dem im Sprichwort verurteilten Verhalten ein, das er zudem gerade praktiziert. Die absolute Gültigkeit des Sprichworts wird somit in Frage gestellt. Er kommentiert das Sprichwort somit szenisch, wobei die Aussage des Kommentars unklar bleibt: Distanziert er sich von der Verurteilung des Alkoholkonsums oder von einer moralischen Stellungnahme zum Bild überhaupt? Die ikonologische Deutung bleibt somit in der Schwebe: Das moralisierende Sprichwort wurde appliziert, seine Applikation wurde jedoch weder ratifiziert noch zurückgewiesen, sondern lediglich scherzend ‚untermalt’. Darauf wendet sich der Diskurs einer vor-ikonographischen Bestandssicherung zu: Das Jesusbild wird prädiziert und man einigt sich darauf, dass „so´n Flachmann“ im Bild zu sehen ist. Diese beiden Bildelemente wurden auch von den anderen Gruppen sehr schnell konstatiert. Abschließend wird der Trunkenheitszustand des Protagonisten („schon n´bißchen stark konzentriert“) und seine Handhaltung („wie einer, der n´bißchen so behindert is und die Hand nicht richtig halten kann“) beurteilt. Im Vergleich mit den andern beiden Gruppen fällt auf, dass der Protagonist trotz der detailreichen Beobachtungen nicht zunächst als „Schwarzer“ prädiziert wird. Der Diskussionsstil in der Einstiegssequenz ist nach dem ‚eruptiven’ Vorstoß mit dem Sprichwort durch eine gemeinsame, tastende Erörterung des vor-ikonographischen Bestands gekennzeichnet. Dabei nehmen die Gruppenmitglieder mehr und mehr gegenseitig Vorschläge auf und elaborieren sie teilweise dialektisch (These: „Strohrumflasche“ – Antithese: „s´is aber klar“ – Synthese: „Flachmann“). Eine ikonographische ‚Geschichte’, die die einzelnen Bildelemente sinnvoll miteinander verbinden könnte, wird in dieser Phase nicht erzählt. 2.2.1.4 Resümee und Ausblick Im Vergleich der Einstiegssequenzen der drei Gruppen zu Bild „Shantytown“ wurden bereits deutliche Unterschiede sichtbar, was die Art der Auseinandersetzung mit dem Bild betrifft. Als Kontrast in der Gemeinsamkeit verweisen sie

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auf unterschiedliche modi operandi der jeweiligen Gruppenhabitus. Als nicht intendierte Rezeptionsstile sind sie den Akteuren reflexiv vermutlich nicht zugänglich, sondern bilden Facetten ihrer Habitus. Um die „generativen Formeln“ der jeweiligen Habitus explizieren zu können, müsste man nach strukturhomologen Symptomen in den Diskursen fahnden. Hier geht es jedoch nicht um eine Rekonstruktion der unterschiedlichen Habitus en detail, sondern um die Nachzeichnung ihrer Interaktion mit einem Bild in actu. Anhand der Einstiegssequenzen deutet sich bereits an, dass auch das Bild in der Interaktion mit den Rezipierenden seinen Beitrag zur Sinnbildung leistet: Alle drei Gruppen konstatieren einen festen Bestand vor-ikonographischer Daten, der aufgrund der Übereinstimmung zwischen den Gruppen der Steuerungsfunktion des Bildes zugerechnet werden kann. Dabei wird aber insbesondere am Beispiel der Gruppe SA deutlich, dass allenfalls die extensionale Prädikation zwischen den Gruppen deckungsgleich ist, nicht aber die intensionale ‚Aufladung’: Wenn Gruppe SA das Jesusbild als „der Dschieses“ bezeichnet, dann sind damit vermutlich ganz andere Gedankenketten verknüpft als mit dem überraschten oder entsetzten Ausruf „Jesus !“ von Gruppe AH. Eine Gemeinsamkeit zwischen den Gruppen AH und SA war die Feststellung einer Leerstelle zwischen dem Jesusbild und dem übrigen Bildgeschehen. Als Inkongruenz hebt sie sich von einem gruppenübergreifend geteilten Schema ab. Beide Gruppen thematisieren zudem gleich zu Beginn ihrer Auseinandersetzung mit Bild „Shantytown“ sehr deutlich die Ethnie des Hauptprotagonisten. In auffallender Weise hebt sich davon das Ausbleiben einer solchen Thematisierung durch Gruppe ND ab. 2.2.2 Detailanalyse gruppenspezifischer Besonderheiten Die beiden Auffälligkeiten, durch sich Gruppe ND von den Vergleichsgruppen abhebt, sollen nun näher untersucht werden. Zunächst (2.2.2.1) wird geprüft, ob auch Gruppe ND auf die Leerstelle zwischen Jesusbild und übrigem Bildgeschehen stößt und wie sich die Bearbeitung der Leerstelle als einer Schemainkongruenz im bildlichen Syntagma zwischen den Gruppen unterscheidet. Sodann (2.2.2.2) wird der Frage nachgegangen, ob Gruppe ND den Hauptprotagonisten des Bildes doch noch beachtet und ihn als „Schwarzen“ anspricht, oder ob sie eine Auseinandersetzung mit diesem Bildelement vermeidet.

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2.2.2.1 Syntagmatische Offenheit: Rezeption der Leerstelle Um von einem „syntagmatisch offenen“ Bilden reden zu können, müsste sich die Leerstelle gruppenübergreifend von einem kulturellen Schema als Inkongruenz abheben. Da auch Gruppe ND an dem kulturspezifischen Wissen teil hat, müsste sie ebenfalls die Leerstelle konstatieren. Um die Antwort vorweg zu nehmen: Auch Gruppe ND empfindet eine Unstimmigkeit im bildlichen Syntagma. Daher kann die Untersuchung vom „ob“ des Umgangs mit der Leerstelle auf das „wie“ verlagert werden, d.h. es kann gefragt werden, inwiefern sich im Umgang mit der Leerstelle auch der modus operandi der Gruppen dokumentiert. So kommentiert Gruppe AH die Leerstelle zwischen „Schnaps“ (496, 499) und Jesusbild besonders pointiert: „s´passt wie die Faust auf´s Auge“ (498). Die Spontaneität und Drastik dieser Feststellung lässt darauf schließen, dass die Relation dieser beiden Elemente in besonders hohem Maße klärungsbedürftig ist. Doch die Leerstelle wird ohne großen Erklärungsaufwand unmittelbar nach ihrer Entdeckung zum Verschwinden gebracht und spielt im weiteren Diskursverlauf keine Rolle mehr. Zwei Erklärungsansätze werden dabei miteinander verwoben: AH 505-509: Ew: ... ja, ok, die Schwarze sin sowieso arg mit ihrem Glauben und so ... Bw: ((gleichzeitig mit Dw:)) ... wobei ... im Grund genommen hat des ja auch .... Dw: ((gleichzeitig mit Bw:)) ... zumindest tun se so ... Bw: ... nix damit zu tun .... ich kann glauben und kann raufen äh .. wewe ... ((lacht)) Ew: ... ja klar, is ja auch viel mit so drumrum und so ...((3))

Der eine Vorschlag zur Schließung des Syntagmas erklärt die Diskrepanz aus Alkohol und Jesusbild aus der Ethnie der abgebildeten Personen: Schwarze übertreiben „sowieso“ (505) mit ihrem Glauben (sind „arg“ mit ihrem Glauben). Stärker expliziert lautet das Erklärungsschema möglicherweise so: ‚Da Schwarze ohnehin übersteigerte Auffassungen von Religiosität haben („viel mit so drumrum und so“; 509), ist es nicht verwunderlich, dass religiöse Symbole auch bei eher profanen Anlässen zugegen sind.’ Als Ressource für die syntagmatische Schließung dienen demnach stereotype Vorstellungen, die stark pauschalisierend („sowieso“) appliziert werden und auch durch die eingeschobene Relativierung („zumindest tun se so“; 507) eine Wendung ins Maliziöse bekommen. Es ist unklar, ob der zweite Erklärungsansatz auf den ersten Bezug nimmt und ihn suspendiert: Er erklärt die Leerstelle für „im Grunde genommen“ (506) nicht vorhanden: Glaube und Alkoholkonsum („(s)aufen“; 508) sind kein Widerspruch. Die spontane Erstreaktion („passt wie die Faust auf´s Auge“; 498) wird

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reflektiert und in Frage gestellt. Das zunächst empfundene Missverhältnis wird weniger erklärt als vielmehr aufgehoben und in Harmonie überführt: Die Leerstelle wird ‚wegharmonisiert’. In jedem Fall scheint das zunächst sehr nachdrücklich benannte Problem für Gruppe AH in befriedigender Weise gelöst zu sein. Auch Gruppe SA fällt das Jesusbild sehr schnell als Besonderheit auf. Es widerspricht demnach auch den Normalitätserwartungen, die Gruppe SA an das Bild heranträgt, und löst spontanen Jubel aus. SA 623-624: Cw: ((jauchzend)) ... der Dschieses ...! Bm: ((jauchzend)) im Hintergrund ! ...der is klasse ! ((Jauchzer)) ... im Bildmittelpunkt!

Aber statt diese Lücke im syntagmatischen Beziehungsgefüge (bspw. durch eine Erklärung) zu schließen, wird sie genußvoll ‚gefeiert’: Sie ist „klasse“. SA 652: Bm: ... der Heiligenschein, der is klasse. In `ner Bar sowieso.

Das Jesusbild, das von Gruppe AH zunächst als vollkommen unpassend („passt wie die Faust auf´s Auge“) empfunden, dann aber ‚wegharmonisiert’ wurde, steht für Gruppe SA nicht nur formal im Zentrum des Bildes. Auch Titelvorschläge kreisen um „irgendwas mit dem Jesus“ und es trägt zum „eigentlichen Gag“ des Bildes bei. SA 743-749: Aw: Aber ....ähm .... da fällt mir jetzt grad kein Titel ein grad ... mm .... mm Bm: Der liebe Gott sieht alles .... Aw: Ja, irgendwas mit dem Jesus hätt´ ich jetzt irgendwie au ... Bm: (Ne: des der eigentliche Gag an) ne: s is klasse aufg´nommen ... Aw: ...Holy .... Bm: Der eigentliche Gag an dem Bild is echt, dass er da hinten zuguckt ... Aw: ... holy water oder so ähnlich ...

Der „eigentliche Gag“ ist, „dass er da hinten zuguckt“, d.h. nicht das Jesusbild an sich ist der Gag, sondern seine Beziehung (des „Zuguckens“) zum Bildgeschehen. Mit dieser Beziehung wird zugleich auf die ikonische Struktur des Bildes im Sinne Imdahls Bezug genommen. Denn der „Gag“ beruht wesentlich auf der „szenischen Choreographie“ des Bildes, bei der es um die „szenische Konstellation der in bestimmter Weise handelnden oder sich verhaltenden Figuren in ihrem Verhältnis zueinander“ (Imdahl 1996a, S. 19) geht – in diesem Fall um das Verhältnis von „Dschieses“ und den Akteuren in der „Bar“. Die Bewer-

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tung „klasse“, die insgesamt drei mal auf das Jesusbild angewendet wird, kann nun aus dem Kontext näher bestimmt werden: Sie verweist auf eine technischkünstlerische Virtuosität – das Bild „is klasse aufg´nommen“. Damit wird auf den Herstellungsprozess des Bildes Bezug genommen. Dies kann als weiterer Beleg für den ästhetischen Rezeptionsmodus der Gruppe SA angesehen werden. Mit der Würdigung der gestalterischen Virtuosität, die dem intentionalen Zugriff des Fotografen entzogen ist, bezieht sich die Gruppe auf seinen modus operandi. Sie leistet somit ansatzweise eine ikonologische Interpretation im Sinne Panofskys. Von einer Schließung der Leerstelle kann auch hier gesprochen werden, wobei die Leerstelle gerade nicht eliminiert wird, sondern auf der ästhetischen Ebene als besonders gekonnt und daher als ‚stimmig’ angesehen wird. Zwar stellt die Leerstelle auf der ikonographischen Ebene eine semantische Inkongruenz dar (sonst würde es Gruppe SA gar nicht auffallen), auf ikonischer und ikonologischer Ebene macht die Diskrepanz aber durchaus ästhetischen ‚Sinn’. Sie bildet den „eigentlichen Gag“ des Gesamtbildes, d.h. sowohl den „wesensmäßigen Gehalt“ (Panofsky 1987a, S. 200) bzw. die „eigentliche Bedeutung“ (Panofsky 1987b, S. 211, 223) im Sinne von Panofskys ikonologischem Wesenssinn (vgl. Panofsky 1987a, S. 203) als auch die ‚Pointe’, in der ein Witz, eine Geschichte zugleich kulminiert und einen befriedigenden, da sinnvollen Abschluss findet. Als „Gag“ ist das Bild ‚rund’, stimmig, sinnvoll, gelungen und (abge-) geschlossen. Durch die Leerstelle, die eigentlich als Bestimmungslücke ein Verstehenshindernis bildet, erlangt Bild „Shantytown“ für Gruppe SA erst seinen eigentlichen und höheren Sinn. Er überführt eine semantische Spannung in ästhetischen Genuß. Die Leerstelle wird als spannungsreicher „Gag“ begeistert goutiert und ist dadurch als Leerstelle ausreichend im Syntagma legitimiert. Man kann daher evtl. von einer ‚Ästhetik der Dissonanz’ reden. Im weiteren Verlauf der Interaktion von Gruppe ND mit Bild „Shantytown“ findet sich ebenfalls die Leerstelle. Als spannungsreich empfindet auch Gruppe ND das Vorhandensein des Jesusbildes. Sie setzt es in Beziehung zur Stimmung, die ihr das Gesamtbild vermittelt und die als „bedrückend“ erlebt wird: ND 926-939: Bm: ... des is irgendwie .... bedrückend. Irgendwas Aw: ((gleichzeitig mit Bm p)) Irgendwas stimmt nicht ... Bm: ((gleichzeitig mit Aw n)) ... liegt da in der Luft ... Aw: ja. Wenn man da reingeht, ... Cw: Hm. Bm: ((gleichzeitig mit Aw p)) Obwohl des ... des-des Bild, ... Aw: ((gleichzeitig mit Bm n)) ... hat ma schon das Gefühl irgendwas stimmt nicht Bm: .... des Jesusbild passt in die Stimmung nicht rein. Aw: Ja, des isses aber grade, des wasses nur noch schlimmer macht ...

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Cw: Bm: Cw: Bm: Aw:

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ja. ja. ... sonst fänd ich´s auch nich so schlimm. Des´ da völlig fehl am Platz irgendwie. ((12)) Hm.

In die bedrückende Stimmung „passt“ das Jesusbild nicht hinein. Auch für Gruppe ND markiert es die Kontur einer Leerstelle, die sich zwischen ihm und dem Kontext des übrigen Bildes auftut. Das Jesusbild steht aber – als vermutlich positiver Gegenpol – nicht nur in Kontrast zu der bedrückenden Stimmung, es steigert sie noch: „des isses aber grade, des wasses nur noch schlimmer macht ...“ (934). Statt wie Gruppe SA die Spannung von Jesusbild und Gesamtbild lustvoll zu genießen und begeistert zu ‚feiern’, ‚durchleidet’ Gruppe ND die Leerstelle. Zu einer Schließung des Syntagmas, d.h. zu einer Beseitigung der Leerstelle, kommt es letztlich nicht. Die mangelnde Beziehbarkeit der syntagmatischen Bildelemente wird auch in der resümierenden Beurteilung des Bildes thematisiert: Im Bild herrscht ein „Durcheinander“ (1263), weshalb es als „unangenehm“ (1267) empfunden wird und zu einem Abbruch der Rezeption führen würde (1273-1276; vgl. hier 2.2.4.1). Resümee Gruppenübergreifend als Schemainkongruenz erlebt wird die Leerstelle, die durch das Jesusbild und dem übrigen Bildgeschehen konturiert wird. Die Leerstelle hat ikonographischen Charakter, da sie allgemein geteilten kulturellen Konventionen widerspricht: Vor diesem Hintergrund kann das Bild „Shantytown“ somit zu Recht als „syntagmatisch offen“ bezeichnet werden. Leichte Abweichung zwischen den Gruppen gibt es in der Frage, welches neben dem Jesusbild die Konturen der Leerstelle sind: Gruppe AH sieht sie im Alkohol, Gruppe SA im Kontext einer Bar und Gruppe ND in der als bedrückend empfundenen Stimmung. Deutliche Unterschiede zwischen den Gruppen zeigen sich im Umgang mit der Leerstelle: Gruppe AH beseitigt die Leerstelle durch ‚Harmonisieren’, d.h. sie findet Möglichkeiten zur ‚Versöhnung’ der zunächst widerstrebenden Bildelemente. Gruppe SA ‚feiert’ die semantische Inkongruenz auf ikonographischer Ebene und schließt die Leerstelle dadurch ästhetisch auf ikonologischer Ebene: Als der „eigentliche Gag“ (SA 746) bildet sie für Gruppe SA den „wesensmäßigen Gehalt“ und die sinnvoll abschließende Pointe des Bildes. Gruppe ND dagegen kommt nicht zu einer Schließung der Leerstelle. Sie ‚durchleidet’ das „Durcheinander“ (ND 1263) im Bild und würde es am liebsten „gleich weglegen“ (ND 1273).

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Der Umgang mit der Leerstelle, die zwischen Zeichen in praesentia auftritt und insofern syntagmatischen Charakter hat, verweist auf das Paradigma: Da die Leerstelle selbst ein „nichts“ (Iser 1976, S. 302) ist, ‚fließen’ bei ihrer Schließung Vorstellungen in sie ein, die nur in absentia gegeben sind, d.h. „im Geist“ der Rezipierenden (vgl. 1.2.2.2). Dies wird besonders beim Schließen der Leerstelle durch Gruppe AH deutlich: Die ‚Harmonisierung’ der Leerstelle erfolgt unter Bezug auf stereotype Vorstellungen über Ethnien und ihr Verhältnis zu Religiosität, die in absentia mit dem Bild, genauer: mit der Leerstelle assoziiert werden. Aber auch die ‚Feier’ der Leerstelle als „Gag“ und ihr ‚Durchleiden’ als Steigerung von Beklemmung verweisen auf paradigmatische Gedankenketten, die „im Geist“ von den Rezipierenden mit dem Bild verknüpft werden. 2.2.2.2 Generierung einer untersuchungsleitenden Fragestellung Die Ethnie des Hauptprotagonisten wurde von den Gruppen AH und SA an prominenter Stelle der Diskussion thematisiert. In auffallender Weise hebt sich davon die Einstiegssequenz der Gruppe ND ab: Hier wird der Protagonist nicht als „Schwarzer“ prädiziert. Anhand dieser im kontrastiven Vergleich zutage getretenen Auffälligkeit lässt sich eine Fragestellung generieren, die die weitere Untersuchung leitet. Als „Vermeidungsthese“ wird die Auffassung verfolgt, Gruppe ND vermeide in auffallender Weise eine Thematisierung des Protagonisten. Eine Thematisierung des Hauptprotagonisten lag bei Gruppe ND bereits in der Einstiegssequenz ‚in der Luft’: Ausgehend von der Alkoholflasche wurden hier zwei Denkanstöße gegeben, die beide die Person mit der Flasche – also den schwarzen Protagonisten – betrafen. Der eine Vorschlag bezog sich auf den Trunkenheitszustand der Person, der andere auf ihre Handhaltung. In beiden Fällen wurde die Person nicht weiter charakterisiert. Beide Vorstöße ‚versanden’, d.h. sie werden nicht aufgegriffen oder fortgeführt. Stattdessen findet in 765 ein jäher Wechsel zur Betrachtung des Hintergrundes und der Erörterung formaler Fragen statt. Es fällt auf, dass der abrupte Wechsel in dem Moment stattfindet, als der Diskurs beginnt, sich dem Protagonisten zuzuwenden (seinem Alkoholkonsum und seiner Handhaltung), und die Möglichkeit besteht, nun auch andere Merkmale von ihm zu thematisieren. Dies ist besonders auffallend, da die beiden anderen Gruppen ihn bereits in der Einstiegssequenz als „Schwarzen“ prädizieren. Im Vergleich mit den Gruppen SA und AH wurde von Gruppe ND auch das Jesusbild noch nicht erschöpfend behandelt. Angesichts dieser offenen Fragen überrascht die Verve, mit der vom Vordergrund abgelenkt wird, zumal die

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Aufmerksamkeitssteuerung auf den Hintergrund mehr ‚auf gut Glück’ zu erfolgen scheint: Bm hat dort keine interessante Entdeckung gemacht, die die plötzliche Ablenkung vom Vordergrund erklären würde. Er fragt vielmehr, was sich im Hintergrund befindet und hat selbst nur etwas „irgendwie verschwommenes“ (765) wahrgenommen. Die Bevorzugung des Hintergrundes steht zudem im Widerspruch mit den Gestaltgesetzen (Figur-Grundbeziehung). Dies spricht dafür, dass hier nicht das Bild seine wahrnehmungssteuernde Macht ausübt und sich die Gruppe quasi ‚willenlos’ vom Bild leiten lässt, sondern dass eine – möglicherweise unbewusste – ‚Gegenstrategie’ gefahren wird, die an eine Art ‚Übersprungshandlung’ erinnert. Diese Strategie, die gegen die „intentio operis“ (Eco 1987b) gerichtet zu sein scheint, kann als habitusspezifisch betrachtet werden, wenn sie im Sinne Bourdieus als „objektiv“ am Ziel der Vermeidung orientiert verstanden wird, ohne dass eine subjektive Absicht unterstellt wird (vgl. Bourdieu 1993, S. 115 f.). Der Diskurs der Gruppe ND, in dem sich die Interaktion von Bild und Gruppe manifestiert, enthält dann, „da er nach einem nicht bewusst beherrschten modus operandi gestaltet wird, eine (...) ‚objektive Absicht’, die über die bewussten Absichten seines scheinbaren Urhebers hinausgeht“ (ebd., S. 106). Es stellt sich daher die Aufgabe, diese „objektive Absicht“ des Diskurses von Gruppe ND zu analysieren und zu explizieren. Als Suchrichtung wird die These aufgestellt, dass die Thematisierung des Hauptprotagonisten, insbesondere seiner schwarzen Hautfarbe, vermieden wird. 2.2.3 Interaktion von Gruppe ND und Bild „Shantytown“ In der Interaktion von Gruppe ND und Bild „Shantytown“ lassen sich zwei Sinnbildungsphasen unterscheiden, die nicht nur durch eine sehr lange Pause voneinander getrennt sind, sondern auch in der Art der Auseinandersetzung mit dem Bild stark differieren. Die erste Phase (2.2.3.1) kann als bildorientiert bezeichnet werden, da hier insbesondere vor-ikonographische Beschreibungen von Bilddetails und Überlegungen zur Bildikonik im Sinne Imdahl (Komposition, Hell-Dunkel-Verteilung) dominieren. Die zweite Phase (2.2.3.2) ist eher gruppenorientiert, da die Gruppe hier ihren Stimmungseindruck thematisiert und weiterreichende Spekulationen über das Bildgeschehen hinaus anstellt. Insbesondere die erste Phase müsste Aufschluss über die „Vermeidungsthese“ geben, da sich die Gruppe hier dem Bild mit großer Detailfreude zuwendet. Dabei werden nicht nur die Sequenzen analysiert, in denen sich die Gruppe dem Protagonisten zuwendet, sondern auch geprüft, wie lange es dauert, bis die Gruppe dies tut. Bedenkt man nämlich, dass die Vergleichsgruppen die Ethnie des Hauptprotagonisten gleich zu Beginn ihrer Interaktion mit Bild „Shantytown“ ansprachen,

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dann kann bereits seine verzögerte Ansprache durch Gruppe ND als Beleg für die „Vermeidungsthese angesehen werden. Dazu wird dem thematischen Verlauf so lange gefolgt, bis sich der Diskurs dem Protagonisten zuwendet. 2.2.3.1 Bildorientierte Sinnbildungsphase Vermeidungsthese – Indiz I: Themenabfolge/Hintergrundbetrachtung (1) An die Einstiegssequenz schließen sich drei Sequenzen an (765-837), in denen formale Merkmale des Bildes (das Bild scheint einen Knick zu haben), eine Person im Hintergrund („Is ds n´Kind hinten dran“; 786) sowie die Anordnung der Gegenstände im Raum („In dem ganzen Raum ist irgendwie alles so´n bißchen chaotisch angeordnet“; 804) erörtert werden. Bereits diese Vielzahl von Themen, die – legt man wahrnehmungs- und gestaltpsychologische Gesetzmäßigkeiten zugrunde – dem ‚Naheliegenden’ und ‚Offensichtlichen’ des Bildvordergrundes auszuweichen und sich in Hintergrundbetrachtungen zu verlieren scheinen, können als Indiz für die Vermeidungsthese angesehen werden. Vermeidungsthese – Indiz II: Zentrale Bildelemente Eine Pause von 4 Sekunden markiert den Beginn eines neuen Diskussionsabschnitts, der immer noch bildorientiert geführt wird. Die Gruppe thematisiert nun den Alkoholkonsum und nähert sich dabei dem Bildprotagonisten an. ND 837-840 Cw: Vor allen Dingen, wenn des so was hochprozentiges is, dann schenkt der auch ganz schön ein Aw: Ja vor allem, des is´n Plastikbecher, was der da hat. Cw: ja.

Beide Sprecherinnen beginnen ihre Propositionen mit einer Wendung, die signalisiert, dass nun eine Abkehr von Nebensächlichkeiten hin zum eigentlichen Gehalt des Bildes vollzogen wird. Für Cw ist „vor allen Dingen“ die Alkoholmenge bemerkenswert, für Aw „vor allem“ der Umstand, dass ein Plastikbecher verwendet wird, was Cw bestätigt („ja“). Der Gleichklang der Formulierungen hat etwas sich Überbietendes und Steigerndes. Diese Sequenz markiert den Übergang von der ausführlichen und detailfreudigen Hintergrundbetrachtung zu dem, was das Bild „vor allen Dingen“ und „vor allem“ zeigt: Alkohol. Der Übergang wird nicht als Bruch vollzogen, sondern nachdem die Hintergrundbe-

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trachtung – wie an der vorangegangenen Pause zu sehen ist – zu einem Ende gekommen ist. Er zeichnet sich (wie auch die Hintergrundbetrachtung) durch hohe interaktive Dichte aus. Dies spricht für einen gemeinsamen Sinnbildungsprozess. In diese sich überbietende Diskursdramaturgie steigt Bm ein: ND 841 – 850 Bm: Des-s is irgendwie total zentral. D-die Personen sind irgendwie (total) .... von der einen Person sieht ma schon mal nur Cw: (... die Hand vor allen Dingen ...) Bm: . ....die Hand .... und von der andern eigentlich auch .... also d- irgendwie ..... der Blick wird auf die Flasche und auf-auf den Plastikbecher hauptsächlich gezogen. Cw: Und dann aber auch auf des Gesicht von ihm Bm: Hm. Aw: ja. Cw: Und gleichzeitig der Blick auf den Jesus. Aw: Der hat´n Mund n´bißchen auf. ((4))

Diese Sequenz liefert einen weiteren Beleg für die Vermeidungsthese. Denn nachdem Cw den Hauptprotagonisten unspezifisch mit „der“ bezeichnet hatte („dann schenkt der auch ganz schön ein“), entwickelt Bm nun die These, dass der Plastikbecher das zentrale Bildelement sei (und nicht etwa die abgebildeten Personen). Diese These versucht er anschließend en detail zu belegen. In kontrastierender Formulierung stellt Bm zunächst dem „total zentral(-en)“ Plastikbecher „die Personen“ allgemein gegenüber. Diese generalisierende Feststellung über die abgebildeten Personen bricht jedoch ab. Wie sie vermutlich fortgesetzt werden sollte, lässt sich aus der kontrastierenden Formulierung erschließen: Während der Plastikbecher „total zentral“ ist, sind die Personen – so die Ergänzung – nur peripher. Offenbar lässt sich diese Aussage in ihrer Pauschalität aber nicht aufrechterhalten, so dass Bm mitten in seiner Formulierung abbricht und zu differenzieren beginnt: Nach kurzem Zögern fährt er bilanzierend („schon ma“) fort und spricht nur noch „von der einen Person“. Vor Vollendung seiner Proposition, was von der „einen“ Person „nur“ zu sehen ist, sekundiert Cw, indem sie sich einklinkt und Bm´s Proposition um das Satzobjekt ergänzt: die Hand. Dabei differenziert sie Bm´s Behauptung, man würde „nur“ die Hand sehen dahingehend, dass man „vor allen Dingen“ die Hand sieht, also durchaus noch mehr als „nur“ die Hand. Bm bestätigt, indem er betont „die Hand“ wiederholt. Er fährt fort und wendet sich (wie aus dem weiteren Diskursverlauf hervorgeht) dem Hauptprotagonisten zu. Er bezeichnet ihn als die „andere“ Person und setzt an, die Feststellung, die über die „eine“ Person getroffen wurde (man sieht nur bzw. vor allen Dingen ihre Hand) nun auch auf ihn auszudehnen. Doch obwohl er ein abschwächendes bzw. Großzügigkeit signalisierendes „ei-

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gentlich“ einbaut, bricht Bm ab, zögert, scheint verwirrt („... also d-irgendwie ...“) und ändert abrupt die Argumentationsstrategie: Bis zu diesem Moment argumentierte er ‚vom Bild’ her, indem er beschrieb, was auf dem Bild ‚drauf’ ist. Jetzt weicht er von dieser Schilderung ‚objektiver’ visueller Sachverhalte ab. Stattdessen argumentiert er nun quasi ‚phänomenologisch’, indem er die ‚subjektiven’ Reaktionen auf das Bild zur Grundlage seiner Beweisführung macht und die Blickführung beschreibt: „der Blick wird auf die Flasche und auf-auf den Plastikbecher hauptsächlich gezogen.“ (844/845) Der Blick wird dabei als passiv beschrieben, der nicht frei im Bild umherschweift, sondern auf Flasche und Plastikbecher „gezogen“ wird, obwohl es möglicherweise noch anderes im Bild zu sehen gäbe. Aber auch diese argumentative Strategie, dem Hauptprotagonisten ‚aus dem Weg zu gehen’, scheitert. Denn die Behauptung, der Blick würde „hauptsächlich“ auf Flasche und Becher gezogen, wird innerhalb der Gruppe ergänzt und korrigiert mit dem Hinweis, dass der Blick „dann aber auch“ auf das Gesicht von „ihm“ gelenkt wird (846). Auffallend ist auch hier die unspezifische Bezeichnung des Hauptprotagonisten durch ein Personalpronomen („ihm“). In dieser Passage zeigen sich somit zwei Versuche, einer Thematisierung des Gesichts bzw. der Ethnie des Hauptprotagonisten auszuweichen. Sollte zunächst argumentiert werden, dass von „den“ Personen nichts bzw. nichts anderes als die Hände zu sehen ist, so sollte dann behauptet werden, dass von den Personen zwar mehr als nur die Hände zu sehen ist, der Blick aber davon abgelenkt und ausschließlich auf Flasche und Plastikbecher gezogen wird. Beide Versuche scheitern. Aber nicht nur das, was über den Protagonisten geäußert (bzw. eben nicht geäußert) wird, spricht für die Vermeidungsthese. Auch die Art, wie sich die Gruppe mit ihm auseinandersetzt – insbesondere Bm´s irritierte ‚Umschaltphase’ („also d-irgendwie“) zwischen den Argumentationsebenen – spricht für ein Meidungsverhalten. Offenkundig antizipiert Bm nicht bereits im Vorfeld reflexiv die Gefahr eine Tabubruchs und meidet sie dann vorausschauend, sondern spinnt arglos seinen Argumentationsfaden, so dass er erst während der Formulierung ‚reißt’. Obwohl die Vermeidungsstrategie ein Spezifikum der Gruppe ND zu sein scheint, ist sie Gegenstand einer antithetischen Diskursorganisation innerhalb der Gruppe (vgl. Loos/Schäffer 2000, S. 67 ff.). Getragen wird sie überwiegend von Bm, während Cw gegen seine ‚Entlastungsstrategie’, mit der er die Vermeidungsstrategie stützt (der zufolge man gar nichts vom Hauptprotagonisten sieht), Bilddaten als Gegenargumente anführt. In dieser Interaktion zwischen den Gruppenmitgliedern schlägt sich somit die Interaktion zwischen Bild und Betrachtern nieder. Cw verbalisiert gewissermaßen die Initiativen des Bildes, die den Initiativen der Betrachter (vorgebracht durch Bm) entgegenstehen. In

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der Interaktion der Gruppenmitglieder kommt es somit zu jener Interaktion zwischen Bild und Betrachtern, in der der Sinn entsteht. Bemerkenswerterweise wird trotz der antithetischen Diskursorganisation die Vermeidungsstrategie selbst nicht durchbrochen, explizit kritisiert oder kontrovers diskutiert – lediglich der sie stützenden ‚Entlastungsstrategie’ wird widersprochen. Gerade dadurch aber tritt die Vermeidungsstrategie als das Bemühen, die Ethnie des Hauptprotagonisten nicht ansprechen zu müssen, noch deutlicher hervor, da sie selbst gegen Widerstände, die auf Initiativen des Bildes zurückgeführt werden können, aufrecht erhalten wird. Vermeidungsthese – Indiz III: ‚Ablenkungsmanöver’ Die letzte Äußerung der Passage scheint die Vermeidungsstrategie zu unterlaufen. Hier wird der Protagonist zum Thema gemacht, indem darauf hingewiesen wird, dass „der“ den Mund „n´bißchen“ auf hat (850). Auch hier wird er nur unspezifisch („der“) benannt, seine Ethnie wird nach wie vor nicht angesprochen. Dennoch scheint der Gruppendiskurs an einem heiklen Punkt angelangt zu sein: Er gerät ins Stocken. Die Äußerung wird nicht aufgegriffen, kommentiert oder ratifiziert. Stattdessen schließt sich eine Pause von 4 Sekunden an. Möglicherweise hat Aw mit der zwar unspezifischen, aber direkten Ansprache des Protagonisten an eine Art Tabu gerührt. Dadurch gerät sie ‚außerhalb’ des Diskurses, ihre Äußerung wird nicht integriert. Auch nach der Pause ‚stottert’ der ‚Diskursmotor’ noch – es beginnen gleichzeitig zwei Propositionen, die Organisation des ‚turn-taking’ funktioniert nicht mehr. Während Aw an der Behandlung des Tabuthemas festhält und konstatiert, dass „der“ (i.e. der Protagonist) aussieht, „als ob er selber schon einiges g´soffen hat.“ (852), versucht Bm einen Themenwechsel zu initiieren, indem er das Gespräch auf die zweite Person im Hintergrund lenkt („die-diese zweite Person“; 851). Obwohl Aw und Cw in dieses Thema einsteigen, erschöpft es sich recht schnell und wird durch eine Pause von 6 Sekunden beendet. Die geringe Ergiebigkeit des Themas spricht dafür, dass es sich um ein ‚Ablenkungsmanöver’ gehandelt hat. Anschließend wird ein neues Thema initiiert. Es findet sich hier ein mehrfach wiederkehrendes Muster, das sich so beschreiben lässt: Die Vermeidungsstrategie wird (a) von einem Gruppenmitglied (immer Aw) unterlaufen, indem es den Protagonisten thematisiert. Der Protagonist wird dabei (b) jedoch nicht näher spezifiziert, sondern nur als „der“ oder „er“ bezeichnet. Insbesondere wird dabei (c) nicht seine Ethnie angesprochen. Diese ‚Vorstöße’ werden jedoch (d) nicht aufgenommen, sondern aus dem Diskurs ‚gekickt’ bzw. sie führen zu einer Störung des Diskurses. Auch diese Pas-

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sage verstärkt die Vermutung, dass die Thematisierung der schwarzen Hautfarbe innerhalb der Gruppe nicht diskursfähig ist. Vermeidungsthese – Indiz IV: Themenabfolge/Hintergrundbetrachtung (2) Nach dieser Passage wendet sich der Diskurs abermals einer eingehenden Betrachtung des Hintergrundes zu, obwohl der Hauptprotagonist noch nicht erschöpfend behandelt wurde, der Hintergrund aber bereits Thema der Auseinandersetzung war. Auch dieses abermalige Abschweifen in eine Betrachtung des Hintergrundes kann als Indiz für die Vermeidungsthese betrachtet werden. Vermeidungsthese – Indiz V: ‚Die Ordnung des Diskurses’ In der sich anschließenden Sequenz steuert der Diskurs wieder auf den Protagonisten zu. Dabei findet sich wieder das oben herausgearbeitete Muster: Wieder ist es Aw, die am Tabu kratzt (a), wieder tituliert sie den Protagonisten mit dem unspezifischen „der“ (b), wieder thematisiert ihre Proposition nicht die Hautfarbe (c), sondern den Alkoholkonsum und wieder wird das Tabuthema aus dem Diskurs ausgeschlossen (d), in dem es schlicht ignoriert wird: ND 875-889: Bm: ((3)) Will jetzt nich sagen, dass des irgendwie ne Säuferhöhle is oder so ... ((5)) Aw: Der sch- der schaut ja selber schon n´bißchen so bedüdelt aus. Cw: Un des ... Zentrum vom Blickfeld wird genau ja auf diese Ecke von den beiden Händen und der Flasche gelenkt Bm: Genau, ja....Ja. Cw: Des is der goldene Schnitt ..... von der Proportion Bm: Dann is auch der Schnitt von dem ganzen Bild ... Cw: ja. Bm: .... wo ma eben denkt, dass da so n´Art Schnitt drin is ... Cw: Und dann hat ma auch wieder den goldenen Schnitt in der Höhe. ...... Oben des ganz helle ... Aw: ja. Bm: ja. Cw: ... mit´m Jesusbild. Und unten dann des dunkle. ((4))

Doch zuvor findet sich – nach einer Pause von 3 Sekunden – ein vorsichtiger, sich nach allen Seiten absichernder Versuch von Bm, eine globale Rahmenhypothese für die Szene zu entwickeln. Er sagt, dass er nicht sagen will, „dass des irgendwie ne Säuferhöhle is oder so ...“ Dann folgt eine Pause von 5 Sekunden. Obwohl sich der Begriff der „Säuferhöhle“ bei den Vergleichsgruppen

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nicht findet, handelt es sich vermutlich um ein ikonographisches Schema, das auf Grundlage allgemeiner Konventionen in Analogie zum etablierten Schema der „Räuberhöhle“ (Duden 1989, S. 1217) gebildet wird und im kommunikativgeneralisierenden Modus verständlich ist. Es impliziert eine ‚Geschichte’, die einen Zusammenhang stiftet zwischen einzelnen Bildelementen. Der Begriff der Säuferhöhle wird doppelt ‚diffundiert’, indem ein „irgendwie“ voran- und ein „oder so“ nachgestellt wird. Die Charakterisierung der Szene als Säuferhöhle erfolgt somit in sehr vorsichtiger Weise. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Matrixsatz „Will jetzt nich sagen“, mit dem die Proposition eingeleitet wird. Bm distanziert sich damit offenbar vom Inhalt der Aussage, die er macht. Die Wendung wäre demnach als Absicherung aufzufassen, als Hinweis, dass der Sprecher für den Inhalt der Äußerung nicht ‚haftbar’ gemacht werden möchte. Zwar ist das Schema „Säuferhöhle“ ikonographisch und somit im kommunikativ-generalisierenden Modus verständlich, in der skrupulösen Schemaapplikation dokumentiert sich jedoch möglicherweise ein Aspekt des Habitus. Sie ist daher auf den Modus des konjunktiven Verstehens verwiesen. Nur vor dem Hintergrund unartikulierter Erfahrungen, die vermutlich im konjunktiven Erfahrungsraum wurzeln, ist das Risiko zu verstehen, dass Bm offenbar mit seiner Schemaapplikation „Säuferhöhle“ einzugehen meint und gegen das er sich absichert. Die Äußerung wird demnach hochgradig skrupulös vorgetragen, kommuniziert wird in erster Linie, dass man sich bei der Situationsidentifikation auf ‚vermintes’ Gebiet begibt. Diese Haltung könnte überspitzt auf die Formel gebracht werden: ‚Manchmal ist es besser man sagt gar nichts – und selbst das kann schon zuviel sein.’ Dennoch wird die Proposition (mit vielen ‚Absicherungen’) gemacht, vor dem Hintergrund der skrupulösen Haltung muss sie daher wie ein kühner Vorstoß wirken. Dafür spricht auch die wenig organische Einbindung der Proposition in den Gesprächsverlauf: Sie ist von zwei Pausen gerahmt und steht dadurch wie ein erratischer Block im Diskurs. Auf diesen Vorstoß Bm´s geht Aw ein – allerdings ohne die skrupulösen Kautelen Bm´s zu berücksichtigen. Sie bestätigt, indem sie ergänzt, dass „der“ selbst „schon n´bißchen so bedüdelt“ aussieht (877). Damit begeht sie einen doppelten Tabubruch, der mit dem Ausschluss aus dem Diskurs durch Ignorieren geahndet wird: Die These, die im Kern der Überprüfung steht, besagt, dass der Hauptprotagonist nicht thematisiert werden darf (Vermeidungsthese). Dies tut Aw nun, indem sie Bm´s Rahmenhypothese von der Situation („Säuferhöhle“) auf die abgebildete Person („der“) überträgt. Dabei findet sich das oben aufgezeigte Muster. Aw tituliert den Protagonisten weiterhin mit dem unspezifischen „der“ und vermeidet somit eine nähere Charakterisierung. Sie scheint damit die Tabuisierung zu teilen, jedoch weniger rigide als es die ‚Ordnung des

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Diskurses’ verlangt.13 Der zweite Tabubruch besteht darin, dass Aw zwar auf die Proposition Bm´s Bezug nimmt, jedoch nur auf ihren referentiellen (Säuferhöhle), nicht aber auf den meta-kommunikativen Gehalt („Vorsicht! Vermintes Gebiet“). Aw ist an dieser Stelle offenbar nicht in der Lage, den konjunktiven Gehalt von Bm´s Äußerung auf Basis gemeinsam geteilten, atheoretischen Hintergrundswissens unmittelbar zu verstehen, sondern interpretiert ihn auf Basis kommunikativ-generalisierender Schemata. Aw begeht somit auch einen Tabubruch, indem sie direkt und explizit benennt, was Bm nur verklausuliert auszusprechen wagt: Der Hauptprotagonist ist ein Säufer. Damit zerreißt sie brutal das zarte Gewebe von Bm´s Andeutungsschleier und bricht das Tabu, demzufolge der Hauptprotagonist nicht zu thematisieren ist, insbesondere nicht mit negativen Attributen. Anscheinend ist Aw an dieser Stelle nicht in den konjunktiven Orientierungsrahmen der Gruppe eingebunden, da sie Bm´s Äußerung rein kommunikativ-generalisierend interpretiert. Absorbiert wird der Tabubruch Aw´s durch Cw, indem sie abrupt eine formale Analyse des Bildes beginnt14. Sie wiederholt fast wortgetreu die Analyse Bm´s aus 841-845, die sie damals selbst als unzulänglich widerlegt hatte. Sie reagiert somit auf Aw´s Proposition nicht nur mit einer bereits abgearbeiteten, sondern mit einer von ihr selbst abgelehnten Überlegung. Dies nährt den Verdacht, es ginge Cw hier weniger um die inhaltliche Auseinandersetzung, als vielmehr um das Inkraftsetzen des Tabus durch Übergehen der tabuverletzenden Äußerung. Dabei ist ihr – so scheint es – jedes Mittel recht, die formale Analyse gewinnt im Lichte dieser Überlegungen den Charakter einer Art ‚Übersprungshandlung’, mit der sich auch Cw selbst der Diskursordnung unterwirft. Bm 13

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Die Wendung „Ordnung des Diskurses“ wird hier nicht im Foucault´schen Sinne als gesamtgesellschaftliche disziplinierende Praxis verstanden, sondern (gerade im Sinne einer Multidiskursivität) auf den konkreten Diskurs der Gruppe ND über Bild „Shantytown“ bezogen, in dem anscheindend eine unartikulierte „Ordnung“ wirkt, die offenbar auch die Wahrung eines Tabus umfasst. Die Applikation des „goldenen Schnitts“ hat für die Gruppe vermutlich die Funktion Ordnung ins Bild zu bringen. Als formales Ordnungsprinzip stiftet er auf der Ebene der Bildkomposition die Harmonie, die auf der inhaltlichen Ebene für die Gruppe nicht herstellbar ist. Dabei handelt es sich beim „goldenen Schnitt“ (dessen Adäquatheit hier nicht zur Diskussion steht) um ein explizites Regelwissen. Dieses explizite Regelwissen wurde – so kann vorsichtig vermutet werden – eher in der Schule erlernt, als dass es beiläufig in der Familie erworben wurde. Mit Bourdieu könnte dies als Indiz für den Erwerbsmodus des kulturellen Kapitals angesehen werden, der den Habitus mitprägt. Der („illegitimen“) schulischen Aneignung stellt Bourdieu die („legitime“) familiäre gegenüber, die sich durch frühzeitigen atheoretischen und mimetischen Erwerb kulturellen Kapitals auszeichnet. Demgegenüber „verschafft der rationale Kunstunterricht Ersatz für die unmittelbare Erfahrung: Statt des langwierigen Wegs fortscheitender Vertrautheit bietet er Ab- und Verkürzungen, und indem er Praktiken ins Leben ruft, die das Produkt von Begriff und Regel sind, statt aus der vorgeblichen Spontaneität des Geschmacks hervorzugehen, gibt er denen ein Hilfsmittel zur Hand, die die verlorene Zeit noch aufzuholen hoffen.“ (Bourdieu 1987, S. 123) Als ein „Produkt von Begriff und Regel“ kann auch die Anwendung des „goldenen Schnitts“ betrachtet werden. Sie deutet darauf hin, dass Gruppe ND ihr kulturelles Kapital vornehmlich dem „illegitimen“ Erwerbsmodus verdankt.

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pflichtet der formalen Analyse Cw´s lebhaft bei: „Genau, ja ... Ja.“ (880).15 Dies kann zum einen so interpretiert werden, dass er dem Wiederaufleben seiner These von 841-845 zustimmt, zum anderen, dass er die Umorientierung des Diskurses – weg vom Hauptprotagonisten – begrüßt.16 Daraufhin kommt die ‚integrative Diskursmaschinerie’ wieder in Gang, es beginnt eine Phase hoher interaktiver Dichte, die ‚Ordnung des Diskurses’ ist wieder hergestellt, in der die formale Analyse unter Beteiligung aller Gruppenmitglieder fortgesetzt wird. Vermeidungsthese – Indiz VI: ‚Übersprungshandlung’ Doch schon bahnt sich der nächste Tabubruch an. Nach einem Resümee der Formalanalyse („Oben des ganz helle (...) mit´m Jesusbild. Und unten dann des dunkle.“; 885-889) folgt zunächst eine Pause von 4 Sekunden. Beendet wird sie durch Bm, der ein neues Thema initiiert. Dabei greift er seine früher geäußerte These auf, der zufolge Hand und Flasche die zentralen Bildelemente seien bzw. ihm so vorkommen. Diese Themeninitiative ‚durchkreuzt’ Aw, indem sie an die vor der Pause geäußerte resümeeartige Formalanalyse Cw´s anschließt und sie inhaltlich auflädt: ND 890-895 Bm: ((4)) Die Hand und die Flasche kommt mir so groß vor ... Aw: Hell für rein und sauber und unten dunkel für häßlich und Algohol. Bm: ((lacht)) Algohol. Cw: ((lacht)) Bm: ((singt)) Algohol, Algohol. ((6)) ((normal)) Wenn ich da jetzt Details beschreiben müsste, würd´ ich mir schon einiges ... schwer tun.

Aw verknüpft die Hell-Dunkel-Verteilung im Bild mit einer stark wertenden inhaltlichen Deutung, d.h. sie wendet einen weithin etablierten Konnotationscode an, der „hell“ positiv und „dunkel“ negativ bewertet. Dabei macht sie die Regel, mit der der Code die Zuordnung von Signifikant und Signifikat regelt, durch ein zwischengeschaltetes „für“ explizit: Der Signifikant „hell“ steht für die Signifikate „rein und sauber“ und der Signifikant „dunkel“ steht für die Signifikate „häßlich und Alkohol“. Den Begriffen „rein“ und „sauber“ werden die Begriffe „häßlich“ und „Alkohol“ gegenübergestellt. Die negative Bedeu15 16

Kontrastiert man die Nachdrücklichkeit dieser Zustimmung im fallinternen Vergleich mit der völlig ausbleibenden Bezugnahme auf Aw´s Proposition, so erhärtet sich der Verdacht, Aw´s Tabubruch würde durch Ignorieren aus dem Diskurs ausgeschlossen. Es muss an dieser Stelle nicht eigens betont werden, dass die Strategien zur Aufrechterhaltung der „Ordnung des Diskurses“ Strategien im Sinne des Habituskonzepts Bourdieus sind, d.h. Strategien ohne bewusste Absicht und ohne strategisches Kalkül.

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tung des Adjektivs „häßlich“ ist offenkundig. Der Begriff „Alkohol“ ist zunächst wertfrei, er ist – wie schon in der Einstiegsäußerung deutlich wird („Alkohol (birgt) Birne hohl“) – in dieser Gruppe allerdings stark negativ besetzt. „Alkohol“ fügt sich demnach vor dem Hintergrund des gruppenspezifischen Wertsystems in die Polarität von Gut und Böse ein. Wie auch beim „goldenen Schnitt“ soll nun offenbar ein formales Prinzip Ordnung und Sinn im Bild stiften. Bis auf die Thematisierung des Alkohols wird dieses Ordnungssystem jedoch nicht explizit auf konkrete Bildelemente bezogen. Fasst man den HellDunkel-Code jedoch als umfassendes Ordnungssystem auf, dann müssen sich alle Bildelemente seiner dichotomen Ordnung unterwerfen. Es liegt auf der Hand, in welche Rubrik der dunkelhäutige Protagonist dann ‚einzusortieren’ ist. Zudem entgeht er als ‚Mundschenk’ nicht der moralischen Verurteilung, die sich auf den Alkohol bezieht. Implizit drängt sich somit durch Aw´s inhaltliche Aufladung der Formalanalyse eine Lesart auf, die eine Verbindung herstellt zwischen allen dunklen Bildelementen und dem Alkohol und sie insgesamt negativ bewertet. Dies kommt einem Bruch des Tabus sehr nahe, wonach der Protagonist nicht als „schwarzer Säufer“ thematisiert werden darf. Die Reaktionen der übrigen Gruppenmitglieder stützen die hier vorgeschlagenen Lesart: Die Inhalte von Aw´s Deutungsvorschlag werden abermals durch Ignorieren aus dem Diskurs ausgeschlossen. Stattdessen wird eine artikulatorische Besonderheit von Aw´s Äußerung aufgegriffen: Das weich ausgesprochene „Algohol“. Bm lacht zunächst und wiederholt dann „Algohol“ (892). Statt sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen, wechselt Bm die Bezugsebene und bezieht sich auf die Artikulation. Es handelt sich offenkundig nicht um ein kontroverses Thema, das Widerspruch auslösen könnte, sondern um ein Tabuthema, das überhaupt nicht zu diskutieren ist – weder zustimmend noch widersprechend. Cw lacht ebenfalls (893), worauf Bm singend „Algohol, Algohol“ wiederholt (894), d.h. er wechselt nicht nur die Bezugsebene, sondern auch die Art der Bezugnahme: Statt den normalsprachlichen Diskurs fortzusetzen, singt er. Nach einer langen Pause von sechs Sekunden initiiert Bm (wieder im normalen Sprachmodus) ein völlig neues Thema: Die Schwierigkeit, Details zu beschreiben (894/895). Angesichts der sehr detailfreudigen Beschreibung des Hintergrunds, die einen Großteil der bisherigen Beschäftigung der Gruppe mit dem Bild ausgemacht hat, überrascht diese Aussage. Offenkundig werden hier alle ‚Register’ gezogen, um Aw´s Proposition zu überspielen: Wechsel der Bezugsebene, Wechsel der Art der Bezugnahme, Diskursunterbrechung, Themenwechsel. Die Reaktion der Gruppe kann daher als eine Art hektische ‚Übersprungshandlung’ bezeichnet werden, die möglicherweise aus einem Entsetzen über den Tabubruch Aw´s resultiert: Es wird so getan, als hätte Aw nichts gesagt bis auf

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das etwas unsauber artikulierte Wort „Algohol“. Dies kann als weiterer Beleg für die Vermeidungsthese angesehen werden. Vermeidungsthese – Indiz VII: Themenabfolge/Hintergrundbetrachtung (3) In der Folge verliert sich die Gruppe zum wiederholten Male in einer Betrachtung des Bildhintergrundes – das ‚Ablenkungsmanöver’ hatte offenbar Erfolg. Die Gruppe kommt darin überein, dass es schwierig bzw. sogar unmöglich ist, Details zu beschreiben und versucht dann, es doch zu tun. Sie exemplifiziert dabei sozusagen die Schwierigkeiten Details zu identifizieren. In diese Exemplifikation schleicht sich eine lange Pause von acht Sekunden ein, die als Beleg für die geringe Involviertheit der Gruppenmitglieder in dieses Thema gewertet werden kann. Dies stünde in Kontrast zu der Einmütigkeit, mit der sich die Gruppe diesem Thema zugewandt hat. Das Thema erstirbt in einer extrem langen Pause von 12 Sekunden. Damit ist der eher bildbezogene Teil der Sinnbildungsphase beendet. Vermeidungsthese – ‚Schlussplädoyer’ Im Gegensatz zu den beiden Vergleichsgruppen thematisiert Gruppe ND den Hauptprotagonisten des Bildes „Shantytown“ nicht als „Schwarzen“ – weder in der bildorientierten Sinnbildungsphase, noch im weiteren Verlauf der Diskussion. An den wenigen Stellen, an denen er überhaupt angesprochen wird, wird er vollkommen unspezifisch als „er“ oder „der“ tituliert. An einigen Passagen scheint sich der Gruppendiskurs dem Protagonisten zuzuwenden und eine differenziertere Beschreibung unausweichlich. En detail konnte jedoch gezeigt werden, dass und wie die Gruppe an diesen Stellen eine Thematisierung unterbindet. Statt sich dem Protagonisten als einem der zentralen Bildelemente (wie sich aus der Analyse der Vergleichsgruppen ergibt) zuzuwenden, verliert sich die Gruppe immer wieder in einer eingehenden Betrachtung des Hintergrundes. Die Fülle dieser Indizien spricht m.E. dafür, die Vermeidungsthese als bestätigt anzusehen: Offenbar vermeidet die Gruppe aktiv die Ethnie des Protagonisten zu thematisieren. Nur im Gruppenvergleich wurde diese Besonderheit der Gruppe ND sichtbar. Den Gründen für dieses Meidungsverhalten wird weiter unten nachzugehen sein. Schließt man sich dieser Auffassung an, die Gruppe vermeide aktiv eine Thematisierung der Ethnie des Protagonisten, so kann man von einer Vermeidungsstrategie sprechen – im Sinne Bourdieus ist sie jedoch als eine „Strategie ohne Absicht“ (Bourdieu 1993a, S. 116) aufzufassen. Habitusspezifisches Handeln weist nach Ansicht Bourdieus Züge auf, „die objektiv wie Strategien orga-

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nisiert sind, ohne das Ergebnis einer echten strategischen Absicht zu sein“ (ebd. S. 115). Daher könne und müsse man Handeln als zweckgerichtet interpretieren, „ohne deshalb von einer bewussten Zweckgerichtetheit als dem Prinzip dieses Handelns ausgehen zu können“ (Bourdieu 1998, S. 167 f.). Am Beispiel der Interaktion von Gruppe ND und Bild „Shantytown“ zeigt sich somit sehr anschaulich, was Bourdieu in allgemeiner Weise theoretisch postuliert, dass nämlich auch „alle Vermeidungsstrategien“ auf den Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata des Habitus beruhen: Um sich vor „Krisen und kritischer Befragung“ (Bourdieu 1993a, S. 113 f.) zu schützen, sucht der Habitus „seine eigene Konstantheit und seine eigene Abwehr von Veränderungen über die Auswahl zu gewährleisten (...), die er unter neuen Informationen trifft, indem er z.B. Informationen, die die akkumulierte Information in Frage stellen könnten, verwirft, wenn er zufällig auf sie stößt oder ihnen nicht ausweichen kann, und vor allem jedes Konfrontiertwerden mit derlei Informationen hintertreibt (...). (...) Und wiederum liegt in der paradoxesten Eigenschaft des Habitus als nicht ausgewählter Grundlage aller ‚Auswahlentscheidungen’ die Lösung des Paradoxons, wieviel Information man braucht, um sich dem Informiertwerden entziehen zu können: die Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata des Habitus, auf denen alle Vermeidungsstrategien beruhen, sind großenteils das Ergebnis eines unbewussten und nicht gewollten Meidungsverhaltens (...).“ (ebd.)

Für eine Interpretation der Vermeidungsstrategie als Produkt des Habitus spricht auch, dass innerhalb der Gruppe anscheinend ein ‚stillschweigendes Übereinkommen’ herrscht, den Protagonisten nicht zu thematisieren, d.h. die Vermeidung erfolgt – trotz der ‚Tabuverletzungen’ durch Aw – gruppeneinheitlich. Diese kollektive Übereinstimmung ohne explizite Abstimmung ist charakteristisch für die Funktionsweise des Habitus. Der Habitus als generatives Prinzip bringt nicht nur scheinbar systematisch abgestimmte Praxisformen hervor, er hält sie auch zurück – ebenfalls in einer Weise, die dem Außenstehenden den Eindruck der Befolgung einer Regel vermittelt. Der Habitus fungiert hier weniger als Erzeugungsprinzip, sondern als Begrenzung (vgl. Bourdieu 1993a,S. 33 f.), als Grenze dessen, was diskursfähig ist, er schließt bestimmte Themen aus, die nicht thematisierbar sind. Resümee der bildorientierten Sinnbildungsphase Nach einem Einstieg auf ikonologischer Ebene („Alkohol bringt Birne hohl“) verliert sich die Gruppe in kleinteiligen Detailbeschreibungen und versucht offenkundig ‚additiv’ zu einer Sinnbildung zu gelangen. Dabei ergeben sich Schwierigkeiten der vor-ikonographischen Gegenstandsidentifikation. Einige Überlegungen werden zur ikonischen Gestaltung des Bildes (Komposition, „goldener Schnitt“) angestellt. Auffallend ist die Tabuisierung des Hauptprotagonisten. Möglicherweise lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Tabuisie-

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rung des Protagonisten und der detailfreudigen Betrachtung des Bildhintergrunds herstellen: Um das Tabu zu wahren, wendet sich die Gruppe – gleichsam in einer Art ‚Übersprungshandlung’ – vermeintlich ‚harmloseren’ Bildelementen im Hintergrund zu und würdigt sie mit Hingabe. Das ‚Sich-Verlieren’ in vor-ikonographischen Detailbeschreibungen wäre dann Teil der Vermeidungsstrategie. Die Diskursorganisation ist an diesen Passagen weniger antithetisch als vielmehr ‚ignorierend’: Möglicherweise tabuverletzenden Äußerungen wird nicht explizit widersprochen. Sie werden vielmehr übergangen und durch Ignorieren aus dem Diskurs ausgeschlossen. Da die jeweiligen Proponenten dieser Äußerungen gegen den Ausschluss aus dem Diskurs nicht opponieren und sich letztlich der ‚Ordnung des Diskurses’ stillschweigend unterordnen, kann hier nicht von einer offen ausgetragenen Kontroverse gesprochen werden. Es zeigt sich vielmehr, wie sich das ‚Gespür’ für die Grenzen des Diskursfähigen unartikuliert und unterschwellig den Gruppenmitgliedern vermittelt. Eine für die Gruppe befriedigende Sinnbildung kann in dieser Phase nicht hergestellt werden, sie endet in der gemeinsam bekräftigten Aporie bzgl. der Beschreibung von Details. Rein quantitativ war sie geprägt durch die überwiegend vor-ikonographische Beschreibung des Hintergrunds (87 Zeilen von insgesamt 163). Auch die Beschreibung des Vordergrunds war zu großen Teilen vorikonographisch. In den Passagen, in denen ikonographisch oder ikonologisch argumentiert wurde, fand ebenfalls eine ausgeprägte Referentialisierung auf das Bild statt. Auch die Vermeidung des Hauptprotagonisten lässt sich als bildbezogen charakterisieren, wenn auch als unartikulierte Bezugnahme. Die Bezugnahme auf das Bild wäre nicht weiter bemerkenswert – weder im gruppeninternen, noch im gruppenexternen Vergleich (und erscheint bei der Anlage der Untersuchung als geradezu selbstverständlich), wenn nicht in der nächsten Phase ein anderes Thema den Diskurs beherrschen würde: Die Befindlichkeit der Gruppe selbst. 2.2.3.2 Gruppenorientierte Sinnbildungsphase Dass eine neue Phase beginnt, wird an der sehr langen Pause von 12 Sekunden deutlich, die einen tiefen Einschnitt in den Diskurs markiert, sowie an der zögerlichen Art, mit der Bm eine völlig neue Zugangsweise zum Bild initiiert. An dieser Stelle zeigt sich, dass Bm in besonderer Weise über die ‚Ordnung des Diskurses’ wacht und offenbar ‚autorisiert’ ist, die Grenzen des Diskurses zu erweitern. Die lange Pause signalisiert zudem, dass sich die bisherige Phase – nach dreimaliger Hintergrundbetrachtung – erschöpft hat.

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2.2.3.2.1 Konjunktiver Modus Praktische Deutung der Bildatmosphäre Nach einer sehr langen Pause von 12 Sekunden wählt Bm einen neuen Zugang zum Bild, indem er die „Stimmung dazu“ schildert und sie als ein wenig („weng“) „abschreckend“ beschreibt. Während eine Beschreibung des visuellen Sachverhalts dazu tendiert, den Beitrag des Rezipienten (als blinden Fleck) auszublenden, wird bei der Stimmungsschilderung das subjektive Erleben des Bildes explizit gemacht. Die damit verbundene Relativität, Subjektivität und Perspektivität markiert Bm durch ein nachgestelltes „find ich“ (914; genauso in 924) und signalisiert damit, dass man sich nun auf dem ‚schwankenden Boden’ des bloßen Meinens befindet – im Gegensatz zum vermeintlich sicheren Untergrund der Beschreibung ‚harter Fakten’. Die Einschätzung, dass die Stimmung „abschreckend“ wirkt, wird von den anderen Gruppen nicht geteilt, insbesondere die Beurteilung des Bildes durch Gruppe SA („Aber da is sicher luschtig“; 679) fällt geradezu konträr aus. Sie ist demnach ein Spezifikum der Gruppe ND. ND 913-939 Bm: ((12)) ähm ... ich hab irgendwie so ... `ch weß net ... die Stimmung dazu .... irgendwie weng abschreckend, find ich. Aw: ja. Bm: ... also ich würd nicht gern in diesen Raum reingehen ((4)) wenn ich des jetzt so, wenn ich die Tür aufmachen und des so sehen würde. Cw: Mhm. Bm: ... Wär mir jetzt eher unangenehm. Aw: ... die ganze Atmosphäre ... Cw: ... als ob´s Ärger geben würde .. Bm: ja. Aw: ja. Cw: ... find ich Aw: genau. Bm: ... des is irgendwie .... bedrückend. Irgendwas Aw: ((gleichzeitig mit Bm p)) Irgendwas stimmt nicht ... Bm: ((gleichzeitig mit Aw n)) ... liegt da in der Luft ... Aw: ja. Wenn man da reingeht, ... Cw: Hm. Bm: ((gleichzeitig mit Aw p)) Obwohl des ... des-des Bild, ... Aw: ((gleichzeitig mit Bm n)) ... hat ma schon das Gefühl irgendwas stimmt nicht Bm: .... des Jesusbild passt in die Stimmung nicht rein. Aw: Ja, des isses aber grade, des wasses nur noch schlimmer macht ... Cw: ja. Bm: ja. Cw: ... sonst fänd ich´s auch nich so schlimm. Bm: Des´ da völlig fehl am Platz irgendwie. Aw: ((12)) Hm.

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Die Stimmungsschilderung erfolgt sehr zögernd und tastend. Belege hierfür sind die lange Pause zu Beginn, der Auftakt mit „ähm“, das zweimalige Ansetzen und Abbrechen bei der Formulierung, das Bekunden von Ratlosigkeit („...`ch weß net...“; 913), die zweimalige Diffundierung durch „irgendwie“ sowie der stockende (viele kleine Pausen zwischen den Äußerungen) und insgesamt elliptische Charakter des ersten Teils der Proposition (913/914). Offenbar ringt Bm noch damit, für eine diffuse und präreflexive Empfindung adäquate Ausdrücke zu finden, d.h. sein begriffsloses Empfinden ‚auf den Begriff’ zu bringen. Bevor es ihm gelingt, seine Stimmung begrifflich zu beschreiben, findet er eine Möglichkeit sie zu umschreiben: Er würde nicht gern in diesen Raum hineingehen. Bm schließt seine Schilderung mit dem Resümee ab: „Wär mir jetzt eher unangenehm“ (919). Diese Schilderung ist in mehrfacher Hinsicht interessant: Zum einen wird die Besonderheit des referentiellen Rezeptionsmodus explizit dargelegt, allerdings nicht wie oben (und in der Literatur, z.B. Weidenmann 1988, S. 79) als „Fenster-zur-Welt-Einstellung“, sondern als „Tür-zur-Welt-Einstellung“. Zum andern – und das ist der eigentliche Punkt – gelingt es Bm offenkundig eher, seine Empfindungen bzgl. des Bildes handlungspraktisch zu formulieren und zu erläutern als kognitiv-reflektierend. Als erstes teilt sich Bm eine diffuse, präreflexive Stimmung mit, auf die er, bevor er sie sich reflexiv verfügbar machen kann, praktisch zu reagieren weiß: „ich würd nicht gern in diesen Raum reingehen“. Dies ist deshalb so bemerkenswert, da sich an dieser Stelle sehr anschaulich und in actu zeigt, dass der Habitus ganz wesentlich ein System von Schemata der praktischen Erkenntnis ist, die „sowohl in praxi wie für die Praxis funktionieren (und nicht zu Zwecken reiner Erkenntnis)“ (Bourdieu 1987, S. 729; Herv. i. Orig.). Bevor Bm seine diffusen Empfindungen („... `ch weß net ...“) ‚auf den Begriff’ bringen kann, kann er angeben, wier sich handelnd und d.h. gerdezu körperlich dem Bild gegenüber zu verhalten hat. Zu dieser ‚Logik des Körpers’ schreibt Bourdieu: „Eine Unmenge von Dingen verstehen wir nur mittels unseres Körpers, jenseits des Bewusstseins, ohne über die Wörter zu verfügen, es auszudrücken.“ (Bourdieu 1992e, S. 205). Wie dieses Beispiel außerdem zeigt, wird der Habitus nicht nur in direkter, unmittelbar handelnder Auseinandersetzung mit einem aktuell gegebenen Problem wirksam, sondern auch im Umgang mit einer indirekten, medial vermittelten und daher handlungsentlasteten Erfahrung. Da sich die praktische Sinnbildung hier auf Basis des Habitus vollzieht, findet sie auf ikonologischer Ebene statt.

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268 Wunsch nach Distanz

Im Streben nach (körperlicher) Distanz vom Bildgeschehen zeigt sich, wie der Habitus als praktisches Schema „jenseits expliziter Vorstellung und verbalem Ausdruck“ (Bourdieu 1985, S. 17) eine „Neigung“ zu einem bestimmten Handeln nahelegt (vgl. Bourdieu 1979, S. 446, Anm. 39). Denn diese Neigung zur Distanzierung findet sich als homologes Muster bei Gruppe ND häufiger. Als Distanzierung kann nämlich auch der (Nicht-) Umgang mit dem Hauptprotagonisten (bzw. seiner Ethnie) betrachtet werden, der oben unter dem Begriff der „Vermeidungsthese“ diskutiert wurde. In einer ersten Annäherung kann das beiden Handlungen zugrundeliegende Muster – bzw. der sie hervorbringende modus operandi – evtl. als „konfliktscheu“ oder „konfliktvermeidend“ charakterisiert werden: Schwierige Situationen – der sprachlichen Benennung wie auch der sozialen Interaktion – werden durch Vermeidung umgangen. Konflikte werden weder ausgetragen, noch thematisiert, sondern ‚totgeschwiegen’. Umgekehrt verweist die körperlich-handelnde Bezugnahme auf das Bild und das Bedürfnis nach Distanzierung darauf, dass die Gruppe vom Bild ‚berührt’, ‚tangiert’ und ‚betroffen’ wird, d.h. dass sie ihm gerade nicht distanziert begegnet, Distanz vielmehr erst hergestellt werden muss.17 Dieses Verhältnis von Bedrängung durch das Bild und dem Wunsch nach Distanzierung lässt sich mit der Auseinandersetzung von Gruppe SA kontrastieren, bei der es sich genau umgekehrt verhält: Auch Gruppe SA formuliert eine handlungspraktische Bezugnahme auf Bild „Shantytown“. Sie drückt darin jedoch nicht den Wunsch nach Distanzgewinn aus, sondern begründet damit vielmehr ihre besondere Präferenz für das Bild: „würd´ mich jetzt eher interessieren da hin zugehen ... und des zu sehen“ (SA 916/917). Hier wird ebenfalls der referentielle „Tür-zur-Welt“-Rezeptionsmodus angewandt, jedoch nicht mit der handlungspraktischen Umsetzung der Distanzierung, sondern im Gegenteil: man würde gerne „hingehen“ und sich die Situation ansehen. Diese angestrebte Nähe zum Bildgeschehen findet sich bei Gruppe SA vor dem Hintergrund einer großen Distanziertheit gegenüber dem Bild. Denn generell nimmt Gruppe SA nicht den referentiellen Rezeptionsmodus ein, sondern den rhetorischen: Sie betrachtet das Bild als Bildding, dem man einen Titel geben und mit dem man spielen kann. Besonders deutlich wird dies an der oben teilweise bereits wiedergegebenen Passage:

17

Dies wird auch am Ende der Diskussion deutlich, wo die Gruppe eine geradezu ‚existentielle’ Bedrückung und Verstrickung mit dem Bild bekundet („mir persönlich unangenehm“; 1269). Vgl. dazu weiter unten ausführlicher.

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SA 743 –758 Aw: Aber ....ähm .... da fällt mir jetzt grad kein Titel ein grad ... mm .... mm Bm: Der liebe Gott sieht alles .... Aw: Ja, irgendwas mit dem Jesus hätt´ ich jetzt irgendwie au ... Bm: (Ne: des der eigentliche Gag an) ne: s is klasse aufg´nommen ... Aw: ...Holy .... Bm: Der eigentliche Gag an dem Bild is echt, dass er da hinten zuguckt ... Aw: ... holy water oder so ähnlich ... Bm: The water of life ... Aw: ..mhm ja .. Bm: ... is von den Dire Straights ((2)) Aw: Walk of life heißt des ! Bm: ....... des is der Titel von der, aber irgendwo singen´se auch water of life ... ähem Aw: Brothers in Arms? Bm. Ich werd´s ... ich werd´s raussuchen, ich hab´ die Dinger im Augenblick nimmer so ganz im Kopf .... was hab ich überhaupt im Kopf ? Aw: ((Gähnen)) ....mmm

Auch bei Gruppe SA zeigt sich der gruppenspezifische Habitus im praktischen Umgang mit dem Bild. Anders als bei Gruppe ND äußert er sich aber nicht im angstvollen Zurückschrecken vor der abgebildeten Szenerie, sondern im lustvollen Spiel mit dem Bild als Bildding. Gegenstand der praktischen Bezugaufnahme auf das Bild ist somit nicht – wie bei Gruppe ND – eine soziale Situation, sondern das Bild als Zeichen. Im intertextuellen Spiel mit Zeichen, Bedeutungen und Verweisungen wird das Foto als Medientext betrachtet, mit einem Titel versehen und in Zusammenhang mit anderen Medientexten gebracht. Bei diesen anderen Medientexten handelt es sich um Popsongs bzw. um deren Titel, die losgelöst von inhaltlicher Bedeutsamkeit als Sprachmaterial verwendet werden – so geht es bei der Frage, ob ein Lied „Water of Life“ oder „Walk of Life“ heißt, nur um die Signifikanten, nicht aber um Signifikate. Das Bild wird als hergestelltes Zeichen betrachtet, das in seiner Machart gewürdigt wird („klasse auf´gnommen“). Auch diese Art der Auseinandersetzung kann als praktische Sinnbildung auf Basis habitusspezifischer Handlungsschemata betrachtet werden. Die Perspektive der Gruppe SA, die vom Bildinhalt absieht und die formale Gestaltungsweise in den Vordergrund rückt, kann man als ästhetisch bezeichnen. In der Selbstverständlichkeit, mit der die Grenzen zwischen Foto und Popsong eingeebnet und beide Genres gleichermaßen zum medialen ‚Steinbruch’ ironischer Spielereien werden, dokumentiert sich eine Haltung, in der man eine postmoderne Beliebigkeit erkennen kann. Ästhetisierung und Ironisierung sprechen zudem für eine sehr distanzierte Haltung dem Bild gegenüber, die bis zu einem leicht dekadenten Ennui (Gähnen) geht und in starkem Kontrast zur ‚existentiellen Betroffenheit’ der Gruppe ND steht.

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Focussierungsmetapher I Insgesamt weist die Passage, die sich an Bm´s praktische Deutung anschließt, eine hohe interaktive Dichte auf. Die Gruppe scheint ‚mit einer Stimme’ zu sprechen und gemeinsam darum zu ringen, ihre Empfindungen in sich überbietender Weise auf den ‚Begriff’ zu bringen. Dies wird deutlich an den ineinandergreifenden Formulierungen, bei denen ein Gruppenmitglied eine Proposition eines anderen Gruppenmitglieds vollendet, indem es sich ‚nahtlos’ sowohl in die syntaktische Struktur als auch in den Bedeutungsgehalt der Satzkonstruktion des/der Vorredners/in einklinkt (z.B. 920/921, 926-928, 944-946). Auch parallelisierende Formulierungen belegen die interaktive Dichte, bei denen sich überbietende Beschreibungen mit identischer Satzfunktion ‚parallel geschaltet’ werden (z.B. 927-928). Die ‚Einstimmigkeit’ der Gruppe zeigt sich auch an den häufigen Ratifikationen (922-925). Aufgrund der interaktiven Dichte und der metaphorischen Umschreibung der gemeinsam geteilten, präreflexiven Empfindungen kann diese praktische Deutung des Bildes daher als „Focussierungsmetapher“ bezeichnet werden (vgl. Bohnsack 1999, S. 75, 100 f, 152, 183). Als Focussierungsmetapher bündelt die praktische Deutung die gemeinsam geteilten Empfindungen der Gruppe, die sich einer begrifflichen Fixierung entziehen. Ätherische Referentialisierung und Antizipation des weiteren Geschehens Die Schwierigkeit, die vor-begrifflichen Empfindungen ‚auf den Begriff’ zu bringen, zeigt sich auch an den etwas diffusen und wolkigen Formulierungen, mit denen die Gruppe ihre Empfindungen zu analysieren versucht: Die Stimmungsschilderung bezieht sich in unspezifischer Weise auf den Gesamteindruck der Situation, „ ... die ganze Atmosphäre ...“ (920) wird als unangenehm empfunden – ein Begriff, dem etwas diffuses, unkonkretes eignet, das mehr ‚gespürt’ und ‚geahnt’ wird, als dass es kognitiv verstanden wird. Diese ‚ätherische Referentialisierung’ des Unbehagens, die sich offenbar einer begrifflichen Fixierung entzieht, findet sich auch in 928: Hier wird konstatiert, dass „irgendwas“ in der „Luft“ liegt. Auch der präreflexive Erkenntnismodus, der mit dieser ‚ätherischen Referentialisierung’ korrespondiert, wird benannt: Es handelt sich nicht um ein kognitives Erkennen, sondern um ein mehr intuitiv gespürtes „Gefühl“ (932) für die Situation. Der Atmosphärenbegriff wird mit der Erwartung „ ... als ob´s Ärger geben würde ..“ (921) präzisiert. Diese Präzisierung ist bemerkenswert, da sie sich nicht auf einen aktuell gegebenen Stimmungseindruck stützt, sondern die Zukunft hypothethisch antizipiert: Der Ärger ist noch nicht eingetreten, sondern steht erst bevor. Zu fragen ist, ob damit ein bildimmanenter Ärger antizipiert wird, eine Streiterei zwischen den abgebildeten Personen etwa,

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oder ob angenommen wird, die bildexternen Bildbetrachter würden sich Ärger einhandeln oder Ärger auslösen. Da die Gruppe oben bereits den „Fenster-zurWelt-“ bzw. „Türe-zur-Welt-Rezeptionsmodus“ an das Bild angelegt hat, ist es plausibel, die zweite Alternative zu bevorzugen: Die unbehagliche Stimmung überträgt sich auf die Gruppe bei der Vorstellung den Raum zu betreten, d.h. Teil des Bildgeschehens zu werden. Bevor sich die Gruppe die Situation reflexiv aneignen kann, weiß bzw. ahnt sie präreflexiv, was als nächstes passieren wird und wie sie sich zu verhalten hat. Diese präreflexive und antizipative Bedeutung weist demnach über das Bild hinaus, das statisch und synchron einem einzigen Augenblick verhaftet ist, und implementiert eine zeitliche Dimension, die die bildexternen Betrachter mit einbezieht und sich (bislang) nur handlungspraktisch formulieren lässt. Die präreflexive Erwartung an die Situation, es würde Ärger geben, wenn „man da reingeht“ (941), illustriert, wie der praktische Sinn in actu funktioniert. Bourdieu hat die Funktionsweise der praktischen Erkenntnis so beschrieben: Der praktische Sinn erlaubt den „Sinn der Situation auf der Stelle, mit einem Blick und in der Hitze des Gefechts“ (Bourdieu 1993, S. 190 f.; Herv. B.M.) einzuschätzen und „sogleich die passende Antwort“ (ebd.) zu finden. „Nur diese Art erworbener Meisterschaft, die mit der automatischen Sicherheit eines Instinkts funktioniert, gestattet es, augenblicklich auf alle möglichen ungewissen Situationen und Mehrdeutigkeiten der Praxis zu reagieren.“ (ebd.) Obwohl sich die abgebildete Situation der Gruppe als diffus, ‚ungewiss’ und ‚mehrdeutig’ präsentiert und sich reflexiver Durchdringung entzieht, kann die Gruppe durch ihren praktischen Sinn „mit einem Blick“ bzw. „augenblicklich“ die Situation präreflexiv beurteilen und unmittelbar eine adäquate handlungspraktische Reaktion entwickeln.18 18

Auf handlungspraktische Erwartungen bzw. Anforderungen, die sich bereits bei der präreflexiven Wahrnehmung einstellen, weist auch Arnold Gehlen hin: „Indem nämlich die uns umgebenden Dinge hochkomplexe Symbole anschaulich enthalten, so scheinen sie das, was sie uns nicht offensichtlich zeigen, doch zu verraten: (...) So andeutungsreich wie sie dastehen, fordern sie uns zu bestimmten Handlungen auf (...).“ (Gehlen 1995, S. 222 f.) Dabei zeigen „die Sehdinge schon im bloßen Hinblick die ‚Umgangsqualitäten’ (...), die sie beweisen würden, wenn wir mit ihnen hantierten“ (ebd. S. 170; Herv. B.M.). An diese Überlegungen anschließend führen Gebauer/Wulf aus, dass Person und Sache einen „Bewegungsraum“ konstituieren, der über die gegebene Situation hinausgeht und auch antizipierte, zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht verwirklichte Bewegungen umfasst, „die aber schon in jenen, die wahrgenommen werden, präsent sind.“ (dies. 1998, S. 32) Dieses antizipierende „Präsent-Machen“ (ebd.) geschehe nicht kognitiv durch „geistige Erkenntnisakte“ (ebd.), „sondern unmittelbar durch Hinsehen: ‚Man sieht es den Bewegungen an’, was sich aus ihnen entwickeln wird.“ (ebd.) Mit Gehlen (1995, S. 223) formulieren Gebauer/Wulf, die Dinge seien für den Handelnden „geladen mit Umgangsvorschriften und Gebrauchsandeutungen“ (Gebauer/Wulf 1998, S. 32). Der zwischen Person und Sache entstehende „Bewegungsraum“ (ebd.) sei daher symbolisch aufgeladen (ebd.), da die gegebene Situation „im Blick des Handelnden“ (ebd.) bereits das enthält, „was geschehen wird.“ (ebd.)

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Empirische Fallrekonstruktionen

Nach Bourdieu ist dieser Blick aber kein „reiner“, ahistorischer Blick, sondern Produkt eines sozialen Milieus mit seiner Geschichte (vgl. 1974, S. 167; 1993c, S. 18), die im Habitus sedimentiert ist. Geschichtlich geprägt sind aber auch alle Personen und Objekte, auf die sich die handelnde Bezugnahme des Akteurs richtet. Bourdieu hält daher fest, „dass jede historische Aktion zwei Zustände der Geschichte miteinander in Verbindung setzt: die Geschichte im objektivierten Zustand, d.h. die im Laufe der Zeit in den Dingen (Maschinen, Gebäuden, Monumenten, Büchern, Theorien, Sitten, dem Recht usf.) akkumulierte Geschichte und die Geschichte im inkorporierten Zustand, die Habitus gewordene Geschichte.“ (Bourdieu 1997a, S. 28; Herv. i. Orig.)

Auch in der Interaktion von Fotografie und Rezipierenden begegnen sich zwei „Zustände der Geschichte“ – die im Foto sedimentierte Geschichte des historischen Geschehens vor der Kamera und die im Habitus inkorporierte Geschichte der Rezipierenden. Wie an der Auseinandersetzung der Gruppe ND mit Bild „Shantytown“ deutlich wird, vollzieht sich diese Interaktion ganz wesentlich auch auf körperlicher Ebene und entzieht sich weitgehend einer bewussten Steuerung. Das Produkt dieser Interaktion ist der (ikonologische Dokument-) Sinn. Er zeigt milieuspezifische Variationen, wenn mit der gleichen im Bild objektivierten Geschichte unterschiedliche Habitus, d.h. unterschiedliche inkorporierte Geschichten zusammentreffen. Resümierend lässt sich festhalten, dass die im Habitus sedimentierte Geschichte der Gruppe ND mit der Geschichte des Bildgeschehens interagiert, wobei sich der Gruppe durch den „bloßen Hinblick“ die „Umgangsqualitäten“ des Bildgeschehens erschließen. Deshalb kann die Gruppe den weiteren Verlauf des Geschehens für den Fall antizipieren, dass sie Teil des Geschehens würde: Es würde Ärger geben. Der Ärger würde aus der Situation resultieren, die durch Bildgeschehen und Betrachtende (bzw. aus ihren Geschichten) gebildet wird, und nicht aus einem bildimmanenten Merkmal allein. Das intuitive ‚Gespür’ für eine bedrohliche Situation wäre demnach kein Vorurteil im Sinne eines falschen bzw. maliziösen Urteils, sondern eine im Habitus sedimentierte und inkorporierte ‚Vorerfahrung’, die in der bisherigen Lebenserfahrung gründet und auf deren Grundlage die Akteure handlungspraktisch folgern können, dass es beim Zusammentreffen des Gruppenhabitus mit der im Bild objektivierten Geschichte Ärger geben würde. „Aus objektiven Grenzen wird der Sinn für Grenzen, die durch Erfahrung der objektiven Grenzen erworbene Fähigkeit zur praktischen Vorwegnahme dieser Grenzen, wird der sense of one´s place, der ausschließen lässt (Objekte, Menschen, Orte, etc.), was einen selbst ausschließt.“ (Bourdieu 1987, S. 734) Der ‚Ausschluss’ wird im weiteren Diskursverlauf durch den Handlungsentwurf des Türe-zu-machens (959/960) imaginativ vollzogen.

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Die Leerstelle zwischen Jesusbild und „Stimmung“ Im Zusammenhang mit der ‚ätherischen Referentialisierung’ kommt die Gruppe erstmals ausführlicher auf das Jesusbild zu sprechen. Dies ist bemerkenswert, da die anderen Gruppen gleich zu Beginn der Beschäftigung mit Bild „Shantytown“ von dem Jesusbild Notiz nehmen – und zwar in kommentierendwertender Art. Zwar wird auch bei Gruppe ND direkt am Anfang das Jesusbild thematisiert, aber lediglich vor-ikonographisch registrierend. Dabei mischt sich in das bloße Konstatieren möglicherweise eine gewisse Befangenheit, die sich in der Unsicherheit zeigt, wie das Jesusbild zu benennen ist (753-755): Cw: Bm: Cw:

((lacht)) im Hintergrund ... dieses .... Jesusbild Jesusbild

Im weiteren Diskursverlauf wird das Jesusbild mehrfach erwähnt (795, 849, 889, 897), aber nicht näher gewürdigt – weder in seinen eigenen Qualitäten (wie etwa bei Gruppe SA, vgl. oben), noch als Indiz für die Religiosität der abgebildeten Personen (wie bei Gruppe AH 505: „... ja, ok, die Schwarze sin sowieso arg mit ihrem Glauben und so ...“ und Gruppe SA 649: „... was katholisches auf jeden Fall ...“). In diesen Fällen dient es lediglich als Fixpunkt zur Orientierung im Raum („des neben dem Jesusbild“; 897). Mit einem adversativ gebrauchten „obwohl“ schließt Bm nun an den bisherigen Diskurs an und baut einen Gegensatz auf, der durch das Jesusbild und die als bedrückend geschilderte Stimmung konstituiert wird. Das Jesusbild stellt für die Gruppe offenkundig einen Gegenpol zur bedrückenden Stimmung des übrigen Bildgeschehens dar. Es wird von Gruppe ND demnach nicht trivialisierend und ironisierend wie von Gruppe SA („... der Dschieses ...! (...) ... der is klasse ! ((Jauchzer))“; SA 623/624), sondern positiv und möglicherweise ‚religiös’, d.h. in Übereinstimmung mit christlichen Glaubensvorstellungen erlebt. Das Auseinanderklaffen von einem Bildelement zu den übrigen Bildelementen, zwischen Elementen des Bildsyntagmas also, kann als Kennzeichen einer syntagmatischen Leerstelle angesehen werden: Das bildliche Syntagma lässt sich nicht nach Maßgabe des Schemas ordnen, das die Rezipierenden an das Bild herantragen. Die Leerstelle, die durch das Jesusbild und das übrige Bildgeschehen konturiert wird, findet sich auch bei den Gruppen SA und AH und ist daher auf der ikonographischen Ebene anzusiedeln. Anders ausgedrückt: Die kulturellen Konventionen, an denen alle untersuchten Gruppen partizipieren, stellen keine Ikonographie (keine etablierte Erzählung) bereit, die eine konsistente Integration des Jesusbildes erlauben würde. Wie oben bereits festge-

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Empirische Fallrekonstruktionen

stellt wurde, unterscheiden sich die Gruppen hinsichtlich des Umgangs mit der übereinstimmend aufgedeckten Leerstelle. Es wurde festgestellt, dass Gruppe AH die Leerstelle ‚wegharmonisiert’ und Gruppe SA die Leerstelle ‚feiert’, d.h. die Leerstelle genussvoll erlebt und sie als „Gag“ stimmig empfindet. Gruppe ND dagegen ‚durchleidet’ die Leerstelle: Nicht nur, dass das Jesusbild nicht in die Stimmung „passt“ (933) und „da völlig fehl am Platz“ ist – das Jesusbild „isses aber gerade, des wasses nur noch schlimmer macht ...“ (934), „sonst“ wäre der Simmungseindruck „nich so schlimm“ (937). Die Leerstelle wird nicht nur als Schemainkongruenz empfunden, sondern führt zu einer Steigerung der Beklemmung. Warum dies so ist, wird nun zu prüfen sein. Dazu wird zunächst näher untersucht, wie die beiden ‚Konturen’ der Leerstelle, das Jesusbild selbst und die Stimmung, von Gruppe ND erlebt werden. Die Deutung des Jesusbildes selbst erfolgt bei Gruppe ND auf ikonologischer Ebene, wenn man davon ausgeht, dass sie es im Sinne traditionellchristlicher Religionsvorstellungen betrachtet. Denn diese religiösen Inhalte sind dem Bereich der Weltanschauung zuzurechnen. Das Jesusbild wird somit weder lediglich auf vor-ikonographischer Ebene als Exemplar eines bestimmten Gegenstandstyps wiedererkannt, noch bleibt die Deutung auf ikonographischer Ebene stehen, wo es als Vertreter eines Bildtyps identifiziert würde. Das Bild wird vielmehr ikonologisch ‚transzendiert’ und mit bildexternen Glaubensinhalten in Verbindung gebracht. Der Vergleich mit Gruppe SA soll dies verdeutlichen: Auch Gruppe SA drängen sich religiöse Implikationen des Jesusbildes geradezu auf: An den Lokalisierungsversuchen („... was katholisches auf jeden Fall ...“; 649) und den Titelvorschlägen („Der liebe Gott sieht alles“, 744; „... holy water oder so ähnlich ...“, 749; „Bless your drink?“, 760; „Urbi et Orbi?“, 777; „ja ... was vom Papst !“, 779) wird dies deutlich. Dabei werden die sakralen Inhalte jedoch kommunikativ-generalisierend verstanden (Bohnsack 1997b, S. 54; vgl. hier 1.4.3.2), d.h. Grundlage der Sinn-Assoziationen sind Orientierungsschemata, die auf allgemein geteilten Konventionen beruhen und milieuübergreifendes Wissen zum Stichwort „Religion“ bereitstellen: heilig („holy“), Segen („bless“, „Urbi et Orbi“), „der liebe Gott“, göttliche Allmacht („Der liebe Gott sieht alles“) und „Papst“. Diese assoziative Thematisierung des Sakralen durch explizite und stereotype Schlagworte beruht auf einem allgemeinen Vertrautsein mit den kulturellen Konventionen des christlich geprägten Abendlandes, in ihr dokumentiert sich keine unmittelbare Verbundenheit mit den Glaubensinhalten als Teil der habitusspezifischen Weltanschauung. Der Nachvollzug des religiösen Gehalts findet bei Gruppe SA im Modus des kommunikativ-generalisierenden Verstehens statt (und somit auf ikonographischer Ebene; vgl. Bohnsack 1997a, S. 197), wohingegen es bei Gruppe ND unmittelbar und wenig expliziert im Modus konjunktiver Verständigung (d.h. auf ikonologischer

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Ebene; vgl. ebd.) abläuft. Die religiösen Signifikate sind demnach in den weltanschaulichen Überzeugungen, im Ethos19 des Gruppenhabitus verankert. Während der religiöse Gehalt des Jesusbildes von Gruppe SA gewusst wird, ‚lebt’ Gruppe ND diese Inhalte tendenziell. Das kommunikative Wissen um religiöse Inhalte wird von Gruppe SA dann – wie oben dargelegt – zum Material für ironisch-postmoderne Spielereien, während Gruppe ND das Jesusbild im Sinne der christlichen Religion tendenziell ‚gläubig’ bzw. „unschuldig“20 rezipiert. Die andere Kontur der Leerstelle wird durch die Stimmung markiert: „... des Jesusbild passt in die Stimmung nicht rein.“ (933). Oben wurde bereits argumentiert, dass der Stimmungseindruck unter Bezug auf den konjunktiven Orientierungsrahmen des Habitus ikonologisch gedeutet wird. Der sich daraus ergebende Ausdruckssinn wird u.a. als „wenig abschreckend“ (914), und „bedrückend“ (926) charakterisiert. Daraus erwächst für die Gruppe der Wunsch, sich der abgebildeten Situation zu entziehen. Vom Bildgeschehen distanziert hatte sich die Gruppe bereits in der Eingangssequenz. Auf Basis eines ‚individualistischen Ethos’ – so wurde oben argumentiert – hält sich die Gruppe die abgebildeten Missständen („Birne hohl“) ‚vom Leibe’. Da die abgebildeten Akteure an ihrer Verelendung selbst Schuld sind – so die rekonstruierte Lesart der Gruppe ND, entfällt für die Betrachtenden sowohl die Verpflichtung zu einer Kritik an möglichen Ursachen des Elends, als auch das Erfordernis zu einer empathischen Solidarisierung mit den abgebildeten Personen. Diese moralische Abgrenzung dient möglicherweise ebenfalls dem impliziten Ziel, sich der beklemmenden Stimmung zu entziehen. Wird ein „individualistisches Ethos“ als Facette des Habitus von Gruppe ND angesehen, dann ist auch diese unbewusste Abgrenzungsstrategie Teil der ikonologischen Deutung. Die Stimmung als eine Kontur der Leerstelle ist somit durch eine doppelte Distanzierung geprägt: Zum einen in moralischer Hinsicht und zum andern in physischer Hinsicht, die sich in der Focussierungsmetapher („würde nicht gern in den Raum gehen“) niederschlägt. Beide Möglichkeiten zur Abgrenzung sind im Habitus verankert und daher auf ikonologischer Ebene angesiedelt. Beide Konturen der Leerstelle sind demnach weltanschaulich aufgeladen – das im Einklang mit einem christlich geprägten Ethos tendenziell sakral verstandene Jesusbild und die als bedrückend erlebte Stimmung, der sich die Gruppe moralisch unter Bezug auf ein individualistisches Ethos und physisch durch Verlassen der Situation entziehen möchte. An der Leerstelle kollidieren somit zwei ikonologische Bildelemente. Sie lassen 19 20

Bourdieu unterscheidet zwischen dem impliziten, auf die Praxis bezogenen Ethos als Facette des Habitus einerseits und der Ethik als einem „bewusst kohärent formulierte(m) System expliziter Prinzipien“ andererseits (Bourdieu 1993d, S. 126). Eco charakterisiert die postmoderne Haltung als ironisch und „ohne Unschuld“ (Eco 1999, S. 696). Umgekehrt kann demnach die ironiefreie Lesart der „wörtlichen“ Bedeutung als „unschuldig“ bezeichnet werden.

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sich nicht konsistent in ein etabliertes ikonographisches Schema integrieren: Es lässt sich keine „Geschichte“ erzählen21, die das Jesusbild sinnvoll in die Stimmung einbinden würde. Gründe für die Steigerung der Beklemmung Warum führt das Jesusbild nicht nur zu einer Schemainkongruenz (Leerstelle), sondern macht den Stimmungseindruck „nur noch schlimmer“? Wie ist der gruppenspezifische Umgang des ‚Durchleidens’ der Leerstelle näher zu beschreiben und zu erklären? Nachvollziehbar wird die ‚gesteigerte Beklemmung’ m.E. nur unter der Prämisse, dass das Jesusbild tendenziell ‚sakral’ verstanden wird22. Daran anknüpfend lässt sich ein erster Erklärungsversuch anbieten: Das Verhalten der abgebildeten Personen wird aufgrund des Vorhandenseins des Jesusbildes als Sakrileg empfunden. Dies verletzt jedoch nicht (nur) religiöse Gefühle, sondern wirkt bedrohlich, macht die bedrückende Stimmung „nur noch schlimmer“. Diese Deutung ließe sich in etwa so umschreiben: „Wer sich unter einem Jesusbild besäuft, der ist noch zu viel schlimmeren Dingen fähig, dem ist nichts ‚heilig’“. Noch eine etwas anders gelagerte Erklärung kommt für die gesteigerte Beklemmung in Betracht, wenn man davon ausgeht, dass die Leerstelle von zwei ikonologisch gedeuteten Bildelementen konturiert wird, die sich nicht konsistent miteinander verbinden lassen. Demnach stehen nicht nur zwei Bildelemente im Konflikt, sondern zwei Weltanschauungsformen, mit denen die Bildelemente in der ikonologischen Deutung jeweils angereichert wurden: Ein christlich geprägtes Ethos und ein individualistisches Ethos. Über die besondere Ausprägung der christlichen Orientierung von Gruppe ND lassen sich auf Basis des empirischen Materials keine Aussagen machen. Daher kann nur darüber spekuliert werden, 21

22

Die sinnstiftende Rolle des Erzählens betont auch Jerome Bruner. Eine Kultur stellt nach seiner Auffassung kanonisierte „Geschichten“ bereit, um Ereignisse mit Sinn aufzuladen und verstehbar zu machen: „Während also eine Kultur auf der einen Seite eine Menge von Normen umfasst, muss sie auf der anderen Seite auch eine Menge von interpretativen Verfahren enthalten, um Abweichungen von diesen Normen im Rahmen festgelegter Muster von Überzeugungen Sinn zu verleihen. Und es sind eben Erzählungen und narrative Interpretationen, auf die die Alltagspsychologie angewiesen ist, um diesen Sinn herzustellen. Geschichten erzielen ihre Bedeutungen, indem sie Abweichungen vom Normalen in einer verständlichen Form erklären (...).“ (Bruner 1997, S. 64) In der Sicht von Gruppe ND stellt das Jesusbild im Kontext des Bildes „Shantytown“ etwas „Außergewöhnliches“ dar. Gruppe ND verfügt jedoch nicht über eine Erzählung, mit der sie dieses Außergewöhnliche in den Kontext des Gesamtbildes integrieren könnte. Mit der Vermutung, das Jesusbild würde von Gruppe ND ‚tendenziell sakral’ verstanden, wird nicht impliziert, Gruppe ND sei im religiösen Sinne ‚gläubig’ – dies lässt sich empirisch nicht belegen. Vielmehr wird angenommen, dass zumindest religiöse Wurzeln vorhanden sind, die zu einer gewissen ‚Scheu’ (i.S.v. ‚Ehrfurcht’, wobei Ehrfurcht bereits zu stark auf praktizierte Religiosität verweist) oder ‚Ernsthaftigkeit’ gegenüber sakralen Objekten führt.

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ob sich die Gruppe ND durch das christliche Ethos nun doch zu einer moralischen Stellungnahme oder empathischen Solidarisierung herausgefordert fühlt – zu Verpflichtungen also, von denen sie sich unter Berufung auf ein individualistisches Ethos und durch Flucht befreien möchte. In diesem Fall würde die Leerstelle einen ‚Riss’ zwischen zwei Weltanschauungsformen markieren, die miteinander im Konflikt stehen, als Ethosformen aber im Habitus verankert wären. Die Leerstelle würde dann sozusagen auf einen ‚Riss’ im Habitus verweisen. Diese These bedarf einer stärkeren empirischen Untermauerung, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann.23 Sie würde jedoch die gesteigerte Beklem23

Eine kausalgenetische Interpretation würde in Anschluss an Bourdieu die „Laufbahn-Effekte“ der Gruppe untersuchen (vgl. Bourdieu 1987, S.190 f.), d.h. die gegenwärtige Position der Gruppenmitglieder mit der Position ihrer Eltern vergleichen. Als Vergleichsgröße könnte der Beruf und der höchste Schulabschluss als eine Komponente des kulturellen Kapitals herangezogen werden. Die Gruppenmitglieder haben alle Abitur und befanden sich zum Zeitpunkt der Gruppendiskussion kurz vor Abschluss ihrer Banklehre. Die Berufe der Eltern gehen aus dem flankierend eingesetzten Fragebogen hervor: Vater Mutter Aw: kaufmännischer Angestellter k.A. Bm: Kraftfahrer Laborgehilfin Cw: Buchbinder Großhandelskauffrau/Hausfrau Kein Elternteil hat demnach einen akademischen Beruf oder einen Beruf, für den das Abitur Voraussetzung wäre. Die Gruppenmitglieder, die Mitte bzw. Ende der 70er Jahre geboren wurden, haben demnach von der allgemeinen Expansion der Bildungsmöglichkeiten profitiert und ihr Bildungskapital im Vergleich zu ihren Eltern gesteigert. Dieser Aufstieg, den die Gruppe ND zu vollziehen hatte (und noch immer vollzieht), führte möglicherweise zum Konflikt zwischen dem ererbten Habitus des Herkunftsmilieus (und seinem spezifischen Ethos) und dem im Gymnasium und während der Banklehre angeeigneten Habitus. „Der Aufstieg setzt immer einen Bruch voraus, in dem die Verleugnung der ehemaligen Leidensgefährten jedoch nur einen Aspekt darstellt. Was vom Überläufer verlangt wird, ist der Umsturz seiner Werteordnung, eine Bekehrung seiner ganzen Haltung.“ (Bourdieu 1987, S. 529) Dass der im Elternhaus inkorporierte Habitus im Laufe der schulischen Ausbildung vermutlich einer Restrukturierung unterworfen wurde, wurde oben bereits vermutet, als auf den Kanon expliziter Normalitätserwartungen als Facette des Habitus hingewiesen wurde (vgl. Anmerkung zum „goldenen Schnitt“). Es wird – ohne empirische Belege – vermutet, dass das christliche Ethos dem „Prägungseffekt“ (Bourdieu 1987, S. 190) des Herkunftsmilieus zuzurechnen ist. Der in Gymnasium und Bank/Berufsschule erworbene Habitus wäre dann als „Laufbahn-Effekt“ (ebd.) durch das individualistische Ethos gekennzeichnet. Ein individualistisches Ethos („Jeder ist seines Glückes Schmied“/ „Jeder ist sich selbst der nächste“) wird nach Ansicht Bourdieus begünstigt durch einen kollektiven Aufstieg einer Klassenfraktion, bei dem aber die Kollektivität verkannt und der Aufstieg individueller Leistung zugerechnet wird. Da der soziale Aufsteiger „sicher ist, seine Position ausschließlich seiner Leistung zu verdanken, ist er davon überzeugt, dass er nur auf sich selber zählen kann, wenn er sein Glück machen will: Jeder für sich, jeder in den eigenen vier Wänden.“ (Bourdieu 1981, S. 189). Weiter zu prüfen wäre, inwieweit ein individualistisches Ethos gerade für den Erfahrungsraum „Bank“ charakteristisch ist. Dass der Konflikt zwischen den Ethosformen bei Gruppe ND andauert, kann evtl. daraus geschlossen werden, dass alle drei Gruppenmitglieder (wie aus dem Fragebogen hervorgeht) bei den Eltern wohnen – eine vollständige Ablösung vom Herkunftsmilieu hat demnach (noch) nicht stattgefunden. Die Gruppenmitglieder pendeln täglich nicht nur zwischen Elternhaus und Berufsschule bzw. Bank, sondern auch zwischen unterschiedlichen Milieus mit ihren je eigenen Ethosformen. Gleichwohl sind die Sphären von Elternhaus und Bank/Berufsschule räumlich getrennt, so dass es den Gruppenmitgliedern evtl. möglich ist, die jeweils erforderlichen ethischen Schemata auseinander zu halten. Mit Blick auf Bild „Shantytown“ könnte dann argu-

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mung erklären und nachvollziehbar machen, warum Gruppe ND – im Gegensatz zu den anderen Gruppen – die Leerstelle ‚durchleidet’: Da nicht bloß gewusstes Faktenwissen im Konflikt steht, sondern existentielles Wissen, wird die Gruppe durch den Konflikt existentiell erschüttert. In der Resümeephase des Gruppendiskurses, die im Anschluss an die Bildpräsentation stattfand, wird dies nochmals deutlich: ND 1263-1276 Aw: Weils einfach n´ Durcheinander is in dem Bild .... Bm: ja. Aw: ... in dem Bild weiß ma nich, wo was sein soll ... und was was is oder, oder wie ma .... wie ma die Situation deuten soll .... des is n´ganz komisches Bild Bm: ((gleichzeitig mit Aw p)) n´ unangenehmes ... einfach n´unangenehmes Bild Aw: ((gleichzeitig mit Bm n)) (in dem Raum ... in dem Raum) genau Bm: ... mir persönlich unangenehm .... kann nicht genau sagen, wieso, aber Aw: ja, ich find ... Bm: ... würd ich mir nicht unbedingt anschaun ((lacht)) Aw: ((lacht)) ja, ich würd mir sowas auch nicht angucken ... also s´wär n´Bild, wenn ich

mentiert werden, dass dieses Bild deshalb als so unangenehm erlebt wird, weil hier die beiden sonst sorgsam getrennten Sphären aufeinandertreffen, was zu einem „Durcheinander“ (1263; s.o.) der habitusspezifischen Orientierungsrahmen führt. Dass Gruppe ND im Übergang „zwischen zwei Welten“ lebt, kann evtl. auch an der Karriereplanung der beiden weiblichen Gruppenmitglieder abgelesen werden: Sie geben an, nach Abschluss der Banklehre ein BWLStudium aufnehmen zu wollen. Der Lehre kommt damit ein vorläufiger Status zu, mit dem das Erreichte abgesichert werden soll, auf das aber noch ‚aufgebaut’ werden kann. Vor dem Hintergrund ihres Herkunftsmilieus stellt das Erreichen des Abiturs für Gruppe ND offenkundig einen erheblichen Zuwachs an kulturellem Kapital dar, der nicht sofort in riskanten „Spekulationen“, wie etwa einem Studium mit ungewissen Zukunftsaussichten, ‚auf´s Spiel’ gesetzt werden soll. „Es ist kein Zufall, dass an allen Gabelungen des Bildungsweges (und an allen Wendepunkten in der intellektuellen Karriere) eine ‚Wahl’ zu treffen ist zwischen den Strategien des Rentiers, der die Maximierung der Sicherheit durch Absicherung des bereits Erreichten anstrebt, und den Strategien des Spekulanten, der auf die Maximierung des Profits abzielt: Die risikoreichen und damit oft auch die prestigeträchtigen Bildungslaufbahnen und Berufskarrieren haben immer ein weniger ruhmvolles ‚Gegenstück’, das denen überlassen bleibt, die nicht genügend (ökonomisches, kulturelles und soziales) Kapital haben, um das Risiko einzugehen, bei dem Versuch, alles zu gewinnen, alles zu verlieren – ein Risiko, das man nur dann eingeht, wenn man sicher ist, niemals alles zu verlieren.“ (Bourdieu 1981, S. 179 f.) Das Wagnis eines Studiums wird nicht direkt nach dem Abitur in Angriff genommen, sondern erst nach gründlicher Absicherung durch eine Banklehre. „Die Sicherheit, die die feste Gewissheit verschafft, mit einer Reihe schützender Protektions-‚Netze’ rechnen zu können, ist die Ursache all der Waghalsigkeiten, die intellektuellen eingeschlossen, die ihre ständig auf Sicherheit bedachte Unsicherheit den Kleinbürgern verbietet.“ (ebd.: S. 179) Diese Unsicherheit resultiert möglicherweise aus der impliziten Erfahrung, dass der kollektive Aufstieg, an dem Gruppe ND teilhat, zu einem Überschreiten der ‚natürlichen’ Grenzen des Herkunftsmilieus führt, dass ein Bruch beim Übergang vom angestammten zum angestrebten Milieu vollzogen wird, mit dem der Konflikt der habitusspezifischen Orientierungsrahmen einhergeht, der in der aktuellen Lebensphase der Gruppe möglicherweise hochvirulent ist. Dies sind jedoch nur Spekulationen, die im Zuge einer – soziogenetisch oder kausalgenetisch verfahrenden – Rekonstruktion der Habitusgenese genauer zu untersuchen wären. Da im Rahmen dieser Arbeit der Bereich der sinngenetischen Interpretation jedoch nicht verlassen wird, müssen diese Andeutungen als Ausblick genügen.

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Bm: Aw: Bm:

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sowas in die Hand krieg, würd ich gleich weglegen ... ... ich würd´s überblättern ... ja. ... wenn ich jetzt da des als Album seh - würd ich´s überblättern ... ((6))

Das als unangenehm erlebte „Durcheinander“ im Bild (1263) wäre vor dem Hintergrund des habitusinternen Konflikts als Durcheinander der habitusspezifischen konjunktiven Orientierungsrahmen zu interpretieren. Dieser Konflikt führt zur Unsicherheit darüber „wie ma die Situation deuten soll“ (1266). Für die Annahme, dass bei der Betrachtung von Bild Shantytown fundamentale und implizite Deutungsmuster kollidieren und scheitern, spricht Proposition 1269, in der sich existentielle Betroffenheit („mir persönlich unangenehm“; Herv. B.M.) und reflexive Unverfügbarkeit („kann nicht genau sagen, wieso, aber -“) dokumentieren. Resümee der praktischen Deutung In einer Pause von 12 Sekunden endet diese Passage hoher interaktiver Dichte, in der die Gruppe eine praktische Deutung des (Stimmungs-) Eindrucks durchgeführt hat. Die Focussierungsmetapher „ich würde nicht gern in diesen Raum hineingehen“ bündelt für die Gruppe die präreflexiven ‚Ahnungen’, die sie bei Betrachtung des Bildes „Shantytown“ empfindet. Der Konstatierung der Leerstelle und der Feststellung der Schemainkongruenz zwischen Stimmung und Jesusbild kommt dabei eine resümeeartig Funktion zu. Die Sinnbildung im konjunktiven Modus scheint damit zu einem für die Gruppe befriedigenden Ergebnis gekommen zu sein, da sie das Thema in einer Koda auslaufen lässt. Dies ist für den außenstehenden, kommunikativ-generalisierenden Beobachter bemerkenswert, da die Äußerungen der Gruppe zur Stimmung für ihn insgesamt eher tastend und diffus wirken und sich noch sehr im Bereich des präreflexiven, begriffslosen ‚Ahnens’ zu bewegen scheinen. Offenkundig gelingt der Gruppe aber im Modus unmittelbaren Verstehens, der durch den konjunktiven Orientierungsrahmen des Habitus gewährleistet wird, mit tastenden Andeutungen und vagen Umschreibungen eine Verständigung über den Stimmungseindruck. Immanente Nachfrage und Fortsetzung der praktischen Deutung Die lange Pause von 12 Sekunden wird durch den Diskussionsleiter mit einer immanenten Nachfrage beendet. Er greift dabei eine Formulierung der Gruppe auf und fragt, was in der Luft liegt (940). Im kommunikativen Modus bittet er

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als Außenstehender (und somit als Milieufremder) um eine Explikation zuvor geäußerter konjunktiver Sinngehalte. ND 940-960 Y: Ja ... ähm, ..... was liegt da in der Luft ... ähm Aw: ja irgendwie, als ob´s Ärger geben würde, wenn man da reingeht .... dass da was nicht stimmt Cw: ... als ob ma was verbotenes tun würde Bm: ... des ma irgendwie stört, des ... des ... weiß au net ... Wenn ich jetzt die Tür auf machen würde und würde des sehn .... Aw: ... ich würd´ nicht reingehen Cw: Des hat für mich Bm: ... ne ... sCw: ...irgendwie so n´Touch nach Drogen Aw: Ja. Bm: ja. Aw: ... des auch .. Bm: ja. Cw: Also nich nur unbedingt jetzt Alkohol, sondern .... Bm: ((gleichzeitig mit Cw p)) S- so ne Art ... Cw: ((gleichzeitig mit Bm n)) ... also, ich mein, des is ja ne legale Droge, aber so was Bm: .... so ne Drogenhöhle ...irgendwie ... also Cw: Hm. Bm: Wenn ix ... wenn ich jetzt mir vorstell: ich mach die Tür auf und würd´ dieses Bild sehn also, ich würd´se gleich wieder zu machen. Und zwar von außen ((lacht leise)). ((18))

Doch die Nachfrage des Diskussionsleiters wird nach einer kurzen Replik Aw´s ‚absorbiert’ und aus dem Diskurs ‚gekickt’. In ihrer Antwort liefert Aw zudem keine Erläuterung, sondern eine nahezu wortgleiche Hintereinanderreihung zuvor gemachter Äußerungen („ja irgendwie, als ob´s Ärger geben würde, wenn man da reingeht.... dass da was nicht stimmt“). Aw repetiert sozusagen tautologisch die ‚Chiffren’, die im Modus der konjunktiven Verständigung sehr erfolgreich zu einem unmittelbaren Verstehen führten. Darin dokumentiert sich die unmittelbare Evidenz, die für die Gruppe diese Chiffren zur Bezeichnung des Stimmungseindrucks haben. Die Notwendigkeit einer ‚Übersetzung’ in die Sprache allgemein geteilter Begriffe stellt sich für die Gruppe offenbar nicht. Die sich an Aw´s Wiederholung anschließenden Weiterentwicklungen sprechen dafür, dass die Nachfrage damit bereits ‚absorbiert’ wurde: Die Gruppe ist wieder ‚ganz bei sich’ und ihren konjunktiven Erfahrungsgehalten. In hoher interaktiver Dichte und gemeinsamer Rede wird sodann die Focussierungsmetapher („Ich würde nicht gerne in diesen Raum hineingehen“) aufgegriffen, bestätigt, elaboriert und schließlich dramatisch zugespitzt. „Wenn ix ... wenn ich jetzt mir vorstell: ich mach die Tür auf und würd´ dieses Bild sehn -

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also, ich würd´se gleich wieder zu machen. Und zwar von außen ((lacht leise)).“ (959/960) Diese Passage bildet dadurch einen interaktiven Höhepunkt im Diskursverlauf, in dem die Focussierungsmetapher als zentrale Orientierungsfigur die Empfindungen der Gruppenmitglieder bündelt. ‚Umspielt’ wird die mehrfache Bekräftigung der zentralen Focussierungsmetapher durch weitere vage und tastende Be- und Umschreibungen. Die nicht vollkommen exakte Passgenauigkeit der expliziten Begriffe wird durch diffundierende, subjektivierende und Aporie bekundende Wendungen angezeigt: „des ma irgendwie stört“ (944; Herv. B.M.); „weiß au net“ (944); „des hat für mich“ (947; Herv. B.M.); „irgendwie so n´ Touch nach Drogen“ (949; Herv. B.M.); „S-so ne Art ...“ (955), „...also, ich mein“ (956); „aber so was“ (956); „... so ne Drogenhöhle ... irgendwie ... also“ (957). Dies tut der unmittelbaren Verständigung innerhalb der Gruppe jedoch nach wie vor keinen Abbruch: Die Gruppenmitglieder teilen die Empfindungen und verstehen sich auch ‚stammelnd’. Der Modus konjunktiver Verständigung ist somit nach wie vor installiert. Innerhalb ihres konjunktiven Orientierungsrahmens formuliert die Gruppe gemeinsam, quasi ‚mit einer Stimme’ an einer adäquaten Beschreibung ihrer Stimmungsempfindung. Die Gruppe diskutiert somit auf ikonologischer Ebene. Im Fortgang des Diskurses werden weitere Gründe imaginiert, warum man besser nicht „da“ reingeht. Es würde „Ärger“ (941) geben, weil „ma was verbotenes tun würde“ (943), und weil „ma irgendwie stört“ (944). Es stellt sich die Frage, wer Subjekt („ma“, i.e. Kurzform von „man“) der beiden Propositionen ist. Es ist naheliegend, in Proposition 944 die Gruppe, die sich ja vorstellt den Raum zu betreten, als Subjekt anzusehen: Die Gruppe würde stören. Möglicherweise bezieht sich das „ma“ in 943 auf die abgebildeten Personen und wäre als verklausulierte Spezifizierung des vorangegangenen „dass da was nicht stimmt“ aufzufassen. In dieser Lesart stünde Proposition 943 mit Proposition 944 in einem Kausalverhältnis: „Ma“ (i.e.: die Gruppe) würde stören, weil „ma“ (i.e. die abgebildeten Personen) gerade etwas Verbotenes tut. Die Verklausulierung könnte in Zusammenhang mit dem oben diskutierten Tabu gesehen werden, demzufolge über die abgebildeten Personen nichts negatives ausgesagt werden darf. Mit dem unpersönlichen Pronomen „man“ kann verschleiert werden, wem kriminelle Machenschaften unterstellt werden. Focussierungsmetapher II In die tastenden Umschreibungen wird ebenso tastend eine neue Metapher eingebracht: „Des hat für mich (...) ... irgendwie so n´Touch nach Drogen“ (947949). Die Formulierung („Touch“) bleibt sehr im Vagen und Atmosphärischen, eine konkrete Referentialisierung auf bestimmte Bildelemente findet sich nicht.

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Aus dem Kontext des Diskurses von Gruppe ND lässt sich jedoch ableiten, dass hier ein krimineller Hintergrund des Bildgeschehens impliziert wird (und nicht etwa ein „sozialkritischer“ wie im Diskurs von Gruppe SA). Bereits mit der Befürchtung, „ma“ würde etwas Verbotenes (943) tun, wurde das semantische Feld der Kriminalität betreten. Zudem grenzt Cw mit dem Kriterium der Legalität den Alkohol von ihrem Drogenbegriff ab (954, 956). Dass sich auch in dieser Metapher gemeinsam empfundene Empfindungen ausdrücken lassen, wird daran deutlich, dass der Assoziationshof „Drogen“ aufgegriffen und zu einer globalen Situationsdeutung erweitert wird: „.... so ne Drogenhöhle ...irgendwie ... also“ (957). Auch die ‚Chiffre’ „Touch nach Drogen“/„Drogenhöhle“ ist mit indexikalischen Bedeutungen aufgeladen, die über ihre wörtliche Bedeutung hinausgehen (Dass der Terminus „Drogen“ nicht wörtlich zu verstehen ist, wird im Fortgang der Diskussion deutlich). In diesem ‚überschießenden’ metaphorischen Gehalt, der sich dem Milieufremden nicht erschließt, gelingt es der Gruppe ihr Unbehagen an dem Bild konsensuell zu formulieren. Die Indexikalität dieser Metapher verweist offenbar auf Sinngehalte, die im konjunktiven Erfahrungsraum der Gruppe wurzeln. Auch dieser Wendung kommt daher der Status einer Focussierungsmetapher zu. Die Sequenz wird beendet durch die elaborierte und pointierte Wiederholung der Focussierungsmetapher (959/960).24 Dabei bietet Bm eine sehr nachdrückliche und couragierte Inszenierung der Focussierungsmetapher – insbesondere im Vergleich mit der zögernden Erstformulierung der Metapher (916919): Die Metapher hat inzwischen Zustimmung erfahren und sich gut bewährt, sie bringt die Empfindung der Gruppe ‚auf den Punkt’. Der Nachdruck und die Dramatisierung werden erreicht durch den szenisch erlebten imaginativen Akt; das zwischengeschaltete „also“, mit dem Entschlossenheit signalisiert wird und die angehängte Detailierung („Und zwar von außen“). Damit bekommt dieser Beitrag Bm´s den Charakter eines bekräftigenden Resümees. Resümee des konjunktiven Teils der gruppenorientierten Sinnbildungsphase Sowohl von der Dramaturgie als auch vom Elaborierungsgrad kulminiert in dieser letzten Wiederholung der Focussierungsmetapher die interaktiv sehr dichte gruppenbezogene Sinnbildungsphase und findet zugleich ihre Koda: Die Gruppe hat sich körperlich-handelnd mit dem Bild in Beziehung gesetzt und ihre Empfindungen thematisiert. Eine detaillierte Referentialisierung auf das 24

Elaboriert wird die Focussierungsmetapher durch eine stärkere Explizierung des imaginativen Aktes, durch eine Erweiterung der Distanzierung (Bm würde die Türe nun schließen, bisher war nur davon die Rede, dass man nicht in den Raum hineingehen würde), durch die Unverzüglichkeit der imaginierten Reaktion („ich würd´se gleich wieder zu machen“; Herv. B.M.) und durch eine inhaltliche Präzisierung („Und zwar von außen“).

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Bild fand kaum statt, Gegenstand der Debatte waren vielmehr die subjektiven und emotionalen Reaktionen der Gruppenmitglieder. Eine sehr lange Pause von 18 Sekunden schließt sich an, die Gruppe ist offenkundig der Meinung, den Stimmungseindruck erschöpfend behandelt zu haben. 2.2.3.2.2 Kommunikativer Modus Nach einer sehr langen Pause von 18 Sekunden knüpft Aw zwar inhaltlich an die vorangegangene Sequenz an, der Modus der Verständigung ändert sich jedoch grundlegend: Die bislang präreflexiv ‚erspürte’ Stimmung wird nun unter ein Raster begrifflicher Schemata subsumiert. Aw wählt ein kanonisiertes Schema, in das sie einige disparate Einzelteile zu integrieren versucht und schließt dabei an den in der vorherigen Sequenz eröffneten Assoziationshof „Drogen“ an. ND 961-975 Aw: ((18)) Vielleicht dass der rechte auch anscheinend ... bißle protziger is, weil des schaut aus wie n´Goldarmband, was der dran hat. Cw: ((gleichzeitig mit Aw p)) Hm. (So´n Reifen irgendwo) Aw: ((gleichzeitig mit Cw n)) Der den Becher in der Hand hält ..... vielleicht is des der Drogenboss Cw: ((gleichzeitig mit Bm p)) (unverständlich) Bm: ((gleichzeitig mit Cw n)) ... gießt sich selber erst ma ein ((lacht)) Aw: ... und der linke is der Abnehmer, der ihm Alkohol eingießt Bm: ((lacht)) ((6)) (na ok:) Alkohol is auch ne Droge .... Aw: ja. Cw: ja. Bm: ... sieht ma normalerweise nich so Aw: ... wird ja immer auch runterg´spielt, weil des so... Bm: Ja eben: s´ja ne legale Droge sozusagen Aw: Hm.

Durch die typisierende Rollenzuweisung „Drogenboss“ (965) und „Abnehmer“ (968) wird das semantische Feld des „Geschäftsabschluss“ betreten. Diese Semantik dient zur Strukturierung der Bilderfahrung. Initiiert wurde sie durch die Entdeckung eines „Goldarmbandes“, das eine der abgebildeten Personen trägt. Sie wirkt dadurch „bißle protziger“ (961). Dies wird durch ihren Status als „Drogenboss“ erklärt. Die Rolle der anderen Person als „Abnehmer“ ergibt sich daraus. Die Assoziationskette Drogen – protziges Goldarmband – Drogenboss – Abnehmer verschiebt die Konnotation der Kriminalität noch weiter vom Konsum illegaler Drogen hin zum Handel mit Drogen. Angesichts der bisher prakti-

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zierten Tabuisierung der abgebildeten Personen überrascht nun ihre Typisierung als Drogendealer. Es kann vermutet werden, dass diese sehr negative Einschätzung der Protagonisten unartikuliert als ‚Subtext’ in der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Bild mitlief. Rationalisierung der Stimmungsempfindung Die Verständigung findet nun nicht mehr unmittelbar und präreflexiv innerhalb eines konjunktiven Orientierungsrahmens statt, sondern im Modus kommunikativ-generalisierender und typisierender Orientierungsschemata: Aw erzählt eine ‚Geschichte’, die thematisch an die zuvor atheoretisch und wenig strukturiert geäußerten Empfindungen anschließt und die möglicherweise dazu dienen soll, diese Empfindungen reflexiv zu durchdringen und kanonisch zu systematisieren. Mit diesen Rationalisierungsbemühungen einhergehen eine stärkere Bezugnahme auf das Bild und eine Abkehr von den Empfindungen der Betrachtenden, obwohl die Problemstellung sich nicht ändert. Die kommunikative Explikation scheint Belege im Bild zur argumentativen Untermauerung in stärkerem Maße zu erfordern als der unmittelbare Austausch im Modus konjunktiver Verständigung. Mit Hilfe des Orientierungsschemas „Drogendeal“ wird der Versuch unternommen, die Relationen zwischen einigen Bildelementen zu klären, d.h. das Bildsyntagma gemäß Modalität Beta zu schließen. Bezugspunkt sind allgemein geteilte Konventionen, die Sinnbildung erfolgt nun nicht mehr auf ikonologischer, sondern auf ikonographischer Ebene. In die Ikonographie des „Drogendeals“ wird das Jesusbild nicht ausdrücklich integriert, es wird allerdings auch nicht explizit als schemainkongruent ausgeschlossen, sondern quasi „narkotisiert“ (vgl. Eco 1985, S. 111): es wird nicht beachtet. Wie an der weiteren Auseinandersetzung deutlich wird, erweist sich die ikonographische Typisierung durch Aw als zu starr, d.h. sie verfehlt das präreflexiv ‚Gespürte’, über das sich die Gruppe im Modus konjunktiver Verständigung einigen konnte. Dabei wird die ikonographische Analyse durch ihre Explizitheit überhaupt erst angreifbar – bzw. positiv formuliert: Trotz ihrer schwachen Integrationsleistung schafft die ikonographische Explikation die Basis für eine argumentative Auseinandersetzung. Eine erste Unstimmigkeit moniert Bm noch während Aw das Orientierungsschema „Drogendeal“ expliziert: Der Drogenboss „... gießt sich selber erst ma ein ((lacht))“ (967) Offenbar empfindet Bm dies als Schemainkongruenz, die komisch wirkt.

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Legale vs. legitime Drogen Nachdem Aw ihre ikonographische Deutung mit den typisierenden Rollenzuweisungen beendet hat, schließt sich eine Pause von 6 Sekunden an, die Bm mit einem konzedierenden „na ok“ beendet und anfügt: „Alkohol is auch ne Droge ...“ (969). In dieser Sequenz löst sich die Gruppe kurzfristig vom Bild und verständigt sich in sehr allgemeiner Weise über die Klassifikation von Alkohol. Sowohl die Pause als auch die Steigerung des Abstraktionsniveaus verweisen auf das bereits bekannte Muster, mit dem der Bruch des Tabus (Thematisierung der Protagonisten, insbes. mit negativen Konnotationen) sanktioniert wird: Bm lenkt das Gespräch in harmlosere Gefilde. Diesmal fällt der Wechsel jedoch nicht so abrupt aus wie in früheren Fällen: Der ‚gefährliche’ Aspekt des Tabubruchs wird sogar bestätigt: Es geht um Drogen. Dabei präsentiert sich die Gruppe in kritischer Distanz zu den „normalerweise“ geltenden Kriterien, die ihren strengen moralischen Ansprüchen nicht genügen. Die Gruppe entwirft ihren eigenen moralischen Horizont, vor dessen Hintergrund auch Alkohol als Droge – sozusagen im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes – zu behandeln ist. Dabei bewegt sie sich weiterhin im Modus generalisierender Typisierung: Allgemein geteilte Orientierungsschemata werden expliziert und modifiziert. Durch die Veränderung des Orientierungsschemas „Alkohol“ verändert sich auch die Sicht auf die abgebildeten Personen. Bourdieu spricht von „symbolischen Kämpfe(n) hinsichtlich der Perzeption der sozialen Welt“ (z.B. 1992b, S. 147), die u.a. ausgetragen werden, „indem man versucht, die Kategorien der Wahrnehmung und Bewertung der sozialen Welt, die kognitiven und evaluativen Strukturen zu verändern: Es sind die Wahrnehmungskategorien, die Klassifikationssysteme, das heißt, im wesentlichen, die Wörter und Namen, die die soziale Wirklichkeit sowohl konstruieren als auch zum Ausdruck bringen“ (ebd. S. 148).

Mit der Betonung des Drogencharakters von Alkohol, der „normalerweise“ (972) „immer auch runterg´spielt“ werde, verschiebt die Gruppe das Klassifikationssystem: Nicht mehr die Legalität ist für die moralische Verurteilung entscheidend, sondern die Legitimität, die aus dem ‚verschärften’ Drogenbegriff der Gruppe resultiert. Damit wird die moralische Abgrenzung der Gruppe von den Protagonisten gerechtfertigt: Dass sich die Bildprotagonisten allem Anschein nach innerhalb der Grenzen der Legalität befinden, befreit sie nicht vom Verdacht der kriminellen Machenschaften. Gleichzeitig wird mit der Klassifikation des Alkohols als Droge die Ikonographie des Drogendeals ‚gerettet’. Dass sie bedroht ist, wird erst im Moment ihrer ‚Rettung’ deutlich: Bm scheint von Aw´s ikonographischer Deutung nicht überzeugt zu sein. Sein konzedierendes „na ok:“ (969) signalisiert, dass er ge-

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wisse Bedenken gegen die Ikonographie des Drogendeals hatte, die aber nun überwunden sind. Aus der Lösung des Problems lässt sich das Problem selbst ableiten: „Alkohol is auch ne Droge ...“ Bis Bm zu dieser Lösung kam, schien ein wesentliches Element für das Syntagma „Drogendeal“ zu fehlen: „ne Droge“. Im Modus kommunikativer Typisierung lassen sich auf Grundlage allgemein geteilter Konventionen im Bild offenbar keine Drogen entdecken. Nur unter Suspendierung der „normalerweise“ geltenden Konventionen und Anwendung der ‚verschärften’ Klassifikationsraster der Gruppe ND lässt sich bei Bild „Shantytown“ von Drogen reden. Ikonographie des „Drogendeals“ vs. Ikonologie der „Drogenhöhle“ Die kommunikativ-generalisierenden Äußerungen zur Ikonographie des „Drogendeals“ dieser Passage können als Vergleichshorizont an die konjunktive Verständigung gelegt werden, in der im Modus unmittelbaren Verstehens Übereinstimmung darin erzielt wurde, dass die abgebildete Situation einen „Touch nach Drogen“ (949) habe und als „Drogenhöhle“ (957) bezeichnet werden könne. Der kontrastive Vergleich zeigt, dass nicht im ‚wörtlichen’, denotativen Sinn von (illegalen) Drogen die Rede ist, obwohl dies ausdrücklich betont wurde (954-956). Der Wechsel der Verstehensmodi verbietet es jedoch, hier einen Widerspruch im logischen Sinn zu konstruieren: Im präreflexiven Modus des unmittelbaren Verstehens ist für die Gruppenmitglieder durchaus ‚nachfühlbar’, wieso man an (illegale) Drogen denken kann. Im Licht der kommunikativgeneralisierenden Explikation ist jedoch nicht die atmosphärische Ahnung Gegenstand des Diskurses, sondern der visuelle Sachverhalt, der keine Anhaltspunkte für das Vorhandensein illegaler Drogen liefert. Der „Touch nach Drogen“ und die „Drogenhöhle“ sind demnach nicht ikonographisch-denotativ zu verstehen, sondern metaphorisch25: Eine Metapher ist nicht lediglich ein rhetorisches Stilmittel zur Ornamentierung des ‚eigentlichen’ Sinngehalts, auf die auch verzichtet werden könnte. Sie strukturiert vielmehr die Erfahrung, indem sie einen Erfahrungsbereich in Konzepten eines anderen begreifen lässt. Blumenberg spricht von einer „logischen Verlegenheit“, „für die die Metapher einspringt“ (ders. 1998, S. 10). Metaphern ermöglichen demnach gerade eine unmittelbare Verständigung, wenn kommunikativ-generalisierende („logische“) Orientierungsschemata nicht zu Gebote stehen. Im wörtlichen Sinn sind Metaphern jedoch falsch (vgl. Bußmann 1990, S. 485). Gruppe ND sieht, d.h. strukturiert und deutet die Situation im Modus unmittelbarer Verständigung als Dro25

Dabei handelt es sich bei „Drogenhöhle“ nach wie vor um ein ikonographisches Schema, lediglich die Verwendung erfolgt metaphorisch im Modus konjunktiver Verständigung und ist daher habitusspezifisch.

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genhöhle, obwohl sie bei reflexiver Betrachtung weiß, dass keine anderen Drogen als Alkohol zu sehen sind. Zu prüfen ist, ob es sich auch um eine Focussierungsmetapher im Sinne Bohnsacks handelt oder um eine „begriffliche Metapher“. Die Focussierungsmetapher ist im Gegensatz zur begrifflichen Metapher in der Handlungspraxis ihrer Verwenderschaft verankert und gewinnt als erlebnismäßige Darstellung ihre besondere Qualität im Diskurs, wo sie das spezifische Relevanzsystem der Gruppe deutlich werden lässt. Dies ist bei der Drogen-Metapher der Fall, die ja gerade im Modus unmittelbaren Verstehens fungiert und alle Instanzen begrifflicher Kontrolle unterläuft. Ihren Sinn bekommt sie nicht aufgrund allgemein geteilter Konventionen, sondern unter Bezug auf das Relevanzsystem der Gruppe. Mit dem wenig präzisen Vorstellungsuniversum „Touch nach Drogen“ bzw. „Drogenhöhle“ versucht sich die Gruppe in ihrer „logischen Verlegenheit“ zu behelfen und die unbehagliche Stimmung zu umschreiben, für die ihr treffende Typisierungen nicht zur Verfügung stehen. Im Orientierungsrahmen der Gruppe erlangt die Metapher eine ‚Richtigkeit’, die ihr „normalerweise“ (ND 972), d.h. im Modus kommunikativ-generalisierender Verständigung nicht zukommt. Die reflexive Auseinandersetzung der Gruppe mit der Ikonographie des Drogendeals bildet somit einen fallinternen Gegenhorizont, vor dem gezeigt werden kann, dass der Begriff der „Drogenhöhle“ metaphorisch verwendet wird. Inkongruenzen des Schemas „Drogendeal“ Im weiteren Verlauf diskutiert die Gruppe kommunikativ-generalisierend das Schema des Drogendeals und seine Eignung, das Bild „Shantytown“ zu strukturieren. Dabei herrscht innerhalb der Gruppe Uneinigkeit darüber, inwieweit einzelne Bildelemente mit diesem Schema vereinbar sind. ND 976-993 Cw: Wenn die beiden nen Geschäft abwickeln würden, dann stört die Frau eigentlich da im Hintergrund. (S´ passt nich) Bm: Ja, oder ... Aw: Vielleicht is des auch´n Kind. Des weißt du nich .... Bm: ((gleichzeitig mit Aw p)) ... oder wenn se n´Geschäft abwickeln Aw: ((gleichzeitig mit Bm n)) ... s´könnte auch n´Kind sein Bm: ... auf´n Geschäft anstoßen, dann mach ich des nich irgendwie mit´ner ... Flachmann und m´Plastikbecher ... Aw: ((gleichzeitig mit Bm p)) S´kommt immer drauf an, in welchen Kreisen du bist, wahrscheinlich Bm: ((gleichzeitig mit Aw n)) .... also und dann auf ..... vielleicht eher mit Sekt oder was ... Cw: ja. Bm: Hm. Aw: S´kommt immer auf die Kreise an, weil des is wahrscheinlich ....

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(dann) .... s´niedrigste Niveau, des sin die kleinsten ... dann trink ich gleich zusammen aus der Flasche ... ((lacht)) (Und überhaupt schon dieser) Plastikbecher, des is ja schon niveaulos genug

So erscheint bspw. die Anwesenheit einer Frau bei der „Abwicklung“ eines „Geschäfts“ problematisch. Nach Ansicht Bm´s spricht gegen das Schema Bm zudem, dass mit Flachmann und Plastikbecher auf einen Geschäftsabschluss angestoßen wird. En passant hat Bm dabei die Funktion des Alkohols umgedeutet: Er ist nicht mehr die Droge, die Gegenstand des Handels ist, sondern Mittel zur Feier des Geschäftsabschluss. Alle Einwände weist Aw, die das Schema „Drogendeal“ auch in den Diskurs eingeführt hatte, im kommunikativgeneralisierenden Modus zurück. Gegen den letzten Einwand Bm´s führt sie den niedrigen sozialen Status der abgebildeten Personen ins Feld („die kleinsten“ und „niveaulos genug“) und grenzt sich damit nun auch in sozialer Hinsicht (nach der moralischen und der physischen Distanzierung) vom Bildgeschehen ab. Formalanalyse als Ablenkungsmanöver Bm verfolgt im Anschluss daran seine Argumentation (Flachmann passt nicht zum Geschäftsabschluss) nicht weiter, sondern lacht stattdessen kurz und lenkt dann die Debatte von der Erörterung ikonographischer Probleme auf eine vorikonographische Beobachtung („Die Hand is so groß irgendwie“; 994), die ikonisch erweitert wird („s´ragt voll in dem ... in des Bild rein“; 994). Möglicherweise wiederholt sich hier das bekannte Muster des Ablenkungsmanöver: Auf eine negativ zu verstehende Charakterisierung der Protagonisten durch Aw lacht Bm zunächst und initiiert dann ein neues Thema (vgl. 891-895; 968/969). Bm´s formalanalytische Beobachtung wird hier zunächst aufgegriffen, elaboriert und ratifiziert, mündet nach relativ kurzer Auseinandersetzung jedoch in eine ‚Sackgasse’: einer Pause von 10 Sekunden. Die geringe Relevanz für die Gruppe, die sich in dieser Themenkarriere dokumentiert, verstärkt den Eindruck, das Thema sei ohne tieferes Interesse allein aus Ablenkungsgründen initiiert worden. Verharmlosung durch Naturalisierung Die lange Pause von 10 Sekunden beendet Bm, indem er dem festgefahrenen Diskurs eine neue Wendung gibt. Er versucht gegen Ende der Diskussion noch einmal quasi einen ‚unvoreingenommenen’ Blick auf das Bild zu bekommen, indem er sich zurück auf die vor-ikonographische Sinnebene begibt:

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ND 999-1027 Bm: ((10)) ... obwohl´s eigentlich ... n´relativ alltäglich- n´relativ alltägliche Situation is: Je mand schenkt halt jemand anders was zu trinken ein ((5)) Aw: Aber nix Alkoholisches aus´m Flachmann in´n Plastikbecher .. Bm: Ahm, des Alkoholische vermut´ma jetzt einfach mal. Man kann auch was anderes ... in so ner Flasche reintun. Aw: Ja, aber in´nen Flachmann ähm .... Bm: ja, pfff Aw: ... glaub ich nich, dass jemand was anderes als was Alkoholisches reintun würd. Cw: ... aber n´Flachmann is für mich silber ... Bm: ((gleichzeitig mit Cw p)) ja und das is ne Glasflasche Cw: ((gleichzeitig mit Bm n))... und das is ne durchsichtige Flasche Aw: Hm. Bm: Da kannst alles reintun. Des Getränk is auch durchsichtig: Kann Wodka sein, kann auch Wasser sein. Cw: Jahm, ... Bm: also ? Cw: .... aber´s sieht nich nach ner Wasserflasche aus ... Bm: (na-gut) Cw: ... sieht schon nach Alkohol aus Bm: ... kannst alles reinfüllen ... Aw: .... reinfüllen - klar. Aber ... also ich ... ich würd´ Wasser nie in so ne Flasche reinfüllen ... Bm: ((gleichzeitig mit Aw p)) ... ich auch net .... ja, ich auch net unbedingt ... Aw: ((gleichzeitig mit Bm n)) ... des is ne typische Form für ne Alkoholflasche ... wie Strohrum eben ((leises Lachen)) Bm: ... woher weißt´n, wie des ausschaut? Cw: ((lacht leise)) Aw: ... braucht ma doch zum backen ... Bm: ... ja klar. ((lacht)) ((22))

Dabei versucht Bm gewissermaßen, die bisherige Diskussion ‚beiseite zu schieben’ und das Bild zu ‚entzaubern’, indem er es auf seine harmlosesten Komponenten („schenkt halt (...) ein“; Herv. B.M.) reduziert und damit seine zuvor geäußerte Beklemmung gegenstandslos macht. Dass diese Verharmlosung nur unter Vorbehalten erfolgt, zeigt seine nachhaltige Betonung der Relativität der Alltäglichkeit: ‚Absolut’ alltäglich ist die Situation demnach nicht. Diese vorikonographische Beschreibung präsentiert Bm als die „eigentliche“ Bedeutung der Situation. Damit blendet er weltanschauliche Aufladungen (wie sie mit der ikonologischen Sinnbildung verbunden sind) aus. Mit Barthes kann von einem „Unschuld spendende(n), reinigende(n) Bad“ (Barthes 1990b, S. 45) gesprochen werden, in das die weltanschaulichen oder ideologischen Sinngehalte eintauchen, wenn sie auf die unmittelbare Anschaulichkeit der vor-ikonographischen Ebene reduziert werden. Durch den „semantischen Trick“ (ebd. S. 40) der „Desintellektualisierung“ (ebd.) erscheinen kultu-

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rell aufgeladene Zeichen als natürliche Zeichen und dadurch als „unschuldig“ (ebd.). Auf diese Weise werde der ideologische Sinngehalt „naturalisiert“ (ebd.): „Die Natur scheint spontan die dargestellte Szene hervorzubringen“ (ebd.). Stuart Hall sieht darin einen „ideologischen Effekt“, da das Ausblenden möglicher ideologischer Bedeutungsdimensionen selbst ideologischen Charakter habe (Hall 1999, S. 99 u. S. 101). Diese reduktionistische Tendenz der „Verharmlosung“26 und Desintellektualisierung wird auch an Bm´s Proposition deutlich. Sie dokumentiert sich insbesondere an der zwischengeschalteten Partikel „halt“27 (1000): ‚Mehr ist zu dieser Situation nicht zu sagen’. Den verwickelten Sinnangeboten des Bildes setzt Bm die unmittelbare Evidenz der visuellen Sachverhalte entgegen. Bm wird nicht vom Bild manipuliert, sondern manipuliert nun selbst: Er „reinigt“ die ikonologische Sinnebene, auf der er in einer vorangegangenen Phase selbst argumentiert hat, und bearbeitet das Bild nun, indem er die vorikonographische Ebene als die „eigentliche“ ausgibt. Dabei ist Bm´s Vorgehen nicht deshalb manipulativ, weil seine Beschreibung falsch wäre, sondern weil sie selektiv ist – und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen blendet er die paradigmatische Achse der ikonologischen Sinngehalte nahezu komplett aus, zum andern wählt er auf der syntagmatischen Achse nur einige Elemente aus und vernachlässigt konfliktträchtige Elemente wie z.B. das Jesusbild. Auch die Protagonisten werden unter Wahrung des Tabus ohne jede weitere Spezifizierung als „jemand“ bezeichnet und damit auf ihre grammatikalische Funktion als Satzsubjekt und -objekt reduziert. Sowohl die sehr explizite und wenig anspielungshafte Argumentationsweise Bm´s als auch die geringe Akzeptanz seiner Ausführungen durch die übrigen Gruppenmitglieder spricht m.E. nicht dafür, dass Bm´s selektive Bildbeschreibung im konjunktiven Erfahrungsraum der Gruppe verankert ist. Die Lesart, die Bm in möglicherweise betonter Arglosigkeit der teilweise sehr engagierten Auseinandersetzung der Gruppe mit Bild „Shantytown“ gegenüberstellt, wirkt in ihrer Schlichtheit eher so, als wollte Bm damit Widerspruch provozieren. Nach einer Pause von 5 Sekunden wird auch Widerspruch laut: Aw weist auf 26

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Den Effekt der „Verharmlosung“ erläutert Barthes auch noch in einem anderen Zusammenhang und führt aus, dass dieser Effekt kulturelle Bedeutungen nicht leugne: „Er reinigt sie nur einfach, er macht sie unschuldig, er gründet sie als Natur und Ewigkeit, er gibt ihnen eine Klarheit, die nicht die der Erklärung ist, sondern die der Feststellung. (...) Indem er von der Geschichte zur Natur übergeht, bewerkstelligt (...) >er@ eine Einsparung. Er schafft die Komplexität der menschlichen Handlungen ab und leiht ihnen die Einfachheit der Essenzen, er unterdrückt jede Dialektik, jedes Vordringen über das unmittelbar Sichtbare hinaus, er organisiert eine Welt ohne Widersprüche, weil ohne Tiefe, eine in der Evidenz ausgebreitete Welt, er begründet eine glückliche Klarheit. Die Dinge machen den Eindruck, als bedeuteten sie von ganz allein.“ (Barthes 1964, S. 131 f.) i.e. süddt. für „eben“ i.S. der Verstärkung einer „resignierten Feststellung“ (Duden 1989, S. 655 + 384): „Er ist eben zu nichts zu gebrauchen“.

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Elemente hin, die das Bild seiner (relativen) Alltäglichkeit entreißen: Alkohol, Flachmann und Plastikbecher (1001). Diese Bildelemente sind es nach Aw´s Meinung, die die Besonderheit des Bildes begründen. Auch diese Beschreibung, was das Bild ‚besonders’ macht, zeichnet sich durch eine eigentümliche Selektivität aus. Dies wird deutlich, wenn man ihr die Bildelemente gegenüberstellt, die von den beiden Vergleichsgruppen als erstes thematisiert wurden und die insofern als besonders ‚augenfällig’ angesehen werden können: Jesus(-Bild), Schwarze und Alkohol. Aw erwähnt dagegen nur den Alkohol als gruppenübergreifend geteilte Auffälligkeit. Dass sie im Gegensatz zu den Vergleichsgruppen die Ethnie der Protagonisten nicht thematisiert, spricht dafür, dass das Tabu weiterhin in Kraft ist. Aber auch das von Gruppe ND besonders bemerkte Jesusbild, „wasses nur noch schlimmer macht“ (934), wird an dieser Stelle ausgeblendet. Vor dem Gegenhorizont der Sinnbildungsprozesse der Vergleichsgruppen und auch vor dem Hintergrund der bisherigen Auseinandersetzung der Gruppe ND selbst („irgendwas stimmt nicht; ND 927) erscheint Aw´s Widerspruch gegen die ‚verharmlosende’ Lesart Bm´s („alltägliche Situation“) nachvollziehbar und gerechtfertigt. Unplausibel erscheinen dagegen die expliziten Gründe, die sie dafür anführt. Auch Aw´s Betrachtung des Bildes weist demnach ‚blinde Flecken’ auf, die sich teilweise mit denen Bm´s überlappen (Jesusbild, Schwarze). Bm widerspricht Aw´s Einwurf mit vor-ikonographischer Exaktheit: „Ahm, des Alkoholische vermut´ma jetzt einfach mal. Man kann auch was anderes ... in so ner Flasche reintun.“ (1002/1003). Er setzt damit seine Strategie der ‚Reinigung’ des Bildes von kulturellen und weltanschaulichen Konventionen fort, indem er es auf die vor-ikonographischen Sachverhalte reduziert. Bm´s Gegenargument wird zunächst von Cw mitgetragen. Daraufhin stellt Bm Aw herausfordernd zur Rede: „also?“ (1014). In diesem Moment wechselt Cw die Fronten („... aber´s sieht nich nach ner Wasserflasche aus ...“; 1015). Dies führt zum sofortigen Einlenken Bm´s („na gut“; 1016), dem lediglich ein „... kannst alles reinfüllen ...“ (1018) nachgeschoben wird. Nachdem Bm zugestanden hat, dass auch er den Flascheninhalt für Alkohol hält, fasst Aw schließlich zusammen: „... des is ne typische Form für ne Alkoholflasche ... wie Strohrum eben“ (1021/1022). Die ‚Schieflage’ der argumentativen Bezugnahme in dieser Sequenz wird nochmals an einem letzten ‚Haken’ deutlich, den Bm schlägt: Er gibt Aw zwar der Sache nach recht (es ist doch Alkohol), versucht sie aber moralisch zu kompromittieren: Mit dem Hinweis auf die Strohrumflasche gibt Aw zu erkennen, dass ihr eine Strohrumflasche nicht unbekannt ist. Dieses Wissen hält Bm offenkundig für diskreditierend. Als ob Aw mit diesem Eingeständnis in eine Falle getreten sei, fragt Bm nach der Herkunft ihres Wissens (1024). Vermutlich insi-

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nuiert Bm eine bestimmte Antwort, der man nur gedankenexperimentell nachspüren kann: Aw kennt die Form der Strohrumflasche deshalb, weil sie selbst Alkohol konsumiert. Doch diese naheliegende Antwort gibt Aw nicht, ihre Version unterbietet die gedankenexperimentell erzeugte Antwortmöglichkeit an Harmlosigkeit bei weitem: Die Form einer Strohrumflasche ist Aw aus dem ‚trauten’ Kontext des Backens vertraut. Statt in die ‚Falle’ Bm´s zu gehen, pariert Aw seine Unterstellung, indem sie sich als ‚biedere Hausfrau’ präsentiert (1026), der Alkohol nur vom Backen bekannt ist. Bm ratifiziert diese Erklärung (1027), wobei sein anschließendes Lachen und die betont affirmative Formulierung („... ja klar“) als Ironiesignale verstanden werden können: Er ist von Aw´s Erklärung nicht überzeugt. Eine Pause von 22 Sekunden signalisiert, dass das Thema für die Gruppe hinreichend bearbeitet wurde. Damit endet die Auseinandersetzung mit Bild „Shantytown“, bevor es in der abschließenden Resümeephase nochmals aufgegriffen wird. Resümee des kommunikativen Teils der Sinnbildungsphase Dieses Ende wirkt, als habe sich die Gruppe ND im Anschluss an die Stimmungsschilderung in von ihr selbst nicht wirklich geglaubten Spekulationen ‚verloren’: Zunächst brachte Aw das ikonographische Orientierungsschema des „Drogendeals“ in den Diskurs ein und versuchte dadurch möglicherweise das bedrückende Stimmungserlebnis zu rationalisieren. Diese Schemaapplikation stieß jedoch auf ikonographische Kritik von Seiten der übrigen Gruppenmitglieder. Dennoch eröffnete dieses explizite Orientierungsschema der Gruppe die Möglichkeit, in den Modus kommunikativ-generalisierender Verständigung zurückzukehren. Von dieser Warte blickt Bm auf die Stimmungsschilderung im Modus unmittelbare Verständigung zurück und wirft die implizit bleibende Frage auf, wieso die Gruppe das Bild als so unangenehm erlebt - „((10)) ... obwohl´s eigentlich ... n´relativ alltäglich- n´relativ alltägliche Situation is: Jemand schenkt halt jemand anders was zu trinken ein ((5))“. Diese Situationsbeschreibung ist hochgradig selektiv und blendet die Bildelemente aus, die von Gruppe ND selbst als konfliktträchtig thematisiert bzw. in auffälliger Weise nicht thematisiert wurden und von den Gruppen SA und AH an erster Stelle genannt wurden. Daran anschließend kommt es zu einem merkwürdigen ‚Wortgefecht’ zwischen Bm und Aw, indem ‚blinde Flecke’ in der Wahrnehmung des einen Gruppenmitglieds durch ‚blinde Flecke’ des anderen kritisiert werden. Schließlich ‚verkämpft’ sich die Gruppe in der Erörterung eines vor-ikonographischen Detailproblems (Alkohol oder nicht?), die in einer Ironisierung von Aw´s vorgeblich strengen moralischen Grundsätzen bzgl. Alkohol mündet. Die Auseinandersetzung endet mit der Scheinkonklusion auf einem ‚Nebenkriegsschau-

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platz’ – die mitlaufende Frage, die auch schon die Ikonographie des Drogendeals beantworten sollte, warum das Bild auf die Gruppe so bedrückend wirkt, wird letztlich nicht (explizit) beantwortet. Offen bleibt, ob die Gruppe eine Lösung hat und sie nicht artikuliert, oder ob diese Frage auch für die Gruppe unbeantwortet ist. In jedem Fall ist sie an einer weiteren Klärung nicht interessiert, da sie die Auseinandersetzung mit Bild „Shantytown“ in einer extrem langen Pause auslaufen lässt. 2.2.4 Resümee Eine Besonderheit der Gruppe ND, die im gruppenübergreifenden Vergleich der Einstiegssequenzen sichtbar wurde, diente der Strukturierung des ersten Teils der Fallanalyse: Die Nicht-Thematisierung des Hauptprotagonisten. Als „Vermeidungsthese“ wurde dieses auffällige Übergehen diskutiert und gefragt, ob Gruppe ND hier ein Tabu wahrt. Im Anschluss daran konnten zwei Focussierungsmetaphern rekonstruiert werden, in denen sich das präreflexive Ahnen und konjunktive Erleben der Gruppe ND bei der Rezeption von Bild „Shantytown“ verdichtet. Im Kontrast mit den beiden Vergleichsgruppen wurde hier die Eigentümlichkeit der Sinnbildungsprozesse von Gruppe ND deutlich. Die Sinnbildung wird somit nicht einseitig durch Initiativen des Bildes determiniert. Sie kann vielmehr als Interaktion von Bild und Rezipierenden betrachtet werden bzw. in den Worten Bourdieus als das Zusammentreffen zweier „Geschichten“ (vgl. Bourdieu 1993a, S. 18; Bourdieu 1993, S. 109 f., Fn. 1) – nämlich der im Habitus sedimentierten kollektiven Geschichte der Rezipierenden und der im Bild objektivierten Geschichte der abgebildeten Szenerie. Um den Sinnbildungsprozess in nascendi, d.h. in seiner Prozesshaftigkeit, zu rekonstruieren, wurde bislang der Diskursdramaturgie des sich sequentiell aufschichtenden Interaktionsprozesses der Gruppe ND gefolgt – also der Interaktion zwischen den Gruppenmitgliedern, in der sich die Interaktion zwischen Bild und Rezipierenden manifestiert. Resümierend sollen nun die beiden Faktoren der Interaktion – die Orientierungsmuster der Gruppe ND und das Bild in der Perspektive der Gruppe ND – nicht mehr sequentiell, sondern summarisch analysiert werden. Auch dabei sollen die beiden Faktoren nicht isoliert, sondern in ihrer wechselseitigen Relationalität betrachtet werden. Anhand der Vermeidungsthese und der Focussierungsmetaphern werden zunächst (2.2.4.1) die Orientierungsmuster der Gruppe ND, die die Rezeption des Bildes „Shantytown“ strukturiert haben, zusammengefasst und im Vergleich mit den anderen Gruppen konturiert. Sodann (2.2.4.2) wird Bild „Shantytown“ aus der Perspektive der Gruppe ND resümierend beschrieben.

Empirische Fallrekonstruktionen

294 2.2.4.1 Orientierungsmuster der Gruppe ND Vermeidungsthese/Tabu

„Jeder Ausdruck stellt einen Kompromiss zwischen einem Ausdrucksinteresse und einer Zensur dar, die in der Struktur des Feldes besteht, in dem dieser Ausdruck angeboten wird, und dieser Kompromiss ist das Produkt einer Euphemisierungsarbeit, die bis zum Schweigen gehen kann, dem Grenzfall des zensierten Diskurses. Mit dieser Euphemisierungsarbeit wird dann etwas produziert, was eine Kompromissbildung ist, eine Verbindung aus dem, was gesagt werden sollte oder wollte, und dem was bei einer gegebenen, für ein bestimmtes Feld konstitutiven Struktur gesagt werden konnte.“ (Bourdieu 1993d, S. 131)

Mit auffälligem Schweigen wird im Diskurs der Gruppe ND der Hauptprotagonist des Bildes bedacht. Dies wurde unter dem Begriff „Vermeidungsthese“ als stillschweigendes Tabu am Text en detail nachgewiesen. Mit Bourdieu kann davon ausgegangen werden, dass der Diskurs so stark zensiert wurde, dass das Ausdrucksinteresse nahezu vollständig unterdrückt wurde. In mehreren kontrastiven Vergleichen wurde herausgearbeitet, dass es bei den Gruppen AH und SA durchaus ein Ausdrucksinteresse gibt, den Hauptprotagonisten zu thematisieren und ihn als „Schwarzen“ zu bezeichnen. Dieses Interesse wird durch keine Zensur zum Verstummen gebracht. Bei Gruppe SA geht das Ausdrucksinteresse noch weiter: Hier wird eine Zensurinstanz explizit gemacht und übermütig herausgefordert: SA 666-678 Aw: S´könnt´aber a irgendwo so Papua-Neuguinea sein, die sehn a so aus ... sind so Plattnasen - entschuldige ... aso, ich mein ... ((Lachen)) ... nein, s´isch so, s´isch so nich so, gemischt ... also ((lacht)) Cw: Gemischt ? Bitte? Aw: Vermischt, also ... Bm: Durch ... durch-rasst ((lachen; unverständlich)) hat doch unser aller Freund Stoiber gesagt ... Aw: Nein, ich mein, es sind so Urschwarze, glaub ich, also so ... Cw: Alles, was de jetzt noch sagst, kann und wird gegen dich verwendet werden ((Unverständlich, Lachen)) Bm: ((Lachen)) Aw: Nein, I-ich ... s´isch halt ... Bm: Political correct is des eh schon lang nimmer ((Lachen)) ((3))

Zensurinstanz ist offenbar die Norm der Political Correctness, die in dieser Passage durch Bm und Cw vertreten wird. Die Political Correctness umfasst insbesondere sprachliche Normen und regelt die nicht-diskriminierende Benennung gesellschaftlicher Minderheiten. Die Begriffe „Plattnasen“, „gemischt“ und „Urschwarze“ stellen eine grobe Verletzung dieser Regeln dar. Aw´s scher-

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zender Umgang mit rassistischem Vokabular wird daher von Bm und Cw gerügt – allerdings ebenfalls scherzend. Man kann davon ausgehen, dass auch Gruppe ND um die Existenz politisch korrekter Sprachregelungen weiß – seit Beginn der 90er Jahre war „p.c.“ nicht mehr nur ein Thema an amerikanischen Hochschulen, sondern wurde Gegenstand einer breiten Medienberichterstattung auch in Deutschland. Geht man davon aus, dass die Norm der Political Correctness als unartikulierter Gegenhorizont hinter dem Diskurs der Gruppe ND aufgespannt ist, so lässt sich die Vermeidungsthese präzisieren: Gruppe ND weiß, dass es bei der Thematisierung von Schwarzen gesellschaftliche Normen zu berücksichtigen gilt. Diese Normen sind der Gruppe zwar bekannt, werden von ihr aber nicht unbewusst als Teil ihres praktischen Wissens angewandt. Das Wissen um politisch korrektes Verhalten würde demnach nicht zum ‚urwüchsig’ erworbenen Wissen der Gruppe ND gehören, sondern zum Bereich des explizit erlernten Regelwissens. Aufgrund des schulischen und beruflichen Werdegangs der Gruppenmitglieder und des kulturellen Kapitals ihrer Eltern wurde oben in einer kausalgenetischen ‚Andeutung’ vermutet, dass der Habitus der Gruppenmitglieder im Laufe der Sekundärsozialisation in wesentlichen Aspekten restrukturiert wurde und dadurch Brüche mit dem ‚urwüchsig’ in der Herkunftsfamilie erworbenen Habitus nötig wurden (oder gerade werden). Bourdieu stellt einen Zusammenhang her zwischen dem „‚falschen’ Aneignungsmodus“ (Bourdieu 1981, S. 191) von kulturellem Kapital einerseits (d.h. dem expliziten Erlernen im Laufe der Sekundärsozialisation an Stelle des mimetischen Erwerbs während der Primärsozialisation), und der „Unsicherheit und ständigen Sorge über das ‚richtige’ Benehmen“ (ebd.) andererseits. Im Umgang mit den sprachlichen Normen der Political Correctness dokumentiert sich daher möglicherweise der Modus, in dem sich Gruppe ND wesentliche Elemente ihres kulturellen Kapitals angeeignet hat „als Schüchternheit, als Gehemmtheit dessen, dem in seinem Leib und seiner Sprache nicht wohl ist, der beides, statt mit ihnen eins zu sein, gewissermaßen von außen, mit den Augen der anderen betrachtet, der sich fortwährend überwacht, sich kontrolliert und korrigiert, der sich tadelt und züchtigt und gerade durch seine verzweifelten Versuche zur Wiederaneignung eines entfremdeten ‚Seins-für-den-Anderen’ sich dem Zugriff der anderen preisgibt, der in seiner Überkorrektheit so gut sich verrät wie in seiner Ungeschicklichkeit (...).“ (Bourdieu 1987, S. 331)

Aus Unsicherheit, den Protagonisten im Sinne der Political Correctness falsch zu bezeichnen – so kann vermutet werden –, thematisiert ihn Gruppe ND lieber gar nicht. Das Tabu, mit dem die Thematisierung des Schwarzen in Gruppe ND belegt ist, kann daher nicht als Hinweis auf rassistische Einstellungen der Gruppe gewertet werden. Vielmehr fürchtet die Gruppe, sich den Vorwurf des Ras-

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sismus zuzuziehen. Gruppe ND wahrt das Tabu, als ob sie tatsächlich fürchten würde, was Gruppe SA nur ironisierend als Drohung formuliert: „Alles, was de jetzt noch sagst, kann und wird gegen dich verwendet werden“ (674). Als besonders prekär wird von der Gruppe aber nicht nur die Ethnie des Protagonisten erlebt, sondern die Ethnie in Kombination mit einer negativen Attribuierung des Protagonisten: Insbesondere die Thematisierung seines Trunkenheitszustandes führt wiederholt zum abrupten Themenwechsel. Bereits aus der ersten Äußerung der Gruppe zu Bild „Shantytown“ geht hervor, dass das Thema „Alkohol“ stark negativ besetzt wird. Diese negative Beurteilung wagt die Gruppe offenbar nicht im Zusammenhang mit dem Protagonisten zu explizieren. Eine moralische Distanzierung den Protagonisten gegenüber schlägt dennoch durch, die bis zur Unterstellung krimineller Machenschaften reicht. Die betont harmlose Bildbeschreibung Bm´s (‚eigentlich eine relativ alltägliche Situation’; 999/1000) ist möglicherweise vor der Verschränkung dieser beiden Hintergründe zu sehen: Der moralischen Distanzierung, die bis zur Kriminalisierung geht, einerseits und andererseits der Orientierung an den Geboten der Political Correctness, die negative Beurteilungen von Schwarzen als riskant erscheinen lassen. Gruppe ND erkennt die Regeln der Political Correctness offenbar als legitim an, obwohl sie ihr ‚fremd’ sind, d.h. obwohl sie vermutlich nicht in ihren elementaren Wertüberzeugungen verwurzelt sind. Die Idee der Political Correctness verfolgt durch Kritik von Diskriminierungen insbesondere das Ziel der Chancengleichheit und setzt sich für die Belange unterprivilegierter Minderheiten ein. Dieses stellvertretend für andere Partei ergreifen steht in Kontrast zum individualistischen Ethos, das als ein möglicher Orientierungsrahmen der Gruppe ND herausgearbeitet wurde. Dennoch fühlt sich die Gruppe ND in der Auseinandersetzung mit Bild „Shantytown“ an die Normen der P.C. gebunden. Mit Bourdieu ist zu fragen, wie und wodurch das „Feld“ strukturiert ist, durch das die Zensur der P.C. das Ausdrucksinteresse der Gruppe teilweise zum Schweigen bringt, d.h. ob die Geltung der Political Correctness durch die besondere Situation der Gruppendiskussion und die Anwesenheit eines Diskussionsleiters aktualisiert wird, oder ob die vorsichtige Befolgung auch heteronomer Regeln ein genereller Zug des Gruppenhabitus ist. Obwohl diese Frage hier nicht abschließend zu beantworten ist, kann daraufhingewiesen werden, dass sich die Anwesenheit des gleichen Diskussionsleiters bei den anderen Gruppen nicht in so eklatanter Weise als Zensurinstanz auswirkte. So lassen sich im Diskurs der Gruppe AH keine Hinweise auf einen Horizont politisch korrekter Normen finden, vor dem das Bild betrachtet würde. Explizit benannt wird die Political Correctness von Gruppe SA. Wie die oben angeführte Passage jedoch zeigt, geht Gruppe SA damit in vollkommen anderer

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Weise um als Gruppe ND. Für Gruppe SA bildet die Political Correctness keinen unartikulierten Gegenhorizont, der angstvoll respektiert wird. In frivolem Spiel werden die Normen der P.C. vielmehr wissentlich und willentlich verletzt. Dabei zieht Gruppe SA aus dem ironischen Spiel mit betont ‚unkorrekten’ Begriffen intellektuellen Lustgewinn. Die ironische Tonlage stellt zugleich sicher, dass das rassistische Vokabular im Modus der uneigentlichen Rede verstanden wird. Wie aus der Eingangsäußerung („Mir sind net sozialkritisch ...“; 618) und aus dem verabschiedeten Titelvorschlag („Kleine Fluchten“, 787-791) hervorgeht, bewegt sich die Gruppe durchaus innerhalb des konjunktiven Orientierungsrahmens der Political Correctness. Der Umgang mit der Political Correctness von Gruppe SA ist demnach durch implizite Akzeptanz und explizite Ironisierung gekennzeichnet. Dies wäre jedoch in einer detaillierten Analyse des Diskurses von Gruppe SA genauer zu untersuchen. Die Strategie des Vermeidens kann somit dem besonderen modus operandi der Gruppe ND zugerechnet werden, da die Gruppen SA und AH andere Wege finden, sich mit der Political Correctness auseinanderzusetzen (bzw. sich gar nicht damit beschäftigen). Als einen Kompromiss zwischen Ausdrucksinteresse und Zensur bezeichnet Bourdieu jeden Ausdruck (s.o.). Im kontrastiven Vergleich konnte als eine mögliche Zensurinstanz die Norm der Political Correctness herausgearbeitet werden. Sie wirkt im Diskurs der Gruppe ND offenbar so stark, dass es hinsichtlich der Thematisierung des Hauptprotagonisten zu keinem Kompromiss kommt: Die Zensur bringt das Ausdrucksinteresse vollständig zum Verstummen. Das ‚Ringen’ mit der Zensur wird an einer Passage besonders deutlich, an der sich das Ausdrucksinteresse eines expliziten Begriffs bedient. Um sich gegen die Zensur abzusichern, kann dieses Schema aber nur mit vielen Vorsichtsmaßnahmen und Skrupeln an das Bild herangetragen werden: „Will jetzt nich sagen, dass des irgendwie ne Säuferhöhle is oder so ...“ (875/876; Herv. B.M.). Diese Vorgehensweise („Man will ja nichts gesagt haben“) kann als konfliktscheu bezeichnet werden. In ihr dokumentiert sich vermutlich eine wesentliche Facette des modus operandi der Gruppe ND. Focussierungsmetaphern Zwei Focussierungsmetaphern konnten im Diskurs der Gruppe ND rekonstruiert werden, in denen das Ausdrucksinteresse der Gruppe möglicherweise ein ‚Ventil’ findet. Mit beiden Focussierungsmetaphern gelingt es der Gruppe, ihre diffusen und präreflexiven Ahnungen bzgl. des Bildes („irgendwas stimmt nicht“), die sich reflexiver Durchdringung und begrifflicher Explikation entziehen, zu bündeln. Im „Touch nach Drogen“ (949) bzw. in der „Drogenhöhle“ (957) finden sich Hinweise auf die Situationsdeutung der Gruppe ND. Implizit werden

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dabei die Protagonisten, deren Thematisierung (insbesondere mit negativen Attributen) einem Tabu unterliegt, als Kriminelle angesprochen. Insofern kann diese Metapher als Kompromiss zwischen Zensur und Ausdrucksinteresse bezeichnet werden. Im wörtlichen Gebrauch erweisen sich diese Metaphern im Gruppendiskurs jedoch als falsch. Stärker noch gelingt es der handlungspraktischen Focussierungsmetapher („Wenn ich eine Türe auf machen würde und würde das sehen: ich würde nicht reingehen“; vgl. 916-960) die Empfindungen der Gruppe „auf den Punkt“ zu bringen. Sie umschreibt, wie die Gruppe körperlich handelnd mit der abgebildeten Szene interagieren würde. Als zentrale Orientierungsfigur des Diskurses wird sie mehrfach bekräftigend wiederholt. Diskursdramaturgisch zeichnet sich diese Phase durch eine hohe interaktive Dichte, starke wechselseitige Bezugnahmen und ineinandergreifende Redebeiträge aus. Die Gruppe scheint an dieser Stelle ‚mit einer Stimme’ zu sprechen bzw. – um eine Formulierung Karl Mannheims aufzugreifen – „sich seelisch-geistig gegenseitig >zu@ steigern“ (ders. 1964b, S. 547). Solche Steigerungen der metaphorischen und interaktiven Dichte sind für Focussierungsmetaphern charakteristisch (Bohnsack 1999, S. 75 passim). Auf die unbehagliche Stimmung des Bildes, so wurde argumentiert, bezieht sich auch das eingangs geäußerte Sprichwort („Alkohol bringt Birne hohl“), indem sich möglicherweise ein individualistisches Ethos dokumentiert. Während sich die Gruppe über das Sprichwort moralisch vom Bildgeschehen zu distanzieren sucht, dokumentiert sich in der praktischen Bezugnahme („Türe schließen“) der Wunsch nach physischer Distanzierung. Diese distinktive Haltung gegenüber dem Bildgeschehen (die im späteren Diskursverlauf um die soziale Dimension erweitert wird) bildet den positiven Gegenhorizont der Gruppe. Ihm gegenüber stehen zwei negative Gegenhorizonte, die für die Gruppe eine prekäre Rolle spielen: Sie grenzt sich nicht von ihnen ab, da sie mit ihnen auf unterschiedliche Weise ‚verstrickt’ ist. Der eine negative Gegenhorizont dokumentiert sich in der Auseinandersetzung mit dem Jesusbild als ein christlich geprägtes Ethos. Dabei handelt es sich möglicherweise um das Ethos des Herkunftsmilieus, mit dem die Gruppe vermutlich nicht vollständig gebrochen hat, dem sie aber auch nicht mehr vollständig verbunden ist. Den anderen negativen Gegenhorizont bildet das Ethos eines weder spezifizierten, noch thematisierten Milieus, das in der Gruppe aber anscheinend so viel Legitimität genießt, dass seine Ethik28 für Gruppe ND als Zensurinstanz wirkt: Die Ethik der Political Correctness.

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Zu Bourdieus Unterscheidung von Ethos und Ethik siehe oben.

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Die Rolle dieser negativen Gegenhorizonte ist prekär, da sich die Gruppe durch die Verstrickung nicht von ihnen abgrenzen kann. Eine distinktive Selbstdefinition wird dadurch erschwert. Zudem postulieren beide negative Gegenhorizonte tendenziell eine solidarische Hinwendung zum Bildgeschehen. Dadurch wird der Distanzgewinn, der durch die Ethosformen der positiven Gegenhorizonte ermöglicht werden könnte, unterlaufen. Dies führt bei Gruppe ND möglicherweise zu einem Orientierungsdilemma. Es stellt sich damit die Frage, ob die Focussierungsmetapher lediglich die Empfindungen bezüglich der bedrückenden Raumatmosphäre bündelt oder ob sich in ihr auch das nicht gelöste Dilemma der positiven und negativen Gegenhorizonte dokumentiert: Die Stimmung wird zwar als bedrückend empfunden, der Wunsch nach Distanzierung ergibt sich aber – zumindest auch – aus der Irritation, die durch die negativen Gegenhorizonte ausgelöst wird und die im Bild durch die Ethnie des Protagonisten (Political Correctness) und das Jesusbild (christliches Ethos) ‚enunziert’ werden. Mit der Focussierungsmetapher würde dann das Orientierungsdilemma verdichtet (vgl. Bohnsack 1997, S. 495). Sie würde somit den ‚Bruch’ im Orientierungsrahmen bzw. den ‚Riss’ im Habitus in interaktiver Dichte metaphorisch inszenieren und Aufschluss über den modus operandi der Gruppe geben. Konfliktreichen Themen, so kann die praktische Bezugnahme („Türe schließen“) dann interpretiert werden, begegnet der gruppenspezifische modus operandi mit dem Wunsch nach Ausweichen und Vermeiden. Angesichts des Orientierungsdilemmas zwischen den divergierenden Orientierungsrahmen ist es ihm nicht möglich, einen Rahmen in den Vordergrund zu rücken und die anderen auszublenden, Alternativrahmen zu entwickeln, konfligierende Rahmen zu versöhnen oder zu verändern, oder sich das Orientierungsdilemma – im Sinne einer emanzipatorischen „Hermeneutik der Wiedererlangung“ (Lash 1996, S. 281 f.) – reflexiv anzueignen und dadurch verfügbar zu machen. Als homologes Muster kann der Wunsch nach der Vermeidung von Konflikten sowohl in der handlungspraktischen Focussierungsmetapher als auch in der (Nicht-) Thematisierung des Bildprotagonisten (Vermeidungsthese) rekonstruiert werden. Konflikte werden nicht ausgetragen, sondern vermieden. Dass Bild „Shantytown“ die Gruppe ND nachhaltig berührt, zeigt sich auch in der Resümeephase der Diskussion. Auf die Frage, welches der gezeigten Bilder der Gruppe am wenigsten gefällt, nennt die Gruppe spontan und einhellig Bild „Shantytown“ und begründet dies folgendermaßen: ND 1263-1276 Aw: Weils einfach n´Durcheinander is in dem Bild .... Bm: ja. Aw: ... in dem Bild weiß ma nich, wo was sein soll ... und was was is oder, oder wie ma .... wie ma die Situation deuten soll .... des is n´ganz komisches Bild

300 Bm: Aw: Bm: Aw: Bm: Aw: Bm: Aw: Bm:

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((gleichzeitig mit Aw p)) n´ unangenehmes ... einfach n´unangenehmes Bild ((gleichzeitig mit Bm n)) (in dem Raum ... in dem Raum) genau ... mir persönlich unangenehm .... kann nicht genau sagen, wieso, aber ja, ich find ... ... würd ich mir nicht unbedingt anschaun ((lacht)) ((lacht)) ja, ich würd mir sowas auch nicht angucken ... also s´wär n´Bild, wenn ich Sowas in die Hand krieg, würd ich gleich weglegen ... ... ich würd´s überblättern ... ja. ... wenn ich jetzt da des als Album seh - würd ich´s überblättern ... ((6))

Das empfundene „Durcheinander“ (1263) verweist möglicherweise auf das Orientierungsdilemma. Die ‚innige’ Ablehnung des Bildes („Mir persönlich unangenehm“; 1269 Herv. B.M.), könnte dafür sprechen, dass dieses Dilemma die Gruppe existentiell berührt. Die Gründe für die Ablehnung kann sich die Gruppe reflexiv nicht verfügbar machen („.... kann nicht genau sagen, wieso, aber-“; 1269). Der Modus des Vermeidens wird ebenfalls in der Resümeephase geäußert: Als Konsequenz der diffusen, aber existentiellen Aversion gegen das Bild kommt die Gruppe in hoher interaktiver Dichte überein, dass sie das Bild „gleich weglegen“ (1273) bzw. „überblättern“ (1274, 1276) würde. In ‚bildgerechter’ Form29 und ohne metaphorische Überhöhung findet sich hier als Koda der Beschäftigung mit Bild „Shantytown“ strukturhomolg und explizit der Wunsch nach einem „Schließen der Türe“, d.h. nach Distanzierung. Von dieser Art der Sinnbildung lassen sich die Sinnkonstruktionen der beiden anderen Gruppen abgrenzen. Gruppe AH würde sich Bild „Shantytown“ unter „normalen Bedingungen“, d.h. außerhalb der Gruppendiskussion, ebenfalls nicht ansehen. AH 612-616 Dw: I glaub, unter normale Bedingunge würde ma sich so´n Bild net, net länger anschaun als nötig Bw: Hm ?w: Hm. Dw: Ich glaub, ma würde n´kurzen Blick draufwerfen, nich viel sehn, und wieder weggucken

Der von Gruppe AH benannte Modus des ‚Wegguckens’ unterscheidet sich jedoch vom Modus des ‚Vermeidens’ der Gruppe ND: Gruppe AH empfindet 29

Die Gruppe betrachtet das Bild nun nicht mehr referentiell in der „Fenster-zur-Welt“Einstellung, sondern im rhetorischen Modus als zweidimensionales ‚Bildding’ – allerdings erst, nachdem der Diskussionsleiter das Bild in der Resümeephase ‚als Bild’ angesprochen hat („Wenn ihr jetzt (...) an alle Bilder (...) denkt (...)“; ND 1226).

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das Bild als „relativ unauffällig“ (AH 621) und „au nich sehr vielsagend“ (AH 623). „Nur Leute, die sich insgesamt mehr Gedanken über Sachen machen ... (...) ..die würden´s vielleicht länger angucken“ (618-620). Wer sich hinter diesen Leuten verbirgt, kann nur erahnt werden – vermutlich verbindet sich mit dieser Formulierung eine Vorstellung von im weitesten Sinne „Intellektuellen“ (bspw. Lehrern). Sie bilden für Gruppe AH einen negativen Gegenhorizont, vor dem das Bild aussagekräftiger wäre. Gruppe AH selbst gehört nicht zu dieser Personengruppe. Sie erklärt sich somit intellektuell für nicht zuständig, das Bild näher zu bestimmen. Diese Nicht-Zuständigkeit unterscheidet sich von der Konfliktvermeidung der Gruppe ND dadurch, dass Gruppe AH dem Konfliktpotential des Bildes eher gleichgültig gegenübersteht und von ihm nicht nachhaltig berührt oder irritiert wird. Tiefe Aversionen gegen Bild „Shantytown“ empfindet Gruppe AH offenbar nicht. Der Modus des ‚Wegguckens’ kann daher als eher desinteressiert und gelangweilt beschrieben werden, während der Modus des ‚Vermeidens’ bei Gruppe ND aus einer geradezu existentiellen Betroffenheit rührt. Im Zusammenhang mit der Leerstellenbearbeitung wurde herausgearbeitet, dass Gruppe AH die Leerstelle zwischen Alkoholkonsum und Jesusbild ‚wegharmonisiert’ (AH 505-509) und dadurch Widersprüche eliminiert. Unstimmigkeiten werden für „im Grund genommen“ (AH 506) nicht existent erklärt. Der Modus der Konfliktvermeidung, wie er von Gruppe ND praktiziert wird, ‚stößt’ sich dagegen am Konfliktpotential und ‚erleidet’ es. Dem Modus des ‚Wegguckens’ gelingt es dagegen, die irritierenden Momente des Bildes nachhaltig auszublenden und Widersprüche in Harmonie zu überführen. Gleichsam ‚achselzuckend’ wird Bild „Shantytown“ von Gruppe AH beiseite gelegt, von Gruppe ND dagegen geradezu verstört ‚verdrängt’. Sowohl vom Modus des ‚Wegguckens’, als auch vom Modus des ‚Vermeidens’ hebt sich die Auseinandersetzung der Gruppe SA mit Bild „Shantytown“ ab. So bekundet die Gruppe eine ausgesprochene Sympathie für das Bild. Anstatt ihm mit Gleichgültigkeit oder Beklemmung zu begegnen und es möglichst schnell zu überblättern, ‚feiert’ sie das Bild geradezu überschwänglich („... der is klasse ! ((Jauchzer))“; SA 624). Im Resümeeteil wird es u.a. als „Lieblingsbild“ gehandelt (SA 907-910). Die Gruppe äußert nicht den Wunsch sich vom Bildgeschehen zu distanzieren, sondern interessiert sich im Gegenteil dafür, „da hinzugehen ... und des zu sehen“ (SA 916/917). Im Jesusbild, das Bild „Shantytown“ in der Perspektive der Gruppe ND „nur noch schlimmer macht“ (ND 934), erfüllt sich für Gruppe SA der Sinn des Bildes als „der eigentliche Gag“ (SA 746). Im Gegensatz zur Ratlosigkeit, die die beiden Vergleichsgruppen bekunden, gelingt bei Gruppe SA damit nicht nur eine (ästhetische) Sinnbildung – sie ist als „Gag“ auch denkbar weit entfernt von den eher düsteren Anmutun-

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gen, die insbesondere Gruppe ND mit dem Bild verbindet. Statt im Bild ein „Durcheinander“ (ND 1263) zu erleben, das „nich sehr vielsagend“ (AH 623) ist, würdigt Gruppe SA die künstlerische Virtuosität des Fotografen: Das Bild ist „klasse auf´gnommen“ (SA 746) und insofern stimmig und bedeutsam. Die Norm der Political Correctness wirkt nicht als heteronome Zensurinstanz, sondern wird ironisch herausgefordert und lustvoll übertreten. Der Sinnbildungsprozess der Gruppe SA kann insgesamt als ‚frivoles Genießen’ beschrieben werden und unterscheidet sich somit deutlich von den ‚angstvollen Ahnungen’ und zensierten Andeutungen der Gruppe ND als auch vom ‚ahnungslosen’ Desinteresse der Gruppe AH. Die sehr unterschiedlichen Sinnbildungsprozesse können daher als Dokumente der unterschiedlichen Habitus der Gruppen betrachtet werden. 2.2.4.2 Bild „Shantytown“ in der Perspektive der Gruppe ND Eine resümierende Zusammenfassung des Sinns, den Bild „Shantytown“ für Gruppe ND hat, erscheint schwierig bzw. unmöglich: Zu sehr bleibt der Sinn in der Schwebe, verliert und verflüchtigt sich, verdichtet sich wieder, wird tabuisiert, kritisiert und verworfen. Der Sinn als Interaktionsprodukt von Bild und Rezipierenden erweist sich im vorliegenden Fall als flüchtig, da die Rezipierenden partiell selbst ‚auf der Flucht’ sind, d.h. sie wechseln die Art der Bezugnahme auf das Bild in rascher Folge: Von der pedantischen Hinwendung zum Detail, über die Leugnung bzw. Ausblendung elementarer Bildinhalte und moralischem Räsonieren zur emotionalen Öffnung. Sinn kann vor diesem Hintergrund nicht lediglich als Interaktionsprodukt von Bild und Rezipierenden verstanden werden, sondern muss – zumindest im vorliegenden Fall – als Interaktionsprozess zwischen den beiden Faktoren angesehen werden. Vor-Ikonographie Dennoch konnten im fallexternen Vergleich einige Elemente ermittelt werden, die als Beitrag des Bildes in die Sinnbildung einfließen. Sie lassen sich als ‚vorikonographische Gewissheiten’ festhalten, die die weiteren Rezeptionsprozesse strukturieren und den denotativen Gehalt des Bildes definieren. Die Ablehnung der Vorstellung eines fest und unverrückbar im Medientext angelegten Sinns bedeutet somit keineswegs die Sinnbildung vollkommen der Willkür der Rezipierenden zu überlassen. Medientexte weisen vielmehr eine Eigenstrukturiertheit auf, die „Grenzen der Interpretation“ setzt. Als wesentliche Elemente zählen bei Bild „Shantytown“ dazu drei Personen, die (vermutlich mit

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Schnaps gefüllte) Glasflasche, Becher, Hände im Vordergrund, Goldarmband und das Jesusbild. Eine auffällige Abweichung der Gruppe ND von den übrigen Gruppen, die Ausblendung der Ethnie des Hauptprotagonisten, kann nicht als Beleg dafür gewertet werden, dass dieses Bildelement nicht zum unbezweifelbaren vor-ikonographischen Bestand des Bildes gehört und lediglich der Konstruktionsarbeit der anderen Gruppen zuzuschreiben wäre. Vielmehr konnte nachgewiesen werden, dass auch Gruppe ND den Hauptprotagonisten als „Schwarzen“ identifiziert, die Thematisierung der Ethnie aber vermeidet. Daher kann von einem Tabu gesprochen werden. Zudem ‚verrät’ sich die Gruppe in einer Randbemerkung: „Gut, bei Schwarzen is eh weng schlecht zu schätzen.“ (792/793). Insgesamt nimmt die vor-ikonographische Beschreibung einen breiten Raum ein. Insbesondere der (Bild- bzw. Raum-) Hintergrund findet eine intensive Beachtung. Dabei ist eine Gegenstandsidentifizierung nicht immer in allen Details möglich. Ikonographie Eine Zwischenstellung zwischen Analysen des Bildanteils an der Sinnbildung einerseits und Untersuchungen des Betrachteranteils andererseits nimmt der Bereich der Ikonographie ein: Einerseits wird hier bildexternes Wissen durch die Rezipierenden hinzuaddiert, andererseits handelt sich dabei um kulturelle Konventionen mit hohem Kollektivitätsgrad, die möglicherweise auch der Produktion des Bildes zugrunde lagen. In diesem Fall kann die Signifikantenstruktur des Bildes als Sedimentation bzw. Objektivation dieser Konventionen betrachtet werden. Auf ikonographischer Ebene geht es darum, die vorikonographisch identifizierten Bildelemente gemäß kultureller Schemata nach Modalität Beta ‚sinnvoll’ miteinander zu verbinden, d.h. ein „geschlossenes“ Syntagma herzustellen, indem eine kanonisierte ‚Geschichte’ erzählt wird. Dies gelingt Gruppe ND bei Bild „Shantytown“ nur zwischenzeitlich: So sind die Schemata „Säuferhöhle“, „Drogenhöhle“ und das nicht so genannte, aber der Sache nach explizierte Schema „Drogendeal“ auf ikonographischer Ebene angesiedelt. Dass sich die versuchsweise applizierten Schemata bei den Vergleichsgruppen nicht finden, spricht nicht gegen ihren ikonographischen Charakter: Die gemeinsam geteilte Kultur stellt verschiedene ikonographische Schemata bereit, die um ihre Anwendung auf ein und dasselbe Bild konkurrieren können. Daher müssen nicht alle Gruppen übereinstimmend das gleiche Schema auf ein gegebenes Bild anwenden, sondern können bei einer Vielzahl verfügbarer Schemata zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen und sich dennoch im Bereich der allgemein geteilten Konventionen bewegen. Dies gilt im vorliegenden Fall um

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so mehr, da die ikonographischen Schemata, die Gruppe ND an Bild „Shantytown“ heranträgt, letztlich am Bild scheitern, d.h. gerade nicht mit dem Bild kongruieren. In der Präferenz für ein bestimmtes Schema, d.h. in der „charakteristischen Selektivität“ (Bohnsack 1999, S. 46) der Gruppe bei der Behandlung eines Themas, dokumentiert sich dann möglicherweise der Habitus. Für die dokumentarische Interpretation relevant wird dann, dass eine Gruppe „gerade dies sagt (und nicht etwa einen anderen theoretischen Gehalt)“ (Mannheim 1964a, S. 134). Aber auch in der Art und Weise, in der ein kommunikativgeneralisierendes Schema auf ein Bild appliziert wird, dokumentiert sich der modus operandi. So wurde oben daraufhingewiesen, dass sich in der skrupulösen Art, in der Bm das Bild unter das Schema „Säuferhöhle“ subsumiert (875/876), der modus operandi des Gruppenhabitus niederschlägt. Dass keines der Schemata zu einer befriedigenden, d.h. sinnvollen und ‚wohlgeordneten’ Strukturierung führt, zeigt sich an der Resümeephase: Das Bild ist ein „Durcheinander“ (1263), bei dem man nicht weiß, „wo was sein soll ... und was was is oder, oder wie ma .... wie ma die Situation deuten soll .... des is n´ganz komisches Bild“ (1265/1266). Eine ikonographische Deutung, die das Bild auf wohlvertraute Konventionen zurückführt, gelingt Gruppe ND bei Bild „Shantytown“ nicht. Ikonologie Eine Orientierungslosigkeit dokumentiert sich jedoch nicht nur hinsichtlich der ikonographischen Sinnbildung im Modus kommunikativ-generalisierenden Verstehens, sondern insbesondere auch auf ikonologischer Ebene, auf der die Gruppe das Bild mit ihrem Habitus interagieren lässt und somit innerhalb ihres konjunktiven Orientierungsrahmens deutet. Hier fühlt sich die Gruppe in diffuser, aber existentieller Weise „bedrückt“. Dieses Gefühl ist reflexiv nur schwer zugänglich und lässt sich weniger begrifflich als praktisch-metaphorisch formulieren durch den Wunsch nach Distanzierung („Türe schließen“) und den Eindruck, die Situation habe einen „Touch nach Drogen“ und könne als „Drogenhöhle“ charakterisiert werden. Die Verknüpfung von Signifikant und Signifikat erfolgt an dieser Stelle „jenseits von Bewusstsein und diskursivem Denken“ (Bourdieu 1987, S. 730) durch eine handlungspraktische Auseinandersetzung mit dem Bild. In der Focussierungsmetapher des „Raum-Verlassens“ bzw. „Türe-Schließens“ dokumentiert sich somit eine geradezu körperliche Dimension der Sinnbildung auf ikonologischer Ebene. Als Produkt des Habitus verweist diese körperliche Dimension darauf, dass der Habitus eine Disposition des Leibes, ein inkorporiertes Handlungsschema ist (vgl. Bourdieu 1993, S. 126). Da sich jene körperlich ‚erspürten’ Bedeutungsgehalte reflexiver Durchdringung

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und begrifflicher Benennung weitgehend entziehen, finden sie in metaphorischen Umschreibungen ihren Ausdruck. In metaphorischer Verwendung haben Schemata wie „Drogenhöhle“ für die Gruppe einen ‚überbordenden’ Bedeutungsgehalt, der innerhalb des konjunktiven Orientierungsrahmens zu einem unmittelbaren Verstehen und Nachempfinden der diffusen Ahnungen führt, der sich im Modus kommunikativer Verständigung aber nicht erschließt und die Metaphern ‚schief’ und unpassend erscheinen lässt. Die insgesamt sehr negativen Empfindungen resultieren vermutlich auch aus einem Konflikt zwischen mehreren Orientierungsrahmen, die für die Gruppe in unterschiedlicher Weise Geltung haben, sich aber nicht vereinbaren lassen (s.o.). Dieses Orientierungsdilemma dürfte auch der Grund sein für die wechselnde Art der Bezugnahme, mit der sich die Gruppe in immer wieder neuen Versuchen dem Bild nähert: So dient die intensive vor-ikonographische Beschäftigung mit dem Bildhintergrund evtl. nicht nur als Ablenkungsmanöver, wenn eine Verletzung des Tabus droht. Sie kann auch als ‚verzweifelte’ Suche nach Indizien verstanden werden, die eine Auflösung des Orientierungsdilemmas bringen könnten. Genauso können auch die Bemühungen verstanden werden, aus der Ikonik (Hell-Dunkel-Verteilung, Komposition) oder der Materialität des Bildes („Knick“ im Bild; 765-783) Aufschlüsse über den verwirrenden Inhalt zu gewinnen bzw. das Bild zu ‚harmonisieren’ und mit den Normalitätserwartungen im Einklang zu bringen. Diesem Zweck dienen auch die ikonographischen Schemata, die versuchsweise zur Anwendung kommen. Im hektischen Wechsel der Perspektiven dokumentiert sich möglicherweise die Ratlosigkeit und Überforderung, zu der das Bild führt – zumal, wenn ein Tabu gewahrt werden muss. Das einheitliche Muster, das sich als latente Struktur unter der sprunghaften und konfus wirkenden Oberfläche des Rezeptionsprozesses verbirgt, kann als Suche nach einer weniger konfliktträchtigen Lösung verstanden werden bzw. als der permanente Versuch, sich dem Konflikt zu entziehen. Das Augenfällige wird tabuisiert und im Nebensächlichen soll eine harmlose Lösung gefunden werden. Da dieser Versuch letztlich nicht gelingt, wendet sich die Gruppe vom Bild ab. Der Wunsch nach Abwenden und Vermeidung findet sich auch als Bilanz in der Resümeephase – nun aber nicht mehr metaphorisch als „Türe schließen“, sondern ‚bildgemäß’ als Absicht, das Bild „gleich wegzulegen“ (1273) oder zu „überblättern“ (1276).

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Empirische Fallrekonstruktionen

2.3 Rezeption eines syntagmatisch geschlossenen Bildes Abbildung 5

Bild „Familie“ scheint auf den ersten Blick keine größeren Interpretationsprobleme zu stellen. Mit Hilfe der oben vorgestellten ‚Faustregel’ kann dieses Bild daher in einer ersten Annäherung als syntagmatisch geschlossen bezeichnet werden. Dass dies nicht mit „Eindeutigkeit“ gleichzusetzen ist, werden die folgenden Fallrekonstruktionen zeigen. Einen Schwerpunkt wird dabei wieder die Interaktion der Gruppe ND mit dem Bild einnehmen. Den beiden Vergleichsgruppen kommt jedoch auch eine zentrale Rolle zu. Sie geben empirisch fundierte Vergleichshorizonte ab, vor deren Hintergrund sich die Besonderheiten des Falles Familienbild-Gruppe ND besonders deutlich abheben und dadurch überhaupt erst sichtbar werden. Daher werden zunächst – wie bei Bild „Shantytown“ auch – die Einstiegssequenzen aller drei Gruppen in vergleichender Perspektive rekonstruiert (2.3.1) und sodann ein Aspekt aus den Diskursen von Gruppe AH und SA genauer analysiert (2.3.2). In der Kontrastierung dieser beiden Fälle wird ein gemeinsames Thema sichtbar – das Thema der „heilen Welt“ –, das als tertium comparationis auch den Vergleich mit Gruppe ND strukturieren kann. Dabei werden auch Facetten der modi operandi der Vergleichsgruppen rekonstruiert. Sowohl die durch die Rekonstruktion der Einstiegssequenzen aufgefundenen Auffälligkeiten als auch das im Vergleich von Gruppe AH und Gruppe SA gewonnene tertium comparationis werden sodann (2.3.3) an den zentralen Fall, die Interaktion von Gruppe ND mit dem Familienbild, gelegt. Obwohl Gruppe ND im Zentrum der Fallrekonstruktion steht, lassen sich durch dieses ‚Netz komparativer Kontraste’ auch die Orientierungsmuster der beiden Vergleichsgruppen annäherungsweise analysieren. Wie auch bei

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der Rekonstruktion der Interaktionen mit Bild „Shantytown“ werden abschließend die beiden Faktoren der Interaktion – Rezipierende und Bild – jeweils summarisch aufbereitet (2.3.4): Nach der zusammenfassenden Darstellung der Orientierungsmuster von Gruppe ND, die die Rezeption des Familienbildes strukturieren (2.3.4.1), folgt eine bildbezogene Verdichtung der Sinnkonstruktionen von Gruppe ND (2.3.4.2). 2.3.1

Komparative Analyse der Einstiegssequenzen

Auch beim Bild „Familie“ soll eine erste Annäherung bzw. ein ‚Herantasten’ (vgl. Bohnsack 1989, S. 382) an die Sinnbildungsprozesse durch einen Vergleich der Einstiegssequenzen aller drei Gruppen unternommen werden. Da die inhaltlichen Segmente bei den Gruppen von unterschiedlicher Länge sind, werden teilweise mehrere Segmente zur Einstiegssequenz zusammengefasst. So werden bei Gruppe AH und SA jeweils etwa die ersten 20 Zeilen analysiert, bei der im Zentrum stehenden Gruppe etwa doppelt so viele Zeilen. Ziel ist es, einen ersten Eindruck von der Beschäftigung der Gruppen mit dem Familienbild und Ansatzpunkte für die weitere Interpretation zu gewinnen. 2.3.1.1 Einstiegssequenz der Gruppe AH AH 652-673 Y: ...So. Cw: Ausflug. Bw: N´Familienfoto ... Cw: Mhm. Dw: Hmmm. Da kamma sich ma endlich was drunter vorstellen .....Oma un Opa, die Eltern und die Geschwister .. und die Enkelkinder Aw: Hm ... draußen irgendwo ... Dw: ((gleichzeitig mit Aw:)) ... n´Picknick ...ds sieht aus wie´n Picknick, weil die ... Aw: ((gleichzeitig mit Dw:)) ... entweder n´Ausflug oder bei irgendjemand im Garten ... ja ... genau Bw: ... find ich auch ... Dw: ... alle recht locker angezogen sin und net so förmlich, wie jetzt zu ner Hochzeit oder zu ner ... großartigen ... Anlass ... wie ne Hochz- ... wie, wie zum Beispiel jetzt Hochzeitstag oder so ... Bw: Ja, der Ältere hat noch nich ma ne Krawatte an ... der hat´s Hemd offen Dw: ((gleichzeitig mit Ew:)) ... die ham alle keine Krawatte an ... Ew: ((gleichzeitig mit Dw:)) ... Polohemd un T-Shirt an ... Bw: Ja, der hat´n Polohemd an ... des sieht vielleicht bißchen komisch aus ... Ew: ((lacht)) Dw: ... könnt ja auch wieder in England sein ...

308 Ew: Dw:

Empirische Fallrekonstruktionen

((gleichzeitig mit Dw:)) ... des macht irgendwie so ... ((gleichzeitig mit Ew:)) ... (wenn die so) in Polohemden rumrennen ...

Ikonographischer Einstieg; vor-ikonographische Explikation und ikonographische Lokalisierung 653-655 Ikonographische Propositionen Cw + Bw, Ratifikation Cw. Wie bei Bild „Shantytown“ werden als erstes schlagwortartige Begriffe in die Diskussion geworfen, die spontan den Ersteindruck bzgl. des Bildes wiederzugeben scheinen. Die Begriffe „Ausflug“ (653) und „N´Familienfoto“ (654) stellen komplexere Deutungen auf ikonographischer Ebene dar: Ihnen liegt die syntagmatische Schließung mehrerer Bildelemente zugrunde, die durch eine ‚Geschichte’ verbunden werden: Die Personen werden zur kulturellen Einheit „Familie“ zusammengefasst und die Familie wird in den umfassenderen Erzählzusammenhang eines „Ausflugs“ eingebunden. Auch wenn dieser Erzählzusammenhang nicht ‚ausbuchstabiert’ wird, ist er doch als ikonographischer Rahmen in die Diskussion eingeführt. Diese Rezeptionsweise, bei der nicht lediglich einzelne Bildelemente prädikativ erfasst werden, sondern sinnhafte Konstellationen von Bildelementen gebildet werden, wurde mit Eco als Modalität Beta bezeichnet. Die ‚Geschichten’ müssen im vorliegenden Fall nicht erst mühsam konstruiert werden, sondern sind – wie aus der spontanen Äußerung unmittelbar bei Präsentation des Bildes hervorgeht – auf Anhieb, d.h. auf den ‚ersten Blick’ verfügbar und lassen sich mit einem prägnanten Begriff ‚betiteln’. Gleichwohl basieren sie auf kulturellen Wissensbeständen. Im kommunikativgeneralisierenden Modus ermöglicht der Begriff „Ausflug“ eine Verständigung auch zwischen Personen unterschiedlichen Milieus. Unbeschadet davon kann sich an das begriffliche Schema ein weitreichender Assoziationshof anschließen, der das Schema paradigmatisch verortet und der möglicherweise milieuspezifische Unterschiede aufweist. Der zweite schematische Begriff, das „Familienfoto“, weist einen zusätzlichen Aspekt auf: Es wird nicht lediglich das kommunikativ-generalisierende Schema „Familie“ appliziert, das das Syntagma zwischen mehreren Personen durch die Relation der Verwandtschaft schließt, sondern das Schema „Familienfoto“. Damit scheint ein dezidiert mediales Schema, ein „Genre“ angesprochen zu sein, der Bildtyp des „Familienfotos“. Daran anschließend kann zwischen Fotos unterschieden werden, die (a) Angehörige einer Familie zeigen, aber nicht zum Bildtyp des „Familienfotos“ zu rechnen wären und Fotos, die (b) dem Bildtyp des „Familienfotos“ entsprechen, obwohl sie nicht unbedingt die Angehöri-

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gen einer Familie zeigen30. Bilder beider Kategorien lassen sich auf ikonographischer Ebene an das kommunikativ-generalisierende Schema „Familie“ assimilieren. Wie lässt sich der Unterschied zwischen den beiden Kategorien begrifflich fassen? Alltagsschema vs. Darstellungsschema In Anlehnung an eine Differenzierung von Mosbach (vgl. Mosbach 1999, S. 128 ff.; Mosbach 2000, S. 219 f.) kann zwischen der Kongruenz des Bildes mit Alltagsschemata und der Kongruenz mit Darstellungsschemata unterschieden werden.31 Während Alltagsschemata die soziale Wahrnehmung des Alltagslebens strukturieren (vgl. Mosbach 2000, S. 219), beziehen sich Darstellungsschemata auf „textuelle Repräsentationen (in welchem Medium zunächst auch immer)“ (vgl. ebd., S. 220). Das Darstellungsschema umfasst daher auch inszenatorische Besonderheiten des Bildes als Bildzeichen, wie z.B. die ikonischen Merkmale (sensu Imdahl), aber auch Besonderheiten der Beleuchtung, der Tiefenschärfe, der Perspektive etc., die durch kulturelle Konventionen zu einem etablierten Typus ‚geronnen’ sind (vgl. Mosbach 2000, S. 220 f.). Demnach lässt sich auf Bilder der Kategorie (a) das Alltagsschema „Familie“ applizieren, auf Bilder der Kategorie (b) außerdem das Darstellungsschema „Familienbild“ bzw. „Familienfoto“. Auch hinsichtlich der Darstellungsweise existieren demnach möglicherweise kommunikativ-generalisierende Schemata, unter die sich Bilder fassen lassen. Sie würden sich dann – analog zu den kulturell etablierten Schemata der Ikonographie – durch kulturell stabilisierte Muster der Inszenierung auszeichnen, d.h. durch konventionalisierte Muster der ikonischen Konstellation und Komposition, der Perspektive, Beleuchtung, Farbigkeit, Tiefenschärfe, des Bildausschnitts etc. Es kann weiter argumentiert werden, dass diese Muster Bildtypen als mediale Schemata bzw. Genres konstituieren, die ihre alltagsschematisch bestimmbare Ikonographie32 mit einer bestimmten Darstel30

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Zu denken wäre bei Bildern der Kategorie (b) bspw. an zu Werbezwecken arrangierte „Familienfotos“, für deren Aufnahme „Familiendarsteller“ zusammengestellt wurden, d.h. Models, die die Rollen von (Groß-, Schwieger-) Vater, (Groß-, Schwieger-) Mutter und (Enkel-) Kindern übernehmen ohne miteinander verwandt zu sein. Aufgrund der Herkunftsquelle kann vermutet werden, dass es sich beim vorliegenden „Familienfoto“ um ein Bild dieses Typs handelt. Eine andere Differenzierung entwickelt Manuela Pietraß im Anschluss an Erving Goffman, indem sie zwischen dem „Modell“ und dem „Sujet“ eines Bildes unterscheidet (dies. 2003, S. 98 f.). Ein „Familienfoto“ wäre demnach das Sujet – unabhängig davon, ob es sich bei den Modellen, d.h. den abgebildeten Personen tatsächlich um die Angehörigen einer Familie handelt oder um Familiendarsteller, die nicht miteinander verwandt sind. Umgekehrt kann man ‚echte’ Familienmitglieder als Modelle fotografieren, ohne dass das resultierende Bild dem Sujet des Familienfotos entspricht. Unter die Alltagsschemata können auch nur aus der Literatur vertraute ikonographische Schemata („Das letzte Abendmahl“, „Rotkäppchen“, „Winnetou und Old Shatterhand“, „Die Besatzung von Raumschiff Enterprise“) fallen.

