Wissenstransfer bei hoher Produkt- und Prozesskomplexität : Pilotierung, Rollout und Migration neuer Methoden am Beispiel der Automobilindustrie 9783834997043, 3834997048 [PDF]


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Wissenstransfer bei hoher Produkt- und Prozesskomplexität : Pilotierung, Rollout und Migration neuer Methoden am Beispiel der Automobilindustrie
 9783834997043, 3834997048 [PDF]

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Zitiervorschau

Jens Kohler Wissenstransfer bei hoher Produkt- und Prozesskomplexität

GABLER EDITION WISSENSCHAFT

Jens Kohler

Wissenstransfer bei hoher Produkt- und Prozesskomplexität Pilotierung, Rollout und Migration neuer Methoden am Beispiel der Automobilindustrie

Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Alexander Gerybadze

GABLER EDITION WISSENSCHAFT

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Dissertation Universität Hohenheim, 2007 D 100

1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frauke Schindler / Stefanie Loyal Der Gabler Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, Dipl.-Designerin, Frankfurt/Main Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8349-0923-7

Geleitwort Die Komplexität von Produkten und Systemen hat in den Branchen, die für die deutsche Wirtschaft besonders wichtig sind, stark zugenommen: Automobil- und Zuliefererindustrie, Maschinenbau und Automatisierungstechnik, Elektrotechnik ebenso wie im Bereich technischer Dienstleistungen. In all diesen Sektoren haben sich komplexe, vielstufige Wertschöpfungsstrukturen herausgebildet, in denen Akteure durch ein Netz von Lieferbeziehungen und durch neue Formen des Wissensaustauschs miteinender verbunden sind. Die vorliegende Arbeit untersucht den Produktentwicklungsprozess für komplexe Produkte und Systeme, der immer häufiger in verteilten partnerschaftlichen Strukturen erfolgt. Der Fokus wird hierbei auf die für Deutschland mittlerweile wichtigste Leitbranche gelegt: die Automobil- und Zuliefererindustrie, in der die wertschöpfungskettenübergreifende Zusammenarbeit am besten studiert werden kann. Untersucht werden neue Formen des Wissensaustauschs in der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit sowohl zwischen Organisationseinheiten innerhalb von Unternehmen, wie auch in firmenübergreifenden Beziehungen mit Geschäftspartnern und insbesondere Zulieferern. Dabei wird auf komplexe neue Strukturen der Zusammenarbeit von Automobilherstellern (sog. OEM), Unternehmen der Elektronikindustrie, Softwareanbietern und technischen Dienstleistungsfirmen eingegangen. Gerade dieser Verbund macht die Stärke des deutschen Innovationssystems aus und die neuen Formen der Zusammenarbeit werden vom Verfasser beispielhaft analysiert. Im Zentrum der Arbeit steht die Analyse des Wissensaustauschs und der kohärenten Verständigung von Akteuren innerhalb von verteilten Strukturen. Die wichtigsten Prozessmodelle für die verteilte Projektzusammenarbeit werden ausführlich dargestellt und es wird kritisch auf das Problem von Missverständnissen und die Unterscheidung zwischen äquivokem vs. kanonischem Wissen eingegangen. Gerade die subjektiven, interpretativen Aspekte des Transferproblems wurden in den meisten Analysen des Technologie- und Wissenstransfers bisher viel zu selten beleuchtet und auf diese geht der Autor der vorliegenden Studie ausführlich ein. Die zentralen Probleme des Wissenstransfers werden in profunden empirischen Einzelfallstudien deutlich gemacht und es werden neuere Diagnose- und Analysemethoden entwickelt und überprüft, die helfen, die beschriebenen Probleme der Zusammenarbeit in verteilten Projektteams zu lösen.

VI

Geleitwort

Die besondere Leistung der Arbeit liegt in dem Brückenschlag zwischen betriebswirtschaftlichen Organisationstheorien, verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen der Gruppen- und Kognitionsforschung sowie den gängigen ingenieurwissenschaftlichen Methoden des Projekt- und Prozessmanagements. Während letztere vor allem objektive Wissenselemente und Projektaufgaben in den Vordergrund stellen, hebt Kohler in seiner Analyse gerade die subjektiv-interpretativen Aspekte besonders hervor. Der Verfasser hat in seiner Arbeit eine induktive Vorgehensweise auf Basis einer „Grounded Theory“ gewählt und es gelingt ihm, durch profunde Einzellfallstudien sehr schön, die subjektiv-interpretativen Aspekte zu beleuchten, obwohl die Mehrzahl seiner Gesprächspartner einer eher ingenieurtechnischen Welt entstammt. Durch den Kontrast von empirischen Befunden, theoretischen Modellen und Methoden des Projektmanagements gelingt es ihm, Defizite vorhandener Methoden aufzuzeigen und Verbesserungsvorschläge zu erarbeiten. Die Arbeit leistet insgesamt einen sehr wichtigen Beitrag zur systematischen Erforschung der Theorie und Empirie des Wissenstransfers in verteilten Strukturen vor dem besonderen Hintergrund subjektiv-interpretativer Aspekte. Sowohl die betriebswirtschaftliche und ingenieurwissenschaftliche Forschung wie auch Praktiker aus Unternehmen können aus der vorliegenden Arbeit großen Gewinn ziehen. Diese bietet eine interessante Weiterentwicklung der kompetenzbasierten Forschung und leistet den erforderlichen Brückenschlag in die industrielle Anwendung. Prof. Dr. Alexander Gerybadze

Vorwort “The clashing point of two subjects, two disciplines, two cultures – of two galaxies, so far as that goes – ought to produce creative chances. In the history of mental activity that has been where some of the break-throughts came. The chances are there now. But they are there, as it were, in a vacuum, because those in the two cultures don’t talk to each other.” (Snow 1993, S. 16)

Vor dem Hintergrund eines deutlich gestiegenen Komplexitätsgrads von Produkten und Dienstleistungen entstehen Innovationen zunehmend durch das Zusammenwirken von Akteuren unterschiedlichster Disziplinen. Beispielsweise entstanden in den letzten Jahren im Umfeld der Automobilindustrie neuartige mechatronische Systeme, die nur durch eine Verknüpfung von Mechanik, Elektronik sowie Informations-, Signal- und Regelungstechnik möglich geworden sind. Dies erfordert den Einsatz ausgefeilter Mechanismen des Wissenstransfers in der gesamten Wertschöpfungskette, sowohl innerhalb von Unternehmen als auch in unternehmensübergreifenden Netzwerken. In den meisten Studien zum Wissenstransfer wurde in diesem Zusammenhang der Fokus auf die objektiven und deklarativen Aspekte von Wissen gelegt. Das Ergebnis sind hilfreiche Ansätze, wie Tools und Services zu gestalten sind, um den Zugang zu Informationen und deren Verteilung zu optimieren. Die interpretativen und subjektiven Aspekte wurden allerdings oft unterschätzt und nicht hinreichend untersucht. An diesem Defizit knüpft die vorliegende Arbeit, die auf die kohärente Verständigung von Akteuren innerhalb von verteilten Strukturen fokussiert ist, an. Das Ergebnis sind Handlungsempfehlungen, die durch eine Kontrastierung von empirischen Erkenntnissen und theoretischen Modellen aus unterschiedlichsten Forschungsdisziplinen abgeleitet wurden. Die Arbeit entstand während meiner Zeit als externer Doktorand an der Forschungsstelle für Internationales Management und Innovation an der Universität Hohenheim und wurde im Dezember 2006 an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften als Dissertation eingereicht und angenommen. Mein besonderer Dank gilt an erster Stelle meinem wissenschaftlichem Lehrer und Doktorvater Herrn Prof. Dr. Alexander Gerybadze, der durch seine zahlreichen wertvollen fachlichen Anregungen sowie seine Flexibilität in Bezug auf die thematische Ausrichtung der Schrift entscheidend zum Gelingen beigetragen hat.

VIII

Vorwort

Herrn Prof. Dr. Stefan Kirn danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens und Herrn Prof. Dr. Harald Hagemann für die Übernahme der Drittberichterstattung. Nicht möglich wäre die Arbeit gewesen ohne die Unterstützung der zahlreichen, aus Annonymitätsgründen nicht einzeln aufgezählten, Kollegen und Interviewpartner aus der Automobil- und Zuliefererindustrie sowie den in diesem Umfeld tätigen Engineeringdienstleistern. Ich möchte diesen daher ganz herzlich danken, dass sie sich, trotz eines oftmals vollen Terminkalenders, als kompetente Fachexperten und Diskussionspartner im Rahmen meiner empirischen Untersuchungen zur Verfügung gestellt haben. Weiterhin gilt mein Dank den (ehemaligen) wissenschaftlichen Mitarbeitern der Forschungsstelle für Internationales Management und Innovation, Prof. Dr. Michael Stephan, Dr. Mark Beyer, Dipl.-oec. Nuria-Julia Martín-Pérez, Dipl.-Psych. Christopher Gresse und Dipl.-oec. Raina König für die anregenden Diskussionen und die sehr angenehme Zusammenarbeit. Ausdrücklich möchte ich mich bei Frau Barbara Ungerer und Frau Evelyn Aulitzky bedanken, die mir beide mit ihrer freundlichen und hilfsbereiten Art den Weg durch die administrativen Niederungen der Promotion geebnet haben. Sie alle haben mich in hervorragender Weise in das Lehrstuhlleben integriert. Nicht zu vergessen sind auch die Anregungen der wissenschaftlichen Kollegen von anderen in- und ausländischen Hochschulen, die in meine Dissertation eingeflossen sind. Insbesondere die Doktorandenkolloquien an den Universitäten in Bamberg, Eichstätt-Ingolstadt und Kaiserslautern sowie wie die DRUID Winter Conference in Aalborg, Dänemark haben sich als fruchtbarer Nährboden erwiesen. Zu Dank verpflichtet bin ich auch allen, die die Mühe des zwischenzeitlichen und finalen Korrekturlesens auf sich genommen haben. Abschließend möchte ich bei den Menschen für ihr Verständnis bedanken, für die ich während der Erstellung dieses Textes zu wenig Aufmerksamkeit aufbringen konnte. Hiezu zählen nicht zuletzt meine Partnerin Sabine Müller sowie meine Eltern, Christel und Joachim Kohler, die mich während meiner gesamten Ausbildungszeit ideell und materiell unterstützt haben. Ihnen widme ich diese Arbeit. Jens Kohler

Inhaltsübersicht 1

Einleitung............................................................................................................. 1

2

Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess .........................11

3

Die Einführung von neuen Methoden in MNU ...................................................57

4

Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern ................129

5

Interpretative Wissensbestandteile: Ein vernachlässigtes Phänomen .............179

6

Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern ...............................193

7

Schlussbetrachtung .........................................................................................237

Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis .......................................................................................XVII Abbildungsverzeichnis .........................................................................................XIX 1

2

Einleitung ........................................................................................................... 1 1.1

Empirische Relevanz der Arbeit und Konkretisierung der Problemstellung ......................................................................................... 2

1.2

Forschungskonzeption.............................................................................. 3

1.3

Aufbau der Arbeit ....................................................................................... 4

Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess .................11 2.1 Prozessmodelle zum Innovationsmanagement..................................... 11 2.1.1 Allgemeine Prozessmodelle ................................................................ 12 2.1.1.1 Modelle des Innovationsprozesses .............................................. 12 2.1.1.2 Organisatorisches Design für die Projektebene im Innovationsprozess ...................................................................... 14 2.1.1.3 Stage-Gate-Modell ....................................................................... 16 2.1.2 Prozessmodelle am Beispiel der Automobilindustrie........................... 18 2.1.2.1 Empfehlung zur Ablaufplanung des VDA ..................................... 20 2.1.2.2 Prozesssynchronisation zwischen OEM und Zulieferer ............... 22 2.1.2.3 Produktentwicklungsprozess am Beispiel Mercedes-Benz .......... 27 2.2 Theoretische Grundlagen zum Wissenstransfer ................................... 31 2.2.1 Individuelles und organisationales Lernen .......................................... 31 2.2.1.1 Routinen als organisationale Wissensbasis ................................. 31 2.2.1.2 Organisationale Handlungstheorien und Lernniveaus ................. 34 2.2.1.3 Informationsbedürfnisse und Informationsnutzung ...................... 36 2.2.2 Modelle des Wissenstransfers ............................................................ 39 2.2.2.1 2.2.2.2 2.2.2.3 2.2.2.4 2.3

Explizites vs. implizites Wissen.................................................... 40 Theorie der Wissensgenerierung ................................................. 41 4I Framework des organisationalen Lernens ............................... 44 Generativer Tanz zwischen Knowledge und Knowing ................. 45

Formen und typische Barrieren des Wissenstransfers bei hoher Komplexität............................................................................................... 47 2.3.1 Formen des Wissenstransfers............................................................. 47 2.3.2 Typische Barrieren beim Transfer von Wissen.................................... 50

XII

Inhaltsverzeichnis

2.3.3 3

Merkmale und Einfluss hoher Komplexität .......................................... 55

Die Einführung von neuen Methoden in MNU................................................57 3.1 Erklärungsansätze zu Diffusion und Rollen im Innovationsprozess... 58 3.1.1 Diffusion von Innovationen .................................................................. 58 3.1.2 Rollen im Innovationsprozess ............................................................. 60 3.1.2.1 3.1.2.2 3.1.2.3

Rolle des technologischen Gatekeepers...................................... 61 Ursprung und Erweiterungen des Promotorenmodells ................ 61 Technologieintegrationsteams ..................................................... 65

3.2 Fallstudie 1: Pilotierung und Rollout einer neuen Methode ................. 67 3.2.1 Konzeption der IQT und Anwendung in einem spezifischen Kontext .. 68 3.2.1.1 Initiierungs- und Konzeptionsphase ............................................. 68 3.2.1.2 Erstmalige Anwendung ................................................................ 70 3.2.1.3 Flächendeckende Einführung im bestehenden Anwendungskontext..................................................................... 72 3.2.1.4 Vorstellung auf Vorstandsebene .................................................. 75 3.2.2 Weiterentwicklung und Institutionalisierung ........................................ 76 3.2.2.1 3.2.2.2 3.2.2.3 3.2.2.4

Einführung in neuen Anwendungskontexten Stufe 1 ................... 76 Etablierung eines Betreibermodells ............................................. 80 Einführung in den USA ................................................................ 82 Verabschiedung einer Verfahrensanweisung und zweite Vorstandspräsentation ................................................................. 84 3.2.2.5 Einführung in neuen Anwendungskontexten Stufe 2 ................... 85 3.2.3 Neue Herausforderungen für die Zukunft............................................ 86 3.2.4 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen ...................................... 88 3.3 Erklärungsansätze zu Gruppenentwicklung und Mediennutzung ....... 89 3.3.1 Theorien zur Gruppenentwicklung ...................................................... 89 3.3.1.1 Theorie der Gruppenentwicklung nach Tuckman......................... 92 3.3.1.2 Time, Interaction, Performance-Theorie ...................................... 93 3.3.2 Theorien zur Mediennutzung bei der Gruppenarbeit........................... 96 3.3.2.1 3.3.2.2

Media-Richness-Theorie .............................................................. 96 Media-Synchronicity-Theorie ....................................................... 98

3.4 Fallstudie 2: Transfer von neuen Methoden an Servicestützpunkte . 103 3.4.1 Hintergrund und Vorgehensweise ..................................................... 103 3.4.1.1 Wissenstransfer im Kontext Diagnosesysteme .......................... 104 3.4.1.2 Beschreibung des Untersuchungsobjekts .................................. 104 3.4.1.3 Gang der Untersuchung............................................................. 106

Inhaltsverzeichnis

XIII

3.4.2 Kommunikationskanäle im Detail ...................................................... 107 3.4.2.1 Zentrale Schulungseinheit.......................................................... 107 3.4.2.2 Werkstattinformationen .............................................................. 111 3.4.2.3 Newsletter .................................................................................. 116 3.4.2.4 Messen ...................................................................................... 118 3.4.3 Ergebnisse der Analyse .................................................................... 120 3.4.4 Schlussfolgerungen zur Auswahl von Kommunikationskanälen ....... 122 3.5 Fallstudie 3: Geschäftsbereichsübergreifende Standardisierung ..... 124 3.5.1 Standardisierungsziele im Projekt Standard-E/E............................... 124 3.5.2 Kritische Ereignisse bei der Definition gemeinsamer Teststandards. 125 3.5.3 Schlussfolgerungen........................................................................... 128 4

Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern..........129 4.1 Zusammenarbeit zwischen OEM und E/E-Zulieferer........................... 129 4.1.1 Formen der Zusammenarbeit............................................................ 129 4.1.1.1 Kooperation in Projekthäusern................................................... 130 4.1.1.2 Räumliche Trennung und Resident Engineering........................ 132 4.1.2 Erfolgsfaktoren bei der Zusammenarbeit in der Serienentwicklung .. 133 4.1.2.1 4.1.2.2 4.1.2.3 4.1.2.4 4.1.2.5 4.1.2.6 4.1.2.7

Frühe interdisziplinäre Zusammenarbeit .................................... 134 Standardisierung von Begriffen, Darstellungsarten und Vorgehensweisen ...................................................................... 135 Stringentes Änderungs- und Versionsmanagement................... 136 Frühzeitige Klärung von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortungen........................................................................ 138 Klare Schnittstellendefinition bei Komponenten und Systemen . 139 Kontinuierlicher Informationsaustausch mit Feedback-Schleifen ................................................................... 140 Geregelter Erfahrungsaustausch zwischen Produktprojekten.... 142

4.2 Fallstudie 4: Lieferantenauswahl in der Lastenheftphase .................. 143 4.2.1 Hintergrund und Zielsetzung des Prüftools CheCK........................... 143 4.2.2 Anbieterauswahlprozess zur Realisierung ........................................ 144 4.2.3 Request for Information und Eingrenzung der potenziellen Anbieter 144 4.2.4 Detailanfrage mit Lastenheft und Requirements-Liste ...................... 145 4.2.5 Vorstellung und Bewertung der Angebote......................................... 146 4.2.6 Schlussfolgerungen........................................................................... 149 4.3 Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL........................................... 150 4.3.1 Externe F&E-Aufwendungen in Deutschland .................................... 151 4.3.2 Projektabhängige Zusammenarbeit .................................................. 153

XIV

Inhaltsverzeichnis

4.3.2.1 Vergabearten bei der Beauftragung von EDL ............................ 153 4.3.2.2 Zusammensetzung der Projektgruppen ..................................... 155 4.3.3 Räumliche Verteilung der Mitarbeiter bei der Projektarbeit ............... 158 4.3.3.1 Vorteile der Vor-Ort-Arbeit beim OEM ....................................... 159 4.3.3.2 Vorteile der räumlichen Trennung.............................................. 161 4.3.3.3 Mischformen .............................................................................. 162 4.3.4 Personengebundener Wissenstransfer ............................................. 164 4.3.4.1 Personaltransfer auf Sachbearbeiterebene................................ 164 4.3.4.2 Personaltransfer auf Managementebene ................................... 166 4.3.5 Strategien des OEM bei der Beauftragung von EDL......................... 169 4.3.5.1 Instrumente zur Wissenssicherung ............................................ 169 4.3.5.2 Interner vs. externer EDL: Das Zwiebelschalenmodell .............. 171 4.3.5.3 Praxisbeispiele für das Zwiebelschalenmodell........................... 174 5

Interpretative Wissensbestandteile: Ein vernachlässigtes Phänomen .....179 5.1 Objektiver Inhalt vs. subjektive Interpretation von Wissen ................ 179 5.1.1 Notwendigkeit zur stärkeren Betrachtung interpretativer Wissensbestandteile.......................................................................... 179 5.1.2 Äquivokes Wissen als neue Dimension ............................................ 181 5.2

Gestaltung eines Instruments zur Aufdeckung von kritischen Transfersituationen................................................................................ 183 5.2.1 Methodische Vorgehensweise .......................................................... 184 5.2.2 Operationalisierung relevanter Dimensionen .................................... 185 5.2.3 Ableitung von Handlungsempfehlungen............................................ 189

6

Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern ..........................193 6.1 Grundlegende Aspekte im Transferprozess ........................................ 193 6.1.1 Motivation für den Aufbau von IDL .................................................... 193 6.1.2 Verhältnis zwischen IDL und den Anwendern ................................... 196 6.1.3 Dokumentation und Übergabe von Ergebnissen............................... 199 6.1.4 Einfluss räumlicher Nähe .................................................................. 200 6.1.5 Personaltransfer zwischen IDL und Nutzergruppe ............................ 202 6.2

Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU................................................................................. 203 6.2.1 Pilotphase – Proof of Concept........................................................... 205 6.2.1.1 Auswahl des Pilotprojekts .......................................................... 205 6.2.1.2 Analyse der Randbedingungen.................................................. 207 6.2.1.3 Informationsbeschaffung und Konzeption .................................. 209 6.2.1.4 Besondere Problematik äquivoken Wissens .............................. 210

Inhaltsverzeichnis

XV

6.2.1.5 Organisatorische Fragestellungen in der Pilotphase.................. 213 6.2.1.6 Effektiver Transfer des Methoden Know-hows........................... 214 6.2.1.7 Aspekte der internen Kommunikation ........................................ 216 6.2.2 Rollout – Standardisierung der Methode........................................... 217 6.2.2.1 Nutzennachweis des Pilotprojekts ............................................. 217 6.2.2.2 Zentrale vs. dezentrale Weiterentwicklung der Methode ........... 218 6.2.2.3 Motivation für die Einbindung des IDL beim Rollout................... 220 6.2.2.4 Organisatorische Ausgestaltung bei Einbindung des IDL .......... 220 6.2.2.5 Know-how Transfer zu den Anwendern der Methode ................ 223 6.2.2.6 Interne Kommunikation zur Unterstützung der Diffusion ............ 224 6.2.2.7 Besonderheiten bei standortübergreifendem Rollout ................. 225 6.2.2.8 Betreibermodelle zur Unterstützung der nachhaltigen Anwendung der Methode ........................................................... 228 6.2.3 Migration – Adaption an einen neuen Anwendungskontext .............. 230 6.2.3.1 Motivation für die Migration einer Methode durch den IDL......... 231 6.2.3.2 Vorbereitung der Migration......................................................... 232 6.2.3.3 Pilotierung und Rollout im Rahmen der Migration...................... 233 6.2.3.4 Weiterentwicklung der Methode durch den IDL ......................... 235 7

Schlussbetrachtung .......................................................................................237 7.1

Zusammenfassende Darstellung der Untersuchungsergebnisse...... 240

7.2

Implikationen für Forschung und Unternehmenspraxis..................... 246

Literaturverzeichnis ..............................................................................................249

Abkürzungsverzeichnis AF

Angebotsanfrage

AG

Aktiengesellschaft, Angebotsabgabe

AKV

Aufgaben, Kompetenzen, Verantwortungen

AutoSAR

Automotive Open System Architecture

AÜG

Arbeitnehmerüberlassungsgesetz

AV

Auftragsvergabe

CAD

Computer Aided Design

CAN CBT

Controller Area Network Computer Based Training

DIN

Deutsches Institut für Normung

DF

Designfreeze

DV

Designvalidierung

E/E

Elektrik/Elektronik

EA

Entwicklungsstandabstimmung

EB

Erstmusterbereitstellung

EDL

Engineeringdienstleister

ESP

Elektronisches Stabilitätsprogramm

F&E

Forschung und Entwicklung

GVO

Gruppenfreistellungsverordnung

IDL

Interner Dienstleister

ISI

Fraunhofer Institute for Systems and Innovation Research

ISO

Internationale Organisation für Normung

IT

Informationstechnologie

IQT

Improved Quality Testing

KG

Kommanditgesellschaft

KO

Kick Off

LL

Lessons Learned

MEPRO

Methodology for Engineering Process Synchronization

MIT

Massachusetts Institute of Technology

MNU

Multinationale Unternehmen

MSR

Manufacturer Supplier Relationship

NISTEP

National Institute of Science and Technology

XVIII

Abkürzungsverzeichnis

O. V.

Ohne Verfasser

OECD

Organisation for Economic Co-Operation and Development

OEM

Original Equipment Manufacturer

PA

Prototypabnahme

PB

Prototypbereitstellung

PT

Prototyptestumgebung

PF

Prototypfestlegung

RP

Referenzpunkt

SAE

Society of Automotive Engineers

TIP

Time, Interaction, Performance

TLA

Three Letter Acronym

TSB

Technical Service Bulletins

VDA

Verband der Automobilindustrie

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17: Abbildung 18: Abbildung 19: Abbildung 20: Abbildung 21: Abbildung 22: Abbildung 23: Abbildung 24: Abbildung 25: Abbildung 26: Abbildung 27: Abbildung 28: Abbildung 29: Abbildung 30: Abbildung 31: Abbildung 32: Abbildung 33: Abbildung 34: Abbildung 35: Abbildung 36:

Zentrale Bausteine der vorliegenden Arbeit ....................................... 5 Aufbau der Arbeit................................................................................ 6 Chain-Link-Modell des Innovationsprozess ...................................... 13 Schwergewichts-Projektmanagement nach Wheelwright/Clark........ 15 Neuproduktentwicklung im Stage-Gate-Modell nach Cooper ........... 17 Struktur von Stage-Gates ................................................................. 18 Produkttypen und Komplexität nach Clark/Fujimoto ......................... 19 Empfehlung zur Ablaufplanung eines Projekts ................................. 20 MEPRO-Prozessmodell auf Basis der VDA-Empfehlung ................ 22 MEPRO-Prozessmodell A-B............................................................. 23 MEPRO Teil-Prozess Erstellung Prototyp virtuell/real ...................... 25 MEPRO-Prozessmodell C-D ............................................................ 26 Alter und neuer MDS-Standardprozess............................................ 28 Adaption eines Standardprozesses auf einzelne Produktprojekte.... 30 Unterschiedliche Lernniveaus .......................................................... 35 Kommunikation in Abhängigkeit der Entfernung............................... 38 Spiralmodell der Wissensumwandlung............................................. 41 4I Framework ................................................................................... 44 Generativer Tanz zwischen Knowledge und Knowing...................... 46 Wissenstransfer in Abhängigkeit des Kontextes............................... 48 Formen des Wissenstransfers.......................................................... 49 Barrieren beim Transfer von Best Practices ..................................... 51 Interne und externe Schnittstellen beim Wissenstransfer................. 56 Promotoren im Innovationsmanagement.......................................... 63 Dynamischer Rollenwandel der Promotoren .................................... 64 Zwei Modelle zum Management von F&E ........................................ 66 Übersicht über relevante Marken und Geschäftsbereiche................ 67 Gesamtkonzept der IQT ................................................................... 70 Projektorganisation bei Marke 1-1 des GB 1 während des Rollouts. 74 Weiterentwicklung der IQT für Entwicklung und After Sales............. 78 Pilot und Rollout der IQT innerhalb von OEM A ............................... 85 Evolution der IQT ............................................................................. 88 Modelle der Gruppenentwicklung ..................................................... 90 Vier Phasen der Gruppenentwicklung nach Tuckman...................... 92 Funktionen und Modi der TIP-Theorie .............................................. 94 Media-Richness-Modell .................................................................... 98

XX Abbildung 37: Abbildung 38: Abbildung 39: Abbildung 40: Abbildung 41: Abbildung 42: Abbildung 43: Abbildung 44: Abbildung 45: Abbildung 46: Abbildung 47: Abbildung 48: Abbildung 49: Abbildung 50: Abbildung 51: Abbildung 52: Abbildung 53: Abbildung 54: Abbildung 55: Abbildung 56: Abbildung 57: Abbildung 58: Abbildung 59:

Abkürzungsverzeichnis

Mediencharakteristika in der Media-Synchronicity-Theorie ............ 100 Charaktereigenschaften ausgewählter Medien .............................. 100 Konvergente und divergente Kommunikationsprozesse................. 101 Dimensionen der Media-Synchronicity-Theorie.............................. 102 Diagnoserelevante Kommunikation zwischen Zentrale und Märkten .......................................................................................... 105 Entscheidungsmatrix zur Auswahl der Kommunikationskanäle...... 121 Reaktion auf die gesendeten Folien und Gegenreaktion................ 126 Übersicht der wichtigsten Ereignisse im Zeitablauf ........................ 127 Kritische Ereignisse bei der Anbieterauswahl................................. 144 Externe F&E-Aufwendungen in Deutschland ................................. 151 Kommunikation OEM-EDL in Abhängigkeit der räumlichen Verteilung ....................................................................................... 158 Personaltransfer an der Schnittstelle zwischen EDL und OEM ...... 167 Zwiebelschalenmodell .................................................................... 172 Beurteilung der strategischen Bedeutung....................................... 173 Zwiebelschalenmodell am Beispiel Softwareentwicklung für Steuergeräte................................................................................... 175 Objektive vs. subjektive Wissensbestandteile ................................ 182 Messung des Grades der Explizitheit von Wissen.......................... 186 Messung des Grades der interpretativen Kohärenz von Wissen.... 187 Effektive Gestaltung des Wissenstransfers .................................... 190 Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden. 203 Organisatorische Gestaltung des Rollouts in einer Projektorganisation......................................................................... 222 Evolutionärer Prozess bei der Implementierung einer neuen Methode ......................................................................................... 231 Anpassung einer Methode an einen neuen Anwendungskontext... 234

1 Einleitung Die Organisation von Forschung und Entwicklung (im Folgenden abgekürzt als F&E) wandelt sich in zunehmendem Maße, wobei insgesamt drei signifikante Trends identifiziert werden können. Erstens kann in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme der Innovationsgeschwindigkeit in allen innovativen Industrien beobachtet werden, was letztlich in kürzeren Produktzyklen mündet. Zweitens findet bei Multinationalen Unternehmen (im Folgenden abgekürzt als MNU) eine Globalisierung der F&E-Aufwendungen weg vom Stammland hin zu weltweit jeweils besten Standorten statt.1 Drittens ist zu beobachten, dass sich der Innovationsprozess von einem traditionellen Upstream Technologie-Push hin zu einem Nachfrage- und LeadMarkt orientiertem Prozess wandelt, bei dem die Innovationsaktivitäten mehr und mehr Downstream ausgerichtet sind. Schnelle Innovationen benötigen eine frühe Interaktion mit Kunden, engen Kontakt zu Lead-Märkten und eine Stärkung des Front-Ends des Innovationsprozesses.2 Diese Trends erfordern bereits in frühen Phasen des Innovationsprozesses ein interdisziplinäres Zusammenspiel von verschiedenen funktionalen Einheiten innerhalb MNU, sowie die frühe Interaktion mit externen Partnern wie Zulieferern und Dienstleistern. Gerade bei komplexen Produkten müssen vor diesem Hintergrund zahlreiche Technologien aus verschiedensten Wissensgebieten in Form von Komponenten und Subsystemen integriert werden. Kritisch ist in diesem Zusammenhang oftmals nicht die Beherrschung von einzelnen Technologien, sondern die Systemintegration3, bei der die Entwicklungsaktivitäten zwischen verschiedenen Partnern synchronisiert und in einem komplexen Zusammenspiel zusammengeführt werden müssen. Hieraus resultieren neue Herausforderungen beim Wissenstransfer, da die unterschiedlichen Hintergründe und Erfahrungen der beteiligten Einheiten eine entscheidende Rolle spielen.

1

2

3

Der Global Benchmarking Survey on the Strategic Management of Technology zeigt, dass die F&E-Aufwendungen außerhalb des Stammlands von 1995 bis 2001 bei großen nordamerikanischen, europäischen und japanischen MNU kontinuierlich gestiegen sind (Roberts 2001, S. 31). Weiterhin kann festgestellt werden, dass neue Länder wie beispielsweise China, das zwischen 1996 und 2002 seine F&E-Intensität von 0,6 auf 1,2% des Bruttoinlandsprodukts verdoppelte, die globale Arena betreten und in signifikantem Maße in F&E investieren (OECD 2004, S.11). Vgl. Gerybadze (2004a, S. 104). Siehe zur Veränderung der Wissensproduktion durch die Downstreambewegung auch Gerybadze (1999, 2003) und Thomke (2003). In dem Sammelband von Prencipe/Davies/Hobday (2003) finden sich neben einer Übersicht über die Historie der Systemintegration theoretisch konzeptionelle Beiträge sowie eine Betrachtung von wettbewerbsdifferenzierenden Aspekten der Systemintegration.

2

1. Einleitung

Die existierenden Modelle des Wissenstransfers basieren auf der Dichotomie zwischen explizitem und implizitem Wissen und unterscheiden im Hinblick auf organisationales Lernen mit dem Individuum, der Gruppe und der Organisation insgesamt drei miteinander verzahnte Betrachtungsebenen. Im Vordergrund stehen die objektiven und deklarativen Wissensbestandteile. Interpretative Aspekte des Wissenstransfers, die bei innovativen Vorhaben mit hoher Komplexität in Verbindung mit Interdisziplinarität, Standortverteilung und organisatorischer Trennung eine Rolle spielen, finden in diesen Studien nicht genügend Berücksichtigung.

1.1

Empirische Relevanz der Arbeit und Konkretisierung der Problemstellung

Der Anstoß für die empirische Untersuchung in dieser Arbeit kam durch die Beobachtung, dass der Transfer von Wissen und Methoden von zentralen Forschungseinheiten zu den späteren Anwendern in den einzelnen Geschäftsbereichen bei einigen Projekten deutlich besser funktionierte als bei anderen. Da dies auch bei gleichen Rahmenbedingungen der Fall war, stellte sich die Frage, worin sich Transferprojekte unterscheiden und was die kritischen Erfolgsfaktoren beim internen Wissenstransfer sind.4 Als Ausgangspunkt für die Untersuchung des Wissenstransfers bei hoher Produktund Prozesskomplexität wurden daher interne Dienstleister5 (im Folgenden abgekürzt als IDL) gewählt, deren Aufgabe es ist, Wissen zu generieren und neue Methoden für den späteren Einsatz in den verschiedenen Geschäftsbereichen zu entwickeln. Die Herausforderung für solche Einheiten liegt darin, Methoden so auszurichten, dass sie den zuvor aufgezeigten Trends Rechnung tragen und dem Unternehmen helfen, seine Wettbewerbsposition nachhaltig zu verbessern. Da es sich im Wesentlichen um ein Schnittstellenproblem zu handeln scheint, bietet es sich an, neben der Schnittstelle zwischen IDL und den Unternehmensbereichen weitere Schnittstellen bei der Analyse zu berücksichtigen. Um von verschiedensten Konstellationen zu lernen, ist die Arbeit so angelegt, dass sowohl unternehmensinterne als auch unternehmensübergreifende Schnittstellen in die Überlegungen einbezogen werden. Die Untersuchung der unternehmensinternen Schnittstellen soll 4

5

Hier kann angemerkt werden, dass sich bei MNU ein Paradigmenwechsel weg von einem einseitigen Technologietransfer hin zu global verteilten Innovationsaktivitäten vollzieht. Siehe hierzu Gupta/Govindarajan (1991, 2000) und Doz/Santos/Williamson (2001). Zu den internen Dienstleistern werden in dieser Arbeit auch Zentralforschungseinheiten gezählt, obwohl diese in der klassischen Sicht keineswegs den Dienstleistungsgedanken verfolgen. In der Fallstudie 1 in Kapitel 3.2 zeigt sich jedoch, wie sich eine ehemals klassische zentrale Forschungseinheit dienstleistungsorientiert ausrichtet.

1.2 Forschungskonzeption

3

Aufschluss darüber geben, welche Kernaspekte bei unternehmensinternem Wissenstransfer besonders zu berücksichtigen sind. Die unternehmensübergreifenden Schnittstellen werden zusätzlich in Betracht gezogen, da zu erwarten ist, dass dort ähnliche Faktoren relevant sind. Der Vorteil einer solchen Betrachtung ist, dass aufgrund der organisatorischen Trennung die relevanten Kriterien stärker ausgeprägt und somit leichter beobachtbar sein werden. Ausgehend von der konkreten empirischen Problemstellung soll in dieser Arbeit als forschungsleitende Fragestellung untersucht werden, wie der Wissens- und Methodentransfer bei hoher Produkt- und Prozesskomplexität bestmöglich gestaltet werden kann. Ein Ziel ist es, ausgehend von der Analyse unterschiedlicher Schnittstellen ein Instrument zum Aufdecken von kritischen Transfersituationen vor dem Hintergrund interpretativer Wissensbestandteile zu entwickeln. Weiterhin soll ein Vorgehensmodell zum Transfer von Wissen und Methoden an der Schnittstelle zwischen IDL und den späteren Anwendern in den operativen Bereichen (z. B. Produktion) gestaltet werden.

1.2

Forschungskonzeption

Die vorliegende Arbeit stützt sich methodisch auf den Ansatz der Grounded Theory. Eine Grounded Theory ist eine gegenstandsverankerte Theorie, die induktiv aus der Untersuchung des vorliegenden Phänomens, welches sie abbildet, abgeleitet wird. Sie wird durch systematisches Erheben und Analysieren von Daten, die sich auf das zu untersuchende Phänomen beziehen, entdeckt und vorläufig bestätigt. Am Anfang steht daher nicht die Theorie, die anschließend bewiesen werden soll, sondern ein Untersuchungsbereich. Was in diesem Bereich tatsächlich relevant ist, stellt sich insofern erst im weiteren Forschungsprozess heraus. Qualitative Forschung, wie die Grounded Theory, ist jene Art von Forschung, deren Ergebnisse keinen statistischen Verfahren oder andere Arten der Quantifizierung entspringen. Es handelt sich vielmehr um eine nicht-mathematische Vorgehensweise, die der Ergründung von Hintergründen wenig bekannter Phänomene dient.6 Ziel ist es, durch qualitative Datenanalyse und Interpretation der Wirklichkeit ein theoretisches Modell abzuleiten, das nicht nur zur Erklärung der Wirklichkeit dient, sondern auch einen Handlungsrahmen bietet. Die gebräuchlichsten Datenquellen sind Interviews und Beobachtungen, wobei die empirischen Erhebungen vielfach in

6

Vgl. Strauss/Corbin (1990, Kapitel 1).

4

1. Einleitung

Fallstudien abgebildet werden.7 Durch die begrenzte Anzahl von Fallstudien, die normalerweise erarbeitet werden können, empfiehlt es sich Beispiele von extremen Situationen zu wählen, die polar und einzigartig sind.8 Fachliche als auch nichtfachliche Literatur findet darüber hinaus in der Grounded Theory Anwendung insoweit wie sie sich im Rahmen der Studie als angemessen erweist. Allerdings wird es als nicht sinnvoll eingestuft, mit anerkannten Theorien zu beginnen, da diese regelmäßig das Entwickeln neuer theoretischer Formulierungen verhindern oder erschweren.9 Auch in dieser Arbeit wurde mit explorativen Fallstudien begonnen, um das Untersuchungsfeld einzugrenzen. Insofern spiegelt die Reihenfolge der Kapitel, welche im nachfolgend beschrieben wird, nicht den Forschungsprozess wieder.

1.3

Aufbau der Arbeit

Die theoretisch konzeptionelle Basis für diese Arbeit wird in Kapitel 2 durch eine Aufarbeitung der grundlegenden Literatur zum Wissenstransfer bei hoher Produktund Prozesskomplexität im Kontext des Innovationsmanagements gelegt. Hier werden zunächst Prozessmodelle zum Innovationsmanagement aufgezeigt, bevor auf theoretische Grundlagen zum Wissenstransfer eingegangen wird. Weiterhin werden Formen und typische Probleme des Wissenstransfers thematisiert Kapitel 3 geht auf den Wissenstransfer bei der Einführung von neuen Methoden innerhalb von Unternehmen ein. In diesem Zusammenhang wird auf spezifische Literatur im Hinblick auf die Diffusionsforschung eingegangen. Ergänzend hierzu werden Rollen, die im Hinblick auf Innovationsprozesse relevant sind, aufgezeigt. Weiterhin finden sich Erklärungsansätze zur Gruppenentwicklung und Mediennutzung. Gespiegelt werden die theoretischen Erkenntnisse jeweils an den in Abbildung 1 visualisierten und nachfolgend erläuterten Fallstudien (Erhebungen 1-3). Vertiefende empirische Untersuchungen auf Basis von Fallstudien, Dokumentenanalysen und zahlreichen Interviews finden sich in Kapitel 4, welches den Wissenstransfer an der Schnittstelle zu externen Partnern beleuchtet (Erhebungen 46). Externe Partnern sind in diesem Zusammenhang sowohl Zulieferer als auch Engineeringdienstleister (Im Folgenden abgekürzt als EDL).

7 8

9

Siehe zur Fallstudienforschung beispielsweise Yin (2003). Vgl. Eisenhardt (1989, S. 537). Siehe zu Auswahlverfahren beispielsweise auch Schnell/Hill/Esser (1993, S. 271-280). Vgl. Strauss/Corbin (1990, Kapitel 1).

5

1.3 Aufbau der Arbeit

Aufbauend auf den theoretischen und empirischen Erkenntnissen findet abschließend die Theoriebildung statt. In Kapitel 5 wird ein Instrument zur Aufdeckung von kritischen Transfersituationen gestaltet und in Kapitel 6 ein Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden in MNU abgeleitet. Die Arbeit schließt mit einer Schlussbetrachtung in Kapitel 7.

Literaturanalyse • Prozessmodelle zum Innovationsmanagement • Theoretische Grundlagen zum Wissenstransfer • Formen und typische Probleme des Wissenstransfers • Diffusion und Rollen im Innovationsprozess • Gruppenentwicklung und Mediennutzung

Theoriebildung Instrument zur Aufdeckung von kritischen Transfersituationen

Vergleich Erhebung 1

Auswertung

Erhebung 2

Pilotierung und Rollout einer neuen Methode

Erhebung 6

Kommunikation neuer Methoden an Servicestützpunkte

Erhebung 3

Auswertung

Auswertung

Lieferantenauswahl in der Lastenheftphase

Auswertung

Geschäftsbereichsübergreifende Standardisierung

Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL

Erhebung 5

Auswertung

Erhebung 4

Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden in MNU

Auswertung

Zusammenarbeit zwischen OEM und Zulieferer

Fallstudien Interviews und Dokumentenanalysen

Empirische Erhebung und Auswertung Abbildung 1: Zentrale Bausteine der vorliegenden Arbeit

Die grundlegende Literatur in Kapitel 2 gliedert sich, wie in Abbildung 2 gezeigt, in drei Teile. Kapitel 2.1 stellt allgemeine Prozessmodelle zum Innovationsmanagement vor, wobei auch auf Formen des organisatorischen Designs auf Projektebene eingegangen wird. Weiterhin werden Stage-Gate-Modelle der Produktentwicklung aufgezeigt.10 Um bereits an dieser Stelle die Brücke zur Empirie zu schlagen, werden die genannten Aspekte am Beispiel der Automobilindustrie gespiegelt. Eingegangen wird in diesem Zusammenhang auf die Empfehlung zur Ablaufplanung des Verbands

10

Siehe hierzu Cooper (2001).

6

1. Einleitung

der Automobilindustrie (im Folgenden abgekürzt als VDA), welche die Grundlage für die anschließende Betrachtung der Prozesssynchronisation zwischen Automobilhersteller (im Folgenden abgekürzt als OEM11) und Zulieferer bildet. Abschließend wird ein Produktentwicklungsprozess am Beispiel Mercedes-Benz vorgestellt. 1 Einführung 1.1

1.2

1.3

Emirische Relevanz und Konkretisierung der Problemstellung

Forschungskonzeption

Aufbau der Arbeit

2 Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess 2.1 Prozessmodelle zum Innovationsmanagement

2.2

2.3

Theoretische Grundlagen zum Wissenstransfer

Formen und typische Barrieren des Wissenstransfers bei hoher Komplexität

3 Die Die Einführung von neuen Methoden in MNU 3.1

3.2

3.3

3.4

3.5

Erklärungs-ansätze zu Diffusion und Rollen im Innovationsprozess

Fallstudie 1: Pilotierung und Rollout einer neuen Methode

Erklärungsansätze zu Gruppenentwicklung und Mediennutzung

Fallstudie 2: Transfer von neuen Methoden an Servicestützpunkte

Fallstudie 3: Geschäftsbereichs übergreifende Standardisierung

4 Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern 4.1 Zusammenarbeit zwischen OEM und E/E Zulieferer

4.2

4.3

Fallstudie 4: Lieferantenauswahl in der Lastenheftphase

Zusammenarbeit zwischen Hersteller und Engineeringdienstleister

5 Interpretative Wissensbestandteile: Ein vernachlässigtes Phänomen 5.1

5.2

Objektiver Inhalt vs. subjektive Interpretation von Wissen

Gestaltung eines Instruments zur Aufdeckung von kritischen Transfersituationen

6 Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern 6.1

6.2

Grundlegende Aspekte im Transferprozess

Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden in MNU

7 Schlussbetrachtung 7.1

7.2

Zusammenfassende Darstellung der Untersuchungsergebnisse

Implikationen für Forschung und Unternehmenspraxis

Abbildung 2: Aufbau der Arbeit 11

OEM = Original Equipment Manufacturer.

1.3 Aufbau der Arbeit

7

In Kapitel 2.2 werden theoretische Grundlagen zum Wissenstransfer gelegt. Hierbei wird in einem ersten Schritt das Themenfeld des individuellen und organisationalen Lernens in dem Blickwinkel der Routine als organisationaler Wissensbasis angerissen, bevor im Weiteren auf organisationale Handlungstheorien und Lernniveaus eingegangen wird. Ergänzt wird dieser Teil durch Literatur zu Informationsbedürfnissen und Informationsnutzung. In einem zweiten Schritt findet eine Vorstellung von relevanten Modellen des Wissenstransfers statt, wobei hier zunächst die Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Wissen erläutert wird. Anschließend folgen mit der Theorie der Wissensgenerierung nach Nonaka/Takeuchi (1995), dem 4I Framework des organisationalen Lernens nach Crossan/Lane/White (1999) und dem generativen Tanz zwischen Knowledge und Knowing nach Cook/Brown (1999) die eigentlichen Modelle des Wissenstransfers.12 Formen und typische Barrieren des Wissenstransfers werden in Kapitel 2.3 zusammengestellt. In diesem Zusammenhang wird insbesondere auf Merkmale von hoher Komplexität eingegangen bevor deren Einfluss auf den Wissenstransfer diskutiert wird. Kapitel 3 behandelt die spezielle Frage des Wissenstransfers bei der Einführung von neuen Methoden in MNU. Hier werden in Kapitel 3.1 zunächst Erklärungsansätze zur Diffusion und Rollen im Innovationsprozess herangezogen. In Hinsicht auf die Rollen wird auf technologische Gatekeeper, Promotoren und Technologieintegrationsteams eingegangen. Es folgt Kapitel 3.2 mit Fallstudie 1 eine explorative Erhebung, welche die erstmalige Einführung sowie die Verbreitung einer neuen Methode innerhalb eines Unternehmens beschreibt. Es wird ein überaus erfolgreiches Projekt beschrieben, bei dem der Transfer enorm schnell und darüber hinaus einhergehend mit einer sehr hohen Akzeptanz bei den späteren Anwendern vollzogen wurde. Ziel ist es hier, die vorher aufgezeigten Erklärungsansätze an der Empirie zu spiegeln und zusätzliche Erkenntnisse für die weitere Betrachtung abzuleiten.13 Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass die inhaltliche Richtigkeit dieser und der folgenden Fallstudien jeweils durch die interviewten Experten aus der Unternehmenspraxis verifiziert wurde. In dieser Fallstudie wird deutlich, dass eine Betrachtung von Erklärungsansätzen zu Gruppenentwicklung und Mediennutzung notwendig ist.

12 13

Vgl. Nonaka/Takeuchi (1995), Crossan/Lane/White (1999), Cook/Brown (1999). Somit wird die Forderung von Eisenhardt (1989, S. 537) nach einer Darstellung von extremen Situationen in Fallstudien berücksichtigt.

8

1. Einleitung

In Bezug auf die Gruppenentwicklung werden daher in Kapitel 3.3 neben einer Übersichtsdarstellung insbesondere die Theorie der Gruppenentwicklung nach Tuckman (1965) und Tuckman/Jensen (1977), sowie die Time, Interaction, Performance Theorie nach McGrath (1991) beleuchtet. Als relevante Theorien für die Mediennutzung bei der Gruppenarbeit werden die Media-Richness-Theorie nach Daft/Lengel (1986) und die neuere, in der deutschsprachigen Literatur noch nicht sehr stark verbreiteten, Media-Synchronicity-Theorie nach Dennis/Valacich (1999) herangezogen.14 Die Fokussierung auf den Wissenstransfer zwischen einzelnen Projektgruppen in Fallstudie 1 macht es erforderlich, im Rahmen einer weiteren Fallstudie einen Gegenpol aufzubauen. Folglich wird die Perspektive in Fallstudie 2 in Kapitel 3.4 auf den Wissenstransfer zu einer Vielzahl von global verteilten Mitarbeitern gelenkt. Hier wird eine Reihe von möglichen Kommunikationskanälen am Beispiel des Transfers von neuen Methoden an Servicestützpunkte identifiziert und detailliert beschrieben. Diese Kommunikationskanäle werden im Rahmen der Auswertung im Hinblick auf ihre situationsspezifische Angemessenheit diskutiert und abschließend in einer Matrix klassifiziert. Ergänzend wird in Kapitel 3.5 in Fallstudie 3 die in Fallstudie 1 lediglich tangierte, jedoch überaus interessante Fragestellung der länderübergreifenden Standortverteilung im Rahmen eines geschäftsbereichsübergreifenden Standardisierungsprojekts beleuchtet. Da es sich im Gegensatz zu der vorher erwähnten Fallstudie um Unternehmensbereiche handelt, die aufgrund ihrer länderübergreifenden Standortverteilung zuvor wenig Kontakt hatten, treten weitere interessante Aspekte auf, welche einen signifikanten Einfluss auf den Wissenstransfer haben. Die in den bisher genannten Fallstudien thematisierten unternehmensinternen Schnittstellen werden zusätzlich um eine Betrachtung von unternehmensübergreifenden Schnittstellen ergänzt. Um den Aspekt der organisatorischen Trennung beim Wissenstransfer detaillierter herausarbeiten zu können, wird in Kapitel 4.1 die Zusammenarbeit zwischen OEM und Zulieferer im Bereich Elektrik/Elektronik (im Folgenden abgekürzt als E/E) im Rahmen von Experteninterviews und Dokumentenanalysen beleuchtet. Hier werden neben der Darstellung von möglichen Zusammenarbeitsformen Erfolgsfaktoren für den Wissenstransfer in der Serienentwicklung abgeleitet.

14

Vgl. Tuckman (1965), Dennis/Valacich (1999).

Tuckman/Jensen

(1977),

McGrath

(1991),

Daft/Lengel

(1996),

1.3 Aufbau der Arbeit

9

Da sich gerade die frühe Phase der Zusammenarbeit15 für den Wissenstransfer als besonders interessant herausstellt, wird in Fallstudie 4 in Kapitel 4.2 auf diesen Aspekt am Beispiel der Lieferantenauswahl in der Lastenheftphase im Detail eingegangen. In Fallstudie 1 wird gezeigt, dass in einer bestimmten Transferphase der Einsatz von EDL interessant ist. Daher wird der Wissenstransfer zwischen OEM und EDL in Kapitel 4.3 auf Basis von Experteninterviews gesondert untersucht. Zur Betonung der Relevanz dieser Schnittstelle wird zunächst ein Überblick über externe F&E-Aufwendungen in Deutschland gegeben, bevor die projektabhängige Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL betrachtet wird. Abschließend hierzu wird der personengebundene Wissenstransfer ins Licht der Betrachtung gerückt und auf Strategien des OEM bei der Beauftragung von EDL eingegangen. Aufbauend auf den theoretischen und empirischen Erkenntnissen werden in Kapitel 5 interpretative Wissensbestandteile betrachtet. Hier wird die Unterscheidung zwischen objektiven Inhalt und subjektiver Interpretation von Wissen thematisiert, auf die Notwendigkeit zur stärkeren Betrachtung interpretativer Wissensbestandteile hingewiesen und äquivokes Wissen als neue Dimension eingeführt. Weiterhin findet sich als Kern dieses Kapitels die Ausarbeitung eines Instruments zur Aufdeckung von kritischen Transfersituationen vor dem Hintergrund interpretativer Wissensbestandteile, das mit entsprechenden Handlungsempfehlungen verknüpft ist In Kapitel 6 wird ein Gestaltungsansatz für den Transfer von Wissen und Methoden bei hoher Produkt- und Prozesskomplexität aus dem Blickwinkel eines IDL aufgezeigt. Hier werden ebenfalls die zuvor erarbeiteten theoretischen und empirischen Ergebnisse zugrunde gelegt. Es werden in einem ersten Schritt grundlegende Aspekte im Transferprozess beleuchtet, die unabhängig von bestimmten Transferphasen sind. In einem zweiten Schritt wird ein dreistufiger Ansatz zum Transfer von Wissen und Methoden präsentiert, der mit seinen Handlungsempfehlungen auf die Spezifika der unterschiedlichen Transferphasen zugeschnitten ist. Die Arbeit schließt in Kapitel 7 mit einer Schlussbetrachtung. Hier werden die wesentlichen Erkenntnisse zusammengefasst und Implikationen für Forschung und Praxis aufgezeigt.

15

Frühe Phasen des Innovationsprozesses sind dadurch gekennzeichnet, dass die in diesem Kontext ablaufenden Aktivitäten eher unstrukturiert und dynamisch sind. Die Unsicherheiten im Hinblick auf den Markt als auch auf die Technologie sind hier am größten. Dies wird auch durch den Begriff „fuzzy front end“ ausgedrückt (Herstatt/Verworn 2003, S. 11).

2 Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess Kernthema dieser Arbeit ist die Untersuchung des Wissenstransfers vor dem Hintergrund hoher Komplexität im Innovationsprozess. Ziel der folgenden Kapitel ist es daher, zunächst ein Grundverständnis über Modelle des Innovationsprozesses zu vermitteln. Aufbauend hierauf werden theoretische Grundlagen zum Wissenstransfer dargelegt, wobei insbesondere auf individuelles und organisationales Lernens sowie Modelle des Wissenstransfers eingegangen wird. Als Anknüpfungspunkte für die weiteren Ausführungen werden abschließend Formen und typische Probleme des Wissenstransfers beleuchtet.

2.1

Prozessmodelle zum Innovationsmanagement

Das Management von Technologie und Innovation bedarf umfassender und integrativer Fähigkeiten zur systematischen Generierung und Aneignung von Wissen.16 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die meisten Innovationen offenbar nicht an technischen, sondern organisatorischen Fragestellungen scheitern: „Close analysis of many technological innovations over the years reveals that although there are technical difficulties – bugs to fix, teething troubles to be resolved and the occasional major technical barrier to surmount – the majority of failures are due to some weakness in the way the process is managed“17

Zum Verständnis dieses Sachverhalts werden nachfolgend in einem ersten Schritt allgemeine Prozessmodelle aufgezeigt, die im Zusammenhang mit der Neuproduktentwicklung stehen. In einem zweiten Schritt werden diese am Beispiel der Automobilindustrie gespiegelt, um frühzeitig einen empirischen Bezug herzustellen. Hierbei wird nicht nur auf OEM-spezifische Prozessmodelle abgezielt sondern gerade auch die Schnittstelle zwischen OEM und Zulieferer beleuchtet. Somit werden auch die oben genannten integrativen Fähigkeiten ins Licht der Betrachtung gerückt.

