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German Pages 250
Kai Brauer · Wolfgang Clemens (Hrsg.) Zu alt?
Alter(n) und Gesellschaft Band 20 Herausgegeben von Gertrud M. Backes Wolfgang Clemens
Kai Brauer Wolfgang Clemens (Hrsg.)
Zu alt? „Ageism“ und Altersdiskriminierung auf Arbeitsmärkten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17046-6
Inhaltsverzeichnis
Wolfgang Clemens Ageismus und Altersdiskriminierung auf Arbeitsmärkten – eine Einleitung …. 7 Kai Brauer Ageism: Fakt oder Fiktion?................................................................................ 21 Franz Kolland Altersbilder und ihre normative Wirkung im Wandel der Erwerbsarbeit ..................................................................................................... 61 Ludwig Amrhein Altersintegration als Rezept gegen Ageism? Anmerkungen zum Konzept der ‚Age integration’ von Matilda W. Riley …………….................................. 81 Undine Kramer Ageismus – Sprachliche Diskriminierung des Alters ….................................... 97 Ursula Rust Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) als Mittel gegen Altersdiskriminierung? Ein Beitrag aus juristischer Perspektive .................... 115 Frerich Frerichs „Aktive“ Arbeitsmarktpolitik für ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen – Großbritannien, Japan und Deutschland im Wohlfahrtsstaatsvergleich ...........................................................................131 Carola Burkert & Cornelia Sproß Früher oder später: Altersbilder auf Arbeitsmärkten im europäischen Vergleich – Veränderte nationale Sichtweise oder europäisches Konstrukt?...149 Saskia-Fee Bender Age Diversity: Wertschätzung statt Abwertung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer? ……………………………............... 171
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Inhaltsverzeichnis
Christian Stamov Roßnagel Was Hänschen nicht lernt…? Von (falschen) Altersstereotypen zum (echten) Lernkompetenzmangel ....................................................................... 187 Heike Schimkat „Alter ist bei uns in der Tat (k)ein Thema!“? Fallanalyse betrieblicher Einstellungsprozesse ……………………................................... 205 Jürgen Tenckhoff Alter(n) und Altersakzeptanz in Unternehmen ……........................................ 231
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ........................................................ 251
Ageismus und Altersdiskriminierung auf Arbeitsmärkten – eine Einleitung Wolfgang Clemens
1. Einführung Mit dem Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) am 18.8.2006 wurde von Seiten der Bundesregierung auf vielfachen Druck und gesellschaftliche Erfordernisse reagiert. Diskriminierungen und Benachteiligungen wegen spezifischer Merkmale widersprechen dem Gleichheitsgebot des Grundgesetzes, waren aber überwiegend in der Lebenspraxis bis dato nicht justiziabel. Erst nach vielfachen Widerständen in Gesellschaft und Politik hat der Gesetzgeber – auch auf Druck der EU und von Verbänden – reagiert und Diskriminierungen wegen Alter, Geschlecht, Rasse, ethnischer Herkunft, Religion, Weltanschauung oder Behinderung unter Strafandrohung gestellt. Erste Erfahrung mit dem AGG – wie z.B. der Arbeitsgerichtsbarkeit BadenWürttemberg – zeigten im Jahr 2007 bereits, dass das Merkmal Alter mit 36% aller Fälle als häufigster Diskriminierungstatbestand genannt wurde. Es folgten Geschlecht (28%), Behinderung (18%) und ethnische Herkunft (11%) (Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg 2007). Die Diskriminierungen wurden überwiegend im Zusammenhang mit Bewerbungen geltend gemacht (38%), aber auch hinsichtlich Kündigungen (36%) und bestehender Arbeitsverhältnisse (26%). Wenn auch die Zahl der angestrengten Verfahren mit 109 in einem Zeitraum von acht Monaten relativ gering ist, so verweist die Verteilung der genannten Diskriminierungsmerkmale doch auf die besondere Relevanz des Merkmals „Alter“. Seitens der Europäischen Union als politische Institution steht das Diskriminierungsmerkmal „Alter“ unter besonderer Beobachtung: So sehen nach einer Eurobarometer-Umfrage (Europäische Kommission 2008) 42% der Europäer Diskriminierung auf der Grundlage des Alters als verbreitet an, wobei sie 52% für selten ansehen. Differenzierter betrachtet halten 8% der Menschen in der EU Altersdiskriminierung für sehr verbreitet, 34 % für ziemlich verbreitet, 35% für ziemlich selten und 17% für sehr selten. Nur 4% antworten spontan, dass für sie Altersdiskriminierung nicht existiere, und 2% können die Frage nicht beantworten. So gibt z.B. ein sehr großer Anteil der ungarischen Befragten an, dass Altersdiskriminierung in ihrem Land verbreitet sei (67%), wobei auch die Tsche-
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chische Republik (58%), Lettland (52%) und Portugal (51%) hohe Werte erreichen. Demgegenüber stimmen weniger als ein Viertel der irischen und luxemburgischen Befragten (jeweils 24%) dieser Einschätzung zu. Befragte im Alter von 40 Jahren oder älter geben mit größerer Wahrscheinlichkeit an, dass Altersdiskriminierung verbreitet sei. Dies steht im Kontrast zu den anderen Diskriminierungsarten, die von der jüngsten Gruppe der Befragten mit größerer Wahrscheinlichkeit als verbreitet angesehen werden. Unter allen Diskriminierungsformen ist wiederum die Altersdiskriminierung die am häufigsten genannte Diskriminierungsform. Diese Befunde überraschen. Alter als Grund für Diskriminierung schien – in Anbetracht der Genderdiskussion, Benachteiligungen von Migranten und weiteren Diskriminierungsgründen – eher ein marginales Problem zu sein. Jedoch sprechen die Informationen aus der Praxis der juristischen Entscheidungen, die sozialpolitischen Intentionen des AGG sowie die Ergebnisse der Eurobarometer-Umfrage eine andere Sprache. Sie verweisen auf ein Phänomen, das in der amerikanischen Alter(n)ssoziologie bereits seit Jahrzehnten behandelt wird. Als Beginn der Diskussion kann der Beitrag von Robert N. Butler in „The Gerontologist“ im Jahr 1969 gelten, der zur allgemeinen begrifflichen Prägung als „Age-Ism“ führte (vgl. die Beiträge von Brauer und Kramer in diesem Band). Zunächst bezogen auf „the subjective experience implied in the popular notion of the generation gap” und von Butler (1969: 243) bestimmt als „prejudice of the middle-aged against the old in this instance, and against the young in others” blieb der Begriff auf die Diskriminierung von Älteren fokussiert. Ungewöhnlich rasch wird die analog zu „racism“ und „sexism“ gebildete Neuprägung lexikalisiert und findet Eingang in die maßgeblichen Wörterbücher und die soziologische Diskussion in den USA. Das Konzept wurde dann vor allem im angloamerikanischen und englischen Sprachbereich weiterentwickelt und erst viel später im deutschen Sprachraum rezepiert. War der Zusammenhang mit der Diskriminierung älterer Beschäftigter in den Unternehmen und auf dem Arbeitsmarkt seit längerem ein Thema, zeichnen sich unter den Bedingungen der Deregulierung Härten gegenüber älteren Arbeitenden und Arbeitssuchenden ab, die eine Auseinandersetzung mit den amerikanischen Ageism-Ansätzen erforderlich macht. Dabei soll dieser Band aufzeigen, inwiefern eine Beziehung zwischen Altersdiskriminierung und Ageism in Theorie und Empirie besteht und wie entsprechende Ansätze für die Alter(n)ssoziologie nutzbar gemacht werden kann.
2. Alter(n)ssoziologie, Altersdiskriminierung und Ageism Die deutsche Alter(n)ssoziologie hat sich schon seit den 1970er Jahren ausführlich mit dem Problem älterer Erwerbstätiger auf Arbeitsmärkten befasst (Ro-
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senmayr & Rosenmayr 1978, vgl. zusammenfassend Clemens 2001; Backes & Clemens 2008). Fragestellungen zu älteren Arbeitnehmern wurden gerade in Deutschland im Hinblick auf die Arbeitsmarktentwicklung („Arbeit in einer alternden Gesellschaft”, „Demographischer Wandel und Zukunft der Erwerbsarbeit”) vergleichsweise häufig untersucht (z.B. Naegele 1992; Frerichs 1996; Behrens et al. 1999; Köchling et al. 2000; Clemens 2001; Herfurth et al. 2003; Clemens et al. 2005). Allerdings spielte hier (im Unterschied zu der amerikanischen Ageism-Debatte) die Frage der Gleichbehandlung aller Altersgruppen auf dem Markt im Sinne einer Diskriminierung nach Geburtsalter eher eine untergeordnete Rolle. In der Auseinandersetzung mit dem Thema Frühverrentung wird beispielhaft deutlich, dass im Kontext des Personalabbaus der 1980er und 90er Jahre der Vorruhestand innerhalb des deutschen Rentensystems als eine sozialpolitische Errungenschaft gedeutet wurde (Kohli et al. 1991; Kohli 2000). Das gleiche Phänomen wird – durch weitgehend fehlende Versicherungen – in der angloamerikanischen Sichtweise als Ausgrenzungsproblem wahrgenommen und behandelt (Gillin & Klassen 1995; Itzin & Philipson 1993; Glover & Branine 2001). In komparativer Sichtweise werden unterschiedliche Integrationsformen älterer Arbeitnehmer und grundlegende Differenzen zwischen altersabhängigen und altersunabhängigen Sozialsystemtypen deutlich (Kohli et al. 1991; Rein & Jacobs 1993; Johnson & Zimmermann 1993). Die Untersuchung der Einbettung und des Ausschlusses von älteren Arbeitnehmern ist allerdings nur eine Perspektive der Altersdiskriminierung. Das Phänomen wird in der politischen Debatte eher in einem fundamentalen Sinne gesehen, also als willkürliche Unterscheidung nach Geburtsjahren, die sich nachteilig für entsprechende Personengruppen in verschiedenen Lebensbereichen zeigen kann. Dies betrifft zudem nicht zwangsläufig nur das höhere Alter, also die „Älteren” im eigentlichen Sinne, sondern alle Altersgruppen. Altersdiskriminierung liegt im strikten Sinne schon dann vor, wenn z.B. durch Altersgrenzen Bewerber von Ausbildungs- oder Erwerbsarbeitsplätze ausgeschlossen werden oder ihnen anderweitig die Marktteilnahme verweigert wird. Altersdiskriminierung kann also alle Altersgruppen betreffen (Butler 1969). Im Zuge der europäischen Integration wurden konkrete juristische Vorgaben gegeben, die – unabhängig vom Sozialstaatstyp und den Vergünstigungen für bestimmte Altersklassen – jegliche Tatbestände dieser Art grundsätzlich ausschließen sollen. Die legislative Umsetzung der europäischen Vorgaben in Deutschland wurde mit der Vorlage zum Anti-Diskriminierungsgesetz angegangen. Die Umsetzung nach dem Regierungswechsel im nun gültigen „Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)“ wurde politisch und medial sehr kontrovers diskutiert und bewertet. Die Alterssoziologie hat dieses aktuelle Thema bisher kaum behandelt. Weder die rechtlichen Konsequenzen noch das politische Tauziehen um das Gesetz wurden untersucht oder diskutiert. Auch die anderen Dimensionen der
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Altersdiskriminierung, die hier ausgespart bleiben müssen, stehen keineswegs im Mittelpunkt der Diskussion: Der Zugang zu bestimmten Versicherungsleistungen, Krediten, Altersgrenzen bei politischen Ämtern und im zivilgesellschaftlichen Bereich, um nur einige Felder zu nennen. In gewisser Weise stellt die Thematik zur Gewalt gegen Alte (in der Altenpflege) eine Ausnahme dar. Aber auch hier sind es weniger soziologische Analysen, denn anklagende Tatsachenberichte aus der Pflegeszene (vgl. Hirsch 2008), die den Hauptteil der Publikationen ausmachen. Altersdiskriminierung scheint ein Feld zu sein, welches unter den aktuellen Bedingungen einen erhöhten Grad der Aufmerksamkeit und entsprechende Studien nach sich ziehen wird. Dies gilt auch für den Bereich Arbeit, der vergleichsweise gut untersucht wurde. Da aber die möglichen Auswirkungen des AGG und ähnlicher Gesetze gerade für den deutschen Arbeitsmarkt neu sind, entstehen hier Forschungslücken. Dabei wird evident, dass in Deutschland noch kaum empirische Studien vorliegen, die sich mit dem Phänomen der Altersdiskriminierung im eigentlichen, unmittelbaren Sinne der Europäischen Richtlinien beschäftigt haben, obwohl der Bedarf auch vorher absehund nun unübersehbar ist (Walker 1997, vgl. auch Clemens 2003: 202).
3. Diskriminierung auf Arbeitsmärkten und Ageism Die Diskriminierung älterer Beschäftigter in Betrieb und auf dem Arbeitsmarkt findet sich als Faktum, solange Alter als Auswahlkategorie legitim bleibt. Zwar haben sich schon früher industrie- und betriebssoziologische Studien mit der Lage Älterer im Betrieb beschäftigt (Clemens 2001). Doch in das Zentrum politischen und wissenschaftlichen Interesses wurde das Thema erst gerückt, als seit Beginn der 1990er Jahre ein Paradigmenwechsel von der „Frühausgliederungsgesellschaft“ (Backes & Clemens 1987; Brauer & Clemens 2009) zur Verlängerung der Erwerbsphase im Zeichen demographischen Wandels vollzogen wurde (vgl. z.B. auch Bullinger et al. 1993). Erst seit dieser Zeit werden Benachteiligung bzw. Diskriminierungen älterer Erwerbstätiger auf den Arbeitsmärkten und die dort vorherrschenden Altersbilder als soziale Konstrukte in den Blick genommen. Ältere werden dabei in der Regel als weniger leistungsfähig, erkrankungsanfälliger, geringer oder unzeitgemäß qualifiziert, weiterbildungsresistent und konfliktscheu charakterisiert. Vermehrt durchgeführte Studien zu diesen Aspekten belegen allerdings, dass ältere Arbeitnehmer im Vergleich zu jüngeren nicht weniger, sondern anders leistungsfähig sind (vgl. auch den Beitrag von Stamov Rossnagel in diesem Band) Das Wissen darüber ist auch in den Unternehmen weitgehend vorhanden (Bellmann et al. 2003). Trotzdem sprechen die bekannten Indikatoren der Arbeitsmarktintegration – Arbeitslosen- und Erwerbstätigenquote sowie Erwerbsaustrittsalter – zuungunsten dieser Beschäftigtengruppen.
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Merkmale der Altersdiskriminierung finden sich auch vielfach innerhalb von Arbeitsverhältnissen, z.B. im Phänomen der „alterssegmentierten Aufgabenzuweisung“ (Frerichs & Naegele 2004). Hierbei werden nach der Einschätzung des altersspezifischen Leistungsvermögens Arbeitsaufgaben zugeteilt und ältere Arbeitnehmer aus bestimmten Aufgabengebieten ausgeschlossen (vgl. auch Bender in diesem Band). Ein weiteres Beispiel ist die mit dem Alter sinkende Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen. Häufig wird dabei eine mangelnde Weiterbildungsbereitschaft der Älteren unterstellt, und es wird zudem mit der geringeren Amortisation der Investitionen in das „Humankapital“ argumentiert. Ähnliche Gründe sorgen für die geringen Wiederbeschäftigungschancen von älteren Bewerbern, die zu einem überproportional großen Anteil an Langzeitarbeitslosigkeit unter Arbeitslosen bereits ab dem mittleren Lebensalter geführt haben. Seit Mitte der 1990er Jahre sind Fragen der Diskriminierung auf Arbeitsmärkten auch als Themen wissenschaftlicher Studien zu finden. Als Anfang kann der Beitrag von Frerichs zum europäischen Forschungsbericht (Walker 1997) gelten, in dem anhand von Stellenanzeigen die Arbeitsmarktchancen für ältere Bewerber geschätzt wurden – mit dramatischen Ergebnissen. Bei den im gleichen Bericht ergänzten knappen Betriebsfallstudien werden spezifische Potenziale älterer Beschäftigter gezeigt und es wird deutlich, dass es eher kleinere Betriebe und handwerkliche Tätigkeiten sind, in denen überhaupt noch Ältere beschäftigt werden. Hier, wie auch in den 14 Studien von Morschhäuser (1999) und den später von Frerichs publizierten Studien, wird das Augenmerk auf die Einrichtung von sogenannten „altersgerechten“ Arbeitsplätzen gelegt. Altersdiskriminierung bei Einstellungsverfahren wird ausführlich erwähnt, aber nicht gesondert untersucht. Wird jedoch neben der Bestandsaufnahme nach den Ursachen geforscht, könnte eine Perspektivenerweiterung notwendig sein. Die Anklage von Missständen im Sinne der Diskriminierung erfordert eine eher juristische Sichtweise, die dem Täter-Opfer-Schema folgt. Die Kennzeichnung und Bewertung einer Diskriminierung erfolgt eher auf der moralischen Ebene, und Mittel und Methoden entsprechen denen der Rechtswissenschaften. Eine andere Frage ist aber die nach Ungleichheiten bzw. nach möglichen Ursachen für Ungleichbehandlungen. Neben der Suche nach Erklärungen aus systemischen Zwangsläufigkeiten bieten sich hier kulturalistische Ansätze an. Bezüglich der Ungleichbehandlung nach Alter wäre dies der Ansatz des Ageism. Ageism ist, wie im Beitrag von Kai Brauer in diesem Band gezeigt wird, nicht mit Altersdiskriminierung gleichzusetzen. Ageism als begriffliches Konzept wurde von dem Gerontologen Robert N. Butler schon Ende der 1960er Jahre eingeführt und später durch andere Alternsforscher wie Erdman B. Palmore, Bill Bytheway und Alan Walker ausgebaut und genutzt. Im deutschen Sprachraum war dieses Konzept bislang kaum bekannt. Dabei geht es im Kern um eine soziale Struktur, um das, was negative
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Altersstereotype als diskriminierende Folgen bewirken. Ob diese Figur wie racism oder sexism mit soziologischen Mitteln – theoretisch und empirisch – fassbar gemacht werden kann, versucht Brauer in seinem Beitrag zu umreißen. Als Ergebnis einer Studie „zur Personalpolitik im demographischen Wandel und Exploration von Ageism in deutschen Unternehmen“ (Brauer et al. 2008) wurde das dem Ageism-Konzept inhärente Zusammenwirken von Stereotypen und Diskriminierung älterer Beschäftigter untersucht. Im Ergebnis wurden unterschiedliche Erscheinungsformen des Ageism herausarbeitet und die Bedeutung des Phänomens des Ageism in verschiedenen Erscheinungsformen analysiert. Im Beitrag werden die typischen Hauptformen in der Arbeitswelt unterschieden (vgl. auch Brauer, in diesem Band): – der „traditionalistische“ bzw. „Altersrollen-Ageism“, – der „ökonomistische“ bzw. „Kosten-Ageism“, – der „naturalistische“ bzw. „Anforderungs-Ageism“, – der Mode- und Jugendtrend-Ageism, sowie – die altersstrukturbasierte Ausgrenzung und – der Vorruhestands-Konservatismus. In der Studie wird deutlich, dass alle beschriebenen Formen des empirisch beobachtbaren Ageism, Stereotype und Diskriminierungen mit schicksalshaften Zwängen ökonomischer, biologischer und gesellschaftlicher Art legitimiert werden, denen sich der Betrieb oder der Akteur ausgeliefert sieht. Ageistische Phänomene treten somit besonders stark in Kontexten auf, in denen passive und reaktive Handlungsmodelle vorherrschen und Stereotype zur Komplexitätsreduktion genutzt werden. Demgegenüber sind altersfeindliche Einstellungen dort seltener, wo ein aktives Handlungsmodell verfolgt wird und differenzierte und informierte Altersbilder deutungsmächtig werden. Die Verallgemeinerungen beruhen auf Fallstudien in deutschen Unternehmen. Da es sich aber um ein Phänomen handelt, das alle (modernen) Gesellschaften betreffen wird, lohnt sich ein Blick über die Grenzen Deutschlands.
4. Zu den Beiträgen Die folgenden kurzen Darstellungen zu den einzelnen Beiträgen sollen zunächst einen inhaltlichen Überblick ermöglichen und das thematische Spektrum der Beiträge verdeutlichen. Der grundlegende Beitrag von Kai Brauer führt in den Themenkreis „Ageism“ ein. Dies umfasst zuerst die Begriffsgeschichte, bei der zum einen der historische Kontext umrissen und zum anderen das Schaffen Robert Butlers dargestellt wird. Des Weiteren wird die Kategorisierung nach Palmore vorge-
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stellt und der Ageismbegriff gegenüber anderen Begriffen (Altersdiskriminierung, Altersverachtung, Altersstereotyp) abgegrenzt. Schließlich werden anhand des oben erwähnten empirischen Projekts – und der dort entwickelten Typen des Ageism – dessen allgemeine Struktur und Wirkung anhand realer Prozesse der Personalauswahl verdeutlicht. Franz Kolland rezepiert die Diskussion über gesellschaftliche Vorstellungen zu Alter und Alternsprozessen und fokussiert diese auf den Wandel der Erwerbsarbeit. Er diskutiert den Zusammenhang zwischen der Ausprägung sozialer Normen und die Entwicklung von Altersbildern, außerdem die bedeutsame Rolle des Wohlfahrtsstaates bei der Entwicklung sozialer Normen. Dies dokumentiert sich besonders deutlich in den verschiedenen Maßnahmen der Sozialund Kommunalpolitik. Die normative Wirkung von Altersbildern lässt sich – nach Kolland – anhand der historischen Entwicklung nachzeichnen. Sie prägt in der Moderne vor allem die Differenz in der Fremd- und Selbstwahrnehmung älterer Menschen. In der Arbeitswelt wirken vor allem institutionelle Einflussfaktoren normierend, die über ökonomische Kalküle und Einschätzungen zur Arbeitsproduktivität älterer Beschäftigter zur Altersdiskriminierung führen können. Eine bedeutende Rolle spielt in diesem Zusammenhang der rechtliche Rahmen der Beschäftigung Älterer. Ausgehend vom „Age Discrimination Act“ im Jahr 1967 in den USA zeichnet Kolland den weiteren Verlauf zur bis Richtlinie der Europäischern Union zum Schutz vor Altersdiskriminierung von 2000. Mit einem empirischen Beispiel aus der Praxis eines österreichischen Stahlunternehmens werden – anhand einer demographiesensiblen Personalplanung – abschließend Vorund Nachteile von Diversity-Programmen diskutiert. Der Beitrag von Ludwig Amrhein beschäftigt sich mit dem Konzept der Altersintegration nach Matilda W. Riley, um dessen Wirksamkeit gegen Alterdiskriminierung zu überprüfen. Dazu stellt er zunächst das Konzept der Altersintegration als sozialpolitisches Leitbild einer altersirrelevanten Gesellschaft dar. Bezogen wird der Ansatz von Riley auf die Aktivitäten der Vereinten Nation und kontrastiert mit dem deutschen Sozialrecht, in der eine alters- und altersgruppenorientierte Sozialpolitik verfolgt wird. Den Vorstellungen von Matilda W. Riley stellt Amrhein für Deutschland Zahlen zur Entberuflichung des Alters und zur Altershomogenität sozialer Netzwerke entgegen. So lässt sich das Modell der Altersintegration eher als „konkrete Utopie“ denn als reale Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung charakterisieren. Die Bedeutung einer funktionalen Binnendifferenzierung der bestehenden Altersschichtung bestimmt danach weiter die gesellschaftliche Realität. Statt einer De-Institutionalisierung sieht Amrhein Tendenzen einer „Verflüssigung“ der modernen institutionalisierter Lebensläufe. Bisherige Beiträge zu diesem Thema vermuten, dass durch die Entwicklung hin zu einer altersirrelevanten Gesellschaft Altersdiskriminierung (Ageism) abzubauen sei. Dafür gibt es – nach Amrhein – keine stichhaltigen Argumente. Im Fazit wird die Vision
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einer altersirrelevanten Gesellschaft als kaum realistische eingeschätzt, da moderne Gesellschaften eine altersdifferenzierte Struktur aufweisen, „die in den funktionalen Kernbereichen des Bildungs- und Wirtschaftssystems Altersgruppen trennt und daher kaum aufzuheben ist.“ Undine Kramer beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem sprachlichen Hintergrund des Ageism. Sie behandelt damit spezifische Aspekte des – auf deutsch auch als „Ageismus“ bezeichneten –Phänomens, das die sprachliche Ausprägung der Altersdiskriminierung darstellt. Dazu nimmt sie eine Bestandsaufnahme sprachlicher Praxis in Wörterbüchern und im Sprachgebrauch vor. Es zeigt sich, dass die Ausgangsbedeutung des Begriffs „alt“ nicht negativ konnontiert war, sondern zunächst eine neutrale bis positive Zuschreibung erfuhr. Erst später ist eine Bedeutungsverschlechterung auszumachen. Somit handelt es sich bei der sprachlichen Diskriminierung des Alters und der alten Menschen keineswegs um eine Erfindung der Gegenwart. Die Bedeutung von „Alter“ ist immer Ausdruck der Form, wie darüber kommuniziert wird. Sprache fungiert dabei als „kulturelles Gedächtnis“ und erstellt Protokolle des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Phänomen „Alter“. Sie transportiert kontinuierlich und dauerhaft gängige, z.T. gesellschaftlich sanktionierte, überwiegend negative und diskriminierende Ansichten und Einstellungen zu Alter und älteren Menschen. Inzwischen hat sich allerdings nach Einschätzung der Autorin eine differenziertere Sicht auf diese Merkmale durchgesetzt. Es haben sich neue Sprachformen entwickelt. Zwar existiert weiter eine sprachliche Diskriminierung des Alters und der Älteren, aber die Sprache spiegelt inzwischen – wenn auch zaghaft – eine positiver ausgerichtete Bewertung des Alters wider. Dies hängt mit der wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung älterer Menschen und mit einer zunehmenden Sensibilisierung für Diskriminierungen aller Art zusammen. Der Beitrag von Ursula Rust untersucht aus juristischer Perspektive, ob das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das im Jahr 2006 erlassen wurde, als Mittel gegen Altersdiskriminierung taugt. Die Bekämpfung der Altersdiskriminierung mit juristischen Mittel gründet sich auf einer im Jahr 2000 erlassenen Richtlinie des Rats der Europäischen Union, die einen allgemeinen Rahmen für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf darstellt. Das AGG ist die gesetzliche Grundlage, um den Inhalt des Verbots der Altersdiskriminierung vom Zugang bis zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses zu konkretisieren. In dem Beitrag wird zunächst die Struktur des europäischen Richtliniengleichbehandlungsrechts zum Merkmal Alter in Hinsicht auf Individualrechtsschutz und institutionellen Diskriminierungsschutz dargestellt. Wichtig wird im nationalen Recht der mögliche Entscheidungsspielraum bei der Grenzziehung, wann Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellt. Weiter werden die Wege zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts im deutschen Recht nachvollzogen, und es wird auf die Notwendigkeit verwiesen, zur
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Anpassung eine Reihe anderer Regelungen des nationalen Rechts zu ändern. Im Fazit kommt Rust zu der Feststellung, dass – ausgehend vom AGG – ein Verbot der Altersdiskriminierung mit erlaubten Ausnahmen sich als juristisches Prinzip im Stadium der Klärung über deren Grenzen befindet. Bisher wird das AGG hinsichtlich der Ansprüche der europäischen Rahmenrichtlinie als defizitär angesehen. Es bleibe dem Fallrecht überlassen, die Grenzen für die Rechtfertigung von Altersdiskriminierungen zu finden, solange der Gesetzgeber die Aufgabe nicht löst. Der Beitrag von Frerich Frerichs thematisiert arbeitsmarktpolitische Handlungsansätze zur Förderung älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im Vergleich. Dazu werden in einer Analyse sozial- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen Entwicklungsmuster der aktiven Arbeitsmarktpolitik für diesen Personenkreis herausgearbeitet. Es soll damit die Frage beantwortet werden, ob sich aus dem demographischen Handlungsdruck eine Konvergenz unterschiedlicher nationaler Politikmuster ergibt. In diesem Zusammenhang werden exemplarisch Deutschland, Großbritannien und Japan verglichen, die trotz unterschiedlicher sozialpolitischer Regelungen – und grundsätzlich verschiedener wohlfahrtsstaatlicher Systeme – ähnliche demographische Entwicklungsmuster aufweisen. Es zeigt sich, dass die arbeitsmarktpolitischen Programmatiken der untersuchten Länder in ihrer Stoßrichtung deutlich voneinander abweichen. Die divergierenden wohlfahrtsstaatlichen Strategien der Länder sind zwar alle auf eine stärkere Aktivierung der Arbeitsmarktpolitik ausgerichtet, von einer Konvergenz der Systeme kann aber nicht gesprochen werden. Der demographische Wandel in der Erwerbsarbeit führt keineswegs zu einem „arbeitsmarktpolitischen Automatismus“ einer verstärkten Förderung der Beschäftigungsfähigkeit und Arbeitsmarktintegration älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, sondern zu Reaktionen im Rahmen der jeweiligen Systemlogik, wobei sogar neue Gefährdungen der Lebenslage dieser Beschäftigtengruppe entstehen. Carola Burkert und Cornelia Sproß untersuchen, wie sich im Zuge von veränderten Bedingungen des Arbeitsmarktes in den beiden letzten Jahrzehnten die Stellung älterer Beschäftigter auf dem Arbeitsmarkt gewandelt hat. Damit wurde die Entwicklung eines neuen Altersbildes unterstützt. Dazu wird in dem Beitrag die Frage gestellt, ob das veränderte Altersbild – in Form einer stärkeren Integration statt Ausgrenzung – aus veränderten nationalen Perspektiven resultiert oder als europäisches Konstrukt – aufgrund verschiedener supranationaler Vorgaben – einzuschätzen ist. Diese Frage soll durch eine vergleichende Analyse von Reformmaßnahmen verschiedener Wohlfahrtsstaaten beantwortet werden. Indikatoren für die Arbeitsmarktintegration Älterer sind dabei die Entwicklung der Arbeitslosen- und Erwerbstätigkeitsquoten dieser Gruppe sowie des durchschnittlichen Alters beim Austritt aus dem Erwerbsleben. Dazu wird nach Gründen für Veränderungen gesucht: ob und wie sich die gewandelte Wahrnehmung älterer Arbeitskräfte in einigen ausgewählten Ländern – Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Niederlande, Österreich, Finnland, Schweden
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und Großbritannien – darstellt; außerdem exemplarisch, wie sich die Ansichten deutscher Unternehmen gegenüber älteren Arbeitnehmern entwickelt haben. Die Ergebnisse zeigen, dass sich der Frühverrentungstrend bis Mitte der 1980er Jahren in nahezu allen westeuropäischen Ländern etabliert hatte und als soziale Errungenschaft verstanden wurde. Die seit Beginn der 90er Jahre eingeleiteten Maßnahmen zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit – und Veränderung des Altersbildes war dann weder nur Ergebnis veränderter nationaler Sichtweisen noch allein ein europäisches Konstrukt. Erst die gegenseitige Beeinflussung beider Ebenen wurde Bedeutsam und führte zu einer veränderten Wahrnehmung von älteren Beschäftigten sowie zu einem sich wandelnden Umgang mit dieser Gruppe des Arbeitsmarktes. Im Zentrum des Beitrags von Saskia-Fee Bender zu „Age-Diversity“ steht die gesellschaftliche Bewertung älterer Beschäftigter. Sie diskutiert den Gleichstellungsansatz aus personalpolitischer Perspektive und im wissenschaftlichen Diskurs, um Auswirkungen einer Stigmatisierung älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen aufzuzeigen. Ihr Beitrag sucht die Frage zu beantworten, inwieweit Ältere aufgrund ihres Alters im betrieblichen Kontext mit Benachteiligungen konfrontiert sind und wie Age-Diversity-Konzepte dazu beitragen können, Altersdiskriminierung in Unternehmen abzubauen. In die Ausführungen werden Ergebnisse einer empirischen Studie einbezogen, in der untersucht wurde, wie Unternehmensführungen Age-Diversity verstehen und umsetzen. Deutlich wird in den Ergebnissen der Studie, dass jede Maßnahme erst bei ökonomischer Rentabilität akzeptiert wird. Daher seien die altersspezifischen Potenziale älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen herauszuarbeiten. Formen von Altersdiskriminierung finden sich in der betrieblichen praxis z.B. in der alterssegmentierten Aufgabenzuteilung oder im Ausschluss Älterer von Weiterbildungsmaßnahmen. Mechanismen der Exklusion gründen in Vorurteilen einer verminderten Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft älterer beschäftigter. Allerdings – auch dies zeigte die Untersuchung – besteht in den Unternehmen ein Bewusstsein für Stigmatisierungen und der Auswirkungen. Als Fazit des Beitrags wird die Ansicht vertreten, dass Age-Diversity zur Aufwertung älterer Beschäftigter beitragen kann. Christian Stamov Rossnagel verweist in seinem Beitrag auf die Bedeutung eines „Kulturmanagements“ in Unternehmen, um Werkzeuge und Strategien altersgerechter Personalarbeit – und damit auch betrieblicher Weiterbildung – wirksam werden zu lassen. So soll eine „alterskompatible Unternehmenskultur“ befördert werden. Er sieht aufseiten der Betriebe vielfach Zweifel und Vorurteile hinsichtlich der Einschätzung der Lernfähigkeit Älterer, die zu einem ungünstigen Lern- und Altersklima beitragen (können) und im Extremfall Lerndefizite aufgrund falscher Altersstereotype erzeugen. Der Beitrag zielt auf die Analyse unternehmensseitiger Einflüsse auf individuelle Lernkompetenz als Grundlage erfolgreicher Weiterbildungsmaßnahmen. Daraus seinen Möglichkeiten zur Förderung der Lernkompetenz älterer Beschäftigter abzuleiten.
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Stamov Rossnagel stellt dazu das Konzept der „Lernkompetenz“ in der Bedeutung für erfolgreiche Weiterbildung dar und bezieht dies auf alterskorrelierte Veränderungen. Im Fazit weist der Autor darauf hin, dass Organisationen eine Reihe von Werkzeugen zur Verfügung stehen, um die Entstehung von Lernkompetenz-Defizite zu verhindern, die durch Ageism bedingt sind. Die Verbesserung der Lernsituation Älterer wird danach allerdings nur in einem positiven Lern- und Altersklima durch eine integrierte Nutzung mehrerer Werkzeuge möglich. Altersdiskriminierung auf dem Arbeitsmarkt wird im Beitrag von Heike Schimkat in spezifischer Form thematisiert. Betriebliche Auswahlprozesse als Ort von Diskriminierung sind bisher nur mittels Aussagen von Personalverantwortlichen untersucht worden. Mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) rückt dieser Ausschnitt betrieblicher Realität stärker in das Zentrum rechtlichen und wissenschaftlichen Interesses. Eine oben schon erwähnte Studie der FU Berlin – finanziert vom Forschungsnetzwerk Alterssicherung der Deutschen Rentenversicherung Bund – versucht diese „black box“ aufzuschließen. Im vorliegenden Beitrag werden, detaillierter als im Beitrag von Brauer, die Ergebnisse von Beobachtungen bei Einstellungsverfahren in einem Betrieb der optischen Industrie als Fallstudie vorgestellt. In den Ergebnissen zeigt sich, wie schwer sich die Wirkung von Ageism im betrieblichen Kontext – und vor allem bei Auswahlprozessen – erfassen lässt. Mit der Analyse von Altersbildern allein sind Diskriminierungen von älteren Bewerberinnen häufig nicht ausreichend erfahrbar, weitere Merkmale – wie (Geschlechter-)Bilder, Persönlichkeitsmerkmale und Machtaspekte – wirken sich ebenfalls bei der Auswahl aus. Plumpe diskriminierende Aussagen von Personalverantwortlichen werden seltener, je mehr „AGG-sicheres“ Auftreten geübt wird. Relevante Auswahlkriterien können durch „Strategien der Invisibilität“ verborgen werden, z.B. in dem Allgemeinplätze wie „passend“ genutzt werden. Es wird deutlich, dass eine Einschätzung von Ageism mittels trivialer Abfrage in diesem Kontext scheitern muss. Jürgen T. Tenckhoff beschäftigt sich mit „Alter(n) und Altersakzeptanz im Unternehmen“ aus personalpolitischer Sicht. Ausgehend von Erfahrungen einer Zeit anscheinend unbegrenzt verfügbaren Nachwuchses und der frühzeitigen, umfassenden Externalisierung älterer Arbeitnehmer werden die folgen des demographischen Wandels und alternder Belegschaften thematisiert. Nach einer Diskussion der Bedeutung und Stellung älterer Beschäftigter in Unternehmen sowie sich wandelnder Leitbilder werden verschiedene Formen möglicher Altersstrukturen von Belegschaften vorgestellt und die Auswirkungen gängiger Personalsteuerungsmaßnahmen zur Kompensation „überalterter“ Personalstrukturen in den Blick genommen. Dabei geht der Autor zwei Fragen nach: 1) Wie wird sich das Durchschnittsalter einer gegebenen Belegschaft in einer 10-Jahres-Vorschau entwickeln?
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2) Welche Maßnahmen können bei einer kontinuierlichen, nicht eigenständig kompensierenden Alterung der Belegschaft ergriffen werden? Dazu wird eine Simulation auf der Basis aktueller Altersstrukturen für zwei Unternehmen unterschiedlicher Größe durchgeführt. Im Ergebnis zeigt sich, dass bei beiden Unternehmen ein Alterungsprozess nur aufzuhalten ist, wenn das Externalisierungsalter der ausscheidenden Personen deutlich auf unter 57 Jahre gesenkt wird – was dem Trend extrem entgegen laufen würde und in Zeiten schrumpfender Nachwuchskohorten kaum realisierbar sein dürfte. Letztlich laufen alle Überlegungen zum Thema auf die Frage der Offenlegung von Altersstereotypen und Erhöhung der Altersakzeptanz hinaus, die in eine Neuausrichtung der Personalstrategie und der gesamten Unternehmenskultur münden muss.
5. Fazit Die Beiträge in diesem Band stellen eine Annäherung an das Phänomen Ageism für die deutsche Alter(n)ssoziologie dar. Die meisten Beiträge lassen vermuten, dass der Begriff „Ageism“ weniger als ein modischer Slogan von „Altenbewegten“, sondern als ein erstzunehmendes Phänomen anzusehen ist. Für die Wissenschaft ergibt sich daraus ein begrifflicher Hebel zur Analyse der Kategorie Alter als Phänomen sozialer Ungleichheit, mit dem nicht nur ein weiterer entscheidender Grund für die geringere Erwerbsbeteiligung Älterer gefunden ist. Auf dieser Basis sollte nun die Frage gestellt werden, ob bestehende institutionelle Ordnungen und kulturell verankerte Vorstellungen (insbesondere Altersgrenzen), die aus einer Zeit stammen, in der andere demographische Verhältnisse herrschten, prinzipiell in Frage stehen. Dazu müssten auch jene Forschungsfragen und -ansätze aufgegriffen und weitergetrieben werden, die hier aus verständlichen Gründen noch keine Berücksichtigung finden konnten. Es gibt eine Vielzahl von Studien, die die Ungleichbehandlung von Patienten nach Alter analysieren, die Werbung und Fernsehserien nach Altersstereotypen durchsuchen. Es werden Diskussionen über Gesundheitskosten und Führerscheinentzug ab einem gewissen Alter sowie die Diskriminierung von älteren Kunden im Einzelhandel geführt, Diskriminierungen Älterer durch Banken, Kreditinstitute und Versicherungen thematisiert. All diese Themen, die bisher weniger in Deutschland, jedoch vor allem in den USA, Australien und England forciert wurden, mussten hier noch ausgespart bleiben. Es ist zu hoffen, dass mit einer „Entdeckung“ der „Potenziale des Alters“, den Chancen der „gewonnenen Jahre“ und dem von der Europäischen Union geforderten Schutz vor Altersdiskriminierung diese Problemlagen und die damit zusammenhängenden gesellschaftspolitischen Missstände erkannt und bekämpft werden. Ohne wissen-
Ageismus und Altersdiskriminierung auf Arbeitsmärkten
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schaftlich fundierte Beschreibungen und Analysen wird das dafür erforderliche Bewusstsein jedoch nicht entwickelt werden können. Insofern stellt dieser vorliegende Band zu Ageism keineswegs eine hinreichende Thematisierung, sondern einen ersten Ansatzpunkt für eine weiter und breiter zu führende Diskussion dar.
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„Alle wollen länger leben. Aber niemand will alt sein“ 1
1. Einleitung Wer sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive mit dem Prozess des Alterns beschäftigt, dürfte beim Gebrauch von Altersbildern und Alterskategorien in besonderem Maße sensibel sein. Sprichwörter die, wie das obige, alltagsweltliche Realitäten verbalisieren, entlocken den meisten Fachleuten jedoch nur ein Lächeln, denn es wird zurzeit kaum diskutiert, inwiefern die Altersphase auch mit sozialer Abwertung und Ausgrenzung einhergehen könnte. Diese Beobachtung überrascht vor dem Hintergrund der deutlichen wissenschaftlichen Stellungsnahmen gegenüber dem „Defizitbild des Alters“ in den letzten Jahrzehnten 2 . Ziel von Studien und Essays zum Thema Altern ist nicht zuletzt in der Widerlegung von Altersstereotypen, es soll über objektive Tatsachen zum Altern aufgeklärt werden. Dies gehört zum selbstverständlichen Hintergrund alterssoziologischer Publikationen, der kaum erklärungsnotwendig erscheint. 3 Bei 1 2
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Spruch in einem kürzlich verzehrten „chinesischen“ Glückskeks. Als entscheidende Protagonistin dieser Aufklärungsarbeit hat in Deutschland wohl zuerst Ursula Lehr wahrnehmbar dazu beigetragen, dass die Kritik am Defizitbild des Alters auch außerhalb der Wissenschaft gehört wird, und in der Wissenschaft nun auch vormals „altenpolitische“ Themen behandelt werden. Das dieses Thema bis heute aktuell und tragend ist, davon zeugt z.B. auch die Themenwahl des kommenden Altenberichtes der Bundesregierung („Altersbilder“) sowie die Ausrichtung der „Akademiengruppe Altern in Deutschland“, insbesondere die Widerlegung von Legenden im Empfehlungsband (Kocka et al. 2009: 25ff). Ob die damit verknüpfte Tendenz zu kampagnenartigen Slogans vom neuen „glücklichen“, „gesunden“ und „produktiven Altern“ Zeichen des Wandels von einer Allodoxie zu einer (seinerseits zu kritisierenden) Heterodoxie des produktiven Alterns in den Alterswissenschaften ist, wie das z.B. Klaus Schroeter (2004) meint, müsste gesondert diskutiert werden. Die hier gemeinten Einstellungen zum Alter auch außerhalb der Fachöffentlichkeit, also in der Alltagswelt der Betriebe und Pflegeeinrichtungen sowie in Unterhaltungsmedien und der Reklame, sind von einer solchen Entwicklung noch relativ weit entfernt. Bis zu einem gewissen Grad gilt dies auch für die Fachdiskussion. Das sich bei Menschen mit zunehmendem Alter (irgendwann und in sehr unter-schiedlicher Weise) auch körperliche Verfallserscheinungen zeigen, und Alter heutzutage mit „Nachberuflichkeit“, also einer (legitimen) Phase des (wohlverdienten) Ruhestandes einhergeht, kann doch kaum der Alter(n)s-Wissenschaft letzter Schluss sein. Stimmen, die auf die erhöhte Lebenserwartung und die Kompression der Morbidität hinwiesen, die zu mehr „ge-
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der Aufklärung über altersspezifische Realitäten sind vor allem quantitativ fassbare Phänomene vermessen worden, vom (gestiegenen) Einkommen, über die (verbesserte) Gesundheit bis zu (stabilen) intergenerationellen Beziehungen und allgemeinem Wohlbefinden älterer Deutscher. Mit dieser insgesamt erfreulichen Entwicklung scheint der Wandel der Altersbilder 4 nicht Schritt halten zu können. Arbeiten, die sich explizit mit Altersbildern und Stereotypen beschäftigen (beispielsweise die Enttarnung von „Alterslügen“ durch Anton Amann) machen es sich daher zum Ziel, empirische Realitäten dem Halbwissen über das Alter gegenüberzustellen und dieses somit als falsches Bewusstsein zu enttarnen. Die Verbesserung des Wissens über das Altern ist daher eine (wenn nicht die) zentrale Erzählung der Gerontologie und der deutschen Alter(n)ssoziologie. Einerseits sind Erfolge dieser Aufklärungsarbeit kaum zu übersehen. Ungezählte Studien aus der Sozialgerontologie, der Medizin, der Psychologie (vgl. auch den Beitrag von Stamov Rossnagel in diesem Band) lieferten eine Vielzahl von Belegen, die vereinfachende und einseitige Verfalls- und Defizitbilder des individuellen Alterns ad absurdum führen. Während einige wenige prominente Ökonomen nicht müde werden, Horrorszenarien des Alterns der Gesellschaft medienwirksam zu verbreiten, setzen sich mit der Zeit auch weniger populistische Sichtweisen durch, die sich gegen die Deutung des gesellschaftlichen Alterns als „Stagnation“ und „Generationenkrieg“ wenden. Die Öffentlichkeit folgt damit einem Tenor, den die Alterssoziologie schon Jahrzehnte zuvor anschlug. 5 Die Bemühung um Aufklärung als Bekämpfung von Altersstereotypen wird auch in dem – im kommenden Jahr (2010) vorliegenden – sechsten Altenbericht der Bundesregierung (zu Altersbildern) sicherlich nochmals deutlich werden. Andererseits gilt für die Behandlung des Themas insgesamt, was Gertrud M. Backes schon 1997 für die sozialwissenschaftliche Gerontologie feststellte:
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sunden“ und „glücklichen“ Jahren führen, die durchaus auch „produktiv“ erlebt werden dürfen, legen damit sicherlich eine vorsichtige Relativierung rigider Altersgrenzen am Ende des Erwerbslebens nahe. Hinter diesen Hinweisen steckt jedoch nicht zwangläufig der Plan, die Institution des Ruhestandes durch „lebenslängliches Arbeiten“ zu ersetzen. Es kann sich auch um durchaus adäquate und notwendige Gegenstimmen zu einer Folklore des Halbwissens handeln, die pauschale und rigide Selektionskriterien mit dem Hinweis auf die „Abnahme der Leistungsfähigkeit ab dem vierten Lebensjahrzehnt“ zu legitimieren versuchen. Dass sich Altersbilder langfristig wandeln, wie z.B. Conrad (1994) dies für die jüngere Geschichte nachweist, kann kaum bestritten werden. Zur Frage steht jedoch, ob die Veränderungen gleichsam Anpassungen an eine empirische Realität darstellen oder Elemente veralteter Stereotype persistent bleiben (vgl. dazu auch Brantl et al. 2009). Die Abkehr vom Defizitbild des Alters, die in der Sozialgerontologie seit den späten 1970ern Basis der Forschung und Diskussion ist, ist bei den Ökonomen offensichtlich noch nicht vollzogen worden. Während Werner Sinn den Generationenkrieg proklamiert und in den Consultings weiterhin wahlweise 40, 30 oder 28 Jahre als natürlicher Leistungszenit angesehen wird, wenden sich erst wenige Wirtschaftswissenschaftler (Hardach 2006, Börsch-Supan et al. 2009) vernehmlich gegen diese verengte Sichtweise.
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Altern wird in der Regel als soziales Problem eingeführt, ohne „…inhaltliche Auseinandersetzung damit, was genau unter sozialem Problem zu verstehen sei.“ Den kleinsten gemeinsamen Nenner der Betrachtung des Problems sieht sie darin, dass „eine soziale Benachteiligung zu anderen Bevölkerungsgruppen besteht“, deren „explizite Analyse der gesellschaftlichen Mechanismen und Probleme“ (Backes 1997: 97) jedoch kaum geführt würde. Demnach ist es nur folgerichtig, dass eine konkrete Auseinandersetzung mit Altersdiskriminierung und Ageism in Deutschland noch am Anfang steht; jedenfalls sofern die Entwicklung in den USA, England, den Niederlanden oder Skandinavien zum Maßstab genommen wird. Das sich die gesundheitliche und ökonomische Lage der Älteren verbessert hat, ist die eine Seite der Geschichte vom „glücklichen“ Altern. Mit den vielen Beschreibungen dieses Prozesses wurde die Abkehr vom Defizitbild des Alterns unterstützt. Ob dies aber auch zu einer adäquaten sozialen Aufwertung des Alters, bzw. zu angepassten Altersbildern, Altersdefinitionen und institutionellen Regeln geführt hat, ist eine vollkommen andere Frage. Die gesellschaftliche Integration, das Prestige des Alters und die Chancen und Optionen, die den „jungen“ und „alten“ Alten offen stehen, scheinen sich noch an den kritisierten Defizitbildern auszurichten. Ob die im Diskurs gegen das Defizitbild des Alters belegten Potenziale des Alters durch sichtbare oder weniger sichtbare Grenzen behindert werden, wurde – wie Backes (1997) dies durch die mangelnde Problemeingrenzung und -definition klarmacht – zwangsläufig weniger hinterfragt. Folgerichtig blieb damit auch das Phänomen Ageism als wissenschaftliches Thema uninteressant. Im folgenden Beitrag kann es nicht darum gehen, nur danach zu suchen, ob und warum Altersdiskriminierung und Ageism in Deutschland im Vergleich mit anderen Gesellschaften bislang weniger stark reflektiert wurde als beispielsweise in den USA oder England. Dieses durchaus naheliegende Unterfangen bleibt wenig ertragreich, solange eine soziologisch tragfähige Definition von Ageism nicht erläutert werden kann. Daher soll in diesem Referat einerseits die Begriffsbestimmung von Ageism im Mittelpunkt stehen. Andererseits können Bedenken gegen eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Phänomen Ageism nicht einfach übergangen werden. Handelt es sich um eine reine Schimäre, eine jener „soziologesischen“ Worthülsen, hinter denen sich nicht mehr verbirgt als die Eitelkeit ihrer Autoren, die vorgeben, Aufklärungsarbeit zu leisten, dabei aber eher Bestehendes verkomplizieren? Und wenn es sich bei Ageism um eine soziologische Tatsache handelt, wie kann sie dann empirisch nachgewiesen werden? Tatsächlich erscheint die gewollte kategorielle Gleichsetzung von racism und ageism 6 sehr gewagt. Kann so etwas wie die Überwindung der unmenschli6
Ageism wird hier, entsprechend der englischen und amerikanischen Schreibweise, immer dann klein geschrieben, wenn explizit auf die Herkunft und den Gebrauch im amerikanischen Kon-
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chen Rassentrennung in den USA (bis in die 1960er Jahre) mit Forderungen zum Abbau von Altersbarrieren gleichgesetzt werden? Um dies zu beantworten, müssen die Unterschiede zwischen Altersdiskriminierung, -feindlichkeit, stereo-typen und dem Ageism-Konzept herausgearbeitet werden. Ferner wird am Beispiel einer Studie gezeigt, inwiefern sich Agesim empirisch fassen lässt. Schlussendlich wird im Fazit vorgeschlagen, welcher begrifflichen Ebene Ageism zugeordnet sein könnte.
2. Begriffsgeschichte Der Begriff ageism wurde Ende der 1960er Jahre vom Gerontologen Robert Butler geprägt 7 . Dies geschah in der Blüte der nordamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Als Vorsitzender der Altenberatung des Districts of Columbia erlebte und kommentierte Butler den massiven Widerstand, den der Plan zur Errichtung eines Hochhauses für sozial schwächere Ältere – unter denen viele Farbige waren – in der Gemeinde Chevy Chase hervorrief. Die Washington Post vom 7. März 1969 berichtete über die Feindseligkeiten der weißen Mittelschicht gegen das Projekt (Bernstein 1969). Wenig überraschend waren die (hinlänglich bekannten) rassistischen Vorbehalte gegenüber dem Vorhaben. In den Mittelpunkt der Kritik rücke nun die dort auch hervorgebrachte Ablehnung (von Mittelalten) gegenüber Älteren. Die Verbindung von Rassismus gegenüber farbigen Bürgern und Älteren als Gruppe liegt daher direkt im Entstehungszusammenhang des Begriffes („age-ism“). Der berühmte, übrigens recht kurze und kämpferische Artikel im Gerontologist (Butler 1969) beginnt mit einem Hinweis auf Malcom X und zur Konzeption des Rassismusbegriffs. Darüber hinaus ist es auffällig, dass sich später zentrale Protagonisten der Ageismdebatte vorher mit Genderthemen oder Fragen des Rassismus auseinandergesetzt haben. 8 Im Rückblick auf die Geschichte des Begriffes wird deutlich, dass der Impetus der Protestbewegungen der 1968er einen maßgeblichen Hintergrund seiner Entwicklung bildet. Erscheinen aus der heutigen (deutschen) Perspektive Gruppen wie die Gray Panthers als Altenlobbys, die sich auch gegen Jüngere
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text verwiesen werden soll. Ageism (auch nicht: Agism / agism oder Age-ism / age-ism) wird sonst als eingedeutschter Anglismus verwendet und demzufolge groß geschrieben. Oxford English Dictionary (1989: 247), auch: John Macnicol (2006: 7). So stellt Erdman B. Palmore, der den Begriff weiter entwickelt hat, gerne sein studentisches Interesse am Rassismusthema an den Anfang seiner Selbstdarstellung (Palmore et al. 2005). Während bei vielen Forscher/innen, die mit dem Ageismbegriff arbeiten, eine mehr oder minder deutliche Berührung mit anderen Ungleichheitsthemen zu finden sind, wird Verbindung des Themas bei Levin & Levin (1980) – die vorher Rassismus studiert hatten und die Gerontologie quasi von außen betrachten – am deutlichsten.
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wenden könnten, waren sie dies in ihrer Entstehung gerade nicht - und sie sind es im Fall der Gray Panthers bis heute nicht (Maierhofer 2000; Pratt 1993; Bradley & Fisher Fishkin 1998). Es war ein Journalist, der der Gruppe ihren Namen gab, wobei durch die direkte Anlehnung des Namens an die militanten Black Panthers eine zwar griffige, aber eher missverständliche Bezeichnung angenommen wurde. Es ging der (zunächst sehr kleinen) Gruppe Älterer keineswegs um Kampf gegen andere Altersgruppen, sondern um den Kontakt und den Austausch mit Jüngeren, insbesondere mit bürgerbewegten Studierenden, die gegen den Vietnamkrieg protestierten. Die späteren Gray Panthers nannte sich zu jener Zeit: „Consultation of Older and Younger Adults for Social Change“, was deren Geist und Tätigkeitsprofil wesentlich genauer beschrieb. Die Gruppe formierte sich zunächst um die Organisation von jährlichen Treffen von Jungen und Alten mit exemplarischem Charakter. Aus dieser Zeit blieb bis heute der Slogan „Age and Youth in Action“. Im politischen Spektrum der USA sind die Gray Panthers eher am linken Rand einzuordnen. Sie sind nicht auf altersspezifische Themen oder reinen Altenlobbyismus zu reduzieren. 9 Die Herkunft und Verankerung von Akteuren, die sich maßgeblich gegen eine Diskriminierung des Alters wenden und den Ageismbegriff populär gemacht haben, sind an die Wertmaßstäbe der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er und 1970er Jahre gebunden. Sie verfolgen in der Regel einen intergenerativen Ansatz (sowie age diversity) und propagierten allgemeine Gleichstellungsrechte. Ihre Aktionen waren vom Geist der pazifistischen Protestbewegung und hohen Anforderungen an die eigene political correctness geprägt, konnte sich daher nicht gegen eine andere Altersgruppe (bzw. Generation oder Kohorte) wenden. Wie bei der antirassistischen Bewegung wurde die Ungleichbehandlung selber angegriffen, nicht – wie später bei den Black Panthers – die Ungleichbehandlung beibehalten und nur die Richtung der Diskriminierung umgekehrt. Aus racism und sexism einen ageism abzuleiten war demnach folgerichtig und entsprach dem politischen Gestaltungswillen der Bewegung. Dabei blieb die Beschäftigung mit dem Phänomen des Ageism keineswegs ein modisches Strohfeuer im Meinungstrend oder Slogan einer vernachlässigbaren Randgruppe, sondern Forderungen des Anti-Ageism finden heute in der Breite der Gesellschaft Rückhalt. Ageism wurde zu einem zentralen Forschungsgegenstand der amerikanischen Alterswissenschaften. Zur Verbreitung des Begriffes im wissenschaftlichen Bereich hat beigetragen, dass Robert N. Butler zum Gründungsdirektor (1975-1982) des National Institute on Aging (NIA) of the National Institutes of Health (NIH) wurde. Dieses Institut, mit einem aktuellen Etat (2008) von über einer Milliarde Dollar, wurde zur bedeutendsten Forschungsförderungseinrichtung zum Thema Altern 9
Aktuell (November 2008) klagen die Gray Panthers zum Beispiel gegen die Selbstbedienungsmentalität von Managern, deren Spekulationen durch Staatszuschüsse der Steuerzahler ausgeglichen werden müssen.
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weltweit. 10 Butler wird 1976 durch den Gewinn des renommierten Pulitzer Prize für „Why Survive? Being Old in America“ darüber hinaus zu einem populären Autor. Vorher hatte er sich durch die groß angelegten Langzeitstudien Human Aging I & II (von 1955-1966 gefördert durch das NIH) schon in der Wissenschaft einen Namen gemacht. Es waren maßgeblich diese Studien, die in den USA für eine differenziertere Betrachtung von Altersprozessen sorgten und bis heute genutzte, einprägsame und zentrale Denkfiguren der Gerontologie anstießen: „healthy aging“, „productive aging“ und „successful aging“. Die Einrichtung und das immense Wachstum des durch Butler von 1975 bis 1982 geleiteten NIA fällt in die Zeit der entscheidenden Novellierungen des Age Discrimination in Employment Act (ADEA) und des Ausbaus einer Spezialabteilung gegen Altersdiskriminierung innerhalb der Equal Employment Opportunity Commission (EEOC). Zunächst wirkt Butler nach seinem Ausscheiden als Leiter des NIA als Professor für Geriatrie am renommierten Mount Sinai Medical Center in New York City und gründet dort 1982 die erste Abteilung für Geriatrie an einer medical school in den USA. In dieser Tätigkeit machte Butler auf Alzheimer als spezifisch zu behandelnder und bedeutender werdende Krankheit aufmerksam. 1990 gründet er schließlich das zu 100 Prozent aus Spenden finanzierte International Longevity Center (ILC) und ist bis heute (mittlerweile selber über 80 Jahre alt) als dessen Präsident und CEO aktiv. Grob verkürzt wäre es, den Begriff Ageism auf eine Person oder ein politisches Programm zurückzuführen. Der Gehalt und die Nützlichkeit eines soziologischen Begriffs müssen sich zwar von dessen historischer Einbettung gelöst bestimmen lassen. Mit der oben aufgezeigten Entstehung wird jedoch verständlicher, warum Ageism in Deutschland bislang eine viel geringere Rolle spielte. Es können drei Unterschiede benannt werden. Erstens konnte der politische Schulterschluss der älteren Generation mit den Zielen der 68er in Deutschland (aus nahe liegenden Gründen) weniger gut gelingen. Die Jugendproteste der 1960er Jahre richteten sich in den USA gegen Rassentrennung, den Vietnamkrieg und mangelnde Mitbestimmungsmöglichkeiten. Sie gingen von der Jugend aus und konnten bis zu einem gewissen Grad ebenso von der älteren Generation aufgegriffen werden. In der deutschen Spielart legten diese Jugendproteste einen viel krasseren Generationenkonflikt offen, bei dem die – in kollektive Selbstvergessenheit geratenen – Älteren nun pauschal verdächtigt wurden, (Nazi-)Täter zu sein, und die als Generation moralisch versagt haben. Der Spontispruch „Traue keinem über 30“ hat in Deutschland (Österreich, Italien und Japan) der 1960er natürlich eine andere Bedeutung, als er es in den USA (England, Frankreich oder der Tschechoslowakei) hatte. Das Misstrauen zwischen den Generationen war bei den von Deutschland im Zweiten Weltkrieg angegriffen Staaten ein kulturelles, in dem andere alltägliche 10
Auch die bislang größte vergleichende Studie zum Thema Altern in Europa – SHARE – (Börsch-Supan et al. 2005) wurde vom NIA gefördert.
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Umgangsformen aufeinanderprallten und sich dies auch politisierte. In Deutschland war viel mehr das politische Misstrauen der Ausgangspunkt, das sich auch kulturell ausdrückte (vgl. Häußermann 1989: 49 ff.; Hopf 1989). Ein tatsächliches Movement der Älteren konnte in dieser durch die deutsche Geschichte geprägten Generationenlagerung nicht entstehen. 11 Das sich 2008 die Partei „Graue Panther“ – eine mit ihrer amerikanischen Namensvetterin kaum vergleichbare Organisation – mangels Beteiligung auflöste, hat dabei kaum noch jemand bemerkt. Zweitens scheint in der deutschen Wissenschaft gegenüber politisch aufgeladenen (und kaum zu übersetzenden Begriffen) ein gewisses Unbehagen zu herrschen. In der amerikanischen Soziologie werden auch nur selten feststehende Begriffe aus anderen Sprachen (z.B. „Gemeinschaft“) unübersetzt aufgenommen und bleiben damit in der Wissenschaft an ihre Originaldefinition gebunden, aber für die Alltagssprache eher verschlossen. Für einen als im amerikanischen Kontext auch in der Alltagssprache verwendeten Terminus bleibt die Aufnahme in den deutschen Wissenschaftsdiskurs problematisch. In der Regel wird affektartig versucht, sofort zu übersetzen. 12 Wenn ein Begriff übersetzt werden soll, muss jedoch eigentlich seine kontextuelle Bedeutung bekannt sein. Ohne diese Klarheit ist die Gefahr hoch, mit der Übersetzung den Sinn des Phänomens grob zu verfälschen. Die häufig zu beobachtenden Gleichsetzungen des amerikanischen ageism mit Altersdiskriminierung, -verachtung, missachtung, -stereotyp und ähnlichen deutschen Ausdrücken, verfehlt den Sinn und das Potential des Begriffes. Da er austauschbar erscheint, bleibt die Diskussion unfruchtbar. Drittens ist der Schutz des Individuums vor Diskriminierung oder Benachteiligung im liberalen Typ des Wohlfahrtsregimes vorrangig, im konservativen nachrangig (Esping-Andersen 1990). Genau umgekehrt verhält es sich bei Sicherung eines einmal erreichten sozialen Status. Daher war der Statuserhalt nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben bis in die letzten Jahre der deut11
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Zeitgenössische Quellen belegen, dass auch die wenigen Widerstandskämpfer und remigrierten Intellektuellen damals kaum als wissbegierige Zuhörer (wie in der „Consultation of Older and Younger Adults for Social Change“) bereitstanden, sondern sich eher als Erzähler und Mahner gerierten, dabei letztendlich ebenso autoritär wirkten, wie deren ehemaligen Peiniger und die Aufsteiger des Wirtschaftswunders, die skeptische Generation. Bei vielen Begriffen ist dieses Unterfangen nachvollziehbar gescheitert: „software“ ist weder mit „Weichware“ noch mit „Programmpaket“ gut umschrieben und nun auch deutsch einfach „Software“. Dies gilt auch für „computer“, die weder „Rechner“ noch „Schätzer“ sind, sondern ebenfalls als „Computer“ (jedoch nicht, auch in der neuen Rechtschreibung nicht: Kompjuter) eingedeutscht wurden. Deutlich wird das vorliegende Problem bei der Unterscheidung von „sex“ und „gender“ (West & Zimmermann 1987). Auch hier gibt es keine passende deutsche Entsprechung. Dabei geht es nur vordergründig um die Möglichkeiten der Sprache, sondern um die Anerkennung von Kulturphänomenen, die sich mit dem kontingenten Wortschatz nicht einfach übersetzen lassen, zumal dann nicht, wenn mit dem Terminus auf etwas Neues hingewiesen werden soll und eine Unterscheidung zu anderen Begriffsbedeutungen markiert wurde.
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schen Geschichte eine Staatsaufgabe. Über allgemeine Versicherungen wurde ein hoher Grad sozialer Sicherheit im Sinne des Statuserhalts garantiert, wobei feste Altersgrenzen legal und konstitutiv waren (Kohli 2000). In den marktliberalen Systemen sind solche staatlichen Garantien weitgehend unbekannt, dafür zivilgesellschaftliche Engagements von Lobbys und interest groups notwendig, um Missstände anzuklagen und zu deren Bewältigung entsprechende Netzwerke zu bilden, die direkt Hilfe organisieren oder entsprechende politische Entscheidungen forcieren. Dementsprechend werden plastische Begriffe und motivierende Diskussionen gebraucht. Für die wissenschaftliche Perspektive innerhalb des korporatistischen Kontextes sind jedoch Slogans und Kampfbegriffe von Bürgerrechtsgruppen und partikularen Lobbys höchst suspekt. Die unübersehbare Herkunft des Ageism-Begriffs aus Kultur des zivilen Ungehorsams hat der allgemeinen Verbreitung und seine wissenschaftlichen Reflexion in den USA und England daher befördert, und in Deutschland aus dem gleichen Grunde systembedingt behindert. In den USA hat sich parallel zur stattlichen Anzahl an zivilgesellschaftlichen Institutionen 13 , die sich der Bekämpfung des Phänomens annehmen und ein wirkungsvolles „anti ageist movement“ bilden, auch eine ernstzunehmende Forschung zum Thema entwickelt. Die Forschung zu ageism, age discriminiation und altersbasierten Stereotypen ist in den USA und England heute derartig breit und detailliert, dass ein auch nur einigermaßen vollständiger Literaturüberblick hier schlicht nicht zu leisten ist. All dies kann in Deutschland bislang kaum beobachtet werden. Erst in jüngerer Zeit werden – im Zuge der Vereinheitlichungsbestrebungen der europäischen Union, der Abkehr von der Vorruhestandspolitik und der Schwächung der allgemeinen Rentenversicherung – auch in Deutschland die Themen Altersdiskriminierung und Ageism aktuell. Dies betrifft zunächst insbesondere die Rechtswissenschaften (vgl. Hahn 2006; Temming 2008). In Anbetracht der dermaßen geänderten politischen Relevanz in Deutschland und der Konvergenz unter den europäischen Mitgliedsstaaten (wobei England und Skandinavien die Vorreiter darstellen, Deutschland eher einen Nachzügler) ist eine wachsende Aufmerksamkeit gegenüber Ageism auch innerhalb der deutschen Sozialwissenschaften unschwer vorherzusagen.
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Zum Beispiel werden bei Palmore (1990) die 15 wichtigsten bundesweit aktiven unabhängigen Organisationen (AoA, AARP, ASA, AGHE, GSA etc.) aufgezählt. Hinzu kommen die zuständigen Bundes- und Landesbehörden, die zur Sicherung der entsprechenden Gesetze etabliert wurden. Nicht zu vergessen sind auch Kommissionen, die in Communities unabhängig Basisarbeit gegen Ageism leisten. In der Aufstellung von Palmore (1990) fehlen noch die jüngeren zivilgesellschaftlichen Institutionen, die sich in den letzten Jahren gründeten, darunter das bedeutende ILC. Übersehen werden darf zudem nicht, dass praktisch jede Universität von Rang sich ein Zentrum zur Alternsforschung leistet und sich von dort aus namhafte (und unabhängige) Wissenschaftler in den öffentlichen Diskurs einmischen. In Deutschland hat erst eine Universität (Vechta) diese Zeichen der Zeit erkannt.
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3. Definitionen Im Unterschied zur oben umrissenen Begriffsgeschichte soll hier mit dem aktuelleren Gebrauch, also einer neueren Definitionsvariante, begonnen werden. Die American Psychological Association (APA), weit davon entfernt als Lobbygruppe für Alters-Aktivisten zu gelten, hat sich im Februar 2003 mit der „Resolution on Ageism“ eine Anti-Alterdiskriminierungs-Resolution gegeben. Dort wird ageism definiert als: „Prejudice toward, stereotyping of, and/or discrimination against any person or persons directly and solely as a function of their having attained a chronological age which the social group defines as ´old´. Ageism consists of a negative bias or stereotypic attitude toward aging and the aged. It is maintained in the form of primarily negative stereotypes and myths concerning the older adult.” (www.apa.org/pi/aging/ageism.html) Bezug genommen wird (bzw. wurde bis Dezember 2008) dabei unter anderem auf Traxler (1980). Er hatte bei seiner Begründung negativer Altersbilder vier Faktoren festgehalten: 1. 2. 3. 4.
Anknüpfend an Butler & Lewis (1977) sowie Kastenbaum (1977) – Angst vor dem Tod und latentes Gleichsetzen von Altern und Sterben; Jugendfixierung der Medien und hohe Bewertung von physischer Schönheit und sexueller Attraktivität für den Selbstwert; ökonomische Wertehorizonte, die Jugend und Altern als Last und als unproduktiv definieren und nicht zuletzt die Deutungsmacht der Helferberufe, die ein spezifisches Bild der Älteren etablierten.
Diese Ausführungen von Traxler umreißen im Kern die Ausprägungen des Ageism und dienen der APA 14 zur Unterfütterung der genannten Resolution. 14
Auch die American Sociological Association (ASA) hat in ihren ethischen Grundsätzen – den code of ethics standards, die gut auf der Homepage der ASA zu finden sind – unter Grundsatz 5 „Nondiscrimination“ explizit Alter erwähnt, und zwar an erster Stelle einer Liste, die offensichtlich nicht alphabetisch geordnet ist. Wörtlich wird dort für ASA Mitglieder festgelegt: „Sociologists do not engage in discrimination in their work based on age; gender; race; ethnicity; national origin; religion; sexual orientation; disability; health conditions; marital, domestic, or parental status; or any other applicable basis proscribed by law.” Die öffentliche Wirkung, die die Anti-Ageism-Resolution der APA erreicht, hat dieser auf die eigenen Mitglieder beschränkte Kodex nicht. Allerdings scheint hier keine Definition von ageism notwendig zu sein. Zum Vergleich: Die Ethikgrundsätze der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) enthalten eine Bestimmung gegen Altersdiskriminierung. In Artikel vier zum berufliche Umgang mit Studierenden, Mitarbeitern/innen und Kollegen/innen heißt es unter anderem in Satz zwei: „Soziologinnen und Soziologen … dürfen andere Personen nicht wegen ihres Alters, ihrer Geschlechtszugehörigkeit, ihrer körperlichen Behinderung, ihrer sozialen oder regionalen Herkunft, ihrer ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit, ihrer Religionszugehörigkeit oder ihrer politischen Einstellungen benachteiligen.“ Interessant wird sein, ob und wann sich in Deutschland berufsständische Organisationen dazu durchringen, ihren eigenen Verhaltenskodex in
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Die Resolution der APA zeigt zweierlei. Zum einen wird durch eine berufsständische Interessenorganisation, die sich nicht mit einer, sondern allen Altersgruppen befasst, das Thema Ageism als so brisant aufgefasst, dass klare öffentliche Stellung genommen wird. Dies ist keineswegs für alle gesellschaftlichen – und für Psychologen auch interessanten – Missstände so umgesetzt worden. Zum anderen wird der allgemeine Missstand offensichtlich als nicht eindeutig bekannt vorausgesetzt, weshalb die Resolution mit einer Definition beginnt und durch ausführliche Erklärungen ergänzt wird. Dabei wird eine eigene Definition angeboten, die sich von früheren unterscheidet. Die ursprüngliche Definition von Robert Butler: „…a process of systematic stereotyping and discrimination against people because they are old, just as racism and sexism accomplish this for skin color and gender” (Butler 1969) muss als erster Ansatz verstanden werden, der später weiterentwickelt und präzisiert wurde. Am systematischsten hat sich wohl Bytheway (2005: 115-121) mit dieser oft zitierten Definition beschäftigt. Dabei wird jedes Wort als mehr oder minder unhaltbar verworfen. Was für alle Definitionen kennzeichnend blieb, ist der Zusammenhang von Stereotypen und Diskriminierung, während die erklärende Hinzunahme von institutionellen Praktiken nachvollziehbar, aber nicht zwingend zu sein scheint. Ageism mit „Diskriminierung nach Alter“ oder als „Dominanz negativer Altersstereotype“ zu übersetzen, stellt somit eine empfindliche Verkürzung dar. Ageism lässt sich nach der Definition Butlers nicht mehr auf den einen oder den anderen Aspekt reduzieren, sondern begründet im Zusammenwirken beider Strukturelemente eine neue Qualität – ähnlich wie „sexism“ weder auf Vorurteile oder Diskriminierungen nach Geschlecht zu reduzieren ist, sondern beide Aspekte einen gemeinsamen Komplex bilden. Und aus dieser Perspektive steht Ageism tatsächlich auf einer Ebene mit „sexism“ und „racism“. Über Ursachen und Wirkungen, Wechselverhältnisse und Formen von Ageism kann somit nur auf der Basis seiner Konstitution als Oberbebegriff mit den beiden gleichwertigen Teilen zu streiten sein. Es ist wenig überzeugend, Ageism mit dem Hinweis auf Messergebnisse als irrelevant abzuwehren, wenn diese eine „relativ geringe“ Diskriminierung abbilden (ohne Stereotype in die Untersuchung einzubeziehen) oder wenn sich Altersstereotype als irrelevant für Handlungen und Einstellungen herausstellen. Praktisch müssen wiederum beide Phänomene nicht als Handlungseinheit auftreten. „Racism“ unterstellt die Unterschiedlichkeit von Menschen nach ihrer ethnischen Herkunft und „sexism“ Form von Resolutionen auch an die Gesellschaft zu richten, wie dies die APA getan hat: („… APA rejects ageism in all its forms and is committed to support efforts to eliminate it from our society.). Erst dann wäre auch eine Position in der Auseinandersetzung mit dem Begriff Ageism auf der zivilgesellschaftlichen Ebene eingenommen. Mittelfristig scheint dies kaum auf der Agenda zu stehen, zumal die Existenz von Ageism keineswegs überall als Problem erkannt wurde und auch die DGS den deutschen Terminus „Altersdiskriminierung“ verwendet.
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nach ihrem Geschlecht. Ob aus den dazu notwendigen stereotypen Deutungen eine Ungleichbehandlung folgt, oder nicht, ist für den Befund des „racism“ und „sexism“ unerheblich. Diese durch Merton (zuerst 1949) ins Spiel gebrachte Unterscheidung bei der Beobachtung von „racism“ muss auch für Ageism gelten. Palmore war derjenige, der mit Hilfe dieser Unterscheidung Typen des Ageism konstruierte. Durch die Trennung der Handlungs- von der Einstellungsebene in einer Vier-Felder-Tafel (Palmore 1990: 143) ergeben sich unterscheidbare Typen von Situationen oder Handelnden. Die vier-Felder-Tafel von Palmore
Keine Vorurteile (-)
nicht diskriminierend (-)
(+) diskriminierend
1. vorurteilsfreie Nicht-diskriminierung
2. vorurteilsfreie Diskriminierung
(all-weather liberal)
(fair-weather liberal) (-/-) (+/-)
(+) Vorurteile
3. vorurteilsbehaftete Nicht-diskriminierung (fair-weather ageist)
(-/+) (+/+) 4. vorurteilsbehaftete Diskriminierung (all-weather ageist)
Die sich bildenden Typen können als individuelle Charaktere gedacht werden, was allerdings zu dem Fehlschluss führen könnte, Palmore definiert Ageism als eine psychische Disposition. Dies trifft jedoch kaum zu. Die sich bildenden Gruppen können (und sollten) als unterschiedlich zu bewertende Handlungstypen genutzt werden, die situativ entscheiden und in anderen Kontexten nicht immer wieder so agieren müssen. Zwar bleibt die Konstruktion von „Charakteren“ mit der Tafel höchst suggestiv, ist jedoch nicht zwingend. Abwärtsdiagonal finden sich die beiden „reinen Typen“ eins (-/-) und vier (+/+), bei denen Handlungsfolge und -intention konsistent sind. Aufwärts diagonal entstehen die interessanten ambivalenten Typen drei (+/-) und zwei (-/+). In Anlehnung an Robert Mertons (1994) klassische Untersuchungen zum Rassismus nennt Palmore den Charakter des Typ eins (nichtdiskriminierend – vorurteilsfreie Handlungen) den „all-weather-liberal“, der uneingeschränkt gegen Ageism eingesetzt werden könnte. Dieser unterscheidet sich vom Typ zwei, dem „fair-weather-liberal“, der den Schnittpunkt von „vorurteilsfrei“ mit „diskriminierend“ bildet. Diesem Typ fehlen zwar Vorurteile, Handlungen dieser Art diskriminieren jedoch trotzdem, unabhängig von den Intentionen der Beteiligten. In der Regel geht es um Diskriminierungen, die einen konkreten Nutzen
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in der Situation erbringen, die daher in der typologisch reinen Form vollkommen ohne Vorurteile auskommen. Das Pendant dazu sind die vorurteilsbehafteten Nichtdiskriminierungen der „fair-weather-ageists“. Dieser Typ zeigt zwar stereotype Einstellungen, setzt diese aber nicht zwangsläufig in diskriminierende Handlungen um, zumindest so lange ihm dies verboten ist oder keine unangenehmen Konsequenzen antizipiert werden können. In der Realität fehlt (glücklicherweise) den meisten Menschen mit (rassistischen und ageistischen) Vorurteilen oft die Macht und Gelegenheit, diskriminierend auf ein „Opfer“ zu wirken. So kann in der Regel ein rassistischer Arbeitsloser einen anderen, als fremden erkannten, Arbeitslosen nur schwer vom Arbeitsmarkt ausschließen. Dies gelänge einem multikulturell aufgeschlossenen „fair-weather-liberal“ mit entsprechender Macht viel einfacher – allerdings typischer weise nur, wenn er sich dadurch einen Vorteil erhofft. Es sind hier Handlungen angesprochen, die von Machtpositionen abhängig sind, bei denen jedoch der Diskriminierungstatbestand durch antizipierte Kosten (und/oder Gesetze) meistens verhindert wird. Die „fair-weather-ageists“ würden dementsprechend immer dann diskriminieren, wenn ihnen dies nicht schadet. Für den vierten Typ „all-weather-ageist“ sind schlussendlich diese Bedenken irrelevant. Dieser „reine Typ“ vertritt nicht nur einfach Vorurteile gegen Ältere, sondern handelt auch diskriminierend – ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Es sind also Situationen gemeint, in denen Akteure auf Grund eines Vorurteils diskriminieren, auch wenn dadurch Kosten verursacht und Sanktionen in Kauf genommen werden. Dieser letzte Typ stellt innerhalb der Typologie eine interessante Figur dar, denn nur hier ist die Ablehnung gegenüber einer am Alter gebildeten Gruppe bis in die letzte Handlung konsequent und in sich stimmig. Alle trivialen Vorstellungen von Rassisten entsprechen diesem Typ. Empirisch werden jedoch Diskriminierte wahrscheinlich vergleichsweise selten mit solchen Situationen und Handlungstypen konfrontiert werden, sondern viel häufiger mit weniger offensichtlichen Ageismen. Möglich ist, dass die gewöhnliche Vorstellung der Konsistenz von Vorurteil und Handlung in diesem Feld eher eine Ausnahme sein wird. Diese theoretisch begründeten Unterschiede sind – sollte Ageism bekämpft werden sollen – von praktischer Relevanz. Mittel und Maßnahmen müssen sich dementsprechend ausrichten. Welche Verteilung empirisch den vier Typen zukommt (z.B. innerhalb eines Settings von Auswahlsituationen, dem Weitergeben ageistischer Witze oder bei Beschwerden gegenüber Antidiskriminierungsstellen), ist noch unerforscht. Die Analytik mit theoretisch möglichen Kombinationen (und Idealtypen in Weberscher Terminologie), stellt einen eigenen theoretischen Bezugsrahmen her. In der empirischen Realität werden die Typen wiederum weniger trennscharf sein. Mit der Differenzierung zwischen Vorurteil und Diskriminierung ist die Operationalisierung von Ageism daher noch keineswegs abgeschlossen, sondern nur eine von mehreren Möglichkeiten der theoretischen Konzeption begründet.
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Bei der hiermit vorgestellten Typologie handelt es sich vordergründig um eine akteurszentrierte Sichtweise. Ausgangpunkt der Beobachtung war die – rein heuristisch zu denkende Figur – des „Täters“. Wie oben erwähnt sind solche Charakterisierungen theoretisch wenig hilfreich. Eingeschätzt werden mit Hilfe der vier Typen jedoch relativ problemlos konkrete Situationen und Konstellationen. Einem strukturalistischen Vorgehen würde entsprechen, diskriminierende (oder nicht-diskriminierende) Aktionen mit zugrundeliegenden Stereotypen ins Verhältnis zu setzen. Dabei muss die objektive (strukturelle) Wirkung eines Stereotyps den Betroffenen nicht selber bewusst sein. Auch in der auf Situationen (und nicht Charaktere) bezogenen Nutzung der Typisierung nach Palmore bleibt die Sicht auf die „Täter“ bezogen, die Perspektive der „Opfer“ zweitrangig. Ob sich ein Opfer der Benachteiligung bewusst ist oder sich bewusst sein kann, ist eine weitere Frage. Sie ist aber ebenfalls prinzipiell von der Struktur des Ageism unabhängig. Eine Unterscheidung auf der Wahrnehmungsebene der Opfer (wahrgenommene vs. nicht-wahrgenommene Diskriminierung) würde eine weitere interessante Systematisierungsmatrix ergeben. Mit der Unterscheidung von (diskriminierenden/nicht-diskriminierenden) Handlungsfolgen und (stereotypisierenden/nicht-stereotypisierenden) als Einstellungsstrukturen, rücken Handlungsintentionen und Selbstauskünfte zu Einstellungen von „Tätern“ und „Opfern“ in den Hintergrund. Für einen Nachweis oder die Widerlegung von Ageism ist es aus strukturalistischer Sicht letztendlich unerheblich, ob sich Akteure über den diskriminierenden und stereotypisierenden Gehalt ihrer Handlungen (bzw. dem Zusammenhang zwischen beiden) bewusst sind oder nicht. Eine Empirie, die versucht, Selbstbekenntnisse oder -bezichtigungen zum Ageism direkt abzufragen, steht damit vor einem schwer lösbaren Problem. Wird direkt nach ageisteischen Einstellungen und Handlungen gefragt, werden nur jene seltenen Ageisten des Palmore-Typs vier erfasst, denen ihre Außenwirkung egal ist. Werden „geschicktere“ Fragetechniken angewandt, wird damit die Unbedarftheit der Probanden ermittelt – was auch ein Ergebnis ergibt, dessen Validität jedoch umstritten sein wird. Es bleibt letztendlich eine analytische Aufgabe, über den Horizont der Selbstauskünfte der Handelnden hinaus, objektive Strukturen des Ageism zu entschlüsseln. Diese Zusammenhänge würden über die vorliegenden Messungen zu Altersbildern und Diskriminierungen hinausweisen. Erst damit würde der Dualität von Diskriminierung und Stereotypisierung des Ageismbegriffs Rechnung getragen werden. Dies entspräche auch der bisherigen Begriffsdiskussion der maßgeblichen Theoretiker. Während Traxler Ageism als „ ... any attitude, action, or institutional structure which subordinates a person or group because of age or any assignment of roles in society purely on the basis of age" (Traxler 1980) definierte, blieb Palmore mit: „ ... any prejudice or discrimination against or in favor of an age group“ (Palmore 1990) näher an der Bestimmung von Butler. Bei Butler fehlte die Zuordnung zu Handlungen und/oder Strukturen. Auf der Basis der Bestim-
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mung von Traxler muss gefragt werden, inwiefern sich das Phänomen in Handlungen, Einstellungen oder institutionellen Strukturen zeigen lassen kann. Dabei müsste einerseits der ageistische Gehalt von Handlungen, Einstellungen oder institutionellen Strukturen von nicht-ageistischem abgrenzbar gemacht werden. Andererseits könnte das Zusammenwirken der Einzelerscheinungen als Ageism definiert werden, also als ein sozial geprägtes und gesellschaftlich kontingentes Einstellungsmuster, dessen Wirkungen Ältere diskriminiert, sich in den Teilsystemen sowohl sprachlich, als auch in konkreten Handlungen sowie Machtverhältnissen manifestiert.
4. Systematisierungsansätze von Erscheinungsformen des Ageism In der Literatur und Rechtsprechung wird eine breite Palette von einzelnen unterschiedlichen Erscheinungsformen des Ageism erwähnt. Dazu zählen sehr unterschiedliche Phänomene. Zugeordnet und unterschieden können die Einzelerscheinungen nach den in der Begriffsherleitung erwähnten beiden Komplexen der Vorurteile gegenüber dem Altern und gegenüber Altersgruppen – die sich durch stereotypen Vorstellungen (1) ausdrücken – und der eigentlichen Diskriminierung von Personen und Gruppen nach Alter (2). Zusätzlich wird zuweilen die Ebene der politischen Praktiken – die Güter nach Alter zuweisen oder entziehen – genannt und mit den ersten beiden Komplexen (Stereotype und Diskriminierung) in eine Reihe gestellt. Diese Erweiterung ist soziologisch kaum haltbar. Sinnvoller wäre danach zu fragen, ob in den Feldern der Öffentlichkeit (I: Staat; intermediäre Organisationen, Zugangsrechte) oder dem Markt (II: Unternehmen, Vertragsbeziehungen) Diskriminierungen des Alters auftreten und/oder Stereotype wirken. Als drittes Feld auf dieser Ebene könnte dann die Alltagskultur (III: Sprache, Familie, persönliche Beziehungen und Einstellungen) eingeführt werden. Innerhalb dieses Rasters ließen sich beispielsweise folgende Einzelbeobachtungen einordnen: a) diskreditierendes Verhalten, b) entwürdigende Anreden, c) abfällige Bemerkungen und Phrasen, d) Selektion nach Alter. Während in den oben diskutierten Definitionen eine Benachteiligung nach Alter auf das hohe Alter hinauszulaufen schien, kann das soeben skizzierte Raster auf alle Altersgruppen angewandt werden. Dies war in der ersten Definition von Butler auch so angelegt, auch wenn er sich später auf Benachteiligungen des hohen Alters konzentrierte. Dies ist nachvollziehbar und wird auch in den meisten Arbeiten zu dem Thema (wie diesem Beitrag) so getan. Von der theoretischen Anlage her ist eine Reduktion des Ageismkonzepts (was insbesondere bei Palmore und Bytheway deutlich wird) alleine auf hohes Alter prinzipiell nicht möglich. Zu den obigen Dimensionen müssten daher Ageismen
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gegen Jüngere, Mittelalte, Ältere und Alte differenziert werden. Zudem muss nach Palmore unterschieden werden, ob es sich um einen negative oder einen positive Ageism handelt. Im letzteren Fall handelt es sich keineswegs um eine positive Erscheinung, sondern um Sonderrechte, die nach Alter zugewiesen werden. Auch hier können die beiden Formen sowohl in den beiden Komplexen, als auch auf den drei Ebenen und für alle Altersgruppen wirken. Ingesamt ergibt sich damit ein sehr komplexes Bild, zumal wenn in allen Erscheinungsformen die Vier-Felder-Tafel von Palmore angewandt wird. In der Regel wird nicht versucht, die einzelnen Erscheinungen so zuzuordnen, dass sie ein in sich stimmiges Raster aus Handlungen, Einstellungen und Vorurteilen ergeben, sondern die meisten Studien greifen Einzelaspekte (in der Werbung, bei Witzen, in der Altenpflege etc.) heraus, bzw. werden so wahrgenommen. So ist Palmore durch seine „Facts on Aging Quizzes“ (FAQ) bekannt geworden. Diese Studien können aber immer nur eine der Erscheinungsformen des Ageism darstellen, in der Regel sind dies Formen von Stereotypen. Da Alterstereotype als eine entscheidende Dimension des Ageism wohl am häufigsten untersucht wurden, werden dazu im folgenden Kapitel einige Fragen behandelt.
5. Ageism, Altersstereotype und Altersgruppen Gelegentlich wird unterstellt, dass Ageism als gesellschaftliches Phänomen nur dann relevant wäre, wenn sich eine „herrschende Doktrin “, in Gestalt von durchgängigen negativen Einstellungen gegenüber Älteren und primitiven negativen Stereotypen, nachweisen lässt. Jedoch behauptet keiner der Protagonisten der Debatte (Butler, Bytheway, Palmore), dass Ageism nur solange ein Problem wäre, solange die Mehrheit oder gar alle Mitglieder einer Gesellschaft immer auf der Basis von kruden Altersstereotypen handeln würden. Schonfield (1982) ist insofern zuzustimmen: Altersbilder müssen differenziert betrachtet werden. Mit der Existenz von differenzierten Altersbildern, also auch positiven, ist aber keineswegs die Irrelevanz von Ageism nachgewiesen. Das würde bedeuten, dass Rassismus immer dann als Phänomen irrelevant wäre, wenn in einer Stichprobe kruden negativen Statements nicht durchgängig zugestimmt wird, sondern „nur“ kruden positiven. Mit solchen Maßstäben wäre schließlich der Nachweis von Rassismus unter Mitgliedern des Ku-Klux-Klan schwierig. Erforderlich sind somit klare normative Setzungen gegenüber vorverurteilenden Altersbildern, und zwar positiven wie negativen. Dabei ist zwischen stereotypisierenden Deutungen und der Existenz von allgemeinen Altersbildern zu unterscheiden. Argumentationen über die praktische Nützlichkeit, historische Wurzeln (oder gar „natürliche“ Bedingungen) einer Fremd- und Selbstwahrnehmung nach Alter, führen in eine falsche Richtung. Zum Nachweis von Vorurteilen muss
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nicht die Existenz von jeglichen Altersbildern und -kategorien selber angezweifelt oder gar eine Auflösung jeglicher Altersnormen gefordert werden, wie sich dies zuweilen beim Beitrag von Ludwig Amrhein (in diesem Band) aufdrängt. Dass das Alter auf die Physis der Individuen und ihre soziale Stellung Auswirkungen hat, kann sowenig bestritten werden, wie beispielsweise sich Inuit von Tuareg äußerlich klar unterscheiden und meist unterschiedliche Muttersprachen sprechen. Jedoch verbieten sich auch bei der Anerkennung dieser offensichtlichen äußeren Unterschiede daraus abgeleiteter Vorurteile und Ungleichbehandlungen wegen dieser äußeren Merkmale. Dementsprechend wirken im Konzept des Ageism krude Altersbilder, die den aktuellen Befunden zur Kompression der Mortalität etc. kaum entsprechen, nicht nur beleidigend, sondern auch strukturell diskriminierend. Sofern Stereotype ein Potenzial zur Ausgrenzung (die ethnische, geschlechtliche oder altersbezogene Zuordnung wird dementsprechend konsequent auf der gleichen Ebene betrachtet) in sich bergen, somit vorverurteilend wirken, sind von der allgemeinen Anerkennung von äußerlichen Unterschieden klar zu trennen. Letztere können als Normen und der Wahrnehmung der Differenz, wie beim Geschlechtsunterschied (sex), funktional sein, als „doing gender“ durchaus auch unproblematisch bleiben, jedoch niemals „sexism“ legitimieren. Mit der möglichen Funktionalität von Altersnormen und Altersklassen ist daher kein Ageism zu entschuldigen. Eine wissenschaftliche Kennzeichnung von Ageism sowie dessen politische Ächtung und juristische Verfolgung, wird die Faktizität (individuell sehr unterschiedlich ablaufender Alternsprozesse) nicht negieren müssen. Mit dem Hinweis auf die Praktikabilität der Bildung von Altersgruppen (insbesondere für die Bürokratie) ist die Aufmerksamkeit gegenüber Ageism somit nicht aufgehoben. Die Maßstäbe für zu duldende und unakzeptable Altersstereotype werden gesellschaftlich ausgehandelt und sind in stetigem Wandel. Wenn dies nicht so wäre, müsste von einer „natürlich“ feststehenden, für alle Individuen in allen Kontexten und für alle Zeiten (bis in die Ewigkeit) gleichermaßen als gültig anerkannten Altersgrenze (oder einem „immer währenden“ Trend) ausgegangen werden. Das die Lösungen der 1980er und 1990er Jahre zum Endpunkt der Entwicklung (oder Entwicklungsrichtung: dem Trend zum frühen Ruhestand) proklamiert werden und jedes Abweichen von diesem Pfad als bedrohlich angesehen wird, ist eine konservative Position der sozialpolitischen Diskussion. Andere Positionen sind innerhalb dieser politischen Ebene nicht nur denkbar, sondern auch notwendig. Gegenüber der wissenschaftlichen Deskription haben solche Diskussionen notwendigerweise auch einen normativen Charakter. Sie sind ebenso nicht ein für alle mal zu klären, sondern es wird immer neu diskutiert werden müssen, welche Zuschreibungen nach Alter „erlaubt“ sind und welche nicht. Der Nachweis und die Beurteilung aller Erscheinungsformen von Vorurteilen und Stereotypen gegenüber dem Alter sind somit von vornherein an die Einstellung dazu gebunden, welche am chronologischen Alter festgesetzten
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Gruppendefinitionen als gesellschaftlich legitim oder illegitim gewertet werden. In allen empirischen Feldern kann die Messlatte so hoch gelegt werden, dass praktisch keine Einstellung als ageistisches Stereotyp erkennt werden kann. Der Maßstab dafür ist immer normativ. So war das FAQ ein Instrument, das Wissen zum Alter abfragte und „falsche“ Antworten mit einem negativen Scorewert belegte. Insofern wird hier detailliertes Wissen als Maßstab für einen Aspekt des Ageism gesetzt. Es ist nachvollziehbar, dass eine Gesellschaft, in der hohes Wissen über das Altern vorherrscht, weniger ageistisch ist als eine, in der kein solches Wissen vorliegt. Aber erst wenn eine Einigung über relevante Tatsachen zum Altern vorliegt, können solche Messungen als objektiv anerkennt werden. Einerseits messen Instrumente wie das FAQ nur die Dimension der Stereotype. Diskriminierung als Handlung bleibt zunächst außen vor. Ob hohes Wissen über das Alter verhindern kann, dass Einstellungen zu alten oder jungen Personen gebildet werden, die ausgrenzend wirken können, müsste allerdings erst empirisch bewiesen werden. Andererseits sind Stereotype selber ein Ausdruck diskriminierender Strukturen. Daher arbeiten viele Untersuchungen zu Altersstereotypen nicht nur über Messungen von Einstellungen in der Bevölkerung, sondern auch anhand der Erfassung einzelner Kulturphänomene: in der Reklame, bei Witzen, in Glückwunschkarten und bei Rollenbesetzungen in Filmen. Auch hier sind die Maßstäbe an Normen gebunden, welche Darstellungen Ältere als Gruppe auf spezifische negative und positive Stereotype reduzieren. Der Vorteil dieser Beschreibung von Ageismen in der Alltagskultur liegt darin, dass gegenüber den „rohen“ Einstellungsdaten die Ageismen hier zu Artefakten eingefroren sind, deren Bewertung in der Diskussion freigelegt werden kann. Wird in der Deskription ein ageistischer Hintergrund evident und ist eine solche Analyse intersubjektiv nachvollziehbar, beruht dies immer auf normativen Vorstellungen dessen, was „erlaubt ist“ oder als diskriminierend in der Gesellschaft erkannt wird. Ohne diese Positionierung – auch und gerade durch Beschreibungen und Bewertungen von Alltagsphänomen – wird jegliche Messung von Ageism mittels Einstellungsdaten schwierig, wenn nicht unmöglich. Hierbei wird die Nähe des Ageism zum „racism“ und „sexism“ wiederum deutlich. Witze, die sich Stereotypen bedienen und Menschen als Gruppenmitglieder dabei verunglimpfen (typisch dafür die in den 1990er Jahre modernen „Blondinenwitze“, in den 1970ern „Ostfriesenwitze“, davor auch Witze über Behinderte, unter Rassisten über Juden und alle „Fremden“ etc.) und ihr Gegenpart die „political correctness“, die solche Witze „verbietet“, sind nur über eine kritische Position zu dessen sozialem Entstehungskontext zu verstehen. Für die Soziologie hat Norbert Elias die Entstehung von Gruppen in der Etablierten-AußenseiterFiguration durch die Anwendung von „Schimpf-“ und „Lob-Klatsch“ erklärt (Elias 1965). Folgt man diesem Ansatz von Elias, gelingt die Konstruktion der sich gegenüberstehenden Gruppen nicht auch, sondern vor allen Dingen durch
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solche Erscheinungen wie „Schimpf-“ und „Lob-Klatsch“, zu denen die oben erwähnten Witze gehören. Wenn also überhaupt „racism“ und „sexism“ (wie auch Ageism) alltagsweltlich fassbar und methodisch operationalisierbar gemacht werden sollen, müssen selbstverständlich normative Grundlagen anerkannt werden, die sich gegen Vorverurteilungen von Menschen anhand eines äußerlichen Merkmals wenden. Würde ein äußerliches Merkmal (Hautfarbe, Geschlecht, kalendarisches Alter) jedoch als natürliches Charakteristikum anerkannt, und gäbe es keine Norm, die ein an diesem Merkmal gebildetes Ausschlusskriterium als Diskriminierung erkennt, wären dementsprechende Witze kein Skandalon und Messungen von -ismen schlicht unmöglich. Beleg für die Entwicklung normativer Ansprüche, was den Umgang mit Älteren und dem Altern angeht, sind die vielen und sich immer weiter differenzierenden Einstellungsmessungen zu Altersstereotypen. 15 In keinem der oben erwähnten Felder liegen jedoch hinreichende Studien vor, die über das Ausmaß und die Entwicklung von Altersstereotypen in Deutschland Auskunft geben würden. Eine Ausnahme stellt die sprachwissenschaftliche Vergegenwärtigung von abfälligen Altersbildern in der deutschen Sprache dar (vgl. Kramer 1995, 1998 und in diesem Band), bei der sich eine weite Verbreitung von Ageismen und ein Rückgang in jüngerer Zeit abzeichnet
6. Ageism in Einstellungsverfahren Von 2006 bis 2008 wurde an der Freien Universität Berlin und dem Zentrum Altern und Gesellschaft (ZAG) Vechta eine explorative Studie zur Personalpolitik deutscher Unternehmen im Zeichen des demographischen Wandels gegenüber Älteren durchgeführt 16 Ausgangspunkt der Studie war die Überlegung, dass eine Erhöhung des Rentenalters erst dann versicherungsökonomisch von Vorteil sein wird, wenn freiwerdende Arbeitsplätze auch mit älteren Arbeitssuchenden besetzt werden 15 Erwähnt sei hier z.B. die Fraboni Scale of Ageism (Fraboni et al. 1990; Rupp et al. 2005). 16 Vgl. zu dieser Studie auch den Artikel von Heike Schimkat in diesem Band. Der offizielle Titel des Projektes lautete: „Diversity als Chance für die Rentenversicherer: Analyse zu einer höheren Akzeptanz älterer Erwerbstätiger in alternden Gesellschaften vor dem Hintergrund der Umsetzung von Diversity-Konzepten“. Hier wird auch der Kurztitel „Ageism-Projekt“ verwendet. Gefördert wurde die Studie von 2006 bis 2008 durch das Forschungsnetzwerk Alterssicherung (FNA) bei der Deutschen Rentenversicherung BUND. Beteiligt waren Gertrud M. Backes und Wolfgang Clemens als Leiter, sowie neben dem Autor Heike Schimkat und Janette Brauer. Verbunden war das Projekt personell mit der „Handlungsorientiert-integrierten Begleitforschung HiB“ des – im Bundeswettbewerb in führende Stellung gerückten – Paktes in Kassel („Arbeitsförderung Region Kassel – ARK“), die ebenfalls von Gertrud M. Backes geleitet wurde und an der der Autor beteiligt war.
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und bestehende Arbeitsverhältnisse eine Beschäftigung bis zum gesetzlichen Rentenalter (oder darüber hinaus) ermöglichen (vgl. auch Koller 2001). Dabei überschneidet sich die Frage mit der Problematik der Reintegration älterer Lang-zeitarbeitsloser. In beiden Projekten stand die Einbindung Älterer in Unternehmen im Mittelpunkt. Im Ageism-Projekt wurde darüber hinaus gefragt, inwiefern Betriebe bereit wären über 50-Jährige einzustellen. Für das Bundesprogramm „Perspektive 50plus“, dass sich der Reintegration älterer Langzeitarbeitsloser widmete, ist aus diesem Projekt interessant, inwiefern ältere Bewerber an alltagskulturell vermittelten Barrieren scheitern. Somit richtete sich der Fokus des Projektes auf kulturelle und normative Muster, die bei Personalentscheidungen mit dem Altern verknüpft sind. Exploriert wurde, ob in betrieblichen Kontexten und Situationen Altersstereotype und Altersbilder die Personalauswahl direkt oder indirekt beeinflussen und ob Schritte zur Verbesserung der Alterssensibilität notwendig sind. Dazu wurden keine Befragungen durchgeführt, weil angenommen wurde, dass Personalverantwortliche zu verhindern versuchen würden, sich als Diskriminierer darzustellen. Vorgezogen wurden daher längere Fallstudien.
6.1 Datenbasis und Methoden 26 Fallstudien bilden die Datenbasis des im Sommer 2008 vorgelegten Abschlussberichtes. Es handelt sich um Analysen von umfangreichen Transkripten längerer Experteninterviews und von Beobachtungsprotokollen zu Personalauswahlprozessen. Mit den Fallstudien wird ein Einblick in betriebliche Kontexte gewährt, der über eine einfache Beschreibung anhand einzelner Daten und Statements hinaus weist. Analysiert wurden Entscheidungen und Deutungsmuster der Personalverantwortlichen vor dem Hintergrund betrieblicher Entwicklungen und den Altersstrukturen der Unternehmen. Die Auswahl umfasste vor allem kleine und mittelgroße Unternehmen (KMU) aus unterschiedlichen Branchen: vom traditionellen Handwerks- und Baubetrieb über mittelständische Unternehmen der Autozulieferindustrie bis zu IT- und Finanzdienstleistern. Von einer größeren Anzahl kontaktierter Unternehmen konnten nur jene untersucht werden, die dazu bereit waren, Zeit und Arbeitskraft einem soziologischen Projekt zur Verfügung zu stellen, das sich explizit mit dem Altern von Personalstrukturen und Diversity befasst. Die Auswahl der Fälle war somit selektiv. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass Unternehmen und Personalverantwortliche teilgenommen haben, die klar altersfeindliche Positionen beziehen oder jugendzentrierte Altersstrukturen aufweisen. Vor dem Hintergrund dieses Bias überraschen die Befunde. Ziel der qualitativen Datenerhebung war es, die Realität der betrieblichen Kontexte aufzuschließen und für den wissenschaftlichen Diskurs diskutabel zu machen, indem versucht wurde, möglichst nahe an Auswahlprozesse zu kommen, diese zu protokollieren und diese Protokolle dann zu analysieren. In länge-
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ren Interviews und Kooperationsgesprächen, in denen personalstrukturelle Hilfen in Form von Altersstrukturanalysen (ASA) und Feedbacks zu Auswahl- und Einstellungsverfahren angeboten wurden, sollten keine vorgefertigten Meinungen abgefragt oder Leitfäden abgearbeitet werden. Es wurde innerhalb der betrieblichen Relevanzhorizonte nach Auswahlkriterien und Altersbildern geforscht, die es zunächst zu entschlüsseln und zu deuten galt. 17
6.2 Befunde In allen Betrieben spielen Altersstereotype eine Rolle in der Personalpolitik. In einigen Betrieben beeinflussten sie klar die Personalauswahl, in manchen waren auch Diskriminierungen Älterer nicht zu übersehen. Die Wirkung von Defizitbildern des Alterns lassen sich nicht in allen, jedoch in einer Vielzahl der untersuchten Unternehmen nachweisen. Sie haben unterschiedliche Erscheinungsweisen und Wirkungen. – Alters- und betriebsstrukturelle Zusammenhänge Gängige Annahmen über „natürliche“ Altersgrenzen wegen branchenüblicher Arbeitsbelastungen sind anhand der untersuchten Fälle kritisch zu sehen. Es ist ein kleines Straßenbauunternehmen mit hohem Belegschaftsalter, das mit dem Altern der Belegschaft am wenigsten Probleme hatte. Dem gegenüber stehen Fälle, bei denen trotz vergleichsweise geringerer physischer Belastungen Ältere nicht nur nicht beschäftigt werden, sondern auch massive Stereotype gegen Ältere wirken. In einer Reihe anderer Unternehmen werden vorzeitige altersbedingte Ausstiege aus dem Berufsleben einkalkuliert, auch wenn dafür keine sozial abgefederten Übergangspfade vorhanden sind. Dort wird zugelassen und unter der Hand gefördert, dass über 50-Jährige „aus irgendeinem Grund aus dem Unternehmen ausscheiden“, wie dies eine Personalverantwortliche formulierte. Neben diesen Schlaglichtern auf das in der Studie beobachtete Verhalten gegenüber Älteren bestätigten sich die im Altersübergangsreport von Brussig (2005) quantifizierten Ergebnisse. Alarmierend ist die Aussage, dass besondere personalpolitische Maßnahmen für Ältere „wenig verbreitet“ seien. Im Unter17 Vgl. zu dem Methoden der Studie auch Brauer et al. (2007). Im Kern wurden kurze Betriebsfallstudien durchgeführt, wie sie z.B. zu älteren Arbeitnehmerinnen bei der Post von Clemens (1992) oder zum Vorruhestand von Teipen (2003) angewandt wurden. Hier sollten jedoch weniger die Arbeitsbedingungen als die Auswahlprozesse in Mittelpunkt stehen, weshalb die Interviews mit den Personalverantwortlichen zentral waren. Erhoben wurde nach ethnographischen Maßstäben (vgl. Bachmann 2002), qualitative, offene Interviewtechniken angewandt (Schütze 1977) und sequenzanalytisch analysiert (Rosenthal & Fischer-Rosenthal 2000; Wernet 2006; Brauer et al. 2007). Zwei kurze Fallbeschreibungen sind auch in Brauer (2009) abgedruckt. Alle (Kurzfassungen) der Fallbeschreibungen erscheinen demnächst in diesem Verlag.
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schied zu Untersuchungen mit dem IAB-Betriebspanel oder den LIAB-Daten sind mit dem kleinen Sample der hier vorgestellten explorativen Studie zum Ageism keine sektoralen oder größenspezifischen Zusammenhänge darzustellen. Demgegenüber wird die Art und Weise der Unbedarftheit gegenüber der Alterung in den Unternehmen plastisch in folgenden fünf Punkten zusammengefasst: 1. Es wurden nur selektive Angaben zu den betrieblichen Altersprozessen gemacht. Es waren erstaunlich wenig gute und differenzierte Altersdaten vorrätig. Das Wissen um altersstrukturelle Zusammenhänge und deren Folgen war kaum entwickelt und basierte weitgehend auf diversen Annahmen. 2. Ernsthafte Bemühungen, um Erwerbslebensläufe zu verlängern, sind kaum zu finden und Mittel dazu sind weitgehend unbekannt. 3. Es sind in den meisten KMUs nur ungenügende Kenntnisse zu altersspezifischer Motivation, zur nachhaltigen Personalentwicklung und der Pflege von Arbeitsbewältigungsfähigkeiten (work ability) vorhanden. 4. Häufig war die Belegschaft in den KMUs und in einzelnen Abteilungen von Großunternehmen um wenige Altersgruppen zentriert. Grund dafür ist zum einen in zurückliegenden Fluktuationsbewegungen zu sehen, zum anderen in der homologen Personalauswahl. Im Kern handelt es sich bei den heutigen Altersstrukturen um die Nachwirkung von Phasen des alterszentrierten Abbaus durch Vorruhestandsreglungen und Sozialpläne. In den „geschrumpften“ Betrieben gibt es nur wenige (bzw. lange zurückliegende) Erfahrungen mit Neuintegrationen. Wenn eingestellt wurde, werden „bewährte“ Altersgruppen gewählt – in der Regel sind diese dann ungefähr so alt wie die bisherigen Teammitglieder. 5. Durch die altersstrukturellen Entwicklungen in den meisten Unternehmen werden es ältere Arbeitssuchende zukünftig wieder schwerer haben, berücksichtigt zu werden. In seiner jetzigen Form geht vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) kaum eine wahrnehmbare schützende Funktion für ältere Arbeitssuchende aus. – Invisibilität des Ageism Die zunächst gezeigte Offenheit der beteiligten Unternehmen an der Studie führte nur selten zu Kooperationen, bei denen längere Beobachtungen zugelassen wurden. Dies ist zunächst nicht ungewöhnlich. Darüber hinaus wurden aber – trotz vorheriger Information – auch sehr abstrakte Altersstrukturanalysen als zu sensibel eingestuft und kein Einblick gewährt. Die Entwicklungen der Kooperation vom Kontakt bis zum Abschluss der Erhebung in den Betrieben (bzw. die unzählbaren Telefonate dazu) dokumentieren Barrieren, die eine Untersuchung des Themas nahezu verunmöglichen. Geringe Transparenz ist im Zusammenhang mit der Beteiligung an einer Studie zu Diversity-Konzepten kein Beweis für oder gegen Ageism, jedoch ein erster Hinweise seiner Invisibilität.
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Wo Auswahlprozesse beobachtet werden konnten, avancierte das Merkmal „passend“ in den Vorstellungsgesprächen zu einem der wichtigsten Auswahlkriterien. Dies entspricht auch den Angaben in den Interviews. Der Ausdruck „passend“ bezieht sich im Kontext der Studie (wie auch aus der Literatur bekannt) nicht auf konkrete Persönlichkeitsmerkmale, sondern auf wechselnde Attribute (Kleidung, Make-up sowie Umgangs- und Kommunikationsformen). Die Argumentationsfigur „passend“ ist eine Kategorie, die im jeweiligen Einstellungskontext beliebig veränderbar ist. Sie erlaubt es, intersubjektiv nachvollziehbare und überprüfbare Auswahlkriterien nicht benennen zu müssen. Hinter einer Auswahlentscheidung „passend“ müssen daher immer Diskriminierungen (insbesondere ageistische oder lookistische) vermutet werden, weil legitime Auswahlkriterien in der Regel benannt werden. Es gibt keinen Grund, ein legitimes Auswahl-kriterium nicht zu erwähnen. Ein klarer Beweis von ageistischen Ausschlusskriterien wird durch die Möglichkeit der Argumentationsfigur „Passung“ jedoch unhaltbar (zumindest im juristischen Sinne). Entgegen der von den Personalverantwortlichen betonten Irrelevanz des Alters für die Auswahl wurde in den Beobachtungen von Vorstellungsgesprächen deutlich, dass dies praktisch kaum haltbar ist. 18 Alter ist auch dann (latentes) Kriterium, wenn es im Vorfeld ausgeschlossen wurde oder in der nachträglichen Reflexion nicht erinnert wird. Altersargumente wurden im Gespräch aber nur dann zur Sprache gebracht, wenn es unverfänglich erschien: zum Beispiel wenn es „zu junge“ Kandidaten/innen betraf, oder wenn positive Altersbilder von den Kandidaten/innen selbst für ihre Selbstdarstellung genutzt wurden („Erfahrung“, „Kompetenz“). Auch eine undistanzierte Wiederholung von Stereotypen der Bewerbenden wird als unverfänglich angesehen, z.B. negative Altersbilder gegenüber Jüngeren und positive Ageismen. Trotz dieser unverkennbaren Nutzung von Altersbildern wurde deren Relevanz für Auswahlentscheidungen in der Regel schlichtweg geleugnet. Damit werden Nachweise einer ageistischen Entscheidung auf der manifesten Ebene verunmöglicht. Bei der Analyse sind diskursive Strategien aufgefallen, die zur Invisibilität des Ageism beitragen. Es handelt sich um Praktiken, die das Verhalten gegenüber Älteren in der Organisation unsichtbar machen (vgl. McVittie et al. 2003). Diese „discursive resources“ konnten auch in Auswahlprozessen, Schulungen, sowie den Interviews selber beobachtet werden. Es wird z.B. vom Thema der Älteren plötzlich über Jüngere gesprochen („paradoxe Reaktion“), Auswahlkriterien verschleiert (siehe oben: „passend“), die Verantwortlichkeit für die Einstellung von älteren Bewerbern diesen selbst zugewiesen (in dem z.B. behauptet 18 Die Invisibilität ist kein exklusives Merkmal des Ageism. Nur wenige Personalverantwortliche würden z.B. offiziell behaupten, dass die Arbeitsleistung von Frauen geringer als die von Männern sei, oder Frauen prinzipiell nicht auf eine entsprechende Position „passen“ würden. Latente frauenfeindliche Einstellungsmuster hätten sich noch vor wenigen Jahren durchaus bei vielen Auswahlverfahren nachweisen lassen, wenn entsprechend präzise danach gesucht worden wäre.
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wird, dass diese sich selbst vom Arbeitsmarkt ausschließen und sich nicht oder schlecht bewerben) oder altersbezogene Daten „vergessen“ etc. McVittie et al. (2003) haben diese diskursiven Strategien von Personalverantwortlichen in jenen Unternehmen identifiziert, die bereits explizit eine „equal opportunity policy“ propagierten. Eine ähnliche Wirkung durch das AGG zeichnet sich in deutschen Unternehmen ab. Altersdiskriminierung ist in diesem Kontext politisch inkorrekt. Es werden Schulungen durchgeführt, in denen entsprechendes Vokabular und Rhetorik vermittelt werden. Ein Nachweis von Diskriminierung müsste sich daher zum einen auf die Altersstrukturen nach Position, Abteilung und Dienstalter beziehen. Diese Daten liegen meist nicht vor oder werden nicht veröffentlicht. Zum anderen könnten Einstellungsprotokolle, aus denen das Alter der Bewerbenden hervorgeht und aus denen Auswahlkriterien nachvollziehbar sein müssen, helfen. Das AGG kennt keine solche Nachweispflicht und sorgt eher dafür, dass alle denkbaren Anstrengungen unternommen werden, um das Ausschlusskriterium Alter zu verschleiern. Gegenüber klaren Diskriminierungen rückt jedoch Ageism nicht erst seit der Wirkung des AGG in den Bereich der invisiblen (undurchschaubaren) Sphären. Ageism selber muss als eine latente Struktur, die sich einer Messung ohne empirisch informierte theoretische Basis entzieht, verstanden werden. Sie tritt in der Exploration im Feld jedoch deutlich hervor und kann durch die analytische Unterscheidung in Formen des Ageism und der Ausschließung verständlich gemacht werden. Daher erwies sich der Verzicht auf standardisierte Instrumente und die ethnographische Annäherung in Verbindung mit aufwändigen sequenziellen Analysen offener Interviews (Brauer et al. 2007) letztendlich als der angemessene methodische Zugang. Zur Feststellung des quantitativen Ausmaßes des Phänomens Ageism (und zur Schätzung von Zusammenhängen mit anderen betrieblichen Merkmalen) könnten nun auf dieser Basis entsprechend sensible Indikatoren operationalisiert werden. – Typen des Ageism Es wurden strukturelle Beziehungen zwischen altersfeindlichen/freundlichen Einstellungen und dem Auswahlverhalten deutlich. Das Zusammenwirken von stereotypen Deutungen und diskriminierenden Auswahlhandlungen konnte mit dem Konzept des Ageism verdeutlicht werden. Es ließen sich vier typologische Hauptformen des Ageism in der Arbeitswelt unterscheiden die, um zwei weitere, mit ihnen verbundene, Ausgrenzungsmechanismen ergänzt werden. 1. Für den traditionalistischen bzw. Altersrollen-Ageism sind starre Bindungen von Altersrollen an betriebliche Statuspositionen typisch. Traditionale Statusfolgen (wie: Lehrling – Geselle – Meister) werden dabei an kalendarisches Alter (nicht an Betriebzugehörigkeit) gebunden. In solchen Kontexten stellen nur immerwährendes Nachrücken Jüngerer und Aufstiege nach altersgebundenen Karrierestufen legitime Positionen bereit. Daran gebunden sind rol-
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lenkonforme Schließungen, die Älteren im Betrieb bestimmte Entwicklungen versperren und Umorientierungen erschweren. Weiterbildungsangebote bleiben hier z.B. mit der Lehrlingsrolle verbunden, die eng an jüngeres Alter gebunden ist. Zu den Erscheinungsformen des Altersrollen-Ageism gehören auch Abwertungen im Betriebsalltag durch Bezeichnungen aus der familiären Sphäre (z.B. wurde ein 61-jähriger Mitarbeiter wie selbstverständlich als „unser Opi“ bezeichnet). 2. Der ökonomistische bzw. Kosten-Ageism repräsentiert eine Engführung auf einzelne betriebswirtschaftliche Perspektiven, wobei Kostenargumente schematisch an Lebensalter gebunden werden. Entscheidungsrelevant sind hier Mehrausgaben für Ältere, Zugewinne durch langjährige Beschäftigung werden nicht (oder gering) geachtet. Der ökonomistische Ageism unterschlägt die Kosten für Verjüngungen von Belegschaften. Kurzfristige Spekulationen zu Einspareffekten legitimieren verjüngende Personalpolitiken. Diese wirken langfristig wie eine „Droge“, die nach einer stetigen Wiederherstellung von Vakanzen für weitere Verjüngung verlangt, denn dass das ausgewechselte Personal seinerseits altert, ist kaum auszuschließen. Nichtintendierte Nebenfolgen und langfristige Folgen dieser Strategie werden bei ökonomistischem Ageism ausgeblendet. Dass die Strategie, durch die Exklusion Älterer Kosten sparen zu wollen und Ersatz durch „billigere“ jüngere Arbeitskräfte zu suchen, keine nachhaltige und auf eine stetige Suzkession ausgerichtete Strategie ist, sondern zu den weit verbreiteten und problematischen alterszentrierten Belegschaftsstrukturen führt, ist wenig bewusst. Auf kosten-ageistischen Vorstellungen beruhende Entscheidungen bleiben somit – zumeist bei den hauptamtlichen Personalverantwortlichen – weiterhin ein zentrales Motiv bei der Personalauswahl. 3. Der naturalistische bzw. Anforderungs-Ageism beruht auf persistenten Defizitbildern des Alterns. Durch vereinfachte Vorstellungen biologischer Abläufe des Alterns werden bestimmte Lebensalter mit bestimmten Leistungsgrenzen verbunden. Diese Grenzen beruhen in den seltensten Fällen auf Leistungsmessungen oder -beobachtungen im eigenen betrieblichen Umfeld. Im Gegenteil: Wird ein Leistungsvorsprung Älterer beobachtet, wird dies als eine die Regel bestätigende Ausnahme verklärt. In den Deutungen werden Annahmen zum Leistungsverlust als natürlich, unaufhaltsam und alterssynchron beschrieben. Als zweite Konstante fungiert die Schwere der Arbeitsaufgaben, die ebenfalls als unveränderbar hingenommen wird. Die stetige Veränderungen von Arbeitsabläufen und die Möglichkeiten des Erhaltes der Arbeitsbewältigungsfähig-keiten sind in der Perspektive des Anforderungsageism marginale Erscheinungen oder werden schlicht nicht wahrgenommen. Einfachste Lösung komplexer Anforderungen des demographischen Wandels ist hier: „man guckt eher nach Jüngeren.“ 4. Der Mode- und Jugendtrend-Ageism ist im Sample seltener aufgetaucht, weil sich aus naheliegenden Gründen nur wenige dafür affine Betriebe zu einer Untersuchung über Ältere im Betrieb bereit erklären. Es geht um Unternehmen,
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bei denen „Jugendlichkeit“ als Attribut der Außendarstellung und Selbstdefinition prägend ist. Zum Ageism wird dieses Bestreben, wenn die Jugendlichkeit auch im Alter der Repräsentanten und Beschäftigten des Unternehmens sichtbar gemacht werden soll. Hier erscheint es chic und nicht skandalös, wenn nur bestimmte Altersgruppen für öffentlichkeitswirksame Auftritte vorgesehen werden. Mode-Ageism ist eng verwand mit „Lookism“ (Tietje & Cresap 2005). Sehr augenfällig ist dies zum Beispiel bei der Auswahl von Flugbegleiterinnen, aber auch bei der Wahl von Pressesprechern/innen oder der Arbeit am Schalter bei Banken und Versicherungen. 5. Die altersstrukturbasierte Ausgrenzung ist eine Form der Diskriminierung, der zunächst kein Ageism (Definition im Projekt) zugrunde liegen muss. Altersstrukturbasierte Ausgrenzungen liegen vor, wenn bei Auswahlverfahren die Bedingungen der eigenen Altersstruktur und betrieblicher Nachfolgereglungen im Vordergrund stehen. Die entsprechende Bevorzugung der einen vor der anderen Altersgruppe ist aus der Perspektive der Ausgeschlossenen eine Benachteiligung und aus Gründen der Chancengleichheit nicht statthaft. Grade in den oben beschriebenen Fällen mit starker Alterskonzentration kann es für die Auswahl evident erscheinen, dass die schwächer besetzten Altersgruppen aufgefüllt werden müssen. Ausgrenzungen erscheinen hiermit strukturell bedingt und können unabhängig von stereotypen Deutungen auftreten. 6. Der Vorruhestands-Konservatismus: In den untersuchten Unternehmen lag, nach der langen Phase der Politik der Frühausgliederungen, die Vorstellung der Weiterbeschäftigung bis zum 65. oder 67. Lebensjahr meist außerhalb des Relevanzhorizontes der Personalverantwortlichen. Dass dies vor der Einführung von Vorruhestandsreglungen (unter weitaus schlechteren Arbeitsbedingungen und gesundheitlichen Kapazitäten) möglich war, scheint dort so gut wie vergessen. Die notwendigen Umstellungen zu längeren Erwerbsdauern erfordern ein Umdenken und oft auch weitreichende Umorganisationen. Dies ist mit hohem Aufwand und neuen Risiken verbunden. Zumeist werden diese umgangen, in dem auf die in den letzten Jahren eingeübten Methoden und Strukturen zurückgegriffen wird, ohne dass dabei Altersstereotype entscheidend sein müssen. Es geht eher um die für jegliche konservative Haltungen typische Idealisierung der einmal gefundenen Lösung und deren Verlängerung in die Zukunft. Wo weiterhin Stellenabbau durch Frühausgliederung (über Arbeitszeitkonten, Altersteilzeitmodelle etc.) erreicht werden soll, sind diese vorruhestandskonservativen Lösungen anzutreffen. Sie stehen alterssensiblen Personalpolitiken und innovativen Lösungen zur nachhaltigen Verbesserung der „work ability“ im Wege. – Mischformen und Intensität des Ageism Die oben umrissenen Formen des Ageism sind auf der Ebene der Entscheidungen im Unternehmen intentional unterschiedlich legitimiert. Demzufolge sind sie auch als Erscheinungen unterschiedlich relevant und ihnen müsste – wenn
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das gewollt wäre – auf verschiedene Weise entgegen getreten werden. Unspezifische Anregungen und pauschale Vorgaben, Ältere möglichst nicht zu benachteiligen, werden an den Strukturen des Ageism scheitern. Es wird anhand der Unterschiede zwischen den Typen verständlicher, warum in den untersuchten Betrieben keineswegs eine Agitation für die allgemeinen Vorzüge der älteren Bewerber/innen nötig ist. Positive Stereotype (erfahrener, ruhiger, verantwortungsvoller) konnten überall abgerufen werden, auch Diversityvorgaben wurden zumeist als positiv eingeschätzt. Die unterschiedlichen Typen des Ageism wirken davon unbenommen. In der realen Personalpolitik und der Praxis der Auswahlverfahren bei den Unternehmen treten die Typen jedoch selten klar getrennt voneinander auf, sondern vermischen sich in den Entscheidungen. Zumal immer mehrere Personen in den Auswahlprozess einbezogen werden, vermischen sich die einzelnen Typen in den Argumenten. Dabei bestätigen sie ihre stereotypen Deutungen gegenseitig und verstärken somit ihre Wirkung. Ageism ist daher nicht nur wegen seiner Invisibilität schwer empirisch zu erfassen, sondern auch schwer zu bekämpfen, weil er (wie jede Ideologie) zu hermetischen Deutungsstrukturen neigt. Keine der oben beschriebenen Einzelformen ist in ihrer Stereotype reproduzierenden Art, noch in ihrer diskriminierenden Wirkung in modernen Gesellschaften akzeptabel. Strukturell werden Ältere, wo Ageism auftaucht, latent oder manifest benachteiligt. Folgekosten diskriminierender Praxis werden der Versichertengemeinschaft überantwortet. Die Wirkung und Existenz von Ageism ist in den untersuchten Wirtschaftsbereichen vor allem in Mischungen und Abstufungen der oben beschriebenen Formen alltäglich. In den beobachteten Unternehmen konnten die hier gezeigten Formen als Amalgam aus mehreren Facetten beobachtet werden. Nur selten, und zwar in fünf Fällen, konnte die Intensität des Ageism als wenig oder kaum spürbar für Personalentscheidungen eingestuft werden. Bei allen anderen, also der Mehrheit, wirkten die hier vorgestellten vier Formen des Ageism als Barrieren bei der Einstellung Älterer. Für alle Formen des empirisch beobachtbaren und für die Studie systematisierten Ageism gilt, dass Stereotype und Diskriminierungen mit schicksalshaften Zwängen ökonomischer, biologischer und gesellschaftlicher Art legitimiert werden, denen sich der Betrieb oder der Akteur ausgeliefert sieht. Ageistische Phänomene traten somit besonders stark in Kontexten auf, in denen passive und reaktive Handlungsmodelle vorherrschen. Zur Komplexitätsreduktion bei Auswahlentscheidungen wurden dort Alterstereotype wie selbstverständlich genutzt. Demgegenüber sind ageistische Einstellungen seltener, in denen ein aktives Handlungsmodell verfolgt wird und differenzierte und informierte Altersbilder deutungsmächtig sind. – Einbettung der Ergebnisse und Forschungsbedarf Die Ergebnisse der Studie überraschen angesichts der Positivauswahl der Fälle. In allen untersuchten Betrieben wurde zunächst glaubhaft ein altersfreundliches
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Bild abgegeben, und die Möglichkeit der Übernahme von älteren Bewerberinnen oder Bewerbern wurden immer bejaht, Einstellungen und Förderungen Älterer wurden befürwortet und gefordert. Wären diese ersten Aussagen der Personalverantwortlichen als hinreichende Quelle betrachtet worden, wäre das Ergebnis der Studie eine überaus positive Einstellung gegenüber dem Altern in deutschen Unternehmen gewesen. Veränderungen und Diskussionen auf dieser Ebene wären überflüssig. Die geringen Chancen Älterer auf Wiedereinstellung müssten andere Ursachen haben. Diskriminierungsvorwürfe und persönliche Tatsachenberichte (wie in Nurney 2007) könnten als Randerscheinungen negiert werden. 19 Die Beobachtungen in den sich selber als „altersfreundlich“ gebenden Betrieben lassen eine gewisse Skepsis gegenüber langläufigen Annahmen zur Irrelevanz von Ageism in der Arbeitswelt aufkommen. Eventuell gehören auch in jenen drei Vierteln der Betriebe 20 , bei denen im IAB-Betriebspanel 2000 und 2003 offene und positive Einstellungen gegenüber Älteren gemessen wurden, Ageismen zum betrieblichen Alltag und personalpolitischen Entscheidungshintergrund. Dafür spricht, dass die entwarnenden Interpretationen der Ergebnisse der entsprechenden Items im IAB-Betriebspanel kaum mit dem späteren Befund in Einklang zu bringen sind, dass deutsche Personalmanagements auf die unabwendbare Erhöhung der Belegschaftsalter kaum vorbereitet seien (Brussig 2005; Putzing & Wahse 2005). Mit weiteren qualitativen Analysen von betrieblichen Kontexten ließe sich schließlich die „Irrealität des Jugendwahns“ (Bellmann et al. 2003: 145) entschlüsseln. So kann mittels des bereits vorliegenden Beobachtungsmaterials abgeschätzt werden, wie groß die Differenz zwischen politisch korrektem Antwortverhalten und tief sitzenden Stereotypen sowie ageistischen Handlungsstrukturen ist. Es deutet sich an, dass der u.a. von Bellmann et al. (2006) gezeigte starke Zusammenhang der Einstellung von Älteren mit dem Belegschaftsalter auch mit der Bevorzugung der eigenen Altersgruppe („Peerauswahl“) erklärt werden könnte. Auch diese Erklärungsmöglichkeit bietet keineswegs die Basis für eine Entwarnung. Unternehmen, die heute eher Ältere einstellen, weil sie bereits eher mehr Ältere beschäftigen und von deren Leistungsfähigkeit überzeugt sind, 19 So auch der Ausgangspunkt betriebswirtschaftlicher Überlegungen: „Subjektive Befragungen in den Betrieben zeigen darüber hinaus, dass es zwar besonders positive Altersbilder bei Personalverantwortlichen geben mag, dass diese aber mehr oder weniger losgelöst sind von faktisch getroffenen Entscheidungen.“ (Backes-Gellner 2009: 11). Um dies zu klären, wird in den folgenden Artikeln des Sammelbandes (Backes-Gellner & Veen 2009) diskutiert, ob evtl. Rechte älterer Arbeitnehmer/innen und die Senioritätsentlohnung (bzw. die Annahme, dass es diese gibt), die Arbeitsleistung oder die Altersheterogenität (weil evtl. ältere und jüngere Beschäftigte nicht gerne zusammenarbeiten) dafür verantwortlich sind. Ageism wird nicht erwähnt und Altersdiskriminierung nur im Zusammenhang mit dem entsprechenden Gesetz behandelt. 20 Gemeint ist der andere Teil, jenes „Viertel der deutschen Betriebe“, das „sich offen zu einer Altersdiskriminierung in ihrer Rekrutierungspolitik“ bekennt (Bellmann et al. 2003: 143).
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können dies nur einige Jahre so verfolgen. In mittlerer und längerer Sicht werden gerade dort Sukzessionsschwierigkeiten auftreten. Diese Betriebe würden dann ebenfalls in geringerem Maße Ältere rekrutieren können. Solche „altersstrukturbasierte Ausgrenzung“ müsste sich im IAB-Betriebspanel abbilden lassen, wenn die Alterszentralität kontrolliert werden würde. Hier wäre zukünftig weiterhin eine genaue und laufende Messung des Einstellungsverhaltens mit großen Datensätzen angesagt. Ebenso bietet es sich an, die deskriptiven Typen von altersselektiver Personalpolitik bei Bellmann et al. (2006): „Requalifizierung“, „Dequalifizierung“, „Schutz“ und „Verdrängung“ für Maßnahmen der Arbeitsförderung zu nutzen. Diese personalpolischen Typen können auch als Resultate der Wirkung der oben gezeigten Formen des Ageism aufgefasst werden. Die Maßnahmen sollten daher nicht an den Folgen (keine Qualifizierung für Ältere etc.) ansetzen, sondern an den Ursachen. Es ginge dann weniger um finanzielle Förderung, sondern um Aufklärung zur Altersensibilität (statt „Altersfreundlichkeit“), nachhaltiger Förderung von „work ability“ (statt kurzsichtiger Vernutzung des Humankapitals), Flexibilisierung der Aufstiegswege (statt Karrieredogmen und Altersbarrieren für Quereinsteiger/ innen) sowie entsprechende juristische Rahmensetzungen. Vor der Aufklärung der Personalverantwortlichen in den Unternehmen stünde zunächst die „Aufklärung der Aufklärer“. Dazu gehört Einsicht in die Invisibilität des Ageism, die sich schon bei Wolff et al. (2001) andeutete. Sie zeigten ja, dass altersselektive Personalrekrutierung, alterssegmentierte Aufgabenzuweisung, Nachteile bei der Laufbahn- und Nachfolgeplanung, Geringschätzung der Nachfolgeplanung und des Wissenstransfers sowie Nachteile bei der betrieblichen Fort- und Weiterbildung auftreten, auch wenn diese Unternehmen zunächst altersfreundliche Einstellungen präsentieren haben. Dass diese Phänomene als Ageism bezeichnet werden müssen, sollte kein Tabu mehr sein. So zeigt Görlich (2007), dass auch positive Stereotype (besondere Zuverlässigkeit, hohe Loyalität, ausgeprägteres Erfahrungswissen, ein ausgewogeneres Urteil, eine größere Frustrationstoleranz, höhere Allgemeinbildung und eine stärker ausgeprägte Verträglichkeit) immer noch Stereotype sind und dementsprechend individuelle Fähigkeiten sublimieren. Diese Argumentation fand sich schon bei Palmore (1990). Sein zentrales Argument war, dass der notwendige Respekt Älterer gerade nicht wiederhergestellt wird, wenn einfach negative mit positiven („netten“) Stereotypen ausgeglichen werden. Im Gegenteil, die positiven Zuschreibungen ergänzen nur die negativen. Dem folgen auch Conrads et al. (2008) wenn sie aus der Gegenüberstellung von Defizit- und Kompetenzmodell folgern: „Bei beiden Modellen handelt es sich jedoch um stereotypische Betrachtungsweisen. Beide verallgemeinern und blenden die Kontextabhängigkeit von Fähigkeiten aus“. Insofern führen auch die Kompetenzabfragen in den einschlägigen quantitativen Studien auf einen falschen Pfad. Es kann nicht darum gehen, unter den Personalverantwortlichen positive Altersstereotype zu
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verbreiten oder deren Existenz als Beleg der „Alterfreundlichkeit“ zu missdeuten. Das anspruchvollere Ziel müsste sein, die Irrelevanz von altersbasierter Auswahl zu vermitteln. Für die betriebliche Beratung stehen seit längerem sowohl konkrete Ansatzpunkte zum „Älterwerden im Betrieb“ aus deutscher Perspektive (z.B. Frerichs 1998), als auch die mittlerweile prominenten und vielfach kopierten Ansätze von Ilmarinen (2000, 2004, 2005) zur Verfügung. Den vereinfachenden und klar diskriminierenden Verjüngungsempfehlungen, die oft von etablierten Beratungsfirmen verbreitet wurden, sollte etwas Adäquates entgegengesetzt werden. Wenn berücksichtigt wird, dass entsprechende Ansätze schon seit den 1990er Jahren publiziert wurden (beispielhaft Walker 1995; Walker & Taylor 1998; Europäische Stiftung 1997; Europäische Kommission 2001), und die entsprechenden Initiativen in Europa seitdem wirken, ist von keiner Selbstregulation des Deutschen Arbeitsmarktes auszugehen oder kann auf eine spontane Selbstheilung ageistisch agierender Personalverantwortlicher gehofft werden. Ebenso erweist sich das AGG als noch wenig wirksam. 21 Hier scheint mangelnde Aufklärung zu diskriminierender Praxis und deren Legitimation zu einem sich selbst stabilisierenden Kreislauf zu führen. Die Abkehr vom Vorruhestandsparadigma ist in Deutschland – im Vergleich zu den nördlichen europäischen Nachbarn (Solem et al.; Jensen; Gould & Saurama; Teipen & Kohli; de Vroom: in Maltby et al. 2004) zur Förderung der Longevity Workforce keineswegs auf einem klaren Weg oder gar bereits abgeschlossen. Was zur Umsetzung zu fehlen scheint, ist eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die sich die Rechte der Älteren (bzw. besser: die Beseitigung der Ungleichbehandlung nach Alter) zur Aufgabe macht. 22 Technisierte und sich rasch wandelnde Arbeitsmärkte erfordern ein hohes Maß an Flexibilität, stetige Weiterbildungen und Umschulungen. Dies steht stei-genden Lebensarbeitszeiten nicht im Weg, sondern sollte sich gegenseitig bedingen. Die dafür erforderliche laterale Mobilität, Wieder-, Um- und Neueinstiege lassen sich mit starren Altershierarchien und Altersgrenzen kaum umsetzen. Gerade im Bereich der Umschulung und Weiterbildung sollten Altersgrenzen evaluiert werden. Der für Ageism typische Zusammenhang von diskriminie21 Bezeichnend ist, dass die Rechtssprechung selber immer wieder mit Ageismen argumentiert. So wird ein Urteil folgendermaßen begründet: „…Pauschalisierungen seien zulässig, weil ab einem bestimmten Alter bekanntlich die körperlichen und geistigen Funktionen nachlassen“ (Mann 2006: 72, Hervorhebung vom Autor). 22 Auch hierbei kann auf die Erfahrungen aus der Genderdebatte verwiesen werden. Ohne klare politische Vorgaben und eine Lobby, die sich der Ungleichbehandlung annimmt, geht es nicht. Die als „natürliche“ Nachteile oder besonderes „weibliches Arbeitsvermögen“ noch vor wenigen Jahren angewandten Begründungen für die geringe Erwerbsbeteiligung der Frauen sind weitgehend durch die Realität ad absurdum geführt worden. Dies geschah aber nicht durch die wundersame Selbstheilungskraft der Märkte, sondern vor allem durch gezielte Frauenförderpläne, -gesetze und Quotenreglungen.
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renden Altersgrenzen und Stereotypen muss wissenschaftlich beschrieben und politisch bekämpft werden, um dem steigenden Anteil Älterer bei gleichzeitig wachsenden Anforderungen an Flexibilität und Weiterbildung gerecht zu werden. Interessanter Weise beginnen diesbezüglich Forderungen zum demographischen Wandel aus Gewerkschaftskreisen (Kerschbaumer & Räder 2008 23 ) mit der Anklage eben jener Stereotype, deren Relevanz bis vor kurzem noch bestritten wurde.
7. Fazit: Ageism als Ideologie Nach dem kursorischen Einblick in die Empirie soll abschließend zur theoretischen Argumentation zurückgekehrt werden. Angesichts der oben umrissenen Befunde kann die Existenz von Ageism kaum angezweifelt werden. Es bleibt jedoch diskutabel, ob Ageism ein zentrales Problem unserer Gesellschaft ist oder eine marginale Randerscheinung. Um dies zu beantworten, wird die oben begonnene kategorische Einordnung des Begriffs abgeschlossen. Im empirischen Beispiel wurde gezeigt, dass Nachweise von Diskriminierungen in der Arbeitswelt nur schwer gelingen können. Diskriminierungen als eine Facette des Ageism gehören zwar zur Realität der Personalauswahl, können jedoch nur sehr schwer klar bewiesen werden. Dies ist mit der Einführung des AGG nicht einfacher geworden. Zunächst haben gesetzliche Grundlagen gegenüber soziologischer Forschung und moralischer Beurteilung eine höhere allgemeine Deutungsmacht. Da die im Gesetz formulierten Anforderungen des Nachweises zwar zunächst als strenge Regeln erscheinen, juristisch sich aber als kaum praktikabel erwiesen haben, um Fälle von Diskriminierungen auch erfolgreich zur Anklage zu bringen, wird auch Ageism als Problem letztendlich marginalisiert. Ausnahmereglungen sind sehr weit gefasst und vergleichsweise unpräzise, wodurch in weiten Bereichen Altersgrenzen juristisch legitimiert werden, bevor dazu eine gesellschaftliche Diskussion stattgefunden hat. Somit verschwindet Altersdiskriminierung aus der gesellschaftlichen Beobachtung, in dem Altersgrenzen per Gesetz als „sinnvoll“ definiert werden – die ihrerseits mit ageistischen Argumenten begründet werden, sofern sie auf der Annahme beruhen, dass das chronologische Alter einen hinreichenden Indikator für Arbeitsfähigkeit bietet. In der Rechtspraxis und -literatur sind bislang zum AGG kaum nachvollziehbare Altersdiskriminierungsfälle verhandelt worden, sondern 23 „Damit Ältere in Arbeit bleiben können oder der Wiedereinstieg in Beschäftigung gelingt, ist auf unterschiedlichen Ebenen anzusetzen: 1. Die unberechtigten Vorurteile gegenüber älteren Beschäftigten müssen abgebaut werden. … Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob nicht auch die Arbeitgeber in die Pflicht zu nehmen sind, anstatt sie ausschließlich zu fördern, wenn sie ältere Menschen beschäftigen.“
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eher randständige Konstellationen und Klagen von Trittberettfahrern, die die Möglichkeiten des Gesetzes auszunutzen versuchen (und dabei bislang ausnahmslos scheitern). Zuweilen wird die Notwendigkeit jeglicher gesetzlicher Regulation bestritten. Argumentiert wird mit absonderlichen Fällen (die, wie der Fall Mangold zum Teil konstruiert sind, um Grenzen der neuen Gesetze auszuloten), wobei die ursprüngliche Intention der Regelungen zum Teil verloren geht. Ein zweiter, entscheidender Unterschied zum amerikanischen ADEA verstärkt die Invisibiltät des Ageism. Es sind offenbar weder Gruppenklagen zulässig, noch wird Ageism als Offizialdelikt behandelt. Daher können relevante Einzelfälle nicht durch eine schlagkräftige Organisation zu einem allgemeinen Anliegen gemacht werden, womit die normative Wirkung des AGG unterminiert ist. Da die Möglichkeit der Schlichtung im Rahmen der privaten Rechtsangelegenheiten befangen bleibt und Streitwerte am Einkommen der privaten Kläger gemessen werden, ergeben sich im Falle der Normverletzung weder berichtenswerte und öffentlichkeitswirksame Mitteilungen, noch spürbare Bedrohungen durch Strafen. In der amerikanischen Rechtssprechung wird demgegenüber über Streitwerte verhandelt, die sich am Unternehmensgewinn ausrichten. Entsprechend hoch sind das mediale Echo und der Aufwand in den Unternehmen, sich vor solchen Klagen zu schützen. Dies ist auch der Grund, warum aus Bewerbungsunterlagen (i.d.R. Formulare) Hinweise auf das Alter (wie Rasse, Aussehen, Geschlecht, irrelevante Angaben zum früheren Lebensweg) nicht statthaft sind. Da eine Voreinscheidung durch das Wissen dieser Variablen nicht auszuschließen ist, würden damit empfindliche Klagen provoziert werden. In Deutschland werden diese Angaben immer noch verlangt, einschließlich einem Foto und dem ultimativen „lückenlosen Lebenslauf“. Diese altbackene Praxis wird durch das AGG kaum tangiert. Weiterhin fehlt die durchsetzungsfähige Institution, die Kläger/innen vor Viktimisierung schützen würde und auf Augenhöhe mit großen Unternehmen verhandeln könnte. Die Antidiskriminierungsstelle, die beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angesiedelt ist, übt keine schützende Wirkung gegen Diskriminierung aus und darf weder Einzelfälle juristisch beraten, noch Entscheidungen des Ministeriums kommentieren (auch wenn sie ageistisch sind). Sie ist mit der EEOC nicht zu vergleichen. Letztere hat weite Machtbefugnisse, kann eigene Fälle investigativ (!) untersuchen und hilft effektiv, die im Gesetz verankerten Rechte umzusetzen. Wie hoch die Barrieren für ältere Arbeitssuchende tatsächlich sind, hat sich in der Projektbeschreibung angedeutet. Mit der jetzigen Fassung des AGG und ohne entsprechende flankierende Maßnahmen wird dies nicht angemessen bekämpft und das Phänomen Ageism schlicht negiert. Ähnliche Folgen hat die Annahme, dass Ageism nur dadurch nachweisbar ist, wenn besonders negative Altersbilder und krude Vorstellungen über das Altern massenhaft manifest werden, und zwar möglichst auch bei der Gruppe der Älteren selber (Kruse & Schmitt 2005). Würde diese Herangehensweise auf „sexism“ angewandt, zeigt
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sich relativ schnell die Unhaltbarkeit eines solchen Vorgehens. Wenn z.B. bei einer Messung frauenfeindlicher Einstellungen weniger als die Hälfte der befragten Frauen keine hohe Zustimmung zu kruden frauenfeindlichen Statements geben würde, wäre erwiesen, dass frauenfeindliche Stereotype oder krude Geschlechterrollen bei Frauen kaum Rückhalt haben, jedoch nicht, dass „sexism“ für die Wissenschaft irrelevant ist und als politische Frage uninteressant sei. Noch einfacher fällt die Widerlegung von Ageism, wenn statt Ageism Altersfeindlichkeit und Gerontophobie zum Maßstab gemacht werden. Auch die Missachtung des positiven Ageism verschleiert das Phänomen. Wenn positive Zuschreibungen nach Alter (mehr Erfahrung, Solidität etc.) ursächlich auf das Alter bezogen werden und sich mit negativen „aufwiegen“, handelt es sich nicht um „differenzierte Altersbilder“, sondern weiterhin um Stereotype. Es ist keine Überraschung, dass für separate Betrachtungen von Altersstereotypen oder Altersdiskriminierungen, wenn sie keine kritische Distanz zum Ageism explizieren, Ageism kein Problem darstellt. Dies gilt für die Alltagswelt wie für wissenschaftliche Studien. Da nach den amerikanischen Diskussionen und den vorliegenden empirischen Hinweisen kaum davon ausgegangen werden kann, dass Ageism nicht existiert, führt offensichtlich die falsche Übersetzung (Ageism = Diskriminierung oder Vorverurteilung) zu einer Einengung des Begriffs, der das Phänomen als ganzes übersieht. Ein Grund hierfür liegt in der Begriffsgeschichte selbst. Denn Ageism als Komplex ist nicht, wie die erste und weit verbreitete Definition von Butler es nahe legt, ein „process“, sondern wie Bythe-way (2005: 116) und Bytheway & Johnson (1990) schließen, eine Ideologie. Bytheway bezieht sich bei seiner These auf Giddens’ Ideologiedefinition: „shared ideas, or believes which serve to justify the interests of dominant groups. Ideologies are found in all societys in which there are systematic and engrained inequailities between groups.” (Giddens 1989: 727). Diese fügt sich in Giddens’ „Dualität der Struktur“ ein, bei der Strukturen zum einen Handlungsrahmen setzen, zum anderen mit den Handlungen wiederum Strukturen geschaffen werden. Dieses Kennzeichen aller menschlichen Gesellschaften wird bei den Ideologien deutlicher, weil der ideologiekritische Betrachter (quasi „außerhalb“ der Ideologie) nicht dem Problem der „doppelten Hermeneutik“ (Giddens 1976) unterliegt, das soziale Strukturen wissenschaftlich schwer durchschaubar macht. Das z.B. mit Entscheidungen zum Ausschluss Älterer innerhalb der ageistischen Ideologie neue Fakten geschaffen werden, die die ageistische Struktur ihrerseits unterstützen, liegt nur dann auf der Hand, wenn die wissenschaftlichen Bedeutungsrahmen von den Orientierungen im Alltag getrennt werden können. Insofern wäre eine theoretische Begründung von AntiAgeism die konsequente Fortführung der sozialwissenschaftlichen Aufklärung über das Altern, die mit der Kritik am „Defizitbild des Alterns“ begann. Das Ageism die Kriterien zeigt, die ihn als Ideologie kennzeichnen, kann mit der Ideologiedefinition von Louis Althusser (1977) belegt werden. Althusser
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geht davon aus, dass Ideologie nicht als einfache (äußere) Manipulation zu verstehen ist, sondern als ein allgemeines, strukturelles Kennzeichen kapitalistischer Gesellschaften. Die Funktion der Ideologien sei es, den Individuen jene Entscheidungssicherheit zu geben, die sie zu autonom handelnden Subjekten macht. Bewusstsein (allerdings: „falsches“ Bewusstsein) basiert demnach immer auf Ideologien und ihren Vereinfachungen. Hatte Althusser bei seinem Ideologiebegriff die Kritik am „ideologischen Staatsapparate“ im Visier, ist aus heutiger Sicht kaum zu übersehen, dass seine eigene Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit – quod erat demonstrandum – durch eine andere (die kommunistische) Ideologie gespeist wurde. Die durch Althusser geschaffene fundamentale Analyse und detaillierte Beschreibung der Funktion von Ideologien lässt sich ohne große Mühe sowohl auf faschistische und kommunistische Ideologien, als auch auf Komplexe wie „racism“, „sexism“ und Ageism anwenden. Der Wissenschaft kommt dabei die Aufgabe zu, Ideologien und ihre Folgen zu bekämpfen, weil sie in der Lage sein, die Verhältnisse rational – und somit ideologiekritsch – zu beschreiben. Auf diese Weise kann zwangsläufig auch Altersdiskriminierung innerhalb der Ideologie des Ageism selber kein, oder nur ein untergeordnetes Problem darstellen. Erst wissenschaftlich begründete Begrifflichkeiten ermöglichen die ideologiekritische Distanz, die zur Aufdeckung diesbezüglicher Missstände beitragen. Ein Ausbrechen aus den sich selbst bestätigenden Erklärungen einer Ideologie sieht Althusser als komplexe Aufgabe, da Ideologien in sich stimmige Weltbilder manifestieren, deren „Wissen“ sich aus zirkulären Erklärungen speist und die somit gegen andere Deutungen hermetisch verschlossen sind. Diese Sichtweise wird auch von konstruktivistischen Ansätzen bestätigt. So stellt John Thompson die naturalistischen und hegemonialen Ansprüche von Ideologien als deren Kennzeichen heraus: "Ideology, according to this conception, is by nature hegemonic, in the sense that it naturally serves to establish and sustain relations of domination and thereby to reproduce a social order which favors dominant individuals and groups.” (Thompson 1991: 68) Die Konstruktion einer Ideologie läuft demnach darauf hinaus, dass die Unterschiedlichkeiten keine zufälligen Merkmale repräsentieren, sondern „natürliche“ Hierarchien als Basis sozialer Ordnungsverhältnisse konstruiert werden. Diese naturalistischen Ordnungsverhältnisse lassen sich für die ageistische Ideologie zum Beispiel sehr gut in den Darstellungen der „Lebenstreppen“ nachweisen. Soziale Konstruktionen werden hier als Ablauf von Statusstufen dargestellt, die eine „natürliche“ Höherstellung des mittleren Alters und einen Abstieg zu späteren Altersphasen suggeriert und daran spezifische Verhaltensnormen bindet (Schenda 1983). Diese Altersbilder sind demnach Konstruktionen, die gleichzeitig Kenzeichen und Basis der Ideologie bilden. Der Schritt von der (unproblematischen) Verbindung optisch sichtbarer Unterschiede mit dem chronologischen Alter bis zur Zuweisung von bestimmten Verhaltenserwartungen ist weit. Es handelt sich um eine komplexe gesellschaftliche Konstruktion, deren Koordinaten strukturellen
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Rahmungen und normativen Setzungen unterliegen. Werden, wie z.B. im vormodernen Japan, andere Aspekte (wie Freiheit von Arbeit und Verpflichtung) „hoch“ bewertet, kehrt sich unsere Hierarchie um, es entsteht eine U-förmige Kurve (Benedict 1946; Palmore 1975; Fromanek 2009). Zwischen kulturell verankerten Altersbildern und ideologischen Ableitungen, dass bestimmte Alter biologisch bedingt, also „natürlich“ mit bestimmten Verhaltenserwartungen und Statuspositionen verbunden sind, besteht ein großer Unterschied. Hier könnte das instruktive Gleichnis von Jack M. Balkin (2003) angeknüpft werden. Er bezeichnet allgemein geteilte Normen und Werte als „kulturellen Software“ und vergleicht Ideologien mit Computerviren. Computerviren sind selber eine Form von Software, aber eine, die die allgemeinen Funktionen und Regeln gleichsam nutzt und unterläuft. Viren verbreiten sich unmerklich und sie sind erst nach einer Systemanalyse nachzuweisen. Ist ein Netzwerkgerät mit diesem Virus befallen, hilft entweder eine Anti-Virus-Software, oder die gesamte Software muss neu konfiguriert werden. Auch wenn der konkrete Vergleich zu einer wissenschaftlichen Prüfung kaum hinzureichen vermag, scheint die Gleichsetzung von allgemeinen Altersbildern und ageistischen Ideologien unhaltbar zu sein. Die Kennzeichen der Ideologie lassen sich – über die klassischen und neueren Autoren hinweg – dahingehend zusammenfassen, dass Ideologien (1.) durch sie verursachte Ungerechtigkeiten ihrer Definitionen nach bestreiten, dass sie (2.) „natürliche“ oder „gesetzmäßige“ Ungleichheitsverhältnisse postulieren, und damit (3.) Grenzen zwischen Gruppen konstituieren, Ungleichbehandlungen legitimieren und Diskriminierungen versuchen zu legalisieren sowie dabei (4.) mit Tautologien und hermetische Argumentationen arbeiten. All dies trifft auf Ageism zu. Wird die zunächst unverdächtige Beobachtung von Altersstufen zur Doktrin der bürokratischen Zuweisung von Lebenschancen nach chronologischem Alter, erscheinen zum einen reale Unterschiede in den Altersgruppen als „Ausnahmen“ und zum anderen bleiben darauf aufbauende Ungleichbehandlungen ein Unthema. Anti-Ageism bewirkt vor diesem Hintergrund eine hohe Verunsicherung gegenüber „natürlichen“ Gruppenvorstellungen und evoziert dabei auch höhere Handlungsanforderungen. Die Einteilung in Altersgruppen ist tatsächlich sehr praktisch. Da Auswahlprozesse zwangsläufig nach irgendeinem Kriterium diskriminieren, schien das Alter das geringere Übel bei jeglicher Selektionsentscheidung zu sein. Zumal in Deutschland durch den allgemein gesicherten Rentenbezug ein stabiler Sozialstatus bereit stand, der im Falle des Ausschlusses vom Arbeitsmarkt als „vorgezogen“ verstanden wurde, erschienen prekäre Lagen Älterer Arbeitssuchender somit „natürlich“ begrenzt und damit weniger dramatisch. Dass es sich bei der Alterselektion prinzipiell um eine sehr problematische Auswahl nach einem askriptiven Merkmal handelt, wird erst vor dem Hintergrund der Erosion der allgemeinen Altersversicherung und veränderter Abschlagsreglungen wieder zu einer brisanten sozialen Frage. Ein Bewusstsein, inwiefern Menschen durch Altersselektion Lebenschancen vorenthalten werden,
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kann sich erst entwickeln, wenn über die Messung von Einzelphänomenen hinaus eine ideologiekritische Haltung gegenüber eigenen ageistischen Einstellungen und Entscheidungen eingenommen wird. Dies setzt den Willen und die Fähigkeit zur Reflexion der Macht von Altersbildern voraus und müsste zum Beispiel zur Kritik an naturalistischen und biologistischen Erscheinungen führen, die sich in Unwörtern wie der „Überalterung“ manifestieren. Die Chancen, die eine „Longevity Revolution“ (Butler 2008) bietet, werden weder genutzt, wenn der (zwar differenzierte und später einsetzende, aber doch unausweichliche) biologische Verfall mit dem Altern negiert oder „schön geredet“ wird, noch in dem alltägliche Ageismen einfach geleugnet werden. Erst eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit der Wirkung von stereotypen Deutungen und realen Diskriminierungen kann zu der erforderlichen Anpassung von Lebenschancen mit den heutigen und zukünftigen Potenzialen des Alters führen. In diesem Sinne können diese kursorischen Überlegungen nur ein erster und unvollständiger Anstoß zu einem Umdenken sein, dass Verhältnisse überwinden hilft, die in der Wissenschaft seit langem (Backes 1991; Clemens 1992) bekannt sind und beklagt werden.
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Altersbilder und ihre normative Wirkung im Wandel der Erwerbsarbeit Franz Kolland
Kultur und Gesellschaft beeinflussen das Altern und die Beziehungen zwischen den Altersgruppen. Es sind nicht nur die biologischen und physiologischen Veränderungen als solche, die den Alternsverlauf und das Bild von Kindheit, Jugend, mittleres und hohes Alter bestimmen. Es sind immer auch soziale und kulturelle Elemente, die auf diese Lebensphasen einwirken und sie überformen. Altersbilder beziehen sich dabei sowohl auf kognitive Repräsentationen von Informationen über die Lebenslage und Lebensführung alter Menschen, als auch auf gesellschaftliche Altersdiskurse und altersbezogene Körperbilder (Amrhein & Backes 2007). Sie entwickeln sich dabei oft zu verfestigten Bewertungskategorien, die sich auf Einstellungen und Verhalten gegenüber alten Menschen auswirken. In der Gesellschaft werden in Abhängigkeit von sozialstrukturellen Veränderungen jeweils verschiedene Bilder, Vorbilder, Regeln für das Älterwerden geprägt, d.h. die Altersbilder verändern sich im Laufe der historischen Entwicklung und je nach Lebenslage (vgl. Göckenjan 2000). Als ein Beispiel für die Dynamik in den Vorstellungen zum Alter können die Ergebnisse einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach genannt werden 1 . In dieser Studie gaben auf die Frage: „Möchten Sie 150 Jahre alt werden?“ 1956 rund 55% der deutschen Bevölkerung eine zustimmende Antwort, 1986 lag die Zustimmungsrate bei 41% und 2004 wollten 24% der Befragten so lange leben, sollte es die Wissenschaft möglich machen, so alt zu werden und auch so lange im Besitz der eigenen Kräfte zu bleiben. Sichtbar wird an den Zustimmungsraten eine zunehmende Skepsis gegenüber Hochaltrigkeit – und dies vor dem Hintergrund steigender Lebenserwartung –, wobei allerdings offen bleibt, inwieweit sich hinter dieser Altersskepsis nicht auch eine Wissenschaftsskepsis verbirgt. Aussagen zum Alter, mögen sie kritisch oder bedauernd, befürwortend oder glorifizierend sein, wirken immer in die gesamte Gesellschaft hinein. Sie treffen also nicht nur die Gruppe der Alten selbst. Altersstereotype beeinflussen alle, die in Familie, Staat, Wirtschaft oder Politik mit den Alten zu tun haben. Altersbilder sind, wie Anton Amann (2004) ausführt, „nicht nur Bilder von der Wirklichkeit, sie sind selbst Wirklichkeit. Sie beeinflussen unsere Wahrnehmungen, 1
http://www.demoskopie.de/pdf/prd_0615.pdf (Zugriff 19.6.2008)
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prägen mit Nachdruck unser Handeln und senken ihre vielfältigen Keime ins Altwerden jedes einzelnen Menschen selbst“ (S. 15). In der europäischen Geschichte gibt es darüber hinaus keine lineare Evolution im Status des Alters in dem Sinne, dass es zu einer eindeutigen Verschlechterung oder Verbesserung von Ansehen, Macht, Integration usw. der alten Menschen gekommen wäre.
1. Einleitung Alter muss als soziale Dimension der Gesellschaftsstruktur und zugleich als normative und symbolische Dimension verstanden werden. Als soziale Dimension ist Alter als komplexes Set von Beziehungen zwischen Menschen zu sehen. Marshall und McMullin (2001) sprechen in diesem Zusammenhang von strukturierten Altersbeziehungen (structured age relations). Soziale Beziehungen wie durch Alter, Klasse, Gender, Ethnizität sind fundamentale Aspekte der Sozialstruktur, die überdauernde soziale Systeme generieren. Sie gewinnen ihre Strukturierung über Rechte und Privilegien, die mit diesen Aspekten verknüpft sind, die entsprechend der Machtverhältnisse und -beziehungen verteilt werden, und um die gerungen wird. Die Beziehungen sind dabei je nach gesellschaftlichem Handlungsfeld – Familie, Betrieb, Öffentlichkeit – durch Konflikt bzw. Konsens gekennzeichnet. Werden Klasse, Alter, Gender und Ethnizität als soziale Beziehungen konzeptualisiert, dann entsteht eine Sichtweise, die darüber hinausgeht, Unterschiede allein auf individuelle Charakteristika zurückzuführen. Es ginge um einen Paradigmenwechsel, weg von einer Ressourcentheorie (Untersuchung der Verteilung dieser Ressourcen) hin zu einer Untersuchung altersbasierter Herrschaft, Autorität und Macht (McMullin 2000). Auf der Ebene der sozialen Beziehungen regulieren und organisieren soziale Erwartungen das Handeln. Besonders folgenreich sind diese Erwartungen in der Arbeitswelt. Arbeitgeber konstruieren Alterskategorien und platzieren Individuen in diese anhand des chronologischen Alters. Die Konstruktion erfolgt mittels der Vorstellung, dass ältere Arbeitnehmer weniger mächtig sind und weniger produktiv als jüngere Arbeitnehmer. Auf der anderen Seite werden sie als erfahren, verantwortungsbewusst und fehlerresistent gesehen. Wie immer diese Zuschreibungen aussehen, ist Alter damit eine potenzielle Basis für Konflikt. Die Strukturierung der Altersbeziehungen erfolgt dabei nicht ausschließlich von „außen“ und gewissermaßen deterministisch. Die Altersbeziehungen werden von den Individuen auch als veränderbar eingeschätzt, wobei allerdings die Handlungsfähigkeit im Rahmen einer Sozialstruktur stattfindet, in der Alter nur eine Dimension (neben Klasse, Geschlecht, Ethnizität) in den strukturbildenden Prozessen darstellt. Giddens (1981) setzt die Vorstellung, dass die so genannten strukturellen Zwänge ohne das Verständnis und die zum Teil aktive, wenn auch häufig paradoxe Mithilfe der Akteure gar nicht zustande kommen.
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Neben der Ebene der sozialen Beziehungen ist für das Verständnis der Position des Alters in der Gesellschaft die normative Dimension von Bedeutung. Unter Normen sind nicht primär „Sittennormen“ gemeint, sondern etwa die Rolle des Wohlfahrtsstaates, dem normativ (auch weiterhin) die existentielle Versorgung im Alter zugeschrieben wird – völlig unabhängig von Normen der Selbstkultivierung, des Durchbruchs zu sich selbst und der Erfüllung im Alter. Das Alter hat einen rechtlich fixierten, finanziell garantierten und sozial legitimierten Status, dem der Tendenz nach alle Mitglieder in nämlicher Weise zuordenbar sind. Sicherung und Status des Alters hängen aufs Engste mit der Ausformung des modernen Wohlfahrtsstaates zusammen. Dabei ist allerdings festzuhalten, dass staatliche Regelungen allein noch keine hochstrukturierende Wirkung auf den Lebensverlauf haben. Sie müssen (wiederum) mit anderen Systemen sozialen und kulturellen Handelns gekoppelt sein. Analyse und Wandel des Alterns können demnach nur so erfolgen, dass die sozialstrukturelle Gliederung des menschlichen Alterns und die symbolische Deutung bzw. normative Geltung in ihrem wechselseitigen Verhältnis und im historischen Kontext gesehen werden. In den nachfolgenden Ausführungen wird im ersten Teil die Bedeutung sozialer Normen im Alter diskutiert. Im zweiten Teil der Arbeit wird dann ein historischer Abriss zu den Altersbildern in ihrer normativen Wirkung gegeben, um dann im dritten Teil die Bedeutung von Altersbildern in der Erwerbsarbeit zu diskutieren.