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Empirische Fallrekonstruktionen

lungsweise verknüpfen und so aus einem Bild ‚mit’ einer Familie ‚drauf’ ein „Familienbild“ machen. Als weitere Beispiele könnte an die schematischen Darstellungskonventionen bei Klassenfotos, Hochzeitsfotos, Passfotos, Häftlingsfotos u.a. gedacht werden. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie ihren Bildgegenstand in einer bestimmten Darstellungsweise zeigen.33 Die schnelle Abrufbarkeit der ikonographischen Schemata spricht für den hohen Grad der Übereinstimmung von Bild und Schemata. Die beiden Schemata müssen nicht als sich gegenseitig ausschließende Alternativen betrachtet werden, sondern können sich ergänzen: Es kann sich um ein Familienfoto handeln, das bei einem Ausflug aufgenommen wurde. 655-657 Ratifikationen, Explikation eines Verstehenserlebnisses, vorikonographische Analyse des ikonographischen Schemas. Die ikonographischikonischen Schemaapplikationen finden innerhalb der Gruppe Zustimmung und werden zweimal ratifiziert. Daran anschließend folgt die Explikation eines Verstehenserlebnisses: „Da kamma sich ma endlich was drunter vorstellen“ (656). Sie führt zu einer analytischen Explikation des ikonographischen Alltagsschemas „Familie“ auf vor-ikonographischer Ebene, indem die einzelnen Bestandteile einer Familie benannt werden: „Oma un Opa, die Eltern und die Geschwister .. un die Enkelkinder“ (656/657). Mit der Explikation eines Verstehenserlebnisses wendet sich die Gruppe kurzfristig vom Bild ab und thematisiert auf einer Metaebene die Auseinandersetzung mit dem Bild. Sie reflektiert ihre Situation bei der Betrachtung von Fotografien und expliziert die gelungene Schemaapplikation der beiden vorausgegangenen Propositionen. Was ist mit diesem ‚ersehnten’ und mit ‚Erleichterung’ („endlich“; 656) begrüßten „drunter vorstellen können“ gemeint? Zum Vergleich kann auf einen Kommentar aus der Auseinandersetzung der Gruppe 33

Die Darstellungsschemata sind nicht mit den vor-ikonographischen Darstellungscodes zu verwechseln (vgl. 1.4.3.2), die bei Gemälden den Zusammenhang von plastischen und figurativen Bildelementen regeln (vgl. auch 1.2.2.1) oder in Panofskys Worten, „wie (...) Gegenstände und Ereignisse durch Formen ausgedrückt“ (Panofsky 1987b, S. 223) werden. Die Darstellungskonventionen beziehen sich vielmehr auf die Inszenierung bestimmter ikonographischer Themen – also beispielweise auf die „Blickregie“ der Brautleute auf einem Hochzeitsfoto (entweder „innig-schmachtend“ sich gegenseitig anblickend oder gemeinsam-vereint in eine einheitliche Richtung blickend, nicht aber vom Partner weg in zwei unterschiedliche Richtungen). An diesem Beispiel wird deutlich, dass auch ein Bild mit einem Brautpaar, das den etablierten Darstellungskonventionen nicht folgt, an das ikonographische Schema „Brautpaar“ assimiliert werden kann – bspw. ein „Schnappschuss“ von der Hochzeitsfeier, bei dem die Brautleute aneinander vorbei in unterschiedliche Richtungen blicken, aufgrund ihres Outfits aber dennoch an das ikonographische Alltagsschema „Brautpaar“ assimiliert werden können. Bedeutungstragend sind demnach die Alltagsschemata. Daran anschließend kann an die unter 1.2.2.1 aufgeworfene Problematik der „doppelten Gliederung“ von Bildern in bedeutungstragende und bedeutungsdifferenzierende Einheiten erinnert werden. Es kann an dieser Stelle jedoch nicht empirisch geklärt werden, ob den Darstellungsschemata eine bedeutungsdifferenzierende Funktion zukommt.

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mit Bild „Shantytown“ verwiesen werden, das unmittelbar vor dem Familienbild betrachtet wurde und unter dem sich die Gruppe offenbar nichts „vorstellen“ konnte: „Ich glaub, ma würde n´kurzen Blick draufwerfen, nich viel sehen, und wieder weggucken ...“ (616/617). Dem „Vorstellen“ lässt sich das „Blick drauf-werfen“ gegenüberstellen, bei dem man nicht viel sieht und deshalb die Betrach-tung abbricht („weggucken“). Um etwas sehen zu können, muss demnach der ‚imaginative’ Akt des Vorstellens hinzutreten. Der Begriff der Vorstellung Nimmt man die Gruppe ‚beim Wort’ und wendet sich dem Begriff der „Vorstellung“ zu, so lassen sich folgende Überlegungen anstellen: (1) Der Begriff „Vorstellung“ (concept) dient im Saussure´schen Zeichenmodell als Synonym für den Begriff des Signifikats (vgl. Nöth 1985, S. 62 f.; Nöth 2000, S. 74 f.; Krampen u.a. 1981, S. 108 f. u. S. 389). Wollte man Gruppe AH daran anschließend quasi ‚semiotisch’ verstehen, dann wäre die Explikation des Verstehenserlebnisses so zu interpretieren, dass die Gruppe dem Familienbild (im Gegensatz zu Bild „Shantytown“) ein oder mehrere Signifikat (-e) zuordnen kann. Im Zusammenhang mit der ikonographischen Sinnebene verwendet auch (2) Panofsky den Begriff der „Vorstellung“. Hier klären die Korrektivprinzipien, die auch als ikonographischer Code verstanden werden können, darüber auf, „wie bestimmte Themen oder Vorstellungen durch Gegenstände und Ereignisse ausgedrückt werden“ (Panofsky 1987b, S. 223; Herv. B.M.). Gruppe AH könnte demnach so verstanden werden, dass sie beim Familienbild die vor-ikonographisch wiedererkannten Bildelemente („Gegenstände und Ereignisse“) mit der ikonographischen „Vorstellung“ der Familie verbinden kann, da ihr der entsprechende, ikonographische Code vertraut ist. In eine ähnliche Richtung wie Überlegung (1), in der „Vorstellung“ in die Nähe zu Saussures Begriff des „Signifikats“ gerückt wurde, weist eine letzte Überlegung zum Stichwort „Vorstellung“ im Zusammenhang von Bildern (3): Mit dem Begriff der „Vorstellung“ in Abgrenzung vom Begriff der „Darstellung“ behilft man sich im Deutschen, um zwei Verwendungsweisen des Begriffes „Bild“ auseinander zu halten, für die das Englische die Begriffe „image“ und „picture“ zur Verfügung hat. Unter Bildern als Darstellungen (pictures) versteht man das „perzeptuell unmittelbar wahrgenommene oder sogar materiell existierende Bild“ (Nöth 2000, S. 472), unter Bildern als Vorstellungen (images) dagegen „das bloß mentale Bild, das in Abwesenheit visueller Stimuli evoziert werden kann“ (ebd., vgl. Hauser 2000, S. 84). Gruppe AH wäre in dieser Lesart so zu verstehen, dass sie sich imstande sieht, mit dem Familienbild als picture weiterreichende images zu verbinden. In

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jedem Fall ‚sieht’ die Gruppe auf dem Familienbild ‚mehr’ als auf vorangegangen Bildern, da sie ihm Signifikate bzw. ‚mentale Bilder’ zuordnen kann. 658-665 Gleichzeitige, zunächst unverbundene Propositionalstränge Aw und Dw, dann Aufgehen von Aw´s Strang in Dw´s Strang; eingeschaltete Ratifikation Bw. Aw nimmt eine vage Ortsbestimmung vor: „draußen irgendwo“ (658) und spezifiziert „entweder n´Ausflug oder bei irgendjemand im Garten“ (660). Dw´s gleichzeitig vorgeschlagene situative Proposition appliziert das kommunikativ-generalisierende Schema „Picknick“ (659), da alle „recht locker angezogen sind“. Zur weiteren Begründung ihrer Vermutung entwirft sie gedankenexperimentell einen Gegenhorizont: Wenn es sich um einen „großartigen Anlass“ handeln würde, wie z.B. eine Hochzeit, dann wären die Personen formeller („förmlicher“) gekleidet. Implizit kommen damit Vorstellungen sowohl über familiäres Leben als auch über Kleidungskonventionen zum Ausdruck. 666-670 Vor-ikonographische Elaboration; Anführen weiterer Belege im Bild;wertender Kommentar. Dw´s Feststellung über den „recht lockeren“ Kleidungsstil wird aufgegriffen, ratifiziert und elaboriert. Dabei werden auf vorikonographischer Ebene Bilddetails als Belege herangeführt. Schließlich kommt es zu einer Bewertung der Kleidung, indem sie als „vielleicht bißchen komisch“ bezeichnet wird. Es bleibt unklar, ob „komisch“ i.S.v. „lustig“ oder „merkwürdig“ zu verstehen ist. Offen bleibt auch der Horizont, vor dessen Hintergrund sich das Aussehen als „komisch“ abhebt. Als Vergleichshorizont kann Gruppe ND herangezogen werden, die sich ebenfalls mit der Kleidung der abgebildeten Personen auseinandersetzt: ND 1067-1073: Bm: Hm ..... aber, d-s ... von den Klamotten her würd´ich jetzt eher sagen .... Achtziger, oder? Aw: Hm ..... auf jeden Fall n´bißchen zurückdatieren ... Cw: Hm. Bm: ja. Cw: Kragen, ne. Bm: ja.

Gruppe ND empfindet einen zeitlichen Abstand zur Aufnahmesituation des Bildes und würde es aufgrund der „Klamotten“, insbesondere wegen der/des Kragen (-s) „zurückdatieren“. Möglicherweise ergeht es Gruppe AH ähnlich und sie empfindet die Kleidung als „aus der Mode“ gekommen, „komisch“ wäre dann im Sinne von „unmodisch“ zu verstehen. Da auch Gruppe ND die Kleidung als „unnormal“ wahrnimmt, kann argumentiert werden, dass der wertende Kommentar von Gruppe AH gruppenübergreifend verstanden wird und auf der ikonographischen Ebene anzusiedeln ist.

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671-673 Lokalisierung; Überlappung mit dem Beginn der Folgesequenz Wie auch Gruppe ND verwendet Gruppe AH die Kleidung indexikal, allerdings nicht als Hinweis auf die (historische) Zeit der Aufnahme, sondern als Indiz für den Ort. Dw schlägt als Lokalisierung „England“ vor. Sie begründet dies damit, dass die abgebildeten Personen Polohemden tragen. Die bei einem statischen Bild evtl. merkwürdig anmutende Feststellung, die abgebildeten Personen würden „in Polohemden rumrennen“ verweist m.E. auf einen spezifisch süddeutschen Sprachgebrauch, demzufolge „rumrennen“ zur Unterstreichung eines gewohnheitsmäßigen Verhaltens verwendet werden kann („Er rennt das ganze Jahr im Wintermantel rum“). In diesem Fall würde das Tragen von Polohemden als eine stereotypisierte Gewohnheit von Engländern dargestellt. Obwohl von der Diskursorganisation an dieser Stelle kein Bruch festzustellen ist – die Redebeitrage überlappen einander und gehen dramaturgisch nahtlos ineinanderüber – kann m.E. argumentiert werden, dass mit der Proposition 671/673 das Ende einer Sequenz erreicht ist. Denn es ändert sich an dieser Stelle der Modus der Verständigung: Die Gruppe „gleitet“ vom Modus kommunikativer Verständigung, die erst auf ikonographischer und dann auf vorikonographischer Ebene stattgefunden hat, in ein unmittelbares Verstehen im konjunktiven Modus. Damit einher geht auch eine Verschiebung der Thematik, die sich nun nicht mehr um Bilddetails oder situative Schemata dreht, sondern um die Stimmung des Bildes. Darauf wird im Folgenden noch ausführlicher einzugehen sein. Resümee Gruppe AH steigt in die Auseinandersetzung mit dem Bild „Familie“ auf ikonographischer Ebene ein und appliziert kommunikativ-generalisierende Schemata. Dabei lassen sich neben Alltagsschemata („Ausflug“, „Familie“) auch Darstellungsschemata („Familienfoto“) applizieren, die zusätzlich inszenatorische Besonderheiten des Bildes in den Blick nehmen. Die Schemata schließen sich nicht aus, sondern lassen sich miteinander vereinbaren. Dafür spricht die sich gegenseitig ergänzende, keineswegs kontroverse Diskursorganisation der Gruppe. Da sich das Bild offenbar kongruent an ikonographische Schemata assimilieren lässt, treten keine syntagmatischen Leerstellen zutage. Das Familienbild scheint demnach vor dem Erwartungshorizont der Gruppe AH syntagmatisch geschlossen zu sein. Sie rezipiert das Bild von Anfang an gemäß Modalität Beta, bei der sich der „Erzählzusammenhang“ durch die „Zusammenstellung“ der Dinge ergibt (Eco 2000, S. 451). Im Zuge der Schemaapplikation expliziert die Gruppe ein Verstehenserlebnis. Mit Erleichterung („endlich“) wird konstatiert, dass sich mit dem Bild Vorstellungen verbinden lassen. Unter Bezug auf

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semiotische Terminologien konnte eine begriffliche Nähe von „Vorstellung“ und „Signifikat“ einerseits und von „Vorstellung“ und image i.S.v. „mentalem Bild“ hergestellt werden. Die Gruppe erläutert ihre Vorstellungen, die sie mit dem Bild verbindet. Dabei argumentiert die Gruppe sehr ‚dicht’ am Bild, indem sie für ihre „Vorstellungen“ bildliche ‚Belege’ anbringt. Der thematische Focus liegt auf der Bestimmung des „Rahmens“ der abgebildeten Szene – sowohl in situativer (Picknick, nicht Hochzeit), als auch in lokaler Hinsicht („draußen“, England). Trotz der Applikation medialer Darstellungsschemata und der Explikation des Verstehenserlebnisses wendet sich die Gruppe dem Bild überwiegend in der „Fenster-zur-Welt-Einstellung“ zu und betrachtet es nicht als hergestelltes Zeichen. Von einer kleinen Bewertung am Rande („komisch“) abgesehen, findet der Diskurs nüchtern konstatierend statt. Die Diskursorganisation kann als organisch ineinandergreifend charakterisiert werden: Die einzelnen Beiträge nehmen aufeinander Bezug, ergänzen und validieren sich gegenseitig. Die Interaktionsdichte ist rege, aber nicht lebhaft. 2.3.1.2 Einstiegssequenz der Gruppe SA SA 793-816 Aw: Oh, wow ! Bm: Oh Gott. Cw: W-Stadt? Aw: Au, ds´isch wie aus so ... Cw: (unverständlich) Bm. Familienausflug ! Aw: ... da gibt´s doch diese Sachen, wo ma sich ... Cw: ... zuuuper ami-mäßig ... Bm: Ja. Cw: ... um Gottes willen ! Bm: ... obwohl: er schaut eigentlich aus wie King Charles – nur die Ohren passen net so ganz. Aw: Aber da gibt´s doch immer so ... Bm: äh: Prinz Charles, entschuldigung. Aw: ... so Partnerschaftssachen, wo ma sagen muss, welchen Typ ma am gernsten hätt´, so´n sportlichen oder n´ nanana ... Cw: ...ne, aber .. Aw: ... und so sehen die auch fotografiert aus irgendwie Cw: ... ne, aber alle ungefähr 20 Jahre älter als normalerweise, oder? Aw: Ds sicher für so ne ... Ewig Leben Pille ... Bm: ((Lachen)) Cw: ... oder Lebensversicherung ... Aw: ...ja, ja ... aber scho so .. Cw: (unverständlich) Aw: ... ja irgendwie : Family values ... oder .... irgendwie

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Expressive Exklamationen; vor-ikonographische und ikonographische Deutungen, Diskussion medialer Verwendungszusammenhänge. Bei den ersten beiden Stellungnahmen von Gruppe SA zu diesem Bild handelt es sich um Ausrufe, bei denen nicht ein propositionaler Gehalt, sondern eine Verweisfunktion im Vordergrund steht. In ihnen kommen Empfindungen expressiv zum Ausdruck, die auf einen jenseits des lexikalischen Gehalts liegenden Erlebniszusammenhang verweisen (vgl. Bußmann 1990, S. 349): „Oh, wow !“ und „Oh Gott.“ Von einer lexikalischen Bedeutung im engeren Sinn kann ohnehin nur beim zweiten Ausruf die Rede sein („Gott“). Beiden Interjektionen kann jedoch eine codierte Verwendung zugeordnet werden – „wow“ signalisiert üblicherweise eine positive Überraschung, die bis an die Begeisterung reicht, „Oh Gott“ zeigt dagegen im gängigen Sprachgebrauch Entsetzen oder Erschrecken an. Unmittelbar aufeinander folgend äußert die Gruppe somit Begeisterung und Entsetzen, mithin zwei konträre Empfindungen. Dies wird von der Gruppe aber offenbar nicht als Widerspruch oder Gegensatz erlebt – zumindest thematisiert sie ihn nicht. Es wird daher vermutet, dass die beiden Interjektionen in der Verwendung durch Gruppe SA die gleiche „Stoßrichtung“ haben, d.h. dass in der Perspektive der Gruppe gar kein Widerspruch vorliegt. Der Funktionalitätsbezug der Interjektion Es ist daher zu fragen, welcher Sinn mit den Interjektionen jenseits der codierten Bedeutungen verknüpft wird. Nach Jakobsons Modell der Sprachfunktionen schlägt sich in Interjektionen insbesondere die emotive oder expressive Funktion nieder. Sie „bringt die Haltung eines Sprechers zum Gesprochenen unmittelbar zum Ausdruck. Sie sucht einen Eindruck über eine bestimmte Emotion, ob wirklich oder fingiert, zu erwecken (...). Die emotive Schicht der Sprache findet sich am reinsten in den Interjektionen verwirklicht. Sie unterscheiden sich von den referentiellen sprachlichen Mitteln sowohl durch ihren phonischen Bau (eigentümliche Lautfolgen und auch sonst unübliche Laute), als auch durch ihre syntaktische Rolle (sie sind nicht Komponenten, sondern Äquivalente von Sätzen).“ (Jakobson 1960, S. 89)

In der Diktion Mannheims kann argumentiert werden, dass Interjektionen in einem Funktionalitätsbezug zu einem zugrundeliegenden Erlebniszusammenhang stehen (vgl. Mannheim 1980, S. 71 ff.), d.h. dass sie aus diesem Erlebniszusammenhang heraus zu verstehen sind. Er erläutert dies am Beispiel eines Schmerzensschreies, der Ausdruck des Schmerzes ist bzw. in einem Funktionalitätsbezug zum Schmerz steht. Der Schmerz bildet somit den Erlebniszusammenhang, aus dem heraus der Schrei zu verstehen ist. Jemand, dem Schmerz

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vollkommen unbekannt wäre, müsste sich diesen Erlebniszusammenhang erst erarbeiten, um den Funktionalitätsbezug des Schreies interpretieren zu können (ebd.). Der Funktionalitätsbezug ist nach Mannheim jedoch „letzten Endes nur intuitiv erfassbar“ (ebd. S. 74). Er überlagert die codierte Bedeutung, die ein Schrei (bspw. „helft mir“) oder ein Ausruf zusätzlich haben kann (ebd. S. 75). Unmittelbar verständlich ist der Funktionalitätsbezug für die Gruppenmitglieder, wenn sie in dem gleichen, konjunktiven Erlebniszusammenhang verwurzelt sind. Die Ausrufe können als extrem verkürzte bzw. verdichtete Ausdrücke eines konjunktiven Erfahrungsgehalts verstanden werden, der die ‚Stoßrichtung’ der Interjektionen vorgibt. Auf der Basis des gemeinsamen Erlebniszusammenhangs verschwindet für die Gruppe der Widerspruch zwischen den beiden Interjektionen, der auf der Ebene der codierten Bedeutungen besteht. Auf ihren engen Bezug zu konjunktiven Erfahrungsgehalten verweist auch die Spontaneität, mit der die Ausrufe gleich zu Beginn der Auseinandersetzung mit dem Familienbild vorgebracht werden. Offenbar bedarf es keiner langen Überlegenszeit, um zu dieser expressiven Kommentierung zu gelangen. Überdies können die codierten Bedeutungen der Interjektionen von ihrer Intensität her als sehr ‚nachdrücklich’ bezeichnet werden: „Wow“ und „Oh, Gott“ signalisieren in ihrer codierten Bedeutung starke Empfindungen der Begeisterung bzw. des Entsetzens. Denkbar ist jedoch, dass die Nachdrücklichkeit als übersteigert, d.h. als „Hyperbel“ zu verstehen ist. Da Hyperbeln häufig als Ironiesignal dienen (vgl. Weinrich 1966, S. 60; Bußmann 1990, S. 355), wären die Interjektionen dann als ironische Übertreibungen zu verstehen. Als dritte Bedeutung (neben „Begeisterung“ und „Entsetzen“) könnte dann ‚mildes Entsetzen’ angegeben werden, bei der „Oh, wow“ ironisch-hyperbolisch und „Oh Gott“ hyperbolisch zu verstehen wären. Diese Interpretation wird anhand des Weiteren Diskursverlaufs zu validieren sein. Ebenso schlagwortartig und diskursdramaturgisch eingebettet in das ‚Abfeuern’ der Interjektionen äußert Cw die Vermutung „W-Stadt ?“ Im süddeutschen Kurort Bad W-Stadt befindet sich der Verlag, in dem alle drei Gruppenmitglieder arbeiten. W-Stadt bildet den geographischen Rahmen des konjunktiven Erfahrungsraumes, durch den sich Gruppe SA als Realgruppe konstituiert. Diese Ortsangabe steht nicht nur zum Teil von ihrer inhaltlichen Bestimmung, sondern insbesondere auch von ihrer Konkretheit in starkem Kontrast zu den vagen Lokalisierungen, die Gruppe AH vornimmt („draußen irgendwo“, 658; „England“, 671). Bei Gruppe ND findet sich gar keine Ortsangabe, was ebenfalls mit der sehr spezifischen Ortsangabe von Gruppe SA kontrastiert. Dass mit der in die Interjektionsreihe integrierten Frage „W-Stadt?“ ein geographischer Bezug zum Erlebniszentrum der Gruppe hergestellt wird, spricht dafür, dass der ‚Dreiklang’ schlagwortartiger Ersteindrücke stark ‚erlebnisgesättigt’ ist. Für

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einen Außenstehenden ist der Erlebnisbezug an dieser Stelle nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Es scheint aber so, als würde sich die Gruppe auf Basis der Ausrufe im konjunktiven Modus darüber verständigen, wie sie sich gegenüber dem Bild positioniert, welche ‚Haltung’ sie zum Bild einnimmt. Sie ‚vergewissert’ sich – so könnte diese Einstiegsphase interpretiert werden – ihrer konjunktiven Bezüge und ‚installiert’ den habitusspezifischen Orientierungsrahmen (vgl. 1.4.3.2). Nach diesem ‚Ritual’ nimmt die Diskussion einen weniger hermetischen Charakter an. Auf die Interjektionen folgt eine fragmentarisch bleibende Proposition Aw´s, in der sie vermutlich zu einem Vergleich anhebt: „Au, ds´isch wie aus so ...“ (796). Nach einer (akustisch) unverständlichen Äußerung Cw´s appliziert Bm das Schema: „Familienausflug !“. Dieses Schema vereinigt zwei Schemata, die auch von Gruppe AH an das Bild herangetragen wurden: „Familie“ und „Ausflug“. Diese Schemata werden demnach gruppenübergreifend mit dem Bild verbunden und sind daher auf der ikonographischen Ebene zu verorten. 799-805 Fragmentarische Propositionen Aw; expressive Interjektionen Cw; opponierende ikonographische Deutung Bm. Aw beginnt erneut eine Proposition, die Fragment bleibt und die sich auf die Existenz bestimmter, aber nicht näher spezifizierter „Sachen“ bezieht: „... da gibt´s doch immer diese Sachen, wo ma sich ...“ (799). Unterbrochen wird diese Proposition durch eine Exklamation Cw´s, die – anders als die Eingangsinterjektionen – einen stärker explizierbaren lexikalischen Gehalt aufweist: „...zuuuper ami-mäßig ...“ (800). Sprachlich weist dieser Ausruf einige Besonderheiten auf, die vermutlich generationenspezifisch sind: Das adverbiell gebrauchtes „super“ (zu „zuper“ verschärft), das Suffix „-mäßig“ und die Kurzform „ami“ für „amerikanisch“. Der Generationenbezug kann jedoch empirisch nicht belegt werden. Der propositionale Gehalt des Ausrufs lässt sich weiter explizieren: „Amimäßig“ ist m.E. nicht mit „amerikanisch“ gleichzusetzen, sondern als „in amerikanischer Weise“ zu verstehen. Nicht näher bestimmten und referentialisierten Bildelementen oder dem Gesamtbild wird demnach eine starke („suuuper“) amerikanische Anmutung zugesprochen. Diese ‚amerikanische Anmutung’ wird von den Vergleichgruppen nicht geteilt. Mit den Begriffen ‚amerikanische Anmutung’ bzw. ‚in amerikanischer Weise’ zur Umschreibung des Terminus „ami-mäßig“ wird bereits nahegelegt, dass hier mehr auf das Wie als auf das Was des Bildes eingegangen wird. Es kann daher gefragt werden, ob die Gruppe hier eine Vermutung über den ikonologischen Dokumentsinn des Bildes vornimmt, d.h. ob mit „amimäßig“ der Habitus des Bildproduzenten und/oder der abgebildeten Personen charakterisiert wird. Die Gruppe würde demnach auf den modus operandi Bezug nehmen, der sich im Bild als unintendiertes Symptom dokumentiert.

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Empirische Fallrekonstruktionen

Bm ratifiziert die Interjektion kurz („ja“), worauf Cw eine weitere Interjektion einwirft: „... um Gottes willen !“ (802) Vermutlich steht diese Interjektion im gleichen Funktionalitätsbezug wie die zuvor geäußerten Interjektionen. Die codierte Bedeutung ist deckungsgleich mit der von Bm eingebrachten Interjektion „Oh Gott“ (794). Auch sie kann hyperbolisch als Hinweis auf „mildes Entsetzen“ verstanden werden. Konzessiv leitet Bm eine Proposition ein: „... obwohl: er schaut eigentlich aus wie King Charles – nur die Ohren passen net so ganz.“ (803) „King Charles“ (kurz darauf korrigiert zu „Prinz Charles“) und „Ohren“ gehören zu einem kulturspezifischen Schema, das konventionellerweise zur Charakterisierung des britischen Thronfolgers herangezogen wird. Dabei wird eine gewisse Schemainkongruenz angemerkt – die „Ohren passen net so ganz.“ Aw setzt erneut mit einer Existenzproposition an: „Aber da gibt´s doch immer so ...“ (804), die abermals unterbrochen wird. Bm korrigiert seine zuvor geäußerte Proposition, indem er den Adelstitel von „King“ zu „Prinz“ verändert. Dass er damit einen empfundenen Irrtum berichtigt, wird an der Einleitung der Proposition mit „äh“ und der angehängten Entschuldigung deutlich. 806-810 Fortsetzung von Aw´s Proposition von 799; Opponierende Differenzierung durch Cw. Aw vollendet ihre mehrfach begonnene und wieder abgebrochene Proposition und erläutert anhand eines Vergleichs den Stil der Fotografie: >„Aber da gibt´s doch immer so ...“@ „... so Partnerschaftssachen, wo ma sagen muss, welchen Typ ma am gernsten hätt´, so´n sportlichen oder n´ nanana ... >Cw:...ne, aber .. @ ... und so sehen die auch fotografiert aus irgendwie“ (806809). Sie umschreibt die Art, wie das Foto aufgenommen wurde. Damit wird das Bild als hergestelltes Objekt und nicht als „Fenster-zur-Welt“ betrachtet. Mit der Berücksichtigung der „Machart“ des Bildes bezieht sich Aw auf den modus operandi des Fotografen. Sie leistet damit ansatzweise eine ikonologische Analyse im Sinne Panofskys, in der der Habitus des Bildproduzenten als Bezugshorizont dient. Und wie von Panofsky postuliert tut sie dies, indem sie sich auf ihre „synthetische Intuition“ (Panofsky 1987b, S. 221) stützt und eine „komparative Analyse“ (vgl. ebd. S. 213 f. u. S. 221) vornimmt: Sie führt ein weiteres Bildbeispiel an, in dem sich nach ihrer Ansicht der gleiche modus operandi dokumentiert. Der Schwierigkeit, einen intuitiv erfassten modus operandi begrifflich zu beschreiben, begegnet sie, indem sie ihn anhand eines Beispiels „illustriert“. Bei diesem Vergleichsbeispiel handelt es sich um „so Partnerschaftssachen“, bei denen eine Auswahl unter verschiedenen „Typen“ getroffen werden kann. Es wird vermutet, dass damit Zeitschriftenanzeigen von Partnervermittlungsinstituten gemeint sind, die unterschiedliche Typen von Männern und Frauen durch Fotos visualisieren. Der Vergleich bezieht sich auf die Art und Weise, wie die Personen fotografiert wurden („so sehen die auch fotografiert aus irgendwie“; 809), nicht auf inhaltliche Übereinstimmung. Cw versteht

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offenbar, worauf Aw anspielt, denn sie nimmt, nachdem sie Aw´s Proposition kurz unterbrochen hatte („... ne, aber ..“; 808), anschließend opponierend darauf Bezug: „... ne, aber alle ungefähr 20 Jahre älter als normalerweise, oder?“ (810) Der von Aw angeführte Vergleich ist innerhalb der Gruppe offenbar so bekannt, dass er als „Normalitätshorizont“ dienen kann, vor dem sich das Bild als ‚unnormal’ abhebt. Cw widerspricht Aw´s Vergleich allerdings auf einer inhaltlichen Ebene, indem sie das Alter der abgebildeten Personen als Vergleichsmaßstab heranzieht, und nicht auf der Ebene der Machart des Fotos. 811-816 Erörterung möglicher medialer Verwendungszusammenhänge. Aw setzt sie ihre ‚komparative Analyse’ fort, indem sie gedankenexperimentell einen Verwendungszusammenhang für das Foto konstruiert. Denn aufgrund der Präposition „für“ kann vermutet werden, dass die elliptische Formulierung um den Begriff „Werbung“ zu ergänzen ist: „Das ist sicher Werbung für so eine Ewig Leben Pille.“ Indem Aw das Bild imaginativ in den Kontext einer Werbeanzeige für ein bestimmtes Produkt stellt, konstruiert sie einen weiteren Vergleichshorizont. Sie postuliert quasi eine Strukturhomologie zwischen dem hinter dem Bild stehenden modus operandi und dem sich in der Anzeige für eine „Ewig Leben Pille“ dokumentierenden modus operandi. Dies kann ebenfalls als der Versuch interpretiert werden, den intuitiv erahnten modus operandi des Bildproduzenten „auf den Begriff“ zu bringen. Mit der Assoziation einer „Ewig Leben Pille“ formuliert Aw ein Werbeversprechen bzw. einen Produktnutzen, der vollkommen übersteigert ist und dadurch lächerlich wirkt. Den Unernst ihrer Produktassoziation macht sie zudem durch Ironiesignale deutlich: Zum einen kann die Bestimmtheit („sicher“), mit der sie ihre Vermutung vorbringt und die im Widerspruch zur Unmöglichkeit der Produktassoziation steht, als Ironiesignal verstanden werden. Zum anderen formuliert sie etwas abschätzig, dass es sich um „so ne“ („so eine“) EwigLeben-Pille handelt als ob es eine Vielzahl von Produkten dieser Kategorie gebe. Eventuell ist dieses völlig überzogene Produktversprechen aber auch als Metapher verstehen. In metaphorischer Weise würde Aw dann versuchen, den intuitiv erahnten modus operandi des Bildproduzenten zu benennen, der sich begrifflich möglicherweise nur schwer fassen lässt. Sie umschreibt ihn durch ein völlig übertriebenes Glücksversprechen, bei dem es sich ganz offenkundig um ein Scheinangebot bzw. sogar um ‚Schwindel’ handelt. Dient die so verstandene Metapher zur Umschreibung des sich im Bild dokumentierenden modus operandi, so könnte er dadurch charakterisiert werden, dass er in übersteigerter bzw. sogar verlogener Weise ‚Heilsversprechen’ inszeniert, denen nicht zu trauen ist. Die übersteigerte Inszenierung eines medialen Glücksversprechens wird durch Ironisierung lächerlich gemacht und so als ‚Schwindel’ entlarvt. Da für ikonologische Deutungen des Produzentenhabitus der Habitus der Deutenden die „sub-

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Empirische Fallrekonstruktionen

jektive Quelle der Interpretation“ (Panofsky) bildet, können an dieser Stelle auch Rückschlüsse auf den modus operandi der Gruppe SA gezogen werden. Bm ratifiziert die Produktassoziation durch Lachen (812) und Cw schlägt eine Alternative vor, die nicht utopisch ist wie die „Ewig Leben Pille“: „... oder Lebensversicherung ...“ (813). Sie bleibt damit im Rahmen der Produktassoziationen und stellt das Bild ebenfalls in den Kontext einer Werbeanzeige. Auch dieser Verwendungszusammenhang reflektiert möglicherweise den modus operandi des Bildes. Obwohl die Produktassoziation „Lebensversicherung“ nicht komisch übersteigert ist, bleibt der „metaphorische Raum“ der gleiche wie bei der „Ewig Leben Pille“: Beide Male soll die existentielle Gefahr des Todes durch kommerzielle Angebote „aus der Welt geschafft“ werden – in einem Fall soll er durch ein pharmazeutisches Präparat abgeschafft, im anderen Fall durch finanzielle Absicherung zumindest in ein lukratives Geschäft verwandelt werden. Fasst man die Produktassoziationen als metaphorische Umschreibungen des sich im Bild dokumentierenden Produzentenhabitus auf, dann lässt er sich in der Perspektive von Gruppe SA möglicherweise durch die Haltung charakterisieren, der Tod ließe sich durch kommerzielle Angebote ‚beheben’. Da dieses ‚Heilsversprechen’ jedoch illusorisch ist, steht diese Haltung unweigerlich im Geruch der Unaufrichtigkeit und Scharlatanerie, die durch eine gleisnerische Inszenierung zu blenden versucht. Auf diese Deutung wird noch zurückzukommen sein. Aw ratifiziert und spezifiziert diesen Alternativvorschlag, wobei sie durch einen (akustisch) unverständlichen Einschub Cw´s unterbrochen wird: „...ja, ja ... aber scho so ..>Cw: (unverständlich)@ ... ja irgendwie : Family values ... oder .... irgendwie“ (814/816) Mit der Wendung „family values“ greift sie einerseits die ikonographische Deutung „Familie“ auf. Andererseits haftet der Formulierung „family values“ wie auch der vorgeschalteten und der angehängten Diffundierung („ja irgendwie“ und „oder ... irgendwie“) etwas Vages und Unbestimmtes an, was an die oben gebrauchte Wendung „ami-mäßig“ (800) denken lässt und ebenfalls als Umschreibung des hinter dem Bild stehenden modus operandi interpretiert werden kann. „Family values“ wäre dann als „familienhafte Anmutung“ zu verstehen. Dafür spricht auch der Begriff „values“ (Werte), der auf die ikonologische Sinnebene Bezug zu nehmen scheint, auf der sich der Habitus mit seinen spezifischen Werthaltungen dokumentiert. Als Indiz für ironische Distanz wurde in der Auseinandersetzung von Gruppe SA mit dem Bild „Shantytown“ (vgl. 2.2.1.2) die englische Aussprache von „Jesus“ („Dschieses“) gewertet. Möglicherweise kann auch hier der Rückgriff auf englischsprachige Wendungen als Zeichen für Distanziertheit und Abgeklärtheit verstanden werden: Gruppe SA ‚versteht’ das Bild nicht nur, sie ‚durchschaut’ es, indem sie den hinter dem Bild stehenden Habitus erfasst und ihn metaphorisch benennt. Mit der Distanz

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einher geht möglicherweise auch eine veränderte Beobachterhaltung: Da sich die Gruppe offenbar für den sich im Bild dokumentierenden Habitus des Bildproduzenten interessiert, nimmt sie dem Bild gegenüber eine Beobachterhaltung zweiter Ordnung ein: Sie ist in quasi dokumentarischer Perspektive nicht am Was des Bildes, sondern am Wie der Darstellung orientiert (vgl. Bohnsack 2001). Der Diskurs hat sich nun verdichtet und einem gemeinsamen Thema zugewandt: Die Gruppe erörtert mögliche Verwendungszusammenhänge des Bildes. Dabei wird das Bild ironisch-distanziert als mediales ‚Machwerk’ betrachtet und in den Kontext von Werbeanzeigen gestellt. Dieses Thema war schon in der vorherigen Sequenz initiiert worden, als Aw den Vergleich mit Partnerschaftsanzeigen („so Partnerschaftssachen“) zog. Das Bild wird nicht in seiner Singularität gewürdigt, sondern als Vertreter eines allgemeinen Bildtyps, der zu kommerziellen Zwecken instrumentalisiert werden kann. Resümee Gruppe SA beginnt die Auseinandersetzung mit einem ‚Dreiklang’ nachdrücklicher Interjektionen, die aus ihrem Funktionalitätsbezug zu einem zugrundeliegenden Erlebniszusammenhang zu verstehen sind. Dabei wird die Nachdrücklichkeit möglicherweise lediglich ironisch inszeniert. Der Gruppendiskurs ist in dieser Phase der Einstiegssequenz primär gruppen- und weniger bildbezogen: Es findet zunächst keine explizite Referentialisierung auf das Bild statt, vorikonographische oder ikonographische Deutungen werden im Moment nicht vorgenommen. Möglicherweise gibt die Gruppe hier die ‚Haltung’ vor, die sie gegenüber dem Bild einnehmen möchte, bzw. legt den Rahmen fest, innerhalb dessen die Auseinandersetzung mit dem Bild stattfinden soll. Diese Haltung kann als ironisch oder komisch-entsetzt beschrieben werden. Von dieser konjunktiven ‚Festlegung’ der grundsätzlichen Haltung dem Bild gegenüber spaltet sich der Diskurs in unterschiedliche ‚Pfade’ auf, die teils zum Bild hin, teils vom Bild weg führen. So unternimmt ein Gruppenmitglied in mehreren Ansätzen den Versuch, die Einnahme einer genuin dokumentarischen Betrachterperspektive zweiter Ordnung zu initiieren. Unterbrochen wird dieser Versuch jedoch zunächst durch die Applikation des ikonographischen Schemas „Familienausflug“, das durch seinen kommunikativ-generalisierenden Modus aus den überwiegend konjunktiv geprägten Stellungnahmen herausragt. In dieser Phase wirkt die Diskursorganisation sehr disparat und unorganisch. Schließlich setzt sich die dokumentarische Perspektive hinsichtlich des fotografischen Stils im Diskurs durch. Als gemeinsames Thema ‚bündelt’ sie nun die Auseinandersetzung der Gruppe mit dem Bild. Dabei wird darum gerungen,

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den modus operandi des Bildproduzenten zu fassen. Zunächst wird das Bild mit „so Partnerschaftssachen“ verglichen. Sodann wird das Bild gedankenexperimentell in den Kontext von Werbeanzeigen gestellt. Durch Produktassoziationen wird dabei versucht – so kann vermutet werden – strukturelle Homologien zwischen assoziiertem Produkt und Bild aufzuweisen und so den intuitiv erahnten modus operandi des Bildproduzenten herauszuarbeiten und zu explizieren. Indem dem Bild ‚stimmige’ Verwendungszusammenhänge zugewiesen werden, wird der Habitus des Bildproduzenten konturiert. Die Werbeassoziationen dienen demnach als Vehikel, um den intuitiven Eindruck vom hinter dem Bild stehenden modus operandi einzugrenzen. Aufgrund möglicher Strukturhomologien mit den assoziierten Produkten („Ewig Leben Pille“) kann der sich im Bild dokumentierende Wesenssinn (sensu Panofsky) daher eventuell charakterisiert werden als ‚verlogene’ Inszenierung einer Glücksvorstellung, der zu misstrauen ist. Auch in empirischen Rezeptionsprozessen kommt es offenbar ansatzweise zu einer ikonologischen Deutung im Sinne Panofskys, d.h. nicht nur zu ikonologischen Sinnbildungsprozessen, die mit Hilfe des rezeptionsorientiert reformulierten Ikonographie/Ikonologie-Modell zu beschreiben wären (vgl. 1.4.3.1). Es ist daher auch im Rahmen der empirischen Rezeptionsforschung die Möglichkeit im Blick zu behalten, dass der Habitus des Bildproduzenten als Bezugshorizont herangezogen wird, d.h. dass das Bild auf Symptome des Produktionshabitus untersucht wird. Auch die Rezipierenden, deren Handeln Gegenstand einer dokumentarischen Interpretation ist, können eine dokumentarische Perspektive einnehmen. In der Einstiegssequenz spielen Habitusbezüge auf vielfältige Weise eine Rolle: So kann vermutet werden, dass sich die Gruppe im konjunktiven Modus über ihre Haltung dem Bild gegenüber verständigt und dabei implizit ihren habitusspezifischen, ironisch-distanzierten modus operandi bekräftigt. Die Gruppe steigt demnach auf ikonologischer Ebene in die Auseinandersetzung mit dem Bild ein. Der Habitus tritt aber nicht nur als klassifizierbares, sondern auch als klassifizierendes Prinzip Erscheinung (vgl. Bourdieu 1987, S. S. 278, 283), wenn bspw. auf Basis des eigenen Habitus der Habitus der abgebildeten Personen als „zuuuper ami-mäßig“ eingestuft wird. Schließlich bildet auch das „eigene weltanschauliche Urverhalten“ (Panofsky), d.h. der Habitus der Rezipierenden den Hintergrund für die Deutung des fotografischen Stils, d.h. für den Habitus des Fotografen. Der Interaktionsstil ist lebhaft und spontan, anfangs jedoch noch etwas ‚individualistisch’, d.h. die Gruppe spricht zunächst noch nicht wie ‚mit einer Stimme’. Sie ‚feuert’ zunächst unverbundene Interjektionen ab und appliziert ikonographische Schemata, die nicht aufgegriffen und weitergeführt werden, sondern etwas isoliert stehen bleiben. Der konjunktive Orientierungs-

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rahmen ist dabei allerdings durchgängig präsent: Er gibt den spöttischironischen Grundton vor, der selbst bei diffuser thematischer Ausrichtung des Diskurses als einheitsstiftendes Prinzip fungiert. Erst im Ringen um den sich im Bild dokumentierenden Produzentenhabitus findet die Gruppe auch inhaltlich zu einer gemeinsamen Orientierung. 2.3.1.3 Einstiegssequenz der Gruppe ND ND 1028-1066 Cw: Oh Gott ! Ne Bilderbuchfamilie Aw: ja ... im wahrsten Sinne des Wortes .... Cw: ((gleichzeitig mit Aw p)) ... aber irgendwie ... Aw: ((gleichzeitig mit Cw n)) Eltern, Kinder und: Enkel ! Cw: ... ja ... (vor) ... als der schaut ja ganz komisch in die Kamera ... Bm: ((gleichzeitig mit Cw p)) ...also des- des Cw: ((gleichzeitig mit Bm n)) der rümpft so komisch die Nase Bm: ... sind vier Generationen, oder? Aw: ... ne, drei. Bm: ((gleichzeitig mit Cw p)) ... na da der schaut schon nach Uropa fast aus Cw: ((gleichzeitig mit Bm n)) Eins - Zwei - Drei (hätt ich gesagt) Aw: Na, die hinteren zwei sind, denk ich ma, Opa und Oma ... Cw: Mm. Aw: Opa und Oma ... Cw: ... des sind die Kinder ... Aw: ... ein Ehepaar Cw: ((gleichzeitig mit Aw p)) (unverständlich) ... und die Kinder Aw: ((gleichzeitig mit Cw n)) zwei Ehepaar, Enkel. Cw: ja. Aw: ... die ham ganz schö´ viel Kinder ! ((lacht leise)) Bm: ... Stromausfall ((4)) Aw: Na gut: des sind eins, zwo, drei, vier, fünf Enkel ... Bm: Des is echt´n Bild ... Aw: Da hat einer drei Kinder ... und einer wahrscheinlich zwei. Bm: D-s, des ... Aw: ... denk ich ma .. Bm: ... ist n´Bild, wie´s wirklich ... an der Wand daheim hängt. Cw: Hm. Bm: ((2)) G´stellt ... also des is nich irgendwie jetzt so ... Aw: Drum gucken die auch so blöd. Bm: ... so zwischendurch ma fotografiert bei ner Familienfeier, sondern des is wirklich ne Aufstellung .... wo jeder plaziert wurde ... Aw: ((gleichzeitig mit Bm p)) irgendwie auf die Wiese setzen vor allem ... Bm: ((gleichzeitig mit Aw n)) ... ok, se ... gucken ... gucken ... ja. Aw: ... des find ich aber blöd, auf die Wiese setzen ! Bm: ... gucken halt a weng doof. Die hat sogar ihren Hund dabei, so wie´s ausschaut, oder, rechts unten.

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Hm. Ja, sch-schaut aus wie so´n kleines Wollknäuel.

Interjektion; ikonographische Deutung; vor-ikonographische Erörterung der Verwandtschafts- und Generationenverhältnisse; Ikonologische Charakterisierung des Bildes Wie Gruppe SA beginnt auch Gruppe ND mit einer Interjektion. An diese Interjektion wird direkt die Applikation eines ikonographischen Schemas angeschlossen: „Oh Gott ! Ne Bilderbuchfamilie“ (1028). Es folgt eine bekräftigende Ratifikation: „ja ... im wahrsten Sinne des Wortes ...“ (1029). Das ikonographische Schema „Bilderbuchfamilie“, das unmittelbar nach der Interjektion benannt wird, ist in sich vielschichtig: Mit dem Zusatz „Bilderbuch-“ wird üblicherweise eine Idealvorstellung bezeichnet (vgl. Duden 1989, S. 259). Wie der Begriff des Ideals weist der Zusatz „Bilderbuch-“ zwei Bedeutungskomponenten auf: Zum einen (1) wird damit eine stark positive Bewertung verknüpft („Bilderbuchwetter“ = sehr schönes Wetter), zum andern (2) kann damit aber auch die Vorstellung verbunden sein, dass es sich ‚nur’ um ein Ideal handelt, für das es keine reale Entsprechung gibt. (1) Die stark positive Bewertung steht im Widerspruch zur codierten Bedeutung der Interjektion „Oh Gott !“, mit der sie verknüpft ist. Dieser Widerspruch kann wie bei Gruppe SA durch die Annahme aufgelöst werden, ein Begriff sei ironisch zu verstehen. Dabei würde nicht zwangsläufig der semantische Gehalt des Begriffs „Bilderbuchfamilie“ ironisch ‚umgepolt’, sondern der evaluative: Durch die Ironie wird nicht nahegelegt, dass es sich um das Gegenteil einer typischen Familie handelt, sondern dass dieser Idealtyp keineswegs positiv zu bewerten sei. (2) Hinsichtlich des Realitätsbezug des Begriffs „Bilderbuchfamilie“ ist weiter zu differenzieren: Zunächst gilt es zu klären, wie das Verhältnis von Idealbild und konkretem Foto zu denken ist. Wird (a) das vorliegende Foto als das Idealbild selbst betrachtet, d.h. ist das Foto mit dem Idealbild identisch? In diesem Fall würde die abgebildete Familie als identisch mit der Idealvorstellung der „Bilderbuchfamilie“ betrachtet. Dann wäre zu fragen, ob dem Foto aufgrund seiner ‚Idealität’ der Realitätsgehalt abgesprochen wird, d.h. ob es als wirklichkeitsfremde Inszenierung des Ideals angesehen wird. Oder entspricht (b) das Foto dem Idealbild in erheblichem Maße, ist aber nicht mit ihm identisch. In diesem Fall würde die Authentizität des Bildes nicht in Frage gestellt. Es wäre vielmehr ein prototypischer Vertreter des nicht real existierenden Idealtyps.

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Wirklichkeit (des Fotos) und Vorstellung (des Ideals) wären nicht identisch, sondern lägen sehr dicht beieinander.34 Authentizität vs. Inszeniertheit des Fotos Oben wurde zwischen Bildern als pictures (materielle Darstellungen) und Bildern als images (mentale Bilder, Vorstellungen) unterschieden (vgl. 2.3.1.1). Auch bei Gruppe ND stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von picture und image. Doch während Gruppe AH so interpretiert werden konnte, dass erst die Gruppe im Rezeptionsprozess ein (in der Perspektive der Gruppe) authentisches picture auf ein ideales (nur ‚vorgestelltes’) image bezieht, kann bei Gruppe ND aufgrund der Formulierung „ne Bilderbuchfamilie“ nicht geklärt werden, ob die Gruppe der Meinung ist, das picture sei authentisch, d.h. unabhängig von Idealvorstellungen im Anblick der kontingenten Wirklichkeit aufgenommen, und komme dem image der Idealfamilie lediglich sehr nahe. Oder ob die Gruppe das picture für eine absichtsvolle Inszenierung des – allgemein verbreiteten – image der „Bilderbuchfamilie“ hält, ob also die Aufnahmesituation gezielt ihrer Kontingenz beraubt wurde, um das picture nach Vorgabe des image zu inszenieren. Die zweite Alternative entspricht der Lesart von Gruppe SA: Sie sieht das Bild als die tendenziell ‚verlogene’ Inszenierung einer utopischen ‚Heilsversprechung’ an und betrachtet es somit als unauthentischen ‚Schein’, bei dem das Foto (picture) mit dem Ideal (image) identisch und damit realitätsfern ist. Das Verhältnis von picture und image, von „Materialität“ und „Idealität“, von Authentizität und Inszeniertheit, von „Wirklichkeit“ und Vorstellung scheint bei allen drei Gruppen in irgendeiner Form in der Auseinandersetzung mit dem Familienbild virulent zu sein. Es geht im Rahmen dieser Arbeit nicht um die Frage, ob ein Bild ‚wirklich’ authentisch oder inszeniert ist, sondern darum, wie es von den Rezipierenden erlebt wird und ob die Rezipierenden die Differenz von authentisch vs. inszeniert vollziehen. Bei der Frage nach der Authentizität oder Inszeniertheit eines Bildes steht daher die erlebte Relation von picture und image im Vordergrund. Es lassen sich zwei grundlegende Perspektiven unterscheiden, die man als die authentische und die desillusionistische Perspektive bezeichnen könnte. In der 34

Legt man die Unterscheidung von „Sujet“ und „Modell“ eines Bildes zugrunde, die Pietraß im Anschluss an Goffman entwickelt hat (s.o.), dann lässt sich das Problem so darstellen: Offenbar entspricht das Sujet des Bildes den Idealvorstellungen einer „Bilderbuchfamilie“. Die Frage nach der Authentizität oder Inszeniertheit des Bildes stellt sich dagegen mit Blick auf die Modelle: Handelt es sich dabei um eine ‚echte’ Familie in ihren ‚natürlichen’ Handlungszusammenhang oder um ‚Familiendarsteller’, die nach Maßgabe eines dem konkreten Foto zeitlich vorausliegenden und als ideal angesehenen Sujets gezielt arrangiert wurden? (vgl. Pietraß 2003, S. 98 f.)

