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German Pages 157 [142] Year 2012
Management – Bildung – Ethik Herausgegeben von H. Hoch, Konstanz B. Kraus, Freiburg G. Rausch, Freiburg J. Rausch, Freiburg W. Schwendemann, Freiburg B. Seibel, Freiburg
Die Schriftenreihe widmet sich forschungsorientierten Fragestellungen zur Organisation von Bildungseinrichtungen, zur Professionalisierung von Leitungspersonen und der kritischen Reflexion von Führungshandeln. Im Kontext marktwirtschaftlicher Orientierung und ökonomisch begründeter Outputorientierung von Bildungsprozessen werden aktuelle Diskussionen zur Professionalisierung des bundesdeutschen Bildungssystems aufgegriffen. Die Reihe bietet ein Publikationsforum für NachwuchswissenschaftlerInnen sowie für Monografien, Sammel- und Tagungsbände von WissenschaftlerInnen aus den Bereichen Ökonomie, Bildungswissenschaften (inkl. Bildungs- und Schulmanagement), Soziale Arbeit und Sozialmanagement. Zielgruppe der Reihe sind KollegInnen aus Forschung und Lehre, ebenso Führungskräfte und Leitungsverantwortliche aus den Bereichen der Wirtschaft, des Bildungs und Schulwesens und des Dienstleistungssektors.
Herausgegeben von Prof. Dr. Hans Hoch Universität Konstanz
Dr. Jürgen Rausch Evangelische Hochschule Freiburg
Prof. Dr. Björn Kraus Evangelische Hochschule Freiburg
Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann Evangelische Hochschule Freiburg
Prof. Dr. Günter Rausch Evangelische Hochschule Freiburg
Prof. Dr. Bernd Seibel Evangelische Hochschule Freiburg
Rolf Ahlrichs
Zwischen sozialer Verantwortung und ökonomischer Vernunft Unternehmensethische Impulse für die Sozialwirtschaft
RESEARCH
Rolf Ahlrichs Voestalpine Linz, Österreich
Springer VS ISBN 978-3-531-18595-8 DOI 10.1007/978-3-531-94355-8
Bernhard Schmidt Langenhagen, Deutschland
ISBN 978-3-531-94355-8 (eBook)
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media www.springer-vs.de
Geleitwort
Sozialwirtschaftliche Unternehmen stehen unter dem Einfluss von Wirkfaktoren, die durch die prognostizierten gesellschaftlichen Veränderungen, etwa in Bezug auf die zukünftigen demografischen Entwicklungen, den Wandel von traditionellen und kontinuierlichen Berufsbiografien hin zu wechselzyklischen Beschäftigungsstrukturen mit multiprofessionalem Hintergrund bestimmt sind. Hinzu kommen die nachhaltigen Veränderungen unserer Umwelt und deren Auswirkungen auf die persönliche Lebensgestaltung, die mehr und mehr wohlfahrtstaatliche Transferleistungen erforderlich machen, für die die finanziellen Ressourcen jedoch begrenzt sind. Diese Veränderungen, die eine aktuelle Diskussion zur Neubestimmung der Aufgaben von Wohlfahrtsverbänden und Trägern Sozialer Dienste und Umfang und Formen von Transferleistungen begründen, problematisieren zwei wesentliche Aspekte, die zu einem erweiterten Verständnis sozialwirtschaftlicher Unternehmen führen: Veränderungen und Vielfalt. Mit Veränderungen sind jene Prozesse und Entwicklungen gemeint, die nachhaltig auf die bestehende gesellschaftliche Ordnung und deren Vollzug einwirken. Zusammengefasst werden diese Veränderungen unter dem Begriff der Globalisierung, die durch die rasante Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien zusätzlich beschleunigt wird und ihren Niederschlag im sozialstaatlichen Gefüge findet. In der Folge werden soziale Leistungen, Angebotsstrukturen des Gemeinwohls und Selbstverantwortung des Einzelnen im Kontext marktrelevanter Denkweisen diskutiert. Solche Entfaltungen gesellschaftlichen Wandels führen dazu, dass es zu Neuordnungen der kulturellen, sozialen, religiösen und wirtschaftlichen Verhältnisse kommt; und bisher homogene Gesellschaftsstrukturen zeichnen sich zunehmend durch eine hochgradige Heterogenität aus. In der Folge werden bisherige anerkannte Werte und Normen, kulturelle Traditionen oder die Bedeutung der Religionen in einer Gesellschaft hinterfragt, bereichert und verändert. Diese Prozesse wirken als Umweltfaktoren auf sozialwirtschaftliche Unternehmungen. Deren Reaktionsverhalten wirkt sich dabei unmittelbar auf deren organisatorischen Strukturen und deren Selbstverständnis und Handlungsautonomie aus.
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Geleitwort
Vor diesem Hintergrund und den aktuellen Ereignissen auf dem Weltfinanzmarkt bzw. der Verschuldungslage einiger europäischer Staaten wendet sich Rolf Ahlrichs mit seiner Arbeit einem bedeutsamen Forschungsfeld zu: der Unternehmens- und Wirtschaftsethik. Insbesondere lässt sich der Autor von der grundsätzlichen, und an dieser Stelle mit einer rhetorischen Tonation unterlegten, Frage leiten, wie weit eine (Sozial-) Unternehmung zukunftsfähig sein kann, wenn verantwortliches Unternehmerhandeln sich an unternehmensethischen Grundsätzen orientiert und verantwortet. Zur Beantwortung seiner Leitfrage wendet sich der Autor der Sozialwirtschaft und dem Sozialmanagement zu und sucht nach einer Klärung des Begriffes insofern, als er Sozialmanagement hinsichtlich des „Was“ – Management des Sozialen und hinsichtlich des „Wie“ – ein sozial verantwortliches Management zu erhellen sucht, ohne sich dabei auf bereits gelegten Pfaden zu bewegen. Letztlich sucht der Autor nach Antworten für seine Eröffnungshypothese, in der er sozialwirtschaftlichen Unternehmen zwar eine eigene Unternehmensethik verordnet, hinsichtlich Führung und Management jedoch von einer Ambilavenz zur Erwerbswirtschaft ausgeht. Sehr anschaulich rezipiert der Autor neuere unternehmensethische und wirtschaftsethische Ansätze, die er in Kapitel 4 entlang vorher extrahierter sozialwirtschaftlicher Rahmenbedingungen diskutiert. Bereits hier lassen sich aufschlussreiche Erkenntnisse für das Forschungsfeld ausmachen: 1. 2.
Das Thema Unternehmensethik ist für die Sozialwirtschaft noch nicht hinreichend entfaltet. Ethische Konzepte wenden sich ausschließlich dem Innenleben von Organisationen zu und geben keine Antwort auf globale und gesellschaftspolitische Entwicklungen der Umwelt von Sozialwirtschaft.
Den weiteren Gedanken des Autors folgend, gründet ein unternehmensethisch verortetes unternehmerisches Handeln, anders als eine marktwirtschaftliche Unternehmensphilosophie verfolgt, immer auf einem moralischen Diskurs der Entscheidungsträger. In der Folge wird einem gewinnorientierten Prinzip dadurch jegliche Legitimität entzogen, denn mit Ulrich gesprochen, zeichnen sich moralische Personen eben dadurch aus, dass sie ihr Erfolgsstreben in konsequente Abhängigkeit zu dessen ethisch-argumentativer Vertretbarkeit gegenüber anderen stellen (Ulrich 1999, S. 47). Das sozialökonomische Konzept Ulrichs wird vom Autor für den weiteren Verlauf der Arbeit favorisiert, weil es sich, anders als andere Ethik-Ansätze, als sprachfähig gegenüber den globalen Herausforderungen erweist. Der Autor akzentuiert als Konsequenz eine „integre Unternehmensführung“ in Kontrastierung zum erwerbswirtschaftlichen Prinzip einer marktwirtschaftlich strukturierten Gesellschaftsordnung. Der Forderung nach einem Integritätsma-
Geleitwort
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nagement stellt der Autor moralische Rückenstützen zur Seite, etwa Good Corporate Governance. Ziel ist es, Grundzüge einer sozialwirtschaftlichen Ethik zu entfalten und schließt Unternehmen, Gesellschaft und den Einzelnen über einen Diskurs zu Inverantwortungnahmen ein. Die luziden Ausführungen sucht der Autor mit einer explorativen Untersuchung einerseits zu validieren und andererseits Impulse für eine Ethik der Sozialwirtschaft zu explizieren. Tatsächlich stellt der Autor fest, was der Trend und die in anderen Bezügen geführten Diskussionen zur Ökonomisierung des Sozialen andeuten: Eine Abgrenzung der Sozialwirtschaft gegen die Erwerbswirtschaft wird zunehmend schwieriger und über die qualitativ erhobenen Daten bestätigen sich mehr Gemeinsamkeiten als Abgrenzungen. Entsprechend kommt der Autor zu der Erkenntnis, dass sich die Hypothese seiner Arbeit nicht bestätigen lässt und sich die Führung in sozialwirtschaftlichen von der in erwerbswirtschaftlichen Unternehmen nicht grundlegend unterscheidet. In seinem Fazit konkretisiert Rolf Ahlrichs seine empirisch gewonnenen Erkenntnisse und widerlegt seine Eingangsthese, wonach sich sozialwirtschaftliche Unternehmungen in ihrem Management deutlich von dem eines erwerbswirtschaftlich ausgerichteten Unternehmens unterscheiden. Insofern resümiert der Verfasser, dass es sowohl in der Sozial- als auch in der Profitwirtschaft gute Beispiele gibt, die anderen Unternehmen Orientierung geben (vgl. S. 126), organisationsspezifische Rahmenbedingungen für eine ethische Führung zu schaffen. Die Arbeit schließt der Verfasser mit Anregungen für die Praxis und den wissenschaftstheoretischen Diskurs ab. Der Beitrag von Rolf Ahlrichs ist der Ertrag einer wissenschaftlichen Qualifizierungsarbeit im Masterstudiengang Sozialmanagement. Er zeigt nach Auffassung der Herausgeber der Schriftenreihe Management-Bildung-Ethik Risiken und Chancen für die Sozialwirtschaft auf, Risiken insofern, als die Nähe zur Erwerbwirtschaft dazu verleiten könnte, Führung unter dem Einfluss knapper werdender Ressourcen im Bedarfssektor zugunsten bilanzorientierter Jahresergebnisse zu entverantwortlichen. Andererseits liegt die Chance für die Sozialwirtschaft darin, sich der wirksamen und ethisch verantwortbaren Instrumente der Erwerbswirtschaft zu bedienen, um Prozesse und Kundenzufriedenheit zu optimieren und Wirksamkeit und Effizienz von Angeboten auch unter dem Einfluss von Kostendruck und Entsolidarisierung zu verbessern und damit weiterhin zu mehr Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit beitragen zu können. Freiburg, im Oktober 2011
Jürgen Rausch, Wilhelm Schwendemann
Danksagung
Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Masterthesis, die im Juni 2011 als Abschlussarbeit des berufsbegleitenden Masterstudiengangs Sozialmanagement an der Evangelischen Hochschule Freiburg eingereicht und angenommen wurde. Die Beschäftigung mit Wirtschaftsethik ist für einen Sozialmanager eher ungewöhnlich. Doch die Suche nach einer ethischen Orientierung, die ökonomische Vernunft und soziale Verantwortung verbindet, beschäftigt mich schon lange. So war es von der ersten Idee bis zum fertigen Buch ein weiter Weg, bei dem mich zahlreiche Menschen begleitet und auf unterschiedliche Weise unterstützt haben. Zuallererst möchte ich meinen acht Interviewpartnern für ihre Offenheit und ihre Zeit danken. Es ist nicht selbstverständlich, einem fremden Menschen einen so tiefen Einblick in den Unternehmensalltag und das eigene Führungsverständnis zu gewähren. Mein Dank gilt auch Gabriele Bartsch von der Stuttgarter Agentur Mehrwert für gute Ratschläge und Hinweise. Ein großer Dank gebührt meinem Erstgutachter Prof. Dr. Günter Rausch für die kritische Begleitung der gesamten Arbeit, für wichtige Einwände und für die außergewöhnliche menschliche und fachliche Unterstützung. Herzlich danken möchte ich auch Dr. Peter Marquard, der das Zweitgutachten übernommen hat und mir wertvolle Anregungen gab, und Dr. Jürgen Rausch, der mich zu dieser Buchveröffentlichung motiviert hat und mir dabei mit Rat und Tat zur Seite stand. Wegweisende Hinweise zur Theorie und Praxis qualitativer Forschungsmethoden verdanke ich Debora Niermann. Meiner Lektorin Britta GöhrischRadmacher vom VS-Verlag danke ich für die geduldige und hilfreiche Begleitung und Dr. Annette Nagel von Contexta für die professionelle Bearbeitung meines Manuskripts. Für ihre kritischen Anmerkungen und wertvollen Tipps danke ich Jacinda Sroka, Doris Hamer und Karin Karcheter. Sie haben mich auf manche fehlende Schlussfolgerung und manchen logischen Bruch aufmerksam gemacht und so dieses Buch maßgeblich beeinflusst. Ein großer Dank gilt auch den Kollegen in der Geschäftsführung der Evangelischen Jugend Stuttgart sowie Sylvia Ziegler, die mir in schwierigen Zeiten den Rücken freigehalten haben. Dem Kirchenkreis Stuttgart danke ich für die großzügige Unterstützung meines Studiums. Ein be-
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Danksagung
sonderer Dank gilt meinen Eltern, die meinen Berufsweg mit großem Interesse, unermüdlicher Wertschätzung und mancher unschätzbaren Hilfe begleiten. Ich widme dieses Buch Ulrike Bauer. Mit ihrem unerschütterlichen Optimismus, ihren konstruktiven Ratschlägen, ihrer liebevollen Geduld und ihren großartigen Kochkünsten hat sie mir in guten und schlechten Schreib- und Forschungszeiten zur Seite gestanden und so dieses Buch erst möglich gemacht. Freiburg, im September 2011
Rolf Ahlrichs
Inhalt
Abbildungsverzeichnis ..................................................................................... 15 1 Das Ziel dieses Buches ................................................................................ 19 1.1 Die Relevanz des Themas .................................................................... 19 1.2 Fragestellung und Vorgehensweise ...................................................... 21 1.3 Aufbau der Untersuchung .................................................................... 22 2 Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik ........................... 27 2.1 Grundbegriffe der Ethik ....................................................................... 27 2.1.1 Grundbegriffe der Wirtschaftsethik .......................................... 29 2.1.2 Grundbegriffe der Unternehmensethik ..................................... 32 2.2 Entwicklung der Unternehmens- und Wirtschaftsethik ....................... 32 2.3 Neuere Ansätze der Unternehmens- und Wirtschaftsethik................... 36 2.3.1 Ökonomische Ethik (Karl Homann) ......................................... 38 2.3.2 Governanceethik (Josef Wieland)............................................. 40 2.3.3 Diskursive Wirtschafts- und Unternehmensethik (Horst Steinmann) .............................................................................. 43 2.3.4 Integrative Wirtschaftsethik (Peter Ulrich)............................... 45 2.3.5 Capability Approach (Amartya Sen) ........................................ 49 2.4 Zusammenfassung ................................................................................ 51 3 Ethische Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft ................................ 53 3.1 Grundbegriffe der Sozialwirtschaft ...................................................... 53 3.2 Entwicklung der Sozialwirtschaft ........................................................ 58 3.3 Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft ........................................... 61 3.3.1 Zielsetzung ............................................................................... 62 3.3.2 Kundenbegriff........................................................................... 63 3.3.3 Finanzierung ............................................................................. 65 3.3.4 Ehrenamt .................................................................................. 66 3.3.5 Zusammenfassung .................................................................... 67 3.4 Ethik in der Sozialwirtschaft ................................................................ 68 3.5 Stellenwert ethischer Fragestellungen in der Sozialmanagementliteratur ................................................................... 70
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Inhalt
4 Konzepte für eine sozialwirtschaftliche Unternehmensethik .................. 75 4.1 Exkurs: Verantwortung und Leadership in der Sozialwirtschaft.......... 77 4.1.1 Der Begriff der Verantwortung ................................................ 77 4.1.2 Führung: Leadership oder Management? ................................. 80 4.1.3 Responsible Leadership ............................................................ 82 4.2 Wertemanagement nach Wieland......................................................... 83 4.2.1 Prinzipien.................................................................................. 84 4.2.2 Bausteine .................................................................................. 85 4.3 Wertorientierte Unternehmensführung nach Sen ................................. 86 4.4 Integre Unternehmensführung nach Ulrich .......................................... 89 4.4.1 Policies – Gesellschaftliche Mitverantwortung ........................ 89 4.4.2 Processes – Eckpfeiler des Integritätsmanagement .................. 91 4.4.3 People – Individuelle Verantwortung ....................................... 93 5 Zwischenfazit ............................................................................................... 97 6 Experteninterviews: Methodisches Vorgehen ........................................ 105 6.1 Experteninterviews als Methode empirischer Sozialforschung.......... 105 6.2 Auswahl der Interviewpartner ............................................................ 107 6.3 Transkription ...................................................................................... 109 6.4 Qualitative Inhaltsanalyse .................................................................. 110 6.5 Kategoriensystem ............................................................................... 112 7 Instrumente einer sozialwirtschaftlichen Unternehmensethik.............. 115 7.1 Kategorie 1: Verantwortung im Gemeinwesen .................................. 115 7.1.1 Standort-Verbundenheit.......................................................... 115 7.1.2 Kinderbetreuung / Familienförderung .................................... 116 7.2 Kategorie 2: Verantwortung für politische Rahmenbedingungen ...... 117 7.2.1 Demografischer Wandel ......................................................... 117 7.2.2 Weitere Themen ..................................................................... 117 7.3 Kategorie 3: Umgang mit Veränderungsprozessen ............................ 119 7.3.1 Beteiligung ............................................................................. 119 7.3.2 Verständnis von Veränderungsprozessen ............................... 120 7.4 Unternehmenskultur und Führungsgrundsätze ................................... 121 7.4.1 Unternehmenswerte ................................................................ 121 7.4.2 Umsetzung der Unternehmenswerte ....................................... 122 7.4.3 Umgang mit Mitarbeitern ....................................................... 123 7.5 Kategorie 5: Instrumente der Führungskräfteentwicklung ................. 124 7.5.1 Auswahl und Besetzung ......................................................... 125 7.5.2 Potentialanalysen .................................................................... 126
Inhalt
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7.5.3 Führungskräfteentwicklung .................................................... 126 7.6 Instrumente der Human Relations ...................................................... 127 7.6.1 Mitarbeitergespräch ................................................................ 128 7.6.2 Anreize ................................................................................... 129 7.6.3 Arbeitszeit .............................................................................. 130 7.7 Kategorie 7: Führungsverständnis...................................................... 131 7.7.1 Dienende Führungskraft? ....................................................... 132 7.7.2 Eigenschaften ......................................................................... 133 7.8 Kategorie 8: Verantwortungsverständnis ........................................... 134 7.9 Zusammenfassung .............................................................................. 136 8 Impulse für die Sozialwirtschaft .............................................................. 143 8.1 Anregungen für die Praxis ................................................................. 145 8.1.1 Was können sozialwirtschaftliche Unternehmen von der Profitwirtschaft lernen? ........................................................ 146 8.1.2 Was können erwerbswirtschaftliche Unternehmen von der Sozialwirtschaft lernen?........................................................ 146 8.2 Anregungen für die Theorie ............................................................... 147 9 Literatur..................................................................................................... 149 10 Anhang ....................................................................................................... 153 Anhang 1: Übersicht des Kategoriensystems .............................................. 153 Anhang 2: Interviewleitfaden ...................................................................... 155 Anhang 3: Übersicht der Interviews............................................................ 157
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Aufbau der Untersuchung .......................................................... 23 Abbildung 2: Drei-Ebenen-Modell der Wirtschaftsethik ................................. 31 Abbildung 3: Einordnung neuerer wirtschaftsethischer Ansätze ..................... 52 Abbildung 4: Begriffsdefinitionen der Sozialwirtschaft .................................. 58 Abbildung 5: 8-Stufen-Prozess des Responsible Change ................................ 92 Abbildung 6: Konzeptionelle Ansätze einer sozialwirtschaftlichen Ethik ..... 101 Abbildung 7: Übersicht der befragten Unternehmen ..................................... 109 Abbildung 8: Ablauf der qualitativen Inhaltsanalyse ..................................... 111
„Wo die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus.“ (Jürgen Habermas, 1985: 161)
Einführung
1 Das Ziel dieses Buches
1.1 Die Relevanz des Themas Sozialwirtschaftliche Unternehmen verstehen sich zuweilen als positive Gegenbeispiele zu Unternehmen der kapitalistischen Profitwirtschaft, gleichsam als „Inseln einer heilen Welt jenseits des Ökonomischen“ (Martin 2007: 194) – vielleicht sogar als utopische Oasen. Ihre Aufgabe ist gleichwohl eine andere: Sozialwirtschaftliche Unternehmen wurden in der Regel gegründet, um die Not bestimmter Personen oder Personengruppen zu lindern. Grundlage war meist die Vision von einer gerechteren Welt. So lautet die international anerkannte Definition der sozialen Arbeit: „Die Profession Soziale Arbeit fördert sozialen Wandel, Problemlösungen in menschlichen Beziehungen und die Stärkung und Befreiung von Menschen, um das Wohlergehen zu stärken.“1
Die Übernahme sozialer Verantwortung ist damit eine Kernaufgabe, sie ergibt sich aus einer christlichen oder humanistischen Tradition, den jeweiligen Wurzeln und der Entstehungsgeschichte der Organisation. Im Sozialstaat des 20. Jahrhunderts war die Finanzierung der Angebote gesichert, Konkurrenz gab es kaum (vgl. Brüll 2009: 131). Als Reaktion auf gesellschaftliche Problemlagen wurden in sozialwirtschaftlichen Unternehmen Leistungen konzipiert, für die Steuermittel bereitgestellt wurden (vgl. Merchel 2009b: 52; Martin 2007: 195). Das Spannungsverhältnis zwischen sozialer Verantwortung und ökonomischer Vernunft war für sozialwirtschaftliche Unternehmen somit fremd. Diese sicheren Rahmenbedingungen scheint es inzwischen nicht mehr zu geben. Die seit etwa zwei Jahrzehnten um sich greifende Ökonomisierung der Sozialarbeit in der Folge staatlicher Sparmaßnahmen zwingt soziale Organisationen zu betriebswirtschaftlichem Handeln, zuweilen mit negativen Folgen für die Leitung, das Personal und die betreuten Klienten2. Ökonomische Vernunft wird immer mehr zum Maßstab des Handelns in sozialwirtschaftlichen Unternehmen. Betriebswirt1
2
Beschluss der Generalversammlung der Internationalen Federation of Social Workers (ISFW) und der Internationalen Association of Schools Socials Work (IASSW) in Adelaide, Australien, im Oktober 2004, http://www.ifsw.org/p38000739.html [19.8.2011]. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird durchgehend die männliche Schreibweise verwendet. Sie schließt männliche und weibliche Personen ein.
R. Ahlrichs, Zwischen sozialer Verantwortung und ökonomischer Vernunft, DOI 10.1007/978-3-531-94355-8_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
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1 Das Ziel dieses Buches
schaftliche Instrumente samt ihrer Begrifflichkeiten werden übernommen, um für Effizienz oder Effektivität zu sorgen. Doch für die „Inseln einer heilen Welt“ stellt sich immer drängender die Frage nach der ursprünglichen oder neuen sozialen Verantwortung der Sozialwirtschaft. Eine Frage, die sich in ähnlicher Weise auch Unternehmen der Profitwirtschaft stellen. „Top-Manager geloben verantwortungsvolles Handeln“ titelte die ZEIT am 25. Oktober 20103. Einundzwanzig Führungskräfte deutscher Unternehmen hatten ein „Leitbild für verantwortliches Handeln in der Wirtschaft“4 unterzeichnet. Mit der Selbstverpflichtung wollen sie das in der Wirtschaftskrise verloren gegangene Vertrauen zurück gewinnen. Doch ihre soziale Verantwortung haben die Unternehmen nicht erst in den letzten Jahren entdeckt. Bereits im 12. Jahrhundert wurden Kaufleute „auf ihre ethischen Verpflichtungen hingewiesen“ (Steinmann / Löhr 1994: 1). Heute sind ethische Werte in Unternehmen mehr denn je gefragt5. Auslöser dafür ist die immer kritischere Haltung der Bevölkerung gegenüber grenzenlosem Wachstum und hemmungslosem Gewinnstreben in Zeiten der Globalisierung. Konsumenten fordern von Unternehmen verstärkt einen verantwortlichen Umgang mit Ressourcen, Mitarbeitern und der Umwelt. Diese Haltung wird genährt durch regelmäßig auftretende Skandale, die unethischem Verhalten von Unternehmen, öfter noch von Führungskräften, zugeschrieben werden.6 Die berühmte Aussage Milton Friedmans „the social responsibility of business is to increase its profits“ (zitiert in Ullrich 2008: 435) scheint in dieser Zuspitzung nicht mehr zu stimmen. Unternehmen werden vielmehr an ihrer sozialen Verantwortung gemessen. Ethisches Handeln wird so zu einem Wettbewerbsfaktor. Dabei ist kritisch zu fragen, ob dem (vermeintlichen) Paradigmenwechsel eines Unternehmens hin zur sozialen Verantwortung tatsächlich moralische Einsichten zugrunde liegen oder ob sie ausschließlich ökonomischen Interessen dienen (vgl. Schwarz 2001: 63; Karmasin 2010: 234). Oder pointierter ausgedrückt: „Ethik droht […] zu degenerieren zu einem betriebswirtschaftlichen Element, das zur Optimierung von Führungsstilen und Produktionsabläufen beitragen will und soll“ (Gronemeyer 2010: 76).
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4 5
6
http://www.zeit.de/wirtschaft/2010-11/topmanager-selbstverpflichtung-verantwortung [8.12.2010] http://csr.bosch.com/content/language1/downloads/Leitbild_de.pdf [8.12.2010] Vgl. auch die Untersuchung von Ulrich / Thielemann (1992) zum ethischen Selbstverständnis von Führungskräften. Zu nennen sind hier Korruption, Umweltskandale, Lohndumping u.a.m.. Auf die veränderte Dynamik der öffentlichen Wahrnehmung solcher Vorfälle durch die „Mediatisierung“ der Gesellschaft kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu ausführlich Karmasin 2010.
1.2 Fragestellung und Vorgehensweise
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Auch jenseits dieser kritischen Perspektive stellt sich die Frage nach der sozialen Verantwortung von Unternehmen. Dabei sind die Folgen unternehmerischer Entscheidungen für die Wirtschaftsregion und die darin lebenden Menschen zu berücksichtigen, genauso wie die Beteiligung von Mitarbeitern am wirtschaftlichen Erfolg oder an Prozessen der Unternehmensentwicklung. So kommen auch die Unterzeichner des bereits erwähnten Leitbildes zu der Erkenntnis: „Langfristig wird die Wirtschaft ihre gesellschaftliche Rolle nur dann wahrnehmen können, wenn viele die Überzeugung teilen: Eine verantwortlich handelnde Wirtschaft fördert das Wohl der Menschen.“7
Neuere wissenschaftliche Ansätze der Wirtschafts- und Unternehmensethik geben dafür Orientierung, bieten Instrumente und Antworten auf drängende ethische Fragen. Für die Sozialwirtschaft sind diese Konzepte bislang allerdings nur zögerlich rezipiert worden (vgl. Gabriel 2008: 315). Diese Forschungslücke versucht dieses Buch zu schließen, indem systematisch die Ansätze der Wirtschafts- und Unternehmensethik auf ihre Kompatibilität mit den besonderen Bedingungen sozialwirtschaftlicher Unternehmen hin untersucht werden. 1.2 Fragestellung und Vorgehensweise Profit- und Sozialwirtschaft stehen derzeit vor denselben Herausforderungen: Beiden Wirtschaftsbereichen stellt sich die Frage nach einer unternehmensethischen Ausrichtung, die verantwortliches Handeln gegenüber Mitarbeitern und anderen Stakeholdern8 mit der ökonomischen Vernunft verbindet, die die Organisation überlebens- und zukunftsfähig erhält. In diesem Zusammenhang ist zu prüfen, ob sich Sozialmanagement nur im „Was“ unterscheidet, nämlich als Management von Organisationen der Sozialwirtschaft. Oder ob Sozialmanagement ein besonderes „Wie“ beschreibt – eine ethische Haltung, die dem Leben dient, ein soziales Management? Braucht es also eine eigene Unternehmensethik der Sozialwirtschaft? Und wenn ja, wie könnte diese aussehen? Bevor ich am Ende des Buches auf diese Fragen zurückkomme, sind folgende Fragen zu klären: a.
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Welche wissenschaftlichen Konzepte und Ansätze gibt es in der historischen und aktuellen Unternehmens- und Wirtschaftsethik und wie unterscheiden sie sich (Kapitel 2)? http://csr.bosch.com/content/language1/downloads/Leitbild_de.pdf. S. 2 [8.12.2010]. Eine viel zitierte Definiton des Begriffs Stakeholder lautet: „a stakeholder is any group or individual who can affect, or is affected by, the achievement of a corporation´s purpose” (Freeman, zitiert in Maak / Ulrich 2007: 176).
22 b. c.
d.
e.
1 Das Ziel dieses Buches
Wie unterscheidet sich die Sozialwirtschaft von anderen Wirtschaftsbereichen und welche Bedeutung haben ethische Fragen dabei (Kapitel 3)? Welche unternehmensethischen Ansätze lassen sich unter diesen sozialwirtschaftlichen Rahmenbedingungen umsetzen (Kapitel 4) und welche Hinweise geben sie für eine sozialwirtschaftliche Unternehmensethik (Kapitel 5)? Welche Instrumente oder welche organisatorischen Rahmenbedingungen sind förderlich für eine verantwortungsvolle und vernünftige Unternehmensführung? Unterscheiden sich diese in Profit- und Non-Profit-Organisationen (Kapitel 6 und 7)? Welche Impulse lassen sich daraus für die Unternehmensethik in sozialwirtschaftlichen Organisationen entwickeln (Kapitel 8)?
Dabei arbeite ich mit folgender Hypothese: Die verantwortliche Führung in der Sozialwirtschaft unterscheidet sich grundlegend vom Management einer Profitorganisation. Sozialwirtschaftliche Unternehmen benötigen daher spezifische Instrumente und Prinzipien der Unternehmensethik. 1.3 Aufbau der Untersuchung Mein Forschungsinteresse liegt auf der Rezeption wirtschaftsethischer Ansätze für die besonderen Bedingungen sozialwirtschaftlicher Unternehmen. Deshalb werden beide Themenbereiche (Wirtschaftsethik und Sozialwirtschaft) zunächst je einzeln analysiert. Auf dieser Grundlage folgt eine kritische Bewertung des potentiellen Nutzens der Ansätze für die Sozialwirtschaft. In qualitativen Interviews wird daran anschließend die Führungspraxis in sozial- und profitwirtschaftlichen Unternehmen untersucht, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen. Aus dem theoretischen und dem empirischen Teil folgen Impulse, die der Sozialwirtschaft helfen können, konstruktiv ihre Position im Spannungsfeld zwischen ökonomischer Vernunft und sozialer Verantwortung zu finden. Die folgende Grafik zeigt den systematischen Aufbau dieser Arbeit:
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1.3 Aufbau der Untersuchung
Kapitel 3: Ethische Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft
2.1 Grundbegriffe der Ethik 2.2 Entwicklung der Unternehmens- und Wirtschaftsethik 2.3 Neuere Ansätze der Unternehmens- und Wirtschaftsethik 2.4 Zusammenfassung
3.1 Grundbegriffe der Sozialwirtschaft 3.2 Entwicklung der Sozialwirtschaft 3.3 Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft 3.4 Ethik in der Sozialwirtschaft 3.5 Stellenwert ethischer Fragestellungen in der Sozialmanagementliteratur
Kapitel 4: Konzepte für eine sozialwirtschaftliche Unternehmensethik
4.1 Exkurs: Verantwortung und Leadership in der Sozialwirtschaft 4.2 Wertemanagement nach Wieland 4.3 Wertorientierte Unternehmensführung nach Sen 4.4 Integre Unternehmensführung nach Ulrich
Theoretischer Teil
Kapitel 2: Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik
Kapitel 5: Zwischenfazit
Kapitel 6: Experteninterviews: Methodisches Vorgehen 6.1 Experteninterviews als Methode empirischer Sozialforschung 6.2 Auswahl der Interviewpartner 6.3 Transkription 6.4 Qualitative Inhaltsanalyse 6.5 Kategoriensystem
Empirischer Teil
Kapitel 7: Instrumente einer sozialwirtschaftl. Unternehmensethik 7.1 Kategorie 1: Verantwortung im Gemeinwesen 7.2 Kategorie 2: Verantwortung für politische Rahmenbedingungen 7.3 Kategorie 3: Umgang mit Veränderungsprozessen 7.4 Unternehmenskultur und Führungsgrundsätze 7.5 Kategorie 5: Instrumente der Führungskräfteentwicklung 7.6 Instrumente der Human Relations 7.7 Kategorie 7: Führungsverständnis 7.8 Kategorie 8: Verantwortungsverständnis 7.9 Zusammenfassung 8. Impulse für die Sozialwirtschaft
Abbildung 1:
Aufbau der Untersuchung
Fazit
8.1 Anregungen für die Praxis 8.2 Anregungen für die Theorie
Theoretischer Teil
2 Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik
Es gibt zahlreiche wirtschaftsethische Ansätze und Theorien. Ihre Sichtweisen und ökonomischen Grundlagen sind nicht einheitlich, zum Teil sogar gegensätzlich. Prinzipiell wird zwischen Wirtschafts-, Unternehmens- und Individualethik unterschieden (vgl. Noll 2002). Die Wirtschaftsethik befasst sich vorrangig mit ethischen Fragen des volkswirtschaftlichen Systems. Die Unternehmensethik gibt Hinweise für das Handeln eines einzelnen Unternehmens innerhalb dieses Systems, ist also eher betriebswirtschaftlich ausgerichtet. Die Individualethik konzentriert sich auf die Verantwortung des Einzelnen innerhalb eines Unternehmens. Zu Beginn ist eine Begriffsklärung nötig, um die genannten Teildisziplinen in die Ethik insgesamt einzuordnen. Es folgt eine Klärung der Begriffe der Wirtschafts- bzw. der Unternehmensethik. Diese ist Grundlage für einen skizzenhaften Durchgang durch die Entwicklung der Wirtschaftsethik mit Konzentration auf neuere Ansätze der Wirtschafts- und Unternehmensethik. Auf diese Ansätze nehme ich im weiteren Verlauf der Untersuchung wieder Bezug, wenn es darum geht, Schnittmengen zwischen Sozialwirtschaft und unternehmensethischen Ansätzen aufzuzeigen und diese für die Sozialwirtschaft fruchtbar zu machen9. 2.1 Grundbegriffe der Ethik Im Folgenden geht es darum, eine für den weiteren Verlauf der Untersuchung hilfreiche Begriffsklärung der ethischen Grundbegriffe Werte, Normen, Moral, Ethik und Ethos vorzustellen. Diese wird ergänzt durch wichtige ethische Denkansätze. Unter Werten werden die wünschenswerte Ziele eines Individuums oder einer Gruppe verstanden, z.B. Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Sicherheit, Gesundheit, Wohlstand und Menschenwürde (vgl. Karmasin / Litschka 2008: 13; Noll 2002: 9). Die persönlichen Werte beeinflussen die Wahl unter verschiedenen Handlungsalternativen, die einem Menschen zur Verfügung stehen.
9
Vgl. Kap. 4
R. Ahlrichs, Zwischen sozialer Verantwortung und ökonomischer Vernunft, DOI 10.1007/978-3-531-94355-8_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
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2 Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik
Während Werte also wünschenswerte Ziele sind, wird unter Normen die Überleitung von Werten in verbindliche Handlungsanleitungen oder Verhaltensrichtlinien verstanden. Normen sind konkretisierte Werte (vgl. Noll 2002: 9), sie geben Auskunft darüber, was ein Mensch tun soll (Gebote) oder lassen soll (Verbote). Normen können nach ihrer Verbindlichkeit in moralische Normen und gesetzliche Normen unterschieden werden (vgl. ebd.: 10). Gesetze sind „verbindliche Muss-Normen, die von einer legitimen staatlichen Autorität […] schriftlich erlassen und bekannt gemacht werden […], deren Einhaltung systematisch von dazu befugten Stellen kontrolliert und deren Nichteinhaltung grundsätzlich bestraft wird“ (Göbel 2006: 8).10
Unter Moral wird die Gesamtheit der Normen verstanden, die „das ‚gute‘ und ‚richtige‘ Handeln des Menschen“ (Karmasin / Litschka 2008: 13) enthalten. Homann / Lütge definieren Moral als „einen Komplex von Regeln und Normen, die das Handeln der Menschen bestimmen oder bestimmen sollen und deren Übertretung zu Schuldvorwürfen gegen sich selbst bzw. gegen andere führt“ (2004: 12). Steinmann / Löhr grenzen Moral als die „faktisch herrschenden Normen eines abgegrenzten Kulturkreises“ ein (1994: 8). Ethik ist die „reflexive oder wissenschaftliche Beschäftigung mit Moral“ (Karmasin / Litschka 2008: 14, ähnlich in Steinmann / Löhr 1994: 8). Ethik beschäftigt sich mit dem „Zusammenhang der einzelnen Normen, mit ihrer Begründung und Konsistenz, mit ihrer Entstehung und Funktion sowie mit Vorgangsregeln für die Fälle, in denen es zwischen verschiedenen Regeln zu verschiedenen Handlungsempfehlungen, zu Konflikten also, kommt“ (Homann / Lütge 2004: 12).
Dabei wird unterschieden zwischen der deskriptiven Ethik, die Normensysteme systematisiert und erklärt und der normativen Ethik, die Normensysteme bewertet und als allgemein verbindlich kennzeichnet (vgl. ebd.). Ethos ist „die innere Moral des Menschen, seine Haltung und Einstellung zum ethischen Handeln“ (Karmasin / Litschka 2008: 14). Aristoteles bezeichnete unreflektierte Gewohnheiten und Traditionen als Ethos (vgl. Maaser 2010: 12) und war davon überzeugt, dass sich das Ethos durch das Nacheifern von Vorbildern entwickelt (vgl. Göbel 2006: 11). Ethik ist dann eine „sich kritisch und konstruktiv auf das Ethos beziehende Reflexionsleistung“ (Maaser 2010: 12). 10
Kritisch muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass mit dieser Definition noch nichts darüber ausgesagt ist, ob es sich bei den Gesetzen um Normen auf der Grundlage wünschenswerter Ziele einer gesellschaftlichen Mehrheit handelt. Auch kann es gerade zu den wünschenswerten Zielen gehören, bestimmte Gesetze außer Kraft zu setzen, wie in der Debatte um die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken deutlich wurde.
2.1 Grundbegriffe der Ethik
29
Der Begriff Ethos wird allerdings noch in anderer Weise verwendet: Wenn eine Gruppe von Menschen dieselbe innere Haltung und Einstellung verbindet, die sie miteinander vereinbaren, so wird dieses Regelwerk auch als Berufsethos oder Kodex bezeichnet (vgl. Kunze 2008: 22). Eng mit dem Ethos hängt der Begriff Tugend zusammen. Er beschreibt die „Kompetenzen und Fähigkeiten, die einen Menschen in den Stand setzen, bedeutsame Ziele zum Wohle anderer wie auch seiner selbst beharrlich anzustreben und zu erreichen“ (Kunze 2008: 23, in Anlehnung an Berkel / Herzog). In der neueren Ethikdiskussion wird zwischen deontologischen (Pflichtethik) und teleologischen (Folgenethik) Richtungen unterschieden (vgl. Noll 2002: 16ff). Deontologische Ethiken orientieren sich an Grundsätzen, d.h. es geht in letzter Konsequenz um die Einstellung des Handelnden, nicht um die Folgen seiner Handlung. Folglich werden Handlungsanweisungen aufgestellt, die möglichst allgemeingültig sind. Berühmte Beispiele sind die 10 Gebote oder der Kategorische Imperativ11. Teleologische Ansätze fokussieren dagegen die Folgen einer Handlung. Die ethische Beurteilung einer Handlung als „gut“ oder „richtig“ hängt von der Situation ab, ist also weniger grundsätzlich. Die Konsequenzen für alle, die von einer Handlung betroffen sind, sind das entscheidende Kriterium. Berühmte Vertreter sind Jeremy Bentham und John Stuart Mill, die einen am Allgemeinwohl ausgerichteten Utilitarismus12 begründen13. Max Weber prägte den Begriff Gesinnungsethik für deontologische Ansätze, teleologische Theorien nannte er dagegen Verantwortungsethik (vgl. Noll 2002: 20). 2.1.1 Grundbegriffe der Wirtschaftsethik Die Aufgabe der Wirtschaftsethik ist, analog der Begriffsdefinition der Ethik, die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Normen und Werten der Wirtschaft. Als Wirtschaft bzw. Ökonomie14 wird „derjenige Teil menschlichen Handelns [bezeichnet], der in Verfügungen (Entscheidungen) über knappe Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse besteht“ (Brockhaus 1994). Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften wird zwischen der Volkswirtschaftslehre, also der Lehre von der „Bewirtschaftung knapper gesellschaftlicher Ressourcen“ (Kar11 12
13 14
Siehe auch die Ausführungen zu Immanuel Kant, Kap. 2.2. Ziel des Utilitarismus ist der größtmögliche Nutzen für die Gesellschaft oder mit Benthams Worten „das größte Glück der größten Zahl“ (zitiert in Noll 2010: 177). Siehe auch die Ausführungen zu John Stuart Mill, Kap. 2.2. Der Begriff Ökonomie geht zurück auf die griechischen Begriffe oikos (Haus, Haushalt) und nomos (Gesetz). Die Ökonomie beschreibt in ihrer ursprünglichen Bedeutung die Regeln oder Gesetze guter Haushaltsführung bzw. „das gute Leben im wohlgeordneten Haus“ (Noll 2010: 66).
30
2 Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik
masin / Litschka 2008: 18), und der Betriebswirtschaftslehre, die das einzelne Unternehmen untersucht, unterschieden. Anknüpfend daran unterscheidet die Wirtschaftsethik drei Ebenen: die Führungs- oder Individualethik, die Unternehmensethik und die Wirtschafts- oder Ordnungsethik (vgl. Noll 2002; Karmasin / Litschka 2008: 27). Diese Unterscheidung bildet sich in den Begriffen der Makro-, Meso- und Mikroebene der Wirtschaftsethik15 ab (s. Abb. 2):
15
Themen auf der Makroebene sind die ethischen Grundsätze einer Volkswirtschaft oder eines Wirtschaftssystems. Dazu gehören Fragen der Steuern und Gesetze, aber auch grundsätzliche Themen wie eine gerechtere Wirtschaftsordnung. Diese Ebene wird auch als Ordnungsethik bezeichnet. Auf der Mesoebene werden einzelne Unternehmen und Organisationen betrachtet. Zentrale Themen sind die Unternehmenskultur und die Instrumente zur Umsetzung ethisch vertretbaren unternehmerischen Handelns. Die Mikroebene untersucht die individuellen Handlungen. Es geht dabei um die Verantwortung des einzelnen Mitarbeiters oder der Führungskraft gegenüber seinen Mitmenschen, dem Unternehmen, der Umwelt oder der Gesellschaft.
Zum Folgenden vgl. Noll 2002.