2. Alter und soziale Normen Warum ist die Frage von sozialen Normen so wichtig im Zusammenhang mit der Analyse von Altersbildern? Internationales wie nationales Recht ist auf mannigfache Weise Quelle und Adressat allgemeiner und spezieller Wertungen und Normierungen, die das Alter betreffen. Hier geht es einerseits um die Verbindlichkeit von Altersstufen, als auch um medizinische oder psychosoziale Interventionen. Im Report der Zweiten Weltversammlung über das Altern 20022 wurde als erstes Ziel formuliert, Beschäftigungschancen für alle älteren Menschen zu schaffen, die arbeiten wollen. In diesem internationalen Aktionsplan wird gefordert, „die Arbeitsbedingungen entsprechend umzugestalten, um sicherzustellen, dass ältere Arbeitnehmer über die Fertigkeiten, den Gesundheitszustand und die Fähigkeiten verfügen, auch im fortgeschrittenen Alter erwerbstätig zu bleiben. Daher sollten Arbeitgeber, Arbeitnehmerorganisationen und die Personalabteilungen neuen Praktiken in der Arbeitswelt, im Inland wie im Ausland, die eine 2
http://www.un.org/depts/german/conf/altern/ac197-9.pdf (Zugriff: 6.7.2008).
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Weiterbeschäftigung älterer Arbeitnehmer erleichtern und ihre Produktivität und Arbeitszufriedenheit erhöhen, genauere Beachtung schenken“. In diesem deklarativen Anspruch steckt einerseits eine Referenz auf die Existenz und die Bedeutung sozialer Normen im gesellschaftlichen Handeln, wobei besonders auf den Wandel der normativen Struktur Bezug genommen wird. Gefordert werden Innovationsbereitschaft und ein Wandel des Bildes von älteren Arbeitnehmern. Andererseits wird auf den allgemein gültigen Charakter von Normen hingewiesen. Beide Elemente zusammen bilden einen Handlungsrahmen für soziale Organisationen sowie die alten Menschen selbst in der Gesellschaft. Die zahlreichen Dokumente der internationalen Staatengemeinschaft zeigen jedenfalls, dass das Normative die Grundlage der Gesellschaft ist. Jede Gesellschaft entwickelt und gestaltet ihre eigenen Normen, sie ist sogar gezwungen, diese zu gestalten (vgl. Schäfers 2008). Wenn auch eine gewisse Globalisierung von sozialen Normen feststellbar ist, so bleiben diese nichtsdestoweniger stark territorial festgelegt. Sie verlieren jenseits des sozialen Umfeldes und der Art der Aktivitäten, auf die sie sich beziehen, ihren Sinn. Indem Entscheidungen für oder gegen eine bestimmte Norm getroffen werden, für oder gegen Rauchen am Arbeitsplatz, für oder gegen stationäre Altenpflege, für oder gegen Altersteilzeit oder Frühverrentung ist eine Gesellschaft produktiv. Sie ist produktiv, weil eine Wahl innerhalb eines bestimmten Spielraums getroffen wird und weil Entscheidungen getroffen werden, die zu Festlegungen führen und weiteres Handeln definieren. Und diese Festlegungen erfolgen unter gegenseitiger Bezugnahme, d.h. Normen begrenzen die Willkür in der Beziehung von Menschen untereinander. Allerdings können solche Entscheidungen nicht nur zu mehr Sicherheit und Verhaltensstabilität führen, sondern auch gleichzeitig zu Regelungen führen, die Freiheitsspielräume einschränken bzw. sozial ungerecht sind. Inwieweit also (neue) soziale Normen als produktiv bewertet werden können, hängt nicht nur davon ab, ob sie Sicherheit erzeugen, sondern auch, wie sie sich auf die Machtverhältnisse in der Gesellschaft auswirken. So haben etwa ältere Arbeitnehmer aufgrund fehlender Ressourcen und institutioneller Beschränkungen geringere Spielräume bei der Gestaltung sozialer Normen. Dazu gehört etwa der Aspekt, inwieweit bei der Weiterbeschäftigung Älterer eher das Ziel der Produktivität oder das Ziel der Arbeitszufriedenheit verfolgt wird (siehe dazu auch das Kapitel weiter unten: Demographiesensible Personalplanung). Wie sehr die Produktivität im Vordergrund steht, zeigt sich in verschiedenen Studien zur Frage der Arbeitsproduktivität im Alter (vgl. Skirbekk 2008). Die überwiegende Mehrheit der Studien kommt zum Ergebnis eines altersbasierten Produktivitätsverlusts. Insbesondere unter Bedingungen raschen technologischen Wandels schneiden ältere Beschäftigte im Vergleich zu jüngeren schlechter ab. Allerdings ist diesem Ergebnis entgegen zu halten, dass die meisten Studien methodische Mängel aufweisen (z.B. Stichprobenbeziehung, Branchenauswahl). Und: Der Rückgang der Produktivität mit dem Alter
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ist nicht naturgesetzlich vorgezeichnet, sondern ein Effekt der institutionellen Rahmensetzung (s. auch Stamov Rossnagel in diesem Band). Unter sozialen Normen verstehen wir jedenfalls kollektive Verhaltenserwartungen und Verhaltensanweisungen, die als legitim gelten. Sie bewirken eine gewisse Regelmäßigkeit und Gleichförmigkeit der sozialen Handlungsabläufe und entlasten das Individuum von der Notwendigkeit, ständig neue, situationsgerechte Handlungsweisen zu entwerfen (Peuckert 1986: 256). Soziale Normen befriedigen grundlegende Bedürfnisse des Menschen, wie z.B. das nach sozialem Vergleich, Nutzenmaximierung, Gerechtigkeit und Zusammengehörigkeit. Wenn Normen auch oft mit rationalen Interessen von Individuen begründet werden, d.h. Individuen ein Interesse daran haben, die Handlungen von anderen Personen in eine bestimmte Richtung zu lenken, so ist ihnen doch gerade eigen, dass sie über eine bloße Nutzenorientierung hinausführen. Denn, so Esser (2001: 35), „die bloße Nutzenorientierung lässt den Menschen in Ziellosigkeit und die Gesellschaft in Unordnung zurück“. Soziale Normen werden in Sozialisationsprozessen gelernt und tradiert, sie ermöglichen Erwartungshaltungen und haben allgemeine Geltung für ein Kollektiv. Soziale Verpflichtungen werden habitualisiert. Es handelt sich also nicht nur um Zumutungen, die als von außen kommend erlebt werden, sondern um Sollansprüche, die verinnerlicht und als selbstverständlich angesehen werden. Soziale Normen erzeugen auf diese Weise Sicherheit (z.B. Altersgrenze) und ermöglichen ein geregeltes Zusammenleben. „Normen begründen Normalität“ (Bahrdt 2000: 50). Jede normative Interpretation von Handlungen und Situationen begrenzt die soziale Relevanz der individuellen Erlebnissphäre. Doch darf dabei nicht vergessen werden, dass es auch um die Schaffung des zuverlässigen Menschen geht (Schroeter 2002). Dies lässt sich etwa am Zusammenspiel von normativen Postulaten, wie sie in den Alternswissenschaften entwickelt werden, und sozio-ökonomischen Bedingungen nachweisen. Rekonstruieren lässt sich eine Wechselwirkung zwischen dem Postulat der „Potenziale des Alters“ und der weitgehend uneingeschränkten Beschäftigungsfähigkeit (Employability). Alter und Altern werden also immer wieder neu verhandelt, und zwar in deutlicher Abhängigkeit von gesellschaftlichen Produktionsbedingungen. Für die gegenwärtige „Verhandlungsphase“ erwartet Barkholdt (2004) im Ergebnis eine Prekarisierung des Übergangs in den Ruhestand und eine defizitäre Lebensphase Alter.
3. Soziale Normen und der Wohlfahrtsstaat In der Moderne sind soziale Normen stark mit der Entwicklung des Staates verknüpft. Die Entwicklung des wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssystems seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat sowohl zu neuen und tief greifenden Normie-
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rungseffekten als auch zu Entlastungseffekten im gesellschaftlichen Handeln geführt. Über wohlfahrtsstaatliche Regelungen ist es etwa zu einer Normierung des Lebenslaufs in drei Phasen gekommen. Entstanden ist eine altersdifferenzierte Gesellschaft, in der sich die Jungen im Bildungssystem befinden, die Erwachsenen in der Erwerbsarbeit und die Alten im „Ruhestand“. Diese Ordnung des Lebenslaufs hat das Individuum entlastet und aus der Kontrolle kleinräumlich angesiedelter Gemeinschaften entlassen. Der Einfluss des Sozialstaats hat damit als mächtiger Individualisierungsfaktor gewirkt, indem er dem Individuum beträchtliche kollektive Sicherungsleistungen zur Verfügung stellte. Die „Hilfsgarantie“ des Staates erweiterte die Handlungsspielräume des Individuums. In dieser Hinsicht kann von einer gesteigerten Normierungsoffenheit in wohlfahrtsstaatlich organisierten Gesellschaften gesprochen werden, d.h. Normen haben ihre klare Orientierungsfunktion verloren. Das Individuum findet eine deutlich erweiterte Gelegenheitsstruktur für die eigene Lebensgestaltung. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich das Individuum an die Hilfsgarantien „gewöhnt“, das Sicherheitsbedürfnis – könnte überspitzt formuliert werden – ist zur gesellschaftlichen „Natur“ des modernen Menschen geworden. Demnach wird der Wandel im 20. Jahrhundert als Wandel von einer Disziplinargesellschaft zu einer Sicherheitsgesellschaft beschrieben (Singelnstein & Stolle 2006). Ende des 20. Jahrhunderts löst sich das Zusammenspiel von wohlfahrtsstaatlicher Sicherheit und individuellem Handeln in verschiedenen Lebensbereichen, z.B. Familie, Religion, Freizeit auf. Es kommt zu einer Radikalisierung der Individualisierung bzw. Selbstverantwortung. In den Alternswissenschaften finden sich Formeln wie „aktives Altern“ oder „eigenkompetentes Altern“. Subjektive Selbstorganisation wird der Vorrang vor staatlicher Intervention eingeräumt. Altenarbeit steht unter dem normativen Postulat der Aktivierung. Die Disziplinargesellschaft des 19./20. Jahrhunderts war gekennzeichnet durch ein allgemein gültiges Werte- und Normengefüge, das eine klare Trennlinie zwischen normal und anormal gezogen hat. Klassenzugehörigkeit, Kirche und Familie waren die institutionellen Träger dieser normativen Struktur. Wurden Normen verletzt, dann wurde das Individuum diszipliniert und an den präskriptiven Normen „ausgerichtet“. Diese Disziplinierung ist großteils verschwunden, weil sich die gesellschaftlichen Bedingungen, die diese Formation getragen haben, gewandelt haben. Im Laufe dieser Entwicklung haben nicht nur die traditionellen Institutionen an Bedeutung verloren, sondern auch der Wohlfahrtsstaat als Sicherheitsgarantie. Entwickelt hat sich im späten 20. Jahrhundert zunehmend eine Ideologie der Selbstverantwortung des Individuums, welches ein hohes persönliches Sicherheitsbedürfnis aufweist bzw. nach persönlicher normativer Rahmung sucht. Die normative Kontrolle wurde in das Individuum hineinverlagert, sodass Gilles Deleuze (1993) von einer Ablösung der Disziplinargesellschaft durch die Kontrollgesellschaft spricht. Kontrolle geschieht aber nicht nur durch eine Internalisierung von Normen, sondern auch über den verstärkten Einsatz technischer Überwachungsgeräte (wie Videokameras, Zugangs-
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schranken oder Audiokontrolle) oder die architektonisch abweisende Gestaltung von Räumen. Sozial- und Kommunalpolitik werden als sekundäre Verstärker von innerstädtischen Prozessen der Alterssegregation gesehen. Als Beispiele für die Abschließung und Absonderung der älteren Generationen gelten Seniorenklubs, Seniorenschwimmen, Seniorentanz, gilt die Aufforderung in öffentlichen Verkehrsmitteln, „älteren und behinderten Personen die Sitzplätze zu überlassen“, wo es doch genügen sollte, hier ausschließlich „behinderte Personen“ zu erwähnen, weil es problematisch ist, Alter mit Behinderung gleichzusetzen. Weiters gelingt es dem Staat, die ungleiche Verteilung der materiellen Sicherungsgrundlagen im Alter als legitim darzustellen und damit Akzeptanz zu erlangen. Dazu gehört etwa die umfassende Versorgung bei den Männern und Versorgungslücken bei den Frauen. Und Sozialpolitik trägt zur kulturellen Marginalisierung der Älteren bei. Alte Menschen erfahren eine hohe Visibilität als Nutzer/innen von Gesundheits- und Sozialeinrichtungen. Als problematisch kritisiert Tulle-Winton (1999) die Organisation von Dienstleistungen, weil diese zu Konstruktionen des Alters führen, die das Alter als hilflos, abhängig und unselbständig darstellen. Soziale Normen haben einen Doppelcharakter. Indem sie sowohl Inklusion als auch Exklusion einschließen, erfüllen sie den Zweck der sozialen Integration. Sie sorgen für Stabilität und Ordnung. Der Begriff deckt damit auch die Friedhofsruhe in Gesellschaften totalitären Charakters ab. Soziale Normen sind demnach nicht bloß Stützen der Verhaltenssicherheit der Individuen, sie sind auch Stützen von Macht und Herrschaft. Damit ist auf den Konfliktcharakter von sozialen Normen verwiesen (Scherr 2006). Dieser zeigt sich auf allen Ebenen der Gesellschaft. Er ist in der Vielheit sich überschneidender Verpflichtungen prinzipiell angelegt. In allen Gesellschaften sind die Individuen Mitglieder divergenter sozialer Einheiten und damit Träger mehrerer sozialer Rollen, wodurch die Möglichkeit von Normkonflikten gegeben ist.
4. Die normative Wirkung von Altersbildern 4.1 Das Prestige der Alten von der Antike bis zur Moderne Eine Betrachtung der Geschichte der letzten 500 Jahre in Mitteleuropa zeigt, dass kaum von einer verloren gegangenen trauten Übereinstimmung der Generationen gesprochen werden kann. Vor allem in der frühen Neuzeit waren die Alten Ziel gesellschaftlichen Spotts (Rosenmayr 1996). Die Zeitgenossen vergötterten die Jugend, wobei sich eine eigenständige Jugendphase erst langsam herauszubilden begann. Denn erst die zunehmende Familiarisierung und Verhäuslichung im Zuge der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und die zuneh-
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mende Pädagogisierung der Lebensphasen Kindheit und Jugend seit der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht (18. und 19. Jahrhundert) führten zur Formierung einer eigenen Jugendphase. Von der frühen Neuzeit bis ins 17. Jahrhundert ist der alte Mensch für die Zeitgenossen kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft, „die Furcht vor dem Alter war größer als die Furcht vor dem Tod“. Das Alter wurde gleichgesetzt mit Zerfall, Abstieg und mit einer Rückbildung aller früheren Fähigkeiten. Dieses Alter hat nichts mehr gemein mit dem geistig so kraftvollen, tapferen und selbstbewussten Greisen der römischen Antike, wie sie Cicero in seiner Schrift „Cato der Ältere über das Greisenalter“ beschreibt. Der alte Mensch des 16. und 17. Jahrhunderts war der Verachtung durch seine Mitmenschen preisgegeben. Der durch Seuchen, Kriege und Hunger allgegenwärtige Tod wurde als ekelhaftes, scheußliches Monster und Verbündeter des Teufels vor- und dargestellt. Das Alter geriet als Vorstufe des Todes in den Sog derartiger Darstellungen. Kriege, Pestwellen und die vielfältigsten Notlagen der Zeit haben die Lebenserwartung gesenkt. Die durchschnittliche Lebenserwartung erreicht im 30-jährigen Krieg (16181648) ihren absoluten Tiefpunkt. Kaum jemand erreicht das 60. Lebensjahr. Zwar bleibt in der christlichen Lehre und in den moralischen Schriften der Grundgedanke der christlichen Antike von der Wertschätzung des hohen Greisenalters lebendig, doch mit der alltäglichen Realität hat das wenig zu tun. Dem Alter misst man nur geringen Wert bei, es ist unnütz und von Übel. Malaria, Pest, Lepra, Typhus, Ruhr sind die Krankheiten, die die Menschen als Geißel Gottes empfinden, gegen die sie sich mit unzureichenden Mitteln wehren. Es besteht zwar ein hygienisches Bewusstsein. Man macht sich Gedanken über die Gesundheit. Aber es sind naive und teils kuriose Vorstellungen. Es kommen Badehäuser auf, doch sie werden eher noch zu zusätzlichen Orten von Ansteckung und Krankheit. Zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert prägte eine ikonografische Darstellung des Lebenslaufs die Vorstellung des Alternsprozesses – die Lebenstreppe. Wie Ehmer (1990, 1996) ausführt, nimmt die Denkfigur der Lebenstreppe eine Gleichförmigkeit und Regelmäßigkeit des Lebenslaufs vorweg. Angesichts der Unsicherheit des Lebensablaufs versuchte diese Darstellung Ordnung darzustellen. Die erste Hälfte des Lebens erscheint als Aufstieg, der mit vierzig Jahren sein Ziel erreicht. Die höchste Stufe der Doppeltreppe wird mit dem fünfzigsten Lebensjahr erreicht. Die zweite Hälfte des Lebens erscheint als Abstieg. Der in jedem Jahrzehnt deutlicher sichtbare körperliche und geistige Verfall findet im Tod seinen Abschluss. Der zweite Teil der Lebenstreppe bot den Jüngeren zudem eine Legitimation, die Älteren zu verdrängen und diese darauf aufmerksam zu machen, sollten sie ihren Rückzug nicht akzeptieren, sie mit Verachtung und Spott rechnen müssten. In bäuerlichen Haushalten wurde damit der ältere Erwerbstätige auf das Altenteil verwiesen.
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Zugleich erscheint im Modell der Lebenstreppe das Altern als biologischer Prozess, als stufenweise erfolgender Verlust der körperlichen und geistigen Kräfte bis hin zum völligen Verfall und schließlich zum Tod, während die klaren Trennlinien des gegenwärtigen Lebenslaufs dagegen sozial gesetzt sind. Tatsache und Zeitpunkt der Pensionierung werden in der Gegenwart von der Struktur der Arbeitsmärkte und den Regeln der gesetzlichen Pensionsversicherung bestimmt und nicht vom Zustand der körperlichen und geistigen Kräfte. Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass das Bild des Alters in der vorindustriellen Gesellschaft sehr stark vom körperlichen Erscheinungsbild geprägt war. Dabei gibt es einen deutlichen Zusammenhang zwischen Alters- und Geschlechterrollenstereotypen, d.h. Frauen vereinigen das Stereotyp vom Frausein und vom Altsein, werden fast ausschließlich auf ihre familiäre Rolle reduziert oder gar als unorientiert und als am Rande der Gesellschaft lebend geschildert (Backes 2007). Positiver und weitaus differenzierter werden dagegen ältere Männer gesehen. Damit entsprachen die Altersbilder den Erfordernissen eines patriarchalisch organisierten Haushaltsverbandes (v. Kondratowitz 1989). Die öffentliche Darstellung seiner noch gegebenen Funktions- und Leistungsfähigkeit im Alter sicherte dem alten Menschen immer auch den Anspruch auf die weitere Machtausübung im Herrschaftsverband. Der nicht mehr leistungsfähige Alte wurde ausgegrenzt.
4.2 Neuer Status und Wert des Alters in der Moderne Peter Borscheid (1987) kommt in seiner Untersuchung des Verhältnisses der Generationen der letzten zwei Jahrhunderte zu dem Schluss, dass das Alter zu keiner Zeit früher oder später eine solche Verehrung genossen hat wie nach der Mitte des 18. Jahrhunderts. Seinen Hintergrund hatte dieses positive Altenbild in den agrarischen Lebensverhältnissen. Denn nirgendwo sonst war das Alter so mit Macht ausgestattet wie in diesem Lebensraum. Es erlangten jene alten Generationen im ländlichen Milieu eine starke soziale Stellung und hohes Prestige, die sich im Besitz von Land und Hof befanden. Besitz war gleichzeitig die Voraussetzung für die Gründung einer eigenen Familie, die eine gewisse Unabhängigkeit eröffnete und größere Sicherheit bei Krankheit und Not gewährte. Das 18. Jahrhundert – als Jahrhundert der Aufklärung – stellte allgemein das Alter als verehrungswürdig und ehrfurchtgebietend dar. Allerdings nicht in Form einer Wertschätzung des Alters an sich, sondern immer in Verbindung mit besonderen Verdiensten oder Beiträgen der Älteren zur Gesellschaft oder Kultur oder mit einer besonderen Machtposition der betreffenden Familie oder einfach mit Besitz. Einen Teil der patriarchalen Familienordnung bildete das Stammhalterprinzip bei der Erbschaftsteilung. Im 19. Jahrhundert erfuhren die Älteren zwar weiterhin Wertschätzung, jedoch kam es durch die Aufwertung des Status der Jugend langsam zu einem
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Wandel des Altenbildes und der Beziehungen zwischen den Generationen. Zunächst war es „Schonung“ (Borscheid 1990), die das Verhältnis der jungen Generation zur älteren bestimmte. Doch schon bald kam es zu einer deutlichen Konfliktbeziehung. Dies beruhte darauf, dass gegen Ende des Jahrhunderts die alten Menschen fühlbar an Einflussmöglichkeiten und Macht einbüßten. Eine Ursache dafür bildete der Strukturwandel der Gesellschaft. Die Möglichkeiten, die die expandierende Industrie den Jungen eröffnete, verringerte deren Abhängigkeit von den Älteren. Sie konnten nunmehr – losgelöst von agrarischen Lebensformen – eine eigene Familie gründen und damit unabhängiger werden. Mit der Verlagerung der Berufstätigkeit nach außerhalb der Haushalte ging der unmittelbar sichtbare Beitrag der Alten zur Produktion verloren, und kam andererseits die Haushaltstrennung in den Städten auf, die dann zum Klischeebild von der Isolation der Älteren führte. Die noch kaum entwickelte außerfamiliäre Altersversorgung verschärfte das Problem, ließ die Alten zur Last werden. Die auf Erfahrung und tradiertes Wissen bauende Funktionalität der Alten, die ein Hauptgrund für ihre Hochbewertung gewesen war, verlor durch die Technisierung und die ständigen Neuerungen rasch an Bedeutung und vermittelte damit auch den älteren Menschen keine Wertschätzung mehr. Ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts blickt die Jugend nicht mehr zum Alter auf – vielmehr ist es die Jugend, die zum Orientierungspunkt für alle Altersgruppen wird und damit auch Verhalten und Einstellungen der Alten beeinflusst. Die jungen Generationen lehnten immer häufiger die Führung durch die Erwachsenen ab. Und auch der unbezweifelbare soziale Fortschritt der Pensionsversicherung hatte seine Kehrseite. Durch das systematische und kollektive Ausscheiden aus der Berufswelt ab einem bestimmten Alter verknüpfen sich mit dieser Altersgruppe Assoziationen von Funktions-, wenn nicht gar Nutzlosigkeit, von Entbehrlichkeit und von einem Status der Nehmenden, nicht mehr Gebenden. Bis ins 20. Jahrhundert war vor allem die eigene Arbeitskraft und nicht die Familie die wichtigste Stütze für die alten Menschen in ihrer Statuszuweisung im Altersgruppenaufbau der Gesellschaft. Damit konnte auch die Unabhängigkeit von den jungen Generationen erwirkt werden. In den 1950er Jahren ist es in den Vereinigten Staaten aufgrund der Beobachtungen der Beziehungen zwischen den Generationen zur Entwicklung des Begriffs des Age-Ism (Butler 1969) gekommen. Gemeint ist damit, dass in der Gesellschaft eine dem Rassismus ähnliche Diskriminierung gegenüber den Älteren bestehe. Die Vorurteile gegenüber dem Alter führen zwar, so relativieren spätere Untersuchungen diesen Ansatz, nicht zu einem radikal-diskriminierenden Verhalten, jedoch in der Tendenz durchgängig zu einem eher passiven und defizitären Altersbild. Forschungen in den 1970er Jahren zeigen, dass – wie bei vielen Vorurteilen – der Grad der Abstraktheit die Differenziertheit der Wahrnehmung bestimmt. So ist zwar einerseits die generelle Einstellung in der Gesellschaft, das generalisierte Altersbild (vgl. Ebel 1987), eher negativ, die Einstellung gegenüber genau
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bestimmten Bevölkerungsgruppen oder einer bestimmten Person, das personalisierte Altersbild, eher differenziert. Eine negative Sicht des Alterns, d.h. ein generalisiertes Altersbild findet sich eher in Medien, Büchern, Witzen und der Werbung. Hans Peter Tews (1995: 58) unterscheidet drei Dimensionen, die zur Entstehung und Ausprägung des Altersbildes beitragen, nämlich Wissen und Kenntnisse über Alter und Altern, eigene Erwartungen bezüglich des Alter(n)s und Erfahrungen mit alten Menschen. Er stellt für die Gegenwart eine abnehmende Stereotypisierung des einseitig negativen Altersbildes fest. Seiner Ansicht nach nimmt das negative Altersbild durch die Differenzierung des Alters und die Verbesserung der Alterssituation in seiner Verbreitung ab und wird positiver, neutraler, situativer und differenzierter. Auf Basis der Forschungen zur Selbst- und Fremdwahrnehmung im Lebenslauf lässt sich die These formulieren, dass jüngere Menschen mit dem Alter eher negative Erwartungen verknüpften. Je älter dann eine Person selbst ist, desto positiver fällt die Einschätzung des eigenen Alters aus. Es gibt also eine deutliche Diskrepanz zwischen der Fremdwahrnehmung des Alters und der Selbstwahrnehmung älterer Menschen (vgl. Majce 1992; Backes & Clemens 2008). In einer neueren empirischen Untersuchung, an der 1.275 Menschen im Alter zwischen 45 und 75 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland teilgenommen haben (Kruse & Schmitt 2005), konnte ein sehr uneinheitliches Bild des Alters festgestellt werden: Einerseits war der überwiegende Anteil der Untersuchungsteilnehmer der Auffassung, im Alter sei die glücklichste Zeit des Lebens nicht vorüber, das Alter sei eine sehr schöne Lebensphase, ältere Menschen hätten mehr innere Ruhe als jüngere und würden viel aus ihrem Leben machen. Andererseits war die deutliche Mehrheit der Untersuchungsteilnehmer der Meinung, die meisten älteren Menschen fühlten sich einsam, ältere Menschen seien häufig deprimiert, viele hätten den Anschluss an die heutige Zeit verloren, und im hohen Alter hätten viele geistig abgebaut. Untersuchungsteilnehmer mit Ersparnissen, Wohneigentum oder einem höheren Haushaltsnettoeinkommen sahen ältere Menschen tendenziell als weniger benachteiligt in der Gesellschaft an. Die Autoren kommen zu folgendem Schluss (Kruse & Schmitt 2005: 17): Auch wenn im Kontext der Ageism-These die Auffassung populär geworden ist, weit verbreitete negative Stereotype und Diskriminierungen von ältere(n) Menschen würden dazu beitragen, dass das Alter mit nicht zu leugnenden „faktischen“ sozialen Benachteiligungen einhergeht, so zeigt die gegenwärtige Forschung ein doch etwas anderes Bild. Demnach ist die Wahrnehmung des Alters heute sehr viel stärker durch Differenziertheit und Optimismus geprägt. Dabei ist allerdings zu beachten, dass sozialstrukturelle Merkmale einen bedeutsamen Einfluss auf die Wahrnehmung des Alter(n)s ausüben. Darüber hinaus ist zu beachten, dass es Zusammenhänge zwischen negativen Einstellungen und der Gesundheit bzw. dem Wohlbefinden von Personen gibt.
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Ist es also überhaupt das (chronologische) Alter, welches zu einer bestimmten Definition von Alter führt? Sind es nicht vielmehr wohlfahrtsstaatliche Politiken, insbesondere das System altersbasierter Pensionen, die zu einer Transformation des Alters in eine soziale Kategorie geführt haben (vgl. McMullin 2000: 521)? Alter wird sehr deutlich vor dem Hintergrund der Pensionierung bzw. des Pensionssystems „festgelegt“, wobei Veränderungen der Erwerbsarbeit diesen Prozess verstärkt haben. Vor allem die Forschungen von Kohli (1988) haben dazu beigetragen, den Wohlfahrtsstaat als Hintergrund für die Strukturierung des Lebenslaufs zu verstehen. Das Alter definiert sich in geradezu zentraler Weise über die Nachberuflichkeit (vgl. Schulz-Nieswandt 2006: 133). Dazu wird es sozialstaatlich konstruiert durch die Überschreitung der gesetzlichen Altersgrenze als Statuspassage.
5. Die normative Wirkung von Altersbildern in der Arbeitswelt Wir leben in einer Gesellschaft, in der Stellungen und Werte von Menschen von der Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt und der Position innerhalb dieses Arbeitsmarktes abhängig sind. Daher ist der Blick auf den Bereich „Arbeit“ in Hinsicht auf das Alter von zentraler Bedeutung. Die höchsten Positionen in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder Verwaltung werden in der Regel von der Gruppe der „50plus“ eingenommen, die auch die höchsten Einkommen erzielt. Auf der anderen Seite sind Ältere in stärkerem Ausmaß von Langzeitarbeitslosigkeit oder Armut betroffen. Die Position, die ältere Personen auf dem Arbeitsmarkt einnehmen, variiert nach Geschlecht, Bildung, Beruf und anderen Variablen; die beobachtbare Heterogenität legt den Gedanken nahe, dass das Merkmal „Alter“ an sich noch keine Benachteiligung begründet. Wird allerdings die Entwicklung der Erwerbstätigkeit nach Altersgruppen in den Blick genommen, dann wird sichtbar, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis Anfang der 1990er Jahre die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ständig zurückgegangen ist. Seit den 1990er Jahren steigt die Erwerbsbeteiligung älterer Erwerbspersonen. Nach EurostatDaten (vgl. Romans & Preclin 2008) betrug 2007 in der EU 27 die Beschäftigungsquote der 55- bis 64-Jährigen 44,7% (1997: 36,2%), in Deutschland lag sie bei 51,5% (1997: 38,1%). Damit liegt die Beschäftigungsquote in Deutschland im Mittelfeld. Am niedrigsten ist sie in Malta mit 28,3% und am höchsten in Schweden mit 70% (1997: 63,4%). Die Unterschiede im Niveau und der Entwicklung der Erwerbstätigkeit älterer Erwerbspersonen im Vergleich zu jüngeren Erwerbspersonen lassen sich gut über institutionelle Einflussfaktoren erklären (Arnds & Bonin 2003). Institutionelle Rahmenbedingungen beeinflussen die Entscheidung zur Beschäftigung in
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der späten Phase des Erwerbslebens. Es sind die institutionellen Rahmenbedingungen wie Tarifverträge, Pensions- und Arbeitszeitregelungen, die die Kosten und Nutzen zusätzlicher Beschäftigung auf Seiten der Arbeitgeber und der Beschäftigten beeinflussen. Die Entscheidung über Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot lässt sich im Kern auf das ökonomische Kalkül von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zurückführen. Bei der Beurteilung der Arbeitskosten und der Einschätzung der Arbeitsproduktivität von älteren Beschäftigten sind aber nicht nur objektive Informationen entscheidend, sondern auch subjektive Einschätzungen von Arbeitergebern bzw. Personalchefs (vgl. Skirbekk 2008). Zur „Diskriminierung“ Älterer kommt es also sowohl über bestimmte institutionelle Regelungen als auch durch die subjektive Wahrnehmung der Arbeitgeber. Altersdiskriminierung zeigt sich in verschiedenen Formen und Ausprägungen wie negative Bewertung, Geringschätzung, Herabsetzung, Unterdrückung, Benachteiligung und Entwertung, dabei sind die Grenzen zum Teil fließend. Die Abwertung als Ergebnis eines Diskriminierungsprozesses endet dabei nicht innerhalb einer Generation, sondern wird über Generationen weitergetragen (transformiert) und so dauerhaft verfestigt. Ältere Menschen können von doppelten bzw. mehrfachen Diskriminierungen betroffen sein. So können zum Diskriminierungsmerkmal „Alter“ weitere Gründe wie Geschlecht, Behinderung, „Rasse“, ethnische Herkunft, Religion und sexuelle Ausrichtung hinzukommen (Mehrfachdiskriminierung). Diese Mehrfachdiskriminierung trifft in besonderem Maße ältere Frauen. Es findet nicht nur eine Fortsetzung der Diskriminierung von Frauen in der Lebensphase Alter statt, sondern durch die Zugehörigkeit zur Gruppe der alten Menschen potenziert sich die diskriminierende Situation. McMullin und Marshall (2001) zeigen in ihrer Untersuchung über ältere Textilarbeiter, dass diese sich diskriminiert fühlen. Sie geben an, vom Management wegen der gegenüber Jüngeren höheren Löhne schlechter behandelt zu werden. Das Management – so die Aussagen in den Interviews – würde stereotype Images verwenden, um ältere Arbeitnehmer zu entmutigen. Darüber hinaus nehmen sie wahr, dass einfache Arbeit aus dem Unternehmen ausgelagert werde und die älteren Arbeitnehmer mit den übrigbleibenden schwierigen Arbeitsaufgaben überlastet seien. Dieses Beispiel zeigt sowohl direkte als auch indirekte Formen der Diskriminierung älterer Arbeitnehmer am Arbeitsplatz. Neben der negativen Diskriminierung gibt es auch eine „positive Diskriminierung“ (im Englischen als „affirmative action“ oder „positive action“ bezeichnet). Darunter kann die bewusste Bevorzugung von Personen verstanden werden, um Nachteile, denen sie ausgesetzt sind, anzugehen und sie auszugleichen. Hierzu gehören der Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer, die Fahrvergünstigungen bei öffentlichen Verkehrsmitteln oder Preisermäßigungen für Kulturangebote und Erholungsmaßnahmen für ältere Menschen. Derartige Ausgleichmaßnahmen sind insofern umstritten, da sie die Menschen benachteiligen, die das entsprechende Merkmal – hier Alter – nicht aufweisen.
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Doch kann überhaupt davon ausgegangen werden, dass das Alter ähnlichen Stigmatisierungen unterliegt wie Geschlecht, Religion, Rasse? Während letztere meist auf lange Dauer festgelegt sind, gilt dies für das Alter nicht. Die persönliche Identifikation mit dem Alter unterliegt einer permanenten Aktualisierung, und Älterwerden ist ein Prozess, den alle Menschen erleben. Das führt dazu, dass Menschen bereits in jüngeren Jahren versuchen, ihr Alter zu antizipieren. Die meist stillschweigende Akzeptanz bestehender Unterschiede zwischen den Generationen führt dazu, dass das Merkmal Alter eine weniger stigmatisierende Wirkung hervorbringt wie die Zugehörigkeit zu anderen Merkmalen (vgl. Wiedemann 2001).
6. Rechtliche Aspekte in der Diskriminierung Älterer auf dem Arbeitsmarkt In den 1960er Jahren entstand in den USA eine Antidiskriminierungsbewegung, die zur Verabschiedung des „Age Discrimination in Employment Acts“ 1967 führte. Mit diesem rechtlichen Rahmen sollte erreicht werden, dass ältere Arbeitnehmer nicht generell als weniger leistungsfähig eingestuft werden, sondern eine individuelle Leistungsbeurteilung stattfinden sollte (Wurst 2006). Dieser Ansatz entspricht der gegenwärtigen Age-Diversity Diskussion, in der es darum geht, dass unterschiedliche Mitarbeiter als gleichwertig angesehen werden und im Mittelpunkt die individuelle Leistung steht (Bender 2007, in diesem Band). Die in den USA entwickelten gesetzlichen Bestimmungen waren dann auch Vorlage für die Diskussion in Europa und die mehr als 30 Jahre später verabschiedete Richtlinie 2000/78/EG 3 vom 27.11.2000 zum Schutz vor Altersdiskriminierung in der Europäischen Union (vgl. auch Rust, in diesem Band). Diese Richtlinie gilt nicht für alle gesellschaftlichen Bereiche, sondern für den Bereich Beschäftigung und Beruf. Behandelt werden sowohl die Zugangsbedingungen zu Beschäftigung als auch die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen und die Rolle der Arbeitnehmerbzw. Arbeitgeberorganisationen. Über die Etablierung der Richtlinie sollen die Beschäftigungschancen älterer Menschen an diejenigen Bedingungen angepasst werden, die auch für alle übrigen Erwerbstätigen gelten. Damit soll sich betriebliche Personalpolitik an objektiven, altersneutralen Kriterien orientieren. Als problematisch gilt an dieser Richtlinie, dass sie einerseits mit Regelungen kollidiert, die eine positive Diskriminierung älterer Arbeitnehmer vorsehen, und andererseits viele Ausnahmen enthält. Zu den Ausnahmen gehören solche, die sich auf die besonderen Anforderungen an die körperliche Leistungsfähig3
Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000, L 303/18.
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keit und Belastbarkeit Älterer beziehen, wie z.B. bei Flugkapitänen oder Feuerwehrleuten. Aber auch das Aussehen kann von Relevanz sein, wie etwa die Auswahl von Models für Modeschauen. Von Bedeutung sind hier die von Heinrich Popitz (2006 [1961]) herausgearbeiteten universalen Konstrukte sozialer Normierung, wozu einerseits allgemeine Normen und andererseits Partikularnormen gehören. Zu den allgemeinen Normen gehört etwa das Gleichheitsprinzip, welches besagt, dass Menschen ungeachtet ihrer empirischen Ungleichheit als gleich zu gelten haben und zu behandeln sind. Es werden damit übergreifende Zugehörigkeitsprinzipien zu einer Gruppe definiert. Real erfährt das Individuum allerdings sowohl Zugehörigkeit als auch Ausschluss. Im Fall Älterer in der Arbeitswelt handelt es sich sehr viel häufiger um Erfahrungen sozialer Exklusion. Aus diesem Grund wird das in allgemeinen Normen angelegte Gleichheitsprinzip durch verschiedene Typen von Partikularnormen im gesellschaftlichen Binnenraum unterlaufen und modifiziert. Über Partikularnormen wird versucht, eine eigene „unversehrte“ Lebenswelt zu schaffen. In solchen Normen, die nur in den jeweiligen gesellschaftlichen Teilgruppen anerkannt werden, drücken sich Formen des Andersseins, der Ungleichartigkeit aus. Die Aufhebung der positiven Diskriminierung kann allerdings auch positiv eingeschätzt werden, und zwar dann, wenn dadurch Regelungen aufgehoben werden, die ältere Menschen auf dem Arbeitsmarkt grundsätzlich als Problemgruppe etikettieren. Ältere gelten – wie etwa auch Jugendliche, Frauen oder Migranten – als „Problemgruppe“ auf dem Arbeitsmarkt.
7. Demographiesensible Personalplanung – ein Praxisbeispiel Die nachfolgende Darstellung ist der Literaturstudie „Alters- und gendersensible Didaktik in der betrieblichen Weiterbildung“ (Huss & Kölbl 2006) entnommen. Es handelt sich dabei um ein Projekt eines österreichischen Stahlunternehmens (VOEST Alpine) mit rund 23.000 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen weltweit. Der Ausgangspunkt für eine demographiesensible Personalplanung war ein deutlicher Anstieg über 50-jähriger Beschäftigter seit Anfang 2000. Im Unterschied zur Mitte der 1980er-Jahre (Personalabbau und Aufnahmestopp) brauchte ab Anfang 2000 die VOEST durch das Wachstum des Konzerns zusätzlich qualifizierte Mitarbeiter. Aufgrund dessen initiierte das Unternehmen das Projekt „LIFE“, welches ein umfassendes Programm zur Anpassung der Unternehmenskultur sowie Arbeitsstrukturen und -prozesse beinhaltet. LIFE richtet sich nicht nur an die älteren Mitarbeiter, sondern ist ein umfassendes Human Resources-Konzept, welches sich an alle Altersgruppen im Unternehmen richtet und der Zusammenarbeit, Optimierung von Leistung, Arbeitsbedingungen, Sinnfindung und Gesundheit dient. Das Projekt soll den Verbleib älterer Mitar-
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beiter im Betrieb verlängern, den systematischen Erfahrungs- und Wissenstransfer sichern, Team- und Beziehungsqualität bewahren und eine nachhaltige Integration der Nachwuchskräfte gewährleisten. In diesem Projekt wurden folgende Maßnahmen gesetzt: Alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen (junge, mittlere und ältere) bekommen die Möglichkeit, einmal jährlich mindestens eine Weiterbildungsmaßnahme (z.B. Kurse, ELearning, „Schnupperwochen in anderen Abteilungen“ etc.) zu nutzen. Das individuelle Entwicklungsangebot wird dabei mit den Führungskräften gemeinsam erarbeitet. Ein zweiter Punkt betrifft die Aufhebung der Altersgrenzen für die interne Karriereplanung und beruflichen Herausforderungen. Ein dritter Schwerpunkt betrifft Gesundheit und Ergonomie, d.h. etwa Verringerung der Nachtschicht für ältere Beschäftigte. Als besonders innovativ gilt das in diesem Unternehmen eingesetzte Tandemmodell zum gegenseitigen Lernen. Beim sogenannten „KutschbockPrinzip“ arbeiten Mitarbeiter in altersgemischten Duos zusammen. Beispielsweise bei Technologie- und Programmierprojekten erweist sich diese Form als sehr erfolgreich. Die jüngeren Mitarbeiter übernehmen die Programmierung und die älteren Mitarbeiter sind für die Kundenbeziehungen und soziale Steuerung zuständig, wodurch ein gegenseitiges Lernen entsteht. Schwarz-Wölzl und Maad (2004) kommen zu folgender Einschätzung des LIFE-Programms der VOEST: „Das LIFE Konzept wird von „oben“ getragen und schließt eine breite MitarbeiterInnengruppe in Form von Zirkelarbeit mit ein. Es spricht explizit die Betriebsratsbeteiligung an. Die Strukturierung der LIFE-Implementierungsarbeit durch ein Leadership Commitment, eine Steuerungsgruppe und klar ausgewiesene Aufgabendefinitionen der ExpertInnengruppen verweisen auf eine gut durchdachte Herangehensweise. Es ist hier gelungen, eine Diversity Dimension – nämlich Generationenbalance – mit einem Gesundheitsförderungsprogramm zu verlinken.“ Als Schwächen nennen die Autorinnen: „Das Konzept richtet sein Augenmerk auf die Produktivitätsfähigkeit von älteren Mitarbeitern. Es wird zwar darauf hingewiesen, dass die Absicht, den Frauenanteil zu heben, besteht, es mutet aber, im Vergleich zu den sonstigen ambitionierten Aktivitäten, nach praktischer Nichtbeachtung der Genderfrage an. Untermauert wird die Kritik durch die Nichtexistenz von WorkLife-Balance-Ansätzen“ (Schwarz-Wölzl & Maad 2004: 66). Über die Kritik an diesem spezifischen Projekt hinausgehend, besteht in der Fachliteratur Uneinigkeit über die Wirkung von Diversity-Programmen. Einerseits werden Vorteile bei der Personalrekrutierung gesehen (Bender 2007), andererseits wird ein Zusammenhang zwischen größerer Diversität und geringerer Produktivität gesehen (Hamilton et al. 2004, zit. n. Skirbekk 2008).
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8. Ausblick Die soziale Hochschätzung oder Missachtung des Alters ist aufs engste mit den grundlegenden Werten einer Kultur verbunden. Diese Werte tragen zur Bestimmung der gesellschaftlichen Stellung der Älteren entscheidend bei. Man kann Würde und Respekt vor dem Alter nicht beliebig dekretieren oder durch bloße Übereinkünfte erzeugen. Entwickelt man diese These einer Abhängigkeit der sozialen Stellung und gesellschaftlichen Wertung der Älteren von den zentralen Kulturwerten weiter, so besagt sie auch, dass ökonomische Fundierung und Sicherung zur Schaffung und Festigung einer sozialen Stellung zwar notwendig, aber allein noch nicht zureichend sind. Soziale Sicherheit, so wichtig sie ist, verhindert noch nicht – wie sich für die Industriestaaten zeigen lässt – die Desintegration oder Abwertung der Älteren und Alten. Das Alter konstituiert sich dabei nicht aus einem Gegensatz oder als Extension der Erwerbsarbeit, sondern viel umfassender als ein neuer Aktivitätsstil (Kolland 1996). Es geht nicht primär darum, Tätigkeitsformen zu suchen, die strukturell der Erwerbsarbeit nahe kommen und damit als ein gewisses funktionales Äquivalent gelten können, sondern um Tätigkeitsformen, die deutlich von der Erwerbsarbeit auch in ihrem Aktivitätsstil abgesetzt sind. Ein zentrales Gegenwarts- bzw. Zukunftsproblem liegt aber im möglichen Auseinanderfallen des Alters bzw. in einer Polarisierung des Alters: Auf der einen Seite zeigt sich eine klare Aktivierung und sozio-kulturelle Verjüngung älterer Menschen, auf der anderen Seite erfahren immer mehr Menschen im hohen Lebensalter die Grenzen körperlicher und kognitiver Lebensdimensionen. Und es finden sich Hinweise auf eine neue Armut im Alter. Zur neuen Kultur des Alters gehört, sich nicht alt zu fühlen. Man fühlt sich zumeist jünger, als man es nach dem Kalender ist und man möchte auf jeden Fall jünger scheinen, als es der Kalender zeigt. Es kommt zu einer „Maskierung“ des Alters (Featherstone & Hepworth 1989) über den Konsum, über Gymnastik, Kosmetik und Diätetik. Wenn auch die Befassung mit dem eigenen Selbst/Körper protektive Wirkungen erzeugt (Antonucci 1990), so bedeutet es doch mehr, wenn in westlichen (modernen) Gesellschaften der alternde Körper gefürchtet und abgewertet wird. Es gibt eine enge Beziehung zwischen dem physischen Abbau, der Sichtbarkeit des Alters und dem reduzierten Status älterer Menschen in der Gesellschaft. Untersuchungen zur Alterskultur beziehen sich vorrangig auf das behinderungsfreie Alter. Welchen Beitrag leistet die Gerontologie bzw. die Alternswissenschaft in dieser kulturellen Auseinandersetzung? Welchen Einfluss haben die neuen Postulate vom aktiven oder erfolgreichen Altern? Der gerontologische Blick hat zu einer Blickverschiebung weg von materiellen Aspekten hin zum Individuum geführt. Aber müssen nicht auch mögliche negative Effekte gesehen werden? Die Frage ist, ob erfolgreiches Altern nicht eine Technik der Regulation ist, die
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dazu führt, den älteren Menschen das legitime Recht auf körperliche Dysfunktion und vielleicht kulturelles Disengagement zu nehmen? Kultur wäre in diesem Sinne als Rebellion gegen Körper- und Sozialkontrolle zu verstehen.
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Altersintegration als Rezept gegen Ageism? Anmerkungen zum Konzept der „Age Integration“ von Matilda W. Riley Ludwig Amrhein
In der amerikanischen Lebenslauf- und Alter(n)ssoziologie werden Modelle favorisiert, welche die Auflösung fester Altersgrenzen zugunsten einer lebensweltlichen Integration verschiedener Altersgruppen propagieren. An die Stelle des dreigeteilten Lebenslaufs mit Vorbereitungs-, Erwerbs- und Ruhestandsphase (Kohli 1985) soll ein Ablaufmuster treten, das den lebenslangen Wechsel zwischen den drei Bereichen der Bildung, Arbeit und Freizeit beinhaltet. Matilda W. Riley und ihre Mitarbeiter (vgl. u.a. Riley 1997) begründen ihre Vision einer altersintegrierten Gesellschaft mit der diskriminierenden Wirkung formeller und informeller Altersgrenzen und fordern darum die „Altersirrelevanz“ von sozialstaatlichen Programmen und Regelungen (Neugarten 1982; Settersten 1999, 2003a, 2003b). Diese sollen nicht mehr altersbasiert mit entsprechenden Alterskriterien, sondern nur noch bedürfnisorientiert anhand von prinzipiell altersindifferenten Bedarfslagen formuliert und durchgeführt werden. Exklusionen aufgrund bestimmter Alterskriterien sollen damit ausgeschlossen und die soziale Integration älterer Menschen gefördert werden. In diesem Beitrag soll zunächst das Konzept der Altersintegration von Riley als „altersirrelevante“ Antwort auf die behaupteten Gefahren einer gesellschaftlichen Alterssegregation dargestellt werden (Kap. 1). Danach wird anhand empirischer Evidenzen gezeigt, dass der Weg zur altersintegrierten Gesellschaft sowohl aus strukturellen wie auch individuellen Gründen noch weit ist und die gegenwärtigen Entwicklungen mit anderen Konzepten angemessener beschrieben werden können (Kap. 2). Abschließend erfolgt eine zusammenfassende theoretische und empirische Kritik der Altersintegration (Kap. 3). 1
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Dieser Text ist eine gekürzte und um neuere Daten und Argumente aktualisierte Version des Beitrages von Amrhein (2004).
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1. Das Konzept der Altersintegration 1.1 Das sozialpolitische Leitbild einer altersirrelevanten Gesellschaft Altersirrelevanz und Flexibilisierung des Lebenslaufes sind Schlagworte, die längst Eingang in die altenpolitische Agenda von nationalen Ministerien und überstaatlichen Organisationen gefunden haben. Insbesondere die Vereinten Nationen entwerfen seit über zwanzig Jahren altenpolitische Leitlinien, die auf die Stärkung der Generationensolidarität und den Abbau von Konflikten zwischen den Generationen zielen (vgl. Pohlmann 2001). Basis der altenpolitischen Aktivitäten der UN ist der „Wiener Internationale Aktionsplan“ (Weltaltenplan), der 1982 auf der ersten Weltversammlung der UN zur Frage des Alterns beschlossen wurde. Fortgeführt wurde dieses Programm 1991 durch die Verabschiedung der „Grundsätze der Vereinten Nationen für ältere Menschen“, welche die Selbständigkeit, gesellschaftliche Teilhabe, Betreuung, Selbstverwirklichung und Würde älterer Menschen thematisieren. Das Jahr 1999 riefen die UN zum „Internationalen Jahr der Senioren“ aus und stellten es unter das altersintegrative Motto „A society for all ages“. In diesem Rahmen initiierte die Bundesarbeitsgemeinschaft Seniorenbüros auch eine vom Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend geförderte bundesweite „Woche der Generationen“. Schließlich wurde der Weltaltenplan von 1982 auf der zweiten Weltversammlung über das Altern im Jahre 2002 revidiert und als „Internationaler Aktionsplan von Madrid über das Altern“ verabschiedet. In diesem revidierten Weltaltenplan finden sich Leitlinien u.a. zur Gleichheit von Bildungs- und Beschäftigungschancen während des ganzen Lebens (lebenslanges Lernen, Beschäftigung im Alter) und zur Stärkung der Solidarität durch Gerechtigkeit und Reziprozität zwischen den Generationen. Die UN und deren Mitgliedsstaaten propagieren damit explizit eine altersintegrative Politik, die analog dem „gender mainstreaming“ ein „main-streaming ageing“ verkündet und „Alter“ als politische Querschnittsaufgabe der Förderung von Generationensolidarität und Chancengleichheit im Lebenslauf versteht. Ein anderes, traditionelleres Bild zeigt sich im bundesdeutschen Sozialrecht, das überwiegend eine alters- und altersgruppenorientierte Sozialpolitik verfolgt. Der historische Ausbau sozialstaatlicher Regelungen und Leistungsansprüche, die am chronologischen Alter, an zeitlichen Positionssequenzen und an Mitgliedschaftsdauern ausgerichtet wurden (sichtbar z.B. im altersgradierten Bildungssystem oder in der gesetzlichen Rentenversicherung) hatte zunächst die Institutionalisierung eines altersdifferenzierten Lebenslaufs zur Folge (Kohli 1985; Mayer & Müller 1994; Leisering 2003). Auch werden die Lebensphasen Kindheit/Jugend und Alter im deutschen (Sozial-)Recht als besonders schutzbedürftig angesehen und daher explizit geregelt. In einer Untersuchung zu Altersgrenzen im deutschen Recht stellte Igl (2000) entsprechend eine quantitativ ho-
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he Konzentration auf diese beiden Phasen fest. Während die Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) und die Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) deutlich altersgruppenorientiert sind, gibt es auch andere Felder des Sozialrechts, in denen Leistungen trotz einer hohen Alterskorrelation nicht über Alterskriterien, sondern über das Vorliegen von an sich altersirrelevanten Tatbeständen gewährt werden, so insbesondere in der gesetzlichen Krankenversicherung (SGB V) und der Pflegeversicherung (SGB XI). Eine altersindifferente Sozialpolitik, die nicht an chronologischen Markierungen, sondern an lebenslagenspezifischen Bedarfssituationen ausgerichtet ist, wurde schon frühzeitig von der amerikanischen Gerontologin Bernice Neugarten gefordert. In ihrem Buch „Age or need? Public policies for older people” (Neugarten 1982) entwirft sie das Leitbild einer „altersirrelevanten Gesellschaft“ (age-irrelevant society) und kritisiert eine altersgruppenorientierte Sozialpolitik, welche die Diskriminierung des Alters (ageism) fördere und „Alter“ irrtümlicherweise als adäquaten Indikator für sozialpolitische Bedarfslagen ansehe (vgl. auch Settersten 2003b). Die Frage bleibt hier allerdings, ob eine altersirrelevante Sozialpolitik angesichts des demographischen Wandels tatsächlich zu mehr Generationengerechtigkeit führt oder nicht vielmehr zum weiteren Abbau der sozialen (Alters-)Sicherungssysteme und zur Privatisierung und Individualisierung von Lebensrisiken beiträgt.
1.2 Alterssegregation als Ausgangspunkt Rileys Ideal einer altersintegrierten Gesellschaft möchte zur Überwindung von alterssegregierten Strukturen beitragen. In einem aktuellen Beitrag haben Gunhild O. Hagestadt und Peter Uhlenberg (2006) auf der Basis neuerer empirischer Studien gezeigt, dass moderne westeuropäische und nordamerikanische Gesellschaften weiterhin durch eine solche Alterssegregation charakterisiert sind. Die Autoren unterscheiden drei miteinander verschränkte Dimensionen der Alterssegregation (Hagestadt & Uhlenberg 2006: 641ff.): 1. Institutionelle Alterssegregation: Chronologische Altersmarkierungen sind Zugangskriterien für die Partizipation in sozialen Institutionen(z.B. Schule, Arbeit, Sozialpolitik). 2. Räumliche Alterssegregation: Altersgruppen werden räumlich getrennt, so dass keine direkte Kommunikation zwischen ihnen möglich ist (Arbeitsplatz, altershomogenes Wohnen). 3. Kulturelle Alterssegregation: Die institutionelle und räumliche Altersintegration wird gespiegelt und reproduziert durch die soziale Konstruktion von sprachlichen Alterskategorien, altersspezifischen Lebensstilen und kulturellen Altersbildern. Mit Argumentationsfiguren einer konservativen Kulturkritik betonen Hagestadt und Uhlenberg die Gefahren einer alterssegregierten Gesellschaftsstruktur. Al-
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terssegregation blockiere zentrale Kontakt- und Interaktionsmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Altersgruppen, so lautet ihre Hauptthese. Diese Trennung der Altersgruppen habe negative Folgen, denn sie produziere und reproduziere Ageismus, stelle ein Risiko für Isolation und Einsamkeit im höheren Alter dar und verhindere so eine „generative Gesellschaft“. Als Gegenmittel gegen die alterssegrative Makrostruktur einer Gesellschaft sehen Hagestadt und Uhlenberg die Förderung altersheterogener sozialer Netzwerke auf der Meso- und Mikroebene an.
1.3 Das Konzept der Altersintegration von Matilda W. Riley Das von Matilda W. Riley im Rahmen ihres strukturfunktionalistischen „Aging and Society“-Ansatzes entwickelte Modell einer „Age Integration“ (Riley 1976, 1997; Riley & Riley 1994, 2000; Riley et al. 1994, 1999) knüpft an Neugartens (1982) Vision einer altersirrelevanten Gesellschaft an. Es basiert zentral auf dem soziologischen Strukturfunktionalismus in der Nachfolge von Parsons, Merton und Eisenstadt: Soziale Strukturen – und damit auch Strukturen der Altersschichtung und des Lebenslaufes – tendieren grundlegend zu einem funktionalen Gleichgewicht zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen. Soziale Konflikte stellen in diesem Paradigma temporäre Ungleichgewichtszustände dar, die durch strukturelle Diskrepanzen zwischen einer sich wandelnden Gesellschaft und den sich verändernden Gesellschaftsmitgliedern hervorgerufen werden (vgl. Riley et al. 1994, 1999; Riley & Riley 1994). Dieses strukturelle Ungleichgewicht zeigt sich auch in der sozialen Situation älterer Menschen: Obwohl diese ein immer längeres Leben bei immer besserer Gesundheit erwarten können, werden sie weiterhin ab einem bestimmten Alter aus der beruflichen und familiären Arbeit entlassen und in die unproduktive „Freizeitrolle“ von Ruheständlern und Pensionären abgedrängt. Während familiäre und berufliche Aufgaben die mittlere Generation tendenziell überfordern, könne die ältere Generation ihre vorhandenen Kompetenzen kaum mehr produktiv für andere einsetzen. Diese „strukturelle Diskrepanz“ zwischen Potenzialen des Alterns und tatsächlich verfügbaren Alternsrollen kann nach Ansicht von Riley allerdings nicht unbegrenzt andauern, da die immer zahlreicher nachrückenden Jahrgangskohorten älterer Menschen einen zunehmenden Druck auf die Institutionen der Gesellschaft ausüben und diese zu homöostatischen Anpassungsreaktionen in Richtung einer sozialen Integration des Alters drängen. Als Konsequenz müsse dann auch die bisherige Dreiteilung des Lebenslaufs in die Phasen Bildung, Arbeit und Freizeit verschwinden, weil der Ausschluss älterer Menschen aus sozial produktiven Tätigkeiten angesichts der demographischen Alterung der Gesellschaft dysfunktional sei. „Altersdifferenzierte“ Strukturen mit ihrer sozialräumlichen Segregation von Altersgruppen würden zukünftig durch stärker „altersintegrierte“ Strukturen abgelöst, in denen die Lebensberei-
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che der Bildung, Arbeit und Freizeit für Menschen aller Lebensalter offen stehen (siehe Abbildung 1).
Freize it
mittel
Arbeit
jung
Bildun g
Bildung
alt
altersinteg rie rt
Freizeit
altersdi ffe renzi ert
Arbeit
Alter
Abbildung 1: Zwei Idealtypen der Sozialstruktur (Riley & Riley 1994: 454) Der Weg zur „Altersintegration“ verläuft nach Riley und Riley in zwei Stufen: „(A) Breaking down structural age barriers (as role opportunities in work, education, and other structures are more and more open to people of every age); and (B) Bringing together people who differ in age (e.g. lifelong education could mean that old and young are students together)“ (Riley & Riley 2000: 267). Unterteilt man diese beiden Komponenten jeweils nach individuellen und strukturellen Aspekten, erhält man vier Ebenen der „Altersintegration“: Tabelle 1: Ebenen der Altersintegration (nach Riley & Riley 2000: 267) Struktur
Individuum
Abbau von Altersbarrieren
Flexible Alterskriterien
Flexible Leben
Begegnung unterschiedlicher Altersgruppen
Altersheterogenität
Altersübergreifende Interaktionen
Der „Abbau von Altersbarrieren“ führt strukturell zu flexiblen Alterskriterien, so dass der Zugang zu sozialen Positionen und Rollen nicht mehr über starre Al-
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tersgrenzen geregelt wird; individuell hat dies flexible Leben zur Folge, in deren Verlauf Menschen frei zwischen Phasen der Arbeit, der Familie, der Bildung und der Freizeit wechseln können. Die „Begegnung unterschiedlicher Altersgruppen“ bewirkt strukturell, dass soziale Felder eine hohe Altersheterogenität aufweisen, womit individuell altersübergreifende Interaktionen zwischen den verschiedenen Altersgruppen häufiger werden. Nach Riley und Riley existiert eine enge Wechselwirkung zwischen beiden Stufen der Altersintegration, insofern der Abbau von Altersbarrieren auch zur Begegnung unterschiedlicher Altersgruppen führen werde und umgekehrt. Riley skizziert die Vorzüge altersintegrativer Strukturen und weist sich damit als Vertreterin eines wertkonservativen Gesellschaftsmodells aus (Riley 1997): Ein Abbau von Altersbarrieren führe zu mehr Partizipation und Engagement älterer Menschen, die mittlere Generation werde durch intergenerativ geteilte Verantwortlichkeiten entlastet, im wechselseitigen Austausch von Erfahrungen und Wissen sozialisierten sich Ältere und Jüngere gegenseitig, die verstehende Begegnung von Menschen unterschiedlichen Alters helfe die Diskriminierung älterer Menschen abzubauen, in der intergenerativen Weitergabe von Traditionen und Wissensbeständen werde das kulturelle Erbe bewahrt, und altersübergreifende Interaktionen verstärkten die emotionale Zuneigung und strukturelle Solidarität zwischen den Generationen innerhalb von Familien, Gemeinschaften, Organisationen und gesellschaftlichen Feldern. Riley sieht diese Altersintegration in vielen Bereichen schon zur gesellschaftlichen Realität werden, so im gemeinschaftlichen Zusammenleben und wohnen von mehreren Generationen (die neben Familienmitgliedern auch Freunde und Bekannte umfassen), in der sozialräumlichen Integration von Einrichtungen für ältere und jüngere Menschen, in der Öffnung von Bildungseinrichtungen und Hochschulen für „lebenslang Lernende“ und Seniorenstudenten, in der Beschäftigung von Ruheständlern als Berater und Arbeitskräfte in Unternehmen, in der ehrenamtlichen Tätigkeit älterer Menschen für intergenerative Projekte, und in der spirituellen Gemeinschaft aller Altersgruppen in Kirchengemeinden und Synagogen (Riley 1997).
2. Der lange Weg zur altersintegrierten Gesellschaft Welchen Realitätsgehalt weist das Modell der Altersintegration auf? Halten die alten- und lebenslaufpolitischen Leitbilder der UN und anderer sozialpolitischer Akteure einer empirischen Analyse stand? Der Entwurf von Riley beruht zunächst auf Ad-hoc-Beispielen, für die jeweils auch aktuelle Gegenbeispiele auffindbar sind. Die folgenden empirischen Hinweise können zwar eine systematische Untersuchung nicht ersetzen, aber sie verdeutlichen dennoch, wie weit der Weg zur altersintegrierten Gesellschaft – zumindest in Deutschland – noch ist:
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Weder lösen sich sozialstrukturelle Altersbarrieren in naher Zukunft auf (Kap. 2.1) noch nehmen intergenerative Interaktionen außerhalb von Familie und Verwandtschaft nennenswert zu (Kap. 2.2). 2.1 Sozialstruktur: Die Entberuflichung des Alters Martin Kohli (2000) weist anhand von OECD-Daten aus 1995 und Daten des Alterssurveys 1996 nach, dass das höhere Alter weiterhin durch den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand kulturell legitimiert und institutionell geregelt wird. Zwar ist die Übergangsphase des Austritts aus dem Erwerbsleben länger und flexibler geworden (sichtbar an einer zunehmenden Streuung der individuellen Übergangsalter), so dass hier durchaus eine gewisse De-Standardisierung des Lebenslaufs stattgefunden hat. Dieser Befund auf der Aggregatebene verdeckt nach Kohli jedoch, dass auf der Individualebene – zumindest in Deutschland – die Verrentung bzw. Pensionierung meist abrupt und vollständig zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolge. Neuere Zeitreihendaten der OECD (2007) bestätigen Kohlis Feststellung, dass die „Entberuflichung des Alters“ als generelles Muster in hochentwickelten Industriegesellschaften beobachtet werden kann; jedoch zeigen sie auch eine Stagnation und mögliche Trendumkehr dieser Entwicklung an (Tabellen 2 und 3). So sind in (ausgewählten) OECDLändern die Beschäftigungsquoten von 65-jährigen und älteren Männern und Frauen (employment/population ratio 65+) von jeweils sehr unterschiedlichen Ausgangsniveaus aus bis 1985 zunächst stetig gesunken. Seitdem scheint aber eine Talsohle erreicht worden zu sein, was auf die allgemeine Krise der sozialen (Alters-)Sicherungssysteme und entsprechende sozialpolitische Gegenmaßnahmen zurückgeführt werden kann. Entweder stagniert die Entwicklung auf sehr niedrigem Niveau (z.B. Deutschland und Frankreich) oder die Beschäftigungsquoten älterer Menschen steigen langsam wieder an (Schweden und USA). Lediglich in Japan sinkt diese Quote noch weiter, allerdings vom vergleichsweise höchsten Niveau der Alterserwerbstätigkeit aus. Tabelle 2: Beschäftigungsquoten von Männern ab 65 Jahren (OECD 2007) (%) 1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
Deutschland
17
11
7
5
5
4
4
5
Frankreich
19
14
8
5
4
3
2
2
Italien
13
10
12
8
7
6
6
6
Japan
49
44
40
36
36
37
33
29
Schweden
28
19
14
11
12
14
15
15
USA
26
21
18
15
16
16
17
19
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Ludwig Amrhein
Tabelle 3: Beschäftigungsquoten von Frauen ab 65 Jahren (OECD 2007) (%) 1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
Deutschland
6
5
3
2
2
2
2
2
Frankreich
9
6
3
2
2
1
1
1
Italien
3
2
3
2
2
2
1
1
Japan
18
15
16
15
16
16
14
13
Schweden
9
6
4
3
5
5
6
6
USA
9
8
8
7
8
9
9
11
Kohli (2002: 16f.) widerspricht in einem zentralen Punkt auch Rileys Kritik an einer altersgeschichteten und „strukturell diskrepanten“ Gesellschaft: Der institutionalisierte Ruhestand werde von vielen älteren Menschen nicht als Zwang, sondern als Verdienst – und damit als Teil einer „Moralökonomie“ des Alters – empfunden. Altersdifferenzierte Strukturen kommen den Wünschen und Erwartungen nach einem ökonomisch gesicherten und vom Erwerbszwang befreiten Leben im Alter entgegen. Zwar kollidierten feste Altersgrenzen mit den modernen Werten der Gleichbehandlung aller Altersgruppen (Universalismus) und der persönlichen Wahlfreiheit (Individualismus), und seien mit vielen modernen Systemerfordernissen unverträglich, indem sie das Brachliegen von Humankapitalressourcen fördern, die optimale Allokation von Arbeitskräften behindern, die Finanzierungsprobleme des Rentensystems weiter vertiefen, und den Wandel von Erwerbsverläufen in Richtung Flexibilisierung und biographischer Unsicherheit vernachlässigen. Gleichzeitig besitzen sie aber auch eine Reihe positiver Funktionen, da sie den Austritt aus dem „regulären“ Erwerbsleben (Arbeitsmarktfunktion) fest mit dem Eintritt in das System der sozialen Alterssicherung verknüpfen (sozialpolitische Funktion), Orientierung für die subjektive Gliederung und Planung des eigenen Lebens geben (kognitive Funktion) und eine Legitimation für den erfolgreichen Abschluss des Arbeitslebens liefern (moralische Funktion). Damit ist für Kohli der institutionalisierte Ruhestand weder altersdiskriminierend noch anachronistisch, sondern hat seine eigene Legitimation und Funktionalität. Chronologische Altersmarken verlieren zwar an Bedeutung, aber „die Altersgrenze des Ruhestandes … ist Teil eines komplexen Systems von Institutionen, dessen einzelne Elemente nicht beliebig austauschbar sind“ (Kohli 2000: 22).
2.2 Individuum: Die Altershomogenität sozialer Netzwerke Auch die Vision einer zunehmenden Begegnung zwischen den Generationen außerhalb der Familien wird auf längere Zeit eher eine Utopie bleiben. Hierauf
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deuten Ergebnisse einer bundesweiten Befragung von 1014 zufällig ausgewählten Personen ab 15 Jahren zum Thema „Generationenkonflikt und Generationenbündnis in der Bürgergesellschaft“ hin, die das SIGMA-Institut 1999 im Auftrag des Sozialministeriums Baden-Württemberg durchführte (Ueltzhöffer 1999). Der Autor stellt enttäuscht fest, dass „bei den vielfältigen Gelegenheiten außerhalb von Familie, Beruf oder Ausbildung der Kontakt zwischen Jung und Alt in Deutschland mehr oder weniger abgerissen ist, bzw. nur noch von einer Minderheit gepflegt wird. […] Während in der Familie lediglich eine Minderheit von einem knappen Drittel (32%) aller Jugendlichen nur ‚selten‘ oder ‚nie‘ mit Über-60-Jährigen zu tun hat, sind dies im Berufsleben oder in der Ausbildung, aber auch im Alltagsbereich außerhalb von Familie oder Beruf/Ausbildung, die große Mehrheit, d.h. rund 70 %“ (Ueltzhöffer 1999: 23f.). Zudem finden 60% aller Befragten die Aussage „Jugendliche und ältere Menschen, das sind heute zwei total verschiedenen Welten“ zutreffend. Das resignative Fazit lautet: „Mehr als zwei Drittel aller Jugendlichen in Deutschland haben also außerhalb der Familie kaum noch mit Angehörigen der älteren Generation zu tun“ (Ueltzhöffer 1999: 24). Filipp und Mayer (1999: 19ff.), Uhlenberg und Jong Gierveld (2004) sowie Hagestadt und Uhlenberg (2006) diskutieren die Ergebnisse einiger weniger Studien aus Deutschland, den Niederlanden und den USA, in denen die Altersstruktur sozialer Netzwerke explizit erfasst wurde. Die berichteten Resultate stellen weitere Indizien dar, die gegen eine Zunahme altersgemischter Lebenswelten sprechen. Als Fazit dieser Studien lässt sich sagen, dass x Menschen aller Altersstufen meistens mit Mitgliedern der eigenen Altersgruppe interagieren (Altershomogenität), x der Kontakt zwischen Eltern und Kindern innerhalb der Familie wesentlich dichter ist als zwischen Großeltern und (insbesondere erwachsenen) Enkelkindern, und x außerhalb der Familie altershomogene Netzwerke dominieren – denn je größer der Altersabstand zwischen nichtverwandten Personen ist, desto unwahrscheinlicher ist der soziale Kontakt miteinander. Ältere Menschen sind also stark „familienzentriert“ mit vielen Kontakten zu Jüngeren (Kinder, Enkel), beschränken sich aber außerhalb der Familie auf altersgleiche Beziehungen. Diese Altershomogenität der außerfamilialen Netzwerke kann einerseits im Sinne von Riley mit fehlenden altersübergreifenden Kontaktmöglichkeiten infolge altersdifferenzierter Lebenswelten (und daraus entstehender Segregations- und Diskriminierungstendenzen) erklärt werden. Plausibler und weniger dramatisierend erscheint hingegen die sozialpsychologische Deutung, wonach Menschen bei freier Wahlmöglichkeit eher homophile Beziehungen bevorzugen nach dem Grundsatz „Gleich und gleich gesellt sich gern“, was insbesondere auf die Angehörigen von gleichen Alterskohorten bzw. Generationen mit ihren gemeinsam geteilten Erfahrungen, Werten und Zielen
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Ludwig Amrhein
zutrifft. Altershomogene Kontakte und die Einbindung in Gleichaltrigengruppen stellen so ein vielleicht wichtigeres Gesellungsmotiv dar als der Wunsch nach generationsübergreifenden Begegnungen außerhalb der Familie (siehe dazu Filipp & Mayer 1999).
2.3 Fazit: Altersschichtung und Lebenslaufstrukturen Empirisch gesehen ist das Modell der Altersintegration eher als konkrete Utopie denn als reale Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung zu bewerten. Im Folgenden möchte ich zwei alternative Deutungen vorschlagen: Auf der gesellschaftlichen Makroebene der Altersschichtung ist weniger eine Auflösung, sondern eher eine „funktionale Binnendifferenzierung“ von altersdifferenzierten Strukturen zu beobachten, während auf der Mikroebene des Lebenslaufes flexiblere Altersgrenzen nicht als Zeichen einer Entstrukturierung, sondern einer „Verflüssigung“ des weiterhin institutionell strukturierten Lebenslaufes interpretiert werden können. (1) Matilda Riley begeht zunächst einen Fehler, wenn sie aus der Flexibilisierung und Auflösung von Altersbarrieren direkt auf eine zunehmende Vermischung von Altersgruppen schließt. In ihrem Modell der Altersschichtung (Riley 1976) setzt sie die funktionale Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Teilsystemen gleich mit der altersdifferenzierten Allokation von sozialen Positionen und Lebensbereichen. Auf dieser Parallelisierung beruhte in der Tat die historische Entstehung des modernen Lebenslaufregimes. Kindheit und Jugend wurden als Phase der schulischen Bildung, das Erwachsenenalter als Phase der beruflichen Arbeit und das höhere Alter als Phase des Ruhestandes institutionalisiert (vgl. Kohli 1985). Diese Dreiteilung des Lebenslaufes weicht zwar seit einiger Zeit auf, dennoch bestehen altersgeschichtete Strukturen weiter – sie lösen sich nur mehr und mehr aus der Verbindung mit der funktionalen Differenzierung und stellen eine immer eigenständigere Differenzierungsdimension dar. Während im institutionalisierten Lebenslauf funktionale und Altersgruppendifferenzierung wie zwei konzentrische Kreise zusammenfallen, findet heute eine zunehmende „funktionale Binnendifferenzierung“ der Altersschichtung statt, in der es frei nach Simmel (1995) zur „Kreuzung der sozialen Kreise“ von ausdifferenzierten Lebenswelten und Strukturen des Lebenslaufs kommt. Zwar erfolgt die „primäre Vergesellschaftung“ von Individuen weiterhin über die biographische Sequenz Bildung – Arbeit – Freizeit (womit die Grundstruktur des dreigeteilten Lebenslaufs erhalten bleibt), gleichzeitig hat sich diese Struktur aber flexibilisiert, indem diese primären Bereiche stärker mit den jeweils anderen beiden funktionalen Bereichen verknüpft wurden, was eine „funktionale Binnendifferenzierung“ der institutionalisierten Altersschichtung (und nicht deren Abschaffung) zur Folge hatte. Die dadurch geschaffenen „Bereiche der sekundären Vergesellschaftung“ sind aber der Logik des institutionalisierten Lebenslaufes untergeordnet, da mit ihnen die biographischen Übergän-
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ge zwischen Bildung, Arbeit und Ruhestand nicht aufgelöst, sondern nur verstetigt und „verflüssigt“ werden. Zudem bleiben sie nach Altersgruppen differenziert und segregiert: Jugendliche und junge Erwachsene, die primär im Bildungssektor integriert sind, verbringen ihre außerschulische Zeit als Freizeit bzw. „Ferien“ und sammeln erste Arbeitserfahrungen im Rahmen von Praktika, Lehrausbildungen oder Nebenjobs. Personen im Erwachsenenalter sind hauptsächlich dem Bereich der Arbeit zugeordnet, die nicht nur als Berufsarbeit, sondern auch als Familien- und Haushaltsarbeit geleistet wird. Ihre restliche Zeit verbringen sie dann als Freizeit bzw. „Urlaub“ oder in beruflichen Fort- und Weiterbildungskursen. Ältere Menschen schließlich haben primär Freizeit (oder genauer: „freie Zeit“), sind aber auch in spezifisch nachberuflichen Tätigkeitsfeldern aktiv oder widmen sich „freien“ Bildungserlebnissen (im Unterschied zu den berufsbezogenen Bildungsaktivitäten jüngerer Menschen). Auch wenn Lernen, Arbeiten und Müßigsein „lebenslänglich“ werden – wie dies Riley und Riley sich erhoffen – entstehen wahrscheinlich interne Altersbarrieren, welche die Altersgruppen weiterhin voneinander trennen. Seniorenbildung unterscheidet sich von der Schul- und Berufsausbildung der Jugendlichen und der Fort- und Weiterbildung der Erwachsenen. Nachberufliche Tätigkeiten im Alter finden ebenso auf einem randständigen und altersspezifischen Arbeitsmarkt statt (vgl. Baars 2000), wie dies bei jobbenden Schülern und Studenten längst üblich ist. Und Angebote auf dem Freizeit- und Konsummarkt werden in der Regel sowieso meist an unterschiedliche Altersschichten als Zielgruppen gerichtet.
Alter
Institutionalisierung der Altersschichtung
Funktionale Binnendifferenzierung der Altersschichtung
alt
Freizeit
„freie“ Bildung
nachberufliche Tätigkeit
Freizeit
mittel
Arbeit
Fort- und Weiterbildung
Arbeit
Freizeit & Urlaub
jung
Bildung
Bildung
Praktikum und Lehre
Freizeit & Ferien
kursiv: Bereiche der primären Vergesellschaftung normal: Bereiche der sekundären Vergesellschaftung
Abbildung 2: Die funktionale Binnendifferenzierung der Altersschichtung
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(2) Auf der individuellen Mikroebene haben seit mehreren Jahrzehnten Veränderungen stattgefunden, die als „Verflüssigung des institutionalisierten Lebenslaufes“ bezeichnet werden sollen. Diese Entwicklungen sind soziologisch gut dokumentiert und zumindest empirisch unbestritten (vgl. z.B. Heinz 2001). Als Produkt der industriegesellschaftlichen Modernisierung bildete sich zunächst der Lebenslauf als eine eigenständige gesellschaftliche Institution heraus (Kohli 1985). Damit wurde das individuelle Leben verzeitlicht, chronologisiert und individualisiert, so dass es heute als eigenes biographisches Projekt geplant werden kann. Dreh- und Angelpunkt dieser Sequentialisierung des Lebenslaufes ist das Erwerbssystem – um dieses herum wurde das Leben eingeteilt in die Phasen der Kindheit und Jugend (Vorbereitungsphase), des Erwachsenenalters („aktive“ Berufs- bzw. Familienphase) und des höheren Alters (Ruhestandsphase). Ins titutio nalis ie ru ng des Lebe ns lau fs
K indh eit
„V er flüs s igung “ des Lebe ns lau fs
K indh eit „V ers c hwi nde n de r K ind heit “
Jug en d
Jug en d P os tadoles z enz
m ittler es A lter
m ittleres A lter fl ex ib le R uhes tan ds p fad e „jun ge A lte “
höhe res A lter
höhe res A lter „alte A lte “
Abbildung 3: Der verflüssigte Lebenslauf Diese Drei- bzw. Vierteilung (wenn man die frühe Kindheit als vorschulische Sozialisationsphase ansieht) ist allerdings heute vielfältigen Erosionsprozessen ausgesetzt. Diese Entwicklungen verstehe ich eher als Weiterführung der Verzeitlichung und Chronologisierung des Lebenslaufes und weniger als dessen Entstrukturierung und De-Institutionalisierung. Biographische Lebenslaufsequenzen bleiben nämlich als institutionalisierte Ablaufprogramme bestehen, lediglich ihre zeitlichen Anfangs- und Endpunkte werden flexibilisiert und individualisiert. Diese „Verflüssigung“ des Lebenslaufes besteht damit in einer Pluralisierung und Flexibilisierung des Überganges zwischen den einzelnen Altersphasen. Diese „neue Unübersichtlichkeit“ könnte vorschnell dazu verleiten, den
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individuellen Lebenslauf als freies Pendeln zwischen altersintegrierten Lebensbereichen zu deuten. Wie oben argumentiert wurde, ist dies aber eher nicht der Fall: Zeitweilige Wechselphasen bleiben von der Logik des primären Vergesellschaftungsbereichs geprägt und finden zumeist innerhalb der eigenen Altersschicht statt. Das heutige Lebenslaufregime ist damit durch pluralisierte Übergänge, größere Zeitfenster und neue Unterphasen gekennzeichnet. Der Übergang zwischen Kindheit und Jugend wird flüssiger: Die Formel vom „Verschwinden der Kindheit“ (Postman 1983) drückt aus, dass Bestandteile der Lebenswelten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen immer stärker in die Kindheit hineingetragen werden (Medienkonsum, Technikgebrauch, Mode, Sexualität etc.), womit diese Phasen sich immer mehr angleichen und ineinander übergehen. Vor allem als Folge der Bildungsexpansion hat sich zwischen Jugend und Erwachsenenalter die neue Übergangsphase der „Postadoleszenz“ geschoben, die von immer mehr ökonomisch abhängigen und unverheirateten, aber rechtlich und in ihrer privaten Lebensführung selbständigen jungen Erwachsenen erlebt wird. Der Übergang in den Ruhestand ist flexibler geworden: Die Varianz der Übertrittszeit hat sich erhöht und die institutionellen Pfade haben sich vervielfältigt. Insbesondere die verschiedenen Möglichkeiten des Vorruhestandes und eine zunehmende Altersarbeitslosigkeit haben hier zur Entstandardisierung geführt. Dennoch behält der Ruhestand als Institution weiterhin seine fraglose Legitimität und Verhaltenswirksamkeit. Schließlich hat sich das höhere Alter ausdifferenziert in die unterschiedlichen Lebenswelten der relativ selbständigen „jungen Alten“ und der vermehrt hilfsbedürftigen „alten Alten“. Auch für diese Unterteilung sind weniger feste chronologische Markierungen entscheidend als vielmehr die Existenz einer verzeitlichten Sequenz und eines durch die Institutionen der Kranken- und Pflegeversicherung geprägten biographischen Übergangs. Insgesamt betrachtet verschwimmen also die Grenzen zwischen den einzelnen Phasen und es bilden sich neue Unterphasen heraus. Gleichzeitig bestehen die Prinzipien der zeitlichen Strukturierung bzw. Sequentialisierung und der institutionellen Gestaltung des Lebenslaufes weiter fort – wobei hier nicht nur Unterschiede in den Lebensverläufen verschiedener Kohorten beachtet werden müssen, sondern auch z. T. gegenläufige (De-)Institutionalisierungs- und (De-) Standardisierungsprozesse innerhalb von Kohorten, vor allem zwischen Frauen und Männern und im Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland (vgl. Mayer 2001).