16

17

Das Fachgebiet Technologie und Innovationsmanagement ist im deutschen Sprachraum in den letzten zehn Jahren stark ausgebaut worden. Für eine Übersicht der relevanten Monografien und Fachzeitschriften siehe Gerybadze (2004b, S. 43-46). Zu den aktuellen Entwicklungen im transnationalen Management von Innovationen siehe Gerybadze/Reger (1999). Vgl. Tidd/Bessant/Pavitt (1997, S. 32).

12

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

2.1.1

Allgemeine Prozessmodelle

In Bezug auf die Modelle des Innovationsprozesses wird im Folgenden zunächst auf die klassischen linear-sequentiellen Modelle eingegangen, bevor mit einer ausführlicheren Darstellung des Chain-Link-Modells nach Kline/Rosenberg (1986) die neueren Entwicklungen aufgezeigt werden. Die in diesem Zusammenhang bedeutsame Projektebene wird dann in Bezug auf organisatorische Gestaltungsformen beleuchtet. Abschließend wird das Stage-Gate-Modell für die Neuproduktentwicklung nach Cooper (2001) skizziert.

2.1.1.1

Modelle des Innovationsprozesses

Gibbons (1994) unterscheidet zwei verschiedene Modi der Wissensgenerierung. Der klassische forschungsgetriebene Mode 1 ist charakterisiert durch das Definieren und Lösen von Problemen durch die akademische Community, welche hierarchisch und homogen nach Disziplinen ausgerichtet ist. Der Charakter des verstärkt aufkommenden Mode 2, der die Downstreambewegung widerspiegelt, ist transdisziplinär, heterogen, heterarchisch und diskontinuierlich. Probleme werden in der Regel in einem bestimmten Anwendungskontext unter Einbeziehung der Anwender problemorientiert definiert und gelöst. In der klassischen Sichtweise spielt das linear-sequentielle Modell des Innovationsprozesses eine dominierende Rolle (Mode 1).18 Dieses Modell geht davon aus, dass eine Exploration von Wissen durch Forschung und Entwicklung stattfindet und dieses ohne Feedbackmechanismen einseitig übertragen und in nachgelagerten Stufen des Produktions- und Marktkontextes angewendet wird. Forschung und Entwicklung werden als notwendigerweise vorgelagerte Prozessstufen für den industriellen Innovationsprozess angesehen und in eine Sequenz von reiner Grundlagenforschung, anwendungsorientierter Forschung und Entwicklung zergliedert. Viele Unternehmen unterteilen noch heute ihre Innovationsaktivitäten in die klar abgegrenzten Funktionsbereiche Forschung, Entwicklung, Produktion und Vertrieb.19 Neuere Konzepte und Modellierungsansätze rücken hingegen bewusst von dem linear-sequentiellen Denken ab und versuchen die komplexe Wissensgenerierung,

18

19

Ausführliche Beschreibungen des sequentiellen Modells des Innovationsprozesses findet sich beispielsweise bei Brockhoff (1999), Bürgel/Haller/Binder (1996), Gerpott (1999) und Pleschak/Sabisch (1996). Vgl. Gerybadze (2004b, S. 23-25).

13

2.1 Prozessmodelle zum Innovationsmanagement

welche durch das Zusammenspiel verschiedener Wissenschaftsdisziplinen und Technologiegebiete geprägt ist, besser abzubilden (Mode 2). Als Schlüsselelement für die Weiterentwicklung einer neuen, kompetenzbasierten Sichtweise20 des Innovationsprozesses kann in diesem Zusammenhang das Chain-Link-Modell von Kline/Rosenberg (1986) angesehen werden, welches in leicht abgewandelter Form in Abbildung 3 visualisiert ist.21 Es handelt sich um ein vernetztes und interaktives Prozessmodell, bei der die Kette der Innovation unter Berücksichtigung von Feedback und Feed-Forward Prozessen entkoppelt von den Ebenen Forschung und Wissen betrachtet wird. Nicht Forschung sondern Wissen steht als Quelle der Innovation im Vordergrund. Die Forschung wird im Chain-Link-Modell im Gegensatz zu dem linear-sequentiellen Modell als übergreifender Bereich angesehen, auf den im Bedarfsfall während des gesamten Innovationsprozesses zurückgegriffen werden kann.

Problem, latenter Bedarf

Analytisches Design

Forschung

Forschungsschiene

Wissen

Wissensschiene

Entwicklung und Test

Redesign und Produktion

Markteinführung, Distribution

Projektschiene

Feedback/ Feed-Forward

Abbildung 3: Chain-Link-Modell des Innovationsprozess (Gerybadze 2004b, S. 27)

Somit steht die Forschung nicht notwendigerweise am Anfang des Prozesses, da oftmals gerade Anwendungsprobleme die Forschung und Wissensgewinnung antreiben. Am Anfang der Phasenabfolge stehen bereits wichtige Schritte der Problemerfassung und der Exploration potenzieller Märkte. So sind Aktivitäten zur

20

21

Siehe zum Kompetenzbegriff von Krogh/Roos (1992, S. 424) und Sanchez/Heene/Thomas (1996, S. 8). Vgl. Kline/Rosenberg (1986, S. 289) und Myers/Rosenbloom (1996, S. 212-214).

14

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

Erschließung neuer Lead Märkte,22 von denen innovationstreibende Impulse ausgehen, bereits in einem frühen Stadium verankert.23 Abschließend kann erwähnt werden, dass F&E-Dienstleistungen in zunehmendem Maße auf nahezu allen Stufen des Innovationsprozesses in Anspruch genommen werden. Diese Herausbildung von F&E-Dienstleistungen erwächst aus den folgenden Entwicklungen:24 x

Vertiefung der Arbeitsteilung im Innovationsprozess

x

Konzentration auf Kernkompetenzen

x

Wirtschaftlicher Druck auf die Umsetzung von F&E-Ergebnissen

F&E-Dienstleistungen sind somit im Chain-Link-Modell ein Bindeglied zwischen Forschungs- und Projektschiene und können beispielsweise bei der Verknüpfung von Grundlagenforschung mit der anwendungsorientierten Umsetzung unterstützen.

2.1.1.2

Organisatorisches Design für die Projektebene im Innovationsprozess

Zur Ausgestaltung der im Chain-Link-Modell aufgezeigten Projektschiene gibt es verschiedene Möglichkeiten. Insbesondere die Wahl der richtigen Projektmanagementstruktur ist hier eine kritische Erfolgsdeterminante. Wheelwright/Clark (1992) zeigen die folgenden Formen auf, wobei die Stärke des Projekts von funktional nach autonom zunimmt:25

22

23

24 25

x

Funktionales-Projektmanagement (Functional): Traditionelle hierarchische Struktur, Kommunikation zwischen den funktionalen Einheiten größtenteils über die funktional angesiedelten Manager unter Einsatz von Standardvorgehensweisen

x

Leichtgewichts-Projektmanagement (Leightweight): Traditionelle hierarchische Struktur, Projektmanager hat Koordinationsaufgabe für interfunktionale Arbeit

x

Schwergewichts-Projektmanagement (Heavyweight): Starker Projektmanager mit extensivem Einfluss auf die funktional angesiedelten Projektmitglieder und strategische Entscheidungen von funktionalen Bereichen, die kritisch für das Projekt sind

Von Hippel (1988, S. 107) beschreibt Lead User als Personen, die ihre Bedürfnisse vor der Mehrzahl der Marktteilnehmer äußern und signifikante Vorteile aus bedarfsgerechten Lösungen erlangen. Siehe hierzu auch Von Hippel (1986). Vgl. Gerybadze (2004b, S. 25-29). Ein detaillierter Vergleich des linear-sequentiellen Modells und des Chain-Link-Modells findet sich in OECD (1997). Vgl. Koschatzky/Reinhard/Grenzmann (2003, S. 1-6). Vgl. Wheelwright/Clark (1992, Kapitel 8) und Clark/Fujimoto (1991, Kapitel 9).

15

2.1 Prozessmodelle zum Innovationsmanagement

x

Autonomes-Projektmanagement (Autonomous): Projektmitglieder werden aus funktionalen Bereichen vollzeit für das Projekt abgestellt und in Bezug auf die räumliche Verteilung physisch zusammengelegt (co-located)26

Für den Erfolg von Innovationsvorhaben ist es essenziell, das Projektmanagement gegenüber dem Management aus den funktionalen Bereichen zu stärken. Dies ist beim Schwergewichts- und dem autonomen Projektmanagement der Fall. Das autonome Projektmanagement eignet sich vor diesem Hintergrund insbesondere für Vorhaben, bei denen das gesamte Produkt konzeptionell neu entwickelt und nicht auf bestehende Komponenten oder Module zurückgegriffen wird. Aufgrund der starken Ressourcenbindung kommt es hier kaum zu Synergieeffekten mit anderen Produktprojekten. Sofern es sich um komplexe Produkte handelt, bei denen eine Wiederverwendung oder Weiterentwicklung von Komponenten oder Modulen im Vordergrund steht, eignet sich das in der nachfolgenden Abbildung 4 dargestellte Schwergewichts-Projektmanagement.27

FunktionsbereichsManager

Entwicklung Center 1

Entwicklung Center 2

Produktion

Marketing

MarktAnforderungen

Projektteam Konzept ProjektManager

LiaisonManager

Abbildung 4: Schwergewichts-Projektmanagement nach Wheelwright/Clark (1992, S. 191)28

26

27

28

McDonough/Kahn/Barczak (2001, S. 111) unterscheiden in Bezug auf die räumliche Zusammenlegung von Teams insgesamt drei Arten: 1) Das co-located Team: physisch zusammengelegt, 2) Das virtuelle Team: örtlich verteilt, 3) Das globale Team: Virtuelles Team mit kulturellen Unterschieden zwischen Teammitgliedern. Ein Beispiel hierfür ist die Entwicklung einer neuen Fahrzeugbaureihe in der Automobilindustrie. So werden neue Mercedes-Modelle wie die E-Klasse und S-Klasse jeweils in einer solchen Projektorganisation entwickelt. Siehe hierzu auch Clark/Fujimoto (1991, S. 254) und Fujimoto (1999, S. 191). Die Studien zeigen, dass Schwergewichts-Projektmanagement im Rahmen der Produktentwicklung zunehmend an Bedeutung gewinnt.

16

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

Eine solche Organisationsform eignet sich insbesondere dann, wenn verschiedene funktionale Einheiten beteiligt sind und auch die Marktanforderungen früh im Produktentstehungsprozess berücksichtigt werden sollen. Durch die Beteiligung der Personen aus den Funktionsbereichen in mehreren Produktprojekten kann weiterhin ein Wissenstransfer zwischen den Projekten sichergestellt werden.29 Schwergewichts-Projektmanagement ist als Standardansatz in vielen Unternehmen eingeführt, wobei für spezifische Fragestellungen auch auf die anderen genannten Organisationsformen zurückgegriffen wird.30

2.1.1.3

Stage-Gate-Modell

Durch die gestiegene Anzahl an Produktinnovationen in Verbindung mit kürzeren Produktlebenszyklen sind Unternehmen gezwungen, stringente Prozesse für die Neuproduktentwicklung zu etablieren.31 Hierzu gehören zum einen die einzelnen Produktprojekte erfolgreich zu managen und zum zweiten die richtigen Produktprojekte auszuwählen: „There are two ways to win at new products. One is to do projects right – building in the voice of the customer, doing the necessary up-front homework, using cross-functional teams, and so on. The other way is by doing the right projects – both routes: doing projects right and doing the right projects!”32

Führende Unternehmen haben daher ihre Produktentwicklungsprozesse überarbeitet und lehnen sich zunehmend an Stage-Gate-Modellen33 an. Stage-Gate-Modelle beschreiben, wie in Abbildung 5 visualisiert, den Produktentwicklungsprozess von der Idee bis zur Kommerzialisierung. Diese Modelle sind dort im Einsatz wo Entwicklungs- und Explorationsverfahren sehr teuer und langwierig sind.34 Es handelt sich um ein sequentielles Entscheidungsverfahren, bei dem Aufwendungen für

29

30 31

32 33

34

Iansiti (1993, S. 147) weist darauf hin, dass Unternehmen den Innovationsprozess als kontinuierlichen Strom von kompetenzerweiternden Projekten verstehen müssen und nicht als Serie isolierter Aktivitäten. Wheelwright/Clark (1992, S. 215-217). Cooper (2000) zeigt, dass 46% der Aufwendungen für Neuproduktentwicklungen für später am Markt nicht erfolgreiche Produkte ausgegeben werden. Vgl. Cooper (2001, S. XI). Scharer (2001) zählt als Synonyme Meilensteine, Quality Gates, Synchropunkt oder Convergence Point auf. Beispiele sind die Pharmaentwicklung, Ölexploration, Werkstoffinnovationen, Automobil- und Flugzeugbau. Für jeden Bereich wurden spezifische Stufen- und Screeningmodelle entwickelt, da jeder Bereich individuelle Anforderungen an die Zergliederung des Arbeitsprozesses hat (Gerybadze 2004b, S. 11).

17

2.1 Prozessmodelle zum Innovationsmanagement

einzelne Prozessschritte sukzessive nach dem Erreichen bestimmter Kriterien freigegeben werden. Idea Screen Gate 1

Idea

Discovery Stage

Second Screen Stage 1

Scoping

Gate 2

Go to Development

Go to Testing

Gate 3

Gate 4

Stage 2

Build Business Case

Stage 3

Development

Post-Launch Review

Go go Launch Stage 4

Testing & Validation

Gate 5

Stage 5



Launch

Abbildung 5: Neuproduktentwicklung im Stage-Gate-Modell nach Cooper (2001)

Interdisziplinäre Teams müssen in diesem Modell jeweils einen vorher definierten Umfang an Aufgaben erfolgreich abgeschlossen haben, um durch Managemententscheidungen in die nächste Stufe (Stage) zu gelangen. Die inhaltliche Arbeit und Informationsgewinnung zum Erreichen des jeweils nächsten Entscheidungspunkts (Gate) erfolgt in den einzelnen Stufen. Diese beinhalten interdisziplinäre Tätigkeiten (F&E, Marketing etc.), wobei die einzelnen Aktivitäten parallel stattfinden (Simultaneous Engineering) um den Time-to-Market zu verkürzen. Stage-GateModelle legen großen Wert auf Interdisziplinarität, Marktabklärungen, sowie Konzeptund Machbarkeitsstudien zu Beginn der Produktentwicklung.35 Unterschieden werden in dem abgebildeten Standard-Stage-Gate-Modell insgesamt die folgenden fünf36 Stufen:37

35 36

37

x

Stage 1 – Scoping: Voranalysen und grobe Bewertung der Erfolgsaussichten hinsichtlich Markt und Technologie

x

Stage 2 – Build Business Case: Produkt- und Projektdefinition, Projektbegründung und Erstellung des Projektplans auf Basis detaillierter Marktund Technologieanalysen sowie rechtlicher Beurteilung

x

Stage 3 – Development: Durchführung der eigentlichen Produktentwicklung, Erstellung der Produktions- und Marketingpläne sowie der Testpläne für die nächste Stufe

x

Stage 4 – Testing and Validation: Finale Absicherung des gesamten Projekts in Bezug auf Produkt, Produktionsprozess, Kundenakzeptanz, und Kosten

x

Stage 5 – Launch: Serienproduktionsanlauf und Markteinführung

Vgl. Cooper (2001, Kapitel 5). Stage-Gate-Modelle sind skalierbar und können mehr oder weniger als die genannten 5 Stufen beinhalten. Eine Adaption auf 2 und 3 Stufen findet sich bei Cooper (2006, S. 23). Vgl. Cooper (2001, Kapitel 5).

18

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

Die Gates, welche vor jeder Stufe durchlaufen werden, sind ebenfalls interdisziplinär durch die funktionalen Entscheidungsträger besetzt, welche gemeinsam über die weitere Zukunft des Projekts entscheiden. Die Entscheidungskriterien sind jeweils klar definiert, wobei es jeweils folgende Alternativen gibt:38 x

Go: Weiterarbeit im Projekt

x

Kill: Aufgabe des Projekts

x

Hold: Anhalten des Projekts

x

Recycle: Überarbeiten des Projekts

Die in Abbildung 6 aufgezeigte Struktur der einzelnen Gates ist vor jeder Stufe identisch. Es gibt bestimmte vordefinierte Deliverables, die das Resultat der vorhergehenden Aktivitäten darstellen. Diese sind standardmäßig für die unterschiedlichen Gates spezifiziert. Die Deliverables werden bei Erreichen eines Gates anhand bestimmter vordefinierter Kriterien im Rahmen eines Reviews bewertet. Diese Kriterien sind ebenfalls in einer Standardkriterienliste enthalten und beinhalten sowohl finanzielle als auch qualitative Größen. Entsprechend des Projektforschritts können sich diese von Gate zu Gate unterscheiden.39

Deliverables

Criteria

Outputs

Abbildung 6: Struktur von Stage-Gates (Cooper 2001)

Die Ergebnisse der Bewertung an den Gates müssen klar artikulierte Outputs sein, die eine Entscheidung (go/kill/hold/recycle) für die weitere Vorgehensweise enthalten. Ein solcher Output kann beispielsweise ein bestätigter Projektplan sein.40

2.1.2

Prozessmodelle am Beispiel der Automobilindustrie

Die Automobilindustrie eignet sich als Beispiel zur Veranschaulichung der beschriebenen Prozessmodelle vor dem Hintergrund einer hohen Komplexität sehr gut. Entsprechend der Abbildung 7 handelt es sich bei Automobilen um Produkte, die

38 39 40

Vgl. Cooper (2001, Kapitel 5). Vgl. Cooper (2001, Kapitel 5). Vgl. Cooper (2001, Kapitel 5). Siehe zu weiteren Darstellungen zu Produktentwicklungsprozessen auch Ehrlenspiel (1995, S. 121-137) und Ulrich/Eppinger (1995, S. 15).

19

2.1 Prozessmodelle zum Innovationsmanagement

sowohl eine hohe Komplexität in Bezug auf die interne Produktstruktur als auch in Bezug auf das User-Interface haben.41 Unbestritten ist weiterhin, dass die zugehörigen Produktentwicklungsprozesse ebenfalls eine hohe Komplexität aufweisen. Gerade der Einsatz neuer Technologien im Bereich E/E sorgt für eine kundenerlebbare Funktionsvielfalt, die noch vor kurzem unvorstellbar war. Zugrunde liegen funktionsbezogene Elektronikeinheiten, die in einem sehr komplexen Zusammenspiel miteinander kommunizieren müssen. Die Herausforderung liegt in dem systemübergreifenden Gesamtverständnis, bei dem Schnittstellen zu optimieren und Technologien sinnvoll zu integrieren sind.

Complexity of Internal Product Structure

High Component-Driven Products

Complex Products (e.g., automobile)

(e.g., conventional machine tools)

Component-Driven Products

Interface-Driven Products

(e.g., conventional packaged goods)

(e.g., quarz watch, audio equipment)

Low Low

High Complexity of Product-User Interface

Abbildung 7: Produkttypen und Komplexität nach Clark/Fujimoto (1991, S. 11)

Für die Vorgehensweise bei der Neuproduktentwicklung in der deutschen Automobilindustrie gibt die im Folgenden aufgezeigte Empfehlung zur Ablaufplanung des VDA einen sehr guten Überblick. Aufbauend hierauf wird ein Ansatz zur Synchronisation von Entwicklungsprozessen zwischen OEM und Zulieferer im 41

Vgl. Clark/Fujimoto (1991, S. 11). Zu einer Übersicht über die wichtigsten Technologien und Entwicklungstrends der Automobil- und Zuliefererindustrie siehe Mercer Management Consulting (2001, 2004).

20

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

Bereich der Automobilelektronik vorgestellt, da dies als ein wesentlicher Schlüssel zur Verbesserung der Entwicklungs- und Produktqualität angesehen wird. Abschließend wird die Anwendung von Schwergewichts-Projektmanagement als Standardansatz und die Umsetzung von Stage-Gate-Modellen im Rahmen der Neuproduktentwicklung am Beispiel der Marke Mercedes-Benz illustriert.42

2.1.2.1

Empfehlung zur Ablaufplanung des VDA

Abbildung 8 visualisiert die Empfehlung des von der deutschen Automobilindustrie angestrebten idealen Projektablaufs, welcher sowohl für die Anwendung bei den OEMs als auch bei den Lieferanten ausgelegt ist. Er umfasst in seiner Struktur die Aufgabenfelder und Meilensteine43 der Projektbearbeitung von der Konzeptionsphase bis zum Serienstart und dient als Grundgerüst für den Projektplan zwischen Kunde (z. B. OEM) und Lieferant. Die sich teilweise überlappenden Aufgabenfelder (Simultaneous Engineering) enthalten alle Tätigkeiten von der Projektidee bis zur Serienproduktion. Diese Projektaktivitäten müssen zu dokumentierten Ergebnissen führen, welche an den entsprechenden Meilensteinen anhand spezieller Checklisten bewertet werden.44 Meilensteine nach VDA Aufgabenfelder Konzeption Produktentwicklung / -verifizierung Planung / Verifizierung Produktionsprozess Produktabnahme aus Kundensicht Beschaffung Produktionsressourcen Produktion A

B

C

Freigabe Freigabe Projektauftrag, Grobentwicklung Detailentwicklung -anfrage Produkt/Prozess Produkt

D

E

F

G

Freigabe Detailplanung Prozess

Freigabe Beschaffung Produktionsressourcen

Freigabe Serienproduktion

Projektabschluss

Abbildung 8: Empfehlung zur Ablaufplanung eines Projekts (VDA 1998, S. 14)

42

43

44

Ein guter Überblick zu organisatorischen Aspekten der gegenwärtigen Produktentwicklungspraxis bei den wichtigsten OEMs findet sich beispielsweise bei Pfaffmann (2001, S. 66-69). Die neueren Entwicklungen im Bereich der Automobilproduktion sind bei Shimokawa/Jürgens/Fujimoto (1997) beschrieben. Darstellungen zur der Internationalisierung von F&E in der Automobilindustrie finden sich bei Schlenker (2000). Meilensteine werden in diesem Zusammenhang wie die Gates nach Cooper (2001) in Abbildung 5 verwendet. Vgl. VDA (1998, S. 14). Eine Beschreibung der Checklisten zu den einzelnen Meilensteinen findet sich bei VDA (1998, S. 18-40).

2.1 Prozessmodelle zum Innovationsmanagement

21

In dem Aufgabenfeld Konzeption wird neben der Entwicklung entscheidungsfähiger Produkt- und Prozessalternativen auch die Projektorganisation festgelegt. Die verfügbaren Produkt- und Prozessalternativen sind an wirtschaftlichen, technischen sowie organisatorischen Zielen orientiert und dienen als Basis für die Entscheidung über eine Freigabe zur Grobentwicklung in Meilenstein B.45 Die Produktenwicklung und –verifizierung dient neben der serienreifen Detaillierung des Produkts zur Überprüfung der Erfüllung von spezifizierten Anforderungen (z. B. durch Berechnungen und Erprobung von Prototypen). Das Aufgabenfeld Planung und Verifizierung des Produktionsprozesses umfasst einerseits die Planung und vollständige Entwicklung von Produktionsprozessen, die in der Lage sind die Vorgaben sicher und ständig zu erfüllen.46 Andererseits dient dieses Aufgabenfeld der Überprüfung, inwieweit die spezifizierten Anforderungen an Produkt und Prozess erfüllt werden. Bei der Produktabnahme aus Kundensicht wird beleuchtet, ob das Produkt den Wünschen der Kunden entspricht und für den vorgesehenen Verwendungszweck geeignet ist. In der Phase Beschaffung der Produktionsressourcen werden alle für das Projekt erforderlichen Rohstoffe, Teile, Komponenten und die zur Herstellung erforderlichen Produktionsmittel bereitgestellt. Nach der Serienfreigabe muss in dem Aufgabenfeld Produktion mit geeigneten Maßnahmen sichergestellt werden, dass die Produktionsprozesse beherrscht und Kundenanforderungen an das Produkt auch während der Serienfertigung erfüllt werden. Durch die Einführung eines funktionseinheitenübergreifenden kontinuierlichen Verbesserungsprozesses werden Unternehmensprozesse im Projekt analysiert und produkt- und/oder projektmanagementbezogene Verbesserungspotenziale aufgezeigt. Diese sind entsprechend projektübergreifend umzusetzen. Zu den aufgezeigten Meilensteinen erfolgt eine Bewertung des Projektfortschritts (Projektreview), um Risiken und Defizite frühzeitig zu erkennen und durch Maßnahmen entsprechend abzustellen. Den Meilensteinen sind Checklisten zugeordnet, welche sich jeweils auf die relevanten Ergebnisse der entsprechenden Meilensteine aus den verschiedenen Aufgabenfeldern beziehen. Somit werden die jeweils vorausgegangenen Aktivitäten bewertet.47

45 46

47

Vgl. VDA (1998, S. 15). Die in Abbildung 8 aufgezeigte gemeinsame Lösung von Produkt- und Prozessentwicklung wird auch als Design for Manufacturing bezeichnet. Siehe hierzu Ulrich/Eppinger (1995, Kapitel 9). Vgl. VDA (1998, S. 15-17)

22

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

2.1.2.2

Prozesssynchronisation zwischen OEM und Zulieferer

Unterschiedliche Innovationszyklen, zunehmende Komplexität und Vernetzung von E/E-Systemen erfordern eine stetige Optimierung der Zusammenarbeit zwischen OEM und E/E-Zulieferer. Gerade durch die steigende Anzahl an Zulieferern hat die Systemintegration, welche in der Vergangenheit unterschätzt wurde, einen hohen Stellenwert. Die zuvor aufgezeigte Ablaufplanung des VDA eignet sich sowohl für den Einsatz bei OEMs als auch bei deren Zulieferern, wobei keine Aussage über die Zusammenarbeit getroffen wird. Wie diese gerade an der Schnittstelle dieser beiden Parteien aussieht, soll die nachfolgend erläuterte Referenzpunktsystematik aufzeigen.48 Diese Systematik wurde von der Arbeitsgruppe Methodology for Engineering Process Synchronization (im Folgenden abgekürzt als MEPRO) im Rahmen des Manufacturer Supplier Relationship Konsortiums49 (im Folgenden abgekürzt als MSR) auf Basis der Empfehlung zur Ablaufplanung des VDA erarbeitet (Abbildung 9). Meilensteine nach VDA Prozess-Block

Konzeption u. Einbindung Zulieferer

A

Grobentwicklung/ -verifizierung

B

Detailentwicklung/ -verifizierung

Integration und Optimierung

ProduktAbnahme aus Kundensicht

ProduktAbnahme aus Kundensicht

C

Freigabe Freigabe Projektauftrag, Grobentwicklung Detailentwicklung -anfrage Produkt/Prozess Produkt

Datenanpassung und Vorbereitung Serienprod.

Aufbereitung Projekterfahrung

ProduktAbnahme aus Kundensicht

D

E

F

G

Freigabe Detailplanung Prozess

Freigabe Beschaffung Produktionsressourcen

Freigabe Serienproduktion

Projektabschluss

Abbildung 9: MEPRO-Prozessmodell auf Basis der VDA-Empfehlung (MEPRO 2004)

Schwerpunkte sind die Aufgabenfelder Konzeption, Produktentwicklung/-verifizierung und Produktabnahme aus Kundensicht. Ziel war es, einen Beitrag zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen OEM und deren E/E-Systemzulieferern durch die Synchronisation der parallel laufenden Entwicklungsprozesse zu leisten.50 Das im

48

49

50

Ein Referenzpunkt (RP) ist hier ein mit Kriterien hinterlegter Koordinationspunkt zwischen Hersteller und Zulieferer im Produktentwicklungsprozess bezieht. Die Struktur ist vergleichbar mit der Struktur von Stage-Gates (siehe Abbildung 6). Unternehmen im MSR Konsortium: BMW AG, DaimlerChrysler AG, Hella KG, Porsche AG, Robert Bosch GmbH, Siemens AG, Volkswagen AG. Vgl. MEPRO (2004).

23

2.1 Prozessmodelle zum Innovationsmanagement

Folgenden erläuterte MEPRO-Prozessmodell wird von den einzelnen OEMs situationsspezifisch angepasst und weiterentwickelt. Dennoch gibt es einen sehr guten Überblick über den derzeit etablierten Ablauf der Zusammenarbeit zwischen OEM und Zulieferer. Da die Entwicklungsprozesse von OEM und Zulieferer nicht starr gekoppelt werden können, ist ein geregelter Informationsaustausch und ein vereinbarter Abgleich der Entwicklungsergebnisse im Projektverlauf unerlässlich. Im Rahmen des visualisierten MEPRO-Prozessmodells wurden einerseits Referenzpunkte, die nur einmal pro Projekt existieren (z. B. Angebotsanfrage), und andererseits Referenzpunkte, die sich im Laufe des Projekts wiederholen (z. B. Entwicklungsstandabstimmung), definiert. Es ist anzumerken, dass komplexe Projekte tendenziell kürzere Abstände von sich wiederholenden Referenzpunkten erfordern als einfache Projekte.51 Zulieferer Konzeptvorschlag und Angebotserstellung

Organisator. Vorbereitung AF

AG

AV

KO Technische Vorbereitung

Vorbereitung Angebotsanfrage

Konzeptdetaillierung

EA

Angebotsprüfung mit Konzeptentscheidung

Hersteller A

Phase A-B: Konzeption und Einbindung Zulieferer

Projektauftrag, -anfrage

B Freigabe Grobentwicklung Produkt/Prozess

Abbildung 10: MEPRO-Prozessmodell A-B (MEPRO 2004)

In der Phase A-B erfolgen, wie in Abbildung 10 gezeigt, die Konzeption und Einbindung der Zulieferer. Hier richtet der OEM zum Referenzpunkt (im Folgenden abgekürzt als RP) Angebotsanfrage (AF) ein Ausschreibungs-Lastenheft52, welches u. a. alle kostenrelevanten Anforderungen an das angefragte Endprodukt beinhaltet, 51 52

Vgl. MEPRO (2004). Ein Lastenheft enthält nach DIN 69 905 die Gesamtheit der Anforderungen des Auftraggebers an die Lieferungen und Leistungen eines Auftragnehmers. Im Lastenheft wird definiert, was für eine Aufgabe vorliegt und wofür sie zu lösen ist.

24

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

an den Zulieferer. Inhalte sind beispielsweise der geforderte Funktionsumfang, die Systemumgebung, Zieltermine und Hinweise auf mitgeltende Unterlagen (Normen, unternehmensspezifische Richtlinien etc.).53 Der OEM erhält daraufhin eine Rückinformation des Zulieferers über die Vollständigkeit der Ausschreibung und ob ein Angebot erstellt wird. Ist dies der Fall, so übergibt der Zulieferer an dem RP Angebotsabgabe (AG) einen Konzeptvorschlag (technisch und organisatorisch) mit einem entsprechenden Angebot, welches Aussagen über die Erfüllung der im Ausschreibungs-Lastenheft beschriebenen Anforderungen beinhaltet. Der Zulieferer erhält daraufhin eine Rückinformation über die Vollständigkeit des Angebots und über den Termin der Angebotsvergabe.54 An dem RP Auftragsvergabe (AV) erhält der Zulieferer eine verbindliche Zusage des OEM für die Durchführung des Projekts. Diese erfolgt nachdem das Angebot verhandelt und abgestimmt ist im Rahmen einer Absichtserklärung des OEM (Letter of Intent). Der Zulieferer führt eine Auftragsprüfung durch, bestätigt die Auftragsannahme und startet mit der organisatorischen und technischen Vorbereitung. Darüber hinaus beginnt der Zulieferer nach der Auftragsvergabe mit der Erstellung des Pflichtenhefts.55 Zur Schaffung einer gemeinsamen Basis für die Durchführung des Entwicklungsprojekts und der Abstimmung der Rahmenbedingungen wird am RP Kick-Off (KO) ein Meeting initiiert. Neben Vereinbarungen zur Projektorganisation und –abwicklung (Terminplan, Referenzpunkte, Verantwortlichkeiten etc.) werden grundlegende Dokumente (Normen, Standards, Richtlinien etc.) und die Prototypenplanung (virtuell und physisch) abgestimmt sowie die Projektmitarbeiter informiert. Anschließend hat der RP Entwicklungsstandabstimmung (EA) kurz vor Meilenstein B das Ziel, die bis dorthin vorgenommene Konzeptdetaillierung im Rahmen eines Meetings oder per Telefonkonferenz zu besprechen. Ziel ist die Sicherstellung einer gemeinsamen Informationsbasis über den aktuellen Entwicklungsstand. Weiterhin werden fachliche und/oder organisatorische Inhalte besprochen sowie der Projektfortschritt kontrolliert und gesteuert. Der RP Entwicklungsstandabstimmung

53 54 55

Vgl. MEPRO (2004). Vgl. MEPRO (2004). Ein Pflichtenheft enthält nach DIN 69 905 vom Auftragnehmer erarbeitete Realisierungsvorgaben aufgrund der Umsetzung des Lastenheftes des Auftraggebers. Das Pflichtenheft enthält das Lastenheft, wobei im Pflichtenheft die Anwendervorgaben detailliert und in einer Erweiterung die Realisierungsforderungen unter der Berücksichtigung konkreter Lösungsansätze beschrieben werden. Im Pflichtenheft wird definiert, wie und womit die Anforderungen zu realisieren sind.

25

2.1 Prozessmodelle zum Innovationsmanagement

(EA) dient der gegenseitigen Abstimmung von OEM und Zulieferer und wird in allen folgenden Projektphasen abhängig vom tatsächlichen Projektstand mindestens einmal durchlaufen. Auf eine explizite Nennung soll jedoch aus Übersichtsgründen verzichtet werden.56 In der sich anschließenden Grobentwicklung bei OEM und Zulieferer in Phase B-C werden virtuelle und/oder reale Prototypen erstellt, wobei die Anzahl der Prototypenzyklen in dieser Phase projektspezifisch zu definieren ist. Die in jedem Prototypenzyklus (Abbildung 11) enthaltenen Referenzpunkte werden im Folgenden beschrieben. Teil-Prozess Erstellung Prototyp virtuell/real Realisierung Prototyp EA

Definition Prototyp

PB Verifizierung Prototyp

PF Erstellung Testumgebung

PA

PT

Abbildung 11: MEPRO Teil-Prozess Erstellung Prototyp virtuell/real (MEPRO 2004)

Aufbauend auf einer zwischen OEM und Zulieferer abgestimmten PrototypSpezifikation wird am RP Prototypfestlegung (PF) der Funktionsumfang des Prototyps festgelegt und dokumentiert. Darüber hinaus erfolgen eine Beauftragung zur Erstellung des Prototyps und ein Abgleich mit der Terminplanung. Im Anschluss beginnen die Realisierung des Prototyps (durch Zulieferer) und die Erstellung der Testumgebung (durch OEM und/oder Zulieferer). Zum RP Prototypbereitstellung (PB) werden vom Zulieferer die eindeutig gekennzeichneten Prototypen mit der entsprechend zugeordneten Dokumentation (Funktionsumfang, Anschlussbelegung, Hard- und Softwarekonfiguration, Testergebnisse etc.) für die vereinbarten Testzwecke an den OEM übergeben. Gleichzeitig ist am RP Prototyptestumgebung (PT) die Funktionsfähigkeit der Testumgebung zur Gewährleistung von Tests entsprechend der Prototypfestlegung sicherzustellen. Dies kann je nach vertraglicher Regelung durch den OEM und/oder durch den Zulieferer geschehen. Weiterhin sind die durchzuführenden Test zu vereinbaren. Anhand der ausgewerteten Testergebnisse erfolgt die Verifizierung der gestellten Anforderungen anhand Lastenheft und Umsetzungsplan.57

56 57

Vgl. MEPRO (2004). Vgl. MEPRO (2004).

26

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

An dem folgenden RP Prototypabnahme (PA) wird der nächste Entwicklungsabschnitt freigegeben. Es können gegebenenfalls auch Tests gemeinsam von OEM und Zulieferer durchgeführt (z. B. zu gegebenem Zeitpunkt im Erprobungsfahrzeug) und notwendige Änderungen an der Spezifikation vereinbart werden. Weiterhin können getestete Prototypen mit einer entsprechenden Beschreibung der Umgebungsbedingungen und Testergebnisse an den Zulieferer zur Analyse übergeben werden. Nach den Prototypenzyklen steht am Ende der Grobentwicklung der RP Designfreeze (DF)58. Hier findet nach einer positiven Beurteilung des erreichten Design-Standes durch den OEM, entsprechend der Vorgaben aus dem Lasten- bzw. Pflichtenheft, eine Festlegung von Teilumfängen der Produktanforderungen für diese Phase statt. Dies betrifft zunächst die Hauptfunktionen und später die Komfortfunktionen. Teilumfänge können beispielsweise Funktionsumfänge, Topologie, Hardware, Software und Daten sein.59 Zulieferer Zulieferer

DF

Detailentwicklung

EA

Erstellung Prototyp virtuell/real

PA

Validierung TeilUmfänge

DV

EA

DF

Anzahl der Prototypzyklen projektspezifisch

Detailentwicklung

Hersteller C Freigabe Detailentwicklung Produkt

Phase C-D: Detailentwicklung, Verifizierung, Abnahme aus Kundensicht

D Freigabe Detailplanung Prozess

Abbildung 12: MEPRO-Prozessmodell C-D (MEPRO 2004)

Nach erfolgreicher Grobentwicklung schließt sich in Phase C-D die Detailentwicklung an. Hier wird ebenfalls, wie in der folgenden Abbildung 12 aufgezeigt, eine wie oben beschriebene projektspezifische Anzahl von Prototypenzyklen durchlaufen, wobei die Prototypen einen deutlich höheren Funktionsumfang und Reifegrad aufweisen. Anschließend findet eine Festschreibung und Freigabe von Teilumfängen der 58

59

Ein Designfreeze beschreibt den Stopp von Anforderungsänderungen. Dies entspricht einem Redaktionsschluss. Vgl. MEPRO (2004).

2.1 Prozessmodelle zum Innovationsmanagement

27

Produktrealisierung an dem RP Designvalidierung (DV)60 statt. Dies betrifft beispielsweise E/E-System-Architektur, Hardware-Design, Software-Implementierung und Datenanpassung. Nach Abschluss der Detailentwicklung wird wiederum der RP Designfreeze (DF) durchlaufen. Entsprechend der Vorgehensweise bei der Detailentwicklung findet die Integration und Optimierung in Phase D-F statt. Ziel ist es, einen seriennahen Entwicklungsstand zu erreichen.61 Anschließend erfolgen in Phase E-F notwendige Datenanpassungen und die Vorbereitung der Serienproduktion bei OEM und Zulieferer. Im RP Designvalidierung (DV) wird dann der Gesamtumfang festgeschrieben und freigegeben. Diesem Entwicklungsstand entsprechend werden von dem Zulieferer Erstmuster62 erstellt, die im RP Erstmusterbereitstellung (EB) mit vollständiger Dokumentation für die definierten Erstmustertests an den OEM übergeben werden. Nach erfolgreicher Validierung beim OEM werden die Erstmuster im RP Designvalidierung (DV) für die Serienproduktion freigegeben. Nach der Freigabe der Serienproduktion werden abschließend sowohl bei OEM als auch bei Zulieferer die Projekterfahrungen in Phase F-G aufgearbeitet und im letzten RP Lessons Learned (LL) in einem gemeinsamen Review besprochen. Ziel ist die Ergebnis- und Erfahrungssicherung für Folgeprojekte.63

2.1.2.3

Produktentwicklungsprozess am Beispiel Mercedes-Benz

Seit Mitte der 90er-Jahre wurde der Produktentstehungsprozess der Marke Mercedes Schritt für Schritt systematisiert und stetig weiterentwickelt. Hierbei sind kontinuierlich neue Erfahrungen aus den einzelnen Produktprojekten64 eingeflossen. Ende der 90er-Jahre war die Prozessstruktur weitgehend schematisiert und als Baustein in dem als Mercedes-Benz Development System (im Folgenden abgekürzt als MDS) bezeichneten System verankert. Obwohl das MDS zu einem wirkungsvollen und erfolgreichen Instrument der Produktentwicklung herangereift war, wurde Ende 2001 eine Arbeitsgruppe initiiert, um den Produktentstehungsprozess an neue und veränderte Anforderungen und Rahmenbedingungen anzupassen. Im Fokus standen hierbei: 60 61 62

63 64

Die Designvalidierung weist die Eignung des Systems für die gewünschte Aufgabe nach. Vgl. MEPRO (2004). Unter Muster ist eine physische Ausprägung des zu liefernden Systems zu verstehen. Ein Erstmuster ist ein Muster, das ausschließlich mit den für die Serienfertigung vorgesehenen Einrichtungen und Verfahren unter den zugehörigen Randbedingungen gefertigt ist. Vgl. MEPRO (2004). Ein Produktprojekt ist eine Fahrzeugbaureihe wie die S-Klasse.

28

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

x

Die Steigerung der Produktqualität

x

Die Herausforderungen im Hinblick auf Innovationsführerschaft65

x

Der zunehmende Kostendruck innerhalb des Produktentstehungsprozesses

Um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, flossen wiederum die vielfältigen Erfahrungen ein, die mit dem MDS in diversen Produktprojekten gemacht worden waren.66 Zurückgegriffen wurde auf bewährte Prozessstrukturen, wobei die Aufgabe darin bestand, Potenziale im bestehenden MDS zu ermitteln, Lösungsansätze zu deren Erschließung zu erarbeiten und das System insgesamt weiterzuentwickeln. Das Ergebnis dieser Weiterentwicklung in Bezug auf den Produktentstehungsprozess findet sich ebenso wie der alte Prozess in Abbildung 13. Hier ist zu erkennen, dass der Produktentstehungsprozess bis zum Lastenheft umgestaltet und eine deutliche Entwicklungszeitverkürzung67 realisiert wurde.68 Start Serienentwicklung

Technologiephase

Fahrzeugphase

Serienphase

alt Projektstart

I

H

G

A

FAST

Rahmenheft

Lastenheft

Job # 1

Start Serienentwicklung (ca. 10 Monate früher)

neu

Strategiephase

PK

Fahrzeugphase

J SFS

Projekt- Konzeptstart heft

Serienphase

F

A

Lastenheft

Job # 1

= Quality Gate, FAST = Fahrzeugsteckbrief, SFS = Start Fahrzeugstrategiephase, PK = Produktkonzeption

Abbildung 13: Alter und neuer MDS-Standardprozess (Glogler/Henseler 2003, S. 25)

65

66

67

68

Siehe zu generischen Technologiestrategien Gerybadze (2001, S. 101). Die in diesem Fallbeispiel genannte Strategie der Innovationsführerschaft entspricht dort der Strategie der technologischen Führerschaft. Dieses Beispiel zeigt, wie der Strom einzelner Projekte zur Kompetenzerweiterung genutzt wird. Siehe hierzu Iansiti (1993, S. 147). Entwicklungszeitverkürzungen sind auch bei anderen OEMs zu beobachten. Siehe hierzu beispielsweise die Fallstudie von GartnerG2 (2002), in der eine Entwicklungszeitverkürzung bei Ford beschrieben wird. Hier findet sich auch eine Darstellung des Entwicklungsprozesses, der ähnliche Phasen wie der bei der Mercedes Car Group aufweist. Vgl. Glogler/Henseler (2003, S. 24).

2.1 Prozessmodelle zum Innovationsmanagement

29

In dem alten MDS-Prozess wurde das jeweilige Produktprojekt mit der Technologiephase gestartet. Ziel war es hier, die Konzepttauglichkeit aller Komponenten bis zum so genannten Rahmenheft an dem Quality Gate H abzusichern. Eine grobe Beschreibung des zukünftig zu entwickelnden Fahrzeugkonzepts fand hier bereits mittels des Fahrzeugsteckbriefs (FAST) am Quality Gate I statt. Am Ende der Technologiephase fiel dann die Entscheidung für die in der Serienentwicklung weiter zu verfolgenden Komponenten und Aufbauvarianten. Die eigentliche Schwergewichts-Projektorganisation wurde mit Start der Serienentwicklung implementiert.69 In dem neuen MDS-Prozess geht dem eigentlichen Projekt eine Strategiephase voraus, in der wesentlich intensiver, präziser und abgestimmter als bisher die abzuleistenden Inhalte von den Entscheidungsträgern gemeinsam festgelegt werden. Zur Reduktion von Komplexität und der Erhöhung der Konzentration auf das Wesentliche wurde hier die Gesamtfahrzeugentwicklung von der Technologieentwicklung abgekoppelt. Im Fokus steht die Konzepttauglichkeit technologischer Entwicklungen: „Wir haben uns davon gelöst, schon in einer frühen Projektphase das Gesamtfahrzeug darstellen zu wollen. Wir konzentrieren uns nun auf eine reduzierte Betrachtung, und zwar die für das Fahrzeug entscheidenden Umfänge. Deren Reifegrad wollen wir Stufe für Stufe kontinuierlich steigern, indem wir konsequent auf dem Erarbeiteten aufbauen und die einmal abgesicherten Inhalte stetig anreichern“70

Ebenfalls neu ist die Produktkonzeptionsphase (PK), die dem Projektstart unmittelbar folgt. Ziel ist es hier, aus einem Pool konzepttauglicher Innovationen und technologischer Entwicklungen das Fahrzeug zu gestalten, indem von den jeweiligen Entscheidungsträgern die Einzelkonzepte zusammengeführt werden. Der frühere Fahrzeugsteckbrief (FAST) und das Rahmenheft gingen im neuen Konzeptheft an Quality Gate J auf. Hinzu kommt, dass die Fahrzeugphase und damit die Projektorganisation etwa zehn Monate früher startet als bisher. Durch die früher einsetzende Projektverantwortung soll ein stringenterer und schnittstellenoptimierter Durchlauf gewährleistet werden.71 Für die jeweils zu entwickelnden Fahrzeugbaureihen wird der MDS-Standardprozess jeweils, wie in Abbildung 14 gezeigt, an die entsprechenden Spezifika adaptiert. Hier 69 70 71

Vgl. Glogler/Henseler (2003, S. 24). Vgl. Glogler/Henseler (2003, S. 24). Vgl. Glogler/Henseler (2003, S. 24-25).

30

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

werden beispielsweise konkrete Termine vergeben und Prozesslängen an die projektspezifischen Rahmenbedingungen angepasst.

C-Klasse Start Serienentwicklung (ca. 10 Monate früher) Strategiephase

PK

Fahrzeugphase

J

Standardprozess (MDS neu)

SFS

Projekt- Konzeptstart heft

Serienphase

F

A

Lastenheft

Job # 1

Start Serienentwicklung (ca. 10 Monate früher) Strategiephase

PK

Fahrzeugphase

J SFS

Projekt- Konzeptstart heft

Serienphase

F

A

Lastenheft

Job # 1

Adaption Weitere Fahrzeugprojekte Start Serienentwicklung (ca. 10 Monate früher) Strategiephase

PK

Fahrzeugphase

J SFS

Projekt- Konzeptstart heft

Serienphase

F

A

Lastenheft

Job # 1

Abbildung 14: Adaption eines Standardprozesses auf einzelne Produktprojekte

Für mehr Sicherheit und Transparenz im Prozess sollen standardisierte Komponentenlastenhefte sorgen. Ziel ist es, sowohl mehr Verbindlichkeit zu erzeugen als auch mehr Klarheit bezüglich der Konzepte zu erlangen. Den Projektbeteiligten, insbesondere den Entwicklungspartnern auf der Zuliefererseite, soll so ein exakter Rahmen vorgegeben werden, in dem genügend Raum für Kreativität bleibt, der aber auch klare Grenzen setzt. Die Zulieferpartner werden darüber hinaus früher als in dem alten Prozess in die Fahrzeugentwicklung eingebunden, da an die Konzepte bereits vor dem Projektstart wesentlich größere Anforderungen gestellt werden. Die frühere und intensivere Einbindung der Zulieferer erfordert, dass die Prozesse des Zulieferers bereits in einer frühen Phase an bestimmten Schnittstellen mit dem MDS synchronisiert sein müssen, um die gewünschte Verzahnung zu erreichen.72

72

Vgl. Glogler/Henseler (2003, S. 25).

2.2 Theoretische Grundlagen zum Wissenstransfer

2.2

31

Theoretische Grundlagen zum Wissenstransfer

Um nachhaltige Erfolge in bestehenden wie auch wachstumsträchtigen Märkten zu erzielen, sind Unternehmen, wie in dem vorangegangenen Beispiel gezeigt, darauf angewiesen, ihre Prozesse ständig zu optimieren. Hierzu ist es notwendig, dass das in vergangenen Innovationsprozessen generierte Wissen ständig weiterentwickelt und in Folgeprozessen zu den richtigen Organisationseinheiten und Organisationsmitgliedern transferiert wird. Daher wird in den folgenden Kapiteln zunächst auf theoretische Erkenntnisse zu individuellem und organisationalem Lernen eingegangen, bevor im Weiteren die bestehenden Modelle des Wissenstransfers diskutiert werden.

2.2.1

Individuelles und organisationales Lernen

Das Lernen von Organisationen ist eng verbunden mit dem Lernen seiner Organisationsmitglieder.73 Dies wird nachfolgend bei der Betrachtung von Routinen als organisatorische Wissensbasis und bei der Diskussion unterschiedlicher Lernniveaus aufgegriffen. Wie sich im Rahmen der empirischen Erhebungen zeigen wird, spielt die Beschaffung und Nutzung von Informationen eine maßgebliche Rolle im Transferprozess. Daher wird zusätzlich ein Überblick über Kernaussagen von Studien über Informationsbedürfnisse und Informationsnutzung gegeben.

2.2.1.1

Routinen als organisationale Wissensbasis

Das Konzept der Routine wurde erstmals von Nelson/Winter (1982) in die Literatur zum Innovationsmanagement eingeführt und beschreibt die Durchsetzung von organisatorischen Prozessen und deren Verankerung im Management. Sie postulieren, dass das Verhalten einer Organisation bis zu einem bestimmten Grad auf das Verhalten von einzelnen Organisationsmitgliedern74 reduziert werden kann, und betrachten organisationale Routinen analog zu individuellen Fähigkeiten (skills). Organisationale Routinen sind in dieser Betrachtungsweise somit ebenso wie individuelle Fähigkeiten programmatisch, unterliegen maßgeblich implizitem Wissen und stützen sich größtenteils auf automatisiert ablaufende Entscheidungsprozesse:

73

74

Siehe hierzu Simon (1991, S. 125): „All learning takes place in individual heads…“ und Senge (1990, S. 139): „Organizations learn only through individuals who learn.“ sowie Kim (1993). Organisationsmitglieder können sowohl Individuen als auch Subeinheiten sein.

32

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

“We use “routine” in a highly flexible way, much as “program” (or, indeed, “routine”) is used in discussion of computer programming. It may refer to a repetitive pattern of activity in an entire organization, to individual skill, or as an adjective, to the smooth uneventful effectiveness of such an organizational or individual performance.”75

“By a “skill” we mean a capability for a smooth sequence of coordinated behaviour that is ordinarily effective relative to its objectives, given the context in which it normally occurs.” 76

Rationale Entscheidungen benötigen hingegen eine komplette Suche nach möglichen Alternativen, verlässlichen Informationen über deren Konsequenzen und konsistente Bewertungspräferenzen. Dass solche Entscheidungen in einer realen Welt unrealistisch sind, beschreibt Simon (1976) mit dem Prinzip der begrenzten Rationalität (bounded rationality). Als Begrenzungen nennt er die kognitiven Fähigkeiten der Individuen, die verfügbare Information und die jeweiligen Wertvorstellungen, die von den Organisationszielen abweichen können.77 Als Konsequenz dieser begrenzten Rationalität werden einerseits Entscheidungen getroffen, die nicht optimal, sondern hinreichend gut sind und andererseits Entscheidungsprozesse beispielsweise durch Routinen simplifiziert und automatisiert. Routinen spiegeln somit das in der Vergangenheit gelernte und in wiederkehrenden Situationen anzuwendende Erfahrungswissen wider.78 Routinen beinhalten gerade die Ergebnisse des unternehmensspezifischen Suchund Anpassungsprozesses, die sich als erfolgreiche Problemlösungen herausgestellt haben.79 Die organisationale Wissensbasis ist somit nicht als Summe der verfügbaren Informationen anzusehen, sondern als Ergebnis von interagierenden Lernprozessen.80 In Erinnerung bleiben organisationale Routinen durch ihre Ausführung und somit durch repetitive Handlungen: “…organizations remember by doing…“81

75 76 77 78 79 80 81

Vgl. Nelson/Winter (1982, S. 97). Vgl. Nelson/Winter (1982, S. 73). Vgl. Simon (1976, S. 81). Vgl. March/Simon 1993, S. 162). Vgl. Teece/Pisano (1994, S. 544-545) und Teece/Pisano/Shuen (1997, S. 520). Vgl. Dosi/Marengo (1994, S. 162). Vgl. Nelson/Winter (1982, S. 99).

2.2 Theoretische Grundlagen zum Wissenstransfer

33

Sie werden als wichtigster Bestandteil des organisatorischen Gedächtnisses, das als Speicher des spezifischen operationalen Wissens dient, angesehen. Um Routineoperationen durchführen zu können, müssen einerseits angemessene Routinen im Repertoire der Organisation vorhanden sein und andererseits auch die richtigen Routinen zum richtigen Zeitpunkt im entsprechenden organisatorischen Kontext ausgeführt werden.82 Über diese kognitiven Aspekte hinaus spielen auch motivationale Aspekte, die zur Ausführung der entsprechenden Routinen führen, eine zentrale Rolle. Auch zu diesem Zweck bedienen sich Organisationen Routinen, die als Kontrollsystem fungieren und nicht zielgerichtetes Verhalten der Organisationsmitglieder bis zu einem gewissen Grad sanktionieren. Gerade durch den kombinierten Effekt des Kontrollsystems und anderer motivationaler Aspekte versuchen Organisationsmitglieder ihre Interessen zu wahren, indem sie auf einem Pfad relativ inflexibler Routinen beharren, bei denen ihnen das interne politische Gleichgewicht gesichert ist. Somit ist der Zustand der Routineoperation in Organisationen in vielerlei Hinsicht selbsterhaltend und für einen Außenstehenden leicht erscheinende Anpassungen sind nahezu ausgeschlossen.83 Die Routinisierung von Prozessen hat den Vorteil, dass diese bis zu einem gewissen Grad unabhängig von den einzelnen Individuen sind und somit auch umfangreiche Personalfluktuationen unbeschadet überstanden werden können. Die Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Fluktuationsfrequenz nicht zu groß ist, da es eine gewisse Zeit benötigt, um die bestehenden Routinen auf die neuen Organisationsmitglieder zu übertragen.84 Die Einführung von Innovationen erfordert hingegen eine Änderung von Routinen, wobei die damit verbundenen Konsequenzen im Allgemeinen erst vorhersehbar sind, nachdem bereits Erfahrungen mit diesen gesammelt wurden. Innovationen in Bezug auf organisationale Routinen bestehen zu großen Teilen aus neuen Kombinationen bestehender Routinen. Hierbei ist zu beachten, dass bei der Neukombination existierender Routinen die wiederverwendeten Elemente wohlverstanden und verlässlich sind. Dies ist eine Voraussetzung dafür, dass sie nicht ihrerseits zu Problemen führen und darüber hinaus das Entdecken und Lösen von Problemen der neuen Elemente behindern.85 82 83 84 85

Vgl. Nelson/Winter (1982, S. 99-107). Vgl. Nelson/Winter (1982, S. 107-112). Vgl. Levitt/March (1988, S. 320). Vgl. Nelson/Winter (1982, S. 128-131).

34

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

Der scheinbare Widerspruch zwischen Routinehandlungen und Innovationen kann durch eine Unterscheidung zwischen zwei Grundtypen von Routinen aufgelöst werden. Dies sind zum einen Routinen der Beharrung, bei denen die Absicherung und Beherrschung bestehender Geschäfte im Vordergrund steht (Standard operating procedures). Zum anderen sind dies Routinen der Veränderung bzw. Routinen der Erschließung von Neugeschäften, bei denen Innovationen sehr systematisch angegangen werden. Hier wird sich routinegeleitet an bewährten Regeln ausgerichtet, ein konsistentes Muster verfolgt, aber dennoch außerordentlich kreativ und intelligent vorgegangen. Diese Unterscheidung folgt der Differenzierung zwischen Single-Loop- und Double-Loop-Lernen von Argyris/Schön (1996), welche im Folgenden aufgegriffen wird.86

2.2.1.2

Organisationale Handlungstheorien und Lernniveaus

Organisationsmitglieder führen im Kollektiv komplexe Aufgaben in komplexen Umgebungen durch. Argyris/Schön (1996) gehen davon aus, dass die bewussten Handlungen von Individuen deren kognitive Struktur reflektieren: „We define a theory of action in terms of a particular situation, S, a particular consequence, intended in that situation, C, and an action strategy, A, for obtaining consequence C in situation S. The general form of a theory of action is: If you intend to produce C in situation S, then do A.87

Hinter bewussten Handlungen stehen demnach immer Normen, Strategien und Annahmen, die in Form einer Handlungstheorie (theory of action) berücksichtigt werden. Nach Argyris/Schön (1996) gilt dies auch für Organisationen, die ihre Handlungen nach einer von den Mitgliedern geteilten Handlungsstrategie ausrichten. Unterschieden werden kann zum einen zwischen den formal verankerten offiziellen Handlungstheorien (espoused theories) und zum anderen zwischen den von den Organisationsmitgliedern tatsächlich verwendeten Handlungstheorien (theories in use). Mit offiziellen Handlungstheorien teilen sich Organisationen der Außenwelt und ihren Organisationsmitgliedern mit. Diese beinhalten explizites Wissen, welches formal kodifiziert beispielsweise in Verfahrensanweisungen und Stellenbeschreibungen

86

87

Vgl. Gerybadze (2004b, S. 14). Zu routinegleiteten Innovationsprozessen siehe beispielsweise Tidd/Bessant/Pavitt (2001, Kapitel 2). Siehe zu Routinen weiterhin Gersick/Hackman (1990), Pentland/Rueter (1994) und Cohen/Burkhart/Dosi/Egidi/Marengo/Warglien/Winter (1996). Vgl. Argyris/Schön (1996, S. 13).

35

2.2 Theoretische Grundlagen zum Wissenstransfer

vorliegt. Offizielle Handlungstheorien werden von Organisationsmitgliedern häufig vorgebracht, um Handlungen zu erklären oder zu rechtfertigen.88 Die tatsächlich verwendeten Handlungstheorien können erheblich von den offiziellen Handlungstheorien abweichen. Es wird darauf hingewiesen, dass diese aufgrund von etwaigen Inkonsistenzen mit den offiziellen Handlungstheorien regelmäßig nicht öffentlich diskutiert werden. Darüber hinaus sind die tatsächlich verwendeten informellen Handlungstheorien den Organisationsmitgliedern aufgrund ihres impliziten Charakters teilweise selbst nicht bewusst und können demnach häufig nicht artikuliert oder kodifiziert werden.89 Organisationales Lernen vollzieht sich, indem Handlungstheorien konstruiert, getestet und restrukturiert werden, wobei einzelne Organisationsmitglieder mit ihren eigenen Erfahrungen häufig der Auslöser für Änderungen der tatsächlich verwendeten Handlungstheorien sind. Unterschieden werden können nach Argyris/Schön (1996) in Bezug auf organisationales Lernen mit Single-Loop-Lernen und Double-Loop-Lernen zwei unterschiedliche Lernniveaus, welche in Abbildung 15 visualisiert sind.

Match

Governing Variables

Actions

Mismatch

Single-Loop-Learning Double-Loop-Learning Abbildung 15: Unterschiedliche Lernniveaus (Argyris 1999, S. 68)

Single-Loop-Lernen beschreibt einen geschlossenen, einfachen Feedback-Prozess, bei dem Organisationsmitglieder aufgrund von Zielabweichungen ihr Handeln anpassen ohne existierende Normen und Regeln in Frage zu stellen. Ziel ist es, die organisationale Leistungsfähigkeit zu erhöhen, ohne die zentralen Elemente der tatsächlich angewendeten Handlungstheorien zu verändern. Double-Loop-Lernen besteht aus einem doppelten Feedback-Prozess. Hier werden bei festgestellten 88 89

Vgl. Argyris/Schön (1996, S. 12-15). Vgl. Argyris/Schön (1996, S. 12-15).

36

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

Zielabweichungen nicht nur die organisationalen Handlungen angepasst, sondern auch die zugrunde liegenden Normen sowie die zugehörigen Strategien und Annahmen verändert. Double-Loop-Lernen ist somit im Gegensatz zu dem adaptiven Single-Loop-Lernen ein generativer Prozess.90 Eine kritische Art des organisationalen Double-Loop-Lernens ist das Lernen zweiter Ordnung, bei dem die Organisationsmitglieder über die Rahmenbedingungen des Lernens an sich reflektieren. Ziel ist es, aufgrund von Erfahrungen, die das Lernen in der Vergangenheit erleichtert bzw. erschwert haben, neue Lernstrategien zu entwickeln und anzuwenden. Argyris/Schön (1996) verwenden den von Bateson (1972) geprägten Begriff des Deutero-Lernens als Ausdruck für das „Lernen zu lernen“91

2.2.1.3

Informationsbedürfnisse und Informationsnutzung

Studien zur Suche und Nutzung von Informationen haben eine lange Tradition und sind zu einer immer wichtigeren Komponente verschiedenster Forschungsrichtungen geworden. Unterschieden werden können insbesondere systemorientierte und nutzerorientierte Studien.92 Systemorientierte Studien sehen Informationen als objektives Konstrukt an, welches unabhängig von den involvierten Nutzern und deren sozialem Kontext ist. In dieser Sichtweise existieren Informationen a priori, und es ist die Aufgabe des Nutzers, relevante Informationen zu suchen und die gewünschten Teile zu extrahieren. Systemorientierte Studien sind daher auf die Untersuchung fokussiert, wie Informationen innerhalb sozialer Systeme fließen und wie Tools und Services zu gestalten sind, um den Zugang zu Informationen und deren Verteilung zu optimieren.93 Nutzerorientierte Studien betrachten Informationen hingegen als ein subjektiv von den Nutzern kreiertes Konstrukt. Objektive Inhalte, die beispielsweise explizit in Form von Dokumenten vorliegen, erhalten in dieser Sicht durch Interpretationsvorgänge eine Bedeutung für den jeweiligen Nutzer. Folglich bestehen Informationen in dieser Sicht immer aus objektiven und interpretativen Bestandteilen und haben eine für den jeweiligen Nutzer spezifische Bedeutung. Informationen sind somit nur dann von 90 91 92 93

Vgl. Argyris/Schön (1996, S. 20-21). Vgl. Argyris/Schön (1996, S. 29). Eine ausführliche Klassifizierung dieser Studien findet sich bei Choo (1998, S. 31). Vgl. Choo (1998, S. 31).

2.2 Theoretische Grundlagen zum Wissenstransfer

37

Wert, wenn sie eine Bedeutung für den entsprechenden Nutzer haben. Es ist zu berücksichtigen, dass verschiedene Nutzer durchaus dieselben objektiven Bestandteile unterschiedlich interpretieren können.94 Nach Wilson (1981, 1994) konstruieren Individuen ihre eigene soziale Wirklichkeit kontinuierlich aus der Erscheinung der sie umgebenden Umwelt. Informationsbedürfnisse entstehen in dieser Sichtweise aus Versuchen, dieser Welt einen Sinn zu geben. Er weist daher darauf hin, dass die Suche nach expliziten Informationen in Informationssystemen zu einem gewissen Grad frustrierend ist, da diese häufig in ihrer Bedeutung nicht auf das hochpersonalisierte Problem des Informationssuchenden zugeschnitten sind.95 Um die tatsächlichen Informationsbedürfnisse und die Bedeutung von Informationen von Informationssuchenden zu verstehen, sind daher die Gegebenheiten des täglichen Lebens der Informationssuchenden zu berücksichtigen.96 Da sich der primäre Fokus der Studien aus der empirischen Relevanz heraus von einer zunächst systemorientierten verstärkt zu einer nutzerorientierten Sichtweise orientiert hat, sollen im Folgenden einige Erkenntnisse zu nutzerorientierten Studien aufgezeigt werden. Nutzer setzen bei der Wahl der Informationsquelle die damit verbundenen Kosten mit dem zu erwarteten Nutzen ins Verhältnis, wobei die Kosten sowohl die physikalischen Zugangskosten als auch psychologische Kosten beinhalten. Die psychologischen Kosten sind relevant, da das zu häufige Fragen nach Informationen mit einem Zugeben von Unwissenheit verbunden ist, was aus Sicht des Informationssuchenden mit einem Prestigeverlust verbunden sein kann. Dies ist gerade dann der Fall, wenn der Informationssuchende seinerseits nicht in der Lage ist, Informationen im Gegenzug bereitzustellen. Der Nutzen wird von dem Informationssuchenden durch die technische Qualität oder die Verlässlichkeit der Informationsquelle bestimmt. Allen (1984) zeigt, dass die Zugänglichkeit bei der Wahl der Informationsquelle das dominante Kriterium für den Informationssuchenden ist und die erwartete technische Qualität eine deutlich geringere Rolle spielt.97 Um relevante Informationen zu erhalten, ist es essenziell, die Informationsbedürfnisse exakt mitteilen zu können. Bei seinen Untersuchungen zur Informationssuche aus der Nutzerperspektive beschreibt Belkin (1980) in der Anomalous State of Knowledge (ASK)-Hypothese allerdings, dass Informations94 95 96 97

Vgl. Choo (1998, S. 31). Vgl. Wilson (1994, S. 32). Vgl. Wilson (1981, S. 11). Vgl. Allen (1984, S. 183-193).

38

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

suchende bei Unzulänglichkeiten in ihrem Wissenszustand häufig nicht in der Lage sind, ihre Informationsbedürfnisse genau zu spezifizieren. Dies ist darin begründet, dass sie nicht ausdrücken können, was sie nicht wissen oder was ihnen genau an Informationen fehlt.98

Wahrscheinlichkeit der Kommunikation pro Woche in Prozent

In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu beobachten, dass räumliche Nähe die Wahrscheinlichkeit der Kommunikation zwischen Personen sehr stark positiv beeinflusst. Allen (1984) hat gezeigt, dass dieser Zusammenhang, insbesondere bei den ersten Metern, sehr ausgeprägt ist und die räumliche Separierung ab 30 Meter fast keinen Einfluss mehr auf die Wahrscheinlichkeit der Kommunikationsfrequenz hat (Abbildung 16).99 40 35 30 25 Zwischen Organisationseinheiten

20

Innerhalb einer Organisationseinheit

15 10 5 0 0

10

20

30

40

50

60

70

Entfernung in Metern

Abbildung 16: Kommunikation in Abhängigkeit der Entfernung (Allen 1984, S. 241)

Dies bedeutet, dass ab einer solchen Separierung kaum noch Kommunikation stattfindet.100 Weiterhin ist zu erwähnen, dass nicht nur die räumliche Entfernung, sondern auch die organisatorische Zugehörigkeit der Personen (organizational bond) einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit der Kommunikation hat. So ist die Wahrscheinlichkeit der Kommunikation zwischen Personen derselben Organisationseinheit in der Regel deutlich höher als zwischen Personen verschiedener 98 99 100

Vgl. Belkin (1980, S. 137). Vgl. Allen (1984, S. 236-241). Siehe hierzu auch Armstrong/Cole (2002, S. 170), die dies als „Out of sight out of Mind“-Problem bezeichnen.

2.2 Theoretische Grundlagen zum Wissenstransfer

39

Organisationseinheiten. Die oben genannte Distanz kann auch hier als Richtwert genannt werden.101 Choo/Auster (1993) fassen zusammen, dass bei der Untersuchung des Informationsbedarfs und der Nutzung von Informationen sowohl der Arbeits- und Organisationskontext als auch die soziale Umgebung einbezogen werden müssen. Sie weisen darauf hin, dass Nutzer Informationen von einer Vielzahl formeller und informeller Quellen beziehen, wobei die informellen Quellen wie persönliche Kontakte häufig eine ebenso wichtige und manchmal eine wichtigere Rolle spielen als formelle Quellen wie beispielsweise Datenbanken. Die Auswahl der Informationsquelle kann von verschiedensten Faktoren abhängen, wobei festzustellen ist, dass viele Nutzergruppen lokale oder leicht verfügbare Informationsquellen bevorzugen. Hierbei werden, wie bereits erwähnt, nicht notwendigerweise die am besten eingestuften Quellen genutzt, da die wahrgenommene Zugänglichkeit der Informationsquelle für die Nutzer wichtiger ist als deren erwartete Qualität.102

2.2.2

Modelle des Wissenstransfers

Der Wissensbegriff wird in unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen in vielfältiger Art und Weise verwendet.103 Für die weitere Betrachtung wird zunächst auf die im Bereich Wissensmanagement bekannteste Dichotomie, die Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Wissen eingegangen. Diese Dichotomie bildet die Grundlage für die anschließend diskutierten Modelle des Wissenstransfers. Verschiedene Autoren unterscheiden in ihren Modellen im Hinblick auf organisationales Lernen mit dem Individuum, der Gruppe und der Organisation insgesamt drei miteinander verzahnte Betrachtungsebenen. Die derzeit bekannteste Quelle ist die Theorie der Wissensgenerierung nach Nonaka/Takeuchi (1995), wobei das 4I Framework des organisationalen Lernens nach Crossan/Lane/White (1999) hiermit sehr verwandt ist. Eine etwas andere Sichtweise als Nonaka/Takeuchi (1995) nehmen Cook/Brown (1999) bei ihrem generativen Tanz zwischen Knowledge und Knowing ein.

101 102 103

Vgl. Allen (1984, S. 236-241). Siehe hierzu auch Tomlin (1979) und De Meyer (1991). Vgl. Choo/Auster (1993, S. 284-285). Bei Romhardt (1998, S. 21-22) findet sich eine Sammlung von 40 Dichotomien zum Wissensbegriff in alphabetischer Reihenfolge aus verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen. Siehe zur Verwendung des Wissensbegriffs auch die Übersichtsdarstellung von Blackler (1995).

40

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

2.2.2.1

Explizites vs. implizites Wissen

Für das Verständnis von Wissensmanagement und Problemen des Technologietransfers bildet das ursprünglich von Polanyi (1966) eingeführte Konzept des impliziten Wissens Tacit Knowing eine wichtige Grundlage. Dies wird ausgedrückt durch die beiden vielzitierten Sätze: „…we can know more than we can tell.“104 „…the aim of a skillful performance is achieved by the observance of a set of rules which are not known as such to the person following them.“105

Operationalisiert wurde das Konzept des impliziten Wissens von Winter (1987). Aufbauend hierauf haben Kogut/Zander (1993) Studien in Multinationalen Unternehmen durchgeführt. In ihren Ausführungen heben sie hervor, dass der Grad des impliziten Wissens die kritischste Variable für einen standortübergreifenden Wissenstransfer ist. Gemessen werden kann der Grad des impliziten Wissens insbesondere mithilfe der im Folgenden genannten Dimensionen:106 x

Kodifizierbarkeit (Codifiability)

x

Vermittelbarkeit durch Unterrichtung (Teachability)

x

Beobachtbarkeit in der Anwendung (Observability)

x

Komplexität (Complexity)

Der Wissenstransfer funktioniert demnach zwischen verteilten Standorten insbesondere dann sehr gut, wenn Wissen leicht zu kodifizieren ist, leicht durch Unterrichtung vermittelt werden kann, in der Anwendung gut beobachtbar ist und einen geringen Komplexitätsgrad aufweist (hochgradig explizites Wissen). Die Transferkosten steigen hingegen, wenn eins oder mehrere dieser Kriterien nicht erfüllt werden können. So ist hoch komplexes Wissen, das sehr schwierig kodifizierbar, schlecht beobachtbar und kaum durch Unterrichtung vermittelbar ist, zwischen verteilten Standorten entsprechend schwieriger zu transferieren (hochgradig implizites Wissen).107

104 105 106

107

Vgl Polanyi (1966, S. 4). Vgl. Polanyi (1962, S. 49). Vgl. Winter (1987), Kogut/Zander (1993) und Zander/Kogut (1995). Zur Kodifizierung von Wissen siehe Cohendet/Steinmueller (2000) und Steinmueller (2000). Für eine weiterführende Diskussion zu Kodifizierbarkeit und implizitem Wissen siehe Ancori/Bureth/Cohendet (2000).

41

2.2 Theoretische Grundlagen zum Wissenstransfer

2.2.2.2

Theorie der Wissensgenerierung

Weiterführende empirische Studien zu explizitem und implizitem Wissen wurden von Nonaka/Takeuchi (1995) durchgeführt. Laut Nonaka/Takeuchi (1995) ist der Hauptgrund für den Erfolg japanischer Unternehmen deren Fähigkeit zur Wissensgenerierung auf organisationaler Ebene. Bei der Wissensgenerierung unterscheiden Nonaka/Takeuchi (1995) zwischen der epistemologischen und der ontologischen Dimension. Grundpfeiler der epistemologischen Dimension bildet die Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Wissen. Die ontologische Dimension beschreibt die verschiedenen Ebenen der Wissensgenerierung. Es wird unterschieden zwischen Individuum, Gruppe, Unternehmen sowie der Unternehmensinteraktion. Innerhalb dieser Dimensionen vollzieht sich die Spirale der Wissensgenerierung durch eine Wechselwirkung zwischen implizitem und explizitem Wissen von einer ontologisch niedrigeren auf eine ontologisch höhere Ebene. Kern der Theorie sind die in Abbildung 17 ersichtlichen vier Formen der Wissensumwandlung Sozialisation, Externalisierung, Kombination und Internalisierung, welche genau diesen Vorgang beschreiben.108 Implizites Wissen

Sozialisation

Implizites Wissen

on-the-site „AusübungsBa“ Æ synthetisch

I

I

I

I

I

I O

I

G

I

G

G

G O

I

G

G

Internalisierung

peer-to-peer „InteraktionsBa“ Æ reflektierend

Externalisierung

Explizites Wissen

face-to-face „EnstehungsBa“ Æ existenziell

group-to-group „Cyber-Ba“ Æ systemisch

Kombination

Explizites Wissen

I: Individuum G: Gruppe O: Organisation

Abbildung 17: Spiralmodell der Wissensumwandlung (Nonaka/Konno 1998, S. 43, 46)

108

Vgl. Nonaka/Konno (1998, S. 42-47).

42

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

Die Sozialisation (implizit zu implizit) ist im Wesentlichen ein Erfahrungsaustausch zwischen Individuen, bei dem implizites Wissen wie gemeinsame mentale Modelle und technische Fertigkeiten entstehen. Dies geschieht weitestgehend ohne Sprache, sondern vielmehr durch Beobachtung, Nachahmung und Praxis wie bei einem Meister-Lehrling Verhältnis. Hierzu ist eine Empathie zwischen den Individuen notwendig. Den Schlüssel zum Erwerb dieses impliziten Wissens bildet die Erfahrung, da es ohne eine Form der gemeinsamen Erfahrung äußerst schwer ist sich in die Denkmuster eines anderen hereinzuversetzen.109 Externalisierung (implizit zu explizit) beschreibt einen Prozess zur Artikulation von implizitem Wissen in explizite Konzepte. In diesem essenziellen Prozess wird implizites Wissen mit Hilfe von Metaphern, Analogien, Modellen oder Hypothesen expliziert. Dies lässt sich besonders gut während der Konzeptphase von Produktentwicklungsprojekten beobachten und wird durch den Dialog und kollektive Reflexion ausgelöst. Voraussetzung ist, dass sich Individuen der Gruppe verpflichten und somit von der Gruppe geteilte mentale Modelle entstehen können. Dieser Prozess kann auch dazu dienen, das implizite Wissen von Kunden oder Experten aus anderen Unternehmensbereichen in eine leicht zu verstehende explizite Form zu überführen.110 Die Neuzusammenstellung von vorhandenen expliziten Informationen verschiedener Bereiche in neue Konzepte erfolgt in der Phase der Kombination (explizit zu explizit). Neues explizites Wissen kann durch Sortieren, Hinzufügen, Kombinieren oder Klassifizieren von vorhandenem explizitem Wissen generiert werden. Der Austausch und die Kombination von Wissen erfolgt in dieser Phase durch Dokumente, in Besprechungen oder durch die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien.111 Der Prozess der Internalisierung (explizit zu implizit) dient der Aufnahme expliziten Wissens in die implizite Wissensbasis von Individuen. Dies geschieht überwiegend durch gemeinsames Handeln (learning by doing) und das Entwickeln von Routinen. Zur Förderung der Internalisierung kann explizites Wissen beispielsweise in Dokumenten, Handbüchern oder mündlichen Geschichten festgehalten werden.112

109

110 111

112

Als ein Beispiel wird die Entwicklung eines Brotbackautomaten bei Matsushita in Osaka genannt. Hier gingen die Ingenieure zu dem Chefbäcker eines Hotels in die Lehre, um sich das implizite Wissen des Teigknetens durch Beobachtung, Nachahmung und Praxis anzueignen. Vgl. Nonaka/Konno (1998, S. 42-44). Als ein Beispiel für diese Phase wird die Entwicklung neuer Verkaufskonzepte aufgrund der Datenauswertung von Point-of-Sales Systemen des Lebensmittelherstellers Kraft genannt. Vgl. Nonaka/Konno (1998, S. 45). Siehe zu kontinuierlichen Verbesserungsprozessen durch Learning by Doing die Ausführungen bei Solow (1997) basierend auf Arrow (1962).

2.2 Theoretische Grundlagen zum Wissenstransfer

43

Zur Unterstützung der beschriebenen Formen der Wissensumwandlung führen Nonaka/Konno (1998) das auf die japanischen Philosophen Nishida (1970, 1990) und Shimizu (1995) zurückgehende Konzept des Ba ein. Ba kann als gemeinsamer Raum angesehen werden, der Beziehungen entstehen lässt und als Fundament der Wissensgenerierung dient: “…ba can be thought as a shared space for emerging relationships. (…) According to the theory of existentialism, ba is a context which harbors meaning. Thus, we consider ba to be a shared space that serves as a foundation for knowledge creation. “113

Dieser Raum kann physisch (z. B. Büro), virtuell (z. B. E-Mail) oder mental (z. B. gemeinsame Erfahrung) bzw. eine Kombination aus diesen sein. Nach Nonaka/Konno (1998) kann jede Phase der Wissensumwandlung einem speziellen Ba mit entsprechenden Handlungsempfehlungen zugeordnet werden.114 Die Wissensgenerierung beginnt in dem Entstehungs-Ba (originating-ba) als primäres Ba in der Phase der Sozialisation. Hier sind physische Face-to-FaceKontakte der Schlüssel zur Sammlung von Erfahrung. Dies dient zur Aufnahme von implizitem Wissen. Das Interaktions-Ba (interacting-ba) ist der Raum, in dem implizites Wissen bei der Externalisierung expliziert wird. Dieses Ba sollte bewusster gestaltet sein als das Entstehungs-Ba und Personen mit der richtigen Mischung spezifischen Wissens und Fähigkeiten für die Teamarbeit zusammenführen. Einerseits teilen die Individuen hier die mentalen Modelle mit anderen und andererseits reflektieren und analysieren sie die eigenen. Durch Dialoge werden die mentalen Modelle der Individuen in eine gemeinsame Terminologie und Konzepte überführt.115 Die Phase der Kombination läuft in der virtuellen Welt des Cyber-Ba ab. Durch die Kombination von neuem mit bestehendem explizitem Wissen wird systematisiertes explizites Wissen für die Organisation generiert. Dieses Ba wird effizient unterstützt durch kollaborative Informationsund Kommunikationstechnologien wie beispielsweise Netzwerke, Group Ware und Datenbanken. In dem Ausübungs-Ba (exercising-ba) findet während der Internalisierung die Umwandlung von explizitem in implizites Wissen statt. Dies wird unterstützt durch fokussiertes Training mit erfahrenen Mentoren und Kollegen zur Etablierung von Routinen. Im Vordergrund 113 114 115

Vgl. Nonaka/Konno (1998, S.40). Vgl. Nonaka/Konno (1998, S. 47). Vgl. Nonaka/Konno (1998, S. 47).

44

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

steht in diesem Zusammenhang das Lernen im Sinne von eigener Verbesserung durch On-the-Job Training. Hinzu zählt auch die periphere und aktive Teilnahme. Folglich wird die Internalisierung durch die Anwendung expliziten Wissens in realen oder simulierten Situationen gefördert.116

2.2.2.3

4I Framework des organisationalen Lernens

Das in Abbildung 18 visualisierte 4I Framework des organisationalen Lernens nach Crossan/Lane/White (1999) erinnert stark an das oben beschriebene Modell der Wissensgenerierung nach Nonaka/Takeuchi (1995) und soll daher nur in seinen Grundzügen aufgezeigt werden. Es beschreibt die vier interagierenden Prozesse Intuition, Interpretation, Integration und Institutionalisierung, welche die drei Ebenen Individuum, Gruppe und Organisation verbinden.

Individuum

Gruppe

Organisation

Interpretation

Feed-back

Intuition

Organisation

Gruppe

Individuum

Feed-forward

Integration

Institutionalisierung

Abbildung 18: 4I Framework (Crossan/Lane/White 1999, S. 532)

Intuition ist das unbewusste Erkennen von Mustern oder Möglichkeiten in einem persönlichen Erfahrungsstrom, wobei durch diesen Prozess die intuitiven Handlungen eines Individuums beeinflussen werden können. Eine Beeinflussung

116

Vgl. Nonaka/Konno (1998, S. 47).

2.2 Theoretische Grundlagen zum Wissenstransfer

45

anderer Individuen kann dann durch Interaktion stattfinden.117 Interpretation beinhaltet das Erklären von Erkenntnissen oder Ideen durch Worte oder Handlungen sowohl für sich selbst als auch für andere Individuen. Dieser Prozess erstreckt sich von nonverbal zu verbal und resultiert in der Entwicklung einer (gemeinsamen) Sprache.118 Integration beschreibt den Prozess der Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses durch gegenseitige Abstimmungen zwischen den relevanten Personen. Kommunikation in Form von Dialogen sowie gemeinsame Handlungen sind in dieser Phase die kritischen Faktoren. Dieser Prozess beginnt informell und wird institutionalisiert, sofern sich Abstimmungen wiederholen und signifikant werden. Institutionalisierung soll die Routinisierung von Handlungen sicherstellen. Hier werden Aufgaben definiert und Handlungen spezifiziert. Ziel ist es insbesondere, organisationale Mechanismen in Gang zu setzen, die sicherstellen, dass die gewollten Handlungen ablaufen.119 Feed-forward bezieht sich auf die Exploration und somit auf das Lernen des Neuen. Feed-forward beschreibt die Übertragung des Lernens von Individuen und Gruppen zu einem Lernen, welches in Form von Systemen, Strukturen, Strategien sowie Verfahrensanweisungen institutionalisiert wird. Feedback bezieht sich auf die Exploitation und insofern auf die effiziente Verwertung des Bekannten. Feedback spiegelt die Art und Weise wider, wie institutionalisiertes Lernen Individuen und Gruppen beeinflusst.120

2.2.2.4

Generativer Tanz zwischen Knowledge und Knowing

Cook/Brown (1999) konstruieren aus der ontologischen und der epistemologischen Dimension, wie sie auch von Nonaka/Takeuchi (1995) in der Wissensspirale verwendet werden, eine eigene Matrix zur Unterscheidung von Wissensarten. Diese Matrix ist in Abbildung 19 links enthalten und wird als Epistemologie des Besitzes (epistemology of possession) bezeichnet. Sie enthält insgesamt die vier Wissensarten Konzepte (concepts), Storys, Fähigkeiten (skills) und Genres, die mit dem statischen Ausdruck Knowledge bezeichnet werden (Cook/Brown 1999). Knowledge drückt das Wissen aus, welches 117 118 119 120

Vgl. Crossan/Lane/White (1999, S. 525). Vgl. Crossan/Lane/White (1999, S. 525). Vgl. Crossan/Lane/White (1999, S. 525). Siehe zur Unterscheidung zwischen Exploration und Exploitation March (1991, S. 71-72).

46

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

Individual

Group

Individual

Group

Concepts

Stories

Concepts

Stories

+

Knowing

Knowing

(as Action)

(as Action)

Tacit

Tacit

Knowledge

Explicit

Explicit

besessen wird, und unterscheidet sich von Knowing, dem Wissen, welches Teil von Handlungen ist.121 Das linke obere Feld beinhaltet alles, was ein Individuum explizit wissen, lernen oder ausdrücken kann. Dies können beispielsweise explizit formulierbare Konzepte, Regeln und Gleichungen sein. Das rechte obere Feld beschreibt ebenfalls explizites Wissen, welches typischerweise innerhalb von Gruppen genutzt, formuliert oder transferiert wird. Dies beinhaltet beispielsweise Geschichten oder Erzählungen über die Art und Weise der Verrichtung von Arbeit, über Erfolge und Misserfolge sowie Metaphern und Phrasen, die nur innerhalb von einer Gruppe eine sinnvolle Bedeutung haben.122

Skills

Skills

Genres

Epistemology of Possession

Epistemology of Practice

Genres

Bridging Epistemologies

Abbildung 19: Generativer Tanz zwischen Knowledge und Knowing (Cook/Brown 1999, S. 383)

In dem unteren linken Feld findet sich implizites Wissen von Individuen wie beispielsweise Fähigkeiten zur Anwendung von expliziten Konzepten. Das rechte untere Feld wird als Genres bezeichnet und enthält implizites Wissen, welches Gruppen besitzen. Genres im Kontext von Organisationen sind von einzelnen Gruppen geteilte Orientierungsraster, die nicht explizit erlernt werden oder bewusst sind.123 Im Gegensatz zu Nonaka/Takeuchi (1995) argumentieren Brown/Cook (1999), dass implizites und explizites Wissen zwei voneinander verschiedene Wissensarten sind und nicht ineinander umgewandelt werden können. Im gleichen Atemzug weisen sie

121 122

123

Vgl. Cook/Brown (1999, S. 387). Vgl. Cook/Brown (1999, S. 391). Spender (1996) verwendet eine sehr ähnliche Matrix, bei der einerseits zwischen explizitem und implizitem Wissen und andererseits zwischen individuellem und sozialem Wissen unterschieden wird. Die Wissensarten sind hier bewusstes (conscious), objektiviertes (objectified), automatisches (automatic) und kollektives (collective) Wissen anstelle von Konzepten, Storys, Fertigkeiten und Genres. Vgl. Cook/Brown (1999, S. 391-392).

2.3 Formen und typische Barrieren des Wissenstransfers bei hoher Komplexität

47

darauf hin, dass jede Wissensart dazu helfen kann, sich eine andere anzueignen. Praktizieren im Sinne von Knowing ermöglicht nach Cook/Brown (1999) die Überbrückung der vier Wissensformen, was als generativer Tanz (generative dance) bezeichnet wird. So dient beispielsweise das Praktizieren des Fahrradfahrens als eine Brücke zur Formulierung expliziten Wissens aus einem impliziten Wissensbestand heraus.124 Dies widerspricht der sequentiellen Abfolge idealtypischer Phasen der Wissensumwandlung nach Nonaka/Takeuchi (1995), da hier die Wissensformen ständig durch Praktizieren interagieren.

2.3

Formen und typische Barrieren des Wissenstransfers bei hoher Komplexität

Die empirischen Untersuchungen in den späteren Kapiteln werden zeigen, dass sich der Wissenstransfer insbesondere bei hoher Produkt- und Prozesskomplexität und der Involviertheit von Parteien mit unterschiedlichen Hintergründen als besonders kritisch darstellt. Um sich diesem Phänomen zu nähern, werden in den nachstehenden Abschnitten die von Almeida/Grant (1998) in der Halbleiterindustrie beobachteten Mechanismen des Wissenstransfers aufgezeigt und jeweils geeigneten Transfersituationen zugeordnet. Im Anschluss hieran befindet sich eine von Szulanski (1996, 2003) aufgearbeitete Zusammenstellung von typischen Transferbarrieren, bevor abschließend auf Merkmale sowie den Einfluss hoher Komplexität eingegangen wird.

2.3.1

Formen des Wissenstransfers

MNU besitzen eine Vielzahl von Möglichkeiten Wissen zu transferieren. Wissenstransfer von einem Sender zu einem Empfänger findet immer im Rahmen eines Transferprozesses statt, bei dem verschiedenste Kommunikationskanäle125 und Mechanismen eingesetzt werden können. Sender-Empfänger Modelle der Kommunikation basieren auf dem Grundmodell der Kommunikation nach Shannon/Weaver (1949).126 Ein solcher Transferprozess ist, wie in Abbildung 20

124 125

126

Vgl. Cook/Brown (1999, S. 383-385). Siehe zu Kommunikationskanälen die empisische Untersuchung in Kapitel 3.4 sowie die Theorien zur Mediennutzung in Kapitel 3.3.2. Sender-Empfänger Modelle der Kommunikation basieren auf dem Grundmodell der Kommunikation nach Shannon/Weaver (1949).

48

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

gezeigt, immer in einen bestimmten organisatorischen Kontext eingebunden und kann nicht losgelöst davon betrachtet werden.

Kontext des Wissenstransfers

Sender

Transferprozess/ Kommunikationskanal

Empfänger

Wissen

Abbildung 20: Wissenstransfer in Abhängigkeit des Kontextes

Almeida/Grant (1998) haben in ihren empirischen Untersuchungen im Rahmen von Interviews eine Reihe von Mechanismen zur Durchführung des Wissenstransfers identifiziert. Eine Übersicht über die genannten Mechanismen und eine Zuordnung zu geeigneten Transfersituationen findet sich in der nachfolgenden Abbildung 21.127 Es handelt sich hierbei sicherlich nicht um eine vollständige Zusammenstellung. Dennoch finden sich durch den illustrativen Charakter einige Anknüpfungspunkte für die weitere Untersuchung.128 Allerdings sind nicht alle Formen des Transfers in jeder Situation angemessen, da die Art des zu transferierenden Wissens eine entscheidende Rolle spielt. In den Untersuchungen von Almeida/Grant (1998) wurde deutlich, dass, obwohl allen diesen Mechanismen ein gewisser Nutzen zugesprochen wurde, ein systematischer und situationsabhängiger Einsatz nicht zu erkennen war. Dies zeigt, dass offensichtlich ein Bedarf besteht, geeignete Instrumente zu entwickeln, mit denen der Wissenstransfer systematisch gemanagt werden kann.129

127 128

129

Vgl. Almeida/Grant (1998, Abschnitt 6). Siehe zu Mechanismen des Wissenstransfers bei dem Transfer neuer Methoden an Service Stützpunkte die empirische Untersuchung in Kapitel 3.4. Siehe hierzu Kapitel 5.2, in dem ein Instrument zur Aufdeckung von kritischen Transfersituationen entwickelt wird.

2.3 Formen und typische Barrieren des Wissenstransfers bei hoher Komplexität

49

Transfermechanismus

Transfersituation

Personaltransfers

Implizites und schwer zu kodifizierendes Wissen. Geringe Verteilungsmöglichkeiten.

Mitarbeiterentsendung

Implizites und komplexes Wissen, das durch Langzeitaufenthalte im Rahmen von On-the-Job Trainings transferierbar ist.

Training im Stammland

Know-how Transfer durch On-the-Job Training. Starker Fokus auf Wissensreproduktion zur Verteilung an verschiedene Standorte.

Interne Beratung

Hochgradig implizites, komplexes und spezialisiertes Wissen, das schwierig durch Schulungen zu vermitteln ist.

Kurzbesuche

Erlernen von Routinen durch Beobachtung. Unterstützt zwischenmenschliche Beziehungen.

Elektronischer Datenaustausch

Kodifizierte Informationen mit hochgradig standardisiertem Format und geringer Ambiguität.

E-Mail

Primärer Einsatz für den Informationstransfer mit einer Vielzahl von Formaten und Informationstypen.

Groupware

Transfer und Integration mehrerer Informationstypen. Plattform für die Integration von implizitem Wissen verschiedener Individuen.

Telefon

Bilaterale oder multilaterale Kommunikation zum Transfer von hochgradig komplexem Wissen und teilweise implizitem Wissen.

Fax

Schneller Austausch von kleinen Mengen schriftlicher oder grafischer Informationen.

Video-Konferenzen

Relativ gute zwischenmenschliche Interaktion zum gemeinsamen Problemlösen.

Berichte und Handbücher

Transfer von komplexem explizitem Wissen, das noch nicht einfacher dargestellt werden kann.

Face-to-Face-Meetings

Transfer von Know-how und kontextabhängigem explizitem Wissen.

Seminare und Kurse

Breite Verteilung von komplexem explizitem Wissen. Schaffung einer gemeinsamen Kultur und zwischenmenschlicher Beziehungen.

Communities-of-Practice

Individuen mit gemeinsamem Spezialwissen, die sich regelmäßig ohne Einfluss von organisatorischen Grenzen treffen. Intensiver Transfer von Know-how.

Interessensgemeinsschaften

Individuen mit gemeinsamen Interessen, die sich bilateral oder multilateral zum Informationsaustausch treffen.

Regeln, Prozeduren und Anweisungen

Übersetzung von Management Know-how in einfache Regeln, Prozeduren und Anweisungen. Implementiert über hierarchische Beziehungen.

Modulare Integration

Dekomposition eines komplexen Systems (Produkte und Prozesse) in Module, ohne jedoch das Wissen, das in den Modulen steckt, zu transferieren.130

Abbildung 21: Formen des Wissenstransfers (Almeida/Grant 1998, Abschnitt 6)

130

Eine solche Vorgehensweise erfordert eine hohe wissensökonomische Reife. Diese liegt dann vor, wenn für die Nutzung einer Information oder die Weiterverarveitung eines Produkts nicht mehr auf das zugrunde liegende Fachwissen zurückgegriffen werden muss. Siehe hierzu Dietl (1993, S. 174-177) und Dietl (1995, S. 574-576). Scheuble (1998) spricht in diesem Zusammenhang von Wissenssurrogaten.

50

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

2.3.2

Typische Barrieren beim Transfer von Wissen

In Untersuchungen zum Wissenstransfer innerhalb Unternehmen hat Szulanski (1996, 2003) Barrieren herausgearbeitet, welche die unternehmensinterne Verbreitung von Best Practices behindern. Hierzu gehören sowohl Motivations- als auch Wissensbarrieren, wobei gerade die Beziehung zwischen Sender und Empfänger einen äußerst wichtigen Faktor darstellt.131 Best Practices können sowohl eine überlegene Technologie als auch eine bessere Arbeitsorganisation sein, wobei das Wissen bereits im Unternehmen vorliegt. Unterschieden werden kann hier zwischen horizontalen und vertikalen Transfers. Bei horizontalen Transfers befinden sich Sender und Empfänger auf der gleichen Wertschöpfungsstufe und üben ähnliche Tätigkeiten aus. Seltener sind vertikale Transfers über verschiedene Wertschöpfungsstufen hinweg. In solchen Situationen kommt es regelmäßig vor, dass eine zentrale Einheit ein explizites Mandat zur Verbreitung einer Best Practice im Unternehmen hat.132 Die Tatsache, dass manche Transfers auch bei bewährtem und wohl definiertem Wissen deutlich höhere Anstrengungen benötigen als andere, drückt von Hippel (1994) mit dem Begriff Sticky (klebrig) aus: „We define the stickiness of a given unit of information in a given instance as the incremental expenditure required to transfer that unit of information to a specified locus in a form usable by a given information seeker. When this cost is low, information stickiness is low; when it is high stickiness is high.”133

Schwierige Transfersituationen zeichnen sich dadurch aus, dass transferrelevante Probleme nicht von den normalerweise beim Transfer beteiligten Personen, sondern durch das Einbinden von höheren Hierarchieebenen im Rahmen von Eskalationsprozessen gelöst werden. Dies zieht eine zeitliche Verzögerung nach sich und trifft gerade bei komplexen Transferproblemen zu. Hier sind zusätzliche Kompetenzen erforderlich und die zur Lösung der Transferprobleme aufzuwendenden Anstrengungen werden nennenswert.134 Wichtig zu erwähnen ist in diesem Kontext, dass wie in Abbildung 22 ersichtlich, sowohl die Eigenschaften des zu

131 132 133 134

Vgl. Szulanski (1996, 2003). Vgl. Szulanski (2003, S. 10). Vgl. Von Hippel (1994, S. 430). Vgl. Szulanski (2003, S. 14).

2.3 Formen und typische Barrieren des Wissenstransfers bei hoher Komplexität

51

transferierenden Wissens als auch die Transfersituation einen Einfluss auf die Schwierigkeit des Transfers haben.135 Attribute des zu transferierenden Wissens

• Kausale Ambiguität (Causal Ambiguity) • Mangelnder Nutzennachweis (Unproven Knowledge)

Eigenschaften des Senders

• Mangelnde Motivation (Source lacks motivation) • Mangelnde Glaubwürdigkeit (Source lacks credibility)

Eigenschaften des Empfängers

• Mangelnde Motivation (Recipient lacks motivation) • Mangelnde absorptive Kapazität (Recipient lacks absorptive Capacity) • Mangelnde Retentionsfähigkeit (Recipient lacks retentive Capacity)

Kontextfaktoren

• Unfruchtbares organisatorisches Umfeld (Barren organizational context) • Schwieriges Sender-Empfänger-Verhältnis (Arduous relationship)

Abbildung 22: Barrieren beim Transfer von Best Practices

Bei der Reproduktion vorhandenen Wissens, wie dem Transfer von Best Practices, beeinflusst die kausale Ambiguität (causal ambiguity) als zentrales Wissensattribut den Transfererfolg in fundamentaler Art und Weise. Kausale Ambiguität liegt dann vor, wenn bei der Reproduktion bestimmten Wissens in einem neuen Kontext die genauen Gründe für Erfolg und Misserfolg auch im Nachhinein nicht eindeutig bestimmt werden können. Dies ist nach Rumelt (1984) darin begründet, dass der potenzielle Erfolgsbeitrag des Senders aufgrund von Ungewissheit über die notwendigen Wissenselemente und deren Interaktion nicht transparent ist: “…if precise reasons for success or failure cannot be determined, even after the event has occurred, there is causal ambiguity and it is impossible to produce an unambiguous list of the factors of production, much less measure their marginal contribution.” 136

So kann es bei kausaler Ambiguität zu hohen Transferkosten kommen, wenn im Vorfeld nicht transparent ist, welche Wissenselemente kritisch sind. Im Nachhinein ist dann oftmals ersichtlich, dass die entsprechenden Wissenselemente zu geringen Kosten hätten transferiert werden können.137 Bei kausaler Ambiguität existiert häufig ein Unterschied zwischen formalen Beschreibungen (Trainingsprogramme, Handbücher etc.) und der tatsächlichen Arbeitspraxis:

135 136 137

Vgl. Szulanski (2003, S. 59). Vgl. Rumelt (1984, S. 567). Vgl. Jensen/Meckling (1992, S. 255).

52

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

“…the ways people actually work usually differ fundamentally from the ways organizations describe that work in manuals, training programs, organizational charts, and job descriptions.”138

Selbst wenn formale Beschreibungen die tatsächliche Arbeitspraxis repräsentieren, so ist eine akkurate Kommunikation der relevanten Informationen, die es dem Empfänger erlaubt, alle Details zu rekonstruieren, keineswegs unkritisch. Ein weiteres transferfeindliches Wissensattribut ist ein mangelnder Nutzennachweis (unproven knowledge). Gerade wenn eine empirische Fundierung praktizierten Wissens nicht gegeben ist (z. B. durch eine kurze Nutzungszeit), wird es schwieriger, den Empfänger für die Rekonstruktion dieses Wissens in einem anderen Kontext zu gewinnen. Mangelnde Motivation des Senders (source lacks motivation) liegt beispielsweise vor, wenn dieser durch die Weitergabe kritischen Wissens einen Machtverlust befürchtet (Invented-Here-Syndrom) oder keine Anerkennung für die Weitergabe seines schwierig erworbenen Wissens erhält. Darüber hinaus sind gerade in der Anfangsphase des Transfers erhöhte Anstrengungen zur Unterstützung des Empfängers notwendig, welche die Motivation des Senders, sofern der Transfer nicht dessen Hauptaufgabe ist, sinken lassen. Mangelnde Glaubwürdigkeit des Senders (Source lacks credibility) beeinflusst den Transfer ebenfalls negativ. Dies liegt daran, dass potenzielle Empfänger glaubwürdigen Sendern, die beispielsweise als sachkundig und vertrauenswürdig eingestuft werden, offener und aufnahmebereiter gegenübertreten. Hier ist jedoch anzumerken, dass Empfänger das von glaubwürdigen Sendern transferierte Wissen oft nicht so kritisch hinterfragen und den Sender weniger stark kontrollieren, was wiederum negative Konsequenzen haben kann.139 Neben der Motivation des Senders spielt auch die Motivation des Empfängers eine entscheidende Rolle beim Transfer von Wissen. Eine mangelnde Motivation des Empfängers (recipient lacks motivation) drückt sich beispielsweise durch Verzögerungstaktik, Passivität, fingierter Akzeptanz, versteckter Sabotage oder vollständiger Ablehnung aus.140 Die Motivation eines Empfängers, Wissen von anderen aufzunehmen, fällt entsprechend dem Not-Invented-Here-Syndrom nach 138 139 140

Vgl. Brown/Duguid (1991, S.40). Vgl. Szulanski (2003, S. 27-29). Vgl. Szulanski (2003, S. 29)

2.3 Formen und typische Barrieren des Wissenstransfers bei hoher Komplexität

53

Katz/Allen (1982) umso weiter ab, je besser er sich selbst im Vergleich zu anderen einstuft: “…the tendency of a project group of stable composition to believe it possesses a monopoly of knowledge of its field, which leads it to reject new ideas from outsiders to the likely detriment of its performance.” 141

Szulanski (2003) zeigt, dass dies bis auf die Empfänger zutrifft, die sich selbst als am besten einstufen. Diese sind entgegen dem Not-Invented-Here-Syndrom am stärksten motiviert, Wissen von anderen aufzunehmen, und somit geeignete Transferpartner. Am zweitbesten motiviert sind diejenigen, die sich selbst als am schlechtesten einstufen.142 Etwas anders gelagert ist die mangelnde absorptive Kapazität des Empfängers (Recipient lacks Absorptive Capacity). Nach Cohen/Levinthal (1990) hängt die Fähigkeit des Empfängers, fremdes Wissen zu nutzen, weitestgehend davon ab, inwiefern dieser bereits über verwandtes Vorwissen verfügt: “We argue that the ability to evaluate and utilize outside knowledge is largely a function of the prior related knowledge. At the most elemental level, this prior knowledge includes basic skills or even a shared language but may also include knowledge of the most recent scientific or technological developments in a given field. Thus, prior related knowledge confers an ability to recognize the value of new information, assimilate it, and apply it to commercial ends. These abilities collectively constitute what we call a firm’s “absorptive capacity” 143

Dies betrifft neben Grundkenntnissen und einer gemeinsamen Sprache auch das Wissen über wissenschaftliche oder technologische Entwicklungen in der entsprechenden Wissensdomäne. Je geringer dieses Vorwissen ist, desto geringer ist die absorptive Kapazität und desto schwieriger gestaltet sich folglich der Wissenstransfer.144 Retentionsfähigkeit beschreibt die Fähigkeit neues Wissen zu institutionalisieren. Ein Wissenstransfer ist erfolgreich, wenn das transferierte Wissen über einen längeren Zeitraum genutzt und nicht nur bei der erstmaligen Implementierung angewendet wird. Dies ist wahrscheinlicher, wenn die Nutzung des überlegenen neuen Wissens 141 142 143 144

Vgl. Katz/Allen (1982, S. 7) Vgl. Szulanski (2003, S. 65) Vgl. Cohen/Levinthal (1990, S. 131) Vgl. Szulanski (2003, S. 29)

54

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

sukzessive ausgeweitet und gleichzeitig die Nutzung des alten Wissens gezielt unterbunden wird. Eine mangelnde Retentionsfähigkeit des Empfängers (recipient lacks retentive capacity) behindert folglich den Wissenstransfer.145 Der organisatorische Kontext im Hinblick auf formale Strukturen und Systeme, Koordinationsmechanismen und Anreizsysteme kann einen Wissenstransfer in positiver und negativer Weise beeinflussen. Dementsprechend stellt ein unfruchtbares organisatorisches Umfeld (barren organizational context) eine weitere Transferbarriere dar. Der Wissenstransfer ist meistens ein iterativer Prozess. Dies zeigt sich dadurch, dass der Empfänger beim Transfer von Wissen einerseits häufig Erklärungen benötigt und der Sender andererseits häufig die tatsächlichen Bedürfnisse des Empfängers herausfinden muss. Entsprechend spielt die soziale Bindung zwischen den Transferpartnern eine große Rolle. Insofern ist ein schwieriges Sender-Empfänger-Verhältnis (arduous relationship) eine weitere nicht zu unterschätzende kontextabhängige Transferbarriere.146 Szulanski (2003) zeigt in seinen empirischen Untersuchungen, dass die genannten Transferbarrieren in verschiedenen Transferphasen unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Unterschieden werden können die folgenden Phasen:147 x

Initiierung (bis Entscheidung zum Transfer)

x

Implementierung (bis zur Ersten Nutzung)

x

Ramp-Up (bis zur gewünschten Performance)

x

Integration (weitere Nutzung)

In der Initiierungsphase sind Faktoren wie ein Nutzennachweis und ein vertrauenswürdiger Sender besonders wichtig, während in der eigentlichen Durchführung des Transfers die Motivation des Empfängers und dessen absorptive Kapazität eine bedeutende Rolle spielen. Als wichtigste Transferbarrieren insgesamt werden kausale Ambiguität, mangelnde absorptive Kapazität des Empfängers sowie ein schwieriges Sender-Empfänger-Verhältnis genannt.148 Ein weiteres interessantes Ergebnis ist, dass Transfers von Best Practices mit einem starken Mandat vom Management und spontane Transfers mit einem engagierten Champion die

145

146 147 148

Vgl. Szulanski (2003, S. 30). Eine interessante Übersicht mit Beispielen, bei denen technisches und organisatorischen Wissen nach erfolgreicher Implementierung nicht weiter angewendet wurde, findet sich bei Glaser/Abelson//Garrison (1983, S. 221-251). Vgl. Szulanski (2003, S. 31). Vgl. Szulanski (2003, S. 33-35). Vgl. Szulanski (2003, S. 56).

2.3 Formen und typische Barrieren des Wissenstransfers bei hoher Komplexität

55

geringsten Schwierigkeiten aufweisen.149 Optionale Transfers, die weder vom Management noch von einem Champion gestützt werden, erweisen sich hingegen als am schwierigsten durchführbar.150

2.3.3

Merkmale und Einfluss hoher Komplexität

Komplexe Produkte oder Prozesse zeichnen sich dadurch aus, dass es eine Vielzahl an Variablen gibt, die abhängig voneinander sind und sich gegenseitig beeinflussen. Je mehr Variablen es gibt und je stärker diese voneinander abhängen, desto höher ist die Komplexität.151 Reither (1997) nennt folgende Eigenschaften für komplexe Situationen oder Systeme:152 x

Unüberschaubarkeit

x

Vernetztheit

x

Eigendynamik

x

Undurchsichtigkeit

x

Wahrscheinlichkeitsabhängigkeit

x

Instabilität

Komplexe Produkte zeichnen sich durch eine hohe Anzahl von Komponenten und Subsystemen aus, die in einem komplexen Prozess integriert werden müssen. Je höher die Anzahl der Varianten im Hinblick auf Customizing, je mehr mögliche Systemarchitekturen es gibt und je mehr Designalternativen für die einzelnen Komponenten zur Verfügung stehen, desto höher ist die Komplexität. Weitere Merkmale von Komplexität sind die technologische Neuartigkeit für die jeweiligen Unternehmen und das Ausmaß an Embedded Software.153 Komplexe Produkte werden üblicherweise im Rahmen von Projekten entwickelt, bei denen mehrere Organisationseinheiten eines Unternehmens wie beispielsweise interne Forschungs- und Service Units, Entwicklungs- und Produktionsbereiche sowie Servicebereiche beteiligt sind. Weiterhin sind bei solchen Vorhaben, wie in Abbildung 23 gezeigt, neben den unternehmensinternen zahlreiche unternehmensexterne Partner wie Zulieferer und Dienstleister involviert. Studien zu Innovationsnetzwerken zeigen, dass die Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen 149 150 151 152 153

Promotoren werden im angelsächsischen als Champions bezeichnet. Siehe hierzu Kapitel 3.1.2.2. Vgl. Szulanski (2003, S. 67). Vgl. Dörner (2000, S. 60). Vgl. Reither (1997, S. 14) Vgl. Hobday (1998, Kapitel 1.5).

56

2. Wissenstransfer bei hoher Komplexität im Innovationsprozess

unternehmensinternen und –externen Partnern häufig ausschlaggebend für den Innovationserfolg ist.154 Projektmanagement wird in solchen Situationen gewählt, da so durch die Reduktion von Hierarchien und Bürokratie flexibler auf Unsicherheiten und Feedback-Schleifen von späten in frühe Phasen reagiert werden kann.155 OEM Forschung / Service Units

Entwicklung

Produktion

After Sales

Zulieferer / Dienstleister

Abbildung 23: Interne und externe Schnittstellen beim Wissenstransfer

Komplexe Projekte sind nicht nur durch ihre Größe und ihre Kosten charakterisiert, sondern auch durch eine hohe Interaktion mit Kunden und anderen Stakeholdern wie Regulierungsbehörden. Hieraus resultieren Unsicherheiten über die Anforderungen an das Produkt sowie Änderungen dieser in späten Phasen. Die genannten Aspekte erfordern den Umgang mit unterschiedlichen Kulturen, Stilen, Managementstrukturen und Zielen. Dies ist insbesondere dann kritisch, wenn unterschiedliche Kompetenzen und Wissen aus verschiedensten Gebieten (Software Technologien, Materialtechnologien, etc.) integriert werden müssen.156 Bei einer solchen Spezialisierung sind die dezentral verteilten Wissensrepertoires sinnvoll zu integrieren, wobei zu beachten ist, dass die einzelnen Individuen in immer weniger Teilgebieten immer mehr und in immer mehr Teilgebieten immer weniger wissen.157 Aus der resultierenden Arbeitsteilung und der hiermit einhergehenden Interdependenz der Individuen steigt der Bedarf an Koordinationsmechanismen.158 Folglich ist der Wissenstransfer insbesondere bei hoher Produkt- und Prozesskomplexität schwierig zu managen. 154

. Siehe hierzu Hagedoorn (1990, 1992), Håkansson (1989), Gemünden/Heydebreck/Herden (1992) und Tidd (1995). Vgl. Hobday (1998, Kapitel 1.5). Durand (1997, S. 132) weist ebenfalls darauf hin, dass der Neuartigkeitsgrad einer Innovation firmenspezifisch ist: „…the competence perspective clearly implies that the intensity of an innovation is foirm-dependend. What may be felt as a major change for one organization may be s simple adaptation to another“. 156 Vgl. Hobday (1998, Kapitel 1.5). Siehe zum Komplexitätsmanagement beispielsweise Wildemann (2000) und Schuh/Schwenk (2001). 157 Vgl. Dietl (1995, S. 574). 158 Siehe zum Begriff der Koordination beispielsweise Reger (1997, Kapitel 2) und Nadler/Tushman (1988, S. 469-486). 155

3 Die Einführung von neuen Methoden in MNU In den vorangegangenen Kapiteln wurden Prozessmodelle zum Innovationsmanagement aufgezeigt, theoretische Grundlagen zum Wissenstransfer erarbeitet und typische Probleme des Wissenstransfers vor dem Hintergrund hoher Produktund Prozesskomplexität dargestellt. Ein Aspekt, der in diesem Zusammenhang beleuchtet wurde, ist das Vorhandensein von Routinen als organisationale Wissensbasis. Die besondere Herausforderung liegt nun darin, die vorhandenen Routinen so weiterzuentwickeln, dass dynamischen Märkten und technologischen Entwicklungen Rechnung getragen wird.159 Hierzu ist es regelmäßig notwendig, neue Methoden innerhalb des Unternehmens einzuführen und diese in bestehende Routinen einzubetten. Die Einführung von neuen Methoden erfolgt gerade bei hoher Produkt- und Prozesskomplexität nicht schlagartig, sondern im Rahmen eines Diffusionsprozesses, bei dem verschiedenste Personen in unterschiedlichen Rollen involviert sind. In diesem Zusammenhang spielen gruppendynamische Prozesse, sowie die Auswahl von Kommunikationsmedien für bestimmte Transfersituationen eine entscheidende Rolle. Daher werden in den folgenden Abschnitten diesbezügliche Erklärungsansätze aufgezeigt, wobei die theoretischen Erkenntnisse an insgesamt drei Fallstudien gespiegelt werden. Fokus der ersten Fallstudie ist die erstmalige Einführung sowie die anschließende Verbreitung einer neuen Methode innerhalb eines MNU. Mit dem Projekt Improved Quality Testing wird zunächst der Wissenstransfer an der Schnittstelle zwischen Zentralforschung und Unternehmensbereich aufgezeigt, wobei gerade auch die Frage der länderübergreifenden Standortverteilung ins Licht der Betrachtung gerückt wird. Die zweite Fallstudie beleuchtet den Transfer neuer Methoden an weltweit verteilte Servicestützpunkte. Im Gegensatz zu der ersten Fallstudie stehen hier nicht mehr einzelne Projektgruppen, sondern eine Vielzahl von global verteilten Mitarbeitern im Fokus der Untersuchung. Um den für den Wissenstransfer überaus interessanten Aspekt der Standortverteilung weiter zu vertiefen, wird das geschäftsbereichsübergreifende Standardisierungsprojekt Standard-E/E in einer dritten Fallstudie thematisiert.

159

Siehe hierzu die Unterscheidung zwischen Routinen der Beharrung und Routinen der Veränderung in Kapitel 2.2.1.1.

58

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

3.1

Erklärungsansätze zu Diffusion und Rollen im Innovationsprozess

Die in diesem Kapitel aufgezeigten Erklärungsansätze zur Diffusion von Innovationen gehen auf die Arbeiten von Rogers (1983) zurück. Ziel ist es, zu verstehen, wie typischerweise neue Methoden innerhalb von Unternehmen Verbreitung finden und welche Faktoren den Diffusionsprozesses maßgeblich beeinflussen. In Bezug auf die im Diffusionsprozess vorkommenden Rollen haben diverse Autoren Untersuchungen durchgeführt, wobei in den unterschiedlichen Studien ähnliche Muster gefunden wurden.160 Eine Auswahl hierzu findet sich in der zweiten Hälfte dieses Kapitels.

3.1.1

Diffusion von Innovationen

Rogers (1983) definiert Diffusion als einen Prozess, bei dem eine Innovation durch verschiedene Kommunikationskanäle über einen Zeitraum den Mitgliedern eines sozialen Systems zugänglich gemacht wird. Es handelt sich insofern um eine besondere Art der Kommunikation, da die ausgetauschten Informationen neue Ideen transportieren und die Akteure das Ziel eines gemeinsamen Verständnisses verfolgen: An innovation is an idea, practice, or object that is perceived as new by an individual or other unit of adoption.”161

Ausschlaggebend für unterschiedliche Diffusionsraten sind die von den Individuen empfundenen diffusionsrelevanten Charakteristika der Innovation.162 Eine Innovation diffundiert nach Rogers (1983) umso schneller, je stärker die nachfolgenden Eigenschaften ausgeprägt sind:163

160

161 162 163

x

Relative Vorteilhaftigkeit (Relative advantage) gegenüber bestehenden Methoden im Hinblick auf Wirtschaftlichkeitsaspekte, soziales Prestige, Bequemlichkeit oder anderen Nutzen

x

Kompatibilität (Compatibility) mit bestehenden Wertstrukturen, Erfahrungen und Bedürfnissen der potenziellen Nutzer

Eine umfassende Übersicht über die in der Literatur beschriebene Rollenvielfalt im Innovationsmanagement findet sich beispielsweise bei Hauschildt (1997, S. 158-159). Vgl. Rogers (1983, S. 11). Vgl. Rogers (1983, S. 15-16). Es ist zu erwähnen, dass Innovationen während der Adaption durchaus von den potenziellen Anwendern verändert werden können (re-invention). Siehe hierzu Rogers (1983, S.16).

3.1 Erklärungsansätze zu Diffusion und Rollen im Innovationsprozess

59

x

Geringe Komplexität (Complexity) im Hinblick auf das Verstehen und Anwenden der Innovation

x

Erprobbarkeit (Trialability) als Möglichkeit des Experimentierens, bevor eine Entscheidung für oder gegen die Innovation gefällt wird

x

Beobachtbarkeit (Observability) als Grad der Sichtbarkeit der Ergebnisse einer Innovation für andere potenzielle Nutzer

Diffusion erfordert Kommunikation zwischen den Innovatoren, den Verbreitern und den potenziellen Nutzern einer Innovation zur Gewinnung eines gemeinsamen Verständnisses. Hierzu zählt insbesondere das Verstehen der Vorteile, der Nachteile und der Konsequenzen, die eine Innovation in einem spezifischen Anwendungskontext mit sich bringt. Eines der markantesten Probleme ist hier, dass die involvierten Parteien im Diffusionsprozess üblicherweise unterschiedliche Bezugsrahmen haben und somit die Kommunikation ineffektiv wird:164 „More effective communication occurs when two individuals are homophilous. When they share common meanings, a mutual subcultural language, and are alike in personal and social characteristics, the communication of ideas is likely to have greater effects in terms of knowledge gain, attitude formation and change, and overt behaviour change.“

Rogers (1983) entwickelt ein fünfstufiges Modell zur Beschreibung von Schritten im Innovationsentscheidungsprozess. Hier spielen nicht immer objektive wissenschaftliche Ergebnisse, sondern häufig gerade subjektive Bewertungen eine entscheidende Rolle:165

164 165

x

Wissen (knowledge) entspringt, wenn Entscheidungsträger von der Existenz einer Innovation erfahren und deren prinzipielle Funktionalität verstehen

x

Überzeugungen (persuasion) formen sich, wenn Entscheidungsträger positive oder negative Haltungen gegenüber der Innovation einnehmen

x

Entscheidungen (decision) entstehen, wenn Entscheidungsträger sich mit Aktivitäten befassen, die zur Adoption oder Ablehnung der Innovation führen

x

Implementierung (implementation) findet statt, wenn die Entscheidungsträger die Innovation tatsächlich einsetzen

x

Bestätigung (confirmation) entsteht, wenn Entscheidungsträger bereits gefallenen Innovationsentscheidungen stützen, wobei die getroffenen

Vgl. Rogers (1983, S. 19). Vgl. Rogers (1983, S. 164).

60

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Entscheidungen bei negativen Nachrichten über die Innovation revidiert werden können Die Adoptionsrate für eine Gruppe von potenziellen Nutzern einer Innovation kann typischerweise mit einer S-Kurve abgebildet werden. Hier wird die Innovation zunächst nur von wenigen potenziellen Nutzern angenommen, wobei im weiteren Verlauf eine schnelle Verbreitung stattfindet, die schließlich langsam an eine Sättigungsgrenze (vollständige Diffusion) stößt. Hier spielen die Sozial- und die Kommunikationsstruktur mit formalen und informellen Kommunikationskanälen für die Ermöglichung oder Behinderung von Innovationen eine entscheidende Rolle: Mass-media channels are more effective in creating knowledge of innovations, whereas interpersonal channels are more effective in forming and changing attitudes toward the new idea, and thus in influencing the decision to adopt or reject a new idea.” 166

Als wichtiges Element hebt Rogers (1983) die Rolle von Meinungsführern heraus, die auf informelle Weise potenzielle Nutzer in ihrer Entscheidung für oder gegen eine Innovation beeinflussen.167

3.1.2

Rollen im Innovationsprozess

Diverse Autoren haben eine Vielzahl von Rollen definiert, die sowohl von unternehmensinternen als auch von unternehmensexternen Personen wahrgenommen werden können. Bereits Schumpeter (1912) machte durch die Unterscheidung der Funktion des Erfinders von der Funktion des Unternehmers darauf aufmerksam, dass das Durchsetzen von Innovationen das Zusammenwirken höchst unterschiedlicher Menschen in verschiedenen Rollen erfordert: „Die Funktion des Unternehmers und die Funktion des Erfinders sind ganz verschiedene Dinge. Der Unternehmer ist weder prinzipiell selbst Erfinder – wo er es ist, liegt eine zufällige Vereinigung verschiedener Funktionen vor –, noch ist er der Handlanger und Ordonnanzoffizier des Erfinders, so dass der Erfinder der eigentliche Unternehmer wäre“168

166 167 168

Vgl. Rogers (1983, S. 35-36). Vgl. Rogers (1983, S. 37). Vgl. Schumpeter (1912, S. 178).

3.1 Erklärungsansätze zu Diffusion und Rollen im Innovationsprozess

61

In der neueren Literatur werden insbesondere Gatekeeper, die unabhängig von einem bestimmten Innovationsprojekt agieren, und Promotoren, die ausschließlich mit einem bestimmten Innovationsprojekt befasst sind, genannt. Diese Schlüsselpersonen erleichtern das Überwinden der durch Widerstände der Betroffenen und Beteiligten aufgebauten Barrieren im Innovationsprozess. Neben diesen Ansätzen wird weiterhin das auf die Schnittstelle Forschung und Entwicklung fokussierte Modell der Technologieintegration nach Iansiti (1998) erläutert.

3.1.2.1

Rolle des technologischen Gatekeepers

Oftmals kommt zwischen innovationsrelevanten Personen aufgrund von unterschiedlichen Wertvorstellungen, Kulturen oder Sprachen kein Dialog zustande. Gerade hier sind Personen gefordert, die verhindern, dass innovationsrelevantes Wissen nicht weitergeleitet wird, und helfen Informations- und Wissensbarrieren zu überwinden. Allen (1984) identifizierte in seinen empirischen Untersuchungen die Rolle des technologischen Gatekeepers, der neue Informationen in einem zweistufigen Prozess (indirekt über den Gatekeeper) in die Organisation einbringt. Technologische Gatekeeper zeichnen sich dadurch aus, dass sie belesener im Hinblick auf relevantes Fachwissenwissen sind (z. B. Fachzeitschriften), über eine Vielzahl von persönlichen Kontakten innerhalb und außerhalb der Organisation verfügen und externe Informationen so in die Organisation transferieren, dass der durchschnittliche Ingenieur diese versteht. Seine originäre Eigenschaft besteht somit in seiner Verfügungsgewalt über ein weit gespanntes Informationsnetzwerk, mithilfe dessen informationsbedingte Defizite einzelner Mitarbeiter im Innovationsprozess abgebaut werden können.169 Es wird darauf hingewiesen, dass das Management den Wert dieser Personen sehen und entsprechend honorieren sollte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Rolle des technologischen Gatekeepers formalisiert werden sollte.170

3.1.2.2

Ursprung und Erweiterungen des Promotorenmodells

Ausgangspunkt des Promotorenkonzepts sind die so genannten Championmodelle, welche davon ausgehen, dass eine Person existiert, die einen Innovationsprozess 169

170

Vgl. Allen (1984, S. 145-148). Siehe hierzu auch Tushman (1977), Katz/Tushman (1981), Domsch/Gerpott/Gerpott (1989). Vgl. Allen (1984, S. 161).

62

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

entscheidend vorantreibt.171 Im Gegensatz zu den Championmodellen, bei denen Rollen und Personen verbunden sind, trennen die Promotorenmodelle Rollen und Personen. Eine Person kann hier zum einen mehrere Rollen einnehmen und Rollen können andererseits auf mehrere Personen verteilt sein. Diese Modelle gehen auf die empirische Arbeit Wittes (1973) zurück, der insbesondere das Nicht-Wollen und das Nicht-Wissen als Barrieren im Innovationsprozess hervorhebt. Die Barriere des Nicht-Wollens lässt sich dadurch begründen, dass bei einem gegebenen sozio-technischen Zustand sowohl Chancen als auch Risiken bekannt und kalkulierbar sind, und verschiedene Personen an diesem Zustand festhalten wollen. Um diese Barriere zu überwinden, definiert Witte (1973) die Rolle des Machtpromotors, der durch sein hierarchisches Potenzial den Innovationsprozess aktiv und intensiv fördert. Dieser ist in der Lage, die Opponenten des Nicht-Wollens mit Sanktionen zu belegen und die Innovationswilligen zu schützen.172 Die Barriere des Nicht-Wissens erklärt sich sowohl aus dem Wesen der Innovation selbst als auch mit den verbundenen unbekannten Arbeitsprozessen. Dies trifft gerade bei komplex strukturierten Innovationen zu, die eine Vielzahl von miteinander integrativ verbundenen und sich gegenseitigen bedingenden Problemfeldern berühren. Vor diesem Hintergrund definiert Witte (1973) den Fachpromotor, der den Innovationsprozess durch sein objektspezifisches Fachwissen aktiv und intensiv fördert.173 Witte (1973) zeigt, dass Innovationen mit einem Gespann aus Macht- und Fachpromotor insgesamt erfolgreicher sind als Innovationen ohne erkennbare Promotoren oder mit allein agierenden Macht- oder Fachpromotoren. Die Gespannstruktur erweist sich in der empirischen Untersuchung von Gemünden (1985) auch bei der zwischenbetrieblichen Zusammenarbeit als erfolgreich, wobei hier gerade der allein agierende Machtpromotor als besonders problematisch eingestuft wird.174 Hauschildt/Chakrabarti (1988) zeigen theoretisch durch den Vergleich der bis dahin vorliegenden Forschungsergebnisse, dass bei besonders innovativen Problemen in komplexen Systemen das Gespann von Macht- und Fachpromotor zu einem Troikamodell auszubauen ist, bei dem zusätzlich ein Prozesspromotor auftritt. Der 171 172 173 174

Vgl. Hauschildt (1997, S. 158). Vgl. Witte (1999, S. 16-17). Vgl. Witte (1999, S. 17-18). Vgl. Witte (1999, S. 40) und Gemünden (1999, S. 63-64).

63

3.1 Erklärungsansätze zu Diffusion und Rollen im Innovationsprozess

Prozesspromotor besitzt sehr gute Organisationskenntnisse und weiß, wer von der Innovation betroffen ist. Er hat die Fähigkeit administrative Barrieren zu überwinden, verhindert Insellösungen und stellt die Verbindung zwischen Fach- und Machtpromotor her. Nachgewiesen wurde die Existenz von Prozesspromotoren in der empirischen Untersuchung von Hauschildt/Kirchmann (1997). Die wichtigsten Informationsbeziehungen, bei denen die Troika der Promotoren involviert ist, können der Abbildung 24 entnommen werden.175 Berater

Macht-Promotor

Prozess-Promotor

Lieferanten

Kunden

Fach-Promotor

Opponenten

Hauptinformationsbeziehungen

Funktionale Instanzen Ergänzende Informationsbeziehungen

Abbildung 24: Promotoren im Innovationsmanagement (Hauschildt/Chakrabarti 1999, S. 79)

Die Informationspartner des Fachpromotors sind in erster Linie technisch Interessierte bei Kunden oder Lieferanten. Entsprechend den hierarchischen Informationswegen reicht die Kommunikation innovativer Objekte mangels klarer Zuständigkeiten an die Spitze der Hierarchie zum Machtpromotor, der außerdem der Adressat für inner- oder außerbetriebliche Opponenten ist. Dieser kann seinerseits außerbetriebliche Berater heranziehen, um fehlendes Wissen einzubringen. Durch sein diplomatisches Geschick steht der Prozesspromotor wie ein soziometrischer Star im Zentrum der Informationsflüsse. Er besitzt die Fähigkeit den Beteiligten über die technischen Problemstellungen hinaus die Zusammenhänge zu anderen fachlichen Aspekten zu vermitteln.176

175 176

Vgl. Hauschildt/Chakrabarti (1999, S. 78) und Hauschildt/Kirchmann (1999, S. 101). Vgl. Hauschildt/Chakrabarti (1999, S. 79-80).

64

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Diese bisher statische Betrachtung des Promotorenmodells kann durch die in Abbildung 25 ersichtliche dynamische Perspektive erweitert werden. Dadurch, dass ein Innovationsprojekt im Laufe der Zeit häufig in der Hierarchie aufsteigt und an unternehmerischer Bedeutung gewinnt, benötigt es auch mehr Ressourcen. Es gilt in dieser Phase mehrere Teilbereiche des Unternehmens aufeinander abzustimmen, wodurch der Machtpromotor, der das Projekt am Anfang auf einer niedrigeren hierarchischen Ebene unterstützt hat, zunehmend an Bedeutung verliert. Er nimmt verstärkt die Rolle des Prozesspromotors ein, dessen Aufgabe es ist, einen neuen, hierarchisch höher angesiedelten Machtpromotor zur Durchsetzung der Innovation zu finden.177

Hierarchie

Machtpromotor

Machtpromotor

Prozesspromotor

Machtpromotor

Prozesspromotor

Fachpromotor

Prozesspromotor

Fachpromotor

Fachpromotor

Fachpromotor

Fachpromotor

Fachpromotor

Innovationsprozess

Abbildung 25: Dynamischer Rollenwandel der Promotoren (Hauschildt/Schewe 1997, S. 512)

Durch die Ungebundenheit der Rollen der Innovationspromotoren an bestimmte Personen und/oder Positionen ist es möglich, dass dieselbe Person unterschiedliche Rollen innerhalb eines Innovationsprozesses einnehmen kann. Weiterhin können diese Rollen sich auch über eine Folge von Innovationsprojekten unterscheiden. So vermuten Hauschildt/Schewe (1997), dass ein über mehrere Projekte aufgebautes Netz von Beziehungen oder Informations- und Kommunikationskanälen einen Fachpromotor dazu befähigen kann, die Rolle eines Prozesspromotors und später die eines Gatekeepers einzunehmen.178 177 178

Vgl. Hauschildt/Schewe (1997, S. 512). Vgl. Hauschildt/Schewe (1997, S. 514). Aufbauend auf den innerorganisationalen GatekeeperAnsatz führen Gemünden/Walter (1995) den Beziehungspromotor für interorganisationale Innovationsprozesse ein. Dieser soll helfen nicht nur Informationsdefizite, sondern auch die Barrieren der zwischenbetrieblichen Zusammenarbeit zu überwinden. Er ähnelt in seinen Eigenschaften auch stark dem Prozesspromotor, agiert jedoch unabhängig von einzelnen Innovationsprojekten. Siehe hierzu auch Walter (1998).

3.1 Erklärungsansätze zu Diffusion und Rollen im Innovationsprozess

3.1.2.3

65

Technologieintegrationsteams

Traditionelle Modelle gehen davon aus, dass Forschung und Entwicklung getrennt werden können und sollten, wobei die Verlinkung durch einen Technologietransferprozess erfolgt. Zur Verbesserung dieses Prozesses werden zahlreiche Faktoren genannt. Dies sind beispielsweise der Transfer von Mitarbeitern aus der Forschung in die Entwicklung und die Existenz von Mitarbeitern in der Entwicklung, die sich sowohl mit Forschungsergebnissen als auch mit der Anpassungsfähigkeit der Anwendungsbereiche auskennen. Obwohl etwa Leonard-Barton (1988) die Notwendigkeit der gegenseitigen Anpassung mit entsprechendem Feedback zwischen Forschungsabteilungen und den Anwendungsbereichen beschreibt, wird dennoch eine klare Aufgabentrennung betont.179 Die Literatur zeigt, dass dieses traditionelle Modell gerade bei signifikanten technologischen Veränderungen versagt. Dies liegt an der Routinisierung und der damit einhergehenden graduellen Verbesserung (Single-Loop-Lernen) von komplexen Entwicklungsaufgaben in Zeiten der technologischen Stabilität, was eine Anpassung an Veränderungen erschwert. In diesem Fall muss die Lücke zwischen traditionellen Forschungs- und Entwicklungsaufgaben geschlossen und das Grundlagenwissen aus verschiedenen interagierenden Bereichen an den komplexen Anwendungskontext angepasst werden. Entsprechend besteht die Herausforderung darin, bestehende Routinen aufzubrechen und an neue Technologien anzupassen. Iansiti (1998) führt hierzu ein in der nachstehenden Abbildung 26 visualisiertes alternatives Modell ein, das auf die Technologieintegration fokussiert ist und einen Ansatz zum Management der Interaktion zwischen Forschung und Entwicklung beschreibt.180 Als organisatorische Gestaltungsempfehlung für die Technologieintegration empfehlen Iansiti/Clark (1994) so genannte Technologieintegrationsteams, die bei einer systematischen Einbindung zu höherer dynamischer Performance führen. Dynamische Performance beschreibt in diesem Kontext die Effektivität, mit der Unternehmen die Lücke zwischen vorhandenen und benötigten Kompetenzen schließen.181 Die Hauptaufgabe dieser Technologieintegrationsteams besteht darin, neue Möglichkeiten aus zentralen Forschungsabteilungen mit den vorhandenen Restriktionen im Anwendungskontext zu verbinden und neues mit vorhandenem 179 180 181

Leonard-Barton (1988) Vgl. Iansiti (1998, S. 15-17). Vgl. Iansiti (1994, S. 563-564).

66

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Wissen zu fusionieren. Iansiti (1998) weist darauf hin, dass gerade bei Projekten in neuartigen und komplexen Umgebungen182 das Experimentieren in dem jeweiligen Anwendungskontext besonders kritisch für erfolgreiche Technologieintegration ist.183 Traditionelles Modell Forschung

Transfer Entwicklung

Technologieintegrationsmodell Forschung

Integration

Entwicklung

Abbildung 26: Zwei Modelle zum Management von F&E (Iansiti 1998, S. 15)

Um eine effektive Integration sicherzustellen, können Technologieintegrationsteams als Mittler zwischen Individuen und organisatorischen Subeinheiten auftreten und somit eine zentrale Rolle spielen. Technologieintegrationsteams sollten an einer Sequenz von verwandten Projekten arbeiten und so zu kohäsiven Einheiten werden, die sich von Projekt zu Projekt weiterentwickeln. Dies ist erforderlich, um gerade das im Zeitablauf erworbene und schwer transferierbare individuelle Erfahrungswissen zu bewahren und in Folgeprojekten nutzbar zu machen.184 Iansiti/Clark (1994) sehen die Fortentwicklung der organisationalen Wissensbasis als zyklischen Vorgang, der durch die Entwicklung neuer Produkte gefördert werden kann. So geht es in Produktentwicklungsprojekten nicht ausschließlich um das Produkt an sich, sondern vielmehr um die Generierung von Wissen und neuen organisationalen Fähigkeiten.185 Mitglieder von Technologieintegrationsteams sollten eine T-förmige Kombination von Fähigkeiten aufweisen. Dies bedeutet, dass

182

183 184 185

Iansiti (1998) argumentiert, dass gerade bei Projekten in neuartigen und komplexen Umgebungen effektive Prozesse für die Generierung, Erhaltung und Anwendung von Wissen existieren sollten. Indikatoren, welche die Technologieintegrationsfähigkeit in diesen Prozessen beschreiben, finden sich ebenfalls bei Iansiti (1998, S. 47-49). Vgl. Iansiti (1998, S. 22). Vgl. Iansiti (1998, S. 24). Vgl. Iansiti/Clark (1994, S. 566).

67

3.2 Fallstudie 1: Pilotierung und Rollout einer neuen Methode

Mitglieder sowohl über tiefes Wissen in einem spezialisierten technischen Feld verfügen als auch Erfahrungen mit den Entscheidungsprozessen, welche Auswirkungen auf die verschiedenen Projektstufen haben, mitbringen sollten.186

3.2

Fallstudie 1: Pilotierung und Rollout einer neuen Methode

Die Folgende Fallstudie wurde bei einem großen OEM A durchgeführt, wobei für die Untersuchung insgesamt drei Geschäftsbereiche (im Folgenden abgekürzt als GB) relevant sind. Die in dieser Fallstudie angesprochenen Marken und deren Zuordnung zu den einzelnen GB ist in Abbildung 27 ersichtlich. Unter jeder Marke werden verschiedene Fahrzeugbaureihen vertrieben. OEM A GB 1

GB 2

Marke 1-1

Marke 2-1

Marke 1-2

Marke 2-2

GB 3

Abbildung 27: Übersicht über relevante Marken und Geschäftsbereiche

Nach Angaben einer Studie von Mercer Management Consulting (2004) liegt der Anteil der durch Elektronikfehler verursachten Pannen bei Automobilen je nach OEM zwischen 50% und 60%, wobei als Ursache zum überwiegenden Teil Softwarefehler in Steuergeräten genannt werden. Hier wird darauf hingewiesen, dass es, selbst wenn der Zulieferer die Anforderungen des Lastenhefts voll erfüllt, bei der Integration ins Netzwerk zu Problemen mit anderen Steuergeräten kommen kann. Als ein Grund wird genannt, dass jeder Zulieferer die Anforderungen des OEM unterschiedlich interpretiert und dementsprechend umsetzt.187 Motiviert durch diese Tatsache und den eigenen hohen Qualitätsanspruch wurde bei der Marke 1-1 des GB 1 von OEM A die Einführung einer neuen Prüfmethode zur besseren Absicherung der Fahrzeugqualität beim Produktionsanlauf gefordert. Ziel war es, für die nächste Baureihe eine neue Prüfmethode mit dem Fokus E/E zu entwickeln, die insbesondere auf die Identifikation kundenerlebbarer Fehler vor der Serienproduktion fokussiert ist.

186 187

Vgl. Iansiti (1998, S. 49). Vgl. Mercer Management Consulting (2004, S. 108).

68

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Das Ergebnis ist die von der konzerneigenen Zentralforschung in Zusammenarbeit mit dem zentralen Qualitätsbereich entwickelte Methode Improved Quality Testing (im Folgenden abgekürzt als IQT), welche mittlerweile als Standardmethode für alle neuen Modelle von Marke 1-1 des GB 1 eingesetzt wird. Da sich die Methode dort sehr gut bewährt hat, wurde eine Einführung der IQT auch für Marke 1-2 des GB 1 und später mit GB 2 und GB 3 für zwei weitere Geschäftsbereiche angestoßen. Darüber hinaus finden kontinuierliche Verbesserungen und Weiterentwicklungen der Methode statt. Die IQT hat innerhalb kürzester Zeit eine sehr breite Anwendung gefunden und gilt als Musterbeispiel für einen erfolgreichen Transfer eines Forschungsergebnisses von der Konzernforschung zu den Geschäftsbereichen von OEM A. Daher soll im Folgenden der Evolutionsprozess der IQT aufgezeigt und analysiert werden.

3.2.1

Konzeption der IQT und Anwendung in einem spezifischen Kontext

Die Konzeption und erstmalige Einführung der IQT erfolgte bei Marke 1-1 des GB 1. Für die Analyse werden die in diesem Zusammenhang aufgetretenen Phasen charakterisiert und die wichtigsten Ereignisse skizziert. Unterschieden werden können insbesondere die Initiierungs- und Konzeptionsphase, die erstmalige pilothafte Anwendung und die darauf aufbauende flächendeckende Einführung bei Marke 1-1 des GB 1. Wie wichtig die interne Kommunikation in diesem Kontext ist, zeigt abschließend die Beschreibung der Vorstandspräsentation, bei der sich die konzerneigene Forschung im Rahmen eines Strategiemeetings einmal im Jahr präsentiert.

3.2.1.1

Initiierungs- und Konzeptionsphase

Getrieben durch das Ziel, keine kundenerlebbaren Fehler in der kommenden Baureihe (Pilotbaureihe) zuzulassen, bekam der zentrale Qualitätsbereich von dem GB 1 den Auftrag ein neues Prüfkonzept für den Fokus E/E einzuführen. Da bis zur Markteinführung der Pilotbaureihe ein hoher Zeitdruck herrschte, musste das Konzept für die neue Methode innerhalb kürzester Zeit stehen. Dies war erforderlich, um die Methode noch vor Start der Serienproduktion in der Nullserie und den Produktionstests anzuwenden.188 Zur Lösung dieser Aufgabe war ein breites Wissen 188

Die Nullserie und die Produktionstests sind die letzten Phasen vor der Serienproduktion. Die Nullserie ist üblicherweise dort angesiedelt wo die Entwicklungsabteilungen sind. Die Produktionstests finden in dem Werk statt, in dem die Serienproduktion stattfindet. Eine Einordnung von Nullserie und Produktionstests in die Empfehlung zur Ablaufplanung nach VDA (1998) ergibt Phase E-F. Siehe hierzu Kapitel 2.1.2.1.

3.2 Fallstudie 1: Pilotierung und Rollout einer neuen Methode

69

über verschiedene Aspekte der Fahrzeugelektronik erforderlich. Daher wurden innerhalb der Forschungsabteilung im Rahmen eines Kick-Off Workshops diesbezügliche Überlegungen mit Experten angestoßen. Da es innerhalb von Marke 1-1 bereits sehr viele bewährte Prüfmethoden (Dauerlauf, Erprobungsfahrzeuge, Nullserientests etc.) für die einzelnen Phasen des Produktenstehungsprozesses gab, stellte sich zunächst die Frage, warum diese Methoden nicht ausreichend seien. Entsprechend wurden daher die existierenden Methoden im Detail analysiert, um anschließend eine zielgerichtete Konzeptentwicklung vorantreiben zu können. Es stellte sich heraus, dass die in diesem Kontext existierenden Methoden nicht hinreichend die kundenerlebbaren Funktionen mit ihren möglichen Kombinationen berücksichtigten. Insbesondere wurde transparent, dass die existierenden Methoden sehr stark auf die sich aus den Spezifikationen ergebenden Anforderungen ausgerichtet waren. Diese berücksichtigten jedoch nicht primär die Leitfrage, wie der Kunde die Fahrzeugfunktionen tatsächlich benutzt. Damit war die Stoßrichtung klar und das vorgeschlagene Prüfprinzip bestand aus der Definition von Testfällen für das Gesamtfahrzeug im Bereich E/E, welche die Nutzung des Fahrzeugs durch den Kunden noch besser abbilden. Parallel zu der forschungsinternen Konzepterarbeitung wurden die potenziell von der neuen Prüfmethode betroffenen Bereiche auf Managementebene eingebunden. Dies waren der für die Einführung der Methode verantwortliche Bereich des zentralen Qualitätsmanagements, die zentrale Produktionsplanung des Werks A (verantwortlich für die Nullserie) sowie das Qualitätsmanagement und die Produktionsplanung des Werks B (Serienproduktion der Pilotbaureihe). Durch diese frühe Einbindung konnte das Konzept in einem sehr frühen Stadium mit allen betroffenen Parteien diskutiert, abgesichert sowie die notwendige Akzeptanz geschaffen werden. Zu diesem Zeitpunkt wurde von dem zentralen Qualitätsmanagement der für die Einführung der neuen Methode verantwortliche Projektleiter festgelegt. Noch im gleichen Monat fand ein von diesem organisierter Workshop mit Experten der betroffenen Bereiche statt, bei dem das oben beschriebene Konzept inhaltlich diskutiert wurde. Neben der Forschung war auch ein externer EDL189 eingeladen, welcher bereits seit einigen Jahren im Bereich Fahrzeugprüfungen bei Marke 1-1 189

Siehe zu einer detaillierten Analyse der Schnittstelle zwischen OEM und EDL die Ausführungen in Kapitel 4.3.

70

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

tätig war und einen alternativen Konzeptvorschlag unterbreitete. Es wurde schließlich entschieden, das von der Forschung erarbeitete Konzept (Abbildung 28) zu wählen, da dieses umfassender war, die Kundensicht besser repräsentierte und auch wettbewerbsdifferenzierendes Know-how innerhalb des Unternehmens gehalten werden konnte. IQT Funktionsumfang und Fehlerwissen

Statische Prüfung aller Funktionen

Dynamische Prüfung aller Funktionen

Kombinatorik- und Stressprüfungen (statisch und dynamisch)

Abbildung 28: Gesamtkonzept der IQT

Dieses Gesamtkonzept besteht aus statischen und dynamischen Prüfungen sowie aus Kombinatorik- und Stressprüfungen, die manuell durchgeführt werden, um die Kundensicht ganzheitlich abzubilden. Abgelegt sind diese Testfälle in einer gemeinsamen Datenbank, sodass je nach Ausstattungsvariante fahrzeugindividuelle Testszenarien generiert werden können.190

3.2.1.2

Erstmalige Anwendung

Für die pilothafte Anwendung des Konzepts wurde ein Projektkreis gebildet, der aus dem Projektleiter des zentralen Qualitätsmanagements, dem zwischenzeitlich ernannten forschungsseitigen Projektleiter und Experten aus den betroffenen Bereichen bestand. Dies waren die zentrale Produktionsplanung des Werks A sowie die Produktionsplanung und das Qualitätsmanagement des Werks B. Der Projektleiter des zentralen Qualitätsmanagements hatte die Hauptverantwortung für die Umsetzung der Methode in der Organisation und der forschungsseitige Projektleiter entsprechend für die Konzeptdetaillierung durch die Forschung. Parallel hierzu wurde ein Steuerkreis als Entscheidungsgremium für die Durchführung und Weiterentwicklung der Methode auf Managementebene geschaffen, der mit den Leitern der beteiligten und betroffenen Bereiche besetzt wurde. Auf diese Art und Weise wurde dem Projektkreis die notwendige 190

Die neue Methode IQT hatte durch die Integration von bestehenden Methoden und die Erweiterung um zusätzliche Anwendungsfälle einen relativen Vorteil gegenüber den bestehenden Methoden. Siehe hierzu die diffusionsrelevanten Charakteristika nach Rogers (1983) in Kapitel 3.1.1.

3.2 Fallstudie 1: Pilotierung und Rollout einer neuen Methode

71

Unterstützung und Akzeptanz in der Organisation geboten, um sich auf das Vorantreiben der inhaltlichen Arbeiten konzentrieren zu können. Zur Detaillierung des Konzepts brachten die Mitarbeiter der Forschung ihr methodisches Fachwissen ein und ergänzten dieses durch das kontextspezifische Wissen der späteren Anwender der Methode in den Werken A und B. Es ist zu bemerken, dass die beiden Anwenderparteien in den genannten Werken aufgrund ihrer Tätigkeiten zu verschiedenen Zeiten des Produktentstehungsprozesses unterschiedliche Ziele verfolgen und unterschiedliche Prioritätensetzungen hatten. Es wurden in der Vergangenheit spezifische Methoden und Arbeitsabläufe entwickelt, die auf die Erfordernisse der einzelnen Parteien in den Werken A und B fokussiert waren, ohne jedoch eine Durchgängigkeit sicherzustellen. Weiterhin ist zu erwähnen, dass die beteiligten Forscher bisher nicht in dem genannten Umfeld tätig waren und somit wiederum ihre eigenen Vorstellungen hatten. So stellte sich entsprechend der unterschiedlichen Selbstverständnisse der Beteiligten heraus, dass aufgrund wenig gemeinsamer Erfahrungen verbunden mit der Neuartigkeit und Komplexität der Methode gerade gemeinsame Face-to-Face-Kontakte ein wichtiger Bestandteil waren.191 Beispielsweise wurden für die unterschiedlichen Zielsetzungen in Nullserie (Werk A) und Serie (Werk B) unterschiedliche Prüflisten im Rahmen von unterschiedlichen Methoden verwendet.192 Durch diese Tatsache hatte der Begriff der Prüfliste unterschiedliche Bedeutungen für die beiden Parteien. Darüber hinaus hatten die beteiligten Forscher eigene Ideen, wie eine neue Methode mit einer Prüfliste aussehen sollte. Zur Schaffung eines gemeinsamen Verständnisses über die Methodik und den Begriff der Prüfliste wurden die angesprochenen Face-to-FaceMeetings genutzt. Da die neue Testmethodik beispielsweise durch die Kombinatorik- und Stressprüfungen über den Fokus bestehender Methoden hinaus ging und zusätzliche Testfälle beinhaltete, wurde in dieser Phase der Begriff Improved Quality Testing als Methodenname definiert. Um internes Marketing für die neue Methode betreiben zu können, war jedoch eine einprägsamere Bezeichnung notwendig. Es wurde die Abkürzung IQT gewählt, die sich sehr schnell durchgesetzt hat und heute innerhalb des Prüfumfelds in verschiedensten Bereichen sehr bekannt ist.

191

192

Der Einsatz von Face-to-Face-Meetings wird ausführlich bei der Diskussion relevanter Medientheorien in Kapitel 3.3.2 thematisiert. Die Nullserie findet für alle Baureihen der Marke 1-1 in Werk A statt. Die spätere Serienproduktion ist neben Werk A auch auf andere Werke verteilt.

72

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Die IQT wurde rechtzeitig fertig gestellt und konnte planmäßig bei dem ersten Nullserienfahrzeug eingesetzt werden. Zur Unterstützung wurden Face-to-FaceSchulungen von den Methodenentwicklern der Forschung bzw. Experten aus dem Projektkreis für die Mitarbeiter in Werk A und B vor-Ort durchgeführt. Hierbei wurden das notwendige Wissen über die Methode sowie die entsprechenden Arbeitsabläufe direkt durch die Anwendung von IQT an einem Nullserienfahrzeug vermittelt. Zur Unterstützung der Werker bei der täglichen Anwendung der Methode wurden Methodenentwickler definiert, die je nach Bedarf telefonisch oder direkt vor-Ort zur Verfügung standen. Somit konnte einerseits die Akzeptanz für die Methode weiter erhöht und andererseits direktes Feedback zur Erfahrungssicherung gesammelt werden. Die durch den direkten Kontakt mit den Anwendern gesammelten Erfahrungen bei der Pilotanwendung konnten die Methodenentwickler der Forschung nutzen, um die Methode weiter zu verfeinern und noch besser auf die Bedürfnisse der Anwender anzupassen. Nachdem einige Nullserienfahrzeuge mit der IQT getestet wurden, gab es einen Bericht von der Nullserie an den Steuerkreis über die Wirksamkeit der neuen Methode. Durch die Aussage der Nullserie, dass mit der IQT deutlich mehr Fehler gefunden werden als mit den existierenden Methoden, wurde die Wirksamkeit und somit der Nutzen der IQT klar nachgewiesen.193 Daraufhin beschloss der Steuerkreis die für die weiteren Tests benötigten Ressourcen in Form von zusätzlicher Prüfzeit und Personal für Nullserie und Produktionstests in den Werken A und B bereitzustellen.

3.2.1.3

Flächendeckende Einführung im bestehenden Anwendungskontext

Getrieben durch die Erfolgsbestätigung der pilothaften Anwendung von IQT bei der Pilotbaureihe beschloss das zentrale Qualitätsmanagement die IQT für alle neuen Modelle von Marke 1-1 des GB 1 mit dem Fokus Nullserie und Produktionstests einzusetzen. Für die Entwickler der Methode in der Forschung stellte sich nun die Frage, wie die IQT-Datenbankstruktur für mehrere Baureihen, die teilweise identische Funktionen haben, aussehen sollte. Dies war eine Herausforderung, die aufgrund des hohen Zeitdrucks nicht von Anfang an berücksichtigt wurde. Diskutiert wurden für den Rollout bei Marke 1-1 im Wesentlichen zwei Konzepte für die

193

Hierdurch war die Transferbarriere des mangelnden Nutzennachweises nach Szulanski (2003) nicht existent. Siehe hierzu Kapitel 2.3.2.

3.2 Fallstudie 1: Pilotierung und Rollout einer neuen Methode

73

Datenbankstruktur.194 Das eine Konzept bestand darin, dezentrale Datenbanken getrennt für jede Baureihe zu erstellen. Das andere Konzept beinhaltete nur eine große Datenbank, die baureihenübergreifend und somit projektübergreifend befüllt wird. Eine dezentrale Datenhaltung und –pflege wurde als sinnvoll erachtet, wenn es sich um sehr wenige Produktprojekte handelt oder die Produktprojekte sehr unterschiedlich sind und wenig voneinander abhängen. Es wurde argumentiert, dass eine dezentrale, projektunabhängige Datenhaltung eine bessere Berücksichtigung der spezifischen Anforderungen unterschiedlicher Produktprojekte, Anwender und sonstiger spezifischer Randbedingungen ermöglichen würde. Weiterhin könnten Änderungen oder Ergänzungen der Datensätze schneller eingearbeitet werden, da nicht erst die Abhängigkeiten zu anderen Produktprojekten geklärt werden müssen. Eine dezentrale Datenhaltung wäre dann sinnvoll, wenn verschiedene Fahrzeuge überwiegend unterschiedliche Funktionen haben. Dies ist im Bereich einer Marke in der Regel jedoch nicht der Fall. So ist die Scheibenwischerfunktion nahezu identisch über verschiedene Baureihen bei der Marke 1-1. Eine dezentrale Datenhaltung und -pflege würde es ermöglichen für unterschiedliche Produktprojekte unterschiedliche Prüfschritte für die Scheibenwischerfunktion zu definieren. Allerdings wurde darauf hingewiesen, dass dies den Anwender irritieren würde, wenn er Scheibenwischerfunktionsprüfungen für verschiedene Produktprojekte in unterschiedlicher Art und Weise durchführen muss. Entsprechend wurde eine zentrale Datenhaltung und -pflege bei vielen und sehr ähnlichen Produktprojekten als sinnvoll eingestuft. Als Vorteil wurde gesehen, dass der Änderungsaufwand gerade dann deutlich geringer ist, wenn viele Funktionen in mehreren Produktprojekten identisch sind und somit nur einmal in der zentralen Datenbank bedatet oder geändert werden müssen. Hierdurch könnten zum einen redundante Datensätze für identische Funktionen bei verschiedenen Baureihen vermieden und zum anderen die Komplexität beim Änderungsmanagement reduziert werden. Bei dieser Vorgehensweise wurde weiterhin der Vorteil gesehen, dass der Anwender bei identischen Funktionen in unterschiedlichen Produktprojekten dieselben standardisierten Prüfschritte durchlaufen kann. Somit könnte durch dieses Konzept 194

Als Rollout wird die flächendeckende Einführung einer Methode in einem bestimmten Anwendungskontext bezeichnet. Dies entspricht hier einer Einführung für alle Baureihen der Marke 1-1.

74

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

eine zentrale Quelle für die Generierung von Testabläufen geschaffen werden, was die Standardisierung von Begriffen und Darstellungsarten aus Sicht der Experten vereinfacht. Es könnten so besser Erfahrungen über mehrere Produktprojekte hinweg zentral gesammelt, entsprechend eingearbeitet und an alle anderen Produktprojekte weitergegeben werden. Da die verschiedenen Baureihen der Marke 1-1 viele identische Funktionen haben und es mehrere Baureihen gibt, würde sich entsprechend der obigen Argumentation eine zentrale Datenhaltung anbieten.195 Diese Vorgehensweise wurde auch tatsächlich gewählt, damit insbesondere Änderungen von Testfällen aufgrund von Funktionsänderungen, die für mehrere Baureihen gelten, nur in einem Datensatz geändert werden müssen. Weiterhin war die zentrale Sammlung von Erfahrung ein ausschlaggebendes Argument. Hierzu gehört beispielsweise die Weiterentwicklung der Datenbank in Bezug auf benutzerfreundliche Handhabung für die betroffenen Anwender, was wiederum die Akzeptanz für die neue Methode fördert. Dieser Zentralisierungsaspekt spiegelt sich auch in der für IQT gewählten Organisationsstruktur für die neuen Baureihen in Abbildung 29 wider. Baureihenübergreifender Steuerkreis Ständige Teilnehmer: Leiter beteiligte Bereiche: QM Zentrale, Produktionsplanung Zentrale, Forschung Projektbezogene Teilnehmer: Vertreter der Werke: QM/Produktionsplanung (später Dienstleister)

Projektleitung für neue Baureihen QM Zentrale

Projektteam Baureihe 1

Projektteam Baureihe 2

Projektteam Baureihe 3

QM Zentrale QM Werk Forschung Produktionsplanung Zentrale Produktionsplanung Werk Entwicklung

QM Zentrale QM Werk Forschung Produktionsplanung Zentrale Produktionsplanung Werk Entwicklung

QM Zentrale QM Werk Dienstleister Produktionsplanung Zentrale Produktionsplanung Werk Entwicklung

QM = Qualitätsmanagement

Abbildung 29: Projektorganisation bei Marke 1-1 des GB 1 während des Rollouts

195

Es werden bei Marke 1-1 teilweise dieselben Steuergeräte mit identischer Funktionssoftware in unterschiedlichen Baureihen verwendet.

3.2 Fallstudie 1: Pilotierung und Rollout einer neuen Methode

75

Entsprechend der oben beschriebenen Organisation des Pilotprojekts besteht das Projekt IQT weiterhin aus einem Steuerkreis auf Managementebene, in dem das zentrale Qualitätsmanagement, die zentrale Produktionsplanung und die Forschung als ständige Mitglieder vertreten sind. Weiterhin sind projektabhängig die Vertreter der Werke, in denen eine neue Baureihe in Serie produziert wird, anwesend. Die Gesamtkoordination unterliegt weiterhin der Verantwortung des zentralen Qualitätsmanagements, welches die einzelnen Projektteams für neue Baureihen steuert.196 Die einzelnen IQT Projektteams bearbeiten das IQT Projekt für eine konkrete Fahrzeugbaureihe nach der vorgegebenen Methode. Sie bestehen zunächst entsprechend der Organisation des Pilotprojekts aus Experten des zentralen Qualitätsmanagements, der zentralen Produktionsplanung, der Forschung sowie der Produktionsplanung und des Qualitätsmanagements der Werke. Zusätzlich können bei spezifischen Fragestellungen Experten der Entwicklung hinzugenommen werden, die detailliertes Wissen über das Zusammenwirken der einzelnen Komponenten besitzen.197 Die weitere Einbindung der Forschung verfolgt zunächst das Ziel, notwendiges Methodenwissen weiterhin Face-to-Face an die anderen Personengruppen zu transferieren und die Methode durch die zusätzlichen Erfahrungen weiter abzusichern. Da das Betreiben der Datenbank in Form von Bedatung, welche bisher durch die Forschung realisiert wurde, keine Forschungsleistung im engeren Sinne mehr ist, wurde überlegt, diese mittlerweile zu Routineaufgabe gewordene Tätigkeit in Zukunft an einen EDL zu vergeben.

3.2.1.4

Vorstellung auf Vorstandsebene

Bei OEM A findet jährlich ein internes Strategiemeeting statt, bei dem sich die Zentralforschung dem Vorstand präsentiert. Hier werden aus der Gesamtsumme der Forschungsprojekte diejenigen selektiert, die entweder sehr erfolgreich in die Geschäftsbereiche transferiert wurden oder hohes Potenzial für die Zukunft bieten. Durch das positive Feedback verschiedenster Seiten erhielt der forschungsseitige Projektleiter die Möglichkeit das Thema IQT als Erfolgsstory im Rahmen des internen 196

197

Die zentrale Produktionsplanung ist für alle Werke und alle Baureihen zuständig und daher ständiger Vertreter. Die Mitglieder des Steuerkreises können als Machtpromotoren, die Projektleitung als Prozesspromotor und die technischen Experten der Forschung als Fachpromotor angesehen werden. Siehe zum Promotorenmodell Kapitel 3.1.2.2.

76

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Strategiemeetings auf Vorstandsebene vorzustellen. Dies bot die seltene Möglichkeit die neue Methode IQT über GB 1 hinaus auch den anderen Geschäftsbereichen auf oberster Ebene näher zu bringen und auf die Potenziale einer übergreifenden Einführung hinzuweisen. Die besondere Herausforderung besteht bei einer solchen Präsentation darin, die Komplexität eines Forschungsprojekts so zu reduzieren, dass es im Rahmen eines ca. 5-minütigen Vortrags gelingt, die Zuhörer für das entsprechende Thema zu begeistern.198 Im Wesentlichen enthielt der Vortrag die folgenden Punkte, welche letztlich die Kernaussagen widerspiegeln: x

Problemstellung

x

Lösungsansatz

x

Nutzen

x

Aktueller Status

x

Roadmap

Der Vortrag wurde durch eine Live Demonstration eines Testfalls der IQT an der zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf dem Markt befindlichen Pilotbaureihe angereichert, welche das Interesse und das Verständnis für die komplexe Methode in der kurzen Vortragszeit erhöhte. Die abschließende Aussage, dass man auf dem richtigen Weg sei, zeigte die Akzeptanz der Methode auf Vorstandsebene.

3.2.2

Weiterentwicklung und Institutionalisierung

Es stellte sich die Frage, wie die IQT als bewährte Best Practice bei GB 1 weiter institutionalisiert und darüber hinaus auch in anderen Geschäftsbereichen und anderen Anwendungskontexten etabliert werden könne. Die hierzu interessanten Aspekte sollen daher im Weiteren ins Licht der Betrachtung gerückt werden.

3.2.2.1

Einführung in neuen Anwendungskontexten Stufe 1

Nach dem Beschluss der flächendeckenden Einführung von IQT bei GB 1 stellte sich die Frage, wie die Methode auch in anderen Geschäftsbereichen etabliert werden könne. Es wurde eine sukzessive Vorgehensweise gewählt und es gab zunächst eine Vorstellung auf Managementebene für Marke 2-1 des GB 2. Hierdurch wurde der Weg für eine inhaltlich detailliertere Vorstellung durch den forschungsseitigen 198

Hier kann angemerkt werden, dass die Vorbereitung für diesen Kurzvortrag sehr zeitintensiv war.

3.2 Fallstudie 1: Pilotierung und Rollout einer neuen Methode

77

Projektleiter auf operativer Ebene geebnet. Im Anschluss an die Gespräche wurde die Forschung beauftragt, die IQT zunächst für eine Pilotbaureihe der Marke 2-1 von GB 2 einzuführen. Da die Pilotbaureihe der Marke 2-1 noch relativ weit von der Markteinführung entfernt war, gab es nicht so einen hohen Zeitdruck zur Implementierung der IQT wie bei dem GB 1. Dies eröffnete die Möglichkeit die IQT pilothaft bereits an die Bedürfnisse und Randbedingungen der Entwicklungsphase in diesem neuen Umfeld zu adaptieren. Geplant wurde die Einführung der IQT in den Werken für die Nullserie und die Produktionstests für den Fall, dass der Nutzen der IQT in der Entwicklung des von Marke 2-1 nachgewiesen werden kann.199 Da die Methode nun zeitlich deutlich früher im Produktenstehungsprozess verankert werden sollte, standen entsprechend dieser frühen Phase weniger Prototypen für Testzwecke zur Verfügung als dies für Nullserientests der Fall ist. Weiterhin ist zu erwähnen, dass die Anzahl der realisierten Funktionen in den Prototypen, wie in Abbildung 30 dargestellt, in der Entwicklungsphase im Laufe der Zeit sukzessive zunimmt und dementsprechend nur die zu dem jeweiligen Zeitpunkt realisierten Funktionen getestet werden können. Hierdurch war eine Anpassung der Methode, die bei der Pilotierung bei GB 1 alle Fahrzeugfunktionen abdeckte, auf den Funktionsrealisierungsgrad in der Entwicklung notwendig. Dies erforderte, dass die IQT-Datenbank im Laufe der Entwicklung je nach Funktionsrealisierungsgrad anhand der entsprechenden Spezifikationsstände bedatet und Testfälle spezifisch für die jeweiligen Prototypenstände selektiert werden können. Mit der Anpassung der IQT wurde umgehend begonnen, wobei die bisher entwickelten Kernelemente zum größten Teil übernommen werden konnten. Da bei der Pilotierung wiederum nur eine Baureihe betroffen war, bei Marke 2-1 deutlich weniger Modelle in den Markt eingeführt werden200 und die managementseitige Unterstützung der Entwicklung gegeben war, wurde auf die Installation eines Steuerkreises zu diesem Zeitpunkt verzichtet.

199

200

Das Pilotprojekt der Marke 1-1 wurde in der Produktion durchgeführt, da die Entwicklungsphase bereits durchschritten war. Durch die begrenzte Anzahl an Modellen von Marke 2-1 gab es keinen Zeitdruck im Hinblick auf einen Rollout und somit nicht den Bedarf einer baureihenübergreifenden Koordination.

78

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Parallel zu der Einführung der Methode bei GB 2 wurde bei GB 1 beschlossen, die IQT auch nach der Produktion des ersten kundenfähigen Fahrzeugs (Job 1) zur Serienabsicherung für interne Kundenfahrzeuge zu nutzen, was in Abbildung 30 mit dem Begriff After Sales ausgedrückt ist. Ziel war es, aus der Gesamtmenge der Testfälle sinnvolle Stichproben zu generieren, mit denen situationsabhängige Prüflisten erzeugt werden können.

Entwicklung Anzahl realisierte Funktionen

Anpassung an Realisierungsgrad

Produktion Nullserie

PROs

IQT Pilot

After Sales Serie

Auswahl sinnvoller Stichproben

PROs = Produktionstests

Zeit

Abbildung 30: Weiterentwicklung der IQT für Entwicklung und After Sales

Die positive Resonanz der bisherigen Anwender von IQT begeisterte auch andere Bereiche, wie beispielsweise Entwicklungsbereiche von GB 1, die ebenfalls Prüfmethoden einsetzen. Hierdurch wurden zusätzliche Anforderungen an die IQTDatenbank gestellt, wobei nun insbesondere die integrierte Nutzung von Anwendern aus Entwicklung, Produktion und After Sales aus verschiedenen Geschäftsbereichen im Fokus stand. Da die IQT zu diesem Zeitpunkt schon für 8 Modelle der Marke 1-1 in der Produktion und die Pilotbaureihe von Marke 2-1 eingesetzt wurde, war das Ziel, die Datenbank so weiterzuentwickeln, dass sich die Nutzung der IQT für die bisherigen Anwender nicht verändert. Die Anforderungen der Interessenten wurden systematisch von der Forschung und dem zentralen Qualitätsmanagement unter Hinzuziehung aller Betroffenen gesammelt und in einem Lastenheft dokumentiert.201 Da eine Aufnahme der zusätzlichen Anforderungen die bisherige Datenbank destabilisiert hätte, wurde eine neue Datenbank IQT-Zukunft entworfen, die in einem Stufenkonzept realisiert wird.

201

Eine solche Sammlung von Anforderungen wird auch als Anforderungsmanagement oder Requirements-Management bezeichnet. Siehe hierzu Gilb (2005).

3.2 Fallstudie 1: Pilotierung und Rollout einer neuen Methode

79

In diese wird auch die bisherige IQT-Datenbank integriert, sodass keine Änderungen für die bisherigen Anwender entstehen. Den anderen Bereichen sollen bis zur Realisierung der neuen Datenbank vorab die bestehenden Testfälle zur Verfügung gestellt werden, welche noch nicht speziell an die Anforderungen dieser Bereiche angepasst sind. Als ein wichtiger Faktor zur Vermeidung von Missverständnissen wurde die Bekanntgabe einer Roadmap angesehen, die angibt wann welche Anforderungen in der Datenbank berücksichtigt sind und wann welche Anwendung sichergestellt ist. Die obigen Ausführungen zeigen, wie die Zentralforschung in der Rolle eines internen Dienstleistungsanbieters auftritt und die Kerninhalte einer in einem bestimmten Anwendungskontext entwickelten Methode auch in andere Geschäftsbereiche und Anwendungskontexte transferiert. Es stellt sich die Frage, warum gerade die Zentralforschung diese Rolle übernimmt, da die Methode zu diesem Zeitpunkt bereits in einem Anwendungskontext etabliert war. Hierzu ist es notwendig, die Motivationsstruktur der beteiligten Parteien zu analysieren. Sobald eine Methode in einem bestimmten Anwendungskontext pilothaft etabliert ist, wird das dort ansässige Management versuchen, den Rollout dieser Methode in genau diesem Anwendungskontext und in ihrem Geschäftsbereich zu forcieren, um somit die Nutzenpotenziale der Methode vollständig ausschöpfen zu können. Dies ist darin begründet, dass die Mitarbeiter und das Management in dem Anwendungskontext an der Performance der Produkte im Markt (z. B. Qualitätsverbesserungen) gemessen werden und sich nicht durch anwendungskontext- oder geschäftsbereichsübergreifende Transfers der Methode profilieren können. Anders hingegen sieht die Motivation der Mitarbeiter und des Managements der Zentralforschung aus. Diese Personengruppe wird nicht direkt an der Performance der Produkte im Markt gemessen, sondern vielmehr an der Anzahl der erfolgreich durchgeführten Transferprojekte. Entsprechend ist diese Personengruppe daran interessiert, neue Projekte aufzusetzen und das in einem Anwendungskontext generierte Wissen einerseits in andere Anwendungskontexte bzw. Geschäftsbereiche zu transferieren und andererseits die aufgebaute Expertise weiter zu vertiefen.202

202

Siehe hierzu den Artikel von Gaiser/Gerybadze (2005), in dem eine ähnliche Motivationsstruktur in Bezug auf Unternehmensberater und deren Klienten in Industrieunternehmen beschrieben wird.

80

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Falls dies gelingt besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich die bisherige Forschergruppe in diesem Themengebiet weiter festigt und als Vertreter eines neuen Themenfelds im Unternehmen anerkannt wird. Dies kann für die Forschergruppe als Ausgangspunkt dafür dienen, weitere Problemlösungen, die auf die gesammelten Erfahrungen aufbauen, mit bekannten oder neuen Anwendern in diesem Themenfeld zu erarbeiten und wiederum in unterschiedliche Anwendungskontexte und Geschäftsbereiche zu transferieren.

3.2.2.2

Etablierung eines Betreibermodells

Da für die Bedatung zunehmend mehr Ressourcen erforderlich wurden und sich die Forschung wieder auf konzeptionelle Arbeiten konzentrieren wollte, stellte sich die Frage, wie ein Betreibermodell für die IQT-Datenbank und eine entsprechende Leistungstiefengestaltung in Zukunft aussehen könnte. Die Notwendigkeit für ein solches Betreibermodell wird aus der oben diskutierten Motivationsstruktur der beteiligten Parteien ersichtlich. So war es das Ziel der anwendenden Unternehmensbereiche, primär die Methode an sich zu nutzen und in die eigenen Arbeitsabläufe zu integrieren. Entsprechend wurde angedacht die Verantwortung zur Durchführung und die tatsächliche Anwendung dem Unternehmensbereich zu übergeben. Da davon ausgegangen wurde, dass wenig Motivation an einer eigenen Weiterentwicklung der Methode im Unternehmensbereich bestehen wird, wurde beschlossen diese Tätigkeit weiterhin bei der Forschung als zentrale Instanz zu lassen. Es wurde argumentiert, dass so das bisherige Erfahrungswissen einfließen kann sowie Anregungen aus anderen Anwendungskontexten und Unternehmensbereichen bestmöglich eingebracht werden können. Die Forschung konnte sich somit entsprechend ihrer eigentlichen Rolle wieder auf konzeptionelle Arbeiten fokussieren. Es war zu überlegen, wer die routinemäßige Bedatung, welche nicht die Kernkompetenz der Anwender ist und bisher durch die Forschung geleistet wurde, durchführt. Hier boten sich spezialisierte EDL an, die je nach Bedarf flexibel beauftragt werden können. Es wurde darauf hingewiesen, dass insbesondere bei wettbewerbsdifferenzierenden Methoden oder geheimhaltungsrelevanten Inhalten konzerninterne EDL zu bevorzugen sind. Sonst könnten auch nicht mit dem Unternehmen verbundene EDL diese Aufgaben übernehmen.203 Berücksichtigt wurde neben den Kosten und der Flexibilität insbesondere die Erfahrung, des zu beauftragenden EDL auf diesem Gebiet. Da die IQT als 203

Vergleiche hierzu das Zwiebelschalenmodell in Kapitel 4.3.5.2 und die dort angegebenen Kriterien zur Bewertung der strategischen Relevanz im Hinblick auf die Leistungstiefengestaltung.

3.2 Fallstudie 1: Pilotierung und Rollout einer neuen Methode

81

wettbewerbsdifferenzierend eingestuft wurde und die dort verwendeten Datensätze geheimhaltungsrelevant sind, fiel die Wahl auf die 100%ige Tochter EDL 1 des OEM A, die bereits bei der Spezifikation von E/E-Umfängen bei OEM A tätig war. Dies war ein weiterer Vorteil, da die Testfälle auf genau diesen Spezifikationen aufbauen und somit Erfahrungswissen in einem verwandten Gebiet vorlag. Weiterhin wurde beschlossen, auch sich bereits in der Serienproduktion befindliche Baureihen bei der Marke 1-1 rückwirkend in die Datenbank aufzunehmen. Dies war ein idealer Startzeitpunkt zur Einbindung von EDL 1, da im Wesentlichen vorhandene Datensätze für die betreffenden Baureihen angepasst werden mussten. Durch diese im Vergleich zu der Bedatung von neuen Baureihen einfache Tätigkeit konnten die Mitarbeiter von EDL 1 die nicht triviale Handhabung der Datenbank kennen lernen und Erfahrungen hinsichtlich der Bedatung sammeln. Um diesen Prozess zu unterstützen, saß ein Mitarbeiter von EDL 1 für einige Wochen direkt vor-Ort bei der Forschung, wodurch ein ständiger Face-to-FaceSupport durch eine IQT-Expertin gewährleistet war.204 Der auf diese Weise geschulte Mitarbeiter konnte sein Wissen entsprechend an seine bei EDL 1 vor-Ort sitzenden Kollegen weitergeben. Das Übergabedatum für die Datenbank an EDL 1 zur Bedatung und Pflege zukünftiger Baureihen wurde später ebenfalls im Steuerkreis abgestimmt. Bei der Übergabe sollen die Mitarbeiter von EDL 1 wiederum von Experten der Forschung Face-to-Face geschult werden, um auf die anspruchsvollere Bedatung neuer Baureihen vorbereitet zu sein. Konzeptionelle Arbeiten werden aufgrund der gesammelten Erfahrungen und dem übergreifendem Wissen auch weiterhin durch die Forschung vorangetrieben werden. Das obige Beispiel zeigt, wie EDL 1 versucht, über die erfolgreiche Durchführung von Projekten, hier die Bedatung bereits in Serie befindlicher Baureihen, in einem spezifischen Kontext Erfahrungen zu sammeln und den Zuschlag für weitere Projekte zu bekommen. Entsprechend versuchte EDL 1 daraus ein Geschäftsmodell aufzubauen, das in diesem Fall darin besteht, in Zukunft alle neuen Baureihen in der IQT-Datenbank zu bedaten. Die Forschung hatte ein Interesse, dass die von ihr entwickelte Methode auch in Zukunft erfolgreich eingesetzt wird und unterstützte daher die Beauftragung eines EDL. Durch die Übergabe von operativen Aufgaben an einen EDL bot sich für die Forschung weiterhin die Chance ihre eigenen Ressourcen für ihre Kernkompetenz, 204

Es handelt sich hier entsprechend den Transfermechanismen von Almeida/Grant (1998) in Kapitel 2.3.1 um einen Kurzbesuch.

82

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

das konzeptionelle Arbeiten, zu nutzen und Transfers der entwickelten Methode in andere Anwendungskontexte und Geschäftsbereiche anstoßen.

3.2.2.3

Einführung in den USA

Eine neue Herausforderung ergab sich, als die IQT erstmals außerhalb von Deutschland bei einer Baureihe in Werk C in den USA eingesetzt werden sollte. Dies erforderte eine Zweisprachigkeit der Datenbank, da die Nullserie in Werk A mit deutschen und die Produktionstests in dem amerikanischen Werk C mit englischen Testfällen unterstützt werden sollte. Darüber hinaus waren Mentalitätsunterschiede und die Entfernung zu überbrücken, was den ständigen Face-to-Face-Kontakt mit den Entwicklern der Methode aus der Forschung erschwerte. Es wurden zunächst die Testfälle in Deutsch, wie gewohnt, in die Datenbank eingearbeitet und für die Nullserie in Werk A bereitgestellt. Um den amerikanischen Kollegen, die bisher keinen Kontakt mit der IQT hatten, die Anwendung der neuen Methode zu erleichtern, wurden mehrere zukünftige Anwender aus dem Werk C nach Deutschland ins Werk A eingeladen.205 Somit waren diese in direktem Kontakt mit den deutschen Mitarbeitern, die bereits Erfahrungen mit der Anwendung der Methode hatten.206 Da die Übersetzung der Testfälle von Deutsch ins Englische aufgrund der benötigten Ressourcen nicht durch Mitarbeiter der Forschung oder des zentralen Qualitätsmanagements durchgeführt werden konnte, wurde ein professionelles Übersetzungsteam eingeschaltet. Dies führte jedoch zu größeren Problemen als zunächst angenommen, da sich die bei der Übersetzung verwendeten Fachtermini teilweise von den im amerikanischen Werk C üblichen Begriffen unterschieden, sodass einige Testfälle anders interpretiert wurden. Hier spielten unter anderem auch Unterschiede von britischem Englisch des Übersetzungsteams und amerikanischem Englisch der Werker eine große Rolle. Beispielsweise wurde der Prüfschritt Bremspedal betätigen in depress brake übersetzt. Laut Wörterbuch kann depress mit niederdrücken übersetzt werden. In dem amerikanischen Werk C wurde hierunter jedoch verstanden, dass die Bremse gelöst werden solle.

205

206

Von den amerikanischen Mitarbeitern aus Werk C war einer deutschsprachig, was die Kommunikation erheblich vereinfachte. Es handelt sich hier entsprechend den Transfermechanismen von Almeida/Grant (1998) in Kapitel 2.3.1 um einen Kurzbesuch.

3.2 Fallstudie 1: Pilotierung und Rollout einer neuen Methode

83

Eine weitere nicht zu unterschätzende Barriere stellte die Zeitverschiebung dar. Da die Experten in Deutschland während der Anwendung der Methode in den USA aufgrund dieser auch telefonisch schwieriger erreichbar waren, konnten die Unklarheiten nicht wie bei den anderen Baureihen unmittelbar, sondern jeweils nur mit einem gewissen Zeitversatz geklärt werden, was zu mangelnder Synchronität zwischen den beteiligten Akteuren führte.207 Aufgrund der beschriebenen Problematik entschloss sich das zentrale Qualitätsmanagement dazu, die offensichtlich erforderlichen Schulungen direkt vorOrt in dem amerikanischen Werk C Face-to-Face durchzuführen. Diesbezüglich wurden Mitarbeiter des zentralen Qualitätsmanagements von Experten der Forschung in Deutschland geschult und mehrmals wochenweise je nach Bedarf nach Werk C entsendet. Dies hatte den Vorteil, dass die Schulung der Methode direkt in die Arbeitsabläufe der Produktionstests in Werk C, welche nicht exakt denen der deutschen Werke entsprechen, integriert werden konnte.208 Da zunächst kein direkter Face-to-Face-Kontakt mit den Methodenentwicklern aus der Forschung bestand, gab es einen weiteren Besuch eines Mitarbeiters aus dem amerikanischen Werk C. Dieser Besuch diente dazu, den Anwendungskontext der Methode in Werk C aus erster Hand zu schildern und somit Transparenz über die real existierenden Arbeitsabläufe zu schaffen. Es ist darauf hinzuweisen, dass in Deutschland ein Prüfplaner existiert, der von der Forschung die aktuellen Prüfschritte erhält und entsprechend an die Werker weitergibt. Diese melden gefundene Fehler direkt ohne Zwischeninstanz an den Prüfplaner zurück, der wiederum mit der Forschung kommuniziert. Der Prüfplaner hat bei der Methodenanwendung die Kompetenz zu unterscheiden, ob es sich wirklich um mit der Methode gefundene Fehler am Fahrzeug handelt oder Prüfschritte durch die Forschung optimiert werden müssen. Im Gegensatz zu den Abläufen in Deutschland zeigte sich, dass in Werk C ein weiteres Team als Mittler existiert, welches die Meldungen der Werker aufnimmt und den Bedarf zur Optimierung an Prüfschritten an den Prüfplaner weitergibt. Da dieses Analyseteam jedoch nur indirekt über den Prüfplaner mit der Forschung kommunizierte, kam es anfangs zu Missverständnissen bei der Zusammenarbeit. Dies war darin begründet, dass das Analyseteam nicht differenzierte, ob es sich um einen gefundenen Fehler am Fahrzeug handelte oder ein Prüfschritt optimiert werden musste. An dieser Stelle kann weiterhin angemerkt werden, dass die amerikanischen Kollegen andere 207 208

Siehe hierzu die Media-Synchronicity-Theorie nach Dennis/Valacich (1999) in Kapitel 3.3.2.2. Es handelt sich hier entsprechend den Transfermechanismen von Almeida/Grant (1998) in Kapitel 2.3.1 um Mitarbeiterentsendung.

84

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Anforderungen an die Beschreibung der Vorgehensweisen bei den Prüfschritten hatten als die Kollegen in den deutschen Werken. Durch den Besuch des Mitarbeiters aus dem Werk C wurde es für die Methodenentwickler aus der Forschung nun möglich, auftretende Unklarheiten bei der Anwendung der Methode in den USA schnell nachzuvollziehen und abzustellen. Der Mitarbeiter aus Werk C nutzte den Besuch seinerseits dazu, die Arbeitsabläufe bei den Anwendern in der Nullserie im Werk A zu studieren, wodurch er ein besseres Verständnis über die Funktionsweise und die Hintergründe der Methode IQT erlangte. Die Erläuterungen bei dem Face-to-Face-Kontakt ermöglichten dem Mitarbeiter aus Werk C nun, Änderungswünsche in einer für die Forscher verständlichen Form zu adressieren. Außerdem wurde neben den fachlichen Aspekten das persönliche Verhältnis weiter gefestigt, was die Kommunikation in den folgenden Phasen deutlich erleichterte.

3.2.2.4

Verabschiedung einer Verfahrensanweisung und zweite Vorstandspräsentation

Nachdem die IQT bei GB 1 für mehrere Baureihen in unterschiedlichen Werken angewendet wurde, entschloss sich das zentrale Qualitätsmanagement eine Verfahrensanweisung zur Nutzung der IQT zu formulieren.209 Durch diese schriftliche Fixierung wurden die Organisation (siehe Abbildung 29) sowie die zugehörigen Prozesse definiert, sodass die Methode als Standard für die Produktion bei GB 1 gültig ist. Diese Verfahrensanweisung wurde für die Nullserie und die Produktionstests in allen Werken weltweit verpflichtend. Sie wurde an die entsprechenden Mitarbeiter und Führungskräfte verteilt und kann darüber hinaus im Intranet von OEM A von allen relevanten Mitarbeitern eingesehen werden. Parallel hierzu erhielt der forschungsseitige Projektleiter durch die nachgewiesenen Erfolge in den verschiedenen Baureihen ein zweites Mal die Chance die IQT dem Vorstand auf dem internen Strategiemeeting vorzustellen. Da die Methode im Prinzip durch die Vorstellung auf der Vorjahresveranstaltung bekannt war, handelte es sich im Wesentlichen um einen Delta-Report, welcher die Fortschritte bei dem Rollout der Methode in dem vergangenen Jahr aufzeigte. Untermalt wurde der Kurzvortrag durch einen Film, der die Methodenanwendung in der täglichen Arbeit der Nullserie zeigte. Da GB 1 und GB 2 die IQT bereits einsetzen, wurde bewusst erwähnt, dass die IQT auch bei GB 3 einen hohen Nutzen haben kann. 209

Die neuen Routinen in Form einer Anwendung der IQT wurden zunächst durch Schulungen eingeführt und dann erst in dieser Verfahrensanweisung dokumentiert.

85

3.2 Fallstudie 1: Pilotierung und Rollout einer neuen Methode

3.2.2.5

Einführung in neuen Anwendungskontexten Stufe 2

Nachdem die IQT im ersten Schritt für GB 1 konzipiert und eingeführt wurde, folgte im zweiten Schritt, wie oben beschrieben, die Übertragung der Methode in die Entwicklung der Marke 2-1 von GB 2 und den After Sales Bereich von GB 1. Die Herausforderung bestand nun darin, die IQT durch eine Einführung bei Marke 2-2 des GB 2, bei Marke 1-2 des GB 1 und bei GB 3 weiter bei OEM A zu verankern. In einem dritten Schritt wurde, wie in Abbildung 31 skizziert, die Einführung von IQT zunächst mit der Entwicklung bei Marke 1-1, dann mit Marke 2-2 des GB 2 und Marke 1-2 des GB 1 diskutiert. Es wurde, wie bei allen anderen Einführungen, eine Pilotbaureihe ausgewählt, an der sich die Methode bewähren muss. Sollte dies der Fall, so ist eine flächendeckende Einführung für alle Baureihen sowohl für Entwicklung, Produktion und After Sales geplant, wobei es für jede Phase erneut eine Pilotbaureihe geben wird. Dies wird voraussichtlich jeweils die Baureihe sein, die bereits in der Entwicklung als Pilotbaureihe genutzt wird, um auf die dort gesammelten Erfahrungen aufzusetzen. 210

Entwicklung GB 1 Marke 1-1

3a

GB 2 Marke 2-1

2b

GB 2 Marke 2-2

3b

GB 1 Marke 1-2

3c

GB 3

4

Produktion

1

After Sales

2a

Abgestimmt

Geplant

Abbildung 31: Pilot und Rollout der IQT innerhalb von OEM A

Basierend auf der genannten Vorstandspräsentation soll die IQT in einem vierten Schritt auch bei GB 3 eingeführt werden. Geplant ist ebenfalls zunächst die 210

Hier zeigt sich, wie die Forschung in Form eines IDL übergreifend über Wertschöpfungsstufen agiert und zwischen den Funktionalbereichen, die ihre eigenen Prozesse lokal optimieren wollen, vermittelt.

86

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Einführung bei einer Pilotbaureihe in der Entwicklung und bei Bewährung der Methode eine pilothafte Einführung in der Produktion und dem After Sales. Bei Erfolg soll die Methode dann entsprechend für alle Baureihen des GB 3 genutzt werden. Im Vordergrund steht für die Forschung nun bei allen Geschäftsbereichen, eine Durchgängigkeit der Methodik von der Entwicklung über die Produktion bis hin zum After Sales zu gewährleisten. Ziel ist es, Insellösungen auf einzelnen Wertschöpfungsstufen zu vermeiden und durchgängige Lösungen zu implementieren. Durch die hohe Änderungsfrequenz von Funktionen gerade in der Entwicklung ist bei einem solchen Vorhaben ein stringentes Versionsmanagement unerlässlich. Angepasst wird die Methode jeweils durch die Forschung, da hier das gesammelte Erfahrungswissen sowie das notwendige Methoden Know-how vorliegt. Die obigen Ausführungen lassen vermuten, dass sich für die Durchführung von Pilotprojekten die Unternehmensbereiche besonders gut eignen, die sich selbst als am innovativsten sehen und zudem einen hohen Bedarf an der Einführung haben. Diese werden entsprechend der Untersuchungen von Szulanski (2003) am höchsten motiviert sein, Wissen von anderen aufzunehmen.211 Dies kann empirisch belegt werden, da GB 1 eine explizit in der Strategie verankerte Innovationsführerschaft anstrebt. Weiterhin kann angenommen werden, dass ein Rollout gerade dann angestoßen wird, wenn bei dem Pilotprojekt ein hoher Nutzennachweis erbracht werden konnte. Dies wird in diesem Fall durch die oben beschriebene flächendeckende Einführung der Methode bei GB 1 nach dem erfolgreichen Pilotprojekt belegt. Die Fallstudie lässt vermuten, dass wenn eine Methode in einem Anwendungskontext einen hohen Nutzennachweis liefert, auch potenzielle Anwender in anderen Anwendungskontexten und Geschäftsbereichen versuchen, die Methode bei sich zu implementieren. Es zeigte sich weiterhin, dass es für jeden Anwendungskontext in allen Unternehmensbereichen zunächst ein Pilotprojekt gab, dem bei einem entsprechenden Nutzennachweis ein Rollout folgt.

3.2.3

Neue Herausforderungen für die Zukunft

Für die Zukunft wurde als ein kritischer Erfolgsfaktor angesehen, nach dem durchgeführten Rollout der Methode, jeweils ein professionelles Betreibermodell für die verschiedenen Geschäftsbereiche mit abgestimmten Organisationskonzepten zu

211

Siehe zu der Argumentation von Szulanski (2003) Kapitel 2.3.2.

3.2 Fallstudie 1: Pilotierung und Rollout einer neuen Methode

87

gestalten. Hier sind nach Aussage der Interviewpartner insbesondere die Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortungen (im Folgenden abgekürzt als AKV) der jeweils Beteiligten eindeutig zu definieren. Weiterhin ist nach Ansicht der Experten die Einführung eines Betreibermodells erforderlich, da wie oben bereits angedeutet, die reinen Bedatungstätigkeiten keine Forschungsleistungen sind und sich die Forschung sukzessive aus den operativen Tätigkeiten zurückziehen will. Ein erster Schritt hierzu ist die Einbindung von EDL 1 bei GB 1 für die nächsten Baureihen der Marke 1-1. Als weiterer wichtiger Erfolgsfaktor wurde angesehen, die Einführung der Methode in allen interessierten Bereichen durch die Methodenexperten zu begleiten. Es wurde darauf hingewiesen, dass sonst die Gefahr besteht, dass bestimmte Bereiche die Testfälle auf informellen Wegen übernehmen, ohne jedoch zu verstehen, wie und wofür die IQT konzipiert ist. Bei solchen Aktivitäten würde zudem der sehr wichtige Feedbackkanal zu den Methodenentwicklern verloren gehen und auftretende Unklarheiten könnten nicht mehr adäquat durch Experten ausgeräumt werden. Ein solcher unangeleiteter Gebrauch würde schnell zu Missverständnissen führen und der Methode ein schlechtes Image geben.212 Dies wäre gerade dann der Fall, wenn durch die falsche Anwendung der Methode Fehler im Produktentstehungsprozess unentdeckt blieben oder falsche Erwartungen entstünden. Generell sollte nach Aussage der Interviewpartner jeweils von den Methodenexperten gemeinsam mit den späteren Anwendern geprüft werden, ob die Methode überhaupt für den jeweiligen Anwendungskontext geeignet ist. Durch die Einführung der IQT haben sich für die Forschung vorher nicht in Betracht gezogene Tätigkeitsgebiete erschlossen. So wurden Themencluster definiert, welche sich in Zukunft mit einer integrierten Prüfstrategie für die verschiedenen Phasen der Produktentstehung und dem After Sales beschäftigen. Wichtig für die Auswahl der zukünftigen Projekte ist nach Einschätzung der Experten wiederum die konsequente Problemorientierung, sodass bei der Erarbeitung von neuen Methoden klare Nutzenpotenziale aufgezeigt werden können.213

212

213

Die hier geschilderten Risiken, die mit einem unangeleiteten Gebrauch einer neuen Methode verbunden sind, wurden unabhängig von dieser Fallstudie auch von weiteren Interviewpartnern genannt. Dies zeigt beispielhaft, wie aus bestimmten Problemen heraus neue Teams oder ganze Abteilungen im Rahmen eines evolutionären Prozesses entstehen.

88

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

3.2.4

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

In den obigen Ausführungen wurde beschrieben, wie sich die IQT von der ersten Idee bis zu einer etablierten Methode bei OEM A entwickelt hat. Es handelte sich um eine sukzessive Einführung, wobei die wichtigsten Ereignisse in diesem Kontext nochmals in Abbildung 32 im Zeitablauf aufgezeigt sind.

Zeit Kick-Off forschungsintern

Beschluss für alle BR von Marke 1-1

Abstimmung mit Marke 2-1 des GB 2

Auftrag für Pilotbaureihe bei Marke 1-1 des GB 1 Vorstellung IQT auf Strategiemeeting des Vorstands

Abstimmung mit Marke 2-2 des GB 2, Marke 1-2 des GB 1, GB 3

Delta-Bericht zu IQT auf Strategiemeeting des Vorstands im Folgejahr

Weiterentwicklung integrierte Prüfstrategie

Weiterentwicklung GB 1

Verfahrensanweisung für Marke 1-1

Abbildung 32: Evolution der IQT

Abschließend sollen noch einige Faktoren hervorgehoben werden, die erheblich zu dem Erfolg der IQT beigetragen haben. Gerade zu Projektstart hat der hohe Bedarf an einer neuen, konsequent problemorientierten Methode wie der IQT die Aktivitäten sehr vereinfacht. Sichergestellt wurde die Einführung der Methode durch eine frühe interdisziplinäre Zusammenarbeit der beteiligten und betroffenen Bereiche sowohl auf Management- als auch auf Sachbearbeiterebene. Hier war gerade die regelmäßige Einbindung der in den Anwendungskontexten tätigen Experten bei der Methodenentwicklung ein zentraler Bestandteil.214 Die Bestätigung der Wirksamkeit und somit des Nutzens der IQT im Vergleich zu bestehenden Methoden konnte anhand einer Pilotbaureihe nachgewiesen werden. Dies weckte weiteres Interesse an der Methode und beschleunigte die unternehmensinterne Diffusion erheblich.215 Hierzu leistete auch die einprägsame Abkürzung IQT, die nunmehr in vielen Bereichen bekannt ist, einen nicht zu unterschätzenden Beitrag. Als Erfolgsfaktor kann auch die weitgehende Beibehaltung bestehender Routinen genannt werden. Bei der Weiterentwicklung der Methode wurde immer darauf geachtet, möglichst auf bestehende und bewährte Teile der IQT zurückzugreifen, was die Akzeptanz der Anwender sicherte. 214 215

Siehe zur der Notwendigkeit des Einsatzes von interdiszipliären Teams auch Kapitel 2.1.1.3. Siehe hierzu die Erklärungsansätze der Diffusionsforschung von Rogers (1983) in Kapitel 3.1.1.

3.3 Erklärungsansätze zu Gruppenentwicklung und Mediennutzung

89

Mithilfe der Face-to-Face-Schulungen der Anwender durch die Methodenexperten vor-Ort in den jeweiligen Werken wurde eine korrekte Anwendung sichergestellt und unmittelbares Feedback eingeholt. Unterstützt wurde dies auch durch einen direkten Feedbackkanal von Anwendern zu Methodenentwicklern in der Forschung. Durch die Einbindung der Methodenentwickler in verschiedenen Projekten und Anwendungskontexten konnte deren Erfahrungswissen optimal genutzt und wiederverwendet werden. Dies war gerade auch im Hinblick auf die Standardisierung der Methode zwingend erforderlich. Des Weiteren hat eine klare und frühzeitige Zuordnung der AKV zu einem geregelten Ablauf geführt. Die bereits implementierten Prozesse wurden in einer Verfahrensanweisung dokumentiert und sind somit auch für die Zukunft institutionalisiert. Letztlich kann als Erfolgsfaktor hervorgehoben werden, dass zu jedem erforderlichen Zeitpunkt eine zielgruppensensitive Kommunikation in Bezug auf die IQT gewährleistet werden konnte.216

3.3

Erklärungsansätze zu Gruppenentwicklung und Mediennutzung

Sowohl die bisherigen theoretischen Ausführen als auch die Fallstudien zeigen, dass Gruppen sowie die von diesen verwendeten Medien eine nicht zu unterschätzende Rolle beim Wissenstransfer spielen. Daher soll im Folgenden zunächst ein Überblick über Modelle der Gruppenentwicklung gegeben werden, bevor im Anschluss auf Theorien zur Mediennutzung bei der Gruppenarbeit eingegangen wird.

3.3.1

Theorien zur Gruppenentwicklung

Zu der Entwicklung von Gruppen existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Modelle, deren Grundzüge nachstehend anhand des von Chidambaram/Bostrom (1996) vorgenommenen Klassifikationsschemas in Abbildung 33 aufgezeigt werden. Es findet sich zunächst eine Unterscheidung zwischen sequentiellen und nicht sequentiellen Modellen, wobei sequentielle Modelle auf der Annahme basieren, dass Gruppen im Laufe der Zeit bestimmte Entwicklungsphasen durchlaufen und sich dementsprechend ihr Verhalten über die Zeit ändert. Progressive Modelle gehen davon aus, dass die Reife der Gruppe sich über die Zeit stetig erhöht und sich die Performance der Gruppe mit jedem Meeting steigert.

216

Diese Kommunikation beinhaltete verschiedenste Hierarchieebenen, von der Sachbearbeiter- bis zur Vorstandsebene.

90

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Während linear-progressive Modelle217 die Gruppenentwicklung als lineare Fortentwicklung über bestimmte vom Modell spezifizierte Phasen hinweg sehen, betrachten Gleichgewichts-Modelle218 die Gruppenentwicklung als Optimierung der Balance zwischen der Auseinandersetzung mit den Aufgabenanforderungen und der Berücksichtigung sozioemotionaler Bedürfnisse. Zyklische Modelle unterstellen im Gegensatz zu den progressiven Modellen eine nicht lineare Abfolge von Ereignissen, wobei Lebenszyklusmodelle und Modelle mit wiederkehrenden Zyklen unterschieden werden können. Lebenszyklusmodelle219 beschreiben, dass Gruppen eine quasi-organische Abfolge von Geburt, Wachstum und Tod durchschreiten. Modelle mit wiederkehrenden Zyklen220 stützen sich auf das Konzept, dass Gruppen, obwohl sie sich im Zeitablauf weiterentwickeln, dazu tendieren zu vorhergehenden Positionen zurückzukehren.221

Sequenziell Progressiv • •

Linearprogressiv Gleichgewicht

Nicht-sequenziell Zyklisch

Zeitbasiert



Lebenszyklen





Wiederkehrende Zyklen

Punktuiertes Gleichgewicht



Soziales „Entrainment“

Strukturbasiert •

Adaptive Strukturierung

Abbildung 33: Modelle der Gruppenentwicklung (Chidambaram/Bostrom 1996, S. 161)

Nicht sequentielle Modelle treffen im Gegensatz zu den sequentiellen Modellen die Annahme, dass es keine vorherbestimmten Phasen bei der Gruppenentwicklung gibt. Sie sind vielmehr auf die Erklärung der zu einer Veränderung der Gruppe führenden Variablen fokussiert. Zeitbasierte Modelle haben den primären Fokus auf der Zeit als Erklärungsvariable. Hierzu gehören beispielsweise Faktoren wie Zeitmangel bei der Aufgabenerfüllung, die Länge der Gruppenhistorie und das Bewusstsein über bevorstehende Termine. Punktuierte Gleichgewichts-Modelle betonen insbesondere kritische Punkte in der Gruppenentwicklung, an denen sich ein Wechsel von einem Gleichgewicht zu einem neuen vollzieht.

217 218 219 220 221

Siehe hierzu Tuckman (1965). Siehe hierzu Bales (1953). Siehe hierzu Mills (1964). Siehe hierzu Bion (1961). Vgl. Chidambaram/Bostrom (1996, S. 162-172).

3.3 Erklärungsansätze zu Gruppenentwicklung und Mediennutzung

91

Gersick (1988) offeriert ein Zweiphasenmodell mit stabilen Phasen und kurzen Phasen des radikalen Wandels, bei denen die Gruppe ein neues Gleichgewicht sucht. Sie zeigt, dass exakt zur Halbzeit des Gruppenlebens bei dem Übergang von der ersten in die zweite Phase aufgrund des Bewusstseins über zeitliche Faktoren eine deutliche Leistungssteigerung verbunden mit einem Verhaltenswechsel stattfindet. Zeitliche Faktoren spielen auch bei Modellen, die das soziale Entrainment der Gruppe in den Vordergrund stellen eine Rolle: “Entrainment refers to synchronization (temporal coordination of phase and periodicity of two or more processes. Social entrainment refers to entrainment of processes that are behavioural not physiological” 222

So wird die Gruppenentwicklung bei McGrath (1990) als fortschreitende Verbesserung der Synchronisierung der Gruppenmitglieder untereinander und mit ihrem sozialen Umfeld hinsichtlich des Timings von Gruppenaktivitäten verstanden. Der Ansatz der adaptiven Strukturierung nach Poole/DeSanctis (1990) berücksichtigt insbesondere die kontextgebundenen Faktoren und beschreibt die Gruppenentwicklung als Prozess, bei dem Gruppen zunehmend lernen, externe Strukturen zu nutzen. Es wird davon ausgegangen, dass Gruppen sehr unterschiedlich auf auferlegte externe Strukturen reagieren.223 Für die Unterschiede der Modelle können die folgenden methodischen Gründe angeführt werden.224 x

Unterschiedliche Art der untersuchten Gruppen

x

Unterschiedliche Operationalisierungen der Entwicklung

x

Unterschiedliche Aufgabenstellungen bei den Gruppen

x

Unterschiedliche untersuchte Zeitabschnitte

x

Unterschiedliche Erfassungstechniken

Auf der inhaltlichen Ebene sind die verschiedenen Modellklassen oftmals eher komplementär als kontradiktorisch. So besteht größtenteils Einigkeit über die Faktoren, welche gut entwickelte Gruppen auszeichnen:

222 223 224

Vgl. McGrath (1991, S. 164). Vgl. Poole/DeSanctis (1990). Vgl. Chidambaram/Bostrom (1996, S. 175-176).

92

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

x

Kohäsion

x

Konfliktmanagement

x

Balance zwischen Aufgabenerfüllung und sozioemotionalen Faktoren

x

effektive Kommunikation

x

Involviertheit der Gruppenmitglieder

Weiterhin betonen verschiedene Modelle kritische Perioden wie die Anfangsphase,225 den Mittelpunkt und das Ende der Gruppe. Auch auf die Notwendigkeit einer Balance zwischen Homogenität und Heterogenität von Gruppen wird hingewiesen.226

3.3.1.1

Theorie der Gruppenentwicklung nach Tuckman

Tuckman (1965) untersuchte insgesamt 55 Artikel zu Phasen der Gruppenentwicklung im Hinblick auf den Aufgaben- und den interpersonalen Bezug. Das Ergebnis ist ein Modell für die zeitliche Entwicklung von Gruppen für verschiedene Gruppenszenarien, das sowohl für den Aufgaben- als auch den interpersonalen Bezug vier Phasen enthält. Die Korrespondenz beider Phasenebenen drückt sich, wie in Abbildung 34 zu sehen, in der von der Theorie spezifizierten Abfolge von Forming, Storming, Norming und Performing aus. Forming Interpersonaler Bezug

Aufgabenbezug

Testen und Abhängigkeit Orientierung gegenüber Aufgabe

Storming

Intragruppenkonflikt Emotionale Reaktion auf Aufgabenanforderungen

Norming

Performing

Entwicklung von Gruppenkohäsion

Funktionaler Rollenbezug

Offener Austausch relevanter Interpretationen

Entwicklung von Lösungen

Abbildung 34: Vier Phasen der Gruppenentwicklung nach Tuckman (1965)

In der Phase Forming lernen die Gruppenmitglieder sich kennen, beurteilen sich gegenseitig und definieren erste Aufgaben und Regeln der Zusammenarbeit. Es besteht eine starke Abhängigkeit vom Gruppenführer. In der folgenden Phase Storming polarisieren sich Meinungen und die Macht- und Statusfragen müssen geklärt werden. Aufgabenanforderungen und Vorgehensweisen werden in Frage gestellt und es kommen erste Konflikte auf. 225

226

Barczak/McDonough (2003, S.16-18) beschreiben effektive Routinen für globale Teams und heben Face-to-Face-Meetings zu Beginn (idealerweise 3 Tage), häufige Kommunikation über die Distanz in der Zwischenzeit und periodische Fortschrittsmeetings als kritische Aktivitäten hervor. Vgl. Hackman (1987, S. 327).

3.3 Erklärungsansätze zu Gruppenentwicklung und Mediennutzung

93

Diese werden in der Phase Norming durch einen offenen Meinungsaustausch bereinigt und es entwickeln und stabilisieren sich Gruppenkohäsion, Normen und Rollen. In der Phase Performing sind interpersonelle Probleme weitgehend gelöst, horizontale und vertikale Rollen haben sich etabliert und die Aktivitäten der Gruppe konzentrieren sich auf die zu lösende Aufgabe.227 Das Vierphasenmodell wurde später von Tuckman/Jensen (1977) nach einem weiteren Literaturreview, der die empirische Relevanz des Modells prüfte, um eine fünfte Phase Adjourning ergänzt. Diese Phase berücksichtigt die schleichende Ablösung der Mitglieder angesichts des bevorstehenden Endes der Gruppe.228

3.3.1.2

Time, Interaction, Performance-Theorie

Die Time, Interaction, Performance-Theorie (im Folgenden abgekürzt als TIPTheorie) ist komplexer als die simplizistische Gruppenentwicklungstheorie nach Tuckman (1965) und Tuckman/Jensen (1977). Sie legt besonderes Augenmerk auf zeitliche Prozesse in der Interaktion und Performance von Gruppen und versucht die Natur von Gruppen im Alltag zu einem bestimmten Grad abzubilden. McGrath (1991) argumentiert, dass in früheren Arbeiten die physikalischen, zeitlichen und sozialen Kontexte, in denen Gruppen eingebettet sind, nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Er sieht Gruppen als komplexe soziale Systeme an, die mehrere voneinander unabhängige Funktionen ausführen und gleichzeitig in mehreren Projekten involviert sind.229 Mitglieder sind nicht als fester Bestandteil einer einzigen Gruppe zu sehen, sondern als Partizipierende, die in mehreren Gruppen eingebunden sein können.230 Die Gruppenmitglieder sind in dieser Sicht genauso lose miteinander gekoppelt wie das Verhalten der Gruppe mit dem sozialen System, in welches sie eingebettet ist: “Most work groups can be regarded as loosely coupled systems at two levels. Individual group members are loosely coupled to one another, and the behaviour of the group as a unit is loosely coupled to the larger social units within which that group is embedded.”231

227 228 229 230

231

Vgl. Tuckman (1965, S. 386-387). Vgl. Tuckman/Jensen (1977, S. 426). Vgl. McGrath (1991, S. 147-150). Mortensen/Hinds (2002, S. 282) zeigen, dass räumlich zusammengelegte Teams eher Mitglieder aufnehmen als räumlich verteilte Teams. Vgl. McGrath (1991, S. 152).

94

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Die TIP-Theorie beschäftigt sich mit der Natur der Gruppe an sich, zeitlichen Strukturierungsproblemen und dem Gruppeninteraktionsprozess. In Bezug gesetzt werden hinsichtlich der Gruppe die in Abbildung 35 aufgezeigten drei Funktionen Produktion (Production), Wohlbefinden (Well-Beeing) und Mitgliederunterstützung (Member Support) mit den vier Modi Initialisierung (Inception), Problemlösung (Problem Solving), Konfliktlösung (Conflict Resolution) und Ausführung (Execution). Die drei Funktionen werden simultan wahrgenommen, wobei zum selben Zeitpunkt bei unterschiedlichen Funktionen verschiedene Modi vorliegen können.232 Die Modi der Produktionsfunktion spiegeln die Beziehung der Gruppe als funktionale Einheit zu der sie umgebenden Umwelt im Rahmen der eigentlichen Aufgabendurchführung im Sinne der Problemlösung für die Organisation wider. Die Wohlbefindensfunktion besteht aus Aktivitäten, die mit der Entwicklung und Aufrechterhaltung der Gruppe als System zu tun haben. Sie reflektiert entsprechend die Relationen zwischen den Mitgliedern. Hierzu gehören beispielsweise die Übernahme von Rollen durch Mitglieder und die Ausbildung von Verhaltensnormen. Die Modi der Mitgliederunterstützungsfunktion beschreiben Aktivitäten, die mit Einbettung von Mitgliedern in die Gruppe zu tun haben. Sie zielt somit auf die persönlichen Beziehungen zwischen einzelnen Mitgliedern und der Gruppe ab.233

Functions

Modes

Production

Well-Being

Member Support

Mode I Inception

Production Demand/ Opportunity

Interaction Demand/ Opportunity

Inclusion Demand/ Opportunity

Mode II ProblemSolving

Technical Problem Solving

Role Network Definition

Position/ Status Attainments

Mode III Conflict Resolution

Policy Conflict Resolution

Power/ Payoff Distribution

Contribution/ Payoff Relationships

Mode IV Execution

Performance

Interaction

Participation

Abbildung 35: Funktionen und Modi der TIP-Theorie (McGrath 191, S. 154)

Es ist anzumerken, dass, obwohl alle Projekte mit der Initialisierung (Modus I) beginnen und mit der Ausführung (Modus IV) beendet werden, nicht notwendigerweise auch die anderen Modi durchlaufen werden müssen. Gruppen werden 232 233

Vgl. McGrath (1991, S. 152-157). Vgl. McGrath (1991, S. 147-150).

3.3 Erklärungsansätze zu Gruppenentwicklung und Mediennutzung

95

versuchen von Modus I direkt zu Modus IV zu gelangen, wobei die anderen Modi je nach Situation direkt nach Modus I oder erst nach vorheriger Einnahme des Modus IV auftreten können. Dies ist insbesondere dann kritisch, wenn nicht alle erforderlichen Voraussetzungen zur Zusammenarbeit, wie beispielsweise die Rollenverteilung innerhalb der Gruppe, geklärt sind.234 Neben den beschriebenen Funktionen und Modi macht die TIP-Theorie Aussagen zu drei zeitlichen Strukturierungsproblemen bei der Gruppenarbeit. Dies sind erstens zeitliche Aspekte bei der Abfolge der Arbeit, die zu Problemen bei der Zeitplanung, der Synchronisation und der Zuordnung von zeitlichen Ressourcen führen. Hier erwachsen Probleme aus der zeitlichen Ambiguität von Ereignissen, konfliktären zeitlichen Interessen und Anforderungen sowie aus der Knappheit der zeitlichen Ressourcen. Daher gehört es zu den wesentlichen Gruppenaktivitäten Deadlines zu vereinbaren und durchzusetzen, Normen für eine reibungslose dynamische Zusammenarbeit zu etablieren sowie den Arbeitsfluss und die persönliche Interaktion zu regulieren. Zweitens sind die Probleme bei der effizienten Zuordnung von Zeitperioden zu Aktivitätsbündeln zu nennen. Hier ist zu berücksichtigen, dass Zeit nicht beliebig teilbar und nicht jede Zeiteinheit homogen und beliebig austauschbar ist. Das heißt, dass nicht zu jeder Zeit jede Aktivität durchgeführt werden kann. Drittens sind sowohl Aspekte der Synchronisation der Gruppenmitglieder untereinander als auch der Gruppe mit externen Ereignissen zu nennen. Hier spielt insbesondere der Zeitdruck, unter dem die Gruppenmitglieder stehen, eine Rolle. Dieser führt häufig zu einer Konzentration auf die Produktionsfunktion, was wiederum einen negativen Einfluss auf die anderen Gruppenfunktionen und somit auf die Qualität der Gruppenleistung hat.235 Unter dem Gruppeninteraktionsprozess wird der Arbeitsfluss auf der Mikroebene verstanden, wobei einzelne Interaktionseinheiten durch ihren Typ, Quelle und Empfänger sowie die Zeit gekennzeichnet sind. Ihre Bedeutung erhalten sie in der Sicht der TIP-Theorie aus ihrem jeweiligen Kontext, da sie situationsabhängig von der Gruppe zu interpretieren sind und keine generische Bedeutung haben. So kann beispielsweise die Aussage, dass ein bestimmter Problemlösungsansatz nicht zielführend ist, sowohl in Modus II oder Modus III der Produktionsfunktion angesiedelt sein als auch jedem beliebigen Modus der beiden anderen Funktionen

234 235

Vgl. McGrath (1991, S. 157-158). Vgl. McGrath (1991, S. 161-165).

96

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

zugeschlagen werden. Dies zeigt, dass einzelne Interaktionselemente je nach Kontext völlig unterschiedliche Bedeutungen annehmen können.236

3.3.2

Theorien zur Mediennutzung bei der Gruppenarbeit

Zum systematischen Vergleich von Medien zur Kommunikationsunterstützung in unterschiedlichen Situationen wurden in der Vergangenheit diverse Theorien entwickelt, evaluiert und weiterentwickelt. Erste Bestrebungen existieren seit 1984 durch Ansätze der Media-Richness-Theorie, welche prominent durch Daft/Lengel (1986) veröffentlicht wurden.237 Neben der Erläuterung der relativ bekannten MediaRichness-Theorie wird im Folgenden mit der Media-Synchronicity-Theorie eine neuere Entwicklung in diesem Themengebiet vorgestellt, die in der deutschen Literatur noch unterrepräsentiert ist.

3.3.2.1

Media-Richness-Theorie

Die Media-Richness-Theorie verbindet die Medienwahl mit der Aufgabe, die es von den beteiligten Akteuren gemeinsam zu lösen gilt. Aufgaben werden dahingehend eingeteilt, inwieweit sie einerseits zur Reduktion von Unsicherheit (uncertainty) und andererseits zur Reduktion von äquivoken Situationen (equivocality) beitragen. Diese Begriffe werden wie folgt verwendet: „Uncertainty is defined as the difference between the amount of information required to perform the task and the amount of information already possessed by the organization.”238 “Equivocality means ambiguity, the existing of multiple and conflicting interpretations about an organizational situation. High equivocality means confusion and lack of understanding”239

Es wird davon ausgegangen, dass unsichere Aufgaben optimal gelöst werden können, wenn alle benötigten Informationen vorhanden sind. Dies kann beispielsweise durch das Hinzuziehen weiterer Daten geschehen. Unsicherheit wird in diesem Kontext mit dem nicht Vorhandensein von Informationen gleichgesetzt. Äquivoke Aufgaben lassen sich hingegen nicht durch sehr viel Information lösen,

236 237 238 239

Vgl. McGrath (1991, S. 165-169). Vgl. Daft/Lengel (1984, 1986). Vgl. Galbraith (1973, S. 5). Vgl. Daft/Lengel (1986, S. 556) nach Weick (1979) und Daft/Macintosh (1981).

3.3 Erklärungsansätze zu Gruppenentwicklung und Mediennutzung

97

sondern unterliegen vielmehr der Interpretationsfähigkeit der Akteure, die zu einem gemeinsamen Verständnis eines bestimmten Sachverhalts kommen müssen.240 In der ursprünglichen Fassung der Media-Richness-Theorie wird empfohlen, für unsichere Aufgaben Medien mit geringem Reichtum (Richness) und für äquivoke Aufgaben Medien mit hohem Reichtum zu verwenden. Der Reichtum eines Mediums richtet sich nach dem Informationsreichtum: Information richness: “…the ability of information to change understanding within a time interval. Communication transactions that can overcome different frames or reference or clarify ambiguous issues to change understanding in a timely manner are considered rich”241

Der Reichtum eines Mediums wird hier durch die folgenden vier Faktoren bestimmt:242 x

Möglichkeit des unmittelbaren Feedbacks (Capacity for immediate feedback)

x

Anzahl benutzter Kommunikationselemente und Kommunikationskanäle (Number of cues and channels utilized)

x

Personifizierung (Personalization)

x

Sprachliche Vielfalt (Language variety)

Die beschriebene Media-Richness-Theorie wurde von Rice (1992) für neue Medien weiterentwickelt. Aufbauend hierauf entwickelte Reichwald (1998) das in Abbildung 36 visualisierte Media-Richness-Modell. Face-to-Face-Dialoge und Meetings haben demnach den größten Medienreichtum, Briefpost und Dokumentation hingegen den geringsten. Medien sind hier in Abhängigkeit von der Komplexität der Kommunikationsaufgabe zu wählen, wobei reiche Medien nicht von vorneherein zu bevorzugen sind. Vielmehr gibt es in diesem Modell einen Bereich effektiver Kommunikation.243 Dies ist darin begründet, dass die Akteure bei einer Überkomplizierung anstatt nach Fakten zu suchen von dem Reichtum des Mediums abgelenkt werden, unnötige Interpretationen durchführen und möglicherweise äquivoke Situationen künstlich erzeugen. 240 241 242 243

Vgl. Daft/Lengel (1986, S. 560). Vgl. Daft/Lengel (1986, S. 560). Vgl. Daft/Lengel (1986, S. 560). Vgl. Reichwald (1998, S. 55-58).

98

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Medium

Media Richness Hoch

Overcomplication (Mehrdeutigkeit, zu viele Nebeninformationen)

at io n

Face-to-Face Dialog / „Meeting“

un ik

Videokommunikation

K om Mittel

Computerkonferenz

B er ei ch

Telefax

ef fe kt iv er

Voice Mail

m

Telefon / Telefonkonferenz

E-Mail Briefpost / Dokumentation

Oversimplification (unpersönlich, kein Feedback)

Niedrig

Komplexität der Kommunikationsaufgabe Abbildung 36: Media-Richness-Modell (Reichwald 1998, S. 57)

Bei einer zu starken Vereinfachung führt das gewählte Medium zu mangelndem Feedback sowie Unpersönlichkeit und erschwert hierdurch die in diesem Fall notwendige gemeinsame Interpretation und die Bildung eines gemeinsamen Verständnisses.244

3.3.2.2

Media-Synchronicity-Theorie

Dennis/Valacich (1999) argumentieren anhand der Ergebnisse empirischer Untersuchungen, dass die Media-Richness-Theorie insbesondere für neue Medien wie computervermittelnde Kommunikation nicht überzeugend bestätigt werden konnte. Sie gehen daher mit der Formulierung der Media-Synchronicity-Theorie einen neuen Weg zur Erklärung der Mediennutzung, wobei im Gegensatz zur MediaRichness-Theorie ein besonderes Augenmerk auf die Gruppeninteraktion gelegt wird.

244

Vgl. Reichwald (1998, S. 55-58).

99

3.3 Erklärungsansätze zu Gruppenentwicklung und Mediennutzung

Mediensynchronität (Media Synchronicity) wird wie folgt defniert: Media Synchronicity: „…the extend to which individuals work together on the same activity at the same time, i.e. have a shared focus.” 245

Bei ihren Überlegungen stützen sie sich terminologisch auf das Grundmodell der Kommunikation von Shannon/Weaver (1949). Dieses Modell geht davon aus, dass die Nachricht einer Informationsquelle durch einen Sender in ein Signal kodiert und über einen Kanal mit möglichen Störquellen zu einem Empfänger übermittelt, von diesem wieder dekodiert und an die Destination weitergegeben wird.246 Eine Hauptthese der Media-Synchronicity-Theorie ist, dass der Reichtum eines Mediums nicht hauptsächlich von sozialen Faktoren, sondern auch stark von den Informationsverarbeitungskapazitäten des Mediums abhängt. Es wird davon ausgegangen, dass die nachfolgenden fünf Mediencharakteristika die Kommunikation beeinflussen:247 x

Unmittelbarkeit des Feedbacks (Immediacy of feedback)

x

Symbolvarietät (Symbol variety)248

x

Parallelität im Sinne gleichzeitiger Konversationen (Parallelism)

x

Editierbarkeit der Nachricht vor dem Senden (Rehearsability)

x

Wiederaufbereitbarkeit im Sinne verwendbarkeit (Reprocessability)

von

Nachprüfbarkeit

und

Wieder-

Die Unmittelbarkeit des Feedbacks und die Symbolvarietät beschreiben in diesem Kontext die Informationsverarbeitungskapazitäten einzelner Kommunikationskanäle des eingesetzten Mediums. Parallelität beschreibt die Anzahl von gleichzeitig eingesetzten Kommunikationskanälen und hat somit ebenfalls einen Einfluss auf die Informationsverarbeitungskapazitäten des Mediums. Die Editierbarkeit ist eine Eigenschaft, die im Wesentlichen auf Seiten des Senders eine Rolle spielt, die Wiederaufbereitbarkeit hingegen eher auf der Seite des Empfängers. Diese Mediencharakteristika sowie deren Ansatzpunkte bei einem Kommunikationskanal sind in Abbildung 37 visualisiert.

245 246

247 248

Vgl. Dennis/Valacich (1999, S. 2-5). Bei Dennis/Valacich (1999) sind Informationsquelle und Destination Personen. Sender, Kommunikationskanal und Empfänger sind Teil des Kommunikationsmediums. Vgl. Dennis/Valacich (1999, S. 2 -3). Die Symbolvarietät der Media-Synchronicity-Theorie subsumiert die Anzahl benutzter Kommunikationselemente und –kanäle sowie die sprachliche Vielfalt der Media-Richness-Theorie nach Daft/Lengel (1986).

100

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Sender

Symbolvarietät, Unmittelbarkeit des Feedbacks

Empfänger

Parallelität

Editierbarkeit

Wiederaufbereitbarkeit

Abbildung 37: Mediencharakteristika in der Media-Synchronicity-Theorie (Schwabe 2001, S. 59)

Dennis/Valacich (1999) argumentieren bezugnehmend auf die Media-RichnessTheorie, dass es kein Medium gibt, welches bei allen genannten Charaktereigenschaften die beste relative Ausprägung haben kann. Dies wird dadurch ersichtlich, dass sich beispielsweise die Unmittelbarkeit des Feedbacks und die Möglichkeit der Editierbarkeit einer Nachricht vor dem Senden gegenläufig verhalten. Eine Übersicht über Ausprägungen von Charaktereigenschaften ausgewählter Medien findet sich in der folgenden Abbildung 38.249

Face-to-Face Video conference Telephone Written mail Voice-Mail Electronic Mail Electronic phone („chat“) Asynchronous groupware Synchronous groupware

Feedback high

Symbolvariety low-high

Parallelism Rehearsability low low

Reprocessability low

medium-high low-high

low

low

low

medium low low low-medium

low low-medium low low-high

low high low medium

low high low-medium high

low high high high

medium

low-medium

medium

low-medium

low-medium

low

low-high

high

High

high

low-medium

low-high

high

medium-high

high

Abbildung 38: Charaktereigenschaften ausgewählter Medien (Dennis/Valacich 1999, S. 3)

249

Vgl. Dennis/Valacich (1999, S. 3).

101

3.3 Erklärungsansätze zu Gruppenentwicklung und Mediennutzung

Weiterhin weisen sie darauf hin, dass Medien durch etwaige Konfigurationsmöglichkeiten nicht monolithisch hinsichtlich ihrer Informationsverarbeitungskapazität sind. Darüber hinaus wird von einem absoluten Ranking von Medien Abstand genommen, da der Reichtum eines Mediums nicht per se definiert werden kann. Es wird ausgesagt, dass dieser immer von der Situation, d. h. von den einzelnen Akteuren, den Aufgaben und dem sozialen Kontext, in dem die Akteure agieren, abhängt.250 Bei der Media-Synchronicity-Theorie wird unterstellt, dass die Gruppenkommunikation, unabhängig von der Art der Aufgabe (unsicher/äquivok), aus divergenten Kommunikationsprozessen der Informationsübermittlung (conveyance) und konvergenten Kommunikationsprozessen (convergence) der Informationsverdichtung besteht. Der Prozess der Informationsübermittlung dient der Verbreitung verschiedenster, den Akteuren vorher nicht bekannten Informationen aus diversen Informationsquellen. Im Anschluss dient der Prozess der Informationsverdichtung dazu, ein gemeinsames Verständnis der Akteure über die Bedeutung der Informationen für die aktuelle Situation herzustellen. Im Allgemeinen sind nach Dennis/Valacich (1999) Medien mit einer geringen Synchronität besser für divergente und Medien mit einer hohen Synchronität besser für konvergente Kommunikationsprozesse geeignet.251 Eine Visualisierung von konvergenten und divergenten Kommunikationsprozessen findet sich in der folgenden Abbildung 39. Problemanalyse und Redefinition

Ideengenerierung

Ideenbewertung und -auswahl

konvergent

divergent

konvergent

Abbildung 39: Konvergente und divergente Kommunikationsprozesse (Schwabe 1995, S. 283)

250 251

Vgl. Dennis/Valacich (1999, S. 3). Vgl. Dennis/Valacich (1999, S. 5). Siehe zu den besonderen Aspekten der sozialen Kommunikation in Gruppen in frühen Phasen der Innovation und den hiermit verbundenen Aspekten des Verstehens Gerybadze (2003, S. 155).

102

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Neben den beiden zuvor beschriebenen Dimensionen Mediencharakteristika und Kommunikationsprozesse wird bei der Media-Synchronicity-Theorie zur Bestimmung der zu wählenden Medien entsprechend der TIP-Theorie unterschieden, in welcher der Gruppenfunktionen Produktion, Wohlbefinden und Mitgliederunterstützung sich die Gruppe befindet. (Abbildung 40).252

Convergence

Conveyance Production

Group Well-beeing

Ta

sk

Fu nc tio ns

Communication Processes

Media Charakteristics

Member Support Symbol Variety Parallelism Feedback Rehearsability Reprocessability

Abbildung 40: Dimensionen der Media-Synchronicity-Theorie (Dennis/Valacich 1999, S. 5)

Für die Auswahl einer geeigneten Kommunikationsumgebung Dennis/Valacich (1999) schließlich zu den folgenden Thesen:253

252 253

kommen

x

Bei Gruppenkommunikationsprozessen mit dem Ziel der Konvergenz führen Medien mit hoher Synchronität (schnelles Feedback/geringe Parallelität) zu einer besseren Performance.

x

Bei Gruppenkommunikationsprozessen mit dem Ziel der Divergenz führen Medien mit geringer Synchronität (langsames Feedback/hohe Parallelität) zu einer besseren Performance.

x

Die Symbolvarietät beeinflusst die Performance nur, wenn ein benötigtes Symbolset nicht verfügbar ist.

Vgl. Dennis/Valacich (1999, S. 5) Vgl. Dennis/Valacich (1999, S. 7-8).

3.4 Fallstudie 2: Transfer von neuen Methoden an Servicestützpunkte

3.4

103

x

Die Nutzung von Medien mit besserer Editierbarkeit vor dem Senden führt zu besserer Performance.

x

Bei Gruppenkommunikationsprozessen mit dem Ziel der Konvergenz führen Medien mit besserer Wiederaufbereitbarkeit zu einer besseren Performance.

x

Etablierte Gruppen mit akzeptierten Normen benötigen weniger Nutzung von Medien mit hoher Synchronität (schnelles Feedback/geringe Parallelität) als Gruppen ohne akzeptierte Normen.

x

Bei einer gegebenen Gruppe, die zusammenarbeitet und sich entwickelt, nimmt die Notwendigkeit einer hohen Mediensynchronität im Zeitverlauf ab.

x

Neu formierte Gruppen, Gruppen mit neuen Mitgliedern und Gruppen ohne akzeptierte Normen benötigen eine vermehrte Nutzung von Medien mit hoher Synchronität (schnelles Feedback/geringe Parallelität).

x

Neu formierte Gruppen, Gruppen mit neuen Mitgliedern und Gruppen ohne akzeptierte Normen beschäftigen sich mehr mit sozialen Kommunikationsaktivitäten und bevorzugen daher die Nutzung von Medien, die Symbolsets mit höherer sozialer Präsenz enthalten.254

Fallstudie 2: Transfer von neuen Methoden an Servicestützpunkte

In Fallstudie 1 wurde der Wissenstransfer bei einer begrenzten Projektgruppengröße thematisiert. Der Vorteil bei einer solchen Konstellation ist, dass eine direkte Kommunikation zwischen den involvierten Personen möglich ist und gegebenenfalls Face-to-Face-Kontakte realisiert werden können. Es stellt sich nun die Frage, wie der Wissenstransfer an einer im Vergleich hierzu deutlich anonymeren Schnittstelle, bei der eine sehr große Anzahl von Personen erreicht werden soll, funktioniert. Genau dieser Fragestellung wird bei der folgenden Untersuchung, bei der die Kommunikation von neuen Methoden an Servicestützpunkte im Fokus steht, nachgegangen.

3.4.1

Hintergrund und Vorgehensweise

Am Beispiel des OEM A werden nachfolgend Kommunikationskanäle, die zum Transfer von Wissen von zentralen Organisationseinheiten in Servicestützpunkte dienen, analysiert und beschrieben. Fokussiert wird die Betrachtung auf den Kontext 254

In Fallstudie 3 in Kapitel 3.5.2 wird gezeigt, dass bei einer neu formierten Gruppe Medien mit hoher Synchronität einzusetzen sind und dieser Bedarf im Laufe der Zeit abnimmt. In diesem Fall war auch aufgrund der nicht vorhandenen Gruppennormen der Einsatz eines mehrtägigen Faceto-Face Meetings (hohe Synchronität und hohe soziale Präsenz) unerlässlich. Die weitere Projektarbeit konnte im Anschluss mit Hilfe von Videokonferenzen und E-Mail durchgeführt werden.

104

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Diagnosesysteme, der ebenso wie das Untersuchungsobjekt und der Gang der Untersuchung beleuchtet wird.

3.4.1.1

Wissenstransfer im Kontext Diagnosesysteme

E/E-Systeme haben in den letzten Jahren kontinuierlich an Bedeutung gewonnen, wobei Experten der Ansicht sind, dass zukünftig etwa 90% aller Innovationen im Fahrzeug auf E/E-Systemen basieren werden. Wesentliche Treiber für diese Entwicklung sind die Kundennachfrage nach zusätzlichen Sicherheits- und Komfortfunktionen sowie Bestrebungen der OEMs zur Reduzierung des Kraftstoffverbrauchs. Aufgrund der erheblichen Zunahme des E/E-Umfangs im Automobil und der ständig komplizierter werdenden Regelungs- und Steuerungsaufgaben, steigen die Produktkomplexität und entsprechend auch die Servicekomplexität stark an.255 Zur Beherrschung dieser Komplexität im Kontext After Sales ist es unerlässlich, fortschrittliche Diagnosesysteme in den Werkstätten einzusetzen. Diese erfahren eine stetige Weiterentwicklung und werden bei Technologiesprüngen durch neue Diagnosesysteme abgelöst. Eine zentrale Herausforderung für die OEMs ist es, das zur sachgerechten Bedienung dieser Diagnosesysteme notwendige Wissen trotz einer erhöhten Komplexität in einer einfachen und verständlichen Weise an die Anwender in den einzelnen Werkstätten weiterzugeben. Um mehr über den Wissenstransfer an dieser Schnittstelle zu erfahren, ist es notwendig, die vorhandenen Kommunikationskanäle zwischen OEM A und seinen Servicestützpunkten im Detail zu analysieren. Da eine Vielzahl von Kommunikationskanälen existiert, ist es insbesondere von Interesse, mit welchen Kommunikationskanälen welche Zielgruppen effektiv und effizient erreicht werden können.

3.4.1.2

Beschreibung des Untersuchungsobjekts

Zur Beantwortung dieser Frage werden im Folgenden die Schnittstellen von der zentralen Serviceorganisation zu den Werkstätten der weltweiten Vertriebsorganisationen untersucht. Aufgrund eines aktuellen Fallbeispiels steht der Wissenstransfer bei der Weiterentwicklung bestehender Diagnosesysteme im Fokus der Betrachtung. Nach dem Schema von Henderson/Clark (1990) handelt es sich in diesem Fall um eine inkrementelle Innovation, da diese sowohl die Kernkonzepte der

255

Siehe zu Trends in der Automobilindustrie Mercer Management Consulting (2001).

105

3.4 Fallstudie 2: Transfer von neuen Methoden an Servicestützpunkte

Komponenten beeinflusst.256

als

auch

deren

Beziehungen

untereinander

nur

schwach

Die Kommunikation von innovativen Diagnosemethoden sollte in diesem Fall nicht nur die direkten Anwender (primär Werkstattpersonal), sondern auch das Management in der Außenorganisation erreichen, um die nötige Akzeptanz zu schaffen. Daher wurden die drei Zielgruppen Werkstattpersonal, Meister/ServiceBerater und Service-Leitung definiert. Das Werkstattpersonal führt in der Regel die Diagnose und Reparatur von Fahrzeugen durch. Hier gibt es verschiedene Kompetenzniveaus, die soweit es notwendig ist, im Rahmen der Fallstudie differenziert betrachtet werden. Disziplinarisch ist das Werkstattpersonal einem Meister unterstellt, der ebenfalls über einen technischen Hintergrund verfügt. Der Service-Berater bildet die Drehscheibe zwischen Kunde und Werkstatt. Er bringt ein für die Kommunikation mit dem Werkstattpersonal ausreichendes technisches Verständnis mit, führt jedoch selbst keine Diagnose- oder Reparaturtätigkeiten durch. Die Service-Leitung ist verantwortlich für die Steuerung und Förderung des Service-Geschäfts.

Zentrale

Kommunikationskanäle

Vertriebsorganisationen (VO) VO n VO 2 VO 1

Zentrale Serviceorganisation

1 Indirekt Headquater VO

2 Direkt an Werkstätten

Zentrale Schulungseinheit

3

Headquarter

Werkstatt

Indirekt über Schulungseinheit

Abbildung 41: Diagnoserelevante Kommunikation zwischen Zentrale und Märkten

Die zentrale Serviceorganisation des untersuchten OEM trägt die Verantwortung für das weltweite After-Sales Geschäft. In diesem Kontext stellt sie unter anderem die für die Diagnosesysteme erforderlichen baureihenspezifischen Diagnosedaten bereit und ist darüber hinaus für die Weiterentwicklung und Neueinführung von 256

Vgl. Henderson/Clark (1990, S.12).

106

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Diagnosesystemen zuständig.257 Wie in Abbildung 41 gezeigt, werden die weltweiten Märkte durch verschiedene Vertriebsorganisationen bedient. Diese koordinieren ihrerseits die in ihrem Markt ansässigen Werkstätten. Neben der direkten Kommunikation zwischen der zentralen Serviceorganisation und den Vertriebsorganisationen finden Schulungsmaßnahmen statt, die von einer speziellen zentralen Schulungseinheit organisiert und durchgeführt werden. Da die einzelnen Vertriebsorganisationen für ihren Markt verantwortlich sind, können sie in einem gewissen Umfang selbst darüber entscheiden, wie welche Informationen innerhalb des Marktes weitergegeben werden. Die Vertriebsorganisationen konvertieren daher teilweise die Eingangsinformationen aus der Zentrale in ein marktübliches internes Format um. Hilfreich ist dies, da die Vertriebsorganisationen näher am Markt sind und somit die Eingangsinformationen auf die entsprechenden Bedürfnisse des jeweiligen Markts anpassen können. Dies dient zum besseren Verständnis und ist beispielsweise bei dem später erläuterten Kommunikationskanal HELP der Fall.

3.4.1.3

Gang der Untersuchung

In einem ersten Schritt wurden insgesamt 17 Kommunikationskanäle identifiziert, deren Eigenschaften durch Interviews mit den jeweils Verantwortlichen herausgearbeitet werden konnten. Diese sind im Detail beschrieben und beinhalten sowohl die Kommunikationskanäle von den zentralen Organisationseinheiten zu den weltweiten Vertriebsorganisationen als auch Kommunikationskanäle, die nur von der deutschen Vertriebsorganisation für den deutschen Markt genutzt werden.258 Aufbauend auf dieser Identifikation und Beschreibung wurden insgesamt 18 Interviewpartner in 4 Werkstätten im deutschen Markt bezüglich der von ihnen tatsächlich genutzten Kommunikationskanäle befragt. Die Interviewpartner wurden entsprechend der Zielsetzung aus den drei definierten Zielgruppen Werkstattpersonal, Meister/Service Berater und Service Leitung gewählt. Bei den Werkstätten handelte es sich um eine große Niederlassung, eine mittlere Niederlassung und zwei kleinere Autohäuser. Hierdurch konnte gewährleistet werden, dass nicht nur die definierten Zielgruppen, sondern auch verschiedene

257 258

Die hier relevanten Abteilungen der zentralen Serviceprganisation arbeiten sehr entwicklungsnah. Da der deutsche Markt eine hohe Relevanz für OEM A hat, wurden die spezifischen Kommunikationskanäle der deutschen Vertriebsorganisation zuätzlich zu den global eingesetzten Kommunikationskanälen analysiert.

3.4 Fallstudie 2: Transfer von neuen Methoden an Servicestützpunkte

107

Strukturen in den Werkstätten Berücksichtigung fanden. Weiterhin wurden unterschiedliche Profile des Werkstattpersonals im Hinblick auf den Spezialisierungsgrad berücksichtigt. Dies ist relevant, da es sich in kleineren Werkstätten eher um Generalisten und in größeren Werkstätten eher um Spezialisten handelt. Generalisten haben ein breites Wissen über das Gesamtfahrzeug und Spezialisten haben ein sehr tiefes Wissen in bestimmten Teildisziplinen.259 Aus der Identifikation und Beschreibung wurde in einem zweiten Schritt eine Entscheidungsmatrix generiert, welche Grundlage für eine systematische und zielgruppensensitive Auswahl der anzuwendenden Kommunikationskanäle bildete. Diese Entscheidungsmatrix wird im Rahmen dieser Fallstudie anhand eines realen Beispielprojekts erläutert. Die aus den Untersuchungsergebnissen abzuleitenden verallgemeinerbaren Erkenntnisse werden im Anschluss zusammengefasst.

3.4.2

Kommunikationskanäle im Detail

Die identifizierten Kommunikationskanäle können in vier Gruppen unterteilt werden. Zu nennen sind Aktivitäten von der zentralen Schulungseinheit, direkte Werkstattinformationen, Newsletter und messeartige Veranstaltungen. Eine detaillierte Illustrierung der zu diesen Gruppen gehörenden Kommunikationskanäle wird im Folgenden gegeben.

3.4.2.1

Zentrale Schulungseinheit

Die zentrale Schulungseinheit ist für Trainingskonzepte und -strategien sowie deren Umsetzung und Qualitätssicherung verantwortlich. Trainingskonzepte werden in enger Zusammenarbeit mit den Geschäftsbereichen und Vertriebsorganisationen erarbeitet und im Rahmen von Trainerfachtagungen an die Kollegen des weltweiten Trainingsnetzwerkes weitergegeben.260

Schulungsfernsehen Aufgrund der immer kürzer werdenden Produktlebenszyklen und einer ständig breiter und tiefer werdenden Produktpalette wurde erkannt, dass es alleine mit 259

260

In großen Niederlassungen gibt es beispielsweise Spezialisten, die sich nur mit Telematikumfängen als Teilgebiet der Elektronik beschäftigen. In kleineren Autohäusern werden von einem Mitarbeiter alle Elektronikumfänge bedient. Dieses Netzwerk besteht aus 800 Trainern in 90 dezentralen Trainingscentern. Auf diese Weise werden jährlich über 185.000 Teilnehmer aus verschiedensten Zielgruppen in 70 Ländern qualifiziert.

108

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

konventionellen Trainingsmethoden nicht mehr möglich ist, das wachsende Volumen an technischen Informationen schnell genug zu kommunizieren. Daher musste ein Weg gefunden werden, der es insbesondere dem Service-Training ermöglicht, schnell, effizient und flächendeckend Know-how an die Mitarbeiter zu vermitteln. Es wurden Überlegungen angestellt, das bestehende Verhältnis Trainer zu Teilnehmer (1:15) über Distance Learning wesentlich zu verbessern (1:50, 1:100, 1:300). Die Lösung ist ein interaktives Schulungsfernsehen, das als Telekooperationssystem den flächendeckenden Wissenstransfer via Satellit ermöglicht. Das Kernstück dieses Schulungsfernsehens bildet ein hauseigenes Studio. Von dort werden Bild und Ton digital verschlüsselt via Satellit flächendeckend gleichzeitig an mehrere angeschlossene Empfangsstationen der Außenorganisation gesendet. Für die Sendeabwicklung steht ein professionelles Studioteam zur Verfügung, das ausschließlich im Live-Betrieb agiert. Die ausgestrahlten Sendungen sind mit traditionellen Fernseh-Magazinsendungen vergleichbar, in denen Moderatoren den Teilnehmern sachliche Inhalte für ihre tägliche Arbeit vermitteln. Durch einen Rückkanal haben die Teilnehmer jedoch im Unterschied zu normalen FernsehMagazinsendungen die Möglichkeit, direkt mit dem Moderator im Studio zu kommunizieren. Somit ist ein Dialog zwischen Moderator und Teilnehmer gewährleistet, der von allen anderen Teilnehmern in den verteilten Empfangsstationen verfolgt werden kann.261 Die Sendungen können in bis zu 5 Sprachen simultan übersetzt und ausgestrahlt werden. Das europäische Netzwerk umfasst 33 Länder mit mehr als 104 Stationen und wird stetig ausgebaut. Der angenehme Nebeneffekt für die Mitarbeiter ist, dass sie nicht mehr so häufig zu zentralen Schulungen reisen müssen, sondern interaktiv am Fernsehbildschirm im zugehörigen Schulungsraum lernen können. Ist beispielsweise die Reparatur eines Motors Gegenstand der Schulung, so steht der entsprechende Motorblock sowohl im Sendestudio als auch in den angeschlossenen Schulungsräumen oder Werkstätten. Ein Technik-Experte im Sendestudio beschreibt dann die Besonderheiten des Motors, was von den Mitarbeitern in der Außenorganisation verfolgt werden kann. Eingesetzt wird das Schulungsfernsehen insbesondere für Schulungen bei der Markteinführung von neuen Fahrzeugbaureihen sowie für Schulungen bei Änderungen und Neuerungen nach der Markteinführung. Die üblicherweise als Tagesveranstaltung organisierten Live-Sendungen finden mehrmals zu einem 261

Schulungsfernsehen ähnelt Videokonferenzen, wobei sich die Schulungsteilnehmer, die in verschiedenen Empfangsstationen sitzen, nicht sehen.

3.4 Fallstudie 2: Transfer von neuen Methoden an Servicestützpunkte

109

Thema statt, sodass der gewünschte Abdeckungsgrad gewährleistet werden kann. Weiterhin werden im Rahmen einer Technikstunde allgemeine technische Themen behandelt und es können situationsspezifische Sondersendungen produziert werden. Die interaktiven Sendungen werden in den Werkstätten als gutes Medium eingestuft. Zu erwähnen ist, dass gerade Praxisteile am Fahrzeug eine hohe Aufmerksamkeit finden. Obwohl die Zielgruppe bei diesem Medium frei wählbar ist, kann festgestellt werden, dass die Sendungen in dem untersuchten Kontext primär von Meistern, Service Beratern und teilweise von der Service-Leitung genutzt werden. Ausgewählte Schulungen über diesen Kommunikationskanal sind im deutschen Markt verpflichtend für mindestens einen Teilnehmer pro Werkstatt. Das operativ am Fahrzeug tätige Werkstattpersonal nutzt diesen Kommunikationskanal hingegen kaum.262

Face-to-Face-Schulungen Trotz der neuen Kommunikationsmöglichkeiten wie Schulungsfernsehen werden die nicht vollständig zu ersetzenden Face-to-Face-Schulungen nach Aussage der Interviewpartner weiterhin eine starke Säule bilden. Face-to-Face-Schulungen für das Werkstattpersonal finden entweder direkt im Trainingszentrum in der Zentrale oder in dezentralen Trainingscentern statt. Unterschieden werden können Markteinführungsschulungen für neue Fahrzeugbaureihen und spezielle fahrzeugbezogene Schulungen (im Bereich E/E beispielsweise steuergerätespezifisch), die unabhängig von der Markteinführung einer Fahrzeugbaureihe sind. Die Schulungen werden jeweils modular und differenziert nach dem Kompetenzniveau des Werkstattpersonals durchgeführt. Wie bei den oben genannten Fernsehsendungen gibt es auch hier Pflichtveranstaltungen, die innerhalb des deutschen Marktes von mindestens einem Teilnehmer pro Werkstatt pro Jahr besucht werden müssen. Andere Märkte haben ebenfalls bestimmte Schulungsquoten. Ergänzt werden die Face-to-Face-Schulungen bereits heute durch Computer-Based-Training.263 Über die zuvor genannten fahrzeugspezifischen Schulungen hinaus werden Trainingsbausteine im Hinblick auf Grundlagenschulungen für OEM A-spezifische IT-

262

263

Dies ist dadurch begründet, dass für diese Zielgruppe spezifische Face-to-Face-Schulungen zu den entsprechenden Themen durchgeführt werden. Siehe zu Computer Based Training beispielsweise Kerres (2001, S. 14).

110

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Systeme in der Außenorganisation entwickelt.264 Zur Verbreitung des Trainingswissens werden Trainerfachtagungen durchgeführt. Hier kommen Trainer aus verschiedenen Märkten zusammen, welche nach dem Prinzip Train-theTrainer265 von den Erstellern der Trainingsbausteine geschult werden. Zielgruppe der Face-to-Face-Schulungen ist das Werkstattpersonal, welches das erlernte Wissen in der täglichen Arbeit anwenden muss. Die Face-to-FaceSchulungen werden von dem Werkstattpersonal positiv bewertet, da sie sich Zeit für ein spezielles Thema nehmen können und nicht von dem Tagesgeschäft abgelenkt werden. In Bezug auf die Grundlagenschulungen ist zu bemerken, dass diese insbesondere bei dem Rollout von servicerelevanten IT-Systemen eine wichtige Rolle spielen und dann auch weltweit bestimmte Schulungsquoten vorgegeben sind. Für den Fall, dass IT-Systeme bereits länger in Werkstätten im Einsatz sind, wird, gerade wenn es sich um ein freiwilliges Training handelt, häufig auf eine Schulung verzichtet. Dies ist darin begründet, dass das Wissen ohnehin in der entsprechenden Werkstatt vorhanden ist und somit während der täglichen Arbeit Face-to-Face von erfahrenen an neue Anwender weitergegeben werden kann. Face-to-Face-Schulungen sind im Vergleich zu anderen Schulungsmethoden kostenund zeitintensiver. Der hiermit verbundene bessere Wissenstransfer sollte dies nach Ansicht der Interviewpartner jedoch deutlich überkompensieren und in etlichen Bereichen zu einem besseren Kosten-Nutzen-Verhältnis führen. Weiterhin sei es wichtig, die Vorteile von Face-to-Face-Schulungen gerade an die Vertriebsorganisationen und die verbundenen Werkstätten zu kommunizieren, wobei darauf hingewiesen wurde, dass gegebenenfalls die Motivation für solche Schulungen durch ein flankierendes Anreizsystem erhöht werden kann.

Lunch & Meet für Diagnosetechniker Im Bereich des Werkstattpersonals verfügen die nach der in Europa erlassenen Gruppenfreistellungsverordnung (im Folgenden abgekürzt als GVO) zertifizierten Diagnosetechniker im Hinblick auf die Fahrzeugdiagnose das höchste Qualifizierungsniveau. Sie sind für die Ausführung komplexer Fehlerdiagnosen zuständig und unterstützen ihre Kollegen in der Werkstatt. Für diese Zielgruppe wurde mit Lunch & Meet eine neue Veranstaltung, die im Rahmen der Face-to-FaceMarkteinführungsschulung stattfindet, eingeführt. 264

265

Hierzu gehört beispielsweise das im weiteren Verlauf dieser Fallstudie beschriebene Informationssystem HELP. Siehe zu Train-the-Trainer Konzepten beispielsweise Zink (1997).

3.4 Fallstudie 2: Transfer von neuen Methoden an Servicestützpunkte

111

Entsprechend der Bezeichnung Lunch & Meet startet diese Veranstaltung jeweils mit einen gemeinsamem Mittagessen, an dem Diagnosetechniker und Ingenieure der zentralen Serviceorganisation zusammenkommen. Hierdurch wird ein direkter Faceto-Face-Kontakt zwischen den Entwicklern und Anwendern von Diagnosesystemen in lockerer Atmosphäre geschaffen. Nach dem gemeinsamen Mittagessen finden kurze Vorträge zu aktuellen Themen sowie zukünftigen Technologien und Systemen aus der zentralen Serviceorganisation statt.266 Abgerundet wird die Veranstaltung durch eine Diskussionsrunde, in der ein informeller Austausch stattfindet. Mit Lunch & Meet können alle zertifizierten Diagnosetechniker des deutschen Marktes im Rahmen der für sie verpflichtenden Markteinführungsschulungen erreicht werden.267 Neben der reinen Informationsvermittlung dient dieser Kommunikationskanal insbesondere dem Erfahrungsaustausch und als Feedbackkanal. So können die Diagnosetechniker ihre Erfahrungen bei der Anwendung der Diagnosesysteme direkt auf informelle Weise an die entsprechenden Entwickler zurückspiegeln, sodass diese mehr von dem eigentlichen Anwendungskontext, in dem das von ihm mitentwickelte System genutzt wird, erfahren. Weiterhin können Entwickler vor der Markteinführung von neuen oder weiterentwickelten Diagnosesystemen diese den Diagnosetechnikern vorstellen und gegebenenfalls Änderungs- oder Ergänzungswünsche aufnehmen. So können potenzielle Probleme frühzeitig erkannt und noch vor der Markteinführung beseitigt werden.

3.4.2.2

Werkstattinformationen

Unter Werkstattinformationen werden Kommunikationskanäle verstanden, über die servicerelevante Informationen an die jeweiligen Vertriebsorganisationen oder direkt an deren Werkstätten weitergegeben werden (keine Schulungen). Dies sind Dokumente (Technical Service Bulletins), Hilfemenüs im Diagnosesystem, Hotlines (1st Level Support), Key Account Manager und IT-Systeme mit tagesaktuellen Inhalten (HELP).

266

267

Entsprechend dem hohen Ausbildungsniveau der Diagnosetechniker werden in den Vorträgen auch technische Details angerissen. Nach dem GVO-Standard muss jede Werkstatt über einen zertifizierten Diagnosetechniker verfügen.

112

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Technical Service Bulletins Technical Service Bulletins sind Dokumente, die aktuelle Informationen für Werkstätten enthalten. Diese können vorab per E-Mail versendet werden (mindestens ein Empfänger pro Werkstatt) und sind in jedem Fall in dem zugehörigen Serviceinformationssystem, das dem gesamten Werkstattpersonal zugänglich ist, enthalten. Um den Versandprozess zu steuern und eine einheitliche Formatierung zu gewährleisten, werden die Technical Service Bulletins von einer bestimmten Stelle der zentralen Serviceorganisation gebündelt. Die Technical Service Bulletins erreichen üblicherweise die Service-Leitung, die Service Berater und Meister sowie teilweise auch die Gruppenführer des Werkstattpersonals. Eine Verteilung an das operativ an den Fahrzeugen tätige Werkstattpersonal erfolgt zumeist dezentral in den Werkstätten. Bei der Nutzung dieses Kommunikationskanals muss nach Aussage der Interviewpartner darauf geachtet werden, dass nicht zu viele Technical Service Bulletins pro Tag versendet werden, da die Mitarbeiter in den Werkstätten nur eine begrenzte Informationsverarbeitungskapazität268 besitzen und darüber hinaus nur einen kleinen Teil ihrer gesamten Arbeitszeit zum Lesen dieser Dokumente zur Verfügung haben. Daher wurde darauf hingewiesen, dass die Inhalte so aufgearbeitet sein sollten, dass sie schnell nachvollziehbar sind und nur die notwendigsten Informationen beinhalten. Auf detailliertere Informationen, die gegebenenfalls zu späteren Zeitpunkten benötigt werden, sollte entsprechend verwiesen werden.

Hilfemenüs Das in den Werkstätten eingesetzte Diagnosesystem enthält Hilfemenüs, die von den Nutzern nach Bedarf aufgerufen werden können. Hier stehen in verschiedenen Menüebenen (Sparte/Baureihe etc.) Hilfetexte zur Verfügung, die auf Änderungen und Neuerungen aufmerksam machen. Diese Texte können mit verschiedenen Dokumenten verlinkt sein, sodass je nach Bedarf Detailinformationen abgerufen werden können. Da nur die Nutzer des Diagnosesystems erreicht werden, ist dieser Kommunikationskanal auf die Zielgruppe Werkstattpersonal ausgerichtet. Es zeigt sich, dass dieser Kommunikationskanal von dem Werkstattpersonal nur bei Bedarf genutzt wird. Das heißt, dass das Werkstattpersonal nur dann aktiv nach Hinweistexten oder Änderungen sucht, wenn ein neuartiges Problem vorliegt, welches sie nicht mit ihrem bisherigen Wissen lösen können. Ein Ansehen dieser Informationen aus reinem Interesse findet nicht statt. 268

Siehe zu beschränkten Informationsverarbeitungskapazitäten Simon (1976).

3.4 Fallstudie 2: Transfer von neuen Methoden an Servicestützpunkte

113

In Gesprächen mit dem Werkstattpersonal und während der Veranstaltung Lunch & Meet konnte in Erfahrung gebracht werden, dass automatische Hinweisscreens mit Lesebestätigung und einem zugehörigen dauerhaften Informationsmenü aus Sicht des Werkstattpersonals eine sinnvolle Ergänzung sind.269 Weiterhin wurde ausgesagt, dass die Hinweise so angezeigt werden sollten, dass sie genau an dem Arbeitsschritt an dem sie benötigt werden (Point-of-Use) erscheinen. So sollte beispielsweise eine Information über eine Änderung bei der Diagnose im Motorsteuergerät einer bestimmten Baureihe nur dann angezeigt werden, wenn sich das Werkstattpersonal im Menü dieser Baureihe befindet und eine Diagnose des Motorsteuergeräts durchführen möchte. Um eine Nutzung dieses Kommunikationskanals sicherzustellen, ist es nach Meinung der Interviewpartner erforderlich, dass die dort hinterlegten Informationen jeweils aktuell und leicht nachvollziehbar sind. Falls Anwender mehrfach gute Erfahrungen machen, so werden sie nach Einschätzung der Experten in Zukunft häufiger auf diese Inhalte achten. Falls die genannten Kriterien erfüllt werden können, ist dieser Kommunikationskanal nach Aussagen des Werkstattpersonals der wertvollste, um die Anwender zu informieren.270

1st Level Support Der 1st Level Support ist ein weltweit zuständiges Call Center, das den Werkstätten bei Problemen mit dem Diagnosesystem zur Verfügung steht. Seltene technische Probleme, die nicht von dem 1st Level Support gelöst werden können, werden an einen Experten in der zentralen Serviceorganisation (2nd Level Support) weitergeleitet. Dieser nimmt gegebenenfalls direkt persönlich telefonischen Kontakt mit der betroffenen Werkstatt auf und kann für eine schnelle bilaterale Behebung des Problems sorgen. Die gewonnenen Erkenntnisse werden im Anschluss an den 1st Level Support weitergeben, sodass dieser bei erneutem Auftreten des Problems in einer anderen Werkstatt sofort helfen kann. Der 1st Level Support wird von dem Werkstattpersonal sowie den Meistern genutzt und meistens bei Hardwareproblemen (Keine Verbindung vom Diagnosegerät zum Fahrzeug etc.) kontaktiert. Bei Fragen zu den Arbeitsabläufen bei der Durchführung von Diagnosesitzungen spielt dieser Kommunikationskanal eine untergeordnete 269

270

Der automatische Hinweisscreen mit Lesebestätigung wurde im Nachgang an die Veranstaltung Lunch & Meet umgesetzt. Dies wird allerdings nur dann der Fall sein, wenn die Informationen genau auf das hochpersonalisierte Problem des Nutzers zugeschnitten sind. Dass dies regelmäßig nicht der Fall ist beschreibt Wilson (1994, S. 32). Siehe hierzu Kapitel 2.2.1.3.

114

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Rolle. Für diese Fälle stehen differenziert nach Märkten weitere Hotlines zur Verfügung. Als Vorteil von Hotlines im Vergleich zu rein textuellen Informationen wurde angegeben, dass bei Verständnisproblemen Rückfragen gestellt werden können. Hierdurch kann nach Meinung der Interviewpartner auch bei neuen Problemen, für die in IT-Systemen keine maßgeschneiderte Lösung vorgeschlagen ist, durch den Dialog leichter eine Abhilfe geschaffen werden. Darüber könne eine Hotline einen essenziell wichtigen Feedbackkanal darstellen. Die Nutzung der Hotline hängt nach Einschätzung der Befragten stark von der Erreichbarkeit und ihrer Problemlösungskompetenz ab, wobei Hotlineanrufe für bestimmte Fragestellungen erzwungen werden können.271 Damit nicht mehrere Personen aus derselben Werkstatt zu ein und demselben Problem bei der Hotline anrufen, wurden in den Werkstätten so genannte Multiplikatoren definiert, wobei mindestens ein Multiplikator pro Werkstatt existiert. Ein Anruf bei einer Hotline darf nur durch einen Multiplikator durchgeführt werden. Dies hat zur Folge, dass dieser zunächst zu allen offenbar hotlinerelevanten Themen angesprochen werden muss. Somit ist der Multiplikator in der Werkstatt über alle bisherigen Hotline-Calls informiert und kann bereits bekannte Problemlösungen an andere Mitarbeiter kommunizieren.

Key Account Management Da die Vertriebsorganisationen ihrerseits bestimmte Kommunikationskanäle zur Information ihrer Werkstätten haben, ist es unerlässlich diese zentral über Innovationen im Diagnoseumfeld zu informieren. Neben der reinen Dokumentenform, wie sie unter dem Kommunikationskanal Technical Service Bulletins beschrieben wurde, existiert bei der zentralen Serviceorganisation jeweils ein Key Account Manager für die wichtigsten Vertriebsorganisationen. Diesen Key Account Managern steht jeweils ein Ansprechpartner aus den Vertriebsorganisationen gegenüber. Durch die Einführung des Key Account Managements kann ein nach Einschätzung der interviewten Experten ein engerer Kontakt von der zentralen Serviceorganisation zu den Märkten gehalten werden als dies bei einer Information lediglich über Dokumente der Fall wäre. Als wichtiger Faktor wurde in diesem Zusammenhang genannt, dass die Personen an der Schnittstelle jeweils gut in ihrem Bereich vernetzt 271

Hierzu können beispielsweise ausschließlich von der Hotline vergebene und zur Ausführung des nächsten Arbeitsschritts notwendige Freigabenummern eingesetzt werden.

3.4 Fallstudie 2: Transfer von neuen Methoden an Servicestützpunkte

115

sein müssen. Da das Key Account Management neben der sachlichen auch eine persönliche Komponente umfasst, liegt es daher nach Meinung der Interviewpartner im Geschick der Beteiligten eine Vertrauensbasis untereinander aufzubauen, sodass eine reibungsfreie Zusammenarbeit gewährleistet wird.

HELP HELP ist ein auf Internettechnologie basierendes durchgängiges IT-System für den weltweiten Austausch von technischen Informationen und Lösungen über alle Servicestufen. Mit HELP stehen den Märkten, der Zentrale und den weltweiten Partnern technische Informationen in Form von elektronischen Dokumenten online zur Verfügung. Recherchen über Symptome,272 Freitextsuche oder Fehlercodes in tagesaktuellen Informationen gehören genauso zur HELP Funktionalität wie die traditionelle Suche über Konstruktionsgruppen. In den Werkstätten wird HELP vorzugsweise von den Meistern sowie dem Werkstattpersonal genutzt. Diese bestätigen, dass mithilfe von HELP bereits vielen Kunden schnell und kompetent geholfen und zeitaufwändigere Hotline-Anrufe von vornherein vermieden werden konnten. Diese Nützlichkeit von HELP wird durch stetig steigende Zugriffszahlen nachgewiesen. Üblicherweise wird HELP bei Bedarf intensiv zur Suche nach spezifischen Informationen zu aktuellen Fahrzeugproblemen genutzt. Durch die gute Resonanz in den Werkstätten werden neue Dokumente teilweise von dem Werkstattpersonal aus Interesse gelesen, ohne dass sie gerade auf der Suche nach einer bestimmten Information sind. Dies lässt vermuten, dass ein IT-System umso häufiger genutzt wird, je mehr positive Erfahrungen mit diesem gesammelt wurden. HELP wurde nach der Einführung innerhalb kurzer Zeit ein sehr stark genutztes Tool in den Werkstätten. Um die Motivation der Informationssuchenden zur Nutzung weiterhin hoch zu halten, ist es nach Aussagen der Betreiber wichtig, dass die entsprechenden Informationen in Zukunft weiterhin in der für die Anwender gewohnten Form bereitgestellt werden. Es wurde darauf hingewiesen, dass ein so gut funktionierender Kommunikationskanal geradezu verleitet, noch viele weitere Informationen einzustellen. Es muss allerdings nach Aussage der Betreiber darauf

272

Symptome können beispielsweise im Rahmen von Kundenbeanstandungen beschrieben werden: „Mein Motor klappert bei…“.

116

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

geachtet werden, dass der eigentliche Kernnutzen nicht verwässert und der Kommunikationskanal nicht mit anderen Themen überfrachtet wird.273 Soll ein Dokument in HELP eingestellt werden, erhält jede Vertriebsorganisation von der Zentrale eine so genannte Global-Information. Es besteht zum einen die Möglichkeit, die Global-Information direkt an die Anwender des Marktes weiterzuschalten. Zum anderen gibt es Situationen, bei denen Vertriebsorganisationen eine Global-Information in eine Local Information umwandeln, um so Spezifika des jeweiligen Markts besser berücksichtigen zu können.

3.4.2.3

Newsletter

Mit Newsletter werden nachstehend Kommunikationskanäle beschrieben, die im Rahmen einer Kurzinformation auf aktuelle Themen hinweisen. Neben dem Intranetauftritt der zentralen Serviceorganisation werden mit der Service Technik und der Service News zwei Zeitungen vorgestellt.

Service Technik Die Service Technik ist eine Zeitung der deutschen Vertriebsorganisation mit einem Umfang von 4-8 Seiten für Mitarbeiter im After Sales. Mit dieser Zeitung werden innerhalb Deutschlands insgesamt 40.000 Mitarbeiter in Papierform persönlich erreicht. Darüber hinaus erscheint seit 2004 ergänzend eine Online-Ausgabe. Die Service Technik erscheint normalerweise sechsmal pro Jahr und hat üblicherweise zwei zusätzliche Sonderausgaben, die zu speziellen Themen wie beispielsweise zur Internationalen Automobilausstellung aufgelegt werden. Die Service Technik kann sowohl von der Vertriebsorganisation als auch von der Zentrale als Kommunikationskanal genutzt werden. Um die Sprache der Zielgruppe zu treffen, werden alle Artikel von der Redaktion überarbeitet und auf die entsprechenden Erfordernisse angepasst. Auswahlkriterien zur Veröffentlichung eines Artikels sind der Informationsgehalt für die Zielgruppe sowie die Aktualität und die bisherige Kommunikation zu dem vorgeschlagenen Thema. Laut Redaktionsumfragen lesen ca. 70-80% der Zielgruppe die Service Technik. In der Analyse in den Werkstätten konnte ebenfalls festgestellt werden, dass die Service Technik tatsächlich häufig durchgeblättert wird und die für die jeweiligen Personen 273

In den Interviews wurde angegeben, dass bereits zusätzliche Informationen aufgenommen wurden, die wieder entfernt werden sollen, um den Fokus des Kommunikationskanals auf dem Kernnutzen zu halten.

3.4 Fallstudie 2: Transfer von neuen Methoden an Servicestützpunkte

117

interessanten Artikel gelesen werden. Somit erscheint dieser Kommunikationskanal dafür geeignet, auch über Innovationen im Kontext Diagnosesysteme zu berichten. Ziel bei diesem Medium muss es nach Aussage der Interviewpartner sein, Aufmerksamkeit und Interesse für ein Thema zu wecken sowie Hinweise auf detailliertere Informationsquellen, die im Nachgang genutzt werden können, zu geben.274

Service News Die Service News ist ebenfalls eine interne Zeitung, die sowohl in Papierform als auch elektronisch erscheint. Hier finden sich Informationen zu Veranstaltungen, zur Organisation, zu Personen sowie zu Strategien und Konzepten im After Sales. Die Service News erscheint viermal im Jahr und beinhaltet Artikel, die gleichzeitig in Deutsch und in Englisch abgedruckt sind. Erreichbare Zielgruppen sind Mitarbeiter der zentralen Serviceorganisation sowie der weltweiten Vertriebsorganisationen. Die Service News hat eine etwas anders gelagerte Zielgruppe als die Service Technik und ist ein gutes Medium zur Kommunikation von radikalen Innovationen. Marketingaspekte stehen klar im Vordergrund, wobei technische Aspekte eher weniger detailliert beleuchtet werden. Bei der Analyse konnte festgestellt werden, dass die Service News aufgrund ihrer Zielgruppenorientierung in den Werkstätten, außer vereinzelt bei der Service Leitung, kaum bekannt ist. Hingegen wird die Service News intensiv bei der Hauptzielgruppe, dem Management der zentralen Serviceorganisation, genutzt. Dies zeigt, wie wichtig die Zielgruppenorientierung bei der Auswahl der Kommunikationskanäle ist.

Intranet der zentralen Serviceorganisation Innerhalb des untersuchten OEM A hat jeder Bereich die Möglichkeit, einen eigenen Intranetauftritt anzubieten. So stellt auch die zentrale Service Organisation Informationen zu verschiedensten Themenstellungen wie beispielsweise Veranstaltungen und aktuellen Projekten ein. Zugriff auf diese Seiten haben alle Mitarbeiter des OEM A sowie die weltweite Vertriebsorganisation. Die Analyse hat ergeben, dass dieser Kommunikationskanal innerhalb der zentralen Service Organisation genutzt wird, in den Werkstätten aber bisher kaum bekannt ist. Dies liegt unter anderem daran, dass die Mitarbeiter in vielen Fällen noch keinen 274

Dies zeigt, wie wichtig die Zielgruppenorientierung bei der Auswahl eines Kommunikationskanals ist.

118

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

physikalischen Zugang zu diesem Medium haben. Auch wenn der Zugang für die einen Mitarbeiter, wie beispielsweise in der zentralen Serviceorganisation, eine Selbstverständlichkeit ist, kann dies bei anderen Mitarbeitern, wie beispielsweise in den Werkstätten, nicht vorausgesetzt werden. Dies zeigt, dass bei der Auswahl von Kommunikationskanälen geprüft werden muss, wer tatsächlich Zugang zu diesen hat. Angemerkt wurde seitens der Betreiber dieses Kanals, dass es bei dem Einstellen neuer Inhalte sinnvoll sein kann, die gewünschte Zielgruppe per E-Mail punktuell über Neuerungen im Intranet zu informieren. So könne bei definierten Neuerungen ein Reiz gesetzt werden, den Kommunikationskanal zu verwenden.275

3.4.2.4

Messen

Bei den nachfolgend erläuterten Kommunikationskanälen handelt es sich um mehrtägige, messeartige Veranstaltungen, die sowohl dem Ziel der Informationsweitergabe als auch des Erfahrungsaustauschs dienen. Es wird mit den Technik Treffen eine für alle Vertriebsorganisationen offene Veranstaltung erläutert, bevor mit dem Technischen Erfahrungsaustausch und der Service Messe zwei speziell für den deutschen Markt konstruierte Treffen aufgegriffen werden.

Technik Treffen Die Technik Treffen sind eine von der zentralen Serviceorganisation organisierte, quartalsweise stattfindende, mehrtägige Veranstaltungsreihe zum Erfahrungsaustausch mit den Vertriebsorganisationen der verschiedenen Märkte. Während der Veranstaltung finden hauptsächlich Vorträge von Mitarbeitern der zentralen Serviceorganisation zu verschiedenen aktuellen fahrzeugbezogenen Themengebieten mit anschließender Diskussion statt. Obwohl zum größten Teil europäische Märkte vertreten sind, entsenden auch viele weitere Märkte Mitarbeiter zu dieser Veranstaltung. Dies sind in der Regel Kundendienstinspektoren, die über sehr hohe Kompetenzen im Bereich technischer Fragestellungen im Service verfügen. Sie beraten die Werkstätten ihres Marktes bei komplizierten technischen Sachverhalten und sorgen gegebenenfalls auch für eine Vor-Ort-Betreuung in den Werkstätten. Sie haben also keine klassische Hotlinefunktion inne, da ihre Beratung über die telefonische Betreuung hinausgeht.

275

Im gleichen Atemzug wurde genannt, dass eine zu häufige Information per E-Mail kontraproduktiv sein kann, da dann die Gefahr besteht, dass das Interesse der potenziellen Nutzer sinkt.

3.4 Fallstudie 2: Transfer von neuen Methoden an Servicestützpunkte

119

Die Technik Treffen bieten nach Aussage der Veranstalter für die zentrale Serviceorganisation über die reine Informationsweitergabe hinaus insbesondere die Möglichkeit, ein Feedback von Experten zu aktuellen Themen aus den verschiedenen Märkten einzuholen. Weiterhin wurde darauf hingewiesen, dass sich die Teilnehmer zwischen und nach den Vorträgen sowohl untereinander vernetzen als auch ein persönliches Verhältnis zu den Referenten der zentralen Serviceorganisation aufbauen können.276

Technischer Erfahrungsaustausch Der Technische Erfahrungsaustausch ist eine messeartige Veranstaltungsreihe im deutschen Markt mit Teilnehmern aus der Werkstattorganisation. Im Gegensatz zu der nachfolgend erläuterten Service Messe stehen technische Themen im Vordergrund. Im Rahmen von Vorträgen in verschiedenen Foren werden servicerelevante Änderungen und Neuerungen vorgetragen und zur Diskussion gestellt. Bei dem Technischen Erfahrungsaustausch können nach Aussage der Interviewpartner in informeller Weise Erfahrungen zwischen Vortragenden (beispielsweise aus der zentralen Serviceorganisation) und Teilnehmern ausgetauscht sowie Verbesserungsvorschläge eingeholt werden. Hierdurch soll eine Plattform zur Bildung eines gemeinsamen Verständnisses unterschiedlicher Bereiche geboten werden. Weiterhin soll eine Vernetzung zwischen den Teilnehmern in informeller Atmosphäre stattfinden. Die Befragung in den Werkstätten ergab, dass der Technische Erfahrungsaustausch als sehr gutes Medium angesehen wird, was sich auch in einer stetig steigenden Teilnehmerzahl seit Einführung dieser Veranstaltungsreihe widerspiegelt. Angesprochen werden von dieser Veranstaltung sowohl Service-Leitung als auch Teammeister und Werkstattpersonal. Für den Wissenstransfer entscheidend ist bei dieser Veranstaltung nach Meinung der Interviewpartner, dass sehr viele Multiplikatorenaus den Werkstätten vertreten sind. Es wurde darauf hingewiesen, dass diese das notwendige Expertenwissen besitzen und die Probleme in der Werkstatt am besten kennen, da sie bei allen hotlinerelevanten Fällen angesprochen werden müssen. Hierdurch werden sie geeignete Ansprechpartner für die Vortragenden zur Einholung eines Feldfeedbacks 276

Von den Interviewpartnern wurde angegeben, dass die persönlichen Kontakte auch zwischen den Veranstaltungen genutzt werden, um Feedback aus den Märkten zu erhalten.

120

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

eingeschätzt. Weiterhin sind sie durch ihre Rolle als Multiplikator nach Aussage der Interviewpartner geradezu prädestiniert, das auf dieser Veranstaltung erworbene Wissen in ihrer Werkstatt weiterzugeben.277

Service Messe Die Service Messe ist eine große, alle zwei Jahre stattfindende Messe der deutschen Vertriebsorganisation, bei der ein internationales Publikum und teilweise auch Lieferanten anwesend sind. Hier findet beispielsweise eine Vorstellung von aktuellen Projekten und zukünftigen Systemen statt. Im Vordergrund stehen strategische Themen und Innovationen im Service Umfeld wie beispielsweise neue Diagnosesysteme. ´ Durch die strategische Ausrichtung wird die Service Messe vorzugsweise von der Service Leitung und Geschäftsführung der Servicestützpunkte besucht. Für diese Zielgruppe werden an den ersten beiden Messetagen geschlossene Strategieforen angeboten. An dem dritten und letzten Tag finden offene Publikumsveranstaltungen statt. Diese können auch von Teammeistern, Service Beratern und dem Werkstattpersonal besucht werden. Die Service Messe dient einerseits dem Marketing für Innovationen und andererseits zum Erfahrungsaustausch.

3.4.3

Ergebnisse der Analyse

Eine Nutzung von allen verfügbaren Kommunikationskanälen macht aus KostenNutzen Gesichtspunkten üblicherweise wenig Sinn. Daher ist es zwingend erforderlich, sich einen Eindruck darüber zu verschaffen, welche Zielgruppe welchen Kommunikationskanal für welchen Zweck nutzt. Daher wird im Folgenden die Auswahl der beschriebenen Kommunikationskanäle für ein reales Beispiel aufgezeigt. Hieran schließt sich eine Zusammenstellung der wichtigsten Erkenntnisse an. Zur Auswahl von Kommunikationskanälen wurde in dem Beispielprojekt eine Entscheidungsmatrix eingesetzt, die sowohl die Kommunikationskanäle als auch die zu erreichenden Zielgruppen enthält. Wie die Entscheidungsmatrix für den zugrunde liegenden Untersuchungsgegenstand im Detail aussieht, kann Abbildung 42 entnommen werden. Hier sind auf der linken Seite die beschriebenen Kommunikationskanäle aufgeführt und auf der rechten Seite ist der Nutzungsgrad

277

Siehe hierzu die Beschreibung von Multiplikatoren bei dem 1st level Support.

121

3.4 Fallstudie 2: Transfer von neuen Methoden an Servicestützpunkte

durch die jeweilige Zielgruppe abgebildet. Dieser stellt jeweils den Mittelwert aus den Ergebnissen der Werkstattbefragung dar.278 Service Leitung

Messen

Newsletter

Werkstattinformationen

Zentrale Schulungseinheit

Kommunikationskanal

Serviceberater/ Teammeister

Werkstattpersonal

9Schulungsfernsehen 9Face-to-Face Markteinführungsschulungen 9Face-to-Face ECU spezifische Schulungen Grundlagenschulungen

9Lunch & Meet für Diagnosetechniker Technical Service Bulletins

9Hilfemenüs 91st Level Support 9KeyAccount Management * 9HELP 9Service Technik Service News Intranet 9Technik Treffen** 9Technischer Erfahrungsaustausch Service Messe

Nutzung:

selten

Mittelwerte aus Werkstattbefragung

immer

häufig

* Nicht in Werkstattbefragung enthalten ** Zielgruppe sind Kundendienstinspektoren

soll

sinnvoll

9 geplant für Beispielprojekt

Abbildung 42: Entscheidungsmatrix zur Auswahl der Kommunikationskanäle

Die Ergebnisse zeigen, dass verschiedene Zielgruppen mit unterschiedlichen Kommunikationskanälen angesprochen werden sollten. Die Abstufungen in „soll“ und „sinnvoll“ geben schließlich eine Empfehlung zur Nutzung der Kanäle. Es ist darauf hinzuweisen, dass nicht nur die Interviewergebnisse aus den Werkstätten, sondern auch die Anmerkungen der für die Kanäle Verantwortlichen berücksichtigt wurden. Die schließlich für das Beispielprojekt ausgewählten Kanäle wurden mit einem Haken versehen. So ist beispielsweise Lunch & Meet für Diagnosetechniker als sinnvoll eingestuft, obwohl dieser Kommunikationskanal in der Werkstattbefragung aufgrund seiner Neuartigkeit verbunden mit der geringen Stichprobe zum Erhebungszeitpunkt bei den Interviewpartnern nicht bekannt war. Die Technik Treffen wurden ausgewählt, obwohl sie für die genannten Zielgruppen nicht direkt relevant sind. Dies ist darin begründet, dass diese Veranstaltung insbesondere an Kundendienstinspektoren gerichtet ist, die in ihrer Rolle als Multiplikator indirekt auch andere Zielgruppen informieren. Die Grundlagenschulungen und die Service Messe sind geeignete Kommunikations278

Aufgrund der geringen Anzahl von durchgeführten Befragungen stellt das Ergebnis keine repäsentative Stichprobe dar.

122

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

kanäle bei radikalen Innovationen wie beispielsweise der Einführung eines neuen Diagnosesystems. Für die Kommunikation kleinerer Änderungen wie in diesem Beispiel ist dies jedoch nicht der Fall. Service News und das Intranet der zentralen Serviceorganisation sind ebenfalls wertvolle Kommunikationskanäle, die jedoch eine andere Zielgruppe als die im Fokus stehende haben. Die in der Entscheidungsmatrix abgebildeten Befragungsergebnisse zeigen beispielhaft, wie wichtig es für den Sender ist, über die tatsächliche Nutzung von vorhandenen Kommunikationskanälen im Bilde zu sein. Nur wenn dies der Fall ist, kann eine effektive Auswahl und eine effiziente Nutzung von Kommunikationskanälen durch zielgruppenspezifische Inhalte gewährleistet werden.279

3.4.4

Schlussfolgerungen zur Auswahl von Kommunikationskanälen

Für alle Kommunikationskanäle scheint zu gelten, dass die Zielgruppenorientierung eine entscheidende Rolle spielt. Beispielsweise wurde gezeigt, dass Artikel in internen Zeitschriften auf Innovationen hinweisen und Interesse wecken können. Dies funktioniert entsprechend der vorangegangenen Ausführungen allerdings nur, wenn die Inhalte in einer von der Zielgruppe gut genutzten Zeitung in einem entsprechenden zielgruppenorientierten Format präsentiert werden. Face-to-Face-Schulungen und Face-to-Face-Kontakte wurden auch vor dem Hintergrund von neuen Kommunikationsmöglichkeiten als nicht wegzudenken eingestuft. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Face-to-Face-Schulungen in der vorangegangenen Fallstudie insbesondere für die Anwender von neuen Methoden ein unerlässlicher Bestandteil des Wissenstransfers sind. Distance Learning Methoden wie Schulungsfernsehen wurden als eher geeignet eingestuft, wenn die vermittelten Informationen nicht unmittelbar mit den Arbeitsabläufen der Empfänger verbunden sind.280 Erfahrungsaustausche, bei denen Entwickler und Anwender von Systemen oder Methoden Face-to-Face zusammen kommen, dienen in der Fallstudie dem Feedback, der Vernetzung und der Bildung eines gemeinsamen Verständnisses. Diese wurden insbesondere vor, während oder kurz nach Neueinführungen von Systemen oder Methoden als sinnvoll eingestuft. Ein Nutzen wurde in dem Feedback

279

280

Hier kann angemerkt werden, dass Personen, welche die entsprechenden Kommunikationskanäle nicht regelmäßig nutzen, häufig keine Transparenz über die erreichbare Zielgruppe haben. Siehe für einen Vergleich zwischen Face-to-Face-Kommunikation und Videokonferenzen Straus/McGrath (1994).

3.4 Fallstudie 2: Transfer von neuen Methoden an Servicestützpunkte

123

der Anwender zur Optimierung der Methode oder der Arbeitsabläufe gesehen. Weiterhin wurde genannt, dass die Entwickler so eine Möglichkeit haben, um mehr über den Anwendungskontext zu erfahren. Dokumente wie Technical Service Bulletins sollten entsprechend der Expertenmeinungen aufgrund der begrenzten Informationsverarbeitungskapazitäten281 der Mitarbeiter nur die notwendigsten Informationen enthalten. Diese sollten entsprechend der Fallstudie allerdings auf detailliertere Informationsquellen wie Hilfemenüs verweisen. Da Hilfemenüs nur bei Bedarf genutzt werden, wurde gezeigt, dass die dort hinterlegten Informationen direkt am Point-of-Use zur Verfügung gestellt werden sollten. Wie auch bei anderen Kommunikationskanälen scheinen Erfahrungswerte eine große Rolle zu spielen. So wurden Kommunikationskanäle häufiger genutzt wenn gute Erfahrungen in der Vergangenheit mit ihnen gemacht wurden. Hierzu tragen nach Experteneinschätzungen eine hohe Aktualität und eine leichte Verständlichkeit der hinterlegten Texte und Dokumente bei. Neue Arbeitsabläufe sollten daher Schritt für Schritt erläutert und gegebenenfalls mit Bildern, Screenshots oder Simulationen angereichert werden. Es wurde weiterhin gezeigt, dass Hotlines häufig zeitaufwendiger für die Nutzer sind als die Suche in IT-Systemen. Allerdings wurde als Vorteil genannt, dass in der Regel spezifischere Lösungen für das Problem des Nutzers vermittelt werden, insbesondere dann, wenn keine maßgeschneiderten Informationen im IT-System verfügbar sind. Bei Hotlines sollte entsprechend der Fallstudie eine hohe Verfügbarkeit in Verbindung mit einer hohen Problemlösungskompetenz sichergestellt sein, sodass die Nutzer geringe oder keine Wartezeiten haben und eine kompetente Hilfestellung für ihr Anliegen erhalten. Bei der Neueinführung von Systemen und Methoden wurden eher organisierte Faceto-Face-Schulungen als notwendig eingestuft. In späteren Phasen wird das Wissen zur Nutzung dieser Methoden und Systeme entsprechend der Fallstudie primär dezentral unter den Anwendern weitergeben. Es wurde erwähnt, dass die dezentrale Weitergabe des Wissens von erfahrenen Nutzern zu neuen Nutzern stark personenabhängig sein kann und eine Routinisierung von Standardprozessen in Verbindung mit Anreizsystemen vor diesem Hintergrund hilfreich sein kann.

281

Siehe zu beschränkten Informationsverarbeitungskapazitäten Simon (1976).

124 3.5

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Fallstudie 3: Geschäftsbereichsübergreifende Standardisierung

Die bereits in Fallstudie 1 angesprochene Thematik einer geschäftsbereichsübergreifenden Standardisierung zur Vermeidung von Insellösungen und der Maximierung des Methodennutzens wird anhand eines weiteren Beispiels erneut aufgegriffen und vertiefend analysiert. In den bisherigen Ausführungen wurde die Pilotierung und der Rollout von neuen Methoden ins Licht der Betrachtung gerückt. Im Gegensatz hierzu behandelt die nachfolgende Fallstudie den Wissenstransfer bei Standardisierungsbestrebungen vor dem Hintergrund existierender, jedoch konkurrierender Methoden in voneinander unabhängig gewachsenen Unternehmensbereichen.

3.5.1

Standardisierungsziele im Projekt Standard-E/E

Im Rahmen des Projekts Standard-E/E wurde bei einem großen OEM im Bereich Nutzfahrzeuge an einer gemeinsamen und markenübergreifenden E/E-Architektur282 gearbeitet. Ziel war es, durch eine gemeinsame E/E-Architektur eine maßgebliche Anzahl an E/E-Komponenten wie beispielsweise Steuergeräte zu standardisieren und somit Skalenvorteile realisieren zu können. Durch diese Aktivitäten wurde es erforderlich, gemeinsame Teststandards für die zugelieferten Komponenten zu definieren. Wie dies zwischen der deutschen Marke D und der amerikanischen Marke A ablief, soll im Rahmen dieser Fallstudie anhand ausgewählter Ereignisse berichtet werden. Durchführen sollte das Projekt ein deutscher Experte der konzerneigenen zentralen Forschung in Deutschland unter Einbeziehung des aus China stammenden E/ETestverantwortlichen bei Marke A in den USA. Neben den verschiedenen kulturellen und sprachlichen Hintergründen der beteiligten Personen ist zu erwähnen, dass Marke D und Marke A bis zu einem Merger getrennt voneinander gewachsen sind und auch teilweise über unterschiedliche Technologien und Prüftechnik verfügen.283 Die besondere Herausforderung bestand nun über die beschriebene Problematik hinaus darin, verschiedene landesspezifische Normen zu erfüllen. Hier sind zu nennen die amerikanischen SAE-Normen, die deutschen DIN-Normen und die europäisch geprägten ISO-Normen. Weiterhin sollten auch unternehmensinterne

282 283

Zu einer E/E-Architektur gehören beispielsweise Steuergeräte, Kabelsätze und Bussysteme. Siehe zu den Auswirkungen kultureller Barrierern Hofstede/Hofstede (2004) und O´HaraVevereaux/Johansen (1994).

3.5 Fallstudie 3: Geschäftsbereichsübergreifende Standardisierung

125

Normen von Marke D, die teilweise über die vorher genannten Normen hinausgehen, erfüllt werden.284

3.5.2

Kritische Ereignisse bei der Definition gemeinsamer Teststandards

Nachdem der deutsche Mitarbeiter den Auftrag zur Durchführung des oben beschriebenen Projekts bekam, erstellte er einen Foliensatz, in dem er die Aufgabenstellung und die Randbedingungen formulierte, sowie eine Vorgehensweise vorschlug. Um diese mit seinem Ansprechpartner in den USA abzustimmen, schickte er diesem eine E-Mail mit dem erstellten Foliensatz und der Bitte um Rückmeldung. Da er auch nach weiteren zwei E-Mails keine Antwort bekam, entschloss er sich, telefonisch Kontakt aufzunehmen. Es folgte ein schwieriges erstes Telefonat in Englisch mit erheblichen Sprachbarrieren, bei dem der deutsche Mitarbeiter zunächst das Ziel verfolgte, Vertrauen zu seinem Gesprächspartner aufzubauen. Er stellte sich persönlich mit Namen, Alter, Familienstand, Anzahl der Kinder etc. vor und ging davon aus, dass auch sein Gegenüber sich entsprechend vorstellen würde. Er bekam jedoch als Antwort lediglich: „My name is J. Chang!“.285 Weiterhin ist zu erwähnen, dass J. Chang bei dem Gespräch häufig längere Pausen einlegte (bis zu 90 Sekunden) und teilweise auf Fragen keine Reaktion zeigte. Besonders irritiert war der deutsche Mitarbeiter, da er bis zu diesem Zeitpunkt weder Projekte in den USA durchgeführt, noch mit dem chinesischen Kulturkreis Kontakt hatte. Er wusste nicht, wie er das Verhalten seines Gesprächspartners interpretieren sollte, was unter anderem dadurch erschwert wurde, dass durch das Medium Telefon die Gesten seines Gegenübers nicht sichtbar waren. Das Telefonat verlief insgesamt, wie auch ein zweites schwieriges Telefonat, ohne nennenswerte Fortschritte im Projekt und trug auch nur unwesentlich zu einem gemeinsamen Verständnis über die weitere Vorgehensweise bei. Nach den schwierigen beiden Telefonaten schickte J. Chang für den deutschen Mitarbeiter überraschend per E-Mail das links in Abbildung 43 aufgeführte Foto von sich. Es handelt sich um ein Foto, das J. Chang von sich in seinem Büro in den USA aufgenommen hatte. Auf dem Foto ist zu erkennen, dass er die anfangs von dem deutschen Mitarbeiter zugesendeten Folien in der Hand hält. In dem Kommentar der zugehörigen E-Mail schrieb J. Chang, er verstehe die Folien nicht und hätte auch keine Zeit sich weiter mit der Thematik zu befassen. 284

285

SAE = Society of Automotive Engineers, ISO = Internationale Organisation für Normung, DIN = Deutsches Institut für Normung. Der Name wurde geändert.

126

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

Das Foto wurde von dem deutschen Mitarbeiter sehr positiv empfunden, da dies die erste selbständige Kontaktaufnahme von J. Chang war. Weiterhin zeigte es ihm, dass ein prinzipieller Wille zur Zusammenarbeit vorhanden war. Es stellte sich nun für ihn die Frage, wie er auf das Foto reagieren sollte. Inspiriert durch den silbernen Teebecher links neben den Folien kaufte der deutsche Mitarbeiter eine dazu passende Teekanne in derselben Farbe und ließ beim Fotografen ein Foto von sich in der Blaukammer machen. Durch das Zusammenfügen der beiden Fotos entstand das rechte der in Abbildung 43 enthaltenen Bilder. Mit den Worten „Let´s discuss that while having a cup of tea togehter!“ schickte der deutsche Mitarbeiter eine E-Mail an J. Chang. Dieses zwischenmenschliche Ereignis führte zu einem enormen Vertrauensgewinn, durch den die folgenden Telefonate deutlich einfacher wurden. Nach einigen telefonischen Abstimmungen wurde ein gemeinsamer mehrtägiger Workshop in Deutschland vereinbart, um Face-to-Face die einzelnen Anforderungen zu diskutieren und ein gemeinsames Verständnis über die Projektziele zu erlangen. Dies wäre, wie sich herausstellte, aufgrund der vielfältigen Randbedingungen und Hintergründe, nicht ausschließlich mit telefonischen Abstimmungen möglich gewesen.286

Abbildung 43: Reaktion auf die gesendeten Folien und Gegenreaktion

Es ist zu erwähnen, dass beide Parteien durch die vorhandene Infrastruktur der Prüftechnik versuchten, möglichst viele ihrer eigenen Teststandards durchzusetzen, wobei gerade bei Marke A durch den Transfer der unternehmensinternen Normen der Marke D die größten Anpassungen erforderlich waren.

286

Sowohl die Media-Richness-Theorie als auch die Media-Synchronicity-Theorie würden in dieser Situation ebenfalls Face-to-Face-Kontakte empfehlen. Siehe hierzu Kapitel 3.3.2.

127

3.5 Fallstudie 3: Geschäftsbereichsübergreifende Standardisierung

Bei dem gemeinsamen Workshop nahmen weitere Experten von Marke D und Marke A teil und es wurde zunächst ein Papier mit vier Spalten generiert. Jede Spalte sollte mit den Anforderungen einer der eingangs beschriebenen vier Normen befüllt werden. Es wurde vereinbart, dass die amerikanischen Mitarbeiter die Spalte für die amerikanische Norm befüllen und die deutschen Mitarbeiter die Übrigen, sodass jeder dort tätig werden konnte, wo er Erfahrungen hatte. Durch die anschließende Diskussion des ausgefüllten Papiers wurde von vorneherein transparent, was bei der Definition des gemeinsamen Teststandards zu beachten war und wo gegebenenfalls Unklarheiten zu beseitigen waren. Nachdem sich der erste Tag aufgrund der kulturellen und sprachlichen Unterschiede als sehr mühsam erwies, liefen die folgenden Tage im Vergleich hierzu sehr konstruktiv ab. Als einen Grund kann ein gemeinsames Abendessen mit einer anschließenden Abendveranstaltung am Ende des ersten Tages genannt werden, bei dem ein ausreichend großes Vertrauensverhältnis sowie ein Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Projektbeteiligten aufgebaut werden konnte.287 Das durch den Workshop geschaffene gemeinsame Verständnis ermöglichte es im Anschluss, die notwendigen Feinabstimmungen im Rahmen von etwa 20 Videokonferenzen gemeinsam durchzuführen und den gemeinsamen Teststandard durchzusetzen. Die beschriebenen Ereignisse sind nochmals in Abbildung 44 zusammenfassend aufgeführt. Zeit Kontaktaufnahme seitens Forschung: 3x per Mail mit Folien Æ keine Reaktion

Schwieriges zweites Telefonat

Schwieriges erstes Telefonat: Deutscher :„My name is Mayer and I´m 50 years old, married, I have 1 child …“ Chinese: „My name is J. Chang!“

Mayer schickt gemeinsames Bild per e-mail zurück mit dem Text: „Let´s discuss that while having a cup of tea togehter“

Chang schickt Bild von sich per e-mail und schreibt er verstehe die Folien nicht und er habe auch keine Zeit

Gemeinsamer Workshop in Deutschland Æ Papier mit 4 Spalten für verschiedene Normen Æ gemeinsames Verständnis

Diverse, nicht mehr ganz so schwierige Abstimmungen per Telefon und Mail

Standard wurde nach 20 Videokonferenzen gemeinsam definiert und durchgesetzt

Abbildung 44: Übersicht der wichtigsten Ereignisse im Zeitablauf

Der beschriebene Fall umfasst verschiedene Aspekte, die für den Wissenstransfer interessant erscheinen. Hierzu zählen die räumliche und organisatorische Trennung 287

Siehe hierzu die Diskussion der Gruppentheorien in Kapitel 3.3.1, welche mit der soziemotionalen Ebene auf die Notwendigkeit von zwischenmenschlichen Ereignissen hinweisen.

128

3. Die Einführung von neuen Methoden in MNU

der Projektmitglieder, die kulturellen Barrieren und die verwendeten Medien. Daher sollen die wichtigsten Erkenntnisse im Folgenden herausgearbeitet und zusammenfassend dargestellt werden.

3.5.3

Schlussfolgerungen

In diesem Fall hat sich gezeigt, dass die unterschiedlichen technologischen Trajektorien288 der zuvor getrennt gewachsenen Unternehmen den Wissenstransfer erschwert haben. Dies war insbesondere darin begründet, dass die beiden maßgeblichen Projektbeteiligten vorher weder Erfahrungen mit Produkten des anderen noch mit gemeinsamen Projekten hatten. Hinzu kamen kulturelle und sprachliche Barrieren, die wie es sich gezeigt hat, insbesondere bei geringer MediaRichness289 in Verbindung mit wenig gemeinsamen Erfahrungen zu erheblichen Missverständnissen führen. Wie wichtig das Vertrauen zwischen den Transferpartnern war, zeigte sich durch den positiven Einfluss der zwischenmenschlichen Einzelereignisse. In diesem Fall waren dies der Austausch der Fotos und die gemeinsame Abendveranstaltung. Darüber hinaus ist zu bemerken, dass das hochgradig explizite Wissen290 in den verschiedenen Normen teilweise äußerst interpretationsbedürftig war und die Gewinnung eines gemeinsamen Bezugsrahmens erforderte. Zusätzlich war das implizite Wissen über die verwendeten Prüfstandards, gerade durch die Komplexität und die persönlichen Erfahrungen, anderen Personen schwer zu vermitteln. Durch den gemeinsamen Workshop und den somit gewährleisteten Face-to-FaceKontakten wurde dieser Problematik Rechnung getragen. Es hat sich gezeigt, dass verschiedene Phasen bei dem Transfer unterschiedliche Vorgehensweisen erlauben können. Gerade die Gewinnung eines gemeinsamen Verständnisses zu Beginn der Zusammenarbeit scheint eine entscheidende Rolle zu spielen. So ermöglichte die gemeinsam erarbeitete Basis bei dem Workshop die Feinabstimmung via Telefon und Videokonferenz.

288 289 290

Siehe zum Begriff der technologischen Trajektorie Dosi (1982). Siehe zu Media-Richness die Ausführungen in Bezug auf Medientheorien in Kapitel 3.3.2. Vgl. zu der Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Wissen Kapitel 2.2.2.1.

4 Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern Die empirischen Untersuchungen in dem vorangegangenen Kapitel haben sich vorzugsweise mit unternehmensinternen Schnittstellen beim Wissenstransfer beschäftigt. Hier wurde ersichtlich, dass sowohl die organisatorische als auch die räumliche Trennung von Mitarbeitern gerade bei innovativen Vorhaben einen erheblich negativen Einfluss auf den Wissenstransfer haben. Als Grund konnte angeführt werden, dass die Gewinnung eines gemeinsamen Bezugsrahmens und somit eines gemeinsamen Verständnisses durch diese Faktoren erschwert wird. Es liegt nahe, dass diese Aspekte des Wissenstransfers an der Schnittstelle zu externen Partnern noch stärker ausgeprägt und insofern besser beobachtbar sind. Herausgegriffen wird zunächst die Zusammenarbeit zwischen OEM und E/EZulieferer, welche auf Basis von Interviews und Dokumentenanalysen untersucht wurde. Eine vertiefende Fallstudie zu dieser Schnittstelle beleuchtet die Einbindung des Zulieferers in der Lastenheftphase291, in der ein hoher Anteil expliziten Wissens ausgetauscht wird. Anschließend wird die Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL aufgezeigt, da hier der Anteil von immateriellen Leistungen im Gegensatz zu der Zuliefererschnittstelle besonders hoch ist.

4.1

Zusammenarbeit zwischen OEM und E/E-Zulieferer

Dieser Abschnitt zeigt, dass die Art des zu transferierenden Wissens maßgeblich über die Form der Zusammenarbeit zwischen zwei Partnern entscheidet. Daher werden vor diesem Hintergrund eingangs mögliche Formen der Zusammenarbeit am Beispiel der Schnittstelle zwischen OEM und E/E-Zulieferer erörtert. Anschließend werden als Anknüpfungspunkte für die weiteren Ausführungen kritische Faktoren im Hinblick auf den Wissenstransfer herausgearbeitet, wobei insbesondere Aspekte der räumlichen Anordnung von Projektmitarbeitern im Fokus stehen.

4.1.1

Formen der Zusammenarbeit

Bei der Zusammenarbeit zwischen OEM und Zulieferern bzw. anderen OEMs spielt der Zeitpunkt des Eingehens einer Kooperation eine entscheidende Rolle. So wird 291

Siehe hierzu die Phase A-B in dem Modell zur Prozesssynchronisation zwischen OEM und Zulieferer in Kapitel 2.1.2.2.

130

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

bei OEM-übergreifenden Standardisierungsbestrebungen wie beispielsweise AutoSAR292 in einer sehr frühen Phase zusammengearbeitet, um ein dominantes Design293 zu etablieren und eine große Marktmacht zur Durchsetzung eines Standards zu erlangen. Bei wettbewerbsdifferenzierenden Innovationen wird hingegen von einzelnen OEMs versucht, diese gegebenenfalls gemeinsam mit einem Zulieferer als erstes am Markt zu platzieren. Bei der Zusammenarbeit zwischen OEM und Zulieferer konnten im Bereich der serien- oder seriennahen Entwicklung insgesamt drei Kooperationsformen herauskristallisiert werden. Diese scheinen sehr stark vom Innovationsgrad und somit von Wissenscharakteristika des zu entwickelnden Systems abzuhängen. Bei sehr hohen Innovationsgraden können insbesondere Zusammenarbeiten in Form von Projekthäusern beobachtet werden. Bei geringen Innovationsgraden im Hinblick auf Standardkomponenten waren eher reine Marktbeziehungen, welche auf Basis von ausgetauschten Lastenheften abgewickelt wurden, anzutreffen.294 Als Mischform konnte der Einsatz von so genannten Resident Engineers295 beobachtet werden. Resident Engineers arbeiten üblicherweise direkt beim OEM vor-Ort und fungieren als Kontaktperson des Zulieferers.

4.1.1.1

Kooperation in Projekthäusern

Um Innovationen mit großen Technologiesprüngen in Serie zu bringen, arbeitet beispielsweise DaimlerChrysler im Rahmen von Projekthäusern in einer frühen Phase interdisziplinär und direkt mit Zulieferern zusammen. Beispiele für Projekthäuser sind die Entwicklung des elektronischen Stabilitätsprogramms (im Folgenden abgekürzt als ESP) und der elektromagnetischen Ventilsteuerung (im Folgenden abgekürzt als EMVS). Zeitlich gesehen liegt der Start dieser Kooperationen üblicherweise in der baureihenunabhängigen Vorentwicklung, noch vor der bei der Referenzpunktsystematik beschriebenen Serienentwicklung.296

292

293

294

295

296

AutoSAR steht für Automotive Open System Architecture und ist ein Konsortium von führenden OEMs und Systemzulieferern zur Etablierung eines offenen Industriestandards im Bereich E/EArchitektur. Siehe hierzu AutoSAR (2004). Siehe zum Begriff des dominanten Designs beispielsweise Abernathy/Utterback (1978), Utterback (1994) und Teece (2000). Der höchste Innovationsgrad liegt bei embyonischen Technologien vor. Dieser nimmt dann sukzessive über Schrittmachertechnologien, Schlüsseltechnologien und Basistechnologien ab. Siehe zu Modellen des technologischen Lebenszyklus beispielsweise Sommerlatte/Deschamps (1985), Michel (1987) und Floyd (1997). Resident Engineers sind hier Mitarbeiterr, die über einen temporären Arbeitsplatz bei einem anderen Unternehmen verfügen. Siehe zur Referenzpunksystematik Kapitel 2.1.2.2.

4.1 Zusammenarbeit zwischen OEM und E/E-Zulieferer

131

Die Mitarbeiter von Zulieferer und OEM arbeiten bei dieser Kooperationsform ganz oder zu einem sehr hohen Teil für das entsprechende Projekt und sitzen physisch in einem Projekthaus zusammen. Hierdurch wird eine räumliche Konzentration von interdisziplinären Teams aus verschiedenen Organisationseinheiten (Forschung, Vorentwicklung, Serienentwicklung etc.) und mit unterschiedlicher Ausbildung (Maschinenbauer, Informatiker, Elektrotechniker etc.) mit kurzen Kommunikationswegen und hohem Informationsfluss geschaffen. Auch der hierarchische Einfluss auf das Projekt ist üblicherweise geringer als bei anderen organisatorischen Lösungen, da im Projekthaus mit dem entsprechenden Projekt genau ein Ziel verfolgt wird.297 Projekthäuser werden bei DaimlerChrysler insbesondere dann genutzt, wenn bei dem entsprechenden Zulieferer komplementäre Kompetenzen vorliegen und das Projekt in der strategischen Stoßrichtung beider Parteien liegt. Gewöhnlich haben beide Parteien auf dem speziellen Projektgebiet im Gegensatz zu angrenzenden Anwendungsfeldern nur wenig Erfahrung. So hatte beispielsweise Bosch bei der Entwicklung von ESP insbesondere Kompetenzen im Bereich Regelungstechnik und Bremssysteme. DaimlerChrysler hatte hingegen als OEM starke Kompetenzen im Hinblick auf Algorithmen und die Beschreibung der Anforderungen des Automobils an ein solches System. Bei der Entwicklung der EMVS hatte Temic insbesondere Kompetenzen im Bereich Steuergeräte und Magnete, DaimlerChrysler hingegen im Bereich innermotorische Verbrennung und mechanische Erprobung.298 Der Ablauf im Projekthaus ähnelt der in Abbildung 9 aufgezeigten Vorgehensweise der Referenzpunktsystematik. Hier wird von OEM und Zulieferer gemeinsam eine Grobentwicklung betrieben und eine Grobspezifikation ausgearbeitet. Diese Phase dient dazu, die generelle Machbarkeit nachzuweisen. Dadurch, dass diese Grobspezifikation gemeinsam geschrieben wird, werden nach Einschätzung der Interviewpartner Missverständnisse von vorneherein minimiert. Auch könne in dieser Phase durch die räumliche Nähe schnell festgestellt werden, ob der richtige Partner ausgewählt wurde und dieser über die notwendige Erfahrung auf dem Projektgebiet verfügt. Nach der Grobspezifikation folgen wie bei der Serienentwicklung, in die schließlich das Projektergebnis einfließt, verschiedene Musterstände.

297

298

Gassmann (1997) zeigt, dass die Notwendigkeit einer räumlichen Konzentration der Entwicklungseinheiten bei steigendem Ausmaß an Neuigkeit zunimmt. Siehe zu einer philosophischen Betrachtung von Interdisziplinarität auf Basis von Platons Höhlengleichnis MüllerMerbach (1995, S.42-66). Hier werden unter anderem Verständigungsbarrieren zwischen Wissenschaftsdisziplinen angesprochen. Siehe zum Management technologischer Kooperationen und Netzwerke Gerybadze (2004b, Kapitel 5) und Gerybadze (1995, Kapitel 2).

132

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

Da von Anfang an im Projekthaus interdisziplinär zusammengearbeitet wird und auch der Zulieferer mit eingebunden ist, gibt es nach Aussage der Interviewpartner eigentlich keine nennenswerten Interpretationsprobleme bei der Integration in die spätere Serienentwicklung. Um die Ergebnisse in diese einfließen lassen zu können, wird üblicherweise während des Projekts eine Zielbaureihe299 ausgewählt. Damit aufgrund des hohen Innovationsgrades zunächst die Stückzahlen in der Serienfertigung gering gehalten und Erfahrungen gesammelt werden können, ist dies normalerweise eine Nischenbaureihe oder lediglich eine Variante einer Baureihe. Es wurde erwähnt, dass bei der Zusammenarbeit in Projekthäusern nicht nur explizites Wissen, das beispielsweise in Form von Lastenheften existiert, sondern auch gerade durch die räumliche Nähe, ein erheblicher Transfer impliziten Wissens zwischen den involvierten Parteien stattfindet. Hierdurch könne leichter ein gemeinsamer Bezugsrahmen gewonnen werden. Da dies nach Einschätzung der Interviewpartner gerade bei neuen und komplexen Technologien für eine erfolgreiche Serienproduktion entscheidend ist, wird der Entwicklungspartner im Projekthaus normalerweise auch der Serienlieferant.

4.1.1.2

Räumliche Trennung und Resident Engineering

Resident Engineers sind in der Regel Mitarbeiter des Zulieferers, die einen Arbeitsplatz in den Räumlichkeiten des OEM haben und somit ständiger Ansprechpartner vor-Ort sind. Es existieren umgekehrt auch Resident Engineers vom OEM, die einen Arbeitsplatz in den Räumlichkeiten des Zulieferers haben. Dieser Fall tritt jedoch nicht so häufig auf. Durch Resident Engineers werden ein unmittelbarer Support und eine effektive Schnittstelle zum Zulieferer hergestellt. Dies ist beispielsweise bei der Inbetriebnahme von Mustern vor der Serienproduktion von Bedeutung, da die Muster zwar beim OEM eingesetzt werden, jedoch häufig bei Anpassungen Detailwissen des Zulieferers erforderlich ist.300 Da der Resident Engineer die Randbedingungen beim Zulieferer üblicherweise sehr gut kennt und typischerweise auch sehr gut persönlich vernetzt ist, kann somit schnell eine Lösung für auftretende Probleme gefunden werden. Resident Engineers können andererseits wichtige Informationen an den Zulieferer weitergeben, die vielleicht vom OEM als gar nicht relevant für diesen angesehen werden. Ein Einsatz

299

300

Eine Zielbaureihe entspricht von der Vorgehensweise einem Pilotprojekt wie es in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2 beschrieben wurde. Es handelt sich entsprechend der in Kapitel 2.1.2.2 vorgestellten Referenzpunktsystematik um die Phase C-F.

4.1 Zusammenarbeit zwischen OEM und E/E-Zulieferer

133

von Resident Engineers ist nach Einschätzung der Interviewpartner insbesondere bei einer hohen Änderungsfrequenz, großer Variantenvielfalt und vielen Abhängigkeiten sinnvoll.301 Ein Einsatz von Resident Engineers erscheint vor diesem Hintergrund somit dann sinnvoll, wenn das Produkt im Wesentlichen klar ist, jedoch Feinabstimmungen notwendig sind. Eine Zusammenarbeit rein über Lastenhefte mit überwiegend räumlicher Trennung ist üblicherweise bei weniger kreativen Entwicklungen mit im Wesentlichen vorhandenem Grundgerüst anzutreffen. Dies ist die in der Automobilindustrie vorherrschende Kooperationsform (z. B. Motorsteuerung). Hier liegen normalerweise Erfahrungen bei OEM und Zulieferer vor, und die Anforderungen können sehr genau spezifiziert werden.

4.1.2

Erfolgsfaktoren bei der Zusammenarbeit in der Serienentwicklung

In diesem Kapitel werden Erfolgsfaktoren für die Zusammenarbeit zwischen OEM und E/E-Zulieferer herausgearbeitet, welche anhand diverser Interviews in der Automobilindustrie zu Tage traten. 302Es handelt sich um die folgenden Aspekte, welche im Anschluss jeweils im Einzelnen erläutert werden: x

Frühe interdisziplinäre Zusammenarbeit

x

Standardisierung von Begriffen, Darstellungsarten und Vorgehensweisen

x

Stringentes Änderungs- und Versionsmanagement

x

Frühe Klärung von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortungen (AKV)

x

Klare Schnittstellendefinition bei Komponenten und Systemen

x

Kontinuierlicher Informationsaustausch mit Feedback-Schleifen

x

Geregelter Erfahrungsaustausch zwischen Produktprojekten

Es handelt sich hierbei größtenteils um Faktoren, die der Schaffung eines gemeinsamen Verständnisses und der Vermeidung von Missverständnissen bei der Zusammenarbeit dienen.303

301

302

303

Neben der reinen Support- und Vermittlungsrolle wurde genannt, dass der Resident Engineer auch Teilentwicklungen durchführen und die Machbarkeit von Vorhaben mitbeurteilen kann. Diese Untersuchung steht in engem Zusammenhang zu dem Prozesssynchronisationsansatz in Kapitel 2.1.2.2. Ein Überblick über empirische Untersuchungen zu Zulieferer-Abnehmer-Beziehungen mit dem Fokus der Automobilindustrie findet sich bei Pfaffmann (2001, S. 9-12).

134 4.1.2.1

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

Frühe interdisziplinäre Zusammenarbeit

Durch eine frühe Einbindung des E/E-Zulieferers in den Entwicklungsprozess des OEM kann nach Einschätzung der Experten die bis zur Markteinführung zur Verfügung stehende Zeit bestmöglich zur Komponenten- und Systementwicklung genutzt werden. Weiterhin könne der Wissenstransfer somit bereits in einer frühen Phase beginnen und kontinuierlich ohne Brüche erfolgen.304 So wird es gerade zu Anfang eines Projekts als sehr wichtig eingestuft, ein gemeinsames Verständnis zwischen OEM und Zulieferer über die tatsächliche Funktionalität des Produkts und die Randbedingungen zu gewinnen. Es zeige sich allerdings, dass sich dieses gerade bei innovativen Vorhaben schwierig gestaltet, da teilweise nicht transparent ist, welche Möglichkeiten es überhaupt gibt. Bei Standardprodukten wie Motorsteuergeräten wird dies als deutlich einfacher angesehen, da dort die Anforderungen aufgrund von Erfahrungswerten sehr genau (mehrere tausend Seiten) spezifiziert werden können und im Wesentlichen bei OEM und Zulieferer bekannt sind.305 Teilweise hat der Zulieferer in der Realität nur wenige Tage Zeit, aufgrund der Anforderungen des OEM ein detailliertes Angebot zu unterbreiten. Es ist zu erwähnen, dass Lastenhefte bei verschiedenen OEMs und auch innerhalb eines OEMs je nach Projekt sehr unterschiedlich sein können. Gerade bei innovativen Produkten kann die Beschreibung der Anforderungen sehr interpretationsbedürftig sein und aus nur wenigen Seiten bestehen. Bei hohem Zeitdruck im Rahmen der Angebotserstellung sichern sich die Zulieferer dann durch Klauseln und Angaben von Preisindikationen ab. Weiterhin wurde darauf hingewiesen, dass eine frühe Einbindung des Zulieferers dazu dient, dass dieser bei der Angebotserstellung kompetente Ressourcen freimachen kann. Dies ist insofern von Bedeutung, da die Mitarbeiter beim Zulieferer normalerweise durch ihre Tätigkeit in anderen Projekten ausgelastet sind. Früher wurden beispielsweise bei Zulieferer S Hardware, Software und Halbleiter getrennt voneinander, relativ autonom entwickelt. Da dies zu großen Integrationsproblemen führte, werden diese Komponenten heute zusammen entwickelt. Als ein

304

305

Siehe hierzu beispielsweise die in Kapitel 2.1.2.3 aufgeführten Bestrebungen einer früheren und intensiveren Einbindung der Zulieferer bei der Marke Mercedes-Benz. Sehr genau spezifizierbare elektronische Funktionen können anstelle einer rein textuellen Beschreibung modelliert und automatisiert in einen Programm-Code umgesetzt werden. Diese Modelle stellen eine eindeutige Beschreibung dar. Missverständnissen durch unterschiedliche Auslegung von textuell beschriebenen Anforderungen wird somit vorgebeugt.

4.1 Zusammenarbeit zwischen OEM und E/E-Zulieferer

135

Erfolgsfaktor in der Konzeptionsphase wurde die frühe interdisziplinäre Einbindung verschiedener interner Bereiche und gegebenenfalls auch des OEM genannt. Auch das frühe Einbinden der Fertigungsplanung (teilweise schon in der Angebotsphase) sei ein Erfolgsfaktor, da somit ein fließender Übergang der Verantwortung von der Entwicklung zur Fertigungsplanung erfolgen könne. Somit würde potenziellen Transferschwierigkeiten in späteren Phasen vorgebeugt.

4.1.2.2

Standardisierung von Begriffen, Darstellungsarten und Vorgehensweisen

Eine Standardisierung von Begriffen, Darstellungsarten und Vorgehensweisen zur Schaffung eines gemeinsamen Verständnisses könne nach Einschätzung der Experten verhindern, dass dieselben Inhalte mehrdeutig sind und unterschiedlich interpretiert werden. Ein gemeinsames Begriffsverständnis sei gerade vor dem Hintergrund unterschiedlicher Standards (Prozesse, Tools etc.) und Firmenkulturen bei OEM und E/E-Zulieferer wichtig. Beispielsweise wurde der Begriff Feature-Hub bei OEM A zur Messung der Anzahl der im Entwicklungsablauf realisierten Features innerhalb von Funktionen verwendet. In diesem Sinne besteht die Funktion Scheibenwischer aus den Features LangsamWischen, Schnell-Wischen und Intervall-Wischen. Ein Feature-Hub von 1/3 würde demnach bedeuten, dass eins der drei genannten Features vom Zulieferer zu einem bestimmten Zeitpunkt im Entwicklungsprozess realisiert sein muss. Der Ausdruck Ende Feature-Hub sollte entsprechend bedeuten, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt alle Features realisiert sein müssen. Ein Zulieferer, dem der Begriff nicht in seiner ursprünglichen Bedeutung klar war, interpretierte diesen Begriff als Design Freeze, d. h. dass keine weiteren Anforderungen, wie beispielsweise zusätzliche Features, zu den bestehenden Anforderungen ab einem bestimmten Zeitpunkt mehr aufgenommen werden.306 Standardisierte Vorgehensweisen (Einheitliche Entwicklungsprozesse, einheitliche Qualitätsmanagement-Systeme, einheitliche Codierrichtlinien für Software etc.) können projektspezifisch zur Berücksichtigung spezieller Kundenanforderungen angepasst werden. Es wurde allerdings darauf hingewiesen, dass beschrieben sein sollte, welche Teile verpflichtend sind und welche angepasst werden können. Bei diesen Vorgehensweisen müsse darauf geachtet werden, dass diese in der Realität auch tatsächlich angewendet werden.307 So besitzen Zulieferer zum größten Teil 306 307

Siehe zum Begriff des Design-Freeze Kapitel 2.1.2.2. Siehe hierzu die Argumentation zu offiziellen Handlungstheorien und den tatsächlich verwendeten Handlungstheorien in Kapitel 2.2.1.2.

136

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

firmeneinheitliche Regelwerke zur Softwareentwicklung. Die Umsetzungen der Vorgaben schwankten jedoch in der Vergangenheit bei den betrachteten Projekten teilweise sehr stark. Gerade bei hohem Druck im Projekt könne es vorkommen, dass standardisierte Instrumentarien des Projektmanagements und des Qualitätsmanagements nicht adäquat eingesetzt werden können. So trägt die Erstellung von Testspezifikationen nach definierten systematischen und einheitlichen Vorlagen zu einer Nachvollziehbarkeit von Testaktivitäten bei. Hierzu dienen auch einheitliche Methoden zur Testfallgenerierung und einheitliche Vorgehensweisen zur lückenlosen Dokumentation von Testergebnissen (losgelöst von der Erfahrung der einzelnen Entwickler).

4.1.2.3

Stringentes Änderungs- und Versionsmanagement

Durch die steigende Komplexität wird die Sicherstellung eines stringenten Änderungs- und Versionsmanagements in der gesamten Lieferkette und somit die Vermeidung unabgestimmter Änderungen als unerlässlich angesehen. Gerade das unkontrollierte Einspeisen von Änderungen könne zu Destabilisierungen von Entwicklungsabläufen und folglich zu einer Beeinträchtigung der Qualität führen. Es wurde darauf hingewiesen, dass bei hoher Komplexität auch vermeintlich kleine Änderungen der Anforderungen (insbesondere späte) durch Managemententscheidungen oder angrenzende Fachbereiche eine erhebliche Auswirkung auf den gesamten Produktentstehungsprozess haben können. Diese sollten nach Ansicht der Experten daher für alle Komponenten und Systeme im Rahmen eines formalen Prozesses konsequent gemanagt werden.308 Hierzu gehören beispielsweise klare Regelungen wer darüber entscheidet, welche Änderungen in welchen Stand einfließen.309 Wie bedeutsam dies ist, zeigt folgender Fall. Zulieferer A sollte OEM B bei einem nicht sehr detailliert spezifizierten innovativen Vorhaben ein Angebot für ein System unterbreiten, bei dem eine Komponente im Dachhimmel mit einem Steuergerät im Motorraum und dem Airbag-Steuergerät verbunden wird. Zulieferer A ging, da keine weiteren Informationen vorhanden waren, davon aus, dass ein Kabel über die A-

308

309

In der Vergangenheit existierte nach Aussage der Interviewpartner oft kein formales Anforderungs- und Änderungsmanagement bei OEM und Zulieferer. Als technische Änderung werden alle nachträglichen Modifikationen an freigegebenen und somit verbindlich festgelegten Arbeitsergebnissen innerhalb eines zusammenhängenden technischen Entwicklungsprozesses betrachtet (Conrat 1998, S. 47). Siehe zu Charakteristika von Änderungsprozessen Assmann (2000, S. 32). Zu Problem- und Aktionsfeldern eines integrierten Änderungsmanagements siehe Lindemann/Reichwald (1998, S. 52).

4.1 Zusammenarbeit zwischen OEM und E/E-Zulieferer

137

Säule verlegt werden kann. Sehr viel später hat sich herausgestellt, dass mittlerweile aufgrund anderer Änderungen weder in der A-Säule noch in der Mittelkonsole Platz für ein Kabel war. Dies hatte zur Folge, dass das Kabel über die C-Säule verlegt werden musste. In diesem Fall war ein deutlich längeres Kabel erforderlich, was zum einen mit höheren Kosten (die so im Angebot nicht vorgesehen waren) und zum anderen aufgrund der Anforderung nach einer bestimmten Übertragungsgeschwindigkeit mit einer Änderung des technisches Konzepts einherging. Dies war in der Verlangsamung der Datenübertragung durch das längere Kabel begründet. Dieses Beispiel zeigt, dass gerade bei innovativen Vorhaben im Lastenheft nicht immer alle notwendigen Randbedingungen explizit beschrieben sind und unabgestimmte Änderungen einen erheblichen Einfluss haben können. In der Vergangenheit wurden Anforderungen nach Aussage der Interviewpartner häufig in der Summe der spezifizierten Dokumente dargestellt und in einem iterativen und nachführenden Prozess abgeglichen. Heute werden aufgrund der Komplexität zur Unterstützung des Änderungs- und Versionsmanagements zunehmend ITSysteme eingesetzt, die deutlich mehr Funktionalitäten bieten als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war. Die in der Vergangenheit zur Lastenhefterstellung hauptsächlich eingesetzten konventionellen Textverarbeitungssysteme erreichen ihre Einsatzgrenzen, da sie für die immer komplexeren Spezifikationsaktivitäten in der Automobilindustrie keine ausreichende Verwaltungs- und Verfolgungsfunktionalität bieten. In den letzten Jahren wurden daher verschiedene Requirements Management Methoden und Werkzeuge erprobt und mittlerweile in einer Reihe von Projekten eingesetzt.310 Eine Herausforderung besteht nach Ansicht der Interviewpartner weiterhin darin den Einsatz dieser Systeme auch über Firmengrenzen hinweg in der gesamten Lieferkette zu nutzen. Bei Entwicklungsprojekten ist im Rahmen des Änderungsmanagements nach Aussage der Interviewpartner häufig festzustellen, dass sich zu spät auf bestimmte Musterstände geeinigt wird (Design Freeze) und sich die Vorstellungen zwischen OEM und Zulieferer unterscheiden. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn keine klaren Abnahmekriterien vorliegen bzw. kein gemeinsames Verständnis zwischen OEM und Zulieferer über diese existiere. Solche Fälle führten dazu, dass gerade bei hohem Zeitdruck mit einer Weiterentwicklung begonnen wird, obwohl noch kein Design-Freeze für den vorherigen Musterstand existiert. Dass hierdurch die technische Lösung und auch die Kalkulation erschwert wird, muss nicht weiter 310

Ein Beispiel für ein in der Automobilindustrie eingesetztes Requirements Management Tool ist DOORS von der Firma Telelogic. Siehe zum Thema Anforderungsmanagement Gilb (2005). Eine Übersicht über DOORS findet sich in Versteegen (2004, Kapitel 4).

138

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

ausgeführt werden. Für den Bereich der Software, für den eine relativ hohe Änderungsfrequenz genannt wurde, wird ein stringentes Versionsmanagement als unerlässlich angesehen. So könne im Hinblick auf Software eine systematische Versionisierung in Verbindung mit dem Einsatz von neuen Versionen nur zu definierten Zeitpunkten, der Änderungsfrequenz Rechnung tragen. Zur Schaffung von Transparenz wurde empfohlen, jeweils auf die Dokumentation und Kommunikation inhaltlicher Abweichungen zur vorherigen Version im Rahmen einer Änderungsbeschreibung zu achten.

4.1.2.4

Frühzeitige Klärung von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortungen

Eine möglichst frühe Klärung der AKV der einzelnen Beteiligten kann nach Aussage der Interviewpartner die nötige Transparenz in der Wertschöpfungskette schaffen. Dies sei gerade vor dem Hintergrund der in der Vergangenheit aufgetretenen Unsicherheiten über die exakten Zuständigkeiten sowohl bei OEM als auch beim Zulieferer wichtig. Gerade bei der steigenden Komplexität und einer steigenden Zahl von E/EZulieferern mit entsprechend vielen Sublieferanten (Outsourcing) sei die Definition der AKV zwischen und innerhalb der beteiligten Unternehmen unentbehrlich. Insbesondere wenn ein System aus mehreren Komponenten von verschiedenen, teilweise konkurrierenden Zulieferern besteht, wird eine unmissverständlich definierte und mit den Beteiligten abgestimmte AKV als kritisch angesehen. Beispielsweise sollte bei der Systemintegration klar definiert sein, wer welche Komponenten- und Systemtests durchführt und wer welche Verantwortung trägt. Es wurde empfohlen, eine vollständige AKV-Matrix bei OEM und Zulieferer mit allen am Projekt Beteiligten aufzustellen und deren Zuordnung zu konkreten Aufgabengebieten bzw. Funktionalitäten (z. B. CAN311 Kommunikation, Diagnose) zu hinterlegen. Dies erfordere eine Schnittstellenoptimierung, sodass nicht verschiedene Abteilungen bei OEM und Zulieferer unabgestimmt miteinander kommunizieren. Beispielsweise könne ein definierter Ansprechpartner zur Weiterleitung von Anforderungsänderungen beim OEM bestimmt werden, sodass die Kommunikationsflüsse gebündelt werden. Bei der Klärung der AKV ist nach Einschätzung der Interviewpartner darauf zu achten, dass Mitarbeiter, welche die gleiche Funktion bei OEM und Zulieferer 311

CAN = Controller Area Network. Es handelt sich hier um ein im Automobil eingesetztes Bussystem.

4.1 Zusammenarbeit zwischen OEM und E/E-Zulieferer

139

wahrnehmen, in etwa die gleichen AKV innehaben und eine direkte Kommunikation zwischen Experten wie beispielsweise Funktionsverantwortlichen ermöglicht wird. So zeigt der folgende Fall, wie die Zusammenarbeit erschwert wird, wenn die Projektleiter bei OEM und Zulieferer unterschiedliche Profile aufweisen. Bei einem Projekt zwischen OEM B und Zulieferer A hatten die jeweiligen Projektleiter einen sehr unterschiedlichen beruflichen Hintergrund. Der Projektleiter des OEM B war sehr technisch ausgerichtet und kannte sich sehr detailliert mit Hardware und Schaltplänen aus. Andererseits war er hinsichtlich der Verantwortung deutlich niedriger eingestuft als sein Gegenüber. Dies führte dazu, dass er viele Entscheidungen nicht selbst treffen konnte und seinen Vorgesetzten zu Rate ziehen musste. Der Projektleiter bei Zulieferer A hatte hingegen ein stärker grundsätzlich ausgerichtetes Verständnis von der Thematik, war jedoch fachlich nicht so stark im Detail informiert. Er hatte hingegen eine deutlich höhere Entscheidungsbefugnis als der Projektleiter von OEM B.312 Durch diese unterschiedlichen Entscheidungskompetenzen in Verbindung mit dem unterschiedlichen Aufgabenverständnis, wurde das Treffen von Entscheidungen und somit das Vorankommen im Projekt deutlich erschwert. In diesem Fall kam es häufig dazu, dass der Projektleiter von OEM B, an dem Projektleiter des Zulieferers A vorbei, auf technischer Ebene mit dem Teamleiter aus der Komponentenentwicklung kommunizierte. Aufgrund der unterschiedlichen Verantwortungen musste regelmäßig sein Vorgesetzter mit einbezogen werden, um Entscheidungen zu treffen. Es wurde darauf hingewiesen, dass sich nicht nur zwischen Unternehmen, sondern auch innerhalb von Unternehmen die Profile von Mitarbeitern auf bestimmten Positionen (z. B. Projektleitung) sehr stark unterscheiden können.

4.1.2.5

Klare Schnittstellendefinition bei Komponenten und Systemen

Durch die steigende Vernetzung und Abhängigkeit von E/E-Systemen untereinander wurde auf die Notwendigkeit klarer Schnittstellen bei Komponenten und Systemen hingewiesen. Insbesondere die Einbindung mehrerer E/E-Zulieferer bei einem System313 erfordere konsistente und vollständige Spezifikationen sowie ein

312

313

Solche Unterschiede in den Rollenverständnissen konnten auch in anderen Fallstudien beobachtet werden. Früher wurde ein Steuergerät i. d. R. von einem Zulieferer inklusive Software erstellt. Heute laufen beispielsweise mehrere Funktionen (Software) auf einem Steuergerät, die teilweise von anderen Steuergeräten abhängen und darüber hinaus von unterschiedlichen Zulieferern bezogen und durch den OEM integriert werden müssen. Hier spielen Erweiterbarkeit, Portierbarkeit und Wartbarkeit von Software eine entscheidende Rolle.

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

140

gemeinsames Verständnis über diese an den Schnittstellen. Einen Beitrag hierzu kann die Strategie der Modularisierung314 leisten: “Modularization permits individuals (or firms) to mix and match alternative designs of the modules of a system. The “rights” to mix and match are options with quantifiable value in the greater economic system. A modularization multiplies design options and at the same time disperses them so that they can be “picked up” by many people, without the permission of any central architect or planner. The pursuit of valuable options by many decentralized actors in turn accelerates the rate of change of the system as a whole”315

Klare Schnittstellen wurden auch im Hinblick auf Testaktivitäten als erforderlich angesehen, um teilfertige, voneinander abhängige Komponenten bzw. Systeme von verschiedenen Zulieferern in ihrem Zusammenspiel beurteilen zu können.

4.1.2.6

Kontinuierlicher Informationsaustausch mit Feedback-Schleifen

Ein kontinuierlicher Informationsaustausch mit Feedbackschleifen zwischen OEM und Zulieferer sollte nach Einschätzung der Interviewpartner sicherstellen, dass alle Parteien die für sie relevanten Informationen erhalten. Hierzu gehöre beispielsweise, dass der Zulieferer nicht nur über Fehler, sondern auch über Testumgebungsbedingungen, positive Testergebnisse, den aktuellen Reifegrad, die die Fortschritte und die Probleme bei der Integration mit anderen Komponenten informiert werde. Weiterhin sollten Entwicklungs- und Testaktivitäten sowie auftretende Probleme in ausreichender Weise in der Lieferkette dokumentiert und, sofern relevant, für die involvierten Parteien zugänglich gemacht werden. Wichtig sei generell, dass klare Kommunikationsstrukturen mit klaren Ansprechpartnern definiert und diese allen Beteiligten mitgeteilt werden. Es wurde anhand von Praxisbeispielen argumentiert, dass eine häufige Kommunikation zwischen OEM und Zulieferer einen entscheidenden Erfolgsfaktor darstellt. Abstimmungen, die in der Vergangenheit nur in schriftlicher Form getätigt wurden, werden nach Einschätzung der Experten zunehmend Face-to-Face in Reviews durchgeführt. Obwohl Spezifikationen für eine Komponente bzw. ein System von einer Fahrzeugbaureihe zur nächsten immer detaillierter und eindeutiger geschrieben werden können, wurde empfohlen die einzelnen Punkte Schritt für 314

315

Siehe hierzu den Beitrag von Sako (2003), in dem, vor dem Hintergrund von Modularisierung und Outsourcing, die Koevolution zwischen Produktarchitektur und Organisationsarchitektur am Beispiel der Automobilindustrie beschrieben wird. Siehe zu Modularisierung weiterhin Göpfert (1998), Sanchez/Mahoney (1996) und Ulrich (1995). Vgl. Baldwin/Clark (2000, S. 223).

4.1 Zusammenarbeit zwischen OEM und E/E-Zulieferer

141

Schritt von OEM und Zulieferer gemeinsam durchzusprechen. Dies gelte insbesondere für die immer komplexer und umfangreicher werdenden Lasten- und Pflichtenhefte (auch bei Änderungen und weiteren Detaillierungen im Entwicklungsprozess), aber auch für weitere Dokumente wie beispielsweise Erprobungsberichte. Eine gemeinsame Durchsprache im Rahmen von Reviews oder gemeinsamen Erprobungen zur Vermeidung von Missverständnissen wird umso wichtiger angesehen, je neuer das technologische Feld ist und je weniger gemeinsame Erfahrungen auf diesem vorliegen. Gerade bei Spezifikationen spiele das Erfahrungswissen eine große Rolle und gehe bei hoher Fluktuation von Mitarbeitern leicht verloren. Weiterhin sollten nach Aussage der Interviewpartner regelmäßig gemeinsam Sichtweisenabgleiche316 zwischen OEM und Zulieferer stattfinden. Zu einem kontinuierlichen Informationsaustausch gehöre weiterhin, dass Spezifikationen und Dokumentationen aktuell und vollständig sind.317 Angemerkt wurde überdies, dass die Intention der Kommunikation entscheidend für die Medienwahl sei und räumliche Nähe zwischen OEM und Zulieferer das Zustandekommen von Face-to-Face-Kontakten erleichtert. Es wurde angemerkt, dass es wichtig sei, sich bei gemeinsamen Meetings strukturiert zu geplanten Themen Zeit zu nehmen und neben den üblichen Teilnehmern gegebenenfalls auch zusätzliche Experten einzuladen. Eine konsequente schriftliche Fixierung aller Festlegungen von Projektbesprechungen, Workshops, Telefonaten und E-Mail diene darüber hinaus zu einer besseren Nachvollziehbarkeit. Andererseits könnten solche Aufbereitungen auch zur Verifizierung dienen, da so geprüft werden kann, ob alle Beteiligten das gleiche Verständnis über die besprochenen Sachverhalte besitzen. Ein konsequenter Informationsaustausch wurde nicht nur für die Schnittstelle zwischen OEM und Zulieferer, sondern auch für die Schnittstelle zwischen den einzelnen Zulieferern angeraten. Durch die Vernetzung in Verbindung mit der hohen Komplexität sollten Lieferanten in Zukunft nach Einschätzung der Experten vermehrt Face-to-Face zusammenkommen, um das Zusammenwirken der einzelnen Teilsysteme abzustimmen und Auswirkungen von Änderungen gemeinsam zu bewerten. 316

317

Sichtweisenabgleiche betreffen beispielsweise Projektund Qualitätsziele sowie Reifegradbewertungen. Wenn Spezifikationen nicht auf dem aktuellen Stand gehalten sind, kann dies negative Auswirkungen auf Systemtests haben, da Systeme gegen die Spezifikation getestet werden. So muss beispielsweise die Spezifikation der Fahrzeugumgebung auf einem aktuellen Stand sein, damit der Zulieferer diese entsprechend für Integrationstests simulieren kann.

142

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

Zulieferer A mit Sitz in Deutschland berichtet beispielsweise im Hinblick auf die Medienwahl, dass räumliche Distanzen bei dem Informationsaustausch mit Franzosen und Amerikanern im Vergleich zu Partnern im asiatischen Raum üblicherweise aufgrund sprachlicher und kultureller Barrieren eine geringere Rolle spielen. Hier kam es vor, dass aufgrund der teilweise schlechten englischen Grammatik der Asiaten Telefongespräche abgebrochen und per Mail fortgesetzt wurden. Um dies zu verbessern, wurden Standorte in Asien teilweise mit lokalem Management besetzt. Weiterhin gibt es mittlerweile definierte Ansprechpartner für verschiedene Länder und dezidierte Kundencenter, die teilweise mit asiatischen Mitarbeitern besetzt und auf den asiatischen Raum spezialisiert sind. Zusätzlich werden interkulturelle Trainings durchgeführt (gerade vor Projekten in anderen Ländern), um auf die unterschiedliche Interpretation von Gesten und Ausdrücken aufmerksam zu machen.

4.1.2.7

Geregelter Erfahrungsaustausch zwischen Produktprojekten

Da Fahrzeugbaureihen im Rahmen von Projektorganisationen entstehen, sollte nach Einschätzung der Experten neben Lessons Learned Workshops innerhalb eines Fahrzeugprojekts ein geregelter Erfahrungsaustausch zwischen verschiedenen Fahrzeugprojekten sichergestellt werden. So können beispielsweise Erfahrungen bei der Integration von Komponenten in anderen Baureihen genutzt werden. Als eine Möglichkeit wurden Communities-of-Practice318 genannt, die vielfältige Möglichkeiten des Wissensaustauschs bieten. Einige Zulieferer setzen beispielsweise neben Modulbibliotheken für Software und Hardware gruppenübergreifende Reviews und projektübergreifende Funktionsverantwortliche ein. Ziel ist es dabei, die Wiederverwendbarkeit von Arbeitsergebnissen bei unterschiedlichen OEMs zu gewährleisten. Dies zeigt beispielhaft, dass ein nicht zu unterschätzender Teil des Wissens an Personen und deren Erfahrungen gebunden ist.

318

Siehe zu Communities-of-Practice beispielsweise Wenger (1998).

4.2 Fallstudie 4: Lieferantenauswahl in der Lastenheftphase

4.2

143

Fallstudie 4: Lieferantenauswahl in der Lastenheftphase

Ergänzend zu der vorangegangenen Analyse der Schnittstelle zwischen OEM und E/E-Zulieferer werden in dieser Fallstudie tiefere Einblicke in die Phase der Konzeption und Einbindung der Zulieferer gewährt.319 Am Beispiel eines Lastenhefts wird herausgearbeitet, wie bei hochgradig explizitem Wissen in Dokumentenform, verschiedene Hintergründe und Bezugsrahmen der involvierten Parteien zu unterschiedlichen Interpretationen führen können.

4.2.1

Hintergrund und Zielsetzung des Prüftools CheCK

Im Prüfablauf des untersuchten Anwendungskontextes bei OEM A werden heute diverse voneinander weitgehend unabhängige Systeme eingesetzt. Diese Systeme sind bisher nicht oder nur teilweise miteinander vernetzt und die Benutzeroberflächen sind unterschiedlich. Der Benutzer muss daher dieselbe Fahrzeugauswahl mehrfach in unterschiedlicher Art und Weise ausführen, wodurch ein durchgängiger Prüfprozess ohne Systembrüche nicht möglich ist. Darüber hinaus erfordert gerade die steigende E/E-Komplexität leistungsfähigere Systeme mit neuen Prüftechnologien. Um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, soll das strategisch wichtige Prüftool CheCK zum einen in verschiedene angrenzende Systeme integriert werden und darüber hinaus einen größeren Funktionsumfang bieten. Somit sollen die zunehmend komplexer werdenden Fahrzeugtechnologien auch in Zukunft noch im Prüfablauf beherrschbar bleiben. Die sich aus den vielschichtigen Herausforderungen ergebenden Anforderungen wurden im Rahmen eines Vorprojekts gesammelt und in einem Lastenheft spezifiziert. Dies geschah unter Führung von OEM A, wobei auch externe Berater (u. a. Zulieferer A) involviert waren. Da das Prüftool CheCK nicht vollständig durch OEM A selbst realisiert werden sollte, war im nächsten Schritt ein kompetenter Realisierungspartner auszuwählen, was unter einem relativ hohen Zeitdruck geschah. Die Details dieses Auswahlprozesses sind Kern dieser Fallstudie und werden im Folgenden beschrieben.

319

Die Konzeption und Einbindung der Zulieferer entspricht der Phase A-B in Kapitel 2.1.2.2.

144 4.2.2

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

Anbieterauswahlprozess zur Realisierung

Die nachfolgende Abbildung 45 visualisiert die wichtigsten Ereignisse im Rahmen des Auswahlprozesses. Nach der Erstellung des Lastenhefts wurden zunächst ca. 20 potenzielle Firmen angeschrieben. Anhand eines von den Firmen ausgefüllten Fragebogens kamen neben Zulieferer A, der lediglich eine unterstützende Funktion bei der Integration von IT-Systemen einnehmen konnte, mit Zulieferer B, Zulieferer C, Zulieferer D und Zulieferer E vier Firmen in die engere Auswahl. Im Hinblick auf die vorhandenen Kompetenzen zur Lösung der gegebenen Aufgabenstellung wurden diese in etwa ähnlich eingestuft. Diese vier Firmen haben sich unter Leitung ihres technischen Vertriebs bei OEM A vorgestellt und bekamen eine detaillierte Anfrage mit Lastenheft und Requirements Liste.320 In gemeinsamen Workshops (getrennt für jede Firma) wurden weitere Einzelheiten besprochen, bevor schriftliche Angebote seitens der Zulieferer eingereicht und entsprechend in einer Präsentation vorgestellt wurden. Nach der Bewertung der Angebote wurde abschließend ein Anbieter ausgewählt.

Zeit Rückmeldung Fragebögen Æ engere Auswahl von 4 geeigneten Firmen Request for Information an 20 Firmen Æ allgemeiner Fragebogen (Finanzkennzahlen, Referenzprojekte etc.)

Vorstellung der 4 Firmen durch technischen Vertrieb

Detaillierte Anfrage mit Lastenheft und Requirements Liste

Präsentation der schriftlichen Angebote durch die 4 Firmen Æ 200%ige Abweichungen

Gemeinsamer Workshop mit den 4 Firmen, Vorstellung maßgeblicher technischer Mitarbeiter

Auswahl Anbieter

Bewertung der Angebote durch OEM A, Aufforderung zur Stellungsnahme und Nachbesserung

Abbildung 45: Kritische Ereignisse bei der Anbieterauswahl

Da dieser Auswahlprozess nicht ohne Interpretationsschwierigkeiten und Missverständnisse bei den beteiligten Parteien ablief, sollen im Folgenden einige wichtige Details herausgearbeitet werden.

4.2.3

Request for Information und Eingrenzung der potenziellen Anbieter

Nach der Spezifikation der Anforderungen im Lastenheft wurden, wie eingangs beschrieben, zunächst ca. 20 Firmen identifiziert, die potenziell als Anbieter für die

320

Bei dieser Requirements-Liste handelte es sich um eine zusammenfassende Darstellung der wichtigsten Anforderungen des Lastenhefts.

4.2 Fallstudie 4: Lieferantenauswahl in der Lastenheftphase

145

Realisierung des Prüftools CheCK in Frage kamen. Um einen Überblick über diese Firmen zu bekommen, wurden im Rahmen eines so genannten Request for Information Fragebögen von OEM A verschickt, die entsprechend von den jeweiligen Firmen ausgefüllt wurden. Der Fragebogen war auf einem relativ abstrakten Niveau gehalten und fragte eher allgemeine Aspekte als technische Details ab. Hierzu gehörten beispielsweise generelle Unternehmensprofile, Finanzkennzahlen und ein Überblick über die Produktpalette. Weiterhin sollten Referenzprojekte angegeben werden, die eine generelle Aussage über die Erfahrungen der Firmen in dem vorliegenden technischen Umfeld geben sollten. Obwohl es sich aus Sicht von OEM A um einen sehr leicht verständlichen Fragebogen handelte, wurde dieser von einigen Firmen nicht so ausgefüllt, wie es vorher erwartet worden war. Dies war offensichtlich darin begründet, dass die Fragen von verschiedenen Firmen unterschiedlich interpretiert und beantwortet wurden.321 Dennoch konnte nach der Auswertung des Fragebogens mit Zulieferer B, Zulieferer C, Zulieferer D und Zulieferer E die Anzahl der in Frage kommenden Unternehmen sinnvoll eingegrenzt werden.

4.2.4

Detailanfrage mit Lastenheft und Requirements-Liste

Den in Frage kommenden Unternehmen wurde daraufhin von OEM A eine Detailanfrage auf Basis eines Lastenhefts zugeschickt. Dieses Lastenheft enthielt neben einer Beschreibung des Projektumfelds und der angrenzenden Systeme alle Anforderungen, die das neue Prüftool CheCK erfüllen sollte. Durch die Aufnahme neuer Funktionalitäten und der Forderung nach der Integration mehrerer Systeme ist die Komplexität des Lastenhefts im Vergleich zu dem Vorgängersystem, das von Zulieferer B entwickelt wurde, sehr stark angestiegen. Diese Komplexität kann durch den Umfang der Anfrage illustriert werden. Alleine das Lastenheft für das Prüftool CheCK hat mit Anhängen einen Umfang von ca. 1200 Seiten, die bis auf einige Abbildungen im Wesentlichen Fließtext enthalten. Hinzu kommen noch mitgeltende Unterlagen, wie Normen, Richtlinien und Unterlagen zu angrenzenden Systemen. Somit umfasste die Anfrage insgesamt mehrere tausend Seiten.

321

Dies ist ein Beispiel für die unterschiedliche Interpretation expliziten Wissens.

146

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

Um die gesamten Anforderungen überschaubar machen zu können und die Anbieterauswahl zu vereinfachen, wurde bei der Anfrage dem Lastenheft eine Requirements-Liste beigefügt, welche die wichtigsten Anforderungen in einer ExcelListe aufführte. Für jede Anforderung (insgesamt ca. 500) war eine Zeile vorgesehen, die zusätzlich ein Selbstbewertungs- und ein Kommentarfeld enthielt. Im Rahmen der Angebotsabgabe sollte jede Firma in dem Selbstbewertungsfeld mit Hilfe einer Ampelbewertung angeben, inwieweit die entsprechenden Anforderungen bei Angebotsabgabe berücksichtigt wurden. Grün sollte für die Erfüllung der Anforderung im Angebot stehen, Gelb für die eingeschränkte Erfüllung und Rot für derzeitig nicht realisierbare Anforderungen.322 Das zugehörige Kommentarfeld sollte einerseits zur Begründung der entsprechenden Einschätzung und andererseits zur weiteren Erläuterung dienen. Von der Requirements-Liste versprach sich OEM A, durch die Addition der einzelnen Bewertungen eine Aussage darüber treffen zu können, welcher Anbieter am ehesten für die Realisierung geeignet sei. Vor dem Angebotsabgabetermin wurde jeweils ein gemeinsamer Workshop mit den vier Firmen initiiert. Ziel war neben der Vorstellung möglicher maßgeblicher Mitarbeiter seitens der Anbieter aufgrund der hohen Komplexität hauptsächlich die Erläuterung des technischen Projektumfeldes und der wichtigsten Anforderungen. Weiterhin bot dieser Workshop die Möglichkeit offene Fragen im Hinblick auf die Anforderungen des Lastenhefts zu klären.

4.2.5

Vorstellung und Bewertung der Angebote

Nach den beschriebenen Workshops wurden von den vier Firmen schriftliche Angebote formuliert, die jeweils im Rahmen einer Präsentation bei OEM A vorgestellt wurden. Bevor auf die einzelnen Angebote näher eingegangen wird, kann festgehalten werden, dass sowohl die geschätzten Kosten als auch die Selbstbewertung der Firmen unerwartet unterschiedlich ausgefallen sind. Einerseits wurden bei dem teuersten Angebot die Kosten etwa doppelt so hoch wie bei dem günstigsten Angebot eingeschätzt und andererseits reichte die Spanne bei der Selbstbewertung bei den einzelnen Firmen von ca. 80% grün bis 80% rot. Der französische Zulieferer B reichte eine relativ gute Selbstbewertung ein und verwies auf die jahrelange Zusammenarbeit mit OEM A. Es ist zu erwähnen, dass Zulieferer B bei der Erstellung des Vorgängersystems involviert war und somit die Herausforderungen und die zukünftigen Anforderungen an das Prüftool CheCK 322

Eine eingeschränkte Erfüllung kann Spezifizierung im Pflichtenheft sein.

beispielsweise

die

Notwendigkeit

einer

weiteren

4.2 Fallstudie 4: Lieferantenauswahl in der Lastenheftphase

147

kannte. Dennoch war das Angebot aus Sicht von OEM A im Prinzip eine Erweiterung des Vorgängersystems und spiegelte einen wesentlich niedrigeren Erfüllungsgrad der Anforderungen des Lastenhefts wider als Zulieferer B bei der Selbstbewertung eingeschätzt hatte. Obwohl Zulieferer B darüber hinaus ausdrücklich Anforderungen des Lastenhefts ablehnte, wurde im Gesamteindruck ein technisch und wirtschaftlich überzeugendes Angebot abgegeben.323 Der deutsche Zulieferer C gab eine eher konservative mittlere Selbstbewertung ab. Zulieferer C betreibt selbst OEM-unabhängige Prüftools, die jedoch anderen Anforderungen gerecht werden müssen und keine so hohe Prüftiefe aufweisen, wie es in den Anforderungen im Lastenheft gefordert war. Aus den Kommentaren bei der Requirements Liste wurde ersichtlich, dass die bei OEM A vorhandene Komplexität von Zulieferer C deutlich unterschätzt wurde. Insgesamt gab Zulieferer C ein technisch und wirtschaftlich nur teilweise überzeugendes Angebot ab, welches die Anforderungen des Lastenhefts jedoch zu großen Teilen erfüllte. Die schlechteste Selbstbewertung in Verbindung mit dem teuersten Angebot wurde von dem deutschen Zulieferer D abgegeben. Dies war äußerst verwunderlich, da Zulieferer D gerade in die Auswahl der potenziellen Anbieter aufgenommen wurde, weil er ein relativ weit entwickeltes Prüfsystem bei Wettbewerbern von OEM A eingeführt hatte. Von einer potenziellen Übernahme von Teilen dieses Prüfsystems versprach sich OEM A einerseits ein relativ günstiges Angebot und andererseits vor dem Hintergrund des Zeitdrucks ein geringes Realisierungsrisiko. Der Hauptgrund für die schlechte Selbstbewertung in Verbindung mit den hohen Kosten war, dass Zulieferer D den Grad der Verbindlichkeit der Anforderungen sehr hoch eingeschätzt hat und sich sehr penibel an den Vorgaben des Lastenhefts orientiert hat. Dies hatte zur Folge, dass ein sehr großer Aufwand zur Anpassung des bestehenden Systems bzw. Entwicklung eines neuen Systems erforderlich gewesen wäre, was letztlich in dem hohen Angebotspreis resultierte. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Angebot von Zulieferer D sehr streng nach Lastenheft erstellt wurde, technisch und wirtschaftlich dennoch nicht überzeugend war. Der amerikanische Zulieferer E, mit dem es bisher keine Projekterfahrung gab, reichte ein mit dem deutschen Zulieferer A abgestimmtes Angebot ein. Dadurch hatte Zulieferer E den Vorteil auf das Erfahrungswissen von Zulieferer A zurückzugreifen, der bei OEM A bereits seit vielen Jahren tätig ist. Zulieferer E hatte die deutlich beste Selbstbewertung und versprach nahezu alle Anforderungen realisieren zu können. 323

Dies zeigt, wie wichtig die gemeinsame Erfahrung bei der Interpretation expliziten Wissens in Dokumentenform ist.

148

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

Zulieferer E gab an, in Referenzprojekten vieles von dem, was die anderen Anbieter für die Zukunft vorgestellt hatten, bereits realisiert zu haben. Dies wurde im Rahmen der Präsentation auch auf einer relativ hohen Ebene erläutert, wobei sich bei Detailfragen teilweise auf Firmengeheimnisse gestützt wurde. Aus dem Angebot wurde ersichtlich, dass Zulieferer E sich im Gegensatz zu Zulieferer D sehr stark an seinen bestehenden Lösungen orientierte, welche zu großen Teilen an die Anforderungen des Lastenhefts angepasst wurden. Es handelte sich schließlich um ein technisch und wirtschaftlich überzeugendes Angebot, bei dem die Anforderungen des Lastenhefts nicht so verbindlich wie bei Zulieferer D berücksichtigt wurden. Nach der Präsentation der Angebote wurden diese durch OEM A bewertet, wobei die einzelnen Firmen zur Beseitigung von Unklarheiten zu Stellungnahmen in Bezug auf einzelne Punkte gebeten wurden. Da das Angebot von Zulieferer D insgesamt so stark von den Erwartungen abwich, wurde dieser technologisch relativ gut eingeschätzte Anbieter aufgefordert, sein Angebot nachzubessern. Zulieferer D wurde gebeten ein Angebot zu erstellen, das sinnvolle Teile des existierenden Systems beinhalte, auch wenn diese nicht exakt die Anforderungen des Lastenhefts widerspiegelten. Das zweite Angebot war nun deutlich günstiger und technisch überzeugender, wich jedoch im Gegensatz zu dem ersten Angebot sehr stark von den Anforderungen des Lastenhefts ab.324 Es ist anzumerken, dass OEM A davon ausgegangen war, dass die gestellten Anforderungen des Lastenhefts nicht alle exakt, sondern nur bis zu einem gewissen Grad zu berücksichtigen waren. Vielmehr wäre OEM A auch sinnvollen alternativen Lösungswegen aufgeschlossen gewesen, was allerdings so nicht allen Zulieferern bewusst war. Zulieferer E, der vorher keine Erfahrung mit OEM A hatte profitierte in diesem Fall von der langjährigen Erfahrung die Zulieferer A mit OEM A hatte. Nach Einbeziehung der Stellungnahmen und dem nachgebesserten Angebot von Zulieferer D wurde letztlich nach Abwägen aller Vor- und Nachteile Zulieferer E zusammen mit Zulieferer A als Integrationspartner beauftragt. Diese Entscheidung wurde in einem OEM A-internen Workshop durch mehrere Projektbeteiligte getroffen, wobei auch andere Präferenzen existierten. Die Auswahl von Zulieferer E durch die beste Selbstbewertung und die versprochenen Leistungen in Verbindung mit den genannten Referenzprojekten kann für einen Außenstehenden als logische 324

Dies zeigt, dass OEM A und Zulieferer D aufgrund mangelnder gemeinsamer Erfahrung eine äusserst unterschiedliche Prioritätensetzung hatten.

4.2 Fallstudie 4: Lieferantenauswahl in der Lastenheftphase

149

Konsequenz erscheinen. Dennoch soll an dieser Stelle der Hinweis gegeben sein, dass es sich um eine äußerst schwierige Entscheidung gehandelt hat, da die verschiedenen Angebote zu großen Teilen nicht objektiv vergleichbar waren.

4.2.6

Schlussfolgerungen

Die Auswahl des Anbieters für das strategisch wichtige Prüftool CheCK zeigt beispielhaft, dass bei der Anbieterauswahl häufig ein hoher Zeitdruck herrscht und die verschiedenen Anbieter innerhalb kurzer Zeit auf eine Anfrage per Lastenheft ein detailliertes Angebot liefern müssen. Für die Gewinnung eines gemeinsamen Verständnisses kann der gemeinsame Workshop vor Angebotsabgabe als wertvolle Maßnahme angesehen werden. Dennoch konnte, wie sich im Nachhinein zeigte, aufgrund der Komplexität nicht auf dem Detaillierungsgrad diskutiert werden, wie es zur Schaffung eines gemeinsamen Bezugsrahmens notwendig gewesen wäre. Generell stellt sich die Frage, wie detailliert Anforderungen in einem Lastenheft formuliert werden sollten. Eine sehr detaillierte Vorgabe schließt gegebenenfalls andere sinnvolle Lösungswege aus, und zu weiche Formulierungen führen im Gegensatz eher zu Unklarheiten über den tatsächlichen Inhalt der Anforderung.325 Wie sich bei den verschiedenen Angeboten der Firmen, insbesondere bei den Selbstbewertungs- und Kommentarfeldern, gezeigt hat, wurden die einzelnen Anforderungen des Lastenhefts sowohl inhaltlich als auch von deren Relevanz deutlich unterschiedlich interpretiert. So wurde der Grad der Verbindlichkeit, die Anforderungen erfüllen zu müssen, sehr unterschiedlich eingestuft. Zulieferer D orientierte sich sehr genau an den Vorgaben, Zulieferer B hingegen kaum, was den Vergleich der Angebote deutlich erschwerte. Es zeigt sich beispielhaft, wie verschiedene Anbieter (insbesondere Zulieferer B) bestrebt waren, auf ihrer technologischen Trajektorie326 zu verweilen und vorhandene Systeme für neue Aufgabenstellungen anzupassen bzw. weiterzuentwickeln. Bei den schriftlichen Angeboten hat sich gezeigt, dass die wirtschaftlich und technisch überzeugendsten Angebote am wenigsten verbindlich nach den einzelnen Anforderungen des Lastenhefts erstellt wurden. Andererseits waren die stringent an den Anforderungen des Lastenhefts orientierten Angebote wirtschaftlich und

325

326

Dies kann durch die folgenden beiden Möglichkeiten der Formulierung einer Anforderung für Navigationsmöglichkeiten illustriert werden: 1) Navigation im Stil des Windows Explorer 2) Navigation im Stil des Windows Explorer oder einer anderen geeigneten Form. Siehe zum Begriff der technologischen Trajektorie Dosi (1982).

150

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

technisch wenig überzeugend. Dies kann dadurch erklärt werden, dass die wirtschaftlich und technisch überzeugendsten Angebote auf Anpassungen bzw. Erweiterungen von vorhandenen Lösungen basierten. Hier können im Vergleich zu Neuentwicklungen Skaleneffekte realisiert werden. Weiterhin kann auf bestehendes Erfahrungswissen aufgebaut werden. Logisch erscheint ebenfalls, dass angepasste oder erweiterte Lösungen üblicherweise nicht so stringent auf die Anforderungen des Lastenhefts eingehen können wie spezielle Neuentwicklungen, da auf bestehende Teile zurückgegriffen wird. Das Lastenheft, die Requirements-Liste und die schriftlichen Angebote sind in diesem Fall Beispiele für hochgradig explizites Wissen, das jedoch aufgrund der verschiedenen Hintergründe und Erfahrungen sowie Mentalitätsunterschieden der einzelnen Nationalitäten (Franzosen/Amerikaner/Deutsche) unterschiedlich interpretiert wurde. Abschließend kann angemerkt werden, dass das Vertrauen gerade bei der Auswahl der Anbieter eine große Rolle spielt. Dies zeigte sich darin, dass OEM A letztlich auf die Präsentationen der Firmen und deren schriftliche Angebote angewiesen war.327

4.3

Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL

Die Beschreibung der Schnittstelle zwischen OEM und EDL steht in engem Zusammenhang zu der Fallstudie in Kapitel 3.2 in der anhand des Beispiels Improved Quality Testing die Pilotierung sowie der Rollout einer neuen Methode analysiert wurde. Da dort der Einsatz von EDL im Rahmen eines Betreibermodells relevant war, ist es Ziel dieses Kapitels die für den Wissenstransfer relevanten Gesichtspunkte bei der Einbindung von EDL herauszuarbeiten. Von besonderem Interesse ist diese Schnittstelle, da es sich um ein Outsourcing von operativen Tätigkeiten handelt. Der im Folgenden betrachtete Wissenstransfer an der Schnittstelle zwischen OEM und EDL umfasst vier Kernaspekte. Nach einem einleitenden Marktüberblick über externe F&E-Aufwendungen wird als erster Aspekt die projektabhängige Zusammenarbeit beschrieben, wobei auf unterschiedliche Vergabearten und die entsprechende Zusammensetzung der Projektgruppen eingegangen wird. Zweitens wird die räumliche Verteilung der Projektgruppenmitglieder, der eine entscheidende Rolle bei der Untersuchung dieser Thematik beigemessen werden kann, beleuchtet. Drittens findet eine Untersuchung des personengebundenen Wissenstransfers 327

Eine ausführliche Diskussion über unterschiedliche Interpretationen expliziten Wissens findet sich in Kapitel 5

151

4.3 Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL

sowohl auf Sachbearbeiter- als auch auf Managementebene statt. Viertens werden Strategien des OEM bei der Beauftragung von EDL besprochen, wobei im Wesentlichen die Wissenssicherung im Vordergrund der Überlegungen steht.

4.3.1

Externe F&E-Aufwendungen in Deutschland

Unternehmen greifen bei ihrer Produkt- und Prozessentwicklung zunehmend auf externes Know-how zurück. Alleine in Deutschland wurden im Jahr 1999 insgesamt 33,3 Mrd. € in F&E investiert, davon 5,02 Mrd. € in externe Aufwendungen. Dies entspricht einem Anteil von 15%. Wie Abbildung 46 zeigt, ist in den letzten Jahren insgesamt ein steigender Trend bei den externen F&E-Aufwendungen zu beobachten. Anteil externe F&E Aufwendungen in Deutschland in % 25

20

Insgesamt Bergbau

15

Verarbeitendes Gew erbe Chemische Industrie Maschinenbau

10

Elektrotechnik Fahrzeugbau

5

0 1987

1993

1999

Abbildung 46: Externe F&E-Aufwendungen in Deutschland (Koschatzky et. al. 2003, S. 57)

Insbesondere der Fahrzeugbau328 und die chemische Industrie haben ihre externen Aufwendungen deutlich ausgedehnt und verzeichneten in 1999 die höchsten Anteile. Es ist zu beobachten, dass insbesondere Unternehmen mit einer höheren Innovationsrate zunehmend andere Unternehmen als Kooperationspartner bevorzugen. Weiterhin gewinnt gerade für den Fahrzeugbau und die chemische Industrie das Ausland als F&E-Dienstleister an Bedeutung. Darüber hinaus kann festgestellt werden, dass die Art der Zusammenarbeit sich von einer auftrags-

328

Zu der Branche Fahrzeugbau gehören die Teilbereiche Straßenfahrzeugbau, Schienenfahrzeuge sowie Luft- und Raumfahrt.

152

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

bezogenen Beziehung zu einer mittel- bis langfristig angelegten Kooperation wandelt.329 Der Rückgang des Anteils externer F&E-Aufwendungen in der Elektrotechnik/Elektronik seit dem Jahr 1995 kann unter anderem dadurch erklärt werden, dass sich bedeutende Produzenten elektrotechnischer Produkte neuerdings als Automobilzulieferer der Branche Fahrzeugbau zugehörig fühlen.330 Nach Jahren starken Wachstums von Ingenieurdienstleistungen lässt dieses in der Automobilindustrie mittlerweile wieder nach. Um genauere Aussagen treffen zu können, ist jedoch eine differenziertere Betrachtung der Geschäftsfelder nötig. So ist beispielsweise im Bereich der Karosserie eine Sättigung festzustellen. Im Bereich E/E kann aber nach wie vor von einer Zunahme an Ingenieurdienstleistungen ausgegangen werden, da der Anteil der E/E-Komponenten im Automobil weiter steigt. Hier ist zu erwähnen, dass einige OEMs in den letzten Jahren eigene, konzerninterne EDL aufgebaut haben,331 mit denen sich die externen EDL messen müssen. Insgesamt belief sich das Umsatzvolumen für Entwicklungsdienstleistungen nach einer Studie von Mercer Management Consulting im Jahr 2002 auf 8,4 Mrd. € weltweit. Der weltweite Markt bis 2012 wird auf mindestens 13 Mrd. € und in einem optimistischen Szenario auf bis zu 26 Mrd. € geschätzt.332 Neben der Konzentration der OEM auf ihre Kernkompetenzen333 wurden für die steigende Bedeutung von EDL im Automobilbereich folgende Gründe genannt: x

Steigende Modell- und Variantenvielfalt

x

Kürzere Produktlebenszyklen

x

Steigende Produktkomplexität durch neue Fahrzeugtechnologien

Genau für die in diesem Zusammenhang zusätzlich anfallenden Tätigkeiten bieten EDL die nötige kapazitative Flexibilität, auf die OEMs kurzfristig und projektphasen329 330 331

332 333

Vgl. Koschatzky/Reinhard/Grenzmann (2003, S. 64-65). Vgl. Koschatzky/Reinhard/Grenzmann (2003, S. 58). Es kann zwischen internen (konzernabhängigen) und externen Engineeringdienstleistern unterschieden werden. Ein konzerninterner EDL ist beispielsweise die MBTech-Group als eine 100%ige Tochtergesellschaft von DaimlerChrysler. Bertrandt hingegen ist ein externer EDL. Neben diesen Extrempolen befinden sich auch Mischformen wie IAV (50%ige Tochtergesellschaft von VW) auf dem Markt, die nur zu bestimmten Teilen an einen OEM gebunden sind. Vgl. O.V. (2003, S. 52). Das Konzept der Kernkompetenz geht auf einen Artikel von Prahalad/Hamel (1990) zurück. Siehe zur Strukturierung der Leistungstiefe auch Picot (1991) und Picot/Reichwald/Wigand (2001).

4.3 Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL

153

abhängig zur Überbrückung etwaiger Ressourcenengpässe zurückgreifen können.334 Die Herausforderung besteht für den EDL insofern in der Bedienung der diskontinuierlichen Nachfrage der OEMs in einem insgesamt wachsenden Markt, wobei Leistungen in nahezu allen Stufen der Wertschöpfungskette angeboten werden.

4.3.2

Projektabhängige Zusammenarbeit

Die Zusammenarbeit von OEM und EDL erfolgt durch Beauftragungen im Rahmen von Projekten. Zur Beleuchtung des Wissenstransfers an dieser Schnittstelle ist insbesondere interessant, welche Formen der Vergabe in der Praxis zu beobachten sind und wie die zugehörigen Projektgruppen zusammengesetzt sind.

4.3.2.1

Vergabearten bei der Beauftragung von EDL

Bei der Untersuchung der Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL konnten zwei Vergabearten und damit verbundenen Vertragsformen identifiziert werden. So kann einerseits zwischen einer Komplettvergabe von Projekten oder Projektteilen sowie andererseits dem Einsatz von Fremdarbeitskräften unterschieden werden. Bei der Vergabe von kompletten Projekten oder Projektteilen werden nach Angabe der Interviewpartner üblicherweise Festpreisverträge mit festgeschriebenen Ergebnissen verhandelt, wobei die Abarbeitung der Aufgaben dann in vollständiger Verantwortung des EDL erfolgt. Durch die vorher definierten Ergebnisse hat der OEM bei einer solchen Vertragsform nach Einschätzung der Experten ein niedrigeres Risiko als bei einer Beauftragung von Fremdarbeitskräften, was sich in höheren Margen für den EDL widerspiegelt. Entsprechend der Interviewergebnisse setzt ein EDL in solchen Fällen typischerweise nur seine eigenen Ressourcen ein, wobei die beauftragten Mitarbeiter aufgrund der eigenständigen Bearbeitung sowohl eine hohe Expertise in dem benötigten Fachgebiet als auch eine hohe Selbstständigkeit aufweisen müssen. EDL haben nach Auskunft der Interviewpartner insofern ein großes Interesse an der eigenständigen Bearbeitung kompletter Projekte, da sie durch diese in der Lage sind, spezifisches Know-how in einem bestimmten Bereich zu generieren. Hierdurch

334

Dies ist für die OEMs insbesondere dann von großem Interesse, wenn die Einstellung von eigenen Mitarbeitern für temporäre Tätigkeiten vermieden werden soll.

154

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

erhoffen sie sich auf dem Markt für Engineeringdienstleistungen Unique-SellingPositions und folglich komparative Wettbewerbsvorteile aufzubauen.335 Wird ein Projekt nur zu bestimmten Teilen an einen EDL vergeben, so wird eine gute und enge Zusammenarbeit zwischen EDL und OEM sowie gegebenenfalls Dritten (andere EDL, Zulieferer etc.) als unerlässlich angesehen. Um die Abhängigkeit des EDL von anderen Projektteilen in solchen Fällen zu veranschaulichen, eignet sich das Beispiel der Steuergeräteentwicklung. So sind heute im Premiumsegment mehr als 70 Steuergeräte in den Fahrzeugen verbaut, die verschiedenste Sicherheits- und Komfortfunktionen bedienen. Durch die immer komplexer werdenden Steuer- und Regelungsanforderungen sind diese Steuergeräte hochgradig miteinander vernetzt, sodass die Entwicklung eines Steuergeräts auch beträchtlich von der Entwicklung anderer Steuergeräte abhängen kann. Wird nun ein Steuergerät oder ein Teil hiervon von einem EDL entwickelt, so ist nach Aussage der Experten sicherzustellen, dass eine regelmäßige und reibungslose Kommunikation und Koordination mit den am Gesamtsystem involvierten Parteien stattfindet. Der Einsatz von Fremdarbeitskräften wird in der Branche auch als Body Leasing bezeichnet. Hier handelt es sich um Verträge, die auf Stundenbasis ausgehandelt werden. Nach Aussage der Interviewpartner werden in diesem Fall die Mitarbeiter des EDL häufig direkt in den Gebäuden des OEM platziert, sodass eine starke räumliche Nähe gewährleistet ist. Hierfür wird in Deutschland allerdings eine Lizenz benötigt, wobei die genauen Erfordernisse in dem Gesetz zur Regelung der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung (AÜG 2005) beschrieben sind.336 Body Leasing ermöglicht somit einen hohen Flexibilitätsgrad, da die Fremdarbeitskräfte punktuell und bedarfsabhängig eingesetzt werden können. Die Spezifizierung von bestimmten Aufgaben ist nach Einschätzung der Interviewpartner nicht so wichtig wie in den anderen beiden Fällen, da in der Regel einerseits die zu bearbeitenden Aufgabenpakete vom Umfang wesentlich kleiner sind und zum anderen sehr schnell wechseln können. Dies sei gerade dann der Fall, wenn es sich um Aufgaben des Tagesgeschäfts handelt und der EDL-Mitarbeiter vor-Ort beim OEM sitzt. Der OEM geht hier nach Einschätzung der Experten im Vergleich zu Festpreisverträgen ein

335

336

Siehe zu Wettbewerbsvorteilen Teece/Pisano/Shuen (1997, S. 509): „The fundamental question of strategic management is how firms achieve and sustain competitive advantage.“ Siehe zu diesem Themenkompolex insbesondere Teece/Pisano/Shuen (1997), Rumelt/Schendel/Teece (1991) und Mahoney/Pandian (1992). Mitarbeiter des EDL dürfen nach Aussage der Interviewpartner aufgrund dieses Gesetzes beispielsweise nicht an Teamregelkommunikationen des OEM teilnehmen und haben von den OEM-Mitarbeitern abgetrennte Büros.

4.3 Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL

155

höheres Risiko ein, da die gewünschten Ergebnisse nicht exakt prognostiziert werden können und somit das Controlling der Leistung schwieriger ist.337 EDL sind aus verschiedenen Gründen bestrebt, nicht nur Fremdarbeitskräfte beim OEM einzusetzen. Beispielsweise wurde genannt, dass der EDL beim Body Leasing ein gewisses Planungssicherheitsproblem hat, da die abgestellten Mitarbeiter im Falle einer Verschlechterung der Unternehmenssituation beim OEM aufgrund ihrer kurzfristigen Tätigkeiten die ersten sind, die nicht weiter beauftragt werden. Weiterhin wurde darauf hingewiesen, dass beim Body Leasing schwieriger eigenes Know-how unter Beweis gestellt werden kann, da die Ergebnisse der EDL-Mitarbeiter zu großen Teilen in die Ergebnisse der OEM-Mitarbeiter einfließen.

4.3.2.2

Zusammensetzung der Projektgruppen

Durch die Flexibilität des EDL können Projektgruppen zur Bearbeitung der Aufträge des OEM in Bezug auf die Zusammensetzung und die Anzahl der Mitarbeiter spezifisch an die jeweiligen Erfordernisse angepasst werden. Nach Angabe der Interviewpartner kann es sich um einzelne Mitarbeiter oder um Gruppen von 40 und mehr Personen handeln. Obwohl beim EDL keine vorgeformten Teams für die Bearbeitung von speziellen Aufträgen des OEM existieren, wurde ausgesagt, dass häufig bei Folgeaufträgen dieselben Personen gewählt werden. Dies liegt einerseits daran, dass der OEM nach Aussage der Interviewpartner bei Mitarbeiterwechseln einen Know-how Verlust befürchtet und andererseits die benötigten Kompetenzen sehr häufig kontextspezifisch sind, sodass bei einem Mitarbeiterwechsel erneute zeitintensive Einarbeitungszeiten anfallen würden. Diese Vorgehensweise wird weiterhin als vorteilhaft angesehen, da die bereits vorher beim OEM eingesetzten Mitarbeiter des EDL sich schon in dem Umfeld auskennen und ein gemeinsames Verständnis mit den OEM-Mitarbeitern entwickelt werden konnte. Es wurde darauf hingewiesen, dass auch das Interesse des EDL-Mitarbeiters, der mit zunehmendem Alter häufig nicht mehr ständig den projektgebundenen Arbeitsort wechseln möchte, zu berücksichtigen ist. Eine Gruppe von EDL-Mitarbeitern mit guten Referenzen bleibt nach Angabe der Experten dementsprechend im Rahmen

337

Eine Unterscheidung zwischen Festpreisverträgen und Verträgen auf Stundenbasis findet sich auch in Untersuchungen zur indischen Software-Service Industrie bei Ethiraj/Kale//Krishnan/Sing (2005, S. 31). Siehe hierzu auch Banerjee/Duflo (2000).

156

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

der Kontinuität üblicherweise bei Folgeprojekten beim selben Kunden (selber OEM, selbe Abteilung), wobei Beauftragungen über mehrere Jahre keine Seltenheit sind. Allerdings sind mit einer solchen Vorgehensweise auch Nachteile verbunden. Die untersuchten EDL sehen in Bezug auf den internen Kompetenzaufbau Vorteile in einer Mitarbeiterrotation und somit in einer Unterbrechung der genannten Kontinuität. So wurde darauf hingewiesen, dass ein Mitarbeiter, der über mehrere Jahre in verschiedenen Projektgruppen bei verschiedenen OEM arbeitet, mehr Erfahrung sammeln könne als ein Mitarbeiter, der nur bei einem OEM bei einem Projekt mitarbeitet. An einer solchen Rotation sind nach Aussage der Interviewpartner auch Mitarbeiter interessiert, die noch nicht so lange in der Branche tätig sind und ein breites Know-how aufbauen wollen. Wie das Spannungsverhältnis zwischen Job Rotation beim EDL und der Beziehung zum OEM im Einzelfall aufgelöst wird, ist nach Angabe der Interviewpartner situationsspezifisch zu entscheiden. Es ist zu erwähnen, dass die Mitarbeiter des EDL als hochqualifizierte Spezialisten eingeschätzt werden und sich die technischen Inhalte von einem OEM zum anderen sowie in unterschiedlichen Abteilungen eines OEM nach Angabe der Experten nicht so stark unterscheiden wie die organisatorischen Abläufe: “Clients tend to have fairly idiosyncratic ways of doing things and it takes some time to understand and appreciate this”338

So wurde genannt, dass Einlernphasen der Mitarbeiter des EDL weniger auf technische Inhalte als auf die Bildung eines gemeinsamen Verständnisses zu fokussieren sind. Weiterhin sei zu beachten, dass es innerhalb von bestimmten Bereichen eines OEM unterschiedliche Schattierungen geben kann, was für EDLMitarbeiter durchaus mit neuen Einlernphasen verbunden sein kann. Dies könne auch dann der Fall sein, wenn diese bereits in einem anderen Teil des Bereichs tätig waren. Diese Aussagen zeigen, dass die eingesetzten Personen durch die Kontextabhängigkeit von Engineeringdienstleistungen eine entscheidende Rolle spielen.339 Unterschiedliche Schattierungen bei einem OEM drücken sich nach Angabe der Interviewpartner nicht nur bei den organisatorischen Abläufen aus, sondern auch in den verwendeten Begriffen. Beispielsweise kann es vorkommen, dass zwei Bereiche 338 339

Vgl. Ethiraj/Kale//Krishnan/Sing (2005, S. 32). Die Kontextabhängigkeit von Kompetenzen wird wird bei Sandberg (2000, S.12) am Beispiel der Motorenentwicklung beschrieben.

4.3 Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL

157

zwei völlig verschiedene Bezeichnungen für denselben Sachverhalt benutzen. Dies ist gerade für einen EDL relevant, der bereichsübergreifende Dokumentationstätigkeiten übernimmt und somit wissen muss, in welchem Bereich welcher Begriff zu verwenden ist. Weiterhin wurde ausgesagt, dass bei den OEMs eine Vielzahl von historisch gewachsenen Abkürzungen vorliegt, deren Bedeutungen selbst nicht allen Mitarbeitern des jeweiligen OEM transparent sind. Als zusätzliche Problematik wurde genannt, dass unterschiedliche Sprachen in verschiedenen Bereichen existieren und dort häufig nur die zugehörigen Abkürzungen bei der Kommunikation verwendet werden. Der EDL steht in solchen Situationen vor der Herausforderung sich zu überlegen, für welche Zielgruppe er arbeitet und wo welche Begriffe verwendet werden. Dies ist gerade bei Schnittstellenfunktionen mit mehreren Bereichen von Bedeutung.340 Für einen Außenstehenden ist beispielsweise nicht ohne weiteres ersichtlich, dass DTR und ART Synonyme sind. Ein erfahrener Mitarbeiter weiß jedoch, dass DTR Distronic bedeutet und dies die englische Bezeichnung für Abstandsregeltempomat ART ist. Auch eine banale Suche nach einem Tanksystem in einer im Wesentlichen in Deutsch geführten Dokumentationsdatenbank unter den T-Einträgen kann zu Verwirrung führen, wenn dieses ausnahmsweise in dem entsprechenden System unter F wie fuel geführt ist. Hierdurch wird klar, dass es eine gewisse Zeit benötigt, bis sich ein EDL-Mitarbeiter in das jeweilige Umfeld eingearbeitet hat. Durch verschiedene Schattierungen der Bereiche beim OEM entstehen unterschiedliche Anforderungen an den EDL. So wurde darauf hingewiesen, dass beispielsweise die Anforderungen an die Dokumentationsart in verschiedenen Bereichen eines OEM sehr unterschiedlich sein können, was es gerade für EDLMitarbeiter erforderlich macht, sich in verschiedenen Denkmustern zu bewegen. Die obigen Beispiele zeigen, dass das Fehlen einer eindeutigen Nomenklatur in Verbindung mit einer hohen Anzahl an Abkürzungen und Bezeichnungen zu einer sehr hohen Komplexität an Begrifflichkeiten führt. Dadurch werden Interpretationsspielräume gegeben, die gerade bei wenig gemeinsamer Erfahrung der Beteiligten zu Schwierigkeiten beim Wissenstransfer führen. Insofern erklärt sich, warum bei der Zusammensetzung der Projektgruppen auf Kontinuität gesetzt wird. 341 340

341

Ein Beispiel für eine unterschiedliche Interpretation desselben Begriffs findet sich in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2.2.3. Ethiraj/Kale//Krishnan/Sing (2005, S. 26) unterscheiden mit kundenspezifischen Kompetenzen und Projektmanagementkompetenzen zwei wesentliche Kompetenzen bei SoftwareDienstleistern. Kundenspezifische Kompetenzen definieren sie als Funktion von wiederholten Interaktionen mit einem bestimmten Kunden über mehrere Projekte. Projektmanagementkompetenzen definieren sie als nachhaltige Investition in die Infrastruktur (Systeme und Prozesse) sowie in Trainings zur Verbesserung der internen Prozesse.

158

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

Bei der Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL gibt es nach Angabe der Experten für alle Projektgruppen offizielle Ansprechpartner in Form von Projektleitern. Allerdings wurde erwähnt, dass bei der täglichen Arbeit in der Regel eine solche Hierarchie jedoch nicht existent ist, da sonst ein schneller und einfacher Austausch zwischen Mitarbeitern des OEM und des EDL nicht gegeben wäre. Hier wird versucht, direkt miteinander zu kommunizieren und den persönlichen Kontakt zu suchen. Die Rolle der offiziellen Ansprechpartner wurde bei offizieller Kommunikation wie bei Abnahmen und bei Eskalationsprozessen als relevant eingestuft.

4.3.3

Räumliche Verteilung der Mitarbeiter bei der Projektarbeit

Im Hinblick auf die räumliche Verteilung der EDL-Mitarbeiter konnten in den Untersuchungen zwei Extrempole unterschieden werden. Zum einen können die Mitarbeiter direkt vor-Ort in den Bürogebäuden des OEM sitzen, zum anderen besteht die Möglichkeit, dass die Bearbeitung einer Beauftragung im Stammhaus oder einer Niederlassung des EDL erfolgt. Darüber hinaus gibt es eine dritte Variante, bei der die Mitarbeiter einer Projektgruppe teilweise beim OEM und teilweise beim EDL sitzen.342

niedrig hoch

hoch hoch

Formalisierungsgrad der Kommunikation Detaillierungsgrad der Aufgabenspezifizierung Häufigkeit der Kommunikation

„Stallgeruch“ Gemeinsame Freizeitaktivitäten

EDL Stammhaus/ Niederlassung

hoch hoch niedrig

niedrig niedrig niedrig

hoch

fachlich

niedrig

Mischformen

Netzwerkbildung

persönlich

Vor Ort bei OEM

Abbildung 47: Kommunikation OEM-EDL in Abhängigkeit der räumlichen Verteilung

Im Rahmen der Interviews wurde angegeben, dass durchschnittlich 60-80% aller Mitarbeiter direkt vor-Ort beim OEM arbeiten, wobei diese Quote je nach 342

Siehe zu dem Einfluss räumlicher Näche auch die Untersuchung von Allen (1984) in Kapitel 2.2.1.3.

4.3 Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL

159

Projektsituation deutlich höher oder niedriger sein kann. Bemerkt wurde an dieser Stelle, dass EDL üblicherweise die Standorte ihres Stammhauses und ihrer Niederlassungen so wählen, dass sie schnell und spontan vor-Ort bei ihrem jeweiligen Kunden sein können. Dies deutet bereits auf die Wichtigkeit der geografischen Nähe hin. Abbildung 47 zeigt einige Aspekte, die entsprechend der Interviewergebnisse bei der räumlichen Verteilung der Projektmitglieder eine Rolle spielen. Eine detaillierte Diskussion der verschiedenen fachlichen und persönlichen Aspekte, die im Hinblick auf die räumliche Verteilung der Projektmitglieder eine Rolle spielen, findet sich in den folgenden Abschnitten.

4.3.3.1

Vorteile der Vor-Ort-Arbeit beim OEM

Es wurde angegeben, dass wenn sich die EDL-Mitarbeiter vor-Ort beim OEM befinden, so ein sehr enger Kontakt zwischen ihnen und den OEM-Mitarbeitern erreicht wird. Die Möglichkeit der Face-to-Face-Kontakte habe hier einen erheblich positiven Einfluss auf die fachliche und persönliche Kommunikation. In dieser Konstellation ist der Formalisierungsgrad nach Einschätzung der Interviewpartner vergleichsweise niedrig, da viele Dinge unabhängig von formalisierten Regelkommunikationen geklärt werden können. Es zeigte sich, dass so auf informelle Weise auch Themen besprochen werden können, für die in einem formalisierten Treffen keine Möglichkeit besteht oder die dort so nie angesprochen werden würden.343 Eine Vor-Ort-Tätigkeit bietet darüber hinaus nach Aussage der Experten für den EDL-Mitarbeiter bessere Möglichkeiten, Informationen von verschiedenen Seiten zu bekommen und diese auf ihre Konsistenz hin zu prüfen. Hierdurch könne vermieden werden, dass die Arbeiten in unterschiedliche Richtungen laufen. Insgesamt finde so eine häufige fachliche Kommunikation zum aktuellen Stand und potenziellen Problemen des Projekts statt. Bei einer Vor-Ort-Tätigkeit sei es zudem nicht erforderlich, die Aufgaben in dem Detaillierungsgrad zu spezifizieren wie es bei einer Tätigkeit im Stammhaus oder einer Niederlassung notwendig wäre, da jederzeit Abstimmungen möglich seien. Insofern sollten nach Einschätzung der Interviewpartner Projekte mit hohem zwischenzeitlichem Abstimmungsbedarf eher vor-Ort bearbeitet werden, was auch Vorteile für den OEM hinsichtlich der Flexibilität bietet.

343

Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang der informelle Wissenstransfer am Kaffeeautomaten.

160

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

Weiterhin werden Vor-Ort-Lösungen gerade dann als sinnvoll eingestuft, wenn es sich um strategisch wichtige Projekte des OEM handelt, bei denen das vorhandene oder neu zu generierende Wissen innerhalb der Unternehmensgrenzen bleiben soll. Handelt es sich beispielsweise um die Erstellung einer Variante eines bereits fertig entwickelten Systems, so wird eher eine räumliche Trennung gewährt. Bei der Projektarbeit wurde als nicht zu unterschätzen angegeben, dass gerade die persönliche Ebene der Interaktion entscheidend zum Erfolg eines Projekts und zu einem gemeinsamen Verständnis beiträgt. Damit der oben erwähnte fachliche Austausch reibungslos funktioniert, sollte daher auch die zwischenmenschliche Komponente Beachtung finden. Funktioniert die persönliche Komponente zwischen Mitarbeitern des OEM und des EDL sehr gut, so kann nach Meinung der Interviewpartner mehr informelles Wissen fließen. Dies sei hilfreich für das Verständnis der gegenseitigen Strukturen und Zuständigkeiten, liefere aber auch Hinweise über Sympathien und Antipathien zwischen den involvierten Projektmitgliedern.344 Hierzu sei es notwendig, ein ausgeprägtes Gruppenzusammengehörigkeitsgefühl aufzubauen, welches Grundvoraussetzung für eine reibungsfreie Zusammenarbeit ist. Sofern dieses vorhanden sei, könnten Missverständnisse oder Konflikte umgangen oder frühzeitig eliminiert werden. Die Fähigkeit des EDL-Mitarbeiters, sich in spezifische Denkmuster und Arbeitsabläufe der OEM-Mitarbeiter in bestimmten Abteilungen einzudenken, wird in der Praxis häufig mit dem Begriff Stallgeruch345 ausgedrückt. Gerade wenn Projekttätigkeiten diese Fähigkeiten erfordern und die Aufgaben nicht losgelöst vom Tagesgeschäft des OEM bearbeitet werden können, ist nach Einschätzung der Interviewpartner eine Vor-Ort-Tätigkeit empfehlenswert. Es wurde berichtet, dass manche Auftraggeber diesen Stallgeruch bewusst herzustellen versuchen, da dann ein geringerer formaler Abstimmungsbedarf entsteht und die Arbeiten weniger stark spezifiziert werden müssen. Allerdings wurde auch ausgesagt, dass manche Auftraggeber diesen Stallgeruch bewusst unterbinden und die Mitarbeiter des EDL nicht so wie die eigenen behandeln. Motiviert ist eine solche Vorgehensweise nach Meinung der Interviewpartner durch die Furcht vor Know-how Verlust. Es wurde darauf hingewiesen, dass ein EDLMitarbeiter in einem solchen Fall ein gutes Standing benötigt und vorab detaillierter

344

345

Dies entpricht der Empfehlung einer Balance zwischen Aufgabenerfüllung und sozioemotionalen Faktoren in Kapitel 3.3.1. Der Begriff Stallgeruch wurde bewusst so übernommen, da er von mehreren Interviewpartnern unabhängig voneinander gewählt wurde.

4.3 Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL

161

definiert werden muss, was abgearbeitet werden soll. Schwierig sei eine solche Konstellation insbesondere für neue Mitarbeiter beim EDL, die insgesamt wenig Berufserfahrung haben. Um die persönliche Beziehung zwischen OEM und EDL-Mitarbeitern zu festigen, wurden gemeinsame Freizeitaktivitäten genannt, die nach Angabe der Experten bei Vor-Ort-Lösungen wesentlich häufiger durchgeführt werden. Sