Alter(n) bewegt: Perspektiven der Sozialen Arbeit auf Lebenslagen und Lebenswelten [1 ed.] 9783531178707, 3531178709 [PDF]

„Lebenslage“ und „Lebenswelt“ nehmen in der Diskussion zu theoretischen Verortungen Sozialer Arbeit seit Jahren eine her

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German Pages 282 [269] Year 2012

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Front Matter....Pages 1-8
Einleitung....Pages 9-12
Front Matter....Pages 13-13
Altersbilder und die soziale Konstruktion des Alters....Pages 15-21
Alter(n) zwischen Partizipation und sozialer Ungleichheit....Pages 23-34
Front Matter....Pages 35-35
Geschlechtsspezifika Sozialer (Alten-)Arbeit....Pages 37-77
Lebensereignisse im Alter unter geschlechtsspezifischer Perspektive....Pages 79-118
Soziale Ungleichheit und Geschlecht – Zur Situation von Frauen im Alter....Pages 119-153
Front Matter....Pages 155-155
Alt werden in der Migration....Pages 157-167
Fremde Heimat „Pflegeheim“....Pages 169-192
Front Matter....Pages 193-193
Lebenswelt im Wohnkontext....Pages 195-204
Individuelle Wohnformen....Pages 205-227
Selbstbestimmt Wohnen mit Demenz....Pages 229-246
Front Matter....Pages 248-248
Lebensweltorientierte Soziale (Alten-)Arbeit....Pages 249-259
Sozialarbeit im Kontext Alten- und Pflegeheim....Pages 261-270
Gemeinwesenarbeit im demografischen Wandel – Verwirklichungschancen und Ermöglichungsspielräume....Pages 271-279
Back Matter....Pages 281-282
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Alter(n) bewegt: Perspektiven der Sozialen Arbeit auf Lebenslagen und Lebenswelten [1 ed.]
 9783531178707, 3531178709 [PDF]

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Zitiervorschau

Alter(n) bewegt

Gabriele Kleiner (Hrsg.)

Alter(n) bewegt Perspektiven der Sozialen Arbeit auf Lebenslagen und Lebenswelten

Herausgeberin Gabriele Kleiner Darmstadt, Deutschland

ISBN 978-3-531-17870-7 DOI 10.1007/978-3-531-94258-2

ISBN 978-3-531-94258-2 (eBook)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: KünkelLopka GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media www.springer-vs.de

1 Altersbilder und deren Wirkung

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Vorwort

Das vorliegende Buch wurde angeregt durch die Verleihung des Förderpreises an Johanna Hildebrandt für deren Diplomarbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt im Jahr 2009 zum Thema „Lebenslagen und Lebenswelten alter Menschen. Konsequenzen für die Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit.“ Dieser Förderpreis wird jährlich von der Evangelischen Hochschulgesellschaft für besonders herausragende Abschlussarbeiten verliehen. Als Lehrende an der Evanglischen Hochschule mit dem bisherigen Schwerpunkt Soziale Gerontologie habe ich in den vergangenen Jahren viele Abschlussarbeiten betreut, die sich mit unterschiedlichen Perspektiven auf das Alter(n) beschäftigten und es stellt sich immer wieder die Frage: Sollten herausragende Arbeiten „nur“ für den Studienabschluss und die Hochschulbibliothek angefertigt worden sein oder sollten diese nicht den Zugang zu einer breiteren Fachöffentlichkeit finden? Eine erste Abklärung mit den Verfasserinnen einiger sehr guter Arbeiten ergab Interesse an einem gemeinsamen Buchprojekt, für das ich auch aus dem Kreis interessierter Kolleginnen die Sozialgerontologinnen Marita Blitzko-Hoener und Petra Engel gewinnen konnte. In diesem Prozess ist ein Buch entstanden, welches unterschiedliche Perspektiven des demographischen Wandels aufgreift und die Bedeutung Sozialer (Alten-)Arbeit mit einer Fokussierung auf Lebenslagen und Lebenswelten im Alter thematisiert. Altersbilder und die soziale Konstruktion des Alters wurden als Themen des aktuellen Sechsten Berichtes der Bundesregierung zur Lage der älteren Generation (vgl. BMFSFJ 2010) gewählt. Mit dem Blick auf Partizipation und soziale Gerechtigkeit kommt diesem Thema die Funktion einer einführenden theoretischen Rahmung zu. Alter(n) ist weiblich1; nicht nur, dass Frauen eine höhere Lebenserwartung haben und damit einen höheren Anteil in der älteren Bevölkerung ausmachen, sondern auch unter Berücksichtigung des Geschlechts als sozialer Kategorie ist das Thema „Frauen im Alter“ für die Soziale (Alten-)Arbeit von großer Bedeutung.

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Dass das Thema Alter(n) und Geschlecht in dem vorliegenden Buch den meisten Raum einnimmt, wurde von der Projektgruppe, die ausschießlich aus Frauen bestand, einvernehmlich befürwortet. Es fiel den Autorinnen auch nicht schwer, sich für die durchgängige Anwendung des großen „I“ zu entscheiden.

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Vorwort

Insbesondere auch auf dem Hintergrund, dass Lebenslagen, Problemkonstellationen und Bewältigungsstrategien eine geschlechtstypische Ausprägung aufweisen. Das Thema Migration und Alter gewinnt aufgrund der Tatsache, dass viele Arbeitsmigranten- und migrantinnen im Alter nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren bzw. sich mit einem Pendeln zwischen beiden Ländern teilweise gut arrangieren, zunehmend an Bedeutung. Daher ist es notwendig, sich mit interkultureller und kultursensibler Altenhilfe, aber auch mit der Diskussion um Diversity intensiver zu beschäftigen und diese Diskussionen vor allen Dingen für die Handlungsperspektive in der Sozialen (Alten-)Arbeit nutzbar zu machen. Wohnwelten im Alter und die Gestaltung des sozialen Nahraumes sind Themen, die in der Lebensgestaltung älterer Menschen im Zentrum stehen. Der unbedingte Wunsch der meisten älter werdenden Menschen, am gewohnten Ort alt werden zu können und in selbstbestimmten Wohnstrukturen zu leben, die die Gestaltung eines autonomen Alltags garantieren, erfordert nicht nur neue Konzepte im Quartier. Erforderlich ist hierbei auch das Engagement der Träger von Altenhilfeeinrichtungen und von Kommunen, sich von alten Strukturen zu verabschieden. Dabei stellt das Thema „Wohnen für Menschen mit Demenz“ eine besondere Aufgabe dar. Die Herausforderungen für die Soziale (Alten-)Arbeit stellen sich im Kontext der unterschiedlichen Themen sehr heterogen dar. Als verbindendes theoretisches Konstrukt wird neben dem Konzept der Lebensweltorientierung der Capability-Ansatz gewählt. Beide Orientierungen finden Eingang in den abschließenden Beitrag einer gemeinwesenorientierten Sozialen (Alten-)Arbeit, der wieder als abschließende Rahmung einzuordnen ist. Ich danke den Autorinnen für ihr Engagement bei diesem Buchprojekt. Es hat Spaß gemacht, mit ehemaligen Studentinnen in einen fachlichen Dialog zu treten und sie nach dem Studienabschluss als Berufsrollenträgerinnen in den unterschiedlichen Arbeitsfeldern zu erleben. Ein besonderer Dank gilt Melanie Röhn, die die – mit einem solchen Projekt verbundene –„formatierende Kleinarbeit“ übernommen sowie Barbara Jordan, die die Korrekturarbeiten unterstützt hat. Ich wünsche dem Buch LeserInnen, die sich für das Alter(n) interessieren und für die Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen und ich hoffe, dass sich LeserIinnen sowohl aus der Wissenschaft Sozialer Arbeit wie aus den Praxisfelderen der Sozialen (Alten-)Arbeit gleichmaßen für die einzelnen Themenbereiche interessieren. Gabriele Kleiner Darmstadt, im Herbst 2011

Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung.............................................................................................................. 9 I.

Die Konstruktion des Alter(n)s – zwischen Partizipation und sozialer Ungleichheit ................................................................................ 13

Altersbilder und die soziale Konstruktion des Alters Johanna Hildebrandt, Gabriele Kleiner ............................................................. 15 Alter(n) zwischen Partizipation und sozialer Ungleichheit Gabriele Kleiner ................................................................................................. 23 II. Alter(n) und Geschlecht ........................................................................... 35 Geschlechtsspezifika Sozialer (Alten-)Arbeit Petra Engel ......................................................................................................... 37 Lebensereignisse im Alter unter geschlechtsspezifischer Perspektive Cornelia Fauser.................................................................................................. 79 Soziale Ungleichheit und Geschlecht – Zur Situation von Frauen im Alter Marita Blitzko-Hoener, Marja Weiser .............................................................. 119 III. Alter(n) und Interkulturalität................................................................ 155 Alt werden in der Migration Anna Läsker, Pinar Yortanli............................................................................. 157 Fremde Heimat „Pflegeheim“ Anna Läsker, Pinar Yortanli............................................................................. 169 IV. Wohnwelten im Alter.............................................................................. 193 Lebenswelt im Wohnkontext Johanna Hildebrandt ........................................................................................ 195 Individuelle Wohnformen Gerlinde Thomas .............................................................................................. 205

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Inhaltsverzeichnis

Selbstbestimmt Wohnen mit Demenz Melanie Röhn.................................................................................................... 229 V. Alter(n) und Soziale Arbeit .................................................................... 247 Lebensweltorientierte Soziale (Alten-)Arbeit Johanna Hildebrandt ........................................................................................ 249 Sozialarbeit im Kontext Alten- und Pflegeheim Johanna Hildebrandt ........................................................................................ 261 Gemeinwesenarbeit im demografischen Wandel – Verwirklichungschancen und Ermöglichungsspielräume Gabriele Kleiner ............................................................................................... 271 Autorinnen ...................................................................................................... 281

Einleitung

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Einleitung

Die Konstruktion des Alter(n)s – Zwischen Partizipation und sozialer Ungleichheit Inwieweit alte Menschen an gesellschaftlich produzierten Ressourcen partizipieren können bzw. von ihnen ausgeschlossen werden, wird nicht zuletzt durch die in einer Gesellschaft dominierenden Altersbilder mitbestimmt. Obwohl die Bilder vom Alter(n) widersprüchlich, verworren und oft falsch sind, exisitiert keine Vielfältigkeit von Altersbildern. Im einführenden Beitrag von Gabriele Kleiner und Johanna Hildebrandt „Altersbilder und die soziale Konstruktion des Alters“ wird die Wirkung von Alter(n)sbildern beschrieben und eine Annäherung an die soziale Konstruktion des Alters vorgenommen. Der Beitrag „Alter(n) zwischen Partizipation und sozialer Ungleichheit“ von Gabriele Kleiner nimmt die Auseinandersetzung mit der Kategorie Alter in den Blick, die eine Besonderheit für die Theorie sozialer Ungleichheit(en) darstellt, da deren Konzepte konsequent in Bezug auf die Arbeitsgesellschaft entstanden sind. Einerseits bildet die gesellschaftliche Altersgliederung – also auch die Ausgliederung aus dem Erwerbsleben – eine wichtige neue Disparitätslinie. Andererseits ist der Eintritt in den Ruhestand auch als Chance für die Auflösung bisheriger struktureller Ungleichheiten zu analysieren; in diesen Kontext werden die Ergebnisse der Lebenslageforschung eingeordnet und diskutiert. Altern und Geschlecht Wenn auch in Theorie und Praxis des Alter(n)s lange der Eindruck eines Älterwerdens in Geschlechtslosigkeit erweckt wurde, gibt es für diese These viele Gegenargumente, die Petra Engel in einem einführenden Beitrag „Geschlechtsspezifische Grundlagen Sozialer (Alten-)Arbeit“ beleuchtet. Zunächst wird ein Blick auf geschlechtsspezifische Alter(n)sbilder mit daraus folgenden Erwartungen an die Lebensphase des Älterwerdens eingenommen. Zweitens sind die im Vergleich zwischen Frauen und Männern sehr unterschiedlich strukturierten sozialen Beziehungen wichtig. Einen besonders heiklen Differenzierungsbereich stellt drittens jener der Körperlichkeit und Gesundheit im Alter dar. Zentral für viele Lebensbereiche im Alter ist viertens die materielle Lage mit ihren großen geschlechtsspezifischen Unterschieden. So lässt sich im Fazit tendenziell sagen,

G. Kleiner (Hrsg.), Alter(n) bewegt, DOI 10.1007/978-3-531-94258-2_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

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Einleitung

dass das Geschlecht mit zunehmendem Lebensalter eher eine zunehmende als eine abnehmende Rolle spielt und Theoriebildung wie Praxis Sozialer Arbeit dies verstärkt zur Kenntnis nehmen müssen. Im zweiten Beitrag „Lebensereignisse im Alter unter geschlechtsspezifischer Perspektive“ bearbeitet Cornelia Fauser aufbauend auf den Beitrag von Petra Engel Lebensereignisse im Alter unter geschlechtsspezifischer Perspektive. Den Ausgangpunkt dieser Untersuchung bildet das Konzept der Lebenslage, wonach gesellschaftliche Verhältnisse über den gesamten Lebenslauf hinweg Handlungsräume geschlechtsspezifisch gestalten. Anschließend werden verschiedene Modelle zur Bewältigung bedeutsamer Lebensereignisse dargestellt und das Thema am Beispiel der Verwitwung konkretisiert. Abschließend verweist Cornelia Fauser auf die Chancen einer lebenslaufbezogenen Sozialen (Alten-)Arbeit, die sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene Männer und Frauen über den gesamten Lebenslauf hinweg befähigt, Handlungssowie Erfahrungsräume und damit verbunden Geschlechterrollen zu erweitern. Im dritten Beitrag „Soziale Ungleichheit und Geschlecht – Zur Situation von Frauen im Alter“ stellen Marita Blitzko-Hoener und Marja Weiser das Thema Soziale Ungleichheit mit einem kritischen Exkurs zur Geschlechtsblindheit von Klassen- und Schichttheorien dar und arbeiten im Anschluss daran mit dem Konzept der Lebenslage die spezifische Situation von Frauen im Alter heraus. Mit der Thematisierung von Gleichstellungspolitik und dem Konzept des Gender Mainstreaming werden abschließend Handlungsoptionen für die Soziale Arbeit entwickelt. Alter(n) und Interkulturalität Ein Blick auf die aktuelle Altersstruktur der Bevölkerung mit Migrationshintergrund lässt die zunehmende Bedeutung des Themas „Alter(n) in der Fremde“ erkennen. Interkulturalität stellt sowohl in theoretischen Arbeiten als auch für die Praxis Sozialer Arbeit ein zukunftsweisendes Thema dar. Im Beitrag „Alt werden in der Migration“ werden von Anna Läsker und Pinar Yortanli die historischen, rechtlichen und soziologischen Entwicklungen und Dimensionen von Alter(n) und Migration dargestellt. Weiterhin führen die Autorinnen in das Thema Interkulturalität in der Sozialen Arbeit ein. Im zweiten Beitrag von Anna Läsker und Pinar Yortanli „Fremde Heimat ‚Pflegeheim’“ findet eine Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit migrationsspezifischer Dienstleistungen statt. Formuliert werden konzeptionelle Erfordernisse für eine stärkere interkulturelle Öffnung bestehender wie auch neuer Angebote. Es folgt die Darstellung der Ergebnisse einer vergleichenden Untersuchung migrationsspezifischer Konzepte in zwei verschiedenen Einrichtungsfor-

Einleitung

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men. Aus den anschließenden Interpretationen der Ergebnisse werden beispielhaft Erfordernisse für die Praxis Sozialer (Alten-)Arbeit formuliert. Wohnwelten im Alter Der demografische Wandel macht die Bedeutung des Themas „Wohnwelten im Alter“ unübersehbar: Während in Deutschland die Anzahl jüngerer Menschen kontinuierlich abnimmt, wird bis 2030 jede/r vierte BundesbürgerIn über 65 Jahre alt und insbesondere wird die Anzahl der Hochaltrigen angewachsen sein. Demzufolge hat sich das Wohnangebot der Zukunft verstärkt auf die Bedarfe und Bedürfnisse älterer bzw. alter Menschen einzustellen. Der einleitende Beitrag von Johanna Hildebrandt „Lebenswelt im Wohnkontext“ nimmt die Lebenswelten alter Menschen bezüglich der Schwerpunkte Wohnen im Alter, Selbständiges Wohnen und kognitive Kompetenz in den Blick. Fokussiert wird dabei auf die Auswirkungen der spezifischen Wohnsituation für das Wohlbefinden der Betroffenen und ihre gesellschaftlichen Teilhabechancen. Im Beitrag von Gerlinde Thomas „Individuelle Wohnformen“ wird zunächst vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung in Deutschland ein Überblick über traditionelle und neue Wohnformen im Alter gegeben. Sicherlich ermöglichen dabei auch traditionelle Wohnformen, wie z.B. eine Einzelwohnung, ein selbstbestimmtes Leben für ältere Menschen, wenn rechtzeitig auf eine altengerechte Ausstattung geachtet wird. Im Zentrum des Beitrags aber stehen vor allem gemeinschaftliche Wohnformen unter dem Aspekt von Individualität und Selbstbestimmung im Alter. Der Beitrag zeigt, dass das Leben in einer Wohngemeinschaft keineswegs unproblematisch ist, jedoch unter dem Aspekt von Selbständigkeit und Selbstbestimmtheit eine attraktive und über Jahre hinweg beständige Wohnform sein kann, wenn sichergestellt ist, dass die entsprechenden Rahmenbedingungen, z.B. die Möglichkeiten zur Inanspruchnahme externer Dienstleistungen, vorhanden sind. Der Beitrag von Melanie Röhn „Selbstbesimmt Wohnen mit Demenz“ setzt an der subjektiven Sicht von Menschen mit Demenz an. Die Unterstützung und Begleitung von Menschen mit Demenz wird zu einer immer größeren Herausforderung. In der häuslichen Pflege durch Angehörige, in traditionellen teilstationären und stationären Versorgungsstrukturen wie auch bei neuen Angeboten, zum Beispiel ambulant betreuten Wohngemeinschaften und Hausgemeinschaften, ist das Thema „Demenz“ hochaktuell. Vor dem Hintergrund der aktuellen demografischen Entwicklungen, der Zunahme des Anteils der hochaltrigen Menschen und dem damit verbundenen Anstieg von Menschen mit Demenz, sind neue Handlungsoptionen gefordert. In dem Beitrag wird die ambulant betreute

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Einleitung

Wohngemeinschaft und die Hausgemeinschaft als Wohnform sowie die sich daraus ergebenen Möglichkeiten zur Selbstbestimmung für Menschen mit Demenz vorgestellt. Alter(n) und Soziale Arbeit Im ersten Beitrag „Lebensweltorientierte Soziale (Alten-)Arbeit“ widmet sich Johanna Hildebrandt zunächst dem Theorieverständnis bzw. dem Theorie- und Praxisverhältnis in der Sozialen Arbeit. Daran anknüpfend wird der Bereich der Sozialen (Alten-)Arbeit vorgestellt, seine Entwicklung und Differenzierung skizziert sowie die perspektivischen Herausforderungen benannt, die sich in diesem Arbeitsfeld unter besonderer Berücksichtigung des Ansatzes der Lebensweltorientierung aufzeigen. Beginnend mit der Analyse der Lebenswelt „Alten- und Pflegeheim“ und der Situation ihrer Bewohner und Bewohnerinnen benennt Johanna Hildebrandt in dem Folgebeitrag „Sozialarbeit im Kontext Alten- und Pflegeheim“ die Bedeutung einer lebensweltorientierten Abschiedskultur im Heimkontext und dokumentiert, welche Rolle die Profession der Sozialen Arbeit dabei einnehmen kann. In dem abschließenden Beitrag „Die Bedeutung einer gemeinwesenorientierten Perspektive im demografischen Wandel – Verwirklichungschancen und Ermöglichungsspielräume“ beschreibt Gabriele Kleiner aktuelle Entwicklungslinien Sozialer Arbeit im demografischen Wandel und formuliert mögliche Perspektiven. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob die Schaffung von Verwirklichungschancen und Ermöglichungsspielräumen durch das Arbeitsprinzip „Gemeinwesenarbeit“ den Herausforderungen des demografischen Wandels gerecht werden kann. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob mit dieser grundlegenden Orientierung Selbstbestimmung und Autonomie im Alter gestärkt sowie Teilhabe und Partizipation älterer Menschen realisiert werden können.

I.

Die Konstruktion des Alter(n)s – zwischen Partizipation und sozialer Ungleichheit

I. Die Konstruktion des Alter(n)s – zwischen Partizipation und sozialer Ungleichheit

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Altersbilder und die soziale Konstruktion des Alters

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Altersbilder und die soziale Konstruktion des Alters Johanna Hildebrandt, Gabriele Kleiner

Alter(n) ist Thema geworden. Die Bilder, die sich Menschen vom Altwerden und Altsein machen sind vielfältig und widersprüchlich, oft auch verworren und falsch (vgl. Amann/Kolland 2008: 9). Und dennoch existiert keine Vielfältigkeit von Altersbildern. „Es gibt keine aging studies. Das Alter wird von Jungen beschrieben, die unter Alter nur Hilfebedürftigkeit verstehen können.“ (Saake 2006: 10)

1

Altersbilder und deren Wirkung

Im Sechsten Bericht zur Lage der älteren Generation (BMfFSFJ 2010) sind Altersbilder definiert „als individuelle und gesellschaftliche Vorstellungen vom Alter (Zustand des Altseins), vom Altern (Prozess des Älterwerdens) oder von älteren Menschen (die soziale Gruppe älterer Personen.“ (ebd.: 27)

Altersbilder sind bildhaft vereinfachte Vorstellungen, Informationen und Meinungen über alte Menschen, die sich in einer Kultur zu einer bestimmten Zeit vorfinden und die sich meist auf alle Lebensbereiche beziehen (vgl. Backes/ Clemens 2003: 58). Dabei kann es sich um Selbstbilder oder Fremdbilder handeln und die unterschiedlichsten Inhalte und Bezugsebenen betreffen. Diese Bilder beinhalten Ansichten über Gesundheit und Krankheit im Alter, Vorstellungen über Autonomie und Abhängigkeiten, Kompetenzen und Defizite, über Freiräume, Gelassenheit und Weisheit, aber auch Befürchtungen über materielle Einbußen und Gedanken über Sterben und Tod. Ihnen immanent sind darüber hinaus normative Vorstellungen über Rechte und Pflichten alter Menschen in der Gesellschaft. Altersbilder umfassen also nicht nur beschreibende und erklärende Aussagen über das Alter(n), sondern auch wertende und normative Elemente. Als solche sind sie soziale Konstruktionen, die im Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft entstehen und sich in einem permanenten Wandlungsprozess befinden. Dabei beeinflussen nicht nur die alten Menschen z.B. durch ihren Lebensstil die Entstehung und Veränderung von Altersbildern, G. Kleiner (Hrsg.), Alter(n) bewegt, DOI 10.1007/978-3-531-94258-2_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

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Johanna Hildebrandt, Gabriele Kleiner

sondern die Altersbilder selbst prägen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene die Wahrnehmung und Beurteilung von Menschen, die Gestaltung von sozialen Interaktionen mit ihnen sowie die Erwartungen an den eigenen Alternsprozess und die persönliche Lebenssituation im Alter (vgl. BMSFSJ 2001: 64). Die Qualität der Altersbilder, mit denen alte Menschen sich identifizieren, entscheidet mit darüber, inwieweit sie ihre individuellen Ressourcen im Leben nutzen. Altersbilder, die positive Aspekte des Alter(n)s hervorheben, können Handlungsspielräume für alte Menschen eröffnen und ermutigend dazu beitragen, dass ein persönlich zufriedenstellendes Engagement in selbst gewählten sozialen Rollen möglich und von anderen anerkannt wird. Des Weiteren erhöhen Altersbilder, die die ‚Chancen des Alters’ betonen, die Wahrscheinlichkeit, dass objektiv bestehende Handlungsspielräume individuell erkannt und für eine Verwirklichung von persönlich bedeutsamen Anliegen und Bedürfnissen genutzt werden. Umgekehrt können Altersbilder, die negative Aspekte des Alter(n)s betonen, dazu beitragen, dass mögliche Handlungsspielräume nicht genutzt werden bzw. im ungünstigsten Fall auf Dauer verloren gehen. Altersbilder im Sinne von Etikettierungen können dazu beitragen, dass ein alter Mensch die Aussagen eines Altersstereotyps, z.B. Altsein bedeute schwach, inkompetent und/oder isoliert zu sein, so für sich annimmt, dass diese Fremdetikettierung als ‚alter Mensch’ zur Übernahme genau dieser Eigenschaften führt. Bei der Beschäftigung mit Fragen des Alters ist es daher wichtig, die verwendeten Altersbilder kritisch zu reflektieren, auch vor der Fragestellung, ob die subjektiv vertretenen Altersbilder die Verschiedenartigkeit des Alters widerspiegelt oder ob sie lediglich eine Facette des Alters generalisieren. Göckenjan formuliert dazu treffend: „Dass Alter auch alte Leute meint, etwa 70jährige, 90jährige, Pflegebedürftige, Stadtstreicher, bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, ist richtig, aber belanglos, wenn über Alter geredet wird. Der Altersdiskurs thematisiert nicht Vielfalt und Differenziertheit von Lebensformen und sozialen Milieus, auch nicht einzelnes, sondern Gemeinsamkeiten. Alter kennt keine Stände, keine Klassen, keine Geschlechterdifferenzierung. … “ (Göckenjan 2000: 25)

Problematisch wird die Verwendung von Altersbildern, wenn Generalisierungen dazu führen, den Handlungsspielraum von Menschen einzuschränken. Derart eng geführte Altersbilder sind tendenziell anfällig für Instrumentalisierungen zur Durchsetzung von Interessen. So erweist sich beispielsweise der gegenwärtige Diskurs über die Finanzierung von Sozialleistungen in einer demographisch alternden Gesellschaft als

Altersbilder und die soziale Konstruktion des Alters

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„dramatische Inszenierung, die sich nicht selten an der Metapher der ‚Explosion’ orientiert. Mit dem Hinweis auf eine drohende ‚Alterslast’ werden Veränderungen im Bereich der Sozialversicherungssysteme begründet, wobei eine inhaltliche Beziehung zu den vorgeschlagenen Veränderungen nicht immer gegeben sein muss.“ (BMFSFJ 2001: 65)

Die komplexen Zusammenhänge von demographischen Veränderungen und gesellschaftlichen Auswirkungen werden in diesen ‚Inszenierungen’ oft sehr indifferent dargestellt. Es wird dann – etwa in gesundheitsökonomischen Zusammenhängen – von ‚Überalterung’ gesprochen, wobei die normativen Kriterien für diese negative Redeweise unklar bleiben. Auf der anderen Seite wird das sensible Thema der gesellschaftlichen Nutzung des ‚Humanvermögens’ älterer und alter Menschen – oftmals im zeitlichen Zusammenhang steuerlicher Engpässe – allzu vereinfachend zu instrumentalisieren versucht: „Ob ‚altes’ oder ‚neues’ Ehrenamt, ob genossenschaftsartige Selbsthilfegruppe oder freiwillige selbstorganisierte Widmungstätigkeit, ob familiale oder außerfamiliale Unterstützungsleistungen – das Humanvermögen des Sektors jenseits von Markt und Staat wird gerne auch als Ersatz für sozialstaatliche Leistungen gesehen.“ (ebd.: 66)

Dies geschieht bisweilen in Verbindung mit einer sinnentstellenden Verkürzung des in der Gerontologie entwickelten Leitbilds eines aktiven und produktiven Alterns. Vor diesem Hintergrund sind auch die gesellschaftspolitischen Intentionen und Wirkungen, der von der jeweiligen Bundesregierung in Auftrag gegebenen Altenberichte,1 kritisch zu hinterfragen. Diese stellen nicht nur eine wichtige Quelle für die öffentliche Diskussion zu Fragen der Politik für das Alter dar; durch ihre Fokussierung auf politisch für bedeutsam erachtete Schwerpunkte stehen sie zugleich in der Gefahr, eine spezifische Thematik unter Hinzuziehung fachwissenschaftlicher Gremien für politische Interessen zu instrumentalisieren. Beispielhaft dafür sei folgende Aussage zitiert: „In der Sozialpolitik beginnen sich neue Leitbilder des Umgangs mit älteren Menschen abzuzeichnen, nach denen ältere Menschen nicht länger eine zu versorgende Klientel darstellen, die durchgängig der Institutionen und Dienste der Altenhilfe bedarf, sondern ältere Menschen als aktive Koproduzenten ihrer eigenen Wohlfahrt begreift.“ (ebd.: 68)

1

Die Altenberichte der Bundesregierung finden sich im Internet unter: http://www.dza.de/politikberatung/geschaeftsstelle-altenbericht/die-bisherigen-altenberichte.html, Abruf: 03.06.2011

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Johanna Hildebrandt, Gabriele Kleiner

Vor dem Hintergrund einer mit Plänen des Renten- und Sozialabbaus einhergehenden generellen Hinführung zur Privatisierung der persönlichen Lebensrisiken – auch im Alter – klingt eine solche Aussage euphemistisch bis zynisch. Im Fünften Bericht der Bundesregierung zur Lage der älteren Generation unter dem Titel „Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft. Der Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen“ ist die Erwartung unmissverständlich formuliert, wenn es dort heißt: „dass in Zukunft die Einkommensverteilung im Alter deutlich ungleicher wird, d.h. dass sich die Einkommensunterschiede erheblich verstärken werden. Zudem ist damit zu rechnen, dass in Zukunft vermehrt bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen – wie die bedarfsorientierte Grundsicherung bei Erwerbsminderung und im Alter – erforderlich werden, um Einkommensarmut im Alter zu vermeiden bzw. zu bekämpfen.“ (BMFSFJ 2005: 220)

Hier werden einerseits Potenziale des Alters als Leitlinie für einen Bundesaltenbericht beschrieben, in dem die Produktivität des Alters, die Kompetenzen der alternden Menschen und deren Engagementbereitschaft im Mittelpunkt stehen und in dem andererseits ein konstatierter Anstieg von Altersarmut formuliert wird. Der Sechste Bericht der Bundesregierung zur Lage der älteren Generation formuliert einerseits die Ermöglichung einer selbst- und mitverantwortlichen Lebensführung, andererseits wird eine differenzierte Betrachtung von Altersbildern gefordert (vgl. BMFSFJ 2010). Inwieweit alte Menschen an gesellschaftlich produzierten Ressourcen partizipieren können bzw. von ihnen ausgeschlossen werden, inwieweit ein differenzierter, an den gegebenen Lebenslagen orientierter, Einsatz der Ressourcen sozialpolitisch erfolgen wird, wird nicht zuletzt durch die in einer Gesellschaft dominierenden Altersbilder mitbestimmt. Deren kritische Reflektion ist aufgrund ihrer Implikationen, die sie für das individuelle wie kollektive Handeln haben, sowohl für die sozialpolitisch wirksamen Entscheidungsträger als auch für die zur ‚Lebensphase Alter’ zugehörigen Menschen von großer Bedeutung. 2

Die soziale Konstruktion des Alters

Der Wohlfahrtsstaat als Hintergrund für die Strukturierung des Lebenslaufs und die damit einhergehende Definition des Alters über die Nachberuflichkeit trägt wesentlich zu der sozialen Kategorie „Alter“ bei. Ebenso konstatieren die Krisenszenarien, die im Kontext des demografischen Wandels gezeichnet werden, eine Unlösbarkeit der kommenden Herausforderungen, es wächst die Befürchtung,

Altersbilder und die soziale Konstruktion des Alters

19

„dass wir uns auf eine globale Alterskrise zu bewegen.“ (Amann/Kolland 2008:275)

Festzustellen ist auch, dass es nicht das chronologische Alter ist, „welches zu einer bestimmten Definition von Alter führe, sondern … wohlfahrtsstaatliche Politiken, insbesondere das System altersbasierter Pensionen, die zu einer Transformation des Alters in eine soziale Kategorie geführt haben.“ (Amann/Kolland 2008: 30f.)

Die Krisenszenarien, die um die Sorge des Rentensystems konstruiert werden sowie die dauerhaft angelegten – aber bisher wenig Erfolg bringenden – Reformen der Pflege- und Gesundheitsversicherung bei gleichzeitiger Abnahme der Zahl der erwerbstätigen Bevölkerung, werden – gepaart mit Diskussionen im Generationenkontext – zugespitzt, indem ein zukünftiges menschenwürdiges Leben im Alter in Zweifel gestellt wird. Es gibt – aus sozialgerontologischer Perspektive – keine Zweifel daran, dass die Bewertung des erlebten Alterns von sozialen Faktoren abhängig ist, die nicht schicksalhaft von einer unbestimmten Größe inszeniert auftreten, sondern das Ergebnis der von den Akteuren und Akteurinnen der Gesellschaft sozial gestalteten Rahmen- und Lebensbedingungen sind: „Alter(n) ist nicht Schicksal, sondern ein Prozess, der sozial gestaltet und bewertet wird“ (Prahl/Schroeter 1999: 276).

Soziale Ungleichheit im Alter ist damit Ergebnis eines doppelten Prozesses, einerseits Folge der allgemeinen Ungleichheit in der Gesellschaft und andererseits Folge der existierenden Rentensysteme (vgl. Amann/Kolland 2008: 32). Es geht also, wenn wir über Alter sprechen, weniger um alte Menschen als um das Alter im Rahmen einer Sozialpolitik „und die Frage nach einer humanen Verfassung der Gesellschaft“ (Göckenjan in Saake 2006:11). In Zeiten unterbrochener Erwerbsverläufe, anhaltender Massen- und Langzeiterwerbslosigkeit, einem erhöhten Renteneintrittsalter und damit in der Konsequenz zunehmend unterschiedlicher und perspektivisch unsicherer werdender Lebenslagen (nicht nur) im Alter, muss der Fokus sehr viel stärker auf eine „Potenzialförderung im Sinne einer Förderung von Chancengleichheit (zwischen verschiedenen Altersgruppen, sozioökonomischen Lagen, Geschlechtern, Herkunftsländern).“ (Backes 2008: 65)

gerichtet werden und die Potenziale des Alters müssen sehr viel stärker in den Kontext des Wissens um Lebenslagen im Alter gestellt werden. Nur so können

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Johanna Hildebrandt, Gabriele Kleiner

die vor allem sozialstrukturell bedingten Grenzen der Potenzialentwicklung sichtbar gemacht und Möglichkeiten der Förderung entwickelt werden. In den aktuellen Diskursen – theoretisch und fachwissenschaftlich ebenso wie auf der handlungsorientierten und praxisrelevanten Ebene – läuft die Gerontologie und in der Folge auch die Altenhilfe Gefahr, sich mit der (bedingungslosen) Zustimmung und Übernahme einer stark zentrischen Perspektive2 mitverantwortlich zu machen für eine Förderung von Normierungen und damit zu einer Trennung in „gesundes-unabhängiges-aktives“ und „krankes-abhängiges-inaktives Alter“ (vgl. Kontratowitz 1998) beizutragen. Insofern ist es erforderlich, das Konzept des „produktiven Alter(n)s“, die immer wieder angezweifelte Generationensolidarität, das angeblich zurückgehende Engagement der Familie für „die Alten“ auf der Folie gesellschaftlicher Entwicklungen kritisch zu betrachten. Es muss darum gehen, die Perspektiven weniger auf individuelle Unterschiede zu lenken, als auf solche „inwiefern ältere Menschen in einem bestimmten Kontext (…) sich in einer benachteiligten Lebenssituation befinden, keine ausreichende soziale Partizipation aufweisen bzw. an politischen Entscheidungsprozessen teilnehmen können. Es geht um eine Visibilisierung von sozialer Ungleichheit und Exklusion.“ (Amann & Kolland 2008: 29)

Insofern müssen auch Argumentationslinien gegen eine sich stark durchgesetzte Demographisierung in den Diskursen entwickelt werden. Diese Argumentationen müssen auf der Grundlage basieren, dass nicht in erster Linie die Demografie, sondern dass Politik und Wirtschaft federführend den Status (nicht nur) der älteren Menschen bestimmen (vgl. ebd. 31). Im Kontext Alter(n) und Zivilgesellschaft sind das neue Vergesellschaftungsmodell des Alters und die Orientierung auf Ressourcen und Handlungspotentiale zweifelsfrei mit dem Bild des aktiven und verdienten Ruhestandes verbunden. Hier werden „alte Disparitäten verstärkt und es kommt zu neuen Ausgrenzungen von „NichtAktiven“ und „Nicht-Leistungsfähigen.“ (ebd.: 38)

Konzepte des „erfolgreiches Alter(n)s“, „des lebenslangen Lernens“ – das Leitbild des „aktiven und produktiven Alter(n)s“ stellen eine Gefahr des sozialen

2

In Anlehnung an Amann/Kolland (vgl. 2008:36) wird unter zentrischer Perspektive eine Einengung in der Wahrnehmung in disziplinärer, sozialräumlicher und zeitlicher Hinsicht verstanden.

Altersbilder und die soziale Konstruktion des Alters

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Ausschlusses all derer da, die nicht über das gesellschaftlich geforderte Potenzial des erfolgreich alternden Menschen verfügen. Ungleiche Verteilung gesellschaftlicher Chancen und verfügbarer Ressourcen im Alter, soziale Ungleichheit und soziale Ausschließung stellen sich als große gesellschaftliche Herausforderung der Zukunft dar, das Alter(n) ist in der Gesellschaft – und in der Sozialen Arbeit – angekommen (vgl. Saake 2006: 17). Literatur Amann, A./Kolland, F. (2008): Das erzwungene Paradies des Alters. Wiesbaden. Backes, G. M. (2008): Potenziale des Alter(n)s – Perspektiven des homo vitae longae. In: Amann, A./Kolland, F.: Das erzwungene Paradies des Alters. Wiesbaden, 63-100. Backes, G. M./Clemens, W. (2003): Lebensphase Alter. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsforschung. Weinheim/ München, 2. überarb. u. erw. Auflage. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2010): Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland – Altersbilder in der Gesellschaft. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2005): Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Potentiale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft. Der Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen. Berlin. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2001): Dritter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Alter und Gesellschaft. Berlin. Göckenjan, G. (2000): Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters. Frankfurt a.M.. Kontratowitz von, H. J. (1998): Vom gesellschaftlich „regulierten“ über das „unbestimmte“ zum „disponiblen“ Alter. In: Backes, G. M./Clemens, W.: Altern und Gesellschaft. Opladen. Prahl, H.-W./Schroeter, K.R. (1996): Soziologie des Alterns. Paderborn. Saake, I. (2006): Die Konstruktion des Alters, Wiesbaden.

Alter(n) zwischen Partizipation und sozialer Ungleichheit

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Alter(n) zwischen Partizipation und sozialer Ungleichheit Gabriele Kleiner

Die Lebenssituation der älteren und alten Menschen lässt sich mit den bisher angewandten Begrifflichkeiten der Sozialstrukturanalyse kaum ausreichend beschreiben. Die Auseinandersetzung mit der Kategorie „Alter“ stellt insofern eine Besonderheit für die Theorie sozialer Ungleichheit(en) dar, da deren Konzepte konsequent in Bezug auf die Arbeitsgesellschaft entstanden sind. Das Alter definiert sich in geradezu zentraler Weise – durch den sozial konstruierten Übergang in die nachberufliche Phase und die wohlfahrtsstaatliche Strukturierung des Lebenslaufs – über die Nachberuflichkeit (vgl. Schulz-Nieswandt 2006: 133 f.). Die bisherigen Theorien sozialer Ungleichheit sind damit vor neue Herausforderungen gestellt. Sie haben einerseits die bekannten Entwicklungen – die demografischen Veränderungen, die daraus resultierenden veränderten Altersgruppenzusammensetzung der Gesellschaft zu berücksichtigen und sie haben andererseits Veränderungen von Alter(n)sbildern, Altersrollen, Lebensstilen und Lebensführung auf der Folie der Zeit und mit Blick auf die Historisierung von Lebensverhältnissen, also das Lebensalter im Verständnis von historischem Lebensalter zu thematisieren (ebd.: 33). Insofern müssen – in Anlehnung an Kohli (1990), Mayer & Wagner (1996) und Motel-Klingelbiel (2001) – drei Perspektiven unterschieden werden: ƒ ƒ ƒ

die Ungleichheit des Alters meint soziale Unterschiede zwischen Altersgruppen, die Ungleichheit im Alter bezieht sich auf Unterschiede in der Altersbevölkerung und die Ungleichheit im Lebenslauf meint auf diesen bezogene Veränderungen von Ungleichheitsausprägungen.

Als Instrumente der Analyse sozialer Ungleichheit wurden in den vergangenen Jahren verschiedene Ansätze entwickelt, die dazu beitragen können soziale Disparitäten jenseits des Erwerbssystems zu erfassen. Ebenso wurden – im Hinblick auf „neue“ soziale Ungleichheiten – weitere Klassifizierungen, wie Geschlecht, Ethnie, Alter als Ansatzpunkte gewählt, um die Entstehungszusammenhänge dieser neuen Disparitäten zu untersuchen. G. Kleiner (Hrsg.), Alter(n) bewegt, DOI 10.1007/978-3-531-94258-2_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

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„Alter in der Form als chronologisches Alter oder als Bezeichnung der Zugehörigkeit einer Altersgruppe spielte hier als weiteres, askriptives Merkmal nur eine untergeordnete Rolle. Dabei ist die Auseinandersetzung mit der Kategorie Alter ... heute mehr als aktuell.“ (Kottmann 2008: 31 f.)

Die Theorie sozialer Ungleichheit nimmt – angelehnt an Kohli (1990) – zwei Orientierungen ein: ƒ ƒ

Die Verortung von Individuen und Gruppen in der sozialen Hierarchie und deren Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und Chancen und die Ausprägung von sozialen Beziehungen, Interessen und Konfliktpotentialen, von denen die Gesellschaft geprägt ist und die ihr Dynamik geben.

Einerseits bildet die gesellschaftliche Altersgliederung – also auch die Ausgliederung aus dem Erwerbsleben – eine wichtige neue Disparitätslinie. Andererseits ist der Eintritt in den Ruhestand auch als Chance für die Auflösung bisheriger struktureller Ungleichheiten zu analysieren. Nach Kohli stehen also drei Positionen im Mittelpunkt: „…durch Individualisierung und Entstrukturierung habe sich die Bedeutung stabiler Ungleichheiten überhaupt abgeschwächt, ebenso wie für die These von der größeren Bedeuutng horizontaler gegenüber vertikaler Ungleichheitsidmensionen. Empirisch zu prüfen ist auch die Frage der Veränderung der Struktur und Wirksamkeit sozialer Ungleichheiten im Verlauf des Alter(n)sprozesses.“ (Kohli u.a. 2005:319)

Daraus ergibt sich die Möglichkeit unterschiedlicher Szenarien: „a) „b) „c) „d)

der Einfluss der Schichtzugehörigkeit ist altersunabhängig; die Wirksamkeit der Schichtzugehörigkeit erhöht sich mit dem Alter; die Wirksamkeit der Schichtzugehörigkeit geht mit dem Alter zurück; die Altersgrenzen selbst bilden die wesentliche Ungleichheitsdimension“ (ebd.: 319).

Diese Positionen können auf die Folie folgender Thesen gelegt werden: Die Kontinuitätsthese (z. B. Atchley 1989) geht davon aus, dass soziale Ungleichheit im Ruhestand und im höheren Lebensalter auf vorherige soziale Ungleichheit in der Erwerbsphase zurückzuführen ist und diese reproduziert. Die Schichtzugehörigkeit bleibt demnach erhalten, Rentenansprüche orientieren sich an der Einkommenssituation im aktiven Erwerbsleben. Die Kumulationsthese (z. B. Rosenmayr & Majce 1978) konstatiert eine Zunahme der vertikalen Ungleichheit im Alter und begründet diese insbesondere mit

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der Bedeutung des Zusammenhangs von materiellen Ressourcen und Gesundheit sowie für die Abhängigkeit von Ressourcen in Bezug auf Aktivitätspotentiale. Mit der Destrukturierungsthese (z. B. Dowd & Bengston 1978) wird gegenteilig argumentiert und eine Bedeutungsreduktion der Schichtzugehörigkeit proklamiert, gesundheitliche Einschränkungen also die Schichtzugehörigkeit überlagern. Die These der Altersbedingtheit macht das Alter selbst zum Konstrukteur der sozialen Lage. Sie geht ebenfalls von einem Rückgang der erwerbsbedingten Schichtunterschiede aus und ordnet dem kalendarischen Alter eine zentrale Bedeutung bei. 3

Aktuelle Diskurse im Kontext ungleicher Lebenslagen im Alter

Im Folgenden soll das Konzept der Lebenslage als theoretisch deskriptives und in der Theorie sozialer Ungleichheit verankertes Grundkonzept dargestellt werden und anschließend der Blick auf einzelne Dimensionen der Lebenslage im Alter gerichtet werden. 3.1

Das Konzept der Lebenslage

Das Konzept der Lebenslage zur Analyse sozialer Ungleichheit, dessen Ursprung auf Arbeiten von Friedrich Engels und Max Weber zurückzuführen ist, wurde von Neurath (1937) zu Beginn des 20. Jahrhunderts weiterentwickelt. Er wies bereits damals darauf hin, dass eine Lebenslage nicht ohne Einbeziehung der subjektiven Wahrnehmung des Menschen verstanden und erklärt werden kann. Seit den 1950er Jahren wurde das Konzept von Weisser (1966) zur wissenschaftlichen Fundierung der Sozialpolitik genutzt und danach im Rahmen der Sozialstrukturanalyse zur Beschreibung von sozialen Ungleichheiten angewandt. Die Analyse der Lebenslage basiert nicht auf individuellen Handlungsmustern, sondern ist vielmehr aus der Perspektive gesellschaftlichen Handelns entwickelt, folglich definiert Amann Lebenslage als „die je historisch konkreten Konstellationen von äußeren Lebensbedingungen, die Menschen im Ablauf ihres Lebens vorfinden sowie die mit diesen äußeren Bedingungen in wechselseitiger Abhängigkeit sich entwickelnden kognitiven und emotionalen Deutungs- und Verarbeitungsmuster, die diese Menschen hervorbringen. Lebenslage ist ein dynamischer Begriff, der die historische, sozialen und kulturellen Wandel erzeugende Entwicklung dieser äußeren Bedingungen einerseits umfasst und andererseits die spezifischen Interaktionsformen zwischen dem sozialen Handeln der Menschen und diesen äußeren Bedingungen.“ (Amann 1983: 147)

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Alter(n) ist folglich nicht als eindimensionaler Entwicklungsprozess zu verstehen, „sondern als ein Komplex von Elementen verschiedener zeitlicher Erstreckung, mit unterschiedlichen Effekten auf die Persönlichkeitsentwicklung.” (ebd.: 149)

Naegele definiert „die Anliegen und Interessen älterer Menschen als Reaktionen auf objektive Bedingungen der Lebensverhältnisse.“ (Naegele 1978: 26)

Er geht dabei von alterstypischen Problemsituationen aus, aus denen heraus sich soziale Ungleichheiten und soziale Gefährdungen entwickeln können. Das Konzept der Lebenslage dient zur Beschreibung der materiellen und immateriellen Lebensverhältnissen und versucht objektive und subjektive Determinanten in Verbindung zu bringen, wobei diese objektiven, äußeren Bedingungen und die subjektiven Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen des Menschen in wechselseitiger Abhängigkeit stehen (vgl. Clemens & Naegele 2004: 388). „Da Lebenslagen gesellschaftlich produzierte Ungleichheit ausdrücken, sind damit auch – kohortenspezifisch differierende – Start- und Entwicklungschancen festgelegt, die im soziohistorischen wie individuell-biografischen Verlauf strukturell und handlungsgenerierend wirksam werden und die Lebenslage im Alter als Produkt lebenszeitlicher Entwicklung prägen.“ (Clemens 2008b: 47)

Im Folgenden sollen die für das Alter besonders bedeutsamen Lebenslagedimensionen mit den wichtigsten Befunden dargestellt werden. Lebenslagedimension: Einkommen und Vermögen Einkommen und Vermögen haben Wirkungen auf weitere Lebenslagedimensionen, z. B. die Wohnsituation und die Gesundheit. Für die Gruppe der 65-Jährigen und Älteren können folgende Differenzen und Entwicklungen festgehalten werden: ƒ ƒ ƒ ƒ

Frauen verfügen über weniger materielle Ressourcen als Männer, Ostdeutsche verfügen über ein um ein Drittel niedrigeres Einkommen als Westdeutsche, Männer aus unteren sozialen Schichten haben eine niedrigere Lebenserwartung. Die materielle Ausstattung hat Wirkungen auf Pflegehaushalte, indem dort weniger professionelle Pflegedienste eingesetzt werden.

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ƒ

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Ein geringeres Einkommen führt zu weniger sozialen Kontakten, womit wiederum das Risiko von Vereinsamung verbunden ist (vgl. Clemens & Naegele 2004).

Weiterhin ist erkennbar, dass ƒ eine „hohe Heterogenität in der Höhe wie auch der Struktur von Einkommen und Vermögen im Alter“ existiert (BMFSFJ 2005: 187), ƒ im Jahr 2002 „erhielten 50 Prozent der west- wie ostdeutschen Männer eine Rente von weniger als etwa 1.000 Euro monatlich – also auch weniger als die Eckrente. Bei den Frauen waren es sogar etwa 95 Prozent, die eine Rente bezogen, die niedriger als die Eckrente war“ (ebd.: S. 194), ƒ „der Anteil von Altenhaushalten, die in Einkommensarmut leben, deutlich gesunken ist“ (ebd.: 198) und ƒ das Armutsrisiko überdurchschnittlich in Einpersonenhaushalten von alten Menschen zu finden ist. (ebd.: 201) Perspektivisch ist davon auszugehen, dass sich aufgrund ökonomischer Entwicklungen die künftige Einkommenslage älterer Menschen verschlechtern wird. „Die Schere zwischen reichen oder zumindest wohlhabenden Menschen auf der einen Seite und armen auf der anderen wird sich auch für das Alter – als Folge insbesondere der unregelmäßigen Erwerbs- und Sicherungsverläufe, der hohen Erwerbslosigkeit, aber auch Neuausrichtungen der Alterssicherungspolitik – wieder weiter öffnen.“ (Backes 2008: 76)

Lebenslagedimension: Gesundheit Die Lebenslage älterer Menschen wird entscheidend von ihrem Gesundheitszustand geprägt, ist Gesundheit doch eine bedeutende, wenn nicht die wichtigste Handlungsressource (nicht nur) alter Menschen (vgl. Backes & Clemens 1998: 187). „Gesundheit und Krankheit im Alter oder auch der Grad an Behinderung stellen zentrale Dimensionen der Lebenslage dar, sind doch damit unterschiedliche Möglichkeiten für Handlungs- und Dispositionsspielräume verbunden und werden dadurch in unterschiedlichem Maße Selbständigkeit oder Abhängigkeit sowie Entwicklung von Kompetenz alter Menschen bestimmt.“ (ebd.: 183)

Bei der Betrachtung von Gesundheit und Krankheit ist es von wesentlicher Bedeutung zwischen subjektivem Gesundheits- bzw. Krankheitsempfinden und objektiven Gesundheits- und Krankheitssituationen zu unterscheiden. Objektive

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Gesundheit bezeichnet meist somatische und psychische Merkmale, die einen Kriterienrahmen angeben, aus dem nach medizinisch orientierten Parametern Diagnosen erstellt werden. Demgegenüber steht der Begriff der subjektiven Gesundheit dafür, dass diese Merkmale durch das betroffene Individuum erlebt und interpretiert werden. Die Einschätzung des subjektiven Gesundheitszustandes ist im Zusammenhang mit Bewältigungs- und Deutungsstrategien wiederum nur einschätzbar im Kontext gegebener Lebenslagedimensionen wie sozialer Isolation/Integration, positiver oder negativer Grundeinstellungen, wirtschaftlichen, infrastrukturellen u. a. Bedingungen. Dennoch ist der Einfluss der subjektiven Gesundheitswahrnehmung nicht endgültig geklärt. Einige Untersuchungsergebnisse sprechen für eine negative Alterskorrelation, während andere eher positive oder keine wesentliche Alterskorrelation dokumentieren (vgl. Steinhagen-Thiessen u.a. 1996: Studienbrief 3: 7/12). „Wahrscheinlicher ist, ..., dass mit zunehmendem Alter Anpassungen an veränderte Gegebenheiten, an Veränderungen der körperlichen Leistungsfähigkeit und Gesundheit stattfinden. ‚Gute Gesundheit’ bedeutet im Alter vielleicht nicht (mehr) Abwesenheit von Krankheit oder Behinderung, sondern Abwesenheit von quälenden Beschwerden, oder auch, dass die eigene Gesundheit ‚besser als die von Gleichaltrigen’ ist.“ (Steinhagen-Thiessen u.a. 1996: 7/13)

Alter kann und soll nicht mit Krankheit, Unterstützungs- und Pflegebedürftigkeit gleichgesetzt werden, dennoch stellen sich diese als zentrale Dimensionen der Lebenslage im Alter dar. Einige Daten (vgl. Deutscher Bundestag 2002): ƒ ƒ ƒ ƒ

ƒ ƒ ƒ

70 % der über 65-Jährigen leben ohne jegliche fremde Hilfe, gesundheitliche Einschränkungen nehmen mit dem Alter deutlich zu, bei den 70 bis 85-Jährigen benötigt mehr als jeder zweite Unterstützung bei den alltäglichen Aufgaben, nach neueren Prognosen wird zukünftig jede/r zweite über 80-Jährige/r auf Unterstützung und Pflege durch Dritte angewiesen sein, bis zum Jahr 2040 wird – bei unveränderten gesundheits- und sozialpolitischen Bedingungen – mit einer Zunahme der zu Hause versorgten pflegebedürftigen Menschen um ca. 45 % und der in stationären Einrichtungen lebenden Menschen um 80 % prognostiziert, nur ein Viertel der über 70-Jährigen zeigt psychiatrische Beschwerdebilder und nur 10 % haben deswegen einen Unterstützungsbedarf (Baltes 1997: 157), fast die Hälfte der 70 bis 85-Jährigen Unterschichtangehörigen ist gesundheitlich eingeschränkt, in der Oberschicht ist es nur ein knappes Viertel.

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Die Zunahme der Menschen, die die Jahre der Hochaltrigkeit in relativer Gesundheit verbringen (vgl. Kompressionsthese von Fries 1984) „scheint eher für Angehörige höherer Sozialschichten zuzutreffen. Für Angehörige unterer Sozialschichten hingegen gilt eher die so genannte Medikalisierungsthese, wonach die letzten Lebensjahre vermehrt von Multimorbidität, funktionalen Einschränkungen und mehr Pflegebedürftigkeit gekennzeichnet sind.“ (Backes 2008: 69)

Lebenslagedimension: Wohnen Die Wirkung der Wohnverhältnisse auf das körperliche und psychische Wohlbefinden ist nicht zu unterschätzen. Mit zunehmendem Alter stellt sich der Alltag vornehmlich als Wohnalltag dar und insbesondere bei bestehender Unterstützungs- und Pflegebedürftigkeit verbringen Menschen einen immer höheren Anteil ihres Zeitbudgets in der Wohnung. Dabei gewinnt ƒ ƒ ƒ

die bauliche Gestaltung der Wohnung die materielle Wohnumwelt sowie die Infrastruktur des Wohnquartiers

an zunehmender Bedeutung (vgl. Backes & Clemens 1998). Das Leben in der eigenen Wohnung und die Führung eines eigenen Haushaltes ist für alte Menschen der Ausdruck vorhandener Kompetenz, Selbständigkeit, Selbstverantwortung und Eigenbestimmung Die Wohnung wird somit im Alter immer stärker zum Lebensmittelpunkt, zum zentralen Ort für soziale Kontakte. Als wichtigste Ergebnisse können folgende genannt werden: ƒ ƒ

ƒ ƒ

45 % der über 65-jährigen Westdeutschen leben in Wohneigentum, in Ostdeutschland sind es ca. 30 %, der Trend der Singularisierung ist insbesondere in Großstädten mit einem Anteil von 40 % Einpersonen-Haushalten bei den über 65-Jährigen zu verzeichnen, davon macht der Frauenanteil 80 % aus (vgl. Tesch-Römer u.a. 2006), 84 % bezeichnen ihre Wohnsituation als „gut“ oder „sehr gut“, nur 16 % als „mittel“, „schlecht“ oder „sehr schlecht“ (vgl. Kohli & Künemund 2005: 326). „Das Risiko in einer mangelhaft ausgestatteten Wohnung leben zu müssen, ist in der Unterschicht mehr als viermal höher als in der Oberschicht.“ (ebd.: 327)

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Lebenslagedimension: Beziehungen – soziales Netzwerk – Tätigkeiten Die Bedeutsamkeit sozialer Kontakte im Alter wird verstärkt durch die Tatsache, dass in diesem Lebensabschnitt viele Freundinnen und Freunde, Bekannte, aber auch Familienangehörige durch Wegzug, durch eigene Krankheit und Einschränkung des Aktionsradius oder durch Tod als Kontaktpersonen wegfallen. Neue Lebenssituationen, mit denen ältere Menschen häufig konfrontiert sind, haben Veränderungen in den sozialen Kontakten zur Folge. Bei berufstätigen Menschen ist insbesondere die Pensionierung als Lebenssituation zu sehen, durch die eine Kompensation mittels der Intensivierung anderer Kontakte familiärer Art oder zu Freundinnen und Freunden sowie Bekannten vorgenommen wird. Außerfamiliäre Kontakte spielen ganz besonders in dieser nachberuflichen Phase oder auch bei Verlust des Partners/der Partnerin eine bedeutende Rolle. Der Kontakt zu anderen Menschen trägt ohne Zweifel zum psycho-physischen Wohlbefinden – nicht nur des alten Menschen – bei, er erweitert den Erlebnishorizont und hat Einfluss auf die Aktivität. Die Annahme, dass alte Menschen ihre Beziehungen familienzentrierter ausrichten und das Interesse an außerfamiliären Kontakten nur sekundär ist, scheint durch verschiedene Untersuchungen widerlegt und auch die vielseitig konstatierte Entfremdung der (jungen) Familie von „ihren Alten“ wurde bereits in den siebziger Jahren als „sozialer Mythos“ angesehen und auch heute kann von einer Erosion der Familie nicht die Rede sein (vgl. Clemens & Naegele 2004: 398). Zahlenmäßig stellt sich die beschriebene Situation wie folgt dar (vgl. Kohli & Künemund 2005): ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

der Großteil älterer und alter Mensch ist in tragfähige familiäre Netzwerke eingebunden, vom Rückgang sozialer Kontakte ist insbesondere die Gruppe der Hochaltrigen betroffen, 78 % der 40 bis 85-Jährigen bewerten die Beziehung zu ihrer Familie als „gut“ oder „sehr gut“, 72 % können im Notfall auf eine Person aus ihrem sozialen Umfeld zurückgreifen, Männer können seltener auf Unterstützung zurückgreifen, über 50 % gehen mindestens einer Tätigkeit (Ehrenamt, Pflege, Enkelkinderbetreuung und ähnlichen Tätigkeiten) nach und 65 % bewerten ihre Freizeitgestaltung als „sehr gut“ oder „gut“.

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„Die größten Unterschiede treten wiederum bei den sozialen Schichten auf. 18 Prozent der Unterschichtangehörigen leisten pro Jahr Transfers an ihre Familie, ein Drittel erbt etwas. In der Oberschicht liegen die entsprechenden Quoten hingegen bei 37 und 75 Prozent. ... Höhere Schichten beteiligen sich wesentlich häufiger an Ehrenämtern, und sie bewerten ihre Freizeitgestaltung klar besser.“ (ebd.: 328 f.)

3.2

Zwischen Potenzialen, Gefährdungen und neuen sozialen Ungleichheiten

Die beschriebenen Daten und Entwicklungen zu den einzelnen Lebenslagedimensionen bestätigen die Existenz sozialer Ungleichheit im Alter. „Die Schichtzugehörigkeit hat starke Auswirkungen auf alle der hier untersuchten Lebensbereiche. Höhere Sozialschichten sind in vielerlei Hinsicht bevorzugt. Dies gilt nicht nur für die materiellen Ressourcen und die Wohnsituation, wo sich ein solches Muster unmittelbar reproduziert, sondern auch für Gesundheit, Familie- und Generationenbeziehungen, soziale Netzwerke sowie produktives Engagement.“ (ebd.: 332)

In Rückkopplung auf die o.b Thesen muss festgestellt werden, dass zwar alle vier bestätigt, aber gleichzeitig auch widerlegt werden. „Insgesamt dominiert aber doch ein Bild der Kontinuität. ... Soziale Ungleichheit besteht auch im Alter weiter fort.“ (ebd.: 333)

Clemens kritisiert an den genannten Thesen eine fehlende Differenzierung bzgl. der Dynamik von Lebenslagen in einer z. T. sehr langen Altersphase sowie die unterbliebene Analyse von Auswirkungen weiterer horizontaler Dimensionen der Ungleichheit im Alter. „Aus meiner Sicht muss von einer generellen Verflechtung der Merkmale Klasse, Alter, Geschlecht und Ethnizität ... ausgegangen werden, die sich in ihrer jeweiligen Konstellation hinsichtlich von Macht und Einfluss, aber auch von Ressourcen und Handlungsspielräumen unterscheiden. ... Damit sind wesentlich differenziertere Unterscheidungen von Entwicklung und Formen sozialer Ungleichheit als in den genannten Thesen möglich.“ (Clemens 2008a: 21)

Festzuhalten bleibt: In der Theorieentwicklung wie auf Handlungsebene haben sich mit dem „erfolgreichen-unabhängigen Alter“ und dem „belasteten-abhängigen Alter“ zwei Perspektiven herausgebildet, die in höchstem Maße normierend sind und sozialen Ausschluss implizieren. Hinweise auf eine Ausweitung und Verfestigung der negativen Ausprägung verstärken sich insbesondere im Hinblick auf

32 ƒ ƒ ƒ

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die Zunahme von unsicheren Arbeitsverhältnissen der mittleren Generation, wovon mehrheitlich Frauen betroffen sind, die Veränderungen in den Alterssicherungssystemen mit einer Absenkung des Rentenniveaus, wovon mehrheitlich einkommensschwächere Menschen betroffen sind sowie die Zunahme von Trennungen und Scheidungen, die in der Regel negative Auswirkungen auf die soziale Sicherung im Alter hat (vgl. Clemens & Naegele 2004).

Soziale Arbeit ist als Teil kommunaler Sozialpolitik mit den o. b. Gefährdungen und neuen sozialen Ungleichheiten konfrontiert. Im Rahmen der Altenhilfe als Teil der kommunalen Sozialhilfe steht sie vor der „Herausforderung, die fragmentierten Angebote und Leistungen für alte Menschen der anderen Sicherungssysteme – ohne direkte Einflussnahme auf deren Träger – aufeinander abzustimmen und die vielfachen und vielfältigen Schnittstellenprobleme aufzufangen und zu bearbeiten.“ (Hammerschmidt 2010: 30)

Mit einer am Lebenslageansatz und Lebensweltkonzept1 orientierten Sozialen Arbeit, die auf der Grundlage einer advokatorischen Perspektive einer konsequenten Betroffenenorientierung verpflichtet ist, ist Soziale (Alten-)Arbeit als partizipativer Prozess im Gemeinwesen zu gestalten. Literatur Amann, A. (1983): Lebenslage und Sozialarbeit. Duncker & Humblot, Berlin. Aner, K./Karl, F./Rosenmayr, L. (2007): Die neuen Alten. Retter des Sozialen? Wiesbaden. Atchley, R. C. (1989): A continuity theory of normal aging. In: The Gerontologist, 29, 183-190. Backes, G. M. (2008): Potenziale des Alter(n)s – Perspektiven des homo vitae longae. In: Amann, A./Kolland, F.: Das erzwungene Paradies des Alters. Wiesbaden, 63-100. Backes, G. M./Clemens, W. (1998): Lebensphase Alter. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsforschung Weinheim. Baltes, P. B. (1997): Gegen Vorurteile und Klischees über das Alter: Neue Erkenntnisse aus der Berliner Altersstudie. In: Lepenies, A.: Alt & Jung. Das Abenteuer der Generationen. Frankfurt a.M., 156-161. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2005): Fünfter Bericht der Bundesregierung zur Lage der älteren Generation in Deutschland. Berlin. 1

Bzgl. des Konzeptes der Lebenswelt wird an dieser Stelle auf den Beitrag von Johanna Hildebrandt „Lebensweltorientierte Soziale (Alten-)Arbeit“ verwiesen.

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Clemens, W./Naegele, G. (2004): Lebenslagen im Alter. In: Kruse, A./Martin, M.: Enzyklopädie der Gerontologie. Bern, 387-404. Clemens, W. (2008a): Zur „ungleichheitsempirischen Selbstvergessenheit“ der Alter(n)ssoziologie. In: Künemund, H./Schroeter, K. R.: Soziale Ungleichheiten und kulturelle Unterschiede in Lebenslauf und Alter. Wiesbaden, 17-31. Clemens, W. (2008b): Lebenslage und Lebensführung im Alter – zwei Seiten einer Medaille. In: Backes, G. M. u.a.: Lebensformen und Lebensführung im Alter. Wiesbaden, 43-58. Deutscher Bundestag (2002): Abschlussbericht der Enquetekommission Demografischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik. Berlin. Dowd, J./Bengston, V. L. (1978): Aging in minority populations: An examination of the double jeopardy hypothesis. In: Journal of Gerontology, 33, 427-436. Fries, J. F. (1984): The compression of morbidity. The Gerontologist, 24, 354-359. Geißler, R. (1996): Kein Abschied von Klasse und Schicht. Ideologische Gefahren der deutschen Sozialstrukturanalyse. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48, 319-338. Hammerschmidt, P. (2010): Soziale Altenhilfe als Teil kommunaler Sozial(hilfe)politik. In: Aner, K./Karl, U.: Handbuch Soziale Arbeit und Alter. Wiesbaden. Kohli, M. (1990): Das Alter als Herausforderung für die Theorie sozialer Ungleichheit. In: Berger, P./Hradil, S.: Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile. Göttingen, 387-406. Kohli, M./Künemund, H. (2005): Die zweite Lebenshälfte. Gesellschaftliche Lage und Partizipation im Spiegel des Alters-Survey. Wiesbaden. Kohli, M. u.a. (2005): Soziale Ungleichheit. In: Kohli, M./Künemund, H.: Die zweite Lebenshälfte. Gesellschaftliche Lage und Partizipation im Spiegel des Alters-Survey. Wiesbaden, 318-336. Kottmann, A. (2008): Alter als Kategorie sozialer Ungleichheit. In: Künemund, H./ Schroeter, K. R.: Soziale Ungleichheiten und kulturelle Unterschiede in Lebenslauf und Alter. Wiesbaden, 31-71. Mayer, K. U./Wagner, M. (1996): Lebenslagen und soziale Ungleichheit im Alter. In: Mayer, K. U./Baltes, P. B.: Die Berliner Altersstudie. Berlin, 251-275. Mayer, K. U./Baltes, P. B. (1996): Die Berliner Altersstudie, Berlin. Motel-Klingebiel, A. (2001): Lebensqualität und Ungleichheit im Alter. In: Backes, G. M./Clemens, W./Schroeter, K. R.: Zur Konstruktion sozialer Ordnungen des Alter(n)s. Opladen, 187-221. Naegele, G. (1978): Soziale Ungleichheit im Alter. Hanstein, Köln. Neurath, O. (1937): Inventory of the standard of living. In: Zeitschrift für Sozialforschung, 6, 140-151. Rosenmayr, L./Majce, G. (1978): Die soziale Benachteiligung. In: Rosenmayr, L./Rosenmayr, H.: Der alte Mensch in der Gesellschaft. Reinbek, 231-260. Schulz-Nieswandt, F. (2006): Sozialpolitik im Alter. Stuttgart. Steinhagen-Thiessen, E./Wrobel, N./Borchelt, M. (1996): Der Zahn der Zeit. Körperliche Veränderungen im Alter. In: DIFF: Funkkolleg Altern, Studienbrief 3, Tübingen, 7/2-7/43.

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Gabriele Kleiner

Tesch-Römer, C. u. a. (2006): Alt werden in Deutschland: Sozialer Wandel und individuelle Entwicklung in der zweiten Lebenshälfte. Wiesbaden. Weisser, G. (1966): Bemerkungen zur anthropologischen Grundlegung der für die Sozialpolitiklehre erforderlichen Lebenslage-Analysen. Köln.

II.

II. Alter(n) und Geschlecht

Alter(n) und Geschlecht

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Geschlechtsspezifika Sozialer (Alten-)Arbeit

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Geschlechtsspezifika Sozialer (Alten-)Arbeit Petra Engel 1

Gerontologische Einführung in die Genderthematik

Ältere Menschen treten den Professionellen der Sozialen Arbeit als je Gewordene gegenüber, als Produkte ihrer Biographie und ihres gesamten bisherigen Lebenslaufes. Dieser ist wesentlich beeinflusst von den Lebenslagemerkmalen, derer im Folgenden das Geschlecht im Vordergrund steht. Aus fachlicher und vereinzelt belletristischer Literatur wird vieles, was punktuell und unzusammenhängend bekannt ist, aber nicht (gezielt) auf die Soziale Arbeit bezogen (wird), gesammelt und zusammengetragen. Dazu gehört die während der Arbeit an diesem Beitrag erschienene Publikation „Frauen und Männer im Alter“, ein Faktenund Empfehlungsband aus 2011 (Oesterreich und Schulze). Bereits seit rund 30 Jahren gibt es vermehrt geschlechtsspezifische Betrachtungen in der Gerontologie, wobei die Entstehung dieser Forschungsrichtung bedeutsam ist. So weist Hartung darauf hin, dass insbesondere der erfolgte Umund v.a. Abbau sozialer Sicherungssysteme in Europa – statt des noch 1982 bei der „Ersten Weltversammlung zur Frage des Alterns“ in Malta erhofften Ausbaus – den Blick auf Familien- und Gemeinschaftsstrukturen als zentrale Alter(n)sressourcen gelenkt habe. „In die Aufwertung des Alters werden Frauen in zentraler Weise politisch eingebunden.“ (Hartung 2005: 11f.)

Da benötigt, wird die alte Frau als die Andere i.S. Beauvoirs entdeckt, so wie bis dahin allein junge Frauen – vor der Folie des „männlichen jungen Normalmenschen“. Das Alter ist nicht länger vermeintlich geschlechtslos und implizit männlich (erkennbar bspw. durch die gerontologischen Themensetzungen bei Pensionierungsschock, nachberuflicher Lebensgestaltung etc.). Mit der „Entdeckung“ des Fortbestandes der Zweigeschlechtlichkeit in der dritten und vierten Lebensphase wird zunächst bei geschlechtsspezifischen Betrachtungen fast ausschließlich das weibliche, weil eben andere Altern in den Blick genommen. Eine frühe Ausnahme bildet Radebold 1986 und in 2007 Hammer mit der Veröffentlichung „Männer altern anders. Eine Gebrauchsanweisung“. Bis heute werden jedoch weder in Praxis noch Wissenschaft Sozialer (Alten-)Arbeit Geschlechtsspezifika ausreichend berücksichtigt. Es

G. Kleiner (Hrsg.), Alter(n) bewegt, DOI 10.1007/978-3-531-94258-2_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

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Petra Engel

„zeigt sich für die deutschsprachige Frauen- und Geschlechterforschung ebenso wie für die hiesige Alter(n)sforschung eine im internationalen Vergleich auffallend schmale Bilanz hinsichtlich weitreichender Analysen des Themenfeldes ‚Geschlecht und Alter(n).“ (Backes 2005: 33)

Obwohl im Forschungs- wie im Ausbildungsbereich allmählich differenziert wird, richtet sich die Praxis Sozialer Arbeit fast unverändert an die Alten, eben die vermeintlich geschlechtslosen Alten. Neben dem Zeitverzug zwischen Theorie und Praxis liegt dies auch an der Komplexität letzterer. Daher ist es von zentraler Bedeutung, bereits Studierenden die Bedeutung der Geschlechtsspezifika Älterer für die Praxis Sozialer Altenarbeit exemplarisch und anschaulich vor Augen zu führen. Denn „im Lebenslauf angelegte Geschlechterverhältnisse setzen sich – entgegen der These von der Angleichung der Geschlechter und einer oberflächlichen Interpretation der These der Feminisierung des Alters – bis ins Alter hinein fort. ... Im hohen Alter erfahren die im Lebenslauf angelegten Geschlechterverhältnisse und die damit einhergehende Hierarchie der Lebenschancen eine Zuspitzung.“ (Backes 2005: 37)

Dies zeigt im Folgenden bspw. die geschlechtsspezifische Betrachtung der sozialen Einbindung Älterer sowie ihrer Spezifika bei Körper und Gesundheit. Eine soziologische Zusammenfassung möglicher Geschlechterunterschiede im Alter liefert Backes, geordnet nach Vor- und Nachteilen. „Einerseits ist bei Frauen im Alter die Wahrscheinlichkeit, von sozial problematischen Lebenslagen betroffen zu sein, höher als bei Männern. Wie bereits deutlich wurde, sind sie häufiger materiell eingeschränkt, alleinlebend bei eher prekärer materieller und immaterieller Ausstattung: sie müssen häufiger dazu verdienen oder familiale Leistungen erbringen, die ihrer gesundheitlichen Situationen nicht (mehr) angemessen sind: sie sind häufiger chronisch krank, leben aber länger, so dass sie häufiger auf institutionelle Hilfe bis hin zum (Pflege-)Heimaufenthalt angewiesen sind. Während sie ihre Männer bis zum Tod betreuen und pflegen, stehen ihnen derartige Hilfen seltener zur Verfügung.“ (Backes 2007: 167)

Zudem sind Frauen rein quantitativ stärker vom Alter(n) betroffen, zum einen durch ihre größere Zahl, zum anderen durch die längere Dauer ihrer Alternsphase – sowohl gelten sie früher als alt als auch leben sie im Durchschnitt bis in ein höheres Alter als Männer. In der Gegenüberstellung kumulieren laut Backes häufig geschlechtsspezifische mit sozioökonomischen Benachteiligungen. Fast klischeehaft wäre der alten Arbeiterwitwe der verheiratete ehemalige leitende Angestellte gegenüber zu stellen.

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„Andererseits ist Alter bei Frauen auch geprägt durch Vorzüge und bei Männern durch Nachteile, die mit ihrem geschlechtsspezifischen Lebenslauf einhergehen. ...“ (ebd: 167)

Dabei spricht Backes v.a. die Kontinuität der Diskontinuität an, Frauen haben Übung mit Brüchen und deren Bewältigung. Hinzuzufügen ist diesem „Frauenvorteil“ lebenslanger Übung der Anpassung an, teils gravierende, Veränderungen als weiterer weiblicher Alternsvorteil jener der Übung in sozialer Kompetenz, insbes. bzgl. der Pflege von Netzwerken, Freundschaften, persönlichen Beziehungen, deutlich erkennbar im Kapitel 3 des Textes. Die inzwischen als besonders hoch eingeschätzte Alter(n)sressource „Sozialkontakte/soziale Einbindung“ steht älteren Frauen viel stärker als älteren Männern zur Verfügung. Diese, sich im Lebenslauf zuspitzenden, Geschlechterunterschiede werden im Folgenden für vier Bereiche dargestellt: Altersbilder, Soziale Netze, körperlich-gesundheitliches Alter(n) sowie materielle Lage. 2

Geschlechtsspezifische Alter(n)sbilder „Der Stand der Forschung zum Thema Altersbilder macht deutlich, dass die Bedeutung von Altersbildern nicht unterschätzt werden sollte, da diese eine erhebliche Wirkung entfalten können und zwar sowohl über Altersdiskriminierung als auch über Vorstellungen vom eigenen Älterwerden und Altsein.“ (Wurm und Huxhold 2010: 248)

Gesellschaftliche Erwartungen und Bilder zum Alter(n) von Frauen und Männern prägen v.a. individuelle (Selbst-)Bilder und damit Handlungsspielräume. Schwerpunktbereiche bilden dabei zum einen das Aussehen, die optische Darstellung, und zum anderen das Verhalten. Vor allem die Verhaltenserwartungen an Ältere sind im Wandel begriffen. „Weil der kollektive Alterungsprozess, dem sich die spätindustriellen Gesellschaften der nördlichen Hemisphäre gegenübersehen, nach allgemeinem Dafürhalten die demografiegerechte Anpassung individueller Verhaltensweisen erfordert, wird die kontinuierliche Arbeit der Subjekte am eigenen Alter(n) zum gesellschaftlichen Imperativ.“ (Lessenich 2010: 6)

Die bereits eingangs beschriebene Entdeckung des Alters als sozial nützlicher Lebensphase macht deren je individuelle Gestaltung notwendig und gesellschaftlich dringend erwünscht. Aus vielfältiger Perspektive deutlich wird dies im Analyseband „Die jungen Alten“ von Dyk und Lessenich (2009). Alter(n)sbilder oder -konzepte sind Produkt und Ausgangspunkt der Wechselwirkung gesellschaftlicher Einflüsse und individuellen Handelns.

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„Davon ausgehend macht es wenig Sinn, Alter(n) ahistorisch als universale menschliche Erfahrung zu fassen. Vielmehr müssen Untersuchungen zur Entstehung und/oder dem Wandel von Alter(n)serfahrungen diese in Beziehung setzen zu den gesellschaftlich jeweils gerade gültigen Alter(n)skonzepten.“ (Graefe 2010: 35)

Solche Konzepte oder Bilder sind damit stets geschlechtsspezifisch. Für die Soziale Arbeit ist es bedeutsam, sich zu vergegenwärtigen, was gutes Alter(n) ermöglicht bzw. unterstützt. Zum einen sind Strukturen und Angebote zu schaffen, diese müssen zum anderen jedoch von der Zielgruppe im doppelten Sinne wahrgenommen werden. Die Älteren müssen sowohl Kenntnis von den Angeboten haben – siehe bspw. die spannenden Forschungen zu mental maps, zu subjektiven Repräsentationen des objektiv Vorhandenen –, sie müssen diese Angebote aber auch auf sich beziehen, um sie in Anspruch zu nehmen. In eine Senioren- und Seniorinnendisco gehe ich, kurz gesagt, eben nur, wenn ich mich meinem Selbstbild gemäß als Senior empfinde; Unterstützung zur Gestaltung meiner freien Zeit nehme ich nur an, wenn mir bewusst ist, dass ich unter der Leere bspw. des Renteneintritts oder des „empty nest“ leide o.ä. Für Angebote Sozialer Arbeit ist es daher wichtig, die Innensicht potentieller Adressatinnen und Adressaten zu kennen. Bereits 1978 im Sammelband Hohmeier und Pohl wird gezeigt, „wie man alt gemacht wird“ bzw. 1991 von Voges die Wirkung der Senilitätsspirale (1991: 32 f.), jeweils psychologische Mechanismen der Beeinflussung des Selbstbildes Älterer durch Fremdbilder. Zentral bei der Analyse dieser Prozesse sind geschlechtsspezifische Unterschiede, da sich die gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen und an Männer unterscheiden und folglich in geschlechtsspezifischen Altersbildern niederschlagen. Altersbilder verschiedener gesellschaftlicher Gruppen unterscheiden sich „zum einen aufgrund ihrer unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen, zum anderen aufgrund ihrer variierenden Erfahrungen mit dem eigenen Älterwerden.“ (Wurm und Huxhold 2010: 248)

Für Männer und Frauen trifft diese Verschiedenheit in besonderer Weise zu, da sowohl ihre Sozialisationserfahrungen als auch ihre Alltagserfahrungen im Alter sehr verschieden sind. „Mögliche Geschlechtesunterschiede in den Altersbildern können unter anderem aus unterschiedlichen Rollenerwartungen an Männer und Frauen erwachsen.“ (Wurm und Huxhold 2010: 248)

Von Kind an, gestützt durch familiäre Einflüsse, Darstellungen in Schulbüchern und Medien, der Werbung etc., aber auch durch die unterschiedlichen Geschlechterrollen, entwickeln wir Vorstellungen des für uns als Geschlechtsange-

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hörige typischen Alternsbildes und seiner implizierten Erwartungen. Die Entwicklung zum Individuum ist eine solche zu einer sexuellen (Gender-)Identität. Geschlechtsspezifika sind untrennbar mit unseren Lebensentwürfen und -zielen verbunden. Alter(n)svorstellungen sind davon aufgrund der Kumulation lebenslanger Erfahrungen als Frau/Mann in besonderer Weise geprägt. Ein zentraler Aspekt in der gesellschaftlichen Betrachtung von Frauen und Männern ist jener der Bewertungskriterien – die Frage, worauf es ankommt, seine Rolle gut zu erfüllen und in diesem Sinne gesellschaftlich Erfolg zu haben. Dabei ist das Alter einerseits die letzte Gelegenheit, möglicherweise noch offenen Anforderungen gerecht zu werden, deren Realisierung zudem durch das Alter(n) oft bereits erschwert wird. Es ist andererseits die Zeit der Bilanz. So ist die Frage zu stellen, was die geschlechtsspezifischen Kriterien sind, deren gesellschaftliche Relevanz zu unterschiedlichen Alter(n)sbewertungen und Erwartungen führen. 2.1

Aussehen und Schönheit

Vor 100 Jahren formulierte Simmel, Frauen sollen schön, Männer dagegen bedeutend sein, ein Ausspruch, dessen fortdauerndes Zutreffen für Ältere bspw. mit einer neueren britischen Untersuchung belegt wird (vgl. Gildemeister 2008: 200/201). Auch die immer wieder aufflammende Debatte um das (altersbedingte) Aussehen der Fernsehmoderatorinnen und ihrer öffentlichen Zumutbarkeit zeigt bis heute diese große Relevanz des jugendlich-schönen Aussehens für Frauen deutlich (vgl. Brooks 2009). Sontag formuliert knapp: “Women do not simply have faces, as men do, they are identified with their faces.” (Sontag 1979: 7)

Daran knüpft ihr Konstrukt des „double standard of aging“ an, einer unterschiedlichen Bewertungs- und Messlatte für Frauen und Männer. “The prestige of youth afflicts everyone in this society to some degree. But men rarely panic about aging in the way women often do. There is a double standard about aging that denounces women with special severity… Man are ‘allowed’ to age, without penalty, in several ways women are not.” (Sontag 1979:2)

Sontag führt bspw. an, wie ‚jung’ Frauen vom Partner-Markt gefegt werden im Kontrast zur großen „Paarungs“-Auswahl der Männer, die in der gleichen Alterskohorte, bei etwas Jüngeren oder auch in den jüngsten Generationen wählen können: berühmte Beispiele gibt es aktuell zuhauf. Frauen haben lebenslang dem

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Schema des jungen Mädchens zu entsprechen, Äußerlichkeiten werden geschlechtsspezifisch als völlig unterschiedlich bedeutsam bewertet. Männlicher Wert wird eher am Tun, an den Erfolgen gemessen, weniger am Aussehen – im Beruf ebenso wie in der Liebe. “Many men have more success romantically at forty than they did at twenty-five: fame, money, and, above all, power are sexually enhancing.” (ebd.: 3)

Erfolg und insbesondere Macht wirken bei Frauen hingegen eher abschreckend, wie z.B. in vielen Untersuchungen zum überproportional häufigen Single-Dasein von Akademikerinnen oder Führungsfrauen gezeigt wird. Gilt laut Sontag das Kindchenschema als Ultima Ratio weiblichen Wertes mit der Begründung, die Frau habe jung und damit unerfahren, also letztlich unterlegen zu sein1, könnte sich dies durch die sich langsam annähernden beruflichen Rollen ebenfalls lockern. Noch haben sich allerdings diese gesellschaftlichen Bewertungen mit der langsamen Eroberung höherer (Macht-)Positionen durch Frauen nicht in entsprechenden Schönheitsnormen niedergeschlagen. Vielmehr werden sie durch den Trend zur plastischen Chirurgie oder allein die Norm des Haarefärbens (jung = schön) eher bestätigt und dadurch indirekt verstärkt, i.S. einer selffulfilling-prophecy jene quasi natürlich und damit sichtbar Alternden zusätzlich kennzeichnend. Vielleicht erfolgt die Geschlechter-Angleichung eher durch einen zunehmenden Einbezug der Männer in diesen körperlichen Jugendkult? Auswirkungen haben müsste die Annäherung der Schönheitsnormen gemäß Sontags Logik auf eine geringere Sanktionierung der Paarbildung zwischen älteren Frauen jüngeren Männern, ggfs. ablesbar in (Heirats-)Statistiken. Auch für Männer könnten neue Rollenbilder Verbesserungen bringen, sie müssten nicht mehr stets hart und überlegen scheinen – ein Indianer kennt keinen Schmerz –, sondern dürften sich zu größeren Anteilen ihrer Persönlichkeit bekennen. Neues Engagement für Familie und Beziehung wäre zulässig und müsste ein weniger eindimensionales Alter(n) vorbereiten durch den Aufbau eines Lebens neben dem Beruf, vertiefte und eigenständige private und insbes. familiäre Kontakte etc. Vielleicht sind die Vätermonate so letztlich längerfristig ein Einstieg in ein neues männliches Alter(n)sbild, zumal zugleich die Quote pflegender Männer ansteigt. Es zeigt sich, dass das äußere Erscheinungsbild nur ein Aspekt der Wirksamkeit von Alter(n)sbildern und damit ihrer geschlechtsspezifischen Unterschiede ist. Alter(n)sbilder enthalten ebenso Ansprüche an das regelkonforme Verhalten insbesondere im Bereich gesellschaftlichen Engagements.

1

“The ideal state proposed for women is docility, which means not being fully grown up.” (Sontag 1979:11) “For all women are trained to continue wanting to look like girls.” (ebd.: 9)

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2.2

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Verhaltens- und Rollenerwartungen

Hartung führt aus, wie ältere Frauen zwar öffentlich einerseits als spezifisch benachteiligt und besonders belastet dargestellt werden, sie jedoch gleichzeitig, und zwar ohne Auflösung des Widerspruchs, als wichtige gesellschaftliche Größe entdeckt und instrumentalisiert werden, sobald die mögliche Abnahme dieses Leistungspotentials durch gesellschaftlichen Wandel Thema ist. Vorherrschend ist die demografische Sichtweise der Bedrohung durch eine auf uns zukommende Welle alter Frauen, mit ihren spezifischen Problemen der Einsamkeit und Isolation (s. Verwitwung etc.), mit ihrer Armut und Abhängigkeit, häufigen Arztbesuchen und hohen Gesundheitskosten und, ja sogar mit ihrem vermeintlich geringeren gesellschaftlichen i.S. von ehrenamtlichen Engagement. Ihr tatsächlicher großer Einsatz, nicht allein für die Nachkommen-Familien, sondern insbesondere als DIE Pflegekraft der Nation – für (Schwieger-)Eltern, Ehemann und u.U. weitere Personen sowie als Professionelle – bleibt bilanzierend in dieser öffentlichen Betrachtung und Bewertung vollkommen unberücksichtigt. Gerade für das immer stärker sozial erwünschte freiwillige Engagement bilden vielmehr (ältere) Männer das Vorbild, wie nachfolgende beim Freiwilligensurvey. „Bei älteren Männern hat allerdings das sportliche Engagement einen Umfang erreicht, der weitgehend dem Durchschnitt der gesamten Bevölkerung entspricht (10 %). Frauen sind ungleich weniger sportlich engagiert (4 %). Überhaupt sind die Unterschiede im gesamten Vereinsbereich zwischen älteren Frauen und Männern groß, bereits bei Kultur und Musik, insbesondere aber bei Freizeit und Geselligkeit. Außerdem wird das inzwischen stark gewachsene ökologische und politische Engagement besonders durch die älteren Männer repräsentiert. Mit 41 % der Engagierten, die sich vorrangig um ältere Menschen kümmern, sind allerdings auch heute die älteren Frauen in dieser Hinsicht wesentlich stärker aktiv als die Männer (24 %). Frauen kümmern sich im Rahmen ihres Engagements auch mehr um die hochbetagten Seniorinnen und Senioren. Absolut setzen sich sogar 8 % der engagierten älteren Frauen für Menschen im Alter von über 75 Jahren ein (Männer 2 %).“ (BMFSFJ 2010: 157 u. 167-172)

Vielleicht ist der Tenor, salopp formuliert, so zu fassen: Die (älteren) Männer engagieren sich im EHRENamt, mit Versicherungsschutz, Aufwandsentschädigung, öffentlicher Anerkennungskultur, die (älteren) Frauen hingegen nehmen als „fleißige Bienen“ (Landfrauen-Motto) selbstverständlich ihre vermeintlich natürlich-weiblichen Care2-Aufgaben in Familie, Verwandtschaft und Umfeld war, unbemerkt und ohne „Ehre“. Oesterreich und Schulze (2011: 62 ff.) unter2

Hier wie im gesamten Text steht der englische Begriff „Care“ als Erziehungs- und Pflegetätigkeiten zusammenfassender Oberbegriff.

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schieden entsprechend zwischen bürgerschaftlichem (Männer) und sozialem (Frauen) Engagement. Durch die unterschiedliche öffentliche Wahrnehmung und Anerkennung (Ehrungen etc.) dieser Engagementbereiche wird die steigende Gruppe älterer Frauen gesellschaftlich fast ausschließlich als Belastung und Bedrohung, nicht aber in ihrer tragenden Fürsorgerolle wahrgenommen. Ihnen selbst fehlt zudem mit steigendem Alter viel häufiger die eheliche Pflege sowie andererseits die Kapazität, sich neben allen privaten CareAnsprüchen zusätzlich bürgerschaftlich vergleichbar zu engagieren. Soziale Arbeit muss eine eigene Position finden bei der Begleitung guten und gelingenden Alters. Zum einen hat sie bei ihren Konzepten individuelle und gesellschaftliche Alter(n)sbilder und -normen zu kennen und zu berücksichtigen – wie sich bspw. für viele Angebote zeigte, dass traditionelle Ältere und insbesondere Frauen den Vormittag schlicht nicht als Freizeit empfinden und solange keine Freizeitangebote wahrnehmen, wie bspw. die heimische Hausarbeit für den Tag nicht erledigt ist. Zum anderen darf sie die Existenz solcher Altersbilder und ihrer Implikationen nicht unhinterfragt übernehmen. „Woher kommen die Bilder vom Alter? Die Bilder vom Alter sind facettenreicher geworden. Spiegeln sie Realitäten wider oder offenbaren sie die Wünsche alternder Wissenschaftler und Journalisten? Nach Rosenmayr enthält jede Alterstheorie Element ‚einer geheimen, unbekannt gebliebenen philosophischen Anthropologie’ (1990: 13).“ (Meinhold 1993: 30)

Angebote Sozialer Arbeit in Zeiten demografischen Wandels und dadurch bedingten Aufwertung bürgerschaftlichen Engagements dürfen nicht zu einem bedingungslosen Revival der Aktivitätstheorie führen, die Nützlichkeit des Alters und der Alten für andere gemäß der Leistungsgesellschaft in den Vordergrund zu stellen. Gelingendes, gutes, anerkanntes im Sinne von gesellschaftlich erwünschtem Altern darf nicht allein gutsituierten gesunden und eingebundenen Älteren möglich sein und vorbehalten bleiben. Gesellschaftlich zeigt sich diese endgültige Durchsetzung des Aktivitätstheorems deutlich. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit – Rente mit 67 – ist nicht unstrittig, in der Unterströmung gilt sie dennoch als unvermeidlich und bereits heute handlungsprägend. Da der demografische Wandel ohne Grund oder Reflektion den Älteren angekreidet wird, ist unterschwellig klar, dass sie wenigstens durch diese berufsverlängernden Maßnahmen ein wenig zu seiner Linderung beitragen sollten. Um so mehr gilt dies im Feld sozialen und bürgerschaftlichen Engagements, da es hier für jeden eine Nische gibt, ein geeignetes Engagementfeld und somit keine Ausrede für ein Nicht-Engagement. Hier können sich alle Alten beweisen, können und müssen etwas gegen negative Alternsaspekte tun. Erst, wer diesen (männlich konnotierten) Anforderungen nicht entspricht, ist

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wirklich alt. Indirekt wird dadurch das negative Alter(n)sbild dennoch bestätigt bzw. zurück gezogenes Altern endgültig sanktioniert. Wer nichts mehr beitragen kann oder, viel schlimmer, will (Dienstpflicht für Alte), altert nicht erfolgreich. Die nicht-aktive Gruppe Älterer verkörpert damit endgültig alles Negative, auf diese (hoffentlich nur letzte, eben vierte) Altersphase wird komprimiert geschoben, was den Alter(n)serfolg gefährdet und das Altern zur gesellschaftlichen Gefahr werden lässt. Daher ist diese Phase nicht nur von vornherein durch möglichst viel berufliches, freiwilliges und Selbst-Engagement zu verkürzen, sondern auch von hinten, letztlich durch Sterbehilfe oder besser noch Selbsttötung à la Gunther Sachs, der mit über 40-jährigem Abstand Jean Améry folgt. Gesellschaftlich verantwortlich handelt, wer abtritt, sobald er nicht mehr funktioniert und zwar genauso klaglos, wie Beauvoir es in „Das Alter“ von zurück gelassenen Alten im prähistorischen Afrika, Amerika oder Japan berichtet (1977: 34 ff.). Bereits hier finden sich diese Hinweise einer Differenzierung in Drittes und Viertes Alter, der Unterscheidung in Rüstige einerseits und Hinfällige andererseits (1977: 46). Dass Ältere auch mit Vergnügen und gutem Recht wie die Maus Frederik3 Sonnenstrahlen sammeln und nicht nur wie die fleißige Ameise schaffen könnten, dürften oder sollten, ist nicht vorgesehen und wird gerade auch durch die Bemühungen Sozialer Arbeit (wer rastet, der rostet) zu unterbinden versucht. 3

Soziale Einbindung älterer Frauen und Männer

Für den passgenauen Zuschnitt der Strukturen und Angebote Sozialer Arbeit auf die Adressatinnen und Adressaten ist die Kenntnis ihres sozialen Netzes wichtig. Relevant ist, welche „signifikanten Anderen“ sowohl den Betroffenen als auch den Professionellen zur Seite stehen, z.B. als Entscheidungseinfluss oder Verbündeter der Wahrnehmung sozialer Angebote. So ist es sowohl wichtig, etwas über die Zusammensetzung des näheren Umfeldes zu wissen als auch über die Bedeutung und Rolle, welche einzelne Kontaktpersonen spielen. „In der neueren gerontologischen Forschung fasst der Begriff der sozialen Netze sowohl die Anzahl als auch die Qualität der sozialen Beziehungen eines Menschen in allen individuellen Kontexten. Sozial hoch integrierte Menschen haben ein großes und qualitativ hochwertiges soziales Netz, das gleichermaßen zur persönlichen Entfaltung ermutigt und die jeweils nötige Unterstützung leistet (Cornwell et al 2008).“ (Huxhold et al 2010: 215) 3

Die Geschichte von der Maus, die nicht wie die anderen für den Winter Körner und Nüsse sammelt, also fleißig, sondern Sonnenstrahlen, Farben und Wörter sammelt, Träume also und Hoffnungen – kontemplativ statt aktiv.

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Ältere Menschen sind für Angebote Sozialer Arbeit zum einen in unterschiedlichem Maße ansprechbar, zum anderen zeigen sie in verschiedenem Ausmaß Bedarf an sozialen Beratungs- und Unterstützungsleistungen. Ein ganz wesentlicher Faktor für die Einschätzung beider Größen ist die soziale Einbindung der und des Einzelnen. Es ist an zu nehmen, dass Menschen mit zahlreichen privaten Kontakten weniger Bedarf an professionellen Angeboten sowohl der Geselligkeit und Bildung als auch der sozialen Unterstützung haben, setzt man in diesem Sinne Soziale Arbeit als Substitut an. Verheiratete (Frauen) orientieren sich eher auf den häuslichen Bereich als Verwitwete oder Alleinstehende, die stärker bei geselligen Angeboten an zu treffen sind (vgl. Oesterreich und Schulze 2011: 59/60). Bei Männern allerdings gibt es auch den Trend, sich erst durch die Motivation der Ehefrau zu gemeinsamem Tun einem Angebot zu öffnen, einer Gruppe an zu schließen. In jedem Fall ist es für Professionelle wichtig, die Lebenssituation i.S.d. „gelebten Familienstandes“ der Älteren zu kennen. Persönliche Kontakte sind eine Quelle des Wohlbefindens und entsprechen den Grundbedürfnissen des Menschen als sozialem Wesen. Sie sind zudem eine Ressource sowohl für psychosoziale Unterstützung in Krisen und bei der Suche nach Rat und Trost als auch für benötigte praktische Hilfeleistungen. Bedauernswerter Weise stehen die instrumentellen Beziehungen häufig im Mittelpunkt fachlicher Betrachtungen. „Die für die Lebensqualität mindestens ebenso wichtige Frage nach der emotionalen und kognitiven Unterstützung genießt aktuell eher weniger Aufmerksamkeit. Dabei trägt der Zugang zu emotionaler und kognitiver Unterstützung nicht nur wesentlich zum subjektiven Wohlbefinden in allen Lebensaltern bei, sondern bestimmt auch mit, wie erfolgreich Personen sich an alters- und gesundheitsbedingte Veränderungen und kritische Lebensereignisse wie etwa Verwitwung anpassen können (Pinquart 2003; Pinquart und Sorensen, 2000).“ (Huxhold et al. 2010: 217)

Allenthalben wird das abnehmende Familienpflegepotential thematisiert. Die steigende Entfernung zum nächst wohnenden Kind bei deren ebenfalls geringer werdender Anzahl sowie die stärkere Berufsorientierung der noch vorhandenen Frauen (!) jüngerer Generationen, also vornehmlich der erwachsenen Töchter und Schwiegertöchter etc., gelten als Grund. Jedoch ist die befürchtete dadurch wegfallende praktische Hilfe leichter durch Dienstleister und Fremde zu ersetzen als emotionale Unterstützung, die nachweislich ebenso über Distanzen kontinuierlich geleistet wird. Zudem ist es oft sogar ein Gewinn, diese instrumentellen Hilfen eher von außen zu erhalten. „Analysen auf Basis des DEAS haben gezeigt, dass praktische Unterstützung, die von Familienmitgliedern geleistet wird, das subjektive Wohlbefinden eher ver-

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schlechtert, während instrumentelle Hilfe von Freunden oder Nachbarn dieses eher verbessert (Merz & Huxhold).“ (Huxhold et al. 2010: 216)

Zwar nimmt also das praktische familiale Pflegepotential ab, doch ist dies nicht einfach zu bewerten und trifft v.a. Männer und Frauen auf ganz unterschiedliche Weise. „Wie Abbildung 1 zeigt, übernehmen (Ehe-)Partnerinnen bzw (Ehe-)Partner die Funktion der Pflege am häufigsten. Dies werden vor allem die pflegebedürftigen Männer noch in Anspruch nehmen können, während die pflegebedürftigen alten Frauen, die viel häufiger als die Männer schon verwitwet sind, auf andere verwandtschaftliche Hilfe zurückgreifen können, vor allem auf ihre Töchter (Abbildung 1). Dennoch sind 79 Prozent der Bewohnerinnen bzw. Bewohner von Pflegeheimen weiblich“.

Abbildung 1:

Hauptpflegepersonen von Pflegebedürftigen in Privathaushalten – Hauptpflegepersonen von Leistungsbezieherinnen und -beziehern der Sozialen und der Privaten Pflegeversicherung in Deutschland 2002 (in %) Quelle: Infratest Sozialforschung 2003: 19 ff (BMFSFJ 2005, Kapitel 8).

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Diese zentralen geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Wandlung und Abnahme des Familienpflegepotentials werden in der öffentlichen Diskussion kaum benannt. Selten wird in diesem Kontext gefragt, wer heute real von wem unterstützt und gepflegt wird. Helfferich (2008: 42) verweist auf die Ergebnisse Infratests, wonach private Hilfeleistungen zum großen Teil innerhalb der gleichen Generation erbracht werden. „So leben fast 90 % der älteren Männer noch in der Partnerschaft und können so auf die Hilfe und Unterstützung einer Partnerin zählen. Ältere Frauen dagegen leben in der Mehrzahl in Einpersonenhaushalten und sind Adressatinnen und Klientinnen zunächst der offenen, später der stationären Altenhilfeeinrichtungen.“ (Gildemeister 2008: 203)

Viel wegbrechen an verantwortlicher privater Pflege insbesondere durch Ehepartner kann den älteren Frauen also ohnehin nicht mehr. An allererster Stelle der privaten Pflegerpersonen stehen die Ehefrauen, so dass davon naturgemäß lediglich EheMÄNNER profitieren. Für EheFRAUEN kann sich die Situation kaum verschlechtern, sie sind als die häufig Überlebenden einer langen Ehe ohnehin nicht durch Partnerschaftspflege sowie zusätzlich seltener durch filiale Pflege versorgt. Statt einer Verschlechterung der Situation alter Ehefrauen geht der Zukunftstrend vielmehr in die Richtung eines häufigeren Verheiratetseins älter werdender Frauen in den nächsten Jahren. Eheliche Pflege könnte ihnen eher öfter als seltener als Option zur Verfügung stehen. „Bei den 70-85-Jährigen ist der Anteil Verheirateter seit 1996 um acht Prozentpunkte auf 61 Prozent gestiegen. Ein genauer Blick offenbart, dass dieser Anstieg vor allem auf die stark rückläufige Quote verwitweter Frauen dieses Alters von 53 auf 40 Prozent zurückgeht.“ (Engstler und Tesch-Römer 2010: 169)

Gründe sind die gestiegene Lebenserwartung, so dass sich die Verwitwung nach hinten verschiebt sowie das Überwinden der früheren Generationen kriegsbedingt alleinstehender Frauen. Das Verwitwungsthema findet sich vertiefend im Beitrag von Fauser in diesem Band. Für die zukünftige Alter(n)sgeneration heutiger Töchter und Schwiegertöchter, welche die zweithäufigste Gruppe privat Pflegender darstellen, droht ebenfalls nicht zwingend eine Verschlechterung ihrer Situation durch die Abnahme privater Familienpflege. So trifft sie derzeit genauso wie die pflegenden Ehefrauen zum einen das größere Risiko eigener Krankheit und Pflegebedürftigkeit durch Pflegebelastungen. Für sie wäre es wie für pflegende Ehefrauen eher von Vorteil, mehr professionelle Hilfe an ihrer Seite zu haben. Zum anderen kollidiert ihre Belastung durch die Familienpflege häufig mit eigener beruflicher Tätigkeit oder schränkt diese doch ein.

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„Für die häusliche Pflege haben ca. 27 % der überwiegend weiblichen Pflegepersonen ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben, weitere 24 % haben sie eingeschränkt (Bordet 2009: 144).“ (Sachverständigenkommission 2011)

Gut 50 % der privaten Pflegepersonen erleiden demnach berufliche Einbuße aufgrund der geleisteten häuslichen Pflege. Das hat unmittelbare materielle Nachteile für die Pflegenden zur Folge bis hin zur Altersarmut (vgl. Kapitel 5 zur materiellen Situation älterer Frauen), so dass auch hier eine Abnahme familiärer Pflege zur Verbesserung der Situation der (potentiell) Pflegenden führte. Private Pflege und Alltagsunterstützung sind wichtige Aspekte sozialer Beziehungen, jedoch nicht die einzigen geschlechtsspezifischen. Die unterschiedliche Art sozialer Netzwerke rückt damit in den Vordergrund, so dass im Folgenden nacheinander die Rolle von PartnerInnen, (Enkel-)Kindern und Freundschaften dargelegt wird. „Im Gegensatz zu den Geschlechterunterschieden oder regionalen Differenzen spielt die partnerschaftliche und familiale Situation für die Größe des sozialen Netzwerks eine bedeutsamere Rolle. Personen mit Partner und Kindern haben größere Netze als Personen ohne Partner und Kinder.“ (Huxhold et al. 2010: 220 DEAS) „Insgesamt und nicht differenziert nach Art der sozialen Beziehung betrachtet, ist die genannte Anzahl der Personen, die Rat und Trost bieten können, in den jüngeren Altersgruppen höher als in den älteren Gruppen und bei Frauen größer als bei Männern.“ (ebd: 223)

3.1

Partnerschaft und Alter(n)

Alle Untersuchungen zeigen, dass der Zwei-Personen-Haushalt die deutlich verbreiteteste Lebensform Älterer darstellt. Dabei ist anzunehmen, dass es sich bei diesen zwei Personen am häufigsten um Paare handelt, ob verheiratet oder nicht. Partnerschaft ist damit für die quantitative Seite der sozialen Einbindung zentral, allerdings mit großen geschlechtsspezifischen Unterschieden. Nach wie vor sind Frauen einerseits durchschnittlich jünger als ihre Partner, während sie andererseits unverändert eine höhere Lebenserwartung aufweisen. Dies verlängert ihre alleinstehende Lebensphase nach der Partnerschaft im doppelten Sinne. Als dritter Faktor der wesentlich höheren Verheiratungsquote der Männer kommt hinzu, dass diese nach Trennung oder Verwitwung weit häufiger neue Partnerinnen finden, da sie sowohl in der eigenen als auch in jüngeren Kohorten wählen können. Anzunehmen ist zudem, dass ihnen neben der größeren Auswahl für eine neue Partnerschaft auch ein größerer Nutzen aus selbiger erwächst, was ihre Bindungsneigung wiederum erhöht.

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„‚Diese Phase ist vorbei', sagte meine Mutter, als ich sie nach Männern in ihrem Leben fragte. ‚Ich will nicht noch einmal für einen Mann sorgen.’ ... ‚Dein Vater fehlt mir’, sagte sie. ‚Unsere Freundschaft, unsere Gespräche fehlen mir. Er konnte schließlich über vieles sprechen, aber, nein, ich sehe keinen Vorteil darin, mich jetzt noch einmal auf jemanden ein zu lassen. Witwer heiraten wieder, weil es ihr Leben leichter macht. Witwen häufiger nicht, weil es ihr Leben schwerer macht.‘“ (Hustvedt 2011: 105)

Niejahr (2007: 161) sieht eine Verschärfung des Geschlechterkonfliktes auf uns zukommen. Sie erwartet eine Entsolidarisierung der Männer gegenüber gleichaltrigen Frauen. Sie greift dafür auf Jaeggi zurück und zitiert zudem die taz: „Ist Sex mit Gleichaltrigen out?“ „Die beiden folgenden Abbildungen verdeutlichen die sehr unterschiedlichen Lebensformen älterer Frauen und Männer in Deutschland. Während Frauen mit ansteigendem Alter zunehmend in Witwenschaft leben, ist selbst für hochbetagte Männer die Lebensgemeinschaft (LG) mit ihrer Ehefrau die häufigste Lebensform. Dieses statistische Abbild der unterschiedlichen Lebenserwartungen von Frauen und Männern hat weit reichende Implikationen für das Leben im Alter. ...

Abbildung 2:

Lebensformen von Frauen im Alter von 60 und mehr Jahren in Deutschland 2004 (in %) Datenbasis: Mikrozensus 2004; Quelle: Statistisches Bundesamt, Sonderauswertung (BMFSFJ 2005, Kapitel 4.8).

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Deutlich wird damit auf den ersten Blick, dass aktuell ältere Männer quantitativ bis weit in ihre 80-er Jahre umfangreich mit Partnerschaften versorgt sind. Auch ihre „qualitative Versorgung“ durch Partnerschaften scheint außerordentlich gut. Einerseits wird im Kontext der unten betrachteten Freundschaften das unterschiedliche Kommunikationsverhalten von Männern und Frauen angesprochen, welches zu geschlechtsspezifischen Diskrepanzen auch innerhalb von Partnerschaften führen kann. „Außerdem geben Frauen häufiger als Männer an, nicht ausreichend Unterstützung zu erfahren. Darüber hinaus wirkt das Geschlecht mit der partnerschaftlichen und familialen Situation zusammen. Obwohl Partnerlose insgesamt eher einen Bedarf nach Unterstützung verspüren als Menschen mit einer Partnerschaft, haben Frauen eher als Männer dann Bedarf nach mehr Rat und Aufmunterung, wenn sie einen Partner (und Kinder) haben und Männer eher als Frauen dann Bedarf, wenn sie keine Partnerin (und Kinder) haben.“ (Huxhold et al. 2010: 227) „Männer erleben sich in ihren langjährigen Beziehungen eher von ihren Frauen unterstützt als umgekehrt.“ (Hammer 2007: 59)

Andererseits profitieren ältere Männer auch qualitativ für ihre fast lebenslangen Partnerschaften von einem weiteren im Deutschen Alterssurvey (DEAS) herausgestellten Befund, wonach Wiederverheiratete ihre Partnerschaft als stabiler einstufen als Erstverheiratete (vgl. Engstler und Tesch-Römer 2010: 163). Für viele dieser Beobachtungen deuten sich jedoch bereits Wandlungen für die nahe Zukunft an. So nimmt einerseits die große Verwitwungshäufigkeit insbesondere der älteren Frauen ab, sowohl durch Überwindung historisch-politischer Ursachen als auch aufgrund der steigenden Lebenserwartung der Männer (vgl. Engstler und Tesch-Römer 2010: 169 + 181). Andererseits verlieren Ehen an Stabilität, sowohl über die gesamte Lebensdauer als auch insbesondere im Alter. Gerade auf letzteres Phänomen der zunehmenden Scheidungen langjähriger Ehen weist Fooken mit ihren Forschungen hin (vgl. z.B. Fooken: iwi/reu/news.de 10.02.2010, ebenso Engstler und Tesch-Römer 2010: 164). Neben die sinkende Stabilität der Ehen tritt die hinlänglich bekannte geringere Verheiratungsquote, nicht allein bei Männern im Osten Deutschlands. „Immer mehr Menschen gelangen partnerlos in die zweite Lebenshälfte.“ (Engstler und Tesch-Römer 2010: 171)

Zwar wird dieser Satz im Deutschen Alterssurvey als Allgemeingut hingestellt, betroffen sind zunächst von den Veränderungen jedoch in weit größerem Ausmaß ältere Männer als ältere Frauen, da letztere, wie dargestellt, schon heute und in der Vergangenheit häufig alleinstehend ihr Alter(n) bestreiten und dieses Phä-

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nomen vorübergehend abnimmt. Insofern treten für die Frage der sozialen Einbindung weitere Beziehungsformen neben jenen der Partnerschaft in den Vordergrund. Eine ähnlich zentrale Rolle wie die Partner dürften die Kinder spielen. Für die Frage der sozialen Einbindung, insbesondere geschlechtsspezifisch, ist der Wandel der Familienstrukturen bedeutsam. Statt gleichalten Geschwistern oder Cousins/Cousinen, die weniger zahlreich oder in der Nähe sind, gewinnt die Bohnenstangen- an Stelle der Tomaten-Familie an Bedeutung durch Beziehungen zwischen statt innerhalb von Generationen. 3.2

(Enkel-)Kinder als Netzwerkpartner

Kinder und ggfs. Enkelkinder können eine große Quelle sowohl instrumenteller als auch persönlicher Hilfe und Unterstützung für Ältere sein. Derzeit sind sie zudem, insbesondere bei den statistisch häufiger verwitweten Frauen, oft eine Voraussetzung für das Funktionieren häuslicher Pflegearrangements. Dabei wie auch in der stationären Pflege treten sie Professionellen als pflegende Angehörige gegenüber, die es ein zu binden gilt – dies zudem unabhängig von der Frage der räumlichen Wohnentfernung. Der Deutsche Alterssurvey zeigt, dass nach wie vor mindestens 80 % der Erwachsenen über 40 Jahre Kinder und weit mehr als 50 % der über 55-Jährigen Enkel haben. Das Übergangsalter sowohl in die Eltern- als auch die Großelternschaft schiebt sich dabei allerdings im Langzeitvergleich nach hinten (vgl. Mahne und Motel-Klingebiel 2010: 194/195). „Aktuell lebt für die Mehrheit der 40- bis 85-jährigen Eltern das nächstwohnende Kind im Umkreis von maximal zwei Stunden Wegezeit. Weniger als die Hälfte der Eltern dieser Altersgruppe hat aber wenigstens ein Kind im gleichen Ort oder näher.“ (Mahne und Motel-Klingebiel 2010: 195)

Perspektivisch gehen die Autoren und Autorinnen des Deutschen Alterssurvey von der Vergrößerung dieser Wohnentfernung zwischen Eltern und Kindern aus, was allerdings nicht automatisch gleich zu setzen sei mit geringerer Kontakthäufigkeit und -qualität (ebd.: 196/197). Dies gilt sicher am deutlichsten für den hier im Vordergrund stehenden Aspekt der persönlichen Zuwendung, des Spendens von Trost und Rat. „Sowohl für die Kontakthäufigkeit als auch für die berichtete emotionale Enge der Beziehungen zu den Kindern zeigen sich dagegen Geschlechterunterschiede: Mütter kommunizieren häufiger mit den Kindern und fühlen sich auch enger verbunden als Väter. Frauen sind innerhalb der Familie häufig für die Pflege der sozialen und verwandtschaftlichen Beziehungen verantwortlich und zeichnen sich insgesamt durch engere und intensivere Verwandtschaftsbeziehungen aus (Monserud 2008; Pollet et al. 2007; Suitor et al 1995).“ (Mahne und Motel-Klingebiel 2010: 197/198)

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So scheint es fast einen innerfamiliären Ausgleich dahingehend zu geben, dass Männern im Alter eher eine Partnerin, Frauen eher die intensivere Unterstützung und Begleitung durch Kinder zur Verfügung steht. Aktuelle Zeitbudgetstudien an jüngeren Eltern lassen vermuten, dass diese geschlechtsspezifische Beziehungsintensität auch in ihrem zukünftigen Altwerden zu erwarten ist. „Angaben des Instituts für Demoskopie Allensbach (2008) zufolge hat sich an der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Paarhaushalten ... wenig verändert: Mehr als drei Viertel der in einer Partnerschaft lebenden Mütter mit Kindern unter 16 Jahren erledigen persönlich ‚alles’ (4 %) oder ‚das meiste’ (72 %) der Kinderbetreuung und der Hausarbeit. Diese Einschätzung wird von den Vätern weitestgehend geteilt. Sieben von zehn Vätern geben an, von der anfallenden Sorge- und Hausarbeit den ‚kleineren Teil’ (61 %) oder ‚kaum etwas, gar nichts’ (7 %) zu machen (Institut für Demoskopie Allensbach 2008).“ (Gleichstellungsbericht 2010: 152)

Eine ähnliche Grundlage für den Blick auf zukünftige Beziehungen zwischen (alternden) Eltern und ihren (erwachsenen) Kindern legen die Zahlen der Inanspruchnahme von Elternzeit nahe, bei der lediglich je nach Quelle und Ortsgröße (v.a. ein Phänomen großer Städte) zwischen 5 und 15 % der Väter mehr als die quasi unumgänglichen Vätermonate in Anspruch nimmt. Diese Quote relativiert sich weiter dadurch, dass Väter häufig nur parallel zur Partnerin zu Hause sind und nicht in alleiniger Verantwortung für das/die Kind(er). Zudem nehmen sehr viele arbeitslose Väter diese Chance wahr, die aber ohnehin zu Hause wären. Entgegen einem zu erhoffenden Wandel familiärer Geschlechter- und Verantwortungsrollen spricht der Gleichstellungsbericht der Bundesregierung daher summarisch gar von einer Retraditionalisierung der Geschlechterarrangements beim Übergang von der Partnerschaft zur Elternschaft und weist ausdrücklich darauf hin, dass dies nicht allein auf haushaltliche, sondern insbesondere auch auf sorgende, also Care-Tätigkeiten zutrifft. Kinder sind insgesamt, in geschlechtsspezifisch unterschiedlichem Umfang und in unterschiedlichen Rollen, eine wichtige Größe im sozialen Netz Älterer. Neben vielen anderen Rollen ist es vor allem jene als häuslich Pflegende, die ihre große Bedeutung zeigt, da sie die zweithäufigste Gruppe hinter den EhepartnerInnen darstellen. Im Sinne der bereits vor über 10 Jahren von Rosenmayr so bezeichneten BohnenstangenFamilie sind zudem die Enkel stärker zu betrachten und zu berücksichtigen in ihrer Bedeutung für das soziale Netz Älterwerdender. Obwohl mit dem Auszug aus dem, die beiden „Randgenerationen“ verbindenden, Elternhaus Enkel weniger Kontakt zu ihren Großeltern haben, geben im Deutschen Alterssurvey

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„etwa 40 % der Großeltern an, mindestens wöchentlich oder öfter Kontakt zu ihren erwachsenen Enkelkindern zu haben.“ (Mahne und Motel-Klingebiel 2010: 198)

Wie sich bei jungen Enkelkindern die Kontakthäufigkeit nach Geschlecht und Alter der Großeltern zu Gunsten der Großmütter und Jüngeren unterscheidet, wird für die emotionale Seite der Enkel-Großelternbeziehung insgesamt konstatiert: „Großmütter empfinden eine engere Verbundenheit mit ihren Enkeln als Großväter, was sich mit Befunden zur geschlechtsspezifischen unterschiedlichen Enge der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern deckt.“ (Mahne und Motel-Klingebiel 2010: 199, 209 u. 211)

Begründet liegt dies im umfangreicheren großmütterlichen Engagement für die Enkel sowie in geschlechtsspezifischen Beziehungsstrukturen. „Ein unterschiedliches Engagement in der Enkelbetreuung zeigt sich auch für die Geschlechter in den Altersgruppen der 40- bis 69-Jährige. Großmütter betreuen häufiger ihre Enkel als Großväter. Dies wird vor allem klassischen Geschlechterrollen zugeschrieben. Frauen sind innerhalb der Familie stärker für den ‚sozialen Kitt’ zuständig, sie übernehmen insgesamt häufiger Fürsorgearbeit. Darüber hinaus sind die Erwerbsquoten der Frauen weiterhin niedriger als die der Männer und dies trifft besonders auf ältere Kohorten zu. Großmütter verfügen daher über größere Zeitressourcen.“ (ebd: 206)

Dies ist z.B. zu bedenken bei Angeboten Sozialer Arbeit für Ältere, Konzepten des Engagements, der Freizeit und der Bildung. Gerade bei zunehmenden Wohnentfernungen kann es also sehr sinnvoll sein, auf die Ferienzeiten zu achten – außerhalb dieser sind Großmütter mit weiter entfernt wohnenden Enkeln vielleicht flexibel, am gleichen Ort wohnende nicht. In den Ferien könnte es sich ggfs. für beide Gruppen lohnen, gemeinsame Angebote für Großeltern und Enkel zu schaffen. Mit Blick auf Großväter wäre zu überlegen, ob spezifische Angebote für sie die Intensität der eigenständigen Beziehung zu den Enkeln erhöhen können. Perspektivisch wird sich die Tendenz zur selteneren und ggfs. späteren Elternschaft sowie zur Vielfalt der Familienformen mit ihrer möglicherweise über drei Generationen betrachteten größeren Unübersichtlichkeit (Stief-Groß/Schwieger-Elternschaft etc.) und kürzeren Dauer auch auf die Rolle der Großelternschaft für die Gestaltung des Alterns auswirken. „Die bisherige Entwicklung wird dazu führen, dass – beginnend mit den ‚Babyboomern’ – im Alter mehr Menschen keine Kinder haben und auf andere Unterstützungsressourcen angewiesen sein werden.“ (Engstler und Tesch-Römer 2010: 173)

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Frauen und Männer werden zukünftig stärker partner- und/oder kinderlos alt werden. Die Frage bleibt, wer an deren Stelle tritt. Neben instrumentell-professioneller Unterstützung gerät damit der Bereich der Freundschaften in den Blick. 3.3

Freundschaften

Perspektivisch wird von einer Abnahme (verfügbarer) familiärer Beziehungen ausgegangen, so dass die Neustrukturierung der sozialen Netzwerke in den Blick rückt. Es klang bereits an, dass Freundschaften im sozialen Gefüge Älterer eine wichtige Rolle spielen, vor allem für das emotionale Wohlbefinden. „Während in jüngeren Jahren mit einer weiteren Zukunftsperspektive solche sozialen Netzwerkpartner interessant sind, die den Zugang zu Informationen, Kontakten, Anerkennung und Statuspositionen ermöglichen, werden hingegen im fortgeschrittenen Alter mit einer kürzeren Zukunftsperspektive vorrangig emotional bedeutsame Beziehungen gepflegt (Carstensen 1992; Lang & Carstensen 1994; Land et al. 1998).“ (Huxhold et al. 2010: 216)

Die Quellen zu Freundschaften Älterer mischen fast stets quantitative und qualitative Aspekte. Daher wird im Folgenden vermischt über Anzahl und Art der Freundschaftsbeziehungen Älterer berichtet, Frauen und Männer vergleichend betrachtet. „Grundsätzlich gilt also, dass Freundschaften und Netzwerke in jedem Lebensalter mit der Familie gleichziehen können; sie können im Alter sogar wichtiger sein als Familienbeziehungen. Die Forschung zu sozialen Netzwerken zeigt dabei deutliche Geschlechterdifferenzen: Männer verfügen generell und auch im Alter über ein vergleichsweise geringer ausgeprägtes Netzwerk... Eine weitere Ursache für die Geschlechterunterschiede bei den Netzwerkressourcen liegt in der Gestaltung von Freundschaften: So sind Männerfreundschaften vor allem auf gemeinsame Interessen und Tätigkeiten ausgerichtet (vgl. Stiehler 2003), während die Beziehungen von Frauen eine kommunikativ-emotionale Grundlage haben.“ (Maier 2009: 227)

Die quantitativ und qualitativ größere Bedeutung von Freundschaften für ältere Frauen wird deutlich. „In der Regel berichten Frauen über größere Netzwerke als Männer und haben größere Unterstützungspotentiale im kognitiven und besonders ausgeprägt im emotionalen Bereich. Gleichwohl berichten mehr Frauen als Männer, nicht immer ausreichend Rat und Trost zu erhalten. Analysen auf der Basis des ‚Eurobarometer’ bestätigen, dass in Partnerschaften lebende Frauen stärker als Männer auf außerfamiliale Unterstützung angewiesen sind, da sie seltener als Männer bei Krankheit, persönli-

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chen Problemen, Niedergeschlagenheit und finanziellen Problemen unterstützt werden (Scheuer 2008). Vielleicht ist dies auch der Grund, warum Frauen sich stärker außerfamilialen Beziehungen als Quellen emotionaler und kognitiver Unterstützung zuwenden als Männer. Frauen finden häufiger als Männer in der Person der ‚besten Freundin’ eine wichtige Vertrauensperson außerhalb des familialen Kontextes, während Männer sich in der Regel für emotionale und kognitive Unterstützung ausschließlich an ihre Partnerin wenden (Künemund & Hollstein 2005).“ (Huxhold et al. 2010: 230)

Ältere Männer haben, wie oben gezeigt, bei weniger intensivem Kontakt zu Enkeln und Kindern häufiger eine Partnerin, die für sie zudem qualitativ wichtiger ist als ein ggfs. ebenfalls vorhandner Partner älterer Frauen. Ältere Frauen haben, im Gegenzug, Freundinnen. Deutlich wird die große Rolle persönlicher, fast intimer Personen im Frauenleben (Konzept „Beste Freundin“). Auch ein Exkurs zur Betrachtung sehr enger bis intimer Beziehungen im homoerotischen Sinne, für Frauen schon lange akzeptierter als für Männer, böte sich an. Leider thematisiert die diesbezügliche Freundinnen-Literatur und Forschung gemäß ihrer überwiegenden Herkunft aus der Frauenforschung jedoch kaum den Aspekt des Alter(n)s, für Feministinnen „endete“ das Frausein lange mit der Menopause oder maximal ihrer Bewältigung. Spannend wäre ein Blick auf die zukünftigen Altengenerationen, denen häufigeres Singeldasein prognostiziert wird, aber auch für beide Geschlechter mehr Übung in persönlicher Freundschaft. „Wie das eigene Älterwerden gestaltet werden kann, hängt maßgeblich von der individuellen Kompetenz, Netzwerke zu bilden, ab. Diese Kompetenz ist eng mit den biografischen Erfahrungen und dabei insbesondere dem Stellenwert verknüpft, den Freundschaften im biografischen Verlauf haben.“ (Maier 2009: 228)

Auf der Grundlage heutiger Untersuchungen konstatieren Huxhold et al., dass bei Menschen ohne PartnerIn und Kind(ern) der Anteil wichtiger außerfamilialer Bindungen deutlich größer ist (vgl. Huxhold et al. 2010: 222). Gerade mit Blick auf den sozialen Wandel ist daher den Freundschaftsbeziehungen Älterer mehr Aufmerksamkeit zu schenken, insbesondere unter geschlechtsspezifischer Perspektive. Damit ist erneut der Blick auf (alternde) Männer zu richten mit bisher geringeren Erfahrungen in persönlicher Freundschaft. „Aktuell gibt etwa ein Fünftel der Männer an, sich bei Kummer an wichtige Personen auch außerhalb der Familie wenden zu können, bei den Frauen sind dies aber mit fast 40 Prozent nahezu doppelt so viele.“ (Huxhold et al. 2010: 225)

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Für die Soziale Arbeit bedeutet dieser Befund, bereits heute älteren Männern stärker Angebote zu machen, bei denen evtl. über gemeinsames Tun freundschaftliche Beziehungen entstehen können. Daraus sind v.a. Folgerungen für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu ziehen, um Jungs und jungen Männern lebenslang mehr Chancen auf persönliche Freundschaften zu eröffnen. Eingebettet ist diese Frage in den gesamten Themenkomplex der „neuen Männer“, denen diese größere Emotionalität zugebilligt wird – ob in ihrer Rolle als Vater, bei öffentlichem Auftreten oder als Freund wie z.B. als „bewegter“ Mann in der Männergruppe4. Diese heute jüngeren Männer könnten, ggfs. ermutigt durch entsprechende Angebote Sozialer Arbeit von der Schulsozialarbeit über Jungengruppen bis zu solchen für moderne Väter und Ehemänner, in günstigeren sozialen Konstellationen in die Altersphase eintreten. Gerade in dieser haben tiefer gehende Beziehungen Bedeutung. Nicht entschieden werden kann hier die Frage, ob außerfamiliäre Beziehungen nachrangig fehlende Familienbeziehungen ersetzen (können), oder ob vielmehr jede Beziehungsform ihr spezifisches „Wirkungsfeld“ hat. Dabei gehen Huxhold, Mahne und Naumann davon aus, Familienbeziehungen seien nicht komplett kompensierbar. „Gerade die emotionale und kognitive Unterstützung durch den Partner oder die Partnerin scheint relativ schwer ersetzbar zu sein. ... Da gilt stärker für partnerlose Männer als für Frauen.“ (Huxhold et al. 2010: 231)

Diese Betrachtung ist in doppelter Hinsicht spannend. Zum einen geht die Autorengruppe davon aus, ausreichend Rat und Trost finde sich im Alter v.a. in der Partnerschaft. Diese jedoch wiesen Männer in einem viel größeren Umfang aus als Frauen – durch den klassisch geschlechtsspezifischen Altersunterschied von 4

Peter Thiel (Berliner Männergruppe) lädt mit folgendem Text ein: Männergruppe, das sind doch alles welche, die mit ihrem Leben nicht zurecht kommen. Was soll ich da, ich habe doch keine Probleme. Wie man sieht, können sich traditionelle Männer Kommunikation über private Angelegenheiten nur im Beisein von Frauen vorstellen, ein lang eintrainiertes Muster; war doch in der Herkunftsfamilie des traditionellen Mannes – etwas platt gesagt – die Mutter für die emotionale Kommunikation zuständig und der Vater für das Heranschaffen von Geld. Die Kommunikation der Mutter bezog sich allerdings weniger auf ihren Mann, als auf den Jungen, der als männlicher Partnerersatz für die Mutter fungiert. Dem Vater war es so ganz recht, musste er sich doch dann weniger die Klagen seiner emotional und sexuell frustrierten Frau anhören, da diese doch den Sohn als Ausgleich zur Verfügung gestellt bekam. Diese Konstellation hat der Junge und später Kind gebliebener Mann so stark verinnerlicht, dass ihm die Frage nach der Teilnahme an einer Männergruppe ähnlich seltsam vorkommt, wie die Frage an einen deutschen Autofahrer, ob er nicht auf der Autobahn auf der linken Fahrbahn fahren wolle. Ein Teilnehmer einer Männergruppe ist aus der Sicht eines durchschnittlich konditionierten Mannes ein Geisterfahrer, der auf der falschen Fahrbahnseite fährt.

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Paaren, die höhere Lebenserwartung der Frauen, eine größere Wiederverheiratungsquote geschiedener und verwitweter Männer etc. Zum anderen erfolgt der Hinweis, die partnerlosen Männer seien stärker vom Fehlen außerfamiliärer Beziehungen betroffen, was m.E. erneut die These ihres insgesamt geringeren sozialen Netzes bestätigt. „Insgesamt und nicht differenziert nach Art der sozialen Beziehung betrachtet, ist die genannte Anzahl der Personen, die Rat und Trost bieten können, in den jüngeren Altersgruppen höher als in den älteren Gruppen und bei Frauen größer als bei Männern.“ (ebd. 223)

Eine große und zunehmende Bedeutung haben Freundschaften und Wahlverwandtschaften für gelingendes Alter(n) in jedem Fall. 4

Körper und Gesundheit alter(nder) Frauen und Männer

Die Betrachtung von Gesundheitsfragen scheint für Soziale Altenarbeit das überhaupt Naheliegendste, wird doch Alter(n) vor allem als biologischmedizinischer Prozess verstanden. Gleichzeitig wird gerade die Körperlichkeit des alternden und alten Menschen in vielen Bereichen Sozialer Arbeit völlig ausgeblendet. Wenn Alter(n) direkt mit der Abnahme körperlichen Wohlbefindens und körperlichen „Funktionierens“ gleichgesetzt wird, thematisiert das Thema Gesundheit im Alter automatisch deren Bedrohung oder gar Verlust. Zum einen intendiert Soziale (Alten-)Arbeit daher Kompensation, zum anderen ist ihre konzeptionelle Grundlage stets Rücksichtnahme auf Gebrechen, Hinfälligkeit, Einschränkungen jeder Art. Dies ist jedoch zu kurz gedacht, da Aspekte der Körperlichkeit Älterer weit über diese Fragen des biologisch-medizinischen Funktionierens oder eben NichtFunktionierens hinaus relevant sind, auch und gerade für die Soziale Arbeit. Im Folgenden werden zunächst allgemeine Fragen des alternden und alten Körpers geschlechtsspezifisch betrachtet, ehe im zweiten Teil auf Gesundheits-, d.h. eigentlich meist Krankheitsfragen, fokussiert wird. 4.1

Alte(rnde) Frauen- und Männerkörper „‚Sieh dir bloß an, was mit Stella passiert ist’, sagte David aufgebracht. ‚Sie hat sich in einen Troll verwandelt.’ Catherine, die Stella zum ersten Mal trifft, meint taktvoll: ‚Nun, sie ist älter geworden.’ ‚Älter als was, Catherine? Älter als das Haus? Älter als der Huron-See? Älter als die Katze?’ ... ‚Sie ist jetzt eine ältere Frau’, antwortet Catherine mit echauffiertem Trotz. ... ‚Du weist schon, was ich meine.’

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David glaubt, Stella habe das mit Absicht getan. Das ist nicht bloß ein Hinnehmen natürlichen Verfalls – o nein, da steckt viel mehr dahinter. Stella hat schon immer alles dramatisiert. Aber Stella ist kein Einzelfall. Es gibt die Sorte von Frauen, die in diesem Alter unbedingt die weibliche Hülle sprengen müssen und Fettpolster oder eine unanständige Magerkeit zur Schau stellen, Warzen oder Haare im Gesicht sprießen lassen, sich weigern, käsige, von Adern durchzogene Beine zu bedecken, und das alles fast frohlockend, als hätten sie das immer schon gewollt. Männerfeinde von Anfang an.“ (Munro 2006: 49)

In Kapitel 2 wird zu Aussehen und Schönheit älterer Frauen Sontag zitiert mit dem Gedanken, eine Frau habe kein Gesicht, sondern sie sei vielmehr damit identifiziert. Dies gilt jedoch nicht allein für das (alternde) Gesicht, sondern für ihren gesamten Körper. Lebenslang sind Frauen stärker auf Körperlichkeit verwiesen, äußerlich durch an sie gestellte Schönheitsansprüche, gesundheitlich durch stärkeres natürliches Verwiesensein auf Körperlichkeit und daraus resultierende Ansprüche an Gesundhaltung desselben. „Für Frauen ist das Altern nachdrücklicher mit Erfahrungen von Körperlichkeit verbunden – ihr ganzes Leben lang haben Frauen einen intensiveren Zugang zur Körperlichkeit als Männer.“ (Lackinger-Karger 2009: 312)

Frauenkörper machen sich deutlicher bemerkbar von der Pubertät und damit dem Beginn der regelmäßigen Menstruation über Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit bis hin zu den Veränderungen der Wechseljahre. Dass trotz naheliegender großer Relevanz das körperliche Alter(n), zumal in geschlechtsspezifischer Betrachtung, weder in Theorie noch in Praxis Sozialer (Alten-)Arbeit ausreichend Berücksichtigung findet, hat verschiedene Gründe. Eine zentrale Ursache könnte die christlichabendländische Denktradition des dichotomen Blicks auf den Menschen sein: minderbedeutsam hier die im Tod übrig bleibende sterbliche Hülle, der äußerliche sterbliche Körper, zentral dort der eigentliche und wesentliche Geist-SeeleMensch, das Ich. Entsprechend empfinden viele Menschen sich (im Sinne dieses eigentlichen Ichs oder Selbst) kontinuierlich als jung oder mindestens viel jünger, als dies das Spiegelbild, Ausdruck des kalendarisch-biologischen Alters, impliziert. Alt sind, wie erwähnt, dadurch eben nur die anderen, da man in deren Wahrnehmung auf das Äußere verwiesen ist. Häufig zitiert wird Beauvoir mit dem Ausspruch: Das Alter ist eine Maske, die uns das Leben aufzwingt. Darunter sind wir immer die gleichen. Damit ist die Ignoranz der körperlichen Seite des Alter(n)s für Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit scheinbar ebenso gerechtfertigt wie in Folge die Vernachlässigung diesbezüglicher geschlechtsspezifischer Alter(n)sunterschiede. Von dieser Abspaltung des eigentlichen Alters-Ichs von seinem alternden Körper („Maske des Alters“) warnt Öberg. Es ist s.E.

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„wichtig, in der Sozialgerontologie endlich über den Körper zu reden – als dialogischer, erfahrener und symbolischer Sachverhalt.“ (Öberg 2009: 138)

Der Zustand des (alternden) Körpers als Resultat des gelebten Lebens ist ein Frage sowohl der Ökonomie (i.S.v. Ursache und Kompensation) als auch der Handlungsmöglichkeiten (i.S.v (Alltags-)Fähigkeiten). Doch auch im Lebenslagenansatz wird Körperlichkeit noch nicht ausreichend berücksichtigt. „Eine vergleichbare Öffnung der Sozialstruktur- und Ungleichheitsforschung für das Phänomen ‚Körper’ ist jedoch nicht feststellbar: weder in den Hinweisen zu ‚neuen’ Dimensionen sozialer Ungleichheit (vgl. Hradil 1987, Kreckel 1992) noch in dem erweiterten ‚Lebenslagen-Ansatz’ (vgl. Hübinger 1996, Enders-Dragässer/Sellach 1999) wird der Körper als ein gewichtiger, soziale Ungleichheiten (mit-)produzierender und moderierender Faktor systematisch einbezogen.“ (Abraham 2002: 267)

Dies wäre jedoch für eine an der geschlechtsspezifisch differenzierten Lebensrealität Älterer ansetzende Soziale Arbeit unverzichtbar. Sowohl objektive Körperlichkeit und Gesundheit als auch ihre subjektive Repräsentanz sind zentral. Abraham plädiert daher dafür, „sich vermehrt für die Innensicht und die Selbstdeutungen der Akteure zu interessieren und die jeweils subjektiv wahrgenommenen und aktualisierten Handlungspotentiale bzw. Handlungsweisen zu rekonstruieren.“ (ebd: 269) „Darüber hinaus wäre in meinen Augen aber eben auch eine systematische Berücksichtigung körperlicher Dispositionen, Umgangsweisen und Effekte dringend angezeigt, weil gerade hier – am eigenen Leib und über den eigenen Körper – jene Momente angesiedelt und erfahrbar sind, die die Qualität des eigenen Lebens und der eigenen Lage am unmittelbarsten, massivsten und nachhaltigsten bestimmen.“ (ebd: 274)

Entsprechend Öbergs Forderung ist ein erfreuliches und wichtiges Umdenken erkennbar. Vorhandene Erkenntnisse und Voraussetzungen dieser Berücksichtigung körperlich-gesundheitlichen Alter(n)s in Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit werden im Folgenden in den Fokus gerückt, sowohl im Sinne Abrahams Innensicht als auch bzgl. „äußerer“ Einflüsse. Bereits Sontag (1979) führt aus, wie Jungen von Kind auf bzgl. ihres Körpers eher auf Funktionalitätsentwicklung i.S.v. Training und Akzeptanz getrimmt werden, während der Körper des Mädchens ihr Kapital und ihre Projektionsfläche ist, ein Mittel zum Zweck. Während Männern körperliche Entwicklung zugestanden wird, hin zu einem Mann in den besten Jahren, ist bei Frauen das zu konservierende Körperideal früh erreicht – alles, was an körperlicher Entwick-

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lung nach Mitte 20 noch kommen könnte, ist Abstieg. Sie hat es zu verhindern durch den Kampf um bestenfalls Stillstand, nicht für Entwicklung. “Most of the physical qualities regarded as attractive in women deteriorate much earlier in life than those defined as ‚male’. … Actually, there are only a few years – late adolescence, early twenties – in which this look is physiologically natural, in which it can be had without touching-up and covering-up.” (Sontag 1979: 8)

Die Techniken des weiblichen Kampfes gegen das körperliche Alter(n) haben sich seit Sontag im Zeitalter der plastischen Chirurgie verfeinert, der Tenor nicht. Noch immer klingen die alten Hexenbilder in uns nach (vgl. Sontag 1979: 10), die insbesondere dem Wahrnehmen älterer Frauen-Körper als schön entgegen stehen und uns bspw. bei der Vorstellung einer Liebesbeziehung älterer Frau mit jüngerem Mann erschaudern bzw. zurückschrecken lassen (Sontag: to recoil). Solche Beziehungen werden assoziiert mit Ekel, Entrüstung, Empörung (disgust). Dieser gesamte spannende Komplex der Sexualität im Alter wäre als Grundlage Sozialer Arbeit in diese Betrachtung dringend mit ein zu beziehen. In ihrem Aufsatz „Körperverhältnisse. Die Beziehung zum Körper im Alter im Horizont der persönlichen Geschichte“ untersucht Abraham, wie Ältere ihr Verhältnis zu ihrem Körper und zur Bewegung gestalten. Abrahams Grundlage ist eine umfangreiche qualitativ-biografisch-narrative Untersuchung. Für die Geschlechterfrage ist dabei folgendes Resümee bedeutsam: „Ich halte es für mehr als nur zufällig, dass im Körperumgang des männlichen Biografen der aktive, hier stark kontrollierende und leistungsbezogene Modus dominiert, bei der Biografin jedoch neben dem aktiven Modus wesentlich deutlicher auch die Ebene des Erleidens und die Suche nach einem partnerschaftlichen Diskurs mit dem Körper zu erkennen ist. ... Der ‚Körper-Sinn’ für die vorgestellt weibliche Biografin ist flexibler, lebendiger und produktiver, ihr gelingt ... ein Austauschprozess mit dem Körper. Sie stellt sich seinen altersbedingten Herausforderungen, sie nutzt aber auch agil und kreativ den Körper als Medium des Erlebens, des Genusses und der Befriedigung seelischer Bedürfnisse und sie lässt sich etwas von ihrem Körper sagen.“ (Abraham 2009: 288)

Frauen haben nicht nur einen anderen Körper, sie sind auch anders Körper. Daher sind ältere Frauen nicht nur aufmerksamer für die Last körperlichen Alter(n)s, sondern durch (lebenslang) besseres Hinhören, Achtgeben und Rücksichtnehmen auch für die positiven Seiten ihres Körpers. Durch diese stärkere Betonung der Körperlichkeit von Frauen im Lebenslauf wie im Alter(n) drohen alte(rnde) Männerkörper, zumal in der psychosozialen Betrachtung sowie in der sozialarbeiterischen Praxis, vernachlässigt zu werden (vgl. Hammer 2007: 11 ff.).

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„Nicht nur in der Schule drohen die Jungen unter die Räder zu kommen, auch alte Männer werden mit ihren spezifischen Bedürfnissen oft übersehen. Vor dem Hintergrund, dass mehr Frauen in der Psychotherapie als Männer tätig sind, und der Tatsache, dass in Zukunft mehr Ärztinnen als Ärzte tätig sein werden, ist hierauf besonders zu achten.“ (Bertram von der Stein und Kretzer 2009: 323)

In lokalen Marburger Befragungen zeigt sich daher bspw., dass zwar oft selbst im kleinsten Ort noch Seniorinnengymnastik angeboten wird, die Männer aber etwas für sich vermissen, da sie an diesem typisch weiblich orientierten Bewegungsangebot in einer reinen Frauengruppe einfach nicht teilnehmen können (vgl. Universitätsstadt Marburg 2010). Ob dazu verstärkend die größere Scheu der Männer vor Körperlichkeit hinzu kommt, ist nicht belegt. 4.2

Geschlechtsspezifika der Gesundheit im Alter „Männer altern viel schneller als Frauen. Eine 55-jährige Frau hat 90% der Körperkraft, die sie mit 25 hatte. Beim Mann sind es nur noch 70%. Das Gefäßsystem eines 35-jährigen Mannes entspricht dem einer 50-jährigen Frau. Nur die Haut altert bei Frauen schneller: weil sie dünner ist, wird sie eher faltig. Frauen können den Alterungsprozess psychisch weniger gut akzeptieren als Männer.“ (Kneissler 2011)

Gesundheitsaspekte werden seitens der Sozialen Arbeit ebenso wenig als konzeptionell notwendige Ressource mit gedacht wie fehlende finanzielle Mittel zur Realisierung all der geforderten Aktivitäten. Vielmehr sind auch in dieser Hinsicht normierte Potentiale gefragt. Das Vorhandensein ausreichender gesundheitlicher Ressourcen zur Realisierung der Alterns-Potentiale wird implizit vorausgesetzt. Bei gesundheitlichem Nicht-Genügen droht die Abschiebung ins problematische Alternsfach, zusammen mit all jenen des vierten Alters, die dahinein ebenfalls weniger durch das rein kalendarische Alter gelangen als vielmehr durch das Scheitern an den Erfordernissen des Neuen Alter(n)s. Der Deutsche Alterssurvey weist darauf hin, wie zentral Gesundheit eine Grundlage gesellschaftlicher Teilhabe und gesellschaftlichen Engagements gerade im Alter ist (vgl. Wurm et al. 2010: 90). „Es spielen aber auch geschlechtsspezifische Formen des Umgangs mit Krankheiten eine Rolle. Männer achten weniger auf körperliche Anzeichen von Krankheiten, akzeptieren weniger, krank zu sein, gehen seltener zu Vorsorgeuntersuchungen und lassen sich seltener medizinisch behandeln (Oksuzyan et al. 2007: 98 f.).“ (Oesterreich und Schulze 2011: 13)

Der Gesundheitszustand entscheidet wesentlich mit über die Möglichkeiten, die gesellschaftlichen und letztlich sozialarbeiterischen Anforderungen an das gute

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Alter(n) zu erfüllen – sei individuell, aktiv, engagiert, selbstständig, erfolgreich etc. Alle diese Anforderungen sind vom Gesundheitszustand abhängig bzw. durch Krankheit und Gebrechen in Frage gestellt. Sowohl die objektive als auch die subjektive Gesundheitssituation sind zu berücksichtigen, analytisch jedoch nicht immer eindeutig abgrenzbar. „Dieses biopsychosoziale Gesundheitsmodell bezieht damit neben Krankheit auch die räumliche und soziale Umwelt sowie verhaltensbezogene und psychische Aspekte des Individuums mit ein. Hinzu kommt das subjektive Erleben... Mit steigendem Lebensalter kommt diesem erweiterten Gesundheitsverständnis eine wachsende Bedeutung zu.“ (Wurm et al. 2010: 92)

Über den Körper und Fragen seiner eventuellen Funktionsfähigkeit oder Behinderung hinaus spielen für Gesundheit im Alter vor allem Kontextfaktoren – wie kalendarisches Alter, Geschlecht, Bildung etc. – eine wichtige Rolle. Dies gilt sowohl für die objektive Seite, Erkrankungen und Mobilitätseinschränkungen, als auch für subjektive Gesundheitsbewertungen. Die Gesundheitssituation im Alter ist geschlechtspezifisch durch den Lebenslauf bedingt. Schon Jungen agieren sich körperlich stärker aus und auch junge Männer zeigen eine höhere Risikobereitschaft (bis hin zum Fahrverhalten). Raubbau an Körper und Gesundheit ist als normale männliche Verhaltensweise akzeptiert, führt partiell gar zu Anerkennung. Von Frauen wird gesellschaftlich gesundheitsbewussteres und -förderlicheres Verhalten erwartet (deutlich bspw. zum Wohl der Kinder in der Schwangerschaft und Stillzeit, qua jährlichen Kassenbriefs zur versäumten Krebsvorsorge, mittels flächendeckender Einladungen zur Mammographie) und durchschnittlich individuell auch praktiziert. Tendenziell leben Frauen eher gesünder als Männer (vgl. Oesterreich und Schulze 2011: 32 f.), z.B. bzgl. Alkohol- und Tabakkonsum, Ernährung und folglich Körpergewicht, Arztbesuchen und Vorsorgeteilnahme. Es zeigen sich Gesundheitsvorteile der Frauen beim Rauchen und insbesondere beim Nie-Gerauchthaben, die sich aber für jüngere Kohorten verringern (vgl. Wurm et al. 2010: 108). „Frauen hingegen pflegen einen Lebensstil, der ihnen ein langes Leben beschert. Sie ernähren sich gesünder, gehen zu Vorsorgeuntersuchungen, nehmen körperliche und seelische Probleme ernst und holen sich Hilfe, wenn sie welche brauchen. Das führt allerdings dazu, dass sich alte Frauen subjektiv oft kränker fühlen als sie es objektiv sind. Bei Männern ist es genau umgekehrt: Sie behaupten, sie hätten keine Beschwerden, sterben aber früher.“ (EMMA März/April 2001: 55)

Wurm et al. stellen in einer Übersicht die Prävalenz chronischer Erkrankungen nach Geschlecht, Bildung und Region dar. Bei körperlicher Funktionsfähigkeit, insbesondere im Bereich Mobilität, werden größere Einbußen der Frauen im Ver-

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gleich zu Männern festgestellt (vgl. Wurm et al. 2010: 102). Daraus ist zu ersehen, dass bei älteren Männern ein erhöhtes geschlechtsspezifisches Risiko zur Erkrankung an Diabetes besteht, bei älteren Frauen an Arthrose, Arthritis/Rheuma, Osteoporose und seelischen Erkrankungen (vgl. Wurm et al. 2010: 98). „Frauen aller Altersgruppen ab 40 Jahre referieren größere psychische Einschränkungen als Männer, wobei die Differenz bis ins hohe Alter ungefähr gleich bleibt... Die subjektiv eingeschätzte größere Hilfsbedürftigkeit alter Frauen korrespondiert mit ihrer Selbstwahrnehmung, sich kränker zu fühlen als Männer und sich auch psychisch weniger wohl zu fühlen.“ (Oesterreich und Schulze 2011: 39 u.44)

Im Bereich psychischer Altersgesundheit sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede zum Teil sehr deutlich. Allerdings wird dieser Aspekt der Alter(n)sbedingungen am ehesten in Theorie und Praxis Sozialer Arbeit berücksichtigt, so dass im Folgenden ein kurzer Überblick genügt. Längst Allgemeingut ist, dass alte Frauen häufiger an Demenz erkranken als alte Männer, wofür die Übersterblichkeit der Männer ein Grund ist. Doch unabhängig davon leiden sehr alte Frauen deutlich häufiger an Demenz als gleichaltrige Männer. „Demenzerkrankungen im hohen Alter finden sich vor allem bei den Frauen. Bei den über 80-Jährigen gibt es zwei- bis viermal so viel demenzkranke Frauen wir Männer (vgl. Böhm 2009: 42). Auch der Prozentsatz der Demenzkranken innerhalb der jeweiligen Altersgruppen ist bei den Frauen größer als bei den Männern.“ (Oesterreich und Schulze 2011, 29)

Der aktuelle Pflegereport der Barmer GEK zu Demenz verdeutlicht dazu für Deutschland drastisch, wie gravierend die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Prävalenz der Demenz sind und v.a. absehbar bleiben werden. Ausgegangen wird dort von derzeit 47 % altersdementer Männer und 67 % altersverwirrter Frauen. Gegenüber älteren Studien ist dies bereits eine Zunahme, weitere werden für die Zukunft prognostiziert. Die psychische Gesundheit im Alter lässt sich für den psychiatrischen Bereich neben der Demenz vor allem anhand der Ergebnisse zum geschlechtstypischen Vorkommen von Depression und Suizidalität im Alter darstellen.

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Abbildung 3:

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Geschlechtsspezifisches Vorkommen von Suizidalität im Alter (Kinzler/ Schreiber, 1997: 47)

Als nur einer der vielfältigen Gründe sei hier auf die im Beitrag von Fauser näher betrachtete Verwitwung verwiesen, die Frauen ungleich häufiger trifft. Viele andere Gründe aus dem gesamten Lebenslauf spielen mit hinein, unterschiedliche Bildungs-, Erwerbs- und Familienbiografien von Männern und Frauen; Fachliteratur steht ausreichend zur Verfügung. „Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind in den verschiedenen Facetten des subjektiven Wohlbefindens unterschiedlich stark ausgeprägt. Während Geschlechtsunterschiede in der Lebenszufriedenheit und in der positiven emotionalen Befindlichkeit in der Regel klein sind, berichten Frauen in stärkerem Maße von negativer Befindlichkeit (Nolen-Hoeksema und Rusting 1999; Tesch-Römer et al. 2008).“ (Tesch-Römer et al. 2010: 266) „Die Lebenszufriedenheit von Frauen ist insgesamt etwas höher als jene von Männern.“ (ebd: 272)

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„Während mit Blick auf Lebenszufriedenheit und positiven Affekt nur geringe Geschlechtsunterschiede festzustellen sind, bestehen ausgeprägte Unterschiede zwischen den Geschlechtern mit Blick auf negative Emotionen, deren Erleben von Frauen ungleich häufiger angegeben wird.“ (ebd: 276/277)

Eng verknüpft mit depressiven Erkrankungen ist die Suizidalität. Insbesondere im Alter sind es vor allem Männer, die sich das Leben nehmen, mit steigender Tendenz.

Abbildung 4:

Suizidhäufigkeit im Alter, nach Geschlecht getrennt (Zaudig in Kinzler/Schreiber, 1997).

Die Unterschiede in der objektiven Gesundheit älterer Frauen und Männer sind zum Teil sehr gravierend, wobei auch nicht immer klar ist, ob sie originär geschlechtsspezifisch bedingt sind oder bspw. sozioökonomisch. Anzuführen wären Suchterkrankungen, von denen ältere Frauen und Männer zum einen in unterschiedlichem Ausmaß betroffen sind, zum anderen durch geschlechtsspezifisch andere Süchte. Auch Gewalterfahrungen treffen die Geschlechter im körperlichgesundheitlichen Alter(n) in verschiedener Weise.

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„Männer werden zeit ihres Lebens häufiger Opfer von allgemeiner Gewaltkriminalität, Frauen dagegen häufiger von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigungen. Männer sind überwiegend auch häufiger Opfer von Raub und räuberischer Erpressung. Im Alter kehrt sich dies jedoch um: Alte Frauen sind häufiger Opfer von Raub und Erpressung. Hier stehen im Vordergrund Handtaschenraube.“ (Oesterreich und Schulze 2011: 71)

Sexueller Missbrauch und Vergewaltigungen sind derzeit bspw. im Pflegebereich dadurch besonders aktuell, dass geschichtlich bedingt Frauenjahrgänge mit Vergewaltigungserfahrungen im zweiten Weltkrieg pflegebedürftig werden. Dieses durch Pflege erneute Eindringen in ihre Intimsphäre lässt alte Verletzungen wieder aktuell werden. Die Geschlechtsspezifik körperlich-gesundheitlichen Alter(n)s wäre für Theorie und Praxis Sozialer Arbeit dringend weiter zu fokussieren. „Frauen bewerten ihre Gesundheit schlechter als Männer (Rosenmayr 2008, 14). Bei Befragungen klagen Frauen 50+ über eine signifikant höhere Zahl von Krankheiten als gleichaltrige Männer (2,12 versus 1,82). Auch nehmen Frauen im Alter häufiger ärztliche Behandlung wahr, zwei Drittel der geriatrischen PatientInnen sind Frauen (Pils 2008). Das liegt natürlich auch daran, dass ‚das Alter weiblich ist’, da die Frauen eine sechs Jahre längere Lebenserwartung haben. Die negative Bewertung der eigenen Gesundheit hat also nichts mit Mortalitätsrisiko zu tun. Vielmehr könnte es so sein, dass die körperliche Aufmerksamkeit von Frauen dazu führt, dass sie sich bei auftretenden Krankheitszuständen besser schonen bzw. frühzeitiger Hilfe anfordern und so gesünder leben und die Chance haben, länger zu leben.“ (Bertram von der Stein und Kretzer 2009: 261).

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Materielle Lage älterer Menschen im Geschlechtervergleich

Neben allen vorstehend dargelegten geschlechtsspezifischen Alter(n)sbedingungen ist insbesondere die Kenntnis der materiellen Lage der AdressatInnen eine wichtige Voraussetzung gelingender Sozialer (Alten-)Arbeit. Nach Jahren der Dominanz des jungen, fitten, kompetenten Alter(n)sbildes in der Öffentlichkeit wird mit Blick auf die Zukunft in den letzten Jahren eine neue Altersarmutsdiskussion geführt, quasi als Fortschreibung der zunehmenden Prekarisierung der Arbeitswelt. Zum einen kann dazu auf die heutige gesellschaftliche Lage der Älteren sowie zugehörige Praxis geschaut werden, zum anderen eine „Fortschreibung“ der Geschlechterverhältnisse wie bspw. dargestellt im ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung versucht werden – was die Notwendigkeit der Diskussion von Alters- vs. Kohorteneffekten bedingt/impliziert.

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Einkommen und Vermögen heutiger Älterer

Zur Beschreibung der finanziellen Situation heute Älterer liegt als erstes die vergleichende Betrachtung der Renten nahe als einem zentralen Baustein des täglichen Ein- und Auskommens in der nachberuflichen Lebensphase. „So bezogen 2008 männliche westdeutsche Rentenbezieher aus der GRV eine durchschnittliche eigenständige Versichertenrente von 1.034 Euro pro Monat, westdeutsche Rentenbezieherinnen kamen dagegen auf 498 Euro und damit 48 % der Männerrenten. Dieses Verhältnis von (eigenständigen) Frauen- und Männerrenten hat sich in Westdeutschland seit den 1960er Jahren kaum verändert; allerdings ist der Anteil der Frauen mit eigener Rente gestiegen (Klammer 2005: 312, 349). In Ostdeutschland lagen die entsprechenden Männerrenten bei 994 Euro, die Frauen erreichten mit 672 Euro zwar aufgrund ihrer meist kontinuierlichen Erwerbsarbeit während der DDR-Zeit deutlich höhere Renten verglichen mit jenen westdeutscher Frauen, aber auch nur 68 % der ostdeutschen Männerrenten (Bundesregierung 2009: 12, umfasst alle Versichertenrenten in der GRV).“ (Sachverständigenkommission 2010: 178/179)

„Die Altersversorgung – monetäre Bilanz eines Männer- und Frauenlebens?“ ist das entsprechende Kapitel des Gleichstellungsberichts der Bundesregierung passend betitelt. Die heutige berufliche und damit Einkommenssituation unterscheidet sich erheblich zwischen Frauen und Männern – angefangen vom Lohnniveau bis hin zu Erwerbsunterbrechungen und Beschäftigungsarten. Gerade riskante Formen wie Minijob, Teilzeit u.ä. weisen nach wie vor hohe geschlechtsspezifische Unterschiede zu Lasten der Frauen auf. All dies bedingt bzw. begrenzt direkt die Möglichkeiten der Altersvorsorge. „Aufgrund der Rentenformel, die sich in Deutschland besonders stark an der Zahl der Erwerbsjahre (Zeitfaktor) und der Höhe des Erwerbseinkommens (Einkommensfaktor) orientiert, setzen sich die beiden Faktoren, durch die sich die Erwerbsverläufe von Frauen und Männern in Deutschland besonders unterscheiden (vg. Kapitel 5 Erwerbsleben), direkt ins Rentenalter fort. Während Erwerbsunterbrechungen und Nichterwerbstätigkeit von Frauen, aber auch Zeiten mit nicht versicherungspflichtiger Erwerbsarbeit (z.B. Minijob) über den Zeitfaktor den Aufbau von Rentenansprüchen beeinträchtigen, dämpfen Teilzeit, niedrige Frauenlöhne und ausgebliebene Karriereentwicklungen von Frauen über den Einkommensfaktor das erzielbare Renteneinkommen.“ (ebd: 179)

Zur Beurteilung der gesamten materiellen Lage Älterer sind des Weiteren die betrieblichen Altersrenten zu berücksichtigen.

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„Durch die betrieblichen Rentenansprüche der sogenannten zweiten Säule werden die Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern im Alter in Deutschland noch weiter verstärkt, da diese noch stärker als die Renten der GRV an die Dauer der Erwerbsarbeit und die Höhe des erzielten Einkommens anknüpfen und zudem auf typische Männerbranchen und größere Betriebe, in denen Frauen unterrepräsentiert sind, konzentriert sind.“ (ebd: 180)

Neben den eigenen spielen jedoch auch die Rentenansprüche des Ehepartners sowie die Witwenrente für das Haushaltseinkommen eine wichtige Rolle. „Frauen, die – nach dem Tod ihres Ehemannes – eine eigene Rente mit einer Hinterbliebenenrente kumulieren, erzielen die höchsten Renteneinkommen und erreichen etwa eine Renteneinkommen, das mit dem von Männern vergleichbar ist (Bundesregierung 2009:50 f.).“ (ebd: 181)

Dabei zeigen sich deutliche Ost-West-Unterschiede, insbesondere hinsichtlich einer großen Einkommensvarianz im Westen und dortigen häufigen Ausgleichs geringer Fraueneinkommen durch höhere Einkünfte der Ehemänner. „Während der rechtliche Status der Ehe im Westen also sehr viel deutlicher als im Osten über die unterschiedlich starke innerfamiliäre Aufgabenverteilung die Versorgungssituation beider Partner im Alter prägt, ist als Gemeinsamkeit zwischen Westund Ostdeutschland hervor zu heben, dass unter den drei Gruppen von alleinlebenden Frauen im Alter – verwitweten, geschiedenen und ledigen Frauen – die geschiedenen am schlechtsten gestellt sind.“ (ebd: 183)

Zu bedenken ist, dass ihre Zahl, insbesondere auch nach langjähriger Ehedauer, in den letzten Jahren stetig gestiegen ist und weiter ansteigt. Die Betrachtung des Haushalts- statt des Individualeinkommens gibt so häufig den realistischsten Eindruck. „Der Wert variiert erheblich zwischen den Altersgruppen... Stärker noch differieren die Werte zwischen Ost und West, zwischen Bildungsschichten und Geschlechtern... die Geschlechterdifferenzen sind erheblich. Die mittleren Einkommen der Männer sind mit etwa 1.800 Euro deutlich höher als die der Frauen mit knapp 1.600 Euro. Da im DEAS ein haushaltbezogenes Einkommenskonzept verwendet wird, stellt sich die Frage nach dem Ursprung des Abstandes. Er ist vor allem auf die Differenz zwischen Alleinlebenden zurückzuführen, die im Mittel rund 450 Euro beträgt. Jedoch findet sich auch eine Differenz von etwas 100 Euro bei anderen Haushaltskonstellationen.“ (Motel-Klingebiel et. al. 2010: 70)

Ältere Frauen stehen auch über die reine Rente im Schnitt finanziell schlechter dar als ältere Männer, bedingt insbesondere durch ihre Situation als Alleinste-

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hende – ein kleiner Haushalt hat im Verhältnis stets höhere Allgemeinkosten als ein größerer, in dem vieles geteilt werden kann. Doch gilt diese Geschlechterdifferenz auch unabhängig vom Faktor Haushaltsform. Dass Frauen weniger Vermögen besitzen als Männer (vgl. Oesterreich und Schulze 2011: 25/26), ist für den Teil der aus Lohnquellen gespeisten Vermögensbildung nicht weiter verwunderlich. Vielmehr ist es besonders hervor zu heben, dass dies nicht durchgängig für alle Vermögensarten gilt. Dazu ist neben dem Geldvermögen der Besitz an Immobilien in den Blick zu nehmen. „Im Vergleich zum Geldvermögen variiert der Immobilienbesitz nicht nur weniger stark nach Alter, sondern auch zwischen den Geschlechtern: 68 Prozent der Männer und 62 Prozent der Frauen verfügen über Immobilien.“ (ebd: 72)

Weiter wird darauf hingewiesen, dass staatlich geförderte private Vorsorgeformen zwischen den Geschlechtern nur geringfügige Unterschiede aufweisen. So sind für die Frage nach den geschlechtsspezifischen materiellen Alter(n)sbedingungen andere Bereiche bedeutsamer, insbesondere das Geldsparen. „Deutliche Geschlechterdifferenzen unter den Sparenden zeigen sich mit zunehmendem Alter, wobei in allen Altersgruppen Männer häufiger und höhere Beiträge sparen als Frauen.“ (ebd: 73)

Aus all diesen Charakteristika lässt sich ein klar geschlechtsspezifisch differenzierendes Bild der materiellen Lage Älterer ableiten. Frauen verfügen im Alter über ein geringeres regelmäßiges eigenes Renten-Einkommen, erfahren jedoch eine gewisse Kompensation durch Witwenrenten und Immobilienbesitz – allerdings mit kumulativer Benachteiligung in Ostdeutschland alternder Frauen. Neben den objektiven Faktoren ihrer materiellen Lage beziehen die Autorinnen und Autoren des Surveys auch die subjektive Bewertung und Einstellungen mit ein. Insgesamt nimmt im neuen Jahrtausend die Bewertung des Lebensstandards ab. „Männer bewerten ihren Lebensstandard besser als Frauen, wobei der Unterschied in der ältesten Altersgruppe deutlich ausgeprägt ist.“ (ebd: 77)

Die u.a. auf oben genannten geschlechtsspezifischen Unterschieden basierende Zufriedenheit sinkt weiter entlang der Merkmale Bildung sowie kalendarisches Alter, wobei bei beiden die Frauen auf der Seite der Negativposten stehen – sie verfügen über eine geringere formale Bildung, was geringerem Einkommen entspricht, und werden zudem älter, so dass sich die im Lebensverlauf sinkende Zufriedenheit stärker bemerkbar machen kann.

Geschlechtsspezifika Sozialer (Alten-)Arbeit

5.2

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Ausblick Altersarmut?

Eine besondere Zuspitzung erfährt die materielle Lage im Alter, sobald von Armut gesprochen werden muss. Wer arm alt ist, kann gängigen Alter(n)sbildern gemäß nicht gut und erfolgreich altern, den Ansprüchen Sozialer (Alten-)Arbeit nicht entsprechen. „Armut ist ein Missstand, der als Mangel an Lebens- und Verwirklichungschancen sowie gesellschaftlicher Integration interpretiert wird.“ (ebd: 64/65)

Altersarmut ist neben (chronischer) Krankheit und Hochaltrigkeit eine Versagensform, Ausdruck des Scheiterns. Wie hohes und krankes Alter, ist auch armes Altsein wirkliches Altsein, nicht mehr zu leugnen. Wie durch (chronische) Krankheit kann man durch Armut endgültig nicht mehr mithalten im Kampf zur Erfüllung der Leistungsnormen des dritten Alters. Selbst für ein viel gefordertes bürgerschaftliches Engagement fehlen so oft die Mittel und Möglichkeiten, da dabei sowohl reale als auch indirekte Kosten wie adäquate Kleidung, ein begleitender Besuch in der Gastronomie u.ä. anfallen. Ebenso hat der Kontakt zu Kindern und Verwandten häufig eine monetäre Seite, und sei es allein jene der Mobilitätskosten und Mitbringsel, die erwartete legendäre Großzügigkeit der Großeltern. Vergleichbares gilt im Kontext mancher Angebote Sozialer (Alten-)Arbeit, die ebenfalls mit Verzehr, äußerer Erscheinung, Ausstattung etc. verknüpft sind – bis hin zu der Erwartung, Kontakte auch im privaten und eben in diesem Fall armutsbedingt nicht präsentablen Rahmen der eigenen Wohnung fort zu setzen. Armut grenzt aus. „Für Deutschland errechnen Kumpmann et al. (2010: 10) für Frauen im Rentenalter (65+) gegenwärtig eine Armutsrisikoquote von 13,5 % im Westen und 15,9 % im Osten, für Männer 11,4 % im Westen und 10,3 % im Osten (Zahlen für 2007, Datenquelle SOEP). Die schlechtere finanzielle Versorgung und größere Bedürftigkeit zumindest eines Teils der Frauen im Alter wird auch daraus deutlich, dass nach den Daten des 3. Armuts- und Reichtumsberichtes der Regierung 2,6 % der Frauen ab 65 Jahren, aber nur 1,8 % der Männer aufgrund von Bedürftigkeit auf (ergänzende) Leistungen der ‚Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung’ angewiesen waren (BMAS 2008b: 43). ... Armut im Alter bedroht insofern heute vor allem solche Frauen, die nicht (mehr) dem Lebensmodell Ehe folgen und hierüber abgesichert sind.“ (Sachverständigenkommission 2010: 184)

Diese Personengruppe wird, mit dem Erodieren des klassischen Ehe- und Familienmodells, zunehmen – wenn auch nicht außer acht gelassen werden darf, dass kurzzeitig für ältere Frauen eine gegenläufige Verbesserung durch einen geringe-

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ren Verwitwungsgrad und damit höheren Verheiratungsanteil eintritt (u.a. durch Überwindung der Kriegsjahrgänge, s.v.). Die materielle Situation im Alter wird, wie oben gezeigt, insbesondere durch die Erwerbssituation im Lebenslauf geprägt, gerade in Deutschland. Daher ist es für Prognosen zukünftiger finanzieller Alterssituationen im Geschlechtervergleich hilfreich, das heutige Erwerbsleben von Männern und Frauen zu vergleichen. „Frauen unterbrechen immer noch häufiger und länger ihre Erwerbstätigkeit aus familiären Gründen als Männer und steigen weniger häufig in Führungspositionen auf.“ (ebd: 89)

Damit ist eindeutig von einer weiterhin niedrigeren gesetzlichen wie auch betrieblichen Altersrente zukünftiger Frauengenerationen aus zu gehen. Ein wenig kommt es der zukünftigen Rentenentwicklung von Frauen immerhin zugute, dass ein Großteil der ehedem berufstätigen Mütter nach der Geburt des/der Kinder zurückkehrt an den Arbeitsplatz und zudem die älteren Arbeitnehmerinnen dort stärker vertreten sind (vgl. Sachverständigenkommission 2010: 91). Neben Unterbrechungen für Erziehung und Pflege treten für beide Geschlechter jene durch Arbeitslosigkeit. „Über den Lebensverlauf werden Männer im Durchschnitt häufiger als Frauen arbeitslos, Frauen dagegen sind, wenn sie erst einmal arbeitslos geworden sind, länger arbeitslos und finden schlechter in eine Beschäftigungsverhältnis zurück.“ (ebd: 103)

So ist es erfreulich, dass die Erwerbsquote der Frauen steigt. Problematisch ist jedoch zunehmend die Art ihrer Beschäftigung, in Minijobs und Teilzeit, nach wie vor deutlich unterrepräsentiert in Führungspositionen. „Die erhöhte Frauenerwerbstätigkeit ist also mit einer Umverteilung der Erwerbsarbeit unter Frauen einher gegangen. So hat sich das auf Frauen entfallende gesellschaftliche Volumen an Erwerbsstunden kaum verändert, es verteilt sich heute lediglich auf mehr (weibliche) Schultern.“ (ebd: 91)

Mit steigendem Lebensalter steigt auch die Teilzeitquote der Frauen, ein deutsches Spezifikum, was zu einer sich weiter öffnenden Schere zwischen männlichem und weiblichem Erwerbsumfang führt. „Während die undiskriminierte frei gewählte Teilzeitarbeit von z.B. 30 Wochenstunden vielfach dem Bedürfnis der Beschäftigten entspricht und sich im Lebensverlauf als biografische Phase mit zwar verringertem Einkommen, aber insgesamt unproble-

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matisch für die weitere Erwerbskarriere und Rente erweisen kann, sind Minijobs und unfreiwillige Teilzeit häufig prekär.“ (ebd: 15)

Hinzu kommt die Einkommensdifferenz, die von der Stadt zum Land zunimmt ebenso wie mit zunehmendem Alter und der Zahl der Berufsjahre (vgl. Sachverständigenkommission 2010: 99). Diese Lohndifferenz steigt mit zunehmendem Alter. „Frauen haben ein mehr als doppelt so hohes Risiko wie Männer, niedrig entlohnt zu werden. Der Anteil der niedrig bezahlten Frauen lag 2007 bei 29,3 % gegenüber 13,8 % bei den Männern.“ (ebd: 121) „Da schlechte Einkommensaussichten zu einer niedrigeren Erwerbsneigung und längeren Erwerbsunterbrechung führen, ist die Lohnlücke auch gleichzeitig ein fortbestehender (Fehl-)Anreiz für die Erwerbsbeteiligung von Frauen. Somit festigt Entgeltungleichheit die geschlechtsspezifische Verantwortungsteilung in Partnerschaften. Sie stellt einen Risikofaktor für die gesellschaftliche Modernisierung ebenso wie für die Armutsprävention dar (BMFSFJ 2009d).“ (ebd: 119)

Männer werden zukünftig ebenfalls stärker von prekärer Beschäftigung und Berufsunterbrechungen betroffen sein – insbesondere konjunkturell bedingt durch Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Leiharbeit und Jobwechsel. Zudem wirken Unterbrechungen geschlechtsspezifisch unterschiedlich. „Beblo und Wolf, die eine Reihe von Studien zu den Auswirkungen von Erwerbsunterbrechungen vorgelegt haben (vgl. z.B. Beblo/Wolf 2000: 202a, b 2003,) ermittelten im Geschlechtervergleich, dass die Auswirkungen von Arbeitslosigkeitsphasen auf den weiteren Einkommensverlauf bei Männern stärker seien als bei Frauen. Umgekehrt sei es dagegen bei Elternzeitphasen.“ (Sachverständigenkommission 1. GStB 2010: 184)

Für eine Prognose sind hier aufgeführte Fakten eine dünne Basis. Betrachtet werden allein die ganz jungen Alten, also keine große und schon gar nicht die Gesamtgruppe der nicht mehr Erwerbstätigen. Frauen „profitieren“ aufgrund der nach wie vor geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der privaten Care-Arbeit – Erziehung, Pflege – am ehesten von den leichten Verbesserungen der Anrechung dieser im Rentenrecht. Zudem gibt es in Ansätzen, zumal im Westteil Deutschlands, Anzeichen für einen Anstieg der Quote besser qualifizierter und gut beschäftigter Frauen. Allerdings gehen ihre materiellen Verbesserungen von einem niedrigeren Niveau aus. Armut ist für die aktuellen Rentenjahrgänge ein zunehmend wichtiges Frauenthema, in naher Zukunft aber immer stärker eines, was beide Geschlechter trifft.