3. Zur Kritik der Altersintegration Matilda Rileys Modell der Altersintegration ist zunächst ein bedeutsamer Beitrag zur Frage, wie Strukturen des Gesellschaftssystems, der Altersschichtung
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und des Lebenslaufes kausal miteinander verbunden sind und welche Folgen sie für die soziale Integration aufweisen. Positiv hervorzuheben an Rileys Ansatz ist die stringente alternssoziologische Begründung auf Basis des Altersschichtungsansatzes und die empirische Überprüfbarkeit, z.B. in Form der Analyse sozialer Netzwerke. Daraus resultierende empirische Ergebnisse sind wichtig, ungeachtet der ihnen zugrunde liegenden theoretischen Fundierung. Problematisch ist jedoch der kulturkritische Kurzschluss, mit dem Rassismus, Sexismus und Ageismus gleichgesetzt werden, eine Kausalkette von Altersschichtung über Alterssegregation und Altersstereotypisierung hin zu Altersdiskriminierung gezogen wird, die auf der Basis der vorliegenden Untersuchungen nicht zu beweisen ist. Diese Argumentation findet sich idealtypisch bei Peter Uhlenberg (2000: 261f.), der eine Parallele zwischen Strukturen der Alterssegregation und der Rassentrennung zieht. In beiden Fällen würden gesellschaftliche Gruppen durch formelle und informelle Barrieren daran gehindert, zusammen zu leben, zu arbeiten, zu wohnen, zu lernen, zu entspannen oder zu beten. Und so wie rassistische Einstellungen durch die Begegnung von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe abgebaut werden können, so könne auch der „ageism“ überwunden werden, wenn Menschen unterschiedlichen Alters aufeinander treffen. Die Aufhebung von Altersbarrieren sei dann möglicherweise ein effektiver Weg, die gesellschaftliche Zersplitterung zu reduzieren und eine zivilere Gesellschaft zu fördern, deren Mitglieder wieder stärker ihre Einheit und ihre gemeinsamen Ziele fühlen würden (Uhlenberg 2000: 263). Kritisch ist bei ihm (wie auch bei anderen Befürwortern einer Altersintegration) der undifferenzierte und verschwommene Sprachgebrauch, der zu einer impliziten Gleichsetzung von Altersdifferenzierung, Alterssegregation und Altersdiskriminierung führt – als ob die moderne Dreiteilung des Lebenslaufes mit ihrer spezifischen Altersschichtung eine Art „Altersapartheid“ darstellen würde. Gleichzeitig wird der ebenso problematische Plan einer kulturell und moralisch einheitlichen Gesellschaft entworfen, deren Mitglieder eine geschlossene Wertegemeinschaft in der Art einer Großfamilie bilden. Ebenfalls kritisch ist die implizit gebrauchte Kontakthypothese, wonach Kontakte zwischen Altersgruppen die soziale Integration fördern – obwohl das Zusammenleben von Altersgruppen soziale Konflikte auch verstärken und umgekehrt eine Trennung der Altersgruppen – d.h. eine Alterssegregation! – solche Konflikte auch eindämmen kann. Auch empirisch hat sich gezeigt, dass die altersintegrierte Gesellschaft weniger einen Entwicklungstrend als vielmehr eine gesellschaftliche Utopie darstellt. Auch für Riley ist die Ankunft einer „guten Gesellschaft“, die sie als Folge altersintegrativer Strukturen erwartet, eine Zukunftsvision. Erst wenn mehr Menschen zugunsten zusätzlicher Zeitressourcen bereit und fähig seien, bezahlte Vollzeitjobs mit älteren Menschen zu teilen, könnten Materialismus und Konsumismus ihre Anziehungskraft verlieren: „Is it now possible that age integration may dissipate some of today’s cynicism, self-absorption, and concern with
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private opulence?“ (Riley 1997: 12). In dieser Frage zeigt sich das idealistischutopische Moment des Altersintegrationsansatzes, der sich sehr auf die Wertvorstellungen eines bürgerlichen Mittelstandes bezieht und kaum anwendbar ist auf die Lebenswelt von unterprivilegierten und/oder arbeitslosen Bevölkerungsschichten, die um ihr soziales und finanzielles Überleben kämpfen müssen. Wie realistisch ist also die Vision einer altersirrelevanten Gesellschaft? Nach der bisherigen Argumentation kaum, denn moderne Gesellschaften weisen eine altersdifferenzierte Struktur auf, die in den funktionalen Kernbereichen des Bildungs- und Wirtschaftssystems die Altersgruppen voneinander trennt und daher kaum aufzuheben ist. Ebenso hat ein Abbau der lebenszyklischen Barrieren zwischen den Bereichen der Bildung, Arbeit und Freizeit nicht notwendig häufigere Kontakte zwischen den Generationen zur Folge, da sich in diesen Feldern interne Altersgrenzen herausbilden werden.
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Ludwig Amrhein
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Ageismus – Sprachliche Diskriminierung des Alters Undine Kramer
Oft ist das Alte als das Veraltete, Welke, schwach und matt Gewordne das Schlechtre; andrerseits als das Ursprüngliche, das Bewährte, das zu ruhiger Kraftäußrung, zu Klarheit und Milde Gediehne, das Beßre und so gilt dasselbe Wort bald lobend, bald tadelnd. Daniel Sanders: WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE (1860) s.v. alt
1. Vorbemerkung und Rückschau Daniel Sanders, einer der bedeutendsten Lexikografen des 19. Jahrhunderts, wertete für sein Wörterbuch Quellen seit der Lutherzeit aus und vermerkt im Wörterbuchartikel zu alt eine „bald lobende, bald tadelnde“ Bedeutung des Adjektivs. Sein Zeit- und Berufsgenosse Jacob Grimm benennt in seiner Rede über das Alter die zeitgenössischen Synonyme zu alt und Alter: „aus einheimischen schriftstellern liesze sich eine lange reihe einstimmiger wörter entnehmen: mürrisch, grämlich, eigensinnig, altfränkisch, ableibig, protzend, sauersehend, karger, knicker, erbsenzähler, filz, unke...“ 1 (Grimm 1863/1984: 226). Für Grimm ist unstrittig, dass sich die „einschlagenden [i.e. einschlägigen] vorstellungen“ zum Alter und zu den Alten in sprachlicher Geringschätzung manifestieren, was ableibig als Synonym zu alt oder filz und unke als Referenzausdrücke für alte Menschen belegen. Die negative Wahrnehmung des Alters – für das Deutsche bereits im 19. Jahrhundert durch eine Vielzahl sprachlicher Ausdrücke tradiert, in großer Breite im Wortschatz verfestigt und in den beiden maßgeblichen Wörterbücher dieser Zeit dokumentiert – erhält in der Mitte des 20. Jahrhunderts durch Robert N. Butler ihre allgemeine begriffliche Prägung als „Age-Ism“. Zunächst bezogen auf „the subjective experience implied in the popular notion of the generation gap” und von Butler (1969: 243) bestimmt als „prejudice of the middle-aged against the old in this instance, and against the young in others” fokussiert der Begriff sehr bald auf die Diskriminierung der Älteren. Ungewöhnlich rasch wird die analog zu „racism“ und „sexism“ gebildete Neu1
Die entsprechenden zeitgenössischen Bedeutungserläuterungen lauten: altfränkisch: ‚veraltet, altmodisch’; ableibig: ‚abgestorben’; knicker: ‚geizhals, knauser’; filz: ‚geiziger alter Mann’; erbsenzähler: ‚geizhals’; unke: ‚altes böses prophezeiendes weib’ (vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, DEUTSCHES WÖRTERBUCH, 1854-1960)
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Undine Kramer
prägung lexikalisiert und findet Eingang in die maßgeblichen Wörterbücher: 1973 bucht A DICTIONARY OF NEW ENGLISH das Stichwort „ageism“ in der Bedeutung ’discriminatory practices against the aged’. Andere Wörterbücher folgen, wie 1979 THE AMERICAN HERITAGE DICTIONARY (ageism: ‘discrimination based on age; especially discrimination against middle-aged and elderly people’) oder 1981 WEBSTER’S THIRD NEW INTERNATIONAL DICTIONARY (ageism: ‘prejudice or discrimination against a particular age-group and esp. against the elderly’). Neben der zeitnahen lexikografischen Kodifizierung, die als Indiz für die gesellschaftliche Relevanz des Faktums Altersdiskriminierung gelten kann, erscheinen erste sachbezogene Studien, so Dickman (1979). Mit Beginn der 1980er Jahre schließlich etabliert sich insbesondere in der Folge der grundlegenden Arbeit The Language of Ageism von Frank H. Nuessel „ageism“ auch als zentraler Begriff für die abwertende sprachliche Beurteilung des Alters und der Alten. Seit den 1990er Jahren erscheint der Terminus ageism in deutschen Beiträgen zum Thema, zunehmend in der partiell assimilierten Form Ageismus oder in hybriden Bildungen wie Altersdiskriminierung oder Altersfeindlichkeit. Mein Beitrag behandelt ausgewählte Aspekte des Ageismus in seiner besonderen Ausprägung als sprachliche Diskriminierung. 2 Mithin gelten die Bestandsaufnahmen (Abschnitt 2), die auch mit Blick auf aktuelle sprachliche Gegebenheiten vorgenommen werden, dem deutschen Vokabular des Ageismus, wie es in Wörterbüchern erfasst ist und im Sprachgebrauch begegnet. Eine solcherart kombinierte lexikografisch-lexikalische Sicht gestattet es, sprachliche Diskriminierung des Alters und der Gruppe der Älteren sowohl anhand evaluativer und devaluativer Verwendung spezifisch konnotierter Lexik exemplarisch zu dokumentieren als auch Tendenzen in Wortschatzentwicklung, Wortbildung und Metaphorisierungsprozessen zu erfassen und so Belege der permanenten Reproduktion und Fixierung eines negativen sprachlichen Bildes vom Alter anzuführen. Schließlich wird im Fazit (Abschnitt 3) danach gefragt, ob sich der aktuell zu beobachtende gesellschaftliche Wertewandel, der Alter und Ältere zunehmend als Potential begreift, auch in der deutschen Gegenwartssprache wiederspiegelt. Anders formuliert: Lässt sich ein Wandel bzw. eine Differenzierung des überwiegend negativ geprägten sprachlichen Bildes vom Alter erkennen und exemplarisch belegen oder ist (seit Sanders und Grimm) alles beim Alten geblieben?
2
Zu den Mechanismen sozialer, insbesondere sprachlicher Diskriminierung vgl. u.a. Graumann & Wintermantel (1989), Galliker et al (1994), Höer et al (1996).
Ageismus – Sprachliche Diskriminierung des Alters
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2. Zum sprachlichen Spektrum des Ageismus 2.1 Bestandsaufnahme I: Die Wörterbücher Häufig als „Spiegel von Zeitgeschichte“ apostrophiert, sind es Wörterbücher verschiedenster Art und unterschiedlicher Entstehungszeit, mit deren Hilfe sich die Genese eines lexikalischen Grundstocks des Ageismus verfolgen lässt. 3 Am Beispiel des seit dem 8. Jahrhundert lexikografisch belegten und zum Kernbestand des deutschen Wortschatzes gehörenden Adjektivs alt kann gezeigt werden, wie es sich zu einem kategorisierenden Merkmal negativer Distinktheit schlechthin entwickelt hat. Welche Informationen zu alt Wörterbücher in ihrer Funktion als Archiv des Sprachgebrauchs erfassen und festschreiben, soll anhand einiger Beispiele gezeigt werden. Zunächst zur ursprünglichen Bedeutung des Adjektivs, wie etymologische Wörterbücher sie verzeichnen: alt ‘hoch an Jahren, vorausliegend, längere Zeit bestehend’. Mit ahd. (8. Jh.), mhd. alt .. sind eng verwandt die Verben got. altengl. alan, anord. ala ‘nähren, hervorbringen’. Als außergerman. Verwandte sind vergleichbar lat. alere ‘nähren, aufziehen’ mit dem Adjektiv altus (eigentl. ‘emporgewachsen’) .. die sich mit den germ. Bildungen an .. *al- ‘wachsen, nähren’ anschließen. .. Einem dazu .. gebildeten Verbaladjektiv ie. *altos ‘auf-, herangewachsen’ folgt das Adjektiv alt, dessen drei Bedeutungen ‘reich an Lebensjahren, gealtert’ (Gegensatz ‘jung’), ‘vorausliegend, früher’ (Gegensatz ‘später’), ‘längere Zeit bestehend’ (Gegensatz ‘neu’) bereits im Ahd. voll entwickelt sind. (W. PFEIFER, ETYMOLOGISCHES WÖRTERBUCH DES DEUTSCHEN, 1993)
Auch Friedrich Kluge (ETYMOLOGISCHES WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE, 1883) gibt die Grundbedeutung von alt mit ‚gewachsen, erwachsen’ an. Evident ist, dass die Ausgangsbedeutungen von alt nicht negativ konnotiert sind, sondern neutrale bis positive Zuschreibungen umfassen. Dieses ursprüngliche Bedeutungsspektrum erfährt jedoch Veränderungen und Erweiterungen: Historische Wörterbücher, die Wörter in ihrer Entwicklung beschreiben, bele3
Die Bestandsaufnahme ist eine auswählende. Auch wurden die Wörterbuchauszüge zugunsten einer besseren Lesbarkeit gekürzt und teilweise in ihrem Layout modifiziert. Für ausführlichere und ergänzende Beispiele vgl. Kramer (2003, passim).
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gen dies. So führt das DEUTSCHE WÖRTERBUCH von Hermann Paul bereits 1897 mit ‚unangenehm’ eine neue, zusätzliche Bedeutung von alt an: alt aus .. alan >wachsen, nähren< .. wohl ursprünglich nur von Menschen, Tieren und Pflanzen .. .. die älteste von den jetzt üblichen Verwendungsweisen ist die im Sinne von ‚ein gewisses Alter habend‘. Danach bedeutet es dann für sich ‚ein hohes Alter habend‘ und ist Gegensatz zu jung ‚ein geringes Alter habend‘. Frühzeitig wird alt auch für leblose Gegenstände und für Zustände gebraucht im Sinne von ‚lange (eine Zeitlang) bestehend‘, und dazu ist der Gegensatz ‚eben erst (seit kurzem) entstanden‘.. Nordd. wird in vulgärer Rede alt für ‚unangenehm‘ von Personen und Sachen gebraucht. (H. PAUL: DEUTSCHES WÖRTERBUCH, 1897) Bemerkenswert bei der lexikografischen Beschreibung der neuen Bedeutungskomponente ‚unangenehm’ ist dreierlei: Paul markiert ausdrücklich deren regionale Beschränkung auf das Norddeutsche, er gibt mit dem Prädikat „vulgär“ einen Gebrauchshinweis bzw. ein lexikografisches Achtungszeichen für den Sprachbenutzer, und er erwähnt die Referenz der neuen Bedeutung auf Personen und Sachen. alt erfährt durch die semantische Erweiterung insgesamt gesehen eine Bedeutungsverschlechterung, die sich verfestigt und neben den weiterhin bestehenden, positiv konnotierten Teilbedeutungen tradiert wird. So offenbart sich das nachhaltig veränderte konnotative Spektrum von alt auch im entsprechenden Eintrag der Neubearbeitung des DEUTSCHEN WÖRTERBUCHS, das die Wortgeschichte lückenlos präsentiert. Der folgende Auszug aus dem über zehn Seiten umfassenden Wörterbucheintrag zum Lemmawort alt zeigt prägnant nicht nur in den Bedeutungsangaben, sondern auch anhand der aus mehreren Jahrhunderten datierenden Belege zu Punkt F die pejorativ aufgeladene Bedeutung des Adjektivs und seine Funktion als Epitheton mit massiv negativem Assoziationspotential. ALT .. A vom lebensalter. in der regel auf lebewesen bezogen .. ‘betagt, bejahrt, am lebensende befindlich, auf das lebensende zugehend’, auch den hinweis auf die gebrechlichkeit des alters einschließend .. B in einen zeitl. zusammenhang einordnend .. auch abwertend die alte ‘unveränderte, sattsam bekannte, abgedroschene’ leier .. auch leicht pejorativ i.s.v. ‘das veraltete, überholte’ .. C (durch alter u. gebrauch) nicht mehr neu, abgenutzt, abgetragen, schlecht, verfallen (von gebäuden), nicht mehr frisch (z.b. von speisen), auch ‘unmodern’:..
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D ausgereift, erwachsen (von menschen) .. vom wein, der durch reifendes liegen bes. gut geworden ist E (durch alter u. langes leben) reich an erfahrung, verständig, würdig F pejorativ, tadelnd u. herabsetzend. alt ist häufig attribut von schimpfwörtern, die es verstärkt (aus A und C entwickelt): 1505/6 .. du alter sack. das dich sanct Valntins pfloge (veitstanz) angehe gerichtsb. Cassel 21 .. 1669 du alte hex, .. das alte raben-aaß GRIMMELSHAUSEN Simplicissimus 232 Sch. 1755 ich alter bösewicht LESSING 2,268 L./M. 1866 wie ich jetzt als alter esel dastehe FEUERBACH br. an seine mutter 2,171 K./U.-B. 1914 der alte tepp BAHR querulant 26. .. 1984 nichts vestehst du, alter knacker, dachte M. STEPHAN gast 129.
- in moderner sprache häufig in nd. form oll: 1802 de oll keerl SCHÜTZE holst. id.3,173. 1884 na, haben sie den text noch nicht, sie oller langweiliger Peter? RAABE 15,461 H. .. 1986 ich .. muß nicht angst haben vor olle Meier .. GOSLICKI tod 11. ..
G lieb, vertraut, vorwiegend in festen verbindungen wie alter freund, junge, knabe als ausdruck einer burschikos-vertraulichen oder liebevollen menschl. beziehung.. (J. U. W. GRIMM, DEUTSCHES WÖRTERBUCH. NEUBEARBEITUNG, 1998) Evident auch hier, dass der devaluative Sprachgebrauch, der sich in der dominanten Verwendung von alt als abwertendes Epitheton (zunehmend ohne tatsächlichen Altersbezug) und in zahlreichen pejorativ konnotierten Synonymen von alt zeigt, seit Beginn des 16. Jahrhunderts nachgewiesen werden kann, mithin die sprachliche Diskriminierung des Alters und der Alten keine Erfindung der Gegenwart ist. Wörterbücher der deutschen Gegenwartssprache dokumentieren ebenfalls neben den die ursprüngliche Bedeutung von alt konstituierenden neutralen und meliorativen Sememen die erweiterte Polysemie des Wortes durch pejorative Bedeutungsnuancen: alt 1. /gibt das Alter, die Lebensjahre an/ 2. bejahrt, reich an Jahren, Ggs. jung 3. gebraucht, Ggs. neu 4. schon lange bestehend 5. Ggs. modern a) antik, klassisch b) weit zurückliegend c) (durch sein Alter wertvoll, kostbar) 6. /ohne Steigerung/ früher, Ggs. jetzig a) vorherig.. b) ehemalig, einstig 7. /ohne Steigerung/ s a l o p p a) /verstärkt die Ablehnung/ b) /verstärkt die Vertraulichkeit/“ (WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN GEGENWARTSSPRACHE (WDG), 1964) Auf den ersten Blick scheinen die Informationen zu alt im WDG (1961-1977) kaum von denen der historischen Wörterbücher abzuweichen: Die Paraphrasen lassen nicht erkennen, dass die negativen Implikationen des Wortes im 20. Jahr-
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hundert wesentlich zugenommen haben; sie scheinen sich auf Semem 7 zu beschränken. Erst die Einbeziehung der lexikografischen Beispiele, die die typische Verwendung eines Wortes in seinen verschiedenen Bedeutungen dokumentieren, zeigt, dass das pejorative Potential von alt, nämlich Geringschätzung und Abwertung, nun prominent für die Referenz auf Menschen benutzt wird, während neutrale und positive Konnotationen vorrangig auf Dinge oder Sachen bezogen sind. 2. s a l o p p ein a. Knabe, Semester; eine a. Jungfer; eine ältere (nicht mehr junge) Dame; ein a. (unjugendliches) Mädchen 3. /bildl./ s a l o p p etw., jmdn. zum a. Eisen werfen (etw., jmd. außer Dienst setzen) .. (bereits) zum a. Eisen gehören (nicht mehr verwendungsfähig) sein) 4. /drückt einen Tadel aus/ (bis zum Überdruß) langweilig: immer das a. Lied, Thema 7. a) ein a. Geizkragen, Schwätzer, Egoist, Drache; ein a. (unverbesserlicher) Sünder; ein a. (gerissener) Fuchs; so eine a. (widerliche) Schachtel, Hexe, Ziege (WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN GEGENWARTSSPRACHE, 1964) In der umfangreichsten Dokumentation des aktuellen Wortschatzes, die mit dem 1999 erschienenen DUDEN. DAS GROßE WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE vorliegt, bestätigt sich auch über 30 Jahre nach dem Erscheinen des WDG bei weiterer semantischer Differenzierung von alt die Tendenz zur Bedeutungsverschlechterung. Gleichzeitig reflektieren die lexikografischen Beispiele einen abwertenden öffentlichen Sprachgebrauch: alt - a. aussehen (ugs.; das Nachsehen haben): wenn er uns zuvorkommt, sehen wir sehr, ziemlich a. aus; Gegen die überalterte Gurkentruppe... hat Breitners FC Bayern ganz schön a. ausgesehen (Spiegel 25, 1981, 165) .. - durch Alter wertvoll [geworden]: -es Porzellan; -er (abgelagerter) Wein.. - (ugs. abwertend) verstärkend bei negativ charakterisierenden Personenbezeichnungen u. Schimpfwörtern: der -e Geizkragen!; (derb:) -es Schwein! (DUDEN. DAS GROßE WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE , 1999)
Die Einträge zeigen nachvollziehbar, dass sich die meliorative Bedeutungskomponente von alt für Sachgegenstände (alter Wein, altes Silber, alter Cognac, altes Porzellan, alte Münzen - sogar alter Käse) erhalten hat und diese Dinge als ‚mit zunehmendem Alter im Wert gestiegen’ ausgesprochen positiv bewertet werden, während alt mit Bezug auf Menschen überwiegend negativ konnotiert ist. Ähnlich ist der Befund mit Blick auf Syntagmen, in denen alt attributiv verwendet wird: Nur in recht wenigen Kollokationen erfolgt eine positive Bewer-
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tung, etwa in alter Freund, alter Seemann, alter Kämpfer/Haudegen, altes Haus oder alter Hase. Hier geht es jedoch in erster Linie um den Ausdruck von Vertrautheit und Anerkennung, es wird nicht automatisch auf eine höhere Anzahl von Lebensjahren referiert. Weitaus häufiger wird das Adjektiv in Kollokationen als Negativverstärker verwendet, wie die zufällige Auswahl aus einem Schimpfwörterbuch recht drastisch zeigt: alte Schachtel abwertend für eine ältere, ältliche, verschrobene Frau altes Reff Schimpfwort für ein (böses) altes Weib, eine Jungfer alter Knacker 1. salopp abwertend für einen (gebrechlichen, wunderlichen) älteren Mann. 2. spöttisch oder abschätzig für einen älteren Mann „im zweiten Frühling“, 3. landschaftlich selten für einen notorischen Geizhals alter Sack (auch als burschikose Anrede unter Freunden ohne jede Abwertung) abfällig für 1. einen alten Mann. 2. einen unsympathischen oder unfähigen, dummen Kerl altes Eisen (meist in Redensarten wie „zum alten Eisen zählen“) abfällig für alte, schwache, hinfällige, nicht mehr arbeitsfähige Menschen altes Register geringschätzig für eine alte (weibliche) Person (H. PFEIFFER: DAS GROßE SCHIMPFWÖRTERBUCH, 1996)
Dass alt in Kombination mit Personenbezeichnungen quasi als „umbrella term“ fungiert, dokumentiert auch DER KLEINE WAHRIG (1993), der zur Kollokation altes Weib die Entsprechung ‚zimperlicher, feiger Mensch’ gibt. Neben der Verwendung von alt als devaluierendes Epitheton, die ihre Basis in den negativen Bedeutungsmerkmalen des Adjektivs hat, verstärken die in der Mehrzahl pejorativen Synonyme alt als gängiges Mittel sprachlicher Ab- und Entwertung. So verzeichnen Synonymwörterbücher zu alt weitaus mehr negativ-wertende als neutrale oder positiv-wertenden Entsprechungen 4 , z.B. abgelebt, altersschwach, ältlich, altmodisch, angegraut, angejahrt, arbeitsmüde, ausgedient, greis, greisenhaft, hinfällig, klapprig, nicht mehr arbeitsfähig, runzelig, senil, verbittert, verbraucht, vergrämt, verkalkt, verknöchert, verknorzt, verlebt, wacklig, längst über die Höhe/auf dem absteigenden Ast des Lebens sein, bei jmdm. rieselt schon der Kalk. 5 Die in den Wörterbüchern fixierte Negativbedeutung von alt in seiner Verwendung als abwertende Eigenschaftszuweisung für Ältere setzt sich fort in alltagssprachlichen Synonymen, wie bemoost, schrottreif, steinzeitlich, abgetakelt, verschimmelt, angeschimmelt, ausgemustert, verblüht, welk, ausgeleiert, gestrig, asbach. Ebenso wie zahlreiche der lexikografisch erfassten Synonyme waren auch diese Wörter ursprünglich nicht auf Personen und das menschliche 4 5
Beispielsweise im vorgerückten Alter sein, weise. Für die Beispiele vgl.: STILWÖRTERBUCH (1966), BULITTA, E. & BULITTA, A., WÖRTERBUCH DER SYNONYME UND ANTONYME (1983), DUDEN. DIE SINN- UND SACHVERWANDTEN WÖRTER (1986).
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Alter bezogen, sondern dienten zur Alters- bzw. Gebrauchskennzeichnung von Sachverhalten und Gegenständen: Der äquivalente Bezug auf Personen und Sachen, den Hermann Paul (s.o.) bereits 1897 feststellte, hat in der Gegenwartssprache eine deutliche Unterdrückung der „menschlichen“ Komponente in alt zur Folge. Die sprachliche Gleichsetzung von unbelebten Dingen und Menschen ist ein häufig zu beobachtender Mechanismus in Diskriminierungsprozessen, der jedoch nicht immer derart deutlich und lexikografisch verifizierbar ist wie im Falle des Schlüsselwortes alt. So hat z.B. das Lexem überaltert ebenfalls eine solche Entwicklung – wenn auch quasi in Gegenrichtung – durchlaufen: Ursprünglich ausschließlich auf technische Anlagen bezogen, hat es inzwischen eine weitere, prominentere Bedeutung: überaltert .. 1. einen relativ hohen, sehr hohen Anteil alter Menschen aufweisend: .. Heute ist die Landbevölkerung weitgehend ü. (NZZ 27.8.84,15) 2. a) nicht mehr dem gegenwärtigen Stand der [technischen] Entwicklung entsprechend; überholt: .. Das Fahrzeug dieses Löschzuges .. ist ü. (Saarbr. Zeitung 8.7.80,13) .. b) nicht mehr der gegenwärtigen Zeit entsprechend; überholt: eine -e Pseudomoral (DUDEN. DAS GROßE WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE, 1999)
Anmerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das abgeleitete Substantiv Überalterung den Bezug auf technische Gegebenheiten völlig vermissen lässt: Überalterung, die; -, -en : das Überaltertsein: Alterslast, Ü., Vergreisung – der demographische Wandel werde »immer mehr zu einem Schlagwort, das für alle möglichen negativen Entwicklungen und Entscheidungen herhalten muss« (Woche 21.3.97, 8). (DUDEN. DAS GROßE WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE, 1999)
Lexikografisch noch nicht mit Referenz auf die Gruppe der Älteren kodifiziert ist überjährig; angesichts der zunehmenden Verwendung im aktuellen ageistischen Diskurs ist es allerdings ein potentieller Kandidat zur Erweiterung der „Liste abwertend verwendeter Adjektive“ zu der auch alt, altersschwach, altersstarrsinnig gehören (vgl. PFEIFFER 1996: 480). Insgesamt ergibt sich aus der punktuellen lexikografischen Bestandsaufnahme ein deutlicher Befund: Die Bedeutungsentwicklung und die usuelle Verwendung insbesondere des Adjektives alt, aber auch von Wörtern wie überaltert und überjährig zeigen signifikante Tendenzen altersdiskriminierenden Sprachgebrauchs.
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2.2 Bestandsaufnahme II: Der Sprachgebrauch Was „Alter“ für uns bedeutet, ist nicht nur eine Frage des Alters an sich, sondern immer auch der Art, wie darüber kommuniziert wird. Sprache erstellt als „kulturelles Gedächtnis“ gleichsam ein Protokoll des Umgangs mit dem Phänomen „Alter“ und transportiert kontinuierlich und über lange Zeiträume hinweg gängige, z.T. gesellschaftlich sanktionierte, mehrheitlich negative und diskriminierende Ansichten und Einstellungen zum Alter und zu älteren Menschen. Das Phänomen des altersdiskriminierenden Sprachgebrauchs rückte jedoch nicht in erster Linie durch aufmerksames und vergleichendes Studium deutscher Wörterbücher in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit: Es waren eher „Highlights“ wie die Bezeichnungen Runzelrabatt für den BundesbahnSeniorentarif 6 und Abwrackprämie für Zahlungen an Unternehmen, die über 50jährige in den Ruhestand schicken 7 , die Unwörter der Jahre 1995/96 Altenplage und Rentnerschwemme oder die Charakterisierung der Altersstruktur von Parteien mit Wörtern wie gerontophil oder Greisentruppe 8 , die die Aufmerksamkeit darauf lenkten, dass alten- und altersfeindlicher Sprachgebrauch in Deutschland durchaus zum Alltag gehört. Weit weniger gewärtig als diese meist nur kurzzeitig Empörung hervorrufenden Wörter ist jedoch der Umstand, dass Ageismus auf allen Ebenen des deutschen Wortschatzes anzutreffen ist: So kennt der Dialekt die Bezeichnungen Olle und Olsche, recht gängige umgangssprachliche Ausdrücke sind Greisendiskothek, Rentnerfunzel (für: Zusatzbremsleuchte) oder greiseneinfach 9 . Als offiziell bzw. standardsprachlich „korrekt“ gelten Überalterung, Restlebenserwartung 10 , pflegenah, Seniorisierung, Vergreisung, Greisen-Gesellschaft, während Fossil, Mumie, Kalkleiste, Zombie, Komposti oder Grufti der Jugendsprache zugerechnet werden. Schlosser (2007:106) hält zwar einer Benennung wie Grufti „jugendliche Unbekümmertheit“ zugute, weist aber zugleich darauf hin, dass damit „durchaus einer allgemeinen Verunglimpfung des Alters Vorschub geleistet werden könnte“. Erhellend ist in diesem Zusammenhang der Blick auf die lexikografische Kodifizierung des Wortes: Der DUDEN – DAS GROßE WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE (1999) ordnet Grufti erwartungsgemäß der Jugendsprache zu und erläutert seine Bedeutung mit ‚alter Mensch’. Anmerkenswert erscheint nun der Umstand, dass ein expliziter Hinweis auf die abwer6 7 8 9
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Runzelrabatt als partielles Synonym für „günstige Tarife der Deutschen Bundesbahn für ältere Leute“ stammt aus dem Jahre 1983 (vgl. Kramer 1995). Vgl. Schlosser (2007: 105). Vgl. DER SPIEGEL 12/1995. Das Kompositum wurde zur Bewerbung eines Computerprogrammes benutzt. Schlosser (1996:54) merkt an, dass das Wort älteren Nutzern generell technische Kompetenz abspricht und sie „auf eine Stufe mit Kleinkindern [stellt]; denn früher habe man vergleichbare Anforderungen als babyleicht oder kindereinfach charakterisiert“. Terminus technicus bei der Rentenfestlegung für über 65-Jährige.
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tende Konnotation fehlt, obwohl solcherart Kennzeichnungen durchaus zur lexikografischen Praxis des DUDEN gehören; zum Vergleich: Ackergaul und abknutschen sind mit ‚abwertend’ markiert, auch fast 8000 weitere Wörter. Zahlreiche der genannten Wortbeispiele gehören zur Gruppe altersdiskriminierender Ausdrücke, die von der Gesellschaft für deutsche Sprache seit Beginn der 90er Jahre registriert wurden. Dass diese Gruppe - auch (und gerade) in Zeiten der political correctness - beständig an Umfang zunimmt, wirft ein bezeichnendes Licht auf den sich aktuell deutlich verschärfenden gesellschaftlichen Diskurs in der Bundesrepublik und die dahinterstehende ageistische Geisteshaltung. Auch wenn Bezeichnungen wie Fossilienrunde, bebrillte Alte aus der Muppet-Show, geriatrische Kollegen (für Mitglieder des britischen Parlaments) oder verkalkte Mümmler und Kukident-Kollegium für ältere deutsche Politiker, die das „biologische Verfallsdatum“ längst überschritten hätten, als journalistische Auswüchse gelten können 11 und manche Wörter Einmalbildungen bleiben wie Greisenfernsehen (gemeint sind die Sender ARD und ZDF), Kukidents (als Gruppenbezeichnung für Fernsehzuschauer über Fünfzig) oder Seniorenzwischenlager (als Synonym für Altersheim): Es muss dezidiert daran erinnert werden, dass zahlreiche, ganz besonders wegen ihrer Metaphorik bedenkliche Wort(neu)bildungen usuell geworden sind, nicht zuletzt infolge ihres frequenten öffentlich-offiziellen Gebrauchs 12 . Überalterung(sgesellschaft), Vergreisung, Altersfalle, Seniorenboom dienen als Schlagworte und Metaphern einer tendenziösen Reflexion des demografischen Wandels. So suggerieren Alterslast Altenexplosion, Altenplage, Alterscrash, Altennotstand, Generationenclinch, Alterskrieg, die graue Gefahr, gierige Grufties, Herrschaft/Ära der Alten Bedrohung und Ausgeliefertsein wie bei Naturkatastrophen; es ist verständlich (und beabsichtigt?), dass solche Wörter Abwehrhaltungen gegenüber einer so bezeichneten demografischen Gruppe begründen und diese als wirtschaftliches und politisches Problem charakterisieren.Von Diskriminierung, Aggressivität und Manipulation zeugen auch die schon genannten Unwörter, die als repräsentative, relevante und sprachlich prägnante Bildungen gelten und meist über einen relativ langen Zeitraum in hoher Frequenz gebraucht wurden. Das Unwort des Jahres 1996 Rentnerschwemme ist ein typisches Beispiel intendierter diskriminierender Wortbildung: Es wurde nach dem Muster Rentnerberg, -lawine, boom, -last, -welle, -bombe gebildet. Das Grundwort -schwemme hat die emotional-verstärkende Bedeutung, dass ‚etwas meist Unwillkommenes in übermäßig großer Zahl vorhanden ist oder erwartet wird’ und massive Gegenmaßnahmen erfordert. Damit verfügt Rentnerschwemme über ähnlich negative Konnotatio11 12
Vgl. TAZ vom 9.4.1993; DER SPIEGEL 12/1995. Als Quellen für die Wortbeispiele dienten neben der persönlichen Zeitungslektüre, den Beiträgen in der Zeitschrift DER SPRACHDIENST und Kramer (1995, 1998, 2003, 2006) vor allem die von Lothar Lemnitzer und Tylman Ule initiierte, vorbildlich gepflegte und laufend aktualisierte Website DIE WORTWARTE unter http://www.sfs.uni-tuebingen.de/~lothar/nw/index.html.
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nen und bedrohliche Implikationen wie -bombe, -welle, -lawine: Alle Komposita dieses Typs vermitteln den Eindruck, es handle sich bei Menschen eines bestimmten Alters um eine nicht vorhersehbare, schwer abzuschätzende, aber in jedem Fall verheerende Katastrophe, gegen die man sich schützen müsse. Folglich evoziert die Naturmetaphorik (Lawine, Welle, Schwemme) ein unterschwelliges Bedrohungsgefühl und enthumanisiert gleichzeitig die Gruppe der Älteren. Insgesamt kann bei einem derart umfangreichen (und „kreativ“ erweiterten) Wortvorrat kaum mehr von zufälligen sprachlichen Ausrutschern oder gedankenlosen jugendsprachlichen Entgleisungen gesprochen werden, sondern hier zeigen sich intendierter Sprachgebrauch, eine bewusste Etikettierung und die gezielte Abwertung Älterer. Nur in Parenthese sei erwähnt, dass Ageismus bereits ikonisch manifestiert ist: So berichtet die NZZ Online 13 in einem aktuellen Bericht zum demografischen Wandel unter der Überschrift Die Altersfalle – schon zugeschnappt? das Folgende: „Dynamisch wachsende Gesellschaften mit einer breiten Basis an Kindern und Jugendlichen fasst sie [die Bevölkerungswissenschaft] ins Bild einer Pyramide. Wird der Sockel schmal, die Mitte füllig und die Spitze mächtig, so haben wir uns der Gegenwart genähert. Ein von Demografen gern benutzter Name für diese Darstellung einer Gesellschaft mit weniger Geburten und verlängertem Lebensabend lautet «Urne».“
3. Fazit: Alles beim Alten oder Veränderung und Wandel? Die lexikografisch-lexikalischen Bestandsaufnahmen lassen erkennen, dass die deutsche Sprache ein überwiegend negatives Altersbild vermittelt und reproduziert, doch daraus auf die ausschließlich pejorative Spiegelung des Alters in der Gesellschaft zu schließen ist falsch: Neuere Beobachtungen und Forschungen dokumentieren eine differenziertere Sicht auf die Älteren und auf das Alter. Der Zukunftsforscher Matthias Horx 14 spricht bereits 1994 optimistisch von einer „neuen Alterskultur“, einer „Revision des Altersbildes“, von einem Paradigmenwechsel hin zu einer positiven Sicht auf das Alter und die Gruppe der Älteren. Tatsächlich lässt eine in Gang gekommene sprachliche Differenzierung auf eine Veränderung gängiger Altersstereotype hoffen, die mit einem beginnenden Wertewandel dem sprachlichen Ageismus ansatzweise entgegenwirkt: So dokumentieren Begriffe wie Altenkompetenz oder Senior-Experten eine positive Bewertung der Älteren als Gebende und Beitragende, als Erfahrene und Mitgestalter. Die Deutsche Bank hat ein Elder-Potential-Programm entwickelt,
13 14
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/ vom 21.4.2008 Vgl. ALTERNDE GESELLSCHAFT. Nr. 48 vom 22.11.2004.
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in dem sie sich um die Wiedereingliederung älterer Mitarbeiter bemüht – nicht zuletzt um deren Erfahrungswissen wieder nutzen zu können. Zeitungsschlagzeilen, die auf den demografischen Wandel, das Alter oder die Gruppe der Älteren referieren, klingen nach der Jahrtausendwende deutlich positiver: 1994 titelte DER SPIEGEL apokalyptisch „Pest und Hunger sind glücklich überwunden – nun sind die Alten da!“. 2005 heißt es im TAGESSPIEGEL „Die Alten kommen: Sind deutsche Unternehmen darauf vorbereitet?“ und in Umkehrung einer bekanntermaßen pejorativen Redensart – „Je älter wir aussehen, desto besser für die Karriere“ – wird unter der Überschrift Mit Runzeln zum Erfolg konstatiert: „…plötzlich sieht graues Haar nicht mehr wie zu verschrottendes Alteisen aus, sondern wie Erfahrung, Belastbarkeit und Sachkenntnis“ (TAGESSPIEGEL vom 27.11.2005). Zwei Jahre später sieht die Bundesagentur für Arbeit „Das Ende des Jugendwahns“ (TAGESSPIEGEL vom 04.11.2007), und auch in der Werbung erklingen neue Töne: Kosmetikfirmen werben mit Slogans wie „50 ist heute jung“ (Biotherm) und präsentieren statt neuer Anti-Aging-Produkte Pro-Age-Serien mit Models jenseits der TeenagerAlters (vgl. BRIGITTE 23/2007). „Sprachliche Aufwertung“ erkennt Schlosser (2007) auch in der Benennung von „Lebensorten für die älteste Generation“ durch Wörter wie Altenzentrum, Altersruhesitz, Seniorenheim, Seniorensitz oder Seniorenresidenz. Die Bezeichnung Senioren ist nach seinem Dafürhalten „die derzeit unschlagbar scheinende Benennung Älterer“. Er begründet dies mit der guten Reputation, sprich meliorativen Bedeutung des Wortes. Die empirische Untersuchung „Vom Greis zum Senior“ von Sibylle Germann (2007) bestätigt erstmals anhand eines ausgewogenen Textkorpus diese Einschätzung. 15 Ohne Zweifel zeigt sich in Lexemen wie junggebliebene Generation, AntiStress Generation, die neuen, fitten Alten, Generation Gold, Best Ager, Silver Ager eine sprachliche Aufwertung in der Benennung Älterer. Ob diese positiven Bezeichnungen in jedem Fall und ausschließlich positive Assoziationen hervorrufen, ist zu bezweifeln: Abgesehen davon, dass sie recht undifferenziert auf die keineswegs homogene Gruppe von Menschen zwischen 50 und 70 referieren, können sie durchaus Ageismus fördernd wirken, wenn nämlich die neuen, sprich: aktiven, unabhängigen, gutsituierten und gesunden Alten als „Parasiten“ abgelehnt werden, weil angeblich deren „golden age“ durch immer weniger Junge finanziert werden muss. Erste Belege für ein solch neues Altersstereotyp sind wertende Wortbildungen wie Mallorca-Rentner 16 oder Seniorenbomber (für hochpreisige Geländewagen) 17 . 15
16 17
Zu fragen wäre, ob Senior seine meliorative Konnotation beibehalten kann, wenn sich Bildungen mehren wie Seniorenkrippe zur Bezeichnung eines Betreuungsdienst für Senioren, den kanadische Firmen eingerichtet haben, damit Angestellte dort ihre hilfsbedürftigen Angehörigen "abgeben" können. Vgl. http://www.sueddeutsche.de/,ra6m3/leben/artikel/791/128579/index.html vom 18.8.2007. Vgl. http://www.bundestag.de/dasparlament/2004/48/Thema/027.html vom 22.11.2004. Vgl. http://www.spiegel.de/auto/aktuell/0,1518,504404,00.html vom 16.9.2007.
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Aus aktuellem Anlass sei in diesem Zusammenhang angemerkt, dass das bisher eher als neutrale (Gruppen-)Bezeichnung geltende Bestimmungswort Rentner bei Kombination mit einem Hochwertwort wie Demokratie im Wortsinne de-moralisiert wird und in einer unterschwellig von Ageismus bestimmten Debatte über eine Rentnerdemokratie, in der „die Älteren die Jüngeren ausplündern“ auch Demokratie devaluiert. 18 So registriert der Wortschatz wie ein empfindlicher Seismograph Negatives wie Positives im sprachlichen Bild vom Alter. Die in Gang gekommene sprachliche Differenzierung und ein trotz der letzten Beispiele zu beobachtender beginnender Wertewandel lässt auf eine Veränderung gängiger und neuer Altersstereotype und eine Reduzierung sprachlichen Ageismus' hoffen. Als erster Schritt in die richtige Richtung kann die gesteigerte öffentliche Wahrnehmung von Ageismus gelten, in deren Folge die sprachliche Diskriminierung des Alters auch lexikografisch dokumentiert wurde: Das Adjektiv altersfeindlich findet sich im DUDEN – DAS GROßE WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE (1999) mit der Bedeutung ‚alten Menschen gegenüber feindselig eingestellt’ und dem bezeichnenden Beispielsatz „Die heutige Gesellschaft ist derart a. und empfindet eine derartige Verachtung für das Alter“. Das GROßE FREMDWÖRTERBUCH (DUDEN 72001) hat das Stichwort Ageism aufgenommen mit der Erklärung ‚Diskriminierung von alten Menschen (bes. die Bevorzugung junger Menschen gegenüber alten)’. Neuere Wörterbücher signalisieren zudem durch Angaben wie „abwertend“ den aktuell vorhandenen diskriminierenden Gehalt bestimmter Wörter: 1968: G. Wahrig, DEUTSCHES WÖRTERBUCH
abgetakelt: heruntergekommen, verblüht (von Personen)
senil: greisenhaft, altersschwach
Tapergreis: alter, körperlich u. geistig gebrechl. Mann Mummelgreis: gebrechl., zahnloser alter Mann 18
1999: DUDEN - DAS
GROßE WÖRTERBUCH DER DEUTSCHEN SPRACHE
abgetakelt: (salopp abwertend): vom Leben mitgenommen; verlebt, ausgedient, heruntergekommen senil: (bildungsspr., oft abwertend): durch Alter körperlich u. geistig nicht mehr voll leistungsfähig Tapergreis: (ugs. abwertend): alter, gebrechlicher Mann Mummelgreis: (ugs. abwertend): kraftloser alter Mann
Vgl. für den aktuellen, durch die Rede Roman Herzogs ausgelösten Disput z.B. die Ausgaben des TAGESSPIEGEL vom 13.-21.4.2008.
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Es scheint also nicht alles beim Alten geblieben zu sein, auch der von Jacob Grimm beschriebene Topos vom greisgrämigen, geizigen Alten ist heute nicht mehr dominant. Trotzdem: Die sprachliche Diskriminierung des Alters und der Älteren in Deutschland ist ein Faktum. Es gibt sie seit langem und nur sehr zaghaft spiegelt die Sprache eine positiver ausgerichtete Bewertung des Alters, die sowohl auf der (ökonomischen) Einsicht gründet, dass „die Alten“ wohl eben doch von großem Nutzen für unser Land sind, als auch auf der Tatsache beruht, dass Altersdiskriminierung in jeder, mithin auch in sprachlicher Form nicht mehr unwidersprochen hingenommen wird. Oft genug jedoch wird sprachliche Altersdiskriminierung toleriert, und es zeugt von Naivität zu glauben, dass etwa einem gesetzlichen Verbot diskriminierender Ausdrücke ein Wandel der Einstellung folgen würde. Möglicherweise jedoch können Sprachkultur und eine Art freiwilliger Selbstkontrolle einen solchen Wandel befördern und zudem verhindern helfen, dass Zeitungen unter der Überschrift „Geriatrischer Gipfel“ von einem Tennismatch berichten, dessen älteste Teilnehmer 27 und 28 Jahre alt sind. 19 Denn vielmehr erfreut (sicher nicht nur Sprachwissenschaftler) die Verwendung beinahe schon ausgestorben geglaubter Wörter wie Altersmilde und altersweise. 20 Und so gilt weiterhin, was Dieter Cherubim bereits 2001 treffend formulierte: „Was wir über das Alter, das Altsein oder alte Menschen denken, wird nicht zum geringen Teil durch die sprachlichen Bezeichnungen, die wir dafür verwenden, beeinflusst…“.
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19 20
Vgl. TAGESSPIEGEL vom 11.2.2007. Vgl. TAGESSPIEGEL vom 28.9.2007.
Ageismus – Sprachliche Diskriminierung des Alters
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Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) als Mittel gegen Altersdiskriminierung? Ein Beitrag aus juristischer Perspektive Ursula Rust
1. Bekämpfung der Altersdiskriminierung: bisher ein europäisches Thema Art. 13 EG-Vertrag erlaubt seit dem Vertrag von Amsterdam von 1997 dem Rat, geeignete Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen aufgrund des Alters zu bekämpfen. Mai 1999 ist der Vertrag von Amsterdam in Kraft getretenen und November 2000 hat der Rat der Europäischen Union mit der erforderlichen Einstimmigkeit die Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf erlassen. Diese Rahmenrichtlinie verbietet für das Erwerbsleben Diskriminierungen auch wegen des Alters. Mittel gegen Altersdiskriminierung im Erwerbsleben suchen zu wollen oder finden zu müssen, ist für die deutsche Rechtswissenschaft ein aus Europa mit der Rahmenrichtlinie 2000 „importiertes“ Thema. 1994 veröffentlichte Spiros Simitis, Hochschullehrer am juristischen Fachbereich der Universität Frankfurt am Main, seinen Beitrag „Die Altersgrenzen – ein spät entdecktes Problem“. 1 Der Beitrag fand damals in juristischen Kreisen noch wenig Resonanz. 1998 befasste sich der 62. Deutsche Juristentag 2 mit dem Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand. Das Gutachten zum 62. Deutschen Juristinnentag formulierte drei Fragen: ob die arbeitnehmerseitige Dispositionsfreiheit hinsichtlich des Ruhestandes erhöht werden solle, für welchen Zeitpunkt und ob es Möglichkeiten gebe, schrittweise aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. 3 Auf den Prüfstand gestellt wurden generelle Altersgrenzen, wie sie in Tarifverträgen, Betriebsvereinbarungen oder im einzelnen Arbeitsvertrag geregelt sind. Sie 1 2
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Recht der Arbeit (RdA) 1994, 257 ff. Die Mitgliederversammlung des Vereins Deutscher Juristentag wird im allgemeinen Sprachgebrauch als Deutscher Juristentag bezeichnet und wird alle zwei Jahre als rechtspolitischer Kongress durchgeführt. Die als Verhandlungen bezeichneten Diskussionen des Kongresses werden jeweils durch Fachgutachten vorbereitet, die mit Thesen enden. Winfried Boecken (1998): Wie sollte der Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand rechtlich gestaltet werden? Gutachten B zum 62. Deutschen Juristentag, München 1998.
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wurden im Gutachten als rechtswidrig bewertet. Maßstäbe zur unterschiedlichen Behandlung von Jüngeren und Älteren waren der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG sowie die mit Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit und nicht die Frage nach einer Ungleichbehandlung wegen des Alters. Diskriminierungsrechtliche Aspekte wurden während der Verhandlungen des 62. Deutschen Juristinnentages aber von Teilnehmerinnen eingebracht. Sie wiesen auf den Ausschluss Teilzeitbeschäftigter von der Altersteilzeit hin und damit auf das Problem einer mittelbaren Benachteiligung älterer Frauen. Der Gesetzgeber öffnete in der Folgezeit die Altersteilzeit auch für Teilzeitbeschäftigte. 2008 beschäftigte sich der 67. Deutsche Juristentag mit der alternden Gesellschaft. Frage des Gutachtens war, welche arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen sich zur Anpassung der Rechtsstellung und Verbesserung der Arbeitsmarktchancen älterer Arbeitnehmer empfehlen. 4 Die Altersdiskriminierung stand im Zentrum des vorbereitenden Gutachtens. Analysiert wurden die verfassungs- und arbeitsrechtlichen Aspekte der Altersdiskriminierung als Folie, um die geltenden Gesetze und die Tarifpolitik, die zugunsten älterer Beschäftigter wirken, zu durchleuchten. Altersdiskriminierung ist mit Art. 13 EG Vertrag und der Rahmenrichtlinie ein juristisch nicht zu übersehendes Thema geworden. Dessen Inhalt ist ausgehend vom europäischen Rahmen für das deutsche Arbeitsrecht zu bestimmen. Das zur Umsetzung der Rahmenrichtlinie 2006 verkündete und in Kraft getretene AGG (Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz) ist die gesetzliche Grundlage, um den Inhalt des Verbots der Altersdiskriminierung von dem Zugang bis zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses zu konkretisieren. Bis zur Rahmenrichtlinie hatte das Bundesverfassungsgericht über Altersgrenzen zu entscheiden, die für Bezirksschornsteinfeger, Hebammen, Prüfingenieure, Vertragsärzte, Piloten, Notare und Professoren galten, als diese selbständig oder abhängig Beschäftigten jeweils jenseits der Altersgrenze erwerbstätig sein wollten. Die Altersgrenzen passierten alle die verfassungsgerichtliche Prüfung. 5 Ein mögliches Verbot der Altersdiskriminierung wurde nicht in der Verfassung verortet. Das Grundgesetz regelt auch, anders als Art. 14 der Verfassung des Königreichs Spanien und § 5 der finnischen Verfassung 6 , nicht ausdrücklich einen Schutz vor altersbedingter Diskriminierung. Vor der Rahmenrichtlinie hatte der Rat bereits im sozialpolitischen Aktionsprogramm von 1971 Jugendliche und Ältere als Problemgruppen des Ar4 5
6
Ulrich Preis (2008): Alternde Arbeitswelt – welche arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen empfehlen sich zur Anpassung der Rechtsstellung und zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmer? Gutachten B zum 67. Deutschen Juristentag, München. Stefan Ruppert (2006): Die Segmentierung des menschlichen Lebenslaufs am Beispiel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Altersgrenzen. In: Rust, U., Lange, J. & Pfannkuche, H.: Altersdiskriminierung und Beschäftigung, Rehburg-Loccum, S. 19 ff., mit Diskussion und Nachweisen der Urteile. Nina Blinda (2009): Altersbezogene Regelungen in Sozialplänen nach dem AGG und der Richtlinie 2000/78/EG. Juristische Dissertation Universität Bremen, B II 1 mit weiteren Nachweisen.
Das AGG als Mittel gegen Altersdiskriminierung?
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beitsmarktes identifiziert, und Anfang der 1980er Jahre sah sich der Rat veranlasst, den Mitgliedstaaten zu empfehlen, die bestehenden Altersgrenzen zu überprüfen. 7 Zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Art. 13 EG-Vertrag verfügte die Europäische Gemeinschaft anders als die meisten Mitgliedstaaten über eine längere Vorgeschichte und auch damit Expertise zur Frage, wie sich das Alter für Beschäftigungschancen und Möglichkeiten auswirkt. Die Rahmenrichtlinie 2000/78/EG gibt den Mitgliedstaaten einen Kanon klarer Ziele und damit Handlungsnotwendigkeiten vor. Sie gibt außerdem mit Artikel 6 – Gerechtfertigte Ungleichbehandlungen wegen des Alters – den Mitgliedstaaten Entscheidungsspielräume. Die möglichen rechtmäßigen Ziele können insbesondere aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung kommen, und damit aus Politikbereichen, die koordiniert bzw. harmonisiert sind. Den Inhalt des Artikels 6 der Rahmenrichtlinie auszulegen, beschäftigt derzeit den Europäischen Gerichtshof. Er hat für das europäische Recht die Funktion, das europäische Recht und damit auch Art. 6 der Rahmenrichtlinie verbindlich für die Mitgliedstaaten auszulegen. Abhängig davon, welche Fragestellungen an den Europäischen Gerichtshof herangetragen werden, konkretisiert der Europäische Gerichtshof im Fallrecht den Inhalt des Verbots der Altersdiskriminierung. Der Beitrag soll aus juristischer Perspektive für das vorliegende Buch sinnvoll die Fragestellung beantworten, inwieweit das AGG ein Mittel gegen Altersdiskriminierung sein könnte. Der vorliegende Beitrag ist deshalb nicht der Ort für eine weitere Stellungnahme in der juristischen Debatte zur Altersdiskriminierung, die seit der Rahmenrichtlinie und dem AGG zunehmend intensiver geführt wird. Seit dem AGG liegen Entscheidungen der Arbeitsgerichtsbarkeit vor, mittlerweile bis zum Bundesarbeitsgericht. Eine rechtswissenschaftliche Diskussion und Kritik der Ergebnisse ist nicht das Anliegen dieses Beitrags. Der Beitrag soll vielmehr den Zugang zum Fallrecht für Nichtjuristinnen und Nichtjuristen ausgehend von der Struktur und dem Ziel der Rahmenrichtlinie ermöglichen.
2. Struktur des europäischen Richtliniengleichbehandlungsrechts zum Merkmal Alter Die Rahmenrichtlinie integriert 25 Jahre Erfahrungen zur Umsetzung der rechtlichen Standards zur Geschlechtergleichbehandlung im Erwerbsleben ein7
Empfehlung des Rates 82/857/EWG v. 10.12.1982 zu den Grundsätzen für ein gemeinsames Vorgehen betreffend die Altersgrenzen (ABl. 1982 Nr. L 357 S. 27), mit der die Mitgliedstaaten aufgefordert wurden, als eines der Ziele ihrer Sozialpolitik die Verwirklichung der flexiblen Altersgrenze anzuerkennen. Der Kommissionbericht folgte 1985 (KOM (86) 365 endg.).
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schließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Mit der Richtlinie ist auf erkannte Defizite des bisherigen Individualrechtsschutzes reagiert worden und sind die institutionellen Elemente des Gleichbehandlungsrechts ausgebaut worden.
2.1 Individualrechtsschutz Ausgangspunkt des Individualrechtsschutzes ist das Verbot der unmittelbaren Diskriminierung wegen des Alters. Das Alter wird wie die anderen mit der Rahmenrichtlinie genannten Merkmale, für die mit der Richtlinie ein allgemeiner Rahmen geschaffen werden soll, Diskriminierungen zu bekämpfen, in Art. 1 Richtlinie 78/2000/EG genannt, ohne den Begriff weiter zu definieren. Wenn das Merkmal Alter im Gesetz, im Tarifvertrag, einer Betriebsvereinbarung, einem Arbeitsvertrag oder bei einer Anweisung des Arbeitgebers als Kriterium verwendet wird, liegt eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Alters vor. Art. 16 b Rahmenrichtlinie nennt ausdrücklich alle diese möglichen Rechtsgrundlagen. Das in Art. 3 Abs. 2 a Rahmenrichtlinie geregelte Verbot der unmittelbaren Diskriminierung ist ein Anknüpfungsverbot. Im Zentrum des Individualrechtsschutzes steht außerdem das Verbot der mittelbaren Diskriminierung, „wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren, Personen … eines bestimmten Alters … gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich“. Diese Definition der mittelbaren Diskriminierung in Art. 3 Abs. 2 b Rahmenrichtlinie ist die Norm, die für die praktische Beachtung des Verbots der mittelbaren Diskriminierung im Erwerbsleben wichtig werden wird, wenn die Grundfrage geklärt ist, wann es weiterhin erlaubt ist, unmittelbar an das Alter anzuknüpfen. Beispielsweise kann es eine mittelbare Diskriminierung sein, wenn eine hohe Belastbarkeit verlangt wird. Dies ist eine Vorgabe, die im Wortlaut nicht auf das Alter abstellt und trotzdem Ältere ausschließen kann. Die Anforderung einer hohen Belastbarkeit für die Ausübung einer Tätigkeit ist hinsichtlich ihrer Ältere möglicherweise ausschließenden Wirkung zu begründen. Umgekehrt kann die Anforderung einer langjährigen Berufserfahrung Jüngere ausschließen. Eine hohe Belastbarkeit oder langjährige Berufserfahrung können nur dann verlangt werden, wenn das verfolgte Ziel rechtmäßig ist und nicht mit anderen Mitteln als des Ausschlusses Älterer bzw. Jüngerer erreicht werden kann. Das Verbot mittelbarer Diskriminierung wegen des Alters stellt damit bisher unhinterfragte Erwartungen über mit „dem“ Alter zusammenhängende Leistungspotentiale Erwerbstätiger auf den Prüfstand. Die Richtlinie hat den Mitgliedstaaten in Art. 4 erlaubt vorzusehen, dass berufliche Anforderungen die unterschiedliche Behandlung wegen des Alters
Das AGG als Mittel gegen Altersdiskriminierung?
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rechtfertigen können. Es muss sich dabei jedoch um eine „wesentliche und entscheidende“ berufliche Anforderung handeln. Für Deutschland ist diese Rechtfertigung nach § 8 AGG möglich. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Geschlechtergleichbehandlung lässt erwarten, dass die Ungleichbehandlung wegen beruflicher Anforderungen zur Altersdiskriminierung wie zuvor zur Geschlechtergleichbehandlung nur ausnahmsweise eine Differenzierung rechtfertigen kann. In der juristischen Debatte in Deutschland ist dies mittlerweile als Prinzip akzeptiert. Wenn also in einer Stellenanzeige ausdrücklich „unter 30-Jährige“ gesucht werden, spricht dies für eine Diskriminierung wegen des Alters, solange der Arbeitgeber nicht begründen kann, dass die Tätigkeit ab 30 nicht mehr ausgeübt werden könnte. Stereotype über die größere Tatkraft, Belastbarkeit oder ähnliches der Jugend und umgekehrt die fehlende Eignung Älterer, produktiv und belastbar arbeiten zu können, sind keine rechtlich tragfähige Begründung. Die Regel ist das Verbot, mit dem Merkmal eine Unterscheidung zu begründen. Die Ausnahme ist die Begründung mit beruflichen Anforderungen. Für dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis kommt das vom Europäischen Gerichtshof entwickelte Prinzip zur Anwendung, dass Ausnahmen vom sonst bestehenden individuellen Schutz vor Benachteiligung eng auszulegen sind. Weitere wichtige Elemente des Individualrechtsschutzes sind die in Art. 17 der Rahmenrichtlinie geregelten Sanktionen bei Verstößen. Entscheidet sich ein Mitgliedstaat für zivilrechtliche Konsequenzen, und dies ist in Deutschland der übliche Weg, müssen die Konsequenzen „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein“. Diese Anforderung wurde genau mit diesen Worten vom Europäischen Gerichtshof entwickelt, nachdem Deutschland 1980 das Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts beim Zugang zum Arbeitsverhältnis zwar in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen hatte, konkret in § 611a BGB, eine Norm, die vom AGG abgelöst worden ist. Für den Europäischen Gerichtshof war mit § 611a BGB, der als einzige Rechtsfolge einer Diskriminierung vorsah, Ersatz für vergeblich aufgewendete Bewerbungskosten zu leisten, der Individualrechtsschutz nicht gewährleistet. Der Normverletzung muss vielmehr, dem entstandenen Schaden entsprechend, wirksam mit einer abschreckenden Rechtsfolge begegnet werden können. Die Sanktion ist in § 15 AGG geregelt. Die mit wirksamen Sanktionen zu sichernden Diskriminierungsverbote der Rahmenrichtlinie zum Merkmal Alter sind vom Zugang bis zum Ende eines Arbeitsverhältnisses anzuwenden. Dies gilt nach der Rahmenrichtlinie ausdrücklich nicht nur für abhängige, sondern auch für selbstständige Erwerbsarbeit. Das AGG definiert den persönlichen Anwendungsbereich entsprechend weit. Der Diskriminierungsschutz gilt nach der Rahmenrichtlinie auch für die Mitgliedschaft und Mitwirkung in Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen. Dies Element ist im Verhältnis zur Gender-Basisrichtlinie von 1976 für das
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Gemeinschaftsrecht neu und hat bisher wenig Aufmerksamkeit in der Umsetzung erfahren. Zum Individualrechtsschutz gehören außerdem Verfahrensvorschriften, um die Ansprüche bei einer Rechtsverletzung durchsetzen zu können. Ein Element ist die Beweislastverteilung. Hierzu verlangt die Rahmenrichtlinie, dass „immer dann, wenn Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für verletzt halten oder bei einem Gericht … Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, es dem Beklagten obliegt zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat.“ Die Mitgliedstaaten dürften auch für Kläger günstigere Beweislastregeln vorsehen. Das AGG bestimmt den Mindeststandard. Eine Stellenanzeige mit dem Hinweis, es würden Jüngere gesucht, ist eine für die Glaubhaftmachung hinreichende Tatsache. Zum Verfahrensrecht gehört auch, dass Fristen, um das Vorliegen einer Diskriminierung geltend zu machen, nicht ungünstiger sein dürfen, als in entsprechenden anderen Verfahren. Hierzu besteht ein Streit zum AGG hinsichtlich der Frist von zwei Monaten für die schriftliche Geltendmachung nach § 15 As. 4 AGG.
2.2 Institutioneller Diskriminierungsschutz Zum Merkmal Alter sind zwingend drei institutionelle Elemente des Diskriminierungsschutzes zu bestimmen. Als ersten neuen Akteuren ist Verbänden, Organisationen oder anderen juristischen Personen die Möglichkeit zu geben, sich an der Rechtsdurchsetzung im Namen oder zur Unterstützung der sich beschwerenden Person zu beteiligen. Die Umsetzung ist mit § 23 AGG erfolgt. Inwieweit dies europarechtskonform ist, ist noch nicht geklärt. Zweites und drittes Element des institutionellen Richtliniengleichbehandlungsrechts sind der soziale und der Dialog mit den Nichtregierungsorganisationen. Nach Art. 13 der Richtlinie ist es Pflicht der Mitgliedstaaten, den sozialen Dialog zu fördern. Hierzu ist eine Vorschrift in § 17 AGG zu finden. Außerdem ist nach Art. 14 Rahmenrichtlinie der Dialog der Mitgliedstaaten mit den Nichtregierungsorganisationen zu fördern. Dies ist im AGG nicht gesondert geregelt. Die Nichtregierungsorganisationen sind im Beirat der Antidiskriminierungsstelle des Bundes vertreten. Wiederum ist die Zuständigkeit der beim Bund eingerichteten Antidiskriminierungsstelle, dort konkret beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angesiedelt, auch für Fragen der Altersdiskriminierung bestimmt. Das Europarecht verlangt dies bisher mit der Rahmenrichtlinie nicht. Die Zuständigkeit einer unabhängig arbeitenden Stelle wird im Europarecht bisher zu den Merkmalen Rasse, Ethnie und Geschlecht verlangt. Für die Europäische Gemeinschaft wird derzeit ein Entwurf einer weiteren Antidiskriminie-
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rungsrichtlinie beraten, der gestützt auf Art. 13 auch zum Merkmal Alter die Einrichtung einer unabhängig arbeitenden Stelle verlangen würde.
2.3 Generelle Ausnahme vom Anknüpfungsverbot Die individuellen und institutionellen Elemente des Richtliniengleichbehandlungsrechts sind zum Merkmal Alter soweit in den europarechtlichen Vorgaben relativ klar. Ein weitgehender Entscheidungsspielraum besteht für die Mitgliedstaaten für die Grenzziehung, die nicht im Einzelfall wegen wesentlicher beruflicher Anforderungen der konkreten Tätigkeit greifen würde. Vielmehr ist dies eine generelle Grenzziehung, die vorab abstrakt zu bestimmen ist. Hierzu könnten die Mitgliedstaaten vorsehen, „dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Derartige Ungleichbehandlungen können insbesondere Folgendes einschließen: a) die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung sowie besonderer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Bedingungen für Entlassung und Entlohnung, um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen; b) die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für den Zugang zur Beschäftigung oder für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile; c) die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung aufgrund der spezifischen Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes oder aufgrund der Notwendigkeit einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand. Der Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen der 15. Wahlperiode wiederholte zunächst nur diesen Inhalt. Ob und welche Schlussfolgerungen hieraus u.a. für die Sozialauswahl nach dem Kündigungsschutzgesetz zu ziehen wären, ließ der Entwurf offen. Der erste Vorschlag des Gesetzgebers ist zutreffend mit den Worten „Gesetzgeber als Drückeberger“ beschrieben worden. 8 Nur die Ausnahmeregelungen des Art. 6 der Rahmenrichtlinie übernehmen zu wollen, wäre 8
Klaus Bertelsmann, in: Rust, U. et al. (Hrsg.): Die Umsetzung der EU-Gleichbehandlungsrichtlinie in Deutschland. Loccumer Protokoll 79/04, 81 ff.
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besonders problematisch gewesen, da gleichzeitig juristisch bereits intensiv diskutiert worden war, welche gesetzlichen Normen bezogen auf den Standard des Verbots der Altersdiskriminierung verändert oder abgeschafft werden müssten. Nach der Ausschussanhörung 2005 hat eine gewisse Konkretisierung stattgefunden. Nach der Anhörung im Bundestag 2005 veröffentlichten die damaligen Regierungsfraktionen einen um die Ziffern 5 bis 8 ergänzten Katalog gerechtfertigter Ungleichbehandlungen wegen des Alters. „1. die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung sowie besonderer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Bedingungen für Entlohnung und Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses, um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Beschäftigten und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen; 2. die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für den Zugang zur Beschäftigung oder für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile; 3. die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung auf Grund der spezifischen Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes oder auf Grund der Notwendigkeit einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand; 4. die Festsetzung von Altersgrenzen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit als Voraussetzung für die Mitgliedschaft oder den Bezug von Altersrente oder von Leistungen bei Invalidität einschließlich der Festsetzung unterschiedlicher Altersgrenzen im Rahmen dieser Systeme für bestimmte Beschäftigte oder Gruppen von Beschäftigten und die Verwendung von Alterskriterien im Rahmen dieser Systeme für versicherungsmathematische Berechnungen; 5. eine Vereinbarung, die die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses ohne Kündigung zu einem Zeitpunkt vorsieht, zu dem der oder die Beschäftigte eine Rente wegen Alters beantragen kann; 6. eine Berücksichtigung des Alters bei der Sozialauswahl anlässlich einer betriebsbedingten Kündigung im Sinne des § 1 Kündigungsschutzgesetz, soweit dem Alter kein genereller Vorrang gegenüber anderen Auswahlkriterien zukommt, sondern die Besonderheiten des Einzelfalls und die individuellen Unterschiede zwischen den vergleichbaren Beschäftigten, insbesondere die Chancen auf dem Arbeitsmarkt entscheiden; 7. die individual- oder kollektivrechtliche Vereinbarung der Unkündbarkeit von Beschäftigten eines bestimmten Alters und einer bestimmten Betriebszugehörigkeit, soweit dadurch nicht der Kündigungsschutz anderer
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Beschäftigter im Rahmen der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 des Kündigungsschutzgesetzes grob fehlerhaft gemindert wird; 8. Differenzierungen von Leistungen in Sozialplänen im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes, wenn die Parteien eine nach Alter oder Betriebszugehörigkeit gestaffelte Abfindungsregelung geschaffen haben, in der die wesentlich vom Alter abhängenden Chancen auf dem Arbeitsmarkt durch eine verhältnismäßig starke Betonung des Lebensalters erkennbar berücksichtigt worden sind, oder Beschäftigte von den Leistungen des Sozialplans ausgeschlossen haben, die wirtschaftlich abgesichert sind, weil sie, gegebenenfalls nach Bezug von Arbeitslosengeld, rentenberechtigt sind.“ Nach § 10 AGG ist nach dem derzeit geltenden Recht „eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters (ist) auch zulässig, wenn sie objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Die Mittel zur Erreichung dieses Ziels müssen angemessen und erforderlich sein. Derartige unterschiedliche Behandlungen können insbesondere Folgendes einschließen: 1. Die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang … um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Personen oder Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen, 2. die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung … für den Zugang zur Beschäftigung oder für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile, 3. die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung aufgrund der spezifischen Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes oder aufgrund der Notwendigkeit einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand, 4. die Festsetzung von Altersgrenzen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit …, 5. eine Vereinbarung, die die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses ohne Kündigung zu einem Zeitpunkt vorsieht, zu dem der oder die Beschäftigte eine Rente wegen Alters beantragen kann …, 6. Differenzierungen von Leistungen in Sozialplänen im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes, wenn die Parteien eine nach Alter oder Betriebszugehörigkeit gestaffelte Abfindungsregelung geschaffen haben, in der die wesentlich vom Alter abhängenden Chancen auf dem Arbeitsmarkt durch eine verhältnismäßig starke Betonung des Lebensalters erkennbar berücksichtigt worden sind, oder Beschäftigte von den Leistungen des Sozialplans ausgeschlossen haben, die wirtschaftlich abgesichert
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sind, weil sie, ggf. nach Bezug von Arbeitslosengeld, rentenberechtigt sind.“
2.4 Andere gemeinschaftsrechtliche Grundlagen Neben Art. 13 EG-Vertrag und der Rahmenrichtlinie sind Standards zur Nichtdiskriminierung wegen des Alters auch in anderen Rechtsgrundlagen zu finden. So beschreibt Art. 15 Abs. 1 der Charta der Grundrechte ein Recht auf Arbeit: „Jede Person hat das Recht zu arbeiten und einen frei gewählten oder angemessenen Beruf auszuüben.“ Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte enthält außerdem einen Nichtdiskriminierungsgrundsatz auch zum Merkmal Alter. Danach sind Diskriminierungen verboten, wie sie in Art. 13 EG-Vertrag geregelt sind. Art. 21 Abs. 1 der Charta enthält weitere Merkmale, wie das Verbot der Diskriminierung wegen genetischer Merkmale. Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte findet für die EG-Bediensteten Anwendung, da nach Art. 1d Abs. 1 Beamtenstatut ein entsprechender Katalog geregelt ist. Die Auslegung von Art. 21 Abs. 1 der Charta bzw. von Art. 1d Abs. 1 Beamtenstatut liegt bei dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften bzw. dem Gericht für den öffentlichen Dienst. Diese Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs insgesamt sowohl für die EGBediensteten als auch die in den Mitgliedstaaten beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder Selbstständige spricht dafür, dass die Auslegung des Beamtenstatuts bzw. der Richtlinie zu einheitlichen Maßstäben des Gemeinschaftsrechts führen wird. Auf europäischer Ebene ist eine Instanz zum Bereich der Altersdiskriminierung aktiv geworden, die eine Funktion hat, die der für die Mitgliedstaaten bisher zu den Merkmalen Rasse und Ethnie sowie Geschlecht erforderlichen unabhängig arbeitenden Stelle ähnlich ist. Ausgehend von Art. 15 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte hat der europäische Bürgerbeauftragte 2001 aus eigener Initiative eine Untersuchung darüber eingeleitet, dass sich aus der Festlegung von Altersgrenzen für die Einstellung bei den Gemeinschaftsorganen und -institutionen Einschränkungen des Rechts auf Arbeit ergeben. Auffassung des europäischen Bürgerbeauftragten war, dass Altersgrenzen, die nicht objektiv gerechtfertigt sind, eine diskriminierende Einschränkung des Rechts auf Arbeit darstellen. Erstes Ergebnis der Initiativ-Untersuchung des Bürgerbeauftragten war, dass die dezentralen Einrichtungen keine Altersgrenzen verwendeten. Die zentralen Einrichtungen von der Kommission bis zum Wirtschafts- und Sozialausschuss verwendeten aber Altersgrenzen. Auf Nachfrage des Bürgerbeauftragten wurden die Altersgrenzen von der Kommission damit begründet, die von ihr verwendete Altersgrenze von 45 Jahren solle eine berufliche Entwicklung ermöglichen. Die Altersgrenze solle ge-
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währleisten, dass die Tätigkeit über den Mindestzeitraum hinweg ausgeübt werde, der für den Zugang zu den rentenrechtlichen Regelungen des Beamtenstatuts erforderlich sei. Dies sei ein vernünftiger und objektiver Grund für Altersgrenzen. Die angewendeten Maßnahmen stünden in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Anliegen. Die Übereinstimmung mit den Artikeln 21 und 15 der Charta seien gegeben. Eine Anhebung oder Abschaffung würde die Zahl der Stellenbewerber ansteigen lassen und entsprechende Verwaltungsprobleme zur Folge haben, so der Hinweis des Parlaments. Ergebnis wäre, dass die Zahl der erfolgreichen älteren Bewerber, deren Durchschnittalter und das durchschnittliche Einstiegsalter steigen würde. Probleme entstünden aufgrund von Unzufriedenheit und Frustration wegen der Einstufung, die normalerweise in der Eingangsbesoldungsgruppe erfolgen würde. Auf lange Sicht wären eine Alterung des Personals und finanzielle Konsequenzen für das System der sozialen Sicherung des Beamten zu erwarten. Ähnlich argumentierte der Rat. Das Argument, die rationelle Personalverwaltung (Einstufung, Einarbeitung, berufliche Entwicklung, Rente) erfordere ein Mindestmaß an Übereinstimmung von Besoldungsgruppe, Funktion und Alter, war nach Ansicht des Bürgerbeauftragen nicht stichhaltig. Es sei Sache des einzelnen Bewerbers zu entscheiden, ob und in welchem Alter er Gemeinschaftsbeamter werde. Zu den anderen Argumenten, die auf Kosten und finanzielle Probleme hinwiesen, erinnerte der Bürgerbeauftragte an die Rechtsprechung des EuGH, dass rein finanzielle Argumente keine Diskriminierung rechtfertigen könne. Die anderen Argumente könnten, wie im Bericht genauer erläutert wird, nicht die Nichtanwendung des grundlegenden Rechts auf Nichtdiskriminierung wegen des Alters rechtfertigen wie auch Verzögerungen in der Verwaltung noch fehlender neuer Vorgaben. Der Bürgerbeauftragte kam zum Ergebnis, dass Kommission, Parlament und Rat keine objektive Rechtfertigung für die Anwendung der Altersgrenzen vorgebracht hatten. Er verweigerte seine Zustimmung, die für die Entscheidung über die Errichtung eines Amtes für Personalauswahl erforderlich war, solange nicht klargestellt war, dass sich die europäische Einstellungsbehörde keine Diskriminierungen aus den durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbotenen Gründe – einschließlich des Alters – zuschulden lassen kommen dürfe. Die Altersgrenzen für Einstellungen bei den Gemeinschaftsorganen sind danach abgeschafft worden.
3. Wege zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts Für die Durchsetzung der Rahmenrichtlinie, also die erstens rechtzeitige und zweitens inhaltlich zutreffende Umsetzung in das nationale Recht, sind zwei Akteure zuständig. Die Kommission hat die Aufgabe zu überwachen, dass die
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Richtlinie umgesetzt ist. Stellt sie fest, dass die Umsetzung überhaupt nicht erfolgt ist oder verspätet oder dass der Inhalt zu kritisieren ist, kann sie ein Verfahren einleiten, dass im Ergebnis dazu führt, dass der Europäische Gerichtshof im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EG-Vertrag zum Inhalt und der Auslegung der Rahmenrichtlinie Stellung nimmt. Im Vertragsverletzungsverfahren wird er von der Kommission angerufen und entscheidet über die Kritik, die die Kommission vorbringt. Die Kommission erfüllt mit ihren Stellungnahmen die Aufgabe, die ihr nach Art. 211 EG-Vertrag zukommt, für die Anwendung des Vertrages sowie von Richtlinien Sorge zu tragen.
3.1 Vertragsverletzungsverfahren Deutschland ist Anfang 2006 wegen der Nichtumsetzung der Rahmenrichtlinie hinsichtlich aller Merkmale bis auf das Alter verurteilt worden. Hintergrund dafür, das Merkmal Alter von diesem Vertragsverletzungsverfahren auszunehmen, ist, dass die Richtlinie erlaubt, zum Alter die Umsetzungsfrist von drei Jahren um drei Jahre zu verlängern. Diese Möglichkeit ist von der Bundesregierung genutzt worden mit der Mitteilung, die Umsetzungsfrist zum Alter von Dezember 2003 auf Dezember 2006 zu verlängern. Die Verlängerung war damit begründet worden, zahlreiche Gesetze und andere Normen seien daraufhin zu untersuchen, ob sie geändert werden müssten. Für die Bundesrepublik hat aus der Verlängerung die Pflicht gefolgt, der Kommission jährlich über die erzielten Fortschritte zu berichten. Die zweite Stufe eines Vertragsverletzungsverfahrens zur Richtlinienumsetzung ist das Verfahren wegen Nichtübereinstimmung. Hierzu hat die Kommission Deutschland und zehn weitere Mitgliedstaaten Januar 2008 aufgefordert, die Rahmenrichtlinie vollständig umzusetzen. Die Kritik der Kommission betrifft sechs Fragen, die auch zum Verbot der Altersdiskriminierung wichtig sind. 9 Im Februar 2008 informierte die Bundesjustizministerin den Rechtsausschuss des Bundestages über das Aufforderungsschreiben der Kommission. Juli 2008 folgte die Information des Rechtsausschusses über den Inhalt der Antwort der Bundesregierung zu der mittlerweile mit Gründen erfolgten Stellungnahme der Kommission. Zum Erwerbsbereich betrifft die Kritik sechs generelle Fragen, die für alle in § 1 AGG und damit alle in Art. 13 EG genannten Merkmale zutreffen und so auch zum Alter relevant sind. Die allgemeine Kritik ist: 1.) Der Schutz im Bereich der Entlassungsbedingungen ist ungenügend, da der Verweis in § 2 Abs. 4 AGG auf die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz nicht ausreicht.
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Pressemitteilung der Kommission IP/08/155 v. 31.1.2998, weitere Informationen: http://ec.europa.eu/antidiscrimination, MEMO/08/68, MEMO/08/69.
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2.) Die in § 15 Abs. 4 AGG zum Arbeitsrecht vorgesehene Frist von zwei Monaten zur Geltendmachung von Ansprüche ist zu kurz, da nach der Rechtsprechung des BAG (Bundesarbeitsgericht) arbeitsvertraglich begründete Ausschlussfristen zumindest drei Monate betragen müssen. 3.) Die Haftung des Arbeitgebers nach § 15 Abs. 1 AGG, die bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot für den Schadensersatzanspruch ein Verschulden des Arbeitgeber verlangt und nach § 15 Abs. 3 AGG zur Anwendung kollektivrechtlicher Vereinbarungen für eine Entschädigung verlangt, dass der Arbeitgeber bei der Anwendung vorsätzlich oder grob fahrlässig handelte, da die Haftung verschuldensunabhängig auszugestalten ist. 4.) Die Beteiligungsrechte der Verbände nach § 23 AGG sind auf Verfahren beschränkt, in denen eine Vertretung durch Anwälte oder Anwältinnen nicht gesetzlich vorgeschrieben ist. Die Verbände können als Beistände und nicht als Prozessvertreter auftreten. Die Kommission kritisiert die Beschränkung der Beteiligungsrechte als richtlinienwidrig. 5.) Die fehlenden Maßnahmen zur Förderung des sozialen Dialogs zwischen Sozialpartnern, der nach Art. 13 Abs. 1 Richtlinie 2000/78 mit dem Ziel zu fördern ist, die Verwirklichung des Gleichstellungsgrundsatzes durch Überwachung der betrieblichen Praxis, der Tarifverträge, Verhaltenskodizes, Forschungsarbeiten oder durch einen Austausch von Erfahrungen und bewährten Erfahrungen voranzubringen. Außerdem hat der Mitgliedstaat nach Art. 13 Abs. 2 der Rahmenrichtlinie, soweit mit den einzelstaatlichen Gepflogenheiten und Verfahren vereinbar, Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufzufordern, unter Wahrung von deren Autonomie, auch Antidiskriminierungsvereinbarungen zu schließen. § 17 Abs. 1 AGG ist dazu als nicht ausreichend bewertet worden. 6.) Die fehlenden Maßnahmen zum Dialog mit den Nichtregierungsorganisationen werden festgestellt. Hierzu gibt es bis auf die Vertretung gesellschaftlicher Organisationen im Beirat der Antidiskriminierungsstelle des Bundes nach § 30 AGG im AGG keine Umsetzungsvorschrift. Nur zum Merkmal Alter kritisiert die Kommission § 10 Satz 3 Nr. 4 AGG, also die Erlaubnis, für betriebliche Altersrenten Altersgrenzen festzusetzen. Die in der Richtlinie enthaltene Einschränkung, dass solche Altersgrenzen unzulässig sind, wenn dies zu einer Diskriminierung wegen des Geschlechts führt, hätte nach Auffassung der Kommission im AGG an dieser Stelle geregelt werden müssen.
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3.2 Vorabentscheidungsersuchen als Dialog der nationalen Gerichte mit dem EuGH Die zweite Verfahrensart, um den Inhalt und die Reichweite des Verbots der Altersdiskriminierung zu klären, ist für den Europäischen Gerichtshof das Vorabentscheidungsersuchen. Der EuGH ist zum Alter bisher insbesondere zu Fragen der Beendigung wegen des Alters angerufen worden. Er hat die sachgrundlose Befristung für Ältere als für unvereinbar mit einem allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes der Nichtdiskriminierung wegen des Alters erklärt. Er hat zu generellen Altersgrenzen die Entscheidung an die nationalen Gerichte zurückgegeben und hierfür diesen allgemeine Prinzipien an die Hand gegeben. Die Vorlage zu den tariflichen Altersgrenzen in Deutschland aus 2009 gibt für den EuGH Anlass, den Gehalt dieses Urteils wiederum auch für eine Branche des Dienstleistungsbereichs zu bestimmen.
4. Fazit Aus rechtlicher Perspektive ist ausgehend vom AGG das Verbot der Altersdiskriminierung mit erlaubten Ausnahmen derzeit ein juristisches Prinzip, das sich im Stadium der Klärung über die Grenzen befindet, wann gleichwohl das Merkmal Alter unmittelbar verwendet werden kann. Zu Fragen der mittelbaren Diskriminierung gibt es Überlegungen in der Wissenschaft. Die gerichtliche Praxis haben sie bisher noch nicht zur weiteren Klärung erreicht. Für Fragen der Altersdiskriminierung ist derzeit offen, ob und wie sich die anstehenden Klärungsprozesse für die bisher bestehenden verfassungsrechtlichen Standards zu den Altersgrenzen auswirken werden. So haben die verfassungsrechtlichen Diskussionen bisher angesetzt an Fragen der Berufsfreiheit oder hatten ihren Anknüpfungspunkt in dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz. Insgesamt ist verfassungsrechtlich zur Altersdiskriminierung bisher wenig Klärung erfolgt. Hier ist aber zu erwarten, dass die gemeinschaftsrechtliche Diskussion und die Diskussion der Fachgerichte, insbesondere der Arbeitsgerichtsbarkeit, Anstoß für eine Klärung auch der verfassungsrechtlichen Standards im 21. Jahrhundert zum Verbot der Altersdiskriminierung geben wird. Zur Altersdiskriminierung ist ein Lernprozess für alle am Erwerbsleben Beteiligten gefragt. Die Rahmenrichtlinie hebt dies anders als das AGG hervor. Die Sozialpartner sind gefragt, an der Umsetzung zu den Bereichen mitzuwirken, in denen kollektivrechtliche Regeln die Arbeitsbedingungen gestalten. Die Nichtregierungsorganisationen sind aufgefordert, ihre Erfahrungen mit und ihr Wissen um Diskriminierungsstrukturen einzubringen. Der Gesetzgeber hat den
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erforderlichen Rahmen für den Individualrechtsschutz zur Verfügung zu stellen und die institutionellen Elemente der Gleichbehandlungsrichtlinien zielfördernd zu gestalten. Die Gerichte haben – auch ohne hinreichende gesetzliche Umsetzung – den Schutz vor Altersdiskriminierung im Erwerbsleben zu beachten. Mögliche Ausnahmen vom Recht auf Nichtdiskriminierung wegen des Alters beherrschen derzeit die juristische Diskussion. Außer in Teilen der Wissenschaft wird die Chance einer Bestandsausnahme und altersgerechten Gestaltung des Rechts derzeit verpasst. Für die Aufgaben der Rahmenrichtlinie ist das AGG defizitär geregelt. Das anstehende Vertragsverletzungsverfahren kann hier die Klärung über unverzichtbare Mindeststandards bringen, die parlamentarisch bisher nicht möglich war. Es bleibt dem Fallrecht überlassen, die Grenzen für die Rechtfertigung von Altersdiskriminierungen zu finden, solange der Gesetzgeber die Aufgabe nicht löst, die von Deutschland 2003 als Grund benannt worden war, um die dreijährige Umsetzungsfrist für weitere drei Jahre zu verlängern.
„Aktive“ Arbeitsmarktpolitik für ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen – Großbritannien, Japan und Deutschland im Wohlfahrtsstaatsvergleich 1 Frerich Frerichs
Als Reaktion auf die demographischen Herausforderungen für den Arbeitsmarkt sind in jüngerer Zeit in zahlreichen westlichen Industriestaaten arbeitsmarktpolitische Handlungsansätze für ältere Arbeitnehmer/innen entwickelt worden. In der Diskussion dieser Ansätze wird bisher wenig Bezug auf die zugrunde liegenden, unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Strukturen genommen und im Sinne eines „one size fits all“-Ansatzes oft davon ausgegangen, dass sich die jeweiligen Programmatiken im Sinne eines „active ageing“ aneinander annähern sollten. Der folgende Beitrag stellt demgegenüber die Eigenlogiken der Wohlfahrtsstaatsysteme heraus und analysiert kritisch die daraus hervorgehende, je spezifische Form der Bekämpfung der Arbeitsmarktprobleme älterer Arbeitnehmer/innen.
1. Einleitung Die entwickelten Industriestaaten sehen sich aufgrund eines generellen Trends zu steigender Lebenserwartung und sinkenden Geburtenraten einer zukünftig älter werdenden und schrumpfenden (Erwerbs-)Bevölkerung gegenüber. In der Folge müssen die wirtschaftlich-technologischen Entwicklungen zunehmend mit älteren Arbeitnehmern/innen gestaltet werden. Zudem gilt neben der Erhöhung der Produktivität und einer Ausweitung der Frauenerwerbsarbeit die verstärkte Integration älterer Arbeitnehmer/innen in die Erwerbsarbeit als Mittel der Wahl, um die prognostizierte Schrumpfung des Erwerbspersonenpotenzials abzufedern. Der Druck auf eine stärkere Integration älterer Arbeitnehmer/innen in das Erwerbsleben erhöht sich zusätzlich dadurch, dass aus rentenfinanzpolitischen Erwägungen heraus eine Anhebung der (Regel-)Altersgrenzen für den Renteneintritt in jüngster Zeit in mehreren Staaten – so auch in Großbritannien, Japan und Deutschland – durchgeführt worden ist bzw. geplant wird. 1
Der Vergleich Großbritannien – Deutschland baut auf die Ergebnisse eines von der AngloGerman Foundation geförderten Projektes mit dem Titel „Labour market policies for older workers and demografic change“ auf (vgl. Frerichs & Taylor 2005).
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Der doppelte Handlungsdruck auf die Arbeitsmarktpolitik steht in einem Spannungsverhältnis zu den Ausgliederungsprozessen und Beschäftigungsrisiken älterer Arbeitnehmer/innen am Arbeitsmarkt, die sich vor allem in einem überdurchschnittlichen Arbeitslosigkeitsrisiko und einer unterdurchschnittlichen Erwerbsbeteiligung ausdrücken. Im EU- und OECD-Raum sind ältere Arbeitnehmer/innen immer wieder als mehr oder minder große Problemgruppe am Arbeitsmarkt charakterisiert und als Verfügungsmasse in arbeitsmarktpolitischen Krisensituationen instrumentalisiert worden (vgl. u.a. ETUI 2002; Maltby et al. 2004). Vor diesem Hintergrund haben sich vielfältige arbeitsmarktpolitische Handlungsansätze herausgebildet, die auf eine stärkere Integration älterer Arbeitnehmer/innen in das Erwerbsleben abzielen. In aktuellen Bestandsaufnahmen werden diese Ansätze je nach Provenienz der Autoren oft als beispielhafte best-practice-Modelle herausgestellt, und es wird relativ unbesehen von einer Übertragbarkeit auf andere Staaten ausgegangen (vgl. u.a. Taylor 2002, 2006; Bertelsmann Stiftung & BDA 2003; OECD 2006a; Prager & Schleiter 2006). Systematische und analytisch-vergleichende Studien, die die bestehenden Unter-schiede in der arbeitsmarktpolitischen Ausrichtung vor dem Hintergrund wohlfahrtsstaatlicher Handlungstypen zu erklären versuchen und sich die Frage stellen, ob sich aus dem demographischen Handlungsdruck tatsächlich eine Konvergenz der Politikmuster ergeben kann, sind dagegen eher selten. Im Folgenden sollen daher exemplarisch die Entwicklungsmuster der aktiven Arbeitsmarktpolitik für älterer Arbeitnehmer/innen in Großbritannien, Japan und Deutschland auf Basis von kontrastiven Fallstudien verglichen und die unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Leistungsprofile analysiert werden. Dadurch soll die Spannbreite der möglichen arbeitsmarktpolitischen Antworten auf die demographischen Herausforderungen aufgezeigt und gleichzeitig verdeutlicht werden, mit welchen je spezifischen Chancen und Risiken für ältere Arbeitnehmer/innen diese einhergehen. Der Wohlfahrtsstaatsvergleich ist hierbei bi-polar angelegt: Gegenübergestellt werden mit Großbritannien und Deutschland ein marktliberaler und ein konservativ-korporatistischer Wohlfahrtsstaat, Japan wird als „hybrider“ Mix aus liberalem und konservativkorporatistischem Wohlfahrtsstaat gewertet und nimmt damit eine Mittelstellung zwischen den beiden anderen Staaten ein (Esping-Andersen 1990, 1997, 1999).
2. Demographischer Wandel und Arbeitsmarkt – die Ausgangssituation Die demographischen Entwicklungen treffen in Großbritannien, Japan und Deutschland nicht auf einen „altersneutralen“ Arbeitsmarkt, sondern es sind
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jeweils spezifische Segmentierungen und z. T. gravierende altersbezogene Arbeitsmarktrisiken zu konstatieren.
2.1 Alterung und arbeitsmarktbedingte Inaktivtät – Großbritannien In Großbritannien trifft die Alterung der Erwerbsbevölkerung – den vorliegenden Prognosen zu Folge steigt der Anteil der 50- bis 64-Jährigen an der Erwerbsbevölkerung von 27% im Jahr 2000 auf 32% im Jahr 2020 (Barham 2002) – auf Beschäftigungsverhältnisse von älteren Arbeitnehmern/innen, die durch einen zunehmenden Wechsel von einer unbefristeten Vollzeiterwerbsarbeit in Teilzeitbeschäftigung, selbstständige Tätigkeiten und befristete Beschäftigungsformen gekennzeichnet sind (Hirsch 2003). Dies kann als Zeichen für die auf dem britischen Arbeitsmarkt wirkenden Beschäftigungshürden für ältere Arbeitnehmer/innen gewertet werden, die nicht zuletzt aus ihrem durchschnittlich sehr viel niedrigeren Qualifikationsniveau resultieren. In Großbritannien sind zudem in Folge wirtschaftlicher Strukturkrisen die Erwerbsquoten älterer Arbeitnehmer/innen in den 1970er, 80er und 90er Jahren stark zurückgegangen und auch die Altersarbeitslosigkeit war ausgeprägt (Walker 2002). Aufgrund des seit Ende der 1990er Jahre anhaltenden Wirtschaftsaufschwungs sind diese zwar wieder auf einen niedrigen Stand gesunken und auch die Erwerbsquoten der 55- bis 59-jährigen Männer haben mit rd. 75% und die der gleichaltrigen Frauen mit rd. 60% wieder ein höheres Niveau erreicht (OECD 2004a). Dennoch liegt weiterhin ein erhebliches Maß an Arbeitsmarkt bedingter Inaktivität bei älteren Arbeitnehmern/innen vor, die sich insbesondere in dem Bezug von Erwerbsunfähigkeitsrenten sowie in einer verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit ausdrückt (Frerichs & Taylor 2005). Zudem spiegeln die Alterserwerbsquoten nicht den hohen Grad an Teilzeitbeschäftigung wider, bei Umrechnung auf Vollzeiterwerbsquoten liegt die Erwerbsbeteiligung bedeutend niedriger (OECD 2004b).
2.2 Alterung , Schrumpfung und betriebliche Altersgrenzen – Japan Japan ist durch eine rapiden Alterungsprozess in der Arbeitswelt gekennzeichnet, im Jahr 2020 werden bereits rd. 45% der Erwerbsbevölkerung zwischen 45 und 64 Jahre alt sein (AEDSC 2002). Zudem zeichnet sich Japan gegenüber Deutschland und Großbritannien durch einen sehr früh, nämlich bereits ab 2007 einsetzenden Schrumpfungsprozess in der (Erwerbs-)Bevölkerung aus (MHLW 2005). Dieser demographischen Entwicklung steht in Japan ein stark segmentierter Arbeitsmarkt gegenüber. Zum einen besteht ein Kernsegment der „lebenslangen Beschäftigung“, in dem vorwiegend männliche Beschäftigte in Großbetrieben tätig sind und das sich durch gute Aufstiegs- und Qualifizierungsmöglichkeiten, der Partizipation an Sozialleistungen des Be-
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triebs und vor allem einer weitgehenden Beschäftigungsgarantie bis zum Erreichen der betrieblichen Altersgrenzen auszeichnet (Araki 2002; Casey 2006). Den vorliegenden Schätzungen zufolge liegt der Anteil zwischen 20% und 30% aller Beschäftigten (Pascha 2003). Bereits in diesem Kernsegment herrscht eine altersdiskriminierende Praxis vor: Nach Erreichen der stark institutionalisierten betrieblichen Altersgrenzen – über 90% der Betriebe praktizieren dieses System, die Altersgrenzen sind in der Regel auf 60 Jahre festgelegt (MHLW 2005) – erfolgt der Transfer in Unternehmensbereiche mit weitgehend ungesicherten und deutlich geringer vergüteten Beschäftigungsverhältnissen (vgl. u.a. Seike 2001; Casey 2006). Diesem Kernsegment des Arbeitsmarktes steht ein ohnehin stark von ungesicherten Beschäftigungsformen geprägter Sektor gegenüber, von dem ältere Erwerbstätige in besonderem Maße betroffen sind. Diese werden mit zunehmendem Alter deutlich öfter auf eine selbstständige Tätigkeit verwiesen und befinden sich weitaus öfter in Teilzeitbeschäftigung: Nahezu ein Viertel der 60- bis 64-jährigen Arbeitnehmer und fast die Hälfte der gleichaltrigen Arbeitnehmerinnen sind Teilzeit beschäftigt (OECD 2001). Dieser Status bringt in Japan eine deutlich schlechtere arbeitsrechtliche Stellung und einen überproportional niedrigen Lohn mit sich (AEDSC 2002; Shire 2003). In Japan sind zwar in der Vergangenheit die Erwerbsquoten der älteren Arbeitnehmer/innen auf hohem Niveau relativ stabil geblieben, allerdings zeichnet sich auch hier in der Gruppe der 60- bis 64-Jährigen ein sukzessiver Rückgang ab (AEDSC 2002). Im Zuge der seit Beginn der 1990er Jahre andauernden Rezessionsphase ist zudem die Altersarbeitslosigkeit auf für japanische Verhältnisse ungewöhnlich hohe Werte von rd. 5% für 55- bis 59-jährige und von 10% für 60- bis 64-jährige Männer angestiegen (AEDSC 2002). Nicht enthalten darin ist das hohe Maß an Unterbeschäftigung älterer Arbeitnehmer/innen in den Betrieben (Waldenberger 2003).
2.3 Alterung und niedrige Erwerbsbeteiligung – Deutschland Der Alterungsprozess der Erwerbsbevölkerung ist in Deutschland ebenfalls sehr ausgeprägt – der Anteil der 50- bis 64-Jährigen an der Erwerbsbevölkerung steigt von 30% im Jahr 2000 auf 39% im Jahr 2020 –, allerdings ist erst in mittelfristiger Perspektive – ab dem Jahr 2020 – mit einem Rückgang in der Erwerbsbevölkerung zu rechnen (Statistisches Bundesamt 2003). Auf dem Arbeitsmarkt zeigt sich eine deutliche geschlechts- und qualifikationsspezifische Segmentierung für ältere Arbeitnehmer/innen. So sind nahezu 55% der 55jährigen und älteren weiblichen, aber nur rd. 10% der gleichaltrigen männlichen Erwerbstätigen in Westdeutschland Teilzeit beschäftigt (Hoffmann & Walwei 2002). Diese Beschäftigungsform geht zwar nicht mit einem generell schlechteren arbeitsrechtlichen Status wie in Japan einher, bewirkt aber dennoch deutlich geringere Aufstiegs- und Verdienstchancen. Die Integration in Erwerbsarbeit ist zudem stark nach Qualifikationsstufen segmentiert und die daraus resultierende
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Benachteiligung Niedrigqualifizierter nimmt mit dem Alter deutlich zu. Während z. B. in der Gruppe der 50- bis 64-Jährigen die Diskrepanz in der Erwerbsbeteiligung zwischen der niedrigsten und der höchsten Qualifikationsstufe mehr als 30 Prozentpunkte beträgt, liegt diese bei den Arbeitnehmer/innen in der Altersgruppe von 25 bis 49 Jahren nur bei knapp 20 Prozentpunkten (OECD 2003). Infolge wirtschaftlicher Strukturkrisen und zusätzlich durch den Sondereffekt der Wiedervereinigung sind die Alterserwerbsquoten bis Mitte/Ende der 1990er Jahre vor allem bei den Männern stark gesunken, erst in jüngerer Zeit zeichnet sich wieder ein leichter Anstieg ab. Dieser Anstieg relativiert sich allerdings sehr stark vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosenquoten, die in den Altersgruppen von 50 bis 54 Jahren und von 55 bis 59 Jahren bei rd. 16% (Männer) bzw. rd. 17% (Frauen) liegen (BA 2003). Die skizzierten Arbeitsmarktrisiken und -segmentierungen erschweren eine verstärkte Nutzung des Arbeitskraftpotenzials älterer Arbeitnehmer/innen, die vor dem Hintergrund der Alterung der Erwerbsbevölkerung und der Anhebung der Altersgrenzen erforderlich ist. Die z. T. erst Zeit versetzt einsetzende Schrumpfung des Erwerbspersonenpotenzials bringt zudem noch keine angebotsbedingte Entlastung des Arbeitsmarktes mit sich, so dass auch nicht von einem demographisch bedingten Automatismus bei dem Abbau von Arbeitsmarktrisiken ausgegangen werden kann.
3. Aktive Arbeitsmarktpolitik für ältere Arbeitnehmer/innen im Wohlfahrtsstaat Die aufgezeigten Entwicklungstendenzen in der Alterung und Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung und die Arbeitsmarktprobleme älterer Arbeitnehmer/innen, die diesen gegenüberstehen, sind auf Ebene der staatlichen Arbeitsmarktpolitik in allen drei Ländern erst seit jüngerer Zeit Gegenstand von Reformüberlegungen. Versuche, über die Anhebung der Altersgrenzen Einfluss auf die Steigerung der Erwerbsquoten und das faktische Rentenzugangsalter zu nehmen, reichen zwar bis in den Anfang der 1990er Jahre zurück, sie sind aber wesentlich auf rentenfinanzpolitische Überlegungen zurückzuführen. Zusehends wird aber deutlich, dass ergänzend hierzu arbeitsmarktpolitische Maßnahmen ergriffen werden müssen, wenn den demographischen Herausforderungen wirkungsvoll begegnet werden soll. Im Vereinigten Königreich ist von der Labour-Regierung erstmals im Jahr 2000 mit dem Strategie-Papier „Winning the Generation Game“ explizit auf die demographischen Herausforderungen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik Bezug genommen worden (Cabinet Office 2000). Ein Teil der dort getroffenen insgesamt 75 (!) arbeitsmarktpolitischen Handlungsempfehlungen werden in dem im gleichen Jahr eingeführten New Deal 50plus aufgegriffen. In mehreren
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aufeinander folgenden pogrammatischen Papieren – insbesondere in dem im Jahr 2002 vorgelegten Grünbuch zur Altersvorsorge (DWP 2002a ) und zuletzt im Jahr 2006 mit dem „New Deal for Welfare – Empowering People to work“ (DWP 2006) – werden die daraus hervorgegangenen Maßnahmen weiterentwickelt. In Deutschland findet im Jahr 2001 mit der gemeinsamen Erklärung des Bündnisses für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit ein Paradigmenwechsel statt, der auf einen Ausbau aktiver arbeitsmarktpolitischer Instrumente und einen Stopp des bisherigen Frühverrentungstrends abzielt (Gemeinsame Erklärung 2001). Ihren ersten sichtbaren Ausdruck findet dieser Richtungswechsel im JobAQCTIV-Gesetz, das im darauf folgenden Jahr verabschiedet wird. Im Zuge der Hartz-Reformen werden mehrere neue Instrumente zur Beschäftigungsförderung älterer Arbeitnehmer/innen aufgelegt – allerdings eingebunden in eine generelle Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik, die Problemgruppen eher benachteligt (s. unten). Den bisherigen Schlusspunkt bildet die 2006 verkündete „Initiative 50plus“ des Arbeitsministeriums, die bestehende arbeitsmarkt-politische Ansätze für ältere Arbeitnehmer/innen zu bündeln und zu erweitern sucht (BMAS 2006). In Japan wird mit dem im Jahr 2000 vorgelegten Weißbuch zur Arbeitsmarktpoltik verstärkt auf die demographischen Herausforderungen aufmerksam gemacht und ein längerer Verbleib im Erwerbsleben gefordert (Ministry of Labour 2000). Bereits im Jahr zuvor waren mit dem „9. Maßnahmenprogramm zur Stabilisierung der Beschäftigung und zur Schaffung neuer Beschäftigungsmöglichkeiten“ Befürchtungen hinsichtlich möglicher negativer Auswirkungen der Bevölkerungsalterung auf die wirtschaftliche Prosperität geäußert worden, und es wurde die Zielstellung vorgegeben, eine „altersfreie“, d.h. nicht altersdiskriminierende Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik zu erreichen (Iwata 2002). Im Weißbuch zur Arbeitsmarktpolitik aus dem Jahr 2005 wird schließlich auf das Hineinwachsen der japanischen Baby-Boom-Generation in rentennahe Jahrgänge verwiesen und auf die daraus hervorgehenden Anforderungen an eine altersgerechte Gestaltung der Arbeitswelt aufmerksam gemacht (MHLW 2005). Bereits an dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass die arbeitsmarktpolitischen Programmatiken in ihrer Stoßrichtung deutlich voneinander abweichen. Während die Labour Regierung in Großbritannien im Wesentlichen auf die Aktivierung arbeitsmarktferner Gruppen in der älteren Erwerbsbevölkerung abzielt, sieht sich Deutschland vor die Herausforderung gestellt, in Anbetracht der bereits vollzogenen Altersgrenzenanhebung diese Entwicklung auch arbeitsmarktpolitisch „einzuholen“ und nimmt ältere Arbeitnehmer/innen generell in den Focus. Japan hingegen steht angesichts des gravierenden Alterungsprozesses in der Erwerbsbevölkerung der Situation gegenüber, auf die zunehmende Betroffenheit älterer Arbeitnehmer/innen von
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betrieblichen Altersgrenzen zu reagieren und zugleich die hohe Altersarbeitslosigkeit zu bekämpfen.
3.1 Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen im Vergleich Der aktiven Arbeitsmarktpolitik kommt eine zentrale Rolle zu, die durch den demographischen Wandel geforderte stärkere Nutzung der Humanressourcen älterer Arbeitnehmer/innen sicherzustellen. Die folgenden vergleichenden Analysen zielen darauf, die wesentlichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten der arbeitsmartkpolitischen Maßnahmen für ältere Arbeitnehmer/innen in Großbritannien, Japan und Deutschland herauszustellen und in wohlfahrtsstaatliche Handlungsmuster einzuordnen. Arbeitsvermittlung Das Arbeitslosigkeitsregime in Großbritannien zeichnet sich durch eine starke Konzentration auf sanktionsbewährte Vermittlungsaktivitäten aus. In den ersten sechs Monaten der Arbeitslosigkeit bleiben ältere Arbeitslose dabei nach wie vor von aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen ausgeschlossen und sind auf die allgemeine Vermittlung im Rahmen der JobcentrePlus verwiesen und in zeitlich eng hintereinander geschaltete Beratungsgespräche und verpflichtende Aktivitäten zur Arbeitssuche eingebunden. Vermittlungsanstrengungen für ältere Arbeitslose werden im Rahmen von “job entry targets” formal zwar höher bewertet, das strikte Vermittlungsregime bringt allerdings auch das Risiko der Vermittlung in niedrigqualifizierte, schlechter entlohnte Jobs mit geringen Aufstiegsmöglichkeiten mit sich (Atkinson et al. 2003). Zudem gilt die Anzahl und insbesondere die Qualifizierung des Beratungspersonals in der Arbeitsvermittlung als verbesserungsbedürftig und es liegt eine relativ hohe, die Kontinuität der Beratung infrage stellende Personalfluktuation vor (Comptroller and Auditor General 2004). Nach sechsmonatiger Arbeitslosigkeit können ältere Arbeitslose dagegen im Rahmen des New Deal 50plus und bei länger als 18 Monate anhaltender Arbeitslosigkeit auch im Rahmen des New Deal 25plus besondere und z. T. wöchentlich verfügbare Beratungsangebote und Assessments in Anspruch nehmen, die zudem als Schlüssel zu weiteren Förderaktivitäten – wie Qualifizierungsprogrammen und Einkommenszuschüssen – fungieren (s. unten). Vor dem Hintergund des hohen Bestandes an Erwerbsunfähigen versucht die britische Regierung seit jüngerer Zeit des Weiteren, Anreize und Fördermöglichkeiten für eine Wiedereingliederung in das Erwerbsleben für diese Gruppe zu entwickeln (vgl. DWP 2003, 2006). Diese arbeitsmarktpolitischen Interventionen erfolgen aber eher zögerlich und auf einem niedrigen finanziellen und materiellen Niveau (Frerichs & Taylor 2005). Auch in Deutschland weist die Arbeitsvermittlung und -beratung der lokalen Arbeitsagenturen bezogen auf die – gesetzlich verankerte – verstärkte
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Unterstützung von Problemgruppen noch erhebliche Defizite auf. Zwar sind mit der Durchführung von Profiling-Maßnahmen prinzipiell gute Möglichkeiten gegeben, den Vermittlungsprozess besser auf Bedürfnisse und Möglichkeiten älterer Arbeitsloser abzustellen. Die gegenwärtig noch unzureichenden Personalressourcen wirken dem aber genauso entgegen wie die geschäftspolitische Zielsetzung der BA in Richtung auf einen schnellen Eingliederungserfolg (OECD 2005, 2006b; Deutscher Bundestag 2006). Diese Geschäftspolitik führt zu sogenannten „Creaming-Effekten“, d.h. in der Regel wird die Vermittlung auf ein jüngeres bzw. leichter zu vermittelndes Klientel ausgerichtet (Schütz & Oschmiansky 2006). Die ebenfalls als vermittlungsaufschließendes Instrument – aber auch als Kontrollelement zur Überprüfung der Arbeitsbereitschaft – eingeführten Trainingsmaßnahmen zeigen ebenfalls einen deutlichen Altersbias (BA 2004). Angesichts der in der letzten Dekade drastisch gestiegenen Arbeitslosigkeit unter den älteren Arbeitnehmer/innen kommt auch in Japan der Arbeitsvermittlung für diese Zielgruppe eine hohe Bedeutung zu. Besondere Vermittlungsaktivitäten für ältere Arbeitslose sind allerdings primär auf höher qualifizierte und in Folge des Erreichens der betrieblichen Altersgrenzen bzw. der Versetzung in ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse arbeitslos gewordene ältere Fachkräfte ausgerichtet und umfassen zumeist nur Bewerbungs- und Berufslaufbahnberatung (Naganawa 2002; OECD 2004c). Es fehlen insbesondere Vermittlungsangebote für ältere Langzeitarbeitslose oder niedrig qualifizierte ältere Arbeitslose etwa in Form von Profiling-, Trainings- oder mobilitätsfördernden Maßnahmen. Insgesamt muss die Vermittlungsarbeit für ältere Arbeitslose daher als stark segmentierend gewertet werden. Berufliche Qualifizierung Qualifizierungsmaßnahmen und die Förderung lebenslangen Lernens nehmen sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland auf der programmatischen Ebene einen hohen Stellenwert ein. In Großbritannien ist allerdings in der Realität nur eine gering entwickelte Angebotsstruktur bezogen auf die Qualifizierungsförderung von (älteren) Arbeitslosen auszumachen. Die im Rahmen des New Deal 50plus gezielt für ältere Arbeitslose gewährten „training grants“ sind finanziell mit Fördersummen von rd. 2.400 EURO nur relativ gering ausgestattet, und diese werden auch nur für Qualifizierungen gewährt, die nach Arbeitsaufnahme erfolgen. In der Konsequenz nehmen nur rd. 5% aller Teilnehmer/innen am Programm New-Deal 50plus entsprechende Fördermöglichkeiten in Anspruch (DWP 2002b). Im Rahmen des Work based Learning for Adults (WBLA) wird des Weiteren eine Mischung aus kurzen Trainings- und längeren Weiterbildungsmaßnahmen für alle Arbeitslosen angeboten. Mit jährlichen Teilnehmereintritten von 60.000 Personen bleibt diese Fördermaßnahme aber deutlich hinter den bundesrepublikanischen Zahlen zurück: Im Jahr 2003 – also bereits nach Einsetzen der Förderreduzierung im Zuge der Hartz-Reformen (s.
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unten) – betrugen die jährlichen Eintritte in Trainings- und Weiterbildungsmaßnamen zusammengenommen immer noch rd. 1,2 Mio. Personen (Frerichs & Taylor 2005). Auch die niedrigere Arbeitslosenquote im Vereinigten Königreich vermag diesen Unterschied nicht zu erklären. Die Teilnehmerquoten von älteren (Langzeit-)Arbeitslosen liegen beim WBLA mit rd. 17% zwar relativ hoch, den vorliegenden Befunden zu Folge partizipieren sie jedoch weniger an den umfangreicheren Weiterbildungsmaßnahmen in diesem Programm, die eine bessere Vermittlung in qualifizierte Tätigkeiten gewährleisten (DfEE 2001). Die Problematik in der Förderung der beruflichen Weiterbildung älterer Arbeitnehmer/innen in der Bundesrepublik liegt nicht primär in fehlenden Angeboten, sondern in deren Ausgrenzung aus den bestehenden Maßnahmen: Nur rd. 5% aller Teilnehmer/innen an diesen Maßnahmen waren im Jahr 2003 50 Jahre und älter, obwohl deren Anteil an den Arbeitslosen im selben Zeitraum bei 25% lag (BA 2004). Zum einen wirkt hier die langjährige Frühverrentungspolitik weiter fort, die in den Augen der Arbeitsverwaltung Qualifizierungsmaßnahmen für ältere Arbeitslose wenig lohnend erscheinen lässt. Zum anderen ist hierfür die im Zuge der Hartz-Reformen eingeführte neue Geschäftspolitik der Bundesanstalt für Arbeit verantwortlich zu machen, die sich an hohen und von älteren Arbeitslosen in der Regel nicht zu erreichenden Eingliederungsquoten von 70% für die Gewährung von Fördermitteln orientiert (Expertenkommission 2004; OECD 2005). Allerdings ist auch für die Bundesrepublik zu konstatieren, dass das ehemals sehr hohe Niveau an Weiterbildungsförderung stark reduziert worden ist und sich zusehends auf kurzfristige Maßnahmen konzentriert. Gesondert eingeführte Förderungen für die betriebliche Weiterbildung älterer Arbeitnehmer/innen in Klein- und Mittelbetrieben, die einen eher präventiven Charakter tragen, konnten bisher noch keine Wirksamkeit entfalten (Sproß & Eichhorst 2005). In Japan ist auf Grund der auf die betriebliche Beschäftigungssicherung ausgerichteten Arbeitsmarktpolitik die Weiterbildungsförderung für ältere Arbeitslose weitgehend defizitär. Dies steht im Gegensatz zu der Tatsache, dass für die in der letzten Dekade stark angestiegene Zahl der älteren Arbeitslosen die mangelnden Transferierbarkeit von betrieblich erworbenen Qualifikationen im Erwerbsverlauf ein schwerwiegendes Beschäftigungs- und Eingliederungshemmnis darstellt (Naganawa 2002). Lediglich im Rahmen der allgemeinen Weiterbildungsförderung und mit einer sehr niedrigen finanziellen Förderung stehen älteren Arbeitslosen Qualifizierungsangebote zur Verfügung. Hierbei mangelt es zudem an einer Steuerung zwischen den angebotenen Maßnahmen und dem tatsächlichen Arbeitsmarktbedarf (Higuchi 2004). Die betriebsbezogene Weiterbildung wird in Japan seit 1998 im Rahmen des „Education and training benefit“ individuell mit relativ geringen Beträgen gefördert. 55-jährige und ältere Arbeitnehmer/innen sind aber – nicht zuletzt auf Grund der vorherrschenden betrieblichen Altersgrenzen – mit einer Teilnahmequote von 9% nur stark unterproportional in dieser Maßnahme vertreten (OECD 2004c).
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Lohnsubventionierung und Einkommenszuschüsse In Deutschland stellen Lohnsubventionen in Form von Eingliederungszuschüssen ein traditionell stark ausgebautes Instrument der aktiven Arbeitsmarktpolitik dar und hierbei gelten zudem besondere Förderbestimmungen für ältere Arbeitslose ab 50 Jahren mit Förderzeiten von derzeit maximal drei Jahren und degressiv gestalteten Fördersummen in Höhen von maximal 50% des berücksich-tigungsfähigen Arbeitsentgeltes. Im Zeitraum der letzten Jahre ist dieses Förderinstrument zudem weiter ausgebaut worden, und es werden derzeit rd. 150.000 Förderfälle pro Jahr registriert (BA 2004). Eine derartige Förderstruktur und -intensität der Lohnsubventionierung ist in Großbritannien nicht vorzufinden. Im Rahmen des New Deal 50plus existieren keine, im Rahmen des New Deal 25plus nur sehr begrenzte Möglichkeiten zur Gewährung von Lohnsubventionen für ältere Arbeitslose. Lohnsubventionen für ältere Arbeitslose werden auch in Japan z. B. im Rahmen des „Subsidy for Employment Development for Special Type of Job-Seeker“ gezahlt (Iwata 2002). Die Förderzahlen gehen aber ebenfalls nicht über einige tausend Personen hinaus, das genannte Förderprogramm ist zudem finanziell sehr beschränkt (Othake 2004). Diese Förderleistungen bleiben weit hinter den Unterstützungszahlungen zurück, die die japanische Regierung Arbeitnehmer/innen gewährt, die noch in den Betrieben beschäftigt sind, die aber im Zuge des Erreichens betrieblicher Altersgrenzen Lohneinbußen hinnehmen müssen. Aktuell werden mit diesem „Employment Continuation Benefit for the Aged“ jährlich rd. 140.000 ältere Arbeitnehmer/innen mit einer Fördersumme von insgesamt rd. 1 Mrd. Euro subventioniert, die Bezugsdauer liegt mit zwei Jahren relativ hoch (Iwata 2002; OECD 2004c). Die Maßnahme stellt im Prinzip eine staatliche Subventionierung der betrieblichen Ausgliederungspraxis („teinen“) dar. Lohneinbußen bei den älteren Arbeitnehmern/innen werden – wenigstens zum Teil – kompensiert, wenn die Wieder- bzw. Weiterbeschäftigung in demselben Betrieb, aber in sehr viel geringer entlohnten Tätigkeiten erfolgt. Auch in Großbritannien sind als zentrales Instrument des New Deal 50plus Einkommenszuschüsse in Form des Employment Credits eingeführt worden, diese werden aber im Gegensatz zu Japan nur bei Einstellung von älteren Arbeitslosen gewährt. Mit diesen steuerfreien Zuschüssen zum Erwerbseinkommen in Höhe von rd. 385 EURO pro Monat und für die Dauer von einem Jahr sind im Zeitraum der ersten drei Jahre rd. 120.000 ältere Arbeitslose gefördert worden. Strukturell wird mit den Fördergegebenheiten die Aufnahme einer niedrig entlohnten Tätigkeit präjudiziert und in der Folge lagen mehr als zwei Drittel der vermittelten Arbeitsplätze auf dem untersten Qualifikationsniveau mit sehr niedrigen Einkommen (Moss & Arrowsmith 2003). In Deutschland sind bezeichnenderweise Einkommenszuschüsse für ältere Arbeitnehmer/innen in Form der Entgeltsicherung erst relativ spät eingeführt worden, da es starken Widerstand gegen die Etablierung eines Niedriglohnsektors gab und gibt. In der
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jetzigen Form 2 wird für die Dauer des Restanspruches auf Arbeitslosengeld ein Zuschuss zum Arbeitsentgelt in Höhe von 50% der monatlichen Differenz zum vorherigen Nettoentgelt gezahlt. Die damit angestrebte Absenkung des Reservationslohnes ist aber angesichts sehr geringer Förderzahlen bisher ohne großen Erfolg geblieben (Brussig et al. 2006). Schaffung öffentlich geförderter Arbeitsgelegenheiten Trotz des stärkeren Interventionsgrades der Labour-Regierung gegenüber der konservativen Vorgängerregierung sind Maßnahmen zur öffentlich geförderten Arbeitsplatzbeschaffung in Großbritannien bisher die Ausnahme geblieben und nicht auf ältere Arbeitslose zugeschnitten. Im Rahmen der New Deal-Programme werden diese lediglich für arbeitslose Jugendliche angeboten und tragen einen eher die Arbeitsbereitschaft kontrollierenden Charakter. Insgesamt besteht nach wie vor aus generellen arbeitsmarktpolitischen Erwägungen heraus, die sich in Bedenken gegen staatliche Subventionierung von Arbeitsplätzen gründen, eine große Reserviertheit gegenüber diesem Maßnahmetyp (Frerichs & Taylor 2005). Nachfrageorientierte Strategien zur Arbeitsplatzbeschaffung sind dagegen in Deutschland nicht nur generell wesentlich stärker ausgeprägt, sie weisen auch seit jeher eine spezifische Ausrichtung auf älterer Erwerbslose als besondere Problemgruppe am Arbeitsmarkt aus. Allerdings ist auch hier in Folge der Neuausrichtung der Geschäftspolitik der Bundesagentur für Arbeit auf Maßnahmen mit schnellen Vermittlungserfolgen und im Rahmen eines „aktivierenden“ Vermittlungsregimes die Förderung drastisch reduziert worden. Die Bestandszahlen sind in der Folge von mehr als 300.000 auf unter 140.000 gesunken, wobei ältere Arbeitslose nicht zuletzt auf Grund der längeren Förderdauer anteilsmäßig zusehends stärker in diesen Maßnahmen vertreten sind (BA 2004). Im Rahmen der Überführung von Arbeitslosen in das Förderregime des SGB II nach einjähriger Arbeitslosigkeit sind ersatzweise befristete Arbeitsgelegenheiten, sogenannte Ein-Euro-Jobs, geschaffen worden, die im Vergleich zu ABM-Maßnahmen eine deutlich geringere Laufzeit und nur eine sehr geringe Aufstockung des bedarfsgeprüften Arbeitslosengelds II mit sich bringen. Hier schlägt sehr deutlich eine Re-Kommodifizierungstendenz in der arbeitsmarktpolitischen Förderung durch. In Japan werden immer wieder ad hoc Notfallmaßnahmen zur Arbeitsplatzbeschaffung, wie z. B. der 2001 eingeführte „Special Emergency Grant for Employment Creation“ und das bereits im Jahr 1999 geschaffene Förderprogramm zur Schaffung von Arbeitsplätzen in Wachstumsbranchen („Special Grants for Creating Employment in New and Growth Sectors“), aufgelegt. Für 2
Im Rahmen der angeführten „Initiative 50plus“ der Bundesregierung ist eine Modifizierung der Entgeltsicherung durch die Einführung eines übergreifenden Kombilohnmodells geplant.
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ältere Arbeitslose werden in diesen Programmen aber in der Regel nur einmalige und geringe Förderbeträge gezahlt (vgl. Iwata 2003; Othake 2004). Hier ist ebenso wie in Großbritannien der Interventionsgrad eher gering zu bewerten.
3.2 Aktive Arbeitsmarktpolitik – keine Konvergenz der Systeme Die mit der Alterung und teilweise auch Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung einhergehenden Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt führen in den Untersuchungsländern zu einer Intensivierung der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen für ältere Arbeitnehmer/innen. Ebenso wie in der Vergangenheit der länderübergreifende säkulare Trend zur Frühverrentung von Spezifika des jeweiligen Wohlfahrtsstaates bestimmt war (vgl. hierzu jüngst noch Ebbinghaus 2006), ist auch diese arbeitsmarktpolitische Neuausrichtung von divergenten wohlfahrststaatlichen Strategien geprägt. Auch die in allen drei Ländern zu beobachtende Tendenz hin zu einer stärker „aktivierenden“ Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik kann nicht über die weiterhin bestehenden zentralen wohlfahrtsstaatlichen Unterschiede hinweg täuschen. Im britischen marktliberalen Ansatz ist nach wie vor nur in sehr begrenztem Rahmen – sowohl was den finanziellen Umfang als auch die Breite der Maßnahmen angeht – eine aktive Arbeitsmarktpolitik für ältere Arbeitnehmer/innen anzutreffen. Es kommt zwar auf den ersten Blick zu Ausweitungen und Innovationen, die insbesondere mit der Progammatik des New Deal 50plus verbunden sind. Trotz der im New Deal 50plus zusammengefassten bzw. intensivierten Beratungs-, Vermittlungs-, und Qualifizierungsmaßnahmen sind die Fördermöglichkeiten für ältere Arbeitnehmer/innen im Bereich der beruflichen Qualifizierung, der Wiedereingliederungshilfen und der beruflichen Rehabilitation nur gering ausgebaut. Hierin spiegelt sich nach wie vor eine auf die Marktkräfte und die Eigenverantwortung der Arbeitsuchenden ausgerichtete Förderpolitik wider. Von einem Richtungswechsel – etwa hin zu einem stärker sozialdemokratisch-universalistisch geprägten System – kann daher trotz des höheren Aktivierungsgrades und der verstärkten Ausrichtung auf die Bekämpfung sozialer Ausgrenzungen nicht gesprochen werden. In Deutschland ist zwar weiterhin ein breites Maßnahmespektrum mit z. T. hohen finanziellen Aufwendungen für Lohnsubventionen älterer Arbeitsloser und der Entwicklung neuer Programmelemente, wie z. B. der betrieblichen Weiterbildungsförderung für ältere Beschäftigte und der Entgeltsicherung, vorhanden. Allerdings bestehen zum einen als Spätwirkung des Frühverrentungsgeschehens weiterhin strukturelle Ausgrenzungen älterer Arbeitnehmer/ innen aus Fördermaßnahmen fort – so insbesondere in der Förderung der beruflichen Weiterbildung. Die aktive Arbeitsmarktpolitik für ältere Arbeitnehmer/innen ist so gesehen immer noch von der konservativ-korporatistischen Richtungsentscheidung zur Angebotsreduzierung geprägt. Zum anderen hat auch der Richtungswechsel hin zu einer „aktivierenden“ Arbeitsmarktpolitik
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tendenziell zu einer Ausgrenzung insbesondere von schwer vermittelbaren älteren Langzeitarbeitslosen geführt, und zwar vor allem in den Vermittlungsaktivitäten der Agenturen für Arbeit, den Trainings- und Qualifizierungsmaßnahmen und durch den Abbau von Arbeitsplatzbeschaffungsmaß-nahmen. In Japan wird weiterhin versucht, über die staatliche Förderung der Weiterbeschäftigung im Betrieb – bzw. der Subventionierung betrieblicher Altersgrenzen – die Integration älterer Arbeitnehmer/innen in die Erwerbsarbeit sicherzustellen. Durch dieses auch als „staatsinterventionistisch“ zu kennzeichnende Vorgehen unterscheidet sich Japan stark von liberalen Wohlfahrtsstaaten, die nur sehr gering intervenieren. Diesem relativ hohen Aktivitätsgrad in der betrieblichen Beschäftigungssicherung der vorwiegend männlichen Kernbelegschaften im System der „lebenslangen Beschäftigung“ stehen unterentwickelte Vermittlungs-, Qualifizierungs- und Wiedereingliederungshilfen für ältere Arbeitslose gegenüber. In der aktiven Arbeitmarktpolitik wird dem Problem der offenen Arbeitslosigkeit damit nur unzureichend begegnet. Dies belegt die Kontinuität der „hybriden“ Mischform der japanischen Arbeitsmarktpolitik für ältere Arbeitnehmer/innen, die Interventionsansätze seitens des Staates mit starken Marktelementen kombiniert.
4. Ausblick: Neue Arbeitsmarktrisiken für ältere Arbeitnehmer/innen Der demographische Wandel in der Erwerbsarbeit determiniert noch keineswegs einen arbeitsmarktpolitischen Automatismus hin zu einer verstärkten Förderung der Beschäftigungsfähigkeit und Arbeitsmarktintegration älterer Arbeitnehmer/innen. Im Gegenteil: Vor dem Hintergrund spezifischer Unterschiede der Wohlfahrtsstaatsregime reagiert die Arbeitsmarktpolitik im Rahmen ihrer jeweiligen Systemlogik auf die Herausforderungen und es entstehen spezifische neue Gefährdungen der Lebenslage älterer Arbeitnehmer/innen. In Deutschland ist angesichts der Anhebung der Altersgrenzen und des Abbaus sozialer Unterstützungsleistungen bei Arbeitslosigkeit ein hoher existentieller Druck auf die Ausübung von Erwerbstätigkeit im Alter ausgeübt worden, sozialverträgliche Ausgliederungspfade für Problemguppen – insbeson-dere für ältere, gesundheitlich eingeschränkte Arbeitslose oder Niedrigquali-fizierte – existieren kaum noch. Ältere Beschäftigte, die aufgrund von betriebsbedingten Kündigungen, Betriebsaufgabe u.ä. Faktoren arbeitslos werden, müssen dem Arbeitsmarkt damit länger zur Verfügung stehen. Wenn sie aber weder qualifikatorisch noch gesundheitlich dazu in die Lage versetzt werden, besteht die Gefahr, dass die ohnehin schon hohe Dauer des Verbleibs in Arbeitslosigkeit weiter verlängert wird. Die derzeit an Konzepte der Aktivierung und zugleich an hohen Eingliederungsquoten orientierte Arbeitsmarktpoli-
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tik in Deutschland grenzt ältere Arbeitslose derzeit aber noch tendenziell aus Vermittlungs-, Trainings- und Qualifizierungsmaßnahmen aus. In Japan ist von einer weiteren Zunahme irregulärer Beschäftigungsformen für ältere Arbeitnehmer/innen in Form von Teilzeitarbeit und befristeten Arbeitsverhältnissen mit niedrigem Lohn- und Absicherungsniveau auszugehen. Hierfür ist nicht nur die absehbare Fortführung der Praxis betrieblicher Altersgrenzen im Zusammenwirken mit dem demographisch bedingten Angebotsdruck verantwortlich zu machen. Hinzu kommt vielmehr, dass auch staatlicherseits die Altersgrenzen für die bisher als Kompensation zur betrieblichen Ausgliederungspraxis gewährten Sonderaltersrenten seit dem Jahr 2001 sukzessive von 60 auf 65 Jahre angehoben werden. In Großbritannien zeichnet sich eine Verschärfung der ohnehin hohen sozialen Ungleichheit unter den älteren Arbeitnehmer/innen ab. In Großbritannien sind bereits jetzt diejenigen, die von den Betrieben mit Hilfe der betrieblichen Altersvorsorge ausgegliedert werden, deutlich besser gestellt als die älteren Arbeitslosen, die auf die niedrige und stärker als in Deutschland bedarfsgeprüfte Arbeitslosenunterstützung angewiesen sind. Die geplante Erschwerung des Zugangs bei Erwerbsunfähigkeitsrenten dürfte zukünftig bei wieder ansteigender Arbeitslosigkeit den Bestand an älteren Langzeitarbeitslosen deutlich erhöhen und diese Segmentierungen auf dem Arbeitsmarkt weiter verstärken. Kurzschlüssige Argumentationsfiguren, die etwa aus dem hohen Beschäftigungsstand der älteren japanischen oder englischen Arbeitnehmer/innen auf erfolgreiche arbeitsmarktpolitischen Maßnahmetypen schließen und deren Übertragung propagieren, verkennen die weiter bestehenden Arbeitsmarktrisiken und sind eher kontraproduktiv. Die Systemdivergenzen schliessen ein “policy-borrowing” im Sinne der Übernahme einzelner arbeitsmarktpolitischer Programmpakete zwar nicht grundsätzlich aus. Dieses gerät allerdings sehr viel voraussetzungsvoller, als es bisher in der arbeitsmarktpolitischen Landschaft diskutiert wird, und setzt die Reflektion des jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Gesamtkontextes und der damit einhergehenden, je spezifischen Arbeitsmarktrisiken voraus.
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Früher oder später: Altersbilder auf Arbeitsmärkten im europäischen Vergleich – Veränderte nationale Sichtweise oder europäisches Konstrukt? Carola Burkert & Cornelia Sproß
1. Einleitung Eine stark verbreitete Frühverrentungskultur im Sinne einer intensiven Nutzung von Frühverrentungsinstrumenten führte ab den späten 1960er Jahren in vielen westlichen Wohlfahrtsstaaten zu einem Widerspruch zwischen dem tatsächlichen Erwerbsaustritts- und dem offiziellem Renteneintrittsalter. Diese Diskrepanz war – in Abweichung vom wohlfahrtsstaatlichen Ansatz (universalistisch, liberal, konservativ) und im Zeitverlauf – unterschiedlich ausgeprägt. Vorherrschend waren – in Nuancen – verschiedene konstruierte Vorstellungen unter dem Deckmantel des Altersbildes „Jung für Alt“, die zusammen mit Frühverrentungsmaßnahmen die gemeinsamen Ziele einer sozialen Abfederung vor Arbeitsmarktproblemen wie Arbeitslosigkeit bzw. der Öffnung des Arbeitsmarktes für Jüngere oder die sozialverträgliche Ausgliederung Älterer seitens der Unternehmen verfolgten. Die prognostizierte Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials in qualitativer und quantitativer Hinsicht und die unsichere Finanzierung der Sozialsysteme waren u. a. auslösende Momente für eine gewandelte Einsicht, dass ein veränderter Umgang mit älteren Arbeitnehmern und Frühverrentung notwendig sei. Angestoßen durch eine zunehmende Sensibilisierung gegenüber einem neuen Altersbild mit Fokus auf alle Generationen sind veränderte Verhaltenseinstellungen der relevanten Akteure vor allem von Politik, Unternehmen und der Arbeitnehmer unumgänglich. Die Sensibilisierung und Etablierung eines neuen Altersbildes wurde in den einzelnen Ländern mit unterschiedlichen Zielsetzungen verfolgt. Im Vordergrund standen dabei eine verlängerte Erwerbstätigkeit älterer Arbeitnehmer und damit ein längerer Verbleib im Erwerbsleben und späterer Übertritt in den Ruhestand. Auch unter Einfluss der europäischen Beschäftigungsstrategie (EBS) oder der Umsetzungspflicht der EU-Gleichstellungsrichtlinien versuchten die Wohlfahrtsstaaten anhand von Reformen und Sensibilisierungskampagnen eine veränderte Wahrnehmung im Umgang mit älteren Arbeitnehmern zu schaffen. Konzepte einer all umfassenden Arbeitnehmerschaft in Großbritannien, zur ak-
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tiven Alterung in Dänemark, zur Unterstützung Älterer für einen Verbleib im Erwerbsleben in den Niederlanden oder für ein lebenslanges Lernen in Deutschland waren Bestandteile nationaler Aktionspläne zur Dokumentation von Fortschritten. Damit sollte der Forderung von Altersvielfalt durch die Erhöhung des Renteneintrittsalters, dem Abbau von Möglichkeiten betrieblicher Frühverrentung, Reintegration in das Erwerbsleben über Teilnahme an Weiterbildung und Qualifizierungsmaßnahmen sowie der Sensibilisierung von Arbeitgebern und der Gleichbehandlung nachgekommen werden. In diesem Beitrag ist daher zu untersuchen, wie sich im Zuge veränderter Rahmenbedingungen die Arbeitsmarktsituation Älterer wandelte und dabei die Entwicklung eines neuen Altersbildes unterstützte. Dabei ist der Frage nachzugehen, inwieweit das veränderte Altersbild – mit Fokus auf eine stärkere Integration anstatt Ausgrenzung älterer Arbeitnehmer vom Arbeitsmarkt – eher das Ergebnis veränderter nationaler Sichtweisen darstellt, oder ob es sich dabei um ein europäisches Konstrukt, geprägt durch diverse supranationale Vorgaben, handelt. Eine vergleichende Analyse der Reformanstrengungen verschiedener Wohlfahrtstaaten im Zeitverlauf zeigt die veränderten Verhaltenseinstellungen der relevanten Akteure auf. Indikatoren der Arbeitsmarktintegration (Arbeitslosen- und Erwerbstätigenquote sowie Erwerbsaustrittsalter) sollen zunächst einen Abriss über die aktuelle Arbeitsmarktlage Älterer im europäischen Vergleich liefern und damit eine Bestandsaufnahme der Erfolge einzelner Länder in den vergangenen Jahren im Vergleich zu Deutschland dokumentieren. Dabei soll auch die Frage beantwortet werden, warum die Erwerbstätigkeit Älterer gestiegen und deren Arbeitslosigkeit (zumindest teilweise) gesunken ist (Abschnitt 2). Der nachfolgende Abschnitt beschäftigt sich mit der Darstellung der veränderten Wahrnehmung von älteren Personen als Arbeitskräfte: Die verbesserte Arbeitsmarktsituation lässt darauf schließen, dass der Fokus nun auf einer zunehmenden Integration und längerem Verbleib im Erwerbsleben liegt und somit eine Abkehr von der bisher praktizierten Frühverrentungskultur dokumentiert. Ausgehend davon soll zunächst beschrieben werden, wie und unter welchen Rahmenbedingungen sich das gängige Bild „Jung für Alt“ allgemein entwickelt hat und ab wann und unter welchem Einfluss eine Veränderung stattfand. Exemplarisch werden die Reformschritte einiger ausgewählter Länder dargestellt (3. Abschnitt). Nicht nur das vorherrschende Altersbild über ältere Arbeitnehmer auf gesellschaftlicher Ebene, sondern auch auf betrieblicher Seite ist von Bedeutung. Gerade auch Unternehmen haben einen großen Einfluss auf die Erwerbstätigkeit Älterer. Befragungsergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel zeigen beispielhaft die Ansichten deutscher Betriebe gegenüber älteren Arbeitnehmer auf (4. Abschnitt). Abschließend ist die Frage nach einem gewandelten Altersbild als Ergebnis veränderter nationaler Sichtweisen oder eines europäischen Konstruktes zusammenfassend zu beantworten (5. Abschnitt).
Früher oder später: Altersbilder auf Arbeitsmärkten
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2. Veränderungen in Sicht: Zur Arbeitsmarktlage Älterer im europäischen Vergleich Eine vergleichende Darstellung ausgewählter Arbeitsmarktindikatoren soll Auskunft darüber geben, inwieweit sich die Arbeitsmarktsituation Älterer in ausgewählten EU-Ländern geändert hat. Ein übergreifender Blick verdeutlicht eine veränderte Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmer für alle Länder. Auch für Deutschland, das bis Ende der 1990er Jahre noch für eine schlechte Erwerbsbeteiligung Älterer bekannt war, mehren sich die Zeichen für eine Verbesserung. Doch trotz einer Steigerung der Erwerbstätigenquote und eines Abbaus der Arbeitslosigkeit schneidet Deutschland im Vergleich zu anderen EULändern relativ schlecht ab.
2. 1 Erwerbstätigkeit Im europäischen Vergleich zeigen sich zwischen den einzelnen EU-Ländern deutliche Unterschiede: Obwohl zwischen 1997 und 2006 insgesamt für alle Länder ein konstanter Anstieg der Erwerbstätigenquote festzustellen ist, fallen die Zuwächse unterschiedlich aus. Einen beeindruckenden Anstieg von einem relativ niedrigen Niveau weisen vor allem Finnland und die Niederlande auf. Indessen trat in Italien, Österreich und Frankreich ein unterproportionaler Zuwachs ein. Für Deutschland, das bis vor einigen Jahren zwar eine tendenziell höhere Erwerbstätigenquote als die zuvor genannten Länder, aber im EUVergleich eine dennoch niedrige Quote aufwies, lassen sich seit dem Jahr 2004 nennenswerte Anstiege verzeichnen. Dennoch sind diese Fortschritte als auch das Niveau für Deutschland im europäischen Vergleich noch nicht zufriedenstellend. Trotz der unterschiedlichen Zuwächse bleiben enorme Unterschiede zwischen den Ländern erhalten. Nur einige Länder, wie Schweden, Dänemark oder Großbritannien, erfüllen die Zielsetzung der Lissabon-Strategie und liegen über der bis 2010 angestrebten Erwerbstätigenquote der Altersgruppe 55 bis 64 Jahre von 50% (vgl. Abbildung 1). Vielfältige Faktoren sind verantwortlich für die positive und gleichzeitig unterschiedliche Entwicklung: Einschränkungen im Zugang zu bzw. die Abschaffung von Frühverrentungsmöglichkeiten, arbeitsmarkt- und rentenpolitische Reformen, die demographische Entwicklung sowie eine gesteigerte Erwerbsbeteiligung von Frauen gerade auch im späteren Erwerbsalter. Kennzeichnend für den Erfolg waren jedoch in einigen Ländern die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, indem ein wirtschaftlicher Aufschwung der aufgezeigten Trendwende voranging oder diese zumindest begleitete: Der Beschäftigungsanstieg bei den Älteren setzte in den Niederlanden und Dänemark erst ein, nach-
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Carola Burkert & Cornelia Sproß
dem sich die allgemeine Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung über mehrere Jahre hinweg deutlich verbessert hatte, während in Finnland der Anstieg der Beschäftigung innerhalb der Aufschwungphase erfolgte (vgl. Kraatz et al. 2006). Abbildung 1:
Erwerbstätigenquote ältere Arbeitnehmer (55-64 Jahre), 19972006
80,0 EU-15
DK
D
FRA
ITA
2000
2001
NL
ÖST
FIN
SW
GB
70,0
in %
60,0 50,0 40,0 30,0 20,0 1997
1998
1999
Jahr
2002
2003
2004
2005
2006
Quelle: Eurostat; eigene Darstellung
Weitere Begründungen finden sich bei einer detaillierten Betrachtung der Erwerbstätigenquote nach Qualifikation und Geschlecht: Das Qualifikationsniveau hat einen deutlichen Einfluss auf die Erwerbsbeteiligung, d.h. eine bessere Qualifikation erhöht die Chancen, auch nach dem 55. Lebensjahr beschäftigt zu bleiben. Diese Grundtendenz ist in allen EU-Ländern zu beobachten, allerdings mit Niveauunterschieden zwischen den Ländern (vgl. Sproß & Burkert 2007). Im Vergleich der Erwerbstätigenquote nach Geschlecht zeigt sich eine markante Geschlechterdifferenzierung: Einerseits sind deutliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen innerhalb eines Landes erkennbar, andererseits besteht eine Heterogenität beim Vergleich von Frauen- bzw. Männererwerbstätigkeit zwischen den Ländern – allerdings mit Veränderungen über die Zeit. Frauen weisen in den meisten Ländern (Ausnahme Schweden und Finnland) eine geringere Erwerbstätigenquote auf, wobei die Anstiege bei den Frauen von 1997 bis 2006 stärker waren als bei den Männern. Die unterschiedliche Geschlechterentwicklung führen Bosch und Schief (2005) u. a. auf die heterogenen Familienmodelle und einer Politik der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zurück, welche in einigen Ländern schon früh einsetzte. Diese Generation von Frauen, die bereits in jüngeren Jahren eine Erwerbstätigkeit ausübten, sei nun im betrachteten Alter.
Früher oder später: Altersbilder auf Arbeitsmärkten
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2.2 Arbeitslosigkeit Bei der Arbeitslosigkeit Älterer verzeichnen die meisten europäischen Länder in den vergangenen zehn Jahren einen Rückgang. Der stärkste Abbau erfolgte ausgehend von einem hohen Ausgangsniveau in Schweden und Finnland. Abweichende Tendenzen zeigen sich jedoch für Deutschland, denn im Vergleich mit den hier dargestellten Ländern unterliegen Personen zwischen 55 und 64 Jahren in Deutschland einem deutlich höherem Arbeitslosigkeitsrisiko. Zwar gelingt auch hierzulande eine Senkung der Arbeitslosenquote, dennoch fällt diese vergleichsweise immer noch hoch aus (2006: 12,6% zur EU15: 6,2%) (vgl. Abbildung 2). Abbildung 2:
Arbeitslosenquote* ältere Arbeitnehmer (55-64 Jahre), 19972006
18,0 EU-15
DK
D
FRA
ITA
NL
ÖST
FIN
SW
GB
16,0 14,0
in %
12,0 10,0 8,0 6,0 4,0 2,0 0,0 1997
1998
1999
2000
2001 Jahr2002
2003
2004
2005
2006
Quelle: Eurostat; eigene Darstellung * ALO-Quote nach ILO-Kriterien
Das hohe Arbeitsmarktrisiko Älterer wird im Vergleich – auch unter Berücksichtung bestehender Qualifikationsunterschiede – mit jüngeren Altersgruppen noch deutlicher (vgl. Eichhorst & Sproß 2005). Aber auch innerhalb der Alterskohorte 55 bis 64 Jahre (vgl. Sproß & Burkert 2007) zeigen sich Ungleichheiten auf: Ältere mit geringem oder mittlerem Qualifikationsniveau weisen höhere Arbeitslosenquoten auf als Hochqualifizierte. Dies gilt grundsätzlich für alle Länder. Auffällig ist v. a. die hohe Arbeitslosenquote gering qualifizierter Älterer in Deutschland (19,2% in 2006) im Vergleich zu Großbritannien (3,3% in 2006): Durch die Restriktionen der Vorruhestandsregelungen hat sich die prob-
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Carola Burkert & Cornelia Sproß
lematische Situation in Deutschland noch verstärkt, denn bis dahin verschwanden gerade viele gering qualifizierte Ältere in Frühverrentungsmaßnahmen. Einschränkend ist zu betonen, dass in Großbritannien als auch in Österreich oder den Niederlanden viele Ältere bisher über die Erwerbsminderungsrente aus dem Erwerbsleben austraten und damit de facto nicht als arbeitslos galten (vgl. Kraatz et al. 2006). Des Weiteren treten geschlechtspezifische Unterschiede in den meisten Ländern auf. Im Jahr 2005 haben Frauen dieser Altersgruppe in allen ausgewählten Ländern eine geringere Arbeitslosenquote als Männer, nur in Deutschland und Dänemark ist ein umgekehrtes Verhältnis zu finden.
2.3 Erwerbsaustrittsalter Interessante Entwicklungen zeigen sich beim Erwerbsaustrittsalter 1 , dass das Alter beim Austritt aus dem aktiven Arbeitsleben bezeichnet. Im Durchschnitt gehen Personen zwischen zwei und fünf Jahren vor dem offiziellen Rentenalter in eine nicht aktive Phase (Arbeitslosigkeit, Frühverrentung etc.) über. Noch im Jahr 2001 lag das Erwerbsaustrittsalter im EU-15-Vergleich bei knapp über 60 Jahren. So sind die drei Entwicklungen über die vergangenen Jahre umso interessanter: Erstens hat sich das Erwerbsaustrittsalter zwischen 2001 und 2006 in allen Ländern erhöht (mit einem sehr starkem Anstieg in Schweden und Österreich), zweitens befindet sich Deutschland sowohl vom Niveau als auch vom Anstieg im EU-15-Durchschnitt, und drittens gibt es mit Frankreich und Italien immer noch zwei Länder, in denen Arbeitnehmer unter 60 Jahre aus dem Erwerbsleben ausscheiden (vgl. Abbildung 3). Die Erhöhung des Erwerbsaustrittsalters im Zeitablauf verdeutlicht einen längeren Verbleib im Erwerbsleben. Die Ursachen hierfür sind u. a. restriktivere Zugänge bei Vorruhestandsmöglichkeiten oder die Erhöhung des Niveaus für finanzielle Abschläge bei einem früheren Austritt aus dem Erwerbsleben. Für Deutschland sind dabei konkret die Rentenreformen 1992 und 1996 wichtig, die festlegten, dass ein frühzeitiger Renteneintritt nur noch unter Inkaufnahme von Rentenabschlägen möglich ist. Gleichzeitig kam es ab 1992 zu einer sukzessiven Erhöhung des Mindestrenteneintrittsalters 2 . Unterstützend wirkten die arbeitsmarktpolitischen Reformen wie die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes von 32 auf 18 Monate (vgl. Eichhorst & Sproß 2005).
1
2
Das Erwerbsaustrittsalter muss nicht identisch sein mit dem Renteneintrittsalter. Es kann höher liegen als letzteres, wenn eine Person auch nach dem Renteneintritt weiter arbeitet (in Deutschland zum Beispiel in einem Mini-Job) – oder auch niedriger, wenn dem Rentenbezug eine Episode von Arbeitslosigkeit vorausgeht. Pfeiffer und Simons (2004) erwähnen, dass die Rentenreformen ab 1992 wohl tatsächlich einen Einfluss auf das Erwerbsaustrittsalter bewirkt haben, sehen es jedoch überwiegend als statistisches Ergebnis an.
Früher oder später: Altersbilder auf Arbeitsmärkten Abbildung 3:
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Durchschnittliches Erwerbsaustrittalter in Jahren, 2001 und 2006
65 2001
2006
Alter in Jahren
63
61
59
57 FRA
ÖST
ITA
EU-15
D
Länder
NL
FIN
DK
GB
SW
Quelle: Eurostat; eigene Darstellung
3. Altersbilder auf Arbeitsmärkten: Konstruktion und Veränderungen Ausgehend von der aktuellen Arbeitsmarktsituation zeigen sich positive Entwicklungen hin zu einer gestiegenen und verlängerten Erwerbstätigkeit als auch einer abnehmenden Arbeitslosigkeit in der Altersgruppe 55 bis 64 Jahre. Diese Tendenzen verweisen darauf, dass die Integration älterer Arbeitnehmer mittlerweile im Vordergrund des politischen und wirtschaftlichen Interesses steht und sich damit dem Bild der Frühverrentungskultur, welches bis dahin dominierend war, entgegenstellt. Um herauszufinden, ob und wie dieser Bedeutungs- und Wahrnehmungswechsel zustande kam, soll zunächst der Frage nachgegangen werden, wie sich das Bild „Jung für Alt“ entwickelte.
3.1 Altersbilder als soziale Konstrukte Altersbilder sind „soziale Konstrukte oder Vorstellungen über das Alter, über die im Altersprozess zu erwartenden Veränderungen und über die für Ältere mutmaßlichen charakteristischen Eigenschaften, die im Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft entstanden sind“ (Deutscher Bundestag 2000: 64).
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Carola Burkert & Cornelia Sproß
Ebenso definieren sie die Vorstellungen und Wahrnehmungen über Alter, die zu einem gegebenen Zeitpunkt in einer Gesellschaft vorherrschen und prägen die bestehenden Alterstheorien, die gesellschaftliche Darstellung des Alters in der Öffentlichkeit und somit auch die Selbstdarstellung und Repräsentanz älterer Menschen in der Gesellschaft (ebd.). Altersbilder und Diskurse über das Alter lassen sich in vielen Bereichen, u. a. der Gerontologie, Biomedizin, Psychologie oder Arbeitswelt identifizieren. In allen Feldern gibt es positive Aspekte über Alter und Altern, vorherrschend sind jedoch eher negative Aspekte, die oftmals stereotype Vorstellungen und Zuschreibungen über ältere Menschen in Verbindung mit diskriminierenden und stigmatisierenden Verhaltensweisen beinhalten (vgl. Amrhein & Backes 2007). So scheint es oft, dass Ältere – mit Blick auf die am Arbeitsmarkt existierenden Vorstellungen – oftmals als weniger leistungsfähig, weiterbildungsresistent und konfliktscheuer als jüngere Arbeitnehmer betrachtet werden, obwohl Befragungen aufzeigen, dass ältere Arbeitnehmer im Vergleich zu Jüngeren keinesfalls als weniger, sondern als anders leistungsfähig seitens der Unternehmen eingeschätzt werden (vgl. Bellmann et al. 2003). Alter als soziales Konstrukt orientiert sich damit weniger an konkreten Indikatoren wie der Leistungsfähigkeit und Produktivität eines Menschen, sondern eher an vorherrschenden Vorstellungen, die nicht allein auf die in der Gesellschaft existierenden Altersbilder zurückzuführen sind und eher auf einer einvernehmlichen Kooperation zwischen verschiedenen Akteuren (Unternehmen, Sozialpartner, Arbeitnehmer) basieren und von vorhandenen politischen (Ausgliederungs-)Instrumenten unterstützt werden.
3.2 Alter als Abgrenzungskriterium In der Arbeitswelt sind Alter und Erwerbs(un-)fähigkeit eng miteinander verbunden, indem über Altersgrenzen definiert wird, ab wann eine Person als erwerbsfähig bzw. als nicht mehr erwerbsfähig gilt. Diese Grenzen definieren den Ein- bzw. Ausstieg aus dem Erwerbsleben, die aber in der Realität oftmals über(Eintritt) oder unterschritten (Austritt) werden. Damit erfolgt eine Gliederung des Erwerbslebens – im Sinne von Lebensphasen – nach Alter (vgl. Kohli 2000). Für die historische Entwicklung des Alters als eigenständig definierten Lebensabschnitt spielte vor allem die Entwicklung der Sozialversicherungssysteme eine bedeutende Rolle. Noch vor deren Einführung gab es keine klar definierten Altersabschnitte oder -grenzen, Alter stand oft im Kontext von Arbeitsunfähigkeit bzw. der Unfähigkeit zur Selbstversorgung und damit oftmals auch im Zusammenhang mit Armut (vgl. Ludwig-Mayerhofer 1992). Die Einführung der Sozialversicherungssysteme, hier speziell der Rentenversicherung, kann in diesem Zusammenhang als Ausgangspunkt zur Institutionalisierung eines Altersbildes in modernen Gesellschaften verstanden werden.
Früher oder später: Altersbilder auf Arbeitsmärkten
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Erstmals kam es zu einer – wenn zu Beginn auch nur geringen – Absicherung im Alter und generalisierte Alter und Ruhestand als eigenständige und gesellschaftlich anerkannte Lebensphase: Zum einen als normale (erwartbare) Lebensphase nach dem aktiven Erwerbsleben, zum anderen als „zu sichernde“ durch das Auffangnetz der Sozialversicherungen (vgl. Kohli 2000). Diese Entwicklung wurde nach Ende des Zweiten Weltkrieges in den meisten westlichen Wohlfahrtsstaaten durch Renten- oder Pensionsreformen untermauert. Deutschland setzte mit der Rentenreform 1957 die bereits seit der Weimarer Republik bestehende Tradition des Schutzes beschäftigter Gruppen gegen das Risiko arbeitslos zu werden fort, die nun von Arbeitern auf Angestellte ausgeweitet wurde (vgl. Kraatz & Sproß 2008). Erstmals definierten Altersgrenzen den Zeitpunkt des Austrittes aus dem Erwerbsleben, so dass u. a. Frauen bereits ab 60 Jahren in Rente gehen konnten. Im selben Jahr trat in den Niederlanden ein umfassendes Altersgesetz (AOW) in Kraft. In Dänemark wurde mit der Rentenreform 1956 die Altersgrenze für den Rentenbezug auf 67 Jahre festgelegt.
3.3 Jung für Alt: Konstruktion eines Altersbildes Die Institutionalisierung von Ausstiegspfaden startete bereits Ende der 1950er Jahre: Möglichkeiten für einen Austritt vor dem offiziellen Rentenalter, wie die vorgezogene Altersrente wegen Arbeitslosigkeit in Deutschland (1957), die vorgezogene Alterrente bei langjähriger Versicherung in Österreich (1960) sowie die Erwerbsunfähigkeitsversicherung in den Niederlanden (1967), wurden eingeführt. In den kontinentaleuropäischen Staaten waren diese Pfade oftmals an das staatliche Rentensystem gebunden (vgl. Kraatz & Sproß 2008) und fungierten bereits zu dieser Zeit als Übergangsinstrument für einen früheren Ausstieg aus dem Erwerbsleben. Bedingt durch wirtschaftliche Faktoren wie der strukturellen Krise im traditionellen Industrie- und Bergbausektor erachtete man die Ablösung Älterer aus der Arbeitswelt als sinnvollen und gesellschaftlich nützlichen Beitrag im Sinne der Disengagement-Theorie (vgl. Cumming & Henry 1961). Unterstützt durch bestehende politische Maßnahmen und dem Konsens über den Ruhestand als sozial gesicherte Lebensphase war das gängige Altersbild dieser Zeit also dadurch geprägt, dass Ältere einen nützlichen sozialen Beitrag leisten können, indem sie sich freiwillig frühzeitiger aus ihrer sozialen Rolle der Erwerbstätigen und damit aus dem Erwerbsleben zurückziehen. Gleichwohl war in den 1960er Jahren die demographische Situation noch weitaus unproblematischer als heute (vgl. Barkholdt 2004). Das bestehende Altersbild dieser Periode ist somit durch folgende Kriterien abzugrenzen (vgl. Übersicht 1): Ältere werden von Erwerbsarbeit im Sinne der Regelung des Schutzes des Alters entpflichtet und sollen im Sinne des Generationentausches Platz für Jüngere machen.