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authentischen Perspektive erleben die Rezipierenden ‚ihre’ images als auf das picture ‚passend’ –„to fit“ in der Terminologie Quines (vgl. Bourdieu 1993, S. 75). In der desillusionistischen Perspektive haben sie den Eindruck, dass (allgemein verfügbare) images die Herstellung des pictures ‚geleitet’ haben (mit Quine: „to guide“). In der authentischen Perspektive kommen keine Zweifel an der Authentizität der abgebildeten Szene auf. Das Foto wird als ‚Ausschnitt’ aus der Wirklichkeit erlebt, der u.U. sehr nahe an Idealvorstellungen kommen kann. In der desillusionistischen Perspektive wird die abgebildete Situation (picture) als absichtsvoll nach dem Muster der Idealvorstellungen (image) inszeniert erlebt und als ‚unecht’ entlarvt. Dabei geht es nicht – wie bei der Unterscheidung von referentiellem und rhetorischem Rezeptionsmodus – um den Status des Bildes („Fenster-zur-Welt“ vs. Zeichen), sondern um das Geschehen vor der Kamera: In der desillusionistischen Perspektive wird hier die ‚ordnende Hand’ eines Regisseurs unterstellt, in der authentischen Perspektive wird das von Seiten der Bildproduzenten unbeeinflusste Ablaufen sozialer Wirklichkeit mit ihren Kontingenzen angenommen. In beiden Perspektiven wird das Bild aber als (‚gemachtes’) Bild erlebt, d.h. im rhetorischen Rezeptionsmodus (und nicht als „Fenster-zur-Welt“).35 Die Einstiegsproposition „Oh Gott ! Ne Bilderbuchfamilie“ mit ihrer vermutlich ironisch gebrochenen, stark wertenden Einschätzung des Bildes kann der ikonologischen Ebene zugeordnet werden. Der Begriff der „Bilderbuch35

Der Unterschied zwischen authentischer und desillusionistischer Perspektive lässt sich auch im Anschluss an Überlegungen Panofskys verdeutlichen, die er über das Medium „Film“ angestellt hat: „Die Verfahrensweisen aller früheren bildenden Künste entsprechen, mehr oder weniger, einem idealistischen Weltbild. Diese Künste agieren sozusagen von oben nach unten. Sie beginnen mit einer Idee, die in die gestaltlose Materie projiziert werden soll, nicht mit den Objekten, aus denen die äußere Welt besteht. (...) Der Film und nur der Film wird jenem materialistischen Weltverständnis gerecht, das die gegenwärtige Kultur durchdringt, ob es uns nun gefällt oder nicht. (...) Der Stoff des Films ist die äußere Realität als solche“ (Panofsky 1999, S. 53 f.). Da Panofsky betont, „dass ein Film (moving picture) (...) ein Bild bleibt, das sich bewegt (a picture that moves)“ (Panofsky 1999, S. 27), kann seine Aussage auch auf Fotos übertragen werden. Ihm kann hier jedoch nicht in allen seinen Konsequenzen gefolgt werden. Insbesondere wird auch bei Fotos die Möglichkeit eines „idealistischen“ Vorgehens gesehen, bei dem der Bildproduzent „von oben nach unten“ vorgeht und mit einer „Idee“ beginnt, die er im Bild verwirklicht. Unterstellen die Rezipierenden dieses „idealistische“ Vorgehen, so betrachten sie das Bild in der desillusionistischen Perspektive (unabhängig davon, ober der Bildproduzent tatsächlich so vorgegangen ist oder nicht). Gehen die Rezipierenden dagegen davon aus, dass ein Bild „von unten nach oben“ hergestellt wurde, d.h. von der „Materie“ der „äußeren Welt“ ausgehend, und das Bild dann erst (‚durch glückliche Fügung’) einem Ideal entspricht, dann nehmen sie die authentische Perspektive ein. In authentischer Perspektive beziehen die Rezipierenden das Bild auf die ‚Wirklichkeit’, in desillusionistischer Perspektive auf (etablierte) Vorstellungen von der ‚Wirklichkeit’. In desillusionistischer Perspektive kann ein Bild daher auch als Klischee erlebt werden, wenn der Eindruck entsteht, es beziehe sich auf andere „idealistische“ Bilder. „What seems to happen in this process is that at some point a sign becomes over-used, and then its receivers see its signifiers as determined entirely by convention and not at all by reality: at this point it ceases to be an effective sign, and becomes a cliché.“ (Fiske/Hartley 1989, S. 63)

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familie“ allein kann jedoch als kommunikativ-generalisierendes Schema der ikonographischen Ebene zugeordnet werden. Die Einstiegsproposition wird bekräftigend ratifiziert: „ja ... im wahrsten Sinne des Wortes ...“ (1029). Es ist nicht nur unklar, ob sich diese Ratifikation auf die Interjektion, das ikonographische Schema oder beides bezieht. Angesichts des Widerspruchs zwischen der Interjektion und dem evaluativen Gehalt des ikonographischen Schemas einerseits und der Vielschichtigkeit des semantischen Gehalts des Schemas, sowie der damit evozierten Relation von image und picture andererseits, ist auch unklar, was als der „wahrste Sinn“ der Referenzproposition verstanden wird. Offenbar besteht aber innerhalb der Gruppe ein einvernehmliches Verständnis, wie die Eingangsproposition evaluativ und semantisch zu verstehen ist. An dieser Stelle ist es für einen gruppenexternen Beobachter jedoch nicht möglich, das implizite Verstehen zu explizieren. Aw schließt an ihre Ratifikation unmittelbar eine vor-ikonographische Analyse an, die das ikonographische Schema der „Bilderbuchfamilie“ in seine ‚Bestandteile’ aufspaltet: „Eltern, Kinder und: Enkel !“ (1031) Wie auch bei Gruppe AH ist dabei die Referentialisierung auf das konkrete Bild schwach, die auflistende Explikation könnte sich ebenso auf den abstrakten Begriff der Familie beziehen. Gleichzeitig mit Aw schließt Cw an ihre Einstiegsproposition mit einem Adversativsatz an, den sie auch über einen fragmentarisch bleibenden Einschub Bm´s fortsetzt: „... aber irgendwie ... >Aw: Eltern, Kinder und: Enkel!@ ... ja ... (vor) ... als der schaut ja ganz komisch in die Kamera ... >Bm: ...also desdes@ der rümpft so komisch die Nase“ (1030-1034) Im Widerspruch zum Schema der „Bilderbuchfamilie“ steht anscheinend, dass eine Person „ganz komisch in die Kamera schaut“. Mit dem Ideal der Bilderbuchfamilie sind anscheinend auch Idealvorstellungen hinsichtlich des Gesichtsausdrucks verbunden. Cw erwähnt bei der Formulierung des Widerspruchs die Kamera: „der schaut ja ganz komisch in die Kamera“ (1032). Damit thematisiert sie die Situation des Fotografierens bzw. Fotografiertwerdens. Aufeinander Bezug nehmend und argumentierend erörtert die Gruppe im kommunikativ-generalisierenden Modus daraufhin die Verwandtschafts- und Generationenverhältnisse der abgebildeten Personen (1033-1046). Sie diskutiert dicht am Bild und sehr detailliert die Familienverhältnisse und leistet damit quasi eine Vertiefung der vor-ikonographischen Analyse des ikonographischen Schemas „Bilderbuchfamilie“ von 1031. Diese Klärung der Familienverhältnisse mündet in die Konklusion „... die ham ganz schö´ viel Kinder! (lacht leise)“ (1047). Ohne explizite Bezugnahme oder Anknüpfung folgt darauf die Äußerung „Stromausfall“ (1048), an die sich eine Pause von vier Sekunden an-

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schließt.36 Auf die Bemerkung „Stromausfall“ wird im Diskurs der Gruppe nicht eingegangen. Aw präzisiert nach der viersekündigen Pause die Kinderzahl durch genaues Nachzählen und verteilt sie auf die Elternpaare. Währenddessen initiiert Bm wieder ein neues Thema, das Diskussionsgegenstand der Folgesequenz ist. Ikonologische Charakterisierung des Bildes 1052-1055 Proposition Bm, angehängte Subjektivitätsbekundung Aw, Ratifikation Cw: „D-s, des ... >Aw: ... denk ich ma ..@ ... ist n´Bild, wie´s wirklich ... an der Wand daheim hängt. >Cw: Hm.@“ Nach der sehr detaillierten Untersuchung der Verwandtschaftsverhältnisse auf vor-ikonographischer Ebene (und der scherzhaften Bemerkung über die Kinderzahl) folgt nun der Versuch zu klären, was für „n“ Bild das Familienbild ist, d.h. was für eine Art Bild es ist. Bereits in der vorangegangenen Sequenz hatte Bm mit seiner Proposition angesetzt und dort sehr nachdrücklich formuliert „Des is echt´n Bild ...“ (1050; Herv. B.M.). Hier nun bekräftigt er, dass es ein Bild ist, „wie´s wirklich ... an der Wand daheim hängt.“ (Herv. B.M.) Bm ist von seiner Einschätzung der Bildart offenbar sehr überzeugt, da er sie mit großer Entschiedenheit („echt“; „wirklich“) formuliert. Das Bild lässt sich anscheinend zweifelsfrei und eindeutig einer bestimmten Bildgattung zuordnen. Die Art des Bildes beschreibt Bm durch einen Vergleich: Es ist ein Bild, wie es daheim an der Wand hängt. „Daheim“ impliziert von der lexikalischen Bedeutung einen sehr intimen und privaten Bereich der eigenen Lebenswirklichkeit. Dabei ist der Begriff „daheim“ mitunter doppeldeutig: Zum einen bedeutet „daheim“ so viel wie die „eigene Wohnung“, zum anderen kann darunter aber auch das Elternhaus verstanden werden. Gerade in der biographischen Übergangszeit der ‚Abnabelung’ vom Elternhaus und dem Bezug einer eigenen Wohnung wird die eigene Wohnung oftmals (noch) nicht als „daheim“ bezeich36

Man kann hier vielleicht von einer „Leerstelle“ im Diskussionstext sprechen, bei der die Relation zwischen zwei Propositionen ungeklärt bzw. „offen“ ist. Zur Schließung dieser Leerstelle fällt dem Interpreten lediglich ein Schema ein, das die Konstatierung einer hohen Kinderzahl und den Begriff „Stromausfall“ sinnvoll miteinander zu verbinden erlaubt: Eine häufig wiedergegebene „Geschichte“, deren Echtheit m.W. nicht verbürgt ist und die daher dem Bereich der „modernen Märchen“ zugeordnet werden kann, berichtet von einem mehrstündigen Stromausfall in den USA, dem neun Monate später ein deutlicher Anstieg der Geburtenzahl folgte. Diese „Story“ erfährt dann oftmals die Auslegung, dass erst das Nicht-Funktionieren des Fernsehers viele Paare dazu brachte, sich ihrer Sexualität zu erinnern und ein Kind zu zeugen. Die Bemerkung „Stromausfall“ könnte – vermutlich scherzhaft – auf diese Geschichte anspielen und ein Erklärungsangebot für die hohe Kinderzahl darstellen. Bemerkenswert ist dann, dass eine hohe Kinderzahl offenbar erklärungsbedürftig ist und dass sie durch einen „Unfall“ bzw. „Ausnahmezustand“ erklärt wird. Zumindest wäre demnach ein äußeres Ereignis nötig, das die abgebildeten Paare aus den gewohnten („fortpflanzungsfeindlichen“) Verhaltensmustern gerissen hätte.

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net. Im üblichen Sprachgebrauch ist dann davon die Rede, dass jemand „nicht mehr daheim wohnt“, obwohl er nicht obdachlos ist oder zwangsläufig nur provisorisch wohnen würde. „Daheim“ ist dann gerade nicht der Wohnort i.S.v. ‚Lebensmittelpunkt’, sondern der ehemalige Wohnort. In Abschnitt 2.2 wurde vermutet, dass sich die Gruppe ND gerade in einer solchen ‚Abnabelungsphase’ befindet. Aus dem flankierend eingesetzten Fragebogen geht hervor, dass alle Gruppenmitglieder ‚noch daheim leben’, d.h. bei den Eltern wohnen. Bei Gruppe ND fallen demnach die beiden Bedeutungen von „daheim“ – eigener Wohnsitz und Elternhaus – zusammen. Die Nachdrücklichkeit des Vergleichs („echt“; „wirklich“) kann möglicherweise als Indiz für eine starke erlebnismäßige Verankerung angesehen werden. Dennoch kann aus dieser Proposition eine gewisse Distanz zu den Gepflogenheiten „daheim“ herausgehört werden. Versteht man „daheim“ im emphatischen Sinn als (auch emotionalen) Lebensmittelpunkt und abgeschirmten Ort höchster Privatheit, dann würde man vermutlich eher „bei mir/bei uns daheim“ formulieren. Dies tut Bm jedoch nicht, sondern spricht von „daheim“ wie von einem abstrakten Ort, zu dem er keinen starken eigenen Bezug hat. Dies steht in Widerspruch zum lexikalischen Gehalt des Begriffs „daheim“ wie auch zu dem starken Erlebnisbezug der Schilderung, der aus den bekräftigenden Adverbien „echt“ und „wirklich“ spricht. Vor dem Hintergrund des gedankenexperimentell erzeugten Vergleichshorizont eines emphatischen Begriffes von „daheim“ fällt außerdem die Unpersönlichkeit des ‚Bilderaufhängens’ auf: Bm spricht nicht davon, dass er (oder ein Mitbewohner) ein Bild dieser Art daheim aktiv an die Wand gehängt hätte, das Bild „hängt“ vielmehr einfach (bzw. ‚immer schon’) dort, ohne dass dies auf eine sinnhafte Praxis des ‚Aufhängens’ zurückgeführt werden und dadurch erklärt werden könnte. Mit dem Begriff „daheim“ ist offenbar kein unmittelbares Eingebundensein in eine Handlungspraxis verknüpft, aus der heraus die heimische Ausstattung mit Bildern unmittelbar verständlich wäre. Stattdessen wird ‚wie von außen’ konstatiert, was „daheim“ vorzufinden ist. Mit „daheim“ scheint somit von Bm kein Bereich angesprochen zu sein, in dem sich die eigene Subjektivität frei entfalten kann und der nach eigenen Vorstellungen gestaltet wird (wie dies die emphatische Vorstellung von „daheim“ nahelegen würde). Es wird vielmehr der Eindruck einer tendenziell fremdbestimmten Sphäre vermittelt, in der Prozesse ablaufen, auf die man keinen Einfluss hat, die einen möglicherweise auch nicht interessieren, die nach eigenen Gesetzmäßigkeiten funktionieren und denen man distanziert gegenübersteht. Die Gepflogenheiten „daheim“ sind offenbar nicht in die eigene Verfügungsgewalt gegeben, sondern heteronom strukturiert. Für eine Distanziertheit gegenüber den Begebenheiten „daheim“ spricht auch die argumentative Funktion, die mit dem Verweis auf „daheim“ verbunden ist: Als Ver-

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Empirische Fallrekonstruktionen

gleich dient „daheim“ der Charakterisierung eines Bildes, das von der Gruppe mit ‚mildem Entsetzen’ begrüßt wurde („Oh Gott“; 1028). Trotz dieser tendenziellen ‚Entfremdungserfahrung’ innerhalb des Kernbereichs der Privatheit, die sich möglicherweise hier dokumentiert, können die nachdrücklichen Wendungen „echt“ und „wirklich“ als Hinweise für einen starken Erlebnisbezug interpretiert werden. Dieser Erlebnisbezug wäre dann weniger konjunktiv durch die Teilhabe an einer gemeinsamen Handlungspraxis geprägt, als vielmehr distinktiv durch die (möglicherweise ebenfalls präreflexiv bleibende) Abgrenzung von gemeinschaftlichen Praxisformen „daheim“. Unter 2.2.4.1 wurde vermutet, dass für Gruppe ND das Elternhaus einen prekären Gegenhorizont bildet. Als prekär wurde der Gegenhorizont des Elternhauses bezeichnet, da die Gruppe (durch das Wohnen im Elternhaus) mit ihm ‚verstrickt’ ist und sich deshalb nicht vollständig von ihm abgrenzen kann. Bei der hier behandelten Textstelle zeigt sich nun möglicherweise eine homologe Struktur mit jenem bei Bild „Shantytown“ zu Tage getretenem Dilemma zwischen Hinwendung und Abgrenzung: Dem hier nun auftretenden starken Erlebnisbezug und dem hohen Authentizitätsgrad der Schilderung, sowie der „Intimität“ einschließenden lexikalischen Semantik des Begriffs „daheim“ stehen gleichzeitig Symptome der Distanziertheit gegenüber. 1056-1059 Kontrastierende Explikation Bm, Elaboration Aw. Nach einer kurzen Ratifikation durch Cw („Hm“; 1055) und einer kurzen Pause entfaltet Bm weiter die besondere Art des Familienbildes: „G´stellt ... also des is nich irgendwie jetzt so ... >Aw: Drum gucken die auch so blöd.@ ... so zwischendurch ma fotografiert bei ner Familienfeier, sondern des is wirklich ne Aufstellung .... wo jeder plaziert wurde ...“ Das Charakteristische eines Bildes, „wie es daheim an der Wand“ hängt, wird zunächst auf einen Begriff gebracht: „g´stellt“. Auch dieser Begriff wird expliziert. Dabei geht Bm quasi dialektisch vor: erst schildert er ex negativo, welcher Art das Bild nicht ist („so zwischendurch ma fotografiert“), und erläutert dann positiv, worin seine Besonderheit besteht. Es handelt sich um keinen Schnappschuss, sondern um ein „gestelltes“ („g´stellt“) Bild, bei dem die Anordnung der Personen nicht dem Zufall überlassen, sondern genauestens arrangiert wurde. Diese Einschätzung formuliert Bm ebenfalls nachdrücklich („wirklich“). Authentische Inszenierung vs. Inszenierung von Authentizität Kann daraus geschlossen werden, dass Bm das Bild aus desillusionistischer Perspektive (s.o.) betrachtet? Zwar ist Bm der Ansicht, dass auf dem Bild „jeder plaziert wurde“, d.h. dass dem Bild eine gezielte Inszenierung („Aufstellung“) zugrundeliegt. Damit entlarvt er das Bild jedoch nicht als illusionistische, d.h.

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„unechte“ Inszenierung von etwas, das es nur zu sein vorgibt. Denn wie aus der eingehenden Erörterung der familieninternen Verwandtschaftsverhältnisse in der vorherigen Sequenz hervorgeht, zweifelt die Gruppe nicht daran, dass es sich um eine „echte“ Familie handelt (und nicht etwa um Familiendarsteller). Als Ausgangspunkt bzw. „Stoff“ des Bildes sieht Bm die „äußere Realität als solche“ (Panofsky 1999, S. 53 f.) an, d.h. eine authentische Familie bei einer authentischen Familienfeier. Er betrachtet das Bild daher – in der von Panofsky entlehnten Begrifflichkeit – als „von unten nach oben“, d.h. in materialistischer Weise hergestellt. Er nimmt demnach nicht die desillusionistische Perspektive ein, die das Bild als „von oben nach unten“ in idealistischer Weise produziert ansieht. Gleichwohl sieht er im Bild Ergebnisse einer Inszenierung („g´stellt“), d.h. eines absichtsvollen Handelns. Als Kontext dieses absichtsvollen Handelns wird jedoch eine als authentisch erlebte Familienfeier angesehen.37 Man kann daher zwischen (a) einer ‚authentischen Inszenierung’ und (b) der ‚Inszenierung von Authentizität’ unterscheiden. Bei (a) handelt es sich um Inszenierungen, die zwar als nicht-kontingent, aber nicht als illusionistisch erlebt werden. Sie können daher – wie z.B. eine Hochzeitszeremonie – in authentischer Perspektive als Inszenierung betrachtet werden. In solchen oftmals rituellen Inszenierungen wird mit der Inszenierung nicht auf etwas anderes ‚hinter’ der Inszenierung verwiesen. Dagegen wird bei (b) durch die Inszenierung die Illusion eines Sachverhalts erweckt, der nicht identisch ist mit den Mitteln der Illusion. Namenstiftendes Beispiel solcher Inszenierungen sind Theaterstücke, bei denen Schauspieler und Requisiten (= Mittel) die Illusion bspw. eines Königsmords inszenieren. In desillusionistischer Perspektive würde der Königsmord als ‚unecht’ entlarvt. Es sind aber auch (unauthentische) ‚Inszenierungen authentischer Inszenierungen’ denkbar – bspw. eine mit Schauspielern ‚gestellte’ Hochzeitszeremonie oder ein mit ‚Familiendarstellern’ (Models) inszeniertes ‚Familienbild-Bild’. Die Unterscheidung von authentischer und desillusionistischer Perspektive ist daher nicht prinzipiell an der Inszeniertheit festzumachen, sondern an Inszenierungen, die – in der Perspektive der Betrachtenden – eine (unauthentische) Illusion erwecken, d.h. denen von den Betrachtenden unterstellt wird, dass sie etwas anderes vorgeben, als sie ‚in Wirklichkeit’ sind. Obwohl Bm´s Erläuterung der Bildart durch den Nachdruck sehr engagiert wirkt, enthält sie keine explizite Bewertung. Umso pointierter nimmt sich daher der Einwurf Aw´s aus: „Drum gucken die auch so blöd.“ (1057). Damit bezieht sie sich vermutlich auf die Charakterisierung des Bildes als „g´stellt“ (1056). 37

Wieder kann die Pietraß/Goffman´sche Unterscheidung von „Sujet“ und „Modell“ (s.o.) für eine Präzisierung sorgen: Obwohl sich das Sujet des Bildes in der Wahrnehmung der Gruppe ND einer gezielten Inszenierung verdankt, wird die Authentizität der abgebildeten Modelle nicht in Zweifel gezogen.

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Diese negative Bewertung ist doppelt referentialisiert: Zum einen bezieht sie sich auf das Aussehen bzw. den Gesichtsausdruck der abgebildeteten Personen. Zum andern übt sie damit Kritik an „gestellten“ Fotos, da sie diese für die Ursache („drum“) ungünstigen Aussehens hält. 1060-1066 Evaluative Propositionen Aw; konzedierende Ratifikation Bm; fragende, vor-ikonographische Prädikation Bm, Ratifikation Cw, Elaboration Aw. Aw übt weiter Kritik an der Art des Fotos: Als „blöd“ empfindet sie die Positionierung der Personen auf „der“ Wiese. Sie setzt zweimal zu dieser Formulierung an und drückt dies beide Male transitiv durch „setzen“ und nicht etwa intransitiv durch „sitzen“ aus. Möglicherweise nimmt sie damit Bm´s Perspektive auf, der von einer „Aufstellung“ spricht, „wo jeder plaziert wurde“ (1059). In dieser Perspektive sind die abgebildeten Personen nicht aktiv Handelnde, sondern willenlose Objekte, die quasi wie Schachfiguren in eine „Aufstellung“ gebracht, „plaziert“ und auf die Wiese „gesetzt“ werden. Bm stellt fest, dass eine abgebildete Frau „sogar“ ihren Hund dabei hat (1063). Es bleibt unklar, worauf sich diese Feststellung, insbesondere die überbietende Formulierung („sogar“) bezieht. Bm ist sich der vor-ikonographischen Identifikation des Hundes nicht sicher und vergewissert sich daher bei den anderen Gruppenmitgliedern durch Nachfragen. Kontrastierender Vergleich: Der modus operandi des Bildes In dieser Sequenz wendet sich Gruppe ND – wie zuvor schon Gruppe SA – dem hinter der Herstellung des Bildes stehenden modus operandi zu. Sie nimmt damit ebenfalls eine ikonologische Perspektive in Panofskys ursprünglichem Sinn ein. Dies wird daran deutlich, dass sich die Gruppe nicht lediglich für den Inhalt des Bildes interessiert, sondern auch für seine (Mach-) Art: Es wird überlegt, was für „n“, d.h. welcherart Bild das Familienbild ist. Mit dieser Einstellung auf das Wie eines Bildes ist eine Beobachterperspektive zweiter Ordnung verbunden (vgl. Bohnsack 2001). Auch Gruppe ND versucht den im Bild erahnten modus operandi vergleichend (durch eine „komparative Analyse“) einzugrenzen. Sie geht dabei sowohl nach dem Prinzip des maximalen Kontrasts vor, indem sie angibt, welcherart das Bild nicht ist („so zwischendurch ma fotografiert“; 1058), als auch nach dem Prinzip des minimalen Kontrasts, indem sie das Familienbild mit Bildern vergleicht, die ihm möglichst nahekommen („n´Bild, wie´s wirklich ... an der Wand daheim hängt“; 1054). Die ikonologische Betrachtungsweise der Gruppe ND nimmt die ‚authentische Inszenierungsweise’ in den Blick, „wo jeder plaziert wurde“ (1059) – jedoch nicht, um etwas anderes vorzuspiegeln, sondern um als Darsteller seiner selbst zu fungieren. Gruppe ND betrachtet somit den modus operandi einer (authentischen) Familienfeier, bei der alle Fa-

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milienmitglieder in eine „Aufstellung“ gebracht, auf die Wiese „gesetzt“ und „plaziert“ wurden. Dieser modus operandi einer Familienfeier der vermutlich auch – gedankenexperimentell weitergesponnen – der Tischordnung, dem Anschneiden der Torte, der Art der Geburtstagsgeschenke, den Gesprächen mit ihren ‚bewährten’ Anekdoten etc. zugrunde liegt, dokumentiert sich für Gruppe ND auch im Bild. Obwohl das Bild bzw. die abgebildete Situation als authentisch betrachtet wird, scheint die persönliche Authentizität und Autonomie der abgebildeten Personen aus der Perspektive der Gruppe ND eingeschränkt zu sein: Über sie wird verfügt, da sie sich der ‚authentischen’ bzw. ‚rituellen’ Inszenierung einer Familienfeier im Allgemeinen und der „Aufstellung“ für ein Familienfoto im Besonderen unterordnen müssen. Gruppe ND betrachtet das Bild scheinbar ‚von innen’, d.h. aus der Perspektive der abgebildeten und auf die Wiese „gesetzten“ Personen. Diese ikonologische Perspektive scheint in der konjunktiven Teilhabe an der Praxis solcher Familienfeiern verwurzelt zu sein. Gruppe SA richtet dagegen ihren ikonologischen Blick auf einen ganz anderen modus operandi: Sie betrachtet das Bild in der Einstiegssequenz nicht als authentische ‚Spur’ einer (‚echten’) familiären Inszenierung, sondern als mediale Inszenierung einer familiären Inszenierung. Auch Gruppe SA versucht durch Vergleiche ihren ‚intuitiven’ Eindruck von der Machart des Familienbildes („so sehen die auch fotografiert aus irgendwie“; 809) auf den Begriff zu bringen. Dabei zieht sie keine Beispiele aus dem familiären Kontext heran, sondern medial verbreitete Bilder: Anzeigen für „Partnerschaftssachen“ und Werbung für eine „Ewig Leben Pille“ oder eine „Lebensversicherung“. Gruppe SA erspürt den hinter der Erzeugung des Bildes stehenden modus operandi im kommerziellen Verwendungszusammenhang des Bildes und nicht (wie Gruppe ND) in der sozialen Situation der Fotoaufnahme. Implizit macht Gruppe SA damit aber auch Aussagen über die Aufnahmesituation: Sowohl aus dem Vergleich mit Werbeanzeigen (und nicht etwa redaktionellen oder privaten Fotos), als auch aus der Kontextualisierung mit teilweise völlig unglaubwürdigen Produktversprechen lässt sich folgern, dass sie das Bild in desillusionistischer Perspektive betrachtet. Schließt man sich der Interpretation an, dass durch die Kontextualisierungen auch der hinter dem Bild stehende modus operandi charakterisiert wird, Bild und Produktassoziationen für Gruppe SA demnach strukturelle Homologien aufweisen, dann kann angenommen werden, dass das Familienbild durch den desillusionistischen Blick ‚hinter die Kulissen’ als unauthentische Inszenierung einer nur vorgeblichen Familiensituation entlarvt wird. Als Produkt des gleichen Habitus, der den Tod durch eine Pille aus der Welt zu schaffen verspricht, zieht das Bild ebenfalls Misstrauen auf sich und wirkt als ‚verlogener’ Schein einer Welt, in der selbst existentielle Probleme lösbar sind. Statt als Amateurfotografie von einem Familienausflug erscheint

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das Bild dann als durchgestyltes Produkt eines professionellen ‚Fotoshootings’, nicht in einem Park aufgenommen, sondern in einem sorgfältig ausgeleuchteten Fotostudio mit bezahlten Models als Familiendarstellern. Die ‚Haltung’ der Gruppe SA dem Bild gegenüber kann dann – im Unterschied zur Perspektive ‚von innen’ aus der Aufnahmesituation heraus, die Gruppe ND einnimmt – als ‚von oben’ (bzw. ‚von oben herab’) beschrieben werden: Die Gruppe stellt sich zunächst auf die gleiche Stufe wie der Bildproduzent, indem sie sich sozusagen an seiner Arbeit beteiligt und sich für das Foto ‚passende’ Verwendungszusammenhänge überlegt. Aus dieser Perspektive sind die abgebildeten Personen ebenfalls ‚Figuren’, die fremdbestimmt irgendwohin „gesetzt“ werden können. Doch während Gruppe ND die Perspektive dieser ‚Figuren’ einnimmt, sieht sich Gruppe SA in der Rolle desjenigen, der die ‚Strippen zieht’, d.h. der den Figuren mit zynischer Absicht ihre Positionen zuweist. Gruppe SA blickt dem Bildproduzenten jedoch nicht nur ‚über die Schulter’, sondern zugleich auch ‚in die Karten’, d.h. sie durchschaut ihn und persifliert ihn ironisch, indem sie seine (sich im Bild dokumentierenden) ‚Heilsversprechungen’ durch die Produktassoziation der „Ewig Leben Pille“ ins Absurde übersteigert und so parodiert. Dadurch macht sie ihn einerseits lächerlich, überführt ihn andererseits aber auch als heuchlerisch und unwahr. Damit stellt sich Gruppe SA noch eine Stufe über den Bildproduzenten, da sie auf sein ‚zynisches Strippenziehen’ herabblickt, seine Arbeit durchschaut und ihn mit seinen eigenen Waffen schlägt.38 Resümee Gruppe ND steigt mit einer expressiven Interjektion in die Auseinandersetzung mit dem Familienbild ein („Oh Gott !“). Sie ist identisch mit einer Interjektion, die auch bei Gruppe SA zu Beginn der Auseinandersetzung mit dem Familienbild steht. Bei beiden Gruppen wurde dieser Ausruf als Hyperbel verstanden, dessen codierte Bedeutung dann mit ‚mildem Entsetzen’ wiedergegeben werden kann. Aus der Gleichheit der Interjektionen kann jedoch nicht auf eine Identität der zugrundeliegenden Erlebniszusammenhänge geschlossen werden. Hinweise auf die unterschiedlichen Funktionalitätsbezüge, in denen die Interjektionen bei den beiden Gruppen stehen, können möglicherweise deren unterschiedlichen ikonologischen Deutungen bzgl. des sich im Bild dokumentierenden modus operandi geben. Während Gruppe ND die soziale Situation in den Blick nimmt 38

Der Hinweis ist angebracht, dass hier mit „Bildproduzent“ nicht der empirische Bildproduzent des Familienbildes gemeint ist, sondern der Bildproduzent, wie er von Gruppe SA in ikonologischer Perspektive (im Sinne Panofskys) konstruiert wurde. In der Perspektive der Gruppe SA lässt er sich als „zynischer Strippenzieher“ rekonstruieren.

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und sie in authentischer Perspektive als authentische Familienfeier erlebt, zielt die desillusionistische Betrachtungsweise von Gruppe SA mehr auf die mediale Inszenierung eines fassadenhaften Scheins von Familie ab. Das ‚milde Entsetzen’ – so könnte eine erste Vermutung lauten – ist bei Gruppe ND im konjunktiven Erlebniszusammenhang einer Familienfeier verankert, bei Gruppe SA dagegen in einem distanziert-ironischen ‚Blick hinter die Kulissen’. Diese Thesen bedürfen jedoch noch weiterer empirischer Belege. Unmittelbar an den Ausruf „Oh Gott“ schließt sich das ikonographische Schema „Bilderbuchfamilie“ an. Damit wird auch von Gruppe ND das kommunikativ-generalisierende Schema der „Familie“ auf das Bild appliziert. Auch Gruppe ND stellt keine Schemainkongruenzen bzw. Leerstellen fest, auch in ihrer Perspektive ist das Familienbild demnach syntagmatisch geschlossen. Die Deutung der abgebildeten Menschengruppe als „Familie“ übersteigt bereits die vor-ikonographische Ebene, da nicht lediglich einzelne Bildelemente („Mann“, „Frau“, „Kind“) wiedererkannt werden. Vielmehr werden die einzelnen Bildelemente nach Maßgabe eines kulturspezifischen Schemas zusammengefasst – eben des kommunikativ-generalisierenden Schemas „Familie“. Dass das Bild in der Perspektive der Gruppe ND dem Familienschema nicht nur entspricht, sondern in besonderer Weise entspricht, wird an dem Zusatz „Bilderbuch-“ deutlich. Die darin mitanklingende positive Bewertung kann aufgrund der Verknüpfung mit der Interjektion „Oh Gott“ als ironisch interpretiert werden. Mit der ebenfalls mitschwingenden Bedeutung einer Idealvorstellung stellt sich erneut die Frage nach dem Verhältnis von image und picture. Daran anschließend wurde vorgeschlagen zwischen einer authentischen und einer desillusionistischen Perspektive zu unterscheiden. Wie aus der eingehenden Analyse der familieninternen Verwandtschafts- und Generationenverhältnisse durch die Gruppe hervorgeht, hält die Gruppe die abgebildeten Personen für eine ‚echte’ Familie und nicht für Familiendarsteller. Insofern nimmt die Gruppe dem Bild gegenüber eine authentische Perspektive ein. Gleichwohl konstatiert sie, dass das Bild „g´stellt“, d.h. inszeniert sei. Es kann daher zwischen einer ‚authentischen Inszenierung’ – wie bspw. bei einer Zeremonie – und der ‚Inszenierung von Authentizität’ unterschieden werden. Für Gruppe ND liegt beim Familienbild offenbar eine authentische Inszenierung vor. Die Gruppe wendet sich dem Bild auch in einer Beobachterperspektive zweiter Ordnung zu, da sie nicht nur zu seinen (vor-ikonographischen und ikonographischen) Inhalten Stellung nimmt, sondern auch seine (Mach-) Art würdigt. Damit leistet sie eine ikonologische Deutung im Sinne Panofskys. Dabei behält sie allerdings die authentische Perspektive bei und analysiert den modus operandi der sozialen Situation vor der Kamera und nicht den Habitus des Bildproduzenten hinter der Kamera (wie Gruppe SA dies tut). Charakteristisch für

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dieses Geschehen vor der Kamera scheint das fremdbestimmte Plaziert- und auf die Wiese Gesetztwerden zu sein. Gruppe ND betrachtet das Bild quasi aus dem Blickwinkel der abgebildeten Personen, d.h. ‚von innen’. Ebenfalls im intuitiven ‚Ringen’ um eine Explikation des mehr nur erspürten modus operandi wird das Bild sehr nachdrücklich als Bild bezeichnet, „wie´s wirklich ... an der Wand daheim hängt“ (1054). Vor einem gedankenexperimentell erzeugten Gegenhorizont wurde ein ambivalentes Verhältnis zur Vorstellung „daheim“ herausgearbeitet: Sowohl die Nachdrücklichkeit der Darstellung als auch der semantische Gehalt sprechen für eine große Nähe und Vertrautheit zu „daheim“, andere Formulierungen weisen dagegen auf ein distanziertes Verhältnis zu den Gepflogenheiten daheim. Es stellte sich daher die Frage, ob sich hier in homologer Weise ein Muster zeigt, das bei der Auseinandersetzung der Gruppe mit Bild „Shantytown“ herausgarbeitet wurde und dort als prekäres Verstricktsein mit dem eigentlich negativen Gegenhorizont des Elternhauses gedeutet wurde. In der Einstiegsphase lassen sich drei Zentren des Diskursverlaufs ausmachen: Während in der unmittelbaren Eröfnungssequenz durch die Interjektion ein direkter Bezug zum Erlebniszusammenhang der Gruppe hergestellt wird, wendet sich die Diskussion dann den vor-ikonographischen und ikonographischen Sachverhalten zu. In dieser Phase werden die Generationenzahl und die familieninternen Verwandtschaftsverhältnisse geklärt. Dabei argumentiert die Gruppe sehr dicht am Bild, ein direkter Bezug zu den eigenen Erlebniszusammenhängen findet nicht statt. Die Bezugnahme innerhalb der Gruppe ist auch in dieser Phase sehr ‚engmaschig’: Gemeinsam erörtert die Gruppe die Zahl der Kinder, Eltern und Großeltern. Schließlich wendet sich die Gruppe der Machart des Bildes zu und versucht den hinter dem Bild stehenden modus operandi zu benennen. Obwohl sie dies auf Basis ihres eigenen Habitus tut, bleibt der Erlebnisbezug in dieser Phase eher implizit. Der Wechsel von einem Themenzentrum zum nächsten wird jedesmal durch Bm initiiert. Auch in der Beschäftigung mit Bild „Shantytown“ wurde deutlich, dass ihm in der Gruppe eine Art Wortführerfunktion zukommt. Insgesamt kann die Diskursorganisation aber als homogen und gleichberechtigt angesehen werden. Die Interaktionsdichte ist durchgehend sehr lebendig. 2.3.1.4 Resümee und Ausblick Im Unterschied zu Bild „Shantytown“ wurde beim Familienbild in der Einstiegssequenz von keiner der Gruppen eine syntagmatische Leerstelle festgestellt. Das Bild ließ sich vielmehr gruppenübergreifend an das ikonographische

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Schema der „Familie“ assimilieren, es kann daher als syntagmatisch geschlossen bezeichnet werden. Auf der ikonographisch-thematischen Ebene – der Ebene des Was bzw. der „immanenten“ Ebene, wie es bei Mannheim heißt (1980, S. 85 ff.) – wird das Bild demnach von allen Gruppen gleich verstanden. Unterschiede zwischen den Gruppen können sich dann aufgrund verschiedener paradigmatischer Verortungen des Bildes ergeben. Dass es trotz syntagmatischer Geschlossenheit zu Unterschieden der Sinnbildung zwischen den Gruppen kommt, zeigte sich bereits ansatzweise. Es ist nun zu fragen, ob diese Unterschiede der Sinnbildung habitusspezifisch sind, d.h. auf Basis konjunktiver Wissensbestandteile erfolgen und somit der ikonologischen Ebene zuzurechnen sind. Zu untersuchen sind daher die unterschiedlichen Orientierungsrahmen, innerhalb deren das Bild von den Gruppen behandelt wird, also das Wie der Auseinandersetzung. Die Orientierungsrahmen sind im Unterschied zu den Orientierungsschemata der vor-ikonographischen und ikonographischen Ebene in einem konjunktiven Erlebniszusammenhang verwurzelt. Von Gruppe AH wurde die ikonologische Ebene in der analysierten Einstiegssequenz noch nicht berührt, wohl aber von den beiden anderen Gruppen. Dabei gab es zwischen Gruppe SA und Gruppe ND an zwei Stellen eine Übereinstimmung hinsichtlich der ‚Problemstellung’, nicht aber hinsichtlich der Bearbeitung des „Problems“39: So stellten beide Gruppen eine Verbindung von Familienbild und ihren konjunktiven Erlebniszusammenhängen durch (eine) Interjektion (-en) her, wobei es zu einer Identität im Ausdruck kam („Oh Gott“). Auch die codierte Bedeutung konnte – unter der Annahme einer Übersteigerung des Ausdrucks – bei beiden Gruppen mit ‚mildem Entsetzen’ angegeben werden. Ob aus der Identität des Ausdrucks sowie der codierten Bedeutung auch auf eine Gleichheit des Funktionalitätsbezugs geschlossen werden kann, konnte nicht geklärt werden. Außerdem stellten beide Gruppen, SA und ND, auf Basis des mit ihren Habitus verbundenen konjunktiven Wissens Überlegungen zum hinter dem Bild stehenden modus operandi an. Trotz der Gemeinsamkeit der Problemstellung nahmen die Gruppen das Problem aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick: Während Gruppe SA in desillusionistischer Perspektive das Bild als trügerische Inszenierung einer unauthentischen Familie entlarvt und hinter der Inszenierung Symptome einer unlauteren Haltung entdeckt, focussiert Gruppe ND auf die soziale Situation einer (authentischen) Familienfeier, in der die Familienmitglieder für die Aufnahme eines Familienfotos in einer bestimmten „Aufstellung (...) plaziert“ wurden. An solchen Gemeinsamkeiten der Problemstellung treten habitusspezifische Unterschiede der Rezeption, d.h. das 39

„Problem“ und „Problemstellung“ sind nicht als theoretisch explizierte Aufgabenstellungen zu verstehen, denen sich die Akteure bewusst gegenübergestellt sehen, sondern als sich aus der Praxis ergebende und als solche gar nicht thematisierte Handlungsanforderungen (vgl. dazu Bourdieu 1998, S. 144).

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Empirische Fallrekonstruktionen

lemstellung treten habitusspezifische Unterschiede der Rezeption, d.h. das Wie der Auseinandersetzung mit dem Bild, besonders deutlich hervor (vgl. Bohnsack 1999, S. 40 f.). Ein weiteres ‚Leitmotiv’, das in unterschiedlicher Weise in den Diskussionen aller drei Gruppen „anklingt“ und somit ebenfalls die Habitusunterschiede hervortreten lässt, hängt mit der ikonologischen Perspektive der Gruppen SA und ND zusammen und resultiert wie sie möglicherweise aus der von allen Gruppen empfundenen syntagmatischen Geschlossenheit des Bildes. Denn alle Gruppen betrachten das Bild in der Einstiegssequenz auch in seiner Eigenschaft als Bild – ohne dabei zwangsläufig eine rhetorische Rezeptionsperspektive einzunehmen. So spricht Gruppe AH nicht lediglich von einer „Familie“, sondern von einem „Familienfoto“ (AH 654; Herv. B.M.). Gruppe SA thematisiert den fotografischen Stil („so sehen die auch fotografiert aus irgendwie“; SA 809). Gruppe ND schließlich stellt fest, dass das Familienbild „n´Bild“ ist, „wie´s wirklich an der Wand daheim hängt.“ (ND 1054; Herv. B.M.). Das Familienbild scheint sich bei allen drei Gruppen nicht nur an das Alltagsschema der „Familie“, sondern auch an das Darstellungsschema des „Familienbildes“ assimilieren zu lassen. Eine Wendung im Diskurs der Gruppe AH lenkte das Augenmerk des Interpreten auf das Verhältnis von picture und image, von Vorstellung und ‚Wirklichkeit’, von Materialität und Idealität, von Authentizität und Inszeniertheit. Bei der Frage nach der Authentizität oder Inszeniertheit geht es in der Diktion Panofskys darum, ob das Bild nach Meinung der Rezipierenden ‚idealistisch’ hergestellt wurde, d.h. mit einer etablierten Vorstellung beginnend „von oben nach unten“, oder ob nach Ansicht der Rezipierenden der Produktionsprozess des Bildes in ‚materialistischer’ Weise bei der „äußere(n) Realität als solche(r)“ seinen Ausgang nahm und „von unten nach oben“ ablief (Panofsky 1999, S. 53 f.). Auch diese Frage nach der Authentizität oder Inszeniertheit des Bildes stellt ein gemeinsames Thema dar, in dessen unterschiedlicher Bearbeitung sich das Wie der Beschäftigung mit dem Bild dokumentiert. Im Zentrum der weiteren Untersuchung wird auch bei der Rezeption des Familienbildes die Gruppe ND stehen. Auf diese Weise lässt sich am ehesten ein Vergleich mit den Sinnbildungsprozessen bei der Rezeption von Bild „Shantytown“ ziehen. Gleichwohl werden auch die Perspektiven der beiden anderen Gruppen intensiv berücksichtigt, da nur im Vergleich mit anderen Orientierungsmustern die Besonderheit des Habitus von Gruppe ND zum Vorschein kommen kann.

Syntagmatisch geschlossenes Bild

2.3.2

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Rekonstruktion von Vergleichshorizonten

Um auch die Perspektive der Gruppe AH als Vergleichshorizont fruchtbar zu machen, die in der Einstiegssequenz noch nicht so recht deutlich wurde, soll zunächst deren konjunktiver Orientierungsrahmen anhand des Wie der Sinnbildung zumindest ansatzweise sichtbar gemacht werden. Daran anschließend lassen sich entlang der bereits aufgeworfenen Fragen die jeweiligen Besonderheiten der Gruppen im Umgang mit dem Familienbild durch wechselseitige Vergleichsbildungen herausarbeiten. Es wird sich zeigen, dass sich das konjunktive Erleben der Gruppe AH bei der Rezeption des Familienbildes durch einen Ausdruck umschreiben lässt, den Gruppe SA explizit auf das Familienbild bezieht. Dieser empirisch im Fallvergleich gewonnene Ausdruck der „heilen Welt“ kann als tertium comparationis, d.h. als das den Fallvergleich strukturierende Dritte (vgl. Bohnsack 1999, S. 210 f.) verwendet werden. Anhand der Bearbeitung des gemeinsamen Themas der „heilen Welt“ können gruppenspezifische Unterschiede in der Art der Bearbeitung, d.h. des modus operandi deutlich hervortreten. Auf diese Weise lässt sich ein Eindruck von den konjunktiven Orientierungsrahmen der beiden Gruppen gewinnen. Sie können dann als Vergleichshorizonte an die Auseinandersetzung der Gruppe ND mit dem Familienbild gelegt werden. Das tertium comparationis der „heilen Welt“ strukturiert auch den Aufbau der folgenden Analyse und wird in den Überschriften quasi schon vorweggenommen, obwohl es Ergebnis der reflektierenden Interpretation ist. 2.3.2.1 Gruppe AH: „Heile Welt“ als impliziter ikonologischer Sinn Gruppe AH ‚gleitet’ aus der in 2.3.1.1 besprochenen Einstiegssequenz direkt in eine Phase, die von der Interaktion her sehr dicht ist. In der Einstiegssequenz hatte sich die Gruppe nahezu auschließlich im kommunikativ-generalisierenden Modus über das Bild verständigt, in der nun folgenden Sequenz scheint sie die abgebildete Situation nachzuerleben. In hoher interaktiver Dichte steigert sich die Gruppe in eine Stimmungsschilderung hinein. Die einzelnen Redebeiträge sind eng ineinander verflochten, die Gruppe spricht wie ‚mit einer Stimme’. Dies kann als Beleg dafür gewertet werden, dass die Gruppenmitglieder sich hier auf der Basis konjunktiver Erfahrungen unmittelbar verstehen. In gemeinsamer, sich überbietender Rede bemüht sich die Gruppe, ihren Eindruck vom Bild zu benennen.

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Empirische Fallrekonstruktionen

AH 672-695: Ew: ((gleichzeitig mit Dw:)) ... des macht irgendwie so ... Dw: ((gleichzeitig mit Ew:)) ... (wenn die so) in Polohemden rumrennen ... Ew: ... a so, wie wenn da d´Sonne scheinen würde und voll schönes Wetter wär ... Aw: ((gleichzeitig mit Dw:)) Hm ... schönes Wetter und schöne Umgebung ...ja Dw: ((gleichz. m. Aw:)) ...s´is .. s´is einfach n´Familienausflug oder´n Picknick .. mehr, ja, hm ... ich glaub, was andres eigentlich net .. Aw: ... also ich-, dass sich die meischten eigentlich freuen ... die Leute sin gut drauf ... Bw: ((gleichzeitig mit Aw:)) ... ne harmonische Familie Aw: ((gleichz. m. Bw:)) ... aber sieht so aus, als ob denne auch die Sonne voll ins G´sicht scheint ... Dw: ..ja .. Aw: ... weil jeder so´s G´sicht klein wenig verzieht ... ((lacht)) Bw: .... die verstehen sich gut ... Ew: ... ja, so macht´s den Eindruck ... Dw: ... weil se alle auch so z´amme sind ... ((3)) Ew: ... und´s irgendwie ... so richtig von Herzen lachen ... Aw: Hm. Ew: .... oder grinsen... nich irgendwie so bedrückt... Aw: Also der Tag muss viel Spaß machen einfach und .... einfach die Leute dabei, wo man mag und gern hat ... Ew: ja. Dw: Einfach n´Tag in der Natur, weil dahinter des is so was wie n´Wald glaub ich ... Aw: Hm: Ew: ja. ........ sieht so aus ..

Die interaktive Dichte und die lebendige Anschaulichkeit der Beschreibung können als Beleg für die „Authentizität“ der Darstellung, d.h. für die hohe erlebnismäßige Verankerung der Schilderung angesehen werden. Solche diskursdramaturgisch herausgehobenen Höhepunkte des interaktiven Engagements markieren Zentren des gemeinsamen Erlebens einer Gruppe (vgl. Bohnsack 1999, S. 183). Eine dramaturgische Steigerung, wie sie sich in der vorliegenden Sequenz zeigt, verspricht daher Zugang zu den konjunktiven Erlebniszentren einer Gruppe. Da sich die Gruppe in ihrer ‚erlebnisgesättigten’ Darstellung auf das Bild bezieht, kann in der oben entwickelten Terminologie formuliert werden, dass in dieser Sequenz eine Relation von Bild und konjunktivem Erfahrungswissen hergestellt wird. Diese relationale Bezugsgröße ist der ikonologische Sinn. Die Ebene der Sinnbildung lässt sich an dieser Stelle demnach an der Diskursorganisation erkennen. Auffallend an dieser Sequenz ist die Betonung der „Einfachheit“ (Herv. B.M.): „einfach n´Familienausflug“ (676); „der Tag muss viel Spaß machen einfach“ (690); „einfach die Leute dabei, wo man mag“ (690/691); „einfach n´Tag in der Natur“ – „was andres eigentlich net“ (677). Als sehr angenehm wird offenbar die Abwesenheit von Komplexität empfunden. Im Resümeeteil

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der Diskussion, in dem die Gruppe um die Abgabe eines Präferenzurteils gebeten wurde und aus der Reihe der sechs präsentierten Bilder spontan das Familienbild zu ihrem ‚Lieblingsbild’ wählt, findet sich ein deutlicher Hinweis auf die als angenehm empfundene geringe Komplexität des Familienbildes. Dabei vergleicht die Gruppe das Familienbild mit dem ersten der insgesamt sechs präsentierten Bilder, das als „syntagmatisch offenes“ Bild alle Gruppen verwirrt und Gruppe AH „ganz wenig“ (787) gefällt: AH 799-809: Dw: Wenn ma mehr drüber wüßte, wär´s wahrscheinlich interessanter ... Ew: ja. Dw: ... aber diese Ungewissheit ! Bw: Des kann´sch aber von jedem Bild jetzt sagen ... Cw: ((gleichz. m. Bw + Dwp:)) unter dem kannste dir einfach am wenigsten vorstellen Dw: ((gleichz. mit Bw + Cwpn:))... bei dem ... bei dem Familienfoto, muscht net viel wissen ... Bw: ((gleichzeitig mit Cw + Dwn:)) ... wenn ma mehr drüber wüßte ... Dw: .... damit dir des gefällt. Bw: ja. Ew: ja.