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„Insgesamt ist für die Zukunft mit einem deutlichen Anstieg der Altersarmut zu rechnen (Kumpmann et al. 201; Leiber 2009; Bäcker 2008). Bei einer Berechnung auf Haushaltsbasis ermitteln Kumpmann et al. (2010) dabei allerdings für Frauen einen deutlich geringeren Anstieg des Armutsrisikos als für Männer. Sie rechnen für 2023 mit einer Armutsrisikoquote von 14,1 % unter Frauen der Altersklasse 65 bis 70 Jahre gegenüber 19 % bei Männern derselben Altersklasse. … Bemerkenswert ist vor allem die sehr starke Zunahme des Anteils der Personen unter der Armutsschwelle unter den ostdeutschen Männern.“ (Sachverständigenkommission 2010: 184)

Das Armutsrisiko steigt also, in der Summe, vor allem bei Männern, die jedoch als Gesamtgruppe auf einem ganz anderen Niveau starten als die Frauen. Dennoch ist der Anstieg und v.a. die stärkere Ausdifferenzierung der AltersArmuts-Population ernst zu nehmen. Nicht umsonst ist das Thema Mindestlohn zum Glück mittlerweile zumindest punktuell mit der Frage sich aus aktuellen Erwerbseinkommen entwickelnder Renteneinkünfte gekoppelt. So wird die aktuelle Lebenssituation der 40- bis 85-Jährigen folgendermaßen zusammengefasst: „Die Einkommenssituation der Ruheständler hat sich zwar seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts stark verbessert, aber die Armutsquoten beispielsweise alleinstehender älterer Frauen sind weiterhin überdurchschnittlich hoch (Grabka und Krause 2005; Strengmann-Kuhn 2008) und die aktuellen Daten lassen es kaum zu, von einer Fortsetzung des für die Älteren günstigen Trends zu sprechen. Wegen sinkender Sicherungsniveaus der gesetzlichen Rentenversicherung und sich wandelnder Lebensläufe sind eher sinkende Einkommensniveaus und erhöhte Altersarmutsrisiken zu erwarten (Geyer und Steiner 2010).“ (Motel-Klingebiel et. al. 2010: 66)

Es stellt sich die Frage, was dies für Soziale (Alten-)Arbeit heißt. Heute und auf absehbare Zeit in die Zukunft ist für Fragen der Teilhabe und bspw. Inanspruchnahme von Seniorinnen- und Seniorenangeboten im Bildungs- wie im Engagementbereich die Geschlechterdifferenz zentral bedeutsam. Theoretisch ist dies den Fachkräften Sozialer Altenarbeit sicher bewusst, in der Umsetzung hapert es aber. Nach wie vor sind gerade viele Bildungsangebote rein mittelschichtorientiert, angefangen von ihrer Ansiedlung im Stadt- oder Gemeindekern statt in jenen Vierteln, in denen die Wohnungen günstiger sind bis hin zur thematischen und gestalterischen Umsetzung. Ein Sprachkurs ist spannend für jene, die die Mittel zum Reisen besitzen, ein PC- oder Handy-Kurs für die, die überhaupt über eine solche Ausstattung verfügen. Feinfühlig aufgezogen, bieten die seit 20 Jahren aufgekommenen Erzählcafés und ähnliche Projekte des Erfahrungswissens gute Brücken, vorausgesetzt, die Betreiberinnen sind entsprechend qualifiziert. Eine ähnliche Chance bieten Projekte gegenseitiger Unterstützung, Hilfsdienste etc., wenn sie sensibel angegangen werden. Weniger gilt diese Chance zum Einbezug ärmerer Älterer hingegen beispielsweise bei der nach wie vor aktuellen

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Diskussion um gemeinschaftliche Wohnprojekte, da hier implizit stets vom Vorhandensein ausreichender finanzieller Eigenmittel ausgegangen wird – und daher insbesondere bei den Front-Akteurinnen eine überdurchschnittliche Männerquote zu beobachten ist. Literatur Abraham, Anke (2002): Weibliche Lebenslagen im Spiegel der Körperlichkeit. In: Hammer, Veronika/Lutz, Ronald: Weibliche Lebenslagen und soziale Benachteiligung. Theoretische Ansätze und empirische Beispiele. Frankfurt a.M./New York Verlag, 266-287. Abraham, Anke (2009): Körperverhältnisse. Die Beziehung zum Körper im Alter im Horizont der persönlichen Geschichte. In: Der alternde Körper und wir. Psychotherapie im Alter 3, 6. Jg: 279-302. Backes, Gertrud M. (2005): Alter(n) und Geschlecht: ein Thema mit Zukunft. In: Pasero, Ursula/Backes, Gertrud M./Schroeter, Klaus R.: Alter und Altern. Politik und Zeitgeschichte (ApuZ) 49-50/2005: 31-38. Backes, Getrud M. (2007): Geschlechter – Lebenslagen – Altern. In: Pasero, Ursula/ Backes, Gertrud M./Schroeter, Klaus R.: Altern in Gesellschaft. Ageing – Diversity – Inclusion. Wiesbaden, 151-183. Beauvoir, Simone de (1977) : Das Alter. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Verlag. BMFSFJ( 2005): Gender Datenreport. Kommentierter Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland. BMFSFJ (2010): Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009 – Zivilgesellschaft, soziales Kapital und freiwilliges Engagement in Deutschland 1999-2004-2009. Brooks, Richard (2009): Cochrane Kira in the guardian 11th Januar 2011 zum ageismProzess der Miriam O’Reilly. The Sunday Times 19th July 2009. Dyk, Silke van/Lessenich, Stephan Hg. (2009): Die Jungen Alten. Analysen einer Sozialfigur. Frankfurt a.M. EMMA, März/April 2001. Engstler, Heribert/Tesch-Römer Clemens (2010): Lebensformen und Partnerschaft. In: Motel-Klingebiel, Andreas/Wurm, Susanne/Tesch-Römer, Clemens: Altern im Wandel. Befunde des Deutschen Alterssurveys (DEAS). Stuttgart, 193-187. Gildemeister, Regine (2008): Was wird aus der Geschlechterdifferenz im Alter? Über die Angleichung der Lebensformen und das Ringen um biografische Kontinuität. In: Buchen, Sylvia/Maier, Maja S.: Älterwerden neu denken. Interdisziplinäre Perspektiven auf den demografischen Wandel. Wiesbaden, 197-215. Graefe, Stefanie (2010): Altersidentität. Zum theoretischen und empirischen Gebrauchswert einer prekären Kategorie. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. 19. Jg: 34-51. Hammer, Eckhard (2007): Männer altern anders. Eine Gebrauchsanweisung. Freiburg i.Br.. Hartung, Heike (2005): Zwischen Verfalls- und Erfolgsgeschichte. Zwiespältige Wahrnehmungen des Alter(n)s. In: Hartung, Heike: Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s. Bielefeld, 7-18.

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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1:

Abbildung 2:

Abbildung 3: Abbildung 4:

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Lebensereignisse im Alter unter geschlechtsspezifischer Perspektive Cornelia Fauser

„Alter(n) bewegt“ – es bewegt die Gemüter. Nicht nur die der Gesellschaft, der Akteurinnen und Akteure aus Politik und Wirtschaft, die sich aufgrund der demografischen Entwicklung dieser Lebensphase annehmen, sondern vor allem die der alternden und alten Menschen selbst und ihrer unmittelbaren Umgebung. Diese Lebensphase ist geprägt von Umständen und Lebensereignissen, die es nötig machen, sich immer wieder umzuorientieren. Oder wie es die damals 86jährige Historikerin Gerda Lerner (2006) im Gespräch mit der Zeitschrift L`HOMME formulierte: „Ich finde, das Altern ist eine Serie von neuen Ansprüchen und Anforderungen, die das Leben einem vorlegt. Es ist nicht ein Schritt, sondern ein langsamer Prozess, der in vielerlei Hinsicht schwieriger ist als alles, was vorher kam. […] Im Alter muss man sich ständig neuen Umständen anpassen: wenn der Körper nicht mehr richtig funktioniert; wenn alte Freundinnen und Freunde wegziehen oder sterben; wenn man in eine kleinere Wohnung umziehen muss; wenn man Beschäftigungen oder Interessen, die man geliebt und geschätzt hat, aufgeben muss. Dann braucht man mehr Anpassungsvermögen als je zuvor im Leben. […] Es gibt so viele Arten des Altwerdens wie es Menschen gibt. Man altert so, wie man gelebt hat. […] Da gibt es also keine einzig gültige Lösung. Das Altern ist ein Tanz auf unebener Erde, den man mit geschwächten Gliedern unternimmt, in dem man Mal diese, Mal jene Schritte versucht, und in dem man doch ab und zu in Schwung kommt und einfach das Tanzen erlebt“ (Lerner 2006: 95 f.).

Hellmuth Karasek (2007) widmet sich in seinem Buch „Süßer Vogel Jugend oder Der Abend wirft längere Schatten“ seiner ganz eigenen Auffassung vom Alter(n): „Ich habe inzwischen gelernt, dass Kinder und Alte die gleichen Schwierigkeiten mit dem Schuhezubinden haben. Für beide wurde der Klettverschluss erfunden. Und der Reißverschluss. Kinder sind unmündig. Sobald ich mir die Schuhe nicht mehr alleine zubinden kann, möchte ich nicht mehr leben. Wir werden sehen. Ich habe so was Ähnliches schon oft gesagt und wollte dann doch leben, weiterleben“ (ebd.: 33).

G. Kleiner (Hrsg.), Alter(n) bewegt, DOI 10.1007/978-3-531-94258-2_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

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„[…] die Perspektiven verändern sich wie der halb zum Boden gesenkte Blick. Du musst dir klarmachen, dass es besser nicht mehr wird. Und du musst dir auch deutlich machen, dass du Trost nur aus dem eher niedrigen Gefühl der Befriedigung darüber ziehst, dass es anderen in deinem Alter noch schlechter geht“ (ebd.: 58). „Man sollte sich mit seinen Schwächen, wenn man sie nicht mehr ändern kann, befriedet und besänftigt abfinden“ (ebd.: 81).

Alter(n) hat viele Facetten. Petra Engel hat in ihrer Einführung zum Thema Alter(n) und Geschlecht bereits die Relevanz der Geschlechtszugehörigkeit für die Lebenslage und Lebensform im Alter aufgeführt, indem sie Geschlechtsunterschiede für vier wesentliche Bereiche, (1) Alternsbilder, (2) soziale Einbindung, (3) Körper und Gesundheit und (4) materielle Lage, herausgestellt hat. Dieser Beitrag behandelt – aufbauend auf dieser Auseinandersetzung – den Umgang mit bedeutsamen Lebensereignissen im Alter unter geschlechtspezifischer Perspektive. Den Ausgangspunkt bildet hierbei das Lebenslagekonzept1, welches die Annahme vertritt, dass eine Beziehung zwischen „Verhältnis“ und „Verhalten“ besteht (vgl. Amann 2000). Lebenslagen sind somit Ausgangsbedingung für menschliche Handlungen, aber auch Produkt dieses Handels. Damit sind für ältere und alte Menschen nicht nur biografische Erfahrungen, sondern vor allem auch schichten- und geschlechtsspezifische Ausprägungen dieser Erfahrungen bedeutsam. Diese manifestieren sich in sogenannten Spielräumen, insbesondere bei bedeutsamen Lebensereignissen, aber auch in der Fähigkeit zur subjektiven Ausgestaltung objektiver Bedingungen (vgl. Clemens 2004). Lebensformen beschreiben Beziehungskonstellationen innerhalb von Lebenslagen, „die sich im Lebenslauf verändern, wechselnde Personen und Personengruppen einbeziehen und durch gesellschaftliche Bereiche wie Familie, Berufswelt, Pflege, freiwilligen Arbeit etc. inhaltlich konstituiert werden“ (Amann 2004: 33).

Der Kernpunkt von Lebensformen ist die Vorstellung, dass wichtige soziale Beziehungen innerhalb bestimmter Lebenslagen vorliegen, die von einzelnen Personen ausgehen. Lebenslagen und Lebensformen sind daher nicht identisch. Lebensformen ergänzen das Konzept der Lebenslage um den Aspekt sozialer Beziehungen als Ressource im Alter, über welche Männer und Frauen in unterschiedlicher Weise verfügen und zurückgreifen (vgl. Amann 2004). Die Betrachtung der Lebenslage und der Lebensform im Alter zeigte, dass es Unterschiede für Frauen und Männer gibt. Aus der Analyse kann zum einen gefolgert werden, dass es Lebensereignisse im Alter gibt, die mit der Ge1

Hierzu sei auf den Beitrag von Gabriele Kleiner „Alter(n) zwischen Partizipation und sozialer Ungleichheit“ verwiesen, in welchem das Konzept der Lebenslage näher beschrieben wird.

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schlechtszugehörigkeit korrelieren. Zum anderen zeigt sich, dass sich Männer und Frauen in der Ressourcen- und Risikolage im Alter unterscheiden, was möglicherweise den Umgang mit bedeutsamen Lebensereignissen bzw. die individuellen Handlungsspielräume determiniert. 1

Doing Gender

In der englischen Sprache ist es möglich, zwischen den einzelnen Aspekten, die das Geschlecht bzw. die Geschlechtszugehörigkeit mit sich bringt, zu trennen: Während sich der Begriff „sex“ auf biologische Merkmale bezieht, und sich beispielsweise auf das Vorhandensein von XX- oder XY-Chromosomen beschränkt, bezieht sich der Begriff „gender“ auf sozial definierte und gesellschaftlich konstruierte Merkmale der Geschlechtszugehörigkeit. „Gender“ beschreibt die Geschlechterrollen und somit die geschlechtstypischen Verhaltensvorschriften, Verhaltensweisen und Stereotype (vgl. Baltes u. a. 1996a). Die Lebenslage des alten und alternden Menschen ist immer auch ein Produkt seiner weiblichen oder männlichen Sozialisation sowie seiner Bildung, seiner Schicht-, Religionsund ethnischen Zugehörigkeit, die sich im Alter fortführt, sogar zuspitzt oder verfestigt (vgl. Gognalons-Nicolet u. a. 1997). Lebenslaufbezogene Entwicklungstheorien folgen der Annahme, dass der Mensch über das gesamte Leben entwicklungsfähig ist. Erleben und Verhalten sind daher nicht nur als Produkt der Vergangenheit zu sehen, sondern erfahren auch im Alter Veränderung und damit Entwicklung (vgl. Greve 2005/Baltes 1979). Nach Smith/Jopp (2005) gibt es im Wesentlichen drei Theorierichtungen, die Erklärungsversuche für das Entstehen von geschlechtsspezifischen Eigenschaften und Verhaltensweisen bieten. Das Zustandekommen dieser Theorien wird durch die im Mittelpunkt stehenden Faktoren, wie biologische, soziostrukturelle oder psychologische, bestimmt. Theorien, die sich überwiegend an der Biologie orientieren, gehen primär auf die Bedeutung genetischer und hormoneller Unterschiede ein. Beispielsweise wird Männern gemäß der Evolutionstheorie eine höhere Aggressivität zugesprochen, weil sie dafür verantwortlich waren, die Familie zu schützen, und so den Fortbestand der Familie sichern konnten. Nach biologisch orientierten Theorien resultieren geschlechtsspezifische Verhaltensweisen aus Selektionsprozessen. Soziologisch orientierte Theorien sehen die Entwicklung geschlechtsspezifischer Persönlichkeitsprofile in der Verteilung von Erwerbs- und Familienarbeit und daraus resultierenden geschlechtsspezifischen Handlungsmöglichkeiten begründet. Psychologische Theorien gehen primär davon aus, dass geschlechtstypisches Verhalten erlernt ist und dass es im Zuge der Sozialisation zu der Entwicklung von Geschlechterrollen kommt. Ob

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wir als Mann oder Frau geboren werden, hat Konsequenzen, denn je nachdem, welchem Geschlecht wir angehören, hat es Auswirkungen darauf, wie wir uns erleben und wie andere mit uns umgehen. Frauen und Männer treffen im Verlauf ihres Lebens auf unterschiedlichste Bedingungen. Dieser Sozialisationsprozess führt unter anderem zu geschlechtstypischem Verhalten und Erleben. Dabei wird das Individuum in bestehende Rollensysteme einbezogen, wodurch der Mensch auch seine Geschlechterrolle erlernt (vgl. Niederfranke 1999). „Bei der Außenpräsentation des Selbst und den Aushandlungsprozessen zwischen den Geschlechtern sind vielfältige unbewusste und ‚geheimgehaltene‘ Mechanismen wirksam, die gleichzeitig auch strukturbedeutsam sind“ (Bührmann/Diezinger/MetzGöckel 2007: 140).

Die Sicht des „doing gender“ ist „[v]erknüpft mit dem Verständnis, von Geschlecht als einer sozialen Konstruktion, der keine substanziellen oder generellen Eigenschaften zukommen, die ausschließlich auf die Geschlechtszugehörigkeit zurückgeführt werden können. Geschlechtersozialisation besteht dann darin, dass Jungen und Mädchen ein Regelsystem erwerben, mit dessen Hilfe sie lernen, sich in den vielfältigen Interaktionen und sozialen Situationen als Junge oder Mädchen darzustellen und voneinander abzugrenzen, so dass sie ‚eindeutig‘ geschlechtlich identifiziert werden können und die entsprechende soziale Anerkennung finden“ (ebd.).

Mit der Geschlechtszugehörigkeit wird das Individuum mit sozialen Normen und Erwartungen konfrontiert. Dies kann Eigenschaften („ängstlich“ oder „aggressiv“) betreffen, aber auch Verhaltensweisen determinieren (beispielsweise „gesundheitsbewusstes Verhalten“ oder „Risikoverhalten“). In starren Geschlechterrollentheorien wird dies deutlich. So definierten Sabo und Gordon (1995) die männliche Rolle anhand von vier Komponenten: (1) „No Sissy Stuff“ – die unbedingte Abgrenzung gegenüber Frauen und deren Verhalten, (2) „The Big Wheel“ – das Gefühl der Überlegenheit gegenüber anderen, (3) „The Sturdy Oak“ – die Demonstration der Unabhängigkeit und (4) „Give 'Em Hell“ – Das Sich-Durchsetzen, auch mit gewaltvollen Mitteln (vgl. Sabo/Gordon 1995, nach Brähler/Merbach 2006). Demnach lernen Männer, ihre Emotionen zu unterdrücken und leben besonders Aggressivität, Kontrolle, Dominanz und Macht aus, um dadurch ihre eigene Männlichkeit zu beweisen. Die Frauenrolle ist in starren Geschlechterrollentheorien komplementär zur männlichen angelegt. Frauen tendieren demnach zu Wärme, Einfühlungsvermögen, Emotionalität und zur Sorge um andere (vgl. Brähler/Merbach 2006).

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1.1

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Biografie, Rollenvielfalt und Entwicklung

Rollen und damit verbundene Verhaltenserwartungen stehen in Bezug zu sozialen Normen und Annahmen. Die Auseinandersetzung mit Rollenanforderungen (als Mutter/Vater, Kollege/Kollegin, Tochter/Sohn usw.) und psychosozialen Entwicklungsaufgaben ermöglichen Frauen und Männern über den Lebenslauf hinweg eine Weiterentwicklung (vgl. Niederfranke 1999). Geschlechtsspezifische Rollenanforderungen – und daraus erworbene Lebenserfahrung – werden besonders deutlich, wenn weibliche und männliche „Normalbiografien“ betrachtet werden.

Abbildung 1:

Normalbiografie von Männern und Frauen im Jahre 1960 und 2000

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Filipp (1999) beschreibt das Durchschreiten der Normalbiografie als eine Folge von Ereignissen und Übergängen im Lebenslauf. Diese Abfolge wird durch gesellschaftliche Erwartungen, Normen und Gesetze (z.B. Ruhestandsreglungen) und durch biologische Faktoren (z.B. Menopause) mitbestimmt. Gleichzeitig ist der Lebenslauf eingebettet in zeitgeschichtliche Ereignisse.2 Abbildung 1 macht deutlich, dass die sogenannte Normalbiografie von Männern und Frauen einem Wandel unterliegt. Waren im Jahre 1960 noch ausschließlich Frauen für die Familienarbeit zuständig, zeigt sich im Jahre 2000, dass Frauen nach einer kurzen Elternzeit wieder in den Beruf einsteigen, da es üblicher geworden ist, Berufstätigkeit und Familienarbeit miteinander zu vereinbaren. Während Männer im Jahre 1960 mit einer Vollerwerbsarbeit im erlernten Beruf rechnen konnten, sind heutzutage Männer immer mehr von Arbeitslosigkeit betroffen. In der Literatur wird von einer Rollenvielfalt der Frau (Hausfrauenrolle, Erwerbstätigenrolle, Mutterrolle) gesprochen. Auch Männer sind mit verschiedenen Rollen konfrontiert. Jedoch sind sie nicht in dem Maße von Rollenkonflikten, wie etwa der Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familienarbeit, betroffen, wie dies bei Frauen der Fall ist. Nach empirischen Befunden scheint eine Rollenvielfalt, im Sinne der Verbindung von Beruf und Familie, mit einer besseren psychischen Gesundheit einherzugehen als die traditionelle Hausfrauenrolle: „It seems as if a concentration onto family creates not only a higher risk of poverty in old age, but also interferes with social and psychological health, and that, to put it bluntly, qualified and continuous employment is the best ‚geroprophylaxis‘” (Backes u. a. 2006: 32).

Rollenvielfalt ist umso mehr eine Ressource, wenn diese bewusst gewählt wurde, wenn es keine Überforderung darstellt, wenn die berufliche Position Einflussmöglichkeiten bietet, gut bezahlt ist und den gesellschaftlichen Status erhöht. Rollenvielfalt kann eine Ressource darstellen, wenn die Umwelt entsprechende Aktivitäten schätzt und wenn damit Sozialkontakte und auch soziale Unterstützung verbunden sind. Sie ist umso mehr ein Risikofaktor, wenn die Belastung dadurch zu hoch ausfällt, die Frau wenig Hilfe und Unterstützung bei der Organisation dieser vielfältigen Anforderungen bekommt oder die Organisation schlechter gelingt (vgl. Abele 2001). Ältere Männer haben heutzutage noch Erfahrungen mit einem sogenannten typischen männlichen Lebenslauf, wie er in Abbildung 1 im oberen Balken dar2

Eine Betrachtung von sogenannten „Normalbiografien“ geht auf Kosten der Individualität und vernachlässigt die Pluralität von Lebensverläufen bei Männern und Frauen (vgl. Backes, 1999). Sie kann jedoch dazu beitragen, Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Lebenserfahrungen aufzuzeigen.

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gestellt ist. Fooken (1999a) unterscheidet hierbei zwei Sozialisationsgruppen. Zum ersten die Gruppe der „machthabenden“ Männer, die im Berufsleben, in Vereinen, in Verbindungen, in der Politik oder im Militär Anerkennung bekommen haben. In dieser Gruppe gibt es verschiedene Übergangs- und Ausgliederungsrituale (z.B. Ehrungen, Ehrenmitgliedschaften). Die andere Gruppe von Männern, die beispielsweise Lebenserfahrungen mit Gefängnissen, Obdachlosigkeit, Alkoholabhängigkeit oder Langzeitarbeitslosigkeit gemacht hat, sind „an den Belastungen und Zwängen der Männerwelt zerbrochen bzw. an deren Ansprüchen gescheitert […]. Obwohl anders gelagert, gehören hier u. U. auch Gruppen derjenigen Männer dazu, die an den Spätfolgen psychotraumatischer Lebensereignisse und Erfahrungen, wie sie in der Zeit von Krieg und Gefangenschaft erlebt wurden, leiden“ (ebd.: 448).3

Bei dieser Gruppe findet der Übergang in das Alter oft verfrüht statt, und sie verfügt über eine kürzere durchschnittliche Lebenserwartung sowie über eine geringere Zukunfts- und Altersperspektive. Die Normalbiografie des Mannes wird sich aufgrund der wandelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (z.B. durch Lücken im Erwerbsleben sowie eine Pluralisierung der Lebensformen) auflösen, wodurch möglicherweise eine Risikolage des Mannes entsteht. Dabei werden im Besonderen Männer mit geringen Erfahrungen bezüglich materieller und sozialer Sicherheit eine herabgesetzte Widerstandsfähigkeit und ein geringeres Bewältigungs- und Kompensationspotenzial aufweisen (vgl. ebd.). Mit dem Ende der Erwerbsarbeit scheint es eine gewisse Annäherung der beiden Geschlechter in ihrer Geschlechtsidentität zu geben (vgl. Smith/Jopp 2005). Weiterhin gibt es die Hypothese, dass es zu einem sogenannten Crossover der Geschlechterrollen kommt (vgl. Baltes, u. a. 1996a). Demnach wird der alte Mann beschrieben als jemand, der Abhängigkeits- und Versorgungsbedürfnisse akzeptieren kann, und die alte Frau als jemand, die endlich ihre egozentrischen, durchsetzungswilligen und aggressiven Impulse realisieren kann. PerrigChiello (2000/2004) konnte in ihrer Studie keine Anzeichen einer geschlechtsspezifischen Rollenumkehrung finden. Filipp (1999) postuliert eine Androgynität 3

Bezüglich der Auswirkungen von traumatischen Erfahrungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit sei auf Radebold (2001, 2005) und Schulz/Radebold/Reulecke (2005) verwiesen. Darin wird auf psychosoziale Spätfolgen von Kriegserfahrungen bei über 60-Jährigen eingegangen und auf die Konsequenzen für die psychosoziale Praxis. Heuft (1999) sieht gerade im Alter die Gefahr einer Trauma-Reaktivierung, da ältere Menschen mehr Zeit haben, bisher Unbewältigtes wahrzunehmen. Zudem ist der Altersprozess selbst mit einer drohenden Abhängigkeit und Hilflosigkeit verbunden, die möglicherweise einer traumatischen Situation, in der man hilflos ausgeliefert war, sehr nahe kommt. Diese kann eine Reaktivierung des Traumas begünstigen und stellt ein Risiko für die Stabilität des Selbst dar.

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der Geschlechter, und zwar in dem Maße, in dem diese mit dem Ende der Erwerbsarbeit jene sozialen Rollen verlieren, in denen geschlechtsspezifisches Verhalten begünstigt wurde. Eine Integration männlicher und weiblicher Verhaltensweisen wird daher als optimal angesehen, da so eine flexible Reaktion auf Brüche, Veränderungen und wechselnde Lebensanforderungen möglich ist. Es hat den Anschein, dass Frauen eine Integration männlicher und weiblicher Eigenschaften besser gelingt als Männern, die aufgrund gesellschaftlicher Erwartungen im Alter weiterhin männliche Verhaltensweisen zeigen. 1.2

Kumulation von Stereotypen

Stereotype sind individuelle Überzeugungen über typische Merkmale einer sozialen Gruppe. Es sind soziale Kategorien, die durch kognitive Prozesse gebildet werden (vgl. Wentura/Rothermund 2005). Weitgehend wird davon ausgegangen, dass „Stereotype vor allem die kognitiven Bestandteile umfassen: Stereotype stellen mentale Repräsentationen (= Bilder) sozialer Gruppen dar, und zwar in Form von Vorstellungen entweder über die für eine Gruppe („die Franzosen“) typischen Eigenschaften (z.B. „genussvoll“) oder über die Verteilung und Ausprägung ausgewählter Eigenschaften innerhalb dieser Gruppe und/oder in Form subjektiver Wahrscheinlichkeit, dass eine konkrete Person (z.B. „Monsieur Gilbert“) als Vertreter dieser sozialen Gruppe bestimmte Eigenschaften aufweist. […D]och sind Stereotype im Gegensatz zu Vorurteilen nicht als einseitig negativ affektgeladene Urteilsvoreingenommenheiten zu verstehen, vielmehr umfassen sie nicht selten negative und positive Elemente. Schließlich wird darauf verwiesen, daß Stereotype nicht nur individuelle Meinungen über soziale Gruppen abbilden, sondern von den Mitgliedern der eigenen Gruppe geteilt werden, d.h. Stereotype kollektiver Natur sind und konsensuell geteilte Bilder umfassen“ (Filipp/Mayer 1999: 56).

Stereotype sind hartnäckig und werden selten an den objektiven Gegebenheiten überprüft. Das resultiert unter anderem daraus, dass Stereotype eine schnelle und klare Aussage über die sozialen Gefüge der Welt möglich machen, wodurch die Identität und das Selbstwertgefühl gesichert werden (vgl. ebd.) und das stereotypen Aussagen, beispielsweise über Geschlecht und Alter, immer wieder Bestätigung erfahren (vgl. Filipp/Mayer 2005). Stereotype beeinflussen jedoch nicht nur das Verhalten des Individuums der entsprechenden sozialen Gruppe, sondern auch den Umgang mit dieser Gruppe. Mit dem Begriff „Alt(ern)“ wird meist ein Zustand assoziiert, der mit bestimmten Eigenschaften (z.B. „hilfsbedürftig“, „vergesslich“) verknüpft wird. Diese Vorstellungen verleiten zu Handlungen, die die Individualität des Men-

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schen außer Acht lassen (vgl. ebd.). Dennoch wird der „alte Mensch“ an sich nicht als „vergesslich“ angesehen, aber er wird mit der Bürde dieser Vorannahme belegt und daraufhin beobachtet. Verhaltensweisen werden dann demnach entsprechend gedeutet (vgl. Wentura/Rothermund 2005). Studien haben ergeben, dass Menschen der sozialen Gruppe „der Alten“ eher dazu tendieren, verschiedene Subtypen (z.B. liebevolle Oma, Griesgram) zu entwickeln und diesen dann unterschiedliche Eigenschaften zuschreiben (vgl. Fillip/Mayer 2005). Das Gleiche betrifft die Assoziation mit den Begriffen „weiblich“ oder „männlich“ (z.B. hilfsbereit/dominant). So kommt es bei der Auseinandersetzung mit Alter und Geschlecht zu einem Fall multipler Kategorisierungen (vgl. Filipp/Mayer 1999). In verschiedenen Studien konnte nachgewiesen werden, dass „alte Frauen“ andere Bilder4 erzeugen als „alte Männer“. Das kommt darin zum Ausdruck, dass beispielsweise Altersanzeichen bei Frauen negativer bewertet werden als bei Männern (vgl. Perrig-Chiello 2000/2004). Auch wird eine Beziehung zwischen einem alten Mann mit einer wesentlich jüngeren Frau eher toleriert als andersherum (vgl. Niederfranke 1999). Wentura/Rothermund (2005) sehen Stereotype als Bestandteil des Selbstkonzeptes, der unter anderem im positiven wie auch im negativen Sinne bei bedeutsamen Lebensereignissen zur Regulation des Selbst beitragen kann.5 1.3

Kompetenz, Kontrollüberzeugung und Bewältigungsstile

Im Alter erfahren Menschen einen Wandel ihrer Lebenslage, der individuell sehr unterschiedlich ablaufen kann. Einschränkungen in gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Ressourcen führen im höheren Alter zu einer Einengung von Handlungsspielräumen und dadurch zu einer Bedrohung des Selbstbildes. Veränderungen, wie sie im Alter stattfinden, sind generell als Risikofaktoren für Depressionen und Kontrollverlust zu sehen. Jedoch zeigen viele Studien, dass das allgemeine Wohlbefinden im Alter nicht abnimmt, sondern relativ stabil bleibt. Obwohl viele Gründe dagegen sprechen, geht es dennoch vielen alten Frauen und Männern gut. Staudinger (2000) spricht hierbei vom „Paradox des subjektiven Wohlbefindens“. Viele Forschungen haben sich diesem Widerspruch angenommen, und es wird zunehmend deutlich, dass Menschen im Alter über hohe adaptive Kompetenz und Widerstandsfähigkeit verfügen. Die Befunde zu Geschlechtsunterschieden im subjektiven Wohlbefinden gehen auseinander, je 4 5

Hier sei auf den Beitrag von Petra Engel verwiesen, der die Kumulation von Stereotypen im Rahmen von Alternsbildern aufgreift. Auf die Rolle von Stereotypen als Bestandteil des Selbstkonzeptes wird im Verlauf näher eingegangen.

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nachdem, welche Facetten des Wohlbefindens untersucht wurden. Dennoch scheinen Frauen häufiger positive und negative Emotionen intensiver wahrzunehmen und berichten auch häufiger darüber. Wird dagegen die Ausgeglichenheit von positiven und negativen Affekten untersucht, so unterscheiden sich Frauen und Männer nicht (Smith/Jopp 2005; Baltes u. a. 1996a). Die Adaption an sich wandelnde Situationen können praktische Lösungsund Anpassungsversuche sein. Jedoch stoßen dabei ältere Menschen häufiger an Grenzen eigener Wirkungsmöglichkeiten (vgl. Thomae 1998). In solchen Situationen „müssen innerpsychische Regulationen einsetzen, um wenigstens eine gewisse Stabilisierung der Lage zu erreichen“ (ebd.: 46).

Hierbei spielt die Kontrollüberzeugung, welche das Gefühl impliziert, Einfluss auf sein Leben und auf die gegenwärtige Situation zu haben, eine wesentliche Rolle (vgl. Westerhof 2001). „Kontrollüberzeugungen stellen einen wichtigen Einflussfaktor auf Aktivität, Emotionalität, Wohlbefinden und erfolgreiches Altern allgemein dar. […] Sie sind zudem relevant für die Auseinandersetzung mit Alltagsproblemen und kritischen Lebensereignissen sowie für die Aufrechterhaltung von Selbstständigkeit im Alter, was auch die Auseinandersetzung mit und Beibehaltung von gewohnten sozialen und räumlichen Umweltbedingungen bedeutet“ (Wahl/Ostwald 2005: 224).

Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Kontrollüberzeugung bei alten Menschen konnten bisher nicht festgestellt werden (Baltes u. a. 1996a). Männer und Frauen müssen die über das gesamte Leben erworbenen Erfahrungen, die sie im Alltag und im Umgang mit bedeutsamen Lebensereignissen gemacht haben, bewahren und weiterentwickeln. Dies kann nur gelingen, wenn Bewältigungsformen entwickelt werden, mit dem Ziel der Wiederherstellung des psychischen Wohlbefindens. In der Diskussion über Stabilität versus Veränderung der Persönlichkeit im Alter wird die Entwicklung des Selbst der Schlüssel zur Frage nach der Entwicklung der Persönlichkeit (vgl. Greve 2005). Daher sollen im Folgenden Theorien vorgestellt werden, die Erklärungen für einen Anpassungsprozess an das Alter von Männern und Frauen bieten. 2

Umgang mit bedeutsamen Lebensereignissen

In der Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters wird dem Modell der „kritischen Lebensereignisse“ eine besondere Bedeutung zugewiesen. Dessen

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Grundannahme ist, dass kritische Lebensereignisse notwendige Voraussetzungen für Entwicklung darstellen und somit zum persönlichen Wachstum beitragen (vgl. Filipp 1995). In dem vorliegenden Beitrag stellt der Umgang mit bedeutsamen Lebensereignissen den zentralen Untersuchungsgegenstand dar: Wie setzen sich Männer und Frauen mit altersspezifischen Lebensereignissen (z.B. Ende der Erwerbsarbeit, Verwitwung und körperliche Funktionseinbußen) auseinander? Die Annahme hierbei ist, dass die Auseinandersetzung nicht nur durch das derzeitige Interaktionsgefüge determiniert wird, sondern ebenso durch eine Vielzahl von vorausgehenden Bedingungen. Lebensereignisse können vielfältig sein und reichen von persönlichen Katastrophen (z.B. Tod des Ehepartners) bis zu Alltagsereignissen, die auf den ersten Blick recht unbedeutend erscheinen (z.B. Auseinandersetzung mit einem Familienmitglied). Kritische Lebensereignisse sind nach Filipp (1995) durch Veränderungen der Lebenssituation gekennzeichnet, auf die die Person entsprechend reagieren muss: „Da diese Ereignisse eine Unterbrechung habitualisierter Handlungsabläufe darstellen und die Veränderung oder den Abbau bisheriger Verhaltensmuster erfordert, werden sie als prinzipiell ‚streßreich‘ angesehen, und zwar in vielen Fällen unabhängig davon, ob es sich dabei um ein nach allgemeinen Maßstäben ‚positives‘ (z.B. Heirat) oder ‚negatives‘ (z.B. Verlust des Arbeitsplatzes) lebensveränderndes Ereignis handelt“ (ebd.: 23 f.).

Bei der Bewältigung kritischer Lebensereignisse stellt somit die Wahrnehmung eines Ereignisses einen ersten, oft entscheidenden Schritt im Prozess der Auseinandersetzung dar (vgl. ebd.). Der kognitive Prozess soll in diesem Beitrag mit dem Begriff „bedeutsam“ hervorgehoben werden.6 Erst die individuelle, bewusste oder unbewusste Auseinandersetzung mit dem Ereignis führt zu unterschiedlichen Reaktionsformen (vgl. Lazarus 1995, Lehr 2008).7

6 7

Die Begriffe „bedeutsam“ oder „kritisch“ werden in der Literatur in Bezug auf Lebensereignisse gleichbedeutend verwendet. Saup (1991) präferiert beispielsweise die Verwendung des Begriffes „bedeutsame Lebensereignisse“. Lazarus’ kognitives Stressmodell postuliert, ähnlich wie die Kognitive Theorie von Thomae, dass die subjektive Wahrnehmung eines Ereignisses die Reaktionsform determiniert. Thomae (1970) stellte folgende Postulate auf: „(1) Verhaltensänderung kovariiert stärker mit erlebter als mit objektiv gegebener Veränderung. […] (2) Die Art, in der situative Veränderungen erlebt werden, ist von dominanten Bedürfnissen und Erwartungen des Individuums oder der Gruppe abhängig. […] (3) Die Anpassung an das Alter ist eine Funktion des Gleichgewichts zwischen den kognitiven und motivationalen Systemen des Individuums“ (Thomae, Hans, 1970, nach Stappen, 1988, 47f.).

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Abbildung 2:

Schematisches Modell individueller Bewältigungsprozesse; orientiert am kognitiven Stressmodell von Lazarus (1995)

Nach Lazarus (1995) ist die primäre Einschätzung ein kognitiver Prozess, in dem das Individuum die Situation und deren individuelle Bedeutung verarbeitet. Das Ereignis wird entsprechend als irrelevant, positiv oder stressreich bewertet. Innerhalb dieser Einschätzung werden drei Subtypen unterschieden: (1) Schädigung/Verlust, (2) Bedrohung und (3) Herausforderung. Wird Schädigung bzw. Verlust wahrgenommen, ist das Ereignis bereits eingetreten. Der Begriff „Bedrohung“ impliziert, dass ein Ereignis noch nicht eingetreten ist, wohl aber gedanklich vorweggenommen wurde. „Herausforderung“ bezieht sich darauf, dass ein Ereignis als Möglichkeit zu persönlichem Wachstum, Gewinn oder als überwindbar eingeschätzt wird. „Die Unterscheidung zwischen diesen drei Subtypen ist nicht nur in ihrer Bedeutung für Bewältigungsprozesse selbst und für die Effektivität, mit der vorhandene Fertigkeiten zur Bewältigung von sozialen Transaktionen eingesetzt werden, wichtig, sondern sie besitzen vermutlich auch unterschiedliche Effekte für das physische und psychische Wohlergehen“ (ebd.: 212 f.).

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Werden vor allem negative Konsequenzen erwartet oder sind diese bereits eingetreten (d. h., wird eine Situation als Schädigung/Verlust, Bedrohung oder Herausforderung wahrgenommen), kommt es zum zentralen adaptiven Prozess der Bewältigung. Lazarus (1995) bezeichnet dieses bewusste oder unbewusste Treffen einer Entscheidung (Was ist zu tun?) als „sekundäre Einschätzung“. Hier prüft das Individuum die Optionen (persönliche/soziale Ressourcenlage), die es zur Verfügung hat. Primäre und sekundäre Einschätzung stehen in einem dynamischen Wechselspiel. Fühlt sich das Individuum beispielsweise nicht mehr bedroht, weil es einen potenziellen Schaden als handhabbar erlebt hat, wird sich gleichermaßen auch die primäre Einschätzung der Situation verändern (in Abbildung 2 als Neu-Einschätzung bezeichnet). Lazarus (1995) unterscheidet im Wesentlichen zwischen problem- und emotionszentrierten Bewältigungsreaktionen. Problemzentrierte Bewältigungsreaktionen zielen auf eine Verbesserung der Situation ab, indem das Individuum seine eigenen Handlungen darauf einstellt oder die Situation selbst verändert. Emotionszentrierte Bewältigungsreaktionen fokussieren eine Auseinandersetzung auf der psychischen individuellen Erlebnisebene, wodurch die Emotionen selbst reguliert werden, sodass das Individuum die Kontrollüberzeugung aufrechterhalten kann, damit das Wohlbefinden und das soziale Funktionieren nicht beeinträchtigt wird. Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass Frauen anfordernde und belastende Lebensereignisse häufiger als Männer durch eine Inanspruchnahme von emotionaler und sozialer Unterstützung zu bewältigen versuchen. Männer scheinen häufiger problemzentrierte Bewältigungsstrategien zu verwenden (vgl. Saup 1991). Die Ergebnisse zeigen jedoch keine generelle Gebundenheit von Bewältigungsverhalten an das Alter oder die Geschlechtszugehörigkeit auf. Jedoch wird von einer Wechselwirkung zwischen anforderungsspezifischer Bewältigung und der Geschlechtszugehörigkeit berichtet (vgl. Schwarzer 1992). Wie aufgezeigt, sprechen viele Forschungsergebnisse dafür, dass Männer und Frauen im Alter keine dramatischen Einbußen im Wohlbefinden und in der subjektiven Lebensqualität haben. Wenn Wohlbefinden als Indikator für erfolgreiche Bewältigung gesehen wird, kann dies zum einen eine hohe Stabilität im Bewältigungsverhalten bedeuten. Zum anderen kann es auch bedeuten, dass sich die Formen der Bewältigung mit dem Alter verändern. Die Befundlage spricht eher für letztere Erklärung. Ältere Menschen scheinen demnach nicht unbedingt verfestigten Bewältigungsstilen zu folgen, sondern passen ihre Bewältigungsstrategien den jeweiligen Besonderheiten und Erfordernissen der Situation an (vgl. Schwarzer 1992). Demnach treten problemzentrierte Bewältigungsformen zugunsten emotionszentrierter Formen der Bewältigung in den Hintergrund (vgl. Filipp/Aymanns 2005).

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Wie reagieren Menschen auf die Instabilisierung der inneren und äußeren Situation? Im Folgenden soll auf fünf Modelle eingegangen werden: Das Modell der Aktivität und des Disengagements, das Modell der Selektion, Optimierung und Kompensation (SOK-Modell), das Modell der primären und sekundären Kontrolle, das Modell der assimilativen und akkommodativen Bewältigung und das Modell des sozialen und temporären Vergleichs. Diese Bewältigungs- und Reaktionsformen beschreiben den individuellen Versuch des Individuums sich an neue Situationen anzupassen. Der Umgang mit bedeutsamen Lebensereignissen ist ein Prozess, der individuell sehr unterschiedlich abläuft. Dabei können die folgenden Modelle zum einen parallel ablaufen, zum anderen kann eine Neubewertung des Ereignisses zu einer weiteren Reaktionsform führen. Die folgenden Reaktionsformen sind Modelle, die getrennt beschrieben werden, aber in einer prozesshaften Wechselwirkung zueinander stehen. 2.1

Modell der Aktivität und des Disengagements

Bei der Frage, welche Altersform für Männer und Frauen optimal sei, gibt es zwei grundsätzlich unterschiedliche Grundannahmen. Vertreter der Disengagement-Theorie postulieren, dass ältere Menschen das Bedürfnis hätten, sich in gewisser Form im Alter zurückzuziehen und dadurch im Alter zufrieden seien. Die Aktivitätstheorie hält dagegen, dass ältere Menschen nur dann zufrieden seien, wenn sie aktiv ihr Leben gestalten und von anderen Menschen gebraucht werden (vgl. Lehr 2003). In der Bonner Längsschnittstudie konnte ein sogenanntes „vorübergehendes Disengagement“ festgestellt werden, das eine mögliche Reaktionsform auf bedeutsame Lebensereignisse (z.B. Pensionierung, Verwitwung) darstellen kann (vgl. Lehr/Minnemann 1987): „War jedoch der Prozeß der Auseinandersetzung mit der neuen Lebenssituation abgeschlossen und eine Umorientierung geglückt, dann konnte ein erneutes soziales Engagement festgestellt werden“ (ebd.: 81 f.).

Mit Aktivität oder Disengagement zu reagieren, erklärt sich aus der Struktur der Persönlichkeit und der Bedeutsamkeit der Lebenssituation: „Während Einschränkungen der Kompetenz (geringerer IQ, gesundheitliche Belastungen, geringere Anregbarkeit, eingeschränkter Zukunftsbezug) mit zunehmend positiv erlebter Rollenaktivtät im Sinne der Aktivitätstheorie vor allem in der Eltern-, Großeltern- und Verwandten-Rolle und – in etwas schwächerer Ausprägung auch in der Nachbarn-Rolle und Bekannten-Rolle – einhergeht, reagieren kompetente Betag-

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te, die einen höheren IQ, eine größere Interessensvielfalt, besseren Gesundheitszustand, weitreichenderen Zukunftsbezug, eine stärkere generelle Aktivität und Anregbarkeit erkennen lassen, vor allem in den genannten familiären Rollen stärker im Sinne der Disengagement-Theorie“ (ebd.: 91).

Somit kann bei bedeutsamen Lebensereignissen sowohl Aktivität als auch ein Rückzug aus sozialen Gefügen eine Bewältigungsform darstellen. Disengagement kann für den Selbst-regulativen Prozess des Individuums zunächst hilfreich sein, um sich zu orientieren, woraus Handlungsoptionen entwickelt werden, die in einem nächsten Schritt zur Aktivität führen können. Lazarus (1995) sieht in einem Rückzug aus dem sozialen Umfeld eine mögliche effektive Bewältigung, wenn dadurch Handlungsimpulse unterdrückt werden, da möglicherweise die Gefahr besteht, dass starke Handlungsimpulse im Umfeld Schaden verursachen könnten. Beispielsweise, wenn die Trauer um einen geliebten Menschen nicht mit Gesprächen verarbeitet wird, weil die Befürchtung besteht, dass andere Menschen mit der Trauer und der eigenen Hoffnungslosigkeit nicht umgehen können und die betroffene Person zurückweisen. Oder der Kontakt wird vermieden, um das soziale Umfeld nicht zu belasten. 2.2

Modell der Selektion, Optimierung und Kompensation

Das Modell der Selektion, Optimierung und Kompensation (SOK-Modell) basiert auf zwei Grundannahmen. Zum einen, dass Entwicklung einen Prozess von Ressourcenbildung darstellt, und zum anderen, dass Entwicklung im Rahmen von begrenzten Ressourcen wirkt (vgl. Freund/Baltes, P. 2005). Bei diesem Modell steht das Ziel des Individuums und die Anpassung an Herausforderungen im Leben im Mittelpunkt. Das Modell beschreibt einen Prozess, bei dem Selektion, Kompensation und Optimierung in einem dynamischen, sich wechselseitig bedingenden Verhältnis zueinander stehen (vgl. Baltes/Lang/Wilms 1998). Durch Selektion wird eine Auswahl von Funktions- und Verhaltensbereichen getroffen, die mit den individuellen Motivationen, Fertigkeiten und körperlichen Leistungsfähigkeiten sowie den Umweltanforderungen im Einklang stehen: „Selektion besteht also darin, die im Alter noch vorhandenen Potentiale und verfügbaren Ressourcen zu bündeln und zu kanalisieren, indem Ziele und Funktionsbereiche aufgegeben werden, die für das Individuum unwichtig sind oder die nicht mehr erreicht bzw. verwirklicht werden können“ (ebd.: 191).

Kompensation bezeichnet solche Handlungsweisen, die dazu beitragen, verlorene Fähigkeiten oder Ressourcen auszugleichen oder zu ersetzen. So kann das

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Zugreifen auf beispielsweise andere oder neue Ressourcen dazu beitragen, dass persönliche Ziele erreicht werden (vgl. ebd.). Optimierung bezieht sich auf die Sicherung oder Verbesserung der vorhandenen Ressourcen oder Fähigkeiten: „Optimierung heißt, daß alte Menschen ihre Fähigkeiten und Kompetenzen in bestimmten Verhaltens- oder Funktionsbereichen weiter verbessern oder zumindest den Status quo erhalten“ (ebd.: 191).

Dieser gesamte Prozess kann, aktiv oder passiv, intern oder extern, bewusst oder unbewusst verlaufen (vgl. Freund/Baltes P. 2005). Dieses Modell stellt vor allem die Ressourcen der Lebenslage im Alter in den Vordergrund, und subjektive Indikatoren, wie Zufriedenheit und subjektives Wohlbefinden, geraten in den Hintergrund. Weiterhin setzt es eine generelle Abnahme von Fähigkeiten und Kompetenzen im Alter voraus (vgl. Lehr 2003). Wenn das SOK-Modell isoliert betrachtet wird, dann ist diese Kritik berechtigt, zumal zahlreiche Studien belegen konnten, dass das subjektive Wohlbefinden als Indikator für einen erfolgreichen Umgang mit bedeutsamen Lebensereignissen zu sehen ist. Im Hinblick auf individuelle Bewältigungsprozesse, wie in Abbildung 2 schematisch dargestellt, kann das SOK-Modell hingegen gut integriert werden. Der Selektion geht ein kognitiver Prozess voraus, in dem das Lebensereignis als neutral, bedrohlich oder erfreulich bewertet wird und die Auswirkungen abgeschätzt werden, die es auf die Lebenssituation und persönliche Zielvorstellungen hat. Demnach wird in einer sekundären Einschätzung die individuelle (externe) Ressourcenlage eingeschätzt. Erfährt das Individuum hierbei Begrenzungen, kann eine emotionale oder eine problemzentrierte Bewältigungsreaktion folgen. Das SOK-Modell ist hier eher einer problemzentrierten Reaktionsform zuzuordnen, da es sich primär an externen Ressourcen orientiert und die Anpassungen an den Alltag in den Mittelpunkt stellt. Jedoch schließt es eine emotionsorientierte Bewältigungsreaktion, also das Zurückgreifen auf interne Ressourcen, nicht aus. Eine Erweiterung des SOK-Modells um die Komponente der emotionalen Bewältigungsstrategie sehen Freund und Baltes, P. (2005) im Modell der primären und sekundären Kontrolle. 2.3

Modell der primären und sekundären Kontrolle

Das Modell der primären und sekundären Kontrolle betont, ähnlich wie das SOK-Modell, die Bedeutung von Selektivität und Kompensation bei Selbstregulativen Prozessen.

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Primäre Kontrolle ist auf die Verteidigung bzw. die Wiedererlangung der Kontrolle über die Umwelt gerichtet (vgl. Greve 2008). Hierbei steht das aktive Heranziehen von externen Ressourcen im Vordergrund, mit dem Zweck, die Lebenslage nach den eigenen Zielvorstellungen zu verändern. Es kann daher eher den problemzentrierten Bewältigungsreaktionen zugeordnet werden, wohingegen die sekundäre Kontrolle vor allem ein kognitiver Prozess der Zielbewertung und Zielformulierung darstellt und eine emotionszentrierte Bewältigungsform charakterisiert (vgl. Freund/Baltes 2005). Ist primäre Kontrolle nicht möglich, da keine oder unzureichende externe Ressourcen zur Verfügung stehen, folgt nach diesem Modell ein kognitiver Prozess, der individuelle Ziele anpasst oder verändert. Das Modell der primären und sekundären Kontrolle sieht im Zeitpunkt (wann ein bedeutsames Lebensereignis eintritt) eine wichtige Einflussgröße hinsichtlich der Bewältigungsform, im Sinne von problemzentrierter oder emotionszentrierter Reaktion (vgl. ebd.). Die Wichtigkeit des Faktors Zeit postulieren auch Filipp/Aymanns (2005). Demnach spielt die zeitliche Platzierung eines Lebensereignisses (im Sinne von „Altersnormativität“ von Verlusterfahrungen) bei der Kontrollüberzeugung eine wesentliche Rolle. So können beispielsweise körperliche Funktionseinschränkungen „on time“-Ereignisse im Alter darstellen, da diese mit dem Alter erwartet wurden. Auch das Ende der Erwerbsarbeit kann einerseits als ein „on time“-Ereignis erlebt werden, weil es für das Individuum zu erwarten war und es sich dadurch auf das Ereignis kognitiv oder ganz praktisch vorbereiten konnte. Dagegen kann ein vorzeitiges Ende der Erwerbsarbeit ein „off time“Ereignis darstellen, was dann eher als individuelles Schicksal erlebt wird, welches das Individuum nicht antizipieren konnte (vgl. Filipp/Aymanns 2005). Im Modell der primären und sekundären Kontrolle erfährt der Faktor Zeit, im Sinne von bestehenden wahrgenommenen oder intentionellen Entwicklungsfristen, an Bedeutung. Wird eine Frist überschritten, kommt es beispielsweise zu einer Abwertung des ursprünglichen Ziels oder zu einer Entwicklung alternativer Ziele, um so die Stabilität des Selbst zu sichern (vgl. Freund/Baltes 2005). Der menschliche Wunsch nach Kontrolle über die Umwelt bringt unvermeidlich Misserfolgserfahrungen mit sich: „Misserfolgs- oder Verlusterfahrungen aktiv vorzubeugen oder deren Konsequenzen internal zu bewältigen […] erfordert den Einsatz kompensatorischer Verhaltensstrategien. Sofern Menschen aber keinen Misserfolg antizipierten oder erfahren, investieren sie ihre Fähigkeiten und Ressourcen so, dass diese mit möglichst geringen Kosten verbunden sind (etwa auf Grund einseitiger Spezialisierungen), und dass sie möglichst langfristig davon profitieren. Solche Investments in Fähigkeiten und Ziele werden als Selektion bezeichnet. Selektion und Kompensation spiegeln sich dabei jeweils in den vier Strategien der primären (selektiven oder kompensatorischen) und der sekundären (selektiven oder kompensatorischen) Kontrolle wider“ (Lang/Heckhausen 2005: 545).

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Die Anwendung aller vier Strategien (selektive primäre Kontrolle, selektive sekundäre Kontrolle, kompensatorische primäre Kontrolle und kompensatorische sekundäre Kontrolle) werden in einem übergeordneten Prozess der Optimierung aktiv abgestimmt und vorausblickend entworfen. Im Alter nehmen sekundäre Kontrollstrategien bei der Bewältigung von bedeutsamen Lebensereignissen zu. Beispielsweise werden alte Ziele aufgeben, und neue Ziele mit veränderten Anspruchsniveaus gewählt (vgl. ebd.). 2.4

Modell der assimilativen und akkommodativen Bewältigung

Ähnlich wie im Modell der primären und sekundären Kontrolle sind die Zielverfolgung, die Zielanpassung und die Kontrollüberzeugung ein zentrales Thema im Modell der assimilativen und akkommodativen Bewältigung. In der assimilativen Bewältigung ist das Individuum bestrebt, die Situation und die Umwelt aktiv in Einklang mit sich, den persönlichen Zielen, Ansprüchen und Erwartungen zu bringen. Assimilative Bemühungen umfassen alle praktischen Handlungen, die auf eine Verbesserung der Situation hinführen. Beispielsweise kann das Individuum die externen Ressourcen (Unterstützung durch Verwandte, Freundinnen und/oder Freunde) (re)aktivieren, kompensatorische Maßnahmen ergreifen oder Selbst-korrektive Handlungen vollziehen. Ein Rückzug älterer Menschen kann durchaus als assimilative Aktivität bezeichnet werden, da dadurch eine dem Selbstbild widersprüchliche Rückmeldung vermieden wird. Bezeichnend für assimilative Bewältigung ist ein hartnäckiges Festhalten an den Zielen. Misserfolge können von Gefühlen der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit begleitet sein, und dieser Zustand kann möglicherweise zu Depressionen führen. Dies kann darin resultieren, dass die Kontrollüberzeugung mit der Zeit eine Abschwächung erfährt, da das Individuum trotz aller assimilativen Bemühungen sein Ziel nicht erreicht (vgl. Brandtstädter/Rothermund 1998). Assimilative Bewältigung ist, in der schematischen Darstellung des Bewältigungsprozesses,8 den problemzentrierten Bewältigungsreaktionen zuzuordnen. Akkommodative Bewältigung stellt dagegen einen kognitiven Prozess dar, „bei dem nicht die Situation den individuellen Zielen und Ansprüchen angeglichen wird, sondern Ziel- und Anspruchsdiskrepanzen gleichsam auf umgekehrtem Wege durch einen komplementären Prozeß der Anpassung von Zielen und Ansprüchen neutralisiert werden“ (ebd.: 231).

Bezeichnend für akkommodative Bewältigung ist daher die flexible Anpassung von Zielen. Diese Anpassung dient der Aufrechterhaltung der eigenen Kontroll8

Siehe Abbildung 2.

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überzeugung und der Erhaltung oder Wiederherstellung eines stabilen Selbstbildes (vgl. ebd.). Die unbewussten Mechanismen, die zur Stabilisierung beitragen, sind vielfältig.9 Brandtstädter/Rothermund (1998) verweisen auf die Tendenz, unerreichbare Ziele und unlösbare Konflikte aus dem Aufmerksamkeitsfokus auszublenden oder die Situation so zu deuten, dass diese wieder im Einklang mit dem Selbstbild stehen. 2.5

Modell des sozialen und temporalen Vergleichs

Bei der Bewältigung spielen soziale Erwartungen eine Rolle. So determinieren sie die Zielsetzungen des Individuums, wie diese verfolgt werden und wann Ziele eventuell wieder aufgegeben werden. Die Selbsteinschätzung wird mithilfe sozialer Vergleiche überprüft. Demnach schätzt eine Person ihre Meinung oder Haltung als richtig ein, wenn sie mit der Meinung anderer Personen übereinstimmt. Bezogen auf die eigenen Fähigkeiten neigen Menschen dazu, im sozialen Vergleich besser abschneiden zu wollen. Dabei werden vom Individuum vor allem ähnliche Personen herangezogen. Das chronologische Alter stellt hierbei eine eklatante Vergleichsdimension dar (vgl. Freund/Baltes 2005). So zeigten Studien, „dass Informationen über das Alter einer Person in Relation zu den sozialen Erwartungen tatsächlich für deren Beurteilung herangezogen werden“ (ebd.: 57).

Soziale Vergleiche können sich unterschiedlich auf das Selbstbild auswirken, mit Konsequenzen für die Selbsteinschätzung. So kann ein sogenannter „Abwärtsvergleich“ (ein Vergleich mit einer Person, der es schlechter geht) zu einer Erhöhung des Selbstwertgefühls beitragen, wohingegen ein „Aufwärtsvergleich“ (ein Vergleich mit einer Person, der es besser geht) zu einer Verminderung des Selbstwertgefühls beiträgt (vgl. ebd.). Generalisierte Erwartungen, die sich beispielsweise in Altersstereotypen oder in Geschlechtsstereotypisierungen manifestieren, werden im sozialen Vergleichsprozess ebenfalls herangezogen und können sich somit auf das subjektive Wohlbefinden auswirken. So machen Menschen möglicherweise die Erfahrung, dass sich die altersstereotypisierenden Annahmen nicht bestätigen, die sie vielleicht in jüngeren Jahren hatten. Das gelingt jedoch nur, wenn sie sich von Negativvorstellungen lösen und eine entsprechende Anpassung der Ziele und Ansprüche vornehmen. Ansonsten kann ein negatives Altersstereotyp die individuelle Selbsteinschätzung beinträchtigen, was 9

Dies können ebenso Abwehrmechanismen (z.B. Verdrängung, Verleugnung, Reaktionsbildung etc.) sein, welche in der Psychoanalyse nach Freud wesentlich zur mentalen Bewältigung oder Kompensation innerpsychischer Konflikte beitragen. Ausführlich vgl. Freud, Anna (1987).

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wiederum die Lebenszufriedenheit nachteilig determiniert (vgl. Wentura/Rothermund 2005). Wie aufgeführt unterscheiden sich die altersstereotypen Annahmen bei Männern und Frauen. Weibliche Altersbilder sind im Vergleich zu männlichen Altersbildern negativer eingefärbt, zumindest aus der Sicht jüngerer Frauen und Männer. Ältere Frauen assoziieren dagegen sowohl positive als auch negative Eigenschaften mit dem Alter, sodass die soziale Gruppe „ältere Frau“ eher von einem ausbalancierten Stereotyp im Alter ausgeht (vgl. ebd.). Negative Altersbilder können sich im Vergleich positiv auf das Selbstbild auswirken (im Sinne von: „Mir geht es im Alter viel besser, als ich es mir vorgestellt habe“). Jedoch konnte ebenfalls festgestellt werden, dass „je negativer das individuelle Altersstereotyp, desto stärker bildeten sich negative Selbsteinschätzungen auf Einbußen in der Lebenszufriedenheit ab“ (ebd.: 645). Vergleichsprozesse finden nicht nur mit anderen Personen oder mit stereotypen Vorstellungen statt, sondern auch mit sich selbst im temporalen Vergleich. Bei temporalen Vergleichen wird die aktuelle Lage zu einem früheren (oder künftigen) Zeitpunkt bewertet (vgl. Filipp/Ferring 1998). Hierbei stellen Filipp/Ferring (1998) fest, dass temporale Vergleichsprozesse vorwiegend im Bereich der körperlichen Leistungsfähigkeit stattfanden, wobei diese dann eindeutig mit einer Wahrnehmung der Verschlechterung einhergehen, was sich negativ auf das Wohlbefinden auswirkt. Es zeigte sich aber auch, dass vor allem im Hinblick auf die potenzielle Gewinn-Dimension „Fähigkeiten, das Leben zu meistern“ temporale Vergleiche einen positiven Einfluss auf das Wohlbefinden haben. Dennoch zeigt sich, dass im Alter soziale (Abwärts-)Vergleiche mit anderen Personen zu günstigeren Selbstbewertungen führen als ein zeitlicher Vergleich (vgl. Freund/Baltes 2005). Weiterhin zeigt die Studie von Filipp/Ferring (1998), dass soziale und temporale Vergleiche zwar eine Stabilisierung oder Steigerung des Wohlbefindens bewirken, jedoch eine befindlichkeitsregulative Funktion von Vergleichsprozessen nicht eindeutig nachgewiesen werden kann. Im Bewältigungsprozess, wie er in Abbildung 2 schematisch dargestellt wurde, spielen soziale und temporale Vergleiche vor allem bei der primären Einschätzung eine Rolle. Hinsichtlich einer emotionsregulierenden Funktion von sozialen und temporalen Vergleichen gibt es unterschiedliche Ergebnisse. 2.6

Das Problem der Bewertung von Bewältigungsprozessen „Es gilt, nicht nur dem Leben Jahre, sondern den Jahren Leben zu geben“ (Lehr 2008: 73).

Diese Formulierung umschreibt das, was in der Gerontologie mit „erfolgreichem Alter(n)“ gemeint ist. Es geht nicht nur darum, lange zu leben, sondern um die

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Qualität des Lebens. Der Schlüssel für ein erfolgreiches Alter(n) wird in einem gelungenen Anpassungsprozess an die altersspezifischen Veränderungen gesehen. Gelingt die Anpassung, trotz der tatsächlichen und wahrgenommenen Einschränkungen in den Handlungsspielräumen, kann der Mensch zufrieden altern und den Jahren Leben geben. Die Bewertung der Effizienz von Bewältigungsprozessen kann vermutlich als das größte Problem bei der thematischen Auseinandersetzung mit bedeutsamen Lebensereignissen gesehen werden. Häufig werden Beschreibungen über die Art und Weise, wie Personen mit bedeutsamen Lebensereignissen umgehen (z.B. „depressive Auseinandersetzung“ oder „Alkoholkonsum“), mit Bewertungen, wie gut ihnen dies gelingt (z.B. indiziert durch „Depressionsniveau“), verbunden. Oft wird die Effizienz aber auch dadurch beantwortet, ob der Person eine „Rückkehr zur Normalität“ (z.B. definiert über die Abwesenheit von Distress oder Rückkehr zu Aktivitäten des alltäglichen Lebens) gelungen ist. Diese Konzeption, wie sie auch beim „erfolgreichen Alter(n)“ im Mittelpunkt steht, definiert das Gelingen der Bewältigung am Grad der „Wiederanpassung“. Diese Definition greift beim Umgang mit bedeutsamen Lebensereignissen, wie beispielsweise beim Umgang mit Verwitwung, jedoch möglicherweise zu kurz (vgl. Filipp/Aymanns 2005): „Als grundlegendes Charakteristikum allen Bewältigungsgeschehen lässt sich festhalten, dass es stets darum geht, einen bedrohten Ist-Zustand in einen erwünschten Zielzustand (mit allerdings oft höchst unklarer Zielstruktur) zu überführen, mit den ereignisbezogenen internen und externen Anforderungen umzugehen sowie die mit Bedrohung und Verlust verknüpften negativen Emotionen, die von Schuld und Ärger bis zu Gram und Verzweiflung reichen mögen, in ihrer Intensität zu dämpfen und zu regulieren“ (ebd. 765).

Im Umgang mit bedeutsamen Lebensereignissen besteht eine gewisse Gefahr, psychische Störungen zu entwickeln. Eine häufige psychische Erkrankung im Alter stellt, neben der Demenz, die Depression dar10 (vgl. ebd.). Bedeutsame Lebensereignisse (z.B. Verlusterlebnisse und körperliche Erkrankungen) sind mit dem Auftreten von Depressionen im Alter verbunden (vgl. Helmchen/Reischies 2005; Filipp/Aymanns 2005). Helmchen und Reischies (2005) machen darauf aufmerksam, dass es Befunde gibt, die sowohl eine Abnahme als auch eine Zunahme von Depressionen im Alter vermuten lassen. Die Diskrepanz liegt möglicherweise darin, dass diagnostizierte Depressionen mit dem Alter nicht zunehmen, aber sich die Häufigkeit von depressiven Symptomen verstärken. Depressi10

Die dritthäufigsten psychischen Erkrankungen sind Angststörungen, an denen Frauen doppelt so häufig erkranken, gefolgt von Abhängigkeitserkrankungen, wovon Männer häufiger betroffen sind.

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ve Verstimmungen werden im Alter häufig nicht wahrgenommen, weil möglicherweise das bereits erwähnte Altersstereotyp dazu führt, dass depressive Symptome als dem Alter zugehörig angesehen werden. Eine Nichterkennung depressiver Züge mindert ebenso die Lebensqualität wie körperliche Erkrankungen (vgl. Helmchen/Reischies 2005). Generell haben Frauen häufiger eine diagnostizierte Depression als Männer. Diese Tendenz besteht auch im Alter. Hinsichtlich der psychischen Gesundheit gibt es zahlreiche Studien, die belegen, dass vor allem in jüngeren Altersgruppen diese geschlechtsspezifischen Unterschiede vorliegen. So leiden beispielsweise 5 % der Männer und 8 % der Frauen unter einer affektiven Störung, aber auch von Angststörung und somatoformen Störungen sind Frauen im größeren Maße betroffen. In den unterschiedlichen Altersgruppen ist die Geschlechterrelation unterschiedlich (vgl. Merbach/Singer/Brähler 2002). Obwohl einige Risikofaktoren für eine psychische Erkrankung bei älteren Menschen zunehmen, wie beispielsweise der körperliche Gesundheitszustand oder der Verlust von Bezugspersonen, zeigt die Berliner Altersstudie, dass fast die Hälfte der 70-jährigen und älteren Männer und Frauen keine psychischen Symptome zeigen und nur ein Viertel psychisch krank ist, wobei Frauen vermehrt über psychische Störungen berichteten (vgl. Helmchen u. a. 1996). Tatsache ist jedoch, dass Frauen eher ambulante psychologische Dienste in Anspruch nehmen und häufiger eine seelische Krankheit diagnostiziert bekommen (vgl. Baltes u. a. 1996a). Da depressive, körperlich kranke und vereinsamte Menschen zu den Suizidrisikogruppen11 zählen, kann es im Alter, je nach Lebenslage und Lebensform, zu einer Kumulation von Risikofaktoren kommen. Ältere Frauen haben im Vergleich zu älteren Männern ein etwa doppelt so hohes Depressionsrisiko. Zusammenhänge werden mit dem Verlust des Partners/der Partnerin, mit vorherigen depressiven Störungen und mit den objektiv vorliegenden und subjektiv wahrgenommenen körperlichen Erkrankungen gesehen (vgl. Wahl/Maier 2001). Die Grenzen zwischen „gesundem Altern“ und „pathologischem Altern“ sind nicht genau zu ziehen. Darin liegt auch die Schwierigkeit für Angehörige und professionelle HelferInnen, altwerdende Männer und Frauen in bedeutsamen Lebenssituationen zu begleiten, Symptome zu erkennen und Unterstützung zu leisten. Belastende Lebensereignisse, soziale Stresssituationen und Krisensituationen, bei denen das Individuum keine Veränderungsmöglichkeiten erkennen kann, können Auslöser für einen Suizid sein. Suizidale Handlungen werden 11

Weitere Risikogruppen sind: alkoholkranke, medikamenten- und drogenabhängige Menschen, Personen mit Suizidankündigungen, Personen mit vorherigen Suizidversuchen sowie Personen mit Schizophrenieerkrankungen und mit Persönlichkeitsstörungen (vgl. Schmidtke/Sell/Löhr, 2008).

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ebenso wie Suchtverhalten zu den problemzentrierten Bewältigungsreaktionen gezählt (vgl. Schaller 2008). Depression ist häufig der Hintergrund für einen Suizid.12 Die Erkennung, auch von leichten Depressionen, ist daher von Bedeutung: „Selbsttötung ist meist der negative Ausgang des Widerstreits ambivalenter Gedanken und Handlungsimpulsen, die von dem Wunsch nach Ruhe oder Lebensüberdruss über Todeswünsche und Selbsttötungsfantasien bis hin zu Selbsttötungsabsichten und -impulsen und schließlich zu konkreten Planungen der Selbsttötung reichen und die durch einen zunehmenden Handlungsdruck bestimmt sind“ (Helmchen/Reischies 2005: 268).

Todeswünsche können „sehr stark fluktuieren und bei kritischer Überforderung der Bewältigungskapazität durch die Vielfalt der erforderlichen Anpassungsleistungen des alten Menschen und vor allem bei psychischen Krankheiten auftreten“ (ebd.).

Eine Überforderung der Bewältigungskapazitäten kann sich in psychischen Krankheiten chronifizieren und somit das subjektive Wohlbefinden längerfristig beinträchtigen. Ein bedeutsames Lebensereignis kann Wachstum bedeuten, in gleicherweise jedoch so belasten, dass es eine Bedrohung für die körperliche und psychische Gesundheit darstellt. Kritisch wird ein Lebensereignis nach Filipp (1999), wenn Frauen und Männer keinen Einfluss darauf haben, ob das Ereignis eintritt oder nicht. Bedeutsam ist zudem, inwieweit ein Ereignis antizipiert wurde.13 Zudem kann ein Ereignis kritisch werden, wenn es den Selbstwert eines Menschen in Frage stellt (z.B. bei einer Scheidung oder bei einem vorzeitigen Ende der Erwerbsarbeit). Letztendlich ist bedeutsam, wann ein Lebensereignis eintritt (im Sinne eines „off time“- oder „on time“-Ereignisses). Der Umgang mit bedeutsamen Lebensereignissen ist ein vielschichtiger Bewältigungsprozess, und man kann erfolgreiche Bewältigung schwer definieren. Geschlechtsspezifische Bewältigungsformen sind partiell vorhanden. So tendieren Frauen eher zu emotionszentrierten Bewältigungsformen. Bei Überforderung der Bewältigungskapazität neigen sie eher zu depressiven Zügen und Angststörungen. Männer neigen eher zu problemzentrierten Bewältigungsfor12

13

Die Suizidgefährdung nimmt im Alter zu, besonders bei Männern: „[M]en’s rates for death by suicide increase with age, whereas suicide rates for women decrease with ageing.“ (Reimann/Backes, 2006, S. 58). Jedoch konnten Schmidtke/Sell/Löhr (2008) feststellen, dass sich der Anteil älterer Frauen an allen Suiziden in den letzten Jahren überproportional erhöht hat. Jeder zweite Suizid ist derzeit der einer Frau über 60 Jahren. Wie dies auch im Modell der primären und sekundären Kontrolle thematisiert wurde.

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men, und bei einer Überforderung der Bewältigungskapazität entwickeln sie eher Abhängigkeitserkrankungen. Im vorherigen Kapitel wurden Modelle vorgestellt, die sowohl eine aktive Person-Umwelt-Anpassung (z.B. SOK-Modell, Assimilation, primäre Kontrolle) erklären als auch die Wichtigkeit emotionszentrierter Bewältigungsprozesse (z.B. sozialer und temporaler Vergleich, Akkommodation, sekundärer Vergleich) thematisieren, die gerade im Alter von Bedeutung sind, wenn Handlungs- und Dispositionsspielräume Einschränkungen erfahren. Weiterhin wurde aufgezeigt, dass einige Forschungsergebnisse darauf hindeuten, dass Frauen über die Lebenszeit hinweg eher als Männer emotionszentrierte Bewältigungsformen anwenden. Gerade im Modell der assimilativen und akkommodativen sowie im Modell des primären und sekundären Vergleichs wird die These postuliert, dass emotionszentrierte Bewältigungsformen dann gewählt werden, wenn Menschen eine Einschränkung in ihren Handlungsspielräumen erfahren. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass Frauen, weil sie tendenziell im Lebenslauf eher von Benachteiligung betroffen sind, zwangsläufig auf emotionszentrierte Bewältigungsformen angewiesen sind und stellt dies möglicherweise eine Ressource dar, weil es eine Kompetenz für das spätere Erwachsenenalter bedeutet? Oder ist es ein Risiko, weil möglicherweise nicht alle externen Ressourcen ausgeschöpft werden? Ist es für Männer schwieriger emotionszentrierte Bewältigungsstile anzuwenden, und stellt es ein Risiko für die Anpassung an das Alter dar? Oder ist die Präferenz für problemorientierte Bewältigungsreaktionen eine wichtige Ressource, um möglichst alles aktiv zu tun, um mit den Veränderungen des Alters zurechtzukommen, um erst „zur Not“ zu Mechanismen wie Akkommodation oder sekundärer Kontrolle zu greifen? Um diese Fragen zu beantworten sollen im Folgenden am Beispiel der Verwitwung, als ein bedeutsames Lebensereignis im Alter, geschlechtsspezifische Unterschiede im Umgang mit dieser speziellen Belastungssituation herausgearbeitet werden. 3

Verwitwung

Der Partnerverlust durch Tod nimmt auf der Liste kritischer Lebensereignisse14 Platz eins ein (vgl. Filipp 1999). Das Modell von Lazarus (1995) vermittelt sehr gut eine allgemeine Auffassung von Selbst-regulativen Prozessen. Bei einer geschlechtsspezifischen Betrachtungsweise von Bewältigungsprozessen ist es jedoch notwendig, exemplarisch ein Lebensereignis herauszugreifen, da nur so 14

Eine Übersetzung der amerikanischen „Social Readjustment Rating Scale“ (vgl. Holmes und Rahe, 1980, nach Filipp, 1999).

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eine Analyse von Reaktionsmustern, unter Berücksichtigung männlicher und weiblicher Lebenslagen im Kontext einer bestimmten Situation, möglich ist. Nach Lazarus (1995) lässt sich der Bewältigungsprozess am Beispiel der Trauer gut illustrieren: „Dieser Prozess mag sich über eine sehr lange Zeit, zuweilen über Jahre hinweg erstrecken, und schließt viele psychische Veränderungen ein. Was zu dem Zeitpunkt, da ein Verlust erlebt wird, zu beobachten ist – Schock Konfusion, Bestürzung, hektische Aktivität –, verändert sich über die Zeit ganz deutlich. Am Ende dieses Prozesses muß die volle Einsicht in die Tatsache des Verlustes vorhanden sein, er muß akzeptiert werden und schließlich muß man sich – vielleicht nach einer Phase der Depressivität und Zurückgezogenheit – wieder um das eigene Leben kümmern und neue Verpflichtungen aufsuchen“ (ebd.: 206).

Viele Studien zeigen, dass sich Verwitwung immer negativ auf das Wohlbefinden auswirkt (vgl. Fooken 1987, Schaan 2009), und nachgewiesen wurde auch eine erhebliche Verschlechterung des objektiven Gesundheitszustands (vgl. Stappen 1988). Ein Partnerverlust durch Tod ist ein Lebensereignis, von dem vor allem ältere Frauen betroffen sind. Besondere Beachtung bei der Erforschung geschlechtsspezifischer Verlustverarbeitung gilt vor allem der Frage, inwieweit sich Verwitwung auf die Entstehung von Depressionen bei Frauen und Männern auswirkt. In diesem Kapitel soll herausgearbeitet werden, inwiefern Frauen und Männer nach dem Tod des Ehepartners unter Depressionen leiden und welche Erklärungen es dazu gibt. Bevor dieser Frage nachgegangen wird, soll in einem kurzem Exkurs zum Trauerprozess das Spezifikum dieses Lebensereignisses hervorhoben werden. 3.1

Der Trauerprozess

Es gibt mehrere Modelle des Trauerns,15 die sich aus unterschiedlichen Sichtweisen mit der Bewältigung von Verlusten auseinandersetzten. Allen gemeinsam ist, dass Trauern ein Prozess ist, und in der Literatur wurde demgemäß versucht, diesen Prozess in Phasen zu beschreiben. Die Einteilung des Trauerprozesses in Phasen sollte jedoch nicht als eine streng kontinuierliche Abfolge gesehen wer15

Buchebner-Ferstl (2002) unterscheidet zwischen Depressionsmodellen und Stressmodellen der Trauer. Bei den Depressionsmodellen stehen der Objektverlust (psychoanalytische Sichtweise), der Bindungsverlust (ethologische Sichtweise), der Verstärkerverlust (behavioristische Sichtweise) und der Kontrollverlust (kognitive Sichtweise) im Vordergrund. Bei den Stressmodellen der Trauer gibt es physiologische Sichtweisen, psychosomatische Sichtweisen und psychologische Sichtweisen, zu denen die kognitive Stresstheorie nach Lazarus (1995) gehört.

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den, die als Kriterium eines „erfolgreichen“ Trauerprozesses anzusehen ist, zumal in einem Phasenmodell der Einfluss von Persönlichkeitsstrukturen und die Bedeutung von Unterstützung durch andere Menschen vernachlässigt wird (vgl. Buchebner-Ferstl 2002). Am häufigsten begegnet man in der Literatur einem Vier-Phasen-Modell (Stappen 1988; Schmitz-Scherzer/Wittrahm 1999). ƒ

ƒ

ƒ ƒ

Die erste Phase der unmittelbaren Betroffenheit ist von Gefühlen der Betäubung und Erstarrung gekennzeichnet. Die Betroffenen wollen das Ereignis nicht wahrhaben. Dabei kann es sich um eine Schutzreaktion handeln, um das psychische Selbst zu schützen, dass durch die schmerzhafte Erfahrung bedroht ist, bis der Verlust nach und nach akzeptiert werden kann (vgl. Buchebner-Ferstl 2002). Die Dauer dieser Phase kann sehr unterschiedlich sein, da die emotionale Verarbeitung unter anderem durch die Todesursache determiniert wird. Wesentlich ist hierbei, ob es die Möglichkeit gibt, das Ereignis zu antizipieren (z.B. bei langer Krankheit) oder ob es sich um einen unerwarteten Tod handelt (vgl. Stappen 1988). Daraufhin folgt eine Phase der Kontrolle durch gesellschaftliche Faktoren. Diese Phase ist gekennzeichnet von sozialen Normierungen (z.B. Ritualen), die durchaus hilfreich sein können, jedoch auch einen Bewältigungsprozess behindern können, wenn sie zu Zwängen oder Stereotypisierung führen (vgl. Stappen 1988). Schmitz-Scherzer/Wittrahm (1999) machen darauf aufmerksam, dass die gesellschaftlichen Normen (z.B. Einhalten einer Trauerzeit, Tragen von Trauerkleidern, Verbot der Wiederverheiratung innerhalb einer bestimmten Frist) derzeit nicht mehr so ausgeprägt sind. Trauern ist eher zu einer privaten Angelegenheit geworden. Die dritte Phase beinhaltet eine emotionale Auseinandersetzung und eine psychische Desorganisation (vgl. Stappen 1988). Die letzte Phase stellt die Anpassung an die veränderten Lebensbedingungen dar. Nach und nach beginnt die betroffene Person, den Verlust zu akzeptieren und sich mit der neuen Situation auseinanderzusetzen. Die Anpassung impliziert die Herstellung eines neuen Selbst- und Weltbezugs (vgl. Schmitz-Scherzer/Wittrahm 1999) und beinhaltet ganz praktische Anpassungsleistungen an den Alltag, in dem die betroffene Person Aufgaben der/des Verstorbenen kompensiert oder diese an andere delegiert. Zum anderen findet eine Umstrukturierung der Identität und der eigenen Rolle statt (vgl. Stappen 1988).

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Lebensereignisse im Alter unter geschlechtsspezifischer Perspektive

Während des Trauerprozesses zeigt der Mensch Symptome, die für sich genommen möglicherweise als pathologisch bezeichnet werden können, im Kontext der Trauerreaktion jedoch als normal anzusehen sind (vgl. Buchebner-Ferstl 2002). Emotionale Auswirkungen Auswirkungen auf das Verhalten Auswirkungen auf Einstellungen zu der eigenen Person, dem/der Verstorbenen und der Umwelt

Kognitive Auswirkungen Physiologische Auswirkungen

Abbildung 3:

Depression Angst Schuldgefühle Aufgewühltheit Müdigkeit Selbstvorwürfe Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit Mangel an Realitätssinn Misstrauen Persönliche Probleme Sehnsucht nach der/dem Verstorbenen Imitation des Verhaltens der/des Verstorbenen

Wut und Feindseligkeit Lustlosigkeit Einsamkeit Weinen

Verschlechterung von Gedächtnis Appetitverlust Schlafstörungen Körperliche Beschwerden Medikamentenmissbrauch

Vermindertes Konzentrationsvermögen Dieselben körperlichen Beschwerden wie der /die Verstorbene Energieverlust Anfälligkeit für Krankheiten und Infekte

Idealisierung der/des Verstorbenen Ambivalente Gefühle gegenüber der/dem Verstorbenen Lebhafte Vorstellungsbilder von der/dem Verstorbenen Ständiges Denken an die verstorbene Person

Symptome der Trauer

Der Prozess der Trauer stellt sowohl Anforderungen an die emotionszentrierte als auch an die problemzentrierte Bewältigung.16 Bei der Betrachtung der Trauerphasen wird deutlich, dass Verwitwung zunächst primär Anforderungen an die Regulation der Emotionen stellt. Jedoch fordert der Verlust des Partners oder der Partnerin im Anschluss auch ganz praktische Anpassungsleistungen an den ver16

Wie aufgeführt, zählt zu der emotionszentrierten Bewältigungsreaktion eher das Modell des sozialen und temporalen Vergleichs, die akkommodative Bewältigung und die sekundäre Kontrolle. Zu den problemzentrierten Bewältigungsreaktionen zählen vermehrt das SOK-Modell, die assimilative Bewältigung und die primäre Kontrolle.

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änderten Alltag. Im Trauerprozess kann ein vorübergehendes Disengagement beobachtet werden. So wird in der ersten Zeit vor allem der Kontakt mit den Kindern gesucht, und nach und nach findet wieder eine Hinwendung zu außerfamiliären Kontakten statt (vgl. Fooken 1999b). Aus der geschlechtsspezifischen Betrachtung der Lebenslage stellt sich hier die Frage, ob sich die Geschlechtsunterschiede im Umgang mit dem Tod des Ehepartners/der Ehepartnerin widerspiegeln bzw. Erklärungen für einen möglichen geschlechtsspezifischen Umgang mit Verwitwung bieten. Im Folgenden sollen nun Geschlechtsunterschiede im Umgang mit dem Tod des Ehepartners/der Ehepartnerin herausgearbeitet werden. 3.2

Ein Blick auf empirische Studien

Schaan (2009) untersuchte in einer Querschnittsstudie negative Auswirkungen von Verwitwung auf die seelische Gesundheit von Männern und Frauen auf Grundlage von Daten des „Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe“. Die Analyse zeigte, dass verwitwete Personen über mehr depressive Symptome berichten als verheiratete: „Verheiratete Männer berichten die geringste Anzahl depressiver Symptome, verwitwete Frauen die größte Anzahl. Verwitwete Frauen und verheiratete Frauen unterscheiden sich signifikant voneinander hinsichtlich des psychischen Wohlbefindens, ebenso ist dies der Fall bei verheirateten und verwitweten Männern“ (ebd.: 121).

Es ist bereits bekannt, dass Frauen über den Lebenslauf hinweg höhere Depressionswerte aufweisen als Männer, daher wurden verheiratete Männer mit verwitweten Männern hinsichtlich ihrer seelischen Gesundheit verglichen, und dieses Ergebnis wurde dem Ergebnis des Vergleichs zwischen verheirateten Frauen und verwitweten Frauen gegenübergestellt. Hierbei zeigte sich, „dass die Unterschiede in der Anzahl der genannten Symptome einer Depression bei Männern größer ist als bei Frauen“ (ebd.: 127).

Witwenschaft wirkt sich demnach tendenziell weniger negativ auf das psychische Wohlbefinden der Frau aus, als dies bei Männern der Fall ist, dennoch leiden verwitwete Frauen stärker unter Depressionen als verwitwete Männer, was eben nach Schaan (2009) darauf zurückzuführen ist, „dass Frauen generell mehr depressive Symptome berichten als Männer“ (ebd.: 123).

Lebensereignisse im Alter unter geschlechtsspezifischer Perspektive

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Ein weiteres wichtiges Ergebnis zeigte die Studie hinsichtlich der Bedeutung der Trauerzeit. So bestätigte sie, dass sich depressive Symptome mit der Dauer der Witwenschaft verringern. Ebenfalls konnte Schaan (2009) nachweisen, dass finanzielle Probleme signifikant die Anzahl der depressiven Symptome erhöhen. Weniger zeigte sich ein Zusammenhang von traditionell gelebter Arbeitsteilung in der Ehe mit depressiven Symptomen nach dem Tod des Partners. Personen, die in traditionell geprägten Haushalten leben, waren nur leicht depressiver. Nachdem die Faktoren „Dauer der Witwenschaft“, „finanzielle Probleme“ und „eine traditionelle Arbeitsteilung“ berücksichtigt wurden, zeigten sich keine geschlechtsspezifischen Effekte der Verwitwung. Einflussfaktoren wie das soziale Netzwerk, Familienbeziehungen und eheliche Qualität konnten in dieser Studie nicht berücksichtigt werden, aber es ist anzunehmen, dass sich diese Faktoren ebenfalls auf den Umgang mit Verwitwung auswirken (vgl. Stappen 1988), zumal sich in diesen Bereichen Unterschiede in der Lebenslage von Männern und Frauen aufzeigen.17 Eine Längsschnittstudie der Bowling Green State University untersuchte ebenfalls negative Auswirkungen von Verwitwung auf die seelische Gesundheit von Männern und Frauen (vgl. Lee/DeMaris 2007). Bei dieser Studie wurden depressive Symptome von Frauen und Männern vor der Verwitwung erhoben und in einer zweiten Erhebung nach dem Tod des Partners. Die Ergebnisse scheinen in die Richtung zu deuten, dass das Ereignis der Verwitwung sich negativer auf das psychische Wohlbefinden von Männern auswirkt, als dies bei Frauen der Fall ist (ebd.): „The appropriate conclusion here is that widowhood does appear to be a more depressing experience for men than for women” (ebd..: 69).

17

Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass Frauen stärker als Männer soziale Kontakte aufbauen. Sie fühlen sich auch verantwortlicher für die Qualität der Beziehungen und fühlen sich bei Beziehungskonflikten dadurch auch stärker belastet (vgl. Wahl/Maier, 2001; Baltes, M. u. a., 1996a). „Frauen besitzen häufiger einen größeren Freundes- und Bekanntenkreis als Männer und geben häufiger an, neben dem Ehepartner zumindest eine enge Vertrauensperson außerhalb der Familie zu haben, während für Männer meistens die Ehepartnerin gleichzeig die engste und einzige Vertrauensperson darstellt“ (Wahl/Maier, 2001, S. 534). Dass Frauen häufiger eine gute Freundin als Person des Vertrauens angeben, wurde auch im Alterssurvey bestätigt, jedoch wurden keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in Bezug auf die Netzwerkgröße festgestellt (vgl. Künemund/Hollstein, 2005). Insgesamt wird die Qualität der Ehe von den meisten langjährig verheirateten Paaren positiv empfunden. Bei Paaren aus unzufriedenen Ehen berichten häufiger Frauen von physischen und psychischen Problemen. Ursachen werden im unterschiedlichen Umgang mit Konflikten gesehen. Männer würden sich demnach eher aus Partnerschaftskonflikten zurückziehen, Frauen dagegen würden sich vermehrt für die Konfliktlösung verantwortlich fühlen, was zu physischen und emotionalen Belastungen führen kann (vgl. Wahl/Maier, 2001).

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Das Ergebnis ist jedoch dahingehend überraschend, dass nach dem Tod des Partners die Männer und Frauen nur geringfügig mehr depressive Symptome aufzeigten als vor dem Ereignis: „Increases in depression for those who were widowed between waves are small and of comparable magnitudes for men and women. There is some indication that widowhood is depressing for a short period after the spouse’s death, but over time, its effect becomes minor. Given the general agreement that widowhood is one of life´s traumatic events, this result is somewhat surprising” (ebd..: 68).

Jedoch zeigt sich auch, dass bei den ersten Messungen vor allem diejenigen Männer signifikant höhere depressive Symptome zeigten, die bei der zweiten Erhebung über den Verlust der Ehefrau berichteten. Da die Pflege eines Partners für beide Geschlechter gleichermaßen als belastend erlebt wurde, stellt dies in dieser Studie keine Erklärung für die höhere Depressivität der Männer dar. Daher vermutet Lee und DeMaris (2007), dass die gedankliche Vorwegnahme des Ereignisses möglicherweise bereits depressive Symptome verursacht und dies möglicherweise Männer mehr belastet als Frauen. Hierbei ist es vielleicht bedeutsam, dass die Verwitwung im Alter eher ein frauenspezifisches Lebensereignis darstellt und Männer es dadurch mehr als persönliches Schicksal erleben, was sich negativ auf das subjektive Wohlbefinden auswirkt. Die Vorstellung dieser beiden Studien zeigt, dass der Tod des Ehepartners im Alter für Männer tendenziell schwerer zu bewältigen ist als für Frauen. Diese Befundlage spiegelt sich auch in anderen Studien zu Geschlechterdifferenzen im Umgang mit Verlustverarbeitung (vgl. Filipp/Aymanns 2005) wider. Vor allem Querschnittsuntersuchungen ergeben meistens, „dass das relative Depressionsrisiko für Männer um ein vielfaches höher liegt als für Frauen. Während die Wahrscheinlichkeit für Frauen von einem relativ hohen Level ausgehend durch die Verwitwung nicht maßgeblich ansteigt, erhöht sich der Anteil der Männer mit depressiver Symptomatik signifikant“ (Buchebner-Ferstl 2002: 20). Witwen und Witwer sind zudem einem höheren Sterblichkeitsrisiko ausgesetzt. Für Witwer ist dies signifikant höher als für Witwen. Dies ist natürlich auch durch die Übersterblichkeit des Mannes bedingt. Doch wirkt sich eine Verwitwung für Männer zusätzlich auf die Übersterblichkeit aus und dies leicht signifikanter, als es bei Frauen der Fall ist (vgl. Buchebner-Ferstl 2002: Fooken 1999b). Das Suizidrisiko steigt im Alter deutlich an, besonders bei verwitweten Männern (vgl. Schmidtke/Sell/Löhr 2008).

Lebensereignisse im Alter unter geschlechtsspezifischer Perspektive

3.3

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Ursachen für die Geschlechterunterschiede

Aus der geschlechtsspezifischen Betrachtung der Lebenslage im Alter und aus dem Exkurs zum Bewältigungsprozess ergeben sich unterschiedliche Erklärungsmöglichkeiten. Verwitwung im Alter – ein Lebensereignis der Frau? Möglicherweise wird Verwitwung mit dem Bild der alternden und alten Frau assoziiert, im Sinne einer normativen, fast schon generalisierten Erwartung. Dies kann eine emotionsregulierende Funktion einnehmen. In der sozialen Gruppe der alten Frauen stellt Verwitwung möglicherweise ein „geteiltes Schicksal“ dar, wogegen Witwerschaft möglicherweise nicht im Altersbild des Mannes integriert ist und somit umso mehr als Einzelschicksal erlebt wird (vgl. Fooken 1999b). Niederfranke (1992) konnte in ihrer Längsschnittstudie (an Frauen) feststellen, dass Frauen bereits vor dem Zeitpunkt der Verwitwung das Ereignis antizipiert haben. Möglicherweise ist dies auch bei Männern der Fall, nur dass bereits die gedankliche Vorwegnahme der Verwitwung als Schicksalsschlag empfunden wird, was sich negativ auf das subjektive Wohlbefinden auswirkt.18 Unterschiede in der Qualität von Beziehungen? Mit Blick auf die emotionsregulative Funktion enger Beziehungen (vgl. Hollstein 2002) verfügen Frauen in der Regel vermehrt über Vertrauenspersonen außerhalb der Ehe. Männer hingegen geben häufiger die Ehefrau als einzige Person des Vertrauens an. Filipp/Aymanns (2005) sehen hier einen möglichen Schlüssel zum Verständnis in Bezug auf die unterschiedliche Qualität der Verlustverarbeitung bei Männern und Frauen. Möglicherweise ist dies auch ein Grund dafür, dass sich Männer im Alter eher noch einmal binden. Während bei Witwern der Gedanke des Umsorgtwerdens ausschlaggebend ist, sehen Witwen in einer neuen Bindung die erneute Aufgabe der Sorge für den Partner (vgl. Stappen 1988, Fooken 1999b). Stappen (1988) zeigte, dass Frauen im Zuge der Bewältigung eine größere Autonomie und Selbständigkeit erfahren, die als Chance gesehen wird, sich von den Verpflichtungen gegenüber einem Partner zu lösen, um Zeit für eigene Interessen zu haben, und somit gar nicht den Wunsch nach einer erneuten Ehe haben. Möglicherweise stellt die Wiederheirat eine problemzentrierte Bewältigungsreaktion dar, die es ermöglicht, nicht alleine altern zu müssen, und für Männer bietet sich zudem die Möglichkeit, eine Person des Vertrauens zu gewinnen, die diese umsorgt und die Haushaltsführung übernimmt. 18

Dies würde zumindest das Ergebnis von Lee/DeMaris (2007) erklären, dass diejenigen Männer bei der ersten Messung vermehrt depressive Symptome zeigten, die bei der zweiten Erhebung über den Verlust der Ehefrau berichteten.

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Unterschiede im Bewältigungsverhalten? Der Trauerprozess stellt vermehrt Anforderungen an emotionsorientierte Bewältigungsformen, zu denen Frauen, wie aufgezeigt, über den Lebenslauf hinweg eher tendieren. Dies stellt möglicherweise eine Ressource für das spezifische Lebensereignis der Verwitwung dar. Bei dem Verlust des Partners/der Partnerin, als ein unkontrollierbares Ereignis, scheinen zunächst problemzentrierte Bewältigungsreaktionen von geringerem Nutzen zu sein als emotionszentrierte (vgl. Buchebner-Ferstl 2002). In der Literatur wird auch darauf hingewiesen, dass Frauen eher zu „trauern“ bereit sind (vgl. Smith/Jopp 2005). Zum einen, weil sie über vertrauensvolle Beziehungen verfügen, und zum anderen, weil der Ausdruck von Emotionen die stereotype Vorstellung von der sozialen Gruppe der Frau bestätigt. Die eigene Akzeptanz des Trauerns und auch die Akzeptanz der Umwelt, die Traurigkeit, Verzweiflung und Hilflosigkeit zulässt, erleichtert möglicherweise Frauen eher einen Zugang zu ihren Emotionen, als dies bei Männern der Fall ist. Frauen als Expertinnen der „Anpassung“? Die Rollenvielfalt im Lebenslauf der Frau fordert eine hohe Adaption an veränderte Lebenssituationen. Diese lebenslangen Anpassungsprozesse stellen umso mehr eine Ressource bei Verwitwung dar, je öfter eine Anpassung an veränderte Situationen gelungen ist, was sich positiv auf das Selbstbild auswirkt. Des Weiteren scheint Frauen eine Integration männlicher und weiblicher Verhaltensweisen besser zu gelingen, möglicherweise auch im Hinblick auf emotionszentrierte und problemzentrierte Bewältigungsreaktionen. Verwitwung scheint ein Lebensereignis zu sein, dass für Männer schwerer zu bewältigen ist als für Frauen. Die Ursachen können vielfältig sein und sind nach derzeitigem Forschungsstand nicht eindeutig geklärt. Frauen scheinen für die Verwitwung besser gerüstet zu sein, dennoch sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Verwitwung für Frauen, neben dem Verlust einer wichtigen Person, in vielen Fällen auch finanzielle Konsequenzen hat und sogar zu Armut führen kann. Weiterhin bedeutet Rollenvielfalt – bezüglich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf – meist Erwerbsarbeit mit finanziellen Einbusen (Teilzeit, Minijobs, Lohndifferenz) und daraus folgender niedrigerer gesetzlicher wie auch betrieblicher Altersrente.19 Eine prekäre finanzielle Lage hat Auswirkungen auf viele Bereiche und wirkt sich nachteilig auf das subjektive Wohlbefinden aus. Des Weiteren haben Männer eher die Chance, sich ein weiteres Mal zu binden. Zwar geben Frauen vermehrt an, dass sie diesen Wunsch nicht haben, 19

Zur materiellen Lage unter geschlechtsspezifischer Perspektive sei auf den Beitrag von Petra Engel verwiesen, in welchem die Geschlechtsspezifika zum Thema Altersarmut herausgearbeitet sind.

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jedoch könnten diese Aussagen bereits aus einer kognitiven Verarbeitung – im Sinne von bestehenden wahrgenommenen oder intentionellen Entwicklungsfristen – heraus entstanden sein, wie es im Modell der primären und sekundären Kontrolle postuliert wird. Das Ziel, eine neue Bindung mit einem Mann einzugehen, wird möglicherweise von Frauen im Alter als unrealistisch wahrgenommen und somit abgewertet, um die Stabilität des Selbst zu sichern. 4

Zusammenfassung und Ausblick

Aufbauend auf den Beitrag von Petra Engel zum Thema Alter und Geschlecht, welcher herausstellt, dass die Geschlechtszugehörigkeit Einfluss auf Altersbilder, soziale Beziehungen, Körper und Gesundheit sowie die materielle Lage hat, wurde in diesem Beitrag der Versuch unternommen, sich dem Umgang mit bedeutsamen Lebensereignissen im Alter unter geschlechtsspezifischer Perspektive zu nähern. Grundlage dieser Auseinandersetzung war hier das Lebenslagenkonzept, dessen Kern die Beziehung zwischen „Verhältnis“ und „Verhalten“ ist. Lebenslagen sind somit Ausgangbedingungen von Lebensereignissen und menschlichen Handlungen, aber auch Produkt dieses Handelns. Die Hypothese dieser Auseinandersetzung bestand darin, dass sich geschlechtsspezifische (gesellschaftliche) Verhältnisse – nach dem Lebenslagenkonzept – im Bewältigungsverhalten widerspiegeln müssten. Bewältigung ist ein individueller und vielschichtiger Prozess, der in Abhängigkeit zur Umweltbedingung und zu spezifischen Ereignis unterschiedlich verläuft. Am Beispiel des spezifischen Lebensereignisses der Verwitwung wurde anhand von Studien aufgezeigt, dass der Verlust des Ehepartners oder der Ehepartnerin das Wohlbefinden von Frauen und Männern differenziell beeinflusst. Diese Differenzen wurden daraufhin mit den unterschiedlichen lebenslaufbezogenen Verhältnissen, aus denen sich möglicherweise geschlechtsspezifische Verhaltensweisen entwickeln, erklärt. Dabei wurde herausgestellt, dass bereits die kognitive Verarbeitung20 von der Geschlechtszugehörigkeit determiniert werden kann. Es bleibt offen, wie sich die Geschlechtszugehörigkeit auf den Umgang mit weiteren altersspezifischen Lebensereignissen auswirkt. Das liegt unter anderem darin begründet, dass, zumindest im deutschsprachigen Bereich, die Bedeutung, die der Dimension „Geschlecht und Alter(n)“ als Strukturmerkmal der Gesell-

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Beispielsweise stellt Verwitwung für eine Frau ein normatives, fast schon generalisiertes Lebensereignis dar und wird daher möglicherweise bereits anders erlebt. Des Weiteren bietet sich für die Witwe eher die Möglichkeit, sich mit anderen verwitweten Frauen (im Sinne eines sozialen Vergleichs) zu identifizieren, was eine emotionsregulierende Funktion darstellen kann.

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schaft zukommt, bislang eher undifferenziert und kaum im Gesamtkontext seiner Entstehung und Bedeutung thematisiert worden ist. Die europäische und im Besonderen die deutsche Forschung stehen hinsichtlich der Bedeutung von „Alter(n) und Geschlecht“ am Anfang. Es können zwar Erkenntnisse aus angelsächsischen Studien übertragen werden, jedoch ist hierbei immer zu berücksichtigen, dass es Strukturunterschiede zwischen den Ländern, beispielsweise im Sicherungssystem, in der Infrastruktur oder bei gesellschaftlichen Normen und Werten, gibt. Die Studie von Schaan (2009), die derzeit eine Querschnittsstudie ist, wurde als Längsschnittstudie konzipiert und kann somit im Hinblick auf Verwitwung zu weiteren Erkenntnissen führen. In der Vergangenheit wurde in empirischen Arbeiten häufig primär auf die Situation von alternden und alten Frauen eingegangen. Das „Alter(n) ist weiblich“, und auch in naher Zukunft wird der größere Teil der älteren Bevölkerungsgruppe weiblich und häufiger von prekären Lebenslagen betroffen sein. Eine geschlechtsspezifische Betrachtungsweise der Lebensphase „Alter“ muss sich jedoch beider Geschlechter annehmen, zumal die Lebenslagen und -formen in Zukunft auch für Männer pluraler werden, und sie daher nicht mehr als „unproblematische“ Bevölkerungsgruppe im wissenschaftlichen Diskurs außen vor bleiben dürfen. Der Ansatz der Sozialen (Alten-)Arbeit findet nicht seinen Beginn zu dem Zeitpunkt, an dem ein Mensch als „alt“ definiert worden ist, sondern sollte eine lebenslaufbezogene Perspektive einnehmen. Exemplarisch dafür sind die Herausforderung und Chancen, die mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Zusammenhang stehen. Gelingt diese, werden beiden Geschlechtern „Handlungsspielräume“ für den individuellen Umgang mit bedeutsamen Lebensereignissen im Alter eingeräumt. Im gesellschaftlichen Diskurs wurde viele Jahre das Augenmerk auf die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf gelegt, und die Hauptverantwortung und praktische Bewerkstelligung werden weiterhin primär der Frauenrolle zugeschrieben. Das Bundeselterngeldgesetz hat erste Anreize für Männer geschaffen, sich vermehrt Familienzeiten zu öffnen. Das Familienpflegezeitgesetz, welches am 1. Januar 2012 in Kraft treten wird, ist ein weiterer Schritt, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen, auch wenn vieles an diesem Gesetz mit Recht kritisiert wird, worauf im Rahmen dieses Beitrages nicht vertieft eingegangen werden kann. Hinsichtlich des eigenen älterwerdens stellt eine gelungene Vereinbarkeit von Familie und Beruf (ob Kinder oder pflegende Angehörige) eine Bereicherung für Männer und Frauen bereit. (1) Soziale Einbindung (weder ausschließlich beruflich, noch ausschließlich familiär) mit der Chance zum Aufbau von vertrauensvollen Beziehungen und sozialen Netzen. Soziale Einbindung, im Sinne einer Vereinbarung von Familie und Beruf, birgt zudem eine beidseitige „Entlastung“, Perspektiverweiterung und Erfahrungs- /Entfaltungsräume sowie

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Unterstützung bei bedeutsamen Lebensereignissen. (2) Die Möglichkeit einer, vom Partner oder von der Partnerin unabhängigen, finanziellen Vorsorge (ob privat, gesetzlich oder betrieblich) für das Alter. (3) Rollenvielfalt für Männer und Frauen im Lebensverlauf als Ressource für Anpassungsprozesse im Umgang mit bedeutsamen Lebensereignissen. Diese Herausforderungen und Chancen sind bis dato primär im Lebensverlauf der Frau verankert, und es gehört eine große Portion Mut dazu, langjährige Rollenzuweisung zu durchbrechen und männliche und weibliche Rollen zu erweitern, zumal die Akzeptanz, Wertschätzung von Familienarbeit und das Potenzial, welches dahinter steckt, weiterhin nicht durchgängig in der Arbeitswelt gelebt und gesehen werden. Die demografische Entwicklung fordert die Unternehmen und die Politik dazu auf, über die individuelle Ebene hinaus bestehende Konzepte zu Vereinbarkeit von Familie und Beruf stetig zu überdenken und zu verbessern. Zum einen ist dies notwendig, um dem kommenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken, und zwar indem qualifizierte Frauen und Männer an Unternehmen gebunden werden. Zum anderen bedeutet eine gelungene Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine Erhaltung der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Es bleibt mit Spannung zu erwarten, wie das Familienpflegezeitgesetz umgesetzt wird – zumal es keinen Rechtsanspruch darauf geben wird –, und es liegt in der Verantwortung der Unternehmen, darüber hinaus weitere kreative Lösungen zu schaffen. In den unterschiedlichsten Berufsfeldern der Sozialen Arbeit begegnen den Akteurinnen und Akteuren Menschen, die im Konflikt mit den Anforderungen und Erwartungen ihrer persönlichen Vereinbarung von Familie und Beruf stehen. Soziale Arbeit unterstützt diese Menschen bei ihrer individuellen Lösungsfindung. Darüber hinaus dient sie als Indikator und arbeitet präventiv. „Alter(n) bewegt“, und zurückgreifend auf das Zitat von Gerda Lerner (2006), die das Alter(n) als einen Tanz auf unebener Erde erlebt, bei dem man mal diesen oder jenen Schritt versucht, ist es in Bezug auf das Thema Alter(n) und Geschlecht, mit allen dazugehörigen Facetten, bedeutsam, sich auf diesen „Tanz“ einzulassen und in Bewegung zu bleiben. Literatur Abele, A. E. (2001): Rollen und Rollenvielfalt von Frauen: Empirische Befunde zum Zusammenhang mit Wohlbefinden und psychischer Gesundheit. In: Frank, A./Kämmerer, A. (Hrsg.): Klinische Psychologie der Frau. Ein Lehrbuch. Göttingen u. a.: Hogrefe. 563-576.

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118

Cornelia Fauser

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Normalbiografie von Männern und Frauen im Jahre 1960 und 2000. Vergleich: BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2006) (Hrsg.): Siebter Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit – Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik und Stellungnahme der Bundesregierung. Berlin: BMFSF Online unter: http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung2/PdfAnlagen/siebterfamilienbericht,property=pdf,bereich=,rwb= true.pdf [Stand: 18.April 2009]. 265. Abbildung 2: Schematisches Modell individueller Bewältigungsprozesse; orientiert am kognitiven Stressmodell von Lazarus (1995). Verändert in Anlehnung an die grafische Darstellung von: Greve, W. (2008): Bewältigung und Entwicklung. In: Oerter, R./Montada, L. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. Weinheim/Basel: Beltz. (6. vollständig überarbeitete Auflage). 913. Abbildung 3: Symptome der Trauer. Stroebe, W./Stroebe, M. (1987) nach Buchebner-Ferstl, S. (2002): Partnerverlust durch Tod. Eine Analyse der Situation nach der Verwitwung mit besonderer Berücksichtigung von Geschlechtsunterschieden. Working Paper Nr. 28. Wien: Österreichisches Institut für Familienforschung (ÖIF). Online unter: http://www.oif.ac.at/archiv/pdf/wp_28_ partnerverlust.pdf [Stand: 03.April 2009]. 16.

Soziale Ungleichheit und Geschlecht – Zur Situation von Frauen im Alter

119

Soziale Ungleichheit und Geschlecht – Zur Situation von Frauen im Alter Marita Blitzko-Hoener, Marja Weiser 1

Altersstrukturwandel

Die Ungleichheitsdimension Geschlecht dürfte wesentlich zur Infragestellung bisheriger Vergesellschaftungsmodalitäten des Alter(n)s beitragen und die anderen Entwicklungen des Fraglichwerdens des bisherigen Vergesellschaftungsmodells des Alter(n)s verstärken. Alternativen stehen bislang weder im Alter noch im vorhandenen Lebenslauf unmittelbar zur Verfügung, so lautet das Fazit von Gertrud Backes in ihrem Beitrag zum Geschlechterverhältnis im Alter (vgl. Backes 1999). Bereits seit mehreren Jahrzehnten führen demographische Veränderungen zu einschneidenden gesellschaftlichen Veränderungen. Außer den Einflussfaktoren des demographischen Wandels (Lebenserwartung, Geburtenrate und Wanderungssaldo) erfolgt ein Strukturwandel des Alters. Der Theorieansatz eines „Strukturwandels des Alters“ wurde von Tews (1993) in Anbetracht des gesellschaftlichen Wandels formuliert. Ausgehend von einer Ausweitung der Altersphase sowie zunehmender Differenzierung und Pluralisierung des Alters unterscheidet er fünf Konzepte zur Beschreibung des Strukturwandels: Verjüngung, Entberuflichung, Feminisierung, Singularisierung, Hochaltrigkeit. Zentrale Komplexe sind dabei die „Berufsaufgabe“ und „Frausein und Problemkumulation“ (vgl. Backes/Clemens 2008: 166 f.). 1.1

Verjüngung des Alters

Im Durchschnitt fühlen sich alte Menschen heute jünger als früher. Während sich noch vor ca. 30 Jahren die über 70-Jährigen mehrheitlich als „alt“ bezeichneten, beginnt diese Selbsteinschätzung mittlerweile meist erst jenseits des 75. Lebensjahres (vgl. Tews 1999: 147; Bäcker et al. 2008a: 363). Tews unterscheidet positive und negative Verjüngungseffekte: Zu den positiven Effekten wird die Verjüngung des Aussehens und Erscheinungsbildes älterer Menschen gerechnet, hervorgerufen beispielsweise durch weniger körperlich schwere Arbeit sowie durch zunehmende sportliche Aktivität und einer gewandelten Mode für Ältere. Zu den negativen Effekten kann gezählt werden, dass heutzutage 40-45-Jährige bereits zu den älteren Arbeitsnehmern gehören und G. Kleiner (Hrsg.), Alter(n) bewegt, DOI 10.1007/978-3-531-94258-2_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

120

Marita Blitzko-Hoener, Marja Weiser

daher auch weniger häufig in Qualifikationsmaßnahmen vorzufinden sind. Tritt in dieser Altersphase Arbeitslosigkeit ein, so findet sich oftmals keine neue Anstellung mehr und der Weg in die Langzeitarbeitslosigkeit ist geebnet (vgl. Tews 1999: 147). Tews spricht in diesem Zusammenhang von einer „Vorverlegung der Altersprobleme im Lebenslauf“ (Tews 1999: 147), welche die Auseinandersetzung der betroffenen Menschen mit dem eigenen Alter(n) in einer Lebensphase nötig werden lässt, wenn sich diese selbst noch gar nicht zu den Alten zählen. 1.2

Entberuflichung des Alters

Durch den seit Ende der 1970er Jahre bestehenden Trend zur Frühverrentung ist das Eintrittsalter in den Ruhestand gesunken. Das durchschnittliche Rentenzugangsalter betrug 2006 für Männer 61,0 Jahre, für Frauen 61,4 Jahre (vgl. Backes/Clemens 2008: 42). In Verbindung mit dem Anstieg der Lebenserwartung führt der frühere Berufsausstieg zu einer Ausdehnung der Altersphase (vgl. Tews 1999: 147). Menschen, die heute aus dem Erwerbsleben ausscheiden, haben durchschnittlich noch etwa ein Viertel ihrer Lebenszeit vor sich liegen, sodass die Zeit im Alter daher für viele eine immer größere Rolle spielt (vgl. Bäcker et al. 2008a: 362). Trotz einer Entberuflichung des Alters sind die Erwerbsquoten älterer Menschen seit Ende der 1990er Jahre wieder angestiegen, besonders im Bereich geringfügiger Beschäftigung („Minijobs“). Zwar kann der Umfang von Erwerbstätigkeit im Alter all-gemein als niedrig betrachtet werden, dennoch ist die Tendenz steigend (vgl. Backes/Clemens 2008: 42 f.). 1.3

Feminisierung des Alters

Frauen prägen das Bild des Alters, ihr Anteil an den 60-Jährigen und Älteren beträgt derzeit ca. drei Fünftel, bei den über 80-Jährigen sind es insgesamt sogar rund drei Viertel. Die Geschlechterrelation verschiebt sich folglich mit steigendem Alter in Richtung der Frauen (vgl. Bäcker et al. 2008a: 364; vgl. Abb. 1). Dies hängt zum einen mit ihrer höheren Lebenserwartung zusammen, zum anderen aber auch mit der hohen Mortalität der Männer im Zweiten Weltkrieg. Nach Bäcker et al. ist Altenpolitik daher in erster Linie Politik für ältere Frauen (vgl. Bäcker et al. 2008a: 363 f.). Prognosen zufolge werden sich die Proportionen der Geschlechter bis 2040 jedoch langsam wieder angleichen. Lediglich bei den über 80-Jährigen wird die Überrepräsentanz von Frauen weiterhin bestehen bleiben (vgl. Backes/Clemens 2008: 44).

Soziale Ungleichheit und Geschlecht – Zur Situation von Frauen im Alter

Abbildung 1:

121

Männer- und Frauenanteil der Bevölkerung in Altersgruppen – 2005 (in %), Quelle: Statistisches Bundesamt 2007, in: Backes/Clemens (2008: 43)

Nach Tews ist die Feminisierung des Alters insbesondere auf drei Ebenen auch qualitativ von Bedeutung (vgl. Tews 1999: 149): Frauen nutzen Kommunikationsangebote wesentlich häufiger als Männer. Sie sind bei sämtlichen Angeboten und Veranstaltungen der Altenhilfe überrepräsentiert und prägen diese daher auch. Frauen sind eher von Altersarmut betroffen als Männer, insbesondere hochaltrige Frauen, weshalb auch von einer „Feminisierung der Altersarmut“ (Tews 1993: 29) gesprochen wird. Die Gründe dafür sind vor allem biographisch bedingt: z.B. keine eigenen Rentenansprüche aufgrund eines Hausfrauenlebens, geringe Rentenansprüche durch niedrige Entlohnung im Arbeitsleben, Scheidung vom Ehemann etc. Darüber hinaus können zudem Belastungen durch Krankheit und Pflegebedürftigkeit entstehen. Frauen leben mit zunehmendem Alter häufig allein, wodurch sie im Falle des Verlustes ihrer Selbständigkeit in überdurchschnittlichem Maße von ambulanten oder stationären Hilfen abhängig werden. Der Anteil von Frauen in Pflegeheimen ist daher auch sehr viel höher als der der Männer.

122 1.4

Marita Blitzko-Hoener, Marja Weiser

Singularisierung im Alter

Mit zunehmendem Lebensalter steigt auch die Zahl der Menschen, die allein leben bzw. wohnen. Bei ca. 40 % der 65-Jährigen und Älteren ist dies der Fall, mehr als 85 % davon sind Frauen, die ihren Partner in den meisten Fällen überlebt haben. So handelt es sich bei fast 70 % der über 80-Jährigen um Witwen. Neben der Tatsache, dass Frauen durchschnittlich länger leben als Männer, sind sie bei der Heirat meist auch jünger als ihr Ehemann. Darüber hinaus sind es jedoch auch zunehmend älter werdende Singles (Ledige, Getrenntlebende, Geschiedene), die den Trend zur Singularisierung markieren (vgl. Bäcker et al. 2008a: 364). Während Einpersonenhaushalte im Alter also weiter zunehmen, vor allem bei den höher betagten Frauen, nimmt die Zahl der Mehrpersonen- bzw. Mehrgenerationenhaushalte immer stärker ab. Das Zusammenleben von älteren Menschen mit ihren Kindern und Enkelkindern hat an Bedeutung verloren und entspricht damit einem beidseitigen Wunsch nach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, zumindest solange dies möglich ist (vgl. Bäcker et al. 2008a: 364 f.). Hierbei wird häufig von „Intimität auf Abstand“ (Rosenmayr/Köckeis 1965) gesprochen. Nach Ansicht Tews wird mit zunehmendem Alter ein Zusammenhang zwischen Wohnform, Geschlecht und der Wahrscheinlichkeit des Hilfebedarfs erkennbar: Vor allem bei alleinlebenden alten Frauen, die in vielen Fällen nur über ein geringes Einkommen verfügen, lässt sich oftmals eine Anhäufung von Problemen feststellen (vgl. Tews 1999: 150). 1.5

Hochaltrigkeit

Während noch vor etwa 10 Jahren ein Alter ab 75 Jahren als hochaltrig galt, so liegt die Grenze heute erst bei 80 Jahren. Der Anteil der 60-Jährigen und Älteren hat sich in der Zeit von 1910 bis 2006 mehr als verdreifacht, wobei insbesondere auch die Zahl der Hochaltrigen stark zugenommen hat. Prognosen sagen eine Fortsetzung dieser Entwicklung bis zum Jahr 2050 voraus. Erneut überwiegt der Frauenanteil, sowohl bei den 60-80-Jährigen, vor allem aber auch bei den Personen über 80 Jahren (vgl. Backes/Clemens 2008: 35 f.; vgl. Tab. 1).

123

Soziale Ungleichheit und Geschlecht – Zur Situation von Frauen im Alter

Jahr

60 J.+ Insgesamt

Männer 60-80J.

80J.+

Frauen 60-80J.

80J.+

Insgesamt 60-80J. 80J.+

1910

7,9

6,7

0,4

8,0

0,6

7,4

0,5

1950 1990 2006 2050

14,6

12,9

0,9

14,1

1,1

13,6

1,0

20,4 25,0 40,4

13,5 19,4 25,5

2,2 2,7 12,3

19,4 21,4 26,1

5,3 6,4 16,8

16,6 20,4 25,8

3,8 4,6 14,6

Tabelle 1: Anteil der 60- bis 80-Jährigen und der über 80-Jährigen an der Bevölkerung 1910 – 2050, Quelle: Statistisches Bundesamt 2006, in: Backes/Clemens (2008: 35) Nach Bäcker et al. gilt Hochaltrigkeit als „herausragender Indikator des Strukturwandels des Alters“ (Bäcker et al. 2008a: 365), gekennzeichnet vor allem durch Krankheit, Hilfe- und Pflegebedürftigkeit. Durch die höhere Lebenserwartung ist die Wahrscheinlichkeit gestiegen, die Hochaltrigkeit zu erreichen. Gleichzeitig steigt damit jedoch auch die Wahrscheinlichkeit, die statistisch gesehen häufigeren negativen Seiten des hohen Alters zu erleben. Unter Verweis auf die Berliner Altersstudie (1996) geht Tews davon aus, dass der Mensch im Alter zwischen 80 – 85 Jahren eine Grenze überschreitet, mit welcher der sog. Altersabbau beginnt und er künftig mit einer Reihe von Problemen rechnen muss, die entweder gehäuft oder auch einzeln auftreten können (vgl. Tews 1999: 150 f.): ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Krankheit (Multimorbidität und chronische Erkrankungen), Abnahme der geistigen Fähigkeiten, möglicherweise bis hin zur Demenz, Hilfe- und Pflegebedürftigkeit, Zunehmende Behandlungsbedürftigkeit, häufig verbunden mit stationärem Aufenthalt (Krankenhaus, Kurzzeitpflege, Pflegeheim), Isolation und Vereinsamung.

Hochaltrigkeit bedeutet somit auch einen zunehmenden Bedarf an Hilfe und Unterstützung. Da traditionelle familiäre Unterstützungssysteme aufgrund demographischer und soziostruktureller Bedingungen schwächer werden, erfolgt sie immer häufiger auch durch organisierte soziale Dienste (vgl. Bäcker et al. 2008a: 365). Tews weist jedoch schließlich auch darauf hin, dass sich eine Vielzahl der hochaltrigen Menschen trotz allem noch lange Zeit in einer Lebenssituation befindet, in welcher die positiven Seiten überwiegen (vgl. Tews 1999: 150).

124 2

Marita Blitzko-Hoener, Marja Weiser

Theoretische Erklärungsansätze

Menschen sind im Laufe ihres Lebens in eine Vielzahl sozialer Gefüge wie z.B. Familien, Vereine, Betriebe, Staaten etc. eingebunden, innerhalb derer sie in vielfältige Beziehungen zueinander geraten und darüber hinaus auch ganz unterschiedliche soziale Positionen einnehmen. Dementsprechend zeigen sich zwischen ihnen sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Mit vielen sozialen Positionen gehen aller-dings auch Lebensbedingungen einher, welche die einen Menschen den anderen gegenüber nicht nur als in gewisser Weise unterschiedlich erscheinen lassen, sondern auch als bevorrechtigt oder benachteiligt. Diese Art von Unterschieden bezeichnet Hradil als soziale Ungleichheit (vgl. Hradil 2001: 15). Sie liegt dann vor, „wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den `wertvollen Gütern´ einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten“ (Hradil 2001: 30).

Unter „wertvollen Gütern“ versteht er dabei z.B. Geld, gesunde Arbeitsbedingungen, eine unkündbare Berufsstellung usw., wobei er betont, dass die Auslegung, ob bestimmte Güter als wertvoll angesehen werden, historisch und im internationalen Vergleich betrachtet unterschiedlich sein kann. Entscheidend sind stets diejenigen Werte, welche in einer Gesellschaft als „wünschenswert“ gelten bzw. den Zielvorstellungen eines „guten Lebens“ (z.B. Gesundheit, Wohlstand, Sicherheit) entsprechen und sich durch die Verfügbarkeit bestimmter Güter realisieren lassen. Demnach erscheinen Menschen, die über möglichst viele der wertvollen Güter verfügen, als höher- bzw. bessergestellt als andere und haben daher gewisse Vorteile. Folglich sind diejenigen, die nicht oder in geringerem Maße über diese Güter verfügen, tiefer- bzw. schlechter gestellt und entsprechend benachteiligt (vgl. Hradil 2001: 28). Aus der Definition geht auch hervor, dass soziale Ungleichheiten, da sie Vorund Nachteile vermitteln, begrifflich zu unterscheiden sind von sozialen Unterschieden, welche lediglich Andersartigkeiten darstellen (vgl. Hradil 2004: 196). Dies wird auch in der Definition von Burzan deutlich. Sie betont, dass es sich bei sozialer Ungleichheit nicht um „beliebige Andersartigkeiten“ handelt, sondern um eine „ungleiche Verteilung von Lebenschancen“ (Burzan 2007: 7). Darüber hinaus definiert sie soziale Ungleichheit als eine an ihre historische Zeit gebundene gesellschaftliche Konstruktion, deren Ursachen und Merkmale im Zeitverlauf und in verschiedenen Gesellschaften variieren können (vgl. Buran 2007: 7). Nach Diezinger/Mayr-Kleffel ist soziale Ungleichheit gegeben,

Soziale Ungleichheit und Geschlecht – Zur Situation von Frauen im Alter

125

„wenn die Mitglieder einer Gesellschaft auf Dauer nicht in dem gleichen Ausmaß über knappe, gesellschaftlich begehrte Güter wie zum Beispiel Wohlstand, soziales Ansehen oder Macht verfügen, sich dieser Zustand aufgrund des Zusammenlebens von Menschen ergibt und damit eine soziale Systematik festzustellen ist. Individuelle Unterschiede wie Größe, Haarfarbe und Körperkraft von Menschen fallen nicht unter diesen Begriff sozialer Ungleichheit“ (Diezinger/Mayr-Kleffel 1999: 7).

Soziale Ungleichheit zu analysieren und zu strukturieren ist nicht einfach, da sowohl ihre Erscheinungsformen als auch ihre Ursachen und Auswirkungen ausgesprochen vielfältig und komplex sind. Außerdem existieren hierzu in der Fachliteratur keine klar definierten und einheitlich verwendeten Begrifflichkeiten. Allgemein wird jedoch zwischen „vertikaler“ und „horizontaler“ sozialer Ungleichheit bzw. zwischen „vertikalen“ und „horizontalen“ Dimensionen/Strukturen/Aspekten […] unterschieden. Zu den Merkmalen vertikaler Ungleichheit zählen dabei Einkommen, Vermögen, (Aus-)Bildung, Beruf bzw. Stellung im Erwerbsleben und Sozialprestige – insgesamt also sozioökonomische Faktoren – die eine hierarchische Unterteilung der Bevölkerung in „Oben und Unten“ – somit vertikal – ermöglichen und insofern den sozialen Status1 einzelner Personen bestimmen. Horizontale Ungleichheit verläuft dagegen quasi quer zu vertikaler Ungleichheit. Sie lässt sich mit einer Vielzahl von Merkmalen wie z.B. Alter, Geschlecht, Ethnie, Regionalität, Familienstand, Religion etc. beschreiben, die zwar i.d.R. an sich noch keine Vor- oder Nachteile implizieren, diese aber mit großer Wahrscheinlichkeit nach sich ziehen. Mittlerweile sind darüber hinaus noch weitere „neue“ Ungleichheitsdimensionen wie z.B. Arbeits-, Wohn- und Freizeitbedingungen, Gesundheit, Bedingungen sozialer Sicherheit, Kontakt- und Unterstützungschancen usw. dazugekommen (vgl. u.a. Amann 1993, Hradil 2001, Geißler 2006, Burzan 2007, Clemens 2008, Backes/Clemens 2008). Eine allumfassende bzw. allgemein akzeptierte Liste horizontaler Dimensionen sozialer Ungleichheit liegt nicht vor und es kann sie vermutlich auch nicht geben (vgl. Mielck/Helmert 2006). Burzan hebt hervor, dass horizontale Ungleichheiten auch so zu verstehen seien, „dass sich mehrere Gruppen auf der gleichen vertikalen Stufe ausdifferenzieren können […]“ (Burzan 2007: 67). Während in „klassischen“ Modellen sozialer Ungleichheit vorwiegend vertikale Strukturen maßgeblich sind, werden in jüngeren Modellen sowohl vertikale als auch horizontale Aspekte, in unterschiedlichem Ausmaß, zur Erfassung von sozialer Ungleichheit berücksichtigt. 1

Als Status bezeichnet man die Positionierung eines einzelnen Menschen bzw. seine bessere oder schlechtere Stellung innerhalb einer (vertikalen) Dimension sozialer Ungleichheit. Bleibt der Status eines Menschen in sämtlichen Dimensionen relativ beständig, also in etwa gleich hoch, so ist von Statuskonsistenz die Rede; ist der Status in verschieden Dimension jedoch sehr unterschiedlich, so spricht man dementsprechend von Statusinkonsistenz (vgl. Hradil 2001, S. 33).

126 2.1

Marita Blitzko-Hoener, Marja Weiser

Klassen- und Schichttheorien

Die Klassentheorie nach Karl Marx (1818 – 1883) Eine der bedeutendsten Theorien sozialer Ungleichheit ist die Klassentheorie nach Karl Marx (vgl. u.a. Marx/Engels 2009). Marx begreift Gesellschaft als Klassengesellschaft, in der sich die Arbeiterklasse, das Proletariat, und die Klasse der Besitzenden, die Bourgeoisie, antagonistisch gegenüberstehen. Entscheidend für die Zugehörigkeit zu einer Klasse ist der Besitz oder Nicht-Besitz von Produktionsmitteln, was gleichzeitig auch die Lebensverhältnisse der einzelnen bestimmt und die Machtverhältnisse der Gesellschaft widerspiegelt. Der Begriff Klasse hat bei Marx daher eine ökonomische Basis. Darüber hinaus schreibt Marx den Mitgliedern einer Klasse ein gemeinsames Klassenbewusstsein zu, wodurch Solidarität untereinander entsteht2. Trotz vielfältiger Kritik an Marx´ Modell, z.B. dass es viel zu undifferenziert sei oder dass sich seine Prognose der proletarischen Revolution und der daraus folgenden klassenlosen Gesellschaft nicht bewahrheitet habe, ist das Konzept in der Folgezeit, vor allem in Hinblick auf spätere Ansätze, weiterhin einflussreich geblieben (vgl. Diezinger/MayrKleffel 1999: 10 ff., Burzan 2007: 15 ff.). Das „erweiterte“ Klassenmodell nach Max Weber (1864 – 1920) Im Gegensatz zu Marx legt Max Weber (u.a. 1980) ein differenzierteres, mehrdimensionales Modell vor, in welchem er neben Klassen auch Stände und politische Partei-en hinzuzieht, um die Sozialstruktur bzw. die Machtverhältnisse in einer Gesellschaft zu charakterisieren. Darüber hinaus unterteilt er Klassen in Besitz-, Erwerbs- und soziale Klassen. Ursachen für soziale Ungleichheit sind nach seinem Modell Marktmechanismen, Lebensführung und Gemeinschaftsbildungen der Menschen oder auch politische Interessengegensätze. Webers Konzept sieht sich ebenfalls zahlreicher Kritik ausgesetzt. Nichtsdestotrotz werden seine Ausführungen häufig als Wegbereiter für mehrdimensionale empirische Analysen sozialer Ungleichheit angesehen (vgl. Diezinger/Mayr-Kleffel 1999: 19 ff., Burzan 2007: 20 ff.). Das Schichtmodell nach Theodor Geiger (1891 – 1952) In klarer Abgrenzung zum Klassenmodell von Marx entwickelte Theodor Geiger (u.a. 1967) ein Schichtmodell, wonach sich die Gesellschaft in unterschiedliche Schichten mit jeweils gemeinsamen Merkmalen unterteilt. Er unterscheidet dabei auch verschiedene Arten der Schichtung, wobei sich die vorherrschenden Fakto2

Dies verdeutlicht z.B. das bekannte Zitat: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ (Marx 1859, S. 9)

Soziale Ungleichheit und Geschlecht – Zur Situation von Frauen im Alter

127

ren, nach denen sich die jeweilige Schichtungsart einer Gesellschaft bestimmt, z.B. die Produktionsverhältnisse, im Laufe der Zeit verändern können. Darüber hinaus berücksichtigt Geiger in seinem Modell nicht nur die objektive Lage der Menschen, sondern stellt zudem auch eine Verknüpfung zu ihren subjektiven Haltungen her. Besonders bedeutungsvoll an Geigers Ansatz ist vor allem die auf statistischen Daten basierende Fundierung seines Schichtmodells, was zu jener Zeit noch als Novum galt (vgl. Diezinger/Mayr-Kleffel 1999: 25 ff., Burzan 2007: 26 ff.). Neuere Schicht- und Klassenmodelle Als Vertreter eines neueren Schichtansatzes ist insbesondere Rainer Geißler (u.a. 2006) zu nennen. In Anlehnung an das Schichtmodell Geigers hebt er die Nützlichkeit eines dynamischen und pluralen Schichtmodells hervor. Seiner Meinung nach dürfen trotz aller Modernisierung angemessene Modelle sozialer Ungleichheit den Einfluss vertikaler Strukturen nicht außer Acht lassen. Auch neuere Klassenmodelle, zu deren Vertretern u.a. Erik O. Wright und John H. Goldthorpe gehören, betonen die Bedeutung von vertikalen Dimensionen sozialer Ungleichheit. Sie berücksichtigen jedoch auch Differenzierungen und werden durch zusätzliche (Mittel-)Klassen erweitert (vgl. Burzan 2007: 73 ff.). 2.2

Lebensstile und Milieus

Die Begriffe Lebensstil und Milieu wurden im Zuge der Kritik an Klassen- und Schichtmodellen herangezogen, um soziale Ungleichheit in modernen Gesellschaften differenzierter und angemessener erfassen zu können. Die verschiedenen Ansätze gehen davon aus, dass aufgrund gestiegener Pluralität moderner Gesellschaften nicht mehr einfach von einem kausalen Zusammenhang zwischen der Klasse bzw. Schicht und der Lebensführung der Menschen ausgegangen werden kann, sondern dass stattdessen vielfältigere Lebensstile und Milieus entstanden sind (vgl. Burzan 2007: 89 ff.). Hradil bezeichnet Lebensstil als ein bestimmtes „Muster der Alltagorganisation“, als „regelmäßig wiederkehrender Gesamtzusammenhang von Verhaltensweisen, Meinungen, Wissensbeständen und bewertenden Einstellungen“ (Hradil 2004: 285). Im Gegensatz zu Klassen- und Schichtmodellen beachten Lebensstilansätze nicht nur objektive Merkmale wie z.B. die Höhe des Einkommens, sondern berücksichtigen stärker auch subjektive Aspekte wie z.B. das Freizeitverhalten einer Person, sodass sie insgesamt eine ganzheitlichere Sicht einnehmen (vgl. Burzan 2007: 92 f.). Ziel ist es, „ein lebensnahes Modell zu entwerfen, das die Makroebene der Struktur mit der Mikroebene der Handlungen verknüpft“ (Burzan 2007: 93). Soziale Milieus fassen nach Hradil

128

Marita Blitzko-Hoener, Marja Weiser

„Gruppen Gleichgesinnter zusammen, die gemeinsame Werthaltungen und Mentalitäten aufweisen und auch die Art gemeinsam haben, ihre Beziehungen zu Mitmenschen einzurichten und ihre Umwelt in ähnlicher Weise zu sehen und zu gestalten“ (Hradil 2001: 45).

Oftmals weisen solche Gruppen auch ein gemeinsames sachliches Umfeld (z.B. das Stadtviertel) auf oder sind durch einen inneren Zusammenhang verbunden, der ein gewisses „Wir-Gefühl“ entstehen lässt und sich durch häufigere Kontakte der Menschen untereinander ausdrückt (vgl. Hradil 2004: 278). Den Unterschied zwischen Lebensstilen und Milieus sieht Hradil darin, dass sich Lebensstile theoretisch relativ schnell ändern können, während Milieus durch tief verankerte gruppentypische Werthaltungen gekennzeichnet sind (vgl. Hradil 2001: 46). Lebensstil- und Milieumodelle haben den Vorteil, dass sie dem Handeln, den Entscheidungen und der individuellen Lebensweise der Menschen große Bedeutung zuweisen. Sie können mehrere Aspekte gleichzeitig berücksichtigen und werden dadurch realitätsnäher. Gänzlich losgelöst von objektiven Lebensbedingungen sind sie jedoch nicht. Kritisiert werden die Ansätze u.a. dahingehend, dass es ihnen an Theorieanbindung mangelt, dass sie vertikale Ungleichheiten möglicherweise vernachlässigen oder den Beziehungen und Entwicklungen sozialer Gruppen nicht ausreichend Beachtung schenken (vgl. Burzan 2007). 2.3

Individualisierung

Die Individualisierungsthese ist vor allem auf Ulrich Beck (u.a. 1986) zurückzuführen. Sie lässt sich Richtungen zuordnen, die übergeordnet als Entstrukturierungsansätze oder Auflösungsthesen bezeichnet werden. Nach Beck ist Individualisierung ein Prozess, der seit den 1960er Jahren in modernen Gesellschaften zu erkennen ist. Dieser Individualisierungsprozess bewirkt ihm zufolge eine Herauslösung der Individuen aus traditionellen Bindungen wie Klasse oder Schicht, was einerseits zwar zu mehr Freiheiten, andererseits aber auch zu mehr Unsicherheiten und Risiken für die Menschen führt. Neuere Formen der Einbindung erfolgen nicht mehr primär über Großgruppen, sondern über Institutionen wie z.B. den Arbeitsmarkt; dies bedeutet jedoch nicht, dass einzelne generell über keine Bindungen mehr verfügen, nur haben sich diese verändert (vgl. Burzan 2007: 157 ff.). Hradil spricht diesbezüglich von der „Entstehung einer Fülle von größeren oder kleineren, stabilen oder flüchtigen Gruppierungen und Lebensweisen […]“ (Hradil 2001: 93). Als eine der Ursachen dieses Individualisierungsprozesses gilt u.a. der wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Beck spricht hier vom sog. „Fahrstuhleffekt“ (Beck 1986: 122), wonach der Lebens-

Soziale Ungleichheit und Geschlecht – Zur Situation von Frauen im Alter

129

standard der Gesellschaft sozusagen „um eine Etage nach oben“ gestiegen ist. Bestehende Ungleichheiten sind dabei zwar (im Verhältnis) weitgehend gleich geblieben, dennoch haben sich insgesamt die Handlungsspielräume – auch für benachteiligte Gruppen – deutlich erweitert, sodass sich ein Trend zu Individualisierung, Differenzierung und Pluralisierung durchsetzen konnte (vgl. Diezinger/Mayr-Kleffel 1999: 72 ff.). Aus der Darstellung der verschiedenen Theorien wird ersichtlich, dass die „traditionellen“ Klassen- und Schichttheorien vor allem durch eine vertikale Strukturierung sozialer Ungleichheit geprägt sind, wohingegen in neueren Theorien stärker horizontale Strukturen im Vordergrund stehen bzw. beide gleichermaßen berücksichtigt werden. Die Erweiterung der Ungleichheitsforschung um horizontale Dimensionen wie z.B. Geschlecht, Alter, Herkunft etc. erfolgte im Zuge der Kritik an der Erwerbszentriertheit herkömmlicher Klassen- und Schichtmodelle. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie die zunehmende soziale Differenzierung und Pluralisierung der Lebensweisen in modernen Gesellschaften, hervorgerufen durch den erhöhten Lebensstandart für den Großteil der Bevölkerung sowie durch die Bildungsexpansion und die wohlfahrtsstaatliche Absicherung, nicht mehr angemessen erfassen können. Dies liegt zum einen daran, dass sie sich zu stark auf ökonomische Ursachen und Dimensionen sozialer Ungleichheit wie z.B. die berufliche Stellung konzentrieren und zum anderen das spezifische Denken und Handeln der Menschen unmittelbar daraus ableiten. Darüber hinaus gelten diese Modelle als zu abstrakt und zu statisch, um den Wandel der Sozialstruktur ausreichend zu berücksichtigen (vgl. Burzan 2007). Neuere Modelle, die auch sehr unterschiedliche theoretische Schwerpunkte setzen, können diese kritisierten Mängel zwar teilweise kompensieren. Eine einzige allgemeingültige Theorie, die allen Ansprüchen gerecht wird, existiert jedoch nicht. Nach Burzan kommt es darauf aber auch gar nicht an: „Es muss nicht darum gehen, die eine integrierte Gesellschaftstheorie zu entwickeln, die alle Fragen nicht nur der sozialen Ungleichheit, sondern der Soziologie insgesamt beantworten kann, aber Forscherinnen und Forscher können darauf abzielen, die jeweils `blinden Flecken´ ihrer Perspektive mitzudenken und ihr Konzept für andere Theorierichtungen anschlussfähig zu halten“ (Burzan 2007: 179).

Über die hier vorgestellten Theorien und Modelle hinaus existiert noch eine Vielzahl anderer Ansätze, sodass die vorangegangene Übersicht nur einen Ausschnitt bietet3. 3

Hierzu zählen u.a. die funktionalistische Schichtungstheorie (vgl. u.a. Davis/Moore 1967), das Zentrum-Peripherie-Modell nach Kreckel (u.a. 1992) oder die Habitus-Theorie nach Bourdieu (u.a. 1982).

130 2.4

Marita Blitzko-Hoener, Marja Weiser

Geschlechtsblindheit“ von Klassen- und Schichttheorien

Die Berücksichtigung von Geschlecht als Kategorie sozialer Ungleichheit ist vor allem ein Verdienst der Frauenbewegungen der 1970er Jahre. Die zu dieser Zeit entstandene Frauenforschung setzte sich intensiv mit der Diskriminierung und Benachteiligung von Frauen auseinander und begann, ihre Ursachen und Erscheinungsformen zu analysieren. Da das Thema geschlechtsspezifischer Ungleichheit bis dahin noch keinen Einzug in die Soziologie gefunden hatte, wurde dies nun seitens der Frauenforschung vehement eingefordert (vgl. Cyba 2000: 44). Die bis dahin vorherrschenden Klassen- und Schichttheorien erwiesen sich bei der Analyse als ungeeignet – zum einen aufgrund ihrer Erwerbszentriertheit, zum anderen aber auch deshalb, weil es stets männliche Lebensbedingungen waren, die den allgemeinen Maßstab bildeten (vgl. Diezinger/Mayr-Kleffel 1999: 152). Soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ließ sich hierbei nur als Differenzierung im Rahmen von Klassen und Schichten erfassen, sodass soziale Verhältnisse im familiären Kontext und in Partnerschaften vernachlässigt blieben (vgl. Gottschall 2008: 194). Im Zuge dieser Kritik an der „Geschlechtsblindheit“ (Gottschall 2000: 137) traditioneller Theorien entstanden eine Reihe feministischer Ansätze, welche die Lebensbedingungen von Frauen in umfassender Weise wahrzunehmen versuchten und geschlechtsspezifische Ungleichheit schließlich als eigenständiges soziologisches Thema etablierten (vgl. Cyba 2000: 44 f.). Als Beispiele können u.a. das Konzept des „weiblichen Arbeitsvermögens“ (vgl. u.a. Beck-Gernsheim/Ostner 1978), das Konzept der „doppelten Vergesellschaftung“ (vgl. u.a. Becker-Schmidt 1980), der aus der „Hausarbeitsdebatte“ hervorgegangene „Bielefelder (Subsistenz-) Ansatz“ (vgl. u.a. Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1983) oder auch Cybas Ansatz zu „geschlechtsspezifischer Schließung“ (vgl. Cyba 1993) genannt werden. Für Gottschall liegt die zentrale Leistung des feministischen Diskurses darin, dass er – durch eine kritische Haltung gegenüber dem soziologischen Verständnis von Arbeit und Familie und somit vor allem auch gegenüber der Erwerbszentriertheit herkömmlicher Theorien – aufzeigen konnte, wie sehr das Geschlechterverhältnis die Konstitution moderner Gesellschaften prägt und Geschlecht daher als Strukturkategorie sozialer Ungleichheit zu betrachten ist (vgl. Gottschall 2000: 138). 3

Mögliche Erklärungshypothesen

Die Alter(n)ssoziologie spielte innerhalb der allgemeinen Soziologie lange Zeit nur eine relativ untergeordnete Rolle, das Thema sozialer Ungleichheit im Alter blieb dabei weitestgehend unbeachtet. Dies wurde vor allem von Kohli (1990)

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131

kritisiert. Erst die großen Altersstudien wie z.B. die Berliner Altersstudie (BASE) (1996) und der Alters-Survey (2005) widmeten sich dem zunehmend und eröffneten eine breitere Diskussion über die Bedeutung von Alter hinsichtlich sozialer Ungleichheit. Clemens (2008) bezeichnet die Berücksichtigung der Thematik in der deutschsprachigen Ungleichheitsforschung jedoch als bislang noch relativ bescheiden. Er vertritt die Ansicht, dass Alter(n)sprozesse zunehmend weite Bereiche der institutionellen und gesellschaftlichen Entwicklung bestimmen, was sich daher in der soziologischen Theoriebildung niederschlagen müsse (vgl. Clemens 2008: 17 f.). Während in früheren Jahrhunderten Alter an sich oftmals schon als Kategorie sozialer Ungleichheit im Sinne von Ungleichwertigkeit galt, hat sich dies in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert (vgl. Mayer/Wagner 1996: 251 f.). Insgesamt ist eine Anhebung des Lebensstandards eingetreten („Fahrstuhleffekt“, vgl. Kap. 2.3), was sich z.B. an einer allgemein verbesserten Gesundheitssituation zeigt, wodurch auch die Lebenserwartung gestiegen ist, sowie an der verbesserten materiellen Absicherung im Alter. Somit ist die Lebensphase Alter heute für den Großteil der Betroffenen – zumindest theoretisch – weitestgehend durch Autonomie und gesellschaftliche Partizipation geprägt (vgl. Clemens 2008: 19). Dennoch sind viele Menschen im Alter von Armut und Not betroffen oder zumindest davon bedroht, wenn auch im Verhältnis zu anderen Altersgruppen, wie z.B. alleinerziehenden Müttern, in weniger starkem Ausmaß. Vor allem ältere Frauen und Angehörige unterprivilegierter Gruppen sind sowohl materiell als auch immateriell sozial gefährdet. Darüber hinaus treten neue Unsicherheiten in Erscheinung, z.B. in Form von Rentenkürzungen, einer stärkeren Verlagerung auf private Altersvorsorge sowie einer steigenden Zahl diskontinuierlicher Erwerbsbiographien (vgl. Backes/Clemens 2008: 86). Die Ergebnisse der verschiedenen Altersstudien hinsichtlich Lebenslagen und sozialer Ungleichheit im Alter – neben der BASE und dem Alters-Survey sind insbesondere noch die fünf Berichte zur Lage der älteren Generation (BMFSFJ 1998, 2001, 2002a, 2005; BMFuS 1993) zu nennen – machen schließlich deutlich, dass auch im Alter ein erhebliches Ausmaß an sozialer Ungleichheit besteht (vgl. Backes/Amrhein 2008: 72). 3.1

Die Berliner Altersstudie und der Alters-Survey

In der BASE (vgl. Mayer/Wagner 1996: 251 ff.) wird der Frage nachgegangen, inwieweit sozioökonomische Bedingungen die Lebenslagen und die sozialen Aktivitäten alter Menschen (in West-Berlin) beeinflussen. Als Indikatoren sozialer Ungleichheit werden Bildung, Sozialprestige, Hauseigentum, Einkommen

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und die soziale Schichtzugehörigkeit herangezogen. Als Lebenslagedimensionen werden die materielle Lage, gesellschaftliche Beteiligung, soziale Lebensformen und soziale Versorgung sowie physische und psychische Gesundheit berücksichtigt. Bei der Messung der Schichtzugehörigkeit ist der letzte Beruf bzw. die berufliche Stellung ausschlaggebend; der Haushalt bildet die Untersuchungseinheit, wobei nicht-erwerbstätige Ehefrauen und Kinder ihre soziale Schicht aus der Stellung des Hauptverdieners ableiten. Der Alters-Survey (vgl. Kohli et al. 2005: 318 ff.) geht hinsichtlich der Analysemethodik in etwa gleich vor wie die BASE. Beide Studien unterscheiden insgesamt fünf Schichten, wobei die Bezeichnungen etwas abweichen: Unterschicht, untere Mittelschicht, mittlere Mittelschicht, obere Mittelschicht und Oberschicht (hier nach dem Alters-Survey). Von zentraler Bedeutung bei der Ungleichheitsanalyse ist die Frage, inwieweit sich die Struktur und die Wirksamkeit sozialer Ungleichheiten im Laufe des Alter(n)sprozesses verändern. Hierzu prüfen die BASE und der Alterssurvey verschiedene Hypothesen (vgl. Mayer/Wagner 1996: 254 f.; Kohli et al. 2005: 319 f.; Clemens 2008: 21): ƒ

ƒ

Kontinuitätsthese bzw. These sozioökonomischer Differenzierung Sie geht davon aus, dass die Position im System sozialer Ungleichheit, die eine Person im Erwerbsleben erlangt hat, auch im Ruhestand bzw. bis ins hohe Alte bestehen bleibt. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht wirkt somit auch in der Nacherwerbsphase noch weiter differenzierend. Die soziale Lage im Alter stellt sozusagen das Ergebnis des Lebenslaufs dar. Demnach sind nicht in erster Linie die Alter(n)sprozesse ausschlaggebend für die Ungleichheitsposition im Alter, sondern die jeweilige Schichtzugehörigkeit bzw. die damit zusammenhängenden differenziell wirksamen Voraussetzungen. Die These stützt sich u.a. darauf, dass die Alterssicherung (in Deutschland, aber auch in anderen Sozialstaaten) so ausgerichtet ist, dass die Einkommenssituation im Erwerbsleben auch im Ruhestand annähernd gleich bleibt. Kumulations- bzw. Destrukturierungsthese Nach diesen beiden Thesen kommt es entweder zu einer verstärkten oder einer nachlassenden Wirkung der Schichtzugehörigkeit im Alter. Nach der Kumulationsthese nimmt die Wirksamkeit vertikaler Ungleichheit im Alter zu, wobei dafür vor allem der Zusammenhang zwischen materiellen Ressourcen und dem Gesundheitszustand bedeutsam ist. Umgekehrt geht die Destrukturierungsthese davon aus, dass sich soziale Ungleichheiten, die mit der Schichtzugehörigkeit verbunden sind, mit steigendem Alter abschwächen. Dementsprechend setzen sich gesundheitliche Einschränkungen, die

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ƒ

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mit dem Alter zunehmen, gegenüber schichtspezifischen Vor- und Nachteilen durch. These der Altersbedingtheit Nach dieser These ist das Alter selbst als zentrale Ursache von sozialer Ungleichheit zu betrachten. Dies wird vor allem auf die sich mit zunehmendem Alter vollziehenden Prozesse nachlassender körperlicher und seelischgeistiger Fähigkeiten zurückgeführt sowie auf bestimmte soziale Zuschreibungen (Altersbilder) und institutionelle Regelungen wie beispielsweise Rentenkürzungen oder die Bindung der Rentenhöhe an das Einkommen während der Erwerbsphase. Letztendlich geht die These – als Effekt – ebenfalls davon aus, dass sich erwerbsbezogene Schichtunterschiede mit steigendem Alter reduzieren.

Kohli et al. kommen schließlich zu dem Schluss, dass „in gewisser Weise […] alle drei Thesen bestätigt und gleichzeitig widerlegt [werden]“ (vgl.Kohli et al. 2005: 333), da die empirischen Ergebnisse – sowohl die des Alters-Surveys als auch jene der BASE – teilweise für und teilweise gegen die Thesen sprechen. Für die Kontinuitätsthese spricht beispielsweise, dass sich die materielle Lage im Alter im Vergleich zur Erwerbsphase meist nicht wesentlich verändert, es zeigt sich vielmehr eine weitgehende Stabilität der Einkommenssituation. Somit sind weiterhin wirksame Schichtdifferenzen die Erklärung für Unterschiede in der materiellen Lage (vgl. Mayer/Wagner 1996: 261 ff.; Clemens 2008: 22). Backes/Clemens weisen jedoch darauf hin, dass hinsichtlich der materiellen Lage auch „soziale Abstiege“ im Alter möglich sind, was auf Lücken in der Alterssicherung zurückzuführen ist. Dies betrifft insbesondere Frauen, aufgrund geringerer Rentenansprüche, sowie unzureichend versicherte Selbständige (vgl. Backes/Clemens 2008: 87). Die Kumulationsthese wird eher durch Einzelbefunde gestützt, z.B. durch das deutlich geringere Heimunterbringungsrisiko bei Personen aus höheren sozialen Schichten. Umgekehrt nimmt dieser Personenkreis professionelle Hilfe häufiger in Anspruch als Angehörige niedriger Schichten, was z.T. finanzielle Gründe haben dürfte (vgl. Mayer/Wagner 1996: 267 ff.). Die Befunde hinsichtlich der sozialen Beziehungen älter Menschen weisen tendenziell auf eine Abschwächung des Schichteinflusses im Alternsverlauf hin, was wiederum für die Destruktrierungsthese spricht (vgl. Kohli et al. 2005: 332). Die These der Altersbedingtheit wird plausibel im Hinblick auf die Abnahme kultureller und sozialer Beteiligung mit zunehmendem Alter. Dies hängt vermutlich mit gesundheitlichen Einschränkungen im Alterungsprozess zusammen und ist relativ unabhängig von der sozialen Schicht zu beobachten (vgl. Clemens 2008: 22).

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Trotz der z.T. gegensätzlichen Schlussfolgerungen erlangt nach Ansicht von Kohli et al. die Kontinuitätsthese insgesamt am ehesten Gültigkeit, da die Ergebnisse in erster Linie auf einen Fortbestand der Ungleichheitsrelationen hindeuten, sodass in den meisten Bereichen die Benachteiligung niedrigerer Sozialschichten gegenüber höheren auch im Alter weiterhin bestehen bleibt (vgl. Kohli et al. 2005: 333). Auch Mayer/Wagner konstatieren: „Die Position im System sozialer Ungleichheit am Ende des Erwerbslebens prägt die Lebensbedingungen und Lebenschancen im höheren Alter“ (Mayer/Wagner 1996: 272).

Als konzeptionelle Grundlage zur Analyse bzw. zur theoretischen Fundierung sozialer Ungleichheit im Alter befürwortet Clemens das soziologische Konzept der „Lebenslage“ (vgl. z.B. Amann 2000, Hradil 1987), da hierbei eine Vielzahl an Ungleichheitsdimensionen angemessen berücksichtigt und eine Verknüpfung zwischen Struktur- und Handlungsebene hergestellt werden kann (vgl. Clemens 2008: 27). 4

Das Konzept der Lebenslage

Das Konzept der Lebenslage zur Analyse sozialer Ungleichheit kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Dabei sind vor allem Otto Neurath und Gerhard Weisser zu nennen. Während Neurath Anfang des 20. Jahrhunderts eine theoretische und methodische Bestimmung des Lebenslagebegriffs vornahm und ihn dadurch als Grundbegriff in der Soziologie manifestierte, wurde der Ansatz von Weisser (1966) später weiterentwickelt, um die Sozialpolitik theoretisch als Wissenschaft zu begründen. Eine umfassendere und vielfältigere Thematisierung findet jedoch erst seit den 1970er Jahren statt (vgl. Backes/Clemens 2000: 12; Backes/Clemens 2008: 170). In jüngerer Zeit treten insbesondere Amann (u.a. 1983, 2000) und Hradil (u.a. 1987) als Vertreter des Lebenslagenansatzes hervor. Amann definiert Lebenslage folgendermaßen: „Lebenslagen sind […] die historisch entstandenen und sich entwickelnden Strukturbeziehungen, die sich aus den äußeren Lebensbedingungen ergeben, die Menschen im Ablauf ihres Lebens vorfinden, sowie die mit diesen äußeren Bedingungen in wechselseitiger Abhängigkeit sich entwickelnden individuellen Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen, die diese Menschen hervorbringen. Lebenslagen sind dynamisch in der Perspektive ihres dauernden sozialen, ökonomischen und kulturellen Wandels, sie sind beharrend in der Perspektive ihrer nur durch Anstrengung veränderbaren Zustände“ (Amann 2000: 57 f.).

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Den Kern des Lebenslagenkonzeptes bildet somit die Beziehung zwischen „Verhältnissen“ (gesellschaftlicher Strukturebene) und „Verhalten“ (individueller Handlungsebene), welche nicht dualistisch, sondern dialektisch zu verstehen ist. Demzufolge sind individuelle Handlungen sowohl Ergebnis als auch Ursache gesellschaftlicher Strukturen; gleichzeitig sind gesellschaftliche Strukturen sowohl Produkte als auch Produzenten individueller Handlungen (vgl. Amann 2000: 57, Stiehr/Spindler 2008: 37). Nach Amann (2000) drücken Lebenslagen gesellschaftlich produzierte Ungleichheit aus und legen daher Start- und Entwicklungschancen fest, die im historischen und individuell-biographischen Verlauf formierend wirken. Er formuliert dazu: „Lebenslage heißt einerseits die für aufeinanderfolgende Kohorten unterschiedliche Höhe und Verteilungsform des gesellschaftlichen Reichtums, der sozialen Chancen und der politischen Freiheiten sowie der kulturellen Potentiale, unter denen Menschen leben, und schließlich die auf diesem Hintergrund sich ergebenden tatsächlichen und potentiellen Zugangs- und Verfügungschancen im je individuellen Fall (über Einkommen und Vermögen, Arbeit und Bildung, Leistungen und Rechte und Deutungs- und Interpretationsmöglichkeiten hin bis zu Ideologien und Theorien über die eigene soziale Existenz und ihre Voraussetzungen); Lebenslage heißt aber auch der Spielraum, den die einzelnen innerhalb dieser Verhältnisse zur Gestaltung ihrer Existenz potentiell vorfinden und tatsächlich verwerten und in denen sich Chancen als strukturierte Wahlmöglichkeiten, als Dispositionsspielräume darstellen“ (Amann 2000: 58).

4.1

Lebenslagedimensionen

Anders formuliert sind unter Lebenslagen (Handlungs-)Spielräume zu verstehen, die ein Mensch hat, sich unter den vorgegebenen gesellschaftlichen Bedingungen zu entfalten und seine Bedürfnisse und Interessen zu befriedigen (vgl. Bäcker et al. 2008: 45 f.). Um Handlungsspielräume analytisch und inhaltlich besser abgrenzen zu können, werden im Lebenslagenkonzept verschiedene Dimensionen unterschieden. Hinsichtlich der Lebenslagen älterer und alter Menschen sind dies insbesondere die folgenden sieben Dimensionen (vgl. u.a. Bäcker et al. 2008: 46, Clemens 2004: 47 f.): ƒ ƒ ƒ

Ökonomische Lage (Einkommens- und Vermögenssituation), Versorgung mit sozialkulturellen Gütern und Diensten (v.a. in den Bereichen Wohnen, Bildungs- und Gesundheitswesen, sozial-pflegerische Dienste), persönliche Kontakte, Kooperationsbezüge und sonstige soziale Aktivitäten,

136 ƒ

ƒ ƒ ƒ

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Lern- und Erfahrungsspielraum (v.a. die Möglichkeiten der Entfaltung der Interessen, die durch Sozialisation, schulische und berufliche Bildung, Erfahrungen der Arbeitswelt, das Ausmaß sozialer und räumlicher Mobilität sowie der Wohn- und Umweltbedingungen determiniert sind), Dispositions- und Partizipationsspielraum (v.a. Art und Ausmaß sozialer Teilnahme, Mitbestimmung und Mitgestaltung), Gesundheitszustand, Muße- und Regenerationsmöglichkeiten, der Spielraum, welcher durch die Existenz von Unterstützungsressourcen bei alternstypischer Hilfe- und Pflegeabhängigkeit aus dem familialen bzw. dem nachbarschaftlichen Umfeld bestimmt ist.

Lebenslage stellt somit ein mehrdimensionales Konzept zur Analyse sozialer Ungleichheit dar; berücksichtigt werden nicht nur materielle Dimensionen wie z.B. das Einkommensniveau, sondern auch immaterielle wie Gesundheit, familiäre Beziehungen, Wohnqualität etc. Backes/Clemens bewerten jedoch das Haushaltseinkommen als zentrales Merkmal der Lebenslage, da es in vielen Fällen den Zugang zur Befriedigung anderer Bedürfnisse erst möglich macht (vgl. Backes/Clemens 2008: 171). Auch zur Analyse geschlechtsspezifischer Ungleichheit im Alter ist das Lebenslagenkonzept geeignet, da die Geschlechtszugehörigkeit bzw. die gesellschaftliche Konstitution von Geschlecht – neben anderen Strukturmerkmalen – die Lebenslage wesentlich prägt (vgl. u.a. Amann 2000: 59 ff., Backes/Clemens 2000). 5

Genderkompetenz in der Sozialen Arbeit

„Geschlecht“ ist nicht bloß eine biologische Kategorie, sondern stellt immer auch ein soziales Konstrukt dar. In der englischen Sprache existieren dafür zwei verschiedene Ausdrücke: „sex“ für das biologische, „gender“ für das soziale Geschlecht. Da es im Deutschen diesbezüglich keine Entsprechung gibt, haben sich die beiden Begriffe auch hier weitgehend durchgesetzt (vgl. MoggeGrotjahn 2004: 8). Die Berücksichtigung von Aspekten, die das soziale Geschlecht betreffen, also „Genderaspekten“, ist für die Soziale Arbeit von großer Bedeutung. Böhnisch/ Funk beispielsweise sehen einen geschlechtstypischen Ansatz als professionelle Pflicht Sozialer Arbeit: „Wer meint, ‚geschlechtsneutral’ arbeiten zu können, arbeitet unprofessionell“ (Böhnisch/Funk 2002: 18).

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Auch Mogge-Grotjahn verweist auf die professionelle Notwendigkeit, geschlechtsspezifisch zu arbeiten, da Lebenslagen, Problemkonstellationen und Bewältigungsstrategien eine geschlechtstypische Aus-prägung haben. Sie betont darüber hinaus, dass sowohl im Umgang mit den Klientinnen und Klienten als auch in der Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen sowie hinsichtlich der Reflexion der eigenen Berufsrolle Genderaspekte eine bedeutende Rolle spielen (vgl. Mogge-Grotjahn 2004: 11 f.). „Genderkompetenz“ stellt eine wesentliche Qualifikation in der Sozialen Arbeit dar und ist zu einem bedeutenden Professionalitätsmerkmal geworden: „Dieser Begriff [Genderkompetenz, Hinzuf. d. Verf.] steht für all jene Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensdimensionen, über die eine Fachkraft der Sozialen Arbeit verfügen muss, um insbesondere im Zuge der Implementierung und Umsetzung der Gender Mainstreaming Strategie die eigene Arbeit geschlechterbewusst und gleichstellungsorientiert gestalten zu können. Ziel von Gender-kompetenz ist es, die verschiedenen Facetten von Gender-Aspekten sowohl in den Organisations- und Personalstrukturen – also auf der institutionellen Ebene – als auch in den pädagogischen Vollzügen, folglich auf der (adressatenbezogenen) Handlungsebene, identifizieren und gleichstellungsorientiert berücksichtigen zu können“ (Böllert/Karsunky 2008: 7).

Als Voraussetzungen für Genderkompetenz nennen Böllert/Karsunky zum einen Bewusstheit und Sensibilität für geschlechtsbezogene Gesichtspunkte des eigenen Handlungsfeldes, darüber hinaus Selbstreflexion bezüglich der eigenen Geschlechterrolle sowie hinsichtlich persönlicher Annahmen und Einstellungen zur Konzeption des Geschlechterverhältnisses; außerdem detaillierte Kenntnisse über Geschlechterdifferenzen und –hierarchien (Gender-Wissen) sowie Kenntnisse der Methoden und Instrumente (vgl. Böllert/Karsunky 2008: 7 f.). Insgesamt kann Genderkompetenz als „Handlungskompetenz“ begriffen werden, die sich aus folgenden Elementen zusammensetzt (vgl. Böllert/Karsunky 2008: 8): ƒ

ƒ

ƒ

Fach-/Sachkompetenz: Wissen über normative, kulturelle und politische Geschlechterdimensionen; Kenntnisse der zentralen Ergebnisse der Frauen-/ Männer-/Geschlechterforschung; Einblicke in Konzepte und Strategien der Gleichstellungspolitik; fachspezifisches Gender-Wissen in den entsprechenden Arbeitsfeldern; Methodenkompetenz: Kenntnisse und Fähigkeiten u.a. hinsichtlich der Anwendung von Instrumenten und Verfahren zur Gleichstellungsprüfung von Maßnahmen und Bestimmungen oder bezüglich der Identifizierung von Geschlechterstereotypisierungen und ihrer Auswirkungen; Sozialkompetenz: Wahrnehmung geschlechtsspezifischer Diskriminierungen und Geschlechterdifferenzen im Berufsalltag; Eingehen können auf die-

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ƒ

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se; Offenheit gegenüber den individuellen Gestaltungsmöglichkeiten der Geschlechtsidentität; Personale Kompetenz: Fähigkeit zur Reflexion der eigenen Geschlechterrolle im Berufsalltag; Fähigkeit zur konstruktiv kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen und dem anderen Geschlecht.

Bisher gehört die Vermittlung von Gender-Wissen sowie geschlechtsbezogener Praxis- und Selbstkompetenz noch nicht zum Standard der Ausbildung von sozialpädagogischen Fachkräften. Vielmehr wird Gender-Kompetenz vorwiegend noch als Spezialwissen behandelt (vgl. Böllert/Karsunky 2008: 9; Kunert-Zier 2005). 5.1

Gleichstellungspolitik und das Konzept des Gender Mainstreaming „Gleichstellungspolitik bezeichnet die Gesamtheit der Mittel, mit denen das Ziel der gleichen Teilhabe von Frauen und Männern erreicht werden soll“ (Cordes 2008: 917).

Sie hat ihren direkten Ursprung in den Frauenbewegungen der 1960er und 70er Jahre, wo vor allem die Forderung nach Selbstbestimmung der Frau im Vordergrund stand. Die Benachteiligungen, denen Frauen in der Gesellschaft ausgesetzt waren, wurden öffentlich angeprangert: Benachteiligungen im privaten und öffentlichen Bereich, die geschlechtstypische Arbeitsteilung mit der Konsequenz der Entwertung häuslich-familiärer Arbeit („Care“-Arbeit), Gewalt gegen Frauen, mangelnde politische Präsenz, rechtliche Benachteiligungen usw. Die Selbstbestimmung der eigenen Sexualität, die Entscheidungsfreiheit bezüglich der Gebärfähigkeit sowie eine Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs stellten zentrale Anliegen der Frauenbewegungen dar. Ab Anfang der 1980er Jahre erfolgte schließlich die Institutionalisierung der Gleichstellungspolitik in die staatlichen Einrichtungen (vgl. Klein 2006: 116 ff.). Gleichstellungspolitik verfolgt das Ziel, weibliche Diskriminierung als Ursache der ungleichen Lebensverhältnisse von Frauen und Männern zu beseitigen. Darüber hinaus zielt Gleichstellungspolitik auf die Beseitigung der Folgen dieser Ungleichheit sowie auf gleiche Lebenschancen und Teilhabe von Frauen an den gesellschaftlichen Ressourcen. Seit 1949 sind der Grundsatz der Gleichberechtigung von Frau und Mann sowie das Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts in Artikel 3, Absatz 2 und 3 des deutschen Grundgesetzes verankert. 1994 wurde Absatz 2 um einen Satz erweitert, welcher die Herstellung von Gleichstellung als Staatsziel festschreibt. Auch das EU-Recht untersagt die Diskriminierung von Frauen. Eine für alle Mitgliedsstaaten rechtsverbindliche Gleichbehandlungsrichtlinie (in der Novellierung von 2002) formuliert neben dem Diskriminierungsverbot zudem auch das Recht auf Chancengleichheit für beide Geschlechter (vgl. Cordes 2008: 916 f.).

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Als eine der zentralen Organisationsformen institutionalisierter Gleichstellungspolitik wurden auf sämtlichen Ebenen Gleichstellungsstellen als frauenspezifische Institutionen geschaffen, die mittlerweile in allen gesellschaftlichen Bereichen fest verankert sind: auf Bundesebene (im Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie in den Frauenreferaten innerhalb der einzelnen Bundesministerien), auf Länderebene und auf kommunaler Ebene (durch Landesgleichstellungsgesetze sowie Gemeinde- und Landkreisordnungen) (vgl. Cordes 2008: 917 f.). Strategien der Gleichstellungspolitik sind im Wesentlichen auf Frauenförderung ausgerichtet und beziehen sich auf folgende Problembereiche: ƒ ƒ ƒ

Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Unterstützung beim Zugang zu Bereichen, die von Männern dominiert sind, und Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen.

Die frauenpolitische Wirksamkeit der institutionalisierten Gleichstellungspolitik wird jedoch vielfach kritisch bewertet, da hinsichtlich der gesellschaftlichen Veränderungen, die sie bewirken sollte, nur wenige nachweisbare Erfolge erzielt werden konnten (vgl. Cordes 2008: 919 f.). Seit den 1990er Jahren werden inzwischen verschiedene neue Konzepte entwickelt, die auf eine Gleichstellung von Männern und Frauen abzielen. Dazu zählen u.a. das Konzept des Gender Mainstreaming (GM), welches nachfolgend dargestellt wird, sowie das Konzept des Diversity Management (vgl. z.B. Bruchhagen/Koall 2008). GM hat das Ziel, geschlechtsspezifische Sichtweisen zu berücksichtigen und gleichzeitig auch deren Hemmnisse zu beseitigen. Der Ansatz stellt eine Erweiterung der einseitig fokussierten Konzepte der Frauenförderpolitik dar und reklamiert die Realisierung von Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern als allgemeine Aufgabe aller politischen Handlungsfelder sowie auf allen politischen Ebenen. GM wurde für die Europäische Union im Amsterdamer Vertrag von 1999 festgeschrieben und ist folglich auch für alle Mitgliedsstaaten der EU verbindlich (vgl. Meyer 2004: 215; Stiegler 2008: 925). „Gender Mainstreaming besteht in der (Re-)Organisation, Verbesserung, Entwicklung und Evaluation von Entscheidungsprozessen mit dem Ziel, dass die an politischer Gestaltung beteiligten Akteure und Akteurinnen den Blickwinkel der Gleichstellung zwischen Frauen und Männern in allen Bereichen und auf allen Ebenen einnehmen“ (Europarat 1998 zit. n. Stiegler 2008: 925).