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Carola Burkert & Cornelia Sproß
Das bereits in den 1960er Jahren bewährte Modell des Krisenmanagements mit den wenigen bis dahin existierenden Ausgliederungsinstrumenten erhielt in der nachfolgenden Dekade vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Probleme und der damit verbundenen gestiegenen Arbeitslosigkeit eine zunehmende Bedeutung. Ab dieser Zeit lässt sich übergreifend für die meisten westlichen Wohlfahrtsstaaten ein einheitlicher Prozess des verstärkten Austritts von Personen ab dem 55., noch stärker ab dem 60. Lebensjahr beobachten. Vergleichsweise häufiger traten dabei Männer eher aus dem Erwerbsleben aus als Frauen (vgl. OECD 2005a). Paradoxerweise stand dieser Prozess einer anderen Entwicklung in Form einer gestiegenen Lebenserwartung oder eines höheren Einkommens- und Bildungsniveaus entgegen, die eigentlich in eine andere Richtung zu schienen wies. Die Verkürzung der Lebensarbeitszeit von staatlicher Seite kann als Instrument zur Anpassung an die veränderte wirtschaftliche Situation gesehen werden (Kohli 1992: 242), denn gleichzeitig wurden bestehende Pfade zum frühzeitigen Ausstieg aus dem Erwerbsleben durch rechtliche Regelungen ausgedehnt und neue Möglichkeiten auch im Sinne einer Interessensvereinbarung zwischen Staat, Unternehmen und den Betroffenen selbst eingeführt: Gerade auf politischer und gewerkschaftlicher Ebene plädierte man für die Gestaltung von Pfaden der beruflichen Frühausgliederung, um Arbeitslosigkeit zu reduzieren und die Arbeitsmarktchancen Jüngerer zu erhöhen (Clemens et al. 2003a: 14). In Deutschland kam es mit der Rentenreform 1972 zur Einführung einer flexiblen Altersgrenze, die den vorzeitigen Eintritt in den Altersruhestand ermöglichte. Hinter der Entwicklung zur „sozialverträglichen“ Freisetzung von Älteren stand die Betrachtung von Älteren als „defizitäre Gruppe an der Schwelle zum Rückzug“ (Schmid 2003: 74), die nicht in der Lage seien, die Anforderungen neuer Technologien oder andere Anforderungsänderungen zu bewältigen bzw. deren gerecht zu werden. Somit sollte der Übergang in den Ruhestand für Ältere erleichtert werden (OECD 2005b: 61). Damit spielten im steigenden Maße nun auch qualifikatorische Faktoren eine Rolle, die zur Externalisierung von älteren Arbeitskräften führten (Hilbert & Naegele 2001: 124), Ältere in diesem Zusammenhang zu „gesellschaftlich nutzlosen“ Personen degradierten (Guillemard 1992: 631) und damit betriebliche Humankapitalinvestitionen in ältere Beschäftigte weitgehend eingespart wurden. Mehr und mehr wurde somit die Entwicklung einer Kultur unterstützt, in welcher Frühverrentung als erstrebenswertes Ziel für eine Vielzahl von Arbeitnehmern galt (vgl. EU Commission 2003). Insgesamt lassen sich für die 1970er Jahre folgende Abgrenzungskriterien für das bestehende Altersbild identifizieren (vgl. Übersicht 1): Leistungsfähigkeit und Produktivität gelten zunehmend als Richtschnur für Erwerbstätigkeit und damit den Verleib im Erwerbsleben. Vor diesem Hintergrund werden Ältere zugunsten jüngerer und leistungsfähigeren Personen externalisiert. Gleichzeitig mehren sich aber zunehmend auch die Anzeichen, dass die Nacherwerbsphase
Früher oder später: Altersbilder auf Arbeitsmärkten
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als eigenständige Lebensperiode anerkannt ist, deren Erreichen so früh wie möglich anzustreben ist. Übersicht 1: Phase 1950er und 1960er Jahre 1970er Jahre
1980er Jahre
1990er Jahre bis heute
Wandel eines Altersbildes: Von „Jung für Alt“ zu „Jung und Alt“ Altersbild
Rückzug aus sozialer Rolle „Erwerbstätigkeit“; Platz für Jüngere machen Externalisierung Älterer zugunsten Jüngerer vor dem Hintergrund gestiegener Anforderungen Ältere als passive Manövriermasse zur Bewältigung von wirtschaftlichen Schwankungen Steigender Bedarf an qualifizierten und produktiven Arbeitskräften vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und europäischer Forderungen
Abgrenzungskriterien Generationentausch Schutz des Alters
Stichwort Ausgliederung (Disengagement)
Leistungsfähigkeit Lebensphase Ruhestand
Sozialverträgliche Freisetzung des Alters
Wirtschaftliches Kalkül Individuelles Recht auf frühen Ausstieg Frühverrentung als soziale Errungenschaft Pluralisierung des Alters Verlängerung der Lebensarbeitszeit Lebenslanges Lernen
Kultur der Frühverrentung Politik der verordneten Erwerbslosigkeit Re-Engagement Inklusion Aktives Altern
Jung für Alt
Alt und Jung
Quelle: eigene Darstellung
Der Höhepunkt der Ausgliederung Älterer und der Nutzung der Frühverrentungsmaßnahmen wird Mitte der 1980er Jahren erreicht: Nur einer von zehn Männern und weniger als zwei von fünf Frauen erreichten das reguläre Rentenalter; das Erwerbsaustrittsalter für Männer und Frauen lag im EU-Durchschnitt unter 60 Jahren (OECD 2005a: 71). Die Freisetzung des Alters in der Arbeitswelt wurde immer mehr durch indirekte Anreize der staatlichen Renten- und Arbeitsmarktpolitik unterstützt; gleichzeitig wurden Frühverrentungsmaßnahmen nun weniger aus qualifikatorischen Gründen, sondern eher aus völlig altersneutralen Anlässen, wie der Bewältigung von Schwankungen in der Auftragslage, durch Rationalisierungsfolgen genutzt (vgl. Gatter & Hartmann 1995). Die zahlreiche Anzahl von Ausstiegsmöglichkeiten in den 1980er Jahren illustriert die neue Realität mit der Beschneidung des Rechts auf Arbeit zugunsten des Rechts auf Ruhestand. Letzteres wurde aber gleichzeitig immer häufiger
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Carola Burkert & Cornelia Sproß
erzwungen als frei gewählt und wurde als Politik der verordneten Erwerbslosigkeit bekannt (vgl. Guillemard 1992). Die damit entstandene Kultur der (un-)freiwilligen Frühverrentung war aber ebenso tief auf der individuellen Ebene verankert: Nur 23% der Beschäftigten wünschten sich zum damaligen Zeitpunkt bis zum Alter von 65 Jahren zu arbeiten, lediglich 6% nach 65 Jahren (Naegele 2002: 211). Daher wäre es falsch zu argumentieren, die Frühverrentungskultur/-politik lediglich auf betriebliche und staatliche Verhaltensmuster zurückzuführen und die Betroffenen ausschließlich als eine passive Manövriermasse zu betrachten (vgl. Hilbert & Naegele 2001): Parallel zur politischen Entwicklung fand auch auf individueller Ebene ein Prozess statt, nämlich das wachsende Interesse der älteren Arbeitnehmer selbst möglichst früh aus dem Erwerbsleben zu treten (vgl. Kohli et al. 1989). Untersuchungen belegen, dass ein früher Ruhestand oftmals auch als soziale Errungenschaft gesehen wurde (vgl. Rosenow 1996). Die Entwicklung der Ausgliederung Älterer über Frühverrentung ist mit Abweichungen in nahezu allen westeuropäischen Ländern zu beobachten gewesen. Länderübergreifend wurde mit fortschreitendem Ausbau des Rentensystems als wohlfahrtsstaatliches Sicherungssystem der Austritt immer früher angestrebt. Das Rentensystem wurde seiner zentralen Rolle der Regelung des endgültigen Ausscheidens aus dem Arbeitsmarkt beraubt (vgl. Guillemard 1989) und die ursprüngliche Funktion zur Sicherung des Lebensunterhaltes um eine gesamtgesellschaftliche Regulierungsfunktion bzw. unternehmerische Funktion der Personalwirtschaft ergänzt (Rosenow & Naschold 1994: 47). Zu den wichtigsten Reformen zählen in Deutschland die Einführungen der 3 Instrumente „Leistungsbezug unter erleichterten Voraussetzungen “ (1986) und die „verlängerte Bezugsdauer von Arbeitslosengeld“ (1986/1987), so dass nun nach einer gewissen Arbeitslosigkeitsdauer nahtlos in den Ruhestand übergegangen werden konnte. Diese Öffnung des Arbeitslosentunnels (Teipen & Kohli 2004:102) kann auch in anderen Ländern beobachtet werden. In Dänemark startete bereits im Jahr 1979 ein über staatliche Rentenzahlungen finanziertes Programm (Efterløn) für 60- bis 66-jährige 4 Arbeitnehmer (vgl. Jensen 2004), während in Großbritannien, wo zwar Frühverrentungsmaßnahmen eine eher unbedeutende Rolle spielten, sich viele Personen dem Arbeitsmarkt über die Erwerbsunfähigkeitsrente (Incapacity Benefit) entzogen, die de facto einen vorruhestandsähnlichen Charakter besaß. In den Niederlanden wurde im Jahr 1982 die Maßnahme der freiwilligen Frühverrentung (VUT) implementiert, zusätzlich wurde der Zugang über die Erwerbsunfähigkeits- und Arbeitslosenversicherung und damit auch der Ausstieg aus dem Erwerbsleben durch Reformen „erleichtert“. Die zunehmend hohe Zahl an Beziehern einer Erwerbsunfähigkeitsrente in
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Dieses Instrument war zunächst unter dem Namen 59er-Regelung (§105c AFG) und später als 58-Regelung bekannt (§ 428 SGB III). Ende 2008 läuft die Maßnahme aus. Bis Ende 2003 lag das offizielle Renteneintrittsalter bei 67 Jahren.
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der Altersgruppe 55 bis 64 Jahre prägte daraufhin auch das Bild eines „kranken“ Landes (vgl. Vroom 2004). Zusammenfassend ergeben sich Ende der 1980er Jahre folgende Abgrenzungskriterien für das bestehende Altersbild (vgl. Übersicht 1): Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Probleme und im Sinne eines wirtschaftlichen Kalküls wurden Ältere zunehmend als Manövriermasse zur Bewältigung von Schwankungen eingesetzt. Gleichzeitig entwickelte sich ab diesem Zeitpunkt auch immer mehr die Ansicht eines individuellen Rechts auf einen frühen Ausstieg aus dem Erwerbsleben.
3.4 Jung und Alt: Konstruktion eines neuen Altersbildes Die Arbeitsmarksituation Älterer Ende der 1980er war mehr oder weniger desolat: Ein niedriges Beschäftigungsniveau und ein relativ niedriges Durchschnittsalter dokumentieren, dass Ältere nur im geringem Maße als Arbeitskräfte eingesetzt wurden. Dennoch zeigt die im Abschnitt 2 dargestellte Entwicklung eine verstärkte Arbeitmarktintegration Älterer ab Mitte der 1990er Jahre. Damit ist anzunehmen, dass in irgendeiner Form grundlegende Änderungen in Richtung eines „Re-Engagements“ Älterer stattgefunden haben müssen. Gerade vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und im Zusammenspiel gesellschaftlicher „Megatrends“ (vgl. Barkholdt 2004) erhielt die Produktivität Älterer zunehmende Bedeutung. Die bis dahin als den Arbeitsmarkt entlastend geltenden Frühverrentungsmaßnahmen wurden immer mehr als Teil des arbeitsmarktpolitischen Problems betrachtet, so dass auch die bis dahin bestehende Altersbildkonstruktion „Jung für Alt“ ins Schwanken geraten war und ein Wandel im Kontinuum unumgänglich erschien. Weitere auslösende Momente für eine veränderte Wahrnehmung waren die prognostizierte Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials in qualitativer und quantitativer Hinsicht und die unsichere Finanzierung der Sozialsysteme, die zu der Einsicht führten, dass ein veränderter Umgang mit älteren Arbeitnehmern und Frühverrentung notwendig sei. Angestoßen durch eine zunehmende Sensibilisierung gegenüber neuen Altersbildern sind gewandelte Verhaltenseinstellungen der relevanten Akteure v. a. Politik, Unternehmen und Arbeitnehmer unumgänglich. Gegenwärtig liegt der Fokus nun aber auf der längeren Erwerbstätigkeit bzw. Wiederverpflichtung Älterer als Arbeitskräfte. Damit geht es in einem breiteren Sinne auch um eine Neudefinition der Ruhestandsphase im Verhältnis zu anderen Lebensphasen. Übergreifend kann man für alle westeuropäischen Industrieländer eine veränderte und differenziertere Sichtweise von Alter und älteren Menschen ausmachen und damit auch von einer veränderten Interpretation des Alters in der Gesellschaft bzw. dem Arbeitsmarkt und damit auch von einer der Pluralisierung des Alters (vgl. Backes & Clemens 2008) sprechen, die
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als neue Abgrenzungskriterien für das nun bestehende Altersbild gelten (vgl. Übersicht 1). Vor diesem Kontext stellt sich die Frage, inwieweit die Nationalstaaten den Wandel durch die genannten Gründe vollzogen haben oder ob europäische Vorgaben im Rahmen der EBS und der EU-Gleichstellungsrichtlinien einen Einfluss hatten.
3.5 Demografische Alterung, Ergrauung der Gesellschaft, alternde Belegschaften – Schlagworte für ein verändertes Altersbild? Der frühe Erwerbsaustritt lässt sich vor dem Hintergrund der demographischen Alterung nicht beliebig fortsetzen. Neben den zahlreichen Problemen wie der verfestigten Arbeitslosigkeit und das finanzielle Dilemma als Folge der permanenten Frühverrentung im Bereich der Sozialversicherungen spielt auch die Verknappung des Arbeitskräfteangebots im Zuge der Alterung eine Rolle, welches sich durch eine weitere Verkürzung der Erwerbsphase im Lebensverlauf noch verschärft würde. Die Zeit der im großen Stile praktizierten frühzeitigen Ausgliederung älterer Arbeitnehmer steht damit vor dem Ende (vgl. Clemens et al. 2003a). Der Einzug des demographischen Wandels in nahezu allen westlichen Wohlfahrtsstaaten hat eine Trendwende hin zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit eingeläutet. Dies hat vor allem Einfluss auf die Unternehmen, die sich zukünftig auf eine größere Zahl älterer Arbeitskräfte einstellen müssen, zugleich – und das ist die parallele Entwicklung – auf einen steigenden Bedarf an qualifizierten und produktiven Arbeitskräften (vgl. Hilbert & Naegele 2001). Dem widersprechen jedoch zwei Tatsachen: In Unternehmen ist nach wie vor ein Verjüngungs- und Freizeittrend zu beobachten, wenn auch mit abnehmender Tendenz, und gleichzeitig sind ältere Arbeitnehmer in betrieblichen Qualifizierungsmaßnahmen unterrepräsentiert (vgl. Eichhorst & Sproß 2005). Damit ist in Unternehmen trotz der Notwendigkeit eines lebenslangen Lernens immer noch ein defizitorisches gesellschaftliches Altersbild vorherrschend, welches auch in den betrieblichen Personalentwicklungsstrategien in Verbindung mit der noch gängigen Praxis der Frühausgliederung zu finden ist (vgl. Barkholdt 2004). Der damit entstandene Teufelskreis (ebd.), in welchem die Qualifikationsdefizite als Rechtfertigungsgrund für eine Frühausgliederung gelten, behindert die Institutionalisierung eines lebenslangen Lernens für Ältere und steht damit dem steigenden Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften entgegen. Ungeachtet der jugendzentrierten Ausrichtung der Unternehmen können im politischen Bereich aber vermehrt Inklusionsstrategien ausgemacht werden, um ältere Personen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. In Deutschland und anderen europäischen Ländern fanden zahlreiche Reformen und Änderungen statt, um die bis dahin geförderte Frühverrentung bzw. ausschließliche Fokussierung auf
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Jugendliche zu ändern. Dazu zählen in Deutschland konkret die Rentenreformen ab 1992 sowie die zahlreichen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen im Zuge der Hartz-Reform. In Großbritannien wurde 1999 der New Deal 50plus als Eingliederungsinstrument für ältere Arbeitslose sowie zahlreiche Kampagnen eingeführt, um die wirtschaftlichen Vorteile älterer Menschen bewusst zu machen. In den Niederlanden konnten beschäftigungsfördernde Reformpakete im Rahmen des „Poldermodell“, das durch die enge Zusammenarbeit und den hohen Konsens zwischen Regierung und Sozialpartnern geprägt war, umgesetzt werden, u. a. wurde die durch Umlagen finanzierte VUT in ein flexibles Vorruhestandssystem mit kapitalgedeckter Finanzierung umgewandelt. In Dänemark setzte die Regierung auf einen integrierten Ansatz in Form von Reformen im System der sozialen Sicherung, verknüpft mit zahlreichen Initiativen und Maßnahmen auf staatlicher, tarifvertraglicher und betrieblicher Ebene. Änderungen im System der sozialen Sicherung betrafen die geltenden Vorruhestandsregelungen, indem man das Übergangsgeld für ältere Langzeitarbeitslose ab 50 Jahren abschaffte und die Voraussetzungen für den Efterløn für 60 bis 66-Jährige verschärfte. Insgesamt ist ein Gegensteuern zum Frühausgliederungstrend sichtbar geworden, so dass Ältere verstärkt in den Fokus rentenrechtlicher und arbeitsmarktpolitischer Belange rücken. Dennoch haben die Reformschritte per se noch nicht zu verbesserten Beschäftigungschancen geführt, d.h. eine Anhebung der Altersgrenzen wirkt eher nur kurzfristig, Finanzierungsprobleme zu mindern. Weitere Maßnahmen, vor allem Qualifizierungs- und beschäftigungsfördernde Maßnahmen sind wichtig, um die Beschäftigungshemmnisse Älterer abzubauen. Damit muss die gegenwärtig eingeleitete Abkehr von der Frühverrentungspraxis deutlich mit einer Verbesserung der Rahmenbedingungen der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer einhergehen (Clemens et al. 2003b: 196; vgl. Eichhorst & Sproß 2005). Gleichzeitig wird deutlich, dass die politischen Änderungen die Kultur der Frühverrentung auf individueller Ebene noch nicht beseitigt haben, denn erst die restriktiven Rentenreformen mit der Heraufsetzung des Abschlagsniveaus bei einem Übertritt vor dem gesetzlichen Rentenalter bzw. der Begrenzung des Austritts über den Arbeitslosentunnel zeigen ihre Wirkung beim Erwerbsaustrittsalter.
3.6 Einfluss von europäischer Seite – welche Rolle spielen Europäische Beschäftigungsstrategie und die EU-Gleichstellungsrichtlinie für ein verändertes Altersbild? Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung verstärkte sich auch der politische Einfluss seitens der EU, die Potenziale Älterer zu erkennen und zu fördern. Die Europäische Kommission identifizierte im Rahmen der Konzeptualisierung des Problems der zu geringen Erwerbsbeteiligung Älterer drei wesentliche Lösungsvorschläge: Die Reformierung arbeitsmarkt- und sozialpolitischer
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Instanzen, die zunehmende Einforderung der Verantwortlichkeit der Sozialpartner und eine Änderung der öffentlichen Wahrnehmung und Meinung über Ältere. Eine konkrete Umsetzung sollte mit denen in der EBS gesetzten Ziele zur Erhöhung der Erwerbstätigenquote (Stockholm-Ziel) und des Renteneintrittsalters (Barcelona-Ziel), aber auch mit den in der EBS explizit dargestellten Forderungen nach aktivem Altern oder lebenslangem Lernen erreicht werden. So appellierte man an die Mitgliedsstaaten, eine „aktive Alterung zu fördern“ und die „Anreize zur Frühverrentung zu eliminieren“ und Fortschritte anhand von jährlichen Aktionsplänen zu dokumentieren (vgl. Carmel et al. 2007; Kraatz & Rhein 2007). Diese Forderungen müssen vor allem vor dem Hintergrund der Notwendigkeit einer gesteigerten Erwerbsbeteiligung und der Sicherung der Finanzierung der Sozialversicherungssysteme – v. a. der Rentensysteme – gesehen werden (vgl. Abschnitt 3.5) und damit im weiteren Sinne auch vor dem steigenden Risiko von Ausgrenzung und Armut in der Altersgruppe 55 bis 64 Jahre. Einen weiteren Einfluss hatte die EU-Gleichstellungsrichtlinie, mit welchen die EU den Blick auf die vorrangig auf betrieblicher Ebene praktizierten Benachteiligungen Älterer richtete (vgl. Abschnitt 4) und beseitigen wollte. Gemäß den Vorgaben waren die Mitgliedsländer bis Ende 2004 verpflichtet, eine nationale Regelung zur Antidiskriminierung einzuführen (vgl. Sproß 2006). Insgesamt können beide Maßnahmen als „europäische Inklusionsstrategien“ verstanden werden, um Ältere länger im Erwerbsleben zu halten. Unter dem Einfluss beider Faktoren versuchten die Länder nun anhand von Sensibilisierungskampagnen und -projekten neue Altersbilder zu konstruieren und zu etablieren.
4. Betriebliche Sichtweisen gegenüber älteren Arbeitnehmern Nach der Darstellung der veränderten Wahrnehmung von Älteren auf gesellschaftlicher Ebene, soll in diesem Abschnitt auch auf die betriebliche Seite eingegangen werden. Gerade die Unternehmen haben einen großen Einfluss auf die Erwerbstätigkeit Älterer und deren Wahrnehmung in der Gesellschaft in der Form, dass Personalverantwortliche in Verwaltungen und Betrieben Gruppen von Arbeitnehmern bestimmte Eigenschaften und Tugenden zuschreiben. Um die betriebliche Sichtweise gegenüber älteren Arbeitnehmern zu untersuchen, werden ausgewählte Befragungsergebnisse des IAB-Betriebspanels als empirische Befunde herangezogen. Das IAB-Betriebspanel ist eine repräsentative Arbeitgeberbefragung zu betrieblichen Bestimmungsgrößen der Beschäftigung. Hierbei handelt es sich um ein Projekt des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Die Befragung wird seit 1993 jährlich bei denselben Betrieben in Deutschland durchgeführt. Mittlerweile werden bundesweit knapp 16.000 Be-
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triebe aller Branchen und aller Größen zu einer Vielzahl beschäftigungspolitischer Themen befragt.
4.1 Die Eigenschaften der Älteren aus Sicht der Betriebe: Zuschreibung vs. Realität Aus betrieblicher Sicht sind ältere Arbeitnehmer insbesondere mit Erfahrungswissen, Arbeitsmoral/ -disziplin sowie Qualitätsbewusstsein ausgestattet. Bei jüngeren Arbeitnehmern werden hingegen Lernfähigkeit, körperliche Belastbarkeit, Lernbereitschaft, Flexibilität und Kreativität als besondere Stärken genannt. Damit gelten Ältere gerade bei den klassischen Tugenden als besonders kompetent und werden von Personalverantwortlichen mit jenen Eigenschaften etikettiert, die aus betrieblich-wirtschaftlicher Sicht als besonders wichtig gelten und für den Erfolg eines Unternehmens von Bedeutung sind (vgl. Abbildung 4; Rang 1: Arbeitsmoral/-disziplin; Rang 2: Qualitätsbewusstsein). Abbildung 4:
(7) (11) (6)
Zuschreibung von Eigenschaften zu älteren und jüngeren Arbeitnehmern durch Betriebe und Rangfolge diese Eigenschaften für Betriebe (in Klammern)
Lernfähigkeit
-29
Körperliche Belastbarkeit
-24
Lernbereitschaft
(3) (12) (8)
-17
Flexibilität
-11
Kreativität
-11 -
Teamfähigkeit
Psychische Belastbarkeit
1 3
(10) (5) (9)
(9)
Theoretisches Wissen
1
Loyalität
2 2
Arbeitsmoral, -disziplin Erfahrungswissen
5 -40
-30
-20
-10
(2) (1)
Qualitätsbewusstsein
0
10
eher bei Jüngeren
20
30
40
50
(4)
60
eher bei Älteren
Quelle: IAB-Betriebspanel; eigene Darstellung
Trotz dieser positiv zugeschriebenen Eigenschaften sind ältere Arbeitnehmer in Deutschland unterproportional beschäftigt bzw. unterliegen einem höheren Ar-
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beitslosigkeitsrisiko als jüngere Arbeitnehmer (vgl. Abschnitt 2). Dies verdeutlichen auch Ergebnisse aus dem Jahr 2004. Hierbei wurden die Betriebe befragt, wie die Bewerberlage für die zuletzt besetzte Stelle war, ob es überhaupt Bewerber älter als 50 Jahre gab und ob diese Stelle mit einer Person älter als 50 Jahre besetzt wurde. Während in rund drei Viertel der befragten Unternehmen keine Bewerbung älterer Arbeitnehmer vorlagen, wurden in 12% der Betriebe ältere Arbeitnehmer eingestellt und in 14% nicht (vgl. Abbildung 5). Abbildung 5:
Einstellung älterer Arbeitnehmer in Betrieben 14%
12% keine Älteren eingestellt Ältere eingestellt keine Bewerbung Älterer
74%
Quelle: IAB-Betriebspanel 2004, vgl. Bellmann et al. 2006
4.2 Gründe für die Ablehnung Älterer in Betrieben Fragt man diejenigen 14% der Betriebe – die trotz vorliegender Bewerbungen älterer Arbeitnehmer keinen dieser Gruppe eingestellt haben – nach den Gründen der Ablehnung, ziehen rund drei Viertel das nicht passende Qualifikationsprofil oder die Persönlichkeit des älteren Bewerbers als Hauptablehnungsgrund heran. Das Argument der „Nicht-Passung“ der älteren Bewerber in die vorhandene betriebliche Altersstruktur wird von 14% dieser Betriebe aufgeführt. Die restlichen 10% der Ablehner-Betriebe sehen generell ein Problem, die die Einstellung Älterer mit sich bringt bzw. berufen sich auf konkrete negative Erfahrungen in der Vergangenheit (vgl. Bellmann et al. 2006). Befunde aus dem IAB-Betriebspanel 2005 zeigen, dass der Anteil der neu eingestellten Personen in klein- und mittelständischen Unternehmen (KMU) (bis 250 Beschäftigte) mit 84% wesentlich höher ist als in Großbetrieben, obwohl
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gerade in KMU häufiger erst gar keine Bewerbungen älterer Arbeitnehmer vorliegen (vgl. Bellmann & Stegmaier 2006).
5. Schlussfolgerung: Veränderte nationale Sichtweise oder europäisches Konstrukt? Wurde in den 1950 und 1960er Jahren Frühverrentung eher zur Vermeidung von offener Arbeitslosigkeit in bestimmten Regionen und Branchen genutzt, entwickelte sich die staatlich geförderte Frühverrentung später zu einem Instrument, um die Integration von Altersgruppen mit einer hohen Geburtenzahl zu unterstützen. Das vorherrschende Altersbild sah Ältere als Personen, die einen nützlichen gesellschaftlichen Beitrag leisten können, wenn sie sich freiwillig aus sozialen Rollen (Beruf) zurückziehen. Nach dem Motto „Ältere ziehen sich aus dem Erwerbsleben zurück, um Arbeitsplätze für Jüngere frei zu geben“ (vgl. Auer 1992) lag damit der Fokus eher auf der Integration Jüngerer und weniger auf dem längstmöglichen Verbleib im Erwerbsleben. Frühverrentung wird zu dieser Zeit als soziale Leistung angesehen und als Vereinbarung zwischen Unternehmen, Sozialpartnern und Betroffenen (aus-)genutzt, um Belegschaften mittels staatlicher Hilfe zu verjüngen. Im Ergebnis sank das Durchschnittsaustrittsalter erheblich, besonders in bestimmten Branchen wie Kohle und Stahl. Der auf politischer Ebene eingeschlagene Kurs zur Konstruktion eines Altersbildes schlug sich auch auf individueller Ebene nieder, indem der frühe Erwerbsaustritt von den Beteiligten zunehmend als soziale Errungenschaft gesehen wurde und dieses Ziel als erstrebenswert galt. Interessant ist wohl, dass sich diese Entwicklung – wenn auch mit Abweichungen – in nahezu allen westeuropäischen Ländern vollzogen hat. Mittlerweile scheint es, dass sowohl demographische als auch wirtschaftliche und politische Einflussfaktoren zu einem Umdenken im Bezug auf Ältere geführt haben. Im Vordergrund steht immer mehr die Nutzung des Potenzials „Ältere“, welches auch zu einer gesellschaftlichen Neudefinition von „Alter“ bzw. der Lebensphase Alter/Ruhestand führte. Ab Mitte der 1990er wurden auf nationaler und europäischer Ebene Vorgaben erlassen, die Lebensarbeitszeit zu verlängern bzw. die Beschäftigungsfähigkeit der arbeitenden Bevölkerung zu verbessern bzw. zu erhöhen. Gerade Ältere sollten wieder verstärkt in den Arbeitsprozess eingebunden bzw. „re-engagiert“ (re-engage) werden. Zusammenfassend zeigt sich, dass es weder nur veränderte nationale Sichtweisen im Alleingang noch ein europäisches Konstrukt sind, sondern die gegenseitige Beeinflussung beider Ebenen von Bedeutung war, die zu einer veränderten Wahrnehmung von und damit auch des Umgang mit Älteren geführt hat. Weitere ergänzende Faktoren und Rahmenbedingungen wie die wirtschaftliche
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Situation als auch die politische Konstellation im Parteien- und Sozialpartnergefüge müssen ebenso beachtet werden (vgl. Kraatz et al. 2006; Kraatz & Sproß 2008). Abschließend noch ein gesonderter Blick auf Deutschland: Trotz der umfassenden Implikationen von Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit Älterer zeigt sich hierzulande noch eine zu geringe Wirkung und eine zu geringe Umsetzung von Maßnahmen. Immer noch vorherrschend ist die Diskrepanz zwischen der gesellschaftlich geforderten stärkeren Nutzung der Potenziale des Alters und den vorherrschenden eher altersdiskriminierenden betrieblichen Strategien. Der Erfolg dieser Anstrengungen wird auch in einem erheblichen Ausmaß bestimmt von der regionalen wirtschaftlichen Lage bzw. Entwicklung (vgl. Bogai & Hirschenauer 2006 zur Erwerbsbeteiligung und Arbeitslosigkeit Älterer im regionalen innerdeutschen Vergleich). Insgesamt kann eine höhere Arbeitskräftenachfrage – ausgelöst durch ein Wirtschaftswachstum – zu einer stärkeren Erwerbsbeteiligung und somit zu einer Senkung der Arbeitslosigkeit älterer Arbeitnehmer beitragen.
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Age-Diversity: Wertschätzung statt Abwertung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer? Saskia-Fee Bender
1. Einleitung Das Thema „Alter(n) und Beschäftigung“ gewann in jüngster Zeit in der Diskussion um die Zukunft der Arbeitsgesellschaft in Deutschland an gesellschaftspolitischer Aufmerksamkeit. Thematisiert wurden die gesetzliche Erleichterung der Frühverrentung und des Vorruhestandes, die dazu beigetragen haben sollen, dass Unternehmen bei Restrukturierungsmaßnahmen vor allem ihre älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem Arbeitsleben entließen. Problematisiert wurde auch, ob das vorzeitige Ausscheiden Älterer aus dem Erwerbsleben zu negativen Altersbildern führte und Älterwerden mit einer verminderten Leistungsfähigkeit gleichgesetzt werde. Der Gleichstellungsansatz Age-Diversity wird in diesem Zusammenhang nicht nur aus personalpolitischer Perspektive diskutiert, um alternden Belegschaften durch politische und wirtschaftliche Maßnahmen vorausschauend zu begegnen. Er wird auch zunehmend im wissenschaftlichen Diskurs verhandelt, um im Rahmen dieses Ansatzes die Auswirkungen der Stigmatisierung älterer Arbeitnehmer/innen zu untersuchen und aufzuzeigen. Jedoch steht in der theoretischen Diskussion zu Diversity wie auch in der empirischen Organisationsforschung eine systematische Auseinandersetzung mit der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmer/innen noch aus. Bisher haben sich nur wenige wissenschaftliche Beiträge differenzierter mit Age-Diversity beschäftigt (Stuber 2002; Böhne &Wagner 2002; Bender 2007; von Kondratowitz 2007). Der vorliegende Beitrag wird daher Age-Diversity nicht nur als theoretisches Konzept skizzieren, sondern auch Ergebnisse einer qualitativen Studie zu Age-Diversity vorstellen. Er sucht die Fragen zu beantworten, inwiefern Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen aufgrund ihres Alter(n)s mit Benachteiligungen konfrontiert sind und wie Age-Diversity-Konzepte dazu beitragen können, Altersdiskriminierungen in Betrieben abzubauen. Zunächst werden die theoretischen Grundlagen von Age-Diversity diskutiert. Es wird dargestellt, welchen Ansatz Diversity-Konzepte í insbesondere Age-Diversity-Konzepte í verfolgen und welche Problemstellung ihre gemeinsame Basis bildet. Hier soll zum einen der Frage nachgegangen werden, welche
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Formen von Altersdiskriminierung im Betriebsalltag zu beobachten sind, und zum anderen eine Bestimmung der altersspezifischen Potenziale vorgenommen werden, die Arbeitnehmer/innen durch ein Age-Diversity-Konzept in ihr Unternehmen einbringen können. Im Anschluss beschäftige ich mich mit der Umsetzung von Age-Diversity. Im Fokus steht dabei, welche personalpolitischen Maßnahmen zur Anerkennung Älterer angewendet werden können. Die Wettbewerbsvorteile von Age-Diversity werden darauffolgend thematisiert. Es wird sich zeigen, inwiefern Age-Diversity-Konzepte ökonomischen Erfolg für Unternehmen versprechen und warum ein Schwerpunkt der Age-Diversity-Forschung auf der Betonung der Profitabilitätsmöglichkeiten liegen sollte. Abschließend werden die Schwierigkeiten in der Realisierung von Age-Diversity thematisiert. Unterlegt wird die Diskussion der theoretischen Annahmen zu AgeDiversity in diesem Beitrag durch die Darstellung der Ergebnisse einer empirischen Studie zu Age-Diversity-Konzepten in der Betriebspraxis. Ziel dieser Studie war es, die theoretische Konzeption an der Praxis zu überprüfen. Zu diesem Zweck wurden Diversity-Manager/innen von ausgewählten Unternehmen anhand eines teilstrukturierten Leitfadens befragt. Im Zentrum der Interviews stand dabei die Frage, wie die Unternehmensführung Age-Diversity versteht und umsetzt. Geeignete Auszüge aus dem Interviewmaterial werden in diesem Beitrag dazu verwendet, die theoretischen Grundlagen von Age-Diversity zu illustrieren und die praktische Umsetzung dieses Konzeptes exemplarisch darzustellen. Aus datenschutzrechtlichen Gründen wird auf die namentliche Nennung der Unternehmen verzichtet; ihre Aussagen werden folgendermaßen zitiert: Unternehmen A und B sind Dienstleistungsunternehmen im Finanz- bzw. Gesundheitswesen, Unternehmen C und D sind Produktionsunternehmen in der Automobilindustrie.
2. Das Verständnis und die Ziele von Age-Diversity Age-Diversity wird im Unternehmenskontext in zweierlei Hinsicht verwendet: Zum einen wird mit dem Begriff allgemein die Unterschiedlichkeit aufgrund des Alters bezeichnet. Zum anderen sind unter Age-Diversity solche Managementkonzepte zu verstehen, die angewendet werden, um altersspezifische Bedürfnisse und Potenziale zu erkennen und wirtschaftlich zu nutzen (Bender 2007). Allgemein formuliert, bestehen die Leitziele von Age-Diversity in der sinnvollen Zusammenführung der Potenziale aller Generationen und in der aktiv gelebten Chancengleichheit aller Altersgruppen von Beschäftigten eines Unternehmens. Um diese Ziele zu erreichen und eine Wertschätzung von Altersvielfalt zu verwirklichen, durchläuft ein Unternehmen in der Umsetzung eines AgeDiversity Konzeptes verschiedene Etappen: Der erste Schritt besteht darin, ein
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Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Unternehmen durch ihre altersheterogenen Beschäftigten über eine Vielfalt an Fähigkeiten und Erfahrungen verfügen. Die notwendig erscheinende Sensibilisierung für altersdiverse Kompetenzen beruht auf einer basalen These, die in der Diversity-Forschung vertreten wird: Die meisten deutschen Unternehmen haben den Wert von Altersvielfalt bisher nicht erkannt – sie basieren auf Monokulturen (Stuber 2004: 86). Als monokulturell lassen sich Unternehmen verstehen, deren Beschäftigtenstruktur durch eine dominante Gruppe von Mitarbeitern bestimmt wird (Thomas 2001: 30f.). Der dominante Mitarbeitertyp – Gertraude Krell bezeichnet ihn als „Norm(al)Arbeitnehmer“ – weist in deutschen Unternehmen folgende Merkmale auf: Er ist männlichen Geschlechts, mittleren Alters, nicht-behindert sowie inländischer Herkunft (Krell 1997: 58; vgl. Bissels et al. 2001). Daraus ergibt sich, dass Beschäftigte, die dieser Norm nicht entsprechen, Frauen, Ältere, Jüngere, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderung sind. Diese werden nach Krell „als ‚anders‘, ‚besonders‘ und d.h. häufig zugleich ‚defizitär‘ angesehen“ (Krell 2004: 44). Als Konsequenz dessen wird in der Diversity-Forschung die Annahme vertreten, dass Beschäftigte, die in den Ausprägungen der Diversity-Merkmale von dem „Norm(al)Arbeitnehmer“ abweichen, aufgrund ihrer Andersartigkeit häufiger Stigmatisierung und Diskriminierung ausgesetzt sind (vgl. Krell 1997). Auf die nicht der Norm entsprechenden Beschäftigten wird – häufig unausgesprochen – ein Anpassungsdruck ausgeübt: Dies hat negative Effekte auf die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft von nicht der Norm entsprechenden Arbeitnehmer/innen. Für Unternehmen ergeben sich hieraus Nachteile: Durch die Bemühungen sich anzugleichen, wird der Blick auf die persönlichen Stärken verstellt (Balser 1999: 16). Dies weist auf eines der wesentlichen Defizite monokultureller Unternehmen hin: Liegt der Fokus eines Unternehmens – und somit seine Kultur und Personalpolitik – auf einer Beschäftigtengruppe, werden die Potenziale der übrigen Arbeitnehmer/innen nicht ausgeschöpft. Aus der Annahme, dass Unterschiedlichkeit als Abweichung von der Norm erlebt wird und negativ konnotiert ist, leitet sich das zweite Etappenziel eines Age-Diversity Konzeptes ab: Es gilt, die Zuschreibungen von „defizitär“ aufgrund des von der Norm abweichenden Alters zu reflektieren und strukturelle Benachteiligungen abzubauen. Dabei stehen die älteren Mitarbeiter/innen zwangsläufig im Mittelpunkt: Zwar lässt sich für das Merkmal „Alter“ feststellen, dass weder jüngere noch ältere Mitarbeiter der normativen Gruppe eines Arbeitnehmers mittleren Alters entsprechen, doch in der wissenschaftlichen Diskussion wird konstatiert, dass deutsche Unternehmen jugendzentriert sind: „Jungsein wird mit innovativ und leistungsfähig gleichgesetzt“ (Seitz 2001: 5). Die daraus resultierende Wertschätzung, die jüngeren Arbeitnehmer/innen entgegengebracht wird, kompensiert den negativen Effekt, nicht der Belegschaftsgruppe zu entsprechen, die die Norm definiert. Den älteren Arbeitnehmer/innen wird hingegen vermittelt, dass
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sie weniger produktiv seien (BMFSFJ 2001: 173), und es dominiert die Vorstellung, dass sie über eine verminderte Leistungsfähigkeit verfügen (Böhne & Wagner 2002: 36; Menges 2001: 215f.). Die empirische Studie zu Age-Diversity hat ergeben, dass sich die befragten Unternehmen der ungleichen Leistungsbewertung aufgrund des Alters bewusst sind (vgl. Bender 2007). Die negative Konnotation des Alterns beschreibt die Interviewpartnerin des Dienstleistungsunternehmens im Gesundheitswesen – Unternehmen B – wie folgt: „Das Alter ist ja wertbesetzt und wird zum Beispiel mit mangelnder Leistungsfähigkeit gleichgesetzt.“
2.1 Formen von Altersdiskriminierung Nach der Feststellung, dass Altern in der Arbeitswelt der Bundesrepublik Deutschland oftmals abwertend wahrgenommen wird, ergibt sich die Frage, welche Konsequenzen sich ergeben können, d.h. welche Formen von Benachteiligungen und Diskriminierungen gegenüber Älteren in Betrieben zu beobachten sind? Die wissenschaftliche Forschung thematisiert in diesem Zusammenhang u.a. das Phänomen der „alterssegmentierten Aufgabenzuweisung“ (Naegele & Frerichs 2004: 86). Darunter ist die altersspezifische Zuweisung bestimmter Aufgabengebiete zu verstehen, von denen angenommen wird, dass sie dem Leistungsvermögen der älteren Generation in einem Unternehmen eher gerecht würden. Spiegelbildlich dazu gibt es bestimmte Aufgabengebiete, aus denen ältere Arbeitnehmer systematisch ausgeschlossen werden. Auch den befragten Unternehmen ist diese Vorgehensweise in ihrer eigenen Personalstruktur nicht unbekannt. So sagt beispielsweise der Automobilfabrikant D: Ab einem bestimmten Alter, etwa bei 40 Jahren, ist die Entwicklung von Mitarbeitern normalerweise abgeschlossen. Es gibt dann das Phänomen, dass Mitarbeiter aus dem Auge des Vorgesetzten verschwinden und er sich bei innovativen Aufgaben an seine jüngeren Mitarbeiter wendet mit der Annahme, dass bei diesen mehr Interesse, mehr Flexibilität, mehr Kreativität und Innovationsfreude anzutreffen ist. Der ältere Mitarbeiter vertieft sich währenddessen normalerweise in sein Spezialgebiet und wird auch vom Vorgesetzten in diesem gefördert.
An dieser Aussage sind zwei Aspekte hervorzuheben. Erstens werden Beschäftigten primär aufgrund ihrer Alters í und nicht ihrer Leistungsfähigkeit í unterschiedlich gewichtige Aufgaben zugewiesen. Zweitens erfolgt diese Aufgabenzuteilung aus der stereotypen Zuordnung negativer Vorurteile: Älteren werden Flexibilität oder Innovationsvermögen abgesprochen. Es ist anzunehmen, dass sich diese negativen Zuschreibungen im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung tatsächlich bewahrheiten können, indem ältere Mitarbeiter/innen in diesen Fähigkeiten nicht gefordert werden. Flexibilität beispielsweise kann nur schwerlich erhalten werden, wenn nicht die Mög-
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lichkeit gegeben wird, diese im Berufsalltag zu leben und sich die Aufgabenzuweisung in dem Erfüllen von Routinen erschöpft. Insofern ist festzustellen, dass die genannten Vorurteile – wie fehlende Flexibilität – von Betrieben selbst produziert und durch ihre Strukturen verfestigt werden können. Die Partizipation an Weiterbildungsmöglichkeiten kann als ein weiteres Beispiel für die Manifestation von Benachteiligungen älterer Mitarbeiter/innen in betrieblichen Handlungsfeldern gelten. Im wissenschaftlichen Diskurs ist das Argument zu finden, dass Ältere in der beruflichen Weiterbildung nicht berücksichtigt werden (Stuber 2002: 156). Als Ursache wird beispielsweise genannt, dass Mitarbeiter/innen in vielen Betrieben verfrüht in den Ruhestand gehen und daher geringere – wie es in der Literatur genannt wird – „Restnutzungszeiten“ aufweisen würden. In Weiterbildung zu investieren, erscheint daher bei dieser Altersgruppe nicht mehr rentabel genug (Buscher 1997: 20). Auch in den Interviews kam dies zur Sprache: Die Betriebe stellen fest, dass Ältere quantitativ und qualitativ nicht wie ihre jüngeren Kolleginnen und Kollegen an Weiterbildungsmaßnahmen teilhaben. Als Beispiele dienen hier die Automobilfabrikanten C und D. Nach Angaben des Unternehmens D seien deutliche Unterschiede in den Inhalten der Qualifizierung von älteren und jüngeren Beschäftigten zu erkennen: Jüngere nehmen an Qualifizierungsmaßnahmen teil, die ihnen weitere Karrieremöglichkeiten bieten und die sich auf Themen der Persönlichkeitsentwicklung oder der aufstiegsorientierten Fortbildung beziehen. Bei den Älteren würden hingegen die „Anpassungsqualifizierungen“ dominieren, die sich auf die Vermittlung neuer Arbeitstechniken und -mittel beschränkten. Nach Meinung des Interviewpartners sei dies aber keine Qualifizierung, die einem älteren Beschäftigten Fortschritte in seiner Karriere ermögliche, sondern ihm werde „schlicht seine Arbeitsmöglichkeit erhalten. Da muss sich mit Sicherheit was tun.“ Auch Unternehmen C kennt die Problematik, dass Ältere von Weiterbildung ausgegrenzt sind, und weist auf die Auswirkungen hin: Hier sind nicht-genutzte Ressourcen in Form von Mitarbeitenden, die auf die Pensionierung ‚warten‘, Verschwendung. Hinzu kommt die persönliche Frustration der Betroffenen, die sich negativ auf die Motivation auswirken kann.
Hier drückt sich wiederum die Wechselwirkung von Stigmatisierung und Leistungsvermögen und -bereitschaft aus: Oftmals findet sich der Vorwurf gegenüber Älteren, dass sie wenig motiviert seien, sich innerlich schon vom Betrieb verabschiedet hätten, eine Restzeit absitzen würden. Doch dieses Warten auf die Pensionierung, wie Unternehmen C es treffend formuliert, scheint für Ältere durch betriebliche Verfahrensweisen strukturell bestimmt zu sein. Hier stellt sich die Frage, wie die befragten Unternehmen mit der festgestellten Chancenungleichheit aufgrund des Alters umgehen? Die Unternehmen verfolgen mit Age-Diversity als Programmatik das Ziel, ihre älteren Beschäftigten gleichermaßen in die Personalpolitik zu integrieren. Damit geht einher, die Fähigkeiten
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der Beschäftigten unabhängig von ihrem Alter wahrzunehmen. Unternehmen B bringt diese Zielsetzung folgendermaßen auf den Punkt: Es geht um die Förderung des Denkens in Kompetenzen statt in Alterskategorien. (…) es ist ein ganz wichtiger Punkt zu schauen, welche Kompetenz ein Mitarbeiter hat und nicht erst nach seinem Alter zu fragen.
Anhand dieses Zitats lassen sich auf anschauliche Weise die Etappenziele eines Age-Diversity-Konzepts zusammenfassen: Es gilt, altersspezifische Zuschreibungen zu reflektieren und altersdiverse Kompetenzen wahrzunehmen. Diese Kompetenzen, die in einem Age-Diversity-Ansatz als Potenziale verstanden werden, ebenso anzuerkennen und zu nutzen, kann als dritte Zielsetzung von Age-Diversity verstanden werden.
2.2 Altersdiverse Potenziale Alle befragten Unternehmen heben in den Interviews hervor, durch AgeDiversity die Potenziale ihrer altersheterogenen Mitarbeiter/innen nutzen zu wollen. Dabei ergibt sich die Frage, wie altersspezifische Potenziale definiert werden können, d.h. in welchen Kompetenzen sich Beschäftigte aufgrund ihres Alters unterscheiden? In der wissenschaftlichen Diskussion wird in diesem Zusammenhang auf altersdiverse Wissenspotenziale verwiesen: Das der Jüngeren sei neues Wissen, das der Älteren hingegen ihr Erfahrungswissen (Behrend 2002a; von Rothkirch 2000). Interessant ist, dass auch die Interviewpartnerinnen und -partner die Zuordnung von altersspezifischen Wissenspotenzialen betonen. Exemplarisch wird Unternehmen A zitiert, das sich zu den Kompetenzen seiner älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter folgendermaßen äußert: Die besonders Guten sind meist die, die Berufserfahrung haben. Ein Älterer hat sehr lange, gewachsene und vertrauensvolle Kundenbeziehungen. Und das ist eine Kompetenz, die extrem wichtig für uns ist. Die kann ein junger Mitarbeiter ja zwangsläufig noch nicht mitbringen.
Wie diese Aussage zeigt, betont der Finanzdienstleister die Anerkennung von Leistungspotenzialen seiner älteren Mitarbeiter, die als Beziehungskompetenz gesehen werden. Auch Unternehmen D spezifiziert die Wissenspotenziale seiner Mitarbeiter nochmals genauer: Nach Aussagen des Automobilfabrikanten ist das Potenzial der älteren Mitarbeiter ihre Lebens- und Betriebserfahrung, jüngere Mitarbeiter gingen hingegen von ihrer Ausbildung her „kostenorientierter“ und „nutzwertanalytischer“ an eine Konstruktion heran. Als Beispiel nennt das Unternehmen das Herstellungsverfahren eines neuen Fahrzeugtyps: Bei dem „(…) meinte man damals, mit einer jungen dynamischen Gruppe könnte man dieses jugendorientierte Auto sehr gut hinbekommen.“ Das Ergebnis sei allerdings ein nicht fahrtüchtiges Auto gewesen, woraufhin mit älteren, teilweise schon ausgeschiedenen Mitarbeitern, eine „Taskforce“ gebildet wurde, um mit deren
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„Know-How“ und deren Erfahrung dieses Fahrzeug auf entsprechende Qualitäts- und Sicherheitsstandards zu bringen: „Dahinter steckt die Erfahrung, dass man diese Altersmischung braucht.“ Wie diese Aussage belegt, hat der Automobilhersteller nicht nur die Erfahrung gemacht, dass altersspezifische Wissenspotenziale existieren. Es zeigte sich zudem, dass eine Mischung dieser Potenziale benötigt wird, um ein konkurrenzfähiges Fahrzeug herstellen zu können.
3. Die Umsetzung von Age-Diversity in personalpolitischen Maßnahmen Die Zusammenführung und Anwendung altersheterogener Potenziale bildet einen Schwerpunkt von konkreten Age-Diversity-Maßnahmen. Zudem ist es in Age-Diversity-Konzepten zentral, personalpolitische Maßnahmen umzusetzen, die die unterschiedlichen Bedürfnisse der verschiedenen Generationen von Beschäftigten berücksichtigen. Intergenerationale Zusammenarbeit oder eine flexible Arbeitszeitgestaltung sind zwei Beispiele entsprechender Strategien, die im Folgenden erläutert werden.
3.1 Intergenerationale Zusammenarbeit Warum die befragten Unternehmen die altersheterogenen Wissenskompetenzen ihrer Beschäftigten als ihr wichtigstes Potenzial benennen, wird durch die zunehmende Bedeutung des Wissensmanagements deutlich: Moderne Gesellschaften entwickeln sich immer stärker zu Wissensgesellschaften und Wissen stellt für Unternehmen die derzeit wesentlichste Produktivkraft dar (Behrend 2002b: 25). Die Wissensaneignung und der Wissenstransfer zwischen den Generationen gelten als zentral für das Wissensmanagement von Unternehmen (Schemme 2002). Die Fähigkeit der Beschäftigten, sich in ihren spezifischen Wissens- und Erfahrungspotenzialen auszutauschen, kann durch eine intergenerationale Zusammenarbeit gefördert werden. Eine Form dieser Zusammenarbeit sind „altersgemischte Tandems“, in denen gemeinsam an konkreten Fragestellungen des Berufsalltags gearbeitet wird (vgl. Lau-Villinger & Seitz 2002). Altersgemischte Tandems haben den Vorteil, dass die Mitarbeiter/innen durch informelle Kooperation und praktische Anwendung effektiver voneinander lernen können als durch formalisierte Arbeitsabläufe (Köchling 2000). Auch die befragten Unternehmen bewerten altersgemischte Tandems positiv und fördern diese Form der Zusammenarbeit. Als stellvertretend für die befragten Unternehmen kann die Meinung des Finanzdienstleistungsunternehmens dienen. Dieses hebt im Interview die Vorzüge älterer Mitarbeiter/innen hervor:
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Sie sind wichtige Know-how-Träger und wir müssen dafür sorgen, dass deren Know-how verteilt wird und Jüngere davon profitieren können. Die Motivation des Unternehmens A, altersgemischte Tandems zu organisieren, bestand somit in der Weitergabe des Wissens von Älteren. Interessant ist, dass das Unternehmen eine Evaluation bei den Tandem-Partner/innen durchführte, um daraus Erkenntnisse über die weitere Gestaltung abzuleiten: Bei den Tandems war das Feedback ausgesprochen positiv und es wurde tatsächlich empfohlen, Tandems flächendeckend als Personalentwicklungsmaßnahme einzusetzen.
Diese Aussage zeigt, dass die Zusammenarbeit auch von den Tandempartner und -partnerinnen als nützlich bewertet wurde und sich ein positiver Effekt für beide Altersgruppen zeigte. Für die Jüngeren kann er darin bestehen, dass sie Wissen vermittelt bekommen, das in den täglichen Abläufen der Mitarbeiter/innen entsteht und wächst. Da es sich dabei um praktisches Erfahrungswissen handelt, das an Personen gebunden ist, kann dieses in der Regel nur unter Schwierigkeiten dokumentiert werden. Die Jüngeren erhalten somit direkte Einblicke in betriebliche Routinen. Für die Älteren ergeben sich ebenfalls Lerneffekte, indem sie aktuelles Fachwissen praxisnah vermittelt bekommen, die Sichtweisen ihrer jüngeren Kollegen und Kolleginnen kennen lernen und neue Anregungen für ihre Arbeitstätigkeiten erhalten (Morschhäuser et al. 2003; Möller 2000). Es gibt noch einen weiteren Aspekt intergenerationaler Zusammenarbeit, der in den Interviews thematisiert wurde: Die Älteren konnten auf diese Weise die Erfahrung machen, dass sie gebraucht werden und dass ihre Fähigkeiten von ihren Tandempartnerinnen und -partner anerkannt wurden.
3.2 Flexible Arbeitszeitgestaltung Während Instrumente intergenerationaler Zusammenarbeit darauf zielen, die Potenziale der Arbeitnehmer/innen zu aktivieren und zu kombinieren, kann eine flexibel gestaltete Arbeitszeitregelung eine Möglichkeit darstellen, den unterschiedlichen Bedürfnissen von Mitarbeiter/innen Rechnung zu tragen. Aus Sicht der Diversity-Theorie steht dabei im Hintergrund, dass diverse Altersgruppen unterschiedliche Bedürfnisse haben, beispielsweise in der Gestaltung ihrer Arbeitszeit (Cox 1991). Es wird davon ausgegangen, dass es durch die demografische Entwicklung mutmaßlich mehr Menschen geben wird, die von häuslicher Pflege – also der Pflege durch Angehörige – abhängig sein werden. Der Bedarf an flexiblen Arbeitszeiten zur Betreuung von Angehörigen folgt demnach nicht nur aus der innerfamiliären Kinderbetreuung, sondern es wird ein erweiterter Begriff von Familienaufgaben notwendig. Die Kinderbetreuung und die Betreuung von pflegebedürftigen Angehörigen stellen zeitintensive Anforderungen dar, die
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Unternehmen durch die Einrichtung flexibler Arbeitszeiten berücksichtigen können. Die Anerkennung und Berücksichtigung von Anforderungen der Familienarbeit hat auch Vorteile für Unternehmen. Eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat festgestellt, dass die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und der Pflege von Familienangehörigen durch flexible Arbeitszeitregelungen positiv auf die Arbeitsproduktivität und -zufriedenheit von Arbeitnehmer/innen wirkt: Durch die eigenverantwortliche Gestaltung der Arbeitszeit und die dadurch gezeigte Akzeptanz der privaten Situation der Mitarbeiter/innen seitens der Unternehmensleitung würden Fehlzeiten und pflegebedingte Leistungseinbußen vermieden (BMFSFJ 2000: 27ff.). Zwei der befragten Unternehmen sind sich des erweiterten Begriffs von Familienarbeit bereits bewusst, wenngleich die Maßnahmen noch zurückhaltend sind. So hat beispielsweise Unternehmen C eine Evaluation durchgeführt und dadurch ermittelt, dass rund 12,3 Prozent der Beschäftigten von der Pflege eines Angehörigen betroffen sind. Der Automobilhersteller hat daraufhin ein firmeninternes Netzwerk ins Leben gerufen, das Informationen über Pflegemöglichkeiten zur Verfügung stellt. Das Unternehmen betont, auf diese Weise die „Pflegeleistungen als eine Belastung“ anzuerkennen und möchte seinen Mitarbeiter/innen entsprechende Unterstützung bieten. Auch Unternehmen B ist es wichtig, seine Beschäftigten in der Pflege von Familienangehörigen zu unterstützen. Als Realisierungsmöglichkeit plant es, seinen Service, der Mitarbeiter/innen bei der Suche nach Kinderbetreuungsmöglichkeiten behilflich ist, durch „Eldercare“ zu erweitern.
4. Wettbewerbsvorteile durch Age-Diversity Unternehmen, die der Unterschiedlichkeit von Arbeitnehmer/innen aufgrund ihres Alters aufgeschlossen gegenüberstehen und den Wert von Altersvielfalt erkennen, können eine verbesserte Wettbewerbsposition erzielen (Cox & Blake 1991). Die Profitabilität von Age-Diversity-Ansätzen wird im Folgenden exemplarisch anhand der Bereiche Kreativität und Problemlösung, Marketing und Personalmarketing veranschaulicht.
4.1 Kreativität und Problemlösung Die Age-Diversity-Forschung stellt fest, dass altersheterogen zusammengesetzte Arbeitsgruppen zu innovativeren Ergebnissen kommen (Stuber 2002; Böhne & Wagner 2002; Bender 2007). Ausgelöst wird dies durch ihre Perspektiven- und Ideenvielfalt aufgrund ihrer unterschiedlichen Erfahrungswerte, durch die sie
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eine breitere und vielfältigere Basis von Problemlösungsansätzen haben. Dabei kann gerade den spezifischen Kompetenzen älterer Mitarbeiter/innen eine besondere Bedeutung zugestanden werden: Denn Ältere können – man erinnere sich an das Beispiel des funktionsuntüchtigen Automobils – als „Know-HowTräger“ begriffen werden, insbesondere wenn sie längere Abschnitte ihres Karriereweges in demselben Betrieb zurückgelegt haben. Durch ihre Erfahrungen und ihr Wissen um betriebliche Abläufe ihres Unternehmen haben sie eine Schlüsselfunktion bei der Lösung von Aufgaben (Böhne & Wagner 2002: 41ff.). Diesen Wettbewerbsvorteil durch Age-Diversity führt auch Unternehmen D an. Interessant ist dabei, dass sich das Verständnis einer wettbewerbsfähigen Belegschaft bei dem Automobilhersteller verändert hat. So berichtet das Unternehmen, dass der Begriff der Wettbewerbsfähigkeit früher vorrangig mit jüngeren Beschäftigten assoziiert wurde. Wettbewerbsfähigkeit ... fing ursprünglich in einigen Köpfen mit dem Gedanken an: Das sind die jungen Leute. Das hat sich inzwischen deutlich verändert. Die wettbewerbsfähige Belegschaft ist altersdivers und qualifikatorisch gemischt.
Daran zeigt sich, dass das Unternehmen erkannt hat, dass sich die Vielfalt an Qualifikationen und Kompetenzen der Beschäftigten positiv auf die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen auswirken kann, wenn sie wahrgenommen wird.
4.2 Marketing Die Diversity-Forschung geht davon aus, dass ein Unternehmen durch die Unterschiedlichkeit seiner Mitarbeiter/innen Konsumpräferenzen spezifischer Gruppen von Käufern und Käuferinnen besser verstehen und auch befriedigen könne (Hansen & Müller 2003: 20). Speziell für das Merkmal „Alter“ heißt dies, dass altersspezifische Kundensegmente besser erkannt und in der Außenkommunikation von Unternehmen gezielt angesprochen werden können (Täubner 2005). Diesem Marketing-Effekt entsprechend treten im Finanzdienstleistungsunternehmen A ältere und jüngere Kundenberaterinnen und -berater gemeinsam als Team auf: In dem Moment, in dem der Kunde zum Beispiel an das Thema Vererben denkt oder Nachfolgeplanung bei mittelständischen Betrieben aktuell wird, können wir dem erfahrenen Kundenbetreuer einen jüngeren Kollegen zur Seite stellen, der dann diese ebenfalls jüngere Nachfolge-Generation repräsentiert. So werden altersgemischte Teams eingesetzt, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der Kunden gerecht zu werden.
Auch das Produktionsunternehmen C setzt intergenerationale Marketing-Teams ein, um diverse Konsumentenwünsche zu erkennen. So definiert das Unternehmen Age-Diversity als „Produktivitätsfaktor und als Image-Faktor, um die alternde Kundschaft adäquat anzusprechen.“
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Ein weiterer Ansatzpunkt, Age-Diversity im Marketing zu nutzen, besteht darin, die verfehlte Repräsentation älterer Menschen in der Werbung bewusst zu machen und zu verändern. Als Grund dafür wird in der wissenschaftlichen Diskussion genannt, dass ältere Konsument/innen sich mit den auf sie ausgerichteten Werbestrategien oftmals nicht identifizieren könnten. Stattdessen gebe das in der Werbung vorherrschende Bild ältere Menschen ungebührlich „verzerrt“ wieder – ältere Menschen würden als gebrechlich oder übertrieben jung dargestellt (Crescenti 2004: 40ff.). Dass ältere Kunden als Problemgruppe stigmatisiert werden, thematisiert auch Unternehmen B: „Gerade die Zielgruppe der älteren Kunden verändert sich in ihrem Konsumverhalten: Die neuen ‚Alten‘ sind nämlich flexibler, konsumfreudiger und selbstbewusster.“ Nach Aussage des Unternehmens kann Age-Diversity dazu beitragen, auf die verfehlte Repräsentation älterer Menschen in Marketingstrategien hinzuweisen, indem es einen „neuen Blick auf Kunden und Markt“ vermittle. Zudem helfe es, negative Vorurteile generell dem Alter gegenüber zu reflektieren.
4.3 Personalmarketing Age-Diversity fördert die Perspektive von Unternehmen, den Arbeitsmarkt in seiner ganzen Bandbreite wahrzunehmen und sich nicht auf einen bestimmten Kandidat/innentyp í den „Norm(al)Arbeitnehmer“ í festzulegen. Ein Unternehmen kann auf ein größeres Potenzial an Mitarbeiter/innen zurückgreifen, wenn es Bewerber und Bewerberinnen aufgrund eines bestimmten Alters nicht ignoriert (Schwarz-Wölzl & Maad 2004: 69). Konkret heißt dies, dass Unternehmen sich einen Wettbewerbsvorteil verschaffen können, wenn sie in der Rekrutierung von Personal nicht nur Arbeitnehmer/innen der jungen und mittleren Altersgruppen als potenzielle Mitarbeiter/innen betrachten. Im wissenschaftlichen Diskurs wird hierbei auch die zunehmende Alterung der Erwerbsbevölkerung als folgenreicher Aspekt verstanden: Durch die demografische Entwicklung dürften die Unternehmen in Zukunft verstärkt auf die Neu- und Weiterbeschäftigung älterer Arbeitnehmer/innen angewiesen sein. Personalpolitik altersintegrativ zu gestalten und diese auch nach außen zu kommunizieren, wird zunehmend wichtiger, um sich im zukünftigen Wettbewerb um die besten älteren Arbeitskräfte besser zu positionieren (Böhne & Wagner 2002: 42). Der Wettbewerb um die qualifiziertesten älteren Arbeitnehmer/innen wird von den befragten Unternehmen jedoch nicht thematisiert. Sie befürchten vor allem Probleme bei der Rekrutierung jüngerer Arbeitskräfte. An dieser Stelle zeigt sich nun, dass sich die befragten Unternehmen der ökonomischen Rentabilität im Personalmarketing nicht voll bewusst sind. Für sie steht die Logik der Knappheit bei den jüngeren Arbeitnehmer/innen im Vordergrund. Die Chancen, die sich aus dem Ausschöpfen der Potenziale der Älteren ergeben, treten in den
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Hintergrund. Dies dürfte im Zusammenhang damit stehen, dass die AgeDiversity-Konzepte der befragten Unternehmen bisher als nicht vollständig realisiert betrachtet werden können, wie im Folgenden dargestellt wird.
5. Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Age-Diversity Die Realisierung der Vorteile durch Age-Diversity scheint sich komplizierter zu gestalten, als es die Theorie nahelegt. Beispielsweise merken Wagner und Sepheri kritisch an, dass die positiven Effekte von Diversity noch weitgehend ungeklärt seien (Sepheri & Wagner 1999: 20). Zurückzuführen ist dies auf den umfassenden und langwierigen Veränderungsprozess, in dessen Mittelpunkt die Kultur eines Unternehmens und die Einstellung der Unternehmensmitglieder steht (Cox 1994: 242): Die Brücke von der Wahrnehmung von Andersartigkeit hin zu einer aktiven Wertschätzung von Unterschiedlichkeit, kann nicht von heute auf morgen erbaut werden. Gleiches gilt für eine positive Einstellung zum Alter von Beschäftigten allgemein, also der Wahrnehmung und Anerkennung des Wertes von Altersvielfalt. Den lange andauernden Veränderungsprozess benennt Unternehmen B als das größte Problem bei der Umsetzung von Diversity bzw. Age-Diversity: Bei den Diversity-Themen haben wir oft mit Zeit[a]symmetrien zu kämpfen (…). Eine Schere aus dem Kopf kriegen, Einstellungsgeschichten zu verändern, Strukturen und eine Unternehmenskultur zu verändern. Wenn Sie da von einem Planungshorizont von zehn Jahren ausgehen, haben Sie heute das Problem, das Thema zu verkaufen und zu vermarkten.
Daran zeigt sich, dass die Wirksamkeit von Age-Diversity nur langfristig beweisbar ist und stets der ökonomische Nutzen herausgestellt werden muss. Es wird ein langer Atem benötigt, um das Management von der Profitabilität von Age-Diversity zu überzeugen und den vorurteilsfreien Umgang mit dem Thema Alter(n) in einem Betrieb tatsächlich zu leben. So betont Unternehmen A, dass sich in der Umsetzung von Age-Diversity das Problem stelle, dass in den „Köpfen des Managements“ noch immer die Sensibilität für das Thema fehle, obwohl das Unternehmen sich bereits seit 1999 mit Diversity beschäftige. Demzufolge kann als ein Ergebnis der empirischen Studie festgehalten werden, dass í obwohl die befragten Betriebe Benachteiligungen aufgrund des Alters wahrnehmen í zumindest zwei der befragten Unternehmen offen zugeben, eine Chancengleichheit nicht realisieren zu können. Der Finanzdienstleister beispielsweise schließt nicht aus, dass „bei Restrukturierung und Personalabbau-Maßnahmen auf die obere Altersgruppe geschaut wird.“ Das Unternehmen hat sich dabei noch nicht entschieden, nach welchen Kriterien es seinen zukünftigen Umgang mit älteren Mitarbeiter/innen gestalten wird:
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Es ist schwer, weil wir uns immer auf dem Grat bewegen, auf der einen Seite eine Wertschätzung und auf der anderen Seite Personalabbau zu betreiben. Da haben wir noch keine Entscheidung in die eine oder andere Richtung getroffen. Ich glaube aber, es wird in die Wertschätzungsrichtung gehen.
Auch der Produktionsbetrieb D macht trotz der Age-Diversity-Maßnahmen deutlich klar: „Den Klassiker Personalabbau bei den Älteren wird es auch weiter geben.“
6. Fazit Das Anliegen des Beitrags war es, einen Age-Diversity-Ansatz zu skizzieren, der darum bemüht ist, die Chancen zu verdeutlichen, die sich Unternehmen durch eine zunehmend älter werdende Erwerbsstruktur bieten. Wie aus den angeführten Sequenzen der empirischen Erhebung deutlich wurde, muss jedoch die ökonomische Rentabilität dazugehöriger Maßnahmen herausgestellt werden, um ihre Akzeptanz bei Unternehmensleitungen zu erreichen. Daher ist es ein zentraler Bestandteil von Age-Diversity-Ansätzen, die altersspezifischen Potenziale der Beschäftigten herauszuarbeiten, um sie wirtschaftlich nutzbar zu machen. Alle befragten Unternehmen weisen auf die Notwendigkeit hin, besonders die Fähigkeiten ihrer älteren Beschäftigten erkennen und anerkennen zu müssen. Das Potenzial Älterer wird von den Unternehmen einmütig in deren Erfahrungswissen gesehen. Das Potenzial Jüngerer wird als neues Wissen identifiziert. Spezifische Potenziale ihrer Mitarbeiter/innen mittleren Alters hingegen erfuhren durch die Unternehmen keine Nennung. Hier bestätigt sich die Annahme der Diversity-Theorie, dass die Arbeitnehmer/innen mittleren Alters eine unsichtbare Norm bilden, die nicht thematisiert wird. Formen von Altersdiskriminierung in der betrieblichen Praxis finden sich beispielsweise in der alterssegmentierten Aufgabenzuweisung oder in dem Ausschluss Älterer von Weiterbildungsmaßnahmen. Wie sich zeigte, gründen Exklusionsmechanismen in Vorurteilen einer verminderten Leistungsfähigkeit und -bereitschaft älterer Beschäftigter. Die empirische Erhebung konnte herausstellen, dass in den befragten Unternehmen durch die Auseinandersetzung mit Age-Diversity ein Bewusststein für Stigmatisierungen und deren Auswirkungen besteht. Diese Auswirkungen zu ignorieren – beispielsweise in Form ungenutzter Ressourcen älterer Arbeitnehmer/innen – wird von den befragten Unternehmen als Gefahr beschrieben. Die abschließende Frage, ob Age-Diversity zur Aufwertung älterer Arbeitnehmer/innen beitragen kann, lässt sich demnach positiv beantworten. Wie sich dennoch zeigt, stößt Age-Diversity in der Umsetzbarkeit an eine prinzipielle Grenze. Zwar kann es gelingen, die beschäftigungspolitische Ziel-
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setzung der Wertschätzung von Altersvielfalt mit der unternehmenspolitischen Zielsetzung der Profitsteigerung in Einklang zu bringen: Immerhin betrachten alle Diversity-Managerinnen und -Manager Age-Diversity als ein Mittel zur Steigerung des wirtschaftlichen Erfolgs. Dennoch scheint es, als würde die Wertschätzung älterer Mitarbeiter/innen zugunsten monokultureller Orientierungen in den Unternehmen hintangestellt werden. Dementsprechend geben zwei Unternehmen offen zu, dass sie auch in Zukunft einen altersbedingten Stellenabbau nicht ausschließen können. Alle befragten Unternehmen stimmen aber darin überein, dass die Unternehmensleitung nur in einem langwierigen Prozess zu einem Umdenken bewegt und für die Bedeutung von Age-Diversity sensibilisiert werden kann.
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Was Hänschen nicht lernt…? Von (falschen) Altersstereotypen zum (echten) Lernkompetenzmangel Christian Stamov Roßnagel
1. Einleitung Lebenslanges Lernen wird als eine der zentralen Strategien in der Arbeitswelt angesehen, die sich beschleunigenden Veränderungen der Arbeitswelt und den demografischen Wandel zu bewältigen (vgl. EU-Kommission 2001; BLK 2004). Während das Durchschnittsalter für den Austritt aus dem Erwerbsleben steigt, beschleunigt sich die Wandlung zur Wissensgesellschaft (Frühwald 1996) in Folge von Globalisierung und technischem Fortschritt. Wachsende Konkurrenz erhöht den Innovationsdruck, die Entwicklungszyklen für neue Produkte werden kürzer, ebenso die Halbwertszeit beruflichen Wissens. In einer Umfrage des Bundesinstituts für Berufsbildung berichten – je nach Branche – bis zu 69% der Befragten von bedeutsamen Veränderungen an ihrem Arbeitsplatz innerhalb der vorigen beiden Jahre (BIBB 2006). In diesem Umfeld sich beschleunigender Veränderungen nimmt der Lernund Weiterbildungsbedarf für alle Beschäftigten zu. Er wird sich auch auf Zielgruppen erstrecken, die bislang nicht zur klassischen Weiterbildungs-Klientel zählten. Zugleich erhöht sich der Bedarf an Vermittlung tätigkeitsübergreifender Schlüsselqualifikationen, weil sich traditionelle Karrierewege zunehmend auflösen und Fertigkeiten der Karriereflexibilisierung an Bedeutung gewinnen. Gegenwärtig entstehen erste Ansätze des Ageing Workforce Managements (z. B. Schemme 2006; Staudinger et al. 2008). Aus ihnen wird deutlich, dass der Umgang mit alternden Belegschaften zwar eine Reihe organisatorischer Anforderungen an Unternehmen stellt (z.B. im Hinblick auf Arbeitsgestaltung oder Gesundheitsförderung). Über diese rein „technischen“ Handlungsfelder hinaus, ist parallel aber auch ein umfassendes und nachhaltiges „Kulturmanagement“ von Bedeutung, weil die Wirkung der Werkzeuge und Strategien alternsgerechter Personalarbeit nur greifen kann, wenn diese von einer entsprechenden Unternehmenskultur getragen wird. In diesem Beitrag verdeutliche ich die Bedeutung einer „alternskompatiblen“ Kultur am Beispiel betrieblicher Weiterbildung. Einerseits ist nachhaltige Weiterbildung angesichts des einleitend umrissenen Bedarfs an lebenslangem
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Lernen von hoher Bedeutung für den Unternehmenserfolg. Zugleich bestehen aufseiten von Unternehmen gerade hinsichtlich der Lernfähigkeit Älterer vielfach Zweifel und Vorurteile. Diese können zu einem ungünstigen Lern- und Altersklima beitragen, in dem sich im Extremfall falsche Altersstereotype zu echten Lerndefiziten auswachsen. Ziel meines Beitrags ist die Beleuchtung unternehmensseitiger Einflüsse auf die individuelle Lernkompetenz, die ich als wichtige Grundlage erfolgreicher Weiterbildungsteilnahme ansehe. Aus dieser Betrachtung lassen sich Möglichkeiten ableiten, die Lernkompetenz älterer Beschäftigter zu fördern und diese erfolgreich in die betriebliche Weiterbildung zu (re-)integrieren. Im ersten Teil des Beitrags lege ich das Konzept der Lernkompetenz dar, sowie seine Bedeutung für die erfolgreiche Weiterbildungsteilnahme. Im zweiten Teil befasse ich mich mit alterskorrelierten Veränderungen der Lernkompetenz und welchen Einfluss Unternehmen auf diese Veränderungen haben. Im dritten Teil fasse ich Möglichkeiten zusammen, die Lernkompetenz mit Werkzeugen direkter und indirekter Förderung zu erhöhen und nachhaltigen Lernerfolg zu sichern.
2. Der Bedarf an Lernkompetenz Berufsbezogenes Lernen lässt sich als Aufbau verhaltensregulierenden Wissens fassen, das „eine effiziente Auseinandersetzung mit Anforderungen ermöglicht“ (Hacker & Skell 1993:17). Im Vordergrund stehen nicht die Aneignung isolierter Wissens- und Könnenselemente, sondern Fertigkeiten zum effektiven „Bewältigen ganzer Klassen von Tätigkeiten unter wechselnden Umständen“ (ebd.: 18). Anders als dies beim Lernen in der Schule häufig der Fall ist, ist berufliches Lernen kein Lernen „auf Vorrat“ und nicht in erster Linie Auswendiglernen von Begriffen und Formeln. Gegenwärtig nimmt die Bedeutung informeller Weiterbildung zu (vgl. Streumer 2006; BMBF 2006; Cross 2007). Informelle Weiterbildung wird großenteils vom Lernenden 1 selbst organisiert. Lernorte, Lernzeiten und Lerninhalte sind frei wählbar. Informelles Lernen geht fließend ins arbeitsintegrierte Lernen über, das auch als Lernen am Arbeitsplatz, Lernen in der Arbeit, arbeitsprozessorientiertes Lernen, dezentrales Lernen oder arbeitsplatznahes Lernen bezeichnet wird (vgl. Dehnbostel 2002). Häufig genutzte Lernformen des arbeitsintegrierten Lernens sind z.B. die Unterweisung durch Vorgesetzte, Einarbeitung bei technischen oder organisatorischen Umstellungen, Austauschprogramme, Job-Rotation, Lernstatt, Qualitätszirkel (vgl. Grünewald & Moraal 1996). 1
Zu Gunsten der Lesbarkeit verwende ich überwiegend Maskulina. Selbstverständlich sind Frauen stets gleichermaßen angesprochen.
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In Deutschland beteiligten sich 2003 rund 61 % der Erwerbstätigen an einer oder mehrerer Arten informeller Weiterbildung (BMBF 2006); die Teilnahmequote an informeller Weiterbildung liegt damit sehr viel höher als die an formaler und nicht-formaler Weiterbildung. Das Lernen im Rahmen informeller Weiterbildung setzt eine spezifische Lernkompetenz voraus, die sich als kontextspezifisches Leistungsvermögen, also als ein Bündel von Voraussetzungen verstehen lässt (vgl. Klieme & Leutner 2006), über die eine Person verfügt, um eine bestimmte Leistung zu erbringen. Wichtig ist an dieser Definition die Kontextabhängigkeit: Kompetenz ist nicht deckungsgleich mit Intelligenz. Letztere bezeichnet eine kontextunabhängige Fähigkeit, die zu einem wesentlichen Teil angeboren sein dürfte und nur begrenzt erlernbar ist. Kompetenz hingegen bezieht sich auf die Fertigkeit, Anforderungen in spezifischen Situationen zu bewältigen; Connell et al. (2003) sprechen von „verwirklichten Fähigkeiten“ (realised abilities). Kompetenzen sind also – im Gegensatz zur Intelligenz – lern- und trainierbar. Lernkompetenz umfasst Teilkompetenzen auf drei Ebenen: (1) Die kognitive Ebene (Lernstrategien). Diese Ebene des informellen Lernens kommt sicherlich dem am nächsten, was man sich allgemein unter Lernen vorstellt. Illeris (2003) spricht im Zusammenhang mit der kognitiven Ebene von der Aneignung des Lernstoffs. Erfolgreich informell Lernende besitzen ein breites Spektrum an kognitiven Strategien („Memoriertechniken“), welche sie flexibel, entsprechend den jeweiligen Anforderungen der Lernsituation, einsetzen können, um ihr Lernziel zu erreichen (Boekaerts 1999). Kognitive Lernstrategien sorgen dafür, dass als wichtig identifizierte Informationen durch Wiederholung, Elaboration und Organisation in bestehendes Wissen integriert und verfügbar werden. (2) Die metakognitive Ebene (Lernkontrolle). Beim informellen Lernen werden in der Regel komplexe Wissensinhalte erworben, die Lernepisoden beschränken sich nicht auf einige wenige kurze Lernsitzungen. Umfängliche Lernepisoden aber bedürfen einer Strukturierung, die über die pure Bearbeitung mit Hilfe der Lernstrategien auf der kognitiven Ebene hinausgeht. Metakognitive Strategien sorgen dafür, dass der zu lernende Stoff in Abhängigkeit von den eigenen Lernbedürfnissen identifiziert wird. Dazu kommen die Auswahl angemessener kognitiver Strategien sowie die Kontrolle des eigenen Lernfortschritts. Metakognitive Strategien dienen also der Lernkontrolle. (3) Die motivationale Ebene (Lernorientierung). Eine wichtige Voraussetzung erfolgreichen Lernens ist eine geeignete Motivationslage. Bei hoher intrinsischer Motivation lernen Menschen, weil ihnen das Lernen und der damit verbundene Wissens- und Fertigkeitszuwachs Spaß machen, oder weil sie sich für ein bestimmtes Thema interessieren. Bei hoher extrinsischer Motivation ist das Lernen Mittel zum Zweck, es dient dazu, bestimm-
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te Konsequenzen zu erreichen. Positive Konsequenzen beruflicher Weiterbildung sind z.B. der Erwerb der Fähigkeit zur Übernahme neuer, anspruchsvollerer Aufgaben oder eine Beförderung und Gehaltserhöhung. Neben den Lernorientierungen sind die epistemischen Überzeugungen von Bedeutung. Sie sind subjektive Auffassungen darüber, was Wissen ist und wie Lernen funktioniert (Schommer 1998). Zum Beispiel führt die Überzeugung, dass Lernen auf „Alles oder Nichts“-Weise schnell vonstatten gehe, zu geringerer Sorgfalt beim Textlesen und schlechterem Textverständnis. Beim Lösen komplexer Probleme kann die Überzeugung, dass Lösungen einfach und eindeutig sein müssen, zu ungenügender Beachtung lösungsrelevanter Informationen und deren Querverbindungen (Spiro et al. 1991).
Lernkompetenz und Lernerfolg Lernkompetenz spielt nicht nur beim informellen Lernen eine große Rolle. Auch in der primär vom Dozenten gesteuerten formalisierten Weiterbildung in Kursen und Seminaren sind metakognitive Kompetenzen des Überwachens und Bewertens gefordert. Lernende müssen für sich selbst bestimmen, ob sie den Lehrstoff in der von ihnen gewünschten Weise verstanden haben, ihn in ihr Vorwissen integrieren können und ob er ihnen Möglichkeiten für die Umsetzung im Arbeitsalltag bietet. Außerdem sollte eine günstige Lernorientierung bestehen, weil andernfalls die Weiterbildung am Teilnehmer „vorüberzieht“. Worin besteht Lernerfolg? Zunächst einmal haben Beschäftigte in dem Maß erfolgreich gelernt, in dem es ihnen gelingt, ihr neu erworbenes Wissen und ihre Fertigkeiten in der Arbeit einzusetzen. Allerdings hat Lernerfolg noch eine andere, leicht zu übersehende Dimension. Weiterbildung und arbeitsintegriertes Lernen bringen eine Reihe motivationaler und emotionaler Beanspruchungen mit sich. Über den kognitiven Aufwand des eigentlichen Lernens hinaus müssen Lernende Zeit und Anstrengung investieren, um ihre Lernmotivation und Konzentration über längere Lernepisoden hinweg aufrecht zu erhalten und dabei auch mit Rückschlägen und Misserfolgen umgehen. Hinzu kommt, dass Weiterbildung nur eine von mehreren Arbeitsaufgaben ist, sie erhöht die Arbeitsbelastung und kann Lernstress auslösen. Aus diesem Blickwinkel bedeutet erfolgreiches Lernen, im Einklang mit den persönlichen Ressourcen zu lernen und die Belastung durch das Lernen zu minimieren. Paulsson, Ivergard und Hunt (2005) zeigten, dass Lernende, die in der Lage waren, ihre Lernaktivitäten zu kontrollieren, die berufliche Kompetenzentwicklung lehrreicher und anregender empfanden und über weniger lernbezogenen Stress berichteten als Lernende mit geringer Kontrollkompetenz. Da Lernkompetenz ein gutes Mittel ist, die Kontrolle Beschäftigter über ihr Lernen zu optimieren, kann sie als guter Weg gelten, die negativen Auswirkungen der durch Lernen und Weiterbildung ausgelösten Belastungen am Arbeitsplatz zu vermindern.
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3. Alterskorrelierte Veränderungen der Lernkompetenz Zur Lernkompetenz älterer Beschäftigter liegt kaum Forschung vor. Dennoch liegen systematische Veränderungen der Lernkompetenz mit dem Alter nahe. Im Mittelpunkt stehen allerdings nicht Entwicklungen der kognitiven Leistungsfähigkeit. Von großer Bedeutung sind vielmehr Verschiebungen auf der Ebene von Faktoren, die sich im weitesten Sinne als Motivation fassen lassen (vgl. Stamov Roßnagel 2008). Ihre Auswirkungen erwachsen aus dem Zusammenspiel individueller Einflüsse und organisationsseitiger Stellgrößen.