2.1 Grundbegriffe der Ethik
Abbildung 2:
31
Drei-Ebenen-Modell der Wirtschaftsethik (eig. Darst. in Anlehnung an Noll 2002: 35 und Kunze 2008: 89)
Entsprechend dieser Unterscheidung ergeben sich unterschiedliche Adressaten für die wirtschaftsethischen Forderungen bzw. unterschiedliche Ausrichtungen der Theorien. Ansätze, die auf der Makroebene angesiedelt sind, wenden sich an staatliche Institutionen und fordern Änderungen der Rahmenordnung des bestehenden Wirtschaftssystems zur Umsetzung ethischer Prinzipien16. Trotz reglementierten Wettbewerbs und strikten Rahmenbedingungen bleiben Spielräume für das unternehmerische Handeln. Ansätze auf der Mesoebene setzen dort an und formulieren ethische Anforderungen an das einzelne Unternehmen17. Die Mikroebene beleuchtet die für ein verantwortungsvolles Handeln nötigen Fähigkeiten und Tugenden des Individuums. Wichtig ist, dass das unternehmerische Handeln stets von allen drei wirtschaftsethischen Ebenen abhängt. Obwohl sich 16
17
Ein Beispiel für einen solchen Ansatz ist die ökonomische Ethik nach Karl Homann, vgl. Kap. 2.3.1. So etwa der Ansatz von Josef Wieland, dargestellt in Kap. 2.3.2.
32
2 Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik
dieses Buch auf die Mesoebene konzentriert, fließen deshalb auch Gedanken zur Makro- und Mikroebene ein. 2.1.2 Grundbegriffe der Unternehmensethik Unternehmensethik ist ein Teilbereich der Wirtschaftsethik. Sie beschäftigt sich mit den Werten und Normen eines Unternehmens. Damit eng verknüpft sind die Visionen und Strategien, aus denen strategische und operationalisierbare Ziele entwickelt werden. Als Unternehmen wird eine Einheit bezeichnet, „die unabhängig von ihrer Rechtsform […] eine wirtschaftliche oder gemeinnützige […] Tätigkeit ausübt“ (Maelicke 2008: 1035).18 Unternehmensethik ist nicht losgelöst von den Bedingungen des Marktes zu diskutieren, sie thematisiert das Spannungsfeld zwischen den moralischen Ansprüchen einerseits und den ökonomischen Zielen andererseits (vgl. Kunze 2008: 106). Die gesetzlichen und ordnungspolitischen Rahmenbedingungen dieses Marktes bleiben in Zeiten globaler Wirtschaftsprozesse und komplexer internationaler Verflechtungen stets lückenhaft. An dieser Stelle setzt Unternehmensethik an. Vorrangiges ökonomisches Ziel der Unternehmensethik ist nach Kunze der „nachhaltige und ethisch vertretbare Erfolg“ (2008: 110) zur langfristigen Sicherung der Existenz des Unternehmens. Die Unternehmensethik findet häufig Eingang in formulierte Kodizes, z. B. Leitbilder, Führungsprinzipien, Ethikgrundsätze usw., sie zeigt sich aber auch in der Unternehmenskultur, im Umgang mit Konflikten oder in der internen und externen Kommunikation (vgl. ebd.: 113). 2.2 Entwicklung der Unternehmens- und Wirtschaftsethik Von der Antike bis in die Neuzeit gehörten ökonomische und ethische Fragen untrennbar zusammen (vgl. Noll 2002: 33). Eine umfassende Darstellung sämtlicher bedeutender Philosophen, die die ethische Diskussion prägten, kann hier nicht geleistet werden. Es sollen stattdessen einige Gedanken skizziert werden, die den wirtschafts- und unternehmensethischen Diskurs bis heute bestimmen19. Einen ersten wesentlichen Beitrag zur heutigen Wirtschaftsethik lieferten die griechischen Philosophen Sokrates (469 v. Chr. – 399 v. Chr.), Platon (427 v. Chr. – 347 v. Chr.) und Aristoteles (384 v. Chr. – 322 v. Chr.). Im Mittelpunkt 18
19
Auf der Grundlage dieser Definition wird in dieser Arbeit der Begriff „sozialwirtschaftliche Unternehmen“ verwendet. Zur Definition der Sozialwirtschaft siehe Kap. 3. Vgl. zum Folgenden Kunze 2008: 26ff sowie Noll 2010.
2.2 Entwicklung der Unternehmens- und Wirtschaftsethik
33
ihres Wirkens stand eine Tugendethik, die sich der ethischen Grundhaltung des Menschen und seiner tugendhaften Lebensweise widmet. Es handelt sich damit um ein individualethisches Konzept mit dem Ziel eines guten, gelingenden Lebens. Den Weg dahin skizzierten die griechischen Philosophen freilich unterschiedlich (vgl. Noll 2010: 62). Während Platon auf Vernunft setzte, die durch Bildung erreicht werden kann, favorisierte Aristoteles die persönlichen Erfahrungen und die Einübung ethischer Tugenden. Sokrates hingegen baute auf den Dialog zur ethischen Entscheidungsfindung – ein Gedanke, der in der Diskursethik wieder aufgenommen worden ist. Aristoteles ist der erste Philosoph, der Ethik als eine eigenständige Disziplin formulierte. Zu seiner Lehre gehören neben der individualethischen Tugendlehre auch Politik20 und Ökonomie. Für Aristoteles hat die Ökonomie „dienende Funktion“ (Noll 2010: 68). Es geht dabei um „die Herstellung optimaler, nicht maximaler Verhältnisse“ (ebd.). Aristoteles prägte auch das Verständnis des Menschen als „zoon politikon“, danach ist der Mensch ein gesellschaftsfähiges Wesen und benötigt zum Überleben die Gemeinschaft bzw. andere Menschen. Das gute Leben des Einzelnen ist demzufolge nur in der Gemeinschaft freier Bürger realisierbar. Der politische und philosophische Austausch dient der gegenseitigen Bereicherung. Grundlage dieser Gemeinschaft ist die Gerechtigkeit. Diese ist für Aristoteles sowohl eine individuelle Tugend, als auch Maßstab des politischen Handelns (vgl. Noll 2010: 72). Eine weitere wesentliche ethische Grundorientierung findet sich in der Bibel. Zwar handelt es sich dabei keineswegs um ein einheitlich formuliertes ethisches Werk, sondern vielmehr um eine Sammlung unterschiedlicher Texte von unterschiedlichen Autoren, die in ihrem jeweiligen Kontext interpretiert werden müssen. Dennoch lassen sich einige ethische Prinzipien herauslesen. So handelt es sich etwa bei den 10 Geboten (2. Mose 20) um eine Gesetzessammlung, die bis heute moralische Gültigkeit hat. Während des Alte Testament von einer deontologischen „Gesetzesethik“ (Noll 2010: 93) durchzogen ist, ist das Neue Testament von einer „Liebesethik“ (ebd.) geprägt. Das Doppelgebot der Liebe (Matth. 22,37-40) relativiert die Gesetzesethik, indem ihr mit dem Gebot der Nächstenliebe Werte wie Barmherzigkeit und Güte entgegen gestellt werden (vgl. Noll 2010: 93). Aus wirtschaftsethischer Sicht ist interessant, dass die Bibel einige Regeln zur Wirtschaft formuliert, die mittlerweile allerdings nicht mehr gültig sind, so zum Beispiel das Zinsverbot (5. Mose 23,20-21) oder der Schuldenerlass im Sabbatjahr (5. Mose 15,2). Die Herrschaft der (katholischen) Kirche und ihre Moral bestimmten das Mittelalter. Die Kirche legitimierte die bestehende gesellschaftliche Ordnung und unterband jegliche ethische Reflektion. Fragen 20
Der Begriff geht zurück auf den griechischen Begriff polis (Stadt, Staat, Gemeinwesen).
34
2 Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik
von Recht und Moral waren der Religion untergeordnet. Das Mittelalter war in wirtschaftsethischen Fragestellungen deshalb im Wesentlichen von Stagnation geprägt (vgl. Noll 2010: 155).21 Das änderte sich mit dem Beginn der Neuzeit. An die Stelle der mittelalterlichen Stände und Zünfte trat eine bürgerliche Gesellschaft. Es entwickelte sich der Kapitalismus als prägendes Wirtschaftssystem bzw. die Marktwirtschaft als Form des Austausches von Waren22. Damit entstand auch eine neue bürgerliche Ethik, die den Menschen als „gestaltendes, vernunftgeleitetes und an selbst verantworteten, sittlichen Grundsätzen orientiertes Wesen“ (Noll 2010: 169) sieht. Ein zentraler Vertreter dieser neuen Ethik war Immanuel Kant (1724 – 1804). Er ging davon aus, dass der Mensch einen freien Willen hat und für sein Tun verantwortlich ist. Auf dieser Basis formulierte er den Kategorischer Imperativ als Maßstab für gewissenhafte Entscheidungen des freien Menschen: „Handle so, dass die Maxime Deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (zitiert in Noll 2010: 178). Adam Smith (1723 - 1790) ergänzte das Verständnis des freien, vernunftbegabten Menschen um eine kritische Komponente. Er nahm den Menschen als ein Wesen wahr, das vor allem am eigenen Wohlergehen und individuellen Glück interessiert sei. Durch eine „unsichtbare Hand“ werde das gesellschaftliche Wohlergehen dann maximiert, wenn jedes Individuum versuche, den eigenen Nutzen zu verfolgen (vgl. Kunze 2008: 31). John Stuart Mill (1806 - 1873) vertrat als Vertreter des Utilitarismus eine etwas andere Ansicht. Zwar ging er auch vom Menschenbild des „homo oeconomicus“ aus, wonach Menschen nur nach dem Maßstab des eigenen Nutzens handeln23. Allerdings müsste die Gesellschaft nach seiner Ansicht dafür sorgen, „dass der allgemeine Nutzen durch Förderung, Sanktion und anerzogenem Gewissen vom Individuum als vorrangiges Glück angesehen werde“ (Kunze 2008: 34). Der Utilitarismus ist eine teleologische Ethik und zielt auf das Wohlergehen aller von einer Handlung betroffenen ab (vgl. ebd.: 35). Erst in der Neuzeit erlangte der individuelle Nutzen einen solch großen Stellenwert für das Wohlergehen der Gesellschaft. Damit war der Weg frei für den Liberalismus, der die Freiheit des Marktes als Ausgangspunkt für gesellschaftliches Wohlergehen propagierte. Mit der Umsetzung von Freiheitsrechten 21
22
23
Mittlerweile äußern sich beide christlichen Kirchen natürlich sehr wohl zu wirtschaftsethischen Fragestellungen. Noll merkt zu den beiden Begriffen an: „Die Frage nach dem dominanten Kriterium erscheint müßig, denn beide Systemmerkmale, ‚Eigentumsordnung‘ wie ‚Art der Koordination‘ stehen als konstitutive Bausteine einer Wirtschaftsordnung in engem Konnex“ (2010: 159). Der Begriff homo oeconomicus prägt die wirtschaftsethische Diskussion bis heute. Er beschreibt ein streng rationales Menschenbild, nach dem der Mensch grundsätzlich nach seinem größtmöglichen Nutzen oder größtmöglichen persönlichen Gewinn handelt.
2.2 Entwicklung der Unternehmens- und Wirtschaftsethik
35
(Gewerbefreiheit, freier Handel) im 19. Jahrhundert entwickelte sich ein Wettbewerb, der verbunden mit der beginnenden Industrialisierung eine ungeahnte Steigerung der Produktivität und des technischen Fortschritts hervorbrachte. Das erkannte auch Karl Marx (1818 - 1883). Allerdings ist nach seiner Auffassung der Preis für die Produktivität zu hoch. Aus dieser Einsicht formulierte er seine Kritik am System des Kapitalismus (vgl. Noll 2010: 218). Die kapitalistische Produktionsweise ist danach eine Wirtschaftsordnung, die gekennzeichnet ist durch das Privateigentum an Produktionsmitteln der Kapitalisten auf der einen Seite und den eigentumslosen Arbeitern auf der anderen Seite. Letztere sind gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Der Wettbewerb zwingt den Kapitalisten zu einer immer stärkeren Ausbeutung der Ressourcen, also zum Beispiel der Arbeitskräfte, um günstiger oder mehr zu produzieren. Die Ausbeutung der schutzlosen Arbeiterklasse führt zu Verelendung und Entfremdung. Die Entfremdung zeigt sich zum einen in einer großen Distanz zum hergestellten Produkt, in dem – durch weit getriebene Arbeitsteilung – das eigene Wirken kaum sichtbar wird. Zum anderen sind die Mitbestimmungsstrukturen in den Betrieben nur mangelhaft ausgebildet. Arbeit dient nicht dem Allgemeinwohl oder der persönlichen, kreativen Entfaltung, sondern wird zur Ware, die ausschließlich zur Erzielung eines Tauschwertes und Vergrößerung des Kapitals beiträgt. Die negativen Begleiterscheinungen des frühen Kapitalismus wie Ausbeutung und Verelendung der Arbeiter, zahlreiche Unfälle und Arbeitslosigkeit, aber vor allem die Entfremdung und Unfreiheit sind die Grundlagen der marxistischen Kritik und der damit aufgeworfenen sozialen Frage (vgl. ebd.: 219). Ihre Beantwortung ist Inhalt weiterer ethischer Ansätze. So entwarf beispielsweise John Rawls (1921 - 2002) einen egalitären Liberalismus, der auf den Prinzipien der größtmöglichen gleichen Freiheit, dem Differenzprinzip und der Chancengleichheit beruht (vgl. Kunze 2008: 37). Danach soll jeder Mensch die gleichen Grundfreiheiten haben, unabhängig von seinem Stand oder irgendwelchen Privilegien. Die Gesellschaft ist dann gerecht, wenn sie allen Menschen dieselben Persönlichkeitsrechte einräumt. Auf dieser Grundlage sollen die Individuen ihre „Vorstellungen vom guten Leben sozialverträglich“ (Maaser 2010: 58) realisieren. Das utilitaristische Prinzip des „Glücks der größtmöglichen Zahl“ lässt Rawls dementsprechend nicht gelten. Soziale oder ökonomische Ungleichheiten sind dann als gerecht einzustufen, wenn sie mit Positionen zusammenhängen, die grundsätzlich für jeden offenstehen. Ferner müssen Ungleichheiten die benachteiligten Mitglieder einer Gesellschaft begünstigen. Auch die Diskursethik nach Jürgen Habermas (geb. 1929) und Karl-Otto Apel (geb. 1922) hat einen wesentlichen Einfluss auf neuere Ansätze der Unternehmensethik. Ihr geht es nicht so sehr um den ethischen Inhalt einer Entschei-
36
2 Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik
dung, sondern eher um das Verfahren, wie diese Entscheidung zustande kommt. Auf der Basis eines herrschaftsfreien Dialogs, der geprägt ist von vernünftiger Argumentation und gegenseitiger Akzeptanz sollen die Diskussionspartner einen Konsens erzielen (vgl. Kunze 2008: 38). Erste Grundvoraussetzung der Diskursethik ist eine „verständigungsorientierte Einstellung“ (Ulrich 2008: 86) aller Gesprächspartner, die offen sind für die Argumentation der anderen Seite und den „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Habermas, zitiert in Ulrich 2008: 86) akzeptieren. Das erfordert nun nicht etwa die Aufgabe des Eigeninteresses, aber die Überprüfung der Legitimität eigener Interessen im Kontext der Bedürfnisse anderer und im Dialog mit ihnen. Ulrich spricht deshalb vom „dialogischen Verantwortungskonzept“ (ebd.: 91). Verantwortliches Handeln bedarf immer der Legitimation durch die diskursive Auseinandersetzung mit den Ansprüchen der vom Handeln Betroffenen. Dieser Diskurs ist für den einzelnen Bürger nicht immer praktisch zu führen. In diesem Fall „handelt verantwortlich, wer stellvertretend einen fiktiven Diskurs mit den Betroffenen in ‚einsamer‘ Reflexion bestmöglich vollzieht“ (ebd.: 94). 2.3 Neuere Ansätze der Unternehmens- und Wirtschaftsethik Die Klassengegensätze des Frühkapitalismus und die Verarmung der besitzlosen Arbeiterklasse verlangten im 20. Jahrhundert nach strukturellen Antworten. Aus dem mittlerweile weiterentwickelten Liberalismus entstand nach dem zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland die soziale Marktwirtschaft. Auf der Basis der Formel „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“ (Müller-Armack, zitiert in Noll 2010: 221), sollten Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen der bundesrepublikanischen Gesellschaft erreicht werden. Tatsächlich brachten die „Wirtschaftswunderjahre“ weiten Teilen der Gesellschaft eine deutliche Verbesserung ihres Lebensstandards, zudem wurden bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Arbeitsbedingungen und die soziale Absicherung sukzessive ausgebaut (vgl. Noll 2010: 222ff). Dennoch blieben das Vermögen bzw. Einkommen, der Zugang zu wichtigen politischen und ökonomischen Positionen und die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe ungleich verteilt. Diese Tatsache verschärft sich mit dem aufkommenden Neoliberalismus Ende der siebziger Jahre. Er kennzeichnet eine Abkehr von einer nachfrageorientierten – und damit tendenziell umverteilenden – hin zu einer an der Preisstabilität orientierten Wirtschaftspolitik (vgl. Müller 2009: 58). Der Staat hat in dieser Theorie vor allem die Aufgabe, die Sicherheit der Rahmenbedingungen zu gewährleisten (vgl. ebd.), aktive wirtschaftliche Einflussnahme ist dagegen nicht gewünscht. Der Neoliberalismus verfolgte mit den Methoden Liberalisierung,
2.3 Neuere Ansätze der Unternehmens- und Wirtschaftsethik
37
Deregulierung und Privatisierung die Zurückdrängung des Staates und die Senkung seiner Ausgaben24. Während sich der Neoliberalismus als Wirtschaftsdoktrin in westlichen Industrienationen durchsetzte, begünstigten technologische Entwicklungen in den Bereichen Kommunikation und Verkehr die Globalisierung. Ökonomisch betrachtet25, beschreibt die Globalisierung eine „weltweite Marktintegration“ (Noll 2010: 287), die sich insbesondere im unbegrenzten weltweiten Handel mit Gütern und Ressourcen zeigt, noch stärker allerdings in den globalen Finanzmärkten (vgl. ebd.). Schon Marx hatte erkannt, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem sich über nationalstaatliche Grenzen hinweg ausdehnt, um neue Märkte zu erschließen und damit Nachfrage zu generieren (vgl. Müller 2009: 53). Die technologische Entwicklung macht diese Ausbreitung nun weltweit möglich. Der globale Wettbewerb hat Folgen für Arbeitnehmer und Unternehmen: Arbeitnehmer sehen sich einer größeren Zahl von Mitbewerbern gegenüber, müssen zwangsläufig mobil und flexibel sein, um „konkurrenzfähig“ zu sein. Unternehmen produzieren an unterschiedlichen Orten der Welt und bewegen sich auf internationalen Märkten. Damit ändern sich ihre Organisationsstrukturen und Abläufe. Die Globalisierung der Kapitalmärkte ist allerdings wohl die größte Veränderung: Die Anleger in globalen Finanzmärkten zielen auf kurzfristige Renditen und nicht auf die langfristige Sicherung des Unternehmens (vgl. Noll 2010: 289). Die Mobilität von Kapital, Unternehmen und Arbeitnehmern zwingt Wirtschaftsregionen und Nationalstaaten ebenfalls in einen Wettbewerb. Ihre Aufgabe ist es, die Attraktivität ihres Wirtschaftsstandorts zu sichern und auszubauen (vgl. Noll 2010: 288; Müller 2009: 69). Dies hat deutliche Folgen für den Sozialstaat und damit die Sozialwirtschaft.26 Mit den globalisierten Märkten werden einige negative Erscheinungen begründet, beispielsweise die hohe Vergütung von Führungskräften in global tägigen Wirtschaftsunternehmen oder der Stellenabbau bei gleichzeitig steigenden Unternehmensgewinnen auf der Basis eines an der (kurzfristigen) Rendite der Anteilseigner orientierten Unternehmenspolitik (Shareholder-Value-Doktrin). Schmiedel stellt fest, dass trotz der Kritik an diesen Entwicklungen keine Diskussion über die grundlegenden Ziele der Gesellschaft geführt wird: „Eine Gesellschaft, die sich selbst kein Ziel gibt, auf eine Zieldiskussion überhaupt verzichtet und höchstens partikularen Interessen dienende Teilziele als verfolgenswert bestimmt, verzichtet auf Selbstbestimmung und Sinngebung“ (Schmiedel 2006: 79). 24
25
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Zu den Folgen dieser Entwicklung zählen die freien, globalen Finanzmärkte, die Privatisierung der sozialen Sicherung sowie die Deregulierung des Arbeitsmarktes. Globalisierungstendenzen sind auch jenseits der Ökonomie zu konstatieren, beispielsweise bei der Kommunikation, der Bildung oder der Kultur. Siehe dazu Kap. 3.2.
38
2 Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik
Neuere Ansätze der Wirtschaftsethik reagieren darauf, indem sie eine Verbindung von ökonomischer Vernunft und sozialer Verantwortung herzustellen versuchen und Instrumente für ihre Umsetzung vorschlagen27. Sie lassen sich vor allem hinsichtlich ihrer Grundannahmen und ihrer Ausrichtung im Spannungsfeld zwischen Ethik und Ökonomie unterscheiden. 2.3.1 Ökonomische Ethik (Karl Homann)28 Die ökonomische Ethik will mithilfe „ökonomischer Methoden Normen und Werte begründen und v.a. langfristig durchsetzen“ (Karmasin / Litschka 2008: 81). Einer ihrer Hauptvertreter ist Karl Homann29. Er bezieht sich auf Adam Smith, der die Leistungsfähigkeit einer modernen Wirtschaft durch verbindliche Regeln statt altruistischer Motive sicherstellen wollte (vgl. Homann / BlomeDrees 1992: 22). Ökonomik30 wird nicht als Gegensatz zur Ethik begriffen, sondern als ihre Fortsetzung mit „anderen, besseren Mitteln“ (Homann / Lütge 2004: 22). Wirtschaftsethik ist eine „Ethik mit ökonomischer Methode“ (Homann / Lütge 2004: 19). Grundlage der ökonomischen Wirtschaftsethik ist die Erkenntnis, dass die Marktwirtschaft sich als das „gegenüber allen Formen des Sozialismus schlechthin überlegene System“ erwiesen hat (Homann / Lütge 2004: 11). Dem Ansatz liegt ein rationales Verständnis von Ökonomik als individuelle Kosten-NutzenAbwägung zugrunde: „Ökonomik befasst sich mit der Erklärung und Gestaltung der Bedingungen und Folgen von Interaktionen auf der Grundlage individueller Vorteils-/NachteilsKalkulationen“ (Homann / Lütge 2004: 18f.).
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Die folgende Auswahl gibt wesentliche wirtschafts-, bzw. unternehmensethischer Konzepte wieder, auf die in der Literatur häufig verwiesen wird (zum Beispiel Karmasin / Litschka 2008; Kunze 2008; Göbel 2006; Ulrich 2008). Sie erhebt jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Auch werden die einzelnen Beschreibungen der Ansätze nicht den Hauptwerken des jeweiligen Autors gerecht. Sie konzentrieren sich vielmehr auf die für diese Untersuchung relevanten Aussagen. Karl Homann (geb. 1943) hat bis 2008 Philosophie und Ökonomik an der Ludwig-MaximiliansUniversität München gelehrt. Hauptwerk: Wirtschafts- und Unternehmensethik (Homann / Blome-Drees 1992). Der Ansatz der ökonomischen Ethik wird vor allem Homann zugeschrieben, auch wenn er von seinen Co-Autoren und Schülern weiterentwickelt wurde. Im Folgenden spreche ich deshalb nur von Homann. Als Ökonomik kann die „Wissenschaft von der bestmöglichen Versorgung der Menschen mit Gütern unter effizienter Ausnutzung der Ressourcen“ (Göbel 2006: 51) verstanden werden, genauso aber die individuelle „Zweck-Mittel-Optimierung“ (ebd.: 44).
2.3 Neuere Ansätze der Unternehmens- und Wirtschaftsethik
39
Vom Einzelnen könne nicht erwartet werden, „dass er dauerhaft und systematisch gegen seine Interessen verstößt“ (Homann / Lütge 2004: 22). Das gilt natürlich auch für Wirtschaftsunternehmen, die durch das Befolgen ethischer Prinzipien im marktwirtschaftlichen Wettbewerb Nachteile gegenüber ihren Konkurrenten erfahren könnten. Die Lösung für dieses Problem besteht nach Homann darin, die Moral durch allgemein verbindliche Rahmenbedingungen, sog. „Spielregeln“ (vgl. Homann / Blome-Drees 1992: 20ff) sicher zu stellen31. Die konsequente Fortsetzung dieses Gedankens ist: Alle ethisch problematischen Entscheidungen oder Aktionen von Unternehmen sind nicht auf ihr unethischen Handeln zurückzuführen, sondern „Folge einer unzweckmäßigen oder fehlenden Ordnung der Wirtschaft“ (Homann / Lütge 2004: 29). Die zentrale These Homanns lautet zusammenfassend: „Der systematische Ort der Moral in einer Markwirtschaft ist die Rahmenordnung“ (Homann / Blome-Drees 1992: 35). Daraus folgt ein nach Regeln und Anreizen unterscheidbarer wirtschaftsethischer Ansatz: „Eine Änderung des Verhaltens der Akteure im Sinne der Moral erfolgt unter den Wettbewerbsbedingungen moderner Marktwirtschaften nicht durch Änderung der Präferenzen der Akteure […], sondern durch Änderung der Handlungsbedingungen und der von diesen ausgehenden Handlungsanreize [sic!]“ (Homann / Lütge 2004: 48).
Zur Begründung seiner Theorie greift Homann zurück auf das Konstrukt des „homo oeconomicus“. Danach ist davon auszugehen, dass der einzelne Mensch bei seinen Handlungen stets auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. Sein wirtschaftsethisches Konzept ergänzt Homann mit einem unternehmensethischen Ansatz, der auf der „Theorie der unvollständigen Verträge“ (Homann / Lütge 2004: 86ff) basiert. Moralisches Handeln von Unternehmen ist dort notwendig und ökonomisch sinnvoll, wo Unsicherheiten durch unvollständige Regelungen auftauchen. Dazu bedarf es eines „Managements der weichen Faktoren wie Moral und Kultur“ (ebd.: 87). Fragen der Unternehmensethik tauchen vor allem im Spannungsverhältnis zwischen ökonomischer Effizienz und moralischem Anspruch auf. Dabei sind vier mögliche Konstellationen zu unterscheiden (vgl. Homann / Blome-Drees 1992: 132ff):
Positiver Kompatibilitätsfall: Eine unternehmerische Entscheidung steht nicht im Widerspruch zu moralischen Zielen, folglich entstehen keine Schwierigkeiten bei ihrer Umsetzung.
31
Der für die marktwirtschaftliche Entwicklung wichtige Wettbewerb kommt dabei in den „Spielzügen“ der einzelnen Akteure innerhalb der allgemein verbindlichen Spielregeln zur Anwendung.
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2 Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik
Negativer Kompatibilitätsfall: Eine unternehmerische Handlung bringt weder Erfolg noch moralische Akzeptanz. Sie wird folglich nicht umgesetzt. Moralischer Konfliktfall: Eine ökonomisch sinnvolle Handlung stößt auf gesellschaftliche Akzeptanzprobleme, weil sie ethische Standards verletzt, obwohl sie legal ist. Ökonomischer Konfliktfall: Die Erfüllung ethischer Standards führt zu ökonomischen Nachteilen.
Im Umgang mit den beiden letztgenannten Situationen gibt es grundsätzlich zwei unternehmerische Handlungsoptionen, um moralisches Handeln umzusetzen: Entweder setzt sich das Unternehmen für veränderte politische Rahmenbedingungen ein, die bindende Wirkung haben. Oder es versucht, das Einhalten hoher moralischer Standards zum eigenen Wettbewerbsvorteil zu machen. Ein Gewinnverzicht jedoch ist nicht zumutbar, im Konfliktfall wird der Ökonomie der Vorzug vor der Ethik gegeben (vgl. Göbel 2006: 72). Die Schwierigkeit an diesem Ansatz liegt auf der Hand: Das Postulat, die Marktwirtschaft sei grundsätzlich für die Umsetzung von Werten im Wirtschaftssystem am besten geeignet, bleibt unhinterfragt. Genauso unkritisch wird das theoretische Konstrukt des „homo oeconomicus“ angenommen, ohne in Erwägung zu ziehen, dass Menschen auch nach anderen Gesichtspunkten als ihrem persönlichen Nutzen entscheiden. Auf diesen beiden Annahmen basiert die ökonomische Wirtschaftsethik, die zudem wesentliche ethische Entscheidungen auf die Ebene der Rahmenordnung delegiert. Dabei wird implizit von einer Rahmenordnung ausgegangen, die ideale ethische Rahmenbedingungen bieten könnte. Damit wären ethische Entscheidungen im Unternehmen eigentlich überflüssig (vgl. Küpper 2006: 130). 2.3.2 Governanceethik (Josef Wieland) Auch Josef Wieland vertritt einen ökonomischen Ansatz. Seine Governanceethik32 will allerdings moralisches Handeln durch Organisationsstrukturen im Unternehmen implementieren. Ausgangspunkt des Ansatzes ist die Globalisierung, die nach Wieland zu einer immer stärkeren internationalen Ausrichtung von Unternehmen und Konsumenten führt:
32
Josef Wieland (geb. 1951) lehrt seit 1995 an der Hochschule Konstanz das Fach Wirtschafts- und Unternehmensethik. Hauptwerk: Die Ethik der Governance (Wieland 2004a).
2.3 Neuere Ansätze der Unternehmens- und Wirtschaftsethik
41
„Für die Wirtschaft und ihre Organisationen wird die Raumdimension des Handelns im herkömmlichen Sinne zunehmend irrelevant bei gleichzeitigem Bedeutungszuwachs für die Zeitdimension“ (Wieland 2004a: 14).
Das heißt: Bedingt durch die Mobilität von Kapital, Menschen und vor allem Wissen, ist die Schnelligkeit gegenüber der Konkurrenz wichtiger als der lokale Bezug einer Organisation. Folglich verlieren nationalstaatliche Regelungen – und damit die Ordnungsethik – zunehmend an Bedeutung, während der Einfluss von Schnelligkeit, Flexibilität, globalen Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen wächst (vgl. ebd.: 18). Vernetzung und Kommunikation der internationalen Akteure sind zentrale Erfolgsbedingungen mit weitreichenden Folgen: „Der Zwang des globalen Zugriffs auf innovatives und idiosynkratisches [spezifisches, eigentümliches; d. Verf.] Wissen macht die Diversifität der Akteure zu einer Quelle für Produktivitätsvorsprünge und Kostenminimierung“ (ebd.: 17).
Doch mit einer global ausgerichteten Wirtschaft steigen auch Komplexität und Unsicherheit. Konflikte entstehen aus unterschiedlichen kulturellen Werteprägungen innerhalb einer Organisation oder zwischen ihr und ihren Handelspartnern. Unternehmen stehen vor der Aufgabe, verbindliche moralische und kulturell übergreifende Regeln zu implementieren. Wieland konzentriert sich in seiner Governanceethik auf das Unternehmen (vgl. Wieland 2004a: 45). Er empfiehlt die Festlegung auf moralische Werte und verbindliche Verfahrensregeln, um Entscheidungsmöglichkeiten einzuschränken und Entscheidungen nachvollziehbar zu machen (vgl. ebd.: 25). Zentrale Begriffe in Wielands Theorie sind Koordination und Kooperation. Unter Koordination versteht Wieland den Marktmechanismus, der mit Leistungen und Ressourcen auf Nachfrage reagiert. „Kooperation ist die Kunst, die Interaktion konkreter, individueller Personen entlang von Regeln zu ermöglichen“ (ebd.: 31). Ein Unternehmen ist auf dieser Grundlage eine Organisation, „deren Aufgabe es ist, amoralische Koordinationsmechanismen und moralische Kooperationsmechanismen so zu kombinieren und zu restringieren, dass organisatorische Stabilität und wirtschaftlicher Erfolg füreinander Erfolgsvoraussetzungen werden“ (ebd.: 32).
Wielands Governanceethik nimmt zwar die individuellen ethischen Prinzipien von Führungskräften und Mitarbeitern in den Blick, rechnet sie aber nicht der „Normativität von Organisationen“ (ebd.: 47) zu. Vielmehr sei es unstrittig, „dass die moralische Verfassung einer Organisation etwas anderes sein muss als die Summe der moralischen Überzeugungen ihrer Mitglieder“ (ebd.). Unter-
42
2 Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik
nehmensethik muss somit förderliche Rahmenbedingungen für das ethische Handeln des Individuums schaffen. Wieland bezeichnet Unternehmen als „Kooperationsprojekte“, die auf „expliziten und impliziten Verträgen“ (ebd.: 54) der unterschiedlichen Akteure (zum Beispiel Mitarbeiter, Kapitalgeber, Leitungskräfte usw.) basieren. Diese Akteure haben unter Umständen durchaus unterschiedliche Interessen. Ihre Kooperation bedarf deshalb einer Balance von „Konflikt, Abhängigkeit und Ordnung“ (ebd.: 55), um stabil zu sein. Diese Balance lässt sich über „ökonomische Anreize“ einerseits und „organisationale Kontrolle“ andererseits herstellen. Zunehmend erhalten allerdings auch nicht-ökonomische Anreize eine wichtige Rolle, wie etwa eine angenehme Atmosphäre und Unternehmenskultur. Daraus folgt für die Governanceethik: Unternehmen benötigen ein Anreizsystem, das ökonomische und nicht-ökonomische Faktoren berücksichtigt und Unternehmensethik ist mit betriebswirtschaftlichen und individuellen Anreizen ausgestattet. Zu den personalen Anreizen zählt Wieland die gelebte Vorbildfunktion von Führungskräften, strukturelle Elemente sind beispielsweise Ethikmanagementsysteme (vgl. ebd.: 64). Zusammenfassend definiert Wieland: „Der Gegenstandsbereich der Governanceethik sind die moralischen Ressourcen, die Handlungsbeschränkungen aus organisationalen Regeln und Werten sowie deren Kommunikation in und mittels von Kooperationsprojekten“ (ebd.: 67).
Die Governanceethik wird systematisch im Unternehmen verankert, zum Beispiel mittels eines Ethikmanagementsystems. Dieses System gibt Kriterien und Handlungsgrenzen in Entscheidungssituationen vor, beispielsweise für die moralische Bewertung von Lieferanten, Mitarbeitern u.a. (vgl. ebd.: 92). Sicher ist die Ausgangslage der Governanceethik richtig analysiert: Wo Wirtschaft in globalen Kontexten funktioniert, verlieren nationalstaatliche Rahmenbedingungen ihre Bedeutung. Allerdings befinden sich nicht alle Unternehmen im globalen Wettbewerb, manche richten sich lokal oder regional aus. Die Konsequenz, ethisches Handeln vor allem im Unternehmen zu verorten, erscheint auch im globalen Kontext zumindest problematisch, denn damit fehlt ein sinnvoller Kontrollmechanismus. Offen bleibt, welchen Beitrag eine derart konzipierte Unternehmensethik für das „gute Leben“ der Menschen in einer Gesellschaft (oder auch weltweit) leisten kann. Wertekategorien wie Freiheit oder Gerechtigkeit bleiben zudem unberücksichtigt (vgl. Karmasin / Litschka 2008: 90).
2.3 Neuere Ansätze der Unternehmens- und Wirtschaftsethik
43
2.3.3 Diskursive Wirtschafts- und Unternehmensethik (Horst Steinmann) Die diskursive Wirtschafts- und Unternehmensethik nach Horst Steinmann33 basiert auf der Diskursethik. Zur Akzeptanz von Werten und Normen ist danach ein machtfreier und vernünftiger Diskurs nötig. Grundlage des Ansatzes sind Hindernisse für ethisches Handeln in Organisationen, die auf drei Ebenen ausgemacht werden: Stark arbeitsteilig orientierte Unternehmensstrukturen stellen sich „systematisch als eine Barriere für ethisches Handeln dar, weil jeder Mensch ja nicht als ganze Person, sondern nur als Rollenträger fungieren soll“ (Steinmann / Löhr 1994: 30). Neben strukturellen Barrieren können auch innerhalb der Organisationskultur Hindernisse für ethisches Handeln liegen. Dazu zählen „strenge Verhaltenserwartungen“, „eine hohe Gruppenkohäsion“, „unklare Prioritäten“ sowie die „Abschottung gegen Interventionen von außen“ (ebd.: 40)34. Schließlich werden individuelle Schuldzuschreibungen für unethisches Verhalten von Unternehmen formuliert: „Erklärungen für unethisches Verhalten in Unternehmungen [können] auch an persönlichen Werthaltungen von Führungskräften festgemacht werden, und hier insbesondere an den Grundhaltungen von Managern der höheren und höchsten Führungsebenen“ (ebd.: 46).
Diese persönlichen Grundhaltungen von Führungskräften lassen sich klassifizieren. Steinmann / Löhr favorisieren das idealtypische Bild des Managers als „Organisationsbürger“35: „Sie [die Führungskraft, d. Verf.] hat sich (…) eine moralische Urteilsfähigkeit erworben und bringt diese durch eigenes Nachdenken in konkreten Handlungssituationen sowie gegebenenfalls durch kritische Stellungnahmen in Entscheidungsprozessen zur Geltung. Sie zeichnet sich damit auch durch den Mut aus, in Organisationen gegen unethische Zumutungen anzugehen“ (ebd.: 60).
Die diskursive Wirtschaftsethik versucht, den Hindernissen auf den drei erwähnten Ebenen zu begegnen. Sie stellt die Frage, wie ethische Konflikte konstruktiv und friedlich im Unternehmen zu lösen sind. Dafür schlagen Steinmann / Löhr einen Dialog vor, der auf vier Kriterien beruht: Unvoreingenommenheit, NichtPersuasivität, Zwanglosigkeit und Sachverständigkeit (vgl. ebd.: 78). In einem 33
34 35
Horst Steinmann (geb. 1934), war von 1970-1999 Professor für Betriebswirtschaftslehre und Unternehmensführung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Hauptwerk: Grundlagen der Unternehmensethik (Steinmann / Löhr 1994) Vgl. dazu auch Kap. 4.6. Steinmann / Löhr nehmen dabei Bezug auf eine Typisierung von Nielsen (vgl. Steinmann / Löhr 1994: 58ff).
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2 Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik
solchen Dialog werden Normen entwickelt, die „situations- und personenübergreifend befolgt werden sollen“ (ebd.: 84). Materielle Normen bilden sich in Kodizes ab, prozessuale Normen regeln organisatorische Verfahren zur ethischen Entscheidungsfindung, beispielsweise die Einrichtung von Ethik-Kommissionen. Förderliche Strukturen für eine dialogorientierte Unternehmensethik sind in der gesamten Organisation zu implementieren, zum Beispiel durch Auflösen übertriebener Arbeitsteilung oder tiefer Hierarchien (vgl. ebd.: 148ff). Die Autoren plädieren weiter für ein „kulturbewusstes Management“, das „die Organisationsmitglieder als autonome Subjekte des Veränderungsprozesses ernst nimmt“ (ebd.: 160). Auf der Ebene der Personalentwicklung geht es darum, die Mitarbeiter für die Rolle des „Organisationsbürgers“ zu befähigen, der in der Lage ist, ethische Konflikte zu analysieren und dialogisch an der Lösung mitzuwirken (vgl. ebd.: 163). Unternehmerische Konflikte treten vor allem dann auf, wenn das marktwirtschaftliche Gewinnprinzip in Kollision mit den Interessen der Stakeholder gerät. Im Dialog mit diesen Interessengruppen gilt es, diesen Konflikt friedlich zu lösen. Zusammenfassend definieren Steinmann / Löhr: „Die Unternehmensethik zielt auf die Entwicklung konsensfähiger Strategien des Unternehmens ab“ (ebd.: 106). Das Gewinnprinzip der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wird in diesem Ansatz nicht infrage gestellt, es muss jedoch situationsbedingt geprüft werden, ob eine am Gewinn orientierte Entscheidung konsensfähig ist (vgl. ebd.: 107). Voraussetzung dafür ist allerdings, dass überhaupt alternative Handlungsoptionen gegeben sind. Diese liegen nicht vor, wenn das Überleben des Unternehmens auf dem Spiel steht: „Erfolgsträchtige Unternehmensstrategien (…) sind die empirische Voraussetzung für eine Unternehmensethik“ (ebd.: 109). Kritisch wird dem Ansatz der diskursiven Wirtschaftsethik entgegnet, dass er nur nach dem ethischen Prozess einer Entscheidung fragt, nicht nach den Werten, die dahinterstehen. Offen bleibt auch, wie eine Lösung für Dilemmas gefunden werden kann, für die kein Konsens erzielt wird (vgl. Küpper 2006: 117). Das gilt insbesondere für die Begrenzung des Gewinnprinzips, das in diesem Ansatz nicht grundsätzlich hinterfragt wird, aber situationsbedingt überprüft werden soll. Die Frage bleibt unbeantwortet, auf der Basis welcher konkurrierender Werte eine solche Überprüfung stattfinden soll, wenn sich der Ansatz ausschließlich auf den Prozess bezieht (vgl. Küpper 2006: 118; Ulrich 2008: 459).
2.3 Neuere Ansätze der Unternehmens- und Wirtschaftsethik
45
2.3.4 Integrative Wirtschaftsethik (Peter Ulrich)36 Auch Peter Ulrich bezieht sich auf die Diskursethik: „Die Diskursethik bietet die bisher elaborierteste Explikation des vernunftethischen Standpunktes als der normativen Logik der Zwischenmenschlichkeit“ (2008: 98).
In seinem sozialökonomischen Konzept der Integrativen Wirtschaftsethik kritisiert er das vorherrschende Verständnis von Wirtschaftsethik als angewandte Ethik und als normative Ökonomik (vgl. ebd.: 101ff.). Diesem Verständnis liegt eine Theorie von Wirtschaft und Ethik als getrennten Bereichen zugrunde. Ein solches „Zwei-Welten-Konzept“ (ebd.: 109) impliziert, dass es ökonomische Sachzwänge und Bedingungen in der Marktwirtschaft gibt, die keinerlei ethischer Diskussion bedürfen. Wirtschaftsethik wird dann zu einem Korrektiv für die Bereiche, in denen die (als prinzipiell funktionierend angenommenen) marktwirtschaftlichen Gesetze nicht wirken. Diese von Ulrich als „Reflexionsstopp“ (ebd.: 124) bezeichnete Denkblockade gegenüber marktwirtschaftlichen Prinzipien überwindet er in seinem integrativen Ansatz. Ulrich wendet sich entschieden gegen sogenannte „Sachzwänge“ des marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems: „Sachzwänge des Marktes, buchstäblich losgelöst von lebensweltlichen Vorgaben, existieren nicht, vielmehr sind alle wirksamen Sachzwänge letztlich als Moment einer politisch von irgendjemand gewollten und durchgesetzten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu verstehen“ (ebd.: 158).
Wo die Mechanismen des freien Marktes wirken, sind Arbeitnehmer und Arbeitgeber von den zwanghaften Folgen gleichermaßen betroffen: „Zumindest so weit sind die Wirtschaftssubjekte auf ihre Selbstbehauptung im Wettbewerb angewiesen, wie sie von der fortwährenden Einkommenserzielung existenziell abhängig sind, sei es als Unternehmer, die die anhaltende Zahlungsfähigkeit und daher die Rentabilität ihrer Firma zu erwirtschaften haben, oder sei es als Arbeitnehmer […], die ihren regelmässigen [sic!] Lohn ‚verdienen‘ müssen“ (ebd.: 148, Hervorhebung im Original).
Die Verfolgung des größtmöglichen persönlichen Nutzens ist in der liberalen Marktwirtschaft quasi zwanghaft angelegt und wird so als „Sachzwang“ legitimiert. Da solche Zwänge nach Ulrich immer Folge bewusster Entscheidungen sind, sind somit auch andere Optionen denkbar: Ökonomische Entscheidungen 36
Peter Ulrich (geb. 1948) lehrte von 1987 bis 2009 an der Universität St. Gallen Wirtschaftsethik. Hauptwerk: Integrative Wirtschaftsethik (Ulrich 2008).
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2 Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik
unternehmerischer oder privater Natur sind stets – mit Rückgriff auf die Diskurstheorie – auf der Basis eines „Verantwortbarkeits-, bzw. Zumutbarkeitsdiskurses“ (ebd.: 170) zu treffen, der die Ansprüche Betroffener berücksichtigt. Wo die (vermeintlichen) Sachzwänge des Marktes zu unerwünschten Folgeproblemen führen, ist ein staatlicher Eingriff nötig, der den Wettbewerb begrenzt (vgl. ebd.: 174). Der ökonomistisch reduzierten Sichtweise einer an Effizienz und Gewinn orientierten Wirtschaft stellt Ulrich sein Konzept eines „für menschliche Zwecke vernünftigen, lebensdienlichen Wirtschaftens“ (ebd.: 220) gegenüber. Zentraler Sinn einer solchen Wirtschaft ist die Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse37. Eine weitere Funktion besteht in der an Aristoteles Begriff des „guten Lebens“ orientierten „Erweiterung der Lebensfülle“ (ebd.: 228ff). Darunter versteht Ulrich nicht die Vermehrung von Konsum- und Genussgütern, sondern eine kritische Reflexion der eigenen Bedürfnisse. Er ist nämlich der Ansicht, dass zurzeit „bei gleichzeitigem Überfluss von eher Unwesentlichem oder ganz Überflüssigem […] eine wachsende Verknappung mancher für die Qualität des Lebens wirklich wesentlichen ‚Lebensmittel‘ und Ressourcen zu beobachten [ist]“ (2008: 235).
Die auf Wachstum angelegte Wirtschaft führt beispielsweise zur Verknappung der Ressourcen Wohnraum, Arbeitsplätze, Altersvorsorge oder medizinische Versorgung, aber auch Natur und Zeit sowie den Zugängen zur Bildung und Kultur (vgl. ebd.). Ulrich greift für seine integrative Wirtschaftsethik auf den Begriff des Bürgers zurück, der mit Persönlichkeits-, Staatsbürger- und Wirtschaftsbürgerrechten ausgestattet ist (vgl. ebd.: 263). Zu den Auswirkungen einer konsequenten integrativen Wirtschaftsethik stellt Schmiedel fest: „Der ‚Wirtschaftsbürger‘ der integrativen Wirtschaftsethik ist damit sowohl in der Theorie als auch in der Praxis nicht mehr von seinem übrigen Menschsein unterscheidbar, er handelt wirtschaftend nach denselben ethischen Grundsätzen wie in allen anderen Aspekten seines Lebens“ (2006: 96).
Ulrich verpflichtet die Bürger zur aktiven Teilnahme an der „öffentlichen Selbstbestimmung der Res publica“ (Ulrich 2008: 328), unterstellt ihnen zugleich aber auch ein Mindestmaß an individueller „republikanischer Bürgertugend“ (ebd.).
37
Ulrich weist darauf hin, dass diese Aufgabe derzeit nicht einmal von den Volkswirtschaften in hoch entwickelten Industrienationen erfüllt wird, was an einer steigenden Armutsquote abzulesen ist (vgl. 2008: 226ff).
2.3 Neuere Ansätze der Unternehmens- und Wirtschaftsethik
47
Die integrative Wirtschaftsethik umfasst fünf Orte für die Vermittlung von Moral: den Wirtschaftsbürger sowohl als privat, wie als öffentlich Handelnden („Wirtschaftsbürgerethik“), die staatliche Rahmenordnung („Ordnungsethik“), die Unternehmen („Unternehmensethik“) und den Marktmechanismus selbst38. In konsequenter Fortsetzung seiner Denkweise, vorgebliche „Sachzwänge“ kritisch zu hinterfragen, diskutiert Ulrich auch das unternehmerische „Gewinnprinzip“ (vgl. Ulrich 2008: 431ff). Egal ob die Gewinnorientierung als „subjektives Gewinnstreben (Motiv)“, „objektives Gewinnerfordernis (Sachzwang)“, „sittliche Pflicht (Unternehmerethos)“ oder „ordnungspolitische Spielregel (Gewinnprinzip)“ verstanden wird, taugt sie nicht als normative Vorgabe für unternehmerisches Handeln (vgl. ebd.). Damit wendet sich Ulrich scharf gegen den Ansatz von Steinmann, der das Gewinnprinzip nicht infrage stellt, sowie gegen Homanns „Lückenbüsser-Konzeption der Unternehmensethik“ (Ulrich 2008: 441), die Unternehmen nur dort Spielräume zugesteht, wo der Markt nicht funktioniert. Ihnen stellt er seine Auffassung entgegen, die Gewinnorientierung unter den Vorbehalt der Legitimation stellt: „Legitimes Gewinnstreben ist stets moralisch begrenztes Gewinnstreben“ (ebd.: 450). Nun ist aber der Verzicht auf Gewinn nicht gleich als moralisch legitim zu bewerten. Vielmehr unterscheidet Ulrich danach, welchen Zweck der Gewinnverzicht erfüllt. Dient ein kurzfristiger Verzicht einer langfristigen Unternehmenssicherung, beispielsweise durch ein verbessertes Image oder durch höhere Motivation der Mitarbeiter, kann von einer „instrumentalistischen Unternehmensethik“ (ebd.: 453ff) gesprochen werden. Werden die Überschüsse für soziale Zwecke verwendet, ohne allerdings die Art und Weise der Gewinnerzielung zu beeinflussen, spricht Ulrich von „karitativer Unternehmensethik“ (ebd.: 456ff.). Die „korrektive Unternehmensethik“, der Ulrich vor allem den Ansatz von Steinmann zurechnet, nimmt zwar die Richtigkeit des Gewinnprinzips an, beschreibt aber die Notwendigkeit, dieses Prinzip im Einzelfall zu überprüfen und ggfs. zu von diesem Prinzip abweichenden Entscheidungen zu kommen. Ethik wird somit zu einer „Grenze“ des Gewinnprinzips (vgl. ebd.: 459ff.). Davon abzugrenzen ist die „integrative Unternehmensethik“, die das „unternehmerische Erfolgs- und Gewinnstreben kategorisch der normativen Bedingung der Legitimität“ (ebd.: 463) unterordnet. Die Existenz und der Erfolg eines Unternehmens hängen dann davon ab, ob es einen lebensdienlichen, sinnvollen und gesellschaftlich akzeptierten Unternehmenszweck verfolgt:
38
Im Rahmen dieses Buches ist insbesondere die Unternehmensethik von Interesse. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich deshalb auf diesen Bereich.
48
2 Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik
„Je tragfähiger der ethische Unterbau einer Geschäftsidee ist, umso leichter wird es in der Regel sein, eine unternehmerische Synthese zwischen Ethik und marktstrategischer Erfolgslogik zu finden“ (ebd.: 467).
Aber Ulrich sieht die Unternehmen auch gesellschaftspolitisch in der Pflicht. So sollen sie sich, anknüpfend an den Begriff des Wirtschaftsbürgers, sowohl für ethische Rahmenbedingungen der Wirtschaft insgesamt, als auch für branchenabhängige Vereinbarungen einsetzen (vgl. ebd.: 469ff.). Ulrich versteht Unternehmen als „quasi-öffentliche Institutionen“, „von deren Entscheidungen und Aktivitäten eine Vielzahl von Bezugsgruppen in ihren Lebens- oder Existenzbedingungen teilweise erheblich betroffen sind und deren Handeln dementsprechend der pluralistischen Legitimation vor allen Beteiligten und Betroffenen bedarf“ (ebd.: 474).
Auf dieser Basis fordert Ulrich einen an der Diskursethik orientierten umfassenden Stakeholderdialog39. Zusammenfassend formuliert Ulrich sechs Bausteine für ein „integratives Ethikprogramm“ im Unternehmen (vgl. ebd.: 498f):
Eine (Wertschöpfungs-)Aufgabe, die dem Unternehmen Sinn gibt. Verbindliche Geschäftsgrundsätze für Strategien und Methoden. Definierte Stakeholderrechte, insbesondere für Mitarbeiter, die die Möglichkeit zu einem herrschaftsfreien ethischen Dialog eröffnen. Eine Infrastruktur, die einen Dialog über Fragen der Verantwortung und Zumutbarkeit ermöglicht. Die Befähigung der Mitarbeiter zur ethischen Kompetenz und Verantwortungsübernahme. Führungssysteme, die das Ethikprogramm durch entsprechende Anreiz- und Beurteilungssystem unterstützen.
Küpper kritisiert, dass sich Ulrichs Analyse der Marktwirtschaft auf die „rein liberale Wirtschaftsordnung“ (2006: 123) bezieht und damit nicht die Vielfalt der marktwirtschaftlichen Realität widerspiegelt. Zudem gebe es Sachzwänge, die objektiv vorliegen, beispielsweise die „Knappheit von Gütern“ (ebd.). Insofern erscheint der Ansatz als „zu optimistisch“ (ebd.) für die Sicherung der Lebensgrundlagen der Menschheit in Anbetracht der globalen Interessensgegensätze und der Ressourcenknappheit. Hervorzuheben ist allerdings, dass Ulrich einen sehr systematischen und umfassenden wirtschaftsethischen Ansatz vorgelegt hat, der sowohl auf der Ebene des Prozesses hilfreiche Hinweise liefert, als auch eine 39
Eine ausführliche Darstellung der Implemetierung integrativer Unternehmensethik folgt in Kap. 4.
2.3 Neuere Ansätze der Unternehmens- und Wirtschaftsethik
49
plausible ethische Zielorientierung mit seinem Konzept der Lebensdienlichkeit bietet. 2.3.5 Capability Approach (Amartya Sen) Der Capability Approach von Amartya Sen40 distanziert sich vom Menschenbild des „homo oeconomicus“ und vom Utilitarismus, das heißt der Annahme, dass eine Handlung dann als moralisch gut anzusehen ist, wenn sie nützlich ist (vgl. Tammena 2009: 31). Stattdessen bezieht er Grundrechte, Freiheiten und Wahlmöglichkeiten des Individuums in einen wirtschaftsethischen Ansatz mit ein. Hauptansatzpunkt von Sen ist die Freiheit der Menschen „genau das Leben führen zu können, das sie schätzen“ (Sen 2007: 29). Sen versteht „Entwicklung als einen Prozeß der Erweiterung realer Freiheiten“ (ebd.: 50). Es geht Sen also grundsätzlich sowohl um das Ziel der freien Entscheidung, als auch um den Prozess. Dazu benötigt der Mensch Verwirklichungschancen oder Fähigkeiten („Capabilities“). Je mehr Fähigkeiten ein Mensch entwickelt hat, desto mehr Alternativen stehen für eine individuelle Wahl zur Verfügung. Freiheit ist also nicht nur „das höchste Ziel der Entwicklung, sondern auch ihr wichtigstes Mittel“ (ebd.: 52). Die Bedürfnisse eines Menschen nennt Sen „Funktionen“ (ebd.: 95). Dabei kann es sich sowohl um elementare Grundbedürfnisse handeln, als auch um Bedürfnisse wie gesellschaftliche Teilhabe oder Selbstachtung. Verwirklichungschancen ermöglichen die Freiheit, die individuell passende Kombination dieser Funktionen – einfacher ausgedrückt: den persönlichen Lebensstil – zu wählen (vgl. ebd.). Martha Nussbaum konkretisiert diesen Gedanken, indem sie eine Liste der zehn Grundfähigkeiten (Capabilities) formuliert, die zu einem guten Leben gehören: „1.
2.
3. 4.
40
Die Fähigkeit ein volles Menschenleben bis zum Ende zu führen; nicht vorzeitig zu sterben oder zu sterben, bevor das Leben so reduziert ist, daß es nicht mehr lebenswert ist. Die Fähigkeit, sich guter Gesundheit zu erfreuen; sich angemessen zu ernähren; eine angemessene Unterkunft zu haben; Möglichkeiten zu sexueller Befriedigung zu haben; sich von einem Ort zum anderen zu bewegen. Die Fähigkeit, unnötigen Schmerz zu vermeiden und freudvolle Erlebnisse zu haben. Die Fähigkeit, die fünf Sinne zu benutzen, sich etwas vorzustellen, zu denken und zu urteilen.
Amartya Kumar Sen (geb. 1933), Wirtschaftsnobelpreis 1998, ist Professor der Wirtschaftswissenschaften an der Harvard University in Cambridge (Massachusetts). Hauptwerk: Ökonomie für den Menschen (Sen 2007).
50
2 Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik
5.
Die Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unser selbst zu haben; diejenigen zu lieben, die uns lieben und für uns sorgen, und über ihre Abwesenheit traurig zu sein; allgemein gesagt: zu lieben, zu trauern, Sehnsucht und Dankbarkeit zu empfinden. 6. Die Fähigkeit, sich Vorstellungen vom Guten zu machen und kritisch über die eigene Lebensplanung nachzudenken. 7. Die Fähigkeit, für andere und bezogen auf andere zu leben, Verbundenheit mit anderen Menschen zu erkennen und zu zeigen, verschiedene Formen von familiären und sozialen Beziehungen einzugehen. 8. Die Fähigkeit, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur zu leben und pfleglich mit ihnen umzugehen. 9. Die Fähigkeit, zu lachen, zu spielen und Freude an erholsamen Tätigkeiten zu haben. 10. Die Fähigkeit, sein eigenes Leben und nicht das von jemand anderem zu leben. 10a: Die Fähigkeit, ein eigenes Leben in seiner eigenen Umgebung und seinem eigenen Kontext zu leben“ (Nussbaum 1999: 57f.).
Die Aufgabe des Staates ist es, diese Grundfähigkeiten seiner Bürger zu fördern (vgl. ebd.: 62). In Anlehnung an Aristoteles wendet sich Sen (genauso wie Nussbaum) gegen Theorien, die den individuellen Wohlstand und den Erfolg einer Volkswirtschaft anhand von Gebrauchsgütern oder Einkommen bemessen (vgl. Sen 2007: 55), denn „Reichtum [ist] gewiß nicht das gesuchte oberste Gut. Er ist nur ein Nutzwert: Mittel für andere Zwecke“ (Aristoteles, zitiert in Sen 2007: 25). Der Staat müsse sich vielmehr darauf konzentrieren, seinen Bürgern die Freiheit zu ermöglichen, ihre wohlüberlegten Ziele zu erreichen (vgl. Sen 2010: 262). Sen weist nachdrücklich darauf hin, dass sich der Befähigungsansatz zwar an den Fähigkeiten des einzelnen Menschen orientiert, aber die gesellschaftlichen Einflüsse bei individuellen Entscheidungen durchaus berücksichtigt werden: „Wird bewertet, in welchem Maß eine Person fähig ist, am Leben der Gesellschaft teilzunehmen, findet eine implizite Wertung des Lebens dieser Gesellschaft statt“ (ebd.: 274).
Sens Ansatz lässt sich als eine Erweiterung des Gerechtigkeitskonzepts von John Rawls verstehen (vgl. Maaser 2010: 59). Sen erweitert diesen Ansatz um die Befähigungen, derer es bedarf, um Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Gelingen diese Bildungsprozesse kommt es zu einer gerechteren Verteilung von Chancen und zur Inklusion von Benachteiligten. So folgert Maaser auf der Grundlage des Capability Approach:
2.4 Zusammenfassung
51
„Eine Gesellschaft kann als gerecht gelten, wenn sie die individuellen, politischen und sozial-partizipativen Dimensionen der Freiheit aller Menschen gewährleistet und hierauf ihre sozialpolitische Steuerung in Verteilungs- und Befähigungsprozessen angemessen abstellt“ (2010: 61).
Ähnlich wie Ulrich konstatiert Sen, dass sich gemeinsame Werte nicht individuell entwickeln lassen, sondern nur im Diskurs mit anderen (vgl. Karmasin / Litschka 2008: 113). Oder mit Sen gesprochen: „Wir müssen im menschlichen Verstand nicht erst künstlich Platz schaffen für die Idee der Gerechtigkeit oder der Fairneß [sic!] (…). Der Platz existiert bereits, und die Frage ist, wie wir die allgemeinen Interessen der Menschen systematisch, stringent und effektiv einsetzen können“ (2007: 312).
Sen legt mit seinem Ansatz kein Konzept für eine Unternehmensethik vor. Er ist allerdings überzeugt, dass „die Menschen für die Entwicklung und die Veränderung der Welt, in der sie leben, selbst die Verantwortung tragen müssen“ (Sen 2007: 335). Was für den einzelnen Menschen gilt, gilt umso mehr auch für Institutionen und Unternehmen. 2.4 Zusammenfassung Ziel der Ausführungen zur Wirtschafts- und Unternehmensethik war die Darstellung der zentralen Begriffe und neueren Ansätze der Wirtschaftsethik sowie ihrer historischen Wurzeln. Dabei ist deutlich geworden, wie sehr sich die Ansätze unterscheiden. Der ökonomische Ansatz setzt, ähnlich wie auch der GovernanceAnsatz, ein Primat der Ökonomie voraus und orientiert sich an einem streng Kosten-Nutzen-orientierten Menschenbild. Steuerungen und Eingriffe bauen demzufolge auf Anreizen oder Sanktionen auf. Sie sind mal eher auf ordnungspolitischer Ebene (Homann), mal auf der Unternehmensebene (Wieland) angesiedelt, geben aber jeweils ein bestimmtes Handeln vor. Das ist der wesentliche Unterschied zu dem Konzept der diskursiven Wirtschaftsethik (Steinmann / Löhr), die auf der Kraft des besseren Arguments aufbaut und unternehmerische Entscheidungen im Diskurs aller Beteiligten oder Betroffenen treffen will. Die drei genannten Theorien stellen die Grundsätze der Marktwirtschaft, insbesondere das Gewinnprinzip, nicht infrage. Sie suchen stattdessen nach Lösungen für Situationen, in denen dieses Prinzip mit moralischen Ansprüchen kollidiert. Im Gegensatz dazu versteht die integrative Wirtschaftsethik (Ulrich) die Aufgabe der Wirtschaft prinzipiell als Beitrag zum guten und gelingenden Leben und postuliert damit ein Primat der Ethik. Der Capability Approach (Sen) argumentiert ähnlich, wenn er eine Hauptaufgabe der Wirtschaft darin sieht, Menschen zu
52
2 Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik
Ökonomische Ethik (Homann)
Abbildung 3:
Governance Ethik (Wieland)
Diskursive Unternehmensethik (Steinmann / Löhr)
Integrative Wirtschaftsethik (Ulrich)
Capability Approach (Sen)
Primat der Ethik
Primat der Ökonomie
befähigen, ihre individuelle Wahl für das „gute Leben“ zu treffen. Beide Autoren sind außerordentlich skeptisch gegenüber dem Menschenbild des „homo oeconomicus“, in ihren Ansätzen spielen Freiheit und Gerechtigkeit eine wesentlichere Rolle als der individuelle Nutzen. Ulrich, Sen und auch Steinmann beziehen sich in ihren Ansätzen auf die Diskursethik. Die einzelnen wirtschaftsethischen Ansätze können damit wie folgt im Spannungsfeld zwischen einem Primat der Ethik und einem Primat der Ökonomie eingeordnet werden:
Einordnung neuerer wirtschaftsethischer Ansätze (eig. Darst.)
Abbildung 3 nimmt Bezug auf eine Darstellung von Karmasin und Litschka (2008: 80). Sie hat allerdings einen etwas anderen Ausgangspunkt, da sie nach dem Primat der Ökonomie bzw. der Ethik fragt und nicht nach den Polen Ökonomie und Philosophie unterscheidet. Die Diskursive Unternehmensethik steht in der Mitte41, da sie zwar diskursethische Ansätze aufnimmt, aber marktwirtschaftliche Prämissen wie das Gewinnprinzip unhinterfragt übernimmt. Der Capability Approach ist dem Primat der Ethik zugeordnet, da er die Fragen von Freiheit und Gerechtigkeit deutlich ökonomischen Fragen vorzieht. 42 Ob sich einer dieser Ansätze als ethische Grundlage für die Sozialwirtschaft besonders eignet – und wenn ja, welcher – wird die Analyse der Sozialwirtschaft, ihrer historischen Wurzeln, ihrer ökonomischen Rahmenbedingungen sowie ihrer ethischen Grundlagen im folgenden Kapitel zeigen.
41
42
Bei Karmasin / Litschka steht dieser Ansatz der Philosophie näher als Ulrich oder Sen, ohne dass die Autoren dies jedoch nachvollziehbar erklären. Der Capability Approach steht bei Karmasin / Litschka in der Mitte des Spannungsfelds, obwohl die Autoren konstatieren, dass Freiheit des Menschen in diesem Ansatz nicht nur „das wichtigste Mittel, sondern zugleich auch ein Zweck“ der Wirtschaftspolitik sein muss und deshalb im „Zentrum auch der wirtschaftsethischen Analyse zu sein“ hat (2008: 113).
3 Ethische Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft
Zu Beginn des Kapitels zur Sozialwirtschaft und ihrer Ethik erscheint es sinnvoll, einige Begriffe zu klären und voneinander abzugrenzen. Die Begriffe Sozialwirtschaft und Sozialmanagement werden nicht einheitlich verwendet (vgl. Merchel 2009b: 24). Es ist für den hier untersuchten Gegenstandsbereich nicht relevant, die fachliche Diskussion um die Begriffe detailliert nachzuzeichnen43, dennoch braucht es einige begriffliche Definitionen, auf denen die weitere Untersuchung aufbaut. Es folgt ein kurzer historischer Exkurs, der die Entwicklung der Sozialwirtschaft vor allem im Kontext der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit in den vergangenen zwei Jahrzehnten skizziert, bevor ihre ökonomischen Rahmenbedingungen einer kritischen Analyse unterzogen werden. Auf diesem Fundament bewerte ich abschließend ethische Ansätze innerhalb der Sozialwirtschaft und ihre Rezeption in der Sozialmanagement-Literatur. 3.1 Grundbegriffe der Sozialwirtschaft „Der Begriff Sozialwirtschaft44 wird verwandt, um einen Bereich des Wirtschaftens zu bezeichnen, der (institutionell) die Organisationen, Dienste, Einrichtungen und anderen Unternehmungen umfasst, die zu sozialen Zwecken betrieben werden und das Ziel haben, mit ihrer Leistungserstellung das Wohlergehen von Menschen einzeln und gemeinsam zu fördern oder zu ermöglichen“ (Wendt 2003: 13, Hervorhebung d. Verf.).45
Funktional betrachtet beschreibt der Begriff Sozialwirtschaft gleichzeitig, wie Unternehmen agieren:
43 44
45
vgl. dazu ausführlich Merchel 2009b: 24ff. Der Begriff der Sozialwirtschaft taucht bereits 1927 in einer Habilitationsschrift des Soziallehrers Johannes Messner auf. Dieser bezeichnet mit dem Begriff allerdings eine erwünschte Form sozialer Marktwirtschaft (vgl. Schramm 2007: 12). In diesem Buch verwende ich dagegen die Definition von Wendt. Merchel sieht den Begriff Sozialwirtschaft sehr kritisch und gesteht ihm aufgrund definitorischer Unschärfe keinen Nutzen für die Entwicklung eines Managements sozialer Einrichtungen zu (2009b: 45). Die fehlende Trennschärfe sozialwirtschaftlicher Begriffe wird noch Thema sein. Der Rückgriff auf den Begriff Sozialwirtschaft geschieht in diesem Bewusstsein.
R. Ahlrichs, Zwischen sozialer Verantwortung und ökonomischer Vernunft, DOI 10.1007/978-3-531-94355-8_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
54
3 Ethische Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft
„Wirtschaften wird hier als Prozess verstanden: personen- und gemeinschaftsbezogen, nicht gewinn- sondern bedarfsorientiert, gemeinschaftlich und demokratisch betrieben“ (Wendt 2003: 13).
Kennzeichnend ist also die Deckung eines gesellschaftlichen Bedarfs. Dazu zählt die „Lösung sozial definierter Probleme“ (ebd.) genauso wie die Ermöglichung von Teilhabe, Bildung sowie Gesundheitsvorsorge. Zu den Organisationen der Sozialwirtschaft gehören die Einrichtungen der professionellen Sozialen Arbeit, zum Beispiel Kinder- und Jugendhilfe, Behindertenhilfe, ambulante oder stationäre Altenhilfe. Außerdem werden der Sozialwirtschaft die Organisationen des Gesundheitswesens und der Beschäftigungsförderung zugerechnet (vgl. Maelicke 2008: 954). Im Verständnis der Europäischen Union wird der Begriff weiter gefasst: „The social economy includes organisations [sic!] such as cooperatives mutual societies, associations and foundations. These enterprises are particularly active in certain fields such as social protection, social services, health, banking, insurance, agricultural production, consumer affairs, associative work, craft trades, housing, supply, neighborhood services education and training, and the area of culture, sport and leisure activities” (Europäische Konferenz der CMAF, zitiert in Maelicke 2008: 954).
Diese Definition verweist auf die Wurzeln des Begriffs Sozialwirtschaft, die in Frankreich zu finden sind. Unter dem Terminus „économie sociale“ entstanden dort Kooperativen und Genossenschaften, um „die Arbeit zum bestmöglichen Erhalt der Gesellschaft und des Individuums und zur Realisierung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu organisieren“ (Ott, zitiert in Wendt 2009: 32). Nur einen Teilbereich der Sozialwirtschaft bilden also die Organisationen des Sozialwesens, in denen Soziale Arbeit geschieht. Diese fördert laut der bereits genannten international anerkannten Definition „den sozialen Wandel und die Lösung von Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen, und sie befähigt die Menschen, in freier Entscheidung ihr Leben besser zu gestalten. Gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse über menschliches Verhalten und soziale Systeme greift Soziale Arbeit dort ein, wo Menschen mit ihrer Umwelt in Interaktion treten. Grundlagen der Sozialen Arbeit sind die Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit.”46
Die Aufgabe von Sozialarbeitern ist also die Befähigung von Menschen zu einem eigenverantwortlichen Leben und die Mitwirkung an gesellschaftlichen 46
Definition der International Federation of Social Workers. Quelle: http://www.ifsw.org/p38000409.html [5.3.2011]
3.1 Grundbegriffe der Sozialwirtschaft
55
Umständen, die Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit befördern. Oder mit Wendt gesprochen: „[Sozialwirtschaft] wirkt ökonomischer und sozialer Ausgliederung von Menschen entgegen, indem sie den Prozess ihrer Eingliederung wirtschaftlich gestaltet“ (Wendt 2003: 14).
Dennoch bleibt festzuhalten, dass der Begriff der Sozialwirtschaft weit über den Teilbereich der Sozialen Arbeit hinausgeht. Die Sozialwirtschaft ihrerseits zählt zu den personenbezogenen Dienstleistungen47. Charakteristische Merkmale von personenbezogenen Dienstleistungen sind: Immaterialität, Unteilbarkeit, Vergänglichkeit48, Integration des externen Faktors49, Standortgebundenheit, Individualität (vgl. Arnold 2009: 438f). Die personenbezogenen Dienstleistungen innerhalb der Sozialwirtschaft unterscheiden sich dadurch, dass die „Angebote nicht allein bzw. vorwiegend durch Nachfrage mit privater Kaufkraft bestimmt werden, sondern gesellschaftlich definierte Ansprüche im Sinne des Sozialrechts sind“ (Wiemeyer 2007: 125). Merchel plädiert deshalb zur besseren Unterscheidung für den Begriff „soziale Dienstleistungen“ (2009b: 46). Staub-Bernasconi hält den Dienstleistungsbegriff generell nicht für ausreichend, da Soziale Arbeit neben einer personenbezogenen auch eine „strukturbezogene Aufgabe“ hat (2007: 51). Sie bezieht sich damit auf die oben zitierte Definition der Sozialen Arbeit: „Ziele von Menschenrechtsarbeit im Rahmen der Sozialen Arbeit sind auf der individuellen Ebene die Wiederherstellung von Menschenwürde sowie Wohlbefinden durch Bedürfnisbefriedigung und Lernprozesse, auf der gesellschaftlichen Ebene gesellschaftliche Integration, soziale Gerechtigkeit sowie sozialer Wandel in Anbetracht menschen-verachtender sozialer Strukturen und Kulturmuster und – langfristig – die Arbeit an einer Menschenrechtskultur im Alltag“ (ebd.: 27).
Soziale Arbeit versteht sich also grundsätzlich nicht nur als Dienstleister für diejenigen Menschen, die dauerhaft oder temporär aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind, sondern immer auch als politisches Korrektiv auf dem Weg zu einer gerechteren Gesellschaft. Sozialwirtschaftliche Unternehmen müssen wirtschaftlich handeln, um im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten das bestmögliche Ergebnis für ihre 47
48
49
Zur begrifflichen Abgrenzung von der Produktion von Sachgütern bzw. sachbezogenen Dienstleistungen vgl. Merchel 2009b: 45; Arnold 2009: 438ff. Produktion und Konsum fallen bei Dienstleistungen zusammen („uno-actu-Prinzip“), deshalb sind Dienstleistungen auch nicht lagerfähig, insofern vergänglich. Die Dienstleistung wird unmittelbar zwischen Anbieter und Nachfrager erbracht. Dessen Mitwirkung ist zentral für den Erfolg bzw. die Qualität der Dienstleistung.
56
3 Ethische Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft
Klienten zu erreichen. Dazu bedarf es eines professionellen Managements, des Sozialmanagements: „Sozialmanagement bezeichnet das Management von Betrieben und Unternehmen der Sozialwirtschaft in öffentlicher, privat-gemeinnütziger oder gewerblicher Trägerschaft“ (Maelicke 2008: 923).
Der Begriff Sozialmanagement steht allerdings auch für einen „spezifischen Modus des Leitens und Gestaltens von Betrieben (…) (eine ‚soziale‘ Form des Managements)“ (Merchel 2009b: 28). Staub-Bernasconi definiert die „soziale Einrichtung als Fachstelle mit einem wissenschaftsbasierten, professionsethisch legitimierten Hilfs- und Lernangebot, die von professionell ausgebildeten Sozialmanagern geleitet wird“ (2007: 35). Schramm merkt an, dass die übliche Begriffsverwendung von Sozialwirtschaft „eine moralische Abwertung aller marktwirtschaftlichen Bereiche, die nicht zur ‚Sozial‘-Wirtschaft gehören, als (tendenziell) unsozial (…) nahelegt“ (Schramm 2007: 14, Hervorhebung im Original). Diesem Gedanken folgend impliziert auch der Begriff Sozialmanagement, dass das Management sozialwirtschaftlicher Unternehmen sich vom Management anderer Unternehmen unterscheidet. Mehr noch: „Das Management sollte ‚sozial‘ sein“ (Schneider 2010: 302). Wöhrle konstatiert, dass es derzeit „kein theoretisch fundiertes Managementkonzept für die Sozialwirtschaft im Sinne einer Schule“ gibt (2005: 106). Allerdings haben zahlreiche Konzepte großen Einfluss auf die heutige Sozialwirtschaft und das Sozialmanagement, unter anderem das St. Galler Managementkonzept und das Freiburger Management-Modell für Nonprofit-Organisationen (vgl. Maelicke 2008: 923). Um zu einem umfassenden sozialwirtschaftlichen Managementmodell zu kommen, sieht Wöhrle drei Optionen (vgl. Wöhrle 2005: 110): a.
b.
50
Sozialmanagement als Teilbereich der Sozialarbeitswissenschaft. Allerdings wird die „Verbetriebswirtschaftlichung“ in der Sozialen Arbeit nach wie vor kritisch gesehen. Die Spannung besteht zwischen dem auf Hilfe und Selbstständigkeit des Klienten ausgerichteten System der Sozialarbeit und dem an der Wirtschaftlichkeit orientierten Sozialmanagement (vgl. Schwarz 2001: 60). Sozialmanagement als Teil der Betriebswirtschaftslehre. Dazu bedarf es einer Ausdifferenzierung dieser Disziplin, die die Besonderheiten des „Dritten Sektors“50 in den Blick nimmt. Hier zeigt sich das Spannungsfeld anDer Begriff Dritter Sektor wird im Kapitel 3.3 erläutert.
3.1 Grundbegriffe der Sozialwirtschaft
c.
57
dersherum. Denn der Nachweis, dass das betriebswirtschaftliche Theoriegerüst besonders hilfreich für die Aufgaben des Sozialmanagements ist, muss erst noch erbracht werden (vgl. Krölls 2000: 66ff). Sozialmanagement als eigene Disziplin, die auf beide Systeme Bezug nimmt und nach „Verbindungslinien, aber auch Unvereinbarkeiten“ (Wöhrle 2005: 110) sucht. Auch Merchel favorisiert diese Option als „integrierte Sozialmanagement-Perspektive“, bei der „die jeweiligen Eigenlogiken von Management und Sozialer Arbeit zum Tragen kommen, ohne dass Spannungen von vorneherein in eine einseitige Richtung aufgelöst werden“ (2009b: 74).
Eine von Wöhrle nicht formulierte Möglichkeit ist die Einbindung des Sozialmanagements in die Volkswirtschaftslehre. Sie würde die Möglichkeit eröffnen, verstärkt die Gestaltung der sozialstaatlichen Rahmenbedingungen hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit in den Blick zu nehmen. Allerdings sind für diese Option bislang keine Anzeichen in der Sozialmanagementliteratur zu erkennen. Trotz der eingangs erwähnten Unschärfe der Begrifflichkeiten haben sich einige grundsätzliche Klärungen ergeben. Im weiteren Verlauf der Untersuchung werden nun die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede von Profitwirtschaft und Sozialwirtschaft, insbesondere mit Blick auf die unternehmensethischen Rahmenbedingungen, als Beitrag zu einem umfassenden sozialwirtschaftlichen Managementmodell untersucht. Dabei wird mit der in der folgenden Darstellung gezeigten Begriffskonstruktion gearbeitet:
58
3 Ethische Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft
Abbildung 4:
Begriffsdefinitionen der Sozialwirtschaft (eig. Darstellung)
3.2 Entwicklung der Sozialwirtschaft Die Geschichte51 der Sozialen Arbeit beginnt im 19. Jahrhundert. Besonders benachteiligte Mitglieder der Gesellschaft (z.B. alte, arme, behinderte Menschen) erhielten Unterstützung durch in der Regel religiös motivierte engagierte ehrenamtliche Menschen. Erste Einrichtungen entstanden zumeist im Umkreis der großen Industriestandorte. Mit der Gründung von Wohlfahrtsorganisationen und der gesetzlichen Einführung von Leistungsträgern begann die Institutionalisierung dieser Arbeit und damit auch die Sozialwirtschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg erforderte der schnelle Aus- und Aufbau des Systems der sozialen Dienstleistungen sowie der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen eine Professionalisierung der Leitung sozialwirtschaftlicher Unternehmen. Marktmechanismen hatten allerdings bis zu den 1980er Jahren keinen wesentlichen Einfluss auf die Finanzierung des sozialen Dienstleistungssektors. Der Sozialstaat war vielmehr geprägt durch das sozialpolitische Prinzip der überwiegend durch Steuern finanzierten Grundversorgung (vgl. Müller 2009: 70). Individuelle Risiken waren
51
Zur Geschichte der Sozialwirtschaft vgl. Wendt 2009 sowie Maelicke 2009: 703.
3.2 Entwicklung der Sozialwirtschaft
59
durch die Sozialversicherungssysteme abgedeckt, die paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert wurden. Mit dem Umbau des Sozialstaates in den 90er Jahren bahnte sich dann ein Prozess an, der als „Ökonomisierung der Sozialen Arbeit“52 bezeichnet wird. Gemeint ist die Übernahme betriebswirtschaftlicher Instrumente, Begriffe und Denkweisen in die Organisationen der Sozialwirtschaft sowie die Öffnung der sozialen Dienstleistungen für privatwirtschaftliche Unternehmen. Der politische Rahmen dieser Entwicklung ist die Reform der sozialen Sicherung, des Gesundheits- und des Bildungssystem, verbunden mit einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel. Staatliches Handeln ist nun nicht mehr geprägt von der Idee der sozialen Sicherung, sondern vom Wettbewerb der Nationalstaaten innerhalb der globalisierten Wirtschaft (vgl. Müller 2009: 70).53 Ökonomisches Denken bestimmt nicht mehr nur die Wirtschaft, sondern auch Entscheidungen in Politik, Kultur, Bildung und eben auch in der Sozialarbeit. Diese Entwicklung ist nicht neu (vgl. Albert 2006: 19, Buestrich / Wohlfahrt 2008: 17), sie gewinnt aber durch die globalisierten Wirtschaftsprozesse in den neunziger Jahren an Dynamik. Der Sozialstaat gilt aus neoliberaler Perspektive als zu teuer. Die soziale Sicherung wird abgebaut, privatisiert und in die Eigenverantwortung der Menschen übergeben. Die freien globalen Märkte verlangen nach mobilen und flexiblen Arbeitskräften, nach selbstständigen „UnternehmerInnen ihres eigenen ‚Humankapitals‘“ (Müller 2009: 71). Damit vergrößert sich das individuelle Risiko. Soziale Beziehungen sind schwieriger herzustellen und müssen immer wieder erneuert werden, sie verlieren an Bindungskraft und Sicherheit. Nicht allen Menschen stehen die materiellen und sozialen Ressourcen zur Verfügung, die ein selbstverantwortetes Leben benötigt. Die Folge der globalisierten Ökonomisierung und des Rückzuges des Sozialstaats ist ein immer stärkeres Auseinanderklaffen zwischen Arm und Reich. Die Verlierer finden sich durch Arbeitslosigkeit in den Hilfesystemen wieder54, die Gewinner können ihr Privatvermögen auf den globalen Finanzmärkten munter steigern. Parallel wurden die Unternehmen steuerlich entlastet und die Arbeitgeberbeiträge an der Finanzierung der sozialen Sicherung eingefroren, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu sichern und eine Abwanderung der Unternehmen ins Ausland zu verhindern (vgl. Albert 52
53 54
Zur Ökonomisierung der Sozialen Arbeit vgl. Wilken 2000 sowie Albert 2006. Beckmann et al. definieren die Ökonomisierung als „eine staatlich inszenierte Konkurrenz um staatlich gestiftete Zahlungsfähigkeit, wobei auch gewinnorientierte, privatwirtschaftliche Anbieter auf diesem Sozialmarkt zugelassen sind“ (2009: 30). Siehe dazu Kap. 2.3. Oder auch nicht, wie eine stetig steigende Zahl von Menschen zeigen, die mit dem Antragsverfahren nicht zurechtkommen oder aus Scham bzw. Unwissenheit keine Leistungen beziehen. Sie finden sich im günstigen Fall bei privaten karitativen Fürsorge- und Unterstützungsangeboten wieder.
60
3 Ethische Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft
2006: 26). Die zynische staatliche Reaktion auf die durch die Reduzierung staatlicher Sozialleistungen wachsenden sozialen Probleme ist, die Ausgaben in den Sozial- und Gesundheitssystemen im Zuge der Standortsicherung immer weiter zu senken. Dabei handelt es sich wohlgemerkt nicht um einen Sachzwang zum Sparen im Zuge der klammen Staatsfinanzen, sondern um eine bewusste Prioritätensetzung (vgl. Krölls 2000: 63)55. Die Finanzierung sozialer Leistungen wurde grundlegend geändert, zentrale sozialstaatliche Strategien zur Kostenersparnis waren die Initiierung eines Wettbewerbs unter den sozialen Einrichtungen bzw. ihren privatwirtschaftlichen Konkurrenten, die Orientierung an Ergebnissen statt Leistungen – verbunden mit dem Abschluss von Kontrakten – und die Aufwertung von Eigenverantwortung (vgl. Merchel 2009b: 54). Im Rahmen des kommunalen Modells der „Neuen Steuerung“56 wurden die staatlich finanzierten Leistungen überprüft und ihre Effektivität und Effizienz erhöht. Zusammenfassend schreibt Albert recht nüchtern: „Die staatliche Verwaltung übernimmt das Strategiemanagement für die Kernaufgaben, die Politik übernimmt den Diskurs und entscheidet über die Auftragsvergabe, der soziale Sektor gestaltet, plant und führt unter den Bedingungen eines freien Marktes und Wettbewerbs die Leistungen aus. Die Gesellschaft soll parallel hierzu mehr Eigenverantwortung und bürgerschaftliches Engagement übernehmen“ (2006: 28).
Obwohl die Ökonomisierung der Sozialen Arbeit ursprünglich aus dem staatlichen Sparwillen im Zuge der Standortsicherung herrührt, können ihr einige Sozialwissenschaftler auch Positives abgewinnen57. Genannt wird beispielsweise eine verbesserte gesellschaftliche Akzeptanz der sozialarbeiterischen Angebote, die nun ihre effiziente Ressourcenverwendung nachweisen können. Auch die fachliche Qualität der Arbeit könne durch den Einsatz strategischer Managementinstrumente verbessert werden. Nicht zuletzt kann der konstatierte „funktionale Dilettantismus“ (Buestrich / Wohlfahrt 2008: 17) in der Leitung sozialer Einrichtungen überwunden werden. Zu den Risiken zählt hingegen die Vernachlässigung ethischer Prinzipien wie Teilhabe und Solidarität gegenüber den ökonomischen Prämissen. Außerdem besteht die Gefahr, die Klienten nach „angenehmen, interessanten, guten und schlechten Fällen und Kostenrisiken auszuwäh55
56 57
Die vielbeschworenen „leeren Staatskassen“ existieren schon deshalb nicht, weil die massive Unterstützung der Banken in der Finanzkrise oder die Sicherung des Euros mit erstaunlich hohen Bürgschaften das Gegenteil beweisen. Es geht also nicht darum, generell weniger auszugeben, sondern dezidiert im Sozialbereich (und in einigen anderen Bereichen wie Kultur, Entwicklungshilfe usw.) zu sparen. Vgl. kritisch dazu Buestrich / Wohlfahrt 2008. vgl. dazu ausführlich Albert 2006: 66ff.
3.3 Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft
61
len“ (Albert 2006: 75). Die sozialpädagogische Intervention richtet sich nach ihrer Finanzierbarkeit und nicht nach dem bestmöglichen Nutzen für den Klienten. Außerdem zwingt der Konkurrenzdruck im Bereich der sozialen Dienstleistungen zur Intensivierung der Arbeitskraft und zur Bindung von Klienten und Kostenträgern an das Unternehmen (vgl. Beckmann et al. 2009: 35). Mit der Ökonomisierung der Sozialarbeit geht auch die „Ökonomisierung des Leistungsempfängers“ (Buestrich/ Wohlfahrt 2008: 21) einher. Ziel der Arbeitsmarktreformen Hartz I bis IV ist beispielsweise die möglichst schnelle Reintegration in den Arbeitsmarkt durch „Fördern und Fordern“ (Müller 2009: 70). Die dahinter stehende Ideologie des „aktivierenden Sozialstaats“ (Buestrich/ Wohlfahrt 2008: 21) verlangt vom Leistungsempfänger aktive Mitwirkung an seiner Reintegration als Gegenleistung für die erhaltenen Unterstützungsleistungen. Auch diese Reform folgt allerdings letztlich nur dem staatlichen Willen zur Senkung der Sozialausgaben. Für sozialwirtschaftliche Unternehmen ergibt sich in diesem Zusammenhang die dringliche Aufgabe, sich auf ihre sozialpolitische Aufgabe als „Anwältinnen ihrer Klientel“ (Müller 2009: 77) zu besinnen und auf die negativen Folgen der Globalisierung und der Ökonomisierung der sozialen Dienstleistungen aufmerksam zu machen.58 Trotz vieler Kritik und einiger Widerstände haben betriebswirtschaftliche Instrumente inzwischen Einzug in die sozialwirtschaftlichen Organisationen gehalten. Die einstige Abgrenzung wurde schon vor vielen Jahren aufgegeben. So gilt es inzwischen „Gemeinsamkeiten, aber auch Trennendes zwischen For-Profit-Organisationen, Non-Profit-Organisationen und Sozialwirtschaftlichen Organisationen genauer herauszuarbeiten mit dem Ziel, für die Nutzer/Kunden eine bestmögliche Dienstleistung zu einem möglichst günstigen Preis verfügbar zu machen“ (Maelicke 2009: 704).
3.3 Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft59 Was also unterscheidet sozialwirtschaftliche Unternehmen von erwerbswirtschaftlichen60 Unternehmen oder staatlichen Organisationen?
58
59 60
Ein positives Beispiel dafür ist die Saarbrücker Erklärung des Deutschen Berufsverbandes für Soziale Arbeit e.V., Quelle: http://www.dbsh.de/Saarbruecker-Erklaerung.pdf [11.8.2011] Vgl. dazu ausführlich Arnold 2000. Im Folgenden werden die Begriffe erwerbswirtschaftliche Unternehmen oder Profitunternehmen als Abgrenzung zu sozialwirtschaftlichen Unternehmen genutzt. Sie bezeichnen Unternehmen, die vorrangig gewinnorientiert arbeiten (vgl. auch 3.3.1).
62
3 Ethische Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft
3.3.1 Zielsetzung Zu den trennenden Eigenschaften der Erwerbswirtschaft von der Sozialwirtschaft zählen zunächst einmal die Organisationsziele. Während Profit-Organisationen sich primär an der Optimierung des wirtschaftlichen Erfolgs orientieren (Formalziel-Dominanz), kümmern sich Non-Profit-Organisationen (NPO) um die Optimierung ihrer gemeinnützigen Zwecke, zum Beispiel den Nutzen für ihre jeweilige Klientel (Sachziel-Dominanz) (vgl. Maelicke 2009: 708; Klus 2009: 139; Buestrich / Wohlfahrt 2008: 17). Die Ziele sozialwirtschaftlicher Organisationen sind also Sachziele, ihre Erreichung legitimiert das Handeln der Organisation. In diesem Zusammenhang haben die Verletzungen sozialer Normen oder ethischer Werte einen ungleich größeren Einfluss auf das Bild sozialer Einrichtungen in der Öffentlichkeit und damit auf die Legitimität ihres Handelns, als die Verletzung des formalen Gewinnziels eines erwerbswirtschaftlichen Unternehmens (vgl. Merchel 2009b: 77). Zur Beschreibung des sozialwirtschaftlichen Teilbereichs hat sich der Begriff „Dritter Sektor“61 etabliert (vgl. Klus 2009: 142ff). Gemeint ist ein neben dem Markt62 und dem Staat63 existierender dritter Teil der allgemeinen Wirtschaft mit eigenen Kriterien: „Organisationen des Dritten Sektors zwingen erstens nicht zur Mitwirkung, arbeiten zweitens ohne Gewinnausschüttung an Stakeholder […] und existieren drittens ohne einfache und eindeutige Linien des Eigentums und der Accountability“ (ebd.: 145).
Allerdings ist die Abgrenzung zwischen den ökonomischen Teilbereichen schwierig. Schneider weist beispielsweise darauf hin, dass sich auch privat-kommerzielle Organisationen im Feld der sozialen Arbeit bewegen (z.B. Jugendhilfe, Altenhilfe), die nicht als Non-Profit-Organisationen bezeichnet werden können (vgl. 2010: 303)64. Auf die generelle Schwierigkeit des Begriffs Non-ProfitOrganisation hat Merchel aufmerksam gemacht: „Das Fehlen eines Gewinnziels und die ausschließliche Verwendung von Gewinnen für die Sachziele der Organisation bildet eine außerordentlich schmale Basis für eine
61
62
63
64
Arnold weist darauf hin, dass eigentlich von 4 Sektoren auszugehen ist. In seinem Modell vermitteln NPO zwischen den Sektoren Staat, Markt und Primärgruppen. Letztere umfassen „informelle Gruppierungen mit dem Ziel der Eigenversorgung“ (2000: 56). Genauer: einem „marktwirtschaftlich strukturierten Sektor der auf Gewinnerzielung ausgerichteten Erwerbswirtschaft“ (Merchel 2009b: 37). Genauer: einem „öffentlichen Sektor, in dem auf den unterschiedlichen föderalen Gliederungsebenen (Bund, Länder, kommunaler Bereich) das öffentliche Leben organisiert wird“ (Merchel 2009b: 37). Ähnlich in Arnold / Maelicke 2009: Sozialwirtschaftliche Unternehmen können durchaus auch gewinnorientiert sein, nur darf der Gewinn eben nicht ausgeschüttet werden.
3.3 Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft
63
Definition, deren Zweck in einer plausiblen Unterscheidung von Organisationstypen liegt“ (2009b: 36).
Ähnliches gilt für den Begriff des Dritten Sektors: „Die Kategorie des Dritten Sektors scheint ähnlich wie der NPO-Begriff unterschiedlichste Organisationsformen in einen Topf zu zwingen, die außer ihrer NichtZugehörigkeit zu Markt und Staat kaum etwas miteinander verbindet“ (2009b: 40).
Festzuhalten bleibt, dass nicht die das fehlende Gewinnziel, sondern die fehlende Gewinnausschüttung sowie die Orientierung an einem Sachziel zentrale Kennzeichen sozialwirtschaftlicher Organisationen darstellen. 3.3.2 Kundenbegriff Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht in dem Begriff des Kunden bzw. Klienten. Der Kunde in der Privatwirtschaft verfügt über Geld (Kaufkraft) und kann damit seine Bedürfnisse decken. Das Angebot der Profitwirtschaft richtet sich nach dieser Nachfrage, bzw. versucht sie durch Marketing zu wecken. Die Sozialwirtschaft hat es dagegen mit Menschen zu tun, die sich häufig in einer Notlage befinden und eben nicht über die ökonomischen Mittel verfügen, um ihren – wie auch immer gearteten – Bedarf zu decken. „Die einfache Gleichung von Kunde/in = Bezahlender gibt es in den seltensten Fällen“ (Fasching et. al 2005: 11, ähnlich in Maelicke 2009: 710). Während in Profit-Unternehmen also eine duale Beziehung zwischen dem Kunden als Nachfrager und dem Unternehmen als Anbieter vorherrscht, ist in der Sozialwirtschaft ein Dreiecksverhältnis zu konstatieren (vgl. Eurich 2007: 150). Als dritte Instanz zwischen dem Kunden als Leistungsempfänger und der sozialwirtschaftlichen Organisation als Leistungsanbieter befindet sich in der Regel ein Kostenträger65. Im Unterschied zur schlüssigen Tauschbeziehung zwischen einem Kunden und einem Betrieb in der Profitwirtschaft, wird deshalb in der Sozialwirtschaft von einer „nichtschlüssigen Tauschbeziehung“ gesprochen (vgl. Merchel 2009b: 78). 65
Die „Nachfragemacht öffentlicher Sozialträger“ (Eurich 2007: 150) hat einen großen, häufig unterschätzten Einfluss auf die Angebote von Non-Profit-Unternehmen. Wenn die Kostenträger beispielsweise das kostengünstigste Angebot einem qualitativ höherwertigen vorziehen, ist die Wahlfreiheit des Kunden (Klienten) eingeschränkt. Sozialwirtschaftliche Unternehmen müssen sich folglich nicht nur mit einem Kunden arrangieren, sondern die Interessen mehrerer Kunden bedienen (vgl. Eurich 2007: 152). Die Initiierung einer pluralen Trägerlandschaft und damit einhergehend einer Konkurrenz zwischen den Trägern ist nach Buestrich / Wohlfahrt verbunden mit der staatlichen „Hoffnung auf Kostenersparnis“ (2008: 20) durch stärkeren Wettbewerb. Anmerkung d. Verf.: Es wird sich dabei wohl eher um ein strategisches Ziel, als um eine Hoffnung handeln.
64
3 Ethische Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft
Mit Bezug auf die Öffnung des Marktes sozialer Dienstleistungen für gewinnorientierte Unternehmen sprechen einige Autoren von einem „Sozialmarkt“ (vgl. Schramm 2007: 16ff; Beckmann et al. 2009: 29). Dieser unterscheidet sich allerdings an verschiedenen Stellen von anderen Märkten66. Exemplarisch seien dazu genannt: fehlende Kaufkraft des Kunden, fehlende Kundensouveränität bei der Auswahl des Anbieters, staatliche Einflussnahme (vgl. Schramm 2007: 20; Wiemeyer 2007: 138; Brüll 2009: 156). Eine weitere Besonderheit stellt Eurich heraus: „Soziale Arbeit ist dadurch charakterisiert, dass sie auf die Mitwirkung des Kunden angewiesen ist, da dieser nicht nur ‚Objekt‘ der Dienstleistung ist und das ‚Produkt‘ Sozialer Arbeit darstellt, sondern selbst als Co-Produzent betrachtet werden muss, also als ein ‚Subjekt‘ Sozialer Arbeit berücksichtigt werden muss“ (2007: 152, vgl. auch Wendt 2003: 20, Schwarz 2011: 61).
Die Angebote Sozialer Arbeit werden erst durch die Mitwirkung des Kunden wirksam, sie können nicht nur konsumiert werden. Damit nicht genug: „Sozialmanagement ist nicht dafür da, Kundenzufriedenheit zu optimieren, sondern Kompromisse auszuhandeln: einerseits die Wünsche und Bedürfnisse der Zielgruppe, dann die fachlichen Wert- und Zielvorstellungen und schließlich die Möglichkeiten, welche die Gesellschaft durch öffentliche und private Initiativen und Strukturen zur Verfügung stellt“ (Fasching et al. 2005: 10).
Zu diesen Zielvorstellungen gehört, den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft herzustellen. Dies geschieht insbesondere durch die Eingliederung von Menschen, die aus verschiedensten Gründen ausgegrenzt sind: „Die Ausgliederung (exclusion) ist zu einem großen Teil Folge profitorientierten Wirtschaftens. Ihr gegenüber spielt die Sozialwirtschaft eine kompensatorische Rolle. Sie wird gesamtwirtschaftlich für eine nachhaltige Entwicklung gebraucht, um mit der Pflege des Humanvermögens und des Sozialvermögens die Leistungsfähigkeit nachgerade der Erwerbswirtschaft zu erhalten“ (Wendt 2003: 14).
Zuweilen geschieht diese „Eingliederung“ sogar gegen den Willen des Kunden, zum Beispiel im Falle von Inobhutnahme, Straffälligenhilfe, Heimunterbringung67. Während der Kunde in der Privatwirtschaft aufgrund der Zufriedenheit mit Produkt oder Dienstleistung freiwillig und gerne wiederkommt, zeigt sich in der Sozialwirtschaft an manchen Stellen eine „zwangsweise Kundenbin66
67
Wiemeyer stellt fest, dass „bei kaum einem Markt die Bedingungen des simplen ökonomischen Standardmodells [eines Marktes, d. Verf.] gegeben [sind]“ (2007: 127). Dementsprechend gibt es in vielen Märkten staatliche Eingriffe (für Beispiele siehe Wiemeyer 2007). Dabei allerdings stets im Zusammenspiel von staatlichen Institutionen und ggfs. freien Trägern.
3.3 Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft
65
dung“ (Buestrich / Wohlfahrt 2008: 19) mit dem sozialpädagogischen Ziel, dass der Klient eben nicht wiederkommt. Die vorstehenden Ausführungen zeigen deutliche Unterschiede zwischen dem Kunden der Privatwirtschaft und dem Klienten großer Teile der Sozialwirtschaft. Dennoch findet der Kundenbegriff in der Literatur zur Sozialwirtschaft regelmäßig Verwendung (vgl. Merchel 2009b: 48; Krölls 2000: 7668). In der Tat gibt es auch im Rahmen der Sozialwirtschaft „echte Kunden“, die für ihre soziale Dienstleistung direkt bezahlen und eine gewisse Kundensouveränität besitzen.69 Doch für die klassischen Klienten verwischt der betriebswirtschaftliche Kundenbegriff das bislang noch existierende Abhängigkeitsverhältnis zur Sozialwirtschaft zu sehr und wird deshalb in diesem Buch nicht genutzt. Allerdings hat auch der Begriff des Klienten seine Schwierigkeiten. Er beschreibt ein tendenziell „paternalistisches Verhältnis, das der deutschen Tradition der Wohlfahrtspflege“ (Bauer, zitiert in Merchel 2009: 49) entspringt. Merchel schlägt deshalb in Anlehnung an Schaarschuch den Begriff des „Nutzers“ vor (vgl. 2009b: 50). Doch auch dieser Begriff birgt zumindest die Gefahr, dass „der koproduktive Charakter der Leistungserstellung sprachlich nur unzureichend transportiert wird“ (ebd.). Im Bewusstsein der beschriebenen Unzulänglichkeiten und in Ermangelung einer besseren Alternative wird hier der Begriff des „Klienten“ verwendet, da er zumindest die anwaltliche Funktion der Sozialarbeit hervorhebt. Deutlich geworden ist jedoch auch, wie schwierig die semantische, zunehmend aber auch die theoretische Abgrenzung ist. Das liegt daran, dass es eben nicht „den“ Kunden, Klienten, Nutzer der Sozialwirtschaft gibt, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Ansprüchen. 3.3.3 Finanzierung Wichtig für das Verständnis der ökonomischen Rahmenbedingungen von sozialwirtschaftlichen Unternehmen ist ein Blick auf ihre Finanzierung. Die besondere, meist bedürftige Situation der Klienten der Sozialwirtschaft wurde bereits dargestellt. Sie führt zu dem ebenfalls beschriebenen Dreiecksverhältnis aus Kostenträger, Leistungsempfänger und Leistungserbringer. Die Leistungen sind häufig gesetzlich geregelt und werden über die Sozialversicherungssysteme bzw. staatliche Zuwendungen finanziert. Im Zuge der Ökonomisierung der Sozialarbeit wurden zahlreiche Instrumente wie Budgetierung, Kontrakte, Produkt- und 68 69
Beide Autoren äußern sich allerdings kritisch zum Kundenbegriff. Beispiele dafür lassen ich in der Jugendhilfe (Jugendfreizeitfahrt) oder Altenhilfe (stationäres Altenheim) finden.
66
3 Ethische Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft
Zielvereinbarungen eingeführt, die eine Abkehr von der Trägervollfinanzierung per Jahresbudget hin zu Projekt- und Personenförderungen markieren (vgl. Buestrich / Wohlfahrt 2008: 23). Das sich daraus ergebene Planungsrisiko gilt nicht nur für das sozialwirtschaftliche Unternehmen, sondern auch für dessen Beschäftigte. So haben die Zahl der Befristeten- und Teilzeitanstellungen, Geringfügigen- und Honorarbeschäftigungen in sozialwirtschaftlichen Unternehmen deutlich zugenommen (vgl. ebd.). Auch in sozialwirtschaftlichen Unternehmen müssen immer mehr Beschäftigte in „prekären Beschäftigungsformen“ leben. Ihr Einkommen reicht nicht mehr zum Lebensunterhalt aus. Die Finanzierung sozialwirtschaftlicher Unternehmen ist inzwischen wesentlich komplexer. Obwohl die staatlichen Mittel weiterhin den überwiegenden Anteil der Einnahmen ausmachen (vgl. Pracht / Wolke 2009: 507), stammt ein nicht unerheblicher Anteil aus anderen Finanzierungsformen: Spenden, Nutzungsentgelte, Sponsoring, Mitgliedsbeiträge, Einnahmen aus wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben, Zuschüsse, Förderung und Zuwendungen usw. Im Unterschied zu der an Rentabilität orientierten Profitwirtschaft geht es in sozialwirtschaftlichen Unternehmen darum, die Sachziele zu erreichen und dafür auf der einen Seite neue Finanzierungsquellen aufzutun und auszuschöpfen, auf der anderen Seite die Kosten zu minimieren (vgl. ebd.). Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Finanzierung der sozialwirtschaftlichen Angebote eben von Dritten abhängig ist und nicht von den Menschen, denen diese Angebote zugutekommen. Dieser Unterschied ändert sich allerdings durch die Idee des „persönlichen Budgets“. Dabei wird der Klient dann wirklich zum Kunden, der sich mehr oder weniger souverän und gemäß seiner Bedürfnisse die entsprechenden sozialen Dienstleistungen „einkauft“ (vgl. ebd.). Die sozialwirtschaftlichen Unternehmen finden sich entsprechend auf einem wirklichen „Sozialmarkt“ wieder. 3.3.4 Ehrenamt Neben den hauptamtlich beschäftigten Mitarbeitern sind ehrenamtlich tätige Menschen ein weiteres Strukturmerkmal sozialwirtschaftlicher Organisationen. Sie sind eine wesentliche Ressource, weil sie einerseits ihre Arbeitskraft einbringen, andererseits aber auch vielen Organisationen Legitimation verschaffen, „indem sie gesellschaftliche Mitwirkung und sozialen Zusammenhalt, Wertbindung der Einrichtung, Nähe zu sozialen Milieus etc. dokumentieren“ (Merchel 2009b: 85). Zudem sind ehrenamtlich Tätige nicht selten in den Leitungsfunktionen sozialwirtschaftlicher Organisationen vorgesehen. Eine spezifische Aufgabe der Sozialwirtschaft ist damit die Gewinnung, Ausbildung, Pflege und Anerkennung ehrenamtlich engagierter Menschen.
3.3 Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft
67
3.3.5 Zusammenfassung Wie dargestellt wurde sind die Anforderungen, die an sozialwirtschaftliche Unternehmen gestellt werden, ambivalent und komplex. Die Unterscheidung zwischen sozialwirtschaftlichen Unternehmen und erwerbswirtschaftlichen Unternehmen ist an einigen Stellen unscharf, was u.a. auf Änderungen der Rahmenbedingungen im Zuge der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit zurückzuführen ist. Dennoch werden die zentralen Kennzeichen der Sozialwirtschaft hier noch einmal zusammengefasst70:
Sachzieldominanz: Ohne die Fokussierung auf einen gesellschaftlichen Nutzen sind sozialwirtschaftliche Unternehmen nicht denkbar. Nicht-schlüssige Tauschbeziehung: Nach wie vor dominiert das Dreiecksverhältnis aus Leistungsempfänger, Leistungsbezieher und Leistungsfinanzierer. Multiple Finanzierung: Daraus resultieren komplexe und zum Teil divergierende Ansprüche der Geldgeber. Einbindung Ehrenamtlicher: Als Mitarbeiter und Leitungsverantwortliche sind Menschen ehrenamtlich in der Sozialwirtschaft tätig.
Das Management sozialwirtschaftlicher Unternehmen muss um den Ausgleich divergierender Ansprüche und der dahinter stehenden Wertvorstellungen bemüht sein: Während die Klienten eine optimale Betreuung fordern, verlangen Geldgeber wie der Staat oder die Sozialversicherungen Dienstleistungen zu möglichst niedrigen Preisen. Mitarbeiter sind auf einen fairen Lohn und sichere Arbeitsverhältnisse angewiesen, Träger wahren ihre Traditionen, die Fachlichkeit Sozialer Arbeit verlangt eine Orientierung an den Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit, die Ehrenamtlichen suchen Anerkennung. Daher kommen „moderne Sozialunternehmen […] ohne Ethikkompetenz ihrer Akteure/Manager und Mitarbeiter nicht mehr aus, wollen sie nachhaltig ihr Dienstleistungsangebot sichern“ (Brüll / Bohlken 2009: 7). Diese Ethikkompetenz muss eingebunden sein in politische und unternehmensspezifische Rahmenbedingungen. Es stellt sich allerdings die Frage, welche (ethischen) Regeln nötig sind und wie diese implementiert werden können.
70
Die Schwierigkeit der Abgrenzung macht auch Wöhrle deutlich, der zu jedem der genannten und zu weiteren Abgrenzungskriterien erwerbswirtschaftliche Beispiele nennt, die das vermeintliche sozialwirtschaftliche Alleinstellungsmerkmal ebenfalls aufweisen (2009: 153ff).
68
3 Ethische Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft
3.4 Ethik in der Sozialwirtschaft Ein Unternehmen der Sozialwirtschaft „kann nicht dauerhaft gegen die wirtschaftliche Logik“ geführt werden (Schneider 2010: 305). Diese Feststellung ist richtig, aber nicht neu. Denn sozialwirtschaftliche Unternehmen mussten schon immer wirtschaftlich handeln, um mit ihren finanziellen Mitteln auszukommen. Neu ist hingegen der Einsatz betriebswirtschaftlicher Instrumente, die eine effiziente und effektive Unternehmensführung ermöglichen. Gleichzeitig sind die fachlichen Ziele und professionellen Standards der Sozialen Arbeit zu berücksichtigen. Nicht zuletzt bedarf es der ethischen Ausrichtung an „sozialer Gerechtigkeit“ und der „Würde des Menschen“ (ebd.). Sozialwirtschaftliche Unternehmen stehen also im Spannungsfeld zwischen der ökonomischen und der sozialen Verantwortung. Sie haben, wie oben dargestellt, häufig christliche oder humanitäre Wurzeln, arbeiten mit „vulnerable groups“ (Staub-Bernasconi 2006: 283), d.h. mit Menschen, deren Rechte und deren Würde, manchmal auch deren Überleben gefährdet sind. Damit setzen sie für sich eine „ethisch-moralische Grundeinstellung“ (Albert 2006: 62) voraus, die lange Zeit nicht explizit diskutiert wurde. Mit den „Berufsethischen Prinzipien“71 sind zwar die ethischen Grundlagen der Berufsgruppe definiert, ein Hinweis auf die ökonomischen Rahmenbedingungen fehlt jedoch darin. Indessen führt gerade die im Rahmen der Ökonomisierung der Sozialarbeit vorangetriebene Ausrichtung an den betriebswirtschaftlichen Maximen der Effizienz und Effektivität zwangsläufig zu Spannungen zwischen der ethischen Grundorientierung der Sozialarbeiter, dem gesellschaftlichen Auftrag der sozialwirtschaftlichen Unternehmen und ihren wirtschaftlichen Zielen, aber auch zwischen der Rolle als Anwalt der Klienten und den Interessen der Kostenträger. Zur Rolle der Ethik für die Sozialwirtschaft in dieser Situation sind drei Szenarien denkbar (vgl. Brüll 2009: 133):
71
Primat der Ökonomie: Ethik spielt keine Rolle in einem sozialwirtschaftlichen Unternehmen, das sich vollständig auf seine Wirtschaftlichkeit konzentriert. Die Regeln des Marktes gelten als „moralisches Gebot“ (ebd.), außerhalb dieser Regeln gibt es keine vernünftige Ethik. Primat der Ethik: Ethik spielt die entscheidende Rolle. In der Rückbesinnung auf die Traditionen und Entstehungsgeschichten sozialer Unternehmen wird die Wirtschaftlichkeit der ethischen Orientierung untergeordnet. Das Spannungsverhältnis von ethischen und wirtschaftlichen Zielen wird wahrgenommen und die eigene Positionierung innerhalb dieses SpannungsDas Grundsatzpapier wurde 1997 vom Deutschen Berufsverband der Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Heilpädagogik e.V. beschlossen. Quelle: http://www.dbsh.de/Berufsethische Prinzipien.pdf [7.3.2011].
3.4 Ethik in der Sozialwirtschaft
69
feldes gesucht. Lösungen werden in einem breiten Diskurs gefunden und konsequent umgesetzt. Offen bleibt dabei allerdings, ob das Austarieren innerhalb des Spannungsfeldes an ethischen oder ökonomischen Vorgaben orientiert ist. Brüll favorisiert die dritte Variante. Für ihn beinhaltet die sozialwirtschaftliche Ethik somit „tugend-, verantwortungs- und diskursethische Elemente“ (2009: 134). Sie hat folgende Spannungsfelder zu verknüpfen (vgl. ebd.):
Personale und organisationale Elemente Moralische und wirtschaftliche Ansprüche Das Unternehmen und seine Anspruchsgruppen Dauerhaftigkeit und Wandel
Gefordert wird also letztlich eine besondere Ethik für die Sozialwirtschaft – eine sozialwirtschaftliche Unternehmensethik. Ginge es nach Brüll, wäre diese im bereits skizzierten Spannungsfeld wohl weder der Ethik noch der Ökonomie zuzuordnen72. Albert scheint dagegen einem Primat der Ethik nicht ganz so abgeneigt zu sein: „Insbesondere die ethische Orientierung muss zu einer tragenden Säule der noch zu etablierenden Sozialwirtschaftslehre werden, wenn sie ihren sozialen Ansprüchen, den Interessen der KlientInnen und der historischen Tradition von Sozialarbeit gerecht werden will“ (Albert 2006: 105).
Eine solche sozialwirtschaftliche Ethik kann nicht von oben nach unten durchgesetzt werden, sondern bedarf eines breiten Diskurses und eines inhaltlichen Prozesses in der Organisation (vgl. Heller / Krobath 2010: 61). Dabei ist die Frage zu klären, ob „organisationelle Strukturen und Prozesse, personelle Besetzungen und bestimmte technische Vorschriften einen menschenwürdigen Umgang mit der Klientel wie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern [verhindern]“ (Staub-Bernasconi 2006: 284).
Ein solcher Diskurs ist „keine Spielwiese für Ethikfachleute, sondern eine Realisierungsmöglichkeit der weitergehenden Humanisierung und Demokratisierung unserer Arbeits- und Lebenskontexte“ (Heller / Krobath 2010: 67, Hervorhebung im Original).
72
Vgl. Abbildung 3 in Kap. 2.3.
70
3 Ethische Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft
3.5 Stellenwert ethischer Fragestellungen in der Sozialmanagementliteratur Noch 2006 stellt Albert fest: „Insbesondere das Thema Ethik findet in der […] Sozialmanagementliteratur kaum Beachtung“ (Albert 2006: 105). Das hat sich in den vergangenen fünf Jahren zwar geändert73. Doch in den neueren Ausgaben einschlägiger Lehrbücher findet sich nach wie vor erstaunlich wenig zu den Themengebieten Ethik oder Verantwortung74. Und auch das „Lexikon der Sozialwirtschaft“ enthält weder einen Artikel zur Ethik noch zu Werten oder Verantwortung (vgl. Maelicke 2008). So kommt Wöhrle zu der Erkenntnis: „Interessant ist schon, dass bislang keine schlüssigen Konzepte ethisch und moralisch orientierten Managements in der Sozialen Arbeit vorgelegt wurden, obwohl fast alle Autorinnen und Autoren ein solches mitdenken“ (2009: 156).
Dennoch scheint es, als wachse die Bedeutung der ethischen Rahmenbedingungen in sozialwirtschaftlichen Organisationen parallel zu den knapper werdenden finanziellen Spielräumen (vgl. Heller / Krobath 2010: 59). Schneider spitzt diesen Gedanken zu und prophezeit, dass zukünftig gilt: „Ohne Ethik bezahlt uns niemand“ (2010: 301). Aktuell sei demgegenüber eher die Meinung anzutreffen: „Wir werden nicht für Ethik bezahlt“ (ebd.). Im Zuge der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit sind ethische Fragen eigentlich omnipräsent: Sie stellen sich insbesondere hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit in einer verstärkt von Armut und Ungleichheit gekennzeichneten neoliberalen Gesellschaft. Doch die sozialwirtschaftliche Literatur fokussiert in ethischen Fragen vor allem auf die Führungskraft. Eine Führungskraft der Sozialwirtschaft befindet sich danach beispielsweise zwischen dem Sparwillen der Kommune, den Existenzängsten der Mitarbeiter und den fachlichen Zielen einer bestmöglichen Betreuung der Klienten in einem ethischen Entscheidungsdilemma (vgl. Albert 2006: 108). Ihre Aufgabe ist es, die fachlichen und ethischen Anforderungen mit den ökonomischen Vorgaben anzunähern. Aber wie? „Unzweifelhaft haben wir es jedoch [dabei] mit einem konstitutiven Spannungsverhältnis zu tun, das sich – anders als im Wirtschaftsbereich – nicht über die Primärlogik des Marktes bearbeiten lässt“ (Merchel 2009a: 69).
Tietze schlägt deshalb ein „Management der Achtsamkeit“ als ethische Orientierung für Führungskräfte in der Sozialwirtschaft vor:
73 74
Z.B. Brüll / Bohlken 2009, Tietze 2010, Heller / Krobath 2010. Z.B Arnold / Maelicke 2009, Merchel 2009b, Schwarz 2001.
3.5 Stellenwert ethischer Fragestellungen in der Sozialmanagementliteratur
71
„Handeln in Führungspositionen ist immer ein bewusster Akt, der von Führungskräften in sozialen Kontexten eine besondere Selbstaufmerksamkeit und Selbstreflexion einfordert. Achtsamkeit unterbricht in vielen Alltagssituationen routinisierte Gedanken- und Gefühlsabläufe und führt bei Führungskräften in sozialen Organisationen, die in ihren Entscheidungsprozessen Glaubwürdigkeit, soziale Werte und ökonomische Zweckrationalitäten ausbalancieren müssen, zu mehr Feingefühl, Konzentration und Offenheit für Innovationen und nachhaltige Veränderungen. Insofern ist die Achtsamkeitsorientierung eine qualitativ hochwertige Managementstrategie in der Sozialwirtschaft – sie ist untrennbar verknüpft mit der spezifischen Ethik Sozialer Arbeit.“ (Tietze 2010: 170).
Tietze bezieht sich auf die Care-Ethik, ein Konzept, das auf den vier Kategorien Aufmerksamkeit, Verantwortlichkeit, Kompetenz und Resonanz beruht (vgl. ebd.: 93). In der Care-Ethik geht es nicht um einen Diskurs auf Augenhöhe, Lernen voneinander kann vielmehr auch auf unterschiedlichen hierarchischen oder sozialen Stufen erfolgen: „Der Vorteil der Care-Ethik […] liegt darin, dass neben reziproken und symmetrischen auch asymmetrische und nicht-reziproke Anteile miteinander vernetzt sind und damit der ethische Diskurs auf allein symmetrische und reziproke Beziehungen überwunden werden kann“ (ebd.: 98).
Das Management der Achtsamkeit ist ein ganzheitliches Konzept, das insbesondere die Rolle von Führungskräften als Vorbilder fokussiert. Eine „Kultur der Achtsamkeit“, die auf „Selbstverpflichtung und Selbstreflexion“ setzt, soll dazu als Unternehmensleitbild implementiert werden (ebd.: 130). Das Konzept des Managements der Achtsamkeit ist individualethisch orientiert. Die nachhaltige Verankerung des Konzeptes in den Organisationsstrukturen bleibt vage, die Gestaltung sozialpolitischer Rahmenbedingungen spielt eine untergeordnete Rolle. Für den sozialwirtschaftlichen Bereich konnte jedoch ein Zusammenhang zwischen den Organisationsstrukturen einerseits und den individuellen moralischen Handlungen der Beschäftigten andererseits nachgewiesen werden (vgl. Brüll / Prim 2009). Die Autoren gehen davon aus, „dass professionelles Arbeiten im Sozial- und Pflegewesen durch eine möglichst weit entwickelte moralische Kompetenz der Mitarbeiter/innen und des Führungspersonals fundiert sein sollte, bei entsprechend förderlicher Gestaltung von Strukturen und Verfahrensregeln der Unternehmensorganisation“ (ebd.: 57).
Als Schlussfolgerungen zu ihrer Pilotstudie nennen die Autoren zehn Maßnahmen „zur Förderung der moralischen Kompetenz und des moralischen Organisationsklimas“ (ebd.: 96ff). Unter anderem fordern sie sozialwirtschaftliche Unternehmen in Anlehnung an ein Modell von Oser und Althof auf, „Runde
72
3 Ethische Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft
Tische“ als Instrument für einen „vollständigen Diskurs über berufs- und organisationsmoralische Dilemmata“ (ebd.: 99) zu installieren. Ein weiterer Vorschlag ist, in Planspielen „Veränderungen der Unternehmensorganisation“ oder „einschneidende Modifikationen von Verfahrensabläufen“ zu simulieren (ebd.: 102). Aus verschiedenen empirischen Studien leiten die Autoren ab, dass und wie unternehmensinterne Bedingungen die Entwicklung ethischer Kompetenzen der Mitarbeiter beeinflussen. Als entscheidende Bedingungen wurden nachgewiesen:
„Die enttäuschungsfeste Erfahrung persönlicher Wertschätzung, die Möglichkeit, sich mit Konflikten angstfrei und im wechselseitigen Vertrauen offen auseinandersetzen zu können, gleichberechtigte Kommunikation, Übertragung von kompetenzgerechter Zuständigkeit und Verantwortlichkeit, geregelte Mitbestimmungsmöglichkeiten“ (ebd.: 61).
Albert geht davon aus, dass sich Ethik „erst in der direkten Beziehungsgestaltung mit allen Betroffenen [erschließt]“ (2006: 117). Er empfiehlt für die sozialwirtschaftliche Unternehmensethik folgende Elemente (vgl. ebd.: 113):
ein Leitbild; ethische Standards, auch im Bereich des Personalmanagements (z.B. Mitarbeitergespräche, Fortbildungen); die Kontrolle der Einhaltung dieser Standards; die Beteiligung der Mitarbeiter, des Vorstandes und ehrenamtlicher Kräfte an ethischen Prozessen; die Berücksichtigung der Traditionen des Unternehmens; die Berücksichtigung ethischer Folgen bei Führungsentscheidungen.
Eine Befragung von Vorständen sozialwirtschaftlicher (christlicher) Unternehmen zeigt zwar eine „hohe Sensibilität für ethisch relevante Fragestellungen“ (Brüll 2009: 167), aber keine „systematische Form des Managements von Wertkonflikten als explizites Ethikmanagement“ (ebd.: 166). Als Ergebnis der Untersuchung formuliert Brüll einige Prüfsteine für die ethisch verantwortliche Führung sozialwirtschaftlicher Unternehmen:
Die Existenz einer Vision bzw. eines Leitbildes, das deutlich macht, welchen Nutzen eine Organisation stiftet und welche Leistungen sie für wen erbringt. Den reflektierten wirtschaftlichen Umgang mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen, der deutlich macht, wofür die Wirtschaftlichkeit der Orga-
3.5 Stellenwert ethischer Fragestellungen in der Sozialmanagementliteratur
73
nisation nützlich ist und ggfs. wie Gewinne nachhaltig und vernünftig eingesetzt werden. Den konsequenten Dialog mit den Anspruchsgruppen, zum Beispiel Klienten, Leistungsträger, Mitbewerber, Umfeld mit dem Ziel „die Solidarität mit marginalisierten Gruppen, die Stärkung des Bürgersinns und die Fairness im sozialwirtschaftlichen Wettbewerb als Werte präsent [zu] halten“ (ebd.: 176). Ein Wertemanagement, das der Entwicklungsphase des Unternehmens entspricht und auf die Autonomie der Mitarbeitenden setzt. Instrumente des Ethikmanagements, die der „Profilierung nach innen und außen dienen“ (ebd.: 180) und einen „gewissen Schutz vor Risiken und Schäden, die durch unethisches Verhalten von Leitung und Mitarbeitern entstehen können“ (ebd.) bieten.
Trotz dieser Ansätze einer sozialwirtschaftlichen Unternehmensethik fehlt nach wie vor ein umfassendes Konzept ethischer Unternehmensführung für den Bereich der Sozialwirtschaft. Einige Kriterien und Instrumente dafür wurden jedoch benannt, zum Beispiel die Diskursethik als sinnvolle grundlegende Orientierung. Allerdings bleibt die Aufgabe, für gerechte Gesellschaftsstrukturen einzutreten, bislang meist ausgeblendet.
4 Konzepte für eine sozialwirtschaftliche Unternehmensethik
Die Untersuchung der sozialwirtschaftlichen Literatur hat gezeigt, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Unternehmensethik innerhalb der Sozialwirtschaft dringend erforderlich ist und von verschiedenen Autoren auch gefordert wird. Im Folgenden wird geprüft, welche unternehmensethischen Ansätze dafür hilfreich sind. Einige Parallelen zwischen wirtschaftsethischen Ansätzen und den zuvor dargestellten Rahmenbedingungen der Sozialwirtschaft sind bereits erkennbar:
75 76 77 78
Auf der Grundlage seiner Untersuchung zur Ethik in der Sozialwirtschaft hat Brüll einen besonderen Bedarf für Ethikmanagement- bzw. Wertemanagementsysteme ausgemacht (vgl. Brüll 2009). Ein solches Wertemanagementsystem wurde von Josef Wieland im Rahmen der Governance-Ethik75 entwickelt. Ob dieses Wertemanagementsystem den besonderen Bedingungen sozialwirtschaftlicher Unternehmen gerecht wird, werde ich in Kapitel 4.2 analysieren. Der Capability Approach76 untersucht die Freiheiten und Verwirklichungschancen von Menschen und will sie dazu befähigen, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten. Ein Gedanke, der sich fast gleichlautend in der Definition der Aufgaben Sozialer Arbeit77 wiederfindet. Gerade die Soziale Arbeit hat ja den Auftrag, die individuellen Chancen von Menschen durch den Ausbau ihrer Fähigkeiten und die Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zu erweitern und so einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit zu leisten. So verwundert es nicht, dass der Capability Approach mittlerweile Einzug in die Sozialarbeitstheorie gefunden hat (vgl. Maaser 2010: 71). Ob er auch als Grundlage für eine Unternehmensethik der Sozialwirtschaft hilfreich ist, werde ich in Kapitel 4.3 untersuchen. Die integrative Wirtschaftsethik78 proklamiert das Primat der Ethik und betont die dialogische bzw. diskursethische Komponente ethischer EntDie Governanceethik ist ausführlich in Kap. 2.3.2 dargestellt. Der Capability Approach ist ausführlich in Kap. 2.3.5 dargestellt. Vgl. Kap. 3.1. Die integrative Wirtschaftsethik wird ausführlich in Kap. 2.3.4 vorgestellt.
R. Ahlrichs, Zwischen sozialer Verantwortung und ökonomischer Vernunft, DOI 10.1007/978-3-531-94355-8_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
76
4 Konzepte für eine sozialwirtschaftliche Unternehmensethik
scheidungsfindung. Das macht sie für sozialwirtschaftliche Unternehmen, die sehr stark auf die Beteiligung ihrer Klienten bzw. die Mitwirkung ihrer Mitarbeiter ausgerichtet sind, besonders gut anschlussfähig (vgl. Brüll 2009: 139). Zudem kritisiert Ulrich den bestehenden Ökonomismus scharf und wendet sich gegen den vermeintlichen Sachzwang der Gewinnmaximierung, ein Prinzip, das sozialwirtschaftlichen Unternehmen ohnehin (weitgehend) fremd ist79. Seine Theorie der Wirtschaftsbürgerrechte gilt grundsätzlich auch für die aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen. Gerade sie sind ja die Zielgruppe der Sozialen Arbeit. So kommt auch Gabriel zu dem Schluss: „Ulrichs Unternehmensethik ist in der Lage, der ethischen Reflexion und Orientierung von Dritte-Sektor-Organisationen wichtige Impulse zu geben“ (2008: 328). Inwiefern sie konkrete Hilfestellung für den Aufbau einer sozialwirtschaftlichen Unternehmensethik leistet, wird sich in Kap. 4.4 zeigen. Die wirtschaftsethischen Ansätze von Homann80 und Steinmann81 werden an dieser Stelle aus folgenden Gründen nicht weiter verfolgt:
79 80 81
In Homanns Ansatz findet sich zwar ein grundsätzlich entlastendes Moment für ein sozialwirtschaftliches Unternehmen, indem die moralische Verantwortung der staatlichen Rahmenordnung zugeschrieben wird. Doch gerade die ist es ja, die das eingangs konstatierte Spannungsverhältnis von ökonomischer Vernunft und sozialer Verantwortung durch neue Steuerungsmechanismen erst ausgelöst bzw. verschärft hat. Homanns Forderung an Unternehmen, sich dort einzumischen, wo die „Spielregeln“ nachgebessert werden müssen, ist einerseits zu unterstützen, sie bietet andererseits aber keine neue Perspektive für sozialwirtschaftliche Unternehmen, die sich ohnehin als Anwältinnen ihrer Klienten verstehen und für gesellschaftliche Veränderungen einsetzen (sollten). Vor allem bleibt Homann einem reinen ökonomischen Kosten-Nutzen-Denken verhaftet, das keinen Raum für klassische sozialarbeiterische Werte wie Solidarität, soziale Gerechtigkeit oder Menschenrechte jenseits des individuellen Nutzens lässt. Hinzu kommt, dass der Ansatz der ökonomischen Wirtschaftsethik keine Antwort auf den Umgang mit den heterogenen Ansprüchen der verschiedenen Anspruchsgruppen sozialwirtschaftlicher Unternehmen bietet (vgl. Gabriel 2008: 324). Damit erscheint der Ansatz für sozialwirtschaftliche Unternehmen als nicht hilfreich. Vgl. Kap. 3.3.1. Vgl. Kap. 2.3.1. Vgl. Kap. 2.3.3.
4.1 Exkurs: Verantwortung und Leadership in der Sozialwirtschaft
77
Der Ansatz der diskursiven Unternehmensethik nach Steinmann hebt zwar den Diskurs als Mittel der Konfliktlösung hervor und bietet damit einen geeigneten Anknüpfungspunkt für sozialwirtschaftliche Unternehmen und den Dialog mit ihren vielfältigen Anspruchsgruppen. Steinmann bleibt jedoch letztlich einem Primat der Ökonomie verpflichtet, indem er Unternehmen als generell dem Gewinnprinzip unterstehend begreift, wobei dieses im Einzelfall nach ethischen Maßgaben überprüft werden müsse. Auch bei Ulrich findet sich die Idee des herrschaftsfreien Diskurses, allerdings formuliert Ulrich zudem das Prinzip der Lebensdienlichkeit als wirtschaftsethische Prämisse. Dasselbe gilt für Sen mit seinem Fokus auf Gerechtigkeit, Bedürfnisse und Befähigungen. Die Ansätze von Sen und Ulrich sind damit weitergehend. Für die Sozialwirtschaft erscheint die Beschäftigung mit ihnen ergiebiger, da sie sich deutlicher sozialpolitisch positionieren.
Die folgenden Ausführungen werden also die drei zuerst genannten Ansätze weiterverfolgen. Ein Exkurs beleuchtet zuvor die besonderen Bedingungen für die verantwortliche Führung in der Sozialwirtschaft und damit die individualethische Ebene. 4.1 Exkurs: Verantwortung und Leadership in der Sozialwirtschaft 4.1.1
Der Begriff der Verantwortung
In der bisherigen Untersuchung war bereits mehrfach von Verantwortung die Rede. Insbesondere im Kontext von Unternehmensführung in der Sozialwirtschaft kommt diesem Begriff eine besondere Bedeutung zu. Die Verantwortung als Führungskraft gilt in mehrfacher Hinsicht: gegenüber den Klienten, den Kostenträgern, den Mitarbeitern, aber auch gegenüber dem gesellschaftlichen Umfeld, den konkurrierenden Trägern usw. Für die sozialen Dienstleistungen einer sozialwirtschaftlichen Organisation sind die Mitarbeiter ein zentrales Element: „Den Mitarbeiter/innen gegenüber besteht sie [die Verantwortung, d. Verf.] darin, ihre Kompetenzen zu fördern, ihre Rechte zu wahren sowie Möglichkeiten der Beteiligung und Verantwortungsübernahme zu schaffen“ (Liedke 2006: 66).
Im folgenden Abschnitt erfolgt zunächst eine begriffliche Klärung, die schließlich in den Leadership-Ansatz mündet, der diesen Aspekt in besonderer Weise aufnimmt. Der Begriff Verantwortung impliziert zunächst einmal Kommunikation, denn in ihm steckt das Wort „antworten“ (vgl. Maaser 2010: 121). Damit ist
78
4 Konzepte für eine sozialwirtschaftliche Unternehmensethik
Verantwortung auf ein Gegenüber bezogen. Sie setzt die Freiheit des Handelns voraus (vgl. Bonhoeffer 1988: 264; Sen 2007: 337). Denn nur wer frei und selbstbestimmt eine Handlung vollziehen kann, kann dafür auch verantwortlich gemacht werden, kann überhaupt verantwortlich handeln. Verantwortung ist eine „vergleichsweise späte Entdeckung der Ethik“ (Liedke 2006: 61). Spätestens jedoch seit Max Weber zwischen „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“ unterschied, hat der Begriff Einzug in die ethische Diskussion gehalten (vgl. ebd.). Gesinnungsethische Entscheidungen sind sehr persönlich, sie orientieren sich am Gewissen und den individuellen Werten, Normen und Erfahrungen. Verantwortungsethisch getroffene Entscheidungen beziehen dagegen die (gesellschaftlichen) Folgen des eigenen Handelns mit ein (vgl. Rausch / Schwendemann 2010: 280). Hans Jonas prägte dafür den Begriff „das Prinzip Verantwortung“ (1979). Sein zentrales Kriterium für eine ethische Entscheidung lautet: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ (Jonas 1979: 36). Er erweitert damit Kants kategorischen Imperativ um die Verantwortung für zukünftige Generationen und reagiert so auf die Herausforderungen einer sich immer schneller entwickelnden Technik. Heute kann Verantwortung folgendermaßen definiert werden: Jemand (Subjekt der Verantwortung) ist für etwas (Handlungen und ihre Folgen) gegenüber einem Adressaten vor einer Urteilsinstanz in Bezug auf eine Norm im Rahmen eines Verantwortungsbereichs verantwortlich (in Anlehnung an Lenk / Maring, zitiert in Liedke 2006: 62). Ähnlich, allerdings mit einem unternehmensethischen Bezug, definieren Ulrich / Thielemann Verantwortung. Sie formulieren vier Frage-Dimensionen: Wofür, für wen, vor wem bin ich verantwortlich? Ist die Verantwortungsübernahme zumutbar? (1992: 17f). Ist die Klärung des Verantwortungssubjekts noch relativ einfach, beginnen die Schwierigkeiten schon beim Verantwortungsbereich. In komplexen Gesellschaften und Systemen ist die Abgrenzung des eigenen Verantwortungsbereichs schwierig82. Das gilt natürlich auch innerhalb eines Unternehmens83. Insbesondere die Frage nach der Zumutbarkeit der Verantwortungsübernahme ist für den 82
83
Ein Beispiel dafür sind die ökologischen Folgen unseres Wirtschaftssystems, die das Individuum zwar durch gezielte ökologische Produktauswahl beeinflussen kann, ohne dabei allerdings die Grundstruktur des auf Ressourcenvernichtung angelegten kapitalistischen Systems zu verändern. Ist nun der einzelne also nicht verantwortlich, weil sein Verantwortungsbereich derart begrenzt ist? Oder ist er umso mehr verantwortlich dafür, die Rahmenbedingungen zu verändern? Innerhalb des Unternehmens stellt sich beispielsweise die Frage, welche Verantwortung die Führungskraft, bzw. das Unternehmen für das persönliche Wohlergehen eines Mitarbeiters hat, bzw. für die Lösung dessen familiärer Notlagen und Bedürfnisse: Sind die persönlichen Probleme Privatsache? Oder hat das Unternehmen eine gesellschaftliche, vielleicht sogar ökonomische Verantwortung, mit dem Mitarbeiter zusammen nach einer Lösung zu suchen?
4.1 Exkurs: Verantwortung und Leadership in der Sozialwirtschaft
79
Kontext dieser Untersuchung wichtig, denn sie fragt nach den Rahmenbedingungen des Handelns. „Es mangelt unter solchen Bedingungen [Handlungsrestriktionen und Sachzwänge innerhalb des Unternehmens, d. Verf.] nicht unbedingt an dem moralischen Verantwortungsbewusstsein der Individuen, sondern vor allem an den notwendigen Handlungsmöglichkeiten und an der Macht des einzelnen für ein verantwortbares Agieren“ (Ulrich / Thielemann 1992: 19).
Angesprochen ist hier, dass Verantwortungsübernahme stets einen Freiraum (oder Spielraum) voraussetzt, der verschiedene Handlungsoptionen offen lässt (vgl. Noll 2002: 158). Folglich muss Unternehmensethik weniger das moralische Handeln der einzelnen Personen fokussieren, sondern sich vielmehr als „Institutionenethik“ verstehen und die „Wechselwirkungen zwischen beiden Ebenen“ berücksichtigen (Ulrich / Thielemann 1992: 19). Mit welchen Instrumenten kann das gelingen? „Unternehmen, die Verantwortung bei ihren Mitarbeitern fördern wollen, müssen eine Atmosphäre des Vertrauens bei ihren Mitarbeitern schaffen. Das beinhaltet reduzierte Kontrollmechanismen, dezentrale Führungsstrukturen, aber auch Trainingsprogramme, in denen Mitarbeiter Vertrauen erlernen, ausprobieren und erleben können“ (Unger et al. 2007: 41).
Liedke hebt mit Bezug auf die Diskursethik hervor, dass „konsequente Beteiligung zu den Legitimationsgrundlagen ethischer Urteile“ (Liedke 2006: 72) zählt. Ähnlich argumentieren Rausch und Schwendemann: „Eine ethisch begründete Führung nähert sich einem partizipativen Führungsverständnis, denn Wertschätzung, Respekt und Anerkennung von Mitarbeitern sind nur über deren Einbindung in Führungsprozesse möglich“ (2010: 285).
Die Verantwortung erschöpft sich selbstverständlich nicht in Instrumenten der Personalführung. So sind die Stakeholderbeziehungen, das gesellschaftliche Umfeld, aber auch die sozialpolitischen Rahmenbedingungen stets bei der Frage nach dem „wofür“, bzw. „für wen“ zu berücksichtigen. Doch zur Verantwortung gehört noch mehr: „zur Struktur verantwortlichen Handelns [gehören] die Bereitschaft zur Schuldübernahme und die Freiheit“ (Bonhoeffer 1988: 255). Angesprochen ist damit die Verantwortungsinstanz. In christlich-jüdischer Tradition ist die letzte Legitimationsinstanz Gott (vgl. Maaser 2010: 126). Mit der Säkularisierung trat an dessen Stelle das Gewissen des vernunftbegabten Menschen als „innerer Gerichtshof“ (Kant, zitiert in Maaser 2010: 127). Auch Bonhoeffer hält das Gewissen für einen guten Ratgeber: „Richtig ist, dass es niemals geraten sein kann, gegen das eigene Gewissen
80
4 Konzepte für eine sozialwirtschaftliche Unternehmensethik
zu handeln“ (1988: 257). Nach seiner Auffassung ist das Gewissen des Christen durch den Glauben an Jesus Christus befreit und damit erst zur Übernahme von Verantwortung bereit: „Das befreite Gewissen ist nicht ängstlich (…), sondern weit geöffnet für den Nächsten und seine konkrete Not“ (ebd.: 260). So formuliert Bonhoeffer treffend und zugleich entlastend: „Wer in Verantwortung Schuld auf sich nimmt – und kein Verantwortlicher kann dem entgehen –, der rechnet sich selbst und keinem anderen diese Schuld zu und steht für sie ein, verantwortet sie. Er tut es nicht in dem frevelhaften Übermut seiner Macht, sondern in der Erkenntnis zu dieser Freiheit genötigt und in ihr auf Gnade angewiesen zu sein. Vor den anderen Menschen rechtfertigt den Mann der freien Verantwortung die Not, vor sich selbst spricht ihn sein Gewissen frei, aber vor Gott hofft er allein auf Gnade“ (ebd.: 263).
Freilich lassen sich in der Ökonomie weitere Verantwortungsinstanzen ausmachen. So müssen sich Führungskräfte gegenüber ihren Vorständen oder Aufsichtsräten, aber auch gegenüber anderen Stakeholdern, inklusive der Gesellschaft oder der Politik verantworten. Zu einer verantwortlichen Führung gehört, diese Perspektiven im Blick zu behalten und sich dennoch – in Anlehnung an Bonhoeffer – das freie Gewissens und, für christlich geprägte Führungskräfte, die Gnade vor Gott als letzte Legitimationsinstanz zu bewahren. Um die so verstandene verantwortliche Führung genauer zu skizzieren, sind zunächst einige Ausführungen zum Führungsverständnis nötig. 4.1.2 Führung: Leadership oder Management? „Führung ist in Abgrenzung zu der Vorstellung einer ‚starken Führung‘ im Sinne eines Patriarchats und in Abgrenzung zu dem problembehafteten Begriff des ‚Führers‘ mit dem englischen Begriff ‚Management gleichzusetzen“ (Rausch / Schwendemann 2010: 290).
Etwas anders sieht das Hinterhuber: „Führen ist eine Kombination aus Leadership und Management, die von der Situation abhängt, in der geführt wird“ (2009: 21). Was verbirgt sich hinter diesen Begriffen? Der englische Begriff Management stammt ursprünglich aus dem Lateinischen: manu agere – mit der Hand handeln (vgl. Schwarz 2001: 28)84. Er bezeichnet eine Funktion, nämlich die Aufgaben Planung, Organisation, Koordination, Kontrolle und Mitarbeiterführung. Gleichzeitig wird als Management auch die Institution beschrieben, also die Personengruppe, die in einem Unternehmen 84
Merchel (2009: 18) nennt zwei weitere Wortstämme: manus agere (an der Hand führen) und mansionem agere (das Haus bestellen).
4.1 Exkurs: Verantwortung und Leadership in der Sozialwirtschaft
81
Weisungs- und Direktionsrecht besitzt (vgl. Schwarz 2001: 28; Merchel 2009b: 19). Unterschieden werden dabei drei Ebenen (vgl. Merchel 2009b: 21):
das strategische Management, bei dem es darum geht, die langfristige Unternehmensstrategie zu entwickeln und kontinuierlich zu überprüfen; das operative Management, bei dem es darum geht die strategische Planung in unternehmerisches Handeln zu übersetzen; das normative Management, u.a. mit der Aufgabe, unternehmensethische Grundsätze zu formulieren und sie nach innen und außen zu vermitteln.
Der Begriff Leadership stammt aus dem Altenglischen: lead / lithan – gehen, reisen, wandern (vgl. Eck, zitiert in Fröse 2009: 227). Leadership beschreibt „die ausbalancierte Steuerung zwischen den sachbezogenen Anforderungen eines Betriebes […] als Leistungsgemeinschaft und den individuellen Bedürfnissen der Beschäftigten als Personengemeinschaft“ (Schwarz 2001: 138, Hervorhebung im Original). Gemeint ist damit eine Balance zwischen dem „Fordern“ der Mitarbeitenden in Bezug auf die Organisationziele und der „Förderung“ ihrer persönlichen Fähigkeiten und Ziele (vgl. ebd.). Im Gegensatz zu dem eher technischen Managementbegriff, geht es beim Leadership auch um „Vorbild sein“ oder „Visionär sein“ (vgl. Hinterhuber 2009: 24). Um diesen Leadership-Anspruch zu erfüllen braucht es Führungskräfte mit Fähigkeiten auf vier Ebenen (vgl. Schwarz 2001: 140):
Fachkompetenz zur Zielerreichung sowie inhaltlichen Weiterentwicklung der Organisation. Organisationskompetenz zur Koordination und organisatorischen Weiterentwicklung. Menschenkenntnis und Beziehungsfähigkeit, um Mitarbeiter zu motivieren und Vertrauen aufzubauen. Gruppendynamische Kompetenz zur Steuerung von Arbeitsabläufen sowie zur Teamentwicklung.
Insbesondere amerikanische Autoren unterscheiden zwischen Leadership als an der Effektivität orientiertem und Management als an der Effizienz orientiertem Handeln: „Managers do the right things, leaders do the things right“ (Bennis, zitiert in Fröse 2009: 228; vgl. auch Schröer 2009: 143; Langer 2009: 172). Leadershipkonzepte fokussieren danach vor allem auf die Beziehung zwischen Führungsperson und Mitarbeiter, die Personalentwicklung, Beteiligungsstrukturen, aber auch die Bedürfnisse der Beschäftigten (vgl. Langer 2009: 172). Allerdings kam die Führungsforschung zu der Einsicht, dass Führung weniger von den Charaktereigenschaften der Führungsperson abhängt, als von den organisationalen Rahmenbedingungen (vgl. Schröer 2009: 143). Nichtsdestotrotz ist auch
82
4 Konzepte für eine sozialwirtschaftliche Unternehmensethik
die Entwicklung der Führungsperson relevant und zu beachten (vgl. Fröse 2009: 236ff.). 4.1.3 Responsible Leadership Unter dem Begriff Responsible Leadership entwickelt sich derzeit eine Führungsforschung, die sich der „Generierung von ethischem Orientierungswissen zur Gestaltung einer verantwortlichen Führungspraxis“ (Pless / Maak 2008: 223) annimmt. Die Begriffe Verantwortung und Leadership werden damit zusammengedacht und in ein Führungskonzept integriert. Dazu gehören Überlegungen auf vier Ebenen: Individuelle Integritätssicherung, Institutionelle Integritätssicherung, Unternehmensführung in komplexen Stakeholderbeziehungen sowie Mitverantwortung für Nachhaltigkeit von Unternehmen und Gesellschaft (vgl. ebd.: 224). Im Rahmen der individuellen Integritätssicherung sind die persönlichen Werte und das ethische Verhalten der Führungskraft relevant. Führungskräfte sind keine „besseren oder schlechteren Menschen“ (ebd.), für sie gelten dementsprechend auch keine anderen moralischen Prinzipien als für andere Mitarbeiter. Allerdings kommt es bei ihnen in besonderer Weise darauf an, dass sie die Grundsätze des Unternehmens teilen und im Führungsalltag leben. Die Verantwortung der Führungskraft im Rahmen der institutionellen Integritätssicherung erstreckt sich vor allem darauf „Integritätslücken“ (ebd.: 225) in den unternehmensethischen Instrumenten und Systemen zu erkennen und zu schließen. Die internen und externen Stakeholder eines Unternehmens können durchaus sehr unterschiedliche Ansprüche und Wertvorstellungen haben. Die Aufgabe der Führungskraft ist es, „nachhaltige Stakeholderbeziehungen aufzubauen und zu pflegen“ (ebd.) und so die Legitimation des unternehmerischen Handelns zu sichern85. Die Verantwortung der Führungskraft im Kontext von Nachhaltigkeit bezieht sich nicht ausschließlich auf die ökonomische Nachhaltigkeit sondern berücksichtigt immer auch ökologische und soziale Aspekte. Denn Nachhaltigkeit heißt in einem umfassenden Verständnis: „Umweltgesichtspunkte gleichberechtigt mit sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu berücksichtigen. Zukunftsfähig wirtschaften bedeutet also: Wir
85
Vgl. dazu auch Kap. 2.3.4.
4.2 Wertemanagement nach Wieland
83
müssen unseren Kindern und Enkelkindern ein intaktes ökologisches, soziales und ökonomisches Gefüge hinterlassen“86.
Responsible Leadership wird somit stets auch verstanden als „Leadership for the Common Good“ (Crosby / Bryson, zitiert in Pless / Maak 2008: 233). Die Rolle von Führungskräften könnte es nach Pless und Maak sein, mit „Wertschöpfungsnetzwerken“ Sozialkapital zu generieren und damit „gleichermaßen nachhaltig wie gemeinwohlorientiert zu führen“ (ebd.: 235). Mitarbeiter sind im Rahmen des Ansatzes eine wichtige Gruppe von Stakeholdern, nicht mehr und nicht weniger. Verantwortliche Führung basiert auf normativen ethischen Grundlagen, allen voran den Menschenrechten. Einfluss haben auch Fragen der Gerechtigkeit, der wechselseitigen Anerkennung und der Fürsorge. Pless und Maak beziehen sich außerdem auf das Konzept der „dienenden Führungskraft“ nach Robert Greenleaf: „Die dienende Führungskraft zeichnet Bescheidenheit und Beharrlichkeit im Dienste der Menschen aus, innerhalb und außerhalb eines Unternehmens, sie ist empathisch und ist um die Entwicklung der zu Führenden besorgt“ (ebd.: 237).
Nach diesem „Ausflug“ zu individualethischen Fragen der Verantwortung von Führungskräften, kehre ich zurück zu den drei ausgewählten wirtschaftsethischen Ansätzen und ihren unternehmensethischen Konkretisierungen. 4.2 Wertemanagement nach Wieland Mit dem umfangreichen „Handbuch Wertemanagement“ (Wieland 2004b) legt Josef Wieland eine Aufsatzsammlung vor, die die Einführung eines Wertemanagementsystem im Unternehmen auf der Grundlage der Governanceethik systematisch für alle Unternehmensbereiche beschreibt. Wertemanagementsysteme werden darin verstanden als „firmenspezifische Instrumente, die darauf abstellen, die moralische Verfassung eines Teams oder einer Organisation und deren Leitwerte zu definieren und in der alltäglichen Praxis mit Leben zu erfüllen“ (Wieland 2004b: 23). Die Entwicklung eines solchen verbindlichen ethischen Organisationsrahmens erfolgt in vier Schritten (vgl. Brüll 2009: 152f, Wieland 2004a: 92f; Wieland 2004b: 25): .
86
Kodifizieren: Die entscheidenden Werte einer Organisation werden herausgefiltert, definiert und verbindlich vereinbart, z.B. in einem Leitbild oder „Code of Ethics“.
http://www.nachhaltigkeit.info/artikel/definitionen_1382.htm [13.04.2011].
84 .
. .
4 Konzepte für eine sozialwirtschaftliche Unternehmensethik
Kommunizieren: Die erarbeiteten Ergebnisse bedürfen der Kommunikation innerhalb der Organisation (Mitarbeiter) aber auch außerhalb. Sie manifestieren sich beispielsweise in bestimmten Programmen oder Ansätzen zur Beteiligung von Stakeholdern oder zum verantwortlichen Umgang mit der Umwelt. Implementieren: Die Werte der Organisation werden in Instrumente zu ihrer Umsetzung übersetzt und so in die Organisation implementiert. Organisieren: Die Integration eines ethischen Managements kann in verschiedener Weise geschehen: Entweder durch eigens ernannte Ethikmanager, die das Wertemanagementsystem und die Einhaltung der Werte überwachen oder durch die Integration ethischer Fragen in bereits bestehende, bewährte Instrumente, zum Beispiel die Zielvereinbarungsgespräche.
Obwohl also jedes Unternehmen ein spezifisches und an den jeweiligen Erfordernissen orientiertes Wertemanagementsystem entwickeln muss, gibt es dafür branchenübergreifende Leitlinien. Diese sind im WerteManagement-SystemZFW 87 dargestellt. Das System dient einerseits als Mindestanforderung, erhebt andererseits aber den Anspruch, zur Entwicklung eines unternehmensspezifischen Systems sowohl für kleine bis mittelständische Unternehmen, als auch für global tätige Aktiengesellschaften beizutragen (vgl. Wieland 2004b: 28). Im Folgenden wird deshalb die Übertragbarkeit dieser unternehmensethischen Grundlage auf die Sozialwirtschaft überprüft. Das WerteManagementSystemZFW (WMS) ist aufgeteilt in Prinzipien und Bausteine. 4.2.1 Prinzipien Das Ziel des WMS ist die „nachhaltige Sicherung des Unternehmens“ (ebd.: 30). Dabei sind Fragen der Integrität im unternehmerischen Handeln genauso im Blick wie dessen ökologische Folgen oder die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit. Dazu ist methodisch eine „werteorientierte Selbststeuerung durch Selbstverpflichtung und Selbstbindung“ (ebd.: 33) zu schaffen. Diese Orientierung gilt nicht nur für das Handeln des Unternehmens, sondern auch für die Kooperationsbeziehungen mit wesentlichen Stakeholdern, wie Mitarbeitern, Lieferanten, Geldgebern oder gesellschaftlichen Anspruchsgruppen. Das WMS bleibt dabei ganz der Governanceethik verpflichtet, indem sich der Staat durch die Selbstbin-
87
Das WertemanagementsystemZFW wurde entwickelt vom Zentrum für Wirtschaftsethik (ZfW) und dem Deutschen Netzwerk Wirtschaftsethik (vgl. Wieland 2004b: 28). Josef Wieland ist wissenschaftlicher Direktor des ZfW (http://www.dnwe.de/forschungsdirektorium.html [14.04.2011]).
4.2 Wertemanagement nach Wieland
85
dung des Unternehmens ganz „auf die grundlegenden Aufgaben staatlicher Ordnungspolitik beschränken [kann]“ (ebd.). Wieland unterscheidet zwischen Leistungswerten, Kommunikationswerten, Kooperationswerten und moralischen Werten. Diese müssen im WMS widerspruchsfrei aufeinander bezogen und an der unternehmerischen Realität orientiert sein, so dass Stakeholdern keine „nicht einlösbaren Versprechen gegeben werden“ (ebd.). Das WMS umfasst sämtliche Bereiche der Unternehmensführung und alle Leitlinien oder Prinzipien im Unternehmen. Bereits existierende Grundsätze oder Kodizes werden integriert. Um die Einhaltung der formulierten Regeln und Werte zu gewährleisten setzt das WMS auf Compliance88: Zur „Legalität und Konformität“ werden „Verhaltens- und Verfahrensgrundsätze“ implementiert (ebd.: 37). Die Entwicklung eines WMS ist ein kontinuierlicher Prozess. Es kann weder die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen noch die Handlungsweisen von Kooperationspartner ad hoc ändern, verlässt sich deshalb auf einen kontinuierlichen Wandel. Um die Prozesse bei Führungskräften und Mitarbeitern nachhaltig zu gestalten, wird das Prinzip des Coachings (vgl. ebd.: 38) empfohlen, wobei die Führungskräfte eine besondere Verantwortung als Vorbilder haben. 4.2.2 Bausteine Basis des WMS sind die Grundwerte des Unternehmens, wie sie beispielsweise in einem Leitbild hinterlegt werden. Strategische Entscheidungen des Unternehmens müssen sich stets auf diese Grundwerte beziehen und sie reflektieren. Allerdings darf es nicht bei der einmaligen Formulierung dieser Grundwerte bleiben, es bedarf vielmehr ihrer internen und externen Kommunikation. Mehr noch: Durch Training der Mitarbeiter, die Implementierung der Grundsätze in die verschiedenen Führungsinstrumente und in die Kooperationen mit anderen Organisationen werden sie „mit Leben erfüllt“ (ebd.: 43). Da nicht für alle Entscheidungssituationen konkrete Verhaltensgrundsätze beschrieben werden können, benötigen Mitarbeiter zum einen eine gewisse Autonomie, zum anderen aber auch die Möglichkeit, entsprechende Entscheidungskompetenzen zu entwickeln. Erwünschtes Verhalten im Sinne der Grundsätze ist in das Anreizsystem zu implementieren, im Umkehrschluss sind „Maßnahmen zur Sanktionierung von werteverletzendem und ungesetzlichem Handeln“ (ebd.: 49) zu entwickeln. Wieland weist darauf hin, dass die Implementierung eines WMS gewisse, relativ klar umrissene Personalressourcen benötigt (vgl. ebd.: 47). Am Ende des Prozesses muss die Implementierung aller Bausteine des WMS beim Zentrum 88
Der Compliance-Ansatz wird in Kap. 5 erläutert.
86
4 Konzepte für eine sozialwirtschaftliche Unternehmensethik
für Wirtschaftsethik dokumentiert werden (vgl. ebd.: 41). Integrale Bestandteile eines WMS sind ferner seine regelmäßige Evaluation, Dokumentation und Bewertung. Das Wertenmanagement nach Wieland fokussiert auf die nachhaltige Sicherung des Unternehmens. Dafür werden etliche umfangreiche Bausteine und Prinzipien benannt, die ethisches Verhalten des Unternehmens bzw. im Unternehmen fördern. Sicher sind diese Bausteine auch für die Sozialwirtschaft nutzbar. Dennoch greift das Konzept für sozialwirtschaftliche Unternehmen m.E. zu kurz. So ist zum einen die dem Staat zugewiesene Rolle als derjenige, der vor allem für den ordnungspolitischen Rahmen zu sorgen hat, nicht kompatibel mit dem sozialwirtschaftlichen Anspruch an einen Wohlfahrtsstaat, dessen Aufgabe es ist, seinen Bürgern die nötigen Ressourcen für ein „gutes Leben“ im Sinne von Aristoteles zur Verfügung zu stellen. Zum anderen ist es Aufgabe sozialwirtschaftlicher Unternehmen, Einfluss auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu nehmen, um für soziale Gerechtigkeit und die Umsetzung der Menschenrechte zu sorgen. Das Ziel eines Wertemanagementsystems für die Sozialwirtschaft müsste dementsprechend nicht die nachhaltige Sicherung des Unternehmens sein, sondern die Entwicklung oder Sicherung einer nachhaltigen Gesellschaftsform, die Verantwortung für aktuell lebende Bürger und für nachfolgende Generationen auf ökologischer, sozialer und ökonomischer Ebene übernimmt. 4.3 Wertorientierte Unternehmensführung nach Sen Sens Capability Approach ist zunächst einmal auf die Freiheit des Einzelnen und den Wohlstand einer Volkwirtschaft bezogen. Welchen Beitrag kann er für eine unternehmensethische Perspektive leisten? In ihrer unternehmensethischen Adaption des Capability Approach entwickelt Tammena betriebswirtschaftliche Variablen aus den ursprünglichen Begriffen Sens (vgl. Tammena 2009). Sie unterscheidet Ressources (Kapital, Wissen, Arbeit), Environment (politische, kulturelle, soziale und physikalische Umwelt), Capabilities (Handlungsfähigkeit, Offenheit, Lernfähigkeit und Innovationsfähigkeit), Characteristics (Unternehmenskultur, Führung und Management, Organisation und Struktur), Functionings (Anspruch, Nachhaltigkeit) und Utility (Unternehmenswert). Ausgangspunkt ist in direktem Bezug auf Sen die Freiheit: „Freiheit bedeutet auch für Unternehmen die Fähigkeit, sich nach den eigenen Möglichkeiten zu entfalten, obwohl sie von vorneherein in den Einsatz- und Anwendungsmöglichkeiten der vorhandenen Ressourcen durch die Umwelt eingeschränkt sind“ (Tammena 2009: 231).
4.3 Wertorientierte Unternehmensführung nach Sen
87
Die dennoch verbleibenden Freiräume können durch gezielten Ausbau der Fähigkeiten, also Handlungsfähigkeit, Offenheit, Lernfähigkeit und Innovationsfähigkeit des Unternehmens genutzt werden. Handlungsfähigkeit bezeichnet dabei die Möglichkeit, schnell und flexibel auf neue Situationen zu reagieren und wettbewerbsfähig zu sein (vgl. ebd.: 222). Dazu bedarf es der Offenheit, Wissen innerhalb des Unternehmens zu halten und zu generieren sowie der kontinuierlichen Leistungsverbesserung und Erweiterung der Handlungsoptionen (Lernfähigkeit). Beides führt zur Innovationsfähigkeit. Die Fähigkeiten des Unternehmens (Capabilities) werden durch die Merkmale oder Eigenschaften (Characteristics) bestimmt. Dazu zählen Unternehmenskultur, Unternehmensstruktur, Führung und Wissensmanagement (vgl. ebd.: 233). Als Unternehmenskultur werden „die von einer Gruppe geteilten und praktizierten grundlegenden Überzeugungen, Werte, Normen und Einstellungen“ (ebd.) verstanden. Die Kultur prägt das Handeln innerhalb des Unternehmens. „Ziel sollte es sein, eine Unternehmenskultur zu entwickeln, welche das ‚bridging‘ zwischen Privat- und Berufsleben ermöglicht und so den Interessenskonflikt zwischen Organisation und Mitarbeiter minimiert“ (ebd.: 234).
Dabei geht es weniger um die schriftliche Fixierung der Unternehmenswerte, sondern eher darum, diese auch mit Leben zu füllen. Als konkrete Bausteine einer solchen Unternehmenskultur nennt Tammena neben Werten wie Loyalität und Ehrlichkeit eine langfristige Personalentwicklung und flexible Arbeitszeiten (vgl. ebd.: 237). Diese Kultur drückt sich auch aus in einem „repressionsarmen und fehlertoleranten Führungsstil“ (ebd.: 238), in gemeinsam erarbeiteten Zielvereinbarungen und Verantwortungsdelegation (vgl. ebd.: 241)89. Die Ressourcen sind für Tammena aus betriebswirtschaftlicher Sicht nur wenig beeinflussbar: „Insgesamt zeigen sich die Ressourcen als eine kurzfristig sehr statische Größe, welche daher auch wenig beeinflusst werden kann“ (ebd.: 201). Ähnliches gilt für die Umweltbedingungen, zu denen Tammena eine sehr skeptische Haltung formuliert: „Die Umweltfaktoren sind jedoch durch die Unternehmen selbst kaum zu beeinflussen, sondern teilweise extern durch politische Maßnahmen zu verbessern“ (ebd.: 216). Der Aspekt, dass Unternehmen auch eine gesellschaftliche Verantwortung für diese Umweltbedingungen haben, wird von Tammena an dieser Stelle nicht berücksichtigt. Umweltschutz wird allenfalls als Prozess zur Steigerung des natürlichen und langfristig auch des ökonomischen Kapitals verstanden (vgl. ebd.). Sie nimmt diesen Gedanken später unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit (Functionings) wieder auf. Allerdings klingt es 89
Tammena nennt zahlreiche weitere Instrumente und ordnet sie den Capabilities zu (2007: 245ff). Auf eine Darstellung wird hier verzichtet.
88
4 Konzepte für eine sozialwirtschaftliche Unternehmensethik
sehr nach karitativer Unternehmensethik90, wenn Tammena schreibt: „Wie ausgeführt, muss es überhaupt erst mal etwas zu verteilen geben, bevor über Armut und Verteilungsmaximen diskutiert werden kann“ (ebd.: 260). Es ist der Verdienst Tammenas, eine systematische Übertragung des Capability Approaches auf Unternehmen entwickelt zu haben. In die Bewertung eines Unternehmens durch Kapitalgeber, Führungskräfte oder Aufsichtsgremien sollen nach ihrem Verständnis weitere Faktoren neben dem Gewinn mit einbezogen werden: „Der tatsächliche Unternehmenswert ergibt sich aus den finanziellen Ergebnissen in Kombination mit Handlungspotenzialen und auf der gemeinsamen Grundlage der Entscheidungsfreiheit“ (Tammena 2009: 181).
So wird Freiheit, verstanden als „Idee“ oder „Ziel“ (ebd.: 179) des Unternehmens, zu einem maßgeblichen Kriterium der Unternehmensführung, dem auch die monetären Ergebnisse untergeordnet werden. Allerdings bleibt diese „Idee“ des Unternehmens erstaunlich vage, wenn man berücksichtigt, wie präzise und systematisch Tammena sonst bei ihrem Ansatz vorgeht. Insgesamt bleibt ihr Ansatz zu stark dem betriebswirtschaftlichen Denken verhaftet und orientiert sich am Unternehmenserfolg: „Die Anwendung des Capability Approachs hat genau dieses zum Ergebnis: Die ‚Gesundheit des Unternehmens‘ und damit die tatsächliche Leistungsfähigkeit kann auf der Basis der capabilities betrachtet werden“ (ebd.: 272).
Gerade das macht die Übertragung auf sozialwirtschaftliche Unternehmen schwierig: Die gesellschaftliche Verantwortung und der gesellschaftliche Auftrag sozialwirtschaftlicher Unternehmen wird in Tammenas Ansatz nur gestreift. Hier bleibt der Ansatz weit hinter Sens Idee zurück: „Wichtig ist auch, daß die Ausweitung der Verwirklichungschancen ein Instrument des sozialen Wandels ist, was über den ökonomischen Wandel deutlich hinausgeht“ (Sen 2007: 351).
Der Umgang mit den Stakeholdern und Mitarbeitern folgt einem strategischen und keinem ethischen Ansatz, was der Realität in sozialwirtschaftlichen Unternehmen nicht gerecht wird. Dabei wäre die Grundidee durchaus reizvoll: Die Freiheit des Unternehmens, wie von Tammena skizziert, zu analysieren und daraufhin zu prüfen, welchen Beitrag es für die „Grundfreiheiten der Menschen“ (Nussbaum 1997: 57) und damit zu einem „guten Leben“ – lokal, national oder global betrachtet – zu leisten imstande ist. 90
Vgl. Kap. 2.3.4.
4.4 Integre Unternehmensführung nach Ulrich
89
Zusammenfassend kann also nur konstatiert werden: Der Capability Approach von Sen ist grundsätzlich für die Unternehmensethik nutzbar. Der Ansatz der wertorientierten Unternehmensführung von Tammena bietet zwar Anregungen, muss aber für die Bedingungen der Sozialwirtschaft angepasst werden und benötigt eine deutliche gesellschaftspolitische Ausrichtung, die sich stärker an den Sachzielen von sozialwirtschaftlichen Unternehmen, an den Lebensbedingungen ihrer Klienten und ihren Verwirklichungschancen orientiert. 4.4 Integre Unternehmensführung nach Ulrich Für Peter Ulrich und Thomas Maak gibt es keinen Zweifel, „dass Ethik und Integrität im Unternehmen sicherzustellen sind“ (Maak / Ulrich 2007: 4). Sie konzentrieren sich deshalb auf das „wie“. Dabei lassen sie sich von der Erkenntnis leiten, dass es auch bei denjenigen Unternehmen, die in jüngster Zeit durch Skandale aufgefallen sind, zahlreiche Instrumente des Ethikmanagements (Ethikbeauftragte, Unternehmenswerte usw.) gab. Die Existenz dieser Instrumente allein reicht demnach nicht: „Integrität muss ganzheitlich sichergestellt werden – im Rahmen eines entsprechend systematischen Integritätsmanagements“ (ebd., Hervorhebung im Original). Voraussetzung dafür ist neben dem „Kommitment“ mit den grundlegendenden ethischen Werten auch „Kohärenz“ im Sinne der Übereinstimmung der grundlegenden Prinzipien mit dem konkreten Handeln, „Konsistenz“ als Abstimmung zwischen den Prinzipien und den organisationalen Prozessen sowie „Kontinuität“ im Sinne von Langfristigkeit und Beständigkeit (vgl. ebd.: 11ff). Die auf der Integrativen Wirtschaftsethik aufbauende integre Unternehmensführung findet an drei „systematischen Orten der Moral“ statt: auf Ebene der Gesellschaft (Policies), auf Ebene der Organisation (Processes) und auf Ebene der Individuen (People). Die gemeinsame Klammer um diese Ebenen bilden die zugrunde liegenden Geschäftsprinzipien (Principles). Allen drei Ebenen sind jeweils fünf Module für integres Handeln im Unternehmen zugeordnet. Diese werden im Folgenden mit dem Fokus auf die besonderen Herausforderungen in sozialwirtschaftlichen Unternehmen dargestellt. 4.4.1 Policies – Gesellschaftliche Mitverantwortung Die Autoren verstehen Unternehmen grundsätzlich als Teil der Gesellschaft und leiten daraus eine „ethisch-politische (Mit-)Verantwortung“ (ebd.: 15) für die gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen des unternehmerischen Handelns, den Umgang und die Kooperation mit Stakeholdern und die Ausgestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Zu dieser Ebene gehören die Mod-
90
4 Konzepte für eine sozialwirtschaftliche Unternehmensethik
ule Corporate Citizenship, Global Corporate Citizenship Corporate Stewardship, Cross-Sector Partnerships und Stakeholder-Dialog. Ein als „Corporate Citizen“ (vgl. ebd.: 31ff) oder guter Bürger verstandenes Unternehmen übernimmt Verantwortung für das Gemeinwesen. Handlungsleitend sind zum einen die Unternehmensprinzipien (also etwa das Leitbild), zum anderen auch Berufsethische Prinzipien im Sinne einer „intelligenten Selbstbindung“ (ebd.: 48). Auf gesellschaftlich-politischer Ebene folgt aus der Mitverantwortung der Einsatz für sinnvolle wirtschaftliche Rahmenbedingungen, Demokratie und Menschenrechte. Die Idee des „Corporate Stewardship“ erweitert diese Orientierung um die Perspektive der Nachhaltigkeit: „Seiner gesellschaftlichen Verantwortung zur fürsorglichen Nutzung sozialer und ökologischer Ressourcen wird ein Unternehmen dann gerecht, wenn es proaktiv handelt, für sein Handeln gegenüber der Öffentlichkeit Rechenschaft ablegt und auch Zukunftsverantwortung übernimmt“ (ebd.: 128).
Diese Module fordern sozialwirtschaftliche Unternehmen konkret auf, soziale, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit zu einem Leitprinzip des unternehmerischen Handelns zu machen. Als „verantwortlicher Weltbürger“ (vgl. ebd.: 65ff) stellen sich die Herausforderungen für sozialwirtschaftliche Unternehmen insbesondere in den Bereichen Umweltschutz und Menschenrechte. Hierzu schlagen die Autoren globale Ethikstandards als Orientierung vor. „Cross-Sektor-Partnerships“ (ebd.: 139ff) bezeichnen die Kooperation von Organisationen aus unterschiedlichen Wirtschaftssektoren unter lebensdienlichen Aspekten. Dabei kann es sich um gemeinsame Projekte, aber auch um gegenseitige Befruchtung durch Hospitationen o.ä. handeln. Für sozialwirtschaftliche Unternehmen stecken darin große Chancen, nicht nur indem solche Perspektivwechsel Verständnis für die Lebenslagen ihrer Klienten wecken, sondern auch, indem gemeinsam an verbesserten Rahmenbedingungen und der Lösung gesellschaftlicher Probleme gearbeitet wird. Insofern hat die zunächst eher strategisch anmutende Partnerschaft von sozialwirtschaftlichen und erwerbswirtschaftlichen Unternehmen eine dezidiert ethische Komponente. Zentrales Modul dieser Ebene ist jedoch der „Stakeholder-Dialog“ (ebd.: 169ff). Der Dialog mit allen Anspruchsgruppen mit legitimen Interessen am unternehmerischen Handeln91 beruht auf der Diskursethik, d.h. er basiert auf der wechselseitigen Anerkennung der Gesprächspartner auf Augenhöhe, der Bereitschaft zur Verständigung, auf dem Prinzip der Inklusion und Chancengleichheit. Es gilt allein der Zwang des besseren Arguments, Voraussetzung ist die Bereit91
Damit grenzt sich der hier vertretende Stakeholderdialog von Ansätzen ab, die die Ansprüche verschiedener Anspruchsgruppen nach der strategischen Bedeutung für das Unternehmen bewerten (vgl. Maak / Ulrich 2007: 177), so z.B. bei Tammena.
4.4 Integre Unternehmensführung nach Ulrich
91
schaft zuzuhören und seine eigene Position infrage zu stellen. Der Dialog mit den unterschiedlichen Anspruchsgruppen (Mitarbeiter, Klienten, Konkurrenz, Geldgeber, Träger, Angehörige, Lieferanten, Kooperationspartner u.a.m.) eines sozialwirtschaftlichen Unternehmens kann in unterschiedlicher Form, Intensität und Frequenz geführt werden. Wichtig ist aber, dass er überhaupt geführt wird. 4.4.2 Processes – Eckpfeiler des Integritätsmanagement Auf der Ebene der Organisation sind die Unternehmenskultur, die Prozesse und Strukturen zu betrachten. Die Module dazu sind Corporate Governance, Integritätssysteme, Supply-&Marketing-Integrität, Moralisches Lernen, Integritätskultur. Sie haben die Aufgabe, als „moralische Rückenstützen“ (ebd.: 205) das ethische Handeln des Einzelnen durch systematische Unterstützung zu erleichtern. Dazu muss „das ethisch Gebotene im Unternehmen mit dem ökonomisch Geforderten synchronisiert [werden]“ (ebd.). Good Corporate Governance (vgl. ebd.: 207ff.) legt die Aufsicht und die unterschiedlichen Aufgaben der Führungsinstitutionen eines Unternehmens fest. Dazu gehört u.a. die demokratische Legitimation der Organe. In sozialwirtschaftlichen Unternehmen werden zunehmend Strukturen nach Corporate Governance Strukturen geschaffen. Wichtig ist dabei, den Kommunikationsfluss zwischen den Aufsichtsorganen, der Leitung und den verschiedenen Stakeholdern, insbesondere den Mitarbeitern zu sichern (vgl. Manzeschke 2009: 130). Unter Integritätssystemen (vgl. Maak / Ulrich 2007: 237) werden Instrumente wie Ethikkodizes oder Leitbilder subsumiert. Hinzu kommen Instrumente, die das ethische Handeln im Unternehmen fördern, zum Beispiel entsprechende Anreizsysteme oder die Möglichkeit, ethische Probleme und Dilemmata zu diskutieren. In sozialwirtschaftlichen Unternehmen stehen dafür häufig Supervision oder Coaching zur Verfügung, ob es allerdings in großem Maße ethikfreundliche Anreizsysteme gibt, darf im Kontext knapper Ressourcen und strenger Tarifbindung bezweifelt werden. Die Supply Chain (Lieferkette) spielt bei sozialen Dienstleistungen eine untergeordnete Rolle und kann hier vernachlässigt werden. Marketingaktivitäten sind dagegen auch in sozialwirtschaftlichen Unternehmen verstärkt zu finden. „Integres Marketing nimmt Kunden als mündige Konsumenten ernst“ (ebd.: 307), deshalb hilft es ihnen dabei, eine gut informierte Entscheidung zu treffen und benutzt keine manipulativen Instrumente. In allen Unternehmen spielen Veränderungsprozesse eine große Rolle. Um moralisches Lernen verantwortlich zu gestalten, schlagen Maak und Ulrich ein achtstufiges Verfahren vor (vgl. ebd.: 320). Dieses ist allgemeingültig, so dass es m.E. in unveränderter Form auch für sozialwirtschaftliche Unternehmen über-
92
4 Konzepte für eine sozialwirtschaftliche Unternehmensethik
nommen werden kann. Entscheidend wird dabei allerdings sein, wie die Beteiligung der Mitarbeiter schon in der Phase des Unfreezing, d.h. bei der Identifikation von Veränderungsbedarf, bei der Formulierung einer Vision und bei der Herausarbeitung von Potentialen sichergestellt werden kann. In der ChangePhase ist ein Höchstmaß an Transparenz und verlässlicher Kommunikation nötig, um möglichen Ängsten zu begegnen. Hinzu kommt die Förderung und Nutzung des großen kreativen und kritischen Potentials der Mitarbeiter im Laufe des Veränderungsprozesses. In der Freezing-Phase sind die Veränderungen dann in Strukturen und in der Kultur zu verankern.
Unfreezing
1. Bewusstseins- und Reflektionsförderung 2. Vision verantwortlicher Veränderung entwickeln 3. Verständnis fördern und Change Agents bestimmen
Change
Freezing
Abbildung 5:
4. Vision kommunizieren 5. Schlüsselkonzepte und Prinzipien überdenken 6. Veränderungshandeln ermöglichen und fördern
7. Systeme und Prozesse anpassen 8. Veränderungen kulturell verankern
8-Stufen-Prozess des Responsible Change (eig. Darst., in Anlehnung an Maak / Ulrich 2007: 320)
4.4 Integre Unternehmensführung nach Ulrich
93
Schließlich ist auf der Ebene der Organisation die Integritäts- oder Unternehmenskultur angesiedelt. Sie entwickelt sich langsam, ist nicht zu verordnen. Für den Prozess einer Kulturentwicklung können jedoch auch für sozialwirtschaftliche Unternehmen die von Maak und Ulrich vorgeschlagenen Prinzipien Reflexion, Kommunikation, Aktion und Kommitment gelten, die einen Kreislauf beschreiben (vgl. ebd.: 352). 4.4.3 People – Individuelle Verantwortung Auf der individuellen Ebene sind die Grundlagen für eine verantwortungsvolle Führung angesiedelt. Dazu zählen Maak und Ulrich die Module: Responsible Leadership, Human Relations, Ethische Entscheidungsfindung, Ethische Kompetenzbildung, und Ethics Officer. Den Autoren geht es um die „persönliche Integrität aller Beteiligten“ (ebd.: 365), also nicht nur um die Führungskräfte. Diese haben jedoch eine Vorbildfunktion. Unter Responsible Leadership verstehen die Autoren die „Kunst des Aufbaus, der Gestaltung und der Pflege von integren und nachhaltigen Beziehungen zu allen relevanten Stakeholdern eines Unternehmens“ (ebd.: 399)92. Dazu bedarf es eines „moralischen Kompasses“ mit vier Kernelementen: Reflexionsvermögen und kritisches Denken, moralische Vorstellungskraft, Tugenden und moralisches Bewusstsein (vgl. ebd.: 385). Für das sozialwirtschaftliche Unternehmen müsste zumindest das Reflexionsvermögen und kritische Denken dahingehend konkretisiert werden, dass die Klienten in ihren Lebenskontexten verstanden und deren gesellschaftliche Zusammenhänge kritisch analysiert werden können. Ein zentrales Modul der individuellen Verantwortung sind die Human Relations. Maak und Ulrich wenden sich gegen das betriebswirtschaftlich geprägte Verständnis von Humankapital oder Humanressourcen: „Wenn man die besten Talente für das Unternehmen gewinnen und an sich binden möchte, dann muss man auch ihren Bedürfnissen – als Mensch, nicht als Personalressource – Rechnung tragen“ (ebd.: 406).
Stattdessen schlagen sie ein an der Care-Ethik93 orientiertes Konzept der Humanbeziehungen (Human Relations) vor. Dieses orientiert sich an den physischen und psychischen Bedürfnissen von Menschen. Letztere umfassen das Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit, Respekt und Anerkennung sowie Sinn92
93
Vgl. auch die Ausführungen zu Responsible Leadership in Kap. 4.1.3, das allerdings über die hier vorgestellte Definition hinausgeht. Vgl. Ausführungen zum Management der Achtsamkeit in Kap. 3.5.
94
4 Konzepte für eine sozialwirtschaftliche Unternehmensethik
findung in einsichtigen Handlungszwecken (vgl. ebd.: 411ff). Ein human orientiertes Personalwesen stellt den Menschen in den Mittelpunkt, die Instrumente des Personalwesens spiegeln die ethischen Prinzipien des Unternehmens wider. Dazu bedarf eines integrierten Kreislaufs aus „Bewerten, Entwickeln und Honorieren“ (ebd.: 427). Zentrales Instrument der Bewertung sind Zielvereinbarungen und deren Überprüfung in regelmäßigen Mitarbeitergesprächen und andersherum auch die Bewertung von Führungskräften in Feedbacks. Zentrales Instrument der Entwicklung ist die Ausbildung und Förderung der Mitarbeiter, insbesondere mit Blick auf zukünftige Führungsverantwortung. Zu den Honorierungen zählen neben einem gerechten und fairen System der Entlohnung vor allem Anreize. Maak / Ulrich heben in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Herzberg die Bedeutung intrinsischer Anreize in Form von selbstständiger, interessanter oder sinnstiftender Tätigkeit hervor (vgl. ebd.: 434). Das Modul der Human Relations ist insofern hervorragend anschlussfähig an die Situation in sozialwirtschaftlichen Unternehmen, da Arbeit mit benachteiligten Menschen für viele Arbeitnehmer in der Sozialwirtschaft zu den sinnstiftenden Tätigkeiten zählt. Es stellt sie aber vor die Herausforderung, systematisch Personalentwicklung zu betreiben sowie eine faire Entlohnung sicher zu stellen bzw. interessante nicht-monetäre Anreize zu bieten94. Trotz aller Selbstverpflichtungen und Führungsinstrumente kommt es zu moralischen Dilemmas, die eine individuelle Entscheidung verlangen. Für solche kritischen Situationen schlagen Maak / Ulrich einen mehrstufigen DilemmaAnalyse-Prozess vor (vgl. ebd.: 457), der zu kreativen und verantwortlichen Entscheidungen beitragen soll. Dabei können offene Kommunikationsformen institutionell unterstützen. Zentrales Element für ethische Entscheidungsfindung ist allerdings ein „fortschrittliches Moralbewusstsein“ (ebd.: 490), das insbesondere durch Formen des Erfahrungslernens jenseits der persönlichen „Komfortzone“ einzeln oder in Teams entwickelt werden kann. Während Führungskräfte aus der Wirtschaft zunehmend an Programmen teilnehmen, die ihnen durch Hospitationen in sozialen Einrichtungen neue Perspektiven und Erfahrungen ermöglichen, ist diese Form des Erfahrungslernens m. E. in der Sozialwirtschaft noch ausbaufähig95. Das professionelle Integritätsmanagement kann der Position eines sog. Ethics Officers (vgl. ebd.: 495) zugeordnet werden. Dieser hat die Aufgabe, die Einhaltung der Regeln zu überwachen, ethisches Fehlverhalten zu untersuchen, bei ethischen Konflikten zu moderieren oder zu schlichten und Ethikmaßnahmen zu koordinieren. Die Frage, ob ein solcher professioneller Ethikbeauftragter in sozialwirtschaftlichen Unternehmen sinnvoll ist, wird von der Größe und Aufga94 95
Vgl. dazu die Ausführungen zu prekären Arbeitsverhältnissen im Sozialbereich in Kap. 3.2. Hier liegt durchaus eine weitere Chance im Sinne der Cross-Sektor-Partnerships, vgl. Kap. 4.3.1.
4.4 Integre Unternehmensführung nach Ulrich
95
be der Einrichtung abhängen. Zumindest könnte es eine Aufgabe sein, die o.g. Tätigkeitsbereiche an einen oder mehrere Mitarbeiter zu delegieren und sie dafür zu qualifizieren. Maak und Ulrich legen mit ihrem Konzept zur Integren Unternehmensführung eine umfassende und sehr systematische Orientierung zur Implementierung von Ethik in den unternehmerischen Handlungsalltag vor, die in weiten Teilen mit den Anforderungen der Sozialwirtschaft kompatibel ist. Im Unterschied zu den Ansätzen von Tammena und Wieland berücksichtigt das Konzept die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen. Diese Verantwortung wurde in den bisherigen Überlegungen für eine Ethik der Sozialwirtschaft als wesentliches Kriterium herausgearbeitet96.
96
Vgl. Kap. 3.5.
5 Zwischenfazit
In den vorherigen Kapiteln habe ich die Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik einerseits (Kap. 2) und die Entwicklungen und Rahmenbedingungen des volkswirtschaftlichen Teilbereiches der Sozialwirtschaft andererseits (Kap. 3) untersucht. Das Ziel bis zu diesem Punkt war, neuere Ansätze der Wirtschafts- und Unternehmensethik auf theoretischer Ebene für die Sozialwirtschaft nutzbar zu machen und damit eine Forschungslücke zu schließen (Kap. 4). Dieses Zwischenfazit fasst die bisherigen Ergebnisse zusammen. Es hat sich herausgestellt, dass der Forschungsstand zur Unternehmensethik in der Sozialwirtschaft nach wie vor gering ist. Insofern ist es angezeigt, einen ethischen Rahmen für die Sozialwirtschaft zu entwickeln. Die wenigen Ansätze, die es innerhalb der Literatur zur Sozialwirtschaft gibt, beschränken sich auf individualethische Aspekte bzw. auf Instrumente für eine ethische Personal- oder Unternehmensführung97. Das ist insofern bemerkenswert, als sozialwirtschaftliche Unternehmen von ihrem Selbstverständnis und ihrer Geschichte her als Institutionen, die das Wohlergehen von Menschen fördern98 ja gerade auf gesellschaftspolitische Aspekte wie soziale Gerechtigkeit ausgerichtet sind. Im Angesicht der globalisierten Wirtschaft mit ihren negativen Folgeerscheinungen, allen voran dem Abbau des Sozialstaats, der Privatisierung sozialer Risiken und der wachsenden Armut, wäre die Sozialwirtschaft herausgefordert, soziale Verantwortung zu übernehmen. Stattdessen akzeptiert sie die staatliche Sparpolitik und unterwirft sich einer zunehmenden Ökonomisierung, die das eingangs erläuterte Spannungsverhältnis zugunsten der ökonomischen Vernunft auflöst. Ethische Aspekte beziehen sich folgerichtig nur auf das Innenleben des Unternehmens oder die Führungskraft und unterliegen stets dem ökonomischen Sachzwang. Ein Primat der Ethik erscheint aus dieser Perspektive naiv99. Interessanterweise gehen die wirtschaftsethischen Ansätze von Peter Ulrich und Amartya Sen weit über dieses Verständnis hinaus und könnten eine andere, plausiblere Orientierung für eine sozialwirtschaftliche Wirtschaftsethik darstellen:
97 98 99
vgl. Kap. 3.5. vgl. Kap. 3.1. Vgl. die Aussagen von Brüll in Kap. 3.5.
R. Ahlrichs, Zwischen sozialer Verantwortung und ökonomischer Vernunft, DOI 10.1007/978-3-531-94355-8_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
98
5 Zwischenfazit
„Der grundlegende lebensdienliche Sinn des Wirtschaftens besteht […] in der Versorgung aller Menschen mit den notwendigen ‚Lebensmitteln‘ im weiteren Sinn“ (Ulrich 2008: 224). Oder mit Sen: „Staat und Gesellschaft kommt die große Verantwortung dafür zu, die menschlichen Verwirklichungschancen zu erweitern und zu schützen“ (Sen 2007: 70).
Sen und Ulrich reagieren mit ihren Ansätzen auf die globalen Herausforderungen und beziehen sich systematisch und fundiert auf die historischen Entwicklungen der Wirtschaftsethik100 von Aristoteles über Smith bis zu Rawls und Habermas. Beide Ansätze erfüllen damit einen wissenschaftlichen Anspruch und bieten gleichzeitig eine gesellschaftspolitische Perspektive mit ihrer Ausrichtung am „guten Leben“ aller Menschen. Was könnte aus diesen grundsätzlichen wirtschaftsethischen Orientierungen nun für das konkrete Führungshandeln in sozialwirtschaftlichen Unternehmen (Individualethik) oder für eine ethisch orientierte Organisationsentwicklung (Unternehmensethik) folgen? Das Konzept des Responsible Leadership101, verbindet den Aspekt der sozialen Verantwortung mit dem Leadership-Ansatz. Damit ist es eine hilfreiche Grundlage für eine sozialwirtschaftliche Individualethik. Führungskräfte finden darin eine Orientierung für die spezifischen Herausforderungen der Sozialwirtschaft auf drei unterschiedlichen Verantwortungsebenen102. Diese Ebenen sind: gesellschaftliche, unternehmerische und persönliche Verantwortung. (1) Gesellschaftliche Verantwortung Sozialwirtschaftliche Unternehmen haben die Aufgabe, das Wohlergehen von Menschen zu fördern und gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Die Legitimation ihres Handelns misst sich nicht am ökonomischen Gewinn, sondern an dem Nutzen für die Gesellschaft. „Dabei ist ihre wichtigste Ressource nicht Geld, sondern Glaubwürdigkeit“ (Schröer 2009: 145). Diese zu wahren, ist eine zentrale Aufgabe von Führungskräften. Das gilt allerdings längst nicht mehr nur für sozialwirtschaftliche Unternehmen, die auf Vertrauen und Akzeptanz angewiesen sind, da sie durch Steuern oder Spenden finanziert werden, sondern auch für Profit-Unternehmen (vgl. Karmasin 2010: 240). Glaubwürdigkeit heißt für sozialwirtschaftliche Unternehmen auch, weiter an der sozialen Gerechtigkeit und der Umsetzung der Menschenrechte mitzuwirken bzw. entschieden gegen 100 101 102
Vgl. Kap. 2.2. Vgl. Kap. 4.1.3. Vgl. die Zusammenfassung der mehr oder weniger spezifischen Merkmale sozialwirtschaftlicher Unternehmen in Kap. 3.3.5.
5 Zwischenfazit
99
menschenfeindliche Strukturen einzutreten. Im Kontext lokaler, nationaler und globaler Herausforderungen kann eine Orientierung am Konzept der sozialen, ökonomischen und ökologischen Nachhaltigkeit der Führungskraft wertvolle Impulse geben. (2) Unternehmerische Verantwortung Die heterogene Beschäftigungsstruktur von sozialwirtschaftlichen Unternehmen wurde bereits angedeutet103. Hinzu kommt, dass sich Beschäftigte im sozialen Sektor in der Regel nicht vorrangig wegen ihres (im Vergleich zu Wirtschaftsunternehmen niedrigeren) Einkommens, sondern wegen des Sinns ihrer Tätigkeit engagieren. Ihre Motivation ist, zur sozialen Gerechtigkeit oder zumindest zur Linderung individueller Not beizutragen (vgl. Schröer 2009: 146). Doch diese gesellschaftlich wichtige Tätigkeit wird zunehmend in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen oder gar ehrenamtlich erfüllt. Für die Führungskraft bedeutet diese Realität besondere Anforderungen an Personalführung, Personalentwicklung und die Berücksichtigung nicht-monetärer Aspekte in den Anreizsystemen104, aber auch das entschiedene Eintreten für Verbesserungen im Tarif- und Beschäftigungssystem. Ein weiterer zentraler Aspekt der Personalführung ist die Schulung und Entwicklung von Führungskräften. Denn auch wenn verantwortliche Führung zentral von organisatorischen Rahmenbedingungen abhängt, so handeln am Ende doch Personen mit ihren jeweiligen Kenntnissen und Kompetenzen. Nicht zuletzt stellt die bereits analysierte Ambivalenz der Anspruchsgruppen mit ihren jeweiligen Bedürfnissen besondere Anforderungen an die Individualethik in der Sozialwirtschaft. Wesentlich erscheint die interne und externe Kommunikation über ethische Fragen und Dilemmas mit allen relevanten Stakeholdern einer Organisation. „Damit ist das Ziel der Organisationskommunikation […] die Herstellung von sozialem Kapital im Sinne von Vertrauen und Reputation mit dem Ziel der Etablierung von Legitimation und Loyalität“ (Karmasin 2010: 240).
Insbesondere die Klienten spielen dabei eine wesentliche Rolle, denen per Sozialstaatsumbau verstärkt Eigenverantwortung zugemutet bzw. abverlangt wird. Wie schon gezeigt wurde, ist ihre Mitwirkung an der sozialen Dienstleistung 103
104
Neben hauptamtlich Beschäftigten sind in sozialwirtschaftlichen Unternehmen meist Ehrenamtliche, Freiwillige, Honorarkräfte, geringfügig Beschäftigte u.a.m. zu finden. In den großen Wohlfahrtsverbänden arbeiten beispielsweise laut einer Studie von Zimmer/Priller fast genauso viele Haupt- wie Ehrenamtliche (vgl. Schröer 2009: 146). Konkrete Beispiele dazu sind in Kapitel 7 zu finden.
100
5 Zwischenfazit
charakteristisch für die Soziale Arbeit. Der Dialog mit ihnen über die Ziele und Instrumente Sozialer Arbeit ist somit eine zentrale Aufgabe einer verantwortungsvollen Unternehmensführung. (3) Persönliche Verantwortung Zur persönlichen Verantwortungsebene gehört zentral das individuelle Wertesystem. Die Frage dabei ist, wie ethisches Orientierungswissen in die Ausbildung und Entwicklung von Führungskräften in der Sozialwirtschaft zu integrieren ist. Entscheidend wird dabei auch sein, „was Führungskräfte zu moralischem Handeln motiviert – und was sie davon abhält“ (Pless / Maak 2008: 238). Der Ansatz der integren Unternehmensführung105 liefert wertvolle Hinweise für die Entwicklung von Instrumenten für eine sozialwirtschaftliche Unternehmensethik. Die Module sind weitestgehend auf die Sozialwirtschaft übertragbar und die Fokussierung auf die drei Ebenen Policies, Prozesses und People gewährleistet ein umfassendes unternehmensethisches Konzept. Die von Albert und Brüll formulierten Anforderungen an eine Ethik der Sozialwirtschaft106, wie zum Beispiel ethische Standards des Personalmanagements, geregelte Mitbestimmungsstrukturen oder ein konsequenter Dialog mit den Anspruchsgruppen sind mit diesem Ansatz erfüllt. Eine gute Grundlage dafür könnte allerdings auch eine unternehmensethische Weiterentwicklung des Capability Approach sein, die allerdings bislang noch nicht zufriedenstellend vorliegt107. Berücksichtigt man die drei Ebenen der Wirtschaftsethik, empfehle ich als Zwischenfazit aus der bisherigen Untersuchung eine ethische Ausrichtung der Sozialwirtschaft auf der Grundlage folgender konzeptioneller Ansätze:
105 106 107
Vgl. Kap. 4.4. Vgl. Kap. 3.5. Vgl. Kap. 4.3.
101
5 Zwischenfazit
Abbildung 6:
Konzeptionelle Ansätze einer sozialwirtschaftlichen Ethik (eig. Darst.).
Andere vorgestellte wirtschaftsethische Ansätze108 sind den Nachweis ihres Nutzens schuldig geblieben, zumindest für den ökonomischen Teilbereich der Sozialwirtschaft, der hier untersucht wird. In diesem Zusammenhang ist allerdings noch ein weiteres Zwischenergebnis bemerkenswert: Die Unterscheidung zwischen sozialwirtschaftlichen und erwerbswirtschaftlichen Unternehmen wird zunehmend schwierig. Zum einen tummeln sich im Dritten Sektor Unternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht und eine zunehmende Zahl sozialer Unternehmer („social entrepreneurs“), die unternehmerisch und auf eigenes Risiko Lösungen für gesellschaftliche Probleme entwickeln109. Zum anderen gründen immer mehr sozialwirtschaftliche Unternehmen erwerbswirtschaftliche Tochtergesellschaften,
108 109
Vgl. Kap. 2.3. Vgl. http://germany.ashoka.org/unsere-vision [08.05.2011].
102
5 Zwischenfazit
die zum Finanzierungsmix110 der Gesamteinrichtung beitragen. Parallel gründen erwerbswirtschaftliche Unternehmen Stiftungen oder übernehmen soziale Verantwortung jenseits ökonomischer Zielsetzungen. So stellt sich die Frage, ob die Unterscheidung von Sozialwirtschaft und Profitwirtschaft, die in der Einleitung skizziert und später systematisiert wurde111, tatsächlich zielführend ist. Das gilt umso mehr, als die Sozialwirtschaft offensichtlich weder aus ökonomischer noch aus ethischer Perspektive eine besondere Stellung genießt. Diese Frage wird im empirischen Teil der Arbeit vertieft. Offen geblieben ist bis hierher, wie Unternehmensethik in Unternehmen zu integrieren ist. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, ethisches Verhalten im Unternehmen zu steuern: den Compliance und den Integrity-Ansatz (vgl. Brüll 2009: 153f, Noll 2002: 119ff). Der Complianceansatz versucht mit Richtlinien, Seminaren und Kontrollen die Umsetzung zu gewährleisten. Dieser Ansatz führt eher zu extrinsisch motiviertem Verhalten bei den Mitarbeitern, die über Anreize und Sanktionen gesteuert werden. „Dem Compliance-Ansatz liegt letztlich ein skeptisches, passivisches Menschenbild zugrunde“ (Brüll 2009: 154). Erfolgversprechender ist deshalb der Integrity-Ansatz. Er baut auf selbstverantwortliches Handeln der Mitarbeitenden und „lebt von einer Vertrauenskultur, in der eigenverantwortliches Handeln in Freiräumen ausdrücklich erwünscht ist“ (ebd.). Dieser Ansatz nutzt Instrumente, die den Austausch ermöglichen und ein hohes Maß an Eigenverantwortung voraussetzen. Dem Integrity-Ansatz liegt ein Menschenbild zugrunde, dass Mitarbeiter als „moralisch integer und lernfähig“ (Noll 2002: 120) versteht und sich auf ihre intrinsische Motivation stützt. Für sozialwirtschaftliche Unternehmen ist eher ein Integrity-Ansatz anzuraten, verfolgt doch die Soziale Arbeit schon von ihren grundsätzlichen Zielen her die Selbstständigkeit von Menschen und lässt ihren Mitarbeitern häufig große Entscheidungs- und Verantwortungsspielräume. Soweit der Blick in die wissenschaftliche Theorie. Fundierte Perspektiven einer sozialwirtschaftlichen Unternehmensethik bedürfen jedoch ebenfalls eines Blickes in die Alltagsrealitäten in Unternehmen. Deshalb untersucht der zweite Teil dieser Arbeit die Realität von Führungskräften in Unternehmen der Sozialund Profitwirtschaft. Welche Instrumente eingesetzt werden und was die Sozialwirtschaft sich von der Erwerbswirtschaft „abgucken“ kann (bzw. umgekehrt), werden die Experteninterviews im empirischen Teil dieser Arbeit ergeben. Dabei soll auch geklärt werden, ob sich die Realität in sozial- und erwerbswirtschaftlichen Unternehmen grundlegend unterscheidet und – wenn ja – in welchen Bereichen 110 111
Vgl. Kap. 3.3.3. Vgl. Kap. 3.3.5.
Empirischer Teil
6 Experteninterviews: Methodisches Vorgehen
Für den empirischen Teil dieser Untersuchung habe ich acht Experteninterviews mit Führungskräften aus sozial- und erwerbswirtschaftlichen Unternehmen geführt. Das folgende Kapitel beschreibt zunächst das methodische Vorgehen, anschließend werden die Ergebnisse dargestellt. 6.1 Experteninterviews als Methode empirischer Sozialforschung Experteninterviews sind ein Teilbereich der qualitativen Sozialforschung. Diese unterscheidet sich von quantitativen Verfahren dadurch, dass sie „komplexe soziale Sachverhalte verstehen“ (Kruse 2008: 17) und nicht erklären will. Dafür werden die „subjektiven Deutungsmuster“ (ebd.) der Interviewpersonen rekonstruiert. Qualitative Sozialforschung zeichnet sich durch eine relativ kleine Stichprobe und offene Fragestellungen aus. Die wissenschaftlichen Ergebnisse werden aus den Aussagen der Interviewpartner generiert und auf der Grundlage theoretischer Konzepte analysiert. In der quantitativen Sozialforschung werden hingegen vorab formulierte Hypothesen mit standardisierten Fragen in einer großen, möglichst repräsentativen Stichprobe getestet und auf der Grundlage von statistischen Berechnungen überprüft. Experteninterviews zeichnen sich innerhalb der qualitativen Sozialforschung nicht durch eine besondere Methode, sondern durch die Besonderheit der Zielgruppe aus (vgl. Kruse 2008: 185). Der Begriff Experte beschreibt dabei „die spezifische Rolle des Interviewpartners als Quelle von Spezialwissen über die zu erforschenden sozialen Sachverhalte. Experteninterviews sind eine Methode dieses Wissen zu erschließen“ (Gläser / Laudel 2010: 12). Für das Experteninterview gelten demnach die allgemeinen und grundsätzlichen Prinzipien sozialwissenschaftlicher Forschung (vgl. ebd.: 30f):
Prinzip der Offenheit: Die sozialwissenschaftliche Forschung muss offen sein für überraschende und unerwartete Erkenntnisse. Prinzip des theoriegeleiteten Vorgehens: Die sozialwissenschaftliche Forschung muss an bereits vorhandenes theoretisches Wissen anschließen (z.B. Mayring 2007). Eine Methode des theoriegeleiteten Vorgehens ist, Hypothesen aus der Theorie abzuleiten und diese dann zu testen.
R. Ahlrichs, Zwischen sozialer Verantwortung und ökonomischer Vernunft, DOI 10.1007/978-3-531-94355-8_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
106
6 Experteninterviews: Methodisches Vorgehen
Prinzip des regelgeleiteten Vorgehens: Sozialwissenschaftliche Forschung muss reproduzierbar sein, d.h. es muss nachvollziehbar sein, welche Schritte unternommen und welche Schlüsse aus welchen Daten gezogen worden sind. Prinzip des Verstehens als Basishandlung sozialwissenschaftlicher Forschung: Sozialwissenschaftliche Forschung will und muss verstehen, warum die Interviewpartner in bestimmter Weise denken und handeln. Allerdings ist dieses Verstehen immer eine subjektive Interpretation des Wissenschaftlers.
Experteninterviews werden sinnvollerweise als leitfadengestützte, nicht-standardisierte Interviews geführt (vgl. Gäser / Laudel 2010: 43; Meuser / Nagel 2009: 51). Der Leitfaden wird „unbürokratisch und flexibel“ (Meuser / Nagel 2009: 54) gehandhabt, enthält also die Themen des Interviews nicht jedoch standardisierte Fragestellungen. Dabei ist zu beachten, dass dem Interviewten nicht die Forschungsfragen gestellt werden, sondern ihre „Übersetzungen“ und „Operationalisierungen“. Nur so ist es dem Interviewer möglich, die geschilderten Fakten wissenschaftlich zu analysieren (vgl. Gläser / Laudel 2010: 113).112 Kruse (2008: 187f) unterscheidet drei Varianten des Experteninterviews: Das explorative Experteninterview erhebt Fakten und Informationen, um neue Forschungsgegenstände zu entwickeln und Themen zu sondieren. Das systematisierende Experteninterview erhebt ebenfalls faktisches Expertenwissen, allerdings um Handlungsfelder zu systematisieren. Das theoriegenerierende Experteninterview zielt dagegen eher auf die subjektiven Deutungen des Interviewten. In der vorliegenden Untersuchung geht es darum, Instrumente und Abläufe in unterschiedlichen Unternehmen zu erheben und zu vergleichen. Die erhobenen Informationen beziehen sich dabei auf objektive Realitäten in den Unternehmen, nicht so sehr auf ihre subjektive Interpretation durch die befragten Führungskräfte. Insofern handelt es sich um systematisierende Interviews. Eine besondere Form des Experteninterviews ist das Interview mit Führungskräften. Die Erwartungen einer Führungskraft an ein solches Gespräch sind abhängig von den üblichen Kommunikationsformen im Unternehmen. Es gehört schließlich zum Alltagshandeln als Führungskraft, Gespräche zu führen, Mitarbeitern Fragen zu stellen, zuweilen auch befragt zu werden. Selten geschieht dies in Ruhe, insofern gilt es, schnell und präzise zu antworten und nicht allzu weit abzuschweifen (vgl. Trinczek 2009: 229). Von dieser Frage-Antwort-Konstellation und von einer eher strategisch-formellen Haltung wird das Experteninterview mit Führungskräften zunächst geprägt sein, es entwickelt sich aber im Idealfall im Gesprächsverlauf zunehmend zu einem „Fachgespräch“ mit einem 112
Der Leitfaden ist im Anhang zu finden.
6.2 Auswahl der Interviewpartner
107
argumentativ-narrativen Diskurs (vgl. Kruse 2008: 192). Die offene Gesprächsatmosphäre, die zudem keine relevanten Folgen hat, „erlaubt den Managern dabei mitunter einen Grad an Freimütigkeit und offener Selbstreflexion, den sie sich im betrieblichen Alltag mit seinem überwiegend strategisch ausgerichteten Kommunikations- und Interaktionsstil so in aller Regel nicht zugestehen“ (Trinczek 2009: 232).
Eine Beobachtung, die ich bestätigen kann. Allerdings ist dafür ein gewisses Expertenwissen seitens des Interviewers nötig, um an entsprechender Stelle eine kompetente Einschätzung oder profundes Wissen einzustreuen. Insofern wird die bei anderen Interviewformen der qualitativen Forschung geforderte Zurückhaltung des Interviewers beim Experteninterview mit Führungskräften nicht zum Erfolg führen. Angemessen ist vielmehr, „die Offenheit der Interviewsituation zu bewahren, gleichwohl aber strukturierend und argumentierend zu intervenieren“ (ebd.: 237). 6.2 Auswahl der Interviewpartner Die Auswahl der Interviewpartner erfolgte auf der Grundlage folgender Kriterien: Experten müssen über die relevanten Informationen verfügen, präzise Informationen geben können, zum Interview bereit sein sowie für den Interviewer im gesteckten Zeitplan verfügbar und erreichbar sein (vgl. Gläser / Laudel 2010: 117). Für die Fallauswahl (Sampling) wurden zwei Methoden kombiniert: die theoretische Vorabfestlegung und das „theoretical sampling“ nach Glaser und Strauss (vgl. Kruse 2008: 69f). Diese Forschungsmethode kann folgendermaßen zusammengefasst werden: „Ausgehend von der Analyse eines ersten Interviews wird nach weiteren Interviewfällen gesucht, um eine gegenstandsbegründete Theorie über bestimmte soziale Sachverhalte formulieren zu können, und um so die Theorie ‚zu sättigen‘. Dies impliziert vor allem auch die Methode der minimalen und maximalen Variation der Interviewfälle, um möglichst unterschiedliche oder möglichst ähnliche strukturelle Feldtypen zu berücksichtigen“ (Kelle / Kluge, zitiert in Kruse 2008: 70).
Die theoretische Vorabfestlegung für die acht Interviews in der vorliegenden Untersuchung umfasste die Aufteilung der Unternehmen in je vier aus dem Bereich der Sozialwirtschaft und der Erwerbswirtschaft. Die Interviewpartner sollten allesamt Führungskräfte sein, die seit mindestens fünf Jahren im Unternehmen tätig sind und Personalverantwortung sowie Einblick in Prozesse der Personalentwicklung haben, um kompetent Auskunft geben zu können. Zur Vergleichbarkeit der Interviews wurde zudem darauf geachtet, dass alle Unterneh-
108
6 Experteninterviews: Methodisches Vorgehen
men in demselben Wirtschaftsraum (Großraum Stuttgart) ansässig sind und eine ähnliche Größe aufweisen (ca. 1.000 – 5.000 Mitarbeiter/innen). Um die Vielfalt zu gewährleisten, sollten Führungskräfte aus unterschiedlichen Branchen und Organisationsformen113 befragt werden. Ursprünglich war daran gedacht, eine Differenzierung per Geschlecht vorzunehmen. Leider konnten innerhalb der Kriterien des Samples keine weiblichen Interviewpartner gefunden werden. Offenbar finden sich in den Führungsetagen von Unternehmen in dieser Größe nach wie vor sehr wenige Frauen. Die Methode des theoretical samples wurde auf die Suche der geeigneten Unternehmen angewendet. Ausgehend von den jeweils ersten Interviews in der Sozial- bzw. Erwerbswirtschaft wurden Fälle gesucht, die die Daten dieser Interviews erhärten oder widerlegen könnten. Bei den erwerbswirtschaftlichen Unternehmen habe ich beispielsweise darauf Wert gelegt, dass sie einen dem ersten Unternehmen ähnlich hohen Anspruch an ihre Verantwortung in Gesellschaft bzw. an den Umgang mit ihren Mitarbeitern formulieren (minimale Kontrastierung). Als Beleg dafür wurden die auf den jeweiligen Websites veröffentlichten Führungs- und Unternehmensgrundsätze genutzt, die dann in den Interviews auch konkret hinterfragt wurden. Außerdem ergab sich aus den ersten Gesprächen, dass eine relativ starke Verbundenheit mit dem Standort wichtig ist. Nur so lässt sich die unternehmerische Ausgangslage einigermaßen mit der Situation in der Sozialwirtschaft vergleichen, denn ein global tätiges, nicht standortgebundenes Unternehmen kann die Region bei ungünstigen Rahmenbedingungen relativ einfach verlassen (Standortverlagerung) und wird sich demzufolge weniger für das Gemeinwesen engagieren114. Die Fallauswahl innerhalb der Sozialwirtschaft berücksichtigte ähnliche Kriterien. Auch hier habe ich auf die Unternehmenswerte und eine relativ lange Tradition am jeweiligen Standort geachtet. Auf diese Weise ergibt sich ein Sample, das zugegebenermaßen besonders wertgebundene und verantwortungsbewusste Unternehmen untersucht und ganz sicher nicht repräsentativ für die deutsche Wirtschaft in beiden Bereichen ist. Gerade die positiven Beispiele aus der Profitwirtschaft können aber hilfreiche Hinweise für die Beantwortung der Forschungsfrage geben. Die folgende Übersicht zeigt die befragten Unternehmen:
113
114
Die Frage der Organisationsform ist komplexer als zunächst angenommen. Alle sozialwirtschaftlichen Unternehmen haben beispielsweise Tochterunternehmen, die in anderen Organisationsformen und zum Teil auch als erwerbswirtschaftliche Unternehmen (v.a. als GmbH) betrieben werden. Vgl. auch die Ausführungen zu Unternehmen als „Corporate Citizen“ in Kap. 4.4.1.
109
6.3 Transkription
Unternehmen
Internetadresse
Branche
Alfred Kärcher GmbH & Co. KG
www.kaercher.de
Reinigungstechnik
Weleda AG
www.weleda.de
Andreas Stihl AG & Co. KG TRUMPF GmbH + Co. KG Paulinenpflege Winnenden e.V. Nikolauspflege – Stiftung für blinde und sehbehinderte Menschen Evangelische Gesellschaft Stuttgart e.V. Paul Wilhelm von Keppler-Stiftung
www.stihl.de
Arzneimittel, Kosmetik Motorsägen
Abbildung 7:
www.trumpf.com
Mitarbeiter115 in Deutschland (weltweit) Ca. 3.600 (>8.000) Ca. 750 (1.300) Ca. 3.600 (11.000) Ca. 4.000 (8.000) Ca. 1.200
www.nikolauspflege.de
Werkzeug- und Elektrotechnik Jugend- und Behindertenhilfe Behindertenhilfe
www.eva-stuttgart.de
Diakonie
Ca. 1.000
www.keppler-stiftung.de
Altenhilfe
Ca. 1.800
www.paulinenpflege.de
Ca. 930
Übersicht der befragten Unternehmen
6.3 Transkription Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, ob Experteninterviews stets vollständig transkribiert werden müssen und welche Transkriptionsregeln dabei anzuwenden sind (vgl. Kruse 2008: 96ff, Meuser / Nagel 2009: 56; Gläser / Laudel 2010: 193). In der vorliegenden Untersuchung wurden die Interviews vollständig transkribiert116. In Experteninterviews, in denen inhaltsanalytische Verfahren zur Anwendung kommen117, ist es nicht nötig, alle paraverbalen Äußerungen zu transkribieren – anders als beispielsweise in narrativen Interviews. (vgl. Gläser / Laudel 2010: 193; Meuser / Nagel 2009: 56). In dieser Untersu115 116
117
Bei den sozialwirtschaftlichen Unternehmen sind nur die hauptamtlich Beschäftigten angegeben. Im Anhang befindet sich eine Übersicht der Interviewpartner, die als Grundlage zur Zuordnung dient. Die Transkriptionen sind nicht Teil dieser Veröffentlichung, können aber bei Bedarf beim Autor angefordert werden. Vgl. Kap. 6.4.
110
6 Experteninterviews: Methodisches Vorgehen
chung wurden deshalb folgende Transkriptionsregeln verwendet (in Anlehnung an Gläser / Laudel 2010: 194):
Standardorthographie Nichtverbale Äußerungen sind nur erfasst, sofern sie die Bedeutung einer Aussage verändern. Besonderheiten sind vermerkt, z.B. „lacht“ oder Pause „[.]“. Unterbrechungen im Gespräch sind vermerkt. Unverständliche Passagen sind gekennzeichnet.
6.4 Qualitative Inhaltsanalyse Für systematisierende Experteninterviews empfiehlt Kruse inhaltsanalytische Auswertungsmethoden (vgl. Kruse 2008: 196). Ein solches inhaltsanalytisches Verfahren ist die Qualitative Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring (vgl. Mayring 2007). Dieses Auswertungsverfahren arbeitet mit einem vorab definierten Kategoriensystem, auf dessen Basis der Text analysiert und den Kategorien zugeordnet wird. Die Art und Weise, wie die Kategorien zustande kommen, kann unterschiedlich sein – wesentlich ist, dass sie aus der Theorie stammen. Der qualitativen Inhaltsanalyse wird deshalb vorgeworfen, „zu vorher entworfenen Modellen oder Theorien O-Töne zu erhalten, oder überhaupt nur selektive Bestätigungen in der Empirie zu suchen“ (Kruse 2008: 158). Gläser / Laudel haben ein Verfahren entwickelt, dass diesen Mangel beheben soll. In ihrem Konzept der qualitativen Inhaltsanalyse werden die vorher definierten Kategorien im Zuge der Textanalyse ergänzt oder verändert, aber nicht verworfen (vgl. Gläser / Laudel 2010: 205). Ebenso entwickelt sich die Skala unterschiedlicher Ausprägungen innerhalb einer Kategorie erst während der Datenauswertung. In der Anwendung dieser Form der qualitativen Inhaltsanalyse werden „die Informationen extrahiert (…), ohne dass ihre Position im Text berücksichtigt wird“ (ebd.: 204). Der Begriff der Extraktion hebt sich bewusst ab von Mayrings Begriff des „Kodierens“ und will deutlich machen, dass aus dem Text nur die für die Auswertung der Forschungsfrage relevanten Informationen entnommen werden (vgl. ebd.: 199). Das Verfahren gliedert sich in die Schritte Theoretische Vorüberlegungen, Vorbereitung der Extraktion, Extraktion, Aufbereitung und Auswertung (vgl. Abb. 8). Die Vorüberlegungen werden mithilfe der aktuellen wissenschaftlichen Theorie angestellt. Aus ihnen werden die Annahmen und Fragestellungen abgeleitet, mit deren Hilfe die Texte ausgewertet werden (Kategorienbildung). Die Extraktion der relevanten Daten aus den transkribierten Interviews und ihre Zuordnung zu den Kategorien ist ein zentraler und sensibler Schritt der qualitativen
111
6.4 Qualitative Inhaltsanalyse
Interviewanalyse. Es unterliegt der subjektiven Einschätzung des Forschers, ob eine Information erstens relevant ist und zweitens zu welcher Kategorie sie gehört. Nach der Extraktion wird die nun gewonnene Datensammlung zusammengefasst und auf Widersprüche untersucht (Aufbereitung). So entsteht eine „strukturierte Informationsbasis“ (ebd.: 202), mit der die unterschiedlichen Fälle rekonstruiert und auf relevante Zusammenhänge hin untersucht werden können (Auswertung). Da in der vorliegenden Untersuchung bereits einige wesentliche Erkenntnisse für die verantwortliche Führung in Sozial- und Profitwirtschaft entwickelt worden sind, ist der Rückgriff auf die theoretischen Vorüberlegungen für die Auswertung der Experteninterviews wichtig. Dennoch sind einige Überraschungen möglich und nicht alle Kategorien können im Vorhinein formuliert werden. Es geht in der Analyse der Experteninterviews nicht um die Berücksichtigung des Sinnzusammenhangs einer Aussage, sondern vielmehr um ihren Informationsgehalt zur Beantwortung der Forschungsfrage. Das von Gläser und Laudel vorgeschlagene Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse erscheint vor diesem Hintergrund für die Auswertung der Interviews in dieser Untersuchung geeignet und wird wie folgt angewendet:
Theoretische Vorüberlegungen a. Forschungsfrage b. Theoretische Analyse
Abbildung 8:
Vorbereitung der Extraktion a. Bestimmung von Kategorien aus der Theorie b. Vorbereitung des Materials
Extraktion a. Extraktion der Informationen und Zuordnung b. Aufnahme neuer Kategorien und Ausprägungen c. Veränderung bestehender Kategorien und Ausprägungen
Aufbereitung a. Zusammenfassen identischer Informationen b. Sortierung nach sachlichen Aspekten c. Korrektur von Fehlern
Ablauf der qualitativen Inhaltsanalyse (eig. Darst., in Anlehnung an Gläser/Laudel 2010: 203).
Auswertung a. Analyse der Fälle b. Analyse von Zusammenhängen
112
6 Experteninterviews: Methodisches Vorgehen
6.5 Kategoriensystem Das Kategoriensystem für die Auswertung der entstand deduktiv aus der theoretischen Analyse unternehmensethischer Ansätze118. Dazu wurde auf das Konzept der Integren Unternehmensführung zurückgegriffen. In Anlehnung an Maak und Ulrich (2007) lassen sich die drei Dimensionen Policies, Processes und People benennen119. Sie sind Grundlage für die Auswertung der acht Interviews mit Führungskräften: (1) Policies – Gesellschaftliche Mitverantwortung Die Ebene gesellschaftlicher Mitverantwortung habe ich aus praktischen Gründen vor allem auf die Mitverantwortung für das Gemeinwesen und für die Veränderung politischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen reduziert (Corporate Citizenship). Eine Befragung hinsichtlich der Nachhaltigkeitsstrategien von Unternehmen wäre ein eigenes, lohnendes Thema für eine Untersuchung zur ethischen Unternehmensführung und wird hier nur gestreift. Die Stakeholderbeziehungen sind in dieser Untersuchung v.a. auf die Mitarbeiter und Klienten konzentriert. Die Auswertungskategorien sind damit:
Verantwortung im Gemeinwesen (Kategorie 1) Politische Einflussnahme (Kategorie 2)
Im Verlauf der Extraktion und Aufbereitung der Daten wurden beide Kategorien durch Unterkategorien konkretisiert120. Außerdem wurde deutlich, dass es sich bei der gesellschaftlichen Mitverantwortung nicht nur um einen aktiven Beitrag der Unternehmen handelt, sondern sie zuweilen als Reaktion auf gesellschaftliche oder politische Herausforderungen erscheint. Kategorie 1 wurde deshalb im Zuge der Datenauswertung um den Aspekt der gesellschaftlichen Herausforderungen erweitert. (2) Processes – Integratives Integritätsmanagements Ein Schwerpunkt auf der Prozessebene liegt auf den Veränderungsprozessen in Organisationen. Veränderung ist zu einem „kontinuierlichen Prozess“ (Grossmann 2010: 245) geworden. Die Einbeziehung der persönlichen Entwicklungsziele der Mitarbeitenden sowie der Bedürfnisse von Klienten, bzw. Kunden in 118 119 120
Vgl. Kap. 4 Vgl. die ausführliche Darstellung dieses Konzeptes in Kap. 4.3. Das gesamte Kategoriensystem befindet sich im Anhang.
6.5 Kategoriensystem
113
einen ethisch-orientierten Entwicklungsprozess ist Herausforderung und Erfolgsfaktor zugleich (vgl. ebd.: 254). Ein weiterer Schwerpunkt sind die Führungsgrundsätze und ihre Umsetzung. „Führungsgrundsätze sind Unternehmensgrundsätze“ (Schwarz 2001: 134), sie sollen „Führungsverhalten vereinheitlichen, konkretisieren und steuerbar machen“ (ebd.). Sie enthalten Aussagen über die Aufgaben von Führungskräften sowie die Art und Weise, wie diese Aufgaben vor allem in Bezug auf Mitarbeiter umzusetzen sind. Diese Grundsätze sind Teil einer ausdifferenzierten Unternehmenskultur. Die Auswertungskategorien sind121: Umgang mit Veränderungsprozessen (Kategorie 3) Unternehmenskultur und Führungsgrundsätze (Kategorie 4) Auch diese Kategorien wurden durch Unterkategorien ergänzt. (3) People – Individuelle Verantwortung Ein Schwerpunkt auf der Ebene individueller Verantwortung liegt auf der Personalentwicklung: „Personalentwicklung hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die fachlichen und außerfachlichen Qualifikationen, die für die innovative und zukunftsorientierte Entwicklung von Unternehmen erforderlich sind, rechtzeitig und in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen“ (Schwarz 2001: 130).
Dazu gehören auch die Förder- und Entwicklungsmaßnahmen von Mitarbeitenden für zukünftige leitende Aufgaben sowie die „Schaffung persönlichkeitsfördernder Arbeitsstrukturen“ (ebd.: 131). Neben diesen Forschungsschwerpunkten werden die Instrumente des Personalmanagements gezielt untersucht, insb. die Anreizsysteme, die Vereinbarung von Zielen und der Umgang mit Kritik. Zu guter Letzt soll das individuelle Verständnis von Führung und Verantwortung herausgearbeitet werden. Die Auswertungskategorien sind:
121
Instrumente der Führungskräfteentwicklung (Kategorie 5) Instrumente der Human Relations (Kategorie 6) Führungsverständnis (Kategorie 7) Verantwortungsverständnis (Kategorie 8)
Auf dieser Ebene wird v.a. auf die Auswertung der Aufsichtsstrukturen verzichtet. Auch die vergleichende Untersuchung von Corporate Governance Bemühungen wäre eine eigene Untersuchung wert, ist hier allerdings wegen der Unterschiedlichkeit der Organisationsformen schwierig.
114
6 Experteninterviews: Methodisches Vorgehen
Die Kategorie Verantwortungsverständnis benötigte keine weiteren Unterkategorien, die Aufbereitung der Daten für die anderen Kategorien verlangte dagegen nach Ausdifferenzierungen. Dabei gab es Überschneidungen zwischen den Merkmalen der Kategorien 6 und 4. Das ist nicht überraschend, da es in Kategorie 4 um die Überleitung der Unternehmenswerte in konkrete Instrumente geht. In Kategorie 6 werden diese dann analysiert. Diese Unschärfe in der Trennung der Kategorien wurde im Auswertungsverfahren nicht korrigiert, da sie auch im Konzept der Integren Unternehmensführung zwischen den Modulen Human Relations und Integritätssystem zu finden ist.
7 Instrumente einer sozialwirtschaftlichen Unternehmensethik122
Die Darstellung der Ergebnisse der acht Experteninterviews mit Führungskräften aus der Sozial- und der Erwerbswirtschaft erfolgt entlang der Kategorien, die ihrerseits jeweils in unterschiedliche Ausprägungen differenziert sind. Die Ausprägungen entstanden im Zuge der Aufbereitung der extrahierten Daten. 7.1 Kategorie 1: Verantwortung im Gemeinwesen Die Kategorie Verantwortung im Gemeinwesen wurde bereits in der Extraktionsphase um die Kategorie Gesellschaftliche Herausforderungen erweitert, da sich herausstellte, dass die Verantwortungsübernahme häufig mit veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zusammenhängt. Die Verantwortungsübernahme im Gemeinwesen wurde nicht explizit erfragt123, aber dennoch von allen Gesprächsteilnehmern angesprochen. Innerhalb der Verantwortung im Gemeinwesen lassen sich die Ausprägungen Standort-Verbundenheit und Kinderbetreuung / Familienförderung unterscheiden. 7.1.1 Standort-Verbundenheit Bei allen befragten Profitunternehmen lässt sich trotz ihrer durchweg globalen marktwirtschaftlichen Ausrichtung eine sehr starke Verbundenheit mit dem jeweiligen Standort feststellen124. Diese zeigt sich in individuellem Engagement der Führungskräfte bzw. Mitarbeiter125, in Kooperationen mit Schulen und anderen Institutionen126, in Engagement für Auszubildende oder Benachteiligte127 oder aber in Standortsicherungsverträgen, die trotz Wirtschaftskrise abgeschlos-
122
123 124 125 126 127
Die Quellenangabe bei den Zitaten aus den Interviews bezieht sich auf die Zeilennummern der Transkriptionen. Diese können bei Interesse beim Autor angefordert werden. Vgl. Interviewleitfaden im Anhang. Vgl. PO1: 102ff; PO2: 694ff; PO3: 452ff; PO4: 371ff Vgl. z.B. PO1: 6ff Vgl. PO3: 452ff; PO4: 371ff Vgl. PO2: 770ff, 713ff
R. Ahlrichs, Zwischen sozialer Verantwortung und ökonomischer Vernunft, DOI 10.1007/978-3-531-94355-8_7, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
116
7 Instrumente einer sozialwirtschaftlichen Unternehmensethik
sen werden128 und so der Wirtschaftsregion und den Arbeitnehmern Sicherheit geben. Anzumerken ist, dass der jeweilige heutige Standort entweder auch Gründungsort des Unternehmens ist oder zumindest in derselben Region liegt. Die befragten sozialwirtschaftlichen Unternehmen sind nicht global tätig, sondern (vorrangig) auf ihr jeweiliges Umfeld (z.B. Landkreis, Stadt, Bundesland) begrenzt. Die Verbundenheit mit dem jeweiligen Standort ist insofern selbstverständlich, identitätsbildend und gehört zum Auftrag des Unternehmens. Vermutlich wurde sie deshalb nicht explizit benannt. Die Verantwortung für das Gemeinwesen ist sozusagen grundlegende Aufgabe sozialwirtschaftlicher Unternehmen. Interessant ist, dass auch in erwerbswirtschaftlichen Unternehmen Verantwortung für das Gemeinwesen übernommen wird. 7.1.2 Kinderbetreuung / Familienförderung Eine große Rolle in den Gesprächen spielte der Aspekt der Familienförderung, der insbesondere unter dem Aspekt diskutiert wurde, Frauen einen möglichst schnellen und flexiblen Wiedereinstieg in das Unternehmen zu bieten. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte der bereits existierende bzw. zu erwartende Fachkräftemangel sein. Damit trifft sich bei diesem Thema der Nutzen für die Familien und für das Gemeinwesen mit dem Nutzen für das Unternehmen. So hat ein Profit-Unternehmen gezielt Kindergarten- und Krippenplätze subventioniert und dabei die Erfahrung gemacht, dass es sich zunächst um eine Investition handelt, die sich erst langfristig auszahlt, weil es eine Zeitlang dauert, bis das Angebot von den Mitarbeitern angenommen wird129. Ein anderes Profit-Unternehmen hat eine eigene Kindertagesstätte gegründet, die in der Region mittlerweile große Anerkennung erfährt130. Aber auch die anderen Profit-Unternehmen reagieren mit Modellen und Ideen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf auf die Erwartungen junger Menschen131. Obwohl im Non-Profit-Bereich der Frauenanteil traditionell sehr hoch ist, erscheint auch hier die Förderung der Vereinbarkeit von Familien und Beruf geboten, insbesondere durch eine bessere Kinderbetreuung132. Eine Mitwirkung an Instrumenten, die diese im Gemeinwesen fördern, war bei ihnen (noch) nicht zu erkennen. Allerdings muss einschränkend hinzugefügt werden, dass die befragten sozialwirtschaftlichen Unternehmen zum Teil selbst Träger von Schulen und Kindertageseinrichtungen sind. Inwieweit
128 129 130 131 132
Vgl. PO2: 696ff Vgl. PO1: 328ff Vgl. PO3: 429ff Vgl. PO2: 816ff; PO4: 500ff Vgl. NPO1: 971ff
7.2 Kategorie 2: Verantwortung für politische Rahmenbedingungen
117
dabei die Kinder der eigenen Mitarbeiter bevorzugt berücksichtigt werden, wurde nicht erhoben. 7.2 Kategorie 2: Verantwortung für politische Rahmenbedingungen Auch bei der Verantwortung für politische Rahmenbedingungen zeigt sich der immense Einfluss von gesellschaftlichen Herausforderungen, auf die es zu reagieren gilt – hier allerdings nicht durch gezielte Maßnahmen und Projekte, sondern durch Einflussnahme auf die Rahmenbedingungen. Auch dieser Themenbereich wurde nicht explizit erfragt, sondern ergab sich meist aus der Frage nach den zukünftigen Zielen und Aufgaben133. Ein zentraler Aspekt dabei war der demografische Wandel. 7.2.1 Demografischer Wandel Eine gesellschaftliche Aufgabe, die sich allen Unternehmen stellt, ist es, den altersgerechten Einsatz von älteren Mitarbeitern sicher zu stellen. Allerdings kann diese Aufgabe selbstverständlich nicht allein von Unternehmen gelöst werden. Denn „wir müssen als Gesellschaft erkennen, dass dieses Thema Alter, in dem wir drin sind, eine zentrale Frage unserer Lebensqualität der Zukunft ist“ (NPO2: 565ff). Neben der Verlängerung der Erwerbsarbeit bis zum Alter von 67 Jahren ist dabei auch an die hohe Anzahl pflegebedürftiger Menschen zu denken. Aufgabe von sozialwirtschaftlichen Unternehmen ist, ein Bewusstsein für die Wichtigkeit von gut ausgebildeten Fachkräften und gut ausgestatteten Pflegeeinrichtungen zu schaffen, aber auch durch den Einsatz junger Menschen in sozialen Unternehmen für Solidarität und soziale Lernerfahrungen zu sorgen134. In diesem Zusammenhang ist der Wegfall des Zivildienstes als problematisch zu bewerten. 7.2.2 Weitere Themen Generell leidet die Sozialwirtschaft nach wie vor an einem Akzeptanz- bzw. Attraktivitätsproblem. Letzteres ließe sich über eine deutlich bessere Bezahlung erhöhen. Es zeichnet sich zudem bereits ein „Männerproblem“ ab135, d.h. zu wenige Männer wählen soziale Berufe. Zu einer höheren Akzeptanz könnten auch die Mitarbeiter beitragen, indem sie stärker für das werben, was sie tagtäglich tun: 133 134 135
Siehe Interviewleitfaden im Anhang. Vgl. NPO2: 565ff Vgl. NPO1: 961ff
118
7 Instrumente einer sozialwirtschaftlichen Unternehmensethik
„Und da gehört es insofern dazu, dass ich das Gefühl habe, dass unsere Mitarbeiterinnen in dem privaten Milieu nicht so richtig die Botschafterinnen von dem sind, was sie hier tun“ (NPO3: 465ff).
Ein Problem, dass sich offensichtlich bei den untersuchten Profitunternehmen so nicht stellt136. Ein Interviewpartner nannte die zunehmende Komplexität als große Herausforderung der Zukunft: „Wir können nicht mehr alles in der Tiefe beherrschbar machen. (…) Das ist eine Illusion aus meiner Sicht. Also brauchen wir wieder irgendeine Form der Vereinfachung“ (PO2: 856ff).
In der Folge werden Entscheidungen zunehmend auf der Grundlage unsicherer Informationen getroffen werden müssen. Er plädiert in diesem Zusammenhang vor allem für eine Vereinfachung von Regelungen und Bestimmungen im Unternehmen und in der Politik, somit also für eine Veränderung der strukturellen Rahmenbedingungen. Dass sich sozialwirtschaftliche Unternehmen gemäß ihres gesellschaftspolitischen Auftrags für die Lebenssituationen ihrer jeweiligen Klienten engagieren, zeigen alle Interviews deutlich. Egal ob es um alte Menschen, um behinderte Menschen oder um benachteiligte Jugendliche geht, setzen sich sozialwirtschaftliche Unternehmen für die Änderungen der Rahmenbedingungen ein. Exemplarisch dafür steht folgende Aussage: „Wir stehen für eine Jugend, sage ich, für eine spezielle, wir haben nicht den Anspruch für alle, sondern nur für die, die wirklich keine Chancen hat. Das möchte ich auch betonen, für die trete ich ein, auch in der Abteilung. Ein klares Profil zu haben und zu sagen, da muss aber alles getan werden, was denen nützt und hilft“ (NPO1: 726ff).
Dass dieser Einsatz ganz konkrete politische Ergebnisse bringen kann, ist vor allem einer hartnäckigen Lobbyarbeit in den entsprechenden Gremien und Institutionen zu verdanken: „Es ist ein sehr schwieriges Unterfangen, aber wir haben zum Beispiel mit großer Hartnäckigkeit die Rücknahme einer Verwaltungsvorschrift der Bundesagentur erzielen können. (…) Wir haben einen rasanten Qualitätsverlust gemerkt, haben da nachgehakt, nachgebohrt, und sind dann in dem Fall zum Beispiel mit Hilfe des Arbeitsgebervertreters im Verwaltungsrat der BA [Bundesagentur für Arbeit, d. Verf.], dem Verwaltungsratsvorsitzenden, sind wir dann dazu gekommen, dass das wieder 136
Vgl. 7.4.
7.3 Kategorie 3: Umgang mit Veränderungsprozessen
119
nach 3 Jahren zurück genommen wurde. Das war so ein kleiner Erfolg“ (NPO4: 95ff).
Ein nachhaltiger Einkauf erscheint dagegen schwierig: „Wir könnten hier natürlich eine Vorrolle spielen in Bezug auf gesunde Ernährung, in Bezug auf ökologischen Umgang mit Ressourcen, und, und, und. Aber die Möglichkeiten, die haben Sie finanziell nicht“ (NPO2: 626ff).
Hier wird das Spannungsverhältnis zwischen ethischem Anspruch und ökonomischer Vernunft besonders deutlich, zumal an anderer Stelle des Interviews dieses Spannungsverhältnis zugunsten der betreuten Menschen und gegen die ökonomische Rationalität aufgelöst wurde137. Bei der Verantwortung für die politischen (gesellschaftlichen) Rahmenbedingungen ergibt sich ein heterogenes Bild. Erfreulicherweise bestätigen alle befragten sozialwirtschaftlichen Unternehmen den Einsatz für die Verbesserung der Lebensbedingungen ihrer jeweiligen Klientel. Ein Thema, das bei Profitunternehmen so nicht wahrnehmbar ist. Zu den großen Herausforderungen des demografischen Wandels zählt sicher, Lösungen für älter werdende Mitarbeiter und das Thema Pflege zu finden. Diese liegen jenseits des Einflussbereichs des einzelnen Unternehmens, die Mitwirkung daran ist aber eine unternehmensethische Aufgabe. 7.3 Kategorie 3: Umgang mit Veränderungsprozessen Veränderungsprozesse betreffen alle Unternehmen. Unterschiedlich ist allerdings das Vorgehen bei Veränderungsprozessen – vor allem in Bezug auf die Beteiligung von Mitarbeitern -, aber auch das Verständnis dieser Prozesse. 7.3.1 Beteiligung Die Bedeutung der Beteiligung von Mitarbeitern wird einhellig formuliert138. Allerdings lassen sich Unterschiede hinsichtlich der Wahrnehmung der Veränderungsbereitschaft erkennen. Diese ist dann hoch, wenn es klare Grundlagen für Veränderungsprozesse gibt, z.B. die Sicherheit des Arbeitsplatzes und des Einkommens, die Beteiligung an der Ideenfindung und Umsetzung sowie eine umfassende und transparente Kommunikation über Ziel und Zweck der Verände137 138
vgl. ebd.: 475ff, zitiert in Kap. 7.8 Vgl. PO1: 391ff; PO2: 530ff; PO3: 685ff; PO4: 254ff; NPO1: 125ff; NPO2: 379ff; NPO3: 212ff; NPO4: 368ff
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7 Instrumente einer sozialwirtschaftlichen Unternehmensethik
rung139. Ängste kommen dann auf, wenn die Mitarbeiter nicht beteiligt werden bzw. wenn es „aus subjektiver Sicht Gewinner und Verlierer gibt“ (PO4: 266f). Dennoch gilt, dass die Betroffenen in der Regel die besten Ideen für eine Veränderung haben140. Während die meisten Gesprächspartner die Individualität jedes einzelnen Prozesses betonen, zeigt sich bei einem sozialwirtschaftlichen Unternehmen ein interessantes Modell: „Wir haben diese Zentrale Entwicklungsabteilung. Wenn jemand einen größeren Veränderungsprozess sieht, wer immer das sein mag, das kann von ganz unten kommen, kann auch von ganz oben kommen, oder von dazwischen, der hat die Möglichkeit, diese Zentrale Entwicklungsabteilung mit einzubeziehen, und dann entsteht ein Projekt, das auch wieder so einen Maßnahmeplan jeweils hat“ (NPO3: 222ff).
Schaut man ganz genau hin, so lässt sich bei den sozialwirtschaftlichen Unternehmen ein etwas anderes Ziel bei der Beteiligung der Mitarbeiter finden. Es entsteht der Eindruck, dass die Beteiligung bei den Profitunternehmen vor allem dem Ergebnis dient, also zum Beispiel der Entwicklung neuer Technologien bzw. dass die Beteiligung verbesserungswürdig ist. Für die sozialwirtschaftlichen Unternehmen hat auch der gemeinsame Prozess eine hohe Bedeutung141. Diese These müsste allerdings durch weitere Untersuchungen erhärtet werden. 7.3.2 Verständnis von Veränderungsprozessen Veränderungsimpulse können aus unterschiedlichen Richtungen kommen: als gesellschaftliche Herausforderungen, als Ideen von Mitarbeitern oder als Erfordernisse innerhalb der Organisation. Veränderung wird vielleicht deshalb nicht nur positiv gesehen. Die Aussagen „Veränderung ist immer eine Gefahr“ (NPO2: 379); „Jede Organisationsänderung zieht auch einen Rattenschwanz von Dingen nach sich, nicht. Da stimmt dann nichts mehr zusammen“ (PO2 478f); „Durch so einen raschen Wandel (…) laufen wir schon die Gefahr, dass wir eher in so ein Maschinenbild rutschen“ (PO3: 718ff);
139 140 141
Vgl. PO1: 391ff; PO4: 272ff; NPO2: 379ff Vgl. NPO1: 125ff; NPO2: 379ff; PO2: 530ff; NPO4: 397ff Vgl. NPO4: 368ff; NPO1: 125ff
7.4 Unternehmenskultur und Führungsgrundsätze
121
machen das deutlich. Die Gefahr ist vor allem Unruhe142. Dieser begegnen die Unternehmen durch Konzentration auf wenige zu verändernde Punkte, ein gemeinsames Ziel sowie umfassende Kommunikation. 7.4 Unternehmenskultur und Führungsgrundsätze Ein zentraler Aspekt der Untersuchung von unternehmensethischer Realität sind natürlich die Unternehmenswerte und Führungsgrundsätze sowie ihre Umsetzung in konkreten Instrumenten. Als Teilbereich dieser Kategorie wird ein besonderer Blick auf den Umgang mit Mitarbeitern geworfen. 7.4.1 Unternehmenswerte Alle befragten sozialwirtschaftlichen Unternehmen basieren auf einem christlichen Fundament, d.h. sie sind den kirchlichen Wohlfahrtverbänden angegliedert. Auch ein Profitunternehmen bekennt sich eindeutig zu seinen christlichen Wurzeln, ein weiteres hat klar erkennbare anthroposophische Grundlagen. Die beiden anderen Profitunternehmen sind als Familienunternehmen vor allem den Werten des Unternehmensgründers bzw. der Unternehmerfamilie verpflichtet. Alle befragten Unternehmen blicken auf lange Traditionen zurück, die bis heute die Unternehmenswerte prägen143. Aber ein klares, traditionell geprägtes Profil ist kein Widerspruch dazu, flexibel und anpassungsfähig auf neue Anforderungen zu reagieren. Zum Beispiel sind in Familienunternehmen die Entscheidungswege kurz und schnell144, sozialwirtschaftliche Unternehmen haben besondere Finanzierungsformen entwickelt, um gezielt Projekte umzusetzen, die dem Zweck dienen, aber nicht kostendeckend sind145. Führungsgrundsätze gelten grundsätzlich als Vision oder Richtschnur, die die Unternehmenswerte in Anforderungen an das Verhalten von Führungskräften übersetzen146. Diese Führungsgrundsätze müssen allerdings ihrerseits auch wieder für den einzelnen Arbeitsbereich heruntergebrochen und in konkretes Handeln übersetzt werden. Auch bei der Auswahl von Mitarbeitern spielen die Unternehmenswerte eine wesentliche Rolle. Beispielsweise achtet ein Unternehmen mit einer internationalen Belegschaft darauf, dass Mitarbeiter offen sind und nicht diskriminieren. 142 143
144 145 146
Vgl. PO2: 508ff; NPO3: 227ff Vgl. z.B. PO2: 483ff; PO3: 125ff. In global tätigen Unternehmen müssen die Werte allerdings der jeweiligen Kultur des Standortes angepasst werden (vgl. PO 4: 233ff; PO1: 114ff). Vgl. PO2: 1001ff Vgl. z.B. NPO3: 38ff Vgl. PO2: 452ff; PO3: 105ff; NPO2: 146ff
122
7 Instrumente einer sozialwirtschaftlichen Unternehmensethik
Auch in sozialwirtschaftlichen Unternehmen wird danach gefragt „was können wir für (…) unseren Träger tun“ (NPO1: 219), um so die Identifikation mit dem Unternehmen und seinen Werten zu unterstützen. 7.4.2 Umsetzung der Unternehmenswerte Dennoch gehört es zu den großen Herausforderungen, die Unternehmenswerte mit der Realität in Einklang zu bringen, wie sie sich in Instrumenten oder im Umgang mit Mitarbeitern zeigt. Dieser Prozess bedarf – im Gegensatz zu den Unternehmenswerten – der kontinuierlichen Überprüfung und Weiterentwicklung, um die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit kleiner werden zu lassen. Denn „es nützt mir nichts, wenn ich nur mitarbeiterorientiert bin, wenn ich es nicht praktiziere, wenn ich es nicht in den Instrumenten hinterlege, wenn ich es nicht institutionalisiere und formalisiere, dann nützt das Ganze ‚ich bin ein guter Mensch‘, nichts“ (PO1: 499ff).
So führt beispielsweise das an der Freiheit orientierte anthroposophische Menschenbild zu einem Führungsstil mit relativ geringer Kontrolle. Dasselbe lässt sich auch bei einem christlich geprägten sozialwirtschaftlichen Unternehmen feststellen: „Der erste große Grundsatz ist, dass ich eine Führungsvorstellung habe, von sehr viel Freiheit meinen Mitarbeitern zu geben, sehr viel Eigenverantwortung, sehr viel Selbstständigkeit“ (NPO1: 170ff).
Ein sozialwirtschaftliches Unternehmen lebt seine christliche Identität durch entsprechende spirituelle Angebote, in Form einer „virtuellen Kirchengemeinde“ (NPO3: 54), ein anderes nimmt sich vor, diese Identität zu stärken147. Ein Profitunternehmen versucht, Konflikte im Unternehmen stets einvernehmlich und ohne externe Hilfe zu lösen148.
147 148
Vgl. NPO1: 864ff Vgl. PO2: 185ff
7.4 Unternehmenskultur und Führungsgrundsätze
123
7.4.3 Umgang mit Mitarbeitern Am deutlichsten wird die Überleitung der Unternehmenswerte in konkretes Handeln beim Umgang mit den Mitarbeitern. Dabei wurden in den verschiedenen Interviews folgende Komponenten einer ethischen Personalführung genannt149:
Faire Bezahlung150, die sich z.B. durch eine Beteiligung der Mitarbeiter am Unternehmenserfolg zeigt. In den sozialwirtschaftlichen Unternehmen wurde dagegen eher die geringe Entlohnung und starre Tarifgebundenheit beklagt151. Angenehme Arbeitsumgebung152, zu der vor allem gutes Essen, ein Wasserspender, Angebote des Gesundheitsmanagements und eine gute Ausstattung des Arbeitsplatzes gerechnet werden. Dieser Aspekt wurde in den sozialwirtschaftlichen Unternehmen nicht explizit erwähnt. Sinnvolle Arbeit153, die sich durch eine gering ausgeprägte Arbeitsteilung, Teamarbeit, große Eigenverantwortung und Beteiligung an Entwicklungsprozessen ausdrückt. Dieser Aspekt gilt für beide Unternehmensarten. Gute Behandlung der Mitarbeiter154, die sich in der Wertschätzung durch Vorgesetzte, regelmäßiger Information über die Situation des Unternehmens, einem Umgang auf Augenhöhe und Möglichkeiten zur persönlichen Entwicklung zeigt. Auch hier lassen sich keine Unterschiede zwischen Sozial- und Erwerbswirtschaft ausmachen.
Ziel eines guten Umgangs mit Mitarbeitern ist neben der Umsetzung der eigenen ethischen Standards natürlich auch, gute Fachkräfte dauerhaft an das Unternehmen zu binden und für eine geringe Fluktuation zu sorgen. So entsteht eine hohe Identifikation der Mitarbeiter mit dem Unternehmen, die allerdings auch Gefahren birgt: „wenn Sie sich stark mit dem Unternehmen identifizieren, laufen Sie Gefahr auszubrennen“(PO3: 192f). Die Verantwortung für den richtigen Einsatz des Mitarbeiters (fachlich wie persönlich) trägt der Vorgesetzte. Die Loyalität des Mitarbeiters mit dem Unternehmen gilt im günstigsten Fall auch umgekehrt:
149
150 151 152 153 154
Vgl. auch Kap. 7.6. Es handelt sich bei der folgenden Aufzählung wohlgemerkt um die Sichtweise von personalverantwortlichen Führungskräften. Damit ist noch nichts darüber ausgesagt, wie diese Instrumente von den Mitarbeitern wahrgenommen werden. Vgl. PO1: 122; PO2: 672 Vgl. NPO1: 251ff; NPO2: 233f; NPO4: 265ff Vgl. PO1: 121; 286ff PO4: 102ff Vgl. PO1: 122; PO2: 64ff; NPO1: 422ff; 529ff; NPO3: 392 Vgl. PO1: 120, 286ff; PO2: 168ff; PO3: 231ff; 701ff; PO4: 181ff; NPO1: 303ff; 529ff; NPO2: 341ff; NPO3: 43ff; NPO4: 299ff
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7 Instrumente einer sozialwirtschaftlichen Unternehmensethik
„Bei uns können die Menschen in Ehren alt werden (…) wir sind kein Unternehmen, das muss ich ganz deutlich betonen, was so ab 55 anfängt, die Leute rauszudrücken“ (PO2: 735ff, konträr dazu NPO1: 828).
Daraus entstehen dann Modelle, in denen Menschen sogar noch im Ruhestand etwas für das Unternehmen tun, indem sie beispielsweise aktive Mitarbeiter im Rahmen eines „Generationennetzwerkes“ (PO3: 490ff) bei der Kinderbetreuung unterstützen. Die geringe Fluktuation scheint so grundsätzlich für den Bereich der sozialwirtschaftlichen Unternehmen nicht zu gelten: „Wir freuen uns auch, wenn jemand geht, weil er woanders eine bessere Stelle findet, wir haben überhaupt kein Problem damit, ist der gleiche See, in dem wir schwimmen“ (NPO3: 142ff).
Etwas abgeschwächt formuliert es die Führungskraft eines anderen sozialwirtschaftlichen Unternehmens: „Dann muss ich auch mal akzeptieren, dass mal ein guter Mann und eine gute Frau, einfach mal 2,3 Jahre bei einem anderen Träger ist, dann beide Kulturen kennen lernt und dann sagt, entweder er ist da beheimatet oder er kommt bewusst wieder zurück“ (NPO2: 207ff).
Zu den Besonderheiten von sozialwirtschaftlichen Unternehmen wird gezählt, dass alle Mitarbeiter permanent das Bild der Einrichtung nach außen darstellen155, so kommt die Führungskraft eines sozialwirtschaftlichen Unternehmens zu dem Schluss: „Für uns ist das Humankapital wesentlich wichtiger als zum Beispiel für einen Industriebetrieb, der Dinge produziert“ (NPO3: 166f).
Diese Aussage mag stimmen, zu einem dezidiert humaneren Umgang mit den Mitarbeitern führt sie indes nicht. 7.5 Kategorie 5: Instrumente der Führungskräfteentwicklung Eine zentrale Bedeutung kommt bei der ethischen Unternehmensführung den Führungskräften zu. Die Auswahl dieser Menschen, die Analyse ihres Potentials und ihre Qualifizierung für Führungsaufgaben sind wesentliche Merkmale dieser Kategorie.
155
Vgl. NPO2: 446ff
7.5 Kategorie 5: Instrumente der Führungskräfteentwicklung
125
7.5.1 Auswahl und Besetzung Wenig überraschend wird großen Wert auf die Passung der Führungskräfte mit den Unternehmenswerten gelegt: „Das fängt ja bei der Einstellung an. Also es ist saumäßig schwierig, hier hereinzukommen. Ich habe grade meine Mitarbeiterin etwas fragen müssen, da hat sie eine Bewerberin in der Mangel gehabt, und die fragen dann schon: Was für ein Wertesystem haben Sie, wie denken Sie darüber und darüber und darüber, und wie denken Sie über Ihr Elternhaus und was machen Sie im Urlaub, haben Sie einen großen Freundeskreis, was ist Ihnen wichtig im Leben“ (PO1: 128ff).
Auch in sozialwirtschaftlichen Unternehmen geht die Anforderung über die fachspezifischen Kompetenzen deutlich hinaus: „Ich habe Leute, keiner hat nur rein eine Ausbildung zum Sozialarbeiter, sondern es haben alle Zusatzqualifikationen. Und ich würde einen Teufel tun, nur Leute mit einer Ausbildung einzustellen. Ich werde immer gucken, wo hat sich einer zusätzlich qualifiziert, wo sind seine zusätzlichen Sichtweisen. (…) Welche bringt er da ein? Das ist die zusätzliche Sichtweise, und wie eng oder wie breit ist er im Denken, der Weltsicht“ (NPO1: 646ff). „Und das ist auch etwas, was bei meinem Handeln Berücksichtigung findet, auch bei der Auswahl von Führungspersonen. Dass fachliche Defizite eher aufzuholen sind, als charakterliche“ (NPO4: 475ff).
Das Ziel, Mitarbeiter länger an das Unternehmen zu binden, wurde ja bereits herausgearbeitet. Das gilt umso mehr für Führungskräfte, denen Vertrautheit mit den Spielregeln für die eigene Karriere hilft: „Weil man die Leute, wenn man sie als Jugendliche hat, noch prägen kann, weil man sie mit der Kultur vertraut machen kann, weil man sie dann lange kennt, und weil man deren Geschichte kennt. Und weil wir die ausbilden, wir sagen, dann in die obere, sagen wir mal Hauptabteilungsleiterposition kommt man nicht, wenn man nicht mindestens in zwei unterschiedlichen Geschäftsbereichen gearbeitet hat und möglichst im Ausland. Und da haben wir natürlich die Außensicht auf [UNTERNEHMEN], wir haben einen zweiten Geschäftsführer, damit es nicht so einen Kaminaufstieg gibt, die Leute sind dann bereit, kennen die [UNTERNEHMEN]gruppe, kennen unser Wertesystem und das funktioniert dann. Ansonsten ist die Chance, als Quereinsteiger erfolgreich bei [UNTERNEHMEN] zu sein, kleiner als 50%. Weil man das Netzwerk nicht kennt, die Spielregeln vielleicht nicht, vielleicht das dann auch ändern will, weil man dann neu ist, und der interne Organismus das dann abwehrt, das Immunsystem, das Organisationale, dann anfängt, Fieber zu kriegen und dann wird es für die Kandidaten schwer“ (PO1: 204ff, ähnlich in NPO1: 345ff).
126
7 Instrumente einer sozialwirtschaftlichen Unternehmensethik
Wahrscheinlich werden deswegen in vielen Unternehmen Führungspositionen bevorzugt intern besetzt156. 7.5.2 Potentialanalysen Folglich gibt es differenzierte und systematische Methoden, das Potential der Mitarbeiter für zukünftige Führungsaufgaben zu eruieren. Dabei zählen nicht nur die Ergebnisse, sondern vor allem das Verhalten. In Profitunternehmen beurteilt in der Regel der Vorgesetzte alle seine Mitarbeiter, aus denen dann die „Potentials“ herausgefiltert und vor einem größeren Gremium verteidigt werden müssen (PO1: 167ff; PO2: 303ff; PO4: 50ff). Diese werden geschult oder bekommen gezielt Aufgaben, um sich zu bewähren. Ein ähnliches, etwas weniger systematisiertes Verfahren gibt es neuerdings auch in sozialwirtschaftlichen Unternehmen bzw. es befindet sich zumindest in der Entwicklung (NPO1: 154ff; NPO2: 177ff; NPO3: 187ff; NPO4: 208ff). Besonders interessant ist dabei das Konzept eines sozialwirtschaftlichen Unternehmens: „Wir stellen fest, dass es zu wenige Personen gibt, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen in sozialen Einrichtungen. Ja. Und wenn wir Leute haben, wir oft auch zu dem entsprechenden Zeitpunkt keine Möglichkeit haben, ihm einen Job anzubieten, der jetzt ihm passt. Ja. Auch seiner privaten Situation entspricht, der Geografie entspricht, etc., und von daher gibt es jetzt hier so einen Zusammenschluss von verschiedenen […] Trägern, es sind, glaube ich, 6 oder 7 große Träger […], die sagen, wir machen hier gemeinsam einen Pool von Führungskräften, von potentiellen Leuten, die wir versuchen, gemeinsam zu schulen, fortzubilden, für Führung fit zu machen und sind dann aber, sind dann froh, wenn die in dem Pool von diesen 7 Stiftungen bleiben. Ja. Wir haben alle die gleiche Ausrichtung, sind froh, wenn die in diesem Kreis bleiben und nicht weiter nach draußen gehen, sondern über die [UNTERNEHMEN] hinaus, weil, sagen wir jetzt mal, die Anzahl der Führungskräfte da begrenzt ist, ja, gleichzeitig, wenn man einen braucht, findet man niemanden. Das ist so die Situation“ (NPO2: 180ff).
7.5.3 Führungskräfteentwicklung Auffallend ist, das spezielle Seminare für Führungskräfte in Profitunternehmen vor allem unternehmensintern angeboten werden157. Diese sind entweder konkret auf die Bedürfnisse der Personen zugeschnitten oder für alle Mitarbeiter offen158. Führungskräfte aus sozialwirtschaftlichen Unternehmen mussten sich dagegen 156 157 158
PO1: 204ff; PO2: 298ff; PO4: 400ff; NPO2: 165ff; abgeschwächt in NPO4: 162ff Vgl. PO3: 154ff, PO4: 82ff Vgl. PO4: 82ff, PO3: 65ff
7.6 Instrumente der Human Relations
127
bislang meist außerhalb des Unternehmens orientieren und ihre Weiterbildung erfolgte eher auf eigene Initiative: „Also, wir hatten da jetzt innerhalb der [UNTERNEHMEN] keine Qualifikationsmöglichkeiten. Ich sage mal so. (…). Die ersten 5 Jahre habe ich nur gearbeitet. Da habe ich keinen Tag Fortbildung gemacht, gar nichts. Sondern da war ich voll absorbiert, von dem, was ich da gemacht habe. Nach 5 Jahren habe ich mal eine Psychodramafortbildung gemacht plus eine erlebnispädagogische Fortbildung. Danach habe ich gedacht, das kann es alles nicht sein. Ich brauche eine Zusatzausbildung. Und habe dann selber, auf eigene Initiative – da hat mich keiner irgendwie unterstützt – eine Ausbildung begonnen“ (NPO1: 49ff, siehe auch NPO2: 49ff; NPO4: 45ff).
Das wird nun durch neue Programme geändert, die den gezielten Aufbau von Führungskräften fördern und neben Ausbildung in Moderation oder Konfliktberatung auch Hospitationen und Einblick in regionale und überregionale Gremienstrukturen beinhalten159. Zur Weiterentwicklung von Führungskräften dient Feedback. Dieses kann entweder durch direktes Feedback, moderierte Gespräche mit Teams oder Mitarbeiterbefragungen erfolgen, die speziell zu Führungsthemen ausgewertet werden160. Mit den Führungskräften wird die Kritik aus diesen Befragungen besprochen und fließt sodann in gezielte Entwicklungsmaßnahmen ein. Solche Formen des Feedbacks werden in sozial- wie erwerbswirtschaftlichen Unternehmen gleichermaßen verwendet. 7.6 Instrumente der Human Relations Ein wesentliches Instrument der Personalarbeit ist das regelmäßige Mitarbeitergespräch, in dem Ziele vereinbart werden, aber auch die Zufriedenheit von Mitarbeitern erfragt wird. So kann dieses Gespräch auch zu einem wichtigen Ort für Kritik innerhalb des Unternehmens werden. Ein weiterer Gesichtspunkt einer ethischen Unternehmensführung sind die Anreize für Mitarbeiter. Anknüpfend an die Ausführungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sollen zudem die verschiedenen Arbeitszeitmodelle untersucht werden.
159 160
Vgl. NPO1: 850ff, 345ff; NPO3: 94; NPO4: 208ff Vgl. PO1: 151ff; PO2: 425ff; PO3: 154ff; PO4: 191ff; NPO3: 187ff; NPO4: 246ff
128
7 Instrumente einer sozialwirtschaftlichen Unternehmensethik
7.6.1 Mitarbeitergespräch Jährliche Mitarbeitergespräche gibt es in allen befragten Unternehmen161. Sie enthalten meist die Auswertung des vergangenen Jahres, einen Blick auf die persönliche Situation und Zufriedenheit sowie die Zielformulierungen für die nächste Auswertungsperiode. In Profitunternehmen kommt evtl. noch eine Leistungsbeurteilung und Gehaltsvereinbarung hinzu162. Die Organisationsziele fließen mit ein und werden für den einzelnen Mitarbeiter heruntergebrochen, dabei lässt der Mitarbeiter seine eigenen Zielformulierungen mit einfließen. Die Organisationsziele werden in unterschiedliche Zieldimensionen eingeteilt, wobei langfristige, strategische Ziele eine große Bedeutung haben163. Auch in die Entwicklung der Organisationsziele werden in einem Unternehmen Mitarbeiterinteressen systematisch einbezogen164. Kritik kann und soll vor allem im Mitarbeitergespräch geäußert werden, aber es gibt in manchen Unternehmen auch andere Instrumente: „Und ein Beschwerdeprinzip heißt dann immer, wenn der Mitarbeiter mit seinem Bereichsleiter nicht einverstanden ist, dann geht er zum Abteilungsleiter. Wenn er mit dem auch nicht einverstanden ist, dann geht er zum Vorstand. Also, es gibt immer so ein klar geordnetes Verfahren“ (NPO1: 807ff). „Der Vorsitzende der Geschäftsführung, der geht auch mal durchs Werk und gibt den Werkern auch mal die Hand und wenn dann einer sagt, ja, das und das gefällt mir hier aber nicht, dann sagt er o.k., müssen wir jetzt da was machen oder nicht. Also wir versuchen schon, das Ohr an den Mitarbeitern zu haben“ (PO4: 295). „Ja gut, es gibt die verschiedenen Plattformen der Kommunikation, – das sind jetzt Leitungsrunden, das sind Klausurtage, – wo jeder die Möglichkeit hat, seine Themen mit einzubringen. Ja. Zu sagen: Das und das steht an. Und dann kommt es einfach darauf an, wie man diese Kritik oder diese Verbesserungsvorschläge aufnimmt, wahrnimmt und welche Freiräume man dem Mitarbeiter auch gibt, sich zu entwickeln und ihre Vorstellungen zu entwickeln“ (NPO2: 279ff.)
Neben diesen Formen, in denen der Mitarbeiter aktiv Kritik ansprechen muss, werden in manchen Unternehmen auch regelmäßige Mitarbeiterbefragungen
161
162 163 164
Vgl. PO1: 151ff; PO2: 220f; PO3: 312f; PO4: 173ff; NPO1: 192f; NPO2: 242ff; NPO3: 81f; NPO4: 236 Vgl. PO2: 220ff; PO3: 312ff Vgl. NPO3: 252f; PO1: 223ff Vgl. PO1: 223ff
7.6 Instrumente der Human Relations
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durchgeführt165. Ein Unternehmen hat zudem ein anonymisiertes schriftliches Beschwerde- und Vorschlagsverfahren installiert166. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich das Instrument Mitarbeitergespräch zur Zielvereinbarung und Personalentwicklung in allen Unternehmen durchgesetzt hat. Die konkrete Ausgestaltung unterscheidet sich nur geringfügig. Auch in sozialwirtschaftlichen Unternehmen werden strategische Ziele formuliert und Mitarbeiterbefragungen durchgeführt, so dass sich auch hier nur unwesentliche Unterschiede zur Erwerbswirtschaft belegen lassen. 7.6.2 Anreize Alle befragten Profit-Unternehmen halten eine erfolgsabhängige Prämie nur für einen schwachen Motivationsanreiz für ihre Mitarbeiter, dennoch gibt es mehr oder weniger hohe Erfolgsbeteiligungen167. Gemäß der Unterscheidung von Herzberg in Hygienefaktoren und Motivatoren168 werden als Motivatoren in den Profit-Unternehmen genannt:
Sinnvolle, interessante Tätigkeit Freiheit Entscheidungsspielräume Anerkennung Persönliche Weiterentwicklung durch interne Vortrags- und Fortbildungsveranstaltungen, spannende Projekte Vereinbarkeit von Familie und Beruf Arbeitsplatzsicherheit Altersversorgung und andere betriebliche Sparmodelle Stolz, in einem erfolgreichen Unternehmen arbeiten zu können
In sozialwirtschaftlichen Unternehmen werden per definitionem Überschüsse nicht ausgeschüttet169. Der Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TvÖD), an dem sich auch die meisten freien Träger orientieren, bietet zudem wenig Spielraum für eine Erfolgsbeteiligung. Die Problematik, die damit zusammenhängt, wird folgendermaßen zugespitzt: „Ich lehne den TvöD abgrundtief ab, sage ich jetzt mal. Das klingt jetzt so hart, das abgrundtief, ich will es aber nett formulieren, das ist wieder so eine ligth-Währung. 165 166 167 168 169
Vgl. PO1: 151ff; PO2: 425ff; PO4: 287ff; NPO3: 187ff; NPO4: 246f Vgl. PO1: 414ff Vgl. PO1: 262ff; PO2: 599ff; PO3: 350ff; PO4: 148ff Vgl. z.B. PO3: 350ff vgl. Kap 3.3.1.
130
7 Instrumente einer sozialwirtschaftlichen Unternehmensethik
Aber dieses, dass alle das Gleiche kriegen, das kann ich manchmal nicht nachvollziehen. Weil ich habe wirklich Leute, das tut mir in der Seele leid, denen würde ich gerne mehr bezahlen. Weil ich sage, solche Mitarbeiter brauche ich. Und die sollen auch mehr kriegen, weil die machen auch mehr“ (NPO1: 250ff).
Doch Motivatoren gibt es auch in sozialwirtschaftlichen Unternehmen. Genannt wurden:
Besuch von Tagungen und Fortbildungen Spannende Tätigkeiten im Unternehmen Wertschätzung Teamarbeit Erfüllung eigener Ziele Entscheidungsfreiheit Work-Life-Balance, flexible Arbeitszeiten / Heimarbeit Sondergratifikationen
Obwohl in sozialwirtschaftlichen Unternehmen die Vergütung als Anreiz fehlt, werden doch fast identische Motivatoren wie in der Profitwirtschaft eingesetzt. Dennoch bleibt ein wesentlicher Unterschied bestehen: die vergleichsweise niedrige und gleiche Bezahlung der Mitarbeiter in der Sozialwirtschaft, an der die Führungskraft allerdings kaum etwas ändern kann. 7.6.3 Arbeitszeit Vielfach angesprochen wurde bisher die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, weiter gefasst als Work-Life-Balance. Insofern lohnt sich ein Blick auf den unterschiedlichen Umgang mit flexiblen Arbeitszeitmodellen. Die weitest gehende Flexibilisierung steht in Kürze in einem Profitunternehmen an: „Jetzt haben wir ein großes Programm vor, wo wir sagen, wir machen lebensphasenorientierte Arbeitszeitmodelle und das bedeutet, dass jeder Mitarbeiter im Zweijahres-Rhythmus festlegen kann, wie seine Arbeitszeit sein soll. 30 Stunden, 25 Stunden, 40 Stunden, 35 ist bei uns ja normal, und dann kann man hoch, und man kann runter. Und nach zwei Jahren sagt man, jetzt möchte ich wieder voll, oder ich möchte so bleiben, und das führt dazu, die jungen Leute hauen dann rein und die Mütter vielleicht weniger, die Erziehungsväter, also die modernen Väter, die sind dann vielleicht eher mal im ersten halben Jahr, machen die mal ein bisschen weniger, dann, wenn die Frau mit dem Kind zu Hause ist, damit sie auch was vom Baby haben, der ältere Mitarbeiter sagt, mir reicht eine Vier-Tage-Woche, und das legt man so fest und erlaubt den Mitarbeitern, dass sie einen Teil der erarbeiteten Arbeitszeit in einem Konto parken für später. Also für Pflege, für Bildung, für Erziehung, für Weiterbildung“ (PO1: 345ff).
7.7 Kategorie 7: Führungsverständnis
131
Auch die anderen Profitunternehmen arbeiten mit flexiblen Arbeitszeitmodellen, zum Beispiel mit großzügigen Gleitsalden, individuellen Regelungen oder ganz ohne Arbeitszeiterfassung170. Ein solches Vertrauensarbeitszeitmodell nutzt auch eines der sozialwirtschaftlichen Unternehmen: „Bei uns gibt es keine Überstunden, [die] Führungskraft kann kommen und gehen, wann sie will. Sie muss bloß ihre Aufgabe gemacht haben. Aber es gibt hier keine Arbeitszeitzettel, nichts“ (NPO2:326ff).
Das sieht in einem anderen sozialwirtschaftlichen Unternehmen völlig anders aus: „Bei der Arbeitszeit sind wir recht präzise, ja, teils auch bei leitenden Mitarbeiterinnen sehen wir drauf, dass die sich an ihre 39-Stunden-Woche halten. Gleich zu Beginn [habe ich] selbst zu führende Arbeitszeitblätter eingeführt. Nicht als Kontrolle, sondern als Selbstkontrolle, und die werden am Monatsende der jeweiligen Vorgesetzten zur Abzeichnung vorgelegt und wenn ich bei einer Mitarbeiterin merke, über längere Zeit, dass die mit ihren 39 Stunden nicht klarkommt, dann lade ich sie zu einem Gespräch ein und wir strukturieren dann so um, dass sie mit ihren 39 Stunden, im Prinzip, das klappt nicht in jeder Woche, aber im Prinzip mit ihren 39 Stunden klar kommt“ (NPO3 62ff).
Bei den Arbeitszeitregelungen ergeben sich große Differenzen zwischen den befragten Unternehmen. Ein Zusammenhang mit dem Unternehmenszweck lässt sich nicht herleiten, eher schon mit den Unternehmenswerten, die auch in einem Fall explizit als Auslöser für einen neues Arbeitszeitmodell genannt werden. 7.7 Kategorie 7: Führungsverständnis Das Konzept der „dienenden Führungskraft“ wurde bereits kurz skizziert171. In den Experteninterviews wurden die Führungskräfte zu ihrer Haltung zu diesem Bild befragt. Das zweite Merkmal des Führungsverständnisses sind die Eigenschaften, die nach Meinung der Führungskräfte nötig sind, um ein Unternehmen verantwortlich zu führen.
170 171
Vgl. PO2: 1048ff; PO4: 524ff; PO3: 278 Vgl. Kap. 4.1.3.
132
7 Instrumente einer sozialwirtschaftlichen Unternehmensethik
7.7.1 Dienende Führungskraft? Die befragten Führungskräfte antworteten in einer großen Bandbreite darauf, ob das Bild der dienenden Führungskraft ihnen einleuchtet172: I: Ein geflügeltes Wort sagt: Führen heißt dienen. Würden Sie das auch so sehen? „Ja “ (PO1: 444); „Das sehe ich ganz genauso“ (PO4: 357); „Ja, 100 Prozent“ (NPO2: 556); „Führen ist Dienen. Ja“ (NPO4: 448f). „Das würde ich ein Stückweit, das würde ich ein Stückweit auch so sehen, ja“ (PO2: 784). „Das Dienen gefällt mir deswegen nicht so gut, weil es ein bisschen etwas Devotes für mich auch ausdrückt. Das Unterstützen, finde ich, angemessener“ (PO3: 599ff). „Nö. (…) Das ist Kosmetik. Wir dienen alle einer höheren Sache, ja, einem höheren Ziel. Aber die einen tun’s mit Dienstwagen, und die anderen tun’s damit, dass sie 7,8 Stunden am Tag körperlich rumrennen müssen, um rumzukommen. Und das ist so stark unterschiedlich, dass das nicht unter den gemeinsamen Begriff Dienen gehört“ (NPO3: 444ff).
Interessant ist, dass die Interviewpartner aus Profitunternehmen zum Teil eine eigene Übersetzung des Begriffes „dienen“ nachgeschoben haben, zum Beispiel „sich einer Sache zur Verfügung stellen“ (PO1: 449), „Beratung“ (PO2: 791) oder „Unterstützung“ (PO3: 601). Sofern sie das Bild der dienenden Führungskraft akzeptieren, dienen die personalverantwortlichen Führungskräfte vor allem ihren Mitarbeitern und ihrem Unternehmen, zum Teil auch den Kunden oder Klienten. Eine Führungskraft zieht den Kreis allerdings weiter: „Und wir sehen aber auch, dass wir als Unternehmen eben auch, dass die Verantwortung nicht an der Grenze des Unternehmens aufhört, sondern wir übernehmen bewusst Verantwortung für Dinge außerhalb. Und dienen auch dort“ (PO4: 371ff).
Eine Führungskraft aus einem sozialwirtschaftlichen Unternehmen definiert den Begriff dezidiert mit christlicher Perspektive: „Führen heißt Dienen. Also auch da nehme ich persönlich aus dem Glauben das heraus, und da ist eigentlich der Mensch Jesus ein Vorbild, also er war ein Führer, wie er seine Jünger geführt hat, und jetzt haben wir es ja an Ostern gehabt, wie er ihnen die Füße gewaschen hat, wie er zu den Kindern, zu den Armen, zu den Aussätzigen, oder sonst was, gegangen ist, er war eigentlich das Vorbild für Dienen, aber gleichzeitig auch Vorbild für Führen“ (NPO4:441ff). 172
Im Interview NPO1 wurde die Frage nicht gestellt.
7.7 Kategorie 7: Führungsverständnis
133
7.7.2 Eigenschaften Die Eigenschaften, die eine Führungskraft benötigt, um verantwortlich führen zu könne, fallen höchst unterschiedlich aus und sollen hier im Originalton wiedergegeben werden: „Man muss schon Menschenfreund sein.(…) man muss gerne mit Menschen zu tun haben, man muss auch akzeptieren, dass Menschen Schwächen haben, dass sie nicht vollkommen sind, weil man selbst auch nicht vollkommen ist, man weiß das von sich ganz genau, dass man das nicht ist, man muss eine gewisse Souveränität haben, und vergebungsbereit sein, und sehen dass der andere, so wie bei uns in der Firma, das ja nicht bösartig macht, sondern dass er das halt aus Vergesslichkeit, aus Fehlerhaftigkeit oder sonst irgendwie macht“ (PO1: 462ff).
Das hier in einem Profitunternehmen geäußerte Anforderungsprofil findet sich ganz ähnlich auch in einem sozialwirtschaftlichen Unternehmen: „Eine klare, eindeutige Haltung und zwar er braucht eine Haltung zum Menschen. Er braucht eine positive Haltung, er braucht ein Weltbild, wo auch christlich geprägt ist, sage ich jetzt mal, für uns. Also, er braucht ein klares Bekenntnis dazu und nicht nur ein Bekenntnis sondern man muss es auch merken in seinen eigenen Haltungen, wie er damit umgeht. Das ist das Wichtigste. D.h., das prägt natürlich auch, wie man mit Mitarbeitern umgeht. D.h., ich sehe im Mitarbeiter jetzt nicht meinen Knecht, der da reinkommt, sondern so wie es in unserem Leitbild auch steht, ein Ebenbild Gottes und der auch ein Mensch ist, der, so wie er ist, auch sein darf“ (NPO1: 891ff).
Die Orientierung an den Mitarbeitern ist auch für andere Gesprächspartner zentral: „Deshalb ist aus unserer Sicht das Thema Leadership eine angemessene Führung von Mitarbeitern, die den Mitarbeiter nicht nur als Objekt sieht, sondern auch als Subjekt sieht, das ist extrem wichtig“ (PO4: 461). „Zuhören und Mitarbeiter mitnehmen in den Prozess. Ich kann das nie alleine machen, sondern nur gemeinsam im Team und das heißt, ich muss die Leute, jeden einzelnen Mitarbeiter, mitnehmen. Nur dann bin ich erfolgreich“ (NPO2: 613).
Darüber hinaus müssen besonders Führungskräfte einen Blick haben, der über die Tagesaufgaben hinausgeht: „Empathie ist wichtig. Strukturiert denken zu können ist wichtig. Das sich Losmachen von Alltags-Scheiß-Geschäft, das einen daran hindert, den eigentlichen Aufgaben nachzugehen, sich klar sein über die persönlichen Motive“ (NPO3: 495).
134
7 Instrumente einer sozialwirtschaftlichen Unternehmensethik
„Erst mal muss ich den Blick nach draußen haben, den ins Umfeld. Ich muss als Bereichsverantwortlicher, wenn ich mal in dem Sektor spreche, kucken, was tut sich drum rum, welche Anforderungen kommen auf uns zu“ (PO2: 972).
Und auch Fachkompetenz ist wichtig173. Interessant ist, dass die Profitunternehmen einhellig der Meinung sind, dass es für die Führungskraft wichtig ist, eine gewisse Fachlichkeit in dem Tätigkeitsbereich ihrer Mitarbeiter zu haben174, während das in den Interviews mit sozialwirtschaftlichen Unternehmen nur einmal genannt wird175. Im Gegenteil: „Aber Sie müssen auch bereit sein als Führungskraft Aufgabenbereiche zu delegieren und abzugeben klar sagen: Ich bin keine Pflegefachkraft, ich bin keine Hauswirtschaftsmeisterin, ich kann nicht kochen, das kann ich nicht, ich kann etwas anderes“ (NPO2: 316).
Zusammenfassend lassen sich individuelle Unterschiede im Führungsverständnis der befragten Führungskräfte erkennen, die allerdings nicht an der Trennungslinie Sozialwirtschaft – Erwerbswirtschaft festzumachen sind. Vielmehr lassen sich große Übereinstimmungen im Verständnis einzelner Führungskräfte aus beiden Bereichen erkennen. 7.8 Kategorie 8: Verantwortungsverständnis Das Verantwortungsverständnis der befragten Führungskräfte ist individuell geprägt und hängt von den Rahmenbedingungen ihrer jeweiligen Aufgabe ab, zum Teil auch von biografischen Erfahrungen. Nicht von allen Führungskräften wird Verantwortung so positiv bewertet wie in dieser Aussage: „Verantwortung ist positiv, immer. Wenn man für was verantwortlich ist, ist das schön, wenn man für nichts verantwortlich ist, lebt man nicht so“ (PO1: 439f).
Die überwiegende Zahl der Gesprächspartner betont vielmehr das Spannungsfeld zwischen Verantwortung und Entscheidungsfreiheit bzw. Macht, zum Beispiel: „[Verantwortung] ist die aktive Möglichkeit, mit zu gestalten. Es ist die aktive Möglichkeit, mit zu gestalten und je mehr Gestaltungsspielraum sie haben, desto mehr Verantwortung haben Sie auch“ (NPO2: 526).
173 174 175
Vgl. PO3: 635; NPO4: 470ff vgl. Kap. 7.5.1 Vgl. NPO1: 351ff
7.8 Kategorie 8: Verantwortungsverständnis
135
„Als [POSITION] habe ich Macht. Ich kann mit Unterschrift Leute feuern. (.) Als [POSITION] habe ich Verantwortung. Ich habe Verantwortung dem gegenüber, der etwas geklaut hat. (.) Ich habe aber auch Verantwortung denen gegenüber, denen er etwas geklaut hat“ (PO3: 603ff). „Wir als [POSITION] in [UNTERNEHMEN], haben eine relativ hohe Freiheit. Und auch eine relativ hohe Verantwortung. Also, ich würde mal sagen, ich verwalte oder verantworte eben diese 150 Menschen, die natürlich ihre eigenen Schicksale haben und ich habe, ich meine, das ist eine sehr hohe Verantwortung, die ich da habe. Weil die Menschen haben ja Familien, haben Scheidungen oder haben Häuser gebaut, oder Kinder in Ausbildung, ist auch Wurst, die brauchen ihren Job. Dafür bin ich mit verantwortlich“ (NPO1: 476ff).
Sowohl in Profit-, als auch in sozialwirtschaftlichen Unternehmen wird die Verantwortung den Menschen gegenüber betont. Das heißt auch, als Führungskraft Verantwortung für Fehler der nachgeordneten Mitarbeiter zu übernehmen: „Je weiter Sie nach oben kommen in der Organisation, desto mehr Verantwortung haben Sie natürlich für die Menschen, die Ihnen anvertraut sind, für die Entscheidungen, die zu treffen sind, für die Prozesse, die Ihnen anvertraut sind, und man muss sich dessen bewusst sein, dass man die Verantwortung hat, man kann sie aber nicht alleine tragen, sondern man muss die richtigen Menschen auswählen, man muss die Menschen richtig führen, damit sie auch die Teilverantwortung übernehmen können, empowerment ist das Stichwort dort, es ist ganz wichtig, dass sie die Mitarbeiter entsprechend beteiligen und sie dürfen als Führungskraft die Menschen mit ihren Fehlern nachher nicht alleine lassen“ (PO4: 319ff).
Eine Führungskraft in einem sozialwirtschaftlichen Unternehmen betont die Grenzen der persönlichen Verantwortung: „Ich seh´ das unter der Überschrift: Herausforderung. Ich bin gedanklich sehr viel damit befasst, wo wir vermutlich in 10 oder in 20 Jahren stehen und versuche dann, das was heute sinnvoll ist, an Weichenstellung darauf hin vorzunehmen und wenn mir das gelingt, dann geht es mir richtig gut. Und Verantwortung, das weiß ich sowieso, die kann ich nicht, soll ich die übernehmen, die hab ich nicht, das macht keinen Sinn, in der Kategorie zu denken. Ich bin zuständig für bestimmte Weichenstellungen und wenn ich die falsch stelle, dann habe ich was vernichtet und das ist sehr schwierig und ich bin zum Beispiel nicht in der Lage, die Folgen davon zu tragen. Das kann ich bei [BILANZSUMME] nicht, da passt dann auch mein Gehalt nicht dazu“ (NPO3: 306ff).
Bei der Übernahme von Verantwortung kann auch der persönliche Glauben helfen:
136
7 Instrumente einer sozialwirtschaftlichen Unternehmensethik
„Und mir persönlich hilft da der Glaube, das muss ich auch dazu sagen, dass ich sozusagen nicht die letzte Verantwortung habe. Ich habe immer noch jemanden, dem ich die Verantwortung weiter geben kann, oder wo ich Zuspruch, Hoffnung nehmen kann, oder so etwas. Kraft schöpfen kann. Und denke aber, dass Verantwortung eines der wichtigsten Themen von Führung ist“ (NPO4: 426ff).
Delegation von Verantwortung ist ein Weg, mit den Grenzen der persönlichen Verantwortungsübernahme umzugehen176. Das Verantwortungsverständnis von Führungskräften unterscheidet sich. Individuelle Meinungen und unternehmerische Rahmenbedingungen prägen die Vielfalt der Ausprägungen dieser Kategorie. Dennoch sind eher Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen sozialwirtschaftlichen und erwerbswirtschaftlichen Unternehmen zu erkennen, zum Beispiel bei der Orientierung an der Situation der Mitarbeiter und beim Prinzip der Delegation. Die besondere Verantwortung eines sozialwirtschaftlichen Unternehmens zeigt sich an einer anderen Stelle: „Wir haben jetzt hier im Haus zwei Bewohner, die sind von ihren Angehörigen hier abgegeben worden, und die zahlen nicht. So. In jedem normalen Betrieb würden sie sagen, die schmeiß ich raus, und zwar eher heut wie morgen. Ja. Und denen kündigt man, die bleiben aber da. Ja. Die bleiben da. So – und wenn Sie jetzt sagen, jetzt schmeißen wir die auf die Straße, oder nützen die Chance, wenn die mal im Krankenhaus sind, und lassen die nicht mehr rein zur Türe, ja, wie das in jedem Laden wäre, wenn ich sage, der hat eine so hohe Zeche, der zahlt nicht, der bekommt nichts mehr zum Trinken, ja, nein, dann würden wir sofort in der Presse stehen. Unsozial, wie kann man, pi, pa, po. Und nur diese eine Seite zu sagen, ja gut, aber wir müssen doch auch betriebswirtschaftlich agieren. Ja. Wir müssen doch auch sehen, dass unsere Kosten, unsere Mitarbeiter bezahlt werden. Das wird nicht gesehen“ (NPO2: 475ff).
7.9 Zusammenfassung Die Experteninterviews mit Führungskräften aus sozial- und erwerbswirtschaftlichen Unternehmen ergaben mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede in der ethischen Orientierung der befragten Unternehmen. Der theoretische Bezugsrahmen der Integren Unternehmensführung erwies sich zudem als hilfreich für die Systematisierung der Daten. Zu den wesentlichen Gemeinsamkeiten der befragten Unternehmen gehören:
176
Führen mit Zielen („Management by Objectives“), die in einem regelmäßigen Mitarbeitergespräch zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter vereinbart werden, ist Konsens in allen Unternehmungen. Es dient der Entwicklung Vgl. PO2: 878f; PO4: 319ff; NPO2: 286ff
7.9 Zusammenfassung
137
und Beurteilung der Mitarbeiter, aber auch dem Feedback an den Vorgesetzten. Alle Unternehmen arbeiten auf der Grundlage von mehr oder weniger ausgeprägten Unternehmenswerten und Führungsgrundsätze, die auch in den Führungsinstrumenten sichtbar werden. Obwohl diese Kodizes als langfristige Orientierung verstanden werden, hat sich doch gezeigt, dass sie auch konkrete Instrumente, wie zum Beispiel die Arbeitszeitregelungen beeinflussen können. Transparenz und Beteiligung sind wesentliche Kriterien der Personalführung in allen Unternehmen. Damit ist ein zentrales Prinzip des Stakeholderdialogs erfüllt (vgl. Maak / Ulrich 2007: 197), wobei dieser in den Interviews nur für die Gruppe der Mitarbeiter erhoben wurde. Alle Unternehmen arbeiten mit einem Menschenbild, das ihre Mitarbeiter als das höchste Gut begreift. Daraus folgt eine Sichtweise, die Menschen als Subjekte mit Stärken und Schwächen und nicht als Ressource oder Kostenfaktor versteht. Dieses Menschenbild entspricht dem von Maak / Ulrich favorisierten „Humanorientierten Beziehungsansatz“, der „Mitarbeitende als Subjekte, als physisch und psychisch verletzliche menschliche Wesen mit legitimen Interessen und Bedürfnissen“ versteht (2007: 415). In den meisten Interviews wurde deutlich, dass das Prinzip der Delegation Anwendung findet, d.h. Mitarbeitern werden nach Möglichkeit Entscheidungsspielräume zugestanden177. Die Führungskräfte äußerten durchweg eine große Offenheit für Kritik und Entwicklungsvorschläge der Mitarbeiter. Häufig wurde die „offene Tür“ der Führungskraft als „Instrument“ genannt, hinzu kommen strukturierte Verfahren in einigen Unternehmen. Alle Unternehmen legen besonderen Wert auf intrinsische Motivationsanreize wie sinnvolle Tätigkeiten, Entwicklungsmöglichkeiten, Anerkennung bzw. Wertschätzung und größtmögliche Entscheidungsfreiheit.
Es konnten jedoch auch einige Unterschiede zwischen der Führungsrealität in der Sozial- und der Erwerbswirtschaft herausgearbeitet werden:
177
Sozialwirtschaftliche Unternehmen beginnen erst langsam mit einer gezielten und systematischen Führungskräfteentwicklung. Dazu gehören eine Potentialanalyse und entsprechende Fortbildungsprogramme, die es in allen erwerbswirtschaftlichen Unternehmen bereits gibt. Da es trotz der relativen Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 4.1.1, insb. die Aussage, dass „Wertschätzung, Respekt und Anerkennung von Mitarbeitern nur über deren Einbindung in Führungsprozesse möglich [sind]“ (Rausch / Schwendemann 2010: 285)
138
7 Instrumente einer sozialwirtschaftlichen Unternehmensethik
Größe der befragten sozialwirtschaftlichen Unternehmen nur begrenzte Führungspositionen gibt, erscheint die Idee erfolgsversprechend, dass sich Unternehmen mit ähnlicher Ausrichtung bei der Führungskräfteentwicklung zusammentun und ihre Durchlässigkeit erhöhen178. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass die Führungskräfte aus den sozialwirtschaftlichen Unternehmen ihre Qualifizierung auf eigene Initiative und eher extern absolvieren, während es in den Profitunternehmen umfangreiche interne Fort- und Weiterbildungsreihen gibt. Auch in diesem Bereich ziehen die sozialwirtschaftlichen Unternehmen allerdings inzwischen nach. Bei allen befragten Profitunternehmen ist es von großem Interesse, die Mitarbeiter dauerhaft an das Unternehmen zu binden. Dazu werden unterschiedliche Instrumente eingesetzt. Dieses Interesse scheint bei sozialwirtschaftlichen Unternehmen weniger stark ausgeprägt zu sein. Als Begründung dafür wurde in zwei Gesprächen die Arbeit an derselben Sache genannt, der der Arbeitnehmer ja erhalten bleibt. Damit wird – positiv betrachtet – so etwas wie Solidarität unter den sozial-wirtschaftlichen Unternehmen erkennbar. Etwas skeptischer ausgedrückt: Hier wird einmal mehr deutlich, dass es nach wie vor selten systematische Personalentwicklungskonzepte gibt, die Arbeitnehmern langfristige Perspektiven eröffnen. Sozialwirtschaftliche Unternehmen reklamieren für sich, sich auch dort zu engagieren, wo das Engagement entweder keinen Nutzen bringt oder der ökonomischen Vernunft sogar wiederspricht179. Dieses Primat der Ethik, verbunden mit dem Einsatz für die eigenen Klienten, ist in dieser Klarheit in den Profitunternehmen nicht zu finden.
Aus dem demografischen Wandel und dem damit zusammenhängenden Fachkräftemangel ergeben sich in allen Branchen gemeinsame unternehmens-ethische Herausforderungen, die wesentlich den gesellschaftspolitischen Rahmen tangieren:
178 179
Arbeitnehmer setzen immer stärker auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Unternehmen unterstützen diese mit flexiblen Arbeitszeitmodellen oder einer gut organisierten Kinderbetreuung. Die befragten Profitunternehmen haben den Bedarf längst erkannt und entwickeln entsprechende Instrumente. Auch die sozialwirtschaftlichen Unternehmen sind sich der Problematik bewusst. Hier könnten Chancen für gemeinsame Projekte liegen.
vgl. NPO2: 177ff vgl. NPO3: 26ff; NPO2: 455ff
7.9 Zusammenfassung
180
139
Es ist sicher eine gesellschaftliche Aufgabe dafür zu sorgen, dass ältere Arbeitnehmer bis 67 Jahren180 sinnvolle und würdevolle Tätigkeiten finden. Das heißt aber auch, dass sich alle Unternehmen darüber Gedanken machen müssen, welche konkreten Stärken und Fähigkeiten besonders ältere Arbeitnehmer einbringen können und wie entsprechende Arbeitsplätze zu gestalten sind.
In einem Bericht des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wird sogar ein Renteneintrittsalter von 69 Jahren gefordert. Vgl. http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/demografischer-wandel-2011.html [22.05.2011].
Schlussfolgerungen und Ausblick
8 Impulse für die Sozialwirtschaft
Die vorliegende Untersuchung hat den Anspruch, Ansätze der Wirtschafts- und Unternehmensethik sowie Instrumente der ethischen Unternehmensführung in der Profitwirtschaft für sozialwirtschaftliche Unternehmen nutzbar zu machen. Der Analyse der theoretischen Konzepte und der Auswertung der Interviews mit Führungskräften aus sozial- und erwerbswirtschaftlichen Unternehmen lag dabei folgende Hypothese zugrunde181: Die verantwortliche Führung in der Sozialwirtschaft unterscheidet sich grundlegend vom Management einer Profitorganisation. Sozialwirtschaftliche Unternehmen benötigen daher spezifische Instrumente und Prinzipien der Unternehmensethik. Die Untersuchung der historischen Entwicklung sowie der ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen sozialwirtschaftlicher Unternehmen hat gezeigt, dass die Abgrenzung zur Profitwirtschaft zunehmend schwierig wird. Auch die Auswertung der Experteninterviews ergab mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Es konnten insofern keine stichhaltigen Argumente gefunden werden, die die Hypothese stützen, dass sich die Führungsbedingungen in sozial- und erwerbswirtschaftlichen Unternehmen grundlegend unterscheiden. Nichtsdestotrotz konnte ein Bedarf an systematischen unternehmensethischen Konzepten für die Sozialwirtschaft nachgewiesen werden. Es gibt eben nicht die „gute“ Sozialwirtschaft mit einer „ethisch-moralischen Grundeinstellung“ (Albert 2006: 62), die keiner Diskussion bedarf. Sozialwirtschaftliche Unternehmen sind keinesfalls „utopische Oasen“ (Habermas 1985: 61) oder „Inseln einer heilen Welt“ (Martin 2007: 194), sondern stehen mitten in einem harten ökonomischen Wettbewerb. Auf der anderen Seite lässt sich auch nicht die Profitwirtschaft erkennen, die ausschließlich ihre kurzfristigen Gewinne fokussiert und dazu kapitalistische Ausbeutungsinstrumente einsetzt. Festzuhalten ist vielmehr, dass es in den befragten sozialwirtschaftlichen Unternehmen hochprofessionelle Leitungskräfte gibt, die ihren Kollegen in der Erwerbswirtschaft in Fragen der ökonomischen Vernunft in nichts nachstehen. Die Interviews mit Führungskräften aus Profitunternehmen zeigten im Gegenzug aber auch einen hohen ethischen Anspruch, 181
Vgl. Kap. 1.2.
R. Ahlrichs, Zwischen sozialer Verantwortung und ökonomischer Vernunft, DOI 10.1007/978-3-531-94355-8_8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
144
8 Impulse für die Sozialwirtschaft
differenzierte werteorientierte Instrumente und die Bereitschaft zur Übernahme sozialer Verantwortung in den befragten Unternehmen. Insofern ist ein Ergebnis dieser Untersuchung, dass es sowohl in der Sozialals auch in der Profitwirtschaft gute Beispiele gibt, die anderen Unternehmen Orientierung dafür geben können, welche organisationsspezifischen Rahmenbedingungen und Instrumente eine ethisch verantwortungsvolle Führung möglich machen. Den theoretischen Rahmen dafür kann das Konzept der Integren Unternehmensführung von Maak und Ulrich liefern. Kein unternehmensethisches Konzept liefert allerdings schablonenhafte Konzepte für die optimale Unternehmensführung, das würde der jeweiligen Realität sozialwirtschaftlicher Unternehmen auch nicht gerecht. Man wird deshalb nicht darum herumkommen, die Instrumente den eigenen ethischen Grundsätzen und der Unternehmenssituation anzupassen. Eine unkritische Übernahme verbietet sich bei Instrumenten der ethischen Unternehmensführung genauso wie bei betriebswirtschaftlichen Managementtools. Der vielleicht wichtigste Unterschied der Sozialwirtschaft zu anderen Wirtschaftsbereichen ist ihre neben der Produktion sozialer Dienstleistungen vorhandene „strukturbezogene Aufgabe“ (Staub-Bernasconi 2007: 51), also der sozialpolitische Einsatz für gerechtere Strukturen und die Verwirklichungschancen aller Menschen. Das gilt umso mehr, als die zunehmende Konkurrenz um Gelder, Kunden und Marktanteile sozialwirtschaftliche Unternehmen geradezu zu zwingen scheint, sich auf sich selbst und ihr eigenes wirtschaftliches Überleben zu konzentrieren. Frei nach dem berühmten Adorno-Zitat „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (Adorno 1994: 42), sollte es dennoch stets darum gehen, die individuelle Dienstleistung mit der gesellschaftspolitischen Aufgabe zu kombinieren, lebensdienliche Strukturen zu schaffen und gegen menschenrechtswidrige Umstände einzutreten. Eine hilfreiche Perspektive dafür bieten die am „guten Leben“ in gerechten Strukturen orientierten wirtschaftsethischen Ansätze von Ulrich und Sen. Sie wenden sich gegen das Verständnis einer Wirtschaft, die das menschliche Leben als Mittel für ihre Produktion und den Absatz ihrer Produkte versteht, anstatt ihre Aufgabe darin zu sehen, die Mittel für ein erfülltes Leben bereit zu stellen. Damit heben sie sich wohltuend ab von ökonomisch orientierten Sichtweisen, die die vermeintlichen Sachzwänge der kapitalistischen Produktionsweise nicht infrage stellen. Wie gut auch immer die strukturellen Rahmenbedingungen und unternehmensethischen Instrumente einer Organisation sind, letztlich können sich Entscheidungen von Führungsverantwortlichen auch als falsch herausstellen. Das gilt umso mehr, als sich die Wirtschafts- und Unternehmenswelt (auch innerhalb der Sozialwirtschaft) immer schneller verändert und sich eine Organisation neuen Situationen bzw. politischen Rahmenbedingungen anpassen muss. Eine Ent-
8.1 Anregungen für die Praxis
145
scheidung kann in diesem Kontext völlig unbeabsichtigte Folgen haben. Dabei geht es sowohl um negative wirtschaftliche Auswirkungen auf die Organisation, als auch um unangenehme Konsequenzen für den einzelnen Mitarbeiter. Der Rückgriff auf die theologischen Dimensionen von Schuld und Vergebung kann Führungskräften Entlastung verschaffen. Dietrich Bonhoeffer hat unter der Extremerfahrung des Dritten Reiches den Begriff der „Bereitschaft zur Schuldübernahme“ geprägt182. Selbstverständlich können Leitungsentscheidungen in sozialwirtschaftlichen Organisationen nicht mit der existenziellen Entscheidung gleichgesetzt werden, sich am Widerstand gegen das Naziregime zu beteiligen. Doch auch sie stellen den Menschen zuweilen vor außergewöhnliche Herausforderungen, zum Beispiel der Umsetzung von Kürzungsvorgaben. Verantwortliche Führung heißt in solchen Situationen, sich auch den schmerzhaften Prozessen, der Gefahr falscher Entscheidungen und der Möglichkeit des eigenen Scheiterns zu stellen. Die Vision von Vergebung und Befreiung kann in solchen Situationen durchaus hilfreich sein. Untersucht wurden wohlgemerkt nur die Sichtweisen von Führungskräften. Diese sagen nur begrenzt etwas darüber aus, wie die Mitarbeiter, Klienten / Kunden oder andere Stakeholder mit dem Unternehmen zufrieden sind. Hier ergibt sich weiterer Forschungsbedarf, der einen Abgleich von Selbst- und Fremdwahrnehmung leisten könnte oder – anders gesagt – die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit thematisiert. Der konkrete Nutzen dieser Arbeit erschließt sich jenseits dieser grundlegenden Überlegungen auf zwei Ebenen – in Theorie und Praxis. 8.1 Anregungen für die Praxis Aus den beschriebenen wirtschaftsethischen Ansätzen und der Auswertung der Interviews lassen sich viele Impulse für das eigene Führungshandeln und die eigene Organisation ziehen. An dieser Stelle sollen diese nicht noch einmal zusammengefasst werden183. Vielmehr wird der Versuch unternommen – trotz aller Gemeinsamkeiten – die Anregungen zu benennen, die sich beide Wirtschaftsbereiche gegenseitig geben können.
182 183
Vgl. Kap.4.1.1. Vgl. dazu die Kap. 5 und 7.9.
146
8 Impulse für die Sozialwirtschaft
8.1.1 Was können sozialwirtschaftliche Unternehmen von der Profitwirtschaft lernen? Eine gute Fachkraft ist nicht automatisch eine gute Führungskraft. Das ist den befragten Profit-Unternehmen längst klar, deswegen werden systematische Konzepte der Führungskräfteentwicklung inklusive einer regelmäßigen Potenzialanalyse aller Mitarbeiter vorgenommen. Meist werden dann Inhouse-Module entwickelt, die es ermöglichen, Netzwerke innerhalb des Unternehmens zu bilden und Führungsteams zu entwickeln. Ziel ist, den Führungskräften Führungskompetenzen für eine verantwortliche Führung zu vermitteln. Strategische Themen oder herausfordernde Aufgaben werden zudem an potenzielle Führungskräfte delegiert, um sie für eine Führungsrolle vorzubereiten. Erste Überlegungen zu solchen Führungsentwicklungskonzepten sind zwar auch in der Sozialwirtschaft zu finden, hier besteht aber noch ein großer Entwicklungsbedarf. Sicherlich lassen sich vielfältige Instrumente für die Managementaufgaben Planung, Organisation, Koordination und Kontrolle aus erwerbswirtschaftlichen Unternehmen auf die Sozialwirtschaft übertragen. Entscheidend ist dabei, auf eine ähnliche Ausrichtung des Unternehmens bzw. auf ähnliche Problemstellungen zu achten, zumindest aber nach den Analogien zu suchen und die Inhalte entsprechend anzupassen. Werden solche Managementtools in der Sozialwirtschaft eingesetzt, so ist stets zu prüfen, wie sie konkret gestaltet sein müssen, um den eigenen Grundsätzen zu entsprechen. 8.1.2 Was können erwerbswirtschaftliche Unternehmen von der Sozialwirtschaft lernen? Die große Stärke der Sozialwirtschaft ist ihr professioneller Umgang mit Menschen. Sie zeigt sich in der hohen Bedeutung der Beziehung zu den Klienten, aber auch zu den Mitarbeitern. Während in der Profitwirtschaft eine deutlichere Orientierung am Ergebnis zu finden ist, zeigt sich in der Sozialwirtschaft trotz aller ökonomischer Entwicklungen weiterhin eine Orientierung am Prozess. Diese manifestiert sich beispielsweise in der Beteiligung von Mitarbeitern aller Ebenen in Veränderungsprozessen, in der Regel auch bei der Entwicklung von Unternehmenszielen. Aber auch in einer meist ausgeprägten und selbstverständlichen Feedbackkultur, in Instrumenten wie der kollegialen Beratung oder Supervision. Zwar haben alle befragten Unternehmen einen sehr hohen Grad an Mitarbeiterorientierung gezeigt, dennoch steckt für die Erwerbswirtschaft eine Chance im Kontakt mit sozialwirtschaftlichen Unternehmen. Hospitationsprogramme bieten Führungskräften Einblick in deren Prozesse und eröffnen Chancen für die
8.2 Anregungen für die Theorie
147
Reflexion der eigenen Führungsrolle zu Themen wie Geduld, die eigenen Grenzen im Umgang mit Menschen kennenlernen oder den Erfolg in anderen Kategorien messen184. 8.2 Anregungen für die Theorie Die vorliegende Untersuchung bestätigt sowohl theoretisch wie empirisch Autoren, die die Abgrenzung von anderen Bereichen der Wirtschaft mithilfe von Begriffskonstruktionen wie Non-Profit-Organisation, Dritter Sektor oder Sozialwirtschaft als zunehmend schwierig charakterisieren (vgl. Schneider 2010, Merchel 2009b, Schramm 2007, mit Einschränkungen auch Wöhrle 2005). Daraus folgt ein Plädoyer dafür, die Kategorien der Abgrenzung der Sozialwirtschaft zu überdenken. Sinnvoller könnte eine Analyse und Bewertung von Unternehmen hinsichtlich ihrer Lebensdienlichkeit bzw. ihres Beitrages für die Deckung der Grundbedürfnisse und der Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen sein. Dabei wäre auch die Legitimation des unternehmerischen Handelns durch den Diskurs mit den jeweiligen Anspruchsgruppen zu berücksichtigen. Dieses Buch kann auch als Bestätigung dafür gelesen werden, dass „bislang keine schlüssigen Konzepte ethisch und moralisch orientierten Managements in der Sozialen Arbeit vorgelegt wurden, obwohl fast alle Autorinnen und Autoren ein solches mitdenken“ (Wöhrle 2009: 156). Dennoch wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Begriffe und Instrumente der Betriebswirtschaft zum Teil recht unkritisch für die Sozialwirtschaft bzw. das Sozialmanagement übernommen. Offenbar wurde bei dieser Übernahme die zugrunde liegende Ethik, also auch das Menschenbild, weitgehend ausgeklammert oder zumindest vernachlässigt. Wirtschaftsethik scheint in der Sozialwirtschaft nicht angekommen zu sein, ihre Konzepte werden nicht umgesetzt185. Dabei gibt es schlüssige wirtschaftsethische Ansätze, wie beispielsweise die Integrative Wirtschaftsethik. Für die wissenschaftliche Weiterentwicklung der Sozialwirtschaft und für die Ausbildung von Führungskräften in der Sozialwirtschaft stellt sich die dringende Aufgabe, geeignete wirtschaftsethische Ansätze für die eigene Disziplin zu übernehmen oder (weiter) zu entwickeln. Es mag zur ökonomischen Vernunft gehören, betriebswirtschaftliche Instrumente in der sozialwirtschaftlichen Unternehmensführung einzusetzen. Zur sozialen Verantwortung gehört indes, dass jedes eingesetzte Instrument die 184
185
Vgl. dazu den lesenswerten Bericht von Inge Kutter: „Manager trifft Obdachlose“ in der ZEIT vom 26.5.2011, http://www.zeit.de/2011/22/C-Seitenwechsel [27.5.2011]. Es könnte eine weitere interessante Forschungsaufgabe sein, zu klären, warum wirtschafts- und unternehmensethische Fragestellungen bislang keine besondere Rolle in der Sozialwirtschaft gespielt haben.
148
8 Impulse für die Sozialwirtschaft
Grundsätze und ethischen Werte des Unternehmens und der Profession widerspiegelt. Insofern liegt die These nahe, dass ethische Unternehmensführung sich nicht in einem Spannungsverhältnis zur ökonomischen Unternehmensführung befindet, sondern eher ihre Grundlage, ihre Legitimation bildet.
10 Anhang
Anhang 1: Übersicht des Kategoriensystems Kategorie 1: Verantwortung im Gemeinwesen / Gesellschaftliche Herausforderungen
Standort-Verbundenheit Kinderbetreuung
Kategorie 2: Verantwortung für politische Rahmenbedingungen
Demografischer Wandel Einsatz für Klienten Komplexität Akzeptanz sozialer Arbeit
Kategorie 3: Umgang mit Veränderungsprozessen
Beteiligung Verständnis von Veränderungsprozessen
Kategorie 4: Unternehmenskultur und Führungsgrundsätze
Unternehmenswerte Umsetzung der Unternehmenswerte Umgang mit Mitarbeitern
Kategorie 5: Instrumente der Führungskräfteentwicklung
Auswahl und Besetzung Potentialanalyse Führungskräfteentwicklung
R. Ahlrichs, Zwischen sozialer Verantwortung und ökonomischer Vernunft, DOI 10.1007/978-3-531-94355-8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
154
10 Anhang
Kategorie 6: Instrumente der Human Relations
Mitarbeitergespräch Anreize Arbeitszeit Ziele Kritik Tools
Kategorie 7: Führungsverständnis
Dienende Führungskraft Eigenschaften einer Führungskraft
Kategorie 8: Verantwortungsverständnis
Anhang 2: Interviewleitfaden
155
Anhang 2: Interviewleitfaden Interviewdauer: 30-45 Minuten Vorbemerkungen
Thema der Masterthesis. Ziel des Interviews. Anonymisierung. Zustimmung zur Tonaufzeichnung.
Warming-Up 1.
Seit wann arbeiten Sie in diesem Unternehmen? a. Seit wann sind Sie als Führungskraft tätig? b. Wie viele Mitarbeiter gehören zu Ihrem Verantwortungsbereich? c. Was sind Ihre zentralen Aufgaben als Führungskraft in Ihrer Organisation?
2.
Was glauben Sie, weshalb Sie diese Aufgabe/Stelle erhalten haben? a. Wie haben Sie sich für diese Aufgaben qualifiziert? b. Gab es spezielle Führungskräfteschulungen in Ihrer Organisation?
Hauptteil 3.
Gibt es ein Leitbild und/oder Führungsleitlinien? Sind Ziele oder Visionen definiert? Alternativ: Bezug nehmen auf das spezifische Leitbild: In Ihrer Organisation gibt es… a. Wie werden diese von Ihnen / von den Führungskräften umgesetzt? b. Wie wurden diese entwickelt und wie werden sie ggf. weiterentwickelt?
4.
Gibt es ein Personalentwicklungskonzept? a. Was sind die handlungsleitenden Grundsätze? b. Wie werden die Entwicklungsziele der Mitarbeiter definiert? c. Welche Formen der Anerkennung nutzen Sie?
5.
Kommen wir zum Thema Veränderung. Wie laufen nach Ihren Erfahrungen Veränderungsprozesse in ihrem Unternehmen ab? a. Woher kommen, wie entstehen Veränderungsprozesse/Impulse? b. Wie wird damit umgegangen? Gibt es dafür Regeln und Verfahren?
156
1 Anhang
6.
Welche Möglichkeiten gibt es in Ihrer Organisation, Kritik zu üben? a. Wie können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Bedenken äußern? b. Falls keine Ideen: Halten Sie so etwas für wichtig?
7.
Was bedeutet Verantwortung für Sie? a. Ist sie etwas Positives oder eine Last? Warum? b. Welche persönliche Chancen und Risiken verbinden sich für Sie damit?
8.
Der ehemalige AT&T-Manager Robert Greenleaf prägte den Ausdruck „Führen heißt Dienen“. Wem dienen Sie als Führungskraft?
Cool-Down 9.
Was könnte in Ihrem Unternehmen aus Ihrer Sicht in den besprochenen Themenbereichen noch besser laufen? 10. Zum Abschluss: Der Titel meiner Arbeit lautet „Verantwortliche Führung“. Welche Fähigkeiten sind aus Ihrer Sicht für eine Führungskraft wichtig, um eine Organisation verantwortlich führen zu können? Abschlussfrage 11. Möchten Sie noch etwas hinzufügen? Gesprächsabschluss Feedbackmöglichkeit Fragen des Interviewpartners zum Projekt Dokumente zur Organisation mitnehmen
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Anhang 3: Übersicht der Interviews
10.1 Anhang 3: Übersicht der Interviews186 Interview PO1 PO2 PO3 PO4 NPO1 NPO2 NPO3 NPO4
Position des Interviewpartners Vorstandsmitglied Leiter Personal Leiter Personal Leiter Personal Abteilungsleiter Einrichtungsleitung Vorstandsvorsitzender Vorstandsvorsitzender
Im Unternehmen seit 1988 2004 2001 2003 1980 2001 1994 1996
Allen Interviewpartnern wurde die Anonymisierung des Interviews zugesagt. Die Transkriptionen der Interviews weisen deshalb weder den Namen des entsprechenden Unternehmens noch des Interviewpartners auf. Außerdem wurden der Standort und weitere Angaben ersetzt, die eine Identifikation des Unternehmens möglich machen würden.
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Die Nummerierung der Interviews lässt keine Rückschlüsse auf das jeweils befragte Unternehmen zu. Die Reihenfolge dieser Darstellung unterscheidet sich deshalb bewusst von Abb. 7.