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Durch die Verwendung des Begriffs „Gender“ wird bestätigt, dass die Handlungs-möglichkeiten von Frauen und Männern durch politische, soziale, ökonomische und kulturelle Strukturen beeinflusst werden (vgl. Stiegler 2008: 925). Auch in Deutschland ist GM mittlerweile in nahezu allen Geschäftsordnungen des Bundes und der Länder verankert. In manchen Gesetzen und Verordnungen, z.B. im Hochschulrahmengesetz, ist GM verbindlich vorgeschrieben. Auch in einigen Förderplänen, z.B. im Kinder- und Jugendplan des Bundes sowie in den Richtlinien zur Forschungsförderung, stellt die Umsetzung des Konzepts eine verbindliche Pflicht dar. Ebenso haben zivilgesellschaftliche Organisationen wie Verbände oder Gewerkschaften GM in ihre Satzungen integriert (vgl. Stiegler 2008: 927). GM ist als konzeptionelles Instrument zur Veränderung von Entscheidungsprozessen zu betrachten. Es handelt sich um eine systematisierende Verfahrensweise, die innerhalb der Organisationen zwar „von oben nach unten“ (Top down) implementiert wird, sich jedoch letztendlich „von unten nach oben“ (Bottom up) vollzieht. Die Anwendung des Konzepts ist als Organisationsentwicklungsprozess zu gestalten, der auch darauf abzielt, die Organisationskultur zu verändern sowie neue Muster der Problembearbeitung zu entwickeln. Allgemein dient GM der Herstellung von Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern, es ist jedoch für jedes Arbeitsfeld eine genaue Zieldefinition sowie eine jeweils spezifische Operationalisierung vonnöten. Nicht GM selbst ist das Ziel, es stellt vielmehr ein Verfahren dar, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen und ist somit offen für verschiedene geschlechterpolitische Optionen. Bei der Umsetzung von GM werden unterschiedliche Methoden angewendet (vgl. Stiegler 2008: 926): ƒ ƒ ƒ

analytische Methoden (z.B. Checklisten, Budgetanalysen) pädagogische Methoden (z.B. Gendertraining und -workshops) partizipatorische Methoden (z.B. Zukunftswerkstätten)

Entgegen den Konzepten der Frauenförderung nimmt GM nicht nur die gesellschaftliche Stellung von Frauen in den Blick, sondern die Verhältnisse zwischen beiden Geschlechtern und daher die Position von Frauen und Männern. Außerdem setzt GM auch dort an, wo (noch) keine sichtbaren geschlechtsspezifischen Bezüge bestehen und berücksichtigt somit die Tatsache, dass die Geschlechterfrage in allen gesellschaftlichen Handlungsfeldern eine Rolle spielt. GM stellt daher eine Querschnitts- und keine Sonderaufgabe dar (vgl. BMFSFJ 2002: 80 f.).

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5.2

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Soziale (Alten-)Arbeit

Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen wird unterschieden nach Sozialer Arbeit in speziellen Einrichtungen der Altenhilfe und Sozialer Arbeit in Diensten, die nicht altenhilfespezifisch sind. Teilweise wird auch nach „direkter“ und „indirekter“ Arbeit mit Älteren differenziert. Soziale (Alten-)Arbeit umfasst verschiedene Formen von Hilfen und Angeboten. Sie kann stattfinden: ƒ ƒ ƒ

als Angebot an alle älteren und alten Menschen zur Verwirklichung ihrer generellen Bedürfnisse und Rechte, als ergänzende Hilfe in speziellen altersbedingten Problemsituationen, die vorüber gehen oder als ständige Hilfe für diejenigen alten Menschen, welche nicht aus eigener Kraft Einschränkungen und Behinderungen überwinden können (vgl. Backes/Clemens 2008: 318 f.).

Dabei sind die Angebote der Sozialen (Alten-)Arbeit weitgehend an den jeweils vorhandenen Altersleitbildern orientiert. Diese haben sich historisch betrachtet mehrfach gewandelt. Während in früheren Jahren zunächst Bilder des „betreuten Alters“ und des „aktiven Alters“ im Vordergrund standen, dominiert heute das Leitbild des „produktiven Alters“. Das Ziel professionellen Handels besteht nicht mehr lediglich darin, den zurückgezogenen, passiven alten Menschen zu betreuen bzw. zu aktivieren; stattdessen gilt es, seine Kompetenzen zu mobilisieren und ihn zur Nutzung vorhandener Ressourcen zu befähigen (vgl. Backes/Clemens 2008: 319). Die Mehrheit der SozialarbeiterInnenstellen liegt im Bereich offener Altenarbeit, z.B. in der Beratung, im Bildungs-, Freizeit- und Kulturbereich (vgl. Backes/Clemens 2008: 320), sie umfasst aber auch noch andere Bereiche. Zu den Arbeitsfeldern zählen darüber hinaus u.a. die Soziale Arbeit in stationären bzw. teilstationären Einrichtungen (z.B. Pflegeinrichtungen, Betreutes Wohnen, Hausgemeinschaften/Wohngruppen), im ambulanten Dienstleistungsbereich (z.B. Pflegedienste, Sozialstationen), im Planungs- und Koordinationsbereich (z.B. Altenhilfefachberatung), an der Schnittstelle zum Gesundheitswesen (z.B. Krankenhaus, Rehabilitationseinrichtungen, sozialpsychiatrische Dienste) sowie auch in der Sterbebegleitung (z.B. Hospize, Besuchsdienste) etc. (vgl. Kleiner 2005: 60 ff., Zippel/Kraus 2009).

142 5.3

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Neue Orientierungsansätze

Aufgrund der vielfältigen gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen, die mit dem demographischen Wandel und dem Strukturwandel des Alters einhergehen (vgl. Kap. 1), sieht sich die Soziale (Alten-)Arbeit mit neuen An- und Herausforderungen konfrontiert. Dies anerkennend wurden in den letzten Jahren grundsätzliche Orientierungen und Strategien formuliert, die als kennzeichnend für eine „zeitgemäße Altenarbeit“ gelten sollen (vgl. Backes/Clemens 2008: 322): Autonomieorientierung: Der Entmündigung und Fremdbestimmung alter Menschen soll entgegengewirkt werden; Problemlösungsstrategien müssen jeweils am Individuum orientiert sein. ƒ

ƒ

ƒ

ƒ

Lebensweltorientierung: Handlungsziele sind mit den Adressatinnen und Adressaten gemeinsam auszuhandeln, um einen Zugang zu deren Lebenswelt zu erhalten; Angebote und Leistungen der Altenarbeit sollen an der Lebenswelt der älteren Menschen orientiert sein. Biographieorientierung: Die aktuelle Lebenssituation älterer Menschen ist entscheidend auch durch ihren Lebenslauf geprägt; Aufgabe Sozialer (Alten-)Arbeit ist es, an Biographien anzusetzen, um Anknüpfungspunkte für neue Perspektiven und Entwicklungen finden zu können. Kompetenzorientierung: Die Handlungskompetenz älterer Menschen stellt sowohl Anknüpfungspunkt als auch Ziel Sozialer (Alten-)Arbeit dar; Kompetenzförderung kann bei dem Menschen selbst oder bei seiner Umwelt ansetzen. Produktivitätsstrategie: Produktivität führt in Wechselwirkung zu einer Veränderung des älteren Menschen und seiner Umwelt; es handelt sich um ein sozialpsychologisches Ziel Sozialer (Alten-)Arbeit, mit welchem sich weitergehende Ziele verbinden lassen.

„Normalisierung des Alters“ und alterspolyphone Integrationsstrategie: Es sollen einerseits, wo nötig, „Schutzzonen“ für einzelne Gruppen älterer Menschen geschaffen werden, andererseits gemeinsame Aktivitäten verschiedener Altersgruppen gefördert werden. Als übergeordnetes Ziel dieser Orientierungen und Strategien kann nach Zeman (1998) die erfolgreiche Bewältigung des demographischen Wandels bzw. seiner Folgen für alle Generationen verstanden werden (vgl. Backes/Clemens 2008: 323). Um eine zeitgemäße Altenarbeit realisieren zu können, bedarf es Professionalität. Otto/Schweppe bemängeln jedoch, dass die bisherige Altenarbeit aufgrund fehlender oder zu geringer Qualifikation der MitarbeiterInnen meist nur durch Semiprofessionalität ausgezeichnet sei (vgl. Otto/Schweppe 1996: 66).

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Nach Backes/Clemens wird die Soziale Arbeit den Anforderungen der mit dem Alter zusammenhängenden Besonderheiten insbesondere dort nicht gerecht, wo die Beschäftigten nicht auf eine Gerontologisierung ihres Arbeitsfeldes vorbereitet sind, vor allem also in den traditionellen Tätigkeitsfeldern. Konzeptionelles Arbeiten, z.B. nach dem Ansatz der Lebensweltorientierung oder des Empowerments (vgl. z.B. Galuske 1998), hat sich in der Sozialen Arbeit mit älteren und alten Menschen daher erst teilweise durchgesetzt. Zukünftige Tätigkeiten Sozialer (Alten-)Arbeit werden schwerpunktmäßig im Bereich vermittelnder, koordinierender, initiierender und ressourcenerschließender Aufgaben liegen4. Dabei ist es wichtig, dass sich die Entwicklung beruflicher Kompetenz an den Lebenswelten und Ressourcen der älteren Menschen sowie an neuen Lebensentwürfen im Alter orientiert. Dies kann nur durch die Integration sozialgerontologischer Grundlagen und Fragestellungen in Studium und Weiterbildung verwirklicht werden (vgl. Backes/Clemens 2008: 323). Nach Otto/Schweppe könnte sozialpädagogische Kompetenz in der Altenarbeit darin liegen, „jene sozialen Ressourcen, die zur Bewältigung der ambivalenten und paradoxen Anforderungen moderner Lebensführung im Alter erforderlich sind, zu stärken und zu fördern und auf diese Weise die Entwicklung subjektiv als befriedigend und sinnvoll erlebter Lebensentwürfe zu unterstützen“ (Otto/Schweppe 1996: 66 f.).

Allgemein betrachtet wird es für die Soziale (Alten-)Arbeit immer wichtiger werden, zwischen den unterschiedlichen Altersphasen und ihrem jeweiligen Unterstützungsbedarf zu differenzieren. Es kann nicht mehr von „dem Alter“ im Sinne einer homogenen Lebensphase gesprochen werden, genauso wenig wie von „den Alten“. Ferner stellt sich die Frage, ob aufgrund der Zunahme der Hochaltrigkeit eine stärkere Konzentration auf das vierte Lebensalter erfolgen muss. Dies würde wiederum eine Weiterentwicklung der kommunalen Altenhilfe notwendig machen, da mit einer steigenden Bedeutung sozialräumlicher und umfeldbezogener Unterstützung von Hochaltrigenhaushalten zu rechnen ist. Schließlich kann davon ausgegangen werden, dass auch die Soziale (Alten) Arbeit in zunehmendem Maße von einer verschärften Ökonomisierung betroffen sein wird. Verschlechterte kommunale Finanzierungsbedingungen, bedingt durch den Wandel des Sozialstaats, wird eine Suche nach alternativen Wegen immer notwendiger werden lassen (vgl. Backes/Clemens 2008: 323 f.).

4

Diesbezüglich sei beispielsweise auf die Methode des Case Managements hingewiesen, welches in diesem Rahmen zunehmende Bedeutung erlangt (vgl. z.B. Galuske 1998; Zippel/Kraus 2009).

144 5.4

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Das Konzept der Lebensweltorientierung

Das Konzept einer „Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit“ ist zurückzuführen auf Hans Thiersch (v.a. 1992). Unter „Lebenswelt“ soll nach Schütz/Luckmann (2003: 29) „jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet.“5 Ursprünglich für die Kinder- und Jugendhilfe bzw. aus ihr heraus entwickelt, findet das Lebensweltkonzept mittlerweile auch in zahlreichen anderen Bereichen Sozialer Arbeit seine Anwendung. Kerngedanke des Konzepts ist es, den individuellen Alltag der Klienten und Klientinnen als originären Ort sozialpädagogischen Handelns in den Blick zu nehmen. Von Seiten der Sozialen Arbeit gilt es dabei, den Betroffenen einerseits mit konstruktiv kritischer Haltung zu begegnen, mögliche (Selbst-)Täuschungen aufzudecken und Scheitern zu verhindern; andererseits jedoch soll der Klient/die Klientin stets auch als eine Person betrachtet und behandelt werden, die prinzipiell kompetent ist, ihr eigenes Leben zu führen (vgl. Galuske 1998: 145 f.). Grunwald/Thiersch formulieren dazu: „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit bezieht sich auf die Widersprüchlichkeiten der Lebenswelt, sie steht in der Spannung von Respekt vor gegebenen Alltagsstrukturen und Destruktion der Pseudokonkretheit des Alltags. Respekt gilt der Eigensinnigkeit der Lebenswelt, Destruktion der Kritik und Überwindung der Borniertheiten der Lebenswelt im Namen ihrer unterdrückten Optionen und freierer Möglichkeiten“ (Grunwald/Thiersch 2004: 24).

Übergeordnetes Ziel lebensweltorientierter Sozialen Arbeit ist es, den Klientinnen und Klienten zu einem „gelingenden Alltag“ zu verhelfen (vgl. u.a. Thiersch 1992). Das Lebensweltkonzept lässt sich durchaus auch auf die Soziale (Alten-) Arbeit übertragen, findet hier allerdings bisher noch recht wenig Beachtung, zumindest was konkrete Handlungskonzepte betrifft. Dies lässt sich vermutlich auf die immer noch überwiegende Orientierung Sozialer (Alten) Arbeit an Defiziten, Hilfs- und Pflegebedürftigkeit zurückführen. Trotzdem – oder gerade deswegen stellt die Lebenswelt neben dem Sozialraum eine wichtige Orientierung für die Soziale (Alten-)Arbeit da; sie kann als eine der zentralen Leitlinien zur Analyse

5

Der Begriff der Lebenswelt (vgl. u.a. auch Husserl) steht in engem Bezug zum Begriff der Lebenslage (vgl. u.a. Amann), beide sind jedoch voneinander abzugrenzen. Nach Callo unterscheiden sich die beiden Begriffe dahingehend, dass Lebenswelt als „Konstrukt des Subjekts und seiner Subjektivität“ zu verstehen ist, Lebenslage dagegen als „Konstrukt der Verhältnisse“ (vgl. Callo 2005, 92).

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des Alltags sowie bei der Entwicklung neuer Konzepte in den zahlreichen Arbeitsfeldern Sozialer (Alten-)Arbeit betrachtet werden (vgl. Kleiner 2005: 60). Kennzeichnend für das Lebensweltkonzept sind die verschiedenen Strukturund Handlungsmaxime. Zu den Strukturmaximen zählen Prävention, Alltagsorientierung, Dezentralisierung/Regionalisierung und Vernetzung, Integration und Partizipation (vgl. u.a. Thiersch 1992, Grunwald/Thiersch 2004). Im Hinblick auf die Soziale (Alten-)Arbeit können die Strukturmaximen folgendermaßen ausgelegt werden (vgl. Kleiner 2005: 59 f.): ƒ

ƒ

ƒ

ƒ

Prävention: Schaffung ambulanter Strukturen, um Angebote wahr nehmen zu können, die sich im Stadtteil befinden und auf die Lebenswelt der älteren Menschen bezogen sind; die Angebote umfassen die Bereiche Kultur und Freizeit, jedoch auch gesundheitliche Prävention im Sinne ambulanter Rehabilitation; Alltagsorientierung: Abbau von Zugangsbarrieren, um Erreichbarkeit und Niedrigschwelligkeit der Angebote zu ermöglichen; Bezug auf die alltägliche Lebenssituation der älteren Menschen; Dezentralisierung/Regionalisierung und Vernetzung: Umkehr der starken Zentralisierung von Angeboten und Einrichtungen sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich; Erreichbarkeit als oberste Priorität bei der Entwicklung neuer Angebote für ältere Menschen; Kooperation zwischen den verschiedenen Anbietern bei der Abstimmung von Angeboten und zukünftigen Planungen; Integration/Partizipation: Beteiligung und Mitbestimmung der älteren Menschen bei Planung, Entwicklung und Durchführung von Angeboten und Maßnahmen im Sinne des Selbstbestimmungsrechts und unter der Prämisse der Hilfe zur Selbsthilfe.

Daraus lassen sich wiederum folgende Handlungsmaxime ableiten, wodurch sich das Lebensweltkonzept konkretisiert (vgl. Thiersch 2002: 138 f., Kleiner 2005: 60): ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Ambulant vor stationär Rehabilitation vor Pflege Umgestaltung traditioneller Hilfen Planung und Entwicklung neuer Infrastrukturen Integration und Flexibilisierung von Hilfen

Um die Bedeutung der Lebensweltorientierung in der Sozialen (Alten-)Arbeit zu verdeutlichen, führt Kleiner (2005) einen Vergleich zweier Lebenswelten an: auf

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der einen Seite die Lebenswelt des rüstigen 65-jährigen Rentners, der verheiratet, finanziell abgesichert und sozial integriert ist und regelmäßig das Fitnessstudio aufsucht, auf der anderen Seite die Lebenswelt der alleinstehenden 90-jährigen Frau, die pflegebedürftig und auf Sozialhilfe angewiesen ist. Trotz der weiten Spanne, die zwischen diesen beiden Lebenswelten liegt, zählen sowohl die hochbetagte Frau als auch der aktive Rentner zu den potentiellen Adressatinnen und Aderessaten Sozialer (Alten-)Arbeit. Es wird deutlich, in welch hohem Maße die Lebenslagen im Alter durch Differenzierung und Pluralisierung gekennzeichnet sind und wie unterschiedlich und umfangreich dementsprechend die Anforderungen an die Soziale (Alten-)Arbeit sein können (vgl. Kleiner 2005: 59). 5.5

Soziale (Alten-)Arbeit und Geschlecht

Während die Berücksichtigung der Geschlechterdimension mittlerweile in den meisten Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit Einzug gefunden hat – vor allem in der Kinder- und Jugendarbeit – existieren in der Sozialen (Alten-)Arbeit dagegen bisher kaum geschlechtsspezifische Ansätze. Die Notwendigkeit hierzu wird jedoch mit Blick auf den demographischen Wandel sowie den damit zusammenhängenden Strukturwandel des Alters deutlich sichtbar: Die Mehrheit der Bevölkerung im Alter ist weiblich und auch die Angebote der Altenhilfe, sowohl im stationären, ambulanten und offenen Bereich, werden überproportional von Frauen in Anspruch genommen. Die immer noch vorherrschende Orientierung an männlichen Lebensläufen – z.B. wenn von Alter wie selbstverständlich als „nachberuflicher Lebensphase“ gesprochen wird, obwohl bei einem Großteil der heute alten Frauen Erwerbsarbeit nicht im Mittelpunkt stand – erweist sich angesichts der Feminisierung des Alters als ungeeignet (vgl. Schweppe 1997). Berücksichtigt man darüber hinaus nun auch, dass Frauen häufiger von materieller und sozialer Altersarmut betroffen sind, so wird im Zusammenhang mit dem quantitativen Übergewicht der älteren Frauen der Bedarf einer Auseinandersetzung mit der Geschlechterspezifik ebenfalls besonders deutlich. Doch wie könnte nun eine geschlechtsspezifische Altenarbeit aussehen? Spezielle Handlungsmodelle sind derzeit (noch) nicht vorhanden, es existieren lediglich einzelne Versuche einer Annäherung an die Thematik. Lachmann (2008: 127 ff.) beispielsweise sieht in der Übertragung des Gender Mainstreaming-Konzeptes auf die Soziale (Alten-)Arbeit eine Möglichkeit, geschlechtsspezifisches Handeln in diese zu integrieren. Ihrer Ansicht nach kann das Konzept dazu beitragen, eine geschlechtersensible Grundhaltung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern zu schaffen. Wichtig ist dabei vor allem, dass der konzeptionelle Rahmen und die Struktur der einzelnen Angebote die unter-

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schiedlichen Bedürfnisse von Männern und Frauen im Alter berücksichtigen, was dementsprechend Genderkompetenz voraussetzt. Eine der wichtigsten Aufgaben des Gender Mainstreaming-Ansatzes sind in ihren Augen politische Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Dabei geht es in erster Linie darum, die Probleme alter Menschen in ihrem biographischen Kontext darzustellen sowie auf geschlechtsspezifische Benachteiligungen aufmerksam zu machen. Auch Hagemann (2004: 24 f.) bewertet Gender Mainstreaming als ein geeignetes Instrument, um geschlechtsspezifische Ausprägungen des Alterns zu berücksichtigen. Da die Individualisierung von Lebensverläufen und die Differenzierung von Lebenslagen das Altern von Frauen und Männern verändert haben, ist es folglich eine Aufgabe der Altenpolitik, diese gewandelte gesellschaftliche Realität anzuerkennen und Handlungsstrategien so auszugestalten, dass soziale Ungleichheiten abgebaut und Gleichstellung gefördert wird. Bei der Umsetzung dieses Ansatzes ist es Aufgabe der entsprechenden Träger, Institutionen, Verbände und Vereine zu hinterfragen, inwieweit sie durch ihr Handeln und ihre konzeptionellen Rahmenbedingungen Chancengleichheit tatsächlich verwirklichen oder ob dazu neue Konzepte und Programme entwickelt werden müssen. Geeignete strukturelle Bedingungen sind insofern die Voraussetzung für eine geschlechtersensible Altenarbeit. Schweppe (1997: 235 f.) konzentriert sich in erster Linie auf mögliche Perspektiven einer speziell frauenorientierten Altenarbeit. Ausgangspunkt stellt dabei die spezifische Lebenssituation von Frauen im Alter dar, welche nicht bloß hinsichtlich sozialstruktureller Aspekte, sondern gleichfalls unter subjekt- und modernisierungstheoretischen Fragestellungen thematisiert werden soll. Aufgrund der Prozesshaftigkeit des Alters sowie einer tendenziell pluralisierten und flexibilisierten weiblichen Altersphase darf sich die Arbeit mit alten Frauen nicht an starren Zielgruppendefinitionen – z.B. „die Alten“ – oder polarisierten Altersbildern – die aktiven, dynamischen, fitten Alten auf der einen und die kranken, schwachen und hilfsbedürftigen Alten auf der anderen Seite – orientieren. Da Altern kein statischer Zustand ist und sich Probleme, Bedürfnisse und Interessen innerhalb der sich immer weiter ausdehnenden Altersphase verändern können, ist nach Schweppe vielmehr ein Konzept der Lebensbegleitung erforderlich: „Ein solches Konzept richtet das Augenmerk auf Entwicklungen und Verläufe der Altersphase, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Formen der Unterstützung, Hilfe oder Begleitung erfordern können. Dieses Konzept stellt lebenslaufbegleitende Optionen von Maßnahmen bereit, auf die je nach Lebenssituationen und Zeitpunkten des Altersprozesses sich unterschiedlich entwickelnden Befindlichkeiten und Bedarfslagen zurückgegriffen werden kann“ (Schweppe 1997: 236).

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Des Weiteren sieht Schweppe eine wesentliche Aufgabe frauenspezifischer Altenarbeit in der Unterstützung der mit der weiblichen Altersphase verbundenen Gestaltungsaufgaben. Im Mittelpunkt stehen dabei vor allem Fragen nach Lebensentwürfen und Sinnstrukturen. Standardisierte Normalitätsentwürfe sollen möglichst vermieden werden; stattdessen gilt es, Maßnahmen der Sozialen (Alten-)Arbeit offen bzw. eher als Rahmen zu gestalten, innerhalb dessen den alten Menschen ausreichend Raum für Deutungsspielräume verbleibt und sie die Inhalte mit ihrer persönlichen Biographie und Lebenswelt in Verbindung bringen können (vgl. Schweppe 1997: 236 f.). Schließlich erfordert eine frauenspezifische Altenarbeit eine biographische Orientierung, um den Zugang zu den individuellen Deutungs- und Handlungsmustern der Frauen erhalten zu können. Dabei ist es wichtig, Stereotypisierungen sowie vorgefasste Verallgemeinerungen und Kategorien zu vermeiden. Schweppe betont zudem, dass Biographieorientierung in der Sozialen (Alten-)Arbeit die Kompetenz zu methodisch-kontrolliertem Fremdverstehen voraussetzt, um eine laienhafte und naive Umgangsform mit biographischen Inhalten zu vermeiden (vgl. Schweppe 1997: 237, vgl. auch Otto/Schweppe 1996 und Schweppe 1999). „Biographieorientierung in der sozialen Altenarbeit erfordert ein wissenschaftliches Fundament, um den reflexiven Umgang mit lebensgeschichtlichen Selbstthematisierungen zu ermöglichen […] und Wege zu finden, alte Frauen authentisch zu Wort kommen zu lassen […]“ (Schweppe 1997: 237).

Da auch Geschlecht eine zentrale lebensweltliche Dimension darstellt (vgl. Bitzan 2004), muss Soziale (Alten-)Arbeit, die den Anspruch erhebt, geschlechtsspezifisch zu handeln, immer auch lebensweltorientiert sein und dementsprechend im Alltag der Frauen und Männer ansetzen. Nur so kann es gelingen, die (geschlechts-)spezifischen Lebenswelten der älteren und alten Menschen angemessen zu berücksichtigen. Die Tatsache, dass es mehrheitlich Frauen sind, die im Alter von sozialer und materieller Benachteiligung betroffen sind, muss in der Sozialen (Alten-) Arbeit besonders beachtet werden. Trotz allem darf auch die Perspektive der Männer nicht unberücksichtigt bleiben. Durch die häufigere Benachteiligung von älteren Frauen kann nicht automatisch auf eine bevorzugte, sorgenfreie Lage der älteren Männer geschlossen werden. Somit ist eine geschlechtsspezifische Altenarbeit nicht einseitig als Altenarbeit für Frauen zu verstehen, sondern muss sich stets beiden Geschlechtern widmen. In Anlehnung an Lachmann (2008) kann abschließend festgehalten werden, dass die Implementierung von Genderaspekten auch in der Sozialen (Alten-) Arbeit als wichtiges Kriterium für professionelles Handeln zu betrachten ist. Die

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III.

III.

Alter(n) un

Alter(n) und Interkulturalität

Alt werden in der Migration

157

Alt werden in der Migration Anna Läsker, Pinar Yortanli 1

Einleitung

Die Demografieentwicklung, die gesundheitliche Situation und die abnehmende familiäre Pflege älterer Migrantinnen und Migranten in Deutschland lassen einen steigenden Bedarf an Altenhilfeangeboten erwarten. Ein Blick auf die aktuelle Altersstruktur der Bevölkerung mit Migrationshintergrund lässt die zunehmende Bedeutung älter werdender Menschen mit Migrationshintergrund für die Altenhilfe erkennen. Viele Menschen mit Migrationshintergrund kamen vor etwa 40 Jahren zum Arbeiten nach Deutschland. Ursprünglich wollten sie in ihre Herkunftsländer zurückkehren, jedoch hat sich dieser Wunsch häufig nicht verwirklicht und eine Rückkehr kommt für sie jetzt nicht mehr in Frage. Seit der Familienzusammenführung leben ihre Kinder und Enkelkinder in Deutschland. Diese sind hier geboren, aufgewachsen und haben das deutsche Ausbildungssystem durchlaufen. Eine Rückkehr ohne Kinder ist für sie eine wenig interessante Alternative, denn eine Remigration würde die gleiche Trennungssituation wie zu Beginn der Migration auslösen. Meist hat sich auch eine Entfremdung vom Herkunftsland vollzogen. Der höhere Lebensstandard sowie die bessere medizinische Versorgung in Deutschland lassen viele ältere Menschen mit Migrationshintergrund bleiben. Diese Seniorinnen und Senioren, besonders Menschen türkischer Herkunft, leben mit ihrer Familie zusammen und werden auch im Alter von ihren Angehörigen gepflegt. Doch das ist nicht immer möglich, denn auch die Familien mit Migrationshintergrund sind besonders in den Ballungszentren von einem Wandel betroffen. Fast alle Mitglieder der Familie, heute ebenso häufig Frauen wie Männer, sind in den meisten Fällen berufstätig. Ist die Altenpflege in Deutschland auf den wachsenden Bedarf an Altenhilfeangeboten für Menschen mit Migrationshintergrund vorbereitet? Die heutigen Konzepte der Altenhilfeangebote sehen bislang keine besonderen, auf die kulturellen und religiösen Bedürfnisse älterer Migrantinnen und Migranten zugeschnittenen Dienstleistungen vor. Daher gibt es in dieser Gruppe nur eine geringe Akzeptanz der etablierten Angebote. Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Interkulturalität in Einrichtungen der stationären Altenhilfe und beinhaltet eine empirische Untersuchung von zwei Modellprojekten. Hierbei wird explizit auf die in Deutschland lebenden Arbeitsmigranten und -migrantinnen eingegangen, die meist gegen ihre Lebensplanung in G. Kleiner (Hrsg.), Alter(n) bewegt, DOI 10.1007/978-3-531-94258-2_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

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der „fremden“ Heimat alt werden und nun ihren Lebensabend in Deutschland neu gestalten müssen. Wichtig ist die Frage nach dem Bedarf an stationären Pflegeplätzen für ältere Menschen mit Migrationshintergrund und die Bedingungen, die an Einrichtungen gestellt werden, wenn sie diese aufnehmen. Aufgrund der unterschiedlichen Konzepte der beiden untersuchten Einrichtungen wurde speziell nach dem Für und Wider eines mono- oder interkulturellen Ansatzes gefragt. 2

Lebenssituation älterer Migrantinnen und Migranten

Ein Teil der Arbeitsmigranten und -migrantinnen, die in den 1950er und 1960er Jahren nach Westdeutschland kamen, sind inzwischen in den Ruhestand gegangen, viele andere stehen unmittelbar vor dem Übergang in diesen. Ein wachsender Anteil dieser Personen kehrt nicht mehr zurück in die Heimatländer, sei es aus gesundheitlichen, finanziellen oder familiären Gründen. Genau diese Menschen werden in Deutschland altern, hier ihren Lebensabend verbringen und hier sterben. Obwohl die Bevölkerung mit Migrationshintergrund im Vergleich zur deutschen Bevölkerung im Durchschnitt deutlich jünger ist, wächst die Zahl der älteren Migrantinnen und Migranten kontinuierlich. Prognosen gehen von einem weiteren Anstieg des Anteils älterer Menschen mit Migrationshintergrund aus (vgl. BMfFSJ 2002: 117 f.). Die geschlechtsspezifische Altersstruktur der Menschen mit Migrationshintergrund weicht stark von der der älteren deutschen Bevölkerung ab. So sind im Gegensatz zur deutschen Bevölkerung in beiden Altersgruppen mehr Männer als Frauen vertreten. Der Grund hierfür liegt speziell in der Anwerbung von Männern. Allerdings wird sich in den nächsten Jahrzehnten die Relation der Geschlechter unter den alten Menschen mit Migrationshintergrund auch quantitativ stärker zur Seite der Frauen hin verschieben. Der Grund hierfür ist die höhere Lebenserwartung der Frauen (vgl. Backes/Clemens 1998: 237). Erwähnenswert ist, dass allgemeine Bevölkerungsstatistiken eine Homogenität älterer Menschen mit Migrationshintergrund vortäuschen. Tatsächlich ist die Gruppe der Migrantinnen und Migranten sehr heterogen (vgl. Kruse/Schmitt/Dietzel-Papakyriakou/Kampanaros 2004: 578). Die Lebenslagen und Lebensstile älterer Menschen mit Migrationshintergrund werden durch folgende Merkmale beeinflusst: ƒ ƒ ƒ ƒ

Psychisches und körperliches Krankheitsspektrum Materielle Lebensbedingungen und Wohnsituation Familiäre Netzwerke und ethnische Hilfswerke Rückkehrorientierung

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Psychisches und körperliches Krankheitsspektrum

Die in der Anwerbephase nach gesundheitlichen Kriterien ausgewählten ehemaligen sogenannten „GastarbeiterInnen“ haben inzwischen im Vergleich zu der deutschen Bevölkerung schlechtere Gesundheitsmerkmale aufzuweisen (vgl. Özcan/Seifert 2006: S. 47). Nur wenn organische und psychische Erkrankungen ausgeschlossen waren, durften sie zur Arbeitsaufnahme nach Deutschland reisen. Bei den Angeworbenen handelte es sich um eine gesunde und junge Bevölkerungsgruppe, die größtenteils ihre Gesundheit in der Migration verloren hat (vgl. Seeberger 2003: 246 f.). Durch körperlich schwere Arbeit kam es bei den meisten von ihnen im Verlauf ihres Arbeitslebens zu einer Anhäufung gesundheitlicher Belastungsfaktoren. Die Bedingungen der Migration und des Lebens in der Fremde, die damit verbundenen biographischen Brüche und die kulturellen Unterschiede waren häufig eine Quelle von Stress (Migrationsstress), dessen gesundheitliche Auswirkungen sich nun im Alter als Krankheit zeigen. Ältere Migranten und Migrantinnen leiden im Vergleich zu deutschen Seniorinnen und Senioren überdurchschnittlich häufiger an psychischen Problemen wie Schlafstörungen, Isolation, Müdigkeit und Angstgefühlen sowie an verschiedenen körperlichen Beschwerden wie Rückenschmerzen, Beinschmerzen, Magen-Darm-Störungen (vgl. Brandenburg 2004: 59). Das Risiko einer Pflegebedürftigkeit für älter werdende Migrantinnen und Migranten besteht erheblich früher als für ältere Menschen deutscher Herkunft. Der Bedarf an medizinischen, gesundheitlichen und pflegerischen Leistungen wird sich mit dem Alter(n) der Migrationgesellschaft in den nächsten Jahren kontinuierlich erhöhen. Denn je älter die Menschen mit Migrationshintergrund werden, desto mehr treten latente Krankheiten, frühere gesundheitliche Belastungen und die Folgen gesundheitsschädlicher Lebensweisen in Erscheinung (vgl. Zeman 2005: 37). 2.2

Materielle Lebensbedingungen und Wohnsituation

Betrachtet man sich insgesamt die materielle Situation älterer Migrantinnen und Migranten, so kommt man zum Ergebnis, dass sie über geringe bzw. sehr geringe finanzielle Ressourcen verfügen. Das größtenteils niedrige Ausbildungsniveau und mangelnde Sprachkenntnisse waren Ursache der schlecht bezahlten, harten Arbeit während der Jahre der Erwerbstätigkeit (vgl. Brandenburg 2004: 59). Zudem haben viele von ihnen unvollständige Versicherungsverläufe und daher geringere Rentenansprüche (vgl. Zeman 2005: 30 f.); ältere Menschen

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deutscher Herkunft verfügen über doppelt soviel Wohneigentum. Zudem ist die Wohnqualität bei älteren Migrantinnen und Migranten auf deutlich niedrigerem Niveau (vgl. ebd.: 40 f.). Die geringere Wohnraumgröße und -ausstattung und die fehlende Anpassung an die Bedürfnisse eingeschränkter älterer Menschen, lässt eine häusliche Pflege kaum zu (vgl. Holz/Scheib/Altun/Petereit/Schürkes 1996: 125). 2.3

Familiäre Netzwerke und ethnische Hilfswerke

Für die sozialen Netzwerke älterer Menschen mit Migrationshintergrund spielt die familiäre Unterstützung eine herausragende Rolle. Bei der innerethnischen Ausrichtung dominieren die über die Sprache transportierten Unterstützungsformen wie Geselligkeit und emotionale Unterstützung (vgl. Schubert 2005: 91). Allerdings dürfen die Unterstützungsmöglichkeiten durch die Familie, trotz der starken Familienorientierung, nicht überschätzt werden. Fasst man die Ergebnisse verschiedener Studien in Bezug auf die Familienverhältnisse älterer Migrantinnen und Migranten zusammen, so wird ein Trend zur Angleichung an die Familienverhältnisse einheimischer Familien sichtbar. Durch den Strukturwandel in Migrationsfamilien und dem Zwang zur Arbeitsplatzmobilität der Kinder können traditionelle Erwartungen, wie die Pflege durch Familienangehörige, in Zukunft häufig nicht mehr erfüllt werden. Außerdem neigen ältere Migrantinnen und Migranten auf Grund ihrer schlechten Gesundheitssituation eher zu hohen Pflege- und Behinderungsrisiken, so dass eine professionelle Unterstützung und Betreuung durch Institutionen unumgänglich sein wird. Insbesondere bei schwierigen Situationen, wie schwere Pflegebedürftigkeit oder dementielle Erkrankungen von älteren Angehörigen sind die Familien auf die Hilfe von Fachkräften angewiesen (vgl. Helmstaedter 1997: 7). Das seit Jahren bekannte und vertraute, ethnisch geprägte Wohnumfeld bietet vielen älter werdenden Menschen mit Migrationshintergrund Orientierung, soziale Bezüge und Hilfen im Alltag. Man kann vom ethnischen Rückzug der ersten Generation sprechen (vgl. Brandenburg 2004: 60). Andererseits können sich mit zunehmendem Alter diese Netzwerkbeziehungen durch Krankheit und Tod von Bezugspersonen oder durch die Rückkehr von Bekannten in die Heimat reduzieren (vgl. Backes/Clemens 1998: 239). 2.4

Rückkehrorientierung

Der Wunsch zur Rückkehr ins Heimatland ist in den meisten Fällen ein ständiger Begleiter im Leben eines Menschen mit Migrationshintergrund. Die Umsetzung

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dieses Wunsches in die Realität wird jedoch immer wieder hinausgeschoben. Ein geringer Teil der Arbeitsmigranten und -migrantinnen hat sich von Anfang an, oder auch im Laufe der Migration, bewusst für den endgültigen Verbleib in Deutschland entschieden und dementsprechend eingerichtet. Ihre Lebensplanung führte zum Erwerb der Sprache, beruflichen Qualifikationen und der materiellen Absicherung in Deutschland. So finden sie auch im Alter leichter einen Zugang zu institutionellen Hilfen, wie Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen oder ambulanten Dienste. Eine andere weitaus größere Gruppe hat ihre Lebensplanung dagegen am Herkunftsland ausgerichtet und die Rückkehr zum Migrationsziel gemacht (vgl. Zeman 2005: 70 f.). Diese „Rückkehrorientierung diente während des gesamten Migrationsverlaufs als Entlastungs- und Bewältigungsmechanismus im Alltag. Sie wurde eingesetzt (…) als eine Technik der inneren Distanzierung von den tatsächlichen Verhältnissen“ (Brandenburg 2004: 60 f.).

Die Rückkehrorientierung wird auch als Phänomen der „Rückkehrillusion“ bezeichnet, da häufig objektive und subjektive Bedingungen gegen eine Rückkehr sprechen. Wichtige Motive für einen Verbleib sind die familiären Bindungen, die bessere gesundheitliche Versorgung in Deutschland oder auch die Angst vor erneuter Enttäuschung und Isolation im nun fremdgewordenen Herkunftsland. Die meisten der genannten Gründe führen nicht zu einem gewollten Verbleib in Deutschland, sondern eher zu einem notwendigen Verzicht auf die Rückkehr, die aber als Wunsch dennoch zentral bleibt (vgl. Zeman 2005: 72 ff.). Als Alternative zur kompletten Rückkehr haben einige Migrantinnen und Migranten das Pendeln zwischen Herkunfts- und Einwanderungsland entdeckt. Das Pendeln wird als Ausdruck von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung erlebt. Diese Mobilität lässt die Menschen die Vorteile der alten und neuen Heimat miteinander verbinden, solange es gesundheitlich und finanziell möglich ist (vgl. Schröer/Schweppe 2010: 372 f.). 3

Gerontologische Perspektiven der Migrantinnen und Migranten im Alter

Die Soziale Gerontologie berücksichtigt die Auswirkungen gesellschaftlicher Bedingungen und lebenslanger Sozialisationsprozesse auf das Alter(n) und die Alter(n)ssituation. Alter(n) ist ein lebenslanger Prozess in der Entwicklung des Menschen, der sich nach den individuellen, kulturellen, historischen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen sehr unterschiedlich gestalten kann. Daher gilt in der Gerontologie, dass ältere Menschen sehr unterschiedlich voneinander

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altern (vgl. Belardi/Fisch 1999: 72 f., Karl 2005: 357, Backes 2003: 45 ff.). Die Gerontologie fragt nach dem guten bzw. erfolgreichen Alter(n), das unterschiedliche Kriterien beinhalten kann. Als wichtige Indikatoren für erfolgreiches Alter(n) werden Lebenslänge, biologische und mentale Gesundheit, psychosoziale Funktionstüchtigkeit, Lebenszufriedenheit, Selbstwirksamkeit, Bewältigung von Alter(n)sproblemen und Selbstständigkeit im Alter genannt. Grundlagen für erfolgreiches Alter(n) sind beispielsweise ein gesunder Lebensstil, der das Risiko reduziert, dass pathologische Alter(n)sbedingungen auftreten oder aber Aktivitäten im Familien- und Freizeitbereich, um Kapazitätsreserven aufzubauen und negative Alter(n)sprozesse zu verlangsamen (vgl. Belardi/Fisch 1999: 74, Backes/Clemens 1998: 167 ff.). In Bezug auf die Lebensqualität von Menschen mit Migrationshintergrund im Alter wurde festgestellt, dass negative Auswirkungen, wie geringer Bildungsstand, unzureichende Sprachkompetenz, finanzielle Belastungen und soziale Isolation zu geringerer Lebenszufriedenheit führen. Wichtig sind daher für das Wohlbefinden im Alter dieser Menschen ethnische Strukturen, wie die traditionelle Großfamilie, verwandtschaftliche Beziehungen und Nachbarschaftsnetzwerke, die die soziale Integration älterer Migrantinnen und Migranten schützen, indem sie sie aufgrund ihres ethnischen und historischen Wissens aufwerten (vgl. Dietzel-Papakyriakou 1993: 26 f.). Kulturvergleichende Studien haben belegt, dass das Verständnis von erfolgreichem Alter(n) und Lebensqualität im Alter herkunftsabhängig ist. Somit definieren ältere EuropäerInnen und AmerikanerInnen erfolgreiches Alter(n) mit der Fähigkeit, sich selbst zu versorgen und selbstständig zu leben, während Asiatinnen und Asiaten die Bereitschaft der Kinder, ihren Bedürfnissen nachzukommen, als erfolgreiches Alter(n) ansehen. Ältere Menschen asiatischer Herkunft orientieren sich meist an der Art und Weise, wie sie von anderen Menschen gesehen werden. Daher kann es für sie erniedrigend sein, wenn Außenstehende bemerken, dass sie nicht von ihren Kindern unterstützt werden. Ältere AmerikanerInnen und EuropäerInnen hingegen leben meist nach ihrem persönlichen Selbstverständnis (vgl. Kruse/Schmitt/Dietzel-Papakyriakou/Kampanaros 2004: 585 f.). Heute sind ältere Menschen mit Migrationshintergrund aus familienzentrierten Kulturen in Altenheimen dementsprechend unterrepräsentiert. Neben materiellen Schwierigkeiten stellen vor allem traditionelle Vorurteile ein Hindernis für eine Übersiedlung in eine Einrichtung der Altenhilfe dar. Ältere Migrantinnen und Migranten sind größtenteils in Herkunftskulturen mit Altersbildern und Autoritätsverhältnissen aufgewachsen, die sich in der Migration nicht mehr aufrechterhalten lassen. Zum Beispiel verändern sich die Beziehungen zur Kindergeneration und die Lebensverhältnisse im Familienverbund, so dass an Stelle traditioneller Formen der Altersversorgung die entfremdende Form der materiellen Sicherung durch das Sozialsystem tritt. Somit entsprechen materielle und soziale Be-

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ziehungen im Alter nicht mehr den Erfahrungen, unter denen sie in ihrer Kultur sozialisiert wurden. Damit wird für viele Migrantinnen und Migranten besonders im Alter der Zwang zur Anpassung und zur Änderung von Verhaltensmustern größer als in der Phase des Erwerbslebens. In den nächsten Jahrzehnten wird sich die Zahl der in Altenheimen lebenden Menschen mit Migrationshintergrund deutlich erhöhen, da sich die jüngeren Generationen im Lebensstil stärker den gesellschafltichen Individualisierungstendenzen annähern und somit familiäre Hilfsformen tendenziell abnehmen dürften. Zur professionellen Unterstützung und bedarfsgerechten Versorgung älterer Migrantinnen und Migranten sind daher Strategien notwendig, die sich an ihren Lebens- und Alltagswelten orientieren und ihre besondere Situation beachten (vgl. Backes/Clemens 1998: 238 ff.). Um ihren Bedürfnissen gerecht zu werden, ist die interkulturelle Öffnung der Einrichtungen der Altenhilfe notwendig. Mit Hilfe der interkulturellen Öffnung werden Institutionen für alle in Deutschland lebenden Menschen geöffnet und so Ausgrenzungen und Diskriminierungen abgebaut. Diese Öffnung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe; durch sie wird eine gleichberechtigte Teilnahme und Partizipation der einheimischen Bevölkerung und der Menschen mit Migrationshintergrund am gesellschaftlichen Leben ermöglicht; die gleichberechtigte Teilnahme gewährleistet die Integration. Eine wichtige Grundlage für die interkulturelle Öffnung ist die Anerkennung der Verschiedenheit kultureller Gruppen. Indem sie ihre Interessen und Bedürfnisse artikulieren und vertreten können, finden demokratische Aushandlungsprozesse und eine selbstreflexive Haltung gegenüber der eigenen Kultur statt. Kultur wird hier verstanden als ein System von Konzepten, Einstellungen, Überzeugungen und Werteorientierungen, mit denen gesellschaftliche Gruppen auf strukturell bedingte Anforderungen reagieren. Das gemeinsame Repertoire an Kommunikations- und Repräsentationsmitteln sowie Symboldeutungen ist dynamisch in seiner Anpassung an gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die auch durch die Interaktion verschiedener kultureller Gruppen innerhalb einer Gesellschaft ausgelöst werden. Kultur ist ein dem Wandel unterliegendes Orientierungssystem, das die Werte, die Wahrnehmung, das Denken sowie das Handeln von Menschen in politischen, sozialen und ökonomischen Kontexten definiert (vgl. Handschuck/Schröer 2001: 181 ff.). Auch bezogen auf ältere Migrantinnen und Migranten heißt interkulturelle Öffnung, dass durch Partizipation im soziokulturellen Bereich und den Zugang zu Angeboten der Altenhilfe, Integration gegeben ist. Mit der interkulturellen Öffnung von Altenhilfeeinrichtungen werden ƒ ƒ ƒ

die Angebote bedarfsgerechter gestaltet, Zugangsbarrieren abgebaut und vorausschauend, unter Berücksichtigung soziodemographischer Entwicklungen und zunehmender Heterogenität, neue Ideen entwickelt.

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Die Öffnung setzt Entwicklungen auf struktureller Ebene voraus, so dass sich Angebote und Arbeitsabläufe in einer Einrichtung verändern können (vgl. Schubert 2005: 108 ff.). Zur Realisierung der interkulturellen Öffnung wird eine generelle Diskussion über Inhalte, Ziele und Implikationen des Prozesses geführt, um sie im Leitbild zu verankern (vgl. Simon-Hohm 2004: 240). Weil die Öffnung eine Querschnittsaufgabe ist, die die gesamte Organisation betrifft, ist ein geplantes und überprüfbares Vorgehen notwendig. Das geschieht durch eine Zielbestimmung, durch die Festlegung der Handlungsfelder und durch die Entwicklung von Leitlinien für die Umsetzung der Ziele und Evaluationskriterien, so dass die Effizienz und Nachhaltigkeit der interkulturellen Öffnung beurteilt werden kann (vgl ebd.: 240). Eine weitere Voraussetzung für die Planung und Umsetzung der interkulturellen Öffnung ist die Analyse der wirklichen aktuellen Bedürfnisse der NutzerInnen, damit künftige Leistungen zu einer adäquaten Unterstützung der Menschen führen. Mit Hilfe der Bestandsaufnahme der gegenwärtigen interkulturellen Arbeit ist eine weitere Grundlage für die Gestaltung geschaffen, die auch die Nutzung und Vernetzung bereits vorhandener Potentiale und Ressourcen intensiviert (vgl. Bischof/Koch 2004: 195, Simon-Hohm 2004: 240). Bei einer professionellen Integrationsarbeit sind interkulturelle Kompetenzen der MitarbeiterInnen unumgänglich. Hierbei handelt es sich um die Fähigkeit, effektiv und erfolgreich mit Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen und in fremdkultureller Umgebung zu kommunizieren. Interkulturelle Kompetenz relativiert durch Offenheit, Empathie, Toleranz und Reflexion die eigene Weltsicht und hilft die Existenz anderer Wahrnehmungsmuster anzuerkennen, um somit in einem gleichberechtigten dialogischen Aushandlungsprozess um Bedeutungsinhalte zu einer Lösung zu gelangen (vgl. Handschuck/Schröer 2001: 171). Damit die Beschäftigten kompetentes Handeln in einer modernen, durch Vielfalt geprägten, Einwanderungsgesellschaft erlernen, sollten daher Schulungen für sie konzipiert und bereitgestellt werden. Auch in Hinblick auf die Einstellung oder die Bildung interkultureller Teams sollten bestimmte Qualitätsstandards entwickelt bzw. festgeschrieben werden, um so Potenziale der Zusammenarbeit besser zu nutzen (vgl. Delkos 2002: 136 f., Bischof/Koch 2004: 196, Simon-Hohm 2004: 240 f.). Um die Nutzung der Angebote für alle Bevölkerungsteile zu ermöglichen, ist eine wesentliche Voraussetzung der Abbau von Zugangsbarrieren zu diesen Angeboten für alle Menschen. Zugangsbarrieren sind in allen Bereichen der Gesellschaft zu finden, die nicht nur die Nutzung der Angebote verhindern, sondern auch die Integration der zugewanderten Menschen. Durch die Wahrnehmung und Beseitigung von diesen Hindernissen in Institutionen kann eine Akzeptanz und Inanspruchnahme der Angebote durch die entsprechende Zielgruppe erreicht werden (vgl. Delkos 2002: 136, Bischof/Koch 2004: 195 ff.).

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Ein weiterer wichtiger Punkt für die Öffnung ist die Einführung von Gender-Mainstreaming in die Strukturen und Kulturen von Organisationen, um Chancen für beide Geschlechter bereitzustellen. Hierbei sollen individuelle Kompetenzen erworben und strukturelle Veränderungen zur Implementation der Ziele vorgenommen werden (vgl. Simon-Hohm 2004: 241 f.). Neben individuellen Kompetenzen der Beschäftigten müssen auch strukturelle und finanzielle Rahmenbedingungen geschaffen werden. Daher müssen in einem Arbeitsumfeld die MitarbeiterInnen in ihrer Vielfalt gleichberechtigt sein und sie sollten ihre unterschiedlichen Qualitäten für den Erfolg der Organisation einbringen können, um ihre Potentiale zu fördern. Eine kritische Auseinandersetzung mit der bisherigen Organisationsstruktur ist hierbei nicht auszuschließen (vgl. Simon-Hohm 2004: 242, Bischof/Koch 2004: 196 f.). Die Kooperation und Vernetzung zwischen Verbänden, Kommunen und Selbsthilfeeinrichtungen ist eine weitere Aufgabe für die interkulturelle Öffnung. Auf diese Weise können vorhandene Ressourcen besser genutzt werden. Hierzu müssen die Akteurinnen und Akteure zur Netzwerkarbeit befähigt und geeignete Strukturen geschaffen werden (vgl. Bischof/Koch 2004: 198, Delkos 2002: 136, Simon-Hohm 2004: 242, Paraschou 2004: 119 ff., Caglar 2004: 335 ff.). Die Aufgabe der Gewährleistung der Partizipation von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sowie von Nutzern und Nutzerinnen an dem Prozess ist abschließend zu nennen. Sie sollten an der Konzipierung und Umsetzung der interkulturellen Öffnung mitwirken, indem sie als Experten und Expertinnen ihre Erfahrungen und Vorschläge einbringen. Nur durch Partizipation können traditionelle Entscheidungsverfahren und etablierte Strukturen in Frage gestellt werden (vgl. Delkos 2002: 136, Simon-Hohm 2004: 243). Literatur Backes, G./Clemens, W. (1998): Lebensphase Alter – Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Altersforschung, Juventaverlag, Weinheim. Backes, G. (2003): Soziologie und sozialwissenschaftliche Gerontologie. In: Karl, F. (Hg.): Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie – Alter und Altern als gesellschaftliches Problem und individuelles Thema, Juventaverlag, Weinheim, 45-48. Belardi, N./Fisch, M. (1999): Altenhilfe – Eine Einführung für Studium und Praxis, Beltz Verlag, Weinheim. Bischof, C./Koch, L.-B. (2004): Verbesserung der Versorgung älterer MigrantInnen am Beispiel des Modellprojekts „Interkulturelle Öffnung der Diakoniestationen in Berlin, Zeitschrift für Migration und Soziale Arbeit, Jg. 26 (3/4), 194-203. Brandenburg, H. (Hg.) (2004): Altern in der modernen Gesellschaft. Interdisziplinäre Perspektiven für Pflege- und Sozialberufe, Schlütersche Verlagsgesellschaft, Hannover.

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BMfFSJ (2002): Sechster Familienbericht: Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen, Belastungen, Herausforderungen., Bundestagsdrucksache 14/4357 vom 20.10.2000. Caglar, G. (2004): Die Selbstorganisationen von Migrantinnen und Migranten – Akteure der Zivilgesellschaft und der Sozialen Arbeit. In: Treichler, A./Cyrus, N. (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit in der Einwanderungsgesellschaft, Brandes und Apsel Verlag, Frankfurt a.M., 335-344. Delkos, P. (2002): Alt werden in der Fremde. In: Hegemann, T./Lenk-Neumann, B. (Hg.): Interkulturelle Beratung – Grundlagen, Anwendungsbereiche und Kontexte in der psychosozialen und gesundheitlichen Versorgung, Verlag für Wissenschaft und Bildung, Berlin, 136/137. Dietzel-Papakyriakou, M. (1993): Altern in der Migration – Die Arbeitsmigranten vor dem Dilemma: zurückkehren oder bleiben?, Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart. Handschuck, S./Schröer, H. (2001): Interkulturelle Orientierung als Qualitätsstandard sozialer Arbeit. In: Auernheimer, G. (Hg.): Migration als Herausforderung für pädagogische Institutionen, Opladenverlag, 171. Handschuck, S./Schröer, H. (2003): Soziale Gerechtigkeit durch interkulturelle Orientierung Sozialer Arbeit. In: Hosemann, W./Trippmacher, B. (Hg.): Soziale Arbeit und soziale Gerechtigkeit, Schneider Verlag, Hohengehren, 181-188. Helmstaedter, C. (1997): Endstation Deutschland – Altern fern der Heimat, Zur Situation alter Migranten in der Bundesrepublik, pro Alter, Jg. 30(1), 6-7. Holz, G./Scheib, H./Altun, S./Petereit, U./Schürkes, J. (1996): Fremdsein, Altwerden, und was dann? – Ältere Migranten und die Altenhilfe, ISS-Eigenverlag, Frankfurt a.M.. Karl, F. (2005): Gerontologie. In: Kreft, D./Mielenz, I. (Hg.): Wörterbuch Soziale Arbeit – Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Juventaverlag, Weinheim, 357. Kruse, A./Schmitt, E./Dietzel-Papakyriakou, M./Kampanaros, D. (2004): Migration. In: Kruse/Martin (Hg.): Enzyklopädie der Gerontologie, Bern, 576-591. Özcan, V./Seifert, W. (2006): Lebenslage älterer Migrantinnen und Migranten in Deutschland. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hg.): Lebenssituation und Gesundheit älterer Migranten in Deutschland, Lit Verlag, Berlin, 47-51. Paraschou, A. (2004): Die Selbstorganisation von MigrantInnen. Zeitschrift für Migration und Soziale Arbeit, Jg. 26 (2), 118-121. Schröer, W./Schweppe, C. (2010): Alte Menschen mit Migrationshintergrund. In: Aner, K./Karl, U. (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 369-376. Schubert, H. (2005): Auf dem Weg zu einer kultursensiblen Altenhilfe und interkulturellen Öffnung der Dienste. In: Otto, U. (Hg.): Partizipation und Inklusion im Alter – Aktuelle Herausforderungen, Edition Paideia, Jena, 85-115. Seeberger, B./Braun, A. (Hg.) (2003): Wie die anderen altern – Zur Lebenssituation alter Menschen am Rande der Gesellschaft, Mabuse Verlag, Frankfurt a.M.. Simon-Hohm, H. (2004): Interkulturelle Öffnung Sozialer Dienste und interkulturelle Kompetenz – Stationen auf dem Weg zu einer Gesellschaft der Vielfalt. In: Treichler, A., yrus, N. (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit in der Einwanderungsgesellschaft. Frankfurt a.M.

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Zeman, P. (2005): Ältere Migranten in Deutschland; Expertise im Auftrag des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration. Onlineressource: http://www.bamf.de/cln_006/ nn_442016/SharedDocs/Anlagen/DE/Migration/Publikationen/Forschung/externe/ze man-expertise,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/zeman-expertise.pdf, Abruf: 18.01.2008.

Fremde Heimat „Pflegeheim“

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Fremde Heimat „Pflegeheim“ Anna Läsker, Pinar Yortanli 1

Empirische Untersuchung und Schlussfolgerungen

Im Rahmen einer empirischen Forschungsarbeit wurden im Jahr 2008 zwei stationäre Pflegeeinrichtungen mit jeweils verschiedenen, auf ältere Menschen zugeschnittenen Konzepten, untersucht. Die ausgewählten Pflegeheime befinden sich beide in Großstädten, die statistisch einen überdurchschnittlichen AusländerInnenanteil aufweisen. Das monokulturell ausgerichtete erste türkische Pflegeheim ist ein Pilotprojekt. Es wurde am 15. Dezember 2006 eröffnet. Da in dieser deutschen Großstadt 2005 schon allein etwa 25.000 türkische Menschen über 55 Jahre lebten, bot sich die Stadt als optimaler Standort für die Errichtung eines türkischen Pflegeheimes an. Der Träger dieser Einrichtung ist zu 80 % ein großer, börsennotierter Klinik- und Pflegeheimbetreiber sowie zu 20 % der Dachverband der örtlichen türkischen Vereine. In diesem Dachverband sind 51 Kultur-, Sozial- und Moscheevereine zusammengeschlossen. Die Pflegeeinrichtung bietet Platz für 155 BewohnerInnen, in 74 Doppelund sieben Einzelzimmern. Davon waren im März 2008 genau 47 Plätze belegt. Zum Konzept des Hauses gehört, dass die kulturellen und religiösen Lebensgewohnheiten der BewohnerInnen angemessen berücksichtigt werden. Dazu zählen Religionsausübung, Körperpflege und Ernährungsgewohnheiten. Um Sprachbarrieren zu überwinden, ist das Pflegepersonal zweisprachig. Ein großer Gebetsraum dient der Religionsausübung der BewohnerInnen. Die Küche wird von einem türkischen Koch geleitet. Eine Grundidee des Pflegeheims ist die Berücksichtigung der finanziellen Situation der älteren Migrantinnen und Migranten. Die interkulturell ausgerichtete Einrichtung wurde bereits 1967 gegründet. Seit dem Neubau im Jahr 2004 ist sie allerdings mit einer neuen Konzeption versehen, die eine Wohngruppe für Menschen muslimischen Glaubens beinhaltet. Das Haus besteht aus 123 Einzelzimmern, die sich in zehn Wohngruppen auf vier Etagen verteilen. Hierbei hat die Wohngruppe für ältere Migrantinnen und Migranten eine Kapazität von elf Plätzen. Zusätzlich sind zwei Wohngruppen speziell auf die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz ausgerichtet.

G. Kleiner (Hrsg.), Alter(n) bewegt, DOI 10.1007/978-3-531-94258-2_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

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Raum- und Nutzungskonzeption sind so gewählt, dass den besonderen ethnischen und religiösen Bedürfnissen der BewohnerInnen Rechnung getragen wird. Das gilt für Ernährung und Küche, Gebets- und Andachtsräume, Feste, Sanitärbereiche, geschlechtsspezifische Belange sowie Riten der Abschiednahme. Ein muslimischer Gebetsraum befindet sich in unmittelbarer Nähe zu einem christlichen Andachtsraum. Regelmäßig wird evangelische Bibelarbeit und Gottesdienst, katholische Messe und muslimisches Freitagsgebet angeboten. Somit wird das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen lebendig gestaltet. Mit ihren zum Teil zweisprachigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern werden in der Einrichtung pflegebedürftige und alte Menschen mit Behinderungen unabhängig von ihrer sozialen und kulturellen Herkunft beraten, betreut, gepflegt und versorgt. Mit der qualitativen Erhebungsmethode des leitfadengestützten Experteninterviews wurden in den beiden ausgewählten Pflegeeinrichtungen jeweils die Einrichtungsleiterinnen sowie die SozialarbeiterInnen als Fachexpertinnen und experten befragt. Somit wurden insgesamt vier Interviews geführt und ausgewertet. Durch die Iinterviews sind gezielt Gespräche mit den verantwortlichen Personen geführt worden, die an der Konzeption und Durchführung in der Praxis der Einrichtungen beteiligt waren und hierzu konkrete Aussagen machen konnten. Die Auswertung erfolgte nach der Methode der Grounded Theory1. Aus den Interviews konnten drei Kategorien gefiltert werden: ƒ ƒ ƒ

Bedarf und Nachfrage, Information und Zugang und monokulturelle oder interkulturelle Einrichtungen.

Nachfolgend werden die Ergebnisse der Forschungsarbeit unter den drei genannten Kategorien zusammengefasst und Schlussfolgerungen für die Praxis formuliert. 1.1

Bedarf und Nachfrage

Die Bevölkerungsgruppe der Menschen mit Migrationshintergrund nimmt immer erkennbarer an der allgemeinen demographischen Alterung in Deutschland teil. So steigt der Anteil der Älteren in dieser Bevölkerungsgruppe, trotz der insgesamt jüngeren Altersstruktur der in Deutschland lebenden AusländerInnen noch rascher als bei den Menschen deutscher Herkunft. Die Zahl der 60-jährigen Aus1

Vgl. Strauß, A. L. 1998.

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länderInnen ist allein zwischen 1995 und 2003 um ca. 77 % angewachsen (vgl. Zeman 2005: 23). Der Anteil der älteren AusländerInnen an der Gesamtzahl der 60-Jährigen und Älteren in Deutschland ist von 1,3 % im Jahre 1987 auf 8,6 % im Jahre 2010 (1,4 Mio.) angestiegen (vgl. http://www.destatis.de). „(…) aufgrund der demographischen Daten. Es soll ja die Gruppe der älteren Migranten, die proportional am größten, (…) sich steigernde Bevölkerungsgruppe sein. Und von daher glaube ich, dass da ein sehr großer Bedarf entstehen wird, weil ganz klar die Menschen nicht in dem Umfang zurückkehren in ihre Heimat, wie man das erwartet hat und die Familien hier nicht in der Lage dazu sind, die Betreuung zuhause vorzunrehmen“ (Interviewauszug/Interkulturelle Einrichtung).

Die stärkste Gruppe aller AusländerInnen ist die Gruppe der Menschen türkischer Herkunft mit 28,4 % (2,1 Mio. von 7,4 Mio. Personen) (vgl. Kade 2007: 37). Entsprechend hoch ist somit, in absoluten Zahlen ausgedrückt, die Anzahl der türkischen Seniorinnen und Senioren unter den älteren Menschen mit Migrationshintergrund (vgl. Seeberger 2003: 240). Daher wird von den beiden Einrichtungen für diese Gruppe mit dem größten Pflegebedarf im Vergleich zu anderen Gruppen mit Migrationshintergrund gerechnet. „Aber die türkischsprachige Community ist einfach die größte und scheint auch momentan einfach die Gemeinde zu sein, wo der größere Pflegebedarf entsteht“ (Interviewauszug/Interkulturelle Einrichtung). „Also wir sind ein Haus für türkischstämmige Menschen“ (Interviewauszug/ Monokulturelle Einrichtung).

Innerhalb der Altenpopulationen in Deutschland nimmt die erste Generation der Arbeitsmigranten und - migrantinnen aus den Anwerbeländern einen besonderen Stellenwert ein. Vor allem bei ihnen tritt das psycho-soziale Alter viel früher als das chronologische ein, weil sie sich in ihren Lebensphasen an eigenen kulturellen Altersetappen, wie frühere Eheschließung oder frühere Großelternschaft orientieren. Allgemein sind die älteren Menschen mit Migrationshintergrund eine sehr heterogene Gruppe, was ihre Nationalität und Ethnien, ihre Religion, ihren rechtlichen Status sowie ihre sozialräumliche und sozioökonomische Lage anbelangt. Etwa 60 % von ihnen stammen aus den ehemaligen Anwerbeländern (vgl. BMfFSJ 2002: 117). Aus diesem Grund leben in den beiden untersuchten Einrichtungen hauptsächlich BewohnerInnen, die vor etwa 40 Jahren zum Arbeiten nach Deutschland gekommen und geblieben sind.

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„(…) wir haben nur Arbeiter, die aus verschiedenen Ländern hierher nach Deutschland kamen und 40 Jahre lang oder 30 Jahre hier gearbeitet haben und in Rente gegangen sind“ (Interviewauszug/Interkulturelle Einrichtung). „Aber sonst überwiegend erste Generation, die vor 40-50 Jahren nach Deutschland gekommen sind“ (Interviewauszug/Monokulturelle Einrichtung).

Die überdurchschnittliche demographische Alterung der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland kann vor allem auf den Verbleib der Arbeitsmigranten und -migrantinnen der ersten Generation in Deutschland zurückgeführt werden. Dieser Anteil wird durch nachgezogene Familienangehörige zusätzlich verstärkt (vgl. Zeman 2005: 23). Die Mehrheit der älteren Menschen mit Migrationshintergrund wird, trotz weiter bestehender Rückkehrwünsche und transnationaler Mobilität, ihren Lebensmittelpunkt vermutlich auf Dauer in Deutschland haben und ihren Lebensabend hier verbringen. Durch regelmäßiges Pendeln zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland wird ein Ausweg aus diesem Dilemma gesucht. Durch diese Möglichkeit bleibt der Kontakt zu den Kindern erhalten, die medizinische Versorgung in Deutschland wird gesichert und die klimatischen und sozialen Vorzüge des Herkunftslandes werden erlebt (vgl. ebd.: 73 f.). Das Pendeln als aktive Altersgestaltung älterer Migrantinnen und Migranten sollte als eine Ressource betrachtet und keineswegs behindert werden, schließlich zeigt es die Kompetenz, sich in zwei Kulturwelten zurecht zu finden. Für in Deutschland lebende ältere Migrantinnen und Migranten sind soziale Kontakte zu Menschen aus der gemeinsamen Tradition mit gemeinsamer Sprache und Geschichte sehr wichtig. Daher wäre bei ihnen eine Unterstützung durch sozial homogene Netzwerke wie beispielsweise zugehende Beratung in der Muttersprache besonders vorteilhaft (vgl. Zeman 2002: 6). Stationäre Altenhilfeeinrichtungen sind allgemein nicht auf die spezifischen Bedürfnisse älterer Menschen mit Migrationshintergrund eingestellt. Versorgungsdefizite bestehen vor allem im Bereich der sprachlichen Verständigung, der Ernährung, der Pflege, der religiösen Bedürfnisse und des Umgangs mit den Angehörigen. Zusätzlich werden aufgrund von negativen Erfahrungen aus den Heimatländern zur Zeit der Migration, Pflegeheime in der Bundesrepublik kritisch betrachtet (vgl. Zeman 2005: 68). So sind vor allem in der familienzentrierten Kultur der Türkei Altenheime mit starken Vorurteilen behaftet. Außerfamiliäre Hilfen werden von der Gesellschaft kaum toleriert. Meist gelten die Kinder in dieser Kultur für ihre Eltern als Altersvorsorge und sind demzufolge im Falle einer Pflegebedürftigkeit für die Versorgung und Pflege ihrer Eltern verantwortlich. Der Einzug eines alten Menschen in ein Altenheim bedeutet somit, eine soziale Abwertung erfahren zu müssen. Auf der anderen Seite ist bei Familien-

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angehörigen die Inanspruchnahme häufig mit Schuld- oder Versagensgefühlen verknüpft (vgl. Backes/Clemens 1998: 240, BMfFSJ 2002: 119 f., Dornheim 2004: 139, Bergemann 2006: 299). Die Sozialarbeiterin in der monokulturellen Einrichtung geht davon aus, dass die zweite Generation offener gegenüber den stationären Altenhilfeeinrichtungen sein wird. Der Grund dafür ist unter anderem das Kennen des deutschen Altenhilfesystems. „(…) die zweite Generation ist da viel offener (…). Und mit der Entwicklung muss man natürlich dementsprechend auch Angebote anbieten“ (Interviewauszug/Monokulturelle Einrichtung).

Viele ältere Migrantinnen und Migranten sind davon überzeugt, dass die Pflege von Familienangehörigen übernommen werden kann. Jedoch verändern sich auch die Familienstrukturen von der bisherigen Großfamilie zu einer Kleinfamilie, was beispielsweise auch mit den jeweiligen Arbeits- und Lebensbedingungen zu tun hat. Diese Veränderungen beeinflussen natürlich mit der Zeit die Möglichkeit und die Bereitschaft, die Pflege eines pflegebedürftigen Angehörigen zu übernehmen. Damit verbunden ist auch der Wertewandel in der jüngeren Generation, der sich dem deutschen anpasst (vgl. Zeman 2002: 7). Es wird deswegen stark angenommen, dass die Auseinandersetzung mit anderen Unterstützungsmöglichkeiten zunimmt und die jetzige Familienpflege eine instabile Übergangssituation darstellt (vgl. Overmeyer 1997: 11). Die Bereitschaft zur familiären Pflege ist noch gegeben. Nach Angaben der Sozialarbeiterin in der monokulturellen Einrichtung, wird versucht, die Pflege in Pflegestufe 1 zu Hause selbst zu übernehmen. Erst bei höherer Pflegebedürftigkeit oder demenziellen Erkrankungen von älteren Angehörigen sind die Familien auf die Hilfe von Fachkräften angewiesen (vgl. Brandenburg 2004: S. 60). In dieser Einrichtung haben etwa 51 % der BewohnerInnen eine demenzielle Erkrankung und die Sozialarbeiterin rechnet hier mit einem weiteren Anstieg. „Wir haben überwiegend Menschen mit Pflegestufe 2, Pflegestufe 3. Da es ein anderer Kulturkreis ist und Pflege zu Hause, so weit es geht noch gemacht wird, werden wir überwiegend immer schwerstpflegebedürftige Menschen bei uns haben“ (Interviewauszug/Monokulturelle Einrichtung).

Es ist davon auszugehen, dass die Gefahr einer Pflegebedürftigkeit für älter werdende Migrantinnen und Migranten erheblich früher besteht als für ältere Menschen deutscher Herkunft. Der Bedarf an medizinischen, gesundheitlichen und pflegerischen Leistungen wird mit dem Alter(n) der Migrantinnen und Migranten in den nächsten Jahren kontinuierlich zunehmen. Denn je älter diese werden,

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desto mehr treten latente Krankheiten, frühere gesundheitliche Belastungen und gesundheitsschädliche Lebensweisen in Erscheinung (vgl. Zeman 2005: 37). In der monokulturellen Einrichtung ist das Alter im Vergleich zu der interkulturellen Einrichtung relativ jung, so gibt es einen Bewohner, der erst 43 Jahre alt ist. Das Durchschnittsalter in dieser Einrichtung liegt bei etwa 65 bis 70 Jahren. In der interkulturellen Einrichtung hingegen liegt der Durchschnitt bei etwa 75 Jahren. „Wir haben ein Durchschnittsalter (…) 65, 70, würde ich schätzen. Also wir haben ein relativ junges Alter, zum Vergleich zu deutschen Einrichtungen. Wir stellen ja auch fest, dass bei den türkischstämmigen, besser gesagt bei den Migranten, das Altwerden relativ früh anfängt. Ab 60 fängt das Alter bei denen an (…)“ (Interviewauszug/Monokulturelle Einrichtung). „Wir haben eine Bewohnerin, die ist jetzt 61 alt, aber wir haben auch Bewohner, der neulich leider verstorben ist, er war 95 Jahre alt. Also es ist gemischt vom Alter her, aber mal ganz grob gesagt, liegt das Durchschnittsalter etwa bei 75“ (Interviewauszug/Interkulturelle Einrichtung).

Die Migrantinnen und Migranten kamen in guter gesundheitlicher Verfassung nach Deutschland. Einige Gruppen, wie beispielsweise die Menschen türkischer Herkunft mussten vor ihrer Einreise einen Gesundheitscheck machen lassen (vgl. Jamin 1999: 149). „Die Menschen sind ja von Kopf bis Fuß untersucht worden, die sind kerngesund nach Deutschland geholt worden und wurden gleich in die Fabriken geschickt (…)“ (Interviewauszug/Monokulturelle Einrichtung).

Im Verlauf ihres Arbeitslebens kam es bei den meisten Migrantinnen und Migranten der ersten Generation zu einer Anhäufung gesundheitlicher Belastungsfaktoren. Auch die Bedingungen der Migration und des Lebens in der Fremde, die biographischen Brüche und kulturellen Ambivalenzen waren selbst häufig eine Quelle von Stress. Diese gesundheitsbelastenden Auswirkungen können sich im Alter als Krankheit festigen (vgl. Zeman 2005: 36). „Ja, es sind alles Arbeiter, die als erstes nach Deutschland gekommen sind und hier in den Fabriken mit Schwerstarbeit gearbeitet haben und dadurch auch früher, sozusagen, alt und erkrankt sind“ (Interviewauszug/Monokulturelle Einrichtung).

Der Anteil der Alleinlebenden ist unter den Staatsangehörigen nichtdeutscher Herkunft geringer als unter denen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Andere kulturelle Muster des Zusammenlebens der Generationen und meist geringere

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ökonomische Ressourcen für die Führung getrennter Haushalte sind Gründe, weshalb ältere Migrantinnen und Migranten, vor allem türkischer Herkunft, häufiger in Haushalten mit drei und mehr Personen leben (vgl. Zeman 2002: 4 f.). Ein weiterer und entscheidender Faktor hierfür ist aber auch das durchschnittlich niedrigere Alter der Migrantinnen und Migranten in der zweiten Lebenshälfte. Bei Menschen deutscher Herkunft wie bei Menschen mit Migrationshintergrund sind nämlich Einpersonenhaushalte unter den 70- bis 85-Jährigen am häufigsten und in der jüngsten Altersgruppe am seltensten. Daneben tritt bei den Menschen deutscher Herkunft der erwartete Geschlechtsunterschied auf. Aufgrund ihrer durchschnittlich höheren Lebenserwartung leben Frauen viel häufiger allein als Männer. Diese geschlechtsspezifische Differenz des Alleinelebens gibt es bei den Ausländerinnen und Ausländern (noch) nicht. Ältere Frauen mit Migrationshintergrund leben wesentlich seltener in Einpersonenhaushalten. Es wird aber angenommen, dass diese Lebenssituation in Zukunft zunehmen wird (vgl. Zeman 2005: 48 f.). Die BewohnerInnen beider Einrichtungen kommen häufig aus Einpersonenhaushalten, einige aber auch aus Mehrgenerationenhaushalten. „Es sind auch Alleinlebende mit dabei, also hauptsächlich Alleinlebende. Es gibt aber auch Ehepaare, die beide hier im Haus leben. Es gibt aber auch Ehepaare, der eine ist pflegebedürftig und der andere kommt dann regelmäßig, verbringt dann auch die Stunden hier und sie sind dann zusammen.“ „Mehrheitlich ist es glaube ich so, dass sie in der Familie gelebt haben, also mit Kindern usw“ (Interviewauszug/Interkulturelle Einrichtung). „Also es gibt natürlich verwitwete oder verheiratete und auch sehr viele ledige Menschen sozusagen, die alleinlebend waren, vor allem von Männern.“ „(…) aber überwiegend, wie gesagt, sind das Alleinstehende. Und bei Bewohnern mit Familien und Familienangehörigen, sie haben also auch 30 % mit Familie und Kindern“ (Interviewauszug/Monokulturelle Einrichtung).

In einem Modellprojekt des BMAS (1995) wurden ältere Menschen mit Migrationshintergrund unter anderem nach dem Bekanntheitsgrad der Angebote der Altenhilfe und der Einstellung zur stationären Versorgung befragt. Wie bereits in anderen Untersuchungen festgestellt, zeigte sich ein erheblicher nationalitätenspezifischer Unterschied bezüglich des Bekanntheitsgrades von Diensten und Einrichtungen der Altenhilfe. So wurde bei der Studie festgestellt, dass die italienischen Untersuchungsteilnehmer und -teilnehmerinnen jeweils besser über die einzelnen Altenhilfeangebote informiert waren, als die Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmer türkischer Herkunft (vgl. Zeman 2005: 67). Auf

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Grund dieser Tatsache wird in der interkulturellen Einrichtung der Kontakt zu den örtlichen Moscheen gesucht und dort Informationsveranstaltungen angeboten. Die Idee dabei ist, dass sich die älteren Menschen viel in den Räumen der Gemeinde aufhalten und wenn Probleme bestehen, nehmen sie dort Kontakt zum Imam auf, der sie an Altenhilfeeinrichtungen oder Dienste verweisen kann. In beiden Einrichtungen wird auf Grund der steigenden Zahl von älteren Menschen mit Migrationshintergrund mit einem erhöhten Bedarf in den nächsten Jahren gerechnet. Hierzu kommt die Angleichung des Lebensstils der zweiten und dritten Generation an den westlichen Lebensstil und die damit einhergehend sinkende Bereitschaft zur häuslichen, familiären Pflege. „Bei der muslimischen Wohngruppe deckt sich unser Angebot mit der Nachfrage momentan relativ gut. Also es gibt Zeiten, da haben wir mehrere Nachfragen, aber nichts frei, weil die Menschen bleiben schon relativ lange bei uns. Aber wir haben es auch schon gehabt, dass wir einen Platz frei hatten und nicht, ich sag mal, den richtigen Bewohner gefunden haben.“ „Also da bin ich noch nicht wirklich entschieden, und das hängt natürlich auch noch einmal davon ab, wie sich die Nachfrage in dem Bereich entwickeln wird. Es war nur mein Eindruck, dass die Frage der Demenz sich schneller entwickeln wird, als die allgemeine Pflegebedürftigkeit bei den Migranten“ (Interviewauszug/Interkulturelle Einrichtung). „(…) jetzt haben wir das Interesse auch von den Älteren.“) „Wir haben in der türkischen Gesellschaft, die in Deutschland lebt, eine neue Möglichkeit geschaffen. Unsere Zielgruppe wird das Erstemal hier in der zweiten Heimat alt. Sie haben in keinerlei Hinsicht Vorbilder. Auch nicht in der Pflegebedürftigkeit, es sind auch keine Erfahrungen vorhanden, was die Pflegeeinrichtungen betrifft. Daher braucht so eine Institution ebenfalls Zeit, um sich zu zeigen“ (Interviewauszug/Monokulturelle Einrichtung).

1.2

Information und Zugang

Zugangsbarrieren erschweren die Akzeptanz und die Nutzung der Altenhilfe seitens älterer Migrantinnen und Migranten. Gleichzeitig wird, aufgrund fehlender migrationsspezifischer Altenhilfeangebote, die Migrationssozialarbeit zunehmend von ihnen in Anspruch genommen, die allerdings die Aufgaben der Altenhilfe nicht übernehmen kann (vgl. Schubert 2005: 100). Die Expertinnen und Experten aus den Interviews berichteten ebenfalls von Zugangsbarrieren in stationären Pflegeeinrichtungen für Menschen mit Migrationshintergrund.

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„(…) dieses spezielle Angebot für muslimische Migranten, und nicht allgemein Migranten, ist auf dem Hintergrund entstanden, dass die Überlegung da war, dass besonders für muslimische Menschen der Zugang zu einer deutschen Einrichtung noch fremder ist, als für andere“ (Interviewauszug/Interkulturelle Einrichtung). „Leider gibt es sehr wenig stationäre Einrichtungen, die sich tatsächlich mit den Bedürfnissen der pflegebedürftigen älteren Migranten beschäftigt haben“ (Interviewauszug/Monokulturelle Einrichtung).

Auf diese Hindernisse weisen u. a. Gaitanides und Schroer hin (vgl. Gaitanides 2006: 225 f., Schröer 2007: 82 f.). Sowohl sie als auch die InterviewpartnerInnen der Untersuchung beziehen sich in ihren Aussagen auf folgende Zugangsbarrieren: ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Sprachbarrieren, fehlende kulturspezifische Angebote, andere familiäre Strukturen, fehlende Information über die Angebote und strukturelle Barrieren.

Die Beherrschung der deutschen Sprache ist für alle Menschen mit Migrationshintergrund ein wichtiger Schlüssel zur Integration in die deutsche Gesellschaft. In sehr vielen Studien wird jedoch die sprachliche Verständigungsschwierigkeit mit Migrantinnen und Migranten hervorgehoben. Die deutschen Sprachkenntnisse bei den Arbeitsmigranten und -migrantinnen der ersten Generation sind sehr dürftig oder nicht ausgebildet. Vor allem die Frauen haben mangelnde Deutschkenntnisse auf Grund der seltenen Erwerbstätigkeit. Seit Beginn ihrer Migrationsgeschichte bis zum heutigen Zeitpunkt sind die mangelnden Deutschkenntnisse der Menschen mit Migrationshintergrund nicht nur ein Problem bei sozialen Kontakten mit Einheimischen, sondern erschweren auch den Umgang mit unterschiedlichen Institutionen. Je älter die Menschen sind, umso schlechter sind allgemein ihre Sprachkenntnisse. Die Gründe für die fehlenden Sprachkenntnisse waren unter anderem, dass die Migration von den Arbeitsmigranten und migrantinnen als eine zeitlich befristete Lebensphase mit dem Ziel der sofortigen Rückkehr betrachtet wurde, so dass ihnen das Erlernen der Sprache nicht wichtig erschien. Desweiteren waren die deutschen Sprachkenntnisse durch das Leben in ethnischen Kolonien mit ihren eigenen Infrastrukturen nicht zwingend erforderlich. Das Ende der Berufstätigkeit der Arbeitsmigranten und - migrantinnen führte letztendlich dazu, dass der Kontakt zu deutschen Arbeitskolleginnen und kollegen wegfiel und die wenigen, am Arbeitsplatz und im Umgang mit Menschen deutscher Herkunft angeeigneten, Sätze wieder verlernt wurden. So ziehen

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sich dann auch viele ältere Migrantinnen und Migranten in ihre Herkunftssprache zurück. Ihre Kinder und somit die jüngere Generation mit den besseren Sprachkompetenzen dienen daher meist als VermittlerIn oder AnsprechpartnerIn bei den Angelegenheiten ihrer Eltern (vgl. Gätschenberger 1993: 569 ff., Seeberger 2003: 253, Dietzel-Papakyriakou/Gohde/Kruse/Lehr 2007: 66). Bei der Nutzung des deutschen Altenhilfesystems durch die erste Generation der Migrantinnen und Migranten muss deshalb auf ihre eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit in der deutschen Sprache Rücksicht genommen werden. Aufgrund der Sprachbarrieren ist es daher von Vorteil, wenn Einrichtungen MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund hinsichtlich der Betreuung ihrer BewohnerInnen mit Migrationshintergrund miteinbeziehen, da sie neben dem bikulturellen und bilingualen Wissen auch das berufliche Fachwissen haben (vgl. Schilder 1998: 104). So sind auch in den beiden Pflegeheimen zweisprachige MitarbeiterInnen eingestellt. „Sondern klar war, dass (…) die alten Migranten so gut wie kein Deutsch mehr sprechen, also relativ wenig, und im Alter wird das ja immer, immer weniger, das heißt, das die muttersprachliche Ansprache auf jeden Fall wichtig ist (…)“ (Interviewauszug/Interkulturelle Einrichtung).

Kruse u.a. betrachten die Sprachbarriere aus einem anderen Blickfeld. Für sie erweist sich die Auffassung, dass Menschen mit Migrationshintergrund durch Experten und Expertinnen ihres Einwanderungslandes behandelt und unterstützt werden müssten als wenig hilfreich. Nach Kruse wird hier unter anderem übersehen, dass Migrantinnen und Migranten auch über besondere Kompetenzen verfügen, dass sie eine heterogene Gruppe sind und dass sie keinen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung ihres Herkunftslandes darstellen. Somit müsste für eine angemessene Versorgung älterer Menschen mit Migrationshintergrund in erster Linie die Sensibilität der Akteurinnen und Akteure des Gesundheitssystems erhöht werden (vgl. Kruse/Schmitt/Dietzel-Papakyriakou/Kampanaros 2004: 589). Wichtig für eine kultursensible Altenhilfe ist die richtige Einstellung und Haltung, d.h. Respekt und Anerkennung der MitarbeiterInnen anderen Kulturen und ihren Menschen gegenüber. Hinzu kommt das Wissen, das jederzeit neu überprüft werden muss, um Stereotypisierungen und Vorurteile auszuschließen. Die Kenntnisse über andere Religionen und Kulturen können hilfreich und notwendig bei der professionellen Arbeit sein. Viele Aussagen aus den Interviews richten sich auf kulturelle oder religiöse Bedürfnisse der BewohnerInnen. Es wird jedoch empfohlen, bei jeder Person vorher nachzufragen, wie weit oder nah sie sich an die Traditionen hält und welche Bedürfnisse sie als Individuum hat.

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„(…), also die müssen jetzt nicht, wenn sie zu uns kommen in die muslimische Wohngruppe. Wenn sie da nicht rein möchten, gucken wir, wenn ein anderer Platz frei wird, können sie natürlich auch in eine andere Wohngruppe einziehen“ (Interviewauszug/Interkulturelle Einrichtung).

Weil beide Pflegeeinrichtungen sich in ihrem Konzept für Menschen muslimischen Glaubens geöffnet haben, müssen sie bei der Betreuung ihrer muslimischen BewohnerInnen bestimmte religiöse Aspekte beachten. Der Glaube stellt für die meisten muslimischen Arbeitsmigranten und -migrantinnen einen wichtigen Bestandteil ihres Lebens dar. Die Entwicklung der Gläubigkeit nimmt in der Migration eine andere Richtung an als in den Herkunftsländern. In der Migration wird die religiöse Zugehörigkeit sehr wahrscheinlich gegenüber migrationsbedingt erlittenen Kränkungen aufgewertet und identitätsrelevanter. Die Kluft zwischen praktizierenden Musliminnen und Muslimen und nicht-praktizierenden muslimischen Migranten und Migrantinnen wird immer größer, wobei die Tendenz zur Religiösität steigt. Die Religion gilt als stabilisierendes Element und als Mittel zur Unterscheidung von der Aufnahmegesellschaft. Der Islam stellt bestimmte Ge- und Verbote für seine Gläubigen auf, die für Moslems, die außerhalb ihres Herkunftslandes leben, noch schwerer einzuhalten sind. Die Hinwendung zur Religion ist vor allem bei älteren Arbeitsmigranten und - migrantinnen zu beobachten (vgl. Seeberger 2003: 254, Uslucan 2007: 60). Wichtig für interkulturell geöffnete Einrichtungen ist es, die Gebetszeiten bei gläubigen Bewohnerinnen und Bewohnern zu beachten (vgl. Simon/Moir 1999: 93 ff.). In beiden Einrichtungen gibt es einen Gebetsraum. Ein weiteres Bedürfnis ist das Fasten, das einmal im Jahr während des Fastenmonats Ramadan praktiziert wird. Dabei ist es Vorschrift, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, weder zu essen, noch zu trinken (vgl. ebd.: 93 ff.). Zwar fasten viele BewohnerInnen in den beiden Pflegeheimen aus gesundheitlichen Gründen nicht, doch religiöse Feste werden gefeiert. „Dann gibt es Feste, es ist dann ganz normal, dass hier im Haus Ostern oder Weihnachtsfeste gefeiert werden, Adventsfeiern, aber auch natürlich Ramadan oder Opferfeste“ (Interviewauszug/Interkulturelle Einrichtung).

Auch sollte Rücksicht auf das Verbot von Schweinefleisch und Alkohol genommen werden, da beides für gläubige Moslems unrein ist (vgl. ebd.: 135). Daher werden in den beiden Häusern unter anderem auch muslimgerechte Mahlzeiten aus der türkischen Küche angeboten. Auch sterbende Moslems werden rituell betreut, dazu gehören das islamische Glaubensbekenntnis und die rituelle Waschung. Vor allem im Prozeß des Sterbens und bei Tod sollten muslimische Einrichtungen hinzugezogen werden (vgl. Meyer/Strauß/Ulrich 1998b: 38, See-

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berger 2003: 254 f.). Das starke Schamgefühl bei Moslems ist auf die Religion zurückzuführen, indem es allgemein strenge Regeln gibt, wer wen vor allem im Intimbereich waschen darf. Es ist tabu, dass andersgeschlechtliche Pflegekräfte die Person im Intimbereich waschen (vgl. Meyer/Strauß/Ulrich 1998a: 20 f.). Aus diesem Grund werden muslimische BewohnerInnen in den Pflegeeinrichtungen von gleichgeschlechtlichen Pflegekräften gepflegt. Werte wie Achtung und Respekt regeln die Beziehung zwischen Menschen, die sich im Alter, im sozialen Status oder im Geschlecht voneinander unterscheiden. Somit bestimmt beispielsweise das Senioritätsprinzip den Umgang der Mitglieder untereinander in der türkischen Gesellschaft. Demnach ist das Aufsteigen in der Geburten- und Generationenfolge mit einem Zuwachs an Respekt und Achtung verbunden. Deshalb werden ältere Menschen in der türkischen Gesellschaft oft mit dem Vornamen und einem Zusatz wie Tante oder Onkel angesprochen, wie das auch der Fall in den beiden Pflegeeinrichtungen ist. In der Pflegeeinrichtung schafft man so für die türkischen BewohnerInnen ein gewohntes und vertrautes Umfeld (vgl. Seeberger 2003: 255). Während Ältere Anspruch auf Achtung haben, haben die Jüngeren Anspruch auf Zuneigung. Aus dieser Austauschbeziehung entspringt für die Jüngeren somit die Verpflichtung, die Eltern im Alter zu versorgen (vgl. ebd.: 256). Die Mehrzahl älterer Migrantinnen und Migranten erwartet die Pflege durch ihre Kinder, aber eine außerfamiliäre Hilfe schließen die meisten ebenfalls nicht aus. Das Gesundheits- und Sozialwesen in Deutschland begünstigt das Resultat, dass eine außerfamiliäre Hilfe in Deutschland bevorzugt wird, falls die familiäre nicht ausreicht (vgl. Wedell 1993: 172 ff.). Die beiden stationären Pflegeeinrichtungen haben die Wichtigkeit der Angehörigen, vor allem in der interkulturellen Öffnung erkannt und beziehen diese, so weit es geht, in den letzten Lebensabschnitt der BewohnerInnen mit ein. In Deutschland gibt es ein differenziertes Altenhilfesystem mit vielfältigen Einrichtungen und Diensten. Für viele Menschen mit Migratinshintergrund sind diese Angebote allerdings undurchschaubar (vgl. Schubert 2005: 101). Unzureichende Informationen und mangelnde Informationsmöglichkeiten bestehen vor allem hinsichtlich der Versicherungsansprüche und der Finanzierungsfragen. Die wichtigsten Informationsquellen über die Angebote der Altenhilfe bieten nach Angaben der Migrantinnen und Migranten die nationalitätenspezifischen Beratungsstellen der Wohlfahrtsverbände. Desweiteren stellen die eigenen Kinder eine wichtige Informationsquelle dar, so dass diesen hinsichtlich der Vermittlung zwischen den Institutionen und ihren Eltern eine bedeutende Rolle zukommt und sie somit bei Informationsmaßnahmen stärker einbezogen werden sollten. Nach Angaben der beiden untersuchten Einrichtungen werden unterschiedliche Formen der Öffentlichkeitsarbeit genutzt. Somit erfahren die älteren Menschen mit

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Migrationshintergrund und ihre Angehörigen oft über die Medien, wie Zeitungen, Fernsehen, aber auch durch Gespräche mit Bekannten sowie Freundinnen und Freunden von der Existenz der beiden Einrichtungen. Ihre Informationsbroschüren sind zweisprachig, d.h. deutsch-türkisch, weil diese in Deutschland die größte Gemeinde ist. Weiterhin besteht die Idee, mit den Organisationen, Verbänden und Moscheen zusammenzuarbeiten und direkt dort für Migrantinnen und Migranten professionelle Beratung anzubieten. „(…) in der Regel haben sie entweder in der türkischen Zeitung etwas über uns gelesen oder vielmehr die Angehörigen haben darüber gelesen, sie haben es von Nachbarn gehört, von Freunden, also der erste Weg ist aus meiner Sicht wirklich über die türkischen Medien und die Mund-zu-Mund- Propaganda. (…). Also die normalen Vermittlungsstrukturen greifen da überhaupt nicht, also ich wüsste gar nicht wann wir über diese ganz normalen Vermittlungen, über die man normalerweise Bewohner in das Haus bekommt, glaube ich ist so noch niemand zu uns gekommen und über die Moscheen bis jetzt auch noch niemand. Also es ist wirklich noch nicht wirklich entwickelt an der Stelle, also wie die Informationen zu den Migranten kommen. Ich bin momentan am Arbeiten mit den türkischen und marokkanischen Moscheen, daran, dass man eine Beratung direkt in den Moscheen anbieten muss (…). Die gehen in die Moscheen und suchen da Rat und Hilfe“ (Interviewauszug/Interkulturelle Einrichtung).

Die strukturellen Zugangsbarrieren beinhalten unter anderem die Gebühren bzw. Kosten, die für die Klienten und Klientinnen entstehen, wenn sie Angebote von Institutionen nutzen. Hinzu kommen unpassende Öffnungszeiten, KommStrukturen sowie Wohnortferne, die mit der Lebenswirklichkeit belasteter Familien kollidieren (vgl. Gaitanides 2006: 225). Die materielle Lebenslage älterer Migrantinnen und Migranten ist je nach vorheriger Erwerbsbiographie unterschiedlich. D.h. bei einer regelmäßigen Beschäftigung und der Erwerbsarbeit in Deutschland verfügen sie im Rentenalter über relativ günstige ökonomische Ressourcen. Andere, die während der Beschäftigung in Deutschland keine ausreichenden Rentenanwartschaften aufbauen konnten, müssen mit schlechten materiellen Bedingungen rechnen, wenn sie nicht von der Familie unterstützt werden. Viele ältere Migrantinnen und Migranten können sich aufgrund der geringeren Finanzkraft viele Dienstleistungen nicht leisten (vgl. Backes/Clemens 1998: 239). Dass die materiellen Ressourcen älterer Arbeitsmigranten und -migrantinnen im Durchschnitt schlecht sind, haben auch die InterviewpartnerInnen in den untersuchten Einrichtungen bestätigt. Dass diese geringe Finanzkraft allerdings für sie eine Zugangsbarriere in stationäre Pflegeeinrichtungen darstellt, haben die Befragten abgelehnt, da auch Menschen mit Migrationshintergrund Anspruch auf Leistungen aus der Pflegeversicherung und der Sozialhilfe haben.

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„Es gibt keine gesonderten oder extra Finanzierungsrituale für ältere Migranten. Die gesetzlichen Grundlagen, die es in Deutschland gibt, dienen der Finanzierung auch bei Migranten, die hier gearbeitet haben“ (Interviewauszug/Monokulturelle Einrichtung).

In den untersuchten Pflegeheimen kommen die BewohnerInnen zwar meistens aus der Umgebung, allerdings ist die Wohnortnähe zu den Angehörigen für sie kein entscheidendes Kriterium für den Einzug. Die Komm-Strukturen und die Öffnungszeiten haben beide Einrichtungen auch als strukturelle Zugangsbarrieren erkannt. Daher gibt es in beiden Pflegehäusern offene Besuchszeiten für die Angehörigen. Auch bei den Beratungsterminen versuchen die SozialarbeiterInnen den Angehörigen entgegenzukommen, falls diese viel beschäftigt sind und kaum Zeit haben; so sind beispielsweise Beratungen an Wochenenden möglich. Die interkulturelle Einrichtung überlegt desweiteren, in Form einer Geh-Struktur ihre Beratungsangebote für ältere Menschen mit Migrationshintergrund in den Moscheen anzubieten. 1.3

Monokulturelle oder interkulturelle Einrichtungen

Die Prognosen zeigen, dass die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland auch altenpolitisch zunehmend zur Aufgabe wird. Häufig gibt es Integrationsbarrieren, die den Zugang älterer Migrantinnen und Migranten in die Institutionen der Altenhilfe und ihre Inanspruchnahme von sozialen Diensten hemmen, obwohl der Bedarf kontinuierlich wächst. Weil dieser aber sehr heterogen ist, was Aufenthaltsdauer, Möglichkeiten der sprachlichen Kommunikation, kulturelle Hintergründe, Religionszugehörigkeiten und Einstellungen zur Religion anbetrifft, ist es nicht möglich, allgemein von Integrations- und Versorgungsproblemen älterer Migrantinnen und Migranten zu sprechen. Wenn Aufgaben und Möglichkeiten der Altenhilfe bezogen auf ältere Menschen mit Migrationshintergrund und eine erfolgreiche interkulturelle Öffnung der Dienste angestrebt werden, dann ist es wichtig, diese Heterogenität stärker zu berücksichtigen (vgl. Zeman 2005: 77). In den letzten Jahren wurden zahlreiche Konzepte und Projekte für eine interkulturelle Öffnung der Altenhilfe entwickelt und durchgeführt. Für die empirische Untersuchung wurden, wie eingangs erwähnt, gezielt zwei Konzepte der stationären Altenhilfe, die mono- und interkulturell ausgerichtet sind, betrachtet. Beide Einrichtungen gehen auf die spezifischen Bedürfnisse der älteren Menschen türkischer Herkunft ein. Die Einrichtungsleiterin des interkulturellen Pflegeheims weist allerdings darauf hin, dass monokulturelle Häuser eine einfache und bequeme Lösung für deutsche Einrichtungen sind und dass ihre Existenz die interkulturelle

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Öffnung der Regelversorgung verhindern würde. Sie favorisiert daher teilintegrative Konzepte, die den Alltag eher widerspiegeln. Für die Realisierung eines interkulturellen Projektes benötigt man nach Aussage der Einrichtungsleiterin des interkulturellen Pflegeheimes auch keine großen finanziellen Ressourcen. In der monokulturellen Einrichtung hingegen wünscht sich die Einrichtungsleiterin eine größere Akzeptanz der Mehrheitsgesellschaft für die eigenen Wertvorstellungen älterer Migrantinnen und Migranten, die diese auch im Alter ausleben wollen. „(…) ich befürworte es nicht, diese rein ethnischen Häuser. Also ich finde so eine Mischung zwischen dem sozusagen, einer kleinen internen ethnischen Ausrichtung in einem interkulturellen oder multikulturellen Haus, das finde ich eine gute Möglichkeit, wie man die Pflege auch von alten Migranten gewährleisten kann. (…) provozieren eigentlich eine Monokulturalität, die aber gar nicht unseren Alltag widerspiegelt. (…), dass viele deutsche Einrichtungen, (…) sagen das ist doch eine bequeme Lösung. Die machen da ihre Einrichtungen, können da mit allem sich darauf einstellen und wir bleiben so wie wir sind. (…). Man braucht nicht so viele zusätzliche Ressourcen um [interkulturelle Öffnung] auf die Beine zu stellen. (…). Da musst du nicht irgendwie 10 000€ in die Hand nehmen, um so ein Projekt zu machen“ (Interviewauszug/Interkulturelle Einrichtung). „Ich möchte, dass diese sowie viele andere gute Konzepte, die das Wohlergehen der Pflegebedürftigen im Auge hat, ganz selbstverständlich aufgenommen und realisiert werden, und nicht sich rechtfertigen sollten. Eine Normalität wünsche ich mir, eine Akzeptanz der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland, dass die älteren Migranten ebenfalls ihre eigenen (Wert) Vorstellungen im Alter und in der Pflegebedürftigkeit haben und diese auch ausleben wollen. Stellen Sie sich mal vor, Ihre Mutter ist an Demenz erkrankt und ist in einer Einrichtung mit Menschen die sie nicht verstehen zusammen gebracht worden. Das ist doch schrecklich für diesen Menschen, oder“ (Interviewauszug/Monokulturelle Einrichtung)?

Zurzeit werden allgemein die Dienste und Angebote der Altenhilfe durch ältere Migrantinnen und Migranten wenig genutzt. Die Gründe für diese geringe Inanspruchnahme können unter anderem bestehende Zugangsbarrieren sowohl auf Seiten der Institutionen wie auf Seiten der potentiellen NutzerInnen sein. Seitens der Institutionen gibt es kaum Ansätze einer systematischen Berücksichtigung der soziokulturellen Bedürfnisse älterer Menschen mit Migrationshintergrund. Häufig fehlen in den Einrichtungen bilinguale Fachkräfte, so dass die Menschen dort nicht in ihrer Muttersprache kommunizieren können. Aus diesem Grund zieht die Mehrheit von ihnen nach einer Umfrage im Falle einer bestehenden Pflegebedürftigkei, eine Einrichtung mit Bewohnerinnen und Bewohnern und Fachkräften der eigenen Nationalität vor (vgl. Zeman 2005: 68). Die Belegungszahlen der beiden untersuchten Einrichtungen zeigen, dass das monokulturelle Haus noch sehr viele freie Plätze hat, während die Wohngruppe in der interkultu-

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rellen Einrichtung komplett belegt ist. Dies ist unter anderem ein Anzeichen dafür, dass teilintegrative Modelle von Migrantinnen und Migranten akzeptiert werden, solange sie im Konzept die Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse finden. Trotz des monokulturellen Ansatzes musste schließlich auch das türkische Pflegeheim zu Beginn sehr viel Aufklärungsarbeit bei den älteren Migrantinnen und Migranten und ihren Familien leisten. Dies bestätigt noch einmal, dass monokulturelle Einrichtungen nicht unbedingt erfolgreicher sein müssen und/oder eher angenommen werden. „Am Anfang habe ich auch gedacht, wenn wir öffnen und in den Betrieb gehen, dass wir schon das Haus in relativ kurzer Zeit voll kriegen würden. Aber wir haben im Nachhinein auch festgestellt, dass es sehr sehr schwierig ist, die Leute davon zu überzeugen“ (Interviewauszug/Monokulturelle Einrichtung). „Jetzt sind zum Beispiel von den Migrantenvereinen, die damals kritisiert haben, warum man nicht eigene Pflegeheime hat und so weiter. Das hat sich auch noch mal so ein bisschen beruhigt, weil die haben auch gesehen „Ah, das ist was Schönes, Beispielhaftes“. (…) offen damit auseinandergesetzt und Veranstaltungen, Informationsveranstaltungen in den Moscheen angeboten“ (Interviewauszug/Interkulturelle Einrichtung).

Mit Blick auf einen zukünftig erwartbar wachsenden Bedarf an Dienstleistungen für ältere Migrantinnen und Migranten wird seit langem die politische und fachliche Forderung nach einer interkulturellen Öffnung der Altenhilfe erhoben. Eine integrationsorientierte und auf die interkulturelle Öffnung von Altenarbeit gerichtete Altenpolitik gleicht gezielt spezifische Belastungen und Benachteiligungen aus und orientiert sich an vorhandenen Ressourcen (vgl. Zeman 2002: 8). Aufgrund begrenzter Ressourcen und Kapazitäten ist es allerdings nach Aussage der Einrichtungsleitung des interkulturellen Pflegeheims nicht möglich, dass sich die Einrichtung auf mehrere Kulturen einstellt. Fehlende teilintegrative Modelle für andere ethnische Zugehörigkeiten könnten jedoch den Wunsch nach „eigenen“ monokulturellen Pflegeeinrichtungen bei Bedarf verstärken. „(…) wir müssen uns an der Stelle begrenzen, weil wir haben einfach nicht so viele Ressourcen, dass wir uns wirklich so ausbreiten können. Die Kapazitäten haben wir nicht in der Einrichtung“ (Interviewauszug/Interkulturelle Einrichtung).

Viele ältere Menschen mit Migrationshintergrund fühlen eine doppelte Zugehörigkeit, indem sie einerseits ihr Leben in Deutschland verbringen und sich andererseits an ihrer Herkunftskultur orientieren. Somit können ältere Migranten und Migrantinnen nur in einem interkulturell offenen Kontext erwarten, dass die für sie gleichrangige Verbundenheit sowohl mit dem Herkunfts- wie dem Aufnah-

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meland akzeptiert wird. Allerdings ist die interkulturelle Öffnung von Einrichtungen bislang kaum gelungen. Weil viele Institutionen die aktuelle Nachfrage durch ältere Menschen mit Migrationshintergrund als zu gering bewerten, möchten sie dieser Zielgruppe keine größere Aufmerksamkeit widmen (vgl. ebd.: 9 f.). Die Interviews haben diese allgemeine Einstellung der Einrichtungen zur interkulturellen Öffnung nochmals bestätigt. Nicht zu unrecht haben die Befragten hierzu die Meinung vertreten, dass auch in Zukunft die Nachfrage durch ältere Migrantinnen und Migranten gering sein wird, solange keine gezielten Angebote für diese Zielgruppe seitens der Institutionen gemacht werden. Interkulturelle Öffnung der Altenhilfe bedeutet eine gezielte Verbesserung der Bedingungen, unter denen Zugangsrechte realisiert werden können, die für ältere Migranten und Migrantinnen genauso gelten wie für Seniorinnen und Senioren deutscher Herkunft. Dies würde deutlich machen, dass ehemals Fremde mit einem „Gästestatus“ zu gleichwertigen Bürgerinnen und Bürgern mit Anspruchsrechten geworden sind. Untersuchungen zu ethnischen Konflikten haben gezeigt, dass die einheimische Bevölkerung Menschen mit einer größeren Fremdartigkeit in Sprache, Verhalten und Aussehen als Gäste wahrnehmen, die somit nicht die gleichen Anspruchsrechte haben. Der ethnische Konflikt entsteht also nicht wegen der mangelnden Bereitschaft von Migranten und Migrantinnen zur Integration, sondern aufgrund der Inanspruchnahme derselben Mittel, die auch ihnen formal zur Verfügung gestellt werden (vgl. ebd.: 10). Die Befragten in den Interviews haben von keinerlei interethnischen Konflikten zwischen Bewohnerinnen und Bewohnern in ihren Einrichtungen gesprochen, sondern eher von Konflikten zwischen Personen mit und ohne demenzieller Erkrankung. Bei der Umsetzung des Konzepts der interkulturellen Öffnung der Altenhilfe für ältere Menschen mit Migrationshintergrund reichen für die Inanspruchnahme der Dienste das Vorhandensein von Angeboten, das Informiertsein oder die Überwindung der Sprachbarriere nicht aus. Viel entscheidender für das Gelingen der Öffnung ist die dreifach gesicherte interkulturelle Akzeptanz auf Seiten der älteren Migrantinnen und Migranten, der älteren Menschen deutscher Herkunft und seitens der Einrichtungen. Durch den Einsatz von multikulturellen Teams können die Dienste an beide Seiten, d.h. sowohl an Seniorinnen und Senioren deutscher Herkunft als auch an ältere Migrantinnen und Migranten vermittelt werden. Bei der interkulturellen Öffnung müssen die jeweiligen Institutionen Maßnahmen entwickeln, die sich an den konkreten Bedingungen ihrer Tätigkeits-, MitarbeiterInnen-, Zielgruppen- und Organisationsprofile orientieren (vgl. Zeman 2005: 80). Das Ziel der Altenhilfe und Altenpolitik muss es sein, die soziale und gesellschaftliche Integration von Individuen und Zielgruppen in allen Lebenslagen des Alters zu sichern und voranzutreiben. Hierzu gehören – insbesondere für

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Risikogruppen, zu denen auch ältere Menschen mit Migrationshintergrund zählen – folgende Aufgaben: ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Milderung von Altersproblemen durch frühe Prophylaxe, Sicherung von sozialen Leistungen und der wirtschaftlichen Lebensgrundlage, Erhaltung und Stärkung einer unabhängigen und selbstständigen Lebensführung und Förderung der Selbsthilfefähigkeit, Integration unter Berücksichtigung und Anerkennung von kultur- und herkunftsgeprägten Besonderheiten der Lebensweise und des Wertesystems, Hilfe und Betreuung im Falle der Pflegebedürftigkeit, Abbau von Barrieren, die Partizipation behindern, professionelle Beratung, Vermittlung und Interessenvertretung und Schutz vor Ausgrenzung und Isolation (vgl. Zeman 2002: 16 f.).

Wenn Konzepte der Altenhilfe bezogen auf ältere Migrantinnen und Migranten verwirklicht werden sollen, dann ist es wichtig, ihre vorhandenen Kompetenzen und Ressourcen wahrzunehmen statt sich auf die Kompensation von Defiziten ihrer Lebenslage zu konzentrieren. Die Ressourcen können als Anknüpfungspunkt einer Hilfe zur Selbsthilfe dienen, während die Konzentration auf Defizite und die mangelnde Anerkennung vorhandener Ressourcen Segregationstendenzen verstärken können. Die Kompetenzen und Ressourcen älterer Migrantinnen und Migranten machen sich in den familiären und gesellschaftlichen Leistungen, die sie erbringen, bemerkbar. Zum einen unterstützen sie auf unterschiedlichster Weise ihre Familie und zum andern engagieren sie sich oft ehrenamtlich in ihren ethnischen Eigenorganisationen. Die ethnischen Organisationen erkennen die kulturspezifischen Kompetenzen älterer Migrantinnen und Migranten an und bewerten diese positiv. Sie ermöglichen zudem den Kulturerhalt und bieten für sie das relevante Wissen im Umgang mit deutschen Institutionen. Diese Art der Partizipation kommt dem Bedürfnis älterer Migrantinnen und Migranten entgegen (vgl. ebd.: 17). Auch die Ergebnisse der Interviews haben bestätigt, wie wichtig die ethnischen Organisationen, vor allem die religiösen Vereine und Moscheen für ältere Menschen mit Migrationshintergrund sind. Daher müssen diese Organisationen über die Vorteile des Konzepts der interkulturellen Öffnung der Altenhilfe aufgeklärt und überzeugt werden, damit das Konzept auch allgemein bei den Migrantinnen und Migranten an Akzeptanz gewinnt und diesbezüglich Angebote genutzt werden. Da die Migrantinnen und Migranten und ihre Familienangehörigen im Laufe ihres Erwerbslebens bei ihren persönlichen Angelegenheiten primär von Einrichtungen der Migrationssozialarbeit beraten und betreut wurden, bietet die Migrationssozialarbeit eine hohe interkulturelle Kompetenz, die der Altenhilfe

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weitgehend noch fehlt. Andererseits hat sie aber im Gegensatz zur Altenhilfe keine Zuständigkeit für altersbezogene Angebote und Leistungen. Daher ist eine adäquate Versorgung älterer Menschen mit Migrationshintergrund am ehesten möglich, wenn die Migrationssozialarbeit mit der Altenhilfe vernetzt wird (vgl. Zeman 2005: 78). Für die Modernisierung der Altenhilfe und die Zielsetzung einer interkulturellen Öffnung sind differenziertere Zielgruppenansätze, eine durchgehende Lebensweltorientierung der Angebote und Einrichtungen sowie ein Dialog zwischen Professinellen und potenziellen Nutzerinnen und Nutzern von hoher Bedeutung. Bei der interkulturellen Öffnung der Altenhilfe geht es insgesamt um die Akzeptanz von Vielfalt. Die Altenhilfe muss sich auf eine Zielgruppendifferenzierung vorbe-reiten, die der wachsenden Vielfalt unterschiedlicher Lebenslagen und Alter(n)sstilen gerecht wird. Daher sollte die Altenhilfe bei ihren Angeboten den Wunsch älterer Migrantinnen und Migranten nach ethnischer Zusammengehörigkeit beachten. Gerade die erste Generation der Arbeitsmigranten und - migrantinnen pflegt ihre Heimatgefühle in der Fremde besonders stark. Bei ihnen findet häufig eine Form biographischer Rückbesinnung und Selbstvergewisserung statt. Die ethnische Zusammenkunft bei älteren Menschen mit Migrationshintergrund kann auf der Grundlage geteilter Migrationserfahrungen und Gemeinsamkeiten der aktuellen Lebenslagen als wechselseitige Stütze durch Solidarität und Verständnis füreinander dienen und ihr Selbstbewusstsein stärken. Eine Überbetonung kultureller und ethnischer Unterschiede, die sich als Vorurteil erweisen können, sollten allerdings vermieden und der Kontakt zur Aufnahmegesellschaft aufrechterhalten werden. Die Interviews haben gezeigt, dass nicht für alle älteren Migrantinnen und Migranten Herkunft und ethnische Zugehörigkeit entscheidend sind, wenn sie Angebote wahrnehmen möchten. Viel entscheidender können für sie andere Kriterien der Lebenslage sein, wie z.B. die Geschlechtszugehörigkeit, die soziale Einbindung, der Bildungsstand usw.. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich soziale Beziehungen am ehesten zwischen Menschen mit gleichem sozioökonomischen Status und gleichem Lebensstil ergeben (vgl. Zeman 2002: 10, Häußermann 2007: 51). 1.4

Schlussfolgerungen für die Praxis

Aus vielfältigen Gründen wird ein Großteil der Migranten und Migrantinnen aus den ehemaligen Anwerbeländern ihr Alter in Deutschland verbringen und sie werden die ersten Menschen mit Migrationshintergrund für das System Altenhilfe sein. Viele Untersuchungen belegen bereits, dass seit einigen Jahren eine erhöhte Pflegebedürftigkeit älterer Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland besteht. Besonders aufgrund der Anhäufung gesundheitlicher Belas-

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tungsfaktoren während des Berufslebens kommt es zu einer oft früheren und erhöhten Pflegebedürftigkeit. Trotz des bereits bestehenden Bedarfes werden allerdings institutionelle Versorgungssysteme von Migrantinnen und Migranten sehr selten genutzt; ihnen bleibt der Zugang zum Regelversorgungssystem der Altenhilfe weitestgehend verschlossen. Die Ursachen hierfür sind unter anderem sprachliche und soziokulturelle Zugangsbarrieren auf Seiten der Migrantinnen und Migranten sowie strukturelle Zugangsbarrieren seitens der Einrichtungen der Altenhilfe. Um eine angemessene Versorgung und gleichberechtigte Teilhabe zu gewährleisten, sind Konzepte zur interkulturellen Öffnung von Einrichtungen der Altenhilfe erforderlich (vgl. Schubert 2005: 102 f.). Zudem fühlen ältere Menschen mit Migrationshintergrund häufig eine doppelte Zugehörigkeit. Einerseits leben sie in Deutschland und andererseits orientieren sie sich an ihrer Herkunftskultur. Demzufolge können sie nur in einem interkulturell offenen Kontext der Altenhilfe erwarten, dass die für sie gleichrangige Verbundenheit sowohl mit dem Herkunfts- wie dem Aufnahmeland akzeptiert wird (vgl. Zeman 2002: 9). Viele ältere Menschen mit Migrationshintergrund waren jahrelang in Deutschland erwerbstätig. Sie haben während ihres Aufenthaltes Steuern und Sozialversicherungsbeiträge gezahlt und Ansprüche auf die pflegerische und gesundheitliche Versorgung in Deutschland erworben. Für ihre bedarfsgerechte und adäquate Versorgung sind allerdings Überlegungen und Strategien erforderlich, die sich an ihrer Lebenswelt orientieren und ihre spezifische Situation beachten. Dabei sind auch die eigenen Kompetenzen, die Eigenständigkeit und die Würde der älteren Menschen zu berücksichtigen. Daher muss eine einseitige Defizitorientierung in Einrichtungen vermieden und verstärkt auf vorhandene Ressourcen und Kompetenzen geachtet werden (vgl. Schubert 2005: 113 f.). Ältere Migrantinnen und Migranten haben spezifische Anliegen und Bedürfnisse, die in – auf sie zugeschnittenen – Angeboten und Maßnahmen berücksichtigt werden müssen. In Untersuchungen werden z.B. oftmals Verständigungsschwierigkeiten und Sprachbarrieren genannt. Der Einsatz von interkulturellen Fachkräften in den Einrichtungen der Altenhilfe ist daher sehr wichtig. Aufgrund des kulturell und religiös bedingten Schamgefühls ist es angebracht, Pflegekräfte des gleichen Geschlechts einzusetzen. Bei der interkulturellen Öffnung müssen die Fachkräfte generell Seminare und Fortbildungen zum Thema „interkulturelle Kompetenz“ besuchen. Dadurch wird unter anderem ihre Empathie für andere Kulturen gefördert. Weitere Aspekte, vor allem in Bezug auf die Versorgung muslimischer Seniorinnen und Senioren, sind das Beachten von glaubensbedingten Bedürfnissen wie Gebets- und Fastenzeiten, Essgewohnheiten, religiösen Festen, die rituelle Waschung und Körperpflege sowie die besonderen Rituale bei der Beerdigung (vgl. Geiger 2005: 66, Seeberger 2003: 251 ff.). Damit ältere Menschen mit Migrationshintergrund zustehende Versorgungsleistungen in Anspruch nehmen können, ist beispielsweise muttersprachliches

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Informationsmaterial seitens der Einrichtungen zu empfehlen. Muttersprachliche Rundfunksender, Migrationssozialdienste und Selbsthilfeorganisationen können wirkungsvoll zur Informationsvermittlung herangezogen werden. Die Überwindung der Barrieren ist als Querschnittsaufgabe zu verstehen, bei der eine Kooperation von Gerontologie und Migrationssozialarbeit unumgänglich ist. So müssen auch die sozialen Netzwerke und die innerethnische Infrastruktur miteinbezogen werden, um zurückgezogen lebende ältere Migrantinnen und Migranten frühzeitig zu erreichen und einer möglichen sozialen Isolation im Alter präventiv zu begegnen (vgl. Schubert 2005: 103 ff.). Durch die ungünstige Wohnsituation älterer Menschen mit Migrationshintergrund lässt sich häufig der Anspruch einer bevorzugt ambulanten Versorgung nicht realisieren. Die prägenden Erfahrungen aus den Herkunftsländern verstärken jedoch die negative Wahrnehmung von außerfamiliären Unterstützungsformen. Die meisten Menschen möchten in ihrer vertrauten Umgebung und Wohnung bleiben. Durch die Normen und Wertvorstellungen der ersten Generation aus den Herkunftsländern zum Zeitpunkt der Auswanderung bestehen kulturadäquate innerfamiliäre Forderungen und Ansprüche auf eine familiäre Versorgung. Aufgrund von Grenzen der familiären Belastbarkeit vor allem bei Menschen mit einer Einstufung in den Pflegestufen 2 und 3 ist die Angehörigenpflege kaum mehr möglich. Der Bedarf an externen Hilfen wird in den nächsten Jahren deutlich mit dem Erreichen der Hochaltrigkeit der ersten Generation zunehmen. Allerdings wird eine bewusste Auseinandersetzung zwischen den Generationen über den wachsenden Pflegebedarf vermieden, bestehende Unterstützungsleistungen oft nicht wahrgenommen und geeignete Alternativen nicht gesucht (vgl. Zeman 2005: 69 f.). Während der Interviews kam in beiden Einrichtungen das Thema der Demenz bei älteren Migrantinnen und Migranten zur Sprache. Diese Thematik ist für die Zukunft sehr wichtig und sollte in weiterführenden Studien erforscht und bei den Fortbildungen der MitarbeiterInnen berücksichtigt werden. Gegenwärtig liegen kaum Studien über Migrantinnen und Migranten mit einer dementiellen Erkrankung vor; große Defizite findet man diesbezüglich auch in der Praxis. Die wenigen Erfahrungen weisen darauf hin, dass das Thema „Demenz und Migration“ weitgehend unbekannt ist. Häufig sind die Angehörigen über diese Erkrankung schlecht bis gar nicht informiert. Daraus folgt, dass Symptome von Demenzerkrankungen bei älteren Familienmitgliedern nicht richtig eingeordnet werden und keine ausreichende Diagnostik stattfindet (vgl. Bfw/RISP 2003). Die Altenhilfeträger sollten Konzepte zum Aufbau von ethnischen und nationalitätenspezifischen Angeboten in der stationären Altenhilfe entwickeln. Sowohl das mono- als auch das interkulturelle Modell gehen auf die speziellen soziokulturellen Bedürfnisse ihrer BewohnerInnen ein. Zusätzlich ermöglicht das interkulturelle Konzept die Teilintegration der Menschen mit Migrationshin-

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tergrund, so können sich diese in ihre Wohngruppen zurückziehen oder an gemeinsamen Aktivitäten des Hauses teilnehmen. Durch das gemeinsame Nebeneinander werden Vorurteile zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern abgebaut und diese Erfahrungen können zu einem besseren Verständnis der jeweils anderen Kultur führen. Es wurde festgestellt, dass das teilintegrative Modell von Migrantinnen und Migranten akzeptiert wird, solange sie im Konzept die Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse finden. Selbst das monokulturelle Modell wird nicht gleich zu Beginn von den Menschen mit Migrationshintergrund angenommen. Schließlich gehen beide Modelle auf die gleiche Art und Weise auf die Bedürfnisse älterer Migrantinnen und Migranten ein, aber nur das teilintegrative Modell ermöglicht ein Zusammenleben der unterschiedlichen Kulturen und spiegelt damit den tatsächlichen Alltag in Deutschland wider. Auch das seit 2005 geltende Aufenthaltsgesetz (AufenthG) trägt der faktischen Entwicklung Deutschlands zum Einwanderungsland Rechnung. Besonders die in diesem Gesetz aufgenommenen integrativen Ansätze verdeutlichen den gesellschaftspolitisch motivierten Wunsch des gemeinsamen Miteinanders der Menschen mit Migrationshintergrund und der deutschen Bevölkerung Mittlerweile sind deutliche Fortschritte in der interkulturellen Öffnung der Altenhilfe aufgrund unterschiedlicher Modellprojekte zu verzeichnen. Es fehlt im Bereich der Regelversorgung aber weiterhin an ausreichenden Angeboten für Menschen mit Migrationshintergrund. Das besonders erfolgreiche teilintegrative Modell sollte speziell in den Ballungszentren weiter ausgebaut und in seiner Nachhaltigkeit gesichert werden. Literatur Backes, G./Clemens, W. (1998): Lebensphase Alter – Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Altersforschung, Juventaverlag, Weinheim. Bergemann, H. (2006): Öffnung der Seniorenwirtschaft für ältere Migranten – wozu?, Zeitschrift für Migration und Soziale Arbeit, Jg. 28 (3/4), 297-300. Bfw/RISP (2003): Demenz und Migration. Onlineressource: http://www.bfw-physio.de/ xenos/module/modul6.pdf, Abruf: 28.04.2008. Brandenburg, H. (Hg.) (2004): Altern in der modernen Gesellschaft. Interdisziplinäre Perspektiven für Pflege- und Sozialberufe, Schlütersche Verlagsgesellschaft, Hannover. BMfFSJ (2002): Sechster Familienbericht: Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen – Belastungen – Herausforderungen, Bundestagsdrucksache 14/ 4357 vom 20.10.2000. Dietzel-Papakyriakou, M./Gohde, J./Kruse, A./Lehr, U. (2007): Alter und sozialer Wandel. In: Bertelsmann Stiftung (Hg.): Alter neu denken – Gesellschaftliches Altern als Chance begreifen, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, 62-68.

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Anna Läsker, Pinar Yortanli

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IV.

IV. Wohnwelten im Alter

Wohnwelten im Alter

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Lebenswelt im Wohnkontext

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Lebenswelt im Wohnkontext Johanna Hildebrandt

Der demografische Wandel macht die Bedeutung des Themas „Leben und Wohnen im Alter“ unübersehbar: Während in Deutschland die Anzahl jüngerer Menschen kontinuierlich abnimmt, wird bis 2030 jede/r vierte BundesbürgerIn über 65 Jahre alt (ca. 22,3 Mio. / 28 % der Gesamtbevölkerung) und die Zahl der über 80-Jährigen von heute 4,1 Mio. auf dann 6,4 Mio. angewachsen sein (vgl. BMVBS 2011: 9). Dem zufolge hat sich das Wohnangebot in Zukunft verstärkt auf die Bedarfslagen älterer bzw. alter Menschen auszurichten. Dabei haben die Beschaffenheit der Wohnung und die ihres Umfeldes massive Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Betroffenen sowie auf ihre gesellschaftlichen Teilhabechancen im Alter, wie der folgende Beitrag verdeutlicht. 1

Wohnen im Alter

Wohnen im Alter wird von vielen Menschen mit Sonderwohnformen assoziiert. Dem steht die Tatsache gegenüber, dass die häufigste Wohnform im Alter die ‚normale’ Wohnung ist: 93 % der über 65-Jährigen leben im ‚normalen’ Wohnbestand, ca. 7 % in Sonderwohnformen (Heime 4 %, Betreutes Wohnen 2 %, Altenwohnungen 1 %) und nur 0,1 % nutzen neuere alternative Wohneinheiten wie gemeinschaftliche Wohnformen oder ambulant betreute Wohngruppen. Selbst bei den über 90Jährigen leben immer noch zwei Drittel in ihrer ‚normalen’ Häuslichkeit und verbleiben auch dort, wenn sie auf Hilfe und Pflege angewiesen sind (vgl. BMVBS 2011: 27). Bereits 1998 formuliert der Zweite Altenbericht mit dem Titel ‚Wohnen im Alter’ wie folgt: „Das Thema Wohnen ist eines der zentralen Themen zukunftsorientierter Altenpolitik. In unserer schnellebigen (!), durch den demographischen Wandel, einen stetigen technischen Fortschritt und Individualisierungstendenzen geprägten Zeit stehen wir vor der Frage, welche baulichen und sozialen Konzepte den Bedürfnissen der Menschen heute und in Zukunft entsprechen“ (BMFSFJ 1998: III).

G. Kleiner (Hrsg.), Alter(n) bewegt, DOI 10.1007/978-3-531-94258-2_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

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Das Wohnen bzw. die Wohnqualität stellt eine wesentliche Dimension der Lebenslage1 von Menschen dar. Dabei steht die Frage nach dem optimalen Passungsverhältnis von Wohnen und Lebensphase im Vordergrund: Inwieweit entspricht die Wohnform der jeweiligen Lebenslage bzw. der jeweiligen Phase im Lebenszyklus eines Menschen? Die Tatsache, dass sich vor allem Haushalte älterer Menschen in älteren Wohneinheiten befinden, liegt im Wesentlichen daran, dass sich bei älteren Menschen im Gegensatz zur Gesamtbevölkerung eine deutlich höhere Verharrungstendenz feststellen lässt, d.h. die Bereitschaft, sich wohnlich zu verändern, nimmt mit zunehmendem Alter ab. So hat bei den 65 – 80 Jährigen noch ein Drittel eine Umzugsbereitschaft, bei den Hochaltrigen nur noch ein Sechstel (vgl. BMVBS 2011: 56). Ein weiterer Aspekt ist die Passungsfähigkeit der Langlebigkeit der Wohnbausubstanz und die Veränderungen in den Lebenszyklen im Prozess der Generationenabfolge, die die Gesamtgesellschaft vor eine permanente Allokationsaufgabe stellt. Der Sozialisationsforschung zufolge (vgl. Schulz-Nieswandt 2006: 235 ff.) ist das Wohnen als eine zentrale Verörtlichungsfunktion der menschlichen Existenz für die Identitätsbildung des Menschen konstitutiv. „Wohnen meint eine Verörtlichung wiederkehrender Geschehensabläufe in einem räumlich-sozialen Kontext der Wohnung. Die Wohnung ist die Verörtlichung des Alltags und zugleich Erlebnis wesentlicher Existenz des ‚Zuhause-Seins’ des Menschen“ (ebd.: 236).

Saup (1999) charakterisiert das Wohnen als Verhaltens- und Handlungsstrom im Kontext der Wohnung bzw. des dazugehörigen Wohnumfeldes, die ihrerseits jeweils als Handlungs-, Wahrnehmungs- und Gefühlsraum fungieren (vgl. ebd.: 46 f.). Die Auswirkungen der Wohnung und des Wohnumfeldes auf die jeweiligen Möglichkeiten der Lebensführung sind also vielschichtig und bestimmen nachhaltig die individuelle Lebensqualität. Folgende Lebensdimensionen sollen diesbezüglich näher in den Blick genommen werden (vgl. Schader-Stiftung 2000: 6): ƒ

Wohnung und Wohnumfeld als emotionaler Raum: Die persönliche Gestaltung der eigenen Häuslichkeit ist zum einen ein Aspekt der Lebensqualität, weil damit ästhetische Bedürfnisse erfüllt werden können; andererseits sind mit der Wohnungseinrichtung auch emotionale Erinnerungen verknüpft, die verschiedene Stadien der Biografie repräsentieren können. So bietet die Wohnung einen emotionalen Schutzraum, der

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Zum Konzept der Lebenslage wird auch auf denn Beitrag „Alter(n) zwischen Partizipation und sozialer Ungleichheit“ von Gabriele Kleiner verwiesen.

Lebenswelt im Wohnkontext

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Rückbesinnung auf die eigene Identität und damit Regeneration ermöglicht. Bezüglich des persönlichen Wohnumfeldes stellt die eigene Identifikation und Akzeptanz einen entscheidenden Bestandteil der Lebensqualität dar. Wohnung und Wohnumfeld als Handlungsraum: Die (technische) Ausstattung, der räumliche Rahmen sowie die Verfügbarkeit von Handlungsressourcen im Wohnumfeld prägen die Handlungsmöglichkeiten innerhalb und außerhalb der Wohnung. Hier wird neben dem Aspekt der Barrierereduktion in Zukunft der Kommunikationstechnik eine immer größere Bedeutung zukommen. Die außerhäuslichen Handlungspotentiale werden durch die Erreichbarkeit von Dienstleistungs- und Konsumangeboten ebenso beeinflusst wie durch die verfügbare verkehrstechnische Infrastruktur. Defizite in diesen Bereichen wirken sich einschränkend auf die Möglichkeiten individueller Entfaltung aus. Wohnung und Wohnumfeld als sozialer Raum: Die Möglichkeit, im Rahmen der Wohnung soziale Beziehungen und lebendige Kommunikation zu pflegen, setzt zunächst die räumlichen Bedingungen voraus, Besuch empfangen zu können bzw. empfangen zu wollen. Bezüglich des Wohnumfeldes tragen im Wesentlichen die Wohnungsnachbarn sowie die Sozialstruktur des Stadtviertels dazu bei, dass Beziehungen entstehen und gepflegt werden, die dann im Bedarfsfall auch als Unterstützungsnetze fungieren können.

Die dargestellten Lebensdimensionen bezüglich Wohnung und Wohnumfeld können im fortgeschrittenen Alter hinsichtlich einer gelingenden Lebensführung zunehmend problematisch werden, wenn die häufig mit dem Alter einhergehende Reduktion der körperlichen und kognitiven Fähigkeit den Aktionsradius einschränkt. Eine dauerhaft anhaltende Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten kann dann negative Folgeeffekte nach sich ziehen. Fähigkeiten, die durch reduzierte Umweltkontakte nicht mehr gefordert bzw. gefördert werden, können vernachlässigt werden und verkümmern. In der Folge dieses sukzessiven Rückzugs in die eigene Häuslichkeit schwindet zugleich das Selbstvertrauen in die Fähigkeit, außerhäusliche Aktivitäten und soziale Kontakte fortführen zu können. Dieses führt dazu, dass die Grenzen des eigenen Lebensraums mit zunehmendem Alter immer enger gezogen werden und die Wohnung bzw. das Wohnumfeld zu den wichtigsten Lebens- und Aufenthaltsorten alter Menschen werden. Da die Mehrzahl von ihnen den Wunsch hat, so lange wie möglich selbständig in ihrer bisherigen Wohnung oder wenigstens in ihrem vertrauten Wohnumfeld zu verbleiben, dieses aber spätestens bei nachlassender kognitiver Kompetenz zu erheblichen Problemen führt (vgl. Sowarka 2002: 91), wird im Folgenden das Verhältnis von selbstständigem Wohnen im Alter und der Erhaltung bzw. des Verlustes kognitiver Kompetenz näher betrachtet.

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Selbstständiges Wohnen und kognitive Kompetenz

Das selbstständige Wohnen gilt als eine „mehr oder weniger fordernde Umweltstruktur, die im Hinblick auf Ressourcen, Kompetenzen und Aktivitäten im Alter fördernd oder restriktiv sein kann“ (ebd.: 92).

Es handelt sich hierbei um ein konkretes Anwendungsgebiet, in dem wichtige Bedingungen und Risiken für die Erhaltung bzw. Wiedergewinnung von Selbstständigkeit, Selbstverantwortung und sozialer Eingebundenheit anzutreffen sind. Wichtige Voraussetzung ist dabei die kognitive Kompetenz, sich selbst im Wandel von Stärken und Schwächen wahrzunehmen, die Umwelt aufzunehmen, zu reflektieren und entsprechend zu handeln. Eine differenzierte Betrachtung der alltäglichen Anforderungen des selbstständigen Wohnens, die finanzielle, rechtliche, soziale oder gesundheitliche Entscheidungen und Handlungsvollzüge beinhalten, macht deutlich, dass spätestens bei einer fortgeschrittenen dementiellen Erkrankung dieses nicht mehr zu leisten ist. Wenn die Kompetenzen einer Person im Alter abnehmen, werden das Verhalten und die Lebensqualität in zunehmendem Maße von Faktoren außerhalb dieser Person beeinflusst. Es stellt sich daher die Frage, ob bzw. in wieweit sich die Passung zwischen Umweltanforderungen und individuellen Kompetenzverläufen herstellen lässt, so dass sie eine möglichst lange Erhaltung der Kompetenzen im Alter sichert. Der diesbezügliche Kompetenzbegriff beschreibt die qualitative Anpassung an das Alltagsleben im Alter und die Ausübung von Aktivitäten, die der selbstständigen Lebensführung und dem Wohlbefinden dienen. Zu den Aktivitätsbereichen des selbstständigen Wohnens gehören die grundlegenden bzw. basalen Aktivitäten (ADL2) sowie die instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL3). Mit zunehmendem Alter steigen erfahrungsgemäß die Schwierigkeiten bei der Ausführung solcher Tätigkeiten, wobei die erweiterte (instrumentelle) Kompetenz vom Grad der basalen Kompetenz abhängt. Darüber hinaus entscheiden über die Ausübung von Aktivitäten, die zur Lebensgestaltung und Lebensqualität im Alter beitragen, „auch Prestige und Einkommen, die über Kennwerte der Persönlichkeit und Intelligenz moderiert werden“ (vgl. ebd.: 93 f, Zitat 94).

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ADL’s (Activities of Daily Living) sind z. B. Selbstpflege, Essen, Baden oder Toilettenbenutzung. IADL’s (Instrumental Activities of Daily Living) sind im Vergleich zu den ADL’s komplexer und meinen Tätigkeiten wie Medikamenteneinnahme, Einkaufen, Essenszubereitung, Regeln finanzieller Angelegenheiten, Nutzung von Transport- und Kommunikationsmitteln.

Lebenswelt im Wohnkontext

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Sowarka weist darauf hin, dass die angewandte gerontologische Forschung zum selbstständigen Leben im Alter die Fragen zur Erhaltung der geistigen Kompetenz bislang vernachlässigt hat und ihnen erst im Hinblick auf das mit dem Alter wachsende Demenzrisiko mehr Aufmerksamkeit schenkt: „Da mit dem selbstständigen Wohnen und der Erhaltung der geistigen Kompetenz auch Ziele, Werte und Wünsche für die Gestaltung des Lebens im Alter verbunden sind, wird man sich künftig den konkreten Voraussetzungen in der Umwelt, der Gesellschaft und beim einzelnen Menschen zuwenden müssen“ (ebd.:103).

Großjohann und Stolarz (2002) stellen dem Begriffspaar ‚geistige Kompetenz’ und ‚selbstständiges Wohnen’ ein weiteres ergänzend zur Seite, und zwar ‚geistige Verwirklichung’ und ‚selbstbestimmtes Wohnen’. Ihrer Ansicht nach schwingt im Begriff ‚geistige Kompetenz’ auch die Feststellung von Defiziten und als Konsequenz die Unfähigkeit zu einer selbstständigen Lebensführung mit. Diese erweiterte Begrifflichkeit eröffnet eher den Blick dafür, nach angemessenen räumlichen und sozialen Wohnbedingungen für sich wandelnde Lebenssituationen im Alter zu suchen. Geht man von einer Passung zwischen Umweltanforderungen und individuellen Kompetenzverläufen aus, so verändert sich die Fragestellung dahin gehend: „Welche Umweltbedingungen sind erforderlich, damit ältere Menschen auch mit kognitiven Einschränkungen (noch) klarkommen“ (ebd.: 110)?

Dabei spielen diesbezüglich weniger die körperlichen und kognitiven Defizite eine Rolle, sondern vielmehr die immer noch verbleibenden Potentiale. Würde man die Passung von Umwelt und Kompetenz negativ definieren, so ließe sich sogar von ‚struktureller Gewalt’ sprechen, wenn man als Ursache für diese Gewalt „den Unterschied zwischen den aktuellen somatischen und geistigen Verwirklichungen eines Menschen und seiner potentiellen Verwirklichung“ (ebd.: 110).

versteht. Für die Schaffung einer Umwelt mit guter Passung aktueller und potentieller Verwirklichung stellt es einen wichtigen Lösungsansatz dar als sinnvoll erlebte Tätigkeiten in vertrauter Häuslichkeit gestalten zu können; dies gilt besonders auch für Menschen mit einer Demenz. Ein derart verstandenes Konzept von Selbstbestimmung hat immer auch die Partizipation der BewohnerInnen im Blick, das heißt es kommt nicht nur auf das richtige Wohnangebot an, sondern immer auch auf die realen Teilhabechancen der potentiellen NutzerInnen. Hier ist es nötig, die gesellschaftliche Ansprache älterer Menschen zu reflektieren:

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Johanna Hildebrandt

„Inwieweit werden diese als potenziell mitverantwortliche Handelnde oder aber primär als passive, abhängige Mitglieder unserer Gesellschaft angesprochen“ (BMFSFJ 2010: 267).

Wenn infolge der demografischen Entwicklung die ältere Generation einen immer größeren gesellschaftlichen Anteil ausmacht, ist es unerlässlich, dass auch immer mehr angemessene Wohnmöglichkeiten in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt sind. Wenn alt sein immer ‚normaler’ wird, so müssen auch die ‚normalen’ Wohneinheiten, Wohnquartiere und deren Versorgungsstrukturen an die Bedürfnisse alter und auch hochaltriger BürgerInnen angepasst sein. So lassen sich Möglichkeiten zur Partizipation sowie Selbst- bzw. Nachbarschaftshilfe am ehesten umsetzen. 3

Teilhabechancen und Wohnen im Alter

Der Dritte Altenbericht betont als eine wichtige Voraussetzung für Selbstständigkeit und gesellschaftliche Teilhabe im Alter die Bedeutung des Wohnumfeldes und fordert hier insbesondere die in örtlicher Verantwortung befindliche Städtebau- und Wohnungspolitik dazu auf, sich vermehrt folgenden Zielen zuzuwenden: „den Verbleib älterer Menschen in ihrer vertrauten Umgebung und Wohnung so lange wie möglich zu sichern, die Selbstständigkeit, selbst bestimmte Lebensführung und gesellschaftliche Mitgestaltung älterer Bürgerinnen und Bürger zu sichern und auszubauen, die Hilfe zur Selbsthilfe zu gewähren, die Möglichkeiten des Zusammenlebens aller Generationen soweit möglich zu fördern, das städtebauliche Instrumentarium und wohnungsbezogene Maßnahmen mit sozialen Programmen zu verbinden“ (BMFSFJ 2001: 42).

Um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die meisten älteren Menschen so lange wie möglich in ihrer Wohnung bzw. in ihrem vertrauten Umfeld verbleiben möchten, ist es nötig, diese(s) an die Bedürfnisse älterer Menschen anzupassen. Eine aktuelle Umfrage hat ergeben, dass es sich bei aktuell 11 Mio. Seniorenhaushalten nur bei 5 Prozent um weitgehend barrierefreie Wohneinheiten handelt (BMVBS 2011: 10). Allerdings gibt es bislang noch keine gesetzliche bzw. allgemeingültige Definition, was unter dem Begriff ‚altersgerechtes Wohnen’ zu verstehen ist. Das Gutachten des BMVBS formuliert hier wie folgt: „…eine ‚altersgerechte Wohnung umfasst nicht nur eine weitgehende barrierefreie/reduzierte Wohnung, sondern auch ein barrierefreies/ -reduziertes Wohnumfeld, die ortsnahe Verfügbarkeit wesentlicher Infrastruktureinrichtungen sowie soziale und pflegerische Unterstützungsangebote“ (ebd.: 26).

Lebenswelt im Wohnkontext

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Dabei ist Wohnungsanpassung nicht nur als eine technische Aufgabe zu verstehen, sondern immer auch in Verbindung mit der nötigen Beratung und Unterstützung der BewohnerInnen. Erst durch diese wird ihnen oft der Zugang zu Ressourcen erschlossen, die ihnen eine Selbstermächtigung und Partizipation ermöglichen und verhindern, dass sie Opfer ‚struktureller Gewalt’ werden. Alternativ zum Wohnen in der eigenen Häuslichkeit etablieren sich zunehmend Gruppenwohnmodelle, die – besonders bei hohem Betreuungsbedarf – den Betroffenen ein Zusammenleben in einem überschaubaren Haushalt ermöglichen sollen4. Hier können auch dementiell erkrankte BewohnerInnen durch die Ausübung vertrauter Alltagstätigkeiten in geborgener Atmosphäre ihre verbliebenen Fähigkeiten einbringen und sich gegenseitig unterstützen. Pflegerische Tätigkeiten, die in der Regel den Alltag im Pflegeheim bestimmen, verlieren hier ihre Dominanz. „Durch diese ‚Normalisierung’ des Wohnens und Betreuens in kleinen Wohngruppen können auch die früheren sozialen Bezüge im Wohnquartier besser aufrechterhalten und die Angehörigen in die Betreuung integriert werden“ (Großjohann und Stolarz 2002: 118).

Da bei mehr als 80 Prozent aller pflegebedürftigen Menschen die Betreuung von Familienangehörigen geleistet wird (vgl. BMFSFJ 2001: 57 f.), diese aber häufig dadurch in ihrer eigenen Lebenssituation starken Belastungen ausgesetzt sind, kann dieses zukunftsweisende Gruppenwohnmodell auch ihnen gegenüber eine entlastende Alternative bieten. Die VertreterInnen des Wohngruppenkonzeptes favorisieren ausdrücklich die Einbeziehung der An- bzw. Zugehörigen, indem ihnen die Möglichkeit gegeben wird, sich am Tagesablauf zu beteiligen und dadurch einen Beitrag für die Lebensqualität der BewohnerInnen zu leisten. Angehörige und MitarbeiterInnen arbeiten dabei eng zusammen, müssen die Arbeit des anderen akzeptieren bzw. wertschätzen und kommunizieren so automatisch miteinander, anders als es in herkömmlichen stationären Einrichtungen der Fall ist. „Die familienähnlichen Wohnformen mit ihren Charakteristika Selbständigkeit (und dadurch Selbstbestimmung des Alltags), Privatheit, Vertrautheit und Geborgenheit erhalten und fördern die Eigenverantwortlichkeit und damit die Kontrolle der BewohnerInnen über das eigene Leben“ (Großjohann und Stolarz 2002: 125).

2004 haben die Bertelsmann Stiftung und das Kuratorium Deutsche Altershilfe den ‚Werkstatt-Wettbewerb Quartier’ im Rahmen des Gemeinschaftsprojektes 4

An dieser Stelle wird auf den Beitrag „Selbstbestimmt Wohnen mit Demenz“ von Melanie Röhn verwiesen.

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‚Leben und Wohnen im Alter’ initiiert. Im Rahmen dieses Wettbewerbs konnte umfangreiches Material von 85 Quartiersprojekten gewonnen werden (vgl. Bertelsmannstiftung und Kuratorium Deutsche Altenhilfe 2005). Diese Projekte setzen ein neuartiges, zukunftsweisendes Konzept um, über das bislang wenig handlungsorientierte Forschungsergebnisse erhoben wurden. Mit der aktuell vorgelegten Ergebnisanalyse sind projektübergreifende Erkenntnisse zu strukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden dieser Quartiersprojekte bekannt gemacht worden (vgl. Bertelsmannstiftung und Kuratorium Deutsche Altenhilfe 2007). Diese Analyse liefert Informationen, wie ein derartiges Konzept der kleinräumigen Integration unterschiedlicher Wohn- und Betreuungsangebote für alte Menschen umgesetzt werden kann. Neben dem Aufzeigen unterschiedlicher Ansätze von Quartiersprojekten sind auch Handlungsempfehlungen benannt, die zur Initiierung weiterer Quartiersprojekte ermutigen sollen. Als eine alternative Form für das Wohnen im Alter bieten sich generationenübergreifende Wohnprojekte an, in denen Alt und Jung zusammen leben. Seit mehr als 20 Jahren existieren diese meist von Älteren initiierten Wohnformen, in denen der gemeinschaftliche Aspekt in Form von niedrigschwelligen Kontaktund Unterstützungsangeboten über Möglichkeiten einer ‚normalen’ Nachbarschaft hinaus gehen. Für das Jahr 2000 sind Schätzungen belegt, nach denen es in Deutschland ca. 250 solcher Projekte gibt, in denen ca. 8000 ältere Menschen leben. Neuere Zahlen liegen nicht vor, sie dürften allerdings deutlich gestiegen sein (vgl. BMVBS 2011: 28). Um in Zukunft für eine wachsende Zahl älterer Menschen ein bedarfsgerechtes Angebot an Wohneinheiten sicher zu stellen, werden folgende Aspekte mit zu berücksichtigen sein (vgl. ebd.: 77 ff.): ƒ

ƒ

ƒ

ƒ

Anpassung (bau-)rechtlicher Rahmenbedingungen: Mindestanforderungen eindeutig definieren; Landesbauordnung modifizieren; Barrieren im gesamten Wohnungsbau vermeiden; Qualitätssicherungsverfahren ausbauen; Verbesserte staatliche Förderinstrumente: KfW-Programm ausbauen; Soziale Wohnraumförderung der Länder ausbauen; Pflegeversicherungsleistungen anpassen; Steuerliche Erleichterung optimieren; Ausbau von Information und Beratung: Akteursspezifische Informationsmaterial erstellen bzw. anbieten; Multiplikatoren wie z.B. Wohnungsunternehmen, Genossenschaften, Bausparkassen einbinden; Image des altersgerechten Bauens verbessern; Verbesserung des Wohnumfeldes: Mindestanforderungen an ein altersgerechtes Wohnumfeld festlegen; Woh-

Lebenswelt im Wohnkontext

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nungsbau nicht als isolierte Aufgabe begreifen; eher kleinräumig und quartiersbezogen planen; alternative Ansätze fachlich begleiten. Die Ermöglichung von Teilhabechancen bezüglich des Wohnens im Alter wird in Zukunft wesentlich mit davon abhängen, inwieweit die eigenen Bilder und Vorstellungen vom Altwerden frühzeitig reflektiert werden. Es sollten vor dem Hintergrund wirklicher Partizipationsmöglichkeiten beizeiten die gesellschaftlich vorgehaltenen Angebote analysiert werden. Dabei gilt es, das Wohnen nicht mehr nur reduziert als das bloße individuelle Nutzen von Wohnraum zu sehen, sondern zugleich als einen komplexen sozialen Prozess, der sich zwischen dem Individuum, seinen Nachbarschaften, den Generationen und beteiligten Institutionen vollzieht. Wenn Wohngebäude und -gebiete nicht mehr nur als statische Gebilde, sondern als gestaltbares und veränderbares soziales Umfeld betrachtet werden, in denen man nicht nur individuell, sondern gemeinsam etwas bewirken kann, dann lässt sich die Dimension Wohnen im weiteren Sinne verstehen „als Möglichkeit der Wieder – Inwertsetzung von Ausgemusterten“ (Grymer 2006: 19).

Literatur Bertelsmannstiftung/Kuratorium Deutsche Altenhilfe (Hg.) (2005): Leben und Wohnen im Alter: Werkstatt-Wettbewerb Quartier. Köln. Bertelsmannstiftung und Kuratorium Deutsche Altenhilfe (Hg.) (2007): Ergebnisanalyse des Werkstatt-Wettbewerbs Quartier und Handlungsempfehlungen. Köln. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hg.) (1998): Zweiter Altenbericht der Bundesregierung. Wohnen im Alter. Bonn. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hg.) (2001): Dritter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Altern und Gesellschaft. Berlin. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) (Hg.) (2011): Wohnen im Alter. Marktprozesse und wohnungspolitischer Handlungsbedarf. Berlin. Großjohann, K./Stolarz, H. (2002): Wohnkonzepte und Erhaltung von geistiger Kompetenz. In: Tesch-Römer, C. (Hg.): Gerontologie und Sozialpolitik. Berlin, 109-135. Grymer, H. (2006): Wohnen im Alter – eine Chance für alle. In: Schader-Stiftung (Hg.): Wohnen – Neues wagen! Wie wollen wir wohnen, wenn wir alt sind? Darmstadt, 10-19. Saup, W. (1999): Alte Menschen in ihrer Wohnung: Sichtweise der ökonomischen Psychologie und Gerontologie. In: Wahl, H.-W./Mollenkopf, H./Oswald, F. (Hg.): Alte Menschen in ihrer Umwelt. Beiträge zur ökologischen Gerontologie. Opladen, Wiesbaden, 43-51. Schader-Stiftung (Hg.) (2000): Modelle für das Wohnen im Alter. Analysen und Empfehlungen für die Nordweststadt Frankfurt a.M. Darmstadt.

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Schulz-Nieswand, F. (2006): Sozialpolitik und Alter. Stuttgart. Sowarka, D. (2002): Selbständiges Wohnen im Alter und Erhaltung geistiger Kompetenz. In: Tesch-Römer (Hg.): Gerontologie und Sozialpolitik. Berlin, 91-107.

Individuelle Wohnformen

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Individuelle Wohnformen Gerlinde Thomas

Das Thema des Beitrages „Individuelle Wohnformen“ im Kontext von Selbstbestimmung im Alter ist hochaktuell. Die sozialpolitischen Implikationen einer alternden Gesellschaft werden seit Jahren höchst kontrovers diskutiert. Dabei sollte der demographische Wandel, der in Deutschland wie in den meisten westlichen Industrieländern zu verzeichnen ist, keineswegs ausschließlich als ein Problem sondern im Gegenteil als Gewinn, zumindest aber als Chance gesehen werden. Der jahrhundertealte Wunschtraum der Menschheit, immer älter werden zu können, gleichsam die Möglichkeit zu besitzen, den Tod zu besiegen, ihm zumindest immer weitere Spannen an zusätzlicher Lebenszeit abringen zu können, scheint immer mehr erfüllbar zu werden. Die statistische Lebenserwartung im Jahre 2050 wird für Männer 80 Jahre, für Frauen 84 Jahre betragen. Diese gestiegene Lebenserwartung ist vor allem eine Auswirkung der rasanten Fortschritte, die Medizin, Medizintechnik und auch Pharmakologie in den letzten Jahrzehnten gemacht haben. Insgesamt haben sich dadurch in den westlichen Industrieländern die Lebensbedingungen der meisten Menschen stark verbessert. Auch die Lebensführung der Menschen ist gesundheitsbewusster geworden. Vor diesem Hintergrund liegt der Schwerpunkt des Beitrages auf dem Zusammenhang zwischen den Ansprüchen an ein selbstbestimmtes, individuelles Altern, den gewachsenen Potenzialen des Alters einerseits und den entsprechenden Wohnformen andererseits. 1

Anmerkungen zum demographischen Wandel in Deutschland „Die Bevölkerungspyramide in der Bundesrepublik Deutschland steht auf dem Kopf. Während der Anteil der Älteren immer größer und der Anteil der Berufstätigen immer kleiner wird, nimmt Deutschlands Bevölkerung drastisch ab“ (Deutscher Bundestag, 2002).

Dies ist der erste Satz der Schlussberichtes der Enquete-Kommission ‚Demographischer Wandel’ des Deutschen Bundestages aus dem Jahre 2002. Der Bericht befasst sich mit den Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und an die Politik.

G. Kleiner (Hrsg.), Alter(n) bewegt, DOI 10.1007/978-3-531-94258-2_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

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Was hat dieser drastisch formulierte Einstieg zu bedeuten? Was sind die Hintergründe dieser Einschätzung? Hier sollen vorab einige Grundtatsachen angeführt werden: ƒ

ƒ

In Deutschland erreichen immer mehr Menschen ein immer höheres Lebensalter. Dies bedeutet nicht nur eine wichtige Herausforderung für den Einzelnen und seiner Familie sondern auch für die gesamte Gesellschaft, für die Systeme der sozialen Sicherheit, für den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft. Während in Deutschland die durchschnittliche Lebenserwartung zunimmt, muss gleichzeitig eine sinkende, bzw. auf einem niedrigen Niveau stagnierende Geburtenrate verzeichnet werden. „Durch eine zunehmende Alterung der Bevölkerung, die sich auf Grund des bisherigen Geburtenrückganges auf ein Niveau von einem Drittel unter dem Generationenersatz sowie aufgrund einer steigenden Lebenserwartung“ [ergibt, öffnet sich eine Schere zwischen der] sinkenden Anzahl und dem sinkenden Anteil Jüngerer einerseits sowie eine[r] steigende[n] Anzahl und einem zunehmende[n] Anteil Älterer an der Gesamtbevölkerung andererseits“ (ebd.: 15).

ƒ

Als Folge des demographischen Wandels werden sich folgerichtig die Strukturen der Arbeitswelt, das Verhältnis zwischen den Generationen und die Rolle von Familie ändern müssen: „Bei zunehmender Spezialisierung und Qualifizierung erneuert sich das aktuelle Berufswissen in immer kürzeren zeitlichen Abständen. Vor dem Hintergrund eines enormen medizinischen Fortschritts, eines völlig veränderten beruflichen und privaten Alltags, aus dem teleshopping und telebanking nicht mehr wegzudenken sind, ein Leben ohne Internet und E-Mail geradezu unvorstellbar scheint, verändert sich unser gesamtes Leben“ (ebd.: 15).

ƒ

ƒ

Der demographische Wandel in Deutschland (wie in den meisten anderen Industriestaaten auch) vollzieht sich vor dem Hintergrund eines weltweiten wirtschaftlichen Wandels, der zumeist mit dem Begriff der ‚Globalisierung’ umschrieben wird. Er ist verbunden mit einer vom überwiegenden Teil der Bevölkerung als zunehmend und bedrohlich empfundenen sozialen Unsicherheit, vielfach gepaart mit diffusen Zukunftsängsten, einem zunehmenden Auseinanderfallen von familiären Strukturen und erhöhten Anforderungen an geographische Mobilität (vgl. Lissmann 1994: 1 ff.; Baltes 1994: u. ders. 2005: 1). Gerhard Naegele spricht in diesem Zusammenhang von einem „dreifachen Altern der Bevölkerung“. Darunter versteht er „die Gleichzeitigkeit der Zunahme (1) der absoluten Zahlen älterer Menschen, (2) ihres Anteils an der Gesamtbevölkerung und

Individuelle Wohnformen

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(3) die überdurchschnittliche Zunahme des Phänomens der Hochaltrigkeit“ (Naegele G. u.a.. 2004: 2). Ein neugeborener Junge hat heute eine Lebenserwartung von 74,4 Jahren, diejenige eines neugeborenen Mädchens liegt durchschnittlich bei 80,6 Jahren. Dies ist eine demographische Tatsache, mit der sich Gesellschaftspolitiker langfristig auseinandersetzen müssen. Es ist jedoch auch eine statistisch begründbare Tatsache, dass sich heute für einen 60-jährigen Mann noch die Erwartung einer Lebensspanne von durchschnittlich 19 Jahren, für eine heute 60-jährige Frau von 23 Jahren ergibt (vgl. Deutscher Bundestag 2002: 16). Hier liegt ein aktueller Handlungsbedarf vor; für diese erweiterte Lebensspanne Älterer müssen Perspektiven entwickelt werden, die über das heute Übliche hinausgehen. Die Kosten der Rente bei einer solchen Lebenserwartung über die Erwerbstätigkeit hinaus machen ehrliche Reformen der Rentenversicherungssysteme notwendig. Die Perspektive einer Erwerbstätigkeit über die bisherige Altersgrenze hinaus drängt sich vor diesem Hintergrund geradezu auf, wobei hier sicherlich sinnerfüllte Formen von Erwerbstätigkeit gefunden werden müssten, die mit Leistungsfähigkeit und Lebensumständen der Älteren, vor allem aber auch mit ihrem Anspruch auf Menschenwürde kompatibel sind. Drohende Altersarmut durch Minijobs für Ältere bekämpfen zu wollen, erfüllt insbesondere das letztgenannte Kriterium eher nicht. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob der beschriebene demographische Wandel tatsächlich einen Generationenkonflikt (vgl. Kaufmann 1993: 97) ‚Jung gegen Alt’ oder ‚Alt gegen Jung’ mit sich bringen muss, wie er gelegentlich in den Medien heraufbeschworen wird, wenn z.B. von einer ‚drohenden Machtübernahme der Alten’ die Rede ist. Generationenkonflikte müssen nicht per se Verteilungskonflikte sein. Familiale und kulturelle Konflikte können, je nachdem wie stark das Wir-Gefühl einer Generation durch einprägsames gemeinsames Erleben (z.B. einen Krieg wie den Zweiten Weltkrieg oder einen Zeitabschnitt wie die so genannten ‚68’er Jahre) ausgeprägt ist, eine wesentlich größere Rolle spielen (vgl. Kohli/Szydlik 2000: 7 ff.). 2

Individualität und Selbstbestimmung im Alter

In den westlichen Industriegesellschaften unterscheidet man bezüglich älterer Menschen zumeist das dritte Alter (junge Alte) und das vierte Alter (Hochaltrige). Erst im letzten Lebensalter lassen die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit in der Regel stark nach, wobei hier individuelle Unterschiede eine wichtige Rolle spielen.

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Folgerichtig ist insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren der Versuch unternommen worden, eine soziologische fundierte Theorie des ‚optimalen Alter(n)s’ zu entwickeln. Dabei wurde zum einen das ‚richtige’ Alter(n) in der so weit wie möglich gehenden Beibehaltung der bisherigen Lebensweise und der Aktivitäten des mittleren Lebensabschnitts gesehen (activity theory), zum anderen in einem gezielt organisierten, allmählichen Rückzug aus den Aktivitäten des Lebens (disengagement theory) (vgl. Höpflinger/Stuckelberger 1999: 7 ff.). Die Dichotomie dieser Theorien ist heute nicht mehr aktuell. „Heute wird nicht mehr nach einer alles erklärenden Alterstheorie gesucht. Altern wird als multifaktorieller Prozess verstanden, wobei dem kalendarischen Alter (vergangene Zeit seit der Geburt) nur eine kleine Bedeutung zukommt. Wesentlich wichtiger sind die individuelle Biographie mit Faktoren wie Bildungsniveau, Einkommen, Lebenshygiene, Wohnort usw.. Diese Entwicklung favorisiert die Ressourcenorientierung und führt zu einer diversifizierten Ausgestaltung der Altersbilder“ (vgl. http://www.socialinfo.ch/cgi-bin/dicopossode/show.cfm?id=12 ).

Individuelles Alter(n) beinhaltet aus dieser Sicht eine Vielzahl von Möglichkeiten, den ‚Lebensabend’ zu gestalten. Sicherlich ist diese Individualität nach wie vor von gesellschaftlich geprägten Rollenbildern vom ‚richtigen’ Alter(n) geprägt. Rollenstereotypen und Erwartungshaltungen des sozialen Umfeldes schränken nach wie vor individuelle Entscheidungen ein. Hier wird es stark darauf ankommen, die sozialen Rollen in unserer Gesellschaft, die vor allem mit der erwerbsmäßigen Berufstätigkeit im Zusammenhang stehen, zu verändern. Wenn bei älteren Menschen bei Eintritt in den Ruhestand die bisher gewohnte Rolle des Erwerbstätigen plötzlich wegfällt, dann fehlt in der Regel ein wichtiger Teil ihrer sozialen Identität. Individuelles Alter(n) vor diesem Hintergrund, müsste dann folgerichtig zum einen die Möglichkeit eröffnen, bis zu einem gewissen Grad weiterhin erwerbstätig zu sein, die Rolle des mittleren Lebensabschnittes also noch weiter fortzusetzen, oder aber „neue, sinnstiftende und aufwertende Rollen zu entwickeln“ (ebd). Eine wichtige Funktion kommt sicherlich dabei der Pflege zwischenmenschlicher Kontakte und den vor allem familialen aber auch nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen den Generationen zu. Soziale Faktoren beeinflussen an erster Stelle das Wohlbefinden älterer Menschen (vgl. PerrigChiello 1997: 17 ff.). Es geht beim individuellen Alter(n) primär um die Steigerung der Qualität des Alter(n)sprozesses, nicht im Sinne einer allgemein empfohlenen Richtlinie (Stichwort ‚richtiges’ Alter(n), sondern im Sinne der Eröffnung und Erweiterung individueller Handlungsspielräume:

Individuelle Wohnformen

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„Die Qualität des Alternsprozesses kann gesteigert werden. Soziale Veränderungen können älteren Menschen neue und vielfältige Möglichkeiten eröffnen. Was am wichtigsten ist: Das volle Potenzial ergibt sich aus dem zentralen soziologischen Prinzip, dass individuelles Altern und sozialer Strukturwandel unterschiedliche, aber voneinander abhängige Prozesse sind“ (Baltes u.a. 1994: 438).

Der soziale Veränderungsprozess, der durch den demographischen Wandel induziert wird, ist z.B. damit verbunden, dass in absehbarer Zeit auf dem Arbeitsmarkt die Nachfrage nach älteren Arbeitnehmern wieder steigen wird, weil es an jüngeren mangelt. Aber hier ist eine Veränderung herrschender Rollenbilder, vorherrschender Einstellungen, von Vorurteilen und Stereotypen notwendig: Der Mythos, so schreibt Baltes vor diesem Hintergrund „vom unvermeidlichen und generellen Altersabbau“ ist ein Fehlschluss (ebd.). Aber die heutige Gesellschaft verharrt in alten Klischeevorstellungen: „Schon der Begriff des Alterns scheint mit Hinfälligkeit und Elend assoziiert zu sein“ (ebd.). Sicherlich ist eine gewisse Zahl älterer und besonders ‚hochbetagter’ Menschen zunehmend auf Hilfe angewiesen. Ihre Selbständigkeit und die Fähigkeit, sie aufrecht zu erhalten, nehmen allmählich ab, wobei der Beginn dieses Prozesses individuell sehr unterschiedlich sein kann. Die übergroße Mehrheit der älteren Menschen führt jedoch ein ausgefülltes und unabhängiges Leben. Sie zeichnen sich insbesondere durch Fähigkeiten wie Lebensweisheit aus, deren Wert noch zu wenig geschätzt wird. Baltes weist zu Recht darauf hin, dass wir es heute stark empfinden, dass unsere Großeltern im Alter von 75 Jahren „anders“ waren als wir es heute sind, und dass unsere Enkel wiederum in wesentlichen Teilen ihrer Lebensweise „anders“ sein werden als wir es heute sind (vgl. Baltes u.a.1994: 440). Die Zunahme der Langlebigkeit, so Baltes, habe weitere für die Lebensführung älterer Menschen wichtige Rahmenbedingungen mit sich gebracht: ƒ ƒ ƒ ƒ 1

Ein längerer Schulbesuch habe die Fähigkeit lebenslang zu lernen bedeutend gestärkt. Bereits die heutigen alten Menschen profitierten von diesem Lernprozess. Die bessere medizinische Versorgung habe dazu geführt, dass der Gesundheitszustand von älteren Menschen länger eine hohe Leistungsfähigkeit möglich mache. Der mit zunehmender Lebenserwartung längere Ruhestand ermögliche eine entsprechende Lebensplanung. Die familialen Beziehungen seien im Vergleich zur Generation unserer Großväter von längerer Dauer,1 wenn ältere Menschen diese Beziehungen Familiale Beziehungen, z.B. zu Kindern überdauern häufig das Auseinanderfallen von Familien infolge von Scheidungen.

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pflegten, könne ihr Leben mit zusätzlichem Sinn erfüllt werden (vgl. Baltes u.a. 1994: 1 ff.). Insgesamt so Baltes, gehe es beim individuellen Alter(n) vor allem um die Verbesserung und Aufrechterhaltung der geistigen Fähigkeiten durch eine anspruchsvolle Berufstätigkeit auch im Alter. Dadurch könne die geistige Leistungsfähigkeit älterer Menschen gezielte Anreize erhalten. Die Gedächtnisleistung älterer Menschen könne durch entsprechende Trainings aufrechterhalten werden, auch nachlassenden Reaktionszeiten, wie sie für ein höheres Alter typisch seien, könne man durch Training gezielt gegensteuern. Hier handelt es sich wieder um einen selbstreferenziellen Prozess, bei dem zwei Faktoren in reziproker Weise aufeinander einwirken. Ein Erhalt und eine Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit dienen dem Erhalt der Selbständigkeit und der Selbstverantwortung im sozialen Umfeld. Umgekehrt ist die Möglichkeit, selbständig und selbstverantwortlich zu leben, gleichzeitig die beste Stimulans zur Förderung der geistigen Leistungsfähigkeit (vgl. Baltes u.a. 1994: 1 ff.). 3

Die Beziehungen zwischen den Generationen: „Großer und „kleiner“ Generationenvertrag

Es liegt auf der Hand, dass sowohl die demographische Entwicklung in Deutschland als auch die Möglichkeiten eines individuellen Alter(n)s den so genannten „Generationenvertrag“ in mehrfacher Weise berühren. Dabei muss zunächst zwischen dem „großen“ Generationenvertrag, der die gesamtgesellschaftliche Ebene betrifft, und dem „kleinen“ Generationenvertrag, der sich auf die Generationenbeziehungen innerhalb einer Familie bezieht, unterschieden werden. Der „große“ Generationenvertrag, dessen inhaltliche Bedeutung weitgehend auch mit dem Begriff „Generationenverhältnisse“ gleichgesetzt werden kann, (vgl. Bäcker 2002: 125 ff.) beschreibt „das unpersönliche Verhältnis zwischen Altersgruppen / Kohorten einer Bevölkerung. Es handelt sich [dabei] nicht um konkrete Beziehungen zwischen Menschen, sondern um ein Personen- und Altersgruppen-Verhältnis, in dem ‚Interessen’ dieser Altersgruppen auf einer allgemein-gesellschaftlichen Ebene zum Ausdruck kommen (z.B. Beitragsempfänger und Beitragszahler in der gesetzlichen Rentenversicherung)“ (Naegele 2009: 3).

Der große Generationenvertrag ersetzt z. T. Funktionen der sozialen Sicherung, die in früherer Zeit vom Verbund der Großfamilie wahrgenommen werden konnten.

Individuelle Wohnformen

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„Er basiert auf dem Prinzip der intergenerationellen Solidarität, wobei seine Kernbotschaft ist, dass die jeweils erwerbstätige Generation über ihre Beiträge die nicht mehr erwerbstätige Generation absichert“ (ebd.).

Dieser Aspekt des großen Generationenvertrages wird durch die beschriebene demographische Entwicklung entscheidend in Frage gestellt. Das Durchschnittsalter der Erwerbstätigen steigt, hinzu tritt ein Bevölkerungsrückgang und gleichzeitig wächst das Durchschnittsalter der Belegschaften in den Betrieben (vgl. Naegele 2005: 214 ff.). Die demographischen Fakten sind hier relativ unbestritten. Aus ihnen scheint sich auf den ersten Blick recht eindeutig zu ergeben, dass die jüngere Generation zunehmend durch den Unterhalt der älteren ökonomisch belastet und tendenziell überbelastet wird. Ist demgemäß also der große Generationenvertrag in einer Krise? Sind die umlagefinanzierten sozialen Sicherungssysteme am Ende, oder geht es in der mit beträchtlicher Hysterie geführten Diskussion nicht vielmehr um die Interessen einer Finanz- und Versicherungswirtschaft, die mit breiter Unterstützung der Medien von der in diesem Zusammenhang geforderten Verstärkung der zusätzlichen privaten, kapitalgestützten Altersvorsorge profitieren möchte? Wie Naegele zu Recht feststellt, hat ein Teil des „demographischen Katastrophenszenarium[s]“ bereits Eingang in die praktische Sozialpolitik in der Bundesrepublik gefunden. „So hat sich z.B. die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) seit einigen Jahren stillschweigend von ihren ursprünglichen verteilungspolitischen Zielsetzungen [im Sinne des „großen Generationenvertrages“] verabschiedet und sich nunmehr -in einer bislang für die Bundesrepublik unbekannten Art- der Doktrin von der Beitragssatzstabilität unterworfen“ (Naegele u.a. 2004: 6).

Das heißt, dass bereits mittelfristig bei einer zunehmenden Zahl Älterer die Renten nicht mehr aus den Beiträgen an die GKV finanziert werden können. Als Maßnahmen zur Gegensteuerung können die Förderung privater Absicherungsformen, wie die so genannte „Riester-Rente“ oder auch die Anhebung des Renteneintrittsalters („Rente mit 67“) gelten (vgl. Schmähl 2006: 397 ff.). In der Tat sprechen einige Gründe dafür, dass angesichts der demographischen Entwicklung gerade diejenigen sozialen Sicherungssysteme vor ernsten Problemen stehen, die traditionell umlagefinanziert sind. Dies ist insbesondere deshalb problematisch, weil sich die Beitragszahler in aller Regel auf das Funktionieren dieser Systeme verlassen haben, und immer wieder durch Aussagen, wie „die Renten sind sicher“ (Bundesminister a. D. Norbert Blüm) beruhigt worden sind. Unter anderem weisen folgende Symptome auf eine bedenkliche Entwicklung hin:

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Die Laufzeiten in der Gesetzlichen Rentenversicherung steigen kontinuierlich an. Die Gesetzlichen Krankenversicherungen registrieren seit Jahren gestiegene Pro-Kopf-Ausgaben für ältere VersicherungsnehmerInnen. Die Gesetzliche Pflegeversicherung wird immer stärker in Anspruch genommen (vgl. Naegele u.a. 2004: 6 f.).

Allerdings, so Naegele, wäre es verfehlt, hier an eine Art „demographischem Determinismus“ zu glauben. Entgegen einer solchen fatalistischen Annahme gebe es durchaus Möglichkeiten, durch eine „Verbesserung der infrastrukturellen Rahmenbedingungen für die Entscheidung, ein Leben mit Kindern zu führen“ (Naegele, G./Gerling, V./Scharfenorth, K. 2004: 7) die Geburtenraten zu steigern oder wenigstens einen weiteren Rückgang zu verhindern. Dies könne jedoch weniger durch die bisher üblichen Geldtransfers (z.B. Kindergeld oder Kinderfreibeträge) erreicht werden, als vielmehr „mit Angeboten zur besseren Vereinbarkeit für erwerbstätige Frauen und Familien mit Kindern“ (Naegele u.a. 2004: 7). Weitere Steuerungsmöglichkeiten ergeben sich durch Maßnahmen, die geeignet sind, die Erwerbstätigkeit Älterer zu fördern, und den Trend zur Frühverrentung, wie er seit Jahren gerade bei Großbetrieben zu registrieren war, umzukehren. Hier leidet die Annahme eines demographischen Determinismus ganz offensichtlich unter einer Verengung des Blickwinkels. Naegele stellt dazu fest: „Undifferenziert ist insbesondere die simple Gegenüberstellung der ‚älteren, nicht erwerbstätigen Bevölkerung’ mit der ‚erwerbstätigen Bevölkerung’, denn bei genauerem Hinsehen geht es beim ‚großen Generationenvertrag’ um die Relation von ‚Aktiven’ zu ‚Inaktiven’ insgesamt“ (ebd.: 7).

Tatsächlich leide Deutschland im europäischen Vergleich sowohl unter einer unterdurchschnittlichen Frauenerwerbsquote als auch unter einer unterdurchschnittlichen Erwerbsquote älterer Menschen. Hier liegt also noch ein erheblicher Handlungsspielraum vor, um den vermeintlichen Automatismus einer demographischen und ökonomischen Fehlentwicklung zu vermeiden. (vgl. ebd.: 8). Im Unterschied zum „Großen“ Generationenvertrag, dessen Faktoren sich auf gesamtgesellschaftlicher Ebene auch als „Generationenverhältnis“ zusammenfassen lassen, bezieht sich der so genannte „Kleine“ Generationenvertrag auf die „persönlichen, konkreten Beziehungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Abstammungsgenerationen innerhalb einer Familie (z.B. Großelter, Eltern und Kinder)“ (Naegele 2009: 11).

In diesem Zusammenhang kann auch von „Generationenbeziehungen“ gesprochen werden. Sie betreffen die familiäre Ebene (vgl. Rosenmayr 1999: 157 ff.).

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Rosenmayr unterscheidet dabei mehrere Dimensionen des Kleinen Generationenvertrages: ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

die Dimension der ökonomischen Umverteilung, wobei hier eine Bewegung vorwiegend von Alt zu Jung stattfindet, die Dimension der familiären Pflege zwischen den Generationen, wobei hier die Bewegung eher von Jung zu Alt verläuft, die Dimension einer wechselseitigen Unterstützung und Hilfeleistung, bei der die Bewegung gleichgewichtig in beide Richtungen verläuft, die Dimension wechselseitiger intergenerationeller Kommunikation (z.B. Besuche und andere Sozialkontakte), die Dimension affektiver Nähe, des familiären Zusammengehörigkeitsgefühls auf der Grundlage von gegenseitiger Toleranz und auf der Basis einer erprobten Konfliktregelung und die Dimension einer intergenerationellen Wertegemeinschaft und eines kulturellen Transfers (vgl. ebd.).

Der Kleine Generationenvertrag beruht somit auf einer wechselseitigen Leistungsverpflichtung, die in einem zumeist stillschweigenden Einverständnis eingegangen wird. Naegele benennt vor diesem Hintergrund folgende Herausforderungen, denen sich Familien heute zu stellen haben (vgl. Naegele 2009: 12 f.). Die innerfamiliären Verpflichtungen gegenüber der älteren Generation nehmen zu. Großelternschaft wird wegen der gestiegenen Lebenserwartung stärker erlebt als dies noch einige Generationen zuvor der Fall war. Hinzu tritt eine längere gemeinsame Lebenszeit von Eltern und Kindern. Daraus ergibt sich eine längere Zeitspanne, während der Unterstützungsleistungen seitens der Großeltern- und Elterngeneration erbracht werden. Erst bei Eintritt einer Pflegebedürftigkeit kehrt sich die Richtung der Unterstützungsleistungen um. Der Rückgang der Kinder- und Geschwisterzahl sowie die sinkende Zahl von Enkelkindern führen zu einem tendenziellen Verlust von unterstützenden und helfenden Austauschbeziehungen. Dies gilt besonders im Falle einer Pflegebedürftigkeit älterer Familienmitglieder. Wachsende Scheidungszahlen, Zweit- oder sogar Drittehen und eine Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit verändern und verkomplizieren die sozialen Rahmenbedingungen, unter denen der intergenerationelle und intrafamiliäre Leistungsaustausch stattfindet. Insbesondere angesichts der höher werdenden Frauenerwerbsquote stellt sich hier z.B. die Frage einer Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Pflege. Die zunehmende berufliche und die damit verbundene geographische Mobilität verändern die intrafamiliären Kontakte und traditionellen Netzwerkbeziehungen.

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Naegele bringt diese Resistenz der Generationenbeziehungen folgendermaßen auf den Punkt: „Noch nie in der Geschichte Deutschlands wurde der kleine Generationenvertrag durch Einflüsse des demografischen und sozialen Wandels so stark belastet und hat sich so bewährt wie aktuell. Es scheint, dass sich die innerfamiliären Solidaritätsnormen -trotz natürlicher, zumeist kurzzeitiger Ambivalenzen (etwa Eltern-KindKonflikte) […] auch über einen deutlich länger gewordenen Lebenslauf hinaus halten, dass es Familien zunehmend bewusst geworden ist, die Reziprozitätsbeziehungen nicht nur, wie in der Vergangenheit üblich, primär auf zwei Generationen zu beschränken, sondern auf drei und nicht selten bereits auf vier Generationen ausdehnen zu müssen“ (Naegele 2009: 14).

Insbesondere was die Bereitschaft zur Pflege von Eltern und Großeltern angeht, so ist diese jedoch, abgesehen von milieubedingten unterschiedlichen Ausprägungen, an stabile Unterstützungsleistungen aus dem großen Generationenvertrag gebunden. In diesem Zusammenhang ist als erstes die Pflegeversicherung zu nennen, ohne deren finanzielle Leistungskraft die familiäre Pflege nicht möglich wäre. Hinzu tritt in Zukunft die Gefahr einer wachsenden Altersarmut, die die bisher üblichen Transferleistungen von Großeltern für die jungen Familien ihrer Enkelkinder zunehmend in Frage stellen dürfte. 4

Wohnformen im Alter

Vor dem Hintergrund der beschriebenen sozialen Realität älterer Menschen ergeben sich unterschiedliche Wohnformen, die in der Ausprägung ihrer Individualität und im jeweiligen Ausprägungsgrad an Selbstbestimmtheit und Autonomie den Potenzialen älterer Menschen entsprechen. Dabei sind die Potenziale grundsätzlich vorhanden, werden jedoch sehr unterschiedlich genutzt. 4.1

Grundlagen: Wandel der Lebensformen und der Lebensführung

Wie lässt sich die aktuelle Lebenswirklichkeit des Wohnens im Alter beschreiben? Die Lebenssituation von 70-Jährigen stellt sich heute, wie wir gesehen haben, weitaus positiver dar als noch vor 50 Jahren. Viele Menschen zwischen 70 und 80 Jahren sind noch vielfältig aktiv und fühlen sich nicht alt. Auch die offizielle Pflegestatistik belegt, dass ein Unterstützungsbedarf erst jenseits des 80. Lebensjahres zu einem häufig auftretenden Phänomen wird (vgl. Robischon 1997). Ein Blick auf die Struktur der Altenhaushalte zeigt auch, dass ältere Men-

Individuelle Wohnformen

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schen in Deutschland im Wesentlichen in zwei Haushaltstypen leben: In Partnerhaushalten und in 1-Personen-Haushalten. Während von den „jungen Alten“ noch fast zwei Drittel (63 %) mit ihrem Partner zusammenleben, sind dies bei den Hochaltrigen nur noch knapp ein Viertel (24 %). In knapp der Hälfte der Haushalte von Hochaltrigen leben alleinstehende Frauen. Der Anteil der alleinstehenden Männer verändert sich dagegen mit zunehmendem Alter kaum. Vor allem alleinstehende Frauen sind es also, die sich im höheren Alter nach einer neuen Wohnform umsehen müssen, wenn sie nach dem Tod ihres Mannes allein zurückbleiben. Der größte Teil dieser Frauen bleibt weiterhin selbständig in der eigenen Wohnung. Ein nicht geringer Teil von immerhin 10 % lebt aber in einem Heim, und 7 % wohnen bei ihren Kindern (vgl. ebd). Insbesondere diese letzte Zahl ist es, die ein bezeichnendes Licht auf die Praxis des zuvor erwähnten „kleinen Generationenvertrages“ wirft. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Wohnformen älterer Menschen insgesamt werden immer fließender. Elemente der pflegerischen Betreuung, die früher dem Heim vorbehalten waren, wandern in das normale Wohnumfeld. Umgekehrt nähern sich die Betreuungskonzepte in den Heimen immer mehr an einen normalen Wohnalltag an. Betreutes Wohnen, gemeinschaftliches Wohnen und normales Wohnen lassen sich heute in ein- und derselben Baustruktur realisieren. Selbst kleine Pflegeeinrichtungen sind durch Umnutzung und Zusammenlegung normaler Wohnungen einzurichten. Dies alles trägt zu einer Normalisierung des Wohnens im Alter bei und entspricht damit dem Wunsch der älteren Menschen, so lange wie möglich in ganz normalen Wohnverhältnissen leben zu können (vgl. Robischon 1997). Wohnen im Alter – da denken die meisten an ein Pflegeheim, vielleicht auch an das so genannte „Betreute Wohnen“ oder eine Alten-WG. Dabei lebten im Jahr 2000 nur 4 % der über 65-Jährigen in einem Heim und schätzungsweise 2 % im Betreuten Wohnen. Die große öffentliche Aufmerksamkeit für die so genannten „neuen Wohnformen“ führt ebenfalls zu einer realitätsfernen Einschätzung ihrer Verbreitung, die in Deutschland im Bereich von Promillebruchteilen liegt (vgl. ebd.). Auch gemeinschaftliches Wohnen und betreutes Wohnen zählen dabei zu den so genannten „neuen Wohnformen“, die erst in der Mitte der 1980er Jahre entstanden sind. In den 1960er und 1970er Jahren gab es als Alternative zum „normalen“ Wohnen neben dem Altenheim lediglich die so genannte „Altenwohnung“, die in den meisten Fällen als öffentlich geförderte Wohnung speziell für die Zielgruppe der über-60-Jährigen angeboten wurde. Diese Wohnungen wurden in so großer Zahl gebaut, dass sie heute noch in statistisch relevantem Ausmaß auf dem Markt sind (vgl.ebd.). Mit dem Bau spezieller Altenwohnungen wurde damals das Ziel verfolgt, älteren Menschen einen angenehmen Lebensabend zu verschaffen, der sie so

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weit wie möglich von Hausarbeit entlastete (vgl. ebd.). Die Wohnungen sollten deshalb zum einen klein und pflegeleicht sein und zum anderen über einen möglichst hohen technischen Komfort verfügen. Zentralheizung und Badezimmer waren in den 1960er und 1970er Jahren noch keine Selbstverständlichkeit. Viele ältere Menschen zogen deshalb in eine Altenwohnung, um in den Genuss dieses technischen Komforts zu kommen. Da die Zielgruppe für diese Wohnform „junge Alte“ waren, die noch mobil genug waren, ihr tägliches Leben weitgehend selbständig bewältigen zu können, war eine barrierefreie Gestaltung der Wohnungen und Gebäude nicht vorgesehen. Bei starker Gehbehinderung oder möglicher Rollstuhlbenutzung sollte seinerzeit selbstverständlich ein Wechsel in ein Altenheim erfolgen. Heute verfügen fast alle normalen Wohnungen über Zentralheizung und Badezimmer, und es gibt in dieser Hinsicht keinen Grund mehr, in eine Altenwohnung umzuziehen. Stattdessen werden andere Anforderungen an eine altengerechte Wohnung gestellt. Sie soll sowohl vom Zuschnitt als auch von der Ausstattung her geeignet sein, bei gegebener Behinderung oder Pflegebedürftigkeit eine weitgehend selbständige Lebensführung zu ermöglichen. Dies erfordert allerdings größere Wohnungen und auch andere technische Ausstattungen als sie zumeist in den vorhandenen Altenwohnungen anzutreffen sind. Hinzu kommt, dass von einer Altenwohnanlage heute erwartet wird, dass neben einer barrierefreien Wohnung auch zusätzliche Dienstleistungen angeboten werden (vgl. ebd.). Dort, wo eine technische Nachrüstung möglich ist, werden die traditionellen Altenwohnungen deshalb immer häufiger zu betreuten Wohnanlagen umfunktioniert. In anderen Fällen werden die Wohnungen bei langsam sinkender Nachfrage aus dem Kreis der älteren Menschen auch an jüngere Singles, z. B. Studenten vermietet. Langfristig, so vermutet die Schader-Stiftung, werden die traditionellen Altenwohnungen aufgrund einer veränderten Angebotspalette wahrscheinlich ganz vom Markt verschwinden (vgl. ebd.) 4.2

Zur Umzugsbereitschaft und Mobilität älterer Menschen

Heinze u.a. (1997) fassen die Ergebnisse ihrer Untersuchung über Mobilität und Umzugsbereitschaft im Alter in folgenden Punkten zusammen: ƒ ƒ ƒ

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein/e heute 55jährige/r MieterIn in den nächsten 20 Jahren in eine andere Wohnung umzieht, liegt bei deutlich über 50 %. Ältere Menschen sind somit mobiler als bislang vermutet. Die Umzugsbereitschaft kann durch geeignete Wohnalternativen und begleitende Dienstleistungsangebote gefördert werden.

Individuelle Wohnformen

ƒ ƒ

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Die hierdurch frei werdenden preiswerten Bestandswohnungen können sozialpolitisch gezielt für Familien mit Kindern verfügbar gemacht werden. Darüber hinaus wurde ein Fördermodell entwickelt, das es der öffentlichen Hand und der Wohnungswirtschaft ermöglicht, mit insgesamt geringerem Finanzaufwand mehrere sozialpolitische Ziele gleichzeitig und effektiver zu erfüllen (vgl. ebd: 167).

Es gibt in der Bundesrepublik über 5 Millionen Wohnungen, die aufgrund ihrer Größe, mit mehr als 70 m² und mehr als 3,5 Zimmern, für Familien geeignet wären und zur Zeit von älteren Ein- oder Zweipersonenhaushalten bewohnt werden. Von den älteren Ein- und Zweipersonenhaushalten, die in familiengeeigneten Wohnungen wohnen, bezeichnen rund 2,7 Millionen Menschen ihre heutige Wohnung als zu groß. Ein Umzug aus einer familiengeeigneten Wohnung in eine altersgerechte Wohnung führt in der Regel zu einer deutlichen Verkleinerung der Wohnfläche. Durch die Verkleinerung kann auch der Unterschied bei der Mietbelastung zwischen einer preiswerten Bestandswohnung und einer Neubauwohnung in Grenzen gehalten werden. Die Umfrage ergab immerhin, dass die älteren umzugsbereiten Haushaltsmitglieder in Westdeutschland bereit wären, bis zu 100 € monatlich mehr an Miete zu zahlen (vgl. ebd.: 170 f.). Bei der Nachfrage nach Dienstleistungen stehen Einkaufsdienste, Reinigungshilfen, Begleitung bei Arzt und Behördenbesuchen sowie technische Hilfen deutlich an der Spitze. So genannte aufsuchende Serviceleistungen, regelmäßig nutzbare Sprechstunden, ein Hausmeisterservice und Notrufsysteme werden gleichermaßen genannt. Bei den wohnbegleitenden Dienstleistungen stoßen Pauschalangebote mit hohen monatlichen Belastungen, deren Leistungsspektrum häufig gar nicht genutzt wird, eher auf Ablehnung. Die durchschnittliche Zahlungsbereitschaft für wohnbegleitende Dienstleistungen beläuft sich in Westdeutschland auf ca. 135 €, in Ostdeutschland auf knapp 100 € monatlich (vgl. Heinze u.a. 1997:140 ff.; Robischon 1997). Als Standorte für attraktive Wohnalternativen werden je nach Zufriedenheit mit dem Wohnumfeld am häufigsten die bisherigen Wohnquartiere genannt. Zwar gibt es auch Hinweise auf Präferenzen für Vororte oder im Hinblick auf ihre Infrastruktur gut versorgte Wohnlagen am Stadtrand. 50 % der Befragten möchten aber gerne in ihrer vertrauten Nachbarschaft wohnen bleiben (vgl. Heinze u.a. 1997: 102). Es hat sich gezeigt, dass der Versuch, durch finanzielle Anreize wie zum Beispiel Umzugsprämien ältere Menschen dazu zu bewegen, aus ihrer bisherigen Wohnung auszuziehen, nicht effektiv war. Von entscheidender Bedeutung für den Erfolg ist ein komplexes Umzugsmanagement, das heißt die Verbindung von Prämien, organisatorischen und technischen Hilfen. Der Erfolg von solchen Angeboten hängt davon ab, zu welchen neuen Formen der Zusammenarbeit in

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diesem Feld Kommunalverwaltungen, Wohnungswirtschaft und freie Wohlfahrtsträger gelangen. Dennoch wird die Umzugsbereitschaft älterer Menschen in der Regel unterschätzt. Heinze und andere führen dazu Folgendes aus: „Zwar ist die Umzugsneigung älterer Haushalte um den Faktor drei geringer als bei jüngeren Haushalten. Dem Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) zufolge ziehen p.a 3,6 % der Mieter- und 1 % der Eigentümerhaushalte in Westdeutschland nach dem 55. Lebensjahr um. Rechnet man diese Zahlen hoch und betrachtet die Wahrscheinlichkeit eines heute 55-jährigen Menschen, bis zum 75. Lebensjahr noch einmal einen Wohnungswechsel vorzunehmen, dann liegt die Umzugswahrscheinlichkeit bei erstaunlichen 52,23 % für Mieter- oder bei 23,48 % für einen Eigentümerhaushalt: Zwischen dem 55. und 75. Lebensjahr wird jeder zweite Mieter- und jeder vierte Eigentümerhaushalt mindestens noch einmal umziehen“ (Heinze u.a. 1997: 2).

Hierzu haben Heinze und andere eine Repräsentativbefragung durchgeführt, die folgendes Ergebnis erbrachte: „Von den über 55jährigen westdeutschen Mieterhaushalten waren 44,3 % seit Vollendung des 55. Lebensjahres bereits einmal umgezogen. Weitere 20,8 % der über 55jährigen Mieter, die noch nicht umgezogen sind, möchten diesen Schritt nachholen: Zusammen ergibt das 65,1 % der westdeutschen Mieterhaushalte über 55 Jahre, die Mobilität bewiesen oder entsprechende Bereitschaft bekundet haben. Die gleichen Zahlen für die Eigentümerhaushalte zwischen 55 und 75 Jahren: 16,5 % sind bereits umgezogen, weitere 13,5 % planen einen Umzug“ (ebd.).

Wichtigster Antrieb für einen Umzug älterer Menschen ist in aller Regel die Aussicht auf eine altengerechte Wohnung: „Konkret nachgefragt, welche individuellen Gründe einen Umzug im Alter vorstellbar werden lassen, ergaben sich aus der Repräsentativbefragung interessante Ergebnisse und Differenzierungen. Bei den Mietern fiel die hohe Bedeutung auf, die das Angebot einer altersgerechten Wohnung für einen vorstellbaren Umzug hatte. Dabei war der Einfluss bei den jüngeren Altersgruppen stärker als bei den älteren. Insgesamt war zu beobachten, dass mit zunehmendem Alter »Push-Effekte« wie z. B, Verlust des Partners, Krankheit und ähnliche Probleme an Bedeutung gewannen. Bei den Eigentümern hatten die »Push-Effekte« insgesamt eine höhere Bedeutung. Sie können sich häufig keine geeignetere als die derzeit bewohnte Wohnung vorstellen und sind nur als Reaktion auf äußere Umstände bereit, ihre Wohnung bzw. ihr Haus zu verlassen“ (ebd.).

Individuelle Wohnformen

4.3

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Wohnformen im Überblick

Vor dem Hintergrund der jeweils unterschiedlichen ökonomischen Möglichkeiten sowie der unterschiedlichen Mobilität älterer Menschen ergeben sich unterschiedliche Wohnformen. Dabei ist die Umzugsbereitschaft älterer Menschen recht unterschiedlich ausgeprägt und ist wie o.b. von vielfältigen Determinanten abhängig. 4.3.1

Traditionelles Wohnen

Die häufigste Wohnform im Alter spielt im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit – und bisher sicherlich auch in der Fachwelt – nur eine untergeordnete Rolle: Das Wohnen in einer ganz „normalen“ Wohnung. Mehr als 90 % aller Menschen über 65 Jahre leben in ganz normalen Wohnungen und Wohnquartieren. Der allergrößte Teil von ihnen möchte diese Wohnform auch so lange wie möglich aufrechterhalten (vgl. Robischon 1997). Heinze u.a. wenden hier allerdings Folgendes ein: Bei der überwiegenden Zahl von Wohnungen älterer Menschen „handelt es sich überwiegend um preiswerte Bestandswohnungen, die von Ausstattung, Lage und Wohnumfeld her nicht gewährleisten können, was sich ältere Menschen in der Mehrzahl wünschen: eine Wohnsituation, die ihnen ein selbständiges Leben im Alter ermöglicht“ (Heinze u.a. 1997: 1).

Hier besteht also offensichtlich ein Widerspruch zwischen den objektiven Wohnbedürfnissen älterer Menschen und ihrer tatsächlichen Veränderungsbereitschaft in Hinsicht auf einen Umzug. Tatsächlich fehlt es auch vielfach an konkreten Alternativen. Heinze u.a. merken dazu an: „angesichts der demographischen Veränderungen und des damit zunehmenden Anteils älterer Haushalte droht dieser Sachverhalt zu einem ernsten Problem zu werden. Heute bleiben viele ältere Menschen mangels Wohnalternativen und mangels konkreter Unterstützung bei einem eventuellen Umzug in ihren nicht altersgerechten Wohnungen. Die skizzierten unerwünschten Folgen für die Wohnungsversorgung sind somit zugleich auch eine altenpolitische Aufgabe“ (ebd.: 2).

Und sie fahren fort: „Die Veränderung der Altersstruktur und die qualitativen Differenzierungen innerhalb der Gruppe der älteren Menschen müssen in Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft zum Anlass für neue Förderungsmodelle genommen werden. Es sollte zur

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Aufgabe der Wohnungs- und Sozialpolitik wie der Investoren werden, die Wohnmobilität derjenigen älteren Menschen zu unterstützen, die in absehbarer Zeit nicht mehr willens oder in der Lage sind, ihre bisherige, ihnen individuell zu groß gewordene Wohnung zu unterhalten“(ebd. 2f).

Hier klafft jedoch häufig eine Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Traditionelles, selbständiges Wohnen in so genannten Bestandswohnungen ist zwar mit Einschränkungen in Bezug auf die Alterstauglichkeit des Wohnraumes verbunden, es fehlt aber an entsprechenden Alternativen, obwohl eine grundsätzliche Umzugsbereitschaft vorhanden ist: „Bestandswohnungen sind in der Regel nur mit verhältnismäßig großem Aufwand an die Bedürfnisse des Alters anpassbar. So ist nicht verwunderlich, dass sich in der persönlichen Einschätzung der Befragten, die nach dem 55. Lebensjahr umgezogen sind, die Eignung ihrer neuen Wohnung für die Phase des Alters verbessert hat. Dies galt für 56 % der Mieter und 77,5 % der Eigentümer. In den meisten Fällen führte der Umzug zudem zu einer Verkleinerung der Wohnfläche. Wenn eine Wohnung als bedarfsgerecht und als langfristig vorsorgend empfunden wird, besteht auch die Bereitschaft, für die neue Wohnung mehr Miete als zuvor aufzubringen – fast 73 % aller umzugsbereiten älteren Haushalte in Westdeutschland (Ost: 33,1 %) sind bereit, bis zu 200 DM monatlich mehr zu zahlen“ (ebd.: 3).

4.3.2

Betreute Wohnformen

Das „Betreute Wohnen“ ermöglicht es zum einen selbständig in einer eigenen Wohnung zu leben, zum anderen aber trotzdem bei Bedarf schnell Hilfe und Pflege zu erhalten. Zusätzlich zum Mietvertrag schließen die BewohnerInnen zumeist einen Betreuungsvertrag ab, der ihnen für eine monatliche Pauschale bestimmte Betreuungsleistungen sichert. Darüber hinaus haben die BewohnerInnen die Möglichkeit, gegen eine weitere Bezahlung so genannte Wahlleistungen in Anspruch zu nehmen (vgl. Robischon 1997). Angesichts eingeschränkter Selbstbestimmung in stationären Einrichtungen und Unsicherheit über die Qualität der Pflege sind viele ältere Menschen bemüht, einen Umzug in einen Altenhilfeeinrichtung so lange wie möglich zu vermeiden. Hier bietet das „Betreute Wohnen“ eine gute Möglichkeit, wobei angemerkt werden muss, dass inzwischen auch das Leben in einer Altenhilfeeinrichtung nicht automatisch die Aufgabe jeglicher Selbstbestimmung bedeuten muss. Mit neuen Konzepten der Heimorganisation, wie den stationären Hausgemeinschaften, verknüpfen sich hohe Erwartungen an eine individuelle Betreuung und eine weitgehend selbstbestimmte Lebensführung der BewohnerInnen. Das Gros der Heimplätze (84 %) besteht aus Pflegeplätzen. In den letzten 10 Jahren ist

Individuelle Wohnformen

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eine Tendenz zur Abnahme von Alten- und Wohnheimen zu erkennen; ihre Funktion wird zunehmend von Einrichtungen des „Betreuten Wohnens“ übernommen (vgl. Robischon 1997; Engel/Engels 2000: 7 ff.). Das „Betreute Wohnen“ kann in einiger Hinsicht als Weiterentwicklung des Konzepts der Altenwohnung angesehen werden. Man wollte die dort gegebene Selbständigkeit der Lebensführung in einer eigenen Wohnung mit der einer heimähnlichen Versorgungssicherheit kombinieren. Hilfe und Pflege sollten jederzeit verfügbar sein, aber nur dann abgerufen und bezahlt werden, wenn sie tatsächlich benötigt würden (vgl. Robischon 1997). Auf diese Weise sollten die Selbsthilfekräfte der älteren Generation gestärkt und eine Überversorgung vermieden werden. Eine solche Kombination von Selbständigkeit und Sicherheit ist für viele ältere Menschen sehr attraktiv und das Interesse an dieser Wohnform ist deshalb groß. Allerdings lässt die Praxis der vergangenen 20 Jahre einen grundlegenden Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit des „Betreuten Wohnens“ erkennen. Auf einen einfachen Nenner gebracht besteht dieser Widerspruch darin, dass die BewohnerInnen eine umfassende Betreuung erwarten, aber wenig dafür bezahlen wollen. Die Rundum-die-Uhr-Sicherheit, die sie auf der einen Seite haben möchten, ist mit hohen Vorhaltekosten verbunden, die sie auf der anderen Seite nicht zahlen wollen, so lange sie selbst noch keine Leistungen in Anspruch nehmen. Hinzu kommt, dass die bisherige Rechtssprechung Anlagen mit hohen Vorhaltekosten tendenziell den Status einer Einrichtung verleiht, was den Interessen sowohl der BewohnerInnen als auch der Betreiber solcher Anlagen zuwiderläuft (vgl. Robischon 1997). Aus diesem Grund lässt sich beim „Betreuten Wohnen“ eine Entwicklung in zwei unterschiedliche Richtungen beobachten. Auf der einen Seite finden wir Anlagen, in denen der Sicherheitsaspekt im Vordergrund steht. Dabei handelt es sich um heimverbundene Anlagen oder solche mit eigenen Pflegeeinrichtungen, die teilweise dem Heimgesetz unterliegen. Auf der anderen Seite entwickelt sich ein Segment an eingestreuten Wohnanlagen, bei dem das normale Wohnen im Vordergrund steht und nur für eine begrenzte Zeit am Tag oder in der Woche eine Fachkraft zur Vermittlung von Hilfen in der Anlage anwesend ist. Zwischen diesen beiden Polen existiert ein breites Spektrum an unterschiedlichen Angeboten mit sehr unterschiedlichen Preis-Leistungsverhältnissen, das es den Interessenten für ein „Betreutes Wohnen“ schwer macht, sich am Markt zu orientieren (vgl. ebd.). 4.3.3

Gemeinschaftliches Wohnen

Gemeinschaftliches Wohnen kann ältere Menschen sowohl vor einer zunehmenden Fremdbestimmung in einer stationären Einrichtung als auch vor der Vereinsamung in der eigenen Wohnung bewahren. In Deutschland werden alle Wohn-

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formen „Gemeinschaftliches Wohnen im Alter“ genannt, in denen irgendeine Art des gemeinschaftlichen Zusammenlebens mit Menschen höheren Alters praktiziert wird. Dies können Wohn- und Hausgemeinschaften sein, aber auch Nachbarschafts- und Siedlungsgemeinschaften (vgl. Robischon 1997). Dabei ist Gemeinschaftliches Wohnen keine Wohnform die von vornherein einen hohen Grad an Selbständigkeit älterer Menschen erfordert. Gemeinschaftliches Wohnen ist auch möglich, wenn Pflege- oder Betreuungsbedarf besteht. Die gemeinschaftlich organisierte Pflege und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen, die nicht aus eigener Kraft eine gemeinschaftliche Wohnform verwirklichen können, ist eine wichtige Errungenschaft engagierter Pflegedienste und Vereine der Altenhilfe. In Braunschweig, Bielefeld und Berlin entstanden Mitte der 1980er Jahre die ersten ambulant betreuten Wohngruppen für ältere Menschen mit unterschiedlichen Bedarfen (vgl. Robischon 1997; Stadt Bielefeld 2007: 13 ff.). Eine Ausdifferenzierung der Angebote findet sich auch in anderen Wohnformen für ältere Menschen. Das gemeinschaftliche Wohnen kann heute nur noch als Überbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Wohnkonzepte betrachtet werden. Dabei ist zunächst zu unterscheiden zwischen selbstorganisiertem gemeinschaftlichen Wohnen und ambulant betreuten Wohngruppen. Selbstorganisierte Wohnprojekte sind eine Wohnform der „jungen Alten“, ambulant betreutes Gemeinschaftswohnen dagegen ist eher den „alten Alten“ zuzuordnen. Die Interessenten für selbstorganisierte gemeinschaftliche Wohnprojekte sind vor allem solche Menschen, die ihr Leben im Alter aktiv gestalten möchten. Sie möchten sich einen Traum vom Wohnen erfüllen, der dem relativ fremdbestimmten Leben im Heim oder in einer betreuten Wohnanlage die selbst bestimmte gemeinschaftliche Freizeitgestaltung und die selbst organisierte Hilfe entgegensetzt. Der hohe Anspruch an Selbstbestimmtheit und Selbstverwirklichung in diesen Projekten hat zur Folge, dass die Interessenten für diese Wohnform eine relativ lange Zeit benötigen, bis sie sich zu einer Gruppe mit gemeinsamen Vorstellungen des zukünftigen Lebens „zusammengerauft“ und eine geeignete Immobilie gefunden haben. Es ist nicht einfach, den Wohnvorstellungen älterer Menschen im Spannungsfeld zwischen Privatheit und Gemeinschaft Rechnung zu tragen. Dies gilt in besonderem Maße für Projekte gemeinschaftlichen Wohnens, bei denen diese unterschiedlichen Vorstellungen möglicherweise aufeinanderprallen. Es gilt aber auch insbesondere für das Wohnumfeld. Heinze u.a. haben in ihrer bereits zitierten Repräsentativerhebung folgendes festgestellt: „In Hinblick auf Gebäudegröße und Belegungsmix zeigte sich, dass ältere Menschen zwar gerne mit Menschen der gleichen Altersgruppe zusammenwohnen möchten, große, abgegrenzte ‚Altenghettos’ aber nicht akzeptiert werden. Das intergenerative

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Wohnen wird nur von einer kleinen Gruppe älterer Menschen gewünscht. Um unterschiedlichen Lebensrhythmen und Bedürfnissen Rechnung zu tragen und eine soziale Isolation älterer Menschen zu vermeiden, haben sich nach den vorliegenden Erfahrungen eingestreute altersgerechte Wohnungen oder über das Siedlungsgebiet verteilte, kleinere Altenwohnanlagen besser bewährt“ (Heinze u.a. 1997: 4).

Die Veränderung der Lebensverhältnisse ist ein sicherlich in Schüben verlaufender, aber im Grunde kontinuierlicher Prozess in der Zivilisationsgeschichte. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich dieser Vorgang jedoch erheblich beschleunigt: Durch ein höheres Wohlstandsniveau, den technischen Fortschritt in den Produktions- und Arbeitsverhältnissen sowie den Wandel der kulturellen Rahmenbedingungen haben sich größere Wahlmöglichkeiten für die Lebensgestaltung des Einzelnen ergeben. Die Lebensstile können sich im Wohlstand einer offenen, pluralistischen Gesellschaft frei entfalten. Unter Lebensstilen versteht man dabei eine bestimmte Form der Organisation des Alltagslebens, bestimmte Neigungen und Gewohnheiten und vor allem ästhetische Standards und Codierungen. Der Begriff wird dabei nicht im Sinne von Zeitgeist oder Trend verwendet, sondern verbindet sozialstrukturelle mit lebensphasenspezifischen Faktoren (vgl. Robischon 1997). Die Individualisierung von Lebensstilen wird dabei zu Unrecht primär jungen urbanen Elitegruppen zugeschrieben, die als ökonomisch und kulturell durchsetzungsfähige Lebensstilgruppen symbolisch und funktional städtische Räume besetzen. Hingegen werden weniger mobile, beispielsweise ältere Menschen weniger beachtet. Ihre Codierungen werden nicht in vergleichbarem Maß öffentlich. Unter dem Stichwort ‚Individualisierung der Lebensstile’ wird also häufig nur ein Teil der Gesellschaft beschrieben, nämlich die so genannten ‚Modernisierungsgewinner’. Aber auch jenseits dieser ‚Elite’ findet eine Entstandardisierung von Lebensverlaufsmustern statt (vgl. ebd.). Diese Einschätzung gilt ebenfalls in zunehmendem Maße für die Lebensstile älterer Menschen, und sie wird in allen Modellen gemeinschaftlichen Wohnens zu einem Problem, dem sich auch die Wohngemeinschaften stellen müssen. Schneider und Spellerberg konstatieren in diesem Zusammenhang: „Bourdieu (1985 und 1987) ist einer der wenigen Autoren, die sich direkt mit dem Zusammenhang von Wohnen, Wohnlage und Lebensstilen beschäftigt haben. In seinem Hauptwerk ‚Die feinen Unterschiede’ hat er unter anderem überprüft, ob sich Lebensstile in spezifischer Weise im Raum verteilen. Das eigentliche Interesse Bourdieus gilt dem Zusammenhang von sozialer Stellung, Kultur und Herrschaft. Er zeigt, dass sich soziale Klassen nicht nur hinsichtlich der sozioökonomischen Lage ihrer Mitglieder, sondern auch hinsichtlich ihrer kulturellen Verhaltensweisen und Geschmackmuster unterscheiden, und dass zwischen diesen Dimensionen systematische Beziehungen bestehen. Seiner Theorie entsprechend werden soziale Auseinan-

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dersetzungen und Klassenkämpfe immer auch in Form von Kämpfen um den „legitimen“ Geschmack und damit als Lebensstilauseinandersetzungen geführt. Diese Prozesse überträgt er ohne große Umschweife auf die Raumnutzung: Je nach Klassenlage treten unterschiedliche Vorlieben für Wohnlagen und Wohnungsausstattungen auf. Die Konkurrenz um Raum und die Verfügung über bestimmte Quartiere ist nach seiner Theorie eine Dimension von Status- und damit Lebensstilkonflikten“ (Schneider/Spellerberg 1999: 83 f.).

Bourdieu bezieht sich dabei vor allem auf die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen sozialen Milieus und Schichten um urbane Quartiere. Um eben diese Lebensstilkonflikte geht es aber auch im Spannungsfeld zwischen Privatheit und Gemeinschaft, wie es für die Formen gemeinschaftlichen Wohnens charakteristisch ist. Häufig handelt es sich hier, oberflächlich betrachtet, lediglich um Fragen der Organisation und der Abgrenzung der unterschiedlichen Wohnbereiche voneinander. Diese Betrachtungsweise greift aber zu kurz. Älteren Menschen, die sich für eine Form gemeinschaftlichen Wohnens entscheiden, ist dringend zu raten, sich auch Gedanken über unterschiedliche Lebensstile und über unterschiedliche, milieubedingte Lebensgewohnheiten und Einstellungen zu machen. Gemeinschaftliche Wohnformen werfen dabei eine Reihe von rechtlichen Fragen auf, die im Rahmen des Beitrages noch nicht einmal angerissen, geschweige denn erschöpfend beantwortet werden können. An dieser Stelle sollen einige wichtige Fragen zumindest benannt werden: ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Soll ein gemeinsamer Mietvertrag abgeschlossen werden oder tritt ein Mitglied der Gemeinschaft als HauptmieterIn und die anderen als UntermieterInnen auf? Wie sind in einem solchen Fall jeweils Entscheidungen der MieterInnengemeinschaft zu treffen? Soll gemeinschaftliches Eigentum erworben werden? Wie werden in einem solchen Fall die Eigentumsanteile abgegrenzt (z.B. auf der Grundlage einer Teilungsgenehmigung, wie sie für Eigentumswohnungen charakteristisch ist)? Wie agiert die Eigentümergemeinschaft? Welche Verfahrensweise stellt sicher, dass die Wohn- und Eigentümergemeinschaft im Todesfall eines Mitgliedes in Zusammenarbeit mit den Erben eine für alle Beteiligten befriedigende Nachfolgeregelung findet?

All diese Fragen sind von der jeweiligen Ausprägung der gemeinschaftlichen Wohnform abhängig. Eine Wohnform, die auf der organisatorischen Grundlage von für sich selbständigen Eigentumswohnungen basiert, kann anders gehandhabt werden als eine Wohngemeinschaft im klassischen Sinne, bei der sich die

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MitbewohnerInnen einzelne Räume teilen, indem sie bestimmte Räume, wie Wohnzimmer, Küche und Bad gemeinsam nutzen. Im Zentrum rechtlicher Fragen stehen erfahrungsgemäß die Finanzen. Hier gibt es seit einigen Jahren interessante Modelle, die auch für die Wohnform des gemeinschaftlichen Wohnens interessant sein können, wobei es viele unterschiedliche Varianten gibt. Dabei kann die Finanzierung von altengerechten Wohnungen nach den Ergebnissen der bereits mehrfach zitierten Untersuchung von Heinze und anderen durch ein so genanntes Kombimodell erreicht werden. Hier gibt der öffentliche Fördergeber, also zum Beispiel das Land, einen Zuschuss für die Errichtung einer altengerechten Wohnung und erwirbt im Gegenzug dafür ein Belegungsrecht an einer frei gezogenen preiswerten Bestandswohnung. Die Förderung wird an die Bedingung geknüpft, dass in die freie Bestandswohnung eine Familie mit Kindern einzieht. Dieses Modell scheint nach den Berechnungen der ForscherInnen besonders interessant für VermieterInnen zu sein, die sich mit ihren Mieten am unteren Rand der ortsüblichen Vergleichsmiete bewegen (vgl. Heinze u.a. 1997: 3 ff.). Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen ergeben sich eine Reihe von vorwiegend wirtschaftlichen Aspekten, von denen folgende als wesentlich einzustufen sind: ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Welches Interesse hat die öffentliche Hand an einem altengerechten Wohnen in weitgehender Selbstbestimmtheit? Ergeben sich hier Widersprüche zu Einsparungstendenzen bei den Sozialausgaben? Welches Interesse haben die Kommunen aus stadtplanerischer Sicht? Welche finanzpolitischen Interessen der Kommunen spielen hier eine Rolle? Welche ökonomischen Interessen haben die Kranken- und Pflegekassen im Zusammenhang mit altengerechtem Wohnen in weitgehender Selbstbestimmtheit? Sind hier möglicherweise Programme in stationären Einrichtungen kostengünstiger und besteht daher ein Interesse, diese Wohnform zu bevorzugen? Wie steht es um die Förderung pflegender Familien. Sind die Genehmigungsrichtlinien für die unterschiedlichen Pflegestufen angemessen? Welches ökonomische Interesse haben Investorinnen und Investoren und VermieterInnen? Welches ökonomische Interesse haben Familien und Angehörige?

Da sich in der vorhandenen Literatur nur sehr wenig zu diesen Fragen findet, besteht hier sicherlich ein erheblicher Forschungsbedarf, wobei allerdings an dieser Stelle keineswegs einer Ökonomisierung der behandelten Fragestellung

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das Wort geredet werden soll. Die Implikationen eines selbstbestimmten Wohnens im Alter gehen weit über den ökonomischen Aspekt hinaus. Dennoch bilden die ökonomischen Rahmenbedingungen stets eine Grundlage, die bei allen weitergehenden Überlegungen zum Wohnen im Alter ebenso zu berücksichtigen ist wie das zu garantierende Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung. Literatur Bäcker, G. (2002): Generationengerechtigkeit im Sozialstaat. Generationenvertrag und Alterssicherung. In: Schweppe, C. (Hg.): Generation und Sozialpädagogik. München, 1-28. Baltes, P.B./Mittelstraß, J./Staudinger, U.M. (1994) (Hg.): Alter und Altern. Studientext zur Gerontologie. Berlin., 1 – 34. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2006): Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in Deutschland. Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft. Der Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen. Bericht der Sachverständigenkommission. Berlin. Deutscher Bundestag (2002): 14. Wahlperiode. Enquete-Kommission Demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und an die Politik. Drucksache 14 / 8800 vom 28.03.2002, 12 – 16. Engel, H./Engels, D. (2000): Modelle für das Wohnen im Alter. Analysen und Empfehlungen für die Nordweststadt Frankfurt a.M., Darmstadt. Heinze, R.G./Eichener, V./Naegele, G./Bucksteg, M./Schauerte, M. (1997): Neue Wohnung auch im Alter. Folgerungen aus dem demographischen Wandel für Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft. Darmstadt, 102- 170. Höpflinger; Stuckelberger (1999): Demografische Alterung und individuelles Altern. Ergebnisse aus dem nationalen Forschungsprogramm. Zürich. Kaufmann, F.X. (1993): Generationenbeziehungen und Generationenverhältnisse im Wohlfahrtsstaat. In: Lüscher, K./Schultheis, F. (Hg.): Generationenbeziehungen in ‚postmodernen’ Gesellschaften. Konstanz, 95-108. Kohli, M./Szydlik, M. (2000): Einleitung. In: Dies. (Hg.) Generationen in Familie und Gesellschaft. Opladen, 7-18. Lehr, U. (200): Psychologie des Alterns. Heidelberg/Wiesbaden. Lissmann, I. (1994): Intraindividual changes on extraversion and neuroticismOvertime in old age. The role of sensory impairment. Berlin. Naegele, G./Gerling, V./Scharfenorth, K. (2004): Productivity of Old Age in Labour and Consumption Markets – The German Case. Unveröff. Manuskript. Dortmund, 2-8. Naegele, G. (2005): Nachhaltige Arbeits- und Erwerbsfähigkeit für ältere Arbeitnehmer. In: WSI-Mitteilungen 4, 2005, 214-219. Naegele, G. (2008): Soziale und politische Partizipation im Alter. In: Theorie undPraxis der sozialen Arbeit, 2, 2008, 93-100. Naegele, G. (2009): Kollektives demographisches Altern und demographischerWandel – Auswirkungen auf den „großen“ und „kleinen“ Generationenvertrag. Unveröff. Manuskript. Dortmund, 3-14.

Individuelle Wohnformen

227

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Selbstbestimmt Wohnen mit Demenz

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Selbstbestimmt Wohnen mit Demenz Melanie Röhn

Es ist bekannt, dass die Wohnverhältnisse Auswirkungen auf das Verhalten von Menschen (nicht nur) mit Demenz haben. Mit der Abnahme der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit erhält die Wohnung eine immer größere Bedeutung. Wie aus den vorherigen Artikeln hervorgeht, ist die Wohnung nicht nur als Handlungsraum zu sehen, sondern auch als emotionaler sowie sozialer Raum. Gleiches gilt auch für Menschen mit Demenz, für die vor allem der emotionale sowie soziale Aspekt von großer Bedeutung ist. Auch im Alter spielt ein selbstbestimmtes Wohnen eine große Rolle. Im folgenden Artikel werden die ambulant betreute Wohngemeinschaft (im Folgenden Wohngemeinschaften genannt) und die Hausgemeinschaft als mögliche Wohnformen für Menschen mit Demenz hinsichtlich der Selbstbestimmung beschrieben und verglichen. Die Ausgangsfrage war hierbei, ob in beiden Wohnformen ein gleichhohes Maß an Selbstbestimmung möglich ist. Und inwieweit sich diese Möglichkeit zur Selbstbestimmung überhaupt messen lassen kann. Dafür wurden in den Wohn- und Hausgemeinschaften sowohl Interviews nach einem vorher erstellten Leitfaden mit Bewohnerinnen und Bewohnern sowie Mieterinnen und Mietern geführt, als auch Beobachtungen gemacht, transkribiert und anhand von Kategorien ausgewertet. Danach wurden dann die beiden Wohnformen bezüglich ihrer Möglichkeit zur Selbstbestimmung verglichen. 1

Selbstbestimmung bei Menschen mit Demenz

Selbstbestimmung ist die Basis für Freiheit und Unabhängigkeit, was aber gleichzeitig auch eigenständiges Handeln einschließt und die Übernahme der Verantwortung für dieses Handeln. Jeder Mensch hat ein Recht auf Selbstbestimmung und die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, wie es in Artikel 3 Satz 1 des Grundgesetzes zu lesen ist: „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“ (Art. 2 Satz 1 GG).

G. Kleiner (Hrsg.), Alter(n) bewegt, DOI 10.1007/978-3-531-94258-2_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

230

Melanie Röhn

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend schreibt im vierten Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2002, dass Eingriffe in die Freiheit zur Selbstbestimmung als Verletzung der menschlichen Würde anzusehen sind. Dennoch ist eine hundertprozentige Selbstbestimmung in einem sozialen Gefüge, in dem sich Menschen bisweilen befinden, kaum möglich. Denn Mitmenschen haben einen gewissen Einfluss auf die Entscheidungen einer Person. Mit der Veränderung der Lebenssituation und hier ist vor allem bei Menschen mit Demenz der Verlust der kognitiven Fähigkeiten gemeint, kommt es häufig zu einem Absprechen der Selbstbestimmung und einer Übernahme derer durch Angehörige oder Professionelle. Um sich der Bedeutung der Selbstbestimmung ganz klar zu werden, darf auch der Aspekt der Lebenswelt nicht vernachlässigt werden. Lebenswelt wird von Schütz und Luckmann wie folgt definiert: „Unter alltäglicher Lebenswelt soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht vorgegeben findet. Mit „schlicht vorgegeben“ bezeichnen wir alles, was wir als fraglos erleben, jeden Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch ist“ (Schütz, Luckmann 2003: 29).

Somit ist die Lebenswelt eines Menschen geprägt durch seine individuellen Erfahrungen, die er in seinem Leben gesammelt sowie die Bedeutung, die dieser Mensch einzelnen Dingen zumisst. Dies bedeutet, dass die subjektive Wahrnehmung jedes einzelnen in einer Situation die darauf folgende Handlung bestimmt. So ist auch für Menschen mit Demenz die Selbstbestimmung ein Teil ihrer subjektiven Welt und hat für den einzelnen unterschiedliche Bedeutung. Es kann daher durch die Übernahme von Entscheidungen durch Angehörige sowie Professionelle zu Differenzen bezüglich der Selbstbestimmung kommen, weil Menschen mit Demenz diese in ihrer Lebenswelt ganz anders wahrnehmen. Daher ist es wichtig, die Ausnutzung von Ressourcen der Menschen mit Demenz in den Mittelpunkt zu stellen, da dies das Gefühl gibt, den Alltag selbstbestimmt zu erleben und somit die Lebenszufriedenheit steigt. Merkmale der Selbstbestimmung bezogen auf die Wohnformen Haus- und Wohngemeinschaft: Selbstbestimmung ist das grundlegende Charakteristikum, was neue Wohnformen, wie die Haus- aber auch die Wohngemeinschaft von traditionellen Wohnformen im Alter unterscheidet. In beiden Konzeptionen wird der Fokus stark auf die Selbst- und Mitbestimmung der BewohnerInnen/MieterInnen gelegt.

Selbstbestimmt Wohnen mit Demenz

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Bei beiden Wohnformen, der Wohn- als auch der Hausgemeinschaft, liegt die größte Verantwortung bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Angehörigen, die die Bedürfnisse und Interessen der BewohnerInnen/MieterInnen erkennen und zur Verwirklichung dieser beitragen sollten. In den Hausgemeinschaften können die BewohnerInnen bei folgenden Dingen selbstbestimmt entscheiden: ƒ ƒ ƒ

hauswirtschaftliche Tätigkeiten wie Zubereitung von Mahlzeiten, kleinere Putzarbeiten, Tisch decken etc. Zeitpunkt der Einnahme von Mahlzeiten Gestaltung des eigenen Zimmers

Mit der Verschlechterung des Gesundheitszustandes und des ansteigenden Verlustes der kognitiven Fähigkeiten wird die Interessenvertretung durch Angehörige und durch eine gesetzliche Betreuung besonders wichtig. Ihre Aufgabe ist es, im Sinne des Betroffenen zu handeln. In Wohngemeinschaften ist die Selbstbestimmung ein zentrales Merkmal. Laut den Konzeptionen der Wohngemeinschaften haben die MieterInnen nicht nur bei der Gestaltung der Tagesabläufe, sondern auch in allen anderen Angelegenheiten der Organisation des Lebens in der Wohngemeinschaft ein Recht auf Selbstbestimmung (vgl. Kremer-Preiß 2004: 83): ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Anmietung und Einrichtung der Wohnung Verwaltung des Haushaltsgeldes Beauftragung eines Pflegedienstes Mitbestimmung bei der Dienstplangestaltung Mitbestimmung bei der MitarbeiterInnenauswahl

Auch im Fall von Wohngemeinschaften können meist die MieterInnen ihre Interessen und Wünsche nicht mehr selbst vertreten. Diese Funktionen übernehmen auch hier Angehörige oder gesetzliche BetreuerInnen. So stellen sie eine Bereicherung da, wenn sie sich in das Leben der Wohngemeinschaft integrieren. Aber auch die MitarbeiterInnen, die im alltäglichen Leben ihr Handeln an die Bedürfnisse der MieterInnen anpassen und den Tag nach deren Wünschen organisieren (vgl. Kremer-Preiß 2004: 85), haben eine große Verantwortung. Ihre Aufgabe ist es, die verbalen und nonverbalen Bedürfnisäußerungen der MieterInnen wahrzunehmen und umzusetzen, um auch Mieterinnen und Mietern mit nur noch geringen kognitiven Fähigkeiten eine Selbstbestimmung zu ermöglichen.

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Ambulant betreute Wohngemeinschaften

Eine ambulant betreute Wohngemeinschaft ist eine Gruppe von meist nicht verwandten Personen, die sich gemeinsame Wohnräume und deren Kosten teilen (vgl. Brockhaus 2009). Auch eine ambulant betreute Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz folgt diesem Prinzip. In einer solchen Gemeinschaft wohnen zu meist sechs bis zwölf an Demenz erkrankte Menschen, die sich Sanitärräume sowie Küche und Essbereich teilen aber dennoch auf ihre Privatsphäre in Form eines eigenen Zimmers nicht verzichten müssen. Die Einrichtung solcher Wohngemeinschaften wird von den Mieterinnen und Mietern und/oder deren Angehörigen mitgestaltet, indem sie eigene Möbelstücke in die Wohngemeinschaft mitbringen dürfen. Das Zusammenleben und die Organisation der Haushaltsführung wird durch Personal unterstützt, Pflegeleistungen werden durch ambulante Dienste erbracht (vgl. Kremer-Preiß 2004: 53 f.). Letztendlich haben sich bis jetzt zwei Konzepte in diesem Bereich der ambulanten Versorgung von Menschen mit Demenz etabliert: ƒ ƒ

Wohngemeinschaften mit einer zentralen Bezugsperson z.B. eine Hauswirtschafterin und/oder einer zusätzlichen Betreuung durch eine/n SozialarbeiterIn Wohngemeinschaften mit ausschließlicher Versorgung durch ambulante Pflegedienste (vgl. Schaider, Röhn 2009: 42).

Im Vordergrund beider Modelle steht aber immer die Organisation des Alltags. Als Orientierung dient der Ablauf im eigenen Haushalt, wie Essenszubereitung, Wäscheversorgung, Blumenpflege, Haustierversorgung usw. Dabei spielen die vorhandenen (Rest-)Kompetenzen der MieterInnen die entscheidende Rolle, die zur Bewältigung aller Aufgaben im Alltag genutzt werden sollten (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2004: 13). 2.1

Merkmale ambulant betreuter Wohngemeinschaften

Ambulant betreute Wohngemeinschaften gelten nicht als Kleinstheim und das Heimrecht soll keine Anwendung finden, wenn folgende Kriterien erfüllt sind: ƒ ƒ

MieterInnen können Betreuungs- und Pflegeleistungen frei wählen (auch den Pflegedienstträger), MieterInnen können ihr Zusammenleben in der Wohngemeinschaft selbstbestimmt gestalten und

Selbstbestimmt Wohnen mit Demenz

ƒ

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in der Wohngemeinschaft leben nicht mehr als zwölf Personen (vgl. Schaider, Röhn 2009: 44).

Es müssen nicht nur rechtliche Voraussetzungen, wie Mietrecht und die Regelungen der häuslichen Pflege berücksichtigt werden. Auch die Anforderungen an das Personal sind hoch; dieses soll nicht nur über soziale und pflegerische Kompetenzen verfügen sondern auch bereit sein, hauswirtschaftliche Tätigkeiten mit den Mieterinnen und Mietern durchzuführen sowie Kontakte zu Angehörigen und ins Quartier zu organisieren und zu pflegen. Zudem werden gerontopsychiatrische Kompetenzen im Umgang mit Menschen mit Demenz erwartet. Ein weiteres wichtiges Merkmal von ambulant betreuten Wohngemeinschaften ist der zentrale Stellenwert von Angehörigen. Sie wirken bei der Planung und Gestaltung des Alltags mit, denn nur so kann die Selbstbestimmung der Mieterinnen und Mieter erhalten werden. Folgende Aufgaben können Angehörige übernehmen: ƒ ƒ ƒ ƒ

2.2

Freizeitangebote Alltagshandlungen Begleitung bei Behörden- und Arztgängen Unterstützung bei der Körperpflege (vgl. Alzheimer-Gesellschaft Brandenburg e.V./Institut für Gerontologie und Bildung 2005). Aktuelle Forschungsergebnisse

Die junge Geschichte der ambulant betreuten Wohngemeinschaften bringt es mit sich, dass es (noch) an Forschungsergebnissen mangelt. Häufig wurden gesundheitliche Veränderungen der MieterInnen untersucht und mit Bewohnerinnen und Bewohnern stationärer Einrichtungen verglichen. Aber das subjektive Erleben der MieterInnen sowie die Möglichkeit der Selbstbestimmung in ambulant betreuten Wohngemeinschaften wurde nur in einem Forschungsprojekt des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Trägerschaft des Vereins Freunde alter Menschen e.V. in Kooperation mit der Alzheimer Gesellschaft Brandenburg untersucht. Ziel war es, verbindliche Qualitätskriterien für ambulant betreute Wohngemeinschaften und Verfahren für deren Überprüfung zu entwickeln. Inzwischen ist eine Checkliste entstanden, die zur Findung der Qualitätskriterien in Bezug auf Selbstorganisation und Selbstbestimmung helfen soll:

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ƒ ƒ ƒ ƒ

die Beziehung der WG-Mitglieder untereinander, die Beziehungen zwischen WG-Mitgliedern und beteiligten Dienstleistern , die Beziehungen zwischen WG-Mitgliedern und VermieterIn und die Beziehungen zwischen WG-Mitgliedern und einer evtl. involvierten „3. Instanz“ (ModeratorIn, Beirat, Ombudsleute etc.) (vgl. http://www.wgqualitaet.de/-checklistemitqualitaetsk.html.

3

Hausgemeinschaften

Eine Hausgemeinschaft ist im Vergleich zu einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft eine stationäre Wohnform, die dem Heimgesetz und seinen Verordnungen unterliegt. Hausgemeinschaften zeichnen sich vor allem durch die nah am Alltag orientierte Arbeit mit den Bewohnerinnen und Bewohnern aus. Außerdem spielt die besondere Gestaltung des sozialen Milieus sowie die Einstellung der Professionellen zu ihrer Arbeit in der Hausgemeinschaft eine große Rolle (vgl. Röhn/Schaider 2009: 34). Dennoch gibt es keine einheitliche Definition für Hausgemeinschaften, was den Überblick über aktuelle Zahlen nicht ermöglicht. Es lassen sich drei Typen von Hausgemeinschaften unterscheiden: ƒ ƒ ƒ

3.1

Solitäre Hausgemeinschaft: Hausgemeinschaft, die völlig autonom ist, aber dennoch angegliedert an einen großen Träger Hausgemeinschaft als Teil von stationären Pflegeeinrichtungen: neben den üblichen Wohnbereichen gibt es ein oder mehrere Hausgemeinschaften Hausgemeinschaftskomplexe: die gesamte Pflegeeinrichtung besteht aus mehreren einzelnen Hausgemeinschaften (vgl. Röhn/Schaider 2009: 34) Merkmale von stationären Hausgemeinschaften

Alle drei Typen von Hausgemeinschaften sind Einrichtungen im Sinne des Heimgesetzes. Der Vorteil für die BewohnerInnen besteht dabei in der rechtlichen Sicherheit, die zum Beispiel den Kündigungsschutz und die Mitbestimmungsmöglichkeiten angeht. Nachteilig ist dabei aber die erschwerte Umsetzung von neuen Strukturen. Das Heimgesetz regelt Mindeststandards für alle Einrichtungen wie zum Beispiel Zimmergröße, Essenszeiten, Personalbesetzung usw. Aber gerade diese Details machen den Unterschied zu normalen stationären Einrichtungen aus.

Selbstbestimmt Wohnen mit Demenz

235

„Grundgedanke des Hausgemeinschaftskonzeptes ist die Aufhebung der Trennung zwischen den Bereichen Hauswirtschaft, Pflege und sozialer Betreuung. Das Konzept der Hausgemeinschaft beruht auf (…) den Prinzipien der ƒ Dezentralisierung ƒ kontinuierlichen Präsenz einer festen Bezugsperson ƒ Normalisierung“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2004: 116).

Hausgemeinschaften sind klein und übersichtlich gebaut und versorgen sich autonom. Hierzu gehört vor allem die Zubereitung der Mahlzeiten, Reinigung des Wohnraumes der Hausgemeinschaft als auch die Wäschereinigung. Die festen Bezugspersonen stellen Präsenzkräfte, auch AlltagsbegleiterIn genannt, dar. Deren Hauptaufgabe besteht in der Gestaltung des Alltags gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern. Sie verfügen über Qualifikationen im Bereich Hauswirtschaft, Grundpflege und über Wissen im Umgang mit Menschen mit Demenz. Zusätzlich sind sie AnsprechpartnerIn für BesucherInnen und Angehörige. Des Weiteren arbeiten in einer Hausgemeinschaft examinierte Pflegekräfte, die zu allererst für die Pflege der BewohnerInnen zuständig sind. Das Hauptaugenmerk in Hausgemeinschaften liegt aber in der Betreuung und die Bedeutung der Pflege rückt in den Hintergrund (vgl. Heeg/Bäuerle 2008: 39). Die BewohnerInnen werden durch die Einbindung in das Alltagsgeschehen aktiviert. „Die Kompetenzen und Fähigkeiten des jeweiligen Menschen (werden) in den Mittelpunkt (gestellt)“ (Palm/Bogert 2007: 37).

Dabei bilden die Mahlzeiten die Grundstruktur des Tagesablaufes, um das Gefühl von Orientierung zu geben und Vertrauen zu schaffen. Der Mittelpunkt einer Hausgemeinschaft, die Wohnküche, dient als zentraler Treffpunkt. Diese wird durch die Zimmer der BewohnerInnen umschlossen. So haben alle BewohnerInnen die Möglichkeit, sich aus der Gemeinschaft zurück zu ziehen. Hausgemeinschaften sind nicht ausschließlich für Menschen mit Demenz entwickelt worden, die kleine Gruppengröße und die Gestaltung des Tagesablaufes wirken sich aber positiv auf die Lebensqualität von Menschen mit Demenz aus (vgl. Röhn/Schaider 2009: 39).

236 3.2

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Aktuelle Forschungsergebnisse

Es gibt bisher keine Untersuchung, die sich ausschließlich mit dem Aspekt der Selbstbestimmung von Menschen mit Demenz in neuen Wohnformen, wie der Hausgemeinschaft, beschäftigt. Das subjektive Erleben der BewohnerInnen wird in den vorliegenden Studien kaum mit einbezogen. Die H.I.L.D.E-Studie (Heidelberger Instrument zur Erfassung der Lebensqualität Demenzkranker), die für stationäre Einrichtung entwickelt wurde, ist eine der wenigen Erhebungen, in der durch Interviews versucht wird, das subjektive Empfinden der BewohnerInnen und damit die Lebensqualität zu messen. Derzeit liegt ein Instrument vor, das eine Einschätzung der Lebensqualität in ungefähr 1,5 Stunden ermöglicht. Dieses wird momentan in verschiedenen Einrichtungen erprobt und ausgewertet. (vgl. Becker 2005: 108-119). 4

Auswertung und Darstellung der Datenerhebung

Zum Auswerten der gewonnen Daten wurde mittels der qualitativen Inhaltsanalyse das Material auf das Wesentliche reduziert. Danach wurde das Material verschiedenen Kategorien zugeordnet, die mit Hilfe der induktiven Kategorienbildung entwickelt wurden. Die induktive Kategorienbildung ist die Entwicklung von Kategorien (oder Codes) anhand des Textmaterials, unter die die Inhalte oder sonstigen Textmerkmale subsumiert werden können. 4.1

Kategorienbildung

Folgende Kategorien haben sich für die Auswertung der gewonnen Daten ergeben: ƒ

ƒ ƒ ƒ

Selbstbestimmung in Bezug auf Wohnen und Wohnraumgestaltung: Freiwilliger oder unfreiwilliger Einzug in die Einrichtung, Gestaltung des eigenen Zimmers, Gestaltung der Gemeinschaftsräume, Möglichkeiten, die Einrichtung zu verlassen, etc.. Selbstbestimmung in Bezug auf Essen und Trinken: Gestaltung des Speiseplans, Gestaltung von Essenszeiten, Sitzordnung, Beachtung von Vorlieben und Abneigungen, etc.. Selbstbestimmung in Bezug auf Pflege und Betreuung : Wahl der Kleidung, Wahl der Ruhezeiten, Beachtung von Gewohnheiten, Hilfe bei der täglichen Körperpflege, etc.. Selbstbestimmung in Bezug auf soziale Kontakte: Kontakte zu Angehörigen und gesetzlichen Betreuerinnen und Betreuern,

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ƒ

237

Kontakt zu anderen Bewohnerinnen und Bewohnern/Mieterinnen und Mietern, weitere soziale Kontakte, etc.. Selbstbestimmung in Bezug auf Alltagsgestaltung: Möglichkeiten zu hauswirtschaftlichen Tätigkeiten, Aktivierung, Einbeziehung von Angehörigen, Nutzung von Kompetenzen, etc. (vgl. Röhn/Schaider 2009: 98).

Im Folgenden werden die Ergebnisse aus Hausgemeinschaften und Wohngemeinschaften in Bezug auf die einzelnen Kategorien beschrieben. Anschließend werden die Ergebnisse miteinander verglichen, gefolgt von einem Fazit. 4.2

Ergebnisse der Untersuchung

Die BewohnerInnen/MieterInnen sind an verschiedenen Tagen und zu verschiedenen Tageszeiten beobachtet und interviewt worden. Für jeden Einzelnen lag eine Einverständniserklärung des Betreuers/der Betreuerin oder der bevollmächtigten Person vor. Zusätzlich wurden alle MitarbeiterInnen im Vorhinein aufgeklärt. Die BewohnerInnen/MieterInnen zeigten keine Abneigung gegenüber dem Projekt, so dass es kein Problem war, sie für ein Interview zu gewinnen. Schwieriger war es, nicht in das Alltagsgeschehen einzugreifen, um eine möglichst unverfälschte Dokumentation zu ermöglichen. Ziel war es möglichst viele Selbstund Mitbestimmungmöglichkeiten der BewohnerInnen/MieterInnen festzustellen und zu notieren. Die Unterteilung in die Kategorien erfolgte erst bei der Auswertung der Daten. Im Folgenden werden die Ergebnisse der jeweiligen Wohnform, differenziert nach den genannten Kategorien, dargestellt. 4.2.1

Wohngemeinschaften

Der Begriff der Selbstbestimmung wurde in mehrere Kategorien aufgeteilt. Die Aussagen aus den einzelnen Interviews und Beobachtungen wurden den jeweiligen Kategorien zugeordnet: ƒ

Selbstbestimmung in Bezug auf Wohnen und Wohnraumgestaltung Aus Sicht der MieterInnen ist die Selbstbestimmung in Bezug auf diese Kategorie sehr eingeschränkt. Angehörige und gesetzliche BetreuerInnen treffen zum Beispiel die Entscheidung über die Einrichtung der Gemeinschaftsräume und der einzelnen Zimmer, auch wenn dort oft Möbelstücke und Accessoires verschiedener MieterInnen zu finden sind. Es herrscht auch im

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ƒ

ƒ

ƒ

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allgemeinen Freude über die Wiedererkennung eigener Dinge, dennoch fehlt die Erinnerung, wer diese Entscheidungen getroffen hat. Schwieriger stellt sich die Situation durch das Gefühl des „Eingesperrtseins“ dar. Wenn die MieterInnen ohne MitarbeiterIn oder Angehörige die Wohnräume nicht verlassen können, fühlen sie sich unwohl und in ihrer Entscheidungskraft eingeschränkt. In Wohngemeinschaften, in denen dies zum Beispiel durch einen eingezäunten Garten möglich ist, ohne weiteres ins Freie zu gelangen, fühlen sich die MieterInnen bestärkt, diese Entscheidung zu besitzen, zu gehen, wann immer sie möchten. Selbstbestimmung in Bezug aus Essen und Trinken Gemeinsames Essen stellt sich in den Wohngemeinschaften als zentrale Rolle im gemeinsamen Leben der MieterInnen dar. Die Zeiten für die Mahlzeiten sind zwar durch die Gemeinschaft vorgegeben, dennoch besteht die Möglichkeit, auf individuelle Wünsche des Einzelnen einzugehen. MieterInnen, die bestimmte Nahrungsmittel nicht essen, erhalten eine Alternative. Ebenso ist es mit Zwischenmahlzeiten, es steht immer frisches Obst zur Verfügung, welches jede/r MieterIn selbst zu sich nehmen kann. Ähnlich ist es mit Getränken; kalte Getränke stehen jeder Person jederzeit zur Verfügung. Entsprechend ist es mit der Sitzordnung; die MieterInnen haben die Möglichkeit, ihren festen Sitzplatz immer wieder einzunehmen, es ist aber auch freie Platzwahl möglich. Die Selbstbestimmungsmöglichkeiten in dieser Kategorie werden von den Mieterinnen und Mietern wahrgenommen und genutzt. Ist ihnen die Wahrnehmung nicht mehr möglich, kann diese durch die Angehörigen realisiert werden. Selbstbestimmung in Bezug auf Pflege und Betreuung Die Fähigkeiten zur Selbst- und Mitbestimmung im Bezug auf Pflege und Betreuung ist von der jeweiligen körperlichen und geistigen Verfassung der einzelnen Person abhängig. MieterInnen, die keine Hilfe bei der täglichen, persönlichen Pflege brauchen, erfahren ein hohes Maß an Selbstbestimmung. Sie können die Uhrzeit der Körperpflege festlegen und auch die Entscheidung über die getragene Kleidung treffen. MieterInnen, die auf die Hilfe von Pflegekräften angewiesen sind, sind gezwungen, sich nach deren Zeiteinteilung zu richten. Zwar wird auch bei diesen Personen auf Gewohnheiten geachtet, dennoch beeinflussen die MitarbeiterInnen den Tagesablauf der MieterInnen enorm. Selbstbestimmung in Bezug auf soziale Kontakte Soziale Kontakte sind für die meisten MieterInnen von großer Bedeutung. Sie freuen sich über BesucherInnen in der Wohngemeinschaft, unabhängig davon ob es eigene Angehörige oder ehrenamtlich Engagierte sind. Außerhalb der Wohngemeinschaft bestehen keine Kontakte. Dies wird aber sei-

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ƒ

ƒ

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tens der MieterInnen auch nicht verlangt. Der Kontakt zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie zu den anderen Mieterinnen und Mietern ist sehr individuell. Es gibt MieterInnen, die immer wieder Kontakt suchen, andere wiederum ziehen sich lieber zurück. Die Entscheidung und somit die Möglichkeit zur Selbstbestimmung, zu wem Kontakte aufgebaut oder soziale Kontakte gemieden werden, liegt bei jeder Person selbst. Selbstbestimmung in Bezug auf Alltagsgestaltung Grundsätzlich fühlten sich die MieterInnen in den Wohngemeinschaften sehr selbstbestimmt, was die Alltagsgestaltung betrifft. Jede/r kann selbst festlegen, ob er/sie bei hauswirtschaftlichen Tätigkeiten mithelfen möchte. Oft legen Menschen mit Demenz viel Wert auf das Gefühl des „Gebrauchtwerdens“ und freuen sich, wenn sie eingebunden werden. Auch bei gemeinschaftlichen Aktivitäten in der Wohngemeinschaft wie Spazierengehen, gemeinsames Singen, Gymnastik oder Spielnachmittage können die MieterInnen entscheiden, ob sie daran teilnehmen möchten oder nicht. In dieser Kategorie haben die MieterInnen ein Höchstmaß an Selbstbestimmung, wenngleich die Struktur des Tages hauptsächlich durch die Mahlzeiten geprägt ist. Alle Angebote sind freiwillig und können angenommen oder abgelehnt werden. Gesamteinschätzung Wohngemeinschaft Abschließend lässt sich sagen, dass die MieterInnen einer Wohngemeinschaft eine große Chance auf Selbstbestimmung haben, wenn folgende Punkte zutreffen. Die Konzeption der Wohngemeinschaft muss den Mieterinnen und Mietern die Möglichkeit zur Beteiligung bieten. Aber auch Angehörige und gesetzlichen Betreuungspersonen müssen die Gelegenheit haben, Beteiligungsstrukturen insbesondere dann wahrzunehmen, wenn die MieterInnen dazu eigenständig nicht mehr in der Lage sind. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern müssen die Voraussetzungen gegeben werden, die Beteiligung der MieterInnen im Alltag zu fördern. Die Ressourcen und Kompetenzen jeder einzelnen Person müssen entdeckt und gefördert werden. Sie müssen bei Tätigkeiten unterstützt werden, die ihnen noch möglich sind und die sie gerne tun.

4.2.2

Hausgemeinschaft

Die Beobachtungsprotokolle und Interviews wurden anhand der beschriebenen Kategorien analysiert. Im Folgenden werden die Ergebnisse in Bezug auf die Hausgemeinschaften vorgestellt:

240 ƒ

ƒ

ƒ

ƒ

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Selbstbestimmung in Bezug auf Wohnen und Wohnraumgestaltung Die BewohnerInnen können die Einrichtung in ihren Zimmern selbst auswählen, indem sie eigene Möbel mitbringen. Auch die Dekoration in den Gemeinschaftsräumen kann von ihnen mitgestaltet werden. Können die BewohnerInnen diese Wahlmöglichkeiten selbst nicht mehr in Anspruch nehmen, übernehmen es Angehörige für sie. Bei den Beobachtungen zeigt sich, dass die BewohnerInnen im Allgemeinen zufrieden mit den Wohnraumgestaltungen sind und keiner das Bedürfnis zu mehr Selbstbestimmung äußert. Selbstbestimmung in Bezug auf Essen und Trinken Bezogen auf diese Kategorie haben die BewohnerInnen sehr viel Selbstbestimmungsmöglichkeiten. Jederzeit können sie die Art ihres Getränkes wählen und auch bestimmen, wann sie etwas trinken möchten. Aus den Beobachtungen geht hervor, dass das Personal diese Selbstbestimmung stark fördert, indem sie immer mehrere Dinge zu Wahl stellen. Auch den Zeitpunkt der Mahlzeiten kann die einzelne Person festlegen, obgleich es feste Essenszeiten gibt. Die BewohnerInnen haben jederzeit die Möglichkeit, Nahrung zu sich zu nehmen. Sie zeigen sich sehr zufrieden und fühlen sich selbstbestimmt. Sie genießen es, Entscheidungen treffen zu dürfen und diese Wahlmöglichkeiten zu haben. Selbstbestimmung in Bezug auf Pflege und Betreuung Alle BewohnerInnen benötigen Unterstützung oder zumindest Anleitung bei der täglichen Körperpflege. Der Zeitpunkt dafür wird von der einzelnen Person ganz individuell bestimmt und das Personal nimmt Rücksicht darauf. Die BewohnerInnen wählen ihre Kleidung selbst aus. Auch die Betreuung wird von den einzelnen Personen ganz unterschiedlich in Anspruch genommen. Sie entscheiden selbst, ob sie Hilfe benötigen und wenden sich dann bei Bedarf an das Personal. Selbstbestimmung in Bezug auf soziale Kontakte Die BewohnerInnen haben vorwiegend Kontakt zu eigenen Angehörigen. Diese unterstützen sie bei der Wahrnehmung ihrer Selbstbestimmung in Bezug auf die Alltagsgestaltung und das Einrichten des eigenen Zimmers. Eher selten haben BewohnerInnen Kontakt zu anderen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern; vereinzelt helfen sie sich gegenseitig. Auch BewohnerInnen, die sich ein Zimmer teilen, weisen keinen besonders engen Kontakt zueinander auf. Das Personal akzeptiert, wenn BewohnerInnen Kontakt zu anderen ablehnen, versuchen sie dennoch in das Alltagsgeschehen mit anderen einzubeziehen. Kontakte außerhalb der Hausgemeinschaft, außer zu Angehörigen, gibt es kaum. In der Zeit der Interviews und Beobachtungen gab es keinen Kontakt zu ehrenamtlich Engagierten.

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ƒ

ƒ

5

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Selbstbestimmung in Bezug auf Alltagsgestaltung Theoretisch können die BewohnerInnen hauswirtschaftliche Tätigkeiten wahrnehmen und zum Beispiel beim Kochen oder bei der Wäschepflege helfen. Oft möchten die BewohnerInnen jedoch diese Dinge nicht tun. Viele verbringen den Tag in ihrem Zimmer, manche im Gemeinschaftsraum, andere gehen in der Hausgemeinschaft spazieren. Es finden kaum Aktivitäten für alle BewohnerInnen gemeinsam statt, eine Ausnahme stellt die Gymnastik dar, aber auch da ist die Teilnahme freiwillig. Die BewohnerInnen haben immer die Möglichkeit, ihren Alltag selbst zu bestimmen. Das Personal bietet viele Chancen zur Teilnahme an und achtet dabei stets auf die jeweilige Tagesform des Einzelnen. Alle Angebote in der Hausgemeinschaft sind nicht verpflichtend und die BewohnerInnen entscheiden selbständig, ob sie teilnehmen möchten. Gesamteinschätzung Hausgemeinschaft Da die BewohnerInnen der Hausgemeinschaften zum größten Teil nicht mehr ihr Recht auf Selbstbestimmung eigenständig einfordern und umsetzen können, ist es Aufgabe des Personals und der Angehörigen, ihnen die Möglichkeit zur Selbstbestimmung zu geben und zu fördern. Ressourcen und Fähigkeiten jeder einzelnen Peson müssen genutzt werden, wobei das Einbeziehen der individuellen Biografie eine wichtige Rolle spielt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die BewohnerInnen in den Hausgemeinschaften eine Vielzahl an Mit- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten haben, vor allem in den Bereichen Wohnraumgestaltung, Alltagsgestaltung und Pflege. Vergleichende Analyse

Im folgenden Kapitel werden die ausgewerteten Daten beider Wohnformen miteinander verglichen. Dabei wird wieder nach den einzelnen Kategorien differenziert, um so die Unterschiede und Gemeinsamkeiten besser herausstellen zu können. Selbstbestimmung in Bezug auf Wohnen und Wohnraumgestaltung Die eigenen Räumlichkeiten können sowohl in der Wohngemeinschaft als auch in der Hausgemeinschaft eigenständig eingerichtet und gestaltet werden. Können die BewohnerInnen und MieterInnen dies selbst nicht mehr leisten, obliegt diese Aufgabe den Angehörigen. In der Wohngemeinschaft werden auch die Gemeinschaftsräume wie Wohnzimmer, Küche, Esszimmer mit Mobiliar der MieterInnen eingerichtet, um ein größtmögliches Gefühl von Zuhause herzustellen. In

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beiden Einrichtungen gab es jeweils Räume, die nur für das Personal zugänglich waren, in denen Medikamente und Unterlagen aufbewahrt wurden. Der größte Unterschied in dieser Kategorie ist sicherlich die uneingeschränkte Bewegungsmöglichkeit, die die BewohnerInnen der Hausgemeinschaft haben, da sie im ganzen Haus „spazieren“ gehen können, ohne vor verschlossenen Türen zu stehen. Falls sie den Weg zurück nicht finden, werden sie vom Personal begleitet. Dies ist leider in der Wohngemeinschaft nicht möglich. Die Türen nach außen sind immer verschlossen. Die MieterInnen können nur mit Hilfe des Personals nach draußen. Gerade für RaucherInnen stellt dies eine starke Beschneidung ihrer Selbstbestimmung dar, da sie immer auf Zeit des Personals angewiesen sind, welches sie nach draußen begleiten muss. Selbstbestimmung in Bezug auf Essen und Trinken Gemeinsam haben beide Wohnformen, das zwar auf Vorlieben der MieterInnen/BewohnerInnen bei Speisen und Getränken geachtet wird. Vor allem bei Frühstück und Abendessen darf jede/r selbst entscheiden, was er/sie zu sich nehmen möchte. Auch beim Mittagessen wird berücksichtigt, was BewohnerInnen/MieterInnen gerne mögen. Letztendlich entscheiden aber die MitarbeiterInnen, was es zu essen gibt. In den Wohngemeinschaften wird das Mittagessen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Mieterinnen und Mietern gemeinsam zubereitet, in der Hausgemeinschaft wird es durch die Großküche gekocht. Ein weiterer Unterschied zeigt sich bei den Zeitkorridoren der Mahlzeiten. In der Hausgemeinschaft kann der Zeitpunkt des Essens individuell festgelegt werden, was in den Wohngemeinschaften nur beim Frühstück möglich ist. Auch ist es in den Hausgemeinschaften möglich, eine Mahlzeit zweimal zu erhalten, wenn der Bewohner/die Bewohnerin der Meinung ist, eine Mahlzeit verpasst zu haben und nach einer weiteren verlangt. Für diesen Fall steht in der Wohngemeinschaft Obst zur Verfügung. Getränke, wie Wasser und Saft stehen in beiden Einrichtungstypen jederzeit zur Verfügung, in der Hausgemeinschaft auch Kaffee und Tee. Selbstbestimmung in Bezug auf Pflege und Betreuung BewohnerInnen und MieterInnen, die bei der täglichen Körperpflege nicht auf die Hilfe von Pflegepersonal angewiesen sind, können selbst entscheiden, wann und wie sie diese gestalten. Die BewohnerInnen der Hausgemeinschaft, die Unterstützung des Pflegepersonals benötigen, können den Zeitpunkt der Körperpflege selbst bestimmen. Es wird sehr auf Gewohnheiten und Vorlieben des Einzelnen geachtet; auch die Wahl der Kleidung treffen die BewohnerInnen selbst. In den Wohngemeinschaften übernimmt ein ambulanter Pflegedienst die Körperpflege der MieterInnen. Dieser kommt zu einer bestimmten Zeit in die

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Wohngemeinschaft, unterstützt die MieterInnen bei der Körperpflege und verlässt dann die Wohngemeinschaft wieder. Sicherlich wird auch dort in gewisser Weise auf die Vorlieben der MieterInnen geachtet, doch die Flexibilität, die das Personal in den Hausgemeinschaften hat, steht dem Pflegepersonal des ambulanten Dienstes nicht zur Verfügung. Sie stehen oft unter Zeitdruck, was ein selbstbestimmtes Entscheiden der MieterInnen zum Beispiel bei der Kleidungswahl kaum zulässt, da dies mit „Mehrzeit“ verbunden ist. Selbstbestimmung in Bezug auf soziale Kontakte In beiden Wohnformen gehören MitarbeiterInnen sowie Angehörige und gesetzliche BetreuerInnen zu den regelmäßgen Kontakten der BewohnerInnen und MieterInnen. Sowohl in Haus- als auch in Wohngemeinschaft gibt es AlltagsbegleiterInnen, die gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern/Mieterinnen und Mietern den Tag verbringen und gestalten. In den Wohngemeinschaften werden die Angehörigen aber mehr in das Alltagegeschehen eingebunden, als das in in den Hausgemeinschaften der Fall ist. Angehörige begleiten bei Ausflügen, gestalten Nachmittage mit kleineren Gruppen von zwei bis vier Personen oder bringen selbstgebacken Kuchen vorbei und trinken mit allen gemeinsam Kaffee. Dabei kann jede/r MieterIn individuell entscheiden, ob er Kontakt zu einem „fremden“ Angehörigen annimmt, wobei BesucherInnen bei allen immer gern gesehen sind und es selten Kontaktschwierigkeiten gibt. Eine andere Möglichkeit, bei der die MieterInnen der Wohngemeinschaft indirekt ihre Selbstbestimmung in Bezug auf soziale Kontakte in Anspruch nehmen können, ist die Auswahl von neuen Mieterinnen und Mietern. Die Angehörigengemeinschaft entscheidet, wer neu in die Wohngemeinschaft einziehen darf. Dabei versuchen die Angehörigen im Sinn der MieterInnen zu handeln. In der Hausgemeinschaft entscheidet die Heimleitung über den Neueinzug, andere BewohnerInnen haben darauf keinen Einfluss. Der einzige Aspekt bei dem weder BewohnerInnen noch MieterInnen Einfluss genießen, ist das Personal. Zwar können in den Wohngemeinschaften die MieterInnen ihren Pflegedienst frei wählen, dennoch müssen sie das vom Pflegedienst ausgewählte Personal akzeptieren. Die größte Möglichkeit zur Selbstbestimmung in dieser Kategorie zeigt sich in der Wahl der Kontakte unter den Bewohnerinnen und Bewohnern sowie den Mieterinnen und Mietern. Sie können jeweils selbst entscheiden, ob und zu welcher Person sie Kontakt aufbauen. Auch wird keiner durch das Personal gezwungen, Kontakt zu anderen aufzunehmen; Rückzug oder Ablehnung wird gleichmaßen akzeptiert.

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Selbstbestimmung in Bezug aus Alltagsgestaltung In beiden Wohnformen ist der Tagesablauf stark durch die Mahlzeiten strukturiert. Sie stehen im Mittelpunkt des Tagesgeschehens. Die Annahme der übrigen Aktivitätsmöglichkeiten wird von den Bewohnerinnen und Bewohnern sowie den Mieterinnen und Mietern selbst bestimmt. In den Wohngemeinschaften stehen hier vor allem hauswirtschaftliche Tätigkeiten im Vordergrund, an denen sich alle MieterInnen beteiligen können. In der Hausgemeinschaft ist das weniger der Fall, da die Demenz der BewohnerInnen meist weiter fortgeschritten ist. Aber auch die Konzepte der jeweiligen Wohnform spielt dabei eine große Rolle. Sind die Konzepte der Wohngemeinschaften auf die gemeinsame Ausführen von hauswirtschaftlichen Arbeiten fokusiert, um sich möglichst nah an einem Alltag im eigenen Haushalt zu orientieren, ist dies in der Hausgemeinschaft weniger der Fall. Zwar gibt es auch dort gemeinsame Aktivitäten, diese orientieren sich aber weniger an der Hauswirtschaft, da die Hausgemeinschaft zentral versorgt wird. Der Vorteil der Hausgemeinschaft ist eine individuellere Betreuung der einzelnen BewohnerInnen, die in den Wohngemeinschaften aufgrund der Vielzahl der hauswirtschaftlichen Tätigkeiten zeitlich nicht möglich ist. Gemeinsam ist beiden Wohnformen, dass die BewohnerInnen und MieterInnen immer die Wahl haben, an den jeweiligen Aktivitäten teilzunehmen, sich lieber in das eigene Zimmer zurück zu ziehen oder aber sich allein in den Gemeinschaftsräumen zu beschäftigen. Hier zeigt sich – unabhänig vom Einrichtungstyp - das größte Maß an Selbstbestimmung. 6

Fazit

Ausgehend von der Frage, ob in beiden Wohnformen ein gleich hohes Maß an Selbstbestimmung möglich ist, kann dies nach der vorrausgegangenen Darstellung der Ergebnissen nur bestätigt werden. Es lässt sich festhalten, dass in beiden Wohnformen eine Vielfalt an Selbstbestimmungsmöglichkeiten besteht, was jedoch an unterschiedliche Faktoren geknüpft ist. Kognitive und körperliche Fähigkeiten sind ausschlaggebend, inwieweit die einzelne Person den Alltag selbstbestimmt leben kann. Es ist bekannt, dass mit dem Fortschreiten der demenzielle Erkrankung auch eine Abnahme der kognitiven Fähigkeiten einhergeht. Verfügt der Einzelne noch über genügend Ressourcen, seine Wünsche und Vorstellung mitzuteilen und umzusetzen, steht ihm in beiden Wohnformen ein hohes Maß an Möglichkeiten zur Selbstbestimmung zur Verfügung.

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Desweiteren spielen die Angehörigen, gesetzlichen BetreuerInnen sowie MitarbeiterInnen eine wesentliche Rolle. Sie müssen die Möglichkeiten der BewohnerInnen/MieterInnen zur Selbstbestimmung wahrnehmen und fördern, wenn diese dazu selbständig nicht mehr in der Lage sind. Ihre Aufgabe ist es aber auch, die Möglichkeiten zur Selbstbestimmung aufzuzeigen und sich die Zeit zu nehmen, die Entscheidung der BewohnerInnen/MieterInnen abzuwarten, aber auch im Gespräch Vorlieben und Neigung zu erkennen und diese zu berücksichtigen. Auch konzeptionell muss dass Thema „Selbstbestimmung“ in den Einrichtungskonzeptionen und Leitbildern verankert sein. Werden diese Merkmale berücksichtigt und erfüllt, ist es für den Menschen mit Demenz unerheblich in welcher Wohnform er ein Zuhause findet. „Die Aufgabe der Sozialen Altenarbeit, im Sinne der lebensweltorientierten Sozialarbeit, ist es, die Lebenswelt jedes einzelnen Bewohners/Mieters in die Arbeit im Alltag mit einzubeziehen, Kompetenzen und Ressourcen zu fördern und dem Menschen mit Demenz ein Gefühl von Zuhause zu geben“ (Röhn, Schaider, 2009: 131).

Es ist zu erwarten, dass die Zahl der Menschen mit Demenz steigt. Daher wird es auch die Aufgabe der Sozialen (Alten-)Arbeit sein, Konzepte für Wohnmöglichkeiten für Menschen mit Demenz zu entwickeln und zu fördern sowie Steuerungsaufgaben in Wohn- und Hausgemeinschaften zu übernehmen. Literatur Alzheimer-Gesellschaft Brandenburg e.V./Institut für Gerontologie und Bildung (2005): Ambulante Betreuung von Menschen mit Demenz in Wohngemeinschaften – Checkliste zum Leitfaden zur Struktur- und Prozessqualität, Berlin. Becker, Stephanie (2005): Das Heidelberger Instrument zur Erfassung von Lebensqualität bei Demenz (H.I.L.D.E.). Dimensionen von Lebensqualität und deren Optionalisierung, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, Band 38, S. 108-121. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ((2002): Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Risiken, Lebensqualität und Versorgung Hochaltriger – unter besonderer Berücksichtigung demenzieller Erkrankung, Berlin. Blonski, Harald (1997): Wohnformen im Alter. Ein Praxisberater für die Altenhilfe, Basel. Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg) (2000): Hausgemeinschaften. Die 4.Generation des Altenpflegeheimbaus, Köln. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2004): Altenhilfestrukturen der Zukunft. Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung zum Bundesmodellprogramm, Berlin.

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V.

V. Alter(n) und Soziale Arbeit

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Lebensweltorientierte Soziale (Alten-)Arbeit

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Lebensweltorientierte Soziale (Alten-)Arbeit Johanna Hildebrandt

Der nachfolgende Beitrag widmet sich zunächst dem Theorieverständnis bzw. dem Theorie- und Praxisverhältnis in der Sozialen Arbeit. Daran anknüpfend wird der Bereich der Sozialen (Alten-)Arbeit vorgestellt, seine Entwicklung und Differenzierung skizziert sowie die perspektivischen Herausforderungen benannt, die sich in diesem Arbeitsfeld unter besonderer Berücksichtigung des Ansatzes der Lebensweltorientierung aufzeigen. 1

Theorieverständnis in der Sozialen Arbeit

Nach Engelke (2003) sind als Theorien der Sozialen Arbeit all jene Aussagezusammenhänge zu bezeichnen, die sich auf die Bewältigung sozialer Probleme beziehen. Die Geschichte der Sozialen Arbeit zeigt deutlich, dass schon in der Vergangenheit über das spontane Handeln und Reagieren auf persönliche und soziale Notlagen hinaus soziale Probleme systematisch untersucht, mögliche Bewältigungsformen eruiert und so gewonnene Erkenntnisse in Theoriesysteme und Handlungsmodelle zusammengefasst wurden. In der deutschsprachigen Fachliteratur werden in den letzten drei Jahrzehnten mit geringen Abweichungen überwiegend dieselben Personen aufgeführt, die relevante Theorien für die Soziale Arbeit entwickelt haben. Es handelt sich hierbei fast ausschließlich um deutschsprachige Autorinnen und Autoren, was allerdings nicht bedeutet, dass außerhalb Deutschlands keine derartigen Theorien entwickelt wurden und werden. Bislang hat eine wechselseitige Kenntnisnahme in diesem Bereich kaum stattgefunden. Betrachtet man den internationalen Theorienreichtum der Sozialen Arbeit näher, so wird deutlich, dass Theoriebildungen der Sozialen Arbeit geprägt sind von landesspezifischen Denkweisen und Gewohnheiten und sich dementsprechend erheblich unterscheiden. Als Gemeinsamkeit gilt für die Theoriebildung in Europa und Nordamerika der Einfluss des Christentums, der den Rechten des Individuums einen höheren Stellenwert beimisst als denen der Gesellschaft (vgl. ebd.: 363 ff.). Da sich außer der Sozialen Arbeit auch andere Wissenschaftsdisziplinen mit der sozialen Problematik und deren Bewältigungsmöglichkeiten befasst haben und befassen, ist klar, dass auch von Seiten der Bezugswissenschaften theoretische Modelle diesbezüglich entwickelt wur-

G. Kleiner (Hrsg.), Alter(n) bewegt, DOI 10.1007/978-3-531-94258-2_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

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den und werden. Diese wiederum sind in vielfältiger Weise in die Theorien der Sozialen Arbeit eingeflossen, so dass man sagen kann, dass es sich hierbei nur um „relativ autonome“ (ebd.: 372) Theorien handelt. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass die Verwendung des Begriffes ‚Theorie’ in der Sozialen Arbeit eher diffus als von Klarheit geprägt ist. Bei näherem Betrachten des Materials, das innerhalb dieser Disziplin als ‚Theorien’ gehandelt wird, „verschwimmen rasch die Konturen dessen, was Theorie überhaupt ist oder wenigstens sein könnte“ (Rauschenbach/Züchner 2002: 139).

Häufig werden verschiedene Ausprägungen wissenschaftlichen Arbeitens mit dem Etikett ‚Theorie’ versehen, wo es sich wohl eher um Ideen oder konzeptionelle Entwürfe handelt. Zur Annäherung an dieses Themengebiet ist es daher notwendig, vorhandene ‚Theorien’ nicht nur gemäß ihrem historisch-systematischen Sinngehalt darzustellen, sondern ebenfalls deren Kontextbedingungen in den Blick zu nehmen, um zu erkennen, welches Theorieverständnis sich hinter der jeweiligen ‚Theorie’ verbirgt. Die Beschreibung einer Theoriekonstruktion in der Sozialen Arbeit als Wissenschaft wird außerdem dadurch erschwert, dass der bisherige Theoriebestand bislang unzulänglich systematisch aufgearbeitet wurde, d.h., dass eher Personen, Begriffe oder Konzepte im Vordergrund stehen, als tatsächlich ‚Theorien’ (vgl. ebd.: 140). Eine wissenschaftliche Disziplin hat sich außer über eigene Theoriebildung, Methoden und Forschung zunächst über einen ihr eigenen Gegenstand zu definieren. Lange Zeit wurde bei der Gegenstandsbestimmung in der Sozialen Arbeit der Fokus auf ‚soziale’ Probleme bzw. Problemlagen gelegt. Hierbei handelt es sich, soziologisch betrachtet, um Probleme bezogen auf eine Gruppe bzw. eine Vielzahl von Betroffenen. Soziale Arbeit hat es allerdings auch mit ‚individuellen’ Problemlagen zu tun, so dass Lüssi (1991) beispielsweise ein sozialarbeitsrelevantes Problem durch folgende drei Merkmale klassifiziert: Not, subjektive Belastung und Lösungsschwierigkeiten (vgl. ebd.: 84). Klüsche (1999) weist darauf hin, dass es vor einer Gegenstandsbestimmung der Wissenschaft der Sozialen Arbeit zu einer Gegenstandsbestimmung der Sozialen Arbeit kommen muss (vgl. ebd.: 43 f.). Er erhofft sich davon ein Aufbrechen der Differenzen zwischen ‚Theoretikern’ und ‚Praktikern’, also den zwei im Bereich der Sozialen Arbeit nebeneinander stehenden Systemen, nämlich dem Handlungssystem (Praxis oder Profession) und dem Wissens- und Kommunikationssystem (Disziplin): „Diese doppelte Gegenstandsbestimmung könnte für Praktiker wie Theoretiker Ausgangspunkt und Anreiz sein, in eine umfassende und von einer gegenseitigen Zielsetzung geleitete Auseinandersetzung einzutreten“ (ebd.: 44).

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Klüsche formuliert als Gegenstand Sozialer Arbeit „die Bearbeitung gesellschaftlich und professionell als relevant angesehene Problemlagen“ (ebd.: 45).

Diese Definition stellt klar, dass es nicht ausreicht, individuelle Problemlagen wahrzunehmen und deren Bearbeitung zu fordern, sondern vor jeder Problembearbeitung muss geklärt werden, „ob das jeweilige Problem bearbeitungsbedürftig und bearbeitungswürdig weil gesellschaftlich verursacht und/oder gesellschaftlich relevant ist“ (ebd.: 49).

Definiert man die Wissenschaft der Sozialen Arbeit als „Lehre von den Definitions-, Erklärungs- und Bearbeitungsprozessen gesellschaftlicher und professioneller als relevant angesehener Problemlagen“ (ebd.: 50),

so hat eine solche Wissenschaft die Aufgabe eine entsprechende Diskussion anzuregen und mit dem Ziel der Objektivierung zu strukturieren. Demnach ist die Wissenschaft der Sozialen Arbeit sowohl professions-, als auch disziplingründend, indem sie „das Forum und die Mittel zur stetigen Weiterentwicklung der Fachfragen, zur Auseinandersetzung mit sozialem Wandel und seinen Folgen für die Soziale Arbeit bereitstellt“ (ebd.: 51).

Theorien der Sozialen Arbeit, also Gegenstandserklärungen über die Entstehung von Problemlagen, die von der Gesellschaft und den Professionellen als relevant für sozialarbeiterische Erkenntnis- und Bearbeitungsprozesse angesehen werden, können gesellschaftliche Wirklichkeit nicht direkt und ungefiltert, gewissermaßen aus unmittelbarer Anschauung, in sich aufnehmen, sondern sie basieren letztlich auf der verfügbaren Semantik und den zugänglichen Diskursen über die gesellschaftliche Wirklichkeit (vgl. Rauschenbach/Züchner 2002: 146). Nach Füssenhäuser/Thiersch (2001) ist Thema einer Theorie Sozialer Arbeit das Theorie-Praxis-Verhältnis, nämlich „die wissenssoziologische Frage nach der Differenz der unterschiedlichen Wissensformen in Theorie und Praxis, dem Disziplin- und Professionswissen, die die doppelte Verfasstheit der Sozialen Arbeit widerspiegeln“ (ebd.: 1882).

Soziale Arbeit produziert einerseits selbst theoretische Erkenntnisse, andererseits ist sie eingebunden in ein handlungspraktisches Umfeld. Professionelle Soziale

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Arbeit setzt also voraus, dass die handelnden SozialarbeiterInnen zum einen in der Lage sind, ihre praktische Arbeit theoretisch zu reflektieren, zum anderen aber auch Theorien in ihr Handeln integrieren können. Kleve (2003) versteht Theorie und Praxis als jeweils unterschiedliche Seiten derselben Form: Die theoretische Reflexion des Handelns zwinge dazu, die Unterscheidung Praxis/Theorie bei der Selbstbeobachtung „als Differenzschema zur Informationsgewinnung zugrunde zu legen“ (ebd.: 19); die Form der Differenz Theorie / Praxis verdeutliche, dass es einen Unterschied mache, ob theoretisch reflektiert oder praktisch gehandelt werde. Diese Differenzierung lasse weitere Erkenntnisse zu, ob z.B. „theoretisch begründbar ist, wie praktisch gehandelt wurde oder ob mit Hilfe der Theorie andere Handlungsmöglichkeiten konstruierbar sind als jene, die möglicherweise erfolglos angewendet wurden“ (ebd.: 20).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die zwei Seiten der Form Theorie / Praxis sich wechselseitig bedingen bzw. sich jeweils gegenseitig voraussetzen. Nach Kleve ist es eine Illusion zu glauben, man könne diesen Zirkel durchbrechen und letztbegründetes objektives Wissen erlangen: „Wir oszillieren vielmehr zwischen den beiden Seiten, das heißt theoretisches Wissen verweist auf die Praxis, während die praktische Erfahrung auf die Theorie verweist“ (ebd.: 21).

Sobald Praktiker ihr Handeln reflektieren, begeben sie sich quasi auf die Seite der Theorie: sie werden gewissermaßen zu Wissenschaftlern ihrer Praxis. 2

Soziale (Alten-)Arbeit

In dem von Petzold/ Petzold (1991) herausgegebenen Buch mit dem Titel ‚Lebenswelten alter Menschen’ trifft Kriwitz folgende Aussage: „Das Konzept der Lebenswelt (…) hat in den letzten Jahren – zusammen mit dem des Alltags – in den Sozialwissenschaften zunehmend an Bedeutung gewonnen“ (ebd.: 2).

Dagegen formulieren Jansen/Karl (1997) wenige Jahre später, dass das Konzept der Lebensweltorientierung immer stärker dem Konzept der Kundenorientierung zum Opfer falle (vgl. ebd.: 19). Besonders im Bereich der Sozialen (Alten-)Arbeit hat der Ansatz der Lebensweltorientierung im Gegensatz zu anderen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit

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wie z.B. dem der Jugendhilfe bzw. des Allgemeinen Sozialen Dienstes bislang wenig Beachtung gefunden. Bevor Gründe hierfür benannt bzw. Schlussfolgerungen daraus gezogen werden, soll zunächst die Entwicklung und Differenzierung Sozialer (Alten-)Arbeit kurz skizziert werden. Soziale (Alten-)Arbeit hat heute ihren Ausgangspunkt in einer starken Pluralisierung der Altenpopulation: „Leben im Alter erfährt im Rahmen der reflexiven Moderne einen Entstandardisierungsschub, welcher zu einer erheblichen inneren Differenzierung geführt hat“ (Schweppe 2010: 505).

Aufgrund generell verbesserter finanzieller und gesundheitlicher Ressourcen lässt sich dieser Lebensabschnitt nicht mehr von vornherein auf fixierte und standardisierte Lebensentwürfe festlegen (vgl. BMFSFJ 1998). Alter ist zu einer eigenständigen Lebensphase geworden mit erweiterten Handlung- und Gestaltungsspielräumen. Die heutigen Gestaltungsanforderungen an das Alter bringen ihrerseits neue Risiken mit sich, die verknüpft sind mit gestiegenen Möglichkeiten von Lebensautonomie und den sich daraus neu ergebenden Konflikten. Als besonders zentral kristallisieren sich hier Fragen der Sinnfindung, des Knüpfens neuer Netzwerke aufgrund der Veränderung bzw. Auflösung traditioneller Gemeinschaften, des Wohnens sowie der Orientierung in einem immer komplexer werdenden Alltag heraus.1 Diese Veränderungen des Alters bedeuten allerdings nicht die Auflösung der klassischen Altersrisiken wie Armut, Einsamkeit sowie physische, psychische und geistige Regression. Vielmehr konzentrieren sich diese Abbauprozesse durch die Zunahme von Hochaltrigkeit immer stärker und lassen diese letzte Lebensphase als besonders Problem beladen erscheinen. Noch in den 1980er-Jahren unterscheidet Soziale Arbeit mit älteren Menschen zwischen ‚Altenhilfe’, die sich, ausgerichtet an einem defizitären Alter(n)sbild, mit versorgenden, betreuenden und pflegenden Maßnahmen befasste, und der ‚Altenarbeit’ mit ihren Bildungs-, Beratungs- und Aktivierungsangeboten. Die ‚Altenhilfe’ findet ihre gesetzliche Grundlage in § 75 BSHG2 und soll dazu beitragen, die Schwierigkeiten, die durch das Alter entstehen, zu überwinden bzw. abzumildern. In den 1990er-Jahren findet eine Weiterentwicklung sozialarbeitswissenschaftlicher Grundlagen überwiegend in anderen Fachdisziplinen statt, insbesondere innerhalb der Psychologie, Pädagogik und Soziologie. Aus der Sozialarbeit heraus kommt es in der Sozialen (Alten-)Arbeit zur Entwicklung erster gemein1 2

Vgl. Beitrag J. Hildebrandt, „Lebenswelt im Wohnkontext“ in diesem Band. Vgl. Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in der Fassung vom 27.12.2003, http://www.sozialgesetzbuch.de/gesetze/13/index.php?norm_ID=1307500; Zugriff am 14.06.2011.

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wesenorientierter Ansätze, dem Einsatz von Case-Management sowie dem Konzept zugehender Beratung (vgl. Kleiner 2005: 57 f.). Bereits 1990 schreibt Karl: „Die heutige Altenhilfe ist in die Rolle der sozialen Feuerwehr gedrängt – sie setzt zu spät ein und kann unter den gegenwärtigen personellen und konzeptuellen Bedingungen nur auf die wachsenden Anforderungen reagieren. Präventive und gestaltende Ansätze kommen zu kurz“ (ebd.: 9).

Böhnisch (1997) integriert in seine „Sozialpädagogik der Lebensalter“ die Lebensphasen ‚Erwachsenenalter’ und ‚Alter’, und Schweppe (1996) benennt in ihrer Forschung Schwerpunkte wie Biographieorientierung, Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen. Als maßgeblich für die Soziale (Alten-) Arbeit hat Zeman (1998) die Autonomie-, die Lebenswelt-, die Biographie- und die Kompetenzorientierung entwickelt, deren Gesamtziel es ist, „dass die demographisch alternde Gesellschaft lernt, mit ihrem eigenen Älterwerden so umzugehen, dass auch unterschiedliche Bedürfnisse der Generationen auf Basis eines generationenübergreifenden gesellschaftlichen Interesses an Bestandssicherung, Entwicklung und Humanisierung realisiert werden können und dafür auch die Kompetenzen der Älteren eingebracht werden“ (ebd.: 242).

Die Arbeitsfelder sozialer Altenarbeit unterteilen sich traditioneller Weise in den offenen, ambulanten, teilstationären und stationären Bereich (vgl. Schweppe 2010: 506 ff.) Bisherige Angebote Sozialer (Alten-)Arbeit gehen nur sehr begrenzt auf die massiven Veränderungsprozesse hinsichtlich Pluralisierung und Differenzierung von Lebensformen in dieser Altersgruppe ein. Nur ansatzweise konnte in der Vergangenheit die immer wieder geforderte Kooperation und Koordination von Diensten, Verknüpfungen zu anderen Politik- und Bedarfsbereichen sowie eine gemeinwesenorientierte Altenarbeit realisiert werden (vgl. Kleiner 2005: 58). Soziale Arbeit hat in Bezug auf die Arbeitsfelder mit älteren Menschen die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse bisher zu wenig reflektiert und versäumt, Schlussfolgerungen für die Entwicklung zeitgemäßer Handlungskonzepte zu ziehen. Es ist ihr bislang nur unzureichend gelungen, in diesem Arbeitsbereich eine eigene Identität zu entwickeln, was teilweise in der besonderen Schnittstellenproblematik zu Medizin und Pflege begründet ist. Soziale (Alten-) Arbeit ist gefordert, zur Profilierung anderen Professionen gegenüber theoriegeleitete Handlungskonzepte zu entwickeln, um so ihr eigenes methodisches Handeln fortzuentwickeln. Im Folgenden soll auf die Lebensweltorientierung als einer möglichen Strukturgröße in der Sozialen (Alten-)Arbeit eingegangen werden.

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Lebensweltorientierung und Soziale (Alten-)Arbeit

Die Tatsache, dass eine theoriegeleitete Orientierung an der Lebenswelt bisher wenig Einfluss auf die Konzeptentwicklung Sozialer (Alten-)Arbeit genommen hat, sieht Kleiner (2005) darin, dass in der Vergangenheit der Fokus Sozialer Arbeit stark defizitorientiert auf die Aspekte der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit ausgerichtet war, so dass dem von Thiersch u.a. entwickelten Rahmenkonzept zur sozialwissenschaftlichen Theoriebildung nicht die angemessene Beachtung zuteil wurde (vgl. ebd.: 59). Lebensweltorientierung fordert ein, die (alten) Menschen in ihren lebensweltlichen Kontexten wie Biografien, Ressourcen und Perspektiven wahrzunehmen und dabei ihren objektiven Lebenszusammenhängen sowie subjektiven Erlebenssituationen Rechnung zu tragen. Thiersch (2002) beschreibt es wie folgt: „Lebenswelt als Ausgangspunkt Sozialer Arbeit verweist so auf die Notwendigkeit einer konsequenten Orientierung an den Adressat/innen mit ihren spezifischen Selbstdeutungen und Handlungsmustern in den gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen und den sich für sie daraus ergebenden Schwierigkeiten und Optionen“ (ebd.: 129).

Handlungsmaximen, die als charakteristisch für eine Lebensweltorientierte Soziale Arbeit gelten (vgl. Grunwald und Thiersch 2004: 26 ff.), werden im Folgenden auf das Handlungsfeld Sozialer (Alten-)Arbeit hin konkretisiert: ƒ

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Prävention Hier sind insbesondere ambulante Strukturen zu schaffen, die es den (alten) Menschen ermöglichen, auf ihre Lebenswelt bezogene präventive Angebote wahrzunehmen. Diese sollten im Sinne eines ganzheitlichen (rehabilitativen) Ansatzes sowohl im gesundheitlichen als auch im soziokulturellen Bereich angesiedelt sein. Alltagsnähe In erster Linie ist damit gemeint, dass eine wesentliche Voraussetzung für die Nutzung von Angeboten im Alter ihre Erreichbarkeit darstellt, d.h. konkret: Abbau von Zugangsbarrieren. Des Weiteren bedeutet Alltagsnähe aber auch Orientierung am Alltag durch Bezugnahme auf Situationen des täglichen Lebens. Wohnung und Wohnumfeld mit ihren Lebensdimensionen als emotionaler-, sozialer- sowie als Handlungsraum sind in ihrer Bedeutung für die Ermöglichung einer selbst bestimmten Lebensführung wahrzunehmen. Integration Das Recht auf Verschiedenheit auf der Basis elementarer Gleichheit trifft in vielfältiger Weise auch für den Bereich alter Menschen zu, z.B. beim Ver-

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hältnis der Generationen bzw. der Kulturen zueinander, aber auch im Zusammenleben unterschiedlicher sozialer Schichten. Es ist anzustreben, ohne die gängigen Formen von Ausgrenzung und Unterdrückung ein Zusammenleben in gegenseitigem Respekt unter Wertschätzung der jeweiligen Unterschiedlichkeiten zu ermöglichen. Partizipation Beteiligung und Selbstbestimmung als wesentliche Prinzipien Sozialer Arbeit implizieren gerade im Bereich der Arbeit mit alten Menschen die Ermöglichung zu deren Mitbestimmung bei der Planung, Entwicklung und Durchführung von Maßnahmen. Bedingungen der Partizipation sollten nicht für, sondern von und mit den alten Menschen definiert werden. Dezentralisierung/Regionalisierung/Vernetzung Hier gilt es, nach dem Motto ‚ambulant vor stationär’, zu einer Umkehr weg von der starken Zentralisierung von Einrichtungen und Angeboten der vergangenen Jahrzehnte hin zu regionalisierten Vernetzungsstrukturen zu kommen. Gemeinwesenorientierte Stadtteilprojekte sind hier bei der Angebotsplanung für alte Menschen ebenso zu favorisieren wie die Förderung neuer Wohnmodelle, auch mit der Zielsetzung, das Zusammenleben der Generationen zu fördern. Einmischung Soziale (Alten-)Arbeit wird sich zunehmend kritisch in die verschiedenen Facetten der (Sozial-)Politik einzubringen haben, so z.B. durch Ressort übergreifende Initiativen in Bereichen wie Sozial-, Gesundheits-, Wohnungs-, Verkehrs- und Wirtschaftspolitik. Nicht die Problembeschreibung der alten Menschen als einer gesellschaftlich ausgegrenzten Gruppe gilt es zu thematisieren, sondern den Prozess der Ausgrenzung selbst und die Möglichkeiten der Veränderung ursächlicher Strukturen in der Gesellschaft.

Bereits die Ergebnisse der Berliner Altersstudie belegen eine wenig optimistische Sicht der zukünftigen Situation der Hochaltrigen und fordern dazu auf, „neue Formen des Lebens in und mit dem sehr hohen Alter, das stark durch geistigsensorische Beeinträchtigungen, Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit bestimmt ist, zu finden“ (Mayer und Baltes 1996: 631).

Der Entwicklungsstand einer Gesellschaft wird in Zukunft auch daran zu messen sein, ob sie menschenwürdige Formen des Lebensendes entwickelt und stützt. In der allerletzten Phase des Lebens ist „die persönliche, familiäre und gesellschaftliche Not am größten, und in dieser Altersgruppe geschieht es am häufigsten, daß (!) die Probleme der alten Menschen und derjenigen, die sie betreuen, verdrängt und vergessen werden“ (ebd.: 632).

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Gerade in diesem Bereich werden sich vermehrt Handlungsfelder Sozialer Arbeit eröffnen, die alle Beteiligten vor neue Herausforderungen stellen. Zukünftig wird die Differenzierung der Zielgruppen eine Fülle unterschiedlichster Anbieter von Leistungen für ältere Menschen bedingen, die weit über den Bereich der traditionellen Altenarbeit hinausreichen. Die Einführung der Pflegeversicherung hat gesellschaftspolitisch zu einer Fokussierung auf den Bereich der Pflegepolitik und zu einer Vernachlässigung der Handlungsbereiche Sozialer (Alten-)Arbeit geführt. Hinzu kommt, dass die wachsenden Finanzierungsprobleme in den öffentlichen Haushalten stellenweise dazu führen, kommunale Altenplanung mit wirtschaftlichen Kriterien wie Nachfragesteuerung und Preiswettbewerb zu verbinden, wodurch konventionelle Formen der Bedarfssteuerung zunehmend außer Kraft gesetzt werden (vgl. Zeman 2000). Soziale Altenarbeit wird sich in Zukunft dem wachsenden Anteil hilfsbedürftiger und häufig allein lebender hochaltriger Menschen zuwenden müssen, da diese aufgrund ihrer Lebenslage verstärkt von sozialer Ausschließung bedroht sind. Als besonders problematisch erweist sich hier die mangelnde Koordination von sozialstaatlichen Leistungen und deren Leistungserbringern: „Das Fehlen einer leistungsrechtlichen Koordination und Integration setzt sich fort auf der Ebene der Leistungserbringung sowie auf der Ebene der Infrastruktursicherung. Insbesondere die fehlende Koordination auf der Ebene der Leistungserbringung stellt sich als problematisch dar“ (BMFSFJ 2002: 340).

Hier ist zur Ermöglichung der Inanspruchnahme von entsprechenden Leistungen ein hoher Bedarf an Beratung und Unterstützung von Seiten der Professionellen aus dem Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit gefordert, um den Betroffenen zu ihrem Recht zu verhelfen. Grundsätzlich wird die Soziale (Alten-)Arbeit sich mit der Frage auseinander zusetzen haben, inwieweit sich gesellschaftliche Strukturen auf die veränderten Altersphasen eingestellt haben und ihnen entsprechen bzw. inwieweit sich Diskrepanzen zwischen gesellschaftlichen Institutionen und den Bedürfnissen und Lebenslagen der alten Menschen auftun. Hier kann ihr die Funktion zukommen, soziale Räume zu öffnen, bereitzustellen oder zu fördern und zur Schaffung bzw. Verbesserung jener Milieubedingungen beizutragen, die Partizipation und Empowerment ermöglichen. „Offene Milieus in der Altenarbeit sind (…) dadurch gekennzeichnet, dass sie Individualität und biographisch differenzierte Lebensstilansätze auch im sozialen Milieu zulassen und immer wieder behutsam aktivieren können“ (Böhnisch 1997: 252).

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Derartige Ansätze gehen von einer Pluralität von Lebensformen im Alter aus und verweigern sich vorab definierten Lebensentwürfen für diese Lebensphase. Nicht Experten und Expertinnen oder Instanzen definieren, wie Alter gestaltet werden soll, sondern die alten Menschen selbst, die die eigentlichen Expertinnen und Experten für die Gestaltung des Lebens im Alter sein sollten. Eine so verstandene Soziale Arbeit projektiert Modelle, die sich nicht als von der Umwelt isolierte Sonderinstitutionen für Alte verstehen, sondern die gerade auf diese Umwelt zurückwirken, sie altengerechter und entsprechend den sich wandelnden Lebensentwürfen im Alter gestalten. Hier wird der Schaffung von Netzwerkstrukturen zukünftig eine besondere Rolle zukommen, da sie den Beteiligten Möglichkeiten der öffentlichen Artikulation, Organisation sowie infrastruktureller Abfederung sozialer Problemlagen erschließen können. Literatur Böhnisch, L. (1997): Sozialpädagogik der Lebensalter. Weinheim. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hg.) (2002): Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation. Risiken, Lebensqualität und Versorgung Hochaltriger unter besonderer Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen. Berlin. Engelke, E. (2003): Die Wissenschaft Soziale Arbeit. Werdegang und Grundlagen. Freiburg. Füssenhäuser, C./Thiersch, H. (2001): Theorien der Sozialen Arbeit. In: Otto, H.-U./ Thiersch, H. (Hg.): Handbuch der Sozialarbeit / Sozialpädagogik. Neuwied, Kriftel, 1876-1885. Grunwald, K./Thiersch, H. (2004): Das Konzept Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. In: Grunwald, K./Thiersch, H. (Hg.): Praxis Lebensweltorientierter Sozialer Arbeit. Handlungszugänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern. Weinheim, 13-39. Jansen, B./Karl, F: (1997): Zwischen Lebensweltorientierung und Marktdiktat? Zur Zukunft Sozialer Arbeit (mit Älteren). Kasseler Gerontologische Schriften, Bd. 22. Kassel. Karl, F. (1990): Neue Wege in der sozialen Altenarbeit. Freiburg. Kleiner, G. (2005): Die Bedeutung von Sozialwelt und Sozialraum für die soziale Altenarbeit. In: Soziale Arbeit. Zeitschrift für soziale und sozialverwandte Gebiete, 54, 55-63. Kleve, H. (2003): Sozialarbeitswissenschaft, Systemtheorie und Postmoderne. Grundlegungen und Anwendungen eines Theorie- und Methodenprogramms. Freiburg. Klüsche, W. (Hg.) (1999): Ein Stück weitergedacht… Beiträge zur Theorie- und Wissenschaftsentwicklung der Sozialen Arbeit. Freiburg. Lüssi, P. (1991): Systemische Sozialarbeit. Bern, Stuttgart, Wien. Mayer, K. U./Baltes, P. B. (1996): Die Berliner Altersstudie. Berlin. Petzold, C./Petzold, H. G. (Hg.) (1991): Lebenswelten alter Menschen. Hannover.

Lebensweltorientierte Soziale (Alten-)Arbeit

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Rauschenbach, T./Züchner, I. (2002): Theorie der Sozialen Arbeit. In: Thole, W. (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. Opladen, 139-160. Schweppe, C. (1996): Soziale Altenarbeit. Weinheim. Schweppe, C. (2010): Soziale Alenarbeit. In: Thole, W. (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. Opladen, 505-521. Zeman, P. (1998): Soziale Altenarbeit – Aktuelle Orientierungen und Strategien. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 31, 313-318. Zeman, Peter. 2000. Strukturen – Leitbilder – Modernisierungsperspektiven: die Zukunft der Sozialen Altenarbeit. In: Evangelische Impulse, 22, 8-12.

Sozialarbeit im Kontext Alten- und Pflegeheim

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Sozialarbeit im Kontext Alten- und Pflegeheim Johanna Hildebrandt 1

Lebenswelt Alten- und Pflegeheim

Der Wechsel vom eigenen Zuhause in ein Pflegeheim ist eine Entscheidung, die für viele Betroffene schmerzlich ist und deshalb häufig so lange wie möglich hinausgezögert wird. Ein solcher Umzug geschieht in den seltensten Fällen freiwillig und aus innerer Überzeugung. Meist erfolgt er als Konsequenz schwerer gesundheitlicher Einbußen oder als Folge unzureichender häuslicher Bedingungen für angemessene Pflege. Auf der einen Seite wird mit dem Einzug in ein Pflegeheim die Hoffnung auf einen Zugewinn an verlässlicher Pflege, hauswirtschaftlichem Komfort und individueller Sicherheit verbunden. Andererseits fallen die negativen emotionalen Aspekte des Verlustes von Lebens- und Alltagsgewohnheiten, von jahrzehntelang gewohnter und vertrauter Wohnumgebung und von familiären und nachbarschaftlichen Netzwerken ins Gewicht. Hinzu kommt die Befürchtung, im Heim die eigenen Lebensbedingungen und -gestaltungsmöglichkeiten nicht mehr steuern und bestimmen zu können. Der Begriff des „Heims“ wird in unserer Gesellschaft mit überwiegend negativen Assoziationen bedacht und häufig als Synonym für den Ort dauerhafter Mängelzustände und suboptimaler Lebensqualität betrachtet. Auf der anderen Seite gilt es als die Versorgungsform, die auch dann noch trägt, wenn alle anderen Versorgungsoptionen an ihre Grenzen kommen: „Offensichtlich brauchen stark alternde Gesellschaften ‚Schutzräume’ vor allem für das vierte Alter“ (Schneekloth/Törne 2005: 24).

Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, diesen Einrichtungen eine hohe gesellschaftliche Aufmerksamkeit in kritischer wie konstruktiver Hinsicht zukommen zu lassen, dahingehend wie sie diese ‚Schutzraumfunktion’ qualitativ gestalten. Heime sind aber auch „als gestalt- und veränderbare Umwelten einer der bedeutsamen Gradmesser dafür, wie alternde Gesellschaften mit den verletzlichsten Formen des Alters umgehen“ (ebd.).

G. Kleiner (Hrsg.), Alter(n) bewegt, DOI 10.1007/978-3-531-94258-2_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

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Johanna Hildebrandt

In Deutschland existiert mit den Einrichtungen der vollstationären Altenhilfe ein facettenreiches Versorgungssystem, dass sich inzwischen überwiegend auf die Betreuung und Versorgung pflegebedürftiger alter Menschen fokussiert hat. Die etwa 9.100 Heime werden im Jahre 2005 von ca. 749 Tsd. Menschen bewohnt, von denen 85 % pflegebedürftig (ab Pflegestufe 1) und 6 % pflegehilfsbedürftig (Pflegestufe 0) sind. Zwei Drittel der BewohnerInnen weisen kognitive Veränderungen auf, ein Drittel ist zeitlich und räumlich desorientiert und bedarf einer kontinuierlichen Betreuung. Mit der Zunahme hochaltriger Menschen in der Bevölkerung (demografischer Wandel) steigt auch der Anteil derjenigen, die eine Demenz haben (vgl. ebd.: 61). So ist die Entwicklung im Bereich der vollstationären Altenhilfe gegenwärtig geprägt von der Ausrichtung auf die Versorgung dementiell beeinträchtigter Menschen mit erheblichem Pflegebedarf. Dem stehen die allgemeinen Rahmenbedingungen und hier besonders die generell schwierige Personalsituation einschränkend gegenüber: „Es hat den Anschein, dass sich mit den momentan verfügbaren Personalressourcen in der Breite der pflegerischen Versorgung auf Dauer keine substantiellen Innovationen nachhaltig werden vorantreiben lassen können. Qualitätssicherung wird sich auch daran messen lassen müssen, dass es gelingt, den notwendigen Bestand an qualifiziertem Personal (…) realisieren zu können (ebd.:13).

Die Übersiedlung in eine stationäre Einrichtung erfolgt in der Regel dann, wenn im häuslichen Bereich von den Betroffenen bzw. im Fall einer Demenz von ihrem Umfeld keine ausreichende Möglichkeit einer Versorgung mehr gestaltet werden kann. Im Heimalltag korrespondieren bzw. rivalisieren dann Aspekte der Sicherheit und einer optimalen Versorgungsqualität mit der grundsätzlichen Orientierung an dem Erhalt bzw. der Förderung von Selbständigkeit bei zunehmender Pflegebedürftigkeit. Neue HeimbewohnerInnen sehen sich häufig mit erheblich einschränkenden individuellen Handlungsspielräumen konfrontiert. Für viele beginnt mit dem Heimeinzug der Teufelskreis einer negativen Entwicklung zur ‚erlernten Hilflosigkeit’1, die sie depressiv und passiv werden lässt. Unter erlernter Hilflosigkeit ist zu verstehen, „dass Passivität, Depressivität, unangemessene Aggressivität usw. durch meist mehrere schwere Erfahrungen erworben wird. Gemeinsam ist den Erfahrungen, unangenehmen Situationen hilflos ausgeliefert zu sein, ein Schicksal nicht abwenden zu können, sich nicht erfolgreich wehren zu können. Wer sich vergeblich bemüht und dennoch ausgeliefert ist, entwickelt das Syndrom der ‚erlernten Hilflosigkeit’ und setzt sich nicht mehr oder unangemessen für seine Belange ein“ (Ruthemann 2005: 234). 1

Der Begriff „erlernte Hilflosigkeit“ wurde 1967 von den amerikanischen Psychologen Martin E. P. Seligman und Steven F. Maier geprägt (vgl. Seligman 1979).

Sozialarbeit im Kontext Alten- und Pflegeheim

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Die Berliner Altersstudie weist darauf hin, dass bei Heimbewohnerinnen und Heimbewohnern diejenigen Faktoren kumulieren, die sowohl zu sozialer Isolation als auch zu verstärkter Einsamkeit beitragen. Die Betroffenen sind häufig ledig oder verwitwet, pflegen vergleichsweise wenige soziale Beziehungen, fühlen sich wahrscheinlich deshalb oft einsam und sind darüber hinaus in ihrer physischen und geistigen Handlungsfähigkeit stärker eingeschränkt als die in Privathaushalten Lebenden (vgl. Mayer/Baltes 1996: 317). Nach dem Konzept der Lebensweltorientierung2 wäre bei der Betreuung und Begleitung gerade neuer HeimbewohnerInnen darauf zu achten, ihnen Handlungsspielräume zur Partizipation zu erhalten bzw. neue zu eröffnen. Viele benötigen intensive Unterstützung in dem sensiblen Anpassungs- und Lernprozess, in dem es gilt, die neuen Lebensumstände anzunehmen, trotz der erwarteten Integration die eigenen Interessen zu wahren und Mitverantwortung für die eigene Lebensgestaltung zu übernehmen bzw. beizubehalten. Einerseits hat der medizinische Fortschritt die Lebenserwartung in den letzten Jahren stetig erhöht, andererseits steigt aber auch die Zahl pflegebedürftiger hochaltriger Menschen, die unter mehreren chronischen Krankheiten leiden (Multimorbidität). So leben in Deutschland etwa eine Million Menschen mit einer diagnostizierten Demenz, in einigen Jahrzehnten sollen es zwei Millionen sein (vgl. Klie 2005: 83). Hieraus ergibt sich für die Zukunft die Aufgabe, diesem Personenkreis durch gute fachliche Begleitung die Teilhabe und gesellschaftliche Partizipation in Achtung ihrer Menschenwürde zu ermöglichen: „Die Versorgungswirklichkeit in Einrichtungen und Diensten wird noch zu stark von der Refinanzierungslogik und somatisch orientiertem Pflegeverständnis geprägt und zu wenig von einem palliativen Blick, der den gelingenden Alltag und das Miteinander von Angehörigen, Freiwilligen sowie ärztlich und pflegerisch Tätigen thematisiert“ (ebd.: 84).

In Deutschland werden mittlerweile vermehrt neue Betreuungsansätze zur stationären Versorgung demenzkranker alter Menschen entwickelt und in der Praxis erprobt3. Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen (Weyerer et al. 2005) haben ergeben, dass sich die Lebensqualität bei einer speziell auf die Situation der dementiell erkrankten Menschen ausgerichteten Versorgungs- und Betreuungsform im Gegensatz zu traditionellen stationären Strukturen deutlich verbessert. Es besteht

2 3

Siehe auch den Beitrag „Lebensweltorientierte Soziale (Alten-)Arbeit“ von Johanna Hildebrandt. Siehe auch den Beitrag „Selbstbestimmt Wohnen mit Demenz“ von Melanie Röhn.

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Johanna Hildebrandt

„ein signifikanter Einfluss der Wohngruppenmilieus auf das soziale Verhalten und die Stimmung der Bewohner. Dagegen konnte der fortschreitende Verlauf der Demenz und auch die Abnahme psychischer Selbstständigkeit nicht gestoppt werden. In den Wohngruppen verliefen die kognitiven und psychischen Einbußen jedoch abgemilderter als in der Vergleichsgruppe“ (Dettbarn-Reggentin 2005: 95).

Diese Ergebnisse zeigen, wie bedeutsam auch für den Bereich stationärer Einrichtungen die Schaffung von Alltagsnähe bezüglich eines auf die BewohnerInnen abgestimmten Wohnmilieus für ihre Lebensqualität ist: Lebensqualität ist dabei „die Summe der individuellen Bewältigungsstrategien und Gestaltungsmöglichkeiten, die auch im Leid Wohlbefinden ermöglichen. Auch im Angesicht des Todes kann es gelingen, Lebenssinn und Lebensqualität zu erleben“ (Wilkening 2005: 20).

Heimtypische Organisationsstrukturen sollten deshalb durch Kleinräumigkeit, Vertrautheit, Kommunikation, Aktivität nach Bedarf und menschliche Nähe ersetzt werden, orientiert an den Bedürfnissen und Ressourcen der BewohnerInnen. Eine wesentliche Zielsetzung lebensweltorientierter Sozialer Arbeit im Heimkontext sollte darin bestehen, Möglichkeiten zur Erweiterung von Handlungsspielräumen für die HeimbewohnerInnen zu inszenieren und damit die Erhaltung von Lebensqualität und Partizipation bis zuletzt zu unterstützen, wie nachfolgend näher ausgeführt wird. 2

Abschiedskultur im Altenheim

Die Tatsache, dass im Altenpflegeheim Krankheit, Leid und Tod in komprimierter Form begegnet, lässt sich nicht leugnen. Die Zunahme von Krankheiten, insbesondere Demenz aufgrund von Hochaltrigkeit, die Abnahme der Pflegemöglichkeit im häuslichen Umfeld durch Singularisierung und zunehmendes Alter der pflegenden Angehörigen sowie die Grenzen der ambulanten Versorgung bei bestimmten Ausprägungen der Demenz weisen den Heimen zukünftig verstärkt die Aufgabe der Versorgung schwerstkranker, sterbender Menschen zu. In den Alten- und Pflegeheimen hat in den letzten Jahren ein Strukturwandel stattgefunden, da die BewohnerInnen beim Heimeinzug immer älter und deshalb oft schwerstpflegebedürftig sind. So kommt es immer häufiger vor, dass Menschen mit einer sehr begrenzten Lebenserwartung Aufnahme finden. „Von den 850000 Menschen, die jährlich in Deutschland versterben, sterben 50 Prozent im Krankenhaus und 20 bis 30 Prozent im Heim“ (Wilkening 2005: 20).

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Die Verkürzung der Verweildauer von Patientinnen und Patienten im Krankenhaus durch die Einführung der Vergütung nach Fallpauschalen führt zu einer stärkeren Verlagerung des Sterbens vom Krankenhaus in das Heim. Etwa ein Fünftel (22 %) der HeimbewohnerInnen verstirbt in den ersten sechs Monaten nach Einzug, ca. ein Drittel (31 %) innerhalb des ersten Jahres; allerdings lebt ein Fünftel (22 %) auch fünf Jahre und länger in dieser Wohnform (vgl. Schneekloth/Wahl 2007: 10). Altenheime sind Orte, an denen sich für die BewohnerInnen bzw. beteiligten Professionen Lebens-, Pflege- und Versorgungsaufgaben von existentieller Dimension auf engstem Raum in besonders drastischer Weise stellen, wie z.B. „Anforderungen der Sterbebegleitung und des ‚guten’ Sterbens vor dem Hintergrund der Gesetzmäßigkeiten eines professionell und profitabel zu führenden institutionellen Gefüges und einer weiterhin vorherrschenden Tabuisierung des Todes“ (ebd.: 26).

Demzufolge kommt der Sterbebegleitung als Teil des Lebens im Heim eine immer größere Bedeutung zu: „Abschiedskultur ist mehr als Sterbekultur. Es geht hier nicht nur um das, was während des Sterbens geschieht, sondern auch um das, was vorher und nachher geschieht“ (Wilkening und Kunz 2003: 111).

Leben im Heim als ‚abschiedliches’ Leben zu begreifen und zu gestalten bedeutet, schon den Heimeinzug als Abschieds- und Trauersituation ernst zunehmen. Abschiedskultur beginnt mit dem Einzug ins Heim – als dem voraussichtlich letzten Zuhause, in dem man in Ruhe und Geborgenheit sterben darf. Dem Thema Abschied und Tod ist ein zentraler Platz im Heimleben zu geben. Dabei ist deutlich zu sehen, dass „die Auseinandersetzung mit Tod und Sterben mit Sinnfragen, Lebensrückblick sowie konkreten Gestaltungsmöglichkeiten des Lebensendes eher für Angehörige oder Mitarbeiter als für ältere Menschen selbst ein Tabuthema ist“ (ebd.: 109).

Trägervertretungen und Heimleitungen könnten bei der Forderung, dem Abschied viel Raum zu geben, den Einwand erheben, dies würde der Zielsetzung widersprechen, ein aktives und lebendiges Leben in ihrem Heim zu fördern. Hier aber besteht nur scheinbar ein Widerspruch: „Da der gut stirbt, der intensiv und gern gelebt hat, ist das Ziel eines jeden Lebens im Heim vorgegeben – nicht lebensmüde, sondern lebenssatt zu sterben. Unter diesem Blickwinkel beginnt ‚Abschiedskultur’ am Tag des Einzugs“ (ebd.: 113).

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Johanna Hildebrandt

Ohne die Einbeziehung von Angehörigen bzw. ehrenamtlich Engagierten kann die Gestaltung eines würdigen Sterbens nur schwer gelingen. Angehörige, die auf die Bedeutung der Sterbebegleitung sowie die Versorgung der verstorbenen Person auch im Sinn einer notwendigen und hilfreichen eigenen Trauerbewältigung hingewiesen werden, sind in der Regel bereit ihren Anteil zur Abschiedskultur einer Einrichtung zu leisten. Auf die Ermöglichung des Abschiednehmens von den Verstorbenen ist ein besonderes Augenmerk zu richten: „Zu einer Kultur gehören Rituale, die uns erlauben, in Gemeinschaft unseren Gefühlen Ausdruck zu verleihen“ (ebd.: 111).

Dies gilt in Bezug auf die Trauer sowohl für BewohnerInnen und Angehörige, als auch für die MitarbeiterInnen in den Einrichtungen, denn Rituale fördern soziale Gemeinschaft. Für die BewohnerInnen hat darüber hinaus das Erleben einer gestalteten Kultur des Abschiednehmens von anderen Verstorbenen entlastende Bedeutung auch im Hinblick auf ihr eigenes Sterben: ‚So werden sie auch mit mir umgehen – ich werde bis zum Ende wichtig genommen – ich habe eine Spur hinterlassen und man wird sich an mich erinnern’. Auch von staatlicher Seite wird inzwischen angemerkt, dass in diesem Bereich Handlungsbedarf besteht: „Zum jetzigen Zeitpunkt ist davon auszugehen, dass eine qualitätsvolle hospizliche und palliative Betreuung in Pflegeheimen noch nicht in ausreichendem Maße gegeben ist. Für die Zukunft ist darauf hinzuarbeiten, dass eine hochwertige, die Menschenwürde wahrende Sterbebegleitung zur Selbstverständlichkeit wird. Dies beinhaltet sowohl qualifikatorische als auch arbeitsorganisatorische und baulichräumliche Aspekte“ (BMFSFJ 2006: 101).

3

SozialarbeiterInnen als Vernetzungsspezialistinnen und -spezialisten

Die Verbesserung der Abschiedskultur in Altenpflegeheimen ist Gegenstand des im Folgenden vorgestellten einrichtungsübergreifenden Projekts. Hier wird exemplarisch deutlich, wie die MitarbeiterInnen des Sozialdienstes aufgrund ihrer Profession in besonderem Maße dafür qualifiziert sind, die Etablierung und Koordinierung einer Abschiedskultur in einem Heim durchzuführen. Durchgeführt wurde das Projekt in Form eines Arbeitskreises vom Fachbereich Sozialarbeit bei der Heimaufsicht im Zusammenhang des Beratungsauftrages der Heimaufsicht nach § 4 HeimG4 unter Mitarbeit der Verfasserin und in Zusammenarbeit mit einer Pfarrerin für Hochbetagte. Zur Teilnahme eingeladen waren jeweils ein 4

Vgl. Heimgesetz, http://bundesrecht.juris.de/heimg/, Zugriff am 17.06.2011.

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bis zwei Mitarbeiterinnen des Sozialdienstes, die von ihrer Einrichtung als Projektverantwortliche für die Implementierung einer Abschiedskultur beauftragt worden waren. Es fand zunächst eine Auftaktveranstaltung statt, zu der die jeweilige Leitung mit eingeladen wurde. Themenschwerpunkte der monatlich stattfindenden sechs Arbeitskreistreffen waren: ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

BewohnerInnen, MitarbeiterInnen, Angehörige, Betreuungsspersonen MitarbeiterInnen in der Pflege, Sozialdienst, Hauswirtschaft Ehrenamtliche MitarbeiterInnen, Hospizarbeit Ärztinnen/Ärzte, Palliativ Care Seelsorge, Rituale, Abschiedsgestaltung Abschlussveranstaltung (mit Leitung der Einrichtungen).

Ein Nachtreffen der Arbeitskreisteilnehmenden einschließlich Leitung zur weiteren Auswertung des Prozessverlaufs in den jeweiligen Einrichtungen fand nach Ablauf eines halben Jahres statt. Grundlegend für die Projektidee war die Überlegung, wie Altenpflegeheime die Impulse der wachsenden Hospizbewegung aufnehmen und mit Hospizinitiativen im Umfeld zusammenarbeiten können. Folgende Fragestellungen bildeten den konzeptionellen Rahmen: ƒ ƒ ƒ ƒ

Wie kann es trotz enger finanzieller bzw. personeller Ressourcen in Altenpflegeheimen gelingen, sterbende BewohnerInnen in den Mittelpunkt zu stellen, ihnen individuell zu begegnen, ihre Wünsche zur Geltung zu bringen? Welchen Beitrag zur Sterbebegleitung können die unterschiedlichen Berufsgruppen in Heimen leisten (Pflege, Sozialarbeit, Hauswirtschaft)? Wie kann die Zusammenarbeit mit externen KooperationspartnerInnen gestärkt werden (Ärztinnen/Ärzte, SeelsorgerInnen)? Wie können die ambulanten Hospizgruppen im Umfeld der Heime in die Arbeit einbezogen werden?

Für die fachliche Begleitung bzw. als konzeptionelle Arbeitsgrundlage für die Implementierung einer angemessenen Abschiedskultur in einem Heim erwies sich das Fachbuch von Wilkening & Kunz ‚Sterben im Pflegeheim – Perspektiven und Praxis einer neuen Abschiedskultur’ als hilfreich. Vor Beginn einer derartigen Projektentwicklung ist in der jeweiligen Einrichtung eine verbindliche Entscheidung des Trägers für die Projektdurchführung zu treffen, da es sich hierbei um eine Weiterentwicklung des Einrichtungskonzeptes handelt. Wichtig für einen gelingenden Prozessverlauf ist darüber hinaus

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Johanna Hildebrandt

die uneingeschränkte Unterstützung durch die Leitung des Heimes. Mit allen am Prozess Beteiligten muss jeweils abgestimmt werden, was für die einzelnen Prozessphasen (Heimaufnahme, Heimalltag, Sterbeprozess im engeren Sinne und Verabschiedung) zu beachten ist. Folgende Kriterien haben sich im Prozessverlauf als grundlegend herausgestellt: Die Bedürfnisse und Wünsche der BewohnerInnen und der Angehörigen sind zu erfragen, nicht vorauszusetzen, d.h. eine radikale BewohnerInnen- und Angehörigenorientierung ist als Haltung der MitarbeiterInnen unabdingbar. Die MitarbeiterInnenorientierung und -motivation setzt voraus, dass deren Fähigkeiten und Wünsche berücksichtigt werden und bereits Bestehendes angeschaut und gewürdigt wird. Die Vernetzung mit externen Beteiligten (Ärztinnen/Ärzte, SeelsorgerInnen, HospizhelferInnen sowie BestatterInnen) ist zu fördern. Dabei kommt den Ärztinnen und Ärzten in Bezug auf die Entwicklung der palliativen Betreuung große Bedeutung zu. Im Blick auf die Seelsorge ist zu beachten, dass einer großen Zahl von religiös gebundenen alten Menschen eine immer größere Zahl von religiös ungebundenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegenüber steht, die aber die Aufgabe haben, diese Bedürfnisse der BewohnerInnen wahrzunehmen und den Kontakt zu Seelsorgerinnen und Seelsorgern herzustellen. SozialarbeiterInnen haben während ihrer Ausbildung das Methodenrepertoire der Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit in vielfältiger Weise vermittelt bekommen (vgl. Galuske 2001). Psychosoziale Unterstützung, Krisenbewältigung, Arbeit mit Ehrenamtlichen, Vernetzung sowie Konzepterstellung sind Schwerpunkte ihres beruflichen Handelns und notwendige Kompetenzen bei der Etablierung eines ‚Netzwerkes Abschiedskultur’. Aus diesem Grund sind sie in besonderem Maße dafür qualifiziert, die Etablierung und Koordinierung einer Abschiedskultur in einem Heim durchzuführen. Abschiedskultur hat zum Ziel Sterbenden zu ermöglichen „ihr Leben ungestört, unverzögert, unbeschleunigt, persönlich, sozial integriert, spirituell angenommen, schmerzkontrolliert, begleitet und lebenssatt zu vollenden“ (Rest 2006: 24).

Ob Altenheime in Zukunft zu „Entsorgungseinrichtungen oder zu Orten der Lebenssättigung“ (Wilkening/Kunz 2003: 13)

werden, wird zum einen von der Haltung der Menschen abhängen, die die Lebenswelt Altenheim mitgestalten. Hier kann die Profession der Sozialen Arbeit, wie beschrieben, eine wichtige Rolle einnehmen, wobei sich der Ansatz einer

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Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit als theoretische Grundlage anbietet. Zum anderen werden die strukturellen bzw. finanziellen Rahmenbedingungen von Bedeutung sein, die die Gesellschaft bereit ist, für die Ermöglichung einer menschenwürdigen Lebensqualität bis zuletzt zur Verfügung zu stellen. Der Umgang mit dem Sterben bzw. die Bewahrung Sterbender vor sozialer Ausschließung wird von einem bisher eher verschämten Randthema zu einem der zentralen künftigen Aufgabengebiete in Altenheimen werden. Hier gilt es – auch von Seiten der Sozialen Arbeit – immer wieder neu ein Bewusstsein in der Öffentlichkeit dafür zu wecken, was eigentlich ‚gutes Sterben’ ausmacht. Die nachfolgenden Worte wollen darüber Auskunft geben und sind als eine Ergänzung der Ausführungen zu dieser Thematik zu verstehen: „Wenn das Leben mühsam wird, weil die Kräfte nachlassen und das Heute immer wieder im Gestern versinkt, und wenn die Sehnsucht größer wird, der Weg möge ein Ende haben, dann möchte ich an einem Ort leben, an dem meine Verzagtheit und Unsicherheit ihren Platz haben. Einen Ort wünsche ich mir, der mich geborgen hält, ohne mich festzuhalten, wo ich ausruhen und Kräfte sammeln kann für das letzte Wegstück“. (Heitkönig-Wilp et al. 2001: 19)

Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hg.) (2006): Erster Bericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend über die Situation der Heime und der Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner. Berlin. Dettbarn-Reggentin, J. (2005): Studie zum Einfluss von Wohngruppenmilieus auf demenziell Erkrankte in stationären Einrichtungen. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 38/ 2, 95-100. Galuske, M, (2001): Methoden der sozialen Arbeit – Eine Einführung. 3. überarb. u. erw. Aufl. Weinheim, München. Heitkönig-Wilp, M./Leusing, W./Pohl, A.. (2001): So nah wurdest Du mir… Bilder und Worte vom Leben und Sterben. Münster. Klie, T. (2005): Wohnen und Leben mit Demenz. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 38/ 2, 83-84. Mayer, K. U./Baltes, P. B. (1996): Die Berliner Altersstudie. Berlin.

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Johanna Hildebrandt

Rest, F. (2006): Sterbebeistand, Sterbebegleitung, Sterbegeleit: Handbuch für den stationären und ambulanten Bereich. Stuttgart. Ruthemann, U. (1992): Einflussmöglichkeiten des Heimbewohners. Altenheim 5, 234245.Seligman, M. (1979): Erlernte Hilflosigkeit. München, Wien, Baltimore Schneekloth, U./Törne, I.v. (2005): Entwicklungstrends in der stationären Versorgung. In: Schneekloth, U./Wahl, H.-U. (Hg.), ebd., 53-168). Schneekloth, U./Wahl, H.-W. (Hg.) (2007): Möglichkeiten und Grenzen Selbständiger Lebensführung in stationären Einrichtungen (MuG IV) – Demenz, Angehörige und Freiwillige sowie Beispiele für „Good Practice“. Integrierter Abschlussbericht eines Forschungsprojektes im Auftrag des BMFSFJ. München. Weyerer, S./Schäufele, M./Hendlmeier, I. (2005): Besondere und traditionelle Betreuung demenzkranker Menschen im Vergleich. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 38/ 2, 85-94. Wilkening, K./Kunz, R. (2003): Sterben im Pflegeheim – Perspektiven und Praxis einer neuen Abschiedskultur. Göttingen. Wilkening, K. (2005): Sterben im Heim – Eine gute Abschiedskultur gestalten. Altenheim 4: 20-23

Gemeinwesenarbeit im demografischen Wandel

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Gemeinwesenarbeit im demografischen Wandel – Verwirklichungschancen und Ermöglichungsspielräume Gemeinwesenarbeit im demografischen Wandel

Gabriele Kleiner

Die Beiträge in diesem Band befassen sich – aus unterschiedlichen Perspektiven – mit Lebenslagen und Lebenswelten älter werdender Menschen. Die in den vorangegangenen Beiträgen formulierten Erkenntnisse aus der Lebenslageforschung wie auch die Auseinandersetzung mit dem Konzept einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit stellen u. a. einen theoretischen Bezugsrahmen für eine gemeinwesenorientierte Soziale Arbeit dar. Abschließend soll der Versuch unternommen werden, mit der Perspektive auf Gemeinwesenarbeit als Arbeitsprinzip Sozialer Arbeit Verwirklichungschancen und Ermöglichungsspielräume für ein menschenwürdiges Leben (nicht nur) im Alter in den Blick zu nehmen. 1

Einleitung

Sinkende Geburtenraten und die Alterung der Gesellschaft stellen die wesentlichen Kennzeichen des viel diskutierten demographischen Wandels dar. Auswirkungen dieser Entwicklungen zeigen sich auf kommunaler Ebene z. B. daran, in welcher Hinsicht das Altenhilfe- und Sozialsystem auf die neuen Bedürfnis- und Bedarfslagen eingestellt ist; wie sich die Kommunen von der alten Hilfeplanung1 an eine prozessorientierte und den Empfehlungen des KDA entsprechenden Planungsstrategie (vgl. KDA 2009: 8 f.) angepasst haben und inwiefern diesbezüglich eine an den Lebenslagen der Menschen – objektiv im Hinblick auf die Lebenslageindikatoren und subjektiv in Bezug auf Ermöglichungsspielräume und Verwirklichungschancen – orientierte Planung und Steuerung in den Blick genommen wird.

1

Der Begriff der „Altenhilfeplanung“ wird zwischenzeitlich kritisch eingeordnet; zum einen steht er mit dem Begriff der „Hilfe“ jenseits aller Erkenntnisse, dass Alter(n) nicht per se mit „Hilfe“ assoziiert werden kann, zum anderen steht er isoliert von anderen Ressorts, wie Infrastrukturentwicklung, Wohnungswirtschaft, etc., insofern sollte dieser Begriff konsequent reformiert werden.

G. Kleiner (Hrsg.), Alter(n) bewegt, DOI 10.1007/978-3-531-94258-2_14, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

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Stärkung von Selbsthilfepotentialen, Erhöhung des bürgerschaftlichen Engagements, Stärkung der Eigenverantwortung u.a. mehr sind die bekannten Zielformulierungen, die vor dem Alter nicht halt machen, sondern vielmehr den Wandel des Sozialen und damit auch des Alter(n)s von wohlfahrtsstaatlichen Orientierungen hin zum „aktivierenden Sozialstaat“ kennzeichnen. Die von Otto formulierte These, dass die Generation der alten Menschen in die sozialpolitisch konstruierte „Aktivgesellschaft“ eingemeindet und von der erwerbsgesellschaftlichen Logik in den gesellschaftlichen Verteilungskonflikt zurückgeholt werden (vgl. Otto 2005: 11), deutet die Paradoxien einer überwiegend auf Individualisierung und Aktivierung orientierten Alten- bzw. Sozialpolitik an. Darüber hinaus tragen die Debatten um „die Krise des Sozialstaates“, „die mangelnde Solidarität zwischen den Generationen“, „die kommenden Pflegelasten“ zur Gefährdung der Integration der Menschen bei, denen es an Ressourcen, Kompetenzen und Potentialen mangelt. Die – vielen Konzepten innewohnende – Trennung in „gesundes-aktives-positives Alter(n)“ und „krankes-abhängigesnegatives Alter(n)“ (vgl. Kondratowitz 1998: 61 ff.) stellt eine Trennlinie dar, die unter Aspekten von Teilhabe und Partizipation kontraproduktiv ist und eher sozialen Ausschluss im Alter impliziert, als eine integrierende Funktion zu verfolgen. Auf Wirkungen von Alter(n)sbildern und die soziale Konstruktion des Alters sowie die Notwendigkeit eines darauf gerichteten kritischen Blicks wurde bereits an anderer Stelle eingegangen. Gemeinwesenorientierung dagegen bietet eine Sichtweise, die sich auf manifeste, in sozialen Räumen vorfindbare Erscheinungsformen gesellschaftlicher Ungleichheit, Unterpriviligierung, Ausgrenzung und ökonomischer wie sozialer und/oder psychischer Not richtet, gründend auf einem kritischen Konzept von Gesellschaft. Theorie und Praxis der Gemeinwesenorientierung haben den Blick geschärft für Lebensbedingungen betroffener Gruppen und gesellschaftlicher Widersprüche. Insofern beinhaltet Gemeinwesen in Anlehnung an Stövesand (vgl. 2006: 41) vier miteinander verschränkte Ebenen: a. b. c. d.

eine materielle Dimension als einen konkreten Ort, eine soziale Dimension als Interaktions- und Handlungsstrukturen von Individuum und Gruppen, eine symbolische Dimension als Repräsentationssystem von Bildern, Bedeutungen und Handlungen und eine politische Dimension als institutionalisiertes Regulationssystem.

Hubbertz (vgl. 1984: 67 ff.) hat bereits in den 1990er Jahren darauf hingewiesen, dass Gemeinwesenarbeit auf zwei Ebenen agiert:

Gemeinwesenarbeit im demografischen Wandel

1. 2.

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auf der Ebene der Adressatinnen und Adressaten im Stadtteil und im gesellschaftlichen Umfeld und Beziehungsgefüge.

Dabei geht es in Bezug auf die Adressatinnen und Adreassaten einerseits um unmittelbare Unterstützung, z. B. durch Rechts- und Sozialberatung, andererseits um die Schaffung von Basisstrukturen zum Aufbau gemeinschaftlicher sozialer Zusammenhänge. In Bezug auf das gesellschaftliche Umfeld kommt Sozialer Arbeit die advokatorische Rolle im Hinblick auf Planung und Initiierung von Interessen im Sinne einer reflektierten Parteilichkeit zu. Gemeinwesenarbeit bildet immer ein Kontinuum, an dessen einem Ende ein systemkritischer, konfliktorientierter und an dem anderen Ende ein staatstragender, harmonischer, pragmatisch-managerieller Ansatz zu finden ist. Aber immer ist es die Aufgabe von Gemeinwesenarbeit, die Ressource Solidarität herzustellen und Netze zu knüpfen (vgl. Oelschlägel 1993). In Bezug auf altenpolitische Perspektiven geht es also darum, weniger im Rahmen von Modellprojekten und Förderprogrammen, die nicht zwingend von Nachhaltigkeit gekennzeichnet sind, zu handeln, sondern Soziale (Alten-)Arbeit und altenpolitische Aspekte sehr viel stärkter im Sinne einer Gemeinwesenorientierung und einer Sozialpolitik für benachteiligte soziale Gruppen zu entwickeln (vgl. Aner u. a. 2007: 24). Und es wird notwendiger denn je, die Herausforderungen des demografischen Wandels aus der Perspektive der jungen Generation zu betrachten. Nur wenn es gelingt, möglichst vielen Kindern und Jugendlichen die bestmöglichste Ausbildung zu garantieren und ihnen unter Gerechtigkeitsaspekten den Zugang in das Bildungssystem in Unabhängikeit vom sozialen und kulturellen Herkunftsmilieu zu ermöglichen, kann eine „soziale und Wohlfahrt steigernde Neugestaltung von Alterung“ (Struck 2008: 293) entwickelt werden Darüberhinaus ist die Berücksichtigung des lebenslangen Lernens und die Nutzung von Erfahrungswissen sowie eine Neugestaltung zwischen den unterschiedlichen Lebensphasen (Ausbildungs-, Arbeits-, Familien- und Ruhestandsphase) dringend erforderlich, um den Veränderungen des demografischen Wandels nicht durch regulierende Kürzungen, sondern durch Gestaltungsmaßnahen im o. b. Sinne zu begegnen (vgl. edb.). 2

Theoretische Bezüge einer gemeinwesenorientierten Sozialen (Alten-)Arbeit

Neben dem Konzept der Lebenswelt, auf das ausführlich in dem Beitrag von Hildebrandt eingegangen wurde, steht als Bezugspunkt für eine gemeinwesenorientierte Soziale (Alten-)Arbeit der „Capability-Ansatz“ (vgl. Sen 2000), nach

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dem die Freiheit des Menschen als Ziel und Mittel zugleich verstanden und die Abwesenheit von Hindernissen ebenso wie die Anwesenheit von realen Möglichkeiten als Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit gewertet werden. Sen unterscheidet in seinem Konzept zwischen individuellen Potentialen – anlehend an das Lebenslagekonzept könnte hier auch von den objektiven Lebenslageindikatoren gesprochen werden – und gesellschaftlich bedingten Chancen im Sinne instrumenteller Fähigkeiten. Die Verwirklichungschancen (capabilities) „verstanden als die umfassenden Fähigkeiten und Freiheiten ein Leben nach eigenen Lebensplänen zu führen, beinhalten Fähigkeiten, wie zum Beispiel frei von vermeidbaren Krankheiten zu sein, soziale Kontakte zu pflegen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen oder sich ohne Scham in der Öffentlichkeit zu zeigen etc“ (vgl. Sen 2000: 94 f.)

beziehen sich auf einzelne Aspekte menschlichen Lebens, die Menschen subjektiv begründet wertschätzen können und die ihnen in ihrer objektiven Situiertheit etwas bedeuten. Der Ansatz zielt darauf ab, die Soziale Arbeit als eine gesellschaftliche Aufgabe zu entwerfen, „die Menschen dabei zu unterstützen hat, ihre Handlungsfähigkeit und Verwirklichungschancen herauszubilden und zu nutzen, um Formen der Exklusion und Desintegration zu minimieren“ (Thole 2010: 44).

Inwieweit die Verwirklichungschancen im Bereich der individuellen Potenziale durch eine Gesellschaft vermindert, behoben oder verbessert werden und ob ein hohes Maß an Verwirklichungschancen erreicht werden kann, hängt von den „gesellschaftlich bedingten Chancen“ ab (vgl. Arndt u.a. 2006: 8). Wenn Sen Verwirklichungschancen beschreibt als „die Möglichkeiten oder umfassenden Fähigkeiten („Capabilities“) von Menschen, ein Leben führen zu können, für das sie sich mit guten Gründen entscheiden konnten, und das die Grundlagen der Selbstachtung nicht in Frage stellt“ (vgl. Sen 2000: 29)

wird die Bedeutung individueller Potentiale einerseits und die in Sens Konzept formulierten „gesellschaftlich bedingten Chancen“ anderseits deutlich. Auf soziale Ungleichheit(en) hinzuweisen, sie zu erkennen und daraus schlussfolgernd „nahräumlich zu unterstützen, Partizipationswege anzubieten und Aktivierungsgelegenheiten zu schaffen“ (Hammer 2007: 6)

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und damit die Verwirklichungschancen der Menschen zu erweitern, stellen zentrale Ziele einer gemeinwesenorientierten Sozialen (Alten-)Arbeit dar. Auf diesem Hintergrund muss Soziale (Alten-)Arbeit weniger in den traditionellen Effektivitäts- und Produktivitätsdiskursen verortet sein, sondern sehr viel stärker die Diskurse in Bezug auf Ermöglichungsspielräume und Verwirklichungschancen im Kontext des Lebenslagenkonzeptes thematisieren. Dabei muss ein Recht auf Rückzug, ein Recht auf Langsamkeit und somit auf individuelle Selbstbestimmung als ein gesellschaftlich garantiertes und geschütztes Recht für alle Lebensalter existieren. Neben der Zielformulierung von Partizipationsförderung „müssen neben den biografisch begünstigten „Pionieren“, die selbständig in selbstbestimmten Projekten aktiv sind, auch die eher zurückgezogenen Älteren, die mit gesundheitsbedingtern Einschränkungen zu kämpfen haben und für die das „eingeschränkte“ Wohnumfeld eine wachsende Bedeutung bekommt, stehen (Aner u.a. 2007: 23).

Altenpolitik muss sich sehr viel stärker auch an die zurückgezogenen Älteren, die bildungsungewohnten Menschen und die Menschen aus benachteiligten sozialen Milieus richten. „Für Sozialplanung sind nach wie vor diejenigen Menschen und Gruppen von sensibler und erstrangiger Bedeutung, die unterversorgt sind, beispielsweise im Hinblick auf Einkommen, Bildung, soziale Kontakte...“ (Hammer 2007: 6).

Neben der Nähe zu lebensweltorientierten wie auch interventionsgerontologischen Konzepten2 stellt die Förderung von Verwirklichungschancen durch eine auf die Lebenswelt orientierte Soziale Arbeit eine zentrale Orientierung dar. Lebensweltbezogene Konzepte weisen einen Bezug auf zu sozialen Räumen, denn „Menschen sind eingebettet in ihren je erfahrenen Raum, so wie er sich sehr unterschiedlich z. B. für Heranwachsende, für Frauen – .... – oder für alte Menschen darstellt“ (Grunwald/Thiersch 2004: 33).

Die Lebensqualität von Menschen ist nicht unabhängig von objektiven Lebenslageindikatoren sowie von individuellen, subjektiven Ermöglichungsspielräumen 2

Lehr definiert den Begriff der Intervention als „das Insgesamt der Bemühungen, ein hohes Lebensalter bei psychophysischem Wohlbefinden zu erreichen“ (Lehr 1979, S. VI) und schreibt bereits 1977 „Interventionsmaßnahmen haben zunächst einmal in der sozialen Umgebung des älteren Menschen anzusetzen, – sei es bei Ärzten, bei Pflegepersonal oder in der Familie – die oft aus wohlgemeinter Fürsorge Abbauprozesse fördert (…), statt durch ein Herausfordern zu intervenieren, Abbauprozessen vorzubeugen“ (Lehr 1987: 322).

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und Verwirklichungschancen im erlebten Alltag. Dieser Alltag steht immer in Bezug zu biographischen Parametern und ist ohne die vergangenen, aber auch in der Zukunft liegenden Bezugspunkte nicht erklärbar – Alltag steht also immer in einem interindividuellen und intersubjektiven Kontext. Konzepte der Alltagsorientierung nehmen in Bezug auf Alltagsgestaltung und Selbständigkeit einen wichtigen Platz ein und sind auf der Grundlage alter(n)stheoretischer Expertisen3 anschlussfähig an das Konzept der Lebensweltorientierung. Zu nennen sind hier Ressourcen und Alltagskompetenz, die Frage nach besonderen Belastungen, nach Reaktions- und Bewältigungsformen, nach Alltagserleben und nach der Kontextualität der räumlich-sozialen Umwelt – Fragen, die Gegenstand verschiedener gerontologischen Studien waren und sind (vgl. u.a. Mayer & Baltes 1996; Oswald & Gunzelmann 2001; Tesch-Römer/ Engster/Wurm 2006; Kohli & Kühnemund 2006; BMFSFuJ 2008; Motel-Klingebiel/Tesch-Römer/von Kondratowitz 2003). Die Verbindung der genannten theoretischen Zugänge in Kombination mit interventionsgeronotologischen Strategien stellt eine bisher im gerontologischen Kontext zu selten eingenommene Perspektive dar. Diese Verbindung erfordert nicht nur eine konsequent auf das Subjekt orientierte Sicht, sondern auch eine im Sinne von Quartiersorientierung vernetzend-integrierende. Soziale Arbeit – als institutionalisierte Form sozialstaatlichen Handelns – steht auf der Grundlage der beschriebenen Entwicklungen immer mehr unter dem Druck, die angedachte Unterstützung und die Dienstleistung Soziale Arbeit zu einer Arbeit im Sinne staatlicher Effektivitätsvorgaben werden zu lassen, in der das Konzept der Rechtsdurchsetzung, des advokatorischen Beistandes, der reflexiven Parteilichkeit ad absurdum geführt wird. Wenn es aber die primäre Aufgabe einer Sozialen Arbeit ist, Zugangsgerechtigkeit zum Rechtssystem, zu gesellschaftlichen und politischen Planungs- und Entscheidungsprozessen, zu Bildungs- und Gesundheitssystem und damit zur Realsierung von mehr sozialer Gerechtigkeit beizutragen, muss sie sich sehr viel stärker als bisher in lebensweltliche Bezüge einmischen und zu einem gesellschaftlichen Diskurs beitragen, in dem es um Prinzipien wie Gerechtigkeit und Solidarität ganz besonders für die Menschen geht, deren Stimme nicht wahrgenommen wird. Für die konkrete Praxis Sozialer (Alten-)Arbeit bedeuet dies in Anlehnung an die Struktur- und Handlungsmaximen des Lebensweltkonzeptes nach Thiersch: Prävention, Alltagsnähe, Dezentralisierung/Regionalisierung, Integration und Partizipation. Dabei können folgende Konkretisierungen, die arbeitsfeldspezifisch zu präzisieren sind, formuliert werden: 3

Vgl. u.a. Thomae 1983; Baltes & Baltes 1989; Baltes; Lang; Wilms; 1998; Wahl; Schmitt 2010; Martin; Kliegel 2005.

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ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ 2.1

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Sicherung der Integration in die Gesellschaft Initiierung und Unterstützung sozialpolitischer Planungsprozesse Stärkung von Interessensvertretung Schaffung von Partizipationsstrukturen Verhinderung/Reduzierung von Benachteiligungen Der Stellenwert der Kommune für eine gemeinwesenorientierte Soziale (Alten-)Arbeit

Die Kommune ist der Ort, an dem Alltag gestaltet wird; hier zeigt sich, inwieweit die Bedarfe und Bedürfnisse nicht nur der alten Menschen zufrieden gestellt werden können oder ob Beteiligungs- und Unterstützungssysteme Lücken aufweisen. Kommunale Alten(hilfe)politik stellt somit eine Querschnittsaufgabe dar, die die unterschiedlichen kommunalen Handlungsfelder – von der Wohnungsbauplanung bis zur Gestaltung des Gesundheitswesens – einbeziehen muss oder vielmehr: in welche die Alten(hilfe)politik einbezogen werden muss. Kommunale Alten(hilfe)politik sollte sich konsequent auf Stadtteile und Wohnquartiere orientieren und sich schwerpunktmäßig nicht mehr darauf konzentrieren bzw. reduzieren lassen, ausreichende „Ver“sorgungsstrukturen vorzuhalten. Aufgabe der Kommune sollte es vielmehr sein, einen Paradigmenwechsel vorzunehmen, wie z. B. auf der Grundlage des bereits erwähnten Eckpunktepapiers zur quartiersbezogenen kommunalen Altenhilfeplanung (vgl. KDA 2009: 8 f.). In Verbindung mit Konzepten aus der Ökogerontologie mit Blick auf PersonUmwelt-Beziehungen, mit Blick auf Lebenslage und Lebenswelt und unter Berücksichtgung der Verwirklichungschancen im Sen’schen Sinne, ist eine umfassende Perspektive auf alternde Menschen im Stadtteil einzunehmen. „Zuhause wohnen bleiben“ – diese Perspektive wurde auch in vorangegangenen Beiträgen eingenommen – ist ein häufig erklärtes Ziel älterer Menschen und muss ein eben solches der kommunalen Aktivitäten und Zielsetzungen sein. Wenn dieses Ziel konsequent verfolgt werden soll, ist es unabdingbar, dass sich Soziale (Alten-)Arbeit stärker als bisher in sozialplanerischen Prozessen mit Lebenslage und Lebenswelt, mit Verwirklichungschancen und Ermöglichungsspielräumen auseinanderzusetzt. Mit der Zunahme der Hochaltrigkeit, als einem Phänomen des Strukturwandels ist das Risiko von Problemlagen im hohen Alter – insbesondere Multimorbidität, Demenz und dadurch bedingte Pflegebedürftigkeit – gegeben. Bezogen auf Sozialpolitik und Sozialplanung ist diesbezüglich die Weiterentwicklung familiärer wie außerfamiliärer Unterstützungssysteme im Quartier dringend notwendig, auch hier eröffnet eine gemeinwesenorientierte Soziale Arbeit neue Möglichkeiten und mit dem Wissen, dass die Arbeitsmigran-

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ten und - migrantinnen der siebziger Jahre und ihre PartnerInnen überwiegend nicht in der „alten“, sondern in der „neuen Heimat“ alt werden wollen wird auch die Notwendigkeit einer stärkeren kulturellen Differenzierung Sozialer Arbeit deutlich. Und – last but not least – ist die Genderperspektive im Altersdiskurs nicht zu vernachlässigen, auch wenn diese – im Vergleich zu früheren Lebensphasen – von geringerer Bedeutung zu sein scheint. „Insgesamt wurde bisher mit Konzepten des Alterns in der Stadt eher defensiv umgegangen. Sie erscheinen in der Regel politisch nicht attraktiv, dass Leitbild Ältere knüpft eher an negative Images an“ (Beetz u.a. 2008: 4).

Dieses negative Image aufzubrechen sollte eine der Zielsetzungen einer gemeinwesenorientierten Sozialen (Alten-)Arbeit sein. In Zeiten zunehmender sozialer Ungleichheiten und Unsicherheiten gewinnt Gemeinwesenorientierung mit der Frage nach gerechten Lebensverhältnissen und der Herstellung verlässlicher Bezüge in der Lebenswelt neues Gewicht. Soziale (Alten-)Arbeit ist aufgefordert, in der konkreten Lebenswelt und ihren Ressourcen auf die Realisierung von Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit zu insistieren Literatur Aner, K./Karl, F./Rosenmayr, L. (2007): Die neuen Alten. Retter des Sozialen? Wiesbaden. Arndt, Chr. u.a. (2006): Das Konzept der Verwirklichungschancen (A. Sen). Endbericht an das BMfAuS. Mai 2006. Baltes, P.B./Baltes, M.M. (1989): Optimierung durch Selektion und Kompensation. Ein Psychologisches Modell erfolgreichen Alterns. In: Zeitschrift für Pädagogik. 35, 85105. Baltes, M./Lang, F.R./Wilms, H.-U. (1998): Selektive Optimierung bei Kompensation: Erfolgreiches Altern in der Alltagsgestaltung. In: Kruse, A. (Hrsg.): Psychosoziale Gerontologie. Band 1, Grundlagen, Göttingen, 188-202. Beetz, S./Beckmann, K.J./Hüttl, R.F./Müller, B. (2008): Alternssensibilität als Konzept moderner Stadt- und Regionalentwicklung. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen: Informationsdienst altersfragen. 35. Jhg., Heft 03. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2008): Wohnen im Alter. Bewährte Wege – Neue Herausforderungen. Ein Handlungsleitfaden für Kommunen. Berlin. Grundwald, K./Thiersch, H (2004): Praxis lebensweltorientierter Sozialer Arbeit. Weinheim. Hammer, V. (2007): Die Macht des Lokalen. In: Blätter der Wohlfahrtspflege. 6/2007, 225-229. Hubbertz, K. P. (1984): Gemeinwesenarbeit in Neubauvierteln: Ansätze zu einemintegrativen Handlungsmodell, Münster.

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Autorinnen

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Autorinnen Autorinnen

Marita Blitzko-Hoener, Jg. 1957, examinierte Krankenschwester, Dipl. Sozialarbeiterin, Dipl. Sozialgerontologin, Promotion im Jahr 2000 an der Gesamthochschule Kassel zum Thema „Rehabilitationssport als interventionsgerontologische Maßnahme zur Freizeitgestaltung im Alter. Langjährige ehrenamtliche Tätigkeiten bei kirchlichen Verbänden zu den Themen „Alter(n)“ sowie „Menschen mit Demenz“, seit 1994 Dozentin an einer Altenpflegeschule. Petra Engel, Jg. 1963, Dipl. Sozialgerontologin, Dipl. Sozialpäd./-arbeiterin, Promotion im Jahr 2001 zum Thema „Sozialräumliche Altenarbeit und Gerontologie. Am Beispiel älterer Frauen auf dem Land.“ Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der Universität Kassel, frühere kommunale Frauenbeauftragte. Seit 2010 Leitung der Stabstelle Altenplanung einer hessischen Universitätsstadt. Altern und Geschlecht bilden als Schnittmenge feministischer Wissenschaft und Sozialer Arbeit/Gerontologie einen Interessenschwerpunkt. Cornelia Fauser, Jg. 1980, staatl. anerkannte Erzieherin, Studium der Sozialen Arbeit in Freiburg i. Br. und Darmstadt, 2009 Abschluss als Dipl. Sozialarbeiterin an der Ev. Hochschule Darmstadt. Mehrere Jahre im Rahmen der Jugendarbeit und in der Beruflichen Bildung beschäftigt; seit 2011 im Arbeitsfeld der Betrieblichen Sozialarbeit tätig. Johanna Hildebrandt, Jg. 1958, Studium der Evangelischen Theologie, Altenpflegeausbildung, Studium der Sozialen Arbeit an der Ev. Hochschule Darmstadt, 2008 Abschluss als Dipl. Sozialarbeiterin. Langjährige Mitarbeit in verschiedenen kirchlichen und sozialpflegerischen Arbeitsfeldern. Seit 2005 in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz tätig. Trägerin des Förderpreises der Evangelischen Hochschulgesellschaft im Jahr 2009 für die Diplomarbeit „Lebenslagen und Lebenswelten alter Menschen. Konsequenzen für die Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit.“ Gabriele Kleiner, Jg. 1956, Dipl. Sozialarbeiterin, Dipl. Sozialgerontologin, langjährige Erfahrung in der Klinischen Sozialarbeit und in Projekten der Sozialen Altenarbeit. Promotion im Jahr 2001 an der Gesamthochschule Kassel zum G. Kleiner (Hrsg.), Alter(n) bewegt, DOI 10.1007/978-3-531-94258-2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

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Thema „Ambulante Rehabilitation im Alter – Der Stellenwert psychosozialer Orientierungen“. Seit 2006 Professorin für Soziale Gerontologie, seit 2011 für Sozialarbeit/Sozialpädgogik mit dem Schwerpunkt Gemeinwesenarbeit an der Ev. Hochschule Darmstadt. Anna Läsker, geb. Voß, Jg. 1983, Studium der Sozialen Arbeit an der Ev. Hochschule Darmstadt, 2008 Abschluss als Dipl.Sozialpädagogin. Seit 2010 bei einem privaten Bildungsträger in der offenen Jugendarbeit tätig. Melanie Röhn, Jg. 1979, Studium der Sozialen Arbeit an der Ev. Hochschule Darmstadt, 2009 Abschluss als Dipl. Sozialarbeiterin. Langjährige ehrenamtliche Mitarbeit in der Wohlfahrtspflege, seit 2007 in der Sozialen Altenarbeit einer Wohlfahrtsorganisation tätig. Gerlinde Thomas, Jg. 1952, Studium der Sozialen Arbeit an der Ev. Hochschule Darmstadt, 2010 Abschluss als Dipl. Sozialpädagogin, seit 2010 in der Klinischen Sozialarbeit einer Geriatrischen Klinik tätig, Studentin im Masterstudiengang Soziale Arbeit an der Ev. Hochschule Darmstadt. Marja Weiser, Jg. 1984, Studium der Sozialen Arbeit an der Ev. Hochschule Darmstadt, 2010 Abschluss als Dipl. Sozialpädagogin. Seit 2010 im Arbeitsfeld der Behindertenhilfe, Bereich Betreutes Wohnen tätig. Pinar Yortanli, Jg. 1984, Studium der Sozialen Arbeit an der Ev. Hochschule Darmstadt, 2008 Abschluss als Dipl. Sozialpädagogin. Masterstudium der Sozialen Arbeit an der Hochschule Darmstadt, Abschluss Soziale Arbeit M.A. 2010. Seit 2009 bei einem Verein in den Bereichen der Einzelfallhilfe und der Betreuung an Schulen tätig.