Eine „Ungewissheit“ bei der Betrachtung der Bilder wird offenbar als unangenehm empfunden. Sie ließe sich nach Ansicht der Gruppe durch mehr Wissen beseitigen. Das Familienbild dagegen gefällt – aber nicht etwa, weil die Gruppe das dafür nötige Wissen besitzt, sondern weil für das Familienbild insgesamt nicht viel Wissen aufzubieten ist. Eine positive Bewertung des Familienbildes wegen seiner geringen Komplexität zeigte sich auch in der Einstiegssequenz, in der das Verstehenserlebnis geradezu dankbar begrüßt wurde („endlich“; 656). In dieser Wertschätzung des Einfachen und Überschaubaren dokumentiert sich eventuell der gruppenspezifische Habitus. Bei der Rezeption von Bild „Shantytown“ manifestierte sich dieser gruppenspezifische modus operandi möglicherweise unter ‚umgekehrten Vorzeichen’: Bei diesem Bild praktizierte die Gruppe den Modus des ‚Wegsehens’. Dies wurde unter 2.2.4.1 darauf zurückgeführt, dass sich die Gruppe aufgrund der wahrgenommenen Komplexität des Bildes intellektuell für ‚nicht zuständig’ hält (vgl. auch 2.3.1.1). An dem erlebnisgesättigten Nachempfinden des Familienbildes fällt neben der Betonung der geringen Komplexität auf, dass die ‚innige Herzlichkeit’ zwischen den abgebildeten Personen herausgehoben wird: Es handelt sich um „ne harmonische Familie“ (679): deren Mitglieder „verstehen sich gut...“ (684) und freuen sich, „weil se alle auch so z´amme sind ...“ (686) – es sind „einfach die Leute dabei, wo man mag und gern hat“ (690/691) Das Bild wirkt auf die Grup-

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Empirische Fallrekonstruktionen

pe AH demnach einfach, konfliktfrei, überschaubar, unkompliziert, herzlich – ‚harmonisch’ (679): Auf den Nenner der ‚Harmonie’ lässt sich die Stimmung vielleicht insgesamt bringen, die das Bild für Gruppe AH ausstrahlt. Dies wird auf Nachfrage des Diskussionsleiters im Resümeeteil auch expliziert: AH 826-831: Y: ... was gefällt euch am Familienbild .... so gut, oder .... Ew: die Harmonie irgendwie ... a so ...s´isch halt, sieht halt jeder glücklich aus, wenn ma sich des dann so vorstellt, so in ... freier Natur und Sonne und so ... Bw: Des gibt´s halt heutzutage auch nich mehr so häufig ... Ew: ja. Dw: Hm.

Die Harmonie scheint in der Vergangenheit verankert zu sein – „heutzutage“ ist sie dagegen selten geworden. Die verklärende Rückwendung zur Vergangenheit kann als romantische Sehnsucht nach der „heilen Welt“ bezeichnet werden. Aufgrund der ‚erlebnisdichten’ Diskursorganisation in der Sequenz 672-695 kann vermutet werden, dass dieses Streben nach Harmonie zentral ist für den modus operandi der Gruppe AH. Es schließt die oben dargelegte Bevorzugung des Einfachen und Überschaubaren mit ein. Eine Strukturhomologie, die die These vom ‚harmonieorientierten’ modus operandi stützt, findet sich beim Umgang der Gruppe AH mit der Leerstelle zwischen Jesusbild und dem Alkoholkonsum in Bild „Shantytown“. Nachdem die Leerstelle zunächst besonders drastisch konstatiert wurde („passt wie die Faust auf´s Auge“; 498), wird sie unmittelbar danach für „im Grund genommen“ (506) nicht-existent erklärt. Das zunächst empfundene Missverhältnis zwischen Jesusbild und Alkoholkonsum wird dabei weniger erklärt als aufgehoben. Es werden keine Gründe oder Rahmenhypothesen für den Widerspruch entwickelt, sondern der Widerspruch wird in Harmonie überführt: ‚Glaube und Suff sind vereinbar’ (508). Unter 2.2.1.4 wurde daher formuliert, dass die Leerstelle von Gruppe AH ‚wegharmonisiert’ wurde. Man kann demnach von einem sich strukturhomolog wiederholenden Muster sprechen, dem als generative Formel (Bourdieu 1987, S. 332) ein modus operandi zugrunde liegt, der – ohne bewusste Zielsetzung – an der Versöhnung von Gegensätzen, der Ablehnung oder Vermeidung von Komplexität und an Harmonie orientiert zu sein scheint. Auf die erlebnisgesättigte Sequenz 672-695 folgt eine Pause von sechs Sekunden, darauf wird als neues Thema eine vor-ikonographische Gegenstandsidentifikation initiiert. Die Gruppe scheint demnach ihr Empfinden des Familienbildes zu einem befriedigenden Abschluss gebracht zu haben. Der harmonieorientierte Habitus der Gruppe AH führt zu einer ikonologischen Sinnbildung,

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in der das Familienbild auf Basis konjunktiver Wissensbestände als harmonische Darstellung einer „heilen Welt“ empfunden und ‚miterlebt’ wird. 2.3.2.2 Gruppe SA: „Heile Welt“ als reflexive Unterstellung Den Ausdruck „heile Welt“ bezieht Gruppe SA explizit auf das Familienbild. Insofern lässt sich deren Diskurs als Gegenhorizont an die implizite Sinnbildung der Gruppe AH legen. Gruppe SA ‚stiftet’ somit den Ausdruck der „heilen Welt“, der in der Auseinandersetzung von Gruppe AH mit dem Familienbild nur unartikuliert und vor-begrifflich ‚mitschwang’ Allerdings verwendet Gruppe SA den Ausdruck der „heilen Welt“ in ironischer Weise. Dies geht sowohl aus dem unmittelbaren Kontext, als auch aus dem Gesamtdiskurs hervor: SA 821-824: Aw: ((gleichzeitig mit Cw:)) Die gucken alle so verkniffen ... Cw: ((gleichzeitig mit Aw:)) (Die seh´n schrecklich aus) Aw: ((3)) ... ah Gott ! Bm: Heile Welt

Während Gruppe AH die harmonische Stimmung einer „heilen Welt“ nur intuitiv erahnt ohne sie begrifflich zu fassen, verfügt Gruppe SA über das kommunikativ-generalisierende Schema der „heilen Welt“, unter das sie das Familienbild explizit subsumiert. Doch wie aus dem Kontrast zur vorausgegangenen ‚Lästersequenz’ und der Interjektion „ah Gott“ hervorgeht, ist der Ausdruck „heilen Welt“ ironisch zu verstehen. Die Applikation eines positiv besetzten Titels auf das Familienbild wird im Folgenden auch explizit als ironisch bezeichnet (SA 866). Die Vorstellung der „heilen Welt“, die Gruppe AH präreflexiv nacherlebt, wird von Gruppe SA offenbar reflexiv auf das Bild bezogen. Bei Gruppe SA wäre die Sinnkonstruktion „heile Welt“ demnach auf ikonographischer Ebene anzusiedeln. Die Verknüpfung von Familienbild und „heiler Welt“ beruht jedoch nicht auf einem durch kulturelle Konventionen stabilisierten ikonographischen Code, der das Familienbild dauerhaft mit dem Signifikat „heile Welt“ verbinden würde. Sie kann vielmehr als ‚lockere Assoziation’ angesehen werden. Obwohl diese Sinnbildung reflexiv im kommunikativ-generalisierenden Modus abläuft, kann sie daher nicht ohne weiteres der ikonographischen Ebene zugeordnet werden.

Empirische Fallrekonstruktionen

344 Ikonographischer Sinn vs. intendierter Ausdruckssinn

An dieser Stelle wird eine Unschärfe des Ikonographie/Ikonologie-Modells deutlich, der man evtl. mit Mannheims Begriff des „intendierten Ausdruckssinns“ begegnen kann40 (vgl. Mannheim 1964a, S. 107 ff.): Der intendierte Ausdruckssinn ist zwischen ikonographischem und ikonologischem Sinn zu verorten. Wie der ikonographische Sinn beruht er auf kommunikativen Absichten des Kommunikators. Denn beim intendierten Ausdruckssinn geht es – wie der Name schon nahelegt – darum, „ihn als solchen und in derselben Weise zu erfassen, wie er von dem ihm ausdrückenden Subjekt gemeint, im bewusstseinsmäßigen Daraufgerichtetsein intendiert war.“ (ebd.) Anders als der ikonologische Sinn ist der intendierte Ausdruckssinn daher kein unintendiertes Symptom, das sich ‚hinter dem Rücken’ des Kommunikators in einer Botschaft dokumentiert. Mit dem ikonologischen Sinn gemeinsam hat der intendierte Aussdruckssinn jedoch, dass er sich oftmals jenseits expliziter und konventionalisierter Codes vermittelt (vgl. ebd. S. 116), da für ihn meist „noch keine begriffliche Prägung vorhanden ist.“ (ebd., S. 132). Darin unterscheidet er sich zugleich vom ikonographischen Sinn, da somit „der Sinngehalt nicht wörtlich oder explizit, sondern gestalterisch, metaphorisch oder ‚stilistisch’ zum Ausdruck gebracht wird“ (Bohnsack 1999, S. 79). Diese Ausdrucksmittel „springen ein“ (Blumenberg 1998, S. 10), um dem intendierten Ausdruckssinn aus der „logischen Verlegenheit“ (ebd.) zu helfen, die sich aus dem Mangel an adäquaten Begriffen ergibt. Dieser Fall liegt m.E. auch bei Gruppe SA und ihrer Verwendung des Begriffs der „heilen Welt“ vor. Zwar kann „heile Welt“ als begriffliches Schema angesehen werden, es ist in seiner Anwendung auf das Familienbild jedoch nicht im lexikalisch ‚wörtlichen’ Sinn zu verstehen. Vielmehr liegt hier die rhetorische Figur der „Metonymie“ vor, um die die von Bohnsack genannte Reihe metabolischer bzw. ‚indirekter’ und ‚behelfsmäßiger’ Ausdrucksmittel zu ergänzen wäre. Bei der Metonymie wird ein Zeichen durch ein anderes aufgrund inhaltlicher Kontiguität ersetzt wird (und nicht aufgrund von Ähnlichkeit wie bei der Metapher). Beispiele für Kontiguität sind Teil-Ganzes-Relationen oder Exemplifizierungen. Das Familienbild fungiert als Metonymie, wenn es als exemplarischer Ausschnitt einer „heilen Welt“ angesehen wird. Mit der Metonymie „heile Welt“ würde die Gruppe SA demnach den intendierten Ausdruckssinn des Familienbildes umschreiben, d.h. das, was sie dem Bildproduzenten (neben dem ikonographischen Sinn „Familie“) als intendierte Bildaussage un-

40

Der „intendierte Ausdruckssinn“ bei Mannheim ist nicht zu verwechseln mit dem Ausdruckssinn als Facette des vor-ikonographischen Phänomensinns bei Panofsky.

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terstellt, was sie aber begrifflich nicht präziser zu fassen vermag.41 Eine Unterstellung bleibt der intendierte Ausdruckssinn hier, da die Gruppe keinen Zugang zu den Intentionen des tatsächlichen Bildproduzenten hat – es handelt sich somit um eine Konstruktion der Gruppe. Durch Ironisierung unterläuft Gruppe SA jedoch diese von ihr unterstellte Intention.

41

Man kann die reflexive Sinnzuschreibung „heile Welt“ an das Familienbild auch in der Terminologie von Barthes als Konnotation beschreiben. Barthes definiert die Konnotation als ein „System, das die Zeichen eines anderen Systems übernimmt und zu seinen Signifikanten macht“ (Barthes 1990b, S. 33). An anderer Stelle (1983, S. 75) hatte er festgehalten, dass jedes Bedeutungssystem eine Ausdrucksebene (A) bzw. einen Signifikanten und eine Inhaltsebene (I), d.h. ein Signifikat, enthält. Die Bedeutung fällt mit der Relation R der beiden Ebenen zusammen. Formal drückt er dies als A R I aus (Die Ausdrucksebene A innerhalb des Bedeutungssystems darf nicht mit Mannheims intendiertem Ausdruckssinn verwechselt werden!). Bei der Konnotation bildet ein (denotatives) Zeichen 1. Ordnung (bestehend aus der Relation von Ausdruck und Inhalt: ARI) die Ausdruckskomponente eines Zeichens 2. Ordnung, das ebenfalls aus der Relation von Ausdruck und Inhalt besteht. Die Konnotation lässt sich formal daher als (ARI) R I ausdrücken, wobei der Ausdruck in Klammern das Zeichen 1. Ordnung darstellt, dem in der konnotativen Zeichenrelation 2. Ordnung die Rolle der Ausdruckskomponente zukommt. Beim Beispiel des Familienbildes bildet die ikonographische Bedeutung („Familie“), als Relation (R) von Bild (A) und kulturellen Wissensbeständen (I), die Zeichenrelation 1. Ordnung: ARI. Stützt sich die Sinnzuschreibung „heile Welt“ auf diesen ikonographischen Sinn als Ausdruckseinheit, dann liegt die konnotative Relation (ARI) R I vor. Auch in Barthes´ Beispiel (der Werbeanzeige für „Panzani“ Tomatensoße und Nudeln) entspricht das Konnotationsverhältnis zwischen den beiden Bedeutungssystemen der Stilfigur der Metonymie (1990b, S. 44). Wie Mannheim bei seinem intendierten Ausdruckssinn stellt auch Barthes ein Defizit an geeigneten Begriffen zu Bezeichnung der Bedeutung 2. Ordnung fest (ebd. S. 42). Es lassen sich weitere Parallelen zwischen intendiertem Ausdruckssinn und konnotativer Botschaft aufzeigen. So schreibt Mannheim, dass der intendierte Ausdruckssinn dem objektiven Sinn – er ist das Äquivalent von Panofskys ikonographischen Bedeutungssinn – mit einem Schlage, gleichsam in zweiter Formung (...) eingebildet“ sei (Mannheim 1964a, S. 115; Herv. B.M.). Der intendierte Ausdruckssinn „überlagert“ demnach den objektiven bzw. ikonographischen Sinn – so wie bei Barthes „die erste der zwei bildlichen Botschaften (...) gewissermaßen in der zweiten enthalten“ ist (Barthes 1990b, S. 33). Mannheim führt weiter aus, dass „der Ausdruckssinn der ganzen objektiven Sinnschicht des Werkes bedarf, um in Erscheinung zu treten“ und „fundiert ist durch die in sich geschlossene Einheit des jeweiligen objektiven Sinnes im Kunstwerk“ (Mannheim 1964a, S. 120). Der Ausdruckssinn lagert eine neue Sinnschicht, d.h. eine zusätzliche Inhaltsdimension an den objektiven Sinn an (vgl. ebd. S. 130). Beschreibt man die „in sich geschlossene Einheit“ des objektiven Sinns formal ebenfalls als ARI (was vor dem Hintergrund eines relationalen Sinnbegriffs naheliegend ist), dann lässt sich der intendierte Ausdruckssinn, der „der ganzen objektiven Sinnschicht“ (Herv. B.M.) bedarf und durch die „geschlossene Einheit“ des objektiven Sinns fundiert ist, als (ARI) R I beschreiben, d.h. als Konnotation im Barthes´schen Sinn. Gleich zu Beginn seiner Studie weist Barthes daraufhin, dass er sich nur auf intendierte Zeichenprozesse bezieht (1990b, S. 28f.), nicht-intendierte Symptome „von etwas anderem“ (Panofsky 1987b, S. 212) daher gar nicht in den Blick nimmt. Seine konnotierte Botschaft ist daher ebenfalls als intendiert aufzufassen. Es zeigt sich nun, dass die 3. Sinnstufe bei Barthes, die konnotative Bedeutung, nicht - wie bereits erwähnt (vgl. 1.4.3.2) - der 3. Sinnstufe bei Panofsky, der ikonologischen Bedeutung, entspricht, sondern eher Mannheims intendiertem Ausdruckssinn. Andererseits wird an der reflexiven Sinnzuschreibung „heile Welt“ an das Familienbild deutlich, dass Panofskys Ikonographie/Ikonologie-Modell eine Lücke aufweist, die sich durch die konnotative Bedeutung Barthes´ oder Mannheims intendierten Ausdruckssinn schließen lässt.

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Empirische Fallrekonstruktionen

SA 863-882: Cw: Ich würd´s Grauen am Nachmittag nennen. Bm: Echt? Ich hätt´s Idylle am Nachmittag genannt ... Cw: Ich find, s is grausam. Bm: Aber merkt jemand die Ironie in dem Untertitel ? Cw: Nö. Aw: Ich ... ich hätt´s einfach nur so... Cw: ((gleichzeitig mit Aw:)) ... merkt ma ja eh selten ... Aw: ((gleichzeitig mit Cw:)) ...irgendwie so ... wie du g´sagt hasch oder so: Bm: ((gleichzeitig mit Aw:)) Warum übrigens Nachmittag ? Aw: ((gleichz. m. Bm:)) ...Victoria Versicherung - Ihre Wahl oder so also net irgendwie .... ich würd´s für´n Werbeplakat verwenden ... Bm: ((lachend:)) Und wo is Doktor Kaiser ... oder ne, wie heißt er? Herr Kaiser ... Aw: Oder so .... For ever young ...oder, oder, oder ... oder vielleicht: ma könnt´ auch auf die Alten da oben abzielen ... die so glücklich noch mit ihrer Familie zusammen sitzen also dann für Doppel-Herz oder so ... Bm: Knoblauchpillen ? Aw: Fit mit der Familie oder ... Cw: (Tenalady) Aw: Still alive Cw: ((Lachen))

Als explizit ironisch wird der positiv aufgeladene „Untertitel“ „Idylle am Nachmittag“ bezeichnet. Damit bestätigt sich die oben geäußerte Vermutung, die Applikation eines positiv bewerteten Titels („heile Welt“) auf das Familienbild sei bei Gruppe SA ironisch zu verstehen. „Idylle“ ist demnach umzupolen und ebenfalls i.S.v. „Grauen“ zu verstehen. Damit ironisiert und unterläuft die Gruppe die Bedeutungen, die sie dem Bildproduzenten als intendiert unterstellt. „Grauen am Nachmittag“ wäre dagegen der nicht-ironische, ‚wirkliche’ Titelvorschlag der Gruppe. ‚Wörtlich’ ist aber auch er nicht zu verstehen, sondern – unabhängig von einer ironischen Umpolung – hyperbolisch, d.h. im übertragenen Sinn. Ästhetizistisches „Grauen“ Als hyperbolische Ausdrucksweisen sind „Grauen“ (863) und „grausam“ (865) vermutlich nicht i.S.v. „rücksichtslos Schmerz zufügend“, „roh“, „gefühllos“ und „brutal“ zu verstehen, sondern metaphorisch als ‚peinigend’. In welcher Hinsicht die Gruppe ‚Pein’ empfindet, lässt sich evtl. aus der Art ihrer Bezugnahme auf das Bild erschließen, die sich in der Suche nach einem Bildtitel niederschlägt. Während Gruppe AH das Bild als „Fenster-zur-Welt“ auffasst und sich auf die abgebildete Situation bezieht („wenn ma sich des dann so vorstellt, so in ... freier Natur und Sonne und so ...“; AH 827/828 ), betrachtet Gruppe SA

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das Bild in dieser Passage als Bild, d.h. als hergestelltes Zeichen, dem man einen „Untertitel“ (866) geben kann. Unter 2.2.1.2 wurde unter Bezug auf die Typologie von Katz vorgeschlagen, Lesarten, die das Bild als konstruiertes Zeichen (rhetorisch) und in seiner Bedeutung als nicht festgelegt betrachten, als ästhetisch zu bezeichnen. Diese ästhetische Lesart zeigte sich auch in der Auseinandersetzung der Gruppe SA mit Bild „Shantytown“ – insbesondere auch in ihrem Umgang mit der Leerstelle zwischen Jesusbild und übrigem Bildgeschehen. In dieser Weise lässt sich nun auch der Umgang der Gruppe SA mit dem Familienbild charakterisieren. Bereits die Perspektive der Gruppe auf den modus operandi des Bildproduzenten, d.h. auf das Wie der Herstellung des Bildes, den Gestaltungsstil, die sich in der Einstiegssequenz zeigte, kann als ästhetisch bezeichnet werden. Im kontrastiven Vergleich mit Gruppe ND konnte zudem herausgearbeitet werden, dass Gruppe SA das Familienbild nicht als familiäre, sondern als mediale Inszenierung erlebt. Auch dies kann als Beleg für die ästhetische Perspektive der Gruppe SA angesehen werden. Damit erweist sich auch die ästhetische Perspektive als wiederkehrendes und somit homologes Muster, das dem spezifischen modus operandi der Gruppe SA zugerechnet werden kann. ‚Peinlich’ ist dann – um zur Frage nach der Bedeutung der Metapher „Grauen“ zurückzukehren – die ästhetische Qualität des Familien-bildes. 42 Eine Verschränkung von ästhetischer Betrachtungsweise und Ironie scheint typisch für den Habitus der Gruppe SA zu sein. Sie kann als „ästhetizistisch“ bezeichnet werden, wenn die Ironie zu einer Relativierung aller Standpunkte führt und der ästhetischen Perspektive der Primat eingeräumt wird (vgl. v. Wilpert 1989, S. 9). Eine solcherart verstandene ästhetizistische Haltung zeigte sich im Umgang der Gruppe mit Bild „Shantytown“, dem einerseits sozialkritische Implikationen unterstellt wurden, das andererseits aber im wesentlichen unter ästhetischen Gesichtspunkten gewürdigt wurde („klasse aufg´nommen“, 746; vgl. 2.2.1.2). Der Primat des Ästhetischen zeigt sich möglicherweise auch hier, wenn eine ästhetische Ablehnung mit einem Begriff ausgedrückt wird, der im 42

Dass sich ästhetische Ablehnung als geradezu körperlich empfundene Abneigung äußern kann, die mit dem Begriff „Grauen“ (863) belegt werden kann, macht auch Bourdieu deutlich: So „ist wohl auch der Geschmack zunächst einmal Ekel, Widerwille - Abscheu oder tiefes Widerstreben (‚das ist zum Erbrechen’) – gegenüber dem anderen Geschmack, dem Geschmack der anderen. Über Geschmack streitet man nicht – nicht, weil jeder Geschmack natürlich wäre, sondern weil jeder sich in der Natur begründet wähnt – was er, als Habitus, ja auch gewissermaßen ist –, mit der Konsequenz, den anderen Geschmack dem Skandalon der Gegen-Natur zu überantworten, ihn als abartig zu verwerfen: Die ästhetische Intoleranz kann durchaus gewalttätig werden.“ (Bourdieu 1987, S. 105) Demnach wäre die Lesart „Grauen am Nachmittag“ im Habitus der Rezipierenden fundiert und somit auf der ikonologischen Ebene anzusiedeln – genauer: Die in dieser Lesart sich dokumentierende ästhetische Ablehnung kann als habitusspezifisch und präreflexiv angesehen werden, die Formulierung eines metaphorischen Bildtitels zur Ironisierung des vom Bildproduzenten intendierten Ausdruckssinns dagegen vermutlich als reflexiv. Die Gruppe lehnt das Bild „intuitiv“ ab, handhabt diese Ablehnung aber auch im kommunikativ-generalisierenden Modus.

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lexikalischen Sinn zur Bezeichnung größten Entsetzens dient („Grauen“ bzw. „grauenvoll“). Denn damit wird die Folgerung nahegelegt, dass für Gruppe SA an der Spitze aller denkbaren Entsetzlichkeiten ästhetische ‚Unfälle’ stehen. Der ästhetische Blickwinkel wird auch im Fortgang der Passage deutlich. Aw schlägt eine Verwendungsweise des Bildes vor, d.h. sie betrachtet das Bild weiterhin als hergestelltes „Bildding“ und nicht als „Fenster-zur-Welt“ (872/873). Aus dieser Perspektive kann die Gruppe ihren Blick auf die Konstruiertheit und Inszeniertheit des als intendiert unterstellten Ausdruckssinns der „Idylle am Nachmittag“ bzw. der „heilen Welt“ richten. Als Verwendungszusammenhang schlägt Aw ein „Werbeplakat“ (873) vor. Bezugshorizont ihrer Deutungen ist somit das Paradigma medialer Inszenierungen und nicht das Paradigma sozialer Situationen. Dabei wird zunächst explizit der Vorschlag von Cw (813) aufgegriffen und elaboriert: Das Bild könnte für eine Versicherung werben („Victoria Versicherung – Ihre Wahl“; 872). An diesen Vorschlag schließt Bm lachend an und fragt nach „Doktor“ bzw. „Herrn Kaiser“ (874). Damit spielt er vermutlich auf eine Werbefigur aus der Reklame für eine Versicherungsgesellschaft an. Aw entwickelt daraufhin einen weiteren Untertitel („for ever young“) und assoziiert ein weiteres Produkt, für das das Familienbild werben könnte („Doppel-Herz“; 877). Der Untertitel bzw. die AnzeigenHeadline „for ever young“ weist vom inhaltlichen Versprechen eine Parallelität zur „Ewig Leben Pille“ auf, da es ebenfalls unrealistisch und utopisch ist. Da der Titel englischsprachig ist, erinnert er an die „family values“ (816) sowie an „Dschieses“ in Bild „Shantytown“, und kann daher ebenfalls als Zeichen für ironische Distanz interpretiert werden. Ironie als intendiertes Stilmittel oder als Habitusfacette Ein ironischer Grundton wurde von Gruppe SA gleich zu Beginn der Auseinandersetzung mit dem Familienbild angestimmt und konnte auch bei der Beschäftigung der Gruppe mit Bild „Shantytown“ herausgearbeitet werden (vgl. 2.2.1.2). Er kann daher als besonders auffällige Facette des gruppenspezifischen modus operandi angesehen werden, der als solcher der Gruppe reflexiv vermutlich kaum zugänglich sein dürfte. An dieser Stelle wird die Ironie nun explizit angesprochen: Der „Untertitel“ (866) „Idylle am Nachmittag“ (864) bzw. seine Applikation ist ironisch zu verstehen. Damit stellt sich die Frage, ob die ironische Grundhaltung tatsächlich als Habitusaspekt betrachtet werden kann oder eher als intendierter Ausdrucksstil (vgl. Bohnsack 1999, S. 79) – diesmal der Gruppe und nicht des Bildproduzenten – anzusehen ist. Man kann hier m.E. zwischen zwei Ebenen der Ironie unterscheiden: Die semantische Umpolung von „Idylle“ in „Grauen“ kann als eine vordergründige

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Art der Ironie angesehen werden, die der Gruppe auch reflexiv verfügbar ist. Auf dieser Ebene kann Ironie als absichtsvoll einsetzbares, ‚rhetorisches’ Stilmittel betrachtet werden, das dem Bereich des intendierten Ausdruckssinns zugerechnet werden kann, ohne dass aus seiner gezielten Verwendung auf einen umgreifenden ironischen Ausdrucksstil geschlossen werden müsste. Als Facette des modus operandi äußert sich die Ironie dagegen sehr viel subtiler und grundsätzlicher. Auf dieser fundamentaleren Ebene entzieht sich die Ironie vermutlich dem reflexiven Zugriff durch die Akteure. Als Symptom eines ironischen Habitus kann bspw. das ‚Spiel’ mit der „heilen Welt“ angesehen werden, bei dem die als Intention des Bildproduzenten unterstellte „Idylle“ nicht als „Grauen“ destruiert wird, sondern ‚intakt’ gelassen und durch Produktassoziationen zynisch kontextualisiert wird. Bei der semantische Umpolung von Idylle in Grauen (bzw. umgekehrt) spielt sich die Ironisierung auf der inhaltlichen („semantischen“) Ebene ab, ist also dem Was des Diskurses zuzuordnen. Als ironischer „Grundton“ prägt die Ironie den „Stil“ des Diskurses, ist also dem Wie zuzurechnen. Im Wie dokumentiert sich der Habitus. Gleichwohl kann auch die häufige Verwendung des rhetorischen Stilmittels der Ironie auf der inhaltlichen Ebene als ein Symptom eines grundlegenderen ironischen modus operandi angesehen werden. Vom intendierten Ausdruckssinn zum modus operandi des Bildproduzenten In mehrfacher Hinsicht bemerkenswert ist die Hinführung zur Produktassoziation: Aw überlegt laut, man könne „auch auf die Alten da oben abzielen“ (876) und erinnert mit dieser Formulierung an den Fachjargon von Werbeleuten, die sich an „Zielgruppen“ orientieren. Möglicherweise klingt in dieser Formulierung aber auch die idiomatische Wendung an, dass nun die „Alten“ als „Zielscheibe für Spott“ dienen sollen. Jedenfalls werden sie unmittelbar darauf Gegenstand einer zynisch-makaberen Bemerkung, da Aw formuliert, dass sie „so glücklich noch mit ihrer Familie zusammen sitzen“ (876; Herv. B.M.). Damit impliziert Aw den absehbaren Tod der „Alten“, die quasi nur (noch) ‚auf Abruf’ mit ihrer Familie zusammen sind. Eine Kombination von Werbejargon und Zynismus manifestiert sich m.E. in der als zwingend formulierten Produktassoziation. Ein „Abzielen“ auf die „Alten“ lässt offenbar nur eine einzige Schlussfolgerung zu: „also dann für Doppel-Herz oder so“ (876/877). Die Bestimmtheit und Folgerichtigkeit, mit der eine Abbildung von älteren Menschen mit Werbung für ein Herz-Kreislauf-Medikament verbunden wird, verweist auf ein scheinbar starres Raster, in dem Produktkategorien und ihre werbliche Inszenierung fest codiert sind, eine Art Werbe-Ikonographie. Die Explikation eines solchen Codes würde eine sich neuartig und authentisch gerierende, aber auf

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diesem Code beruhende Werbe-Inszenierung unterlaufen und als kalkuliert bloßstellen.43 In die kaskadenhaften Assoziationskette steigen die übrigen Gruppenmitglieder ein und wetteifern quasi um die zynischste Anzeigen-Headline oder Produktassoziation: „Knoblauchpillen?“ (878); „Fit mit der Familie“ (879); „Tenalady“ (880; Tenalady ist der Markenname einer Windel für Erwachsene) und „Still alive“ (881). Mit dem ‚Ausprobieren’ möglicher Verwendungszusammenhänge knüpft die Gruppe an die Kontextualisierung des Bildes an, die sie in der Einstiegssequenz durchgeführt hat. Dies wurde dort als Versuch interpretiert, den intuitiv erahnten modus operandi des Bildproduzenten auf den ‚Begriff zu bringen’. Auch die aktuelle Sequenz kann in dieser Weise interpretiert werden. Denn nun thematisiert und ironisiert die Gruppe nicht mehr den intendierten Ausdruckssinn, sondern ‚baut’ auf ihm auf. Sie setzt an der Bedeutung „heile Welt“ an, lässt sie dabei aber ‚intakt’ (d.h. ironisiert sie nicht) und geht über sie hinaus, indem sie sie in werbliche Verwendungszusammenhänge stellt. Dieser zweite Schritt lässt sich charakterisieren als das scheinbare Einverständnis mit der ‚harmonischen’ Lesart des Bildes als „heiler Welt“ und deren Konfrontation mit einem zynischen Universum, in dem „heile Welt“ und „Idylle“ als Werbeinszenierung für Erwachsenenwindeln instrumentalisiert („verwendet“, 873) werden. Mit dieser zynischen Persiflage orientiert sich die Gruppe vermutlich nicht mehr am intendierten Ausdruckssinn, d.h. es geht ihr nicht mehr darum, „ihn als solchen und in derselben Weise zu erfassen, wie er von dem ihm ausdrückenden Subjekt gemeint, im bewusstseinsmäßigen Daraufgerichtetsein intendiert war.“ (Mannheim 1964a, S. 107) Vielmehr wendet sich die Gruppe dem nicht-intendierten Habitus des Bildproduzenten zu. Dies kann nicht nur aus dem offenkundigen Widerspruch zwischen dem als intendiert unterstellten Ausdruckssinn der „heilen Welt“ und der nun assoziierten (unheilen) Welt geschlossen werden, in der Menschen an Harninkontinenz leiden („Tenalady“) 43

In bloßstellender Absicht legt Holger Jung, Mitinhaber einer Hamburger Werbeagentur, in einem Beitrag für die ZEIT eine solche Werbe-Ikonographie dar: „Die Praxis: ein Sperrfeuer der Klischeebilder. Baby + Hund = Familienglück, lachende Frau + Blumenstrauß = Frauenglück, Schmuck + Herz = Liebe, junge Leute mit Ami-Schlitten (‚Geil, ey’) = jugendliches Angebot, weißhaariger Herr beim Angeln oder mit Enkel = Sicherheit und sorgloses Alter, grauhaariges Pärchen auf Harley-Davidson = Vitalität und Spaß im Alter, Mann bei Küchenarbeit = selbstbewusste Frau.“ (Jung 1998) Die Reihe lässt sich um das Familienbild in der Lesart von Gruppe SA erweitern: Senioren im Kreise der Familie = Gesundheit im Alter. Da die per Code zugeordneten Signifikate („Familienglück“ etc.) sich jeweils metaphorisch oder metonym auf die visuellen Signifikanten („Baby + Hund“) beziehen, lassen sich die Beispiele nach der oben entwickelten Unterscheidung eher dem intendierten Ausdruckssinn als der Ikonographie zuordnen. Dass diese codierten Verknüpfungen lediglich den Intentionen des Kommunikators, d.h. seinem intendierten Ausdruckssinn entsprechen, von den Rezipierenden aber meist nicht angenommen werden, macht Jung ebenfalls deutlich: „Bestimmte Gefühle zeigen = bestimmte Gefühle erzeugen, so einfach geht das nicht.“ (ebd.) Denn: „Der Verbraucher fühlt nie, wie er soll.“ (ebd.).

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und bereits dem Tod geweiht sind. Dafür spricht die Kontextualisierung als solche, da sie zusätzliche Elemente (Titel, Headlines, Produkte) zum Bild hinzuaddiert und somit nicht mehr nur das vom Bildproduzenten gemäß seinen Intentionen gestaltete Bild die Basis der Sinnkonstruktion bildet. Der Unterschied zwischen Habitus und intendiertem Ausdruckssinn zeigt sich dabei sehr deutlich: Im kommunikativ-generalisierenden Modus, d.h. auf Basis von Motivunterstellungen (vgl. Bohnsack 1999, S. 79) vermutet die Gruppe als intendierten Ausdruckssinn, d.h. als Kommunikationsabsicht des Bildproduzenten „heile Welt“ bzw. „Idylle am Nachmittag“. Der Habitus dagegen mit seinem spezifischen modus operandi lässt sich nur an seinen nicht-intendierten Symptomen in dokumentarischer bzw. ikonologischer Perspektive erfassen. Den intuitiv erspürten modus operandi des Bildproduzenten umschreibt die Gruppe mit den Produktassoziationen. Dieser modus operandi ließe sich begrifflich explizieren als „Instrumentalisierung der ‚heilen Welt’ zu kommerziellen Zwecken“. Bohnsack (1999, S. 79) konstatiert unter Hinweis auf Goffman, dass der intendierte Ausdruckssinn „unecht“ wirkt, wenn er als „absichtsvoll“ erkannt wird (vgl. Goffman 1996, S. 319). Die Symptome des Habitus dagegen entziehen sich einer gezielt irreführenden Inszenierung durch den Akteur, da er sie kaum absichtsvoll beeinflussen kann. Sie wirken daher ‚echt’ und authentisch. Zum Vorschein gebracht wird der modus operandi des Bildproduzenten, indem die Gruppe mit der Oberfläche der „heilen Welt“ spielt und sie zynisch kontextualisiert. Wie schon in der Einstiegssequenz ahmt die Gruppe den Habitus des Bildproduzenten – so wie sie ihn erahnt – nach und übersteigert ihn. Durch zynische Textvorschläge („Still alive“; 881) und ironische Produktassoziationen wird das „grausame Idyll“ ins Lächerliche gezogen und als Medienklischee persifliert. Das Bild wird nun nicht mehr mit „heiler Welt“ in Verbindung gebracht, sondern mit der werblichen Instrumentalisierung von stereotypen Vorstellungen einer „heilen Welt“. Die Perspektive der Gruppe SA kann daher als desillusionistisch im oben erläuterten Sinn bezeichnet werden. Indem sie dem Bildproduzenten „heile Welt“ als intendierten Ausdruckssinn unterstellt, geht die Gruppe davon aus, dass das picture nach Maßgabe konventionalisierter images von einer „heilen Welt“ kalkuliert konstruiert wurde und sich nicht zufälligerweise an das image der „heilen Welt“ assimilieren lässt. Der kommerzielle Zynismus, den die Gruppe in ikonologischer Perspektive vermutlich als hinter dem Bild stehenden modus operandi erspürt, wird von ihr überboten und dadurch sichtbar gemacht.44 Durch die gleichzeitig produzierte Komik 44

Gruppe SA gelingt somit beim Familienbild ein Umgang mit einem medialen Kommunikationsangebot, dessen Voraussetzungen Bourdieu für sehr ungleich verteilt hält. Offenbar spiegelt sich nach seiner Ansicht auch in der Disposition zu einem „aktiven Zynismus“ (Bourdieu 1998a, S. 139), der als „Gegengift“ (ebd.) dem „Zynismus“ (ebd.) der Kommunikationsprodu-

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gewinnt die Auseinandersetzung mit dem Familienbild für Gruppe SA auf einer Metaebene vermutlich neuen Reiz. Dafür sprechen die paraverbalen Äußerungen ausgelassener Heiterkeit (882/883). Der modus operandi der Gruppe SA Insgesamt ist die Verflechtung der Redebeiträge sehr dicht, die Gruppenmitglieder steigern sich in die Schilderung möglicher Verwendungszusammenhänge hinein und scheinen sich gegenseitig ‚übertrumpfen’ zu wollen. Darin kann eine Nähe zu einem konjunktiven Erlebniszentrum der Gruppe gesehen werden. Im Ringen der Gruppe, den Habitus des Bildproduzenten ‚herauszukitzeln’, dokumentiert sich somit auch der Habitus der Gruppe. Ihr modus operandi zeigt sich auch hier nicht im Was der Sinnbildung, sondern im Wie, d.h. zum einen in der Disposition (vgl. Bourdieu 1979, S. 446, Anm. 39), überhaupt eine ironische Kontextualisierung durchzuführen bzw. die Kombination von Familienbild und Seniorenwindeln als komisch zu empfinden, zum andern aber auch in der Diskursorganisation, genauer: in der Dramaturgie des Diskurses, d.h. im gegenseitigen sich „Hochschaukeln“, bei dem um die zynischste Produkt- oder Textassoziation gewetteifert und die schließlich in „still alive“ gefunden wird. Es zeigen sich somit wieder Symptome jenes modus operandi, der bei Bild „Shantytown“ das Jesusbild als „eigentlichen Gag“ feierte und der dort u.a. als ‚spannungsreich-ironisch’ charakterisiert wurde. Der Headline „Still alive“ kann der Status einer Focussierungsmetapher zugesprochen werden: In ihr kulminiert die interaktiv sehr dichte und lebhafte Phase (Lachen, Prusten, Interjektion „Jetzt !“; 882/883) und mündet in eine Narration, die einen engen Bezug zum konjunktiven Erlebnisraums der Gruppe hat.45 Danach kommt die Beschäftigung der Gruppe mit dem Familienbild zu einem sehr schnellen Ende. Auch dies spricht dafür, dass „still alive“ den Höhebzw. Kulminationspunkt darstellt. Im Titel „still alive“ bündelt sich für die Gruppe offenbar ihr konjunktives Erleben des Familienbildes in seiner Vielschichtigkeit aus ikonographischer Bedeutung (Familienausflug“; 798), unter-

45

zenten eine Grenze setzt, die Kapitalstruktur wider: „Die Fähigkeit, bei strategischen Spielen des Typs ‚Ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß’ reflexiv und kritisch mitzuhalten und die vom manipulatorischen Zynismus der Fernseh- und Werbeproduzenten angebotenen ‚ironischen und metatextuellen’ Botschaften auf einer dritten und vierten Verstehensebene zu überbieten, als universell gegeben voraussetzen, heißt nämlich, einer der perversesten Formen der scholastischen Illusion in ihrer populistischen Fassung aufsitzen.“ (ebd., S. 139 f.) Erlebnismäßig scheint diese Narration (883-890) im wesentlichen bei Bm verankert zu sein, da er im kommunikativen Modus die Hintergründe erläutert: Als Verlagsangestellter im Kurort Bad W-Stadt war er – unklar bleibt, ob im Rahmen der Gruppe – an der Suche nach einem Titel für ein Seniorenmagazin beteiligt. Diese Suche war offenbar ebenfalls von einem zynischironischen modus operandi geprägt, da ein Titelvorschlag „Senil“ (888) lautet. „Still alive“ bezeichnet Bm nun als „noch viel besser“ (888).

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stelltem intendiertem Ausdruckssinn („heile Welt“; 824 bzw. „Idylle am Nachmittag; 864), ironisiertem intendiertem Ausdruckssinn („Grauen am Nachmittag“; 863), intuitiv erfasstem modus operandi des Bildproduzenten (Werbung „für so ne Ewig Leben Pille“; 811) und ironisch-zynischer Überbietung dieses Habitus auf Basis des eigenen Habitus („Tenalady“; 880). „Still alive“ reiht sich in die englischsprachigen Äußerungen der Gruppe SA („Dschieses“, „family values“, „for ever young“) ein, die als Ausdruck eines ironisch-distanzierten Verhältnisses zu dem jeweiligen Bild interpretiert wurden. Inhaltlich schließt „still alive“ an das zynische und boshafte „Abzielen“ auf die „Alten“ an, die „noch“ mit ihrer Familie zusammen sind. Der enge Bezug des Titels „still alive“ zum konjunktiven Erfahrungsraum der Gruppe zeigt sich auch darin, dass die Gruppe „Still alive“ nach der Diskussion als Gruppennamen wählt (hier abgekürzt zu SA). In „still alive“ findet die ironisch-zynische Persiflage des Familienbildes als „grausamer“ Medientrash ihren für die Gruppe sinnvollen Abschluss: Das Bild ist als inszeniert, unauthentisch, verlogen und kalkuliert ‚überführt’, seine ‚Machart’ auf den Punkt gebracht und beides durch Ironie und Übertreibung in Komik transformiert worden. Dadurch kann die Gruppe selbst aus einem als „grausam“ empfundenen Bild intellektuellen Genuss schöpfen. Sowohl bei Gruppe SA, wie auch bei Gruppe AH ist die Vorstellung von der „heilen Welt“ präsent. Doch während Gruppe SA ironisch auf sie Bezug nimmt, trägt Gruppe AH diese Lesart ironiefrei bzw. „unschuldig“ (vgl. Eco 1999, S. 696) an das Familienbild. Gruppe AH empfindet „heile Welt“ präreflexiv auf ikonologischer Ebene, Gruppe SA unterstellt dagegen „heile Welt“ als intendiertes Kalkül des Bildproduzenten, das zynisch unterlaufen bzw. überboten wird. In der unterschiedlichen Bearbeitung des gleichen Themas, des Familienbildes als „heiler Welt“, zeigen sich zwischen den Gruppen Unterschiede der Habitus. 2.3.3 Konfrontation der Vergleichshorizonte mit der Sinnbildung von Gruppe ND Das Thema der „heilen Welt“ scheint jenseits der ikonographischen Bedeutung „Familie“ in der Interaktion mit dem Familienbild eine gruppenübergreifende Rolle zu spielen. Vor dem Hintergrund der habitusspezifischen Beschäftigungsweisen der Gruppen AH und SA mit diesem Thema stellt sich die Frage, ob auch Gruppe ND in irgendeiner Weise das Thema „heile Welt“ aufgreift. Diese Frage lässt die Einstiegsproposition der Gruppe ND in einem anderen Licht erscheinen: Auch mit dem Schema der „Bilderbuchfamilie“ sind möglicherweise Vorstellungen einer „heilen Welt“ verbunden. Die emphatische Les-

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art des Bildes durch Gruppe AH lenkt den Blick nun stärker auf die extrem positive Bewertung, die im Begriff der „Bilderbuchfamilie“ (in Analogie zum „Bilderbuchwetter“) anklingt. Aber obwohl sich Gruppe ND in der bisher analysierten Sequenz mit expliziten Bewertungen zurückgehalten hat, wurde doch bereits deutlich, dass Gruppe ND bei der Rezeption des Familienbildes zu keinem ‚innigen’ Nacherleben einer „heilen-Welt-Stimmung“ neigt wie Gruppe AH. Wie aus der mit dem Schema „Bilderbuchfamilie“ direkt verknüpften Interjektion „Oh Gott !“ hervorgeht, betrachtet Gruppe ND das Bild mit ‚mildem Entsetzen’. Damit rückt die Betrachtungsweise von Gruppe ND in die Nähe der Sinnbildung durch Gruppe SA. Die wort- und vermutlich auch bedeutungsgleiche Interjektion „Oh Gott !“ bei Gruppe ND und Gruppe SA kann als tertium comparationis für den Vergleich der Interaktionen dieser beiden Gruppen mit dem Familienbild dienen. Bei der Analyse der Einstiegssequenzen gab es erste Hinweise darauf, dass sich die Funktionalitätsbezüge des Ausrufs „Oh Gott !“ bei den Gruppen ND und SA unterscheiden, d.h. dass das „milde Entsetzen“ über das Familienbild aus jeweils unterschiedlichen Erlebniszusammenhängen zu erklären ist. Im vorigen Abschnitt konnte herausgearbeitet werden, dass Gruppe SA dem Bild gegenüber eine ästhetizistische Haltung einzunehmen scheint, d.h. ästhetischen Gesichtspunkten den Vorrang einräumt und andere Aspekte ironisch relativiert. Ästhetisch schien daher auch die Ablehnung des Familienbildes motiviert zu sein, die sich am Bild als kommerziellem Medienprodukt reibt und weniger die soziale Situation einer Familienfeier im Blick hat. In der Einstiegssequenz wurde bei Gruppe ND dagegen vermutet, dass sie das Bild ‚von innen’ betrachtet, d.h. aus der Perspektive der abgebildeten Personen. Der Erlebniszusammenhang wäre hier nicht durch eine ästhetische Haltung geprägt, sondern durch die konjunktive Teilhabe an Familienfeiern. Diese Überlegung wird nun genauer zu untersuchen sein.46 Daran anschließend kann dann die Frage nach der Präsenz 46

Da im Rahmen dieser Untersuchung eine Unterscheidung sich überlagernder, konjunktiver Erfahrungsräume nur in Ansätzen geleistet werden kann, soll eine Klärung dieser Frage weniger durch eine soziogenetische Analyse als vielmehr durch eine sinngenetische Interpretation in Angriff genommen werden (vgl. Mannheim 1980, S. 86 f.; Bohnsack 1999, S. 177). Dabei soll untersucht werden, ob der Ausruf „Oh Gott“ in den beiden Gruppen auf einen identischen oder je unterschiedlichen „geistigen Ursprung“ zurückzuführen ist (vgl. Mannheim 1964 f, S. 402; 1980, S. 86). Die Genese dieses „Ursprungs“ (bzw. dieser „Ursprünge“) – etwa aus milieu- oder generationenspezifischen Zusammenhängen – wird hier (der Anlage dieser Untersuchung gemäß) nicht mehr rekonstruiert. Insofern wird die Sinngenese bis an den äußersten Rand jener „Scheidegrenze“ vorangetrieben, von der Mannheim spricht (ders. 1980, S. 86), jenseits der eine sozio- oder kausalgenetische Interpretation anzusetzen hätte. Dies wird zum einen durch das Prinzip der komparativen Analyse geleistet, durch das mit dem tendenziell ahistorischen Universalismus der phänomenologischen Soziologie gebrochen (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 104) und die Verschiedenartigkeit der „Weltsichten“ (vgl. Bourdieu 1992b, S. 143) vergleichend in den Blick genommen wird. Damit werden zugleich die „Grenzen ihrer Geltungsbereiche“ angedeutet (vgl. Bourdieu 1979, S. 151) und Übereinstimmungen

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von „heile-Welt-Vorstellungen“ an den Diskurs der Gruppe ND gerichtet werden. 2.3.3.1 „Heile Welt“ als impliziter Gegenhorizont Nach der oben behandelten Einstiegssequenz folgen in der Diskussion von Gruppe ND drei Sequenzen, in denen sich die Gruppe im kommunikativgeneralisierenden Modus zunächst der Kleidung der abgebildeten Personen zuwendet und sie in die 80er Jahre datiert (1067-1073). Sodann wird das weiße Haar der „Oma“ gewürdigt (1074-1078). Darauf werden die familieninternen Verwandtschaftsverhältnisse erörtert und überlegt, wer „angeheiratet“ und wer wem ähnlich sieht (1078-1095). Auch diese Sequenzen zeigen, dass Gruppe ND das Familienbild aus authentischer Perspektive betrachtet. Aufgrund ihrer Diskursdramaturgie (aufeinander eingehend, aber eher argumentativ als euphorisch sich steigernd) und des durchgängig kommunikativ-generalisierenden Modus (keine Metaphern, Anspielungen, „Insider-Jokes“, szenische Darstellungen o.ä.) versprechen sie jedoch nur wenig Aufschluss über den konjunktiven Erfahrungshintergrund, da sie erlebnismäßig nur schwach fundiert zu sein scheinen. Daher wird direkt zur Analyse der vierten Sequenz nach der Einstiegsphase übergangen. ND 1095-1116 Cw: Hm ............................ auch so´n bißchen die Gesichtsform .............. und alles is natürlich rausgeputzt, weißt du ... Bm: .... ja d-s, ds .... Cw: ... die Enkelkinder und ... Aw: ... mit Schleifchen im Haar, so wie des ausschaut bei dem Mädel, da. Bm: .... aahhh ... Cw: ... ds, ds ... Bm: Des erinnert mich so an Familienfeiern, wo ich net mag. Aw: Des is nur ein Mädchen. Vier Jungs und ein Mädchen. Irgendwie. Bm: ja. .... a ... ... irgendwie so-so gezwungen .... Aw: Des is richtig ... Bm: ...mit Familienfeier .... ja. Aw: ... gezwungen. Also mir ham zwar auch Familienfeiern, aber die sin a wenig anderst Bm: Aaah ... Jeder zieht sein ... da ....die wie-die Kleine da .... sein bestes Kleidchen an. Cw: Ja (wollt ich auch grad sagen) ... Bm: Noch was ins Haar rein .... aufgezeigt. Zum andern, indem sich die sinngenetische Interpretation eben auch als eine genetische Interpretation erweist und die Perspektive auf das Wie, d.h. auf den Herstellungsprozess, die „Genese“ von Bedeutung richtet. In dieser genetischen bzw. dokumentarischen Analyseeinstellung wird der Sinn einer Äußerung (bspw. des Ausrufs „Oh Gott“) aus dem ihm vorausliegenden modus operandi erklärt.

356 Aw: Bm: Aw: Bm: Cw: Aw:

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((m. verstellter Stimme)) Magst du auch ne Blume in die Haar gesteckt bekommen jaaahm .... die Frauen im Rock ((3)) Ja, des war damals auch so üblich ja. ......... Sogar die ganz kleinen da ... da ganz ... relativ schick angezogen Hm. Sabbern sich bestimmt gleich wieder voll ((5))

Nachdem die Gruppe zunächst das Outfit der Familie als „rausgeputzt“ bezeichnet, d.h. als (für einen besonderen Anlass) zurecht- bzw. feingemacht, seufzt Bm tief (1100) und stellt dann eine Beziehung her zwischen dem Bild und seinem eigenen Erleben: „Des erinnert mich so an Familienfeiern, wo ich net mag.“ (1102) Dieses Erleben wird von ihm negativ bewertet. Der Bezug zum eigenen Erleben wirkt nach der eher distanzierten Schilderung des Outfits etwas unvermittelt. Die Assoziation Bm´s ergibt sich nicht organisch aus dem sich aufschichtenden Interaktionsprozess der Gruppe, sondern scheint sich schlagartig einzustellen. Dafür spricht auch das einleitende Seufzen, das als unmittelbarer Ausdruck eines Erlebniszusammenhangs spontan aus Bm ‚herauszubrechen’ scheint. Unbeirrt von einer eingeschobenen Beobachtung Aw´s verdichtet Bm sodann seine Erinnerung bzw. den Grund für seine Ablehnung von Familienfeiern. Bm sucht zur Umschreibung seiner Erinnerung erst nach einem geeigneten Begriff und ‚tastet’ sich an ihn heran („a ... irgendwie so-so“). Er findet ihn im Begriff „gezwungen“. Auch im Tastenden dieser Umschreibung zeigt sich der Bezug zu einem authentischen Erlebniszusammenhang, der als atheoretischer Erfahrungsgehalt einer begrifflichen Explikation nicht so leicht zugänglich ist. Inhaltlich reiht sich diese Ablehnung („gezwungen“) homolog in die zuvor geäußerten Schilderungen, mit denen der im Bild sich dokumentierende modus operandi der sozialen Situation umschrieben wurde: „g´stellt“ (1056), nicht „zwischendurch ma fotografiert“ (1058), „Aufstellung“ (1059), „plaziert“ (1059), „auf die Wiese setzen“ (1060/1062). Erstmals wird nun ein Zusammenhang mit dem eigenen Erleben von Familienfeiern hergestellt und die (als authentisch empfundene) soziale Inszenierung explizit negativ bewertet. Verbindendes Glied zwischen dem Bild und Bm´s erinnerten Familienfeiern ist die Gezwungenheit der sozialen Situation. Nach einer antithetischen Differnzierung („Also mir ham zwar auch Familienfeiern, aber die sin a weng anderst“; 1107) beginnt die Gruppe ein konjunktives Nach- oder Miterleben des Bildes, das sich bereits mit dem Seufzen Bm´s (1100) angekündigt hat und in das nun alle Gruppenmitglieder eingebunden sind. Bm seufzt abermals und stellt damit einen Bezug zu einem zugrundeliegenden Erlebniszusammenhang her. Diesen Erlebniszusammenhang scheint er nun mit dem Bild interagieren zu lassen, denn er schildert die Kleidung der

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abgebildeten Personen im ‚erlebenden Vollzug’: Er dynamisiert und verlebendigt das statische Bild, indem er die Kleidung nicht im Zustand der Vollendung beschreibt, sondern in der Verlaufsform des Ankleidens: „Jeder zieht sein (...) bestes Kleidchen an.“ (1108). Als Beleg verweist er exemplarisch auf ein abgebildetes Mädchen („da ... die wie-die Kleine da ...“). Cw ratifiziert nachdrücklich. Bm setzt seinen „erlebenden Vollzug“ fort und ergänzt: „Noch was ins Haar rein ...“ (1110). Die Gruppe wird quasi Teil der Situation und erlebt die Vorbereitung für das Fest mit, in der die Familie gerade dabei ist, sich „rauszuputzen“. Dieses erlebnismäßige Eintauchen in die Vorbereitungssituation setzt Aw fort und steigert es noch, da sie nun – mit verstellter Stimme und in ‚wörtlicher Rede’ – die erlebende Beschreibung Bm´s inszeniert: „Magst du auch ne Blume in die Haar gesteckt bekommen“ (1111). Stöhnend ratifiziert Bm und detailliert, dass die Frauen Röcke tragen (1112). Aw verlässt kurzfristig den Rahmen des ‚erlebenden Vollzugs’ und gibt nach einer Pause von drei Sekunden im kommunikativ-generalisierenden Modus eine Hintergrundinformation: „Ja, des war damals auch so üblich“ (1113) Mit dem Hinweis auf die Vergangenheit („damals“) bezieht sie sich vermutlich auf die in einer früheren Sequenz geäußerte Vermutung, das Bild stamme aus den 80er Jahren (1067-1073). Damit erhält der Erlebnisbezug, aus dem heraus das Bild rezipiert wird, eine zusätzliche Dimension: Nicht nur die soziale Situation einer Familienfeier (bzw. die Vorbereitung dazu) wird assoziiert, sondern auch die historische Situation der 80er Jahre. In diese Zeit fiel die Kindheit der Gruppenmitglieder, die Mitte bzw. Ende der 70er Jahre geboren wurden. Geht man davon aus, dass aus dieser Phase die Erinnerung an Familienfeiern stammt, dann decken sich für die Gruppe die beiden Dimensionen des Erlebnisbezugs, d.h. die Erinnerung an Familienfeiern wird durch den historischen Bezug unterstützt. Bm ratifiziert kurz und fährt im ‚erlebenden Vollzug’ fort, wobei er nun bei den „ganz kleinen“ die Vollendung des Ankleidens konstatiert: Sie sind „ganz ... relativ schick angezogen“ (1114). Er leitet diese Feststellung überbietend („sogar“) ein. Damit impliziert er, dass die „ganz kleinen“ eigentlich vom allgemeinen ‚Rausputzen’ befreit sein könnten. Cw ratifiziert und Aw antizipiert den Fortgang der Situation: „Sabbern sich bestimmt gleich wieder voll“ (1116). Sie greift damit Bm´s Feststellung über die „schicke“ Kleidung der Kinder auf und kontrastiert sie mit einer Vermutung über deren baldigen Niedergang. Eine Pause von fünf Sekunden schließt sich an, nach der eine thematisch neue Sequenz beginnt. Das Thema scheint für die Gruppe zu einem vorläufigen Abschluss gelangt zu sein.

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Empirische Fallrekonstruktionen

Kontextualisierung und Destruktion der „heilen Welt“ I In dieser letzten sehr erlebnisgesättigten Phase der Sequenz wird der Moment der Fotoaufnahme in eine länger dauernde ‚Ereignisstrecke’ eingebettet – von der Vorbereitung der Familie, in der „jeder sein bestes Kleidchen anzieht“ und noch „was ins Haar“ gesteckt bekommt, bis zum „Vollsabbern“ der „schicken“ Kleidung hinterher. Der zeitliche Ausschnitt, den das Foto zeigt, wird dabei vergleichsweise wenig gewürdigt. Auch hier scheint die Gruppe das Bild wieder ‚von innen’, d.h. aus der Perspektive der abgebildeten Personen heraus zu erleben. An dieser Stelle ist die Gruppe offenbar so tief in die abgebildete Situation eingetaucht, dass sie sich auch in die Situationen vor und nach der Fotoaufnahme hineinversetzen kann. Die Gruppe implementiert dabei dem statischen Foto, das nur den Moment des Auslösens zeigt, eine zeitliche Struktur und dynamisiert es – aus dem Foto wird ein ‚Film’ mit einer Dramaturgie bzw. einer ‚Geschichte’. Diese ‚Geschichte’ erzählt nicht nur das zeitliche ‚Vorher’ und ‚Nachher’ des Moments der Fotoaufnahme. Indem sie die Momentaufnahme kontextualisiert, bettet sie das Foto, das nach John Berger immer ein „herausgegriffenes Zitat“ (vgl. ders. 2000, S. 119 ff.; hier 1.2.1.1) ist, in einen Erzählzusammenhang ein und macht es so ‚verstehbar’. Auch Gruppe AH bindet das Bild in einen Erzählzusammenhang ein. Dabei ‚extrapoliert’ sie die abgebildete Situation: Sie kontextualisiert das Familienbild durch die Rahmenerzählung des „Familienausflugs“ (676) und schließt vom Moment der Fotoaufnahme auf den ganzen Tag („also der Tag muss viel Spaß machen“, 690; „einfach n`Tag in der Natur“, 693) – der Sekundenbruchteil, in dem der Auslöser ‚Klick’ gemacht hat, wird auf 24 Stunden übertragen. Ganz anders sieht der Erzählzusammenhang von Gruppe ND aus: Hier kommt es zu keiner quantitativen Ausweitung der abgebildeten Situation, sondern zu einer qualitativen Verschiebung, indem die ‚Geschichte’ den Bild gezeigten Ausschnitt semantisch ‚umpolt’. Durch die Einbettung in den Erzählzusammenhang von Gruppe ND erscheint das Bild nicht als Ausschnitt aus einem länger anhaltenden, gleichbleibenden Zustand der „Harmonie“ oder der „Idylle am Nachmittag“. Der vermeintlichen „Idylle“ musste zunächst ‚auf die Sprünge’ geholfen werden: Die Personen mussten sich erst „rausputzen“, ihre „besten Kleidchen“ anziehen, die Haare zurechtmachen etc. Es handelt sich in der Perspektive von Gruppe ND demnach nicht um „einfach n´Tag in der Natur“ (AH 693) – wie von Gruppe AH angenommen, sondern um eine voraussetzungsvolle Inszenierung. Dieser mühevoll konstruierte Zustand hält zudem nicht lange vor, da sich die Kinder „gleich wieder vollsabbern“. Das Foto zeigt somit den wenig repräsentativen Moment zwischen „Rausputzen“ und „Vollsabbern“. Auf diesen kurzen Moment wurde das Outfit der Personen hinkonstruiert, damit es sich

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nach dem Klicken des Fotoapparats wieder auflöst. Das vermeintliche „Idyll“ erweist sich in der Perspektive von Gruppe ND als mühsam inszeniert, ‚brüchig’ und nicht von langer Dauer. Es ist dies eine ‚Geschichte’ mit geradezu klassischem Aufbau, nämlich eine Geschichte von Aufstieg und Niedergang, vom Aufstieg durch „Rausputzen“ und dem Niedergang durch „Vollsabbern“. Diese Geschichte ist nur ‚sinnvoll’, wenn in ihrem Zentrum, auf das der Aufstieg zusteuert und der durch die ‚Katastrophe’ zerstört wird, ein Moment des Glücks ‚aufblitzt’, für einen Augenblick das Ideal einer „heilen Welt“ erreicht scheint. Aus der klassischen Figur der ‚Geschichte’ lässt sich daher folgern, dass auch Gruppe ND mit dem im Bild festgehaltenen Moment eine – zwar prekäre – Vorstellung von „heiler Welt“ verbindet. Als unartikulierter Hintergrund ist die Vorstellung einer „heilen Welt“ auch im Diskurs der Gruppe ND präsent. In dieser Passage lässt sich die Vorstellung der „heilen Welt“, die in den Diskursen von Gruppe AH und SA in unterschiedlicher Weise präsent war, als ‚impliziter Gegenhorizont’ von Gruppe ND rekonstruieren: Als bloß „gestellte“ Inszenierung einer nur vorgeblich „harmonischen“ Familienfeier ‚schwingt’ die Vorstellung einer „heilen Welt“ auch im Diskurs der Gruppe ND mit. In dieser Perspektive ist der „heilen Welt“ ebenso zu misstrauen, wie in der Perspektive von Gruppe SA. Nicht jedoch, weil es sich um keine ‚echte’ Familie und um keine ‚echte’ Familienfeier handelte, sondern weil im (authentischen) Rahmen der ‚echten’ Familienfeier die „heile Welt“ nur Fassade ist. Es kann nun nach homologen Mustern gesucht werden, in dem die Gruppe das Bild ebenfalls nur als Fassade einer „heilen Welt“ ansieht, hinter der eine weniger „harmonische“ Welt sichtbar wird. Der spezifische Umgang der Gruppe ND mit der „heilen Welt“ könnte dann als Destruktion durch ‚Zerkratzen’ der ‚schönen Oberfläche’ charakterisiert werden. Destruktion der „heilen Welt“ II: Eine Frau ist eigentlich ein Mann In dieser Sequenz scheint sich das oben angesprochene Muster des ‚Kratzens an der Oberfläche’ homolog zu dokumentieren. ND 1116-1126: Aw: Sabbern sich bestimmt gleich wieder voll ((5)) Ah, die gucken auch alle so böse irgendwie) Bm: Die gucken alle weng komisch ((3)) Aw: Ich find die Frau hat sogar n´bißle was von nem Mann Bm: ((lacht leise)) Cw: (mehr so´n) Bm: ... vom G´sicht her ... Cw: ... eckiches Gesicht Bm: ja ..... weng kantich.

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360 Aw: Bm:

Vielleicht isse ja n´Mann ((lacht leise)) (vielleicht weiß sie´s noch gar nich) ((lacht leise)) ((6))

Nach einer Pause von fünf Sekunden wendet sich die Gruppe den Mienen der abgebildeten Personen zu. Dabei stellt sie fest, dass eine der Frauen „n´bißle was von nem Mann“ hat, d.h. einem Mann ähnlich sieht, da sie ein „eckiges“ und ein etwas kantiges („weng kantich“) Gesicht hat. Scherzhaft wird daraufhin zuerst vermutet, dass sie nicht nur einem Mann ähnelt, sondern tatsächlich ein Mann ist. Diese Spekulation wird – ebenfalls scherzend – dahingehend erweitert, dass „sie“ diese verborgene Wahrheit über sich selbst „noch“ gar nicht weiß. Möglicherweise kann hier eine Homologie zur oben diskutierten ‚Destruktion der heilen Welt’ gesehen werden: Die Gruppe betrachtet das Bild wieder als Fassade, der zu misstrauen ist. Ein ‚Kratzen’ an dieser Fassade führt zu Einsichten, die konträr sind zu dem Eindruck, den das Bild ‚auf den ersten Blick’ vermittelt: Schick angezogene Kinder sind im nächsten Moment „vollgesabbert“ und eine Frau entpuppt sich als Mann – und nicht nur das: Er/Sie weiß nicht einmal, dass er/sie eigentlich ein Mann ist. Ein Irrtum über das eigene Geschlecht, der mutmaßlich „noch“ ans Tageslicht kommt, kann im Kontext eines Bildes, bei dem die Personen vorwiegend durch ihre familiären Rollenbeziehungen – also sehr stark geschlechtsspezifisch – definiert sind (1031, 10351053), dazu beitragen, die Vorstellung einer „Idylle am Nachmittag“ ins Wanken zu bringen. Destruktion der „heilen Welt“ III: Der „Opa“ als „Pate“ Nach einer Pause von sechs Sekunden initiiert Bm ein neues Thema. Wie aus dem weiteren Diskursverlauf hervorgeht, wendet er sich nun dem „Opa“ zu. Legt man an diese interaktiv sehr dichte Sequenz als Vergleichshorizont die ikonologische Sinnbildung der Gruppe AH und interpretiert sie vor dem Hintergrund der von Gruppe AH empfundenen „Harmonie“ und der ‚innigen Herzlichkeit’ unter den abgebildeten Personen, dann tritt möglicherweise auch hier das Muster der ‚Destruktion der heilen Welt’ zu Tage. ND 1126-1148: Bm: (vielleicht weiß sie´s noch gar nich) ((lacht leise)) ((6)) Ich weiß net ... der .... wie der so eben dort kniet .... Cw: Hm. Bm: .... hat irgendwie so was wie auf so alten Klassenfotos der Lehrer, der immer am Rand steht .. Aw: Ja ((lacht)) Bm: .... und über alles thront. So erchendwie ...

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Aw: Bm: Cw: Aw: Cw: Aw: Bm: Aw: Cw: Aw: Bm: Aw: Bm:

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((gleichzeitig mit Bm p)) is doch der ....Opa ... der Hüter ... der .... der ((lacht)) ganzen Familie, ja. ((gleichzeitig mit Aw n)) ... so wie der Pate oder so ... bei so´m Familienclan. Ja, ich find, dass der Opa sogar noch n´bißchen locker rüberkommt ((gleichz. mit Cw p)) Des sch-der schaut noch am normalsten find ich von allen ... ((gleichzeitig mit Aw n)) so n´bißchen ... mobil halt .. ((gleichzeitig mit Bm p)) aber ich fin-ich find er schaut-er schaut ... ((gleichzeitig mit Aw n)) Ja schon halt .... als hätt er die Hand scho´ weng drüber ... auch aus, als ob er sich weng absondert, weil alle .... Hm. ... biegen sich hier so zur Mitte hin ... ja. ... und er macht hier so´ne Kante. ((4)) Ja von rechts her, die biegen sich ja alle so in des Bild rein, dass hier echt n´Übergang voll da is. Ham ... ham ... ja jemanden im Arm .... da der die Kinder die (hocken ... sind) da hinten, und er- s-wenn´s seine Frau is – also gute Kluft zwischendrin. ((6))

Gruppe ND wendet sich in dieser Passage dem „Opa“ der Familie zu und setzt zunächst bei seiner Körperhaltung, seiner „Hexis“ an. („wie der so eben dort kniet“; 1126/1127). Die Hexis als körperlicher Ausdruck des Habitus (vgl. Bourdieu 1993, S. 129, 136) lässt sich ebenfalls nur auf Basis des eigenen Habitus, d.h. durch „synthetische Intuition“ erfassen. Aus der „körperlichen Hexis und Haltung“ lassen sich „Hinweise auf zugrunde liegende Einstellungen“ erahnen (Bourdieu 1987, S. 666; Herv. i. Orig.), die sich einer begrifflichen Fixierung weitgehend entziehen. Zur Beschreibung der begrifflich nur schwer einzuholenden Hexis greift Bm daher auf einen Vergleich zurück. Er vergleicht die Haltung des Großvaters unter Bezug auf ein anderes Bild: ein altes Klassenfoto (1129). Dem Großvater kommt dabei eine Position analog zu der des Lehrers im Kontext einer Schulklasse zu, der „am Rand steht“ (1129/1130), d.h. nicht integriert ist, und über allem „thront“ (1132), d.h. eine Macht- und Kontrollposition inne hat. Das „Ahnende“ (vgl. Bourdieu oben) der Deutung drückt sich nicht nur in der indirekten Beschreibung durch einen Vergleich aus, sondern auch durch die angehängte Diffundierung („so erchendwie“, i.e.: „so irgendwie“; 1132). Eine Nuancierung der autoritären Position des Großvaters führt Aw durch, die in begütigendem Tonfall („is doch der ... Opa“; 1133, Herv. B.M.) auf eine Art „Schutzfunktion“ des „Familienoberhaupts“ hinweist: Er ist der „Hüter“ (1133) der – wie sie lachend ergänzt – „ganzen Familie“ (1133/1134). Macht- und Schutzfunktion fließen möglicherweise im Begriff des „Paten“ eines „Familienclan“ (1135) zusammen, mit dem der Großvater sodann belegt wird. Der Begriff des „Paten“ verweist auf das Oberhaupt eines zur Mafia gehörenden Familienstamms, den man auch als „Clan“ bezeichnet. Damit wird zugleich die Vorstel-

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lung einer nach außen abgeschlossenen (bzw. durch das Gesetz der omertà abgeschotteten) Familie evoziert, die intern hierarchisch und autoritär strukturiert ist und von dem einzelnen Familienmitglied die Unterordnung unter die Gesetze der Familie verlangt. Die vermeintlich „heile Welt“ der Familie erscheint in dieser (destruktiven) Perspektive als ‚unheilvolle’ Institution, die den Einzelnen unterdrückt und in ihre hierarchische Machtstruktur zwängt. Bildhaftes Wissen als Basis ikonischer Deutungen In den Überlegungen, die die Gruppe an die Hexis und die räumliche Stellung des Großvaters zu der übrigen Familie anschließt, dokumentieren sich somit sehr komplexe präreflexive Sinngehalte über das soziale Gefüge der Familie sowie ihre internen Beziehungen und Handlungsstrukturen. Durch Vergleiche umschreibt die Gruppe diese aus der Hexis nur ‚erahnten’ atheoretischen Sinnzusammenhänge. Mit der Berücksichtigung der Körperhaltung des Großvaters und seiner Positionierung zu den anderen Familienmitgliedern leistet die Gruppe weniger eine ikonologische als vielmehr eine ikonische Deutung im Sinne Imdahls. In Imdahls Terminologie könnte man von einer „szenischen Choreographie“ (Imdahl 1996a, S. 19) sprechen, bei der es um „die szenische Konstellation der in bestimmter Weise handelnden oder sich verhaltenden Figuren in ihrem Verhältnis zueinander“ (Imdahl 1996a, S. 19) geht. Dabei aktiviert die Gruppe ND „bildhaftes“ Wissen47, um die Ikonik des Bildes zu verstehen: Sie bezieht sich auf ein „altes Klassenfoto“, um die „szenische Choreographie“, d.h. die Hexis und räumliche Positionierung des Großvaters zu beschreiben. Durch einen Vergleich umschreibt die Gruppe ihr ikonisches Verstehen und entfaltet dabei das von ihr erahnte Beziehungsgefüge der „im Bild repräsentierten sozialen Szenerie“. Im Zentrum stehen dabei v.a. innerfamiliäre Machtverhältnisse, die aus einer als hierarchisch erlebten Familienstruktur abgeleitet werden. Die Gruppe überführt somit ikonische Merkmale – die Hexis und Komposition – in semantische Sinngehalte (vgl. Bohnsack 2001, S. 14).

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Dass sich die ikonische Betrachtungsweise im wesentlichen auf atheoretisches Wissen stützt bzw. das atheoretische Wissen selbst „bildhaft“ und insofern ikonisch ist, hat Bohnsack in Auseinandersetzung mit Imdahls Begriff der Ikonik herausgearbeitet (Bohnsack 2001). Für jenes atheoretische, unmittelbare Erfassen ikonischer Sinnstrukturen sind daher „bildhaft, ikonisch angeeignete Wissensstrukturen unmittelbar konstitutiv“ (ebd., S. 6). Gerichtet ist die ikonische Betrachtungsweise bei gegenständlichen Bildern in ihrem Kern auf „die im Bild repräsentierte soziale Szenerie, die soziale Bezogenheit und Beziehungsstruktur“ (ebd. S. 14). Sie wird von empirischen Rezipierenden (im Gegensatz zu wissenschaftlichen Interpreten) „intuitiv oder unausdrücklich“ verstanden – wobei sie sich zur Darstellung des Verstandenen indirekter, bspw. metaphorischer Ausdrucksweisen bedienen (vgl. ebd. S. 6). Die Ikonik stützt sich demnach wie die Ikonologie auf den Habitus (der Rezipierenden) und ist auf einen im Bild sich dokumentierenden Habitus gerichtet.

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Destruktion der „heilen Welt“ IV: Die „Kluft“ zwischen den Eheleuten Im weiteren Verlauf der Diskussion wird zunächst der Eindruck vom Großvater nuanciert. Er wirkt „sogar noch´n bißchen locker“ (1136) und im Vergleich mit den anderen Familienmitgliedern „noch am normalsten (...) von allen“ (1137), da er „so n´bißchen .... mobil halt“ (1138) zu sein scheint. Darauf wird der Machtaspekt seiner Rolle nochmals bekräftigend aufgegriffen, wobei seine ambivalente Rolle als ‚Beherrscher’ und zugleich ‚Beschützer’ der Familie in einer etwas doppeldeutigen Wendung anklingt: „Ja schon halt .... als hätt er die Hand scho´ weng drüber“ (1140). Darin vermischen sich die Formulierungen „jemand halte seine Hand (schützend) über die Familie“ und „jemande habe seine Hand (herrschend) auf der Familie“. Die Doppeldeutigkeit bleibt im Diskurs in der Schwebe und wird nicht aufgegriffen. Gleichzeitig wird von Aw eine neue Initiative gestartet, um an der ‚Oberfläche’ der „heilen Welt“ zu ‚kratzen’. Sie nimmt ihren Ausgang ebenfalls von einer ikonischen Betrachtung des Großvaters im Bild- bzw. Familiengefüge: Er „sondert“ sich von der Familie ab (1141). Während die übrigen Familienmitglieder zur „Mitte“ hin orieniert sind, macht der Großvater eine „Kante“ (1143/1145). Diese weitgehend formale Beschreibung der Komposition bzw. „szenischen Choreographie“ enthält bereits eine evaluative Aufladung, da „absondern“ nicht nur räumlich verstanden werden kann, sondern auch emotional und sozial: Der Großvater wird dadurch in die Nähe eines „Sonderlings“ oder „Eigenbrötlers“ gerückt. Eine Pause von vier Sekunden markiert einen vorübergehenden Abschluss der Überlegungen. Dennoch wird das Thema fortgeführt, wobei das Bezugssystem nun das Bild ist (und nicht die Familie): „Ja von rechts her, die biegen sich ja alle so in des Bild rein, dass hier echt n´Übergang voll da is.“ (1145/1146) In der Terminologie Imdahls kann daher von einer Betrachtung der „planimetrischen Komposition“ geredet werden, die, „insofern sie bildbezogen ist, nicht von der vorgegebenen Außenwelt, sondern vom Bildfeld“ ausgeht, „welches sie selbst setzt“ (Imdahl 1996a, S. 26). Von der rein formalen Beschreibung durch Aw – nach Imdahl ein Charakteristikum einer an der „planimetrischen Komposition“ ausgerichteten Betrachtungsweise (ebd. S. 27) – hebt sich umso deutlicher Bm´s Lesart ab, der wieder die sozialen Relationen als Bezugssystem heranzieht und dadurch die formale Komposition semantisch auflädt: „Ham ... ham ... ja jemanden im Arm .... da der die Kinder die (hocken ... sind) da hinten, und er- s-wenn´s seine Frau is - also gute Kluft zwischendrin.“ Die planimetrische Anordnung der Personengruppe wird nun unter dem Aspekt der sozialen und emotionalen Nähe gedeutet. Bm arbeitet einen Kontrast heraus, den er unter emotionalen Gesichtspunkten charakterisiert: Die von Aw als ho-

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mogener Block beschriebenen Personen haben in der Perspektive Bm´s „jemanden im Arm“, d.h. sie sind nicht nur räumlich miteinander verbunden, sondern auch emotional – nicht aber mit dem Großvater. Die kompositorische Lücke zum Großvater, die Aw formal als „Kante“ (1145) bezeichnet hatte, benennt Bm als „gute Kluft“. Dabei stellt er pointiert die Prämisse voran, dass die kompositorische Lücke zwischen Ehepartnern besteht („wenn´s seine Frau is – also gute Kluft zwischendrin.“). Dies kann so interpretiert werden, dass Bm die räumliche „Kluft“ als Zeichen einer krisenhaften Sozialbeziehung ansieht. Die „Kluft“ ist somit als emotionale Distanz zu verstehen. Damit impliziert Bm möglicherweise, dass die Ehe der Großeltern nicht (mehr) intakt ist. Auch hier zeigt sich das Muster der Destruktion der „heilen Welt“: Eine anscheinend intakte Ehe erweist sich durch ‚Kratzen an der Oberfläche’ als nur scheinbar intakt. Es schließt sich eine Pause von sechs Sekunden an, die darauf verweist, dass das Thema für die Gruppe zu einem gewissen Abschluss gebracht wurde. Destruktion der „heilen Welt“ – Resümee Vor dem Hintergrund der empirisch fundierten Vergleichshorizonte der Gruppen AH und SA lassen sich die Sinnbildungsprozesse von Gruppe ND als implizite Auseinandersetzung mit einer unartikuliert bleibenden Vorstellung von „heiler Welt“ interpretieren. In der Auseinandersetzung mit dieser impliziten Vorstellung der „heilen Welt“ konnte als homologes Muster ein destruktives ‚Kratzen an der Oberfläche’ rekonstruiert werden. Unter der Oberfläche wird für Gruppe ND eine ‚unharmonische’ Welt sichtbar: Die „relativ schick“ angezogenen Kinder werden sich „bestimmt gleich wieder vollsabbern“, ein Familienmitglied hält sich für eine Frau, ist aber ein Mann und beim „Opa“ wird hinter einer Fassade von ‚Lockerheit’ und Normalität der „Pate“ sichtbar, der über allen „thront“, sich von der Familie „absondert“ und ein gestörtes Verhältnis zu seiner Frau hat. An der Beschäftigung mit dem Großvater zeigt sich möglicherweise, dass das Zerkratzen der Fassade weniger inhaltlich, sondern mehr durch die prinzipielle Art der Auseinandersetzung – eben die der Destruktion – begründet ist: So wird der Großvater erst als Beherrscher der Familie geschildert, dann aber auch als abgesonderter Eigenbrötler – in jedem Fall entpuppt sich seine „lockere“ Art als nur vordergründig und falsch. Um die „charakteristische Selektivität“ der Gruppe ND bei diesem Wechselspiel von schöner Oberfläche und unschöner ‚Wirklichkeit’ noch stärker zu konturieren, lässt sich die von ihr als krisenhaft empfundene Spannung innerhalb der Familie mit den Lesarten der beiden anderen Gruppen konfrontieren: Gruppe AH empfindet zwischen den abgebildeten Personen eine ‚innige Herz-

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lichkeit’ (vgl. 2.3.2.1).48 Auf einer vordergründigen Ebene – der Ebene des intendierten Ausdruckssinns – rezipiert auch Gruppe SA das Bild als Darstellung einer harmonischen, einträchtig beieinandersitzenden Familie. Sie hält fest, dass die „Alten (...) so glücklich noch mit ihrer Familie zusammen sitzen“ (SA 876; Herv. B.M.). Gruppe SA lässt die „heile Welt“ intakt und ‚spielt’ statt dessen mit ihrer ‚idyllischen’ Oberfläche, indem sie ‚von außen’ ironischzynische Produktassoziationen und Anzeigen-Headlines an das Bild heranträgt und es dadurch ‚rahmt’. Erst durch zynische Kontextualisierungen persifliert sie das Bild. Gruppe AH und Gruppe SA kommen somit zu Analysen der „szenischen Choreographie“ der abgebildeten Personen, die – trotz aller Unterschiede der Lesarten – eine hohe Übereinstimmung aufweisen und sich deutlich von der Lesart der Gruppe ND unterscheiden. Die Destruktion der „heilen Welt“ als ‚verlogene’ Selbstinszenierung einer Familie ist daher ein Spezifikum der Gruppe ND. 2.3.3.2 Fremdbestimmung als Erlebnishintergrund Nach der Feststellung der „Kluft“ zwischen den Eheleuten folgt eine Pause von sechs Sekunden – das Thema scheint für die Gruppe beendet zu sein. Danach initiiert Bm ein neues Thema, indem er das Bild nochmals in Beziehung setzt zu seinem eigenen Erlebnishintergrund: ND 1148-1155: Bm: er- s-wenn´s seine Frau is – also gute Kluft zwischendrin. ((6)) trotzdem erinnert mich irgendwie an ne Familienfeier ... Aw: ((gleichzeitig mit Bm p)) ... vor allem die Oma .... die Oma ... die Oma Bm: ((gleichzeitig mit Aw n)) ... und irgendwie isses mir auch total unangenehm ((lacht leise)) Aw: .... die Oma is auch irgendwie ... so halb im G´sicht verdeckt. Cw: Hm. Aw: Hm.

Unterbrochen von einem Einwurf Aw´s legt Bm nach, dass es ihm „auch total unangenehm“ ist. Von einer ‚existentiellen Betroffenheit’ war bei der Rezeption von Bild „Shantytown“ durch Gruppe ND die Rede – dieser Begriff eignet sich auch, um die eigentümliche Kombination von persönlicher Verstrickung mit dem Bild aufgrund persönlicher Erinnerungen einerseits und andererseits der 48

Gruppe AH sieht auf dem Bild „ne harmonische Familie“ (AH 679). Die abgebildeten Personen „verstehen sich gut...“ (AH 684) und freuen sich, „weil se alle auch so z´amme sind ...“ (AH 686) – es sind „einfach die Leute dabei, wo man mag und gern hat“ (AH 690/691)

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Heftigkeit der Ablehnung („total unangenehm“) zu charakterisieren. Die wiederholte Diffundierung mit „irgendwie“ spricht dafür, dass Bm den Erlebnisbezug mehr präreflexiv zu erahnen scheint, als dass er ihn begrifflich fassen könnte. Gleichwohl ist diese bekenntnishafte Äußerung nicht organisch in den sich aufschichtenden Interaktionprozess der Gruppe eingebunden, sondern nimmt eine isolierte Stellung ein. Sie wird von den übrigen Gruppenmitgliedern nicht aufgegriffen, sondern durch eine ikonische Beschreibung Aw´s ‚absorbiert’: Durch die viermalige Wiederholung der Wendung „die Oma“ (1150) ‚kickt’ sie die Proposition Bm´s geradezu aus dem Diskurs – mit Erfolg, denn nach ihrer Beschreibung der ikonischen Verhältnisse („die Oma is auch irgendwie ... so halb im G´sicht verdeckt“; 1153) hat sich Bm´s Proposition ‚erledigt’, der Diskurs ‚versandet’ schließlich in einer Pause von sechs Sekunden. Ein ähnliches Muster zeigte sich bereits, als Bm zum ersten Mal einen expliziten und negativ bewerteten Bezug zum eigenen Erleben von Familienfeiern herstellte: Auch seine Äußerung „Des erinnert mich so an Familienfeiern, wo ich net mag.“ (1102) ergab sich nicht organisch aus der sich steigernden Interaktion der Gruppe, sondern schien mehr aus ihm ‚herauszuplatzen’. Auch diese erlebnisgesättigte Äußerung wurde zunächst von Aw übergangen (1103). Entweder wird der Erlebnisbezug von den übrigen Gruppenmitgliedern nicht geteilt, oder er ist nicht diskursfähig. In dieser Weise könnte auch das leise Lachen Bm´s interpretiert werden, das er an sein ‚Bekenntnis’ anschließt. Möglicherweise empfindet er eine gewisse Scheu, sich zu diesen Erinnerungen zu bekennen. Fremdbestimmung I: Der Hund wird für das Foto festgehalten Nachdem Aw´s Proposition Bm´s Erlebnisbezug aus dem Diskurs ‚gekickt’ hat, gerät der Diskurs ins Stocken: Die Vehemenz, mit der diese Proposition im Diskurs durchgesetzt wurde, steht offenbar in umgekehrten Verhältnis zu ihrer Relevanz für die Gruppe. Nach einer Pause von sechs Sekunden führt Bm abermals eine neue Proposition ein: ND 1156-1160: Bm: ((6)) (Die sieht aus), als würd´ se den Hund grad festhalten, dass er für´s Foto dableibt, so richtig am Boden runter drücken Aw: Ja. Als ob se´n festknört. Cw: Aber dabei verdeckt se den andern Jungen ganz .... Bm: Hm. ((5))

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Bm schildert wieder im Modus des ‚erlebenden Vollzugs’ die Situation der Fotoaufnahme und stellt fest, dass eine Person „gerade“ den Hund festhält, damit auch er auf´s Foto kommt. Er beschreibt dies, als würde dem Hund dabei Gewalt angetan, da er „so richtig“ runtergedrückt wird. Aw ratifiziert und elaboriert diese Beobachtung mit der mundartlichen Wendung: „als ob se´n festknört“ (1158), was vermutlich mit „festknoten“ oder „knebeln“ übersetzt werden kann. Diese Beobachtung kann als vor-ikonographische Beschreibung eines Bilddetails verstanden werden. Es kann aber auch gefragt werden, ob sich hier die „charakteristische Selektivität“ (Bohnsack 1999, S. 46) der Gruppe ND bei der Behandlung des Familienbildes mit ihren spezifischen Relevanzsetzungen zeigt, da dieses Detail von den beiden anderen Gruppen nicht thematisiert wurde. Es kann dann weiter gefragt werden, ob Bm diese Schilderung aus dem Erlebniszusammenhang heraus macht, aus dem er auch die „total unangenehme“ Erinnerung an selbst erlebte Familienfeiern expliziert hatte. Sie könnte dann Hinweise darauf liefern, warum die Erinnerungen an Familienfeiern „total unangenehm“ sind. Denn in der Schilderung des Umgangs mit dem Hund focussiert sich ein Thema, das sich als ‚roter Faden’ durch die gesamte Auseinandersetzung der Gruppe ND mit dem Familienbild zieht: Es ist das Thema von Zwang und Fremdbestimmung. Bereits in der Einstiegssequenz wurde das Bild als „g´stellt“ (1056) bezeichnet, bei dem die Personen in eine „Aufstellung“ (1059) gebracht, „plaziert“ (1059) und auf die Wiese „gesetzt“ wurden (1060/1062). Das Bild erinnerte im weiteren Diskursverlauf an „gezwungene“ Familienfeiern (1104). Als autoritärer „Pate“ (1135) wurde der Großvater beschrieben, der über allen „thront“ (1132) und seine Hand „drüber“ (1140) hat. In diesem Zusammenhang kann auch der ‚erlebende Vollzug’ des Ankleidens bzw. des „Rausputzens“ (1096) nicht nur als Chiffre für eine vordergründig „heile Welt“ interpretiert werden, die dann durch „Vollsabbern“ zerstört wird. Dass sich das einzelne Familienmitglied den Kleidungsvorschriften der Familie unterwerfen muss, kann vielmehr als Element des Zwangs gesehen werden. Konturieren lässt sich dies durch einen Vergleich mit Gruppe AH, die den Kleidungsstil gerade nicht als „rausgeputzt“ („net so förmlich, wie jetzt zu ner Hochzeit“; AH 663) empfunden hatte, sondern als „recht locker“ (AH 663). Die Auffassung, jeder auf dem Bild hätte „sein bestes Kleidchen“ (ND 1108) angezogen, ist demnach auf das spezifische Selektionsraster der Gruppe ND zurückzuführen, das bei der Rezeption des Familienbildes möglicherweise in besonderer Weise für das Erleben von Zwang und Unfreiheit sensibilisiert ist. Nun wird im Erleben der Gruppe auch noch der Hund kujoniert und für das Foto „festgeknört“. Er erfährt die gleiche Behandlung wie die Menschen. Oben wurde bereits herausgearbeitet, dass Gruppe ND ikonologischer Perspektive den modus operandi einer Familienfeier, d.h. ihren ‚Herstellungspro-

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zess’ in den Blick nimmt. Sie erlebt ihn offenbar als zwanghaft, „g´stellt“, von innerfamiliären Machtstrukturen durchdrungen. Diese erlebende Zugangsweise zu der abgebildeten Situation wurde als Betrachtung des Bildes ‚von innen’, d.h. aus der Perspektive der abgebildeten Personen bezeichnet. In der Schilderung des Umgangs mit dem Hund findet diese Perspektive nun eine Zuspitzung. Versteht man die Beschreibung des Umgangs mit dem Hund als Focussierungsmetapher, dann bündelt sich darin möglicherweise das Erleben des Bildes ‚von innen’: Die Gruppenmitglieder stellen einen Erlebnisbezug zu Familienfeiern her, in denen sie „so richtig am Boden runtergedrückt“ und „festgeknört“ wurden, damit sie „für´s Foto dableiben“. Obwohl das Thema des „Festknörens“ an dieser Stelle nicht elaboriert wird, kann es als zentral für die Beschäftigung der Gruppe ND mit dem Familienbild angesehen werden. In homologer Weise wird es in der Koda verdichtet und resümierend behandelt. Da die drei Sequenzen, die dazwischen liegen, der reflektierenden Interpretation keine wesentlich neuen Aspekte hinzufügen (Behandlung weiterer Personen in kritischer Perspektive, Lokalisierung der Szene in einem Park, Erörterung der Kleidung und Verwandtschaftsverhältnisse), kann direkt zur Schlusssequenz übergegangen werden. Fremdbestimmung II: So ein gekünsteltes Foto bräuchte man nicht An eine Erörterung der familieninternen Verwandtschaftsverhältnisse schließt sich eine sehr lange Pause von 13 Sekunden an. Daraufhin beginnt Bm mit einer Art Resümee: ND 1209-1225: Bm: ((13)) ja, zumindest bräucht´ ich so a Foto net ((lacht leise)) Aw: ... ich findBm: Posieren für´s Familienalbum, nä ... Aw: ((gleichzeitig mit Bm p)) ... ich find so´n Bild auch furchtbar ... Bm: ((gleichzeitig mit Aw n)) ... muss nich unbedingt sein .... ja, muss net sein. Aw: Vor allem des ... Bm: .... dann lieber mal so n´Schnaps-Schnappschuss aus der Hüfte ... Aw: ja. Bm: ((gleichzeitig mit Aw p)) die sin viel lusticher ... Aw: ((gleichzeitig mit Bm n)) des ... des wirkt ... Bm: ... da erinnerst dich auch viel lieber dran ... Aw: ... des wirkt auch total gekünstelt Bm: ja. Aw: ((gleichzeitig mit Bm p)) ... und dann gucken auch alle noch so blöd Bm: ((gleichzeitig mit Aw n)) ... trotzdem schaun se net g´scheit Aw: ja. ((9))

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Dass die Gruppe nun die Koda ihrer Auseinandersetzung mit dem Familienbild formuliert, wird nicht nur an der Stellung im Diskursverlauf deutlich – nach einer langen Pause von 13 Sekunden, die anzeigt, dass sich das Thema erschöpft hat –, sondern auch an der einschränkenden Formulierung Bm´s („zumindest“). Sie könnte ergänzt werden zu der resümierenden Wendung „Was immer man sonst noch zu dem Bild sagen könnte – ich zumindest ....“. Dabei macht sich eine feine Verschiebung bemerkbar: Bm lehnt so „a“ Foto ab (1209), d.h. seine Kritik richtet sich weniger gegen das konkrete Bild in seiner Singularität, sondern vielmehr gegen den Bildtyp („so a Foto“ = süddt. für „so ein Foto“; 1209/1210, Herv. B.M.). Implizit wendet er sich damit vermutlich gegen ein Bild dieses Typs, das die eigene Familie49 zeigt: So ein Foto von der eigenen Familie bräuchte er nicht. Damit wird die Rezeption des Bildes erneut im eigenen Erlebniszusammenhang verankert und aus ihm heraus verstanden. Bm ‚bündelt’ dann seine Ablehnung und bringt sie auf einen prägnanten Nenner: „Posieren für´s Familienalbum, nä ...“ (1212). Von der formalen Struktur erinnert diese knappe Ablehnungsformel an bekenntnishafte Autoaufkleber mit schlagwortartigen Protesten wie z.B. „Atomkraft, nein danke!“ oder „Tierversuche, nein danke!“. Analog und ins Hochdeutsche ‚übersetzt’ lässt sich Bm´s Ablehnung des Familienbildes auf die Formel bringen „Posieren für´s Familienalbum, nein danke!“ In dem Bekenntnis „Posieren für´s Familienalbum, nä ...“ focussieren sich verschiedene Aspekte, die im Laufe der Diskussion bereits angeklungen sind: So wird wieder die Perspektive eingenommen, aus der das Bild „von innen“ betrachtet wird. Denn die Ablehnung richtet sich nicht gegen das Foto als Produkt, sondern auf den Prozess seiner Herstellung, das „Posieren“ vor der Kamera. Damit wird zugleich in ikonologischer Perspektive der modus operandi der sozialen Situation einer Familienfeier in den Blick genommen. Auch die Charakterisierung dieses modus operandi, die in der Ablehnung „Posieren für´s Familienalbum, nä ...“ zum Vorschein kommt, deckt sich mit früher vorgenommenen Schilderungen. Denn „Posieren“ kann als ‚Pose einnehmen’ verstanden werden und weist somit in die gleiche Richtung wie die Beschreibungen, dass es sich um ein „g´stelltes“ Bild handelt (1056), bei dem 49

Aufgrund des flankierend eingesetzten Fragebogens kann angenommen werden, dass der konjunktive Erfahrungsraum von Familie bei Gruppe ND im Erleben der Herkunftsfamilie verwurzelt ist und sich nicht auf Erfahrungen stützt, die die Gruppenmitglieder durch die Gründung einer eigenen Kleinfamilie erworben hätten. Es wurde bereits mehrfach die Vermutung geäußert, dass bei Gruppe ND die Ablösungsproblematik vom Elternhaus gerade hochvirulent ist: Alle Gruppenmitglieder leben zum Zeitpunkt der Diskussion im Elternhaus, machen als Banklehrlinge jedoch gerade erste Schritte in Richtung einer beruflichen und finanziellen Unabhängigkeit. Inwiefern sich diese Situation auch im Erleben der Gruppenmitglieder niederschlägt, kann anhand des empirischen Materials nicht geklärt werden. Daher muss auch die Frage offen bleiben, ob der ambivalente Umgang mit der Erinnerung an Familienfeiern aus dem möglicherweise gerade prekären Verhältnis zu den Eltern resultiert.

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die Personen in eine „Aufstellung“ gebracht und „plaziert“ wurden (1059). Da der ‚Herstellungsprozess’ der Familienfeier überdies als „gezwungen“ erlebt wird, schlägt sich in der Formel „Posieren für´s Familienalbum, nä ...“ vermutlich auch das Empfinden der Gruppe von familieninternen Machtverhältnissen nieder. „Posieren“ hat dann nicht lediglich die aktive Bedeutung ‚eine inszenierte Pose’ einnehmen, sondern auch die passive Bedeutung50, die sich in zugespitzter und möglicherweise metaphorischer Weise auch in der Beschreibung des Umgangs mit dem Hund findet. Im kontrastiven Vergleich zur Rezeptionsweise der Gruppe SA fällt in der Ablehnung „Posieren für´s Familienalbum, nä ...“ eine weitere Besonderheit auf: Gruppe ND geht durchgängig davon aus, dass das Familienbild im privaten Kontext ‚verwendet’ wird. Nachdem es zunächst als „n´Bild“ charakterisiert wurde, „wie´s wirklich an der Wand daheim hängt“ (1054), wird nun als Verwendungszusammenhang ein „Familienalbum“ angegeben. Gruppe SA dagegen betrachtete das Familienbild unter dem Gesichtspunkt seiner werblichen Instrumentalisierung und medialen Verbreitung. In dieser Perspektive wird das Bild öffentlich verwendet (vgl. Berger, hier 1.2.1.1). Dies deckt sich mit den unterschiedlichen ‚Inszenierungsagenten’, die die Gruppe dem Bild unterstellen – eine familiäre Inszenierung bei Gruppe ND, eine mediale Inszenierung bei Gruppe SA. Aw vollendet nun ihre durch Bm unterbrochene Proposition und ratifiziert: „... ich find so´n Bild auch furchtbar ...“ (1213). Gleichzeitig formuliert Bm weiter an seiner Ablehnung: „muss nich unbedingt sein ... ja, muss net sein“ (1214). Aw beginnt eine weitere Proposition, die erneut durch Bm unterbrochen wird. Offenbar gelingt es Bm gerade in sehr erlebnisdichter Weise Empfindungen bei der Betrachtung des Bildes zu verbalisieren – salopp ausgedrückt: ‚er ist gerade in Fahrt’. Darüber hinaus wurde aber auch oben und bei der Auseinandersetzung der Gruppe ND mit Bild „Shantytown“ schon festgestellt, dass Bm eine Art Wortführerfunktion innerhalb der Gruppe zukommt. Gleichwohl kommt es in dieser Phase zu keiner Kontroverse innerhalb der Gruppe, Bm artikuliert somit lediglich Eindrücke, die vermutlich auch von den übrigen Gruppenmitgliedern geteilt werden. Bm unterbricht Aw nun mit der Explikation eines Gegenmodells: „.... dann lieber mal so n´Schnaps-Schnappschuss aus der Hüfte ...“ (1216). In einem gedankenexperimentell erzeugten Vergleich kontrastiert er das Familienbild mit einem anderen Bild bzw. einem anderen Bildtyp, das bzw. der Produkt eines anderen modus operandi ist. Damit nimmt Bm an50

Als „auferlegt“ charakterisiert auch Imdahl die „Pose“: Sie „entpersönlicht, sie entindividualisiert denjenigen, der sie vollzieht. Die Pose ist eine falsche, eigentlich unwirkliche Ausnahmesituation, sie ist Selbstmanipulation oder Manipulation durch einen anderen. Nicht ursprüngliche, sondern manipulierte Körpersprache ist auch das, was im französischen Begriffsverständnis mit ‚pose’ bezeichnet wird.“ (Imdahl 1996, S. 575)

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scheinend einen Perspektivwechsel vor, da er nun den fotografischen Herstellungsprozess und nicht mehr den sozialen Herstellungsprozess einer Familienfeier im Blick hat. Dieses Gegenmodell kann jedoch auch auf das „Posieren“, d.h. auf die Inszenierung vor der Kamera bezogen werden. Zwar dokumentiert sich in einem „Schnappschuss“ auch ein spezifischer fotografischer Habitus, er ist aber zugleich auch auf einen anderen familiären Habitus verwiesen, einen Habitus nämlich, der Schnappschüsse bei einer Familienfeier zulässt und niemanden „festknört“,