Individuelle Quellen der Veränderung Zentral für die Veränderung der Lernkompetenz sind die auf Weiterbildung bezogenen Selbstwirksamkeitserwartungen (WSW). Sie lassen sich fassen als die subjektive Überzeugung, zur Erweiterung und Verbesserung beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten in der Lage zu sein. WSW gilt als wichtige Einflussgröße auf die freiwillige Teilnahme an Weiterbildung (z. B. Maurer & Palmer 1999; Noe & Wilk 1993); ältere Beschäftigte sehen arbeitsbezogene Kenntnisse und Fertigkeiten als kaum veränderbar an (Maurer et al. 2003), weisen also eine geringe WSW auf, wozu folgende Faktoren beitragen (vgl. Maurer 2001): (1) Erfolgserlebnisse. Wer bereits erfolgreich an Weiterbildung teilgenommen hat, wird selbstverständlich eine höhere Überzeugung besitzen, dies auch künftig tun zu können (vgl. Maurer & Tarulli 1994). Entscheidend ist, dass die Teilnahme als erfolgreich erlebt wurde. Freilich wirken Erfolgserlebnisse nicht unbegrenzt nach, worauf der Umstand hindeutet, dass die Teilnahmeraten Älterer an formaler Weiterbildung ab dem Alter von 40 Jahren deutlich sinken (vgl. Cleveland & Shore 1992). Zugleich zeigen Ältere vielfach geringere Weiterbildungserfolge (Kubeck et al. 1996). Die Zahl der Erfolgserlebnisse nimmt also in aller Regel ab, mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die WSW. (2) Soziale Unterstützung. Konstruktive Leistungsrückmeldung stärkt die WSW und die Teilnahme an betrieblicher Weiterbildung (Noe & Wilk 1993; Tharenou & Conroy 1994). Allerdings erhalten ältere Beschäftigte vielfach weniger Rückmeldung von ihren Vorgesetzten als jüngere Kollegen (Cleveland & Shore 1992) und sind oftmals weniger beliebt (Tsui & O’Reilly 1989), was sich auch auf die Kommunikation jüngerer und älterer Kollegen auswirkt, Erstere sprechen mit Letzteren weniger häufig als mit ihren Altersgenossen (Zenger & Lawrence 1989). (3) Stellvertretende Erfahrungen. Schließlich spielen vorweggenommene und stellvertretende Erfahrungen eine wichtige Rolle. Ältere, die in ihrem
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Christian Stamov Roßnagel unmittelbaren Umfeld die erfolgreiche Weiterbildungsteilnahme von Kollegen gleichen Alters „erleben“ (auch durch „Mundpropaganda“ vermittelt), beziehen daraus in aller Regel positive Impulse für ihre eigene WSW. Entscheidend ist hierbei die Ähnlichkeit dieser „Vorbilder“ mit ihren Beobachtern. Ist das Vorbild in wesentlichen Punkten (z. B. Statushöhe, Abteilung, Erfahrung) unähnlich, ist die positive Wirkung der stellvertretenden Erfahrung gering. Selbstverständlich wirken stellvertretende Erfahrungen auch in umgekehrter Richtung. Negative Weiterbildungserfahrungen von Kollegen beeinflussen die WSW in ungünstige Richtung. Auch die unten besprochenen Altersstereotype fallen unter stellvertretende Erfahrungen und wirken sich ungünstig auf die WSW aus (vgl. auch Rebok & Offerman 1983).
Organisationale Einflüsse auf die Lernkompetenz Die individuellen Quellen der Veränderung stehen in enger Wechselwirkung mit Einflüssen seitens der Organisation. Das in einer Organisation herrschende Klima beeinflusst die Selbstwahrnehmung Beschäftigter im Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit im Allgemeinen und ihre Lernfähigkeit im Besonderen. Organisationsklima verstehe ich als „die von den Beschäftigten geteilte Wahrnehmung der Praktiken, Abläufe und Verhaltensweisen, die in einer bestimmten Arbeitsumgebung belohnt und unterstützt werden.“ (Schneider 1990: 384). Das Organisationsklima hat unterschiedliche Facetten. Im Zusammenhang mit der Lernkompetenz sind zwei Facetten von besonderer Bedeutung. (1) Altersklima. Es bezieht sich auf die organisationsweit geteilte Wahrnehmung älterer Beschäftigter im Vergleich zu ihren jüngeren Kollegen. Das Altersklima ist nicht gleichzusetzen mit Altersdiskriminierung, die tatsächliches Verhalten (z. B. den aktiven Ausschluss Älterer aus informellen Netzwerken am Arbeitsplatz) beschreibt. Im Gegensatz zum Altersstereotyp ist das Altersklima keine Größe auf individueller Ebene, sondern es wird von einer ganzen Gruppe getragen, nämlich den Mitgliedern einer Organisation. Wichtige Stellgrößen des Altersklimas sind betriebliche Regelungen, von denen Ältere direkt betroffen sind. Beispielsweise bringt die Debatte um das Rentenalter das allgemeine Altersklima insofern zum Ausdruck, als diskutiert wird, ob Ältere überhaupt bis zum 67. Lebensjahr produktiv arbeiten können (vgl. Kruse & Lehr 2006; Skirbekk 2004). Betriebe, die auch künftig an der Frühverrentung Älterer festhalten, schaffen sicherlich ein anderes Altersklima, als solche, die ihren älteren Mitarbeitern die Voraussetzungen für ein längeres Arbeitsleben schaffen und dabei z. B. „weiche Ausstiege“ aus dem Arbeitsleben ermöglichen. (2) Lernklima. Es bezieht sich – in Analogie zum Altersklima – auf die organisationsweit geteilte Bewertung von arbeitsbezogenem Wissenserwerb und Erweiterung von Fertigkeiten. In einer Organisation mit positivem Lernkli-
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ma wird Weiterbildung als Beitrag zum Erfolg der Organisation gesehen und unterstützt. Solche Unterstützung kann direkter und indirekter Art sein. Sicherlich die augenfälligste direkte Unterstützung besteht in der Bereitstellung von Lernressourcen in Form eines differenzierten internen Weiterbildungsprogramms, das neben Seminaren und Trainings auch computerbasierte Selbstlernkurse umfasst sowie Qualitätszirkel oder Mitarbeiterforen. Die indirekte Unterstützung drückt sich darin aus, inwieweit Mitarbeiter für Weiterbildungen von der Arbeit freigestellt werden, welche Begrenzungen ihnen bei der Zahl und Auswahl von Weiterbildungen pro Jahr auferlegt werden und inwieweit sie über ihre Weiterbildungsteilnahme und deren Erfolg Rückmeldung erhalten. Einen Hinweis auf den Einfluss des Lernklimas gibt eine unserer eigenen Studien (Stamov Rossnagel et al. 2008). In einer Befragung gaben generell Weiterbildungsteilnehmer mit höherer Lernkompetenz höheren Lernerfolg an und berichteten zugleich ein lernförderliches Klima. Die Teilnehmer hingegen, die das das Lernklima und die Lernförderlichkeit der Arbeit als geringer einstuften, wiesen niedrigere Lernkompetenzwerte und geringeren Lernerfolg auf. Freilich sind dies korrelative Befunde, die einer Erhärtung durch weitere Untersuchungen bedürfen.
Ageism und Lernvorbehalte So wenig Lernkompetenz ein Talent ist, so sehr kann sie durch den Unternehmenskontext geformt werden. Leider dürfte diese Formung vielfach in eine ungünstige Richtung verlaufen. Immerhin sind Vorurteile gegenüber älteren Beschäftigten weit verbreitet (z .B. Nelson 2002). Ältere gelten unter anderem als unfähig Neues zu lernen oder sich zu verändern (Thornton 2002). Rix (2001) fasst Unternehmensbefragungen zur Einstellung von Arbeitgebern gegenüber älteren Arbeitnehmern dahingehend zusammen, dass Ältere hoch eingeschätzt werden auf Ebenen wie Loyalität, Zuverlässigkeit, Erfahrung und Umgang mit Kunden. Hinsichtlich Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und technologischer Kompetenz hingegen würden sie schlechter bewertet als jüngere Kollegen. In einer Befragung des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB 2005) gaben 43% der befragten Unternehmen an, der demografische Wandel stelle für sie kein besonderes Problem dar. Diese Firmen begegnen dem steigenden Altersdurchschnitt ihrer Belegschaften mit der vermehrten Einstellung jüngerer Beschäftigter. Darüber hinaus sprachen in einer Umfrage unter kleinen und mittelständischen Unternehmen (Roßnagel & Schulz 2007) über 45% der Betriebe davon, dass bei vielen älteren Beschäftigten die Weiterbildungsbereitschaft abnehme. Auf die Lernkompetenz älterer Beschäftigter wirken sich derartige Einstellungen vor allem über die Selbstwirksamkeitserwartung und damit über die Lernorientierung ungünstig aus. Zum einen, weil Weiterbildung für Ältere kaum noch angeboten wird und zudem kaum auf die Lernbedürfnisse Älterer abge-
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stimmt wird. Dies mindert die Chance auf Erfolgserlebnisse. Zum zweiten, weil die soziale Unterstützung fehlt, wenn Weiterbildung für Ältere als nicht erforderlich oder gar als nicht erwünscht gilt. Zum dritten, weil stellvertretende Erfahrungen fehlen, wenn Weiterbildung für Ältere nicht mehr stattfindet. In dieser Situation können Vorbehalte gegen Weiterbildung entstehen, die zur echten Lernblockade werden. So legen unsere Forschungs- und Beratungserfahrungen zum Beispiel nahe, dass die gelegentlich als „Lernentwöhnte“ bezeichneten Beschäftigten – die seit längerer Zeit (in der Regel mehr als drei Jahre) an keiner Weiterbildung mehr teilgenommen haben – eine Lernverweigerung aufbauen, die sich in der Überzeugung ausdrückt, dass Weiterbildung von geringem Nutzen sei. Eine zweite wichtige Gruppe sind die „Lernängstlichen“. Bei ihnen steht mangelndes Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des eigenen Gedächtnisses im Vordergrund, das zur Überzeugung führt, den Lernanforderungen der Weiterbildung nicht gewachsen zu sein. Lernangst geht oftmals mit hoher Misserfolgsmotivation vor, also dem Bestreben, Misserfolge auf jeden Fall zu vermeiden (vgl. zusammenfassend Stamov Roßnagel 2008). Lernvorbehalte können recht stabil sein und schwer zu entkräften, weil sie auf Erfahrungen beruhen. Beispielsweise kann Misserfolgsmotivation aus Lernkompetenzdefiziten hervorgegangen sein, in deren Folge Lernende sich unangemessene Lernziele setzten. Misserfolg bei der Zielerreichung schreiben solche Beschäftigte dann nicht selten mangelnden eigenen Fähigkeiten zu. Wird die Lernkompetenz nicht gestärkt, stabilisieren weitere negative Erfahrungen im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung entsprechende Vorbehalte. Auch werden sich Ursache und Wirkung bei der Aufklärung von Lernvorbehalten oftmals kaum voneinander trennen lassen. So berichten Lernverweigerer häufig über ein ungünstiges Lernklima und erleben, dass ihrer Weiterbildung vom Unternehmen nur geringe Bedeutung beigemessen wird. Offen bleibt dabei, ob an solche Beschäftigte tatsächlich geringere Lernerwartungen herangetragen werden, weil sie in der Vergangenheit wenig Weiterbildungsengagement zeigten, oder ob sie geringeres Engagement zeigen, weil sie wenig Unterstützung erleben. Für den Umgang mit Lernvorbehalten und ihren Abbau ist trotz dieser Verflechtung von Ursachen die Tatsache wichtig, dass sich Vorbehalte im Kern auf zwei Punkte reduzieren lassen: Zweifel an der eigenen Kompetenz und Vorbehalte gegen die Weiterbildung und ihr betriebliches Umfeld. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Lernvorbehalte auch unter scheinbar günstigen Lernbedingungen entstehen können, zum Beispiel, wenn neue Medien oder altersgemischte Lerngruppen eingesetzt werden. Bei älteren Beschäftigten lösen Computer und Internet nicht selten Ablehnung und Angst aus, die als Vermeidungsmotivation zu sehen sind und in geringen Selbstwirksamkeitserwartungen wurzeln. Kommen bei solchen Beschäftigten gering ausgeprägte Kontrollstrategien hinzu, ist der Teufelskreis perfekt. Computer- und internetbasiertes Lernen ermöglichen und erfordern ein hohes Maß an Selbststeuerung. Fehlt diese, kommt es leicht zu Überforderung und Desorientierung,
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dem so genannten „Lost in hyperspace“-Syndrom. Lernende reagieren darauf häufig mit unreflektiertem Datensammeln und der Flucht ins Detail, in deren Folge der Gesamtzusammenhang des Lernens ausgeblendet wird. Dadurch sinkt die Lerneffizienz, Vorbehalte werden aufgebaut oder verstärkt. Die Problemlage ist bei altersgemischten Lerngruppen ganz ähnlich. Ältere Beschäftigte können sich in solche Gruppen gut einbringen, wenn sie dank Ihrer Erfahrung neues Wissen auf den beruflichen Alltag beziehen und Verbindungen zur Arbeitspraxis herstellen. Bei älteren Beschäftigten mit geringer Lernkompetenz aber können altersgemischte Gruppen auch zur Bildung und Aufrechterhaltung von Vorbehalten führen. Im Vergleich mit jüngeren Kollegen treten nämlich eigene Kompetenzdefizite möglicherweise stärker zu Tage, was der eigenen Vermeidungsmotivation zuwiderläuft. Altersgemischte Lerngruppen sind deswegen nicht unbesehen als Lernkompetenztraining einzusetzen mit der Hoffnung, dass sich Kompetenzdefizite in der Gruppe „von selbst erledigen“.
4. Vermeidung diskriminierungsbedingter Kompetenzdefizite Lernkompetenz baut bei älteren Beschäftigten nicht zwangsläufig ab. Die in Laboruntersuchungen vielfach gezeigte Verringerung der kognitiven Leistungsfähigkeit durch abnehmende Verarbeitungsgeschwindigkeit und nachlassende Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses ist für das komplexe Lernen im Rahmen beruflicher Weiterbildung von geringerer Bedeutung als vielfach angenommen (s. zusammenfassend Baltes et al. 2006). Von größerer Bedeutung sind das Lern- und das Altersklima einer Organisation, die sich deutlich auf die Lernmotivation auswirken. Unsere eigenen Forschungen zeigen (Stamov Rossnagel et al. 2008), dass Lernkompetenz bei Beschäftigten der Altersgruppe 50+ ohne weiteres größer sein kann als bei jüngeren Beschäftigten. Die Lernkompetenz der Beschäftigten eines von uns untersuchten Dienstleisters war unabhängig vom Alter, tendenziell wiesen Untersuchungsteilnehmer der Altersgruppe 51-65 Jahre die höchste Lernkompetenz auf. Passend dazu berichteten die Teilnehmer ein positives Lernklima und wurden zu regelmäßiger Weiterbildung ermuntert. Aufbau und Erhalt von Lernkompetenz setzen freilich ein Bündel von Strategien direkter und indirekter Förderung voraus, die der Bildung von Lernvorbehalten vorbeugen und sich abzeichnende Lernkompetenz-Defizite gezielt ausgleichen können. Indirekte Förderung zielt darauf ab, eine lernförderliche Arbeitsumgebung bereit zu stellen und ein Klima zu schaffen, in dem Beschäftigte im Einklang mit ihren Lernbedürfnissen ihr Wissen aufbauen können. Direkte Förderung besteht aus spezifischen Trainings, in den Defizite in der Lernkompetenz gezielt beseitigt werden. Als wichtigste Werkzeuge der Förderung lassen sich folgende nennen.
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Indirekte Förderung Förderung eines positiven Altersklimas. Zu den entscheidenden Dimensionen bei der Schaffung eines positiven Altersklimas gehören der Anteil älterer Beschäftigter in der Organisation im Allgemeinen und die Besetzung alterstypischer Stellen im Besonderen. In Firmen, die – vereinfacht ausgedrückt – mit ihren älteren Beschäftigten „gut umgehen“, aber nur sehr wenige von Ihnen haben, werden diese eher zur Minderheit, als in Betrieben, die einen großen Anteil Älterer beschäftigen. Schon diese Minderheitenrolle birgt die Gefahr der Altersstereotypisierung mit entsprechenden Folgen für das Altersklima. Hinzu kommt, dass – ebenfalls als Folge von Stereotypisierung – bestimmte Stellen und Tätigkeiten als „typisch jung“ oder „typisch alt“ gelten (Cleveland & Landy 1987). Computer- und System-Programmierer z. B. gilt als typisch junger Beruf, während die Stelle des Controllers als eher für ältere Mitarbeiter passend wahrgenommen wird (Finkelstein et al. 1995). Das hat dazu geführt, dass ältere Beschäftigte in solchen Branchen stark unterrepräsentiert sind, die von Innovation und schneller Expansion charakterisiert sind (Filipp & Mayer 1999). Die Folgen für das Altersklima sind klar: Entspricht die Stellenbesetzung einer Firma dem Schema der Alterstypizität und verbleiben Ältere auf solchen Stellen, die „ihrem Alter entsprechen“, während den Jüngeren die für sie scheinbar passenden Stellen vorbehalten bleiben, wird ein weniger günstiges Altersklima herrschen, als wenn dieses Muster aufgebrochen wird. Auch die Einrichtung von Mentoren-Programmen kann ein positives Altersklima fördern, wenn sich ältere Beschäftigte jüngerer Kollegen annehmen, um diese bei ihrem Einstieg in einen Bereich fachlich zu begleiten. Solche Programme signalisieren, dass das Wissen und die Erfahrung der „alten Hasen“ als wichtige Ressource betrachtet werden, die es wert ist, an die jüngere Generation weitergegeben zu werden. Zugleich werden im direkten Kontakt Vorurteile Jüngerer über die Leistungsfähigkeit Älterer leichter überwunden. Altersgemischte Lerngruppen sind ein weiterer Weg zu vermitteln, dass Ältere als lernbereit betrachtet werden und dass die Zusammenführung älterer und jüngerer Kollegen beiderseitigen Nutzen bringt – mithin, dass Ältere im Rahmen der Weiterbildung nicht nur nehmen, sondern durchaus auch geben. Förderung eines positiven Lernklimas. Leitlinie eines positiven Lernklimas ist die von allen Beschäftigten geteilte Überzeugung, dass Lernen – auch und gerade solches, das Fehler einschließt – für die Beschäftigten und das Unternehmen gleichermaßen nützlich ist und zur eigenen und der Entwicklung des Unternehmens beiträgt. Wenngleich das aus theoretischer Sicht optimale Lernklima eine Utopie bleiben mag, so kann zumindest ein ausgeprägt negatives Lernklimas erreicht werden. Dazu ist es notwendig, nicht bestimmte Altersgruppen bevorzugt zur Weiterbildung ermuntert werden, weil sich dies in doppelter Weise negativ auswirken kann. Zum einen erleben ältere Beschäftigte, nicht mehr als lernfähig oder lernbereit wahrgenommen zu werden. Zugleich wird
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verdeutlicht, dass die Weiterbildung dem Unternehmen dient, während die persönliche Weiterentwicklung der Beschäftigten keine Rolle spielt – sonst würden Ältere ja auch zur Weiterbildung ermutigt. Kommunikation zwischen Führungskräften und Mitarbeitern. Zohar (2000) weist darauf hin, dass die mit den oben beschriebenen Strategien beabsichtigte Wirkung auf das Klima einer Organisation entscheidend davon abhängt, wie jene von den Führungskräften vor Ort jeweils umgesetzt wird. Die bloße Existenz solcher Programme allein garantiert noch kein positives Altersklima. Eine wichtige Dimension in dieser Hinsicht ist die unter dem Kürzel LMX (Leader-member-exchange) zusammengefasste Kommunikation zwischen Führungskräften und ihren Mitarbeitern. In einer günstigen Beziehung, die allgemein von Vertrauen und Respekt gekennzeichnet ist, stellen Führungskräfte ihren Mitarbeitern eine Reihe von direkten und indirekten Ressourcen bereit (Liden et al. 1997). Dies führt zu höherer Arbeitszufriedenheit (Gerstner & Day 1997), die Mitarbeiter zu höherer Arbeitsleistung motiviert (Masterson et al. 2000). Im Mitarbeitergespräch wie in der Unterweisung am Arbeitsplatz gleichermaßen kommt dem Umgang mit Fehlern eine Schlüsselrolle zu. Werden diese als Zwischenschritt auf dem Weg zu verbesserter Arbeitsleistung angesprochen, können sie als Lernergebnis gedeutet werden und fördern die Lernbereitschaft. Umgekehrt wird diese durch negative Sanktionen gedämpft (vgl. Bergmann 2003). Gerade im Hinblick auf die Rolle von Altersstereotypen kann die Professionalisierung der Kommunikation zwischen Führungskräften und Mitarbeitern auch spezielles Gesprächstraining für Führungskräfte notwendig werden lassen (vgl. Hale 1990). Vor allem bei jüngeren Vorgesetzten kann die Unkenntnis altersbezogener Veränderungen von Lernkompetenz und Lernbedürfnissen zu Schwierigkeiten führen. Im besten Fall zu einer „gutwilligen Hilflosigkeit“, die aus der Absicht, Diskriminierung und ein negatives Klima zu vermeiden, nur oberflächliche und wenig hilfreiche Leistungsrückmeldungen gebiert. Im schlimmsten Fall zum unangemessenen Vergleich älterer mit jüngeren Beschäftigten, der bei Älteren das Gefühl hinterlassen kann, als Verlierer im Wettbewerb mit jungen Kollegen gesehen zu werden. Im Hinblick auf die Lernkompetenz ist die Kommunikation zum einen von Belang, weil sie die Auswirkungen eines negativen Altersklimas „abpuffern“ kann. Führungskräfte, die ihre Mitarbeiter gut kennen und intensiven fachlichen Austausch mit ihnen pflegen, betrachten diese weniger aus dem Blickwinkel eines Stereotyps. Sie haben viel eher eine individualisierte Sichtweise, die von der tatsächlichen Leistungsfähigkeit eines Mitarbeiters geprägt ist. Stereotype und pauschalisierende Annahmen („Ältere können nicht mehr lernen“), treten in den Hintergrund. Damit werden auch die negativen Effekte des Altersklimas auf die Selbstwirksamkeitserwartung eines Mitarbeiters abgeschwächt. Von besonders großer Bedeutung ist die intensive Kommunikation zwischen Führungskraft und Mitarbeiter jedoch im Hinblick auf die Rückmeldung,
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die Mitarbeiter über ihre Arbeit erhalten. Rückmeldungen sind eine wichtige Informationsquelle hinsichtlich des eigenen Verbesserungs- und damit Lernbedarfs. Das Ausmaß der Rückmeldungen ist eine wichtige Bestimmungsgröße der „Lernhaltigkeit“ von Arbeitstätigkeiten (vgl. dazu Richter 2005). Höhere Lernhaltigkeit wiederum ist mit höherer Lernkompetenz verknüpft. In unseren Untersuchungen bestand eine hohe Korrelation zwischen der Lernhaltigkeit einer Tätigkeit und der über die metakognitive Ebene ausgeübte Lernkontrolle in der Weiterbildung. Detaillierte und konstruktive Rückmeldungen können die Auswirkungen ungünstiger sozialer Vergleiche und den Mangel an stellvertretenden Erfahrungen ausgleichen, die ich oben als wichtige Einflüsse auf die nachlassende Selbstwirksamkeit älterer Beschäftigter beschrieben habe.
Direkte Förderung So unterschiedlich die mit der Weiterbildung verbundenen Motivlagen und Kompetenzkonstellationen sein mögen, so unterschiedlich sind auch die Strategien zur Förderung der Lernkompetenz. Indirekte Strategien unterstützen die Entfaltung von Lernkompetenz und fördern informelles und arbeitsintegriertes Lernen. Sie ersetzen aber nicht den gezielten Aufbau von Lernkompetenz und können auch keine Kompetenzdefizite ausgleichen. Werden in Mitarbeiterbefragungen oder Mitarbeitergesprächen Kompetenzdefizite sichtbar, dann sollte die indirekte Förderung durch gezielte Trainings der Lernkompetenz ergänzt werden. Kernelement aller Trainingsverfahren ist die Einübung angemessenen Lernverhaltens und die Entwicklung effizienter Selbstbeobachtung. Diese verdeutlicht Lernenden die Vorteile, die mit der Anwendung von Lern- und Kontrollstrategien verbunden sind und legt die Grundlage für nachhaltige Veränderungen des Lernverhaltens. Zugleich wird die Wahrnehmung für eigene Lernschwierigkeiten geschärft, die im Rahmen des Trainings besprochen werden, dabei werden individuelle Möglichkeiten zu ihrer Überwindung gefunden. Strategietraining. Strategietrainings eignen sich für Beschäftigte ohne ausgeprägte Lernvorbehalte (Verweigerung, Angst) und zielen darauf ab, das Lernverhalten durch Vermittlung von Lern- und Kontrollstrategien zu verbessern. Bestandteil jedes Trainings sollte auf jeden Fall die Vermittlung des Lernkompetenzbegriffs sein. Bereits das Bewusstsein um das Ineinandergreifen von Lern- und Kontrollstrategien und die Entstehung von Lernbarrieren aufgrund unangemessener Lernüberzeugungen oder ungünstiger Lernziele führt zu „Aha“-Erlebnissen und schafft die Grundlage für die Selbstbeobachtung beim Lernen, die für die Entwicklung der Lernkompetenz von zentraler Bedeutung ist. Außerdem rückt das Wissen um die Ebenen der Lernkompetenz angemessenes Lernverhalten ins Bewusstsein, was für sich genommen schon dazu führt, dass sich Verhalten in die erwünschte Richtung verändert (Kanfer et al. 1996). Ein Training endet nicht mit der Trainingssitzung. Wichtig ist, die im Training
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gelernten Strategien auf das Lernen außerhalb des Trainings zu übertragen. Umgesetzt wird dies mit Hilfe von Lerntagebüchern, deren Führung als Hausaufgabe erteilt wird. Lerntagebücher bringen die Teilnehmer zum Training der Selbstbeobachtung und Anwendung der trainierten Strategien auf neue Inhalte. Im Lerntagebuch halten die Teilnehmer relevante Erfahrungen fest, die sie während ihrer Lernepisoden außerhalb des Trainings machen. Diese Erfahrungen können als Fallarbeit in die nächste Sitzung eingebracht werden. Kognitives Training. Lernangst und geringe Nutzenüberzeugung sind wesentliche Gründe für starke Lernvorbehalte. Zum Abbau solcher Lernvorbehalte eignen sich kognitive Trainings. Lernende schätzen ihre Merkfähigkeit als äußerst gering ein, zugleich wird eine große Gefahr gesehen, Neues schnell wieder zu vergessen. Häufig ist das Gedächtnis solcher Beschäftigter objektiv gesehen viel leistungsfähiger, als es deren eigenen negativen Gedächtniserwartungen entspricht. Dennoch wird die Schwierigkeit besonders hoch eingeschätzt, Neues zu lernen. Kognitive Trainings machen sich die Tatsache zunutze, dass sich Gedächtnis und Konzentrationsfähigkeit in jedem Alter deutlich steigern lassen. Erfolgserlebnisse sind relativ schnell zu erzielen. Diese lassen sich als Ansatzpunkt nutzen, negative Gedächtniserwartungen aufzubrechen und im Laufe systematischen Trainings durch eine angemessene Wahrnehmung des eigenen Gedächtnis’ zu ersetzen. Dabei lernen die Teilnehmer auch, dass das Gedächtnis auch von der „Tagesform“ abhängt und Schwankungen in der Gedächtnisleistung genau als solche zu interpretieren sind, nicht aber als Rückschritt. Kognitives Training soll den Transfer der Trainingsleistungen in den Arbeitsalltag fördern. Die zunächst arbeitsfremden Trainingsaufgaben müssen im Lauf des Trainings durch arbeitsnahe Aufgaben ersetzt werden. Kognitives Training, das immer nur „im Labor“ stattfindet, kann diesen Transfer nur schwerlich leisten. Lernverträge. Lernverträge richten sich vor allem an Beschäftigte, die eine geringe soziale Unterstützung für ihre Weiterbildungsbemühungen erleben und daraus die Überzeugung beziehen, Weiterbildung lohne sich nicht. Im Rahmen eines Lernvertrags vereinbaren die Vertragspartner ein klar definiertes, arbeitsbezogenes Lernziel, zu dessen Erreichung umfassende Unterstützung gewährt wird. Vertragspartner können einzelne Beschäftigte oder ganze Arbeitsgruppen sein, die einen Lernvertrag mit Vorgesetzten schließen. Lernverträge können kurzfristiger Natur (2 – 4 Wochen) sein, wichtig ist, dass sie für Lernziele geschlossen werden, die sich unmittelbar auf den Arbeitsalltag der Vertragspartner beziehen. Festgehalten werden müssen auf jeden Fall die Lernziele. Sie müssen klar definiert sein und es müssen Kriterien angegeben werden, wann das Ziel als erreicht gilt. Festgelegt werden ein Zeitplan und die Lernstrategien, mit denen gearbeitet werden soll. Von besonderer Bedeutung ist, dass die Beschäftigten detailliert festhalten, welchen Unterstützungsbedarf sie während der Vertragslaufzeit benötigen, die Vorgesetzten verpflichten sich im Gegenzug, diese Unterstützung zu geben. Die Führung eines Lerntagebuchs ist sinnvoll, mindestens
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sollten die im Tagebuch behandelten Fragen während der Treffen der Lernpartner besprochen werden. Hauptvertragspartner sind die Beschäftigten und ihre direkten Vorgesetzten. Auf diese Weise geben Lernverträge genau die soziale Unterstützung, deren Fehlen in der Vergangenheit zum Aufbau der Lernverweigerung beigetragen hat. Wird der Lernvertrag auf externe Anbieter „abgewälzt“, erleben Lernende unter Umständen, dass das Unternehmen sich einer unangenehmen Aufgabe entledigt hat.
5. Schlussbetrachtung Leitlinie meines Beitrags war die Annahme, dass ältere Beschäftigte in jeder Phase ihrer Karriere zum Lernen fähig sind. Erfolgreiches Lernen bedarf allerdings einer spezifischen Lernkompetenz, die vor allem bei älteren Beschäftigten durch eine wenig lernförderliche Umgebung gemindert werden. Weniger als die objektive Lernfähigkeit, leidet die Lernbereitschaft unter fehlender Weiterbildungserfahrung, weil Ältere die Einstellung entwickeln mögen, zum Lernen nicht mehr in der Lage zu sein. Freilich steht Organisationen eine Reihe von Werkzeugen zur Verfügung, deren konsequente Nutzung die Entstehung durch Ageism bedingter Lernkompetenz-Defizite verhindern kann. Indirekte Förderung durch Schaffung eines positiven Lern- und Altersklimas ist dabei genau so wichtig wie die direkte Förderung mit gezielten Kompetenztrainings. Es gibt keine einzelne Maßnahme, die Erfolg garantiert, nur die integrierte Nutzung mehrerer Werkzeuge kann die Lernsituation Älterer in Betrieben verbessern. Dazu gehört auch, dass Personalentwicklung eine Aufgabe aller Führungskräfte ist und nicht der Personalabteilung alleine. Über die Bereitstellung der Werkzeuge an sich hinaus, besteht die wichtigste Rolle der Wissenschaft meines Erachtens darin, auch zur Überzeugung Personalverantwortlicher beizutragen, dass die Überwindung auf Ageism basierender Lernbarrieren keine reine Sozialromantik ist, sondern im gemeinsamen Interesse von Organisationen und ihren Mitgliedern. In dieser Hinsicht wird noch einiges an Forschungsarbeit zu leisten sein.
Literatur Baltes, Paul B., Lindenberger, Ullmann & Staudinger, Ursula M. (2006): Lifespan theory in developmental psychology. In: Lerner, Richard M. (Hrsg): Handbook of Child Psychology, Vol. 1 (6th ed.). New York: Wiley, S. 569-664.
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„Alter ist bei uns in der Tat (k)ein Thema!“? Fallanalyse betrieblicher Einstellungsprozesse Heike Schimkat
1. Einleitung Die vorliegende Fallanalyse betrieblicher Einstellungsprozesse setzt sich empirisch mit Altersdiskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und der Bedeutung von Einstellungsprozessen im Rahmen der Einführung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) auseinander. Das Phänomen des Ageism in betrieblichen Auswahlverfahren wurde bisher kaum erforscht. Bei den derzeit zur Verfügung stehenden Daten zur Personalauswahl in Unternehmen handelt es sich in erster Linie um Auskünfte von Personalverantwortlichen, die auf verschiedene Weise befragt wurden. Solche Befunde sind als Daten aus „zweiter Hand“ problematisch, sofern die Position der Personalverantwortlichen und ihre Rhetorik nicht hinterfragt und analysiert wird. Andere Studien wie die von Avolio (1987), in denen Vor- und Einstellungsgespräche simuliert wurden, haben versucht, diese empirische Lücke bezüglich der Beobachtung vor Ort zu schließen. Dabei gab es Hinweise auf Zusammenhänge zwischen stereotypen Bewertungen älterer Kandidaten/innen und strukturellen Situationsbedingungen. Die Realität der Einstellungsprozesse blieb jedoch auch hier eine black box. Die vom Forschungsnetzwerk Alterssicherung der Deutschen Rentenversicherung BUND geförderte Studie „Diversity als Chance…“ 1 versucht jene black box aufzuschließen. Es wurden Diversity-Konzepte und die sogenannte „Demographiefestigkeit“ von Unternehmen mittels teilstandardisierter Interviews mit Personalverantwortlichen und Geschäftsführern/innen untersucht. Für die kooperierenden Unternehmen wurden zusätzlich Angebote entwickelt: Zum einen quantitative Altersstrukturanalysen (ASA) als praxisnahes Instrument zur Einschätzung ihrer demographischen Entwicklung, zum anderen „recruiting research“ als qualitatives Instrument, bei dem Personalauswahlprozesse teilnehmend beobachtet und wissenschaftlich begleitet werden. 1
Durchgeführt an der Freien Universität, Institut für Soziologie, unter Leitung von Prof. Dr. Wolfgang Clemens, Prof. Dr. Gertrud M. Backes (Universität Vechta) und der Mitarbeit von Dr. Kai Brauer, Dr. Heike Schimkat und Dr. Janette Brauer. Siehe auch den Beitrag von Brauer in diesem Band.
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Heike Schimkat
Im Forschungsprojekt wurden dreißig Unternehmen für „Experteninterviews“ akquiriert. In zwei Fällen wurden Einstellungsprozesse auch durch längere teilnehmende Beobachtungen begleitet, von denen hier einer – OPTIC genannt 2 – vorgestellt wird. Im Folgenden werden zunächst der empirische Zugang und die Vorgehensweise erläutert. Dann werden die Einstellungsverfahren im Kontext von OPTIC umrissen, bevor eine Ethnographie der Einstellungsgespräche beschrieben wird 3 . Da im Focus der Forschung die Altersdiskriminierung, -bilder und Ageism als Auswahlkriterien bei Einstellungsgesprächen stehen, wird die Personalauswahl als Prozess analysiert. Mit dem ethnographischen Blick auf die Vorstellungsgespräche im Unternehmen wird verdeutlicht, wie Auswahlkriterien, die nicht die Qualifikation der Kandidaten/innen betreffen, konstruiert und als Argumentationsfiguren in den Vordergrund gestellt sowie Strategien entwickelt werden, die es den Akteuren/innen ermöglicht, ihre Entscheidungsrelevanzen zu verändern und zu repräsentieren.
2. „Empirische Hürden“: Zugang und Vorgehensweise Im Projekt wurden als „empirische Hürden“ der Erstkontakt und die Zusage zum Interview und nach dem Interview der Zugang zu Daten für eine ASA bzw. zur Beobachtung von Einstellungsverfahren definiert. Der Zugang zur Beobachtung von Einstellungsprozessen stellt sich als besondere „empirische Hürde“ dar. 4 Bei OPTIC ist es schließlich gelungen, an mehreren Vorstellungsgesprächen und Diskussionen teilzunehmen. Im Fall OPTIC wurde im Januar 2007 beim telefonischen Erstkontakt mit dem Personalleiter – hier Herr Jensen genannt – spontan ein Termin für ein Interview Mitte Februar 2007 vereinbart. In dem Interview erklärte sich der Personalleiter bereit, Daten zur ASA zu liefern und willigte ein, wissenschaftliche Mitarbeiter/innen als Beobachtende bei Einstellungsgesprächen teilnehmen zu lassen. Trotz viel versprechender Absprachen für weiterführende Kooperationen (ASA, „recruiting research“) und eines regelmäßigen Kontakts zum Per2 3
4
Die Firmennamen und die Namen der interviewten und beobachteten Personen sind anonymisiert. Im vorliegenden Beitrag ist eine Ethnographie der Vorstellungsgespräche Ausgangspunkt. Allerdings handelt es sich nicht um eine klassische Betriebsethnographie (z.B. Kunda 1992; Novak 1994; Wittel 1997), da diese äußerst langwierig sind und auf noch umfangreicheren Beobachtungen beruhen (Helmers 1993). Um Einsichten im Hinblick zum Ageism bei Einstellungsprozessen zu erlangen, sind in diesem Fall mehrere wesentlich kürzere Beobachtungen während der unterschiedlichen Besuche im Unternehmen (Experteninterview, Teilnahme an Vorstellungsgesprächen und Feedback-Gespräch) durchgeführt worden. Es erfordert eine gewisse Hartnäckigkeit, um an Einstellungsprozessen teilnehmen zu können, die bei weitem den Aufwand für die bereits aufwändige Akquise von Interviews übersteigt.
„Alter ist bei uns in der Tat (k)ein Thema!“?
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sonalleiter wurden keine Daten zur ASA geliefert und erst nach langem „Hinhalten“ (Termine wurden aufgeschoben und dabei auch einsichtige Gründe genannt, wie die Einführung von SAP etc.) kamen im Juli 2007 tatsächlich Beobachtungen zustande. Die bei OPTIC ebenso wie in anderen Unternehmen erfahrene langwierige Kontaktaufnahme zeugt davon, wie schwierig es ist, in so kurzer Zeit vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen, die Voraussetzung für eine teilnehmende Beobachtung bei Einstellungsverfahren sind. 5 Während die teilnehmende Beobachtung im Untersuchungskontext Experteninterview eher als „state of mind“ denn als Methode zum Einsatz (vgl. Novak 1994: 65) kam, wurde sie in der Beobachtung von Einstellungsverfahren als Forschungsstrategie verwendet, um die mit dem Personalmanagement und der Personalstrategie des Unternehmens verbundenen sozialen Phänomene in ihrer alltäglichen Erscheinung und innerhalb ihres sozialen Kontexts analysierbar und verstehbar zu machen (vgl. Ziegler 2001). 6 Entsprechend der Forschungsethik (vgl. Klärner 2002) mussten die Kandidatinnen 7 vor dem Vorstellungsgespräch ihre Einwilligung zur Teilnahme der Forscherin geben. Die Beobachterin verzichtete außerdem auf jegliche Kommentare im Vorstellungsgespräch, außer wenn sie vom Personalverantwortlichen direkt angesprochen wurde. Zwischen den einzelnen Vorstellungsgesprächen fand stets ein Austausch des Personalleiters und der Beobachterin über die Kandidatinnen statt, in dem viele spontane Informationen auftauchten. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde zusätzlich ein Feedback-Gespräch mit dem Personalleiter zu den Einstellungsverfahren geführt und dabei auch seine Vorgehensweise reflektiert. Der Vorteil dieses Feedbacks und der teilnehmenden Beobachtung überhaupt besteht darin, dass erste Ergebnisse an der sozialen Wirklichkeit überprüft (vgl. Kohl 2000; Flick 2006), der Prozess für ein tieferes Verständnis genutzt und in der Fallanalyse produktiv gemacht werden können. Als Basis der Analyse dienen Beobachtungsnotizen, in denen die Interaktionen in den Vorstellungsgesprächen sowie informelle Gespräche beschrieben wurden. Dabei wurden typische Sprachausdrücke ebenso wie Gedanken und Eindrücke festgehalten. Die beobachteten Einstellungsprozesse werden hier in Form einer Ethnographie der Vorstellungsgespräche dargestellt. Sie gewähren Einblicke in das Diskriminierungsverhalten in Vorstellungsgesprächen und erlauben weitergehende In-
5 6
7
Erschwerend kam hier hinzu, dass Personalverantwortliche oftmals nicht die alleinigen Entscheidungsträger in der Situation sind. Die teilnehmende Beobachtung hat eine lange Forschungstradition in der Sozial- und Kulturanthropologie und wurde als soziologische Standardmethode schon in den 1930er mit der Chicagoer Schule (z.B. Park) etabliert und auch durch Whyte (1943) populär. In deutschsprachigen Raum fand sie vor allem durch Girtler (1984) Eingang in die Soziologie und wird in jüngster Zeit zunehmend auch von anderen aufgegriffen (Lüders 1995; Bachmann 2002). Da nur Frauen eingeladen wurden, bleibe ich bei der weiblichen Form.
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Heike Schimkat
terpretationen im Hinblick auf latente Sinnstrukturen in der Einstellungssituation. Im Vorfeld hatte im Januar 2007 das Experteninterview stattgefunden, bei dem bereits Fragen zur Altersstruktur gestellt und analysiert worden waren. Sie vermittelten ein erstes Bild zur Altersstrukturzusammensetzung und der Einstellung zu älteren Bewerbern/innen im Unternehmen. Es wurden mehrere Textpassagen analysiert, um die Evidenz von Altern und Alter für das Handeln in realen Auswahlprozessen zu explorieren. Es zeigte sich, dass der Personalleiter sowohl am Thema „Diversity und Alter(n)“ im Unternehmen als auch an einer Verbesserung der Personallage vor dem Hintergrund demographischer Entwicklungen interessiert war, dabei aber vordergründig den Nachwuchsmangel als vordringliches Problem ansah. Gefragt nach der Veränderung der Altersstruktur im Unternehmen, fiel folgende Aussage des Personalleiters auf, die Hinweise auf die personalpolitische Relevanz des Themas Alter(n) gibt: „Also, wenn sich bei uns nen Mitarbeiter bewirbt, der 53 ist, das interessiert hier wirklich niemanden, sondern die werden, also, Alter ist in der Tat kein Thema. Wir sind trotzdem relativ jung“ (5, 40-42). Die ethnographische Darstellung der beobachteten Vorstellungsgespräche wird zeigen, inwieweit diese Aussage relativiert werden muss, so dass das „k“ von „kein“ einzuklammern ist – und aus dem Alter sei „kein Thema“ ein Alter ist „ein Thema“ wird. So stellte der Personalleiter das Unternehmen im Interview auch wiederholt als „jung“ dar, sprach aber gleichzeitig davon, dass das Unternehmen viele „Ältere“ eingestellt habe. Das widerlegten allerdings schon die Interviewanalyse und die dort erschlossenen Strukturen, die nur eine strukturell geringe Relevanz aufzeigten. Wir haben es also einerseits mit manifesten Aussagen zu tun, die Interesse und Relevanz von Alter in Auswahlprozessen im Interview vorgeben, die andererseits so nicht in der Analyse bestätigt werden konnten. Die Beobachtung und Analyse von Einstellungsverfahren erhellt weitere strukturelle Zusammenhänge und Mechanismen im Auswahlprozess. Im Folgenden wird das Unternehmen OPTIC kurz vorgestellt.
3. Einstellungsverfahren im Unternehmenskontext OPTIC OPTIC ist ein „traditionsreiches, eigentümergeführtes Familienunternehmen“. Es wurde in den Nachkriegsjahren gegründet und hat eine starke lokale Bindung. Neben dem Hauptstandort, an dem die Untersuchung stattfand, gibt es Dependancen im ganzen Bundesgebiet und Tochterunternehmen, die in der Regel durch Übernahmen zum Unternehmen kamen. Der Stammsitz ist nicht nur der zentrale Produktionsstandort, sondern auch Sitz der Forschung- und Entwicklungsabteilung sowie des Vertriebs, der Verwaltung und des Unternehmensmanagements.
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OPTIC produziert hochwertige optische Komponenten für verschiedene Marktsegmente (darunter die Informationstechnologie, Halbleiterindustrie und Biotechnologie). Die Produkte werden über außereuropäische Vertriebsniederlassungen auch weltweit exportiert. Beliefert werden der Markt sowie exklusive Großabnehmer. Die Krise in der klassischen Komponentenfertigung auf dem Halbleitermarkt 1999/2000 führte zu einem dramatischen Umsatzrückgang. Nach der Neustrukturierung des Unternehmens hat sich die Produktpalette am Hauptstandort auf wenige „High end Produkte“ reduziert. Diese Neuorientierung hat zu imposanten Umsatzsteigerungen und zu einem erhöhten Personalbedarf geführt. So hat sich die Beschäftigtenzahl im Stammwerk in den letzten Jahren auf fast 500 Personen verdoppelt – und parallel dazu wurde die Belegschaft verjüngt. Dies liegt vor allem an der stetigen Übernahme von Auszubildenden (zeit-weise zu fast 100%), auch wenn kein aktueller Bedarf besteht. Auf diese Weise wird einem antizipierten Fachkräftemangel entgegengewirkt. Der Aufbau neuer Bereiche (vor allem bei Systemlösungen) verlangt darüber hinaus neue Qualifizierungsprofile, so dass z.B. verstärkt Mechatroniker einstellt werden. Diese neuen beruflichen Ausbildungen und Mischqualifizierungen wurden seit den 1990er Jahren eingeführt, da sie den traditionellen Ausbildungsberufen (z.B. Feinoptiker) überlegen sind. All das führte dazu, dass in den zurückliegenden Jahren jüngere Bewerber und zunehmend auch Bewerberinnen berücksichtigt wurden. Die Einstellung neuer Mitarbeiter/innen ist Aufgabe des Personalleiters Jensen. Er organisiert die Ausschreibung und ist verantwortlich für die Vorauswahl der Kandidaten/innen aus dem Pool schriftlicher Bewerbungen. Für ein Unternehmen, in dem sonst in der Mehrzahl Facharbeiter/innen eingestellt werden, sind die beobachteten Einstellungsverfahren von Sekretären/innen eher untypisch. Es gibt im Personalmanagement weniger Routine mit der Auswahl der Kandidaten/innen. Daher hat der Personalleiter vermutlich ein größeres Interesse an der wissenschaftlichen Begleitung, zumal er über die Vorauswahl hinaus die „erste Runde“ der Einstellungsgespräche selbst führt. Die Entscheidung dafür, wer in die „zweite Runde“ kommt, liegt bei ihm. 8 Die „zweite Runde“ der Vorstellungsgespräche wird hingegen von seinem Vorgesetzten in der Geschäftsleitung und dem Firmeninhaber direkt geführt, so dass Herr Jensen daran nicht wie sonst üblich teilnimmt. Dies erklärt auch, warum sich die Beobachtungen auf die „erste Runde“ der Vorstellungsgespräche beschränken.
8
Bei den Stellen in der Produktion sind die entsprechenden Fachvorgesetzten bzw. der (die) Abteilungsleiter(in) Entscheidungsträger in beiden „Runden“. Die Vorstellungsgespräche im Produktionsbereich sind in stärkerem Maße „fachliche Gespräche“ mit bestimmten Standards wie z.B. technischen Begriffen.
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Offizielle Stellenausschreibung und informelle Anforderungen 9 Beide Sekretäre/innen-Stellen waren als Doppelanzeige in einer Lokalzeitung ausgeschrieben, um die Ressourcen zu bündeln und das Prozedere zu verkürzen. Als Kosten für diese Annoncen wurden 6.000 bis 6.500 Euro angegeben. Die Stellenanzeigen sind auf den ersten Blick sehr ähnlich. Sie vermitteln optisch den Eindruck technischer Präzision und klarer Struktur. Auffällig an den Ausschreibungstexten war, dass bei beiden hinter die weibliche Berufsbezeichnung „Sekretärin“ in Klammern ein „(w/m)“ gesetzt wurde. Dies ist eine recht sperrige Umsetzung von Gleichstellungsanforderungen, die kaum kaschiert, was informell gewünscht wird (vgl. mehr dazu unten). Das formale Profil beider Stellen unterscheidet sich kaum bezüglich der Anforderungen. Es werden eine kaufmännische Ausbildung, MS-OfficeAnwen-dungen und gute Englischkenntnisse vorausgesetzt. Erst bei den „Aufgaben“ wird differenziert. Die Ausschreibung für die „engagierte Sekretärin/Assistentin“ erfordert verantwortungsvolle, eigenverantwortliche, fachkompetente Projekttätigkeit, d.h. untere Managementtätigkeiten. Für die Stelle der Empfangsekretärin sind hingegen spezielle soziale Kompetenzen erforderlich, um als „Visitenkarte des Unternehmens“ fungieren zu können. Im Hinblick auf die beruflichen Laufbahnen sind ebenfalls unterschiedliche Anforderungen formuliert worden. Während die Sekretärin der Geschäftsleitung über „entsprechende“ Berufserfahrung verfügen sollte, ist für die Empfangssekretärin eine Ausbildung im „Hotelbereich“ vorteilhaft. Die Arbeitszeiten sind auf Teilzeit begrenzt: 25 Std. für die Empfangssekretärin, da die Stelle in Früh- und Spätschicht geteilt wird. Und 30 bis 40 Std. für die Sekretärin/Assistentin der Geschäftsleitung. Neben den formalen (Profil-)Anforderungen in den Stellenbeschreibungen, ergaben sich in einem Gespräch mit dem Personalleiter noch weitere informelle Anforderungen, die sich nur teilweise mit den Inhalten der Ausschreibung decken. Insbesondere wies Herr Jensen darauf hin, dass beide Stellen wichtige Positionen im Unternehmen sind. Die Empfangssekretärin müsse in der Lage sein, ein gutes Verhältnis zu den Mitarbeitern/innen aufzubauen und ein „offener, Service orientierter“ Mensch sein. Zu den informellen „Management“Anforderungen im Büro der Chefetage gehört, dass die Sekretärin/Assistentin „mit dem Chef klar kommen muss“. Laut Herrn Jensen ist der 66-jährige Firmeninhaber Dr. Haber, den er als aktiven älteren, „hanseatischen Typ“ beschreibt, nicht auf dem neuesten Stand der Bürokommunikationstechnik und will hier wohlwollend unterstützt werden. Als informelle Anforderung ist also die Kompetenz gefragt, sein technisches Defizit auszugleichen. Gleichzeitig wird deutlich, dass der Firmeninhaber sich für beide Stellen die letzte Entschei9
Die Informationen wurden aus mehreren Quellen im Kontakt mit dem Personalleiter zugänglich gemacht.
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dung vorbehält. Er habe klare Vorstellungen, wie die Personen wirken müssen, meint Herr Jensen, und es wird implizit klar, dass er vorzugsweise Frauen will. Auch wenn das im offiziellen Ausschreibungstext so nicht gesagt werden konnte, wurde es doch verklausuliert eingebaut, was die weibliche Form deutlich macht.
Vorauswahl der Kandidatinnen Aus ca. 100 Bewerbungen für die Stellenausschreibung der „Sekretärin/Assistentin (w/m) der Geschäftsleitung“ und 30 bis 40 Bewerbungen für die Stellenausschreibung „Empfangssekretärin (w/m)“ wurden neun Kandidatinnen ausgewählt. Obwohl sich auch einige Männer (knapp 10%) auf die Stelle der Sekretärin/Assistentin beworben hatten, kamen diese nicht in die engere Wahl. Die Vorauswahlkriterien waren vor der Beobachtung zunächst „unsichtbar“. Erst in weiteren Gesprächen, vor allem im abschließenden FeedbackGespräch mit dem Personalleiter, konnten dazu genauere Informationen gewonnen werden: Die Vorauswahl der Kandidatinnen für beide Stellen erfolgte unter Mithilfe der damaligen Empfangssekretärin in enger Absprache („gemeinsam abgestimmt“) mit dem Personalleiter. Auf Nachfrage wurde angegeben, dass es „eigentlich nur wenige ‚K.-o.-Kriterien’“ gegeben habe. Dazu gehörten „erkennbare Englischkenntnisse“ (Zeugnisse), da sie wichtig im Alltagsgeschäft seien. Schon das hätte die Bewerber/innen um die Hälfte reduziert. Als ein weiteres Kriterium galten Berufsbiografien mit vergleichbaren Tätigkeiten. So wurden neun Kandidatinnen für Vorstellungsgespräche ausgewählt, von denen acht beobachtet werden konnten. 10 Die acht Kandidatinnen: Kandidatin
Jahrgang
Bewerbung auf Stelle (angebotene Stelle)
Frau Bela
(1986)
Empfangssekretärin
Frau Andres
(1970)
Sekretärin/Assistentin der Geschäftsführung
Frau Brimm
(1979)
Sekretärin/Assistentin Geschäftsführung (Empfang)
Frau Motsch
(1986)
Sekretärin/Assistentin Geschäftsführung (Empfang)
Frau Süß
(1979)
Sekretärin/Assistentin der Geschäftsführung
Frau Hell
(1985)
Empfangssekretärin
Frau Voss
(1970)
Empfangssekretärin
Frau Karb
(1958)
Sekretärin/Assistentin der Geschäftsführung
10
Eine weitere Kandidatin für die Stelle der Sekretärin/Assistentin der Geschäftsführung, an deren Vorstellungsgespräch aus organisatorischen Gründen nicht teilgenommen wurde, war Jahrgang 1972. Sie ist nicht mit aufgeführt.
212
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Das Altersspektrum der Kandidatinnen ist relativ breit und liegt zwischen 21 und 49 Jahren. Es konnte zunächst keine Negativselektion von Kandidatinnen über 36 Jahren festgestellt werden, wie dies in der Literatur belegt ist (vgl. Koller & Gruber 2001). Es fällt allerdings auf, dass eine Differenz von mehr als zehn Jahren zwischen der ältesten Kandidatin Frau Karb (49 Jahre) und den nächst älteren Kandidatinnen Frau Andres und Frau Voss (beide 37 Jahre) besteht und lediglich diese drei Kandidatinnen über 30 Jahre alt sind. Der Personalleiter bezeichnete die für die Vorstellungsgespräche ausgewählten Berufsanfängerinnen als Testballon „jung“. Dieses Selektionskriterium lässt sich als eine Form der „Etikettierung“ beschreiben. Als „Etikettierung“ gilt, wenn Personen mit gleichem Merkmal, wie z.B. bestimmtem Berufsabschluss oder Zugehörigkeit zu einer Altersgruppe, zusammengefasst werden (Koller & Gruber 2001: 483).
4. Ethnographie der Einstellungsgespräche Bevor die Beobachtungen im Zusammenhang mit den Einstellungsprozessen der beiden Stellen ethnographisch dargestellt werden, soll der Ort, an dem die Vorstellungsgespräche stattfinden und die Personen handeln, beschrieben werden. Klassische und gegenwärtige Ethnographien (vgl. Clifford & Marcus 1986; Pratt 1986: 46; beispielhaft Herzfeld 1991; Rethmann 2001) beginnen in der Regel mit einer so genannten „arrival scene“, die an die Stätte des Geschehens führt und jene Kontextbedingungen aufzeigt, die selbst Teil der Analyse sind.
Ort und Ablauf Der Standort in Berlin ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar und liegt abseits einer stark befahrenen Straße in einem kleinen Industriegebiet. Dort zieht sich linker Hand ein Gebäudekomplex entlang, der bereits zum Betriebsgelände gehört. Es sind Autos mit lokalen Kennzeichen und Kennzeichen aus dem Umland davor geparkt. Hinter den Fenstern des Gebäudekomplexes sind Menschen in steriler weißer Kleidung zu sehen – kaum zu erkennen als Frauen oder Männer –, die an großen Maschinen in einer laborartigen Umgebung arbeiten. Der Haupteingang ist unauffällig. Die Eingangshalle ist schlicht ausgestattet. Hinter dem Empfangstresen steht eine Mitarbeiterin, die Besuchern/innen weiter hilft. Auf einem Infoständer liegen Unternehmensbroschüren aus, und in kleinen Glasvitrinen sind Produkte der Firma ausgestellt. Eine Treppe führt von der Eingangshalle in die Büros der Chefetage und ein Durchgang in ein weiteres Gebäudeteil, das von Mitarbeitern unterschiedlichen Alters (vor allem Männern
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jüngerer und mittlerer Jahrgänge) frequentiert wird. Die Halle ist je nach Tageszeit unterschiedlich belebt. Während unserer Besuche befindet sich die Eingangs- und Empfangshalle des Unternehmens im Umbau. Am letzten Tag der Beobachtungen werden die kleinen Vitrinen durch imposant wirkende Vitrinenschränke ersetzt und ein repräsentativer Empfangstresen eingebaut. Hierin zeigt sich symbolisch, was wir bereits im Interview erfuhren: Das Unternehmen wächst (fassbar in den vielen Einstellungen) und sucht nach einem neuen Profil. Der „zu groß gewordene Handwerksbetrieb“ will durch einen neuen Auftritt stärker an die Öffentlichkeit treten. OPTIC will aus dem „Schattendasein“ eines Unternehmens in der „zweiten Reihe“ heraustreten, dessen Produkte in vielen Haushaltsmarkengeräten verarbeitet sind, die aber namentlich nicht bekannt sind. So wird sich voraussichtlich in Zukunft, die Selbstdarstellung und damit die Öffentlichkeitsarbeit der Firma verändern, wie Herr Jensen in einem Gespräch mit einer der Kandidatinnen erzählt. Da der Empfang vor diesem Hintergrund in Zukunft länger besetzt werden soll (was aus der Anzeige nicht hervorgeht), werden nun zwei zeitlich sehr flexible Personen gesucht. Die Sekretärin/Assistentin der Geschäftsleitung wird in einem der höheren Stockwerke zusammen mit einer zweiten Sekretärin im Büro der Geschäftsleitung für vier Personen tätig sein. Die Vorstellungsgespräche finden in einem kleinen Konferenzraum in einem nur mit Chipkarte zugänglichen Bereich statt. Der Ablauf der Einstellungsgespräche folgt einer festen Struktur: Die Kandidatinnen werden an der Rezeption abgeholt. Auf dem Weg zum Konferenzraum erläutert der Personalleiter den Kandidatinnen die Anwesenheit der wissenschaftlichen Beobachterin und holt zumeist schon auf dem Weg oder bei der Begrüßung der Beobachterin ihre Einwilligung ein. Während die Kandidatinnen sich der Beobachterin gegenüber setzen, werden ihnen vom Personalleiter Getränke angeboten. Er sagt einige einführende Worte zum Ablauf des Gesprächs. Dann erfragt er, was die Kandidatinnen über das Unternehmen wissen. Alle geben an, dass sie im Internet nachgesehen haben und schildern ihre Eindrücke. Dies sind die Anknüpfungspunkte für den Personalleiter, um seinerseits das Unternehmen vorzustellen. Der Personalleiter verwendet im Gespräch ein Vorgehen, das in anderen Gesprächssituationen „joining und leading“ genannt wird. D.h., er holt die Kandidatinnen bei ihrem Wissensstand zum Unternehmen ab und übernimmt dann die Gesprächsführung. Dabei geht er auf die Vorgaben der Kandidatinnen und ihren beruflichen Hintergrund ein, so dass seine Informationen zum Unternehmen variieren. Seine eigenen Erwartungen an die Kandidatinnen spielen in seinen Darstellungen ebenfalls eine Rolle. Oftmals liefert er eine sehr „technische“ Vorstellung der Produkte, die den Eindruck erweckt, dass er die Kandidatinnen testen will. Zwar handelt es sich um keinen bewussten Test, sondern eher um einen gängigen Kommunikationsstil, der die Kandidatinnen einladen soll „einzusteigen“, wie Herr Jensen im Feedback-Gespräch einige Wochen später
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bestätigt. Denn ihm sei wichtig zu vermitteln, „was heißt es, sich für OPTIC zu entscheiden“. Er sieht seine Aufgabe nicht nur darin, geeignete Bewerber/innen auf dem Arbeitsmarkt zu finden, sondern diesen auch das Unternehmen nahe zu bringen und herausfinden, ob es ihnen gefällt. Die „technische“ Beschreibung sei von daher wichtig! Es handelt sich also um keine bewusste Strategie, aber gewissermaßen um ein unbewusstes „Screening“ im Unternehmensinteresse. Mit seiner Form der Darstellung gewährt er einen Einblick ins Unternehmen, bevor er die Kandidatinnen um ihre Selbstdarstellung (Motivation etc.) bittet. Die Kandidatinnen haben zwischendurch die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Er fragt nach bestimmten beruflichen Ereignissen, persönlichen Situationen, Wohnort oder der Wunscharbeitszeit. Erst am Schluss des Gesprächs geht es dann um Gehaltsvorstellungen und die zeitliche Flexibilität der Kandidatinnen einschließlich des möglichen Arbeitsbeginns. Die Gespräche dauern jeweils ca. 30 Minuten. Der Ablauf der Gespräche ähnelt einander strukturell, ist jedoch jeweils inhaltlich sehr unterschiedlich gefüllt.
Die Kandidatinnen im Vorstellungsgespräch Im Folgenden werden die Vorstellungsgespräche vor dem Hintergrund, wie mit „Alter“ im Einstellungsprozess umgegangen wird, beschrieben und interpretiert. Es werden Zitate und Auszüge aus den Beobachtungsnotizen mit einbezogen. Die Vorstellungsgespräche mit den als Testballon „etikettierten“ Berufsanfängerinnen werden zusammengefasst, während die Vorstellungsgespräche mit den anderen Kandidatinnen einzeln aufgeführt sind, um jeweils andere Aspekte herauszustellen. Alter im Vorstellungsgespräch: Die Berufsanfängerinnen „sind relativ jung“ Es war möglich, Einblicke in einige Bewerbungsunterlagen der eingeladenen Kandidatinnen zu erhalten. Bereits im Bewerbungsanschreiben der Anfang 20jährigen Frau Hell (1985) wird Alter direkt thematisiert: Suchen Sie eine junge lebensfrohe Mitarbeiterin für Ihr Unternehmen, die ihre Anforderungen als Herausforderung und nicht als Problem sieht? Dann ist Ihre Suche hier beendet! (Auszug Anschreiben Kandidatin Hell) Im Vorstellungsgespräch greift der Personalleiter dies auf: „Sie sind ja noch sehr jung“, aber er möchte wissen, was sie bisher gemacht habe? (Protokoll Vorstellungsgespräch 2. Tag) Während Frau Hell auf die Anspielung ihres Alters nicht eingeht, reagiert Frau Bela (1986) offensiv, als sie von Herrn Jensen im Vorstellungsgespräch ähnlich direkt auf ihr Alter angesprochen wird: … sie sind relativ jung, was sind ihre Erfahrungen in der Ausbildung, was ist die Motivation, was wann und wie zu tun … (Protokoll Vorstellungsgespräch 1. Tag)
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Darauf erwidert Frau Bela: Ich bin jetzt 21 Jahre. Dann beschreibt sie ihren schulischen Werdegang, warum sie die Schule abgebrochen und kein Abitur gemacht und dann 2004 ihre Ausbildung angefangen habe. Der Personalleiter reagiert auf den Schulabbruch: Sie hätten auch die Schule wechseln können. Auf diese kritische Nachfrage kontert Frau Bela: Das stimmt, aber sie wissen ja, wie man ist mit 17. … ich wollte gehen, wollte eine Ausbildung machen … es hätte auch schief gehen können, aber ich stehe dazu, dass ich es gemacht habe. Sie nimmt dabei nicht nur Bezug auf ihr Alter, sondern auch auf ein gängiges Altersbild, das sich mit „jung sein“ verbindet: Nämlich, dass emotionale „Kurzschlussreaktionen“ zum „Jungsein“ gehören und Erfahrungen und Einsichten erst noch gesammelt werden. Damit sagt sie auch etwas über ihren bereits durchlaufenen Prozess des Alter(n)s. Sie ist sich offenbar ihres Alters und des damit im Vorstellungsgespräch möglicherweise verbundenen Nachteils als Berufsanfängerin durchaus bewusst. Am Ende des Vorstellungsgesprächs gibt Herr Jensen Frau Bela das Feedback (in anderen Gesprächen sonst unüblich), dass ihm ihr Standing, wie er es nennt, gut gefallen habe. Er müsse ihr ein Kompliment machen, sie habe sich gut geschlagen, weil sie nicht soviel Erfahrung habe. Das heißt, „jung“ wird hier durch den Personalleiter – trotz des positiven Feedbacks – eindeutig mit „wenig Erfahrung haben“ konnotiert. Es zeigt sich also, dass das Alter sowohl von den Berufsanfängerinnen als auch vom Personalleiter direkt und offensiv thematisiert wurde. Es spielt demnach eine Rolle, wenn auch nicht die entscheidende. Es existiert ein Altersbild „jung und nicht so viel Erfahrung“, aber es stellt kein Ausschlusskriterium dar, denn beide erwähnten Kandidatinnen blieben für die Stelle der Empfangssekretärin lange im Rennen (Information aus dem Feedback-Gespräch mit dem Personalleiter November 2007). Auch die dritte Berufsanfängerin, Frau Motsch (1986), kündigt der Personalleiter als weitere sehr junge Absolventin an. Im Vorstellungsgespräch wird das Alter interessanterweise jedoch nicht thematisiert. Stattdessen rückt eine Verhaltensweise der Kandidatin ins Blickfeld und wird zum Ausschlusskriterium: Denn nach der Begrüßung zieht Frau Motsch ihre Jacke aus. Sie trägt ein Spagettiträger-Top auf nackter Haut. Auf die Frage, was sie schon über das Unternehmen wisse, antwortet Frau Motsch, dass eine Freundin von ihr als Azubi hier arbeite, die ihr etwas über das Betriebsklima erzählt habe, und sie außerdem im Internet nachgeschaut habe. Der Personalleiter kennt die Azubi. Er stellt den Inhaber und die Firma wieder hauptsächlich anhand der Produkte vor und erklärt, dass zwei Stellen zu besetzen sind. Es ist an sich nicht ungewöhnlich, dass der Personalleiter Kandidatinnen, die sich auf die Stelle der Sekretärin/Assistentin der Geschäftsführung beworben haben, die Stelle der Empfangssekretärin anbietet, wenn er der Ansicht ist, dass sie eher dafür in Frage kommen, zumal Frau Motsch im Gegensatz zu den
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anderen Kandidatinnen nicht verhehlt, dass sie keine Vorstellung von der Tätigkeit einer Sekretärin/Assistentin der Geschäftsführung hat. Im Anschluss an das Vorstellungsgespräch moniert der Personalleiter jedoch nicht das Erfahrungsdefizit von Frau Motsch, sondern ihre Kleidung. Das Spagettiträger-Top auf nackter Haut sei ein Faux pas, den er als Todsünde bezeichnet. Es ist eindeutig das Ausschlusskriterium für die zweite Runde. Auch hier trifft in gewissem Sinne das Altersbild „jung und nicht so viel Erfahrung“ zu, das Frau Bela unterlaufen hat. Denn die durchaus altergemäße Klei-dung, durch die sich Frau Motsch disqualifiziert hat, ließe sich auch ihrem Alter zuschreiben. Das passiert jedoch nicht, denn Alter darf offiziell kein Ausschlusskriterium sein. Alters- und Frauenbilder: Frau Andres (1970), „sie würden sich lieben“ Frau Andres (1970) hat sich auf die Stelle der Sekretärin/Assistentin der Geschäftsführung beworben. Sie wurde schon im Vorfeld als „high profile“Kandi-datin angekündigt, u.a. weil sie zum Zeitpunkt des Vorstellungsgesprächs noch bei einem prestigereichen Pharmakonzern angestellt ist. Den Bewerbungsunterlagen zufolge arbeitete Frau Andres seit 1991 in der Firma, zunächst als Phonotypistin und seit 1995 im Bereich Medizin/Marketing. Sie ist ledig und hat eine 7-jährige Tochter. Weitergebildet hat sie sich in Business-Englisch. Die Bewerbungsmappe enthält ein Modellfoto, das sich aber in der Realität so nicht bestätigt. 11 Allerdings hat Frau Andres eine gepflegte weibliche Erscheinung: Sie trägt einen dunkelblauen Hosenanzug, ist geschminkt und hat auffällig dekorierte Fingernägel. Obwohl Frau Andres ruhig und konzentriert auf die Fragen antwortet, macht sie einen angespannten Eindruck. Möglicherweise belastet sie die momentane Situation in ihrem Unternehmen und die mit der Firmenfusion bevorstehende Entlassung, denn sie schildert diese Situation als Tiefschlag in ihrem Berufsleben. Aufgrund ihrer familiären Situation (ihre Eltern betreuen ihre Tochter, während sie arbeitet) kommt für sie kein Umzug mit dem Unternehmen in eine andere Stadt in Frage. Daher hat sie sich bei OPTIC beworben. Neben den negativen (Tiefschlag) nach positiven (herausragenden) Erfahrungen gefragt, führt Frau Andres ihre Beteiligung an einer Produkteinführung an. Sie beantwortet also diese zentrale Frage in einer Art und Weise, in der sie nie allein verantwortlich ist: Bei den negativen Erfahrungen ist sie unverschuldet betroffen, bei den positiven unterstützend an ihnen beteiligt. Das Gespräch folgt ansonsten den strukturellen und inhaltlichen Regeln, auch wenn sich von Anfang an der vom Personalleiter eingeschätzte hohe Status 11
Darauf später angesprochen, meint der Personalleiter, dass er das oft genug erlebt hat und deshalb Fotos für ihn keine wesentliche Rolle spielen und ihm Eindrücke über Telefonate wichtiger sind.
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in der Gesprächsführung und in den Antworten von Frau Andres niederschlägt. So kann sie beispielsweise nach ihrem Wissen zu OPTIC befragt, sofort eine Verbindung zwischen den optischen Geräten und ihrem Wissen im Bereich der Biotechnologie herstellen. Vor diesem Hintergrund beschreibt Herr Jensen recht offen den 66-jährigen Firmeninhaber als agilen, aber „konservativen“ Chef, der sich nicht mehr mit der neuesten Bürotechnik und Kommunikation anfreunden werde. So charakterisiert er sehr plastisch den Arbeitsplatz und die anstehenden Aufgaben. Er ist sich der Unterschiede zu ihrem jetzigen Berufsumfeld und Unternehmen bewusst. Aber indem er stets Struktur und Systematik von OPTIC als KMU mit ihrem großen Herkunftskonzern vergleicht, wirbt Herr Jensen trotz allem um die Kandidatin. Als Herr Jensen schließlich Frau Andres bittet zu beschreiben, was sie gemacht habe und was ihre Motivation sei, beginnt sie ihre Vorstellung als einzige der älteren Kandidatinnen mit dem Alter: Sie sei 37 Jahre und habe eine Tochter von 7 Jahren. Seit über 6 Jahren sei sie im Pharmakonzern Deutschland in der Business Unit XXX tätig. Sie betreue drei Mediziner und einen Produktmanager, sei zuständig für Mailings, Kundenkontakt und betreue Datenbanken. Sie habe bei der Produkteinführung mitgearbeitet. (Protokoll Vorstellungsgespräch 1.Tag) Sie greift in ihrer Selbstdarstellung auf bekannte Informationen aus ihrer schriftlichen Bewerbung zurück. Mit ihrem Alter und der Erwähnung ihrer 7jährigen Tochter verweist sie explizit auf ihre Erfahrung als Mutter. Diese Betreuungskompetenz überträgt sie auch auf ihr Berufsleben, denn auch da betreue sie seit über 6 Jahren. Das Alter in dieser Form zu thematisieren, hat offenbar bei Frau Andres eine völlig andere Bedeutung als bei den Berufsanfängerinnen. Auch Frau Andres benutzt Altersbilder, aber sie werden positiv besetzt, denn sie unterstreichen Erfahrung und Kompetenz in doppelter Hinsicht. Darüber hinaus korrespondieren das vom Personalleiter gezeichnete Bild des Chefs und das „betreuende“ Bild, das sie von sich kreiert. Frau Andres verkörpert eine „traditionelle“ Frauenrolle: Sie steuert zwar selbst nicht die Prozesse, trägt aber durch die unterstützende bzw. „betreuende“ Funktion positiv dazu bei. Diese Haltung spiegelt sich exemplarisch in ihren Antworten zu den negativen (Tiefschlag) und positiven (herausragenden) Erfahrungen in ihrem Berufsleben. Einerseits stellt sie sich als im positiven Sinne unterstützend dar, andererseits ist sie im negativen Sinne von der Unternehmensentwicklung betroffen. Das Unternehmen als „pater familias“ kann ihr keine weitere Existenzsicherung bieten. Sie spricht damit indirekt eine gewisse Schutzbedürftigkeit an. Es ist zu vermuten, dass dies geradezu ideal mit den „konservativen“ Werten und Vorstellungen von Männlichkeit seitens des Firmeninhabers bei OPTIC korrespondiert. Mit anderen Worten: Sie vermittelt ein Selbstverständnis für die Position der Sekretärin/Assistentin der Geschäftsfüh-
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rung, das sich bei anderen Kandidatinnen nicht finden lässt. Darüber hinaus präsentiert sich Frau Andres auch im weiteren Verlauf des Gesprächs als kompetent und erfahren, z.B. bezüglich SAP, das bei OPTIC gerade eingeführt wurde, und im Hinblick auf die Korrespondenzführung. Das hohe Prestige ihres derzeitigen Arbeitgebers steigert die Wirkung ihrer Qualifikation. Diesen Effekt kann sie geschickt für ihre (Vertrags-)Verhandlungen nutzen. Im folgenden informellen Gespräch führt der Personalleiter aus, welche Bedeutung aus seiner Sicht diese Position im Unternehmen hat und wie sich dies finanziell manifestiert. Auch wenn Herr Jensen das Erscheinungsbild dieser Kandidatin als etwas zu schrill empfindet, ist er doch der Ansicht, dass Frau Andres und der Chef eine gemeinsame Basis finden würden, oder wie er es formuliert: Sie würden sich lieben. Mit den von Frau Andres im Vorstellungsgespräch kommunizierten Altersbildern geht der Personalleiter konform. Frau Andres verknüpft zudem diese Altersbilder mit einem bestimmten Frauenbild, das wiederum auf das entsprechende Männerbild im Unternehmen trifft. Offenbar kann sie insbesondere über dieses Frauenbild ein Selbstverständnis ihrer Rolle als Sekretärin/Assistentin der Geschäftsleitung transportieren, das einen Nerv im Unternehmen trifft. Es sind also nicht nur Altersbilder, sondern auch Frauen- bzw. Männerbilder, die als Subtext kommuniziert werden und in die Auswahl der Kandidatinnen mit einfließen. Der richtige Stil: Frau Brimm (1979) „passt optisch am besten“ Frau Brimm (1979) hat sich auf die Stelle der Sekretärin/Assistentin der Geschäftsleitung beworben und trägt zum Vorstellungsgespräch ein dunkelblaues Kostüm. Sie ist ungeschminkt und hat ein natürliches Auftreten. In ihrer Selbstdarstellung sticht Frau Brimms hohe Sprachkompetenz als Fremdsprachensekretärin hervor. Ihre jetzige Tätigkeit im Hotel umfasst unterschiedliche Bereiche, wie den Empfang, die Buchhaltung und das Büro. Auf die Frage nach ihren Wunscharbeitszeiten erhält der Personalleiter folgende Antwort: Wenn es nicht mehr als 11 Stunden sind, sind mir alle Arbeitszeiten recht. Frau Brimms Erfahrungen am Hotelempfang, ihre sprachliche Kompetenz und hohe Flexibilität – vor allem auch im Hinblick auf die Arbeitszeiten –, lassen sie in den Augen des Personalleiters für die Stelle der Empfangssekretärin (im Ausschreibungstext steht explizit „Ausbildung vorzugsweise im Hotelbereich“) interessant werden. Daher erklärt ihr Herr Jensen im Gespräch umgehend, dass zwei Stellen ausgeschrieben seien und nivelliert eindeutig die aus den Ausschreibungen hervorgehenden Unterschiede der Stellen. Er versucht sie für die Stelle der Empfangssekretärin zu gewinnen und überzeugt sie schließlich mit dem Argument, dass ihre Sprachkompetenz dort besonders gebraucht wird. Die Reaktion des Personalleiters auf Frau Brimm im anschließenden informellen Gespräch deutet auf einen wichtigen Aspekt der Auswahl hin. Dort sagt er spontan zu dieser Kandidatin: Rein optisch passt sie am besten hier rein. Sie
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hat einen eher gediegenen, hanseatischen Kleidungsstil. Sie ist vom Typ weiblich, aber nicht aufgetakelt, und wirkt standfest. Vor allem überzeugen aber noch andere „passende“ Aspekte, wie ihre Erfahrungen im Hotelbereich, denn die Firma habe bereits positive Erfahrungen mit Leuten aus dem Hotelgewerbe gemacht. Über Kandidatin Brimm sagt er, sie sei „tough“ und „leidensfähig“ (wie andere aus der Hotelbranche) und sie sei klar strukturiert und eindeutig eine Kandidatin für die zweite Runde, allerdings im Service, er sehe sie für „hier unten“ als Empfangssekretärin. (Protokoll Vorstellungsgespräch 1.Tag) Die Bedeutung des Kriteriums „passend“ wird hier erstmals eingeführt. Was bedeutet „passend“? Wofür ist es ein Kode? Für ihre Persönlichkeit, ein körperliches Erscheinungsbild, ein Frauenbild, Kleidung, Stil, Umgang, Eigenschaften? Für ihren positiven Berufs-Stereotyp? Das Alter wird in diesem Vorstellungsgespräch weder von der Kandidatin noch von dem Personalleiter angesprochen. Im Gegensatz zu der Gruppe der Berufsanfängerinnen wurden die übrigen Kandidatinnen nicht etikettiert. Es sind aber anhand dieses und des vorherigen Falls weitere Interpretationen mit den Analysekategorien Alter und Gender denkbar. Dies wird jedoch hier nicht weiter exploriert. Als relevant wird festgehalten, dass „passend“ ein positives Auswahlkriterium für Frau Brimm ist. Frau Süß (1979): „Super Bewerbung – enttäuschende Vorstellung“ Frau Süß (1979) hat nach Einschätzung des Personalleiters eine „super“ Bewerbung eingereicht und ist mit ihren Erfahrungen eine der Spitzenkandidatinnen für die Stelle der Sekretärin/Assistentin der Geschäftsführung. Aus den Bewerbungsunterlagen geht hervor, dass sie Kauffrau für Bürokommunikation ist, eine Weiterbildung zur Fremdsprachensekretärin absolviert hat und bereits vier Jahre klassische Sekretariats-Aufgaben übernommen hat. Ihre optische Präsentation – sie trägt ein graues Kostüm – und die Umgangsformen von Frau Süß sind auf den ersten Blick korrekt und ansprechend. Herr Jensen präsentiert in diesem Vorstellungsgespräch die Firma besonders ausführlich, was möglicherweise auf seine Erwartungen an die Bewerberin zurückzuführen ist. Diese Erwartungen hat sie aus seiner Sicht in ihrer Selbstdarstellung nicht erfüllen können. Nach dem Vorstellungsgespräch resümiert der Personalleiter, dass er das Gespräch enttäuschend fand. Ihm habe nicht gefallen, dass sie keine Frage klar beantwortet und ihren Lebenslauf nicht chronologisch, sondern von hinten begonnen habe. Der Vorwurf, sie sei seiner Strukturvorgabe nicht folgt, trifft jedoch nicht eindeutig zu, denn sie hat sich an seiner Fragestellung nach ihren Erfahrungen, Motivation, jetzt was Neues zu machen orientiert. Im informellen Gespräch mit Herrn Jensen im Anschluss an das Vorstellungsgespräch wird von der Beobachterin die Frage nach der Passfähigkeit gestellt. Beobachterin: Ob sie ins Unternehmen passe? Jensen: Sie käme dort oben klar, sie suchen Leute, die eigene Ideen entwickeln, das habe OPTIC vo-
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rangebracht. Herr Jensen beantwortet die Frage nach Frau Süß’ Passfähigkeit ausweichend und widersprüchlich und vermeidet das Wort „passend“. Obwohl sie sich einfügen könne, spricht er ihr ab, dass sie der richtige „Typus“ für OPTIC sei. Es ist etwas in ihrer Art der Kommunikation, mit dem er nicht klar kommt. Es lässt ihn ihre Selbstdarstellung in negativer Weise interpretieren, obwohl er ihre Qualifikation für die Stelle nicht anzweifelt. Er unterstellt ihr mehr Schein als Sein, dass sie etwas Eigenes machen wolle. Möglicherweise sind die Ideen, die sie entwickelt, zu sehr auf ihre Person und zu wenig auf das Unternehmen ausgerichtet. Sie hatte beispielsweise darüber gesprochen, dass sie nebenbei studieren wolle. Sie ist in dem Sinne keine typische Sekretärin, sondern eher eine Assistentin. Eigentlich haben sie die auch gesucht, heißt es, aber das Bild der unabhängig agierenden Assistentin steht im Widerspruch zu dem Bild der „betreuend unterstützenden“ Sekretärin des Chefs. Es sind nicht nur die speziellen sozialen Kompetenzen einer Chef-Sekretärin im Umgang mit dem Chef, sondern auch die Nähe zum Zentrum der Macht, die ihrer Position Bedeutung verleiht und ihr damit eine exponierte Stellung im Machtgefüge des Unternehmens gibt. Das zeige sich auch in der Entlohnung, die bisweilen besser sei als die eines Vertriebsleiters, wie Herr Jensen anmerkt. Damit richtet er die Aufmerksamkeit auf einen weiteren Aspekt, der neben den objektiven Kriterien für die Auswahl der Kandidatinnen relevant war: Vermutlich hat er Kandidatinnen eingeladen, die nicht nur von der „Chefetage“ akzeptiert werden, sondern sich auch in seinen Arbeitsbereich einpassen und mit denen er persönlich zurechtkommt. Wie sein Exkurs über die Position der Chefsekretärin andeutet, spielen bei der Auswahl einer Person für die Sekretärin/Assistentin der Geschäftsführung auch Hierarchien im Unternehmen eine Rolle: eine bisher vollkommen vernachlässigte Frage im Zusammenhang mit der Analyse von Einstellungsprozessen. Frau Voss (1970): „Zurückhaltende Souveränität, die super hierher passt“ Frau Voss (1970) hat sich als Empfangssekretärin beworben. Ihren Bewerbungsunterlagen ist zu entnehmen, dass sie ihr Abitur in Belgien gemacht und dort auch eine Ausbildung zur Hostess für Empfang und Tourismus absolviert hat. Niederländisch ist ihre Muttersprache. Darüber hinaus spricht sie Deutsch, Englisch, Französisch und hat Grundkenntnisse in Spanisch. Sie hat jahrelange Erfahrungen als Empfangssekretärin und arbeitet zur Zeit ihrer Bewerbung im Tourismusbereich. Sie ist verheiratet und hat Kinder. Das Vorstellungsgespräch beginnt mit einem Austausch darüber, wieso es erst verspätet zustande kam. Aufgrund von Problemen mit Spam-Mail hatte Herr Jensen Frau Voss’ Bewerbung nicht erhalten, was erst durch ihre Nachfrage offenbar wurde. So hatten beide bereits im Vorfeld miteinander kommuniziert, was die Gesprächsituation offenbar entspannte. Frau Voss wirkt im Gespräch unauffällig weiblich, freundlich und spricht akzentfrei Deutsch.
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Wie alle Kandidatinnen hat sie eine sehr individuelle Art, ihre Wahrnehmung des Internetauftritts von OPTIC mit ihrer Biografie und ihren Erfahrungen zu verknüpfen. Ihr fällt auf, dass es eigentlich ein recht großer Betrieb ist, aber auch ein Familienbetrieb. Ihre Biografie ist stärker durch ihre Familien- als ihre Berufsbiografie geprägt. So folgte sie ihrem deutschen Mann von Belgien nach Berlin. Sie hat zwei Kinder (5 und 10 Jahre) und sich bisher vor allem um die Familie gekümmert. Vielleicht ist es die Priorität der Familie, die ihre Wahrnehmung dahingehend geschärft hat, unter der Oberfläche des expandierenden KMU noch den Familienbetrieb zu erkennen, in dem die Nachfolge des Firmeninhabers durch den Sohn gesichert ist. Diese Wahrnehmung des Betriebes spricht den Personalleiter an und animiert ihn, nicht nur von der Unternehmensgeschichte und den familiären Strukturen zu erzählen, sondern der Kandidatin weiterhin anzuvertrauen, dass die Firma einen Kulturwechsel durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit plant. In seinem Exkurs zur Gründungsgeschichte spricht Herr Jensen auch die alte optische Technologie an, die der Firmengründer einst vertrieb, und meint zur Kandidatin gewandt: Sie wissen das noch. Auch die Beobachterin bezieht er mit dem Kommentar ein: Frau Hell (die „junge“ Kandidatin aus dem Gespräch zuvor) hätte es sicher nicht gewusst. (Protokoll Vorstellungsgespräch 2.Tag) Damit schafft der Personalleiter einerseits eine vertrauliche Situation zwischen den drei anwesenden Personen, andererseits spricht er indirekt das Alter und damit ein Altersbild an. Was will er damit sagen? Sucht er eine Bestätigung seines Altersbildes – nämlich dass sich ein bestimmtes Alter mit einem bestimmten „technischen Wissen“ oder „einer Erfahrung“ assoziieren lässt? Es bleibt offen, ob Frau Voss diese Technik wirklich so geläufig ist, wie ihr „positiv“ unterstellt wird. Es kann aber festgehalten werden, dass Altersbilder den Verlauf des Vorstellungsgesprächs durchziehen, selbst wenn es im Gespräch um die Produkte der Firma geht. Vermutlich beeinflusst durch die „positive“ Einschätzung der Kandidatin, schildert der Personalleiter viel detailreicher als sonst die einzelnen Bereiche des Unternehmens (z.B. den Einkauf), die Standorte, die Kunden (vor allem einen großen Kunden aus den Niederlanden). Um einen Eindruck von dem Arbeitsplatz und -aufgaben der Empfangssekretärin zu vermitteln, holt er weit aus und erklärt die internen Veränderungen, die dazu geführt haben, dass die Stelle mit zwei Personen besetzt wird, um die Aufgaben zu erfüllen, die aus unserer Sicht anspruchsvoll sind. Auf seine Aussage, in der Funktion müsse man die technischen Begriffe kennen, reagiert sie indirekt, indem sie ihre jetzigen Tätigkeiten als stellvertretende Reservierungsleiterin schildert. Es wird deutlich, dass sie ihre Kompetenzen genau kennt und sich unbekannte Gebiete zu erschließen weiß. Sie stellt überzeugend dar, dass sie sich zutraut, alles andere zu erlernen (kann man lernen). Darauf reagiert der Personalleiter mit dem Satz: Wir sind Profis im Thema Einarbeitung, weil wir so viele eingestellt haben in den letzten Jahren.
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Nach dem Vorstellungsgespräch meint der Personalleiter, Frau Voss sei optisch passend, aber auch von den Umgangsformen her. Sie seien ein konservatives Unternehmen, und Frau Voss habe eine zurückhaltende Souveränität, die super hierher passt. Sie ist attraktiv für die Firma, weil sie einerseits souverän auftritt und andererseits versteht, sich unterzuordnen. Das korrespondiere ideal mit dem „In der zweiten Reihe stehen“-Image der Firma. Unsicher ist Herrn Jensen nur, ob Frau Voss ihre Funktion als „Familienmanagerin“ mit den zeitlichen Anforderungen der Stelle vereinbaren kann. Obwohl Frau Voss mehrfach im Gespräch versichert hat, dass die Organisation der Kinderbetreuung kein Problem sei, sorge (er) sich um ihre Flexibilität wegen der Kinderbetreuung, aber er habe sie gefragt und sie habe es gemanagt. Es bleibt festzuhalten, dass auch bei dieser Kandidatin „passend“ ein entscheidendes Kriterium ist. Frau Karb (1958): „Passt nicht so gut ins Unternehmen“ Frau Karb (1958) ist mit Abstand die älteste Bewerberin auf die Stelle der Sekretärin/Assistentin der Geschäftsführung. In ihrem Anschreiben betont sie ihre Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Herausforderungen und schnelle Auffassungsgabe, ihr Organisationstalent und umfangreiches Allgemeinwissen sowie ihre Teamfähigkeit und ihr Durchsetzungsvermögen. Im Lebenslauf schildert Frau Karb ihre 25-jährige Berufspraxis mit verschiedenen Schwerpunkten, die sie als studierte Dolmetscherin in der DDR begann. Ihr Kleidungsstil unterscheidet sich nicht von dem der anderen Kandidatinnen. Sie trägt einen schlichten dunkelblauen Hosenanzug und ist dezent geschminkt. Allerdings zeigt sich schon im einleitenden Vorstellungsgespräch, in dem die Kandidatinnen zum Unternehmensprofil befragt werden, dass sie „technisch“ interessiert und versiert ist. So nimmt Frau Karb im Gegensatz zu den anderen Kandidatinnen Bezug auf den Firmenauftritt im Internet: Der Halbleiterschwerpunkt in der Darstellung habe ihr abgefallen … sie kenne auch die xxx-Kamera bereits… (Protokoll Vorstellungsgespräch 2.Tag). Sie hat sich also eindeutig mit OPTIC und seinen technischen Produkten auseinandergesetzt, was Herr Jensen sofort erkennt, ohne darauf weiter einzugehen. Dies ist ein Schlüsselmoment zu Beginn des Vorstellungsgesprächs, denn es zeigt, dass er sich nicht auf diese Kandidatin einstellt. Möglicherweise passt ihr technisches Know-how nicht zum konservativ gefärbten „Frauen- und Männerbild“ der Firma für diese Stelle. Für ihre Selbstdarstellung benötigt Frau Karb länger, da sie gebeten wird, ihre Berufsbiographie zu erzählen. Wie schon aus ihrem Lebenslauf deutlich wurde, hat sie ein vielseitiges Berufsleben einschließlich einer erfolgreichen Wende-Biographie vorzuweisen. Ihre jetzige Position in einem Familienunternehmen, die sie aufgrund der Auflösung ihrer Abteilung verlassen muss, zeichnet sich durch relativ große Entscheidungsspielräume aus mit umfangreichen organisatorischen Tätigkeiten. Auf Frau Karbs Bemerkung, sie vermute bei
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OPTIC ein ähnliches Tätigkeitsfeld, geht Herrn Jensen nicht weiter ein. Stattdessen diskutiert er ausführlich mit ihr die derzeitige Situation bei der Arbeitssuche, bevor er weitere Fragen zu ihren Sprachkenntnissen stellt und das Gespräch sich wieder auf die ausgeschriebene Stelle konzentriert. Mit dieser kleinen Episode stellt Herr Jensen klar, dass nicht Frau Karb, sondern er das Gespräch lenkt. Denn erst nach seinem „Exkurs“ kann Frau Karb wieder Fragen zum genauen Tätigkeitsfeld loswerden. Insofern wundert es nicht, dass Herr Jensen sich im anschließenden informellen Gespräch kritisch äußert: Frau Karb passt nicht so gut ins Unternehmen, denn der Chef hört sich lieber selber reden und sie auch. Dass Frau Karb bei der Darstellung ihres Berufslebens länger ausgeholt hat, lag nicht zuletzt an den unspezifischen Vorgaben des Personalleiters, aber es wird ihr nachteilig ausgelegt. Dabei wird ihre Qualifikation und Kompetenz nicht im Geringsten angezweifelt. Trotzdem bezeichnet Herr Jensen sie als unpassend. Frau Karbs Alter von 49 Jahren wird im Gespräch mit keinem Wort thematisiert. Weder die Kandidatin selbst noch der Personalleiter beziehen sich auf Altersbilder, wie es in den vorherigen Vorstellungsgesprächen beobachtet werden konnte. Dennoch sind indirekte Bezüge auf das Alter zu finden: So berücksichtigt der Personalleiter mit seiner Aufforderung, die Erwerbsbiographie chronologisch darzustellen, nicht die langjährigen wechselnden Berufserfahrungen der Kandidatin, die ein gezieltes Nachfragen verlangen würden. Insofern ist es denkbar, dass Frau Karb als Alibi-Kandidatin eingeladen worden ist, denn der Altersunterschied zwischen ihr und den nächst jüngeren Kandidatinnen beträgt über zehn Jahre. Durch ihre engagierte Auseinandersetzung mit dem Unternehmen und seinen Produkten, erweist sich die Kandidatin als eine kompetente und souveräne Frau. Dies kann positiv oder negativ bewertet werden. Auf Seiten Herrn Jensens hat der Wille gefehlt, sich mit ihrer reifen Persönlichkeit auseinanderzusetzen. Zudem passt Frau Karbs Souveränität aus Sicht des Personalleiters nicht unbedingt zu einer Position, wo Ebenbürtigkeit nicht gefragt ist, weil der Chef ... sich lieber selber reden hört – und sie auch. Wir wissen nicht definitiv, ob dies die Meinung des Chefs ist. Vielleicht vertritt der Personalleiter auch seine eigenen Interessen, die letztlich immer auch Machtinteressen sind. Denn die Einstellung einer „Chefsekretärin“ greift in das Machtgefüge im Unternehmen ein. Wenn Machtverhältnisse aber eine Rolle spielen, wie ist es dann um die Einstellung einer älteren Kandidatin bestellt? Welche Chancen haben „Ältere“ als „passend“ eingestuft zu werden? Wie werden Alter, Macht und Passfähigkeit argumentativ verknüpft?
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5. Passfähigkeit als Metapher: Mechanismen im Auswahlprozess Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass „passend“ in den beobachteten Vorstellungsgesprächen eine enorme Bedeutung in der Einschätzung und Bewertung der Kandidatinnen ist. Es bleibt zu fragen: Was heißt „passend“ eigentlich? Die Argumentation, dass Persönlichkeitsmerkmale ein Auswahlkriterium sind, ist bekannt. „Der neue Mitarbeiter soll nicht nur für die Aufgabe, sondern in den Betrieb passen“ (Koller & Gruber 2001: 482). Nach Untersuchungen werden 75% abgelehnt, weil sie nicht das richtige Qualifikationsprofil haben oder von der Persönlichkeit her nicht in den Betrieb passen (Stößel 2006: 9). Die Kernaussagen des Personalleiters von OPTIC zu den Kandidatinnen sind hier nochmals aufgelistet. Die Zitate sind entweder aus dem Vorstellungsgespräch oder den informellen Gesprächen mit der Beobachterin: Frau Bela Frau Andres Frau Brimm Frau Motsch Frau Süß Frau Hell Frau Voss Frau Karb
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„Sie sind relativ jung.“ „sie würden sich lieben“ „passt optisch am besten“ „Todsünde“ Bekleidung „super Bewerbung - enttäuschende Vorstellung“ „Sie sind ja noch sehr jung.“ „zurückhaltende Souveränität, die super hierher passt“ „passt nicht so gut ins Unternehmen“
Nur bei zwei der 20-jährigen Berufsanfängerinnen (Frau Bela, Frau Hell) wird das Alter direkt angesprochen (Ageism). Die dritte Berufsanfängerin (Frau Motsch) fällt durch einen bekleidungstechnischen Faux pas (Spagettiträger-Top) auf, der als „Todsünde“ bezeichnet wird. Bekleidung und Make-up spielen auch bei anderen Kandidatinnen eine Rolle, z.B. „etwas schrille“ Fingernägel oder „passt optisch am besten“ (gediegene Kleidung, die zum Chef passt). Nicht nur bezogen auf das Aussehen (Frau Brimm), sondern auch auf das Verhalten hin, wird eine Kandidatin als „passend“ bezeichnet, z.B. „zurückhaltende Souveränität, die super hierher passt“ (Frau Voss). Oder es wird zunächst eine unspezifische Einschätzung gegeben, wie sie passe „nicht so gut ins Unternehmen“ (Frau Karb), die erst später differenziert wird: „Der Chef hört sich lieber selber reden und sie auch“. Mit Ausnahme von Frau Süß, zu der eine Aussage „enttäuschend“ im Bezug auf die viel versprechende schriftliche Bewerbung getroffen wird, beziehen sich die Einschätzungen zu den Kandidatinnen entweder auf ihr Alter oder ihr Aussehen bzw. ihre Umgangsformen. Das Wort passend bezieht sich dabei sowohl auf ‚optische’ Attribute, wie Kleidung, Make-up etc., als auch auf Um-
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gangs- und Kommunikationsformen. Ein Phänomen, das möglicherweise eher mit „Lookism“ umschrieben werden kann. 12 Lookism werden gewisse strukturelle Parallelen zu anderen Diskriminierungsformen zugeschrieben. So werden zum Beispiel sowohl bei Sexismus, Rassismus, Ageism als auch bei Lookism Menschen unter anderem anhand ihrer körperlichen Merkmale (Körpergestalten und Kleidung) nach einem hierarchischen Prinzip beurteilt. Sie erhalten auf Grund dessen einen unterschiedlichen Status und/oder ihnen werden mit Werturteilen versehene Eigenschaften zugeschrieben. Der richtige Stil erhöht im Sinne des Lookism den Marktwert. Es finden sich also sowohl Lookism als auch Ageism in den Aussagen zu den Kandidatinnen. „Passend“ ist dabei kein objektives Auswahlkriterium. Es wird, wo es Zustimmung zu der Kandidatin signalisiert, zuweilen differenziert nach Aussehen und Umgangsformen eingebracht. Im negativen Fall wird es undifferenziert, aber diskriminierend benutzt. „Passend“ wird zu einer Metapher, die in ihrer übertragenen Bedeutung anzeigt, inwiefern die Kandidatin zum Chef, Personalleiter und zu den Mitarbeitern/innen „passt“. Sie steht sowohl für eine MannFrau-Beziehung als auch für ein Oben-Unten-Machtverhältnis. Um in die zweite Vorstellungsrunde für die Stellen der Sekretärin/Assistentin der Geschäftsführung und der Empfangssekretärin zu kommen, ist „passend“ zur entscheidenden Metapher des Personalleiters avanciert. Ergebnisse zu den Mechanismen im Auswahlprozess Die Metapher „passend“ rückt bei der Auswahl von Kandidatinnen in den Vordergrund. Sie wird als Kategorie höchst variabel eingesetzt, ist beliebig veränderbar und entzieht sich jeglicher objektiver Überprüfung. Sie vereint unterschiedliche Aspekte, ohne dass das Alter oder das Frauenbild benannt werden müssten. Der Personalleiter thematisiert das Alter im Vorstellungsgespräch nur bei „jungen“ Kandidatinnen. Auch bei der Vorauswahl der Kandidatinnen spielt das Alter nur bei „jungen“ Kandidatinnen eine Rolle, die als „Testballon“ für Berufsanfängerinnen ausgewählt wurden. Bezüglich des Alters kam in der Vorauswahl der Kandidatinnen aus dem Pool schriftlicher Bewerbungen keine Negativselektion zum Tragen, wenn die Definition von Koller & Gruber (2001) zugrunde gelegt wird, dass dies Personen über 36 Jahre betrifft. Die 49-jährige Kandidatin wurde ebenso wie die 21jährige Kandidatin zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Allerdings ist wegen des großen Altersabstands zwischen Frau Karb (1958) und den anderen Bewer12
Denn Lookism bezeichnet die systematische Diskriminierung von Menschen, die in ihrem Auftreten nicht den vorherrschenden Schönheitsnormen und/oder Umgangs- und Kommunikationsformen entsprechen. Der Begriff wird vorzugsweise im englischen Sprachraum verwendet, z.T. in der Wissenschaft (z.B. Queer Theory) (vgl. www.lookism.info/gender.html).
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berinnen nicht auszuschließen, dass ihre Einladung einer Alibi-Funktion gleichkam, zumal kein Einblick in den gesamten Pool schriftlicher Bewerbungen möglich war. Kandidatinnen über 50 Jahren wurden gar nicht zu den Vorstellungsgesprächen geladen, da angeblich keine qualifizierte „50plus“-Bewerberin im Pool der schriftlichen Bewerbungen zu finden war. Allein die Qualifikation sei ausschlaggebend in dieser Phase des Auswahlprozess gewesen. In der Analyse von Interaktion und Kommunikation zwischen Personalleiter und den einzelnen Kandidatinnen wurden zwei weitere Aspekte für die Auswahl sichtbar: Erstens wurde die Unternehmenskultur von OPTIC durch den Personalleiter wiederholt als „konservativ“ beschrieben, so dass ein eher „traditionelles“ Frauenbild „passend“ ist. Es gab also eine implizite Erwartung, dass die Kandidatin ein bestimmtes Frauenbild repräsentiere. Mit dem Frauenbild indirekt verbunden war zweitens die Erwartung, dass die Kandidatin sich entsprechend der „konservativen“ Werte in die Hierarchie des Unternehmens einordnet. Es spielt also auch der Machtaspekt eine Rolle. Dies erfordert vor allem bei der Vorauswahl der Sekretärin/Assistentin der Geschäftsführung besonderes ‚Fingerspitzengefühl’ von Seiten des Personalleiters, da es sich um eine Position in der „Chefetage“ handelt. Der Personalleiter hat dabei selbst einerseits im Vorstellungsgespräch eine bestimmte Machtposition, andererseits eigene Machtinteressen im Unternehmen, die unbewusst oder bewusst in den Einstellungsprozess mit einfließen. Ein Aspekt, der sofern mitgedacht, ein anderes Licht auf Auswahlprozesse wirft. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass Frau Voss (1970), der eine „zurückhaltende Souveränität“ bescheinigt wurde und die sich als Frau sowohl im privaten Bereich als auch im Vorstellungsgespräch unterzuordnen verstand, als Empfangssekretärin eingestellt wurde. Frau Andres (1970), die ebenfalls das im Unternehmen vorherrschende „konservative“ Frauenbild im Vorstellungsgespräch perfekt zu bedienen verstand, konnte sich als neue Sekretärin/Assistentin der Geschäftsführung durchsetzen. Dies bestätigt das Analyseergebnis der Vorstellungsgespräche, dass eher Frauen passend erscheinen, die ein bestimmtes Frauenbild verkörpern und sich den Interessen der „Entscheidenden“ unterordnen zu verstehen. Frau Karb (1958) hingegen, die von ihrer Qualifikation her nicht nachstand, ist zu ebenbürtig und souverän aufgetreten. Bei einer jüngeren Kandidatin, Frau Bela (1986), die sich auf die Stelle der Empfangssekretärin beworben hatte, wurde in Bezug auf ihre eher geringe Qualifikation im Hinblick auf die Englischkenntnisse argumentiert, das könne sie in einer Qualifizierung nachholen. Es sei üblich, dass sie ihre neuen Mitarbeiter/innen im technischen Bereich qualifizieren. Jedenfalls ist dies die Sicht des Personalleiters, der offenbar seine Auswahlstrategie eher im Hinblick auf eine Verjüngung der Altersstruktur anlegt („Testballon jung“), während der Firmeninhaber möglicherweise aufgrund seines eigenen Alters mittlere Jahrgänge bevorzugt.
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6. Alter(n) ist in der Tat ein Thema „Also, wenn sich bei uns ’n Mitarbeiter bewirbt, der 53 ist, das interessiert hier wirklich niemanden, sondern die werden, also, Alter ist in der Tat kein Thema.“ Die Analyse der beobachteten Einstellungsprozesse bei OPTIC zeigt, dass die Aussage des Personalleiters so nicht haltbar ist. Denn abgesehen davon, dass für die beiden Stellen keine Kandidatinnen 50plus eingeladen wurden, spielt das Alter sehr wohl eine Rolle. Alter wird in den schriftlichen Bewerbungsunterlagen von den Kandidatinnen nicht nur im Lebenslauf, sondern auch im Anschreiben direkt thematisiert. So werden die Berufsanfängerinnen auch wegen ihres Alters ausgewählt und vom Personalleiter direkt darauf angesprochen. Es ist also wortwörtlich genommen ein Thema. Bei den „Älteren“ thematisiert Herr Jensen zwar nicht das Alter an sich, dennoch sind auf der Beobachtungsebene die meisten Vorstellungsgespräche von Altersbildern durchzogen. Bei den Kandidatinnen der Jahrgänge 1970 und 1979 sind sie positiv gefüllt. Bei Frau Karb, Jahrgang 1958, fallen hingegen weder positive noch negative Altersbilder unmittelbar auf. Frau Karb widerlegt mit ihrer Qualifikation und Kompetenz geradezu per se negative Altersbilder in Bezug auf Flexibilität und Leistungsfähigkeit. Trotzdem wird ihr negativ ausgelegt, dass sie aufgrund ihrer umfangreichen Berufserfahrung länger für die Selbstdarstellung benötigt. Insofern wirkt sich das Alter der Kandidatin begrenzend auf den Auswahlprozess aus, ohne dass es thematisiert wird. Das zeigt, dass Altersdiskriminierung dort schwer fassbar ist, wo positive Einstellungen gegenüber Älteren und ihrer Beschäftigung in den manifesten Aussagen vorherrschen und eine „AGG-sichere“ Sprache bereits zum Duktus gehört. Aber auch wenn, wie am Beispiel der 49-jährigen Frau Karb gut zu sehen ist, offene Altersausgrenzung umgangen wird, werden strukturelle Benachteiligungen in der Analyse greifbar. Und das gilt nicht nur für die Variable Alter. Frau Karb entspricht darüber hinaus auch nicht dem „konservativen“ Frauenbild der Firma und weist als Ostdeutsche eine andere (Berufs-)Biografie auf. Insofern sind bei ihr im Grunde sogar alle drei Diskriminierungsformen – ageism, sexism and racism – denkbar, ohne dass sie explizit erwähnt werden. Es gestaltet sich also viel komplexer als ursprünglich angenommen, die Auswirkungen des Alters auf die Einstellungsprozesse in Unternehmen festzustellen. Mit der Analyse von Altersbildern allein sind Diskriminierungen von „Älteren“ nicht zu erfassen. Denn die beobachteten Vorstellungsgespräche haben gezeigt, dass neben dem Alter auch die vielfältigen Frauenbilder, die Persönlichkeit, die Sozialisation und die Machtverhältnisse auf die Auswahl wirken können. Wenn sich Altersdiskriminierung mit solchen Ausgrenzungsthemen verbindet, ist sie nicht irrelevant, sondern nur noch diffiziler zu fassen. Offensichtliche Altersdiskriminierung ist also nur „die Spitze des Eisbergs“, weil unsichtbar bleibt, wie unter der Hand andere Ausgrenzungsmechanismen mit Bildern von Alter und vom Altern verwoben sind. Beispielhaft konnte ge-
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zeigt werden, wie mit der Metapher der Passfähigkeit nicht nur positive Zustimmung zu einer Kandidatin geäußert wird, sondern auch Diskriminierungen kaschiert werden können, ohne Alter erwähnen zu müssen. Somit kommt der Metapher der Passfähigkeit die Funktion zu, eben diesen Mechanismus im Auswahlprozess unsichtbar zu machen.
7. Schlussfolgerung oder: Strategien der Invisibilität Werden die Vorstellungsgespräche einschließlich der informellen Informationen nochmals in den Blick genommen und analysiert, so wird darüber hinaus eine Strategie der „Inivisibilität“ in der Kommunikation des Personalleiters sichtbar. Während der Personalleiter im offiziellen Interview auf eine „AGG-sichere“ Darstellung der Personalpolitik bedacht ist, erschließt sich in seinen informellen Aussagen über die betriebsinterne Entwicklung einer stärker leistungsbezogenen Entlohnung seine „persönliche“ Sicht auf das Alter(n) im Unternehmen: Denn mit den eingeführten Premium- und Mitarbeiterbeteiligungsmodellen sollen in Zukunft auch seine Aufgaben bewertet und entlohnt werden. Auch wenn die steigenden Anforderungen für ihn momentan kein Problem darstellen, so denkt er doch kritisch über sein eigenes Alter(n) im Betrieb nach: Er ist sich im Hinblick auf das hohe Leistungsniveau nicht sicher, ob er noch bei OPTIC arbeiten möchte, wenn er einmal alt ist. Diese inoffizielle Aussage kontrastiert mit seinen offiziellen Aussagen. Wenn darüber hinaus der Beobachtungsprozess selbst analysiert wird, fällt auf, dass der Personalleiter unmittelbar vor Beginn der Beobachtungen einen „Testballon Berufsanfängerinnen“ ankündigt. Mit dieser Bemerkung will er den Fokus auf „Jüngere“ verschieben. Parallelen dazu finden sich bereits in den Darstellungen von „jüngeren“ und „älteren“ Beschäftigten im Interview. Wenn beispielsweise nach „Älteren“ gefragt wird, spricht der Personalleiter über die „Jüngeren“. Im Ergebnis der Feinanalyse eines Interviewausschnitts zur Altersstruktur wird deutlich, dass er es umgeht, über „Ältere“ Aussagen zu machen. Sowohl in den Interviews als auch in der Kommunikation über die Vorstellungsgespräche werden also Aussagen über „Ältere“ vermieden. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen McVittie et al. (2003) in ihrer Analyse von Interviews mit Personalverantwortlichen und interpretieren dies Phänomen als eine diskursive Strategie, die „ältere“ Beschäftigte im Unternehmen unsichtbar werden lässt. Die Funktion dieser diskursiven Strategie ist es, Invisibilität zu erzeugen, um die Praktiken der Organisation gegenüber älteren Beschäftigten in der Darstellung von Personalverantwortlichen verschwinden zu lassen (vgl. McVittie et al. 2003). Wenn im Zusammenhang mit den Auswahlprozessen für die Sekretärinnen-Stellen bei OPTIC über das Alter nur bei „Jüngeren“ und über „Ältere“ gar nicht kommuniziert wird, kann dies ebenfalls als eine diskur-
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sive Strategie gedeutet werden. Übertragen auf den Kontext der Personalauswahl stellt sich dann folgende Frage: Inwieweit werden die Praktiken des Unternehmens in den Entscheidungsprozessen der Personalauswahl „unsichtbar“ gemacht? Vor der Beobachtung hat sich der Personalleiter nicht in den Selektionsprozess für die Vorauswahl hineinschauen lassen. Das war erst im Feedback-Gespräch nach Abschluss der Einstellungsverfahren möglich. In der Beobachtungssituation selbst werden Metaphern für die Auswahlkriterien benutzt, die es erlauben, die Entscheidungsrelevanzen beliebig zu verändern. Es existiert keine Beschreibung relevanter Auswahlkriterien, sondern es wird die Metapher „passend“ als diskursive Ressource („discursive resources“, McVittie et al. 2003) aktiviert. Damit werden im Personalauswahlprozess begrenzt wirkende Strukturprinzipien für „ältere“ Kandidatinnen „unsichtbar“ (Invisibilitätsthese). Und es ist daher unabdingbar, die Diskussion um die Einstellung von „älteren“ Bewerbern/innen zu erweitern. Ausgehend von der Annahme, dass die Invisibilität ein kennzeichnendes Merkmal im Auswahlprozess ist, müssen zukünftig andere relevante Strukturprinzipien exploriert werden.
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Alter(n) und Altersakzeptanz in Unternehmen Jürgen Tenckhoff
1. Einleitung Manche Unternehmen mögen sich bisher als sichere „Altersinseln“ mit einer altersmäßigen Produktivitätsspannweite ihrer Beschäftigten von rund 45 Jahren gesehen haben – unbeeindruckt von dem demografischen Wandel und fest verankert auf dem Zeitstrahl des stetig wachsenden Lebensalters. Geeigneter Nachwuchs schien unbegrenzt verfügbar zu sein und zwecks Personalumbaus ließen sich ältere Arbeitnehmer bei Bedarf vorzeitig in die gesellschaftlichen Sozialsysteme externalisieren. Doch die in diesem Beitrag dargelegten Simulationen zu den Entwicklungen der Belegschaftsaltersstrukturen zweier Unternehmen in Deutschland zeigen ein ganz anderes Bild: Hier gibt es keine praktikable Möglichkeit mehr, den kontinuierlichen Anstieg des Durchschnittsalters der Belegschaften aufzuhalten oder gar umzukehren. Nun besteht vor allem die Gefahr einer fatalen Fehleinschätzung und das Alter(n) der Belegschaften als Problem zu sehen – das ist es aus vielerlei Gründen nicht. Jedoch entstehen für diejenigen Unternehmen jetzt folgenschwere Probleme, deren bisher vorgelebte und praktizierte Einstellungen zum Alter(n) bereits zu Loyalitäts-, Motivations- und Integrationsdefiziten der älteren Arbeitnehmer geführt haben. Wenn zudem permanente Organisationsänderungen und Strategiewechsel die Belegschaften an die Grenzen ihrer Plastizität und Flexibilität geführt haben, so müssen ggf. jetzt die Hypotheken dieser vorausgegangenen häufigen Veränderungen in den sozialen und kulturellen Systemen der Unternehmen in Form stark reduzierter Veränderungsbereitschaft der Belegschaften zusätzlich zurückgezahlt werden. Innovationskraft und Flexibilität sowie Loyalität und Integrität von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sind aber die wesentlichen Voraussetzungen für gesunde und wirtschaftsstarke Unternehmen und es ist aus einer Altersperspektive jetzt offensichtlich zwingend notwendig geworden, klassische Personalund Organisationsstrategien zügig zu überdenken. So zeigen sich jetzt alte Handlungsfelder – wie z.B. durch vorzeitige Externalisierung marginalisierte Belegschaftssegmente Älterer – nun in einem neuen Licht. Sie generieren nun die Frage: Wie können wir unsere aktuellen Geschäftsmodelle mit immer älteren Belegschaften erfolgreich weiterführen? Auslöser dieses Wandels ist die wachsende Erkenntnis, dass „Jugend“ immer knapper wird – und Altersstruktur-
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simulation aufzeigen, dass branchenweit die kontinuierliche Alterung vieler Belegschaften weder aufhaltbar noch umkehrbar ist.
2. Alter(n) – Integration, Inklusion oder Separation in Unternehmen? Die Auswirkungen o.g. Unternehmenslagen gewinnen noch zusätzlich an Schärfe, wenn sich aufgrund fehlenden geeigneten Nachwuchses die Chancen zur Erneuerung reduzieren – und Altersstrukturanalysen der Belegschaften bestätigen, dass es keine Möglichkeiten mehr gibt, eine Trendumkehr des kontinuierlich ansteigenden Durchschnittsalters der betrachteten Gesamtbelegschaft (oder relevanter Unternehmenssegmente) zu bewirken. Ist in der Vergangenheit zudem noch Personalumbau vorrangig durch vorzeitige Externalisierung Älterer realisiert worden, so wird in den entsprechenden Unternehmen nun das Alter(n) und, vor allem das mit dem Altern gewonnene „Kapital“ an Erfahrungswissen, als wenig „wertvoll“ erscheinen – denn offensichtlich kann man sich ja im Rahmen von Vorruhestands- und Frühverrentungsregelungen hiervon umfangreich trennen. Schien doch überdies ein besonderes Kapital anderer Art bislang unbegrenzt verfügbar zu sein: das Kapital „Jugend“. Allerdings haben wir bereits vor über 10 Jahren erfahren: „Denn der Jugendkult ist nicht neu, neu ist lediglich, dass Jugend demographisch knapp wird (1950 waren 36% aller Deutschen jünger als 20, heute sind es nur noch gut 20% und im Jahre 2040 schätzungsweise 18%), und Knappheit treibt die Preise hoch“ (Prahl & Schroeter 1996: 74). Einige Aspekte scheinen die Fokussierung auf die Jüngeren begünstigt zu haben: die früher politische, vor allem aber wirtschaftliche unbedeutende Relevanz von Alter(n) und damit verbunden auch relativ wenige (Förder-)Anreize zur wissenschaftlich fundierten Auseinandersetzung mit einer Soziologie des Alter(n)s: „Es gibt keine systematische Darstellung der Psychologie oder Soziologie des Alterns, die sowohl dem internationalen Problemstand wie den besonderen Gegebenheiten in Deutschland Rechnung tragen würde“, bedauerten Ursula Lehr und Hans Thomae Anfang der 1980er Jahre den Stand der Wissenschaft zu dem Thema Alter(n) (Thomae & Lehr 1972: III). Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Situation schwierig: „Die Soziologie des Alter(n)s befindet sich im deutschsprachigen Bereich – trotz eines deutlichen Aufschwungs im letzten Jahrzehnt – noch immer (oder auch immer wieder?) in einer zumindest latenten – mittlerweile weniger selbst als fremd konstruierten – Legitimationssituation“ (Backes & Clemens 2002: 8). Derzeit hat sich die Situation zumindest insofern geändert, als Themen rund um das Alter(n) aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln stark an Bedeutung gewonnen haben. 9.720.000 Ergebnisse bei Google bei der Suchanfrage „Al-
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ter(n)“ am 2.4.2008 und drei Monate 1 später bereits 13 Millionen Ergebnisse unterstreichen dies eindrucksvoll. Alter(n) wird in den verschiedensten Blickwinkeln zunehmend sichtbar und diesbezügliche Aspekte gewinnen auch in der Wirtschaft an Bedeutung, da der Diskurs nun über Negativthemen – wie Berechtigung von Altersstereotypen und Notwendigkeiten zur vorzeitigen Externalisierung der Älteren in Belegschaften zur Optimierung von Altersstrukturen – hinauswächst: Alter(n) muss jetzt z.B. im Kontext von Marktchancen und Risikominimierung bei ungünstigen Altersstrukturen von Belegschaften diskutiert werden. Zudem haben „Makroprozesse wie Globalisierung, gesellschaftlicher und demografischer Wandel sowie Innovationsprozesse Auswirkungen auf die Erwerbslagen der älteren Beschäftigten“ (Clemens 2001: 15). Um die Entwicklung wissenschaftlich fundierter Lösungsansätzen zu fördern, sind Erkenntnis und Verständnis dieser Entwicklung in „der Wirtschaft“ von großer Bedeutung. Programme aus Politik, Gewerkschaften und Verbänden nehmen die Generation der 50plus in den Fokus, um die Beschäftigungschancen älterer Mitarbeiter zu erhöhen. Und es zeigen sich bereits erste Erfolge. Die klassischen Altersstereotype – wie etwa die häufigen pauschalen Unterstellungen, mit wachsendem Alter sinke Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft 2 – erfahren nun Gegenreaktionen. Hierzu gehört auch die wachsende Aufklärungsarbeit rund um Themen wie Arbeitsbewältigungsfähigkeit 3 oder Beschäftigungsfähigkeit bzw. Employability. Bei letzterem, wirtschaftswissenschaftlich geprägtem Konzept wird konsequent die „Eliminierung des Kriteriums ‚Alter’ als Entscheidungs- und Handlungsgrundlage“ gefordert. „Employability ist keine Frage des Alters!“ (Rump & Eilers 2007: 56). Employability ist eng verzahnt mit der Bereitschaft zu lebenslangem Lernen. Das Konzept verlangt aber auch die generelle Erkenntnis, dass in der heutigen Erwerbslandschaft der traditionelle „soziale“ Kontrakt, bei dem Beschäftigte für Treue und Loyalität im Gegenzug vom Arbeitgeber Schutz und lebenslange Beschäftigung erhielten, nun zunehmend schwindet. Stattdessen zeigen sich Erscheinungen wie zeitlich begrenzte „psychologische“ Kontrakte mit wechselnden Arbeitgebern. Sie ersetzen langfristig und planbar angelegte Arbeitsverhältnisse, in denen die Interessenslagen und Erwartungshaltungen von zueinander passenden Arbeitnehmern und Arbeitgebern zeitlich korrelieren. Dies führt zu ebenso zeitlich begrenzten Arbeitsverhältnissen im Sinne von punktuellen Win-Win-Situationen. Die auf den ersten Blick gewonnene beiderseitige Flexibilität bleibt jedoch nicht ohne Konsequenzen für die Arbeitgeber, denn der „Arbeitnehmer geht im Gegenzug nur mit demjenigen Unternehmen einen Ver-
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Am 25.07.2008. Vgl. Baltes & Montada (1996), Köchling et al. (2000). Vgl. Ilmarinen & Tempel (2002), Ilmarinen et al. (1997), Ilmarinen (1997).
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trag ein, das seine Kompetenzen aktuell nachfragt und vor allem wertschätzt“ (Rump & Eilers 2007: 46). Tatsächlich scheinen die rasanten Innovationszyklen bereits in vielen Industriezweigen die Nachfrage nach über viele Jahre gewachsenem Erfahrungswissen reduziert zu haben. Sie schmälern so den „Wert“ des Kapitals „Wissen und Erfahrung“, das von älteren Beschäftigten schließlich auch zum Machterhalt bzw. zum Erhalt ihrer Rollen in der Struktur ihrer Unternehmen gegen andere Kapitalsorten genutzt werden konnte. Der anhaltende Einsatz dieses Kapitals – in Kombination mit ggf. als „antiquiert“ wahrgenommenen inkorporierten Handlungsmustern – lässt Alter in der Struktur vieler Unternehmen als nunmehr kraftloses Symbol erscheinen und damit Ältere in Folge ihres „Kapitalverlustes“ in unausweichlicher Konsequenz als Marginalien. „Die vom Habitus in dieser Art umgekehrter Vorwegnahme der Zukunft bewirkte Gegenwart der Vergangenheit ist nie besser erkennbar, als wenn der Sinn der wahrscheinlichen Zukunft plötzlich Lügen gestraft wird und Dispositionen, die infolge eines Effekts der Hysteresis (…) schlecht an die objektiven Möglichkeiten angepasst sind, bestraft werden, weil das Milieu, auf das sie real treffen, zu weit von dem entfernt ist, zu dem sie objektiv passen.“ (Bourdieu 1987b: 116). Damit wird ein Prozess initiiert, der nahezu zwangsläufig auch nach einer neuen Balance in den Machtfeldern gegenwärtiger und künftiger Erwerbslandschaften sucht: „Das Feld der Macht (…) ist kein Feld wie die anderen: Es ist der Raum der Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Kapitalsorten oder, genauer gesagt, zwischen Akteuren, die in ausreichendem Maße mit einer der verschiedenen Kapitalsorten (z.B. der „Wechselkurs“ zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital) ins Wanken gerät; vor allem also dann, wenn das im Feld bestehende Gleichgewicht zwischen jenen Instanzen bedroht ist, deren spezifische Aufgabe die Reproduktion des Felds der Macht ist … “ (Bourdieu 2004: 51). Ein wichtiges Indiz für diese Entwicklung ist der Wandel der Leitbilder in Unternehmen. Waren dies zu Zeiten von Thomae auch durchaus beleibte Unternehmerfiguren, wären sie heute ohne zur Schaustellung einer gewissen Sportlichkeit nicht in der Lage nachzuweisen, dass sie sich eben im Besitz jenen Kapitals befinden, das auf den Kampffeldern in Unternehmen derzeit wohl die beste Garantie zur Rollenbewältigung und zum Fortbestand von Karrieren bietet: dem Kapital der Jugend, das sich zudem durch moderne Sportarten darstellt (vgl. Bourdieu 1987a: 350). In manchen Branchen spricht einiges für diese Entwicklung. Beispiele aus Outsourcing-Projekten zeigen, dass Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen, die die vertraute Erwerbswelt sozialer Kontrakte unterstellen, häufig daneben liegen, wenn die Offshore-Tätigkeiten nun in Ländern stattfinden, in denen sich Erwerbslandschaften etabliert haben, die auf den o.g. zeitlich begrenzten „psychologischen“ Kontrakten basieren. Sollen hier komplexe Themen behandelt werden, die lange Einarbeitungszeiten erfordern, so ist die vergleichsweise geringe Loyalität und Integrität der aufwändig ausgebildeten Mitarbeiter ein äußerst
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ernst zu nehmender Risikofaktor, der nur durch den rechtzeitigen Aufbau redundanter Wissensträger abgefedert werden kann. So reduzieren sich schnell ursprünglich als hochrentabel gerechnete Projekte auf deutlich ungünstigere Modelle, wenn jede einzurichtende Stelle quasi doppelt oder dreifach redundant ausgelegt werden muss, um das hohe Wechselrisiko der Beschäftigten zu minimieren und die Wahrscheinlichkeit zeitgerechter Produktrealisierung erhöhen zu können. Gewiss ist jedoch, dass alles Handeln, das auf die Älteren in Unternehmen gerichtet ist und bei dem Alter als Grundlage (oder zumindest als Aspekt für auf Ältere wirkende Entscheidungen) sichtbar wird, auch in besonderer Weise auf die jüngeren Beschäftigten wirkt, da Homo Sapiens immer im gleichen Maßstab auch Homo Socius (Berger & Luckmann 2003: 54) bzw. Homo Sociologicus ist (Dahrendorf 1958: 20). Eine Wirklichkeit erster Ordnung, hier z.B. die vorrangige Externalisierung Älterer zwecks Altersstrukturoptimierung und Personalkostenreduktion, kann in einer Wirklichkeit zweiter Ordnung den jüngeren Betrachter schnell dazu anleiten, (sein) Alter(n) in Unternehmen generell mit negativen Werten zu belegen (vgl. auch Watzlawick 2004: 142). Die Jüngeren konstruieren anhand der wahrgenommenen Entwicklung Älterer schließlich die möglichen Szenarien ihrer eigenen beruflichen Zukunft. Diese erscheint dann in ihrer Arbeitswelt entweder hoffnungsvoll oder eher besorgniserregend. So benötigt Alter(n) einen festen Platz in der Unternehmenskommunikation der Erwerbswelten, da Alter(n) gleichzeitig in den Privatwelten auch aufgrund des demographischen Wandels eine immer stärkere Präsenz und Bedeutung erfährt. Betrachtet man Erwerbs- und Privatwelten als unterschiedliche Sinngebiete, so spricht Alfred Schütz gar von Schockzuständen, die beim Wechsel zwischen den unterschiedlichen Sinngebieten eintreten, denen man den Realitätsakzent zugewiesen hat bzw. zuweist (Schütz & Luckmann 2003: 56).
3. Altersstrukturen von Belegschaften – Zerrbilder des demografischen Wandels „Personalabteilungen befassen sich vorwiegend mit Problemen zur Rationalisierung, Weiterbildung und Qualifizierung des Personals, anstatt strategische Handlungsfelder durch eine sensibilisierte Thematisierung der demographischen Lage zu eröffnen“ (Nienhäuser 2000: 76). Dabei haben Prozesse wie Globalisierung, Einstellungsschwierigkeiten, Frühverrentung etc. in den letzten Dekaden in allen Unternehmen ganz spezifische Altersstrukturen der Belegschaften geschaffen, die sich ebenso speziell weiterentwickeln werden und besonderer Behandlung bedürfen, sollen teils erhebliche Risiken in Unternehmen vermieden werden.
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Abbildung 1: Belegschaften mit verschiedenen Altersstrukturen (vgl. auch Brandenburg & Domschke 2007: 116).
Hierzu zählen z.B. der massive Wissensverlust durch das generelle und insbesondere gleichzeitige Ausscheiden Älterer bei fehlenden Wissenstransferverfahren, künftiger Karrierestau durch aktuell nachrückende „zu junge“ Führungskräfte, aber auch eine zu geringe Anzahl an älteren Kräften, die „ältere“ Marktsegmente ggf. erfolgreicher bedienen können als ihre jüngeren Kollegen. Unter personalpolitischen Aspekten und in einer mehr mathematisch geprägten Sichtweise wird die Gleichverteilung aller Alterskategorien in einem Unternehmen aus verschiedenen Gründen als sinnvoll angesehen. Als gesunde Altersmischung wird häufig etwa die gleichmäßige Verteilung von fünf zusammenhängenden Alterskategorien 4 in der Belegschaftsstruktur empfohlen, wie sie Abbildung 1 skizziert (vgl. u.a. Brandenburg & Domschke 2007: 116). Mit diesem Ansatz lässt sich eine „ausbalancierte Normbelegschaft“ konstruieren. Hiervon ausgehend ergeben sich dann Extremlagen, z.B. jugendzentrierte, komprimierte oder alterszentrierte Belegschaften. Diese Extrema und ihre Auswirkungen sind bereits aus vielen Perspektiven betrachtet worden 5 , so dass hier auf entsprechende Darlegungen verzichtet wird. Stattdessen soll der Fokus auf
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Die betrachteten Alterskategorien lauten dann a) bis 24 Jahre, b) 25 bis 34 Jahre, c) 35 bis 44 Jahre, d) 45 bis 54 Jahre und e) 55 Jahre bis Austritt. Vgl. z.B. Clemens & Backes (1998), Clemens (2001), Femppel (2000), Fürstenberg (2000a), Fürstenberg (2000b), Grombach (1975), Ilmarinen & Tempel (2002), Köchling et al. (2000), Rosenow & Naschold (1994), Schmidt & Schumacher (1998), Schwuchow & Gutmann (2007), Tenckhoff (2006).
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die Auswirkungen gängiger Personalsteuerungsmaßnahmen zur Kompensation „überalterter“ Belegschaftsstrukturen gerichtet werden: die Einstellung von jungen Nachwuchskräften und die vorrangige Externalisierung Älterer. Können diese beiden Instrumente bei gegebenen Altersstrukturen heutige Schieflagen in den Altersstrukturen von Belegschaften überhaupt noch kompensieren? Dabei ist offensichtlich die Konzentration auf alterszentrierte Belegschaften von großer Bedeutung. Daher soll vor allem zwei Fragen nachgegangen werden: Erstens: Wie wird sich das Durchschnittsalter einer gegebenen Belegschaft in einer 10-Jahres-Vorschau entwickeln? Zweitens – falls als Teilergebnis einer Altersstrukturanalyse eine kontinuierliche, nicht eigenständig kompensierende Alterung der Belegschaft offensichtlich wird – welche Maßnahmen jetzt ergriffen werden können, um diesen Alterungsprozess in einen konstanten Alterskanal um 45 Lebensjahre einschwenken zu lassen.
4. Simulationen auf Basis aktueller Altersstrukturen Wie lang werden also versäumte Altersbetrachtungen so mancher Personalstrategien als Risikofaktor nachwirken? Lassen sich überhaupt noch Hebel und Stellschrauben für eine ausreichend schnelle Trendumkehr finden, um „anomische Crashszenarien“ zu verhindern? Querschnittsanalysen von Altersstrukturen in Unternehmen sind ein guter Einstieg, um ggf. in Ergänzung mit qualitativen Betrachtungen die altersabhängige Entwicklung von Belegschaften und ihren Segmenten einschätzen zu können. Doch erst Simulationen der altersabhängigen Entwicklung von Belegschaften über längere Betrachtungszeiträume auf Basis aktueller Personaldaten, strategischer Annahmen zur Unternehmensentwicklung, natürlicher Fluktuation und passender Arbeitsmarktdaten können die eigentlichen Risiken der Belegschaftsentwicklung aufzeigen. An erster Stelle zu nennen sind: mangelnder Nachwuchs und fehlende Fachkräfte, aber auch gleichzeitig wegbrechendes Fachwissen aufgrund hoher Synchronizität der Lebensalter in Belegschaftssegmenten und einer starren Verrentungsgrenze. In den folgenden Kapiteln werden die Simulationen der Altersstrukturen zweier Unternehmen in Deutschland dargestellt. Bei beiden Analysen wurde die Entwicklung der jeweils im Querschnitt ermittelten Altersstruktur der Belegschaft für den Betrachtungszeitraum einer Dekade simuliert. Interessant sind diese Beispiele, da man bei dem einen Fall die mittel- und langfristigen Probleme einer klassischen Alterszentrierung beobachten kann, während bei dem zweiten Fall die Probleme einer kompakten Altersstruktur sichtbar werden.
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4.1 Fall 1: Unternehmen mit 1.500 Beschäftigten Die Simulation in Abbildung 2 6 zeigt die Entwicklung des Durchschnittsalters der Belegschaft eines in ganz Deutschland aktiven Unternehmens mit über 1.500 Mitarbeitern. Sie wurde Ende 2007 für einen 10-jährigen Betrachtungszeitraum erstellt. Als Datenbasis wurden anonymisierte Personaldaten dieses
Abbildung 2: Fall 1; Simulationen A, B, C.
Unternehmens der Kategorien Mitarbeiterprofile, Einsatzorte, Geschlecht und Alter zu einem bestimmten Stichtag im Jahr 2007 verwendet. Es handelt sich um ein relativ realistisches Entwicklungsszenario (vgl. Werte zur Simulation A in Tabelle 1), das allerdings die natürliche Fluktuation in diesem Unternehmen nicht berücksichtigt, da diese zum Betrachtungszeitraum als eher gering geschätzt wurde und sich damit auch nicht signifikant auf die Fragestellungen der Gesamtsimulation ausgewirkt hätte. Für die Simulation gelten folgende Annahmen: Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlassen über die gesamte Simulationsdauer das Unternehmen grundsätzlich im Alter von 66 Jahren. Alle Stellen werden nachbesetzt. Bei der Nachbesetzung wird jedoch das Alter der potentiel-
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Mit freundlicher Unterstützung von G. Kaulfuß, Wachtberg.
Alter(n) und Altersakzeptanz in Unternehmen
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len neuen Mitarbeiter berücksichtigt. In Tabelle 1 sind die verschiedenen Nachbesetzungsalter in Abhängigkeit von generalisierten Stellenprofilen dargestellt. Simulationen Fall 1 A B C
Altersgrenze zum Ruhestand 66 66 59
Alter für Nachbesetzungen Fach I
42 30 30
Assistenz
30 30 30
Fach II
Vertrieb
Verwaltung
40 30 30
38 30 30
42 30 30
Tabelle 1: Nachbesetzungslogik Fall1, Simulationen A,B,C.
Dabei wird ein durchschnittliches, aber unterschiedliches Nachbesetzungsalter in Abhängigkeit von der Art der offenen Stellen angenommen. In dem untersuchten Unternehmen gibt es zwei Kategorien an Fachkräften, die sich aufgrund ihrer Ausbildung sowie ihres Einsatzes unterscheiden und deshalb auch getrennt als Fachkräfte I und II betrachtet werden. Während für die Fachkräfte der Kategorie I neben einem Hochschulabschluss auch eine entsprechende Berufspraxis wesentliche Einstellungskriterien sind, werden in der Kategorie Fachkräfte II geringere Qualifikationen erwartet, die auch in kürzerer Ausbildungszeit erworben werden können. Somit liegt das Einstellungsalter in Kategorie I auch über demjenigen in der Kategorie II. Das zum Stichtag im Jahre 2007 ermittelte Durchschnittsalter der Belegschaft dieses Unternehmens beläuft sich auf 46,3 Jahre und steigt trotz relativ jung angenommener Nachwuchskräfte im Verlauf der folgenden 10 Jahre auf 51,8 Jahre im Jahr 2017 an. Das Durchschnittsalter wächst stetig. Offensichtlich wird aufgrund der vorliegenden Altersstruktur in diesem Szenario der Wunsch, sich künftig mit dem Gesamtdurchschnittsalter der Belegschaft in einem konstanten Alterskanal von 40 bis 45 Jahre zu bewegen, nicht realisiert werden können. Sogar die Absicht, noch jüngerer Mitarbeiter als Nachfolger der ausscheidenden 66 Jahre alten Beschäftigten einzustellen, führt nicht zu einem konstanten Alterskanal um 45 Jahre. Abbildung 2 zeigt im Vergleich das Ergebnis der Simulation B von Fall 1, bei der nach wie vor das Austrittsalter mit 66 Lebensjahren bis 2017 als konstant vorausgesetzt wird; jedoch wird hier das Nachbesetzungsalter generell auf 30 Lebensjahre reduziert. Diese Annahme liegt zwar bereits im unrealistischen Bereich, da dann z.B. die Forderung nach einem Hochschulabschluss sowie fundierter Berufspraxis als Einstellungsvoraussetzung für die Fachkräfte der Kategorie I kaum erfüllt werden kann. Doch ist dies nicht weiter von Belang, denn selbst in diesem grenzwertigen Extremszenario kann der Anstieg des Durchschnittsalters nicht aufgehalten werden; mit älteren Nachwuchskräften wäre dies noch weniger möglich. Als Ergebnis sieht man, dass lediglich der Anstieg des Durchschnittsalters etwas abflacht, das Maximum des Durchschnittsalters zwar mit 50,8 Jahren bereits 2015 erreicht wird, im Jahr 2017
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jedoch immer noch mit 50,4 Jahren über 50 Jahren liegt. Offensichtlich vermag selbst ein drastisches generelles Absenken des Einstellungsalters auf völlig unrealistische 30 Lebensjahre den fortschreitenden „Alterungsprozess“ dieses Unternehmens nicht zu stoppen. So bliebe als letzter vermuteter Hebel, um zu einer balancierten Altersverteilung in der Belegschaft zu gelangen, nur die frühzeitige Externalisierung Älterer bei gleichzeitig stark reduziertem Einstellungsalter, um beim Durchschnittsalter tatsächlich in einen konstanten Alterskanal einzutauchen. Abbildung 2 zeigt wiederum im Vergleich die Simulation C von Fall 1, die zusätzlich zu den generellen maximalen 30 Lebensjahren als Einstellungskriterium noch ein ebenso generelles vorzeitiges Externalisierungsalter von 59 Lebensjahren vorgibt. Erst mit dieser Zusatzvoraussetzung kann bei dem untersuchten Unternehmen ein Einschwenken des Durchschnittsalters der Belegschaft in ein Altersband zwischen 43 und 45 Lebensjahren erreicht werden. Da in der Simulation diese Maßnahme bereits ab 2007 greift, haben im Jahr 2008 bereits alle Mitarbeiter, die älter als 59 Jahre sind, das Unternehmen verlassen, so dass das Durchschnittsalter jetzt in 2008 auf 44,2 Jahre gesunken ist. Ohne dass wir uns nun mit diesen zwei Simulationen detailliert auseinandersetzen, dürfte die Annahme gerechtfertigt sein, dass diese extreme Vorgehensweise grundsätzlich nicht realisierbar ist, ohne gleichzeitig die Geschäftsmodelle des betrachteten Unternehmens in ernster Weise zu gefährden. Denn schon die fragliche Verfügbarkeit junger Nachwuchskräfte lässt diese Simulationen als extreme Grenzwertbetrachtungen erscheinen. Andererseits können weniger radikale Maßnahmen das kontinuierliche Ansteigen des Durchschnittsalters nicht aufhalten. Daraus folgt: Es gibt keine realistischen Maßnahmen mehr, mit denen sich hier das kontinuierliche Altern der Belegschaft aufhalten ließe. Das Unternehmen muss sich jetzt schnellstens darauf einstellen, sein Geschäftsmodell mit immer älter werdenden Mitarbeitern und allen hieraus entstehenden zusätzlichen Anforderungen zu bewältigen.
4.2 Fall 2: Unternehmen mit 500 Beschäftigten Ähnliche Effekte wie in Fall 1 sehen wir bei der Analyse eines weiteren Unternehmens als Fall 2. Hier werden mehr als 500 Mitarbeiter beschäftigt Wie in Fall 1 wurde zur Anonymisierung nur eine gerundete Beschäftigtenzahl angegeben. Bei diesem Unternehmen zeigen sich weitere interessante Entwicklungen der Belegschaft. Der Altersdurchschnitt liegt hier derzeit bei 45,2 Jahren und steigt bis zum Jahre 2017 auf 52,5 Jahre an (Abbildung 3), wenn man ebenso einer für dieses Unternehmen realistischen Nachbesetzungs-Logik (Tabelle 2) analog Fall 1, Simulation A folgt. Die Altersstruktur trägt in diesem Unternehmen ein sehr eigenes Gesicht, da sich viele Mitarbeiter gleichen Alters in einem sehr schmalen Altersband bewegen. Dies wird sichtbar, wenn man wie in Simulation B, Fall 1 das Eintrittsalters auf generell 30 Jahre absenkt. Die Auswirkun-
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gen zeigen sich jetzt allerdings nur minimal und erst 6 Jahre später, da derzeit offensichtlich nur wenige Mitarbeiter in der Alterskategorie von 55 bis 66 Jahre beschäftigt werden und somit in den kommenden Jahren auch keine Neueinstellungen erfolgen (können).
Abbildung 3: Fall 2; Simulationen A,B,C.
Diese Belegschaft altert nahezu kollektiv bis zum Erreichen der Verrentungsgrenze. Das Unternehmen muss sich nun zum einen auf alternde Mitarbeiter einstellen, zum anderen dem Risiko vorbeugen, dass in sechs Jahren viele Mitarbeiter nahezu gleichzeitig in den Ruhestand wechseln werden – und mit ihnen wertvolles Erfahrungswissen, ggf. Patente, das Wissen um Unternehmensgeheimnisse oder auch „Tacid Knowledge“, das stillschweigende Wissen wie „Dinge“ im Unternehmen zum Laufen gebracht werden, Wissen, das in keinen Handbüchern niedergelegt ist. Die Simulation B von Fall 2 wurde analog zur Simulation B von Fall 1 angelegt. Wieder wurde als Vorgabe das Einstiegsalter der Nachwuchskräfte drastisch auf 30 Lebensjahre abgesenkt. Und auch in dieser Simulation gilt wieder, dass immer, wenn jemand das Unternehmen im Alter von 66 Jahren verlässt, die frei gewordene Stelle grundsätzlich nach besetzt wird und der- oder diejenige dann eben 30 Jahre alt ist. Abbildung 3 zeigt das Ergebnis. Selbst in diesem extremen Szenario hat das Alter der Nachwuchskräfte keinen gravierenden
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Einfluss auf die Entwicklung des Durchschnittsalters. Geringe Effekte zeigen sich erst ab dem Jahr 2013. Simulationen Fall 2 A B C
Altersgrenze zum Ruhestand 66 66 59
Assistenz 25 30 30
Alter für Nachbesetzungen Cont- Leiter MaReferoller nager rent 40 30 30
45 30 30
35 30 30
30 30 30
Sonstige 40 30 30
Tabelle 2: Nachbesetzungslogik Fall 2, Simulationen A,B,C.
Offensichtlich scheiden dann die ersten Mitarbeiter nach Erreichen der vorgegebenen Altersgrenze von 66 Jahren aus und werden entsprechend der Simulationsbedingungen durch 30-Jährige ersetzt. Dies führt jedoch nur zu einem minimalen Sinken des Durchschnittsalters der Belegschaft, ohne nennenswerte Auswirkungen auf die gesamte Altersstruktur. Im Jahr 2017 ist das Durchschnittsalter nun auf 52,2 Jahre angestiegen anstelle der 52,5 Jahre nach Simulation Fall 2, A. Damit zeigt sich hier sehr deutlich die Auswirkung einer kompakten Altersstruktur, da das Absenken des Einstellungsalters auf einen hypothetischen Wert von geringen 30 Jahren kaum Einfluss auf die Entwicklung des Gesamtdurchschnittsalters zeigt. Um nun herauszufinden, welche vorzeitige Externalisierung die Belegschaft dieses Unternehmens in einen konstanten Alterskanal um 45 Lebensjahre führen würde, wurde die Simulation C nach Tabelle 2 durchgeführt (im Vergleich in Abbildung 3). Hier wurde bei gleichzeitigem Absenken eines vorgegebenen Eintrittsalter auf durchgängig 30 Jahre das vorzeitige Austrittsalter so lange abgesenkt, bis sich eine Kompensation des ansonsten stetigen Anstieges des Durchschnittsalters realisieren ließ. Dies tritt im Fall 2 erst bei einem generellen Externalisierungsalter von 57 Jahren ein. Erst jetzt lässt sich auch ein genereller Abwärtstrend des Durchschnittsalters im Jahr 2014 beobachten, da nunmehr auch das geringe Alter der Nachwuchskräfte relevant wird. Allerdings sinkt das Durchschnittsalter im Zeitraum von 2014 bis 2017 nur um zwei Jahre. Beide Simulationsszenarien Fall 1(A, B, C) sowie Fall 2(A, B, C) zeigen deutlich, dass es in den betrachteten Unternehmen keine realistischen Möglichkeiten gibt, das Durchschnittsalter der Belegschaft zu senken oder auch nur dessen stetiges Ansteigen zu stoppen, um in einen kontinuierlichen Alterskanal um 45 Jahre einzuschwenken. Beide Unternehmen sind von dem Altersaufbau einer angestrebten „Norm-Belegschaft“ weit entfernt – und die These liegt nahe, dass dies für einen großen Teil der Unternehmen in Deutschland in weniger oder stärker ausgeprägter Form gilt.
Alter(n) und Altersakzeptanz in Unternehmen
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Vor rund 10 Jahren wurde die Chance vertan, durch vorrangige Einstellung aus der Alterskategorie der 50plus für einen heutigen natürlichen „Wiederbesetzungspool“ zu sorgen. Sie kann derzeit auch nicht mehr nachgeholt werden. Denn lediglich eine vorrangige Einstellung aus der Kategorie 60plus könnte wiederum zu positiven Nachbesetzungseffekten in vielleicht fünf bis sieben Jahren führen – doch ist eine derartige Personalstrategie noch kaum vorstellbar. So bleibt aus den o.g. Altersstrukturanalysen vor allem die Erkenntnis, dass sich die betroffenen Unternehmen darauf einstellen müssen, ihre aktuellen Geschäftsmodelle mit nunmehr immer älter werdenden Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zu realisieren. Dies wirft vermehrt salutogene Fragestellungen auf, zwingt zu einer klaren Positionierung gegenüber gängigen Altersstereotypen und verlangt nach einer Betrachtung der tatsächlichen Verortung des Alter(n)s in der Unternehmensstruktur.
5. Altersakzeptanz „Ein personalpolitisches Leitbild, das sich an 25-jährigen, männlichen, voll leistungsfähigen Mitarbeitern orientiert, ist Ausdruck einer altersfeindlichen, jugendzentrierten Unternehmenskultur und widerspricht der oft proklamierten Vielfalt. Gleiches gilt für die Betrachtung älterer Mitarbeiter als Last, der man sich schnell entledigen sollte, oder die Bewertung Älterer als ‚Low performer’“ (Brandenburg & Domschke 2007: 111). So zeigen sich jetzt für Personalabteilungen neue Herausforderungen: „Als unbewältigte Herausforderungen der Personalarbeit mit alternden Belegschaften sind die mittelfristige, strategisch orientierte Kompetenzanpassung und eine demografisch sensible Personalentwicklung (PE) anzusehen“ (Klinkhammer 2007: 217). Auch Unternehmen, in denen das o.g. Leitbild nicht in der Unternehmenskommunikation erscheint, sind stark gefährdet. Gängige, auf Defizitannahmen basierende Altersstereotype wurden vielleicht bereits benutzt, um die häufig eher finanziell bzw. betriebswirtschaftlich begründeten Externalisierungsmuster zu verstärken oder zu begleiten. So begünstigt eine niedrige Altersakzeptanz in der Bevölkerung häufig auch eine ebenso niedrige – wenn nicht noch geringere – Altersakzeptanz in Unternehmen, und vice versa. Hier kann ein fataler Kreislauf entstehen: Älteren wird aufgrund gängiger Altersstereotype ein geringerer Wert in Unternehmen zugewiesen und sie werden nun eher als Kostentreiber angesehen. Sie sehen sich diesen Zuweisungsprozessen dann eher wehrlos ausgeliefert und reagieren mit Frustration und Selbstaufgabe (vgl. Stamov Roßnagel, in diesem Band). Die daraufhin nachlassende Arbeitsleistung betroffener Mitarbeiter liefert dann die Rechtfertigung für den vorrangigen Abbau Älterer in Unternehmen quasi von selbst.
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Sie erhält dann auch in der Privatwelt wirksame Präsenz – in Form stereotyper Abwertung als nunmehr älterer Arbeitsloser, der es in der Arbeitswelt ja nicht mehr geschafft habe. „Ein altersfeindliches Denken und Handeln im Unternehmen trägt wesentlich dazu bei, dass sich ältere Mitarbeiter über kurz oder lang wirklich als unnütz und entbehrlich erleben. Wenn man Mitarbeitern ab 50 Jahren ständig einredet, dass sie wertlos sind, glauben diese das irgendwann, trauen sich weniger zu und verhalten sich entsprechend. Das Fremdbild beeinflusst das Selbstbild, es kommt zur ‚Selffulfilling Prophecy’“ (Brandenburg & Domschke 2007: 113). So zeigen die Altersgesichter von manchen Unternehmen bereits anomische Züge, und Altersstruktur- und Arbeitsmarktanalysen bringen die Gewissheit, dass ein positiver Umgang mit „Alter(n)“ (über-)lebensnotwendig ist. Deshalb benötigen viele Unternehmen eine schnelle und radikale Neuausrichtung der Personalstrategie und in Folge einer Unternehmenskultur, in der eine offensichtliche oder latente Verankerung von Altersstereotypen aber auch Altersängsten alle Maßnahmen zur Neuausrichtung und Neuorientierung mit dem Fokus auf eine nunmehr wertschätzende realistische Verortung des Alter(n)s nachhaltig behindern würde. Maßnahmen, die auf am kalendarischen Alter orientierte Kategorien zielen, scheinen dabei wenig zweckmäßig zu sein. Wie bereits ausgeführt, lassen es die erheblichen individuellen Unterschiede intra- und interpersonellen Altern kaum zu, pauschal von den 50plus oder den 60plus zu sprechen mit dem Ziel, geeignete Behandlungs- und Entwicklungsmaßnahmen für eben diese Personengruppen zu definieren. Es wäre zudem fraglich, inwieweit sich leistungsorientierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter freiwillig an Maßnahmen beteiligen würden, die speziell für solche „künstlichen“ Alterskategorien aufgelegt würden und vor allem ein „Outing“ für diejenigen bedeuteten, die sich nunmehr offiziell zu einer mit einem „Makel“ belegten Altersgruppe zugehörig erklärten. So kann eine logische Reihenfolge nur darin bestehen, zuerst die Altersakzeptanz zu erhöhen, um negative altersstereotype Wertzuweisungen zu entlarven und zu korrigieren, und in einer möglichst wertneutralen Ausgangssituation auch einfacher konstruierbare Maßnahmen entwickeln zu können. Diese können Erfolg haben, auch wenn sie sich der Einfachheit halber am biologischen Alter orientieren und in Analogie zu natürlichen Kategorien wie Mann und Frau nun am biologischen Alter orientierte Alterskategorien wie 40plus, 50plus und 60plus oder andere Abstufungen anböten. Eine solche Vorgehensweise wird umso wichtiger, je geringer die in der Vergangenheit wahrgenommene Wertschätzung gegenüber älteren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in den betrachteten Unternehmen ausgeprägt war. Denn die ehemals Jüngeren entwickeln sich ja jetzt zu „Älteren“, die sie vormals ggf. in mannigfaltigen Opferrollen erfahren haben – Rollen, die sie selber nie einnehmen wollten. So muss sich das Paradoxon auflösen, dass eben jene, die ehemals eine Altersdiskriminierung für ihre eigenen Zwecke ausgenutzt oder zumindest gedul-
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det haben, jetzt selbst aktive Rollen in dem Prozess des Alterns der Belegschaften einnehmen müssen, dessen ggf. unangenehme Randbedingungen von ihnen geschaffen worden sind. Dies gilt für alle Hierarchiestufen. Der Widerspruch kann besonders bei den Führungspositionen in teils kurioser Weise sichtbar werden. Oft haben hier ehemals Jüngere ihre älteren Vorgänger verdrängt und kämpfen jetzt – eine Dekade später – mit der präsenten Gegenwart dieser Erfahrung als nunmehr selbst Älterer in einer Führungsposition authentisch für ihren Machterhalt – ohne dabei an „Altersglaubwürdigkeit“ verlieren zu dürfen. Die Altersakzeptanz zu erhöhen ist eine Forderung, die nicht einfach umsetzbar ist. Man kann sich leicht vorstellen, wie viele Facetten das auf Ältere gerichtete Handeln der Vergangenheit nun nach sich ziehen kann. So müssen sich viele Unternehmen die Frage stellen: „Wie steht es generell um die Altersakzeptanz (vgl. Tenckhoff 2006:33, 2007: 305ff.) in unserer Belegschaft und was können wir tun, um diese ggf. zu verbessern?“ Je nach Ausgangslage ist dieses Ziel beliebig komplex. Während der letzten Jahrzehnte haben viele Unternehmen versucht, ihre Wirtschaftslage zu stabilisieren und dabei in extremer Form Veränderungen in ihren sozialen und kulturellen Systemen herbeigeführt, deren Häufigkeit und unterschiedliche Qualität die Adaptionsfähigkeit von Belegschaften herausgefordert, aber auch überfordert hat. Nicht belastbare Unternehmensverfassungen, unerreichbare Unternehmenswerte, Neuproduktion von Unternehmenswerten in kurzen Zyklen, gleichzeitige Prozess- und Organisationsänderungen haben zu einer wachsenden Orientierungslosigkeit bei steigender Verweigerungshaltung geführt. Diese Situation beschreibt ein älterer, leitender Angestellter aus der Telekommunikationsbranche sehr treffend: „Es gibt keine stabile Grundlage, unsere Firma hat sich bereits dreimal umfirmiert, hat sich dreimal Unternehmensverfassungen gegeben! Jetzt existieren wir schon wieder nicht mehr, die Leute haben gewechselt, die Ideen haben gewechselt, alles hat gewechselt, wir sind nicht in einer stabilen Welt, wo sie einen Ankerplatz haben, von dem sie aus alles vermessen können, sondern sie befinden sich jetzt in einer Situation ähnlich dem Weltmeer.“ (Tenckhoff 2006: 326). Unternehmen, in denen bereits die Führungskräfte mit ihren umfassenderen Informationskanälen sowie ihrem sicherlich größeren Handlungsspielraum im Vergleich zu nachgeordneten Beschäftigten bereits ein „Verlorensein“ in der Unternehmensstruktur erkennen lassen, stehen vor einer noch häufig unterschätzten Ausgangslage. Denn Umorganisation, Prozessoptimierung und die Fließbandproduktion neuer Unternehmenswerte haben auch die Glaubwürdigkeit des Persönlichkeitssystems (hier: Geschäftsführungen) geschmälert. Neues Vertrauen aufzubauen setzt Stabilität voraus. Dies bedeutet nicht zuletzt, den Beschäftigten die Zeit zu geben, Unternehmenswerte zu erkennen, zu verstehen und ihre Belastbarkeit zu testen. Nur so lässt sich der Nutzen für das Unternehmen, aber auch der individuelle Nutzen erleben. Dies ist der einzige Weg, die Funktion des Sozialsystems – nämlich Integration der kulturellen Werte – zu
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unterstützen bzw. Wirkung zeigen zu lassen. So ist Bestandsaufnahme der Altersakzeptanz der erste Ansatz, um über Mitarbeiterbefragungen 7 und auch qualitative Interviews eine Situationsanalyse aufzubauen. Ein großer Vorteil dieser Vorgehensweise liegt aber auch darin, über einen quantitativ ermittelten Wert „Altersakzeptanz“ einen messbaren Key Performance Indicator in der Balanced Score Card 8 der Personalbereiche generieren zu können. So kann die Wirkung von Maßnahmen zur Steigerung der Altersakzeptanz in betroffenen Unternehmen gemessen werden. Dies ist wichtig, da „softe“, nicht messbare Aspekte bei Unternehmensentscheidungen zwangsläufig geringere Bedeutung zugemessen werden als eben „Hardfacts“, wie es bei bisherigen Ansätzen zur konstruktiven Betrachtung der Vorteile Älterer ansonsten zwangsläufig einstellt, da sich Erfahrungskapital ja eher wenig quantitativ fassen lässt. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die Forderung Brandenburgs: „Notwendig ist ein Personalmanagement, das ältere Mitarbeiter integriert.“ … „Waren die 1990er Jahre, demographisch betrachtet, noch die goldenen Jahre für die Unternehmen, so gehört der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften bereits heute für viele Unternehmen zu den größten aktuellen Personalproblemen.“ (Brandenburg & Domschke 2007: 15). Doch rechtfertig dies den Einsatz von älteren Beschäftigten nur aus Mangelsgründen und nicht, weil sie aufgrund ihrer habituellen Dispositionen, ihres Erfahrungswissens, ihres Kommunikationsverhaltens etc. besonders geeignet sind, einen betriebswirtschaftlich relevanten Beitrag an vielen Stellen der gesamten Wertschöpfungskette des betroffenen Unternehmens zu leisten. Als gutes Beispiel hierfür lassen sich Kundenschnittstellen der Unternehmen vorstellen, bei denen es zur Etablierung einer optimalen Verhandlungssituation von großem Vorteil sein kann, wenn sich die Gesprächspartner in der Vis-a-visSituation des gleichen Wissens- und Erfahrungspools bedienen können. Sie sprechen die „gleiche Sprache“ und können bekannte und verständliche Beispiele zur Erläuterung schwieriger Sachverhalte anwenden. Sie haben ihre habituellen Dispositionen in den gleichen Zeiten inkorporiert, so dass auch hier Verhalten und Handeln während der „Verhandlung“ Akzeptanz zu erfahren vermag, wohingegen sehr unterschiedliche mentale Programmierung das Gespräch zwischen verschiedenen Generationen erschweren kann. Dies schließt natürlich nicht aus, dass auch ein Intergenerationsdialog im Verkaufsgespräch erfolgreich ist. Dieses Beispiel zeigt, dass bei genauerer Betrachtung Bereiche in Unternehmen sichtbar werden, bei denen ein höheres Alter von Mitarbeitern aus be-
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Eine gute Frage für eine Mitarbeiterbefragung könnte sicherlich folgendermaßen lauten: "Ich erlebe aufgrund meiner Lebens- und Berufserfahrung eine besondere Akzeptanz bei XXXX“. Vgl. Kaplan & Norton (1998) sowie Kaplan & Norton (2004).
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triebswirtschaftlicher Perspektive dem Unternehmen durchaus messbare Vorteile bringen kann. Werden diese Bereiche gezielt unter Altersaspekten optimiert, sind die ersten Schritte getan, um Alter wieder zu einem erstrebenswerten Kapital werden zu lassen und sich von dem möglichen Generalverdacht zu befreien, die überfällige Debatte zum Alter(n) in und von Belegschaften zu initiieren, um Senioritätsprinzip ähnliche Strukturen zu generieren.
6. Zusammenfassung Altersstrukturanalysen in Kombination mit mehrjährig angelegten Simulationen werden für viele Unternehmen zur zwingenden Notwendigkeit, schon um zu erkennen, dass aktuelle Geschäftsmodelle nun mit kontinuierlich alternden Belegschaften realisiert werden müssen. Die zwei Simulationen in diesem Beitrag ergaben für die betrachteten Unternehmen, dass das Durchschnittsalter ihrer Belegschaft in den nächsten zehn Jahren auf über 50 Jahre steigen wird. Zudem zeigten die Simulationen auch, dass es keine praktikablen Lösungsmöglichkeiten bei diesen beiden Fällen gibt, den kontinuierlichen Anstieg des Durchschnittsalters der Belegschaften aufzuhalten. Wenn diese Situation in Unternehmen eintritt, die viele Jahre hinweg Personalabbau durch vorzeitige Externalisierung Älterer realisiert haben, so liegt zudem die Vermutung nahe, dass sich hier ein negatives Bild von älteren Beschäftigten entwickelt hat, gefolgt von einer generell gesunkenen Altersakzeptanz – und dies ist ein Problem, nicht aber der in diesem Zusammenhang so häufig problematisierte Demografische Wandel oder gar per se das Alter(n) der Belegschaft! Gefordert ist jetzt ein Umdenkprozess in Personalabteilungen und auf Entscheiderebene, der die notwendige Adaptionsarbeit auf kultureller, organisatorischer und strategischer Ebene initiiert, um älteren Arbeitnehmern wieder sichtbare Wertschätzung entgegenzubringen und so zu einer längerfristigen Orientierung älterer Beschäftigter beizutragen. Zudem sind weitere Aufklärungsmaßnahmennotwendig, die helfen können, die Ressentiments in Personalabteilungen insbesondere der KMUs gegenüber Neueinstellungen von älteren Bewerbern abzubauen, die weniger auf Zweifeln bzgl. den Fähigkeiten der älteren Arbeitnehmer beruhen sondern Ergebnis der Befürchtung sind, dass ältere Bewerber nach ihrer Einstellung rechtliche Sonderstellungen in den Betrieben einnehmen könnten (Blasius & Hackert 2007). Unternehmen hilft hier ein wissenschaftlich fundierter Ansatz zur Ermittlung der Altersakzeptanz mit dem Ziel, diese künftig kontinuierlich zu steigern. Hierbei helfen Programme in Unternehmen, die vor allem in den Sozialsystemen sichtbar werden lassen, wie wichtig aus betriebswirtschaftlicher Perspektive der Einsatz Älterer z.B. aufgrund ihres über die Jahre gewonnenen Kompe-
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tenzzuwachses ist. Zudem unterstreichen diesbezügliche Projekte und belastbare Vereinbarungen und Werte in Unternehmen auch die Ernsthaftigkeit, mit der Geschäftsführer die Leistungsbereitschaft, Motivation, Integration und Loyalität ihrer alternden Belegschaften sicherstellen oder gar zurückgewinnen wollen. An Glaubwürdigkeit gegenüber der Belegschaft gewinnt dann diejenige Geschäftsführung zusätzlich, die bereit ist, „Altersakzeptanz“ als Key Performance Indicator der Balanced Score Card zu führen (vgl. Tenckhoff 2006, 2007). Diese vorgeschlagene Vorgehensweise stellt die „Reintegration“ Älterer in den Unternehmensstrukturen sicher und dient dem Ziel wachsender sozialer Inklusion – sowohl in den Arbeits- wie in den Privatwelten der Belegschaften.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Ludwig Amrhein, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Zentrum Altern und Gesellschaft (ZAG), Universität Vechta, Driverstraße 22-23, 49377 Vechta ([email protected]) Saskia-Fee Bender, Dipl.-Soz., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, Robert-Mayer-Straße 5, 60054 Frankfurt am Main ([email protected]) Kai Brauer, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Zentrum Altern und Gesellschaft (ZAG), Universität Vechta, Driverstraße 22-23, 49377 Vechta ([email protected]) Carola Burkert, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiterin, Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB) Hessen, Soanestraße 24, 60528 Frankfurt ([email protected]) Wolfgang Clemens, Prof. Dr., Akademischer Rat und Professor, Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin, Garystraße 55, 14195 Berlin ([email protected]) Frerich Frerichs, Prof. Dr., Professor für Gerontologie, Institut für Gerontologie, Universität Vechta, Driverstraße 22-23, 49377 Vechta ([email protected]) Franz Kolland, Prof. Dr., Professor für Soziologie, Institut für Soziologie der Universität Wien, Rooseveltplatz 2/3, A-1090 Wien ([email protected]) Undine Kramer, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Jägerstraße 22/23, 10117 Berlin ([email protected]) Ursula Rust, Prof. Dr., Professorin für Gender Law, Arbeitsrecht, Sozialrecht, Fachbereich Rechtswissenschaft, Universität Bremen, Universitätsallee, GW1, 28359 Bremen ([email protected]) Heike Schimkat, Dr., FAST e.V., Parchimer Allee 89A , 12359 Berlin ([email protected])
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Cornelia Sproß, Dipl.-Soz., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Regensburgerstr. 104, 90478 Nürnberg ([email protected]) Christian Stamov Roßnagel, Prof. Dr., Professor of Organizational Behavior, Jacobs Center on Lifelong Learning and Institutional Development, Jacobs University Bremen, College Ring 2, 28759 Bremen ([email protected]) Jürgen Tenckhoff, Dr., Dr. Tenckhoff UG, Kümpeler Straße 40, 53773 Hennef (www.tenckhoff.eu; [email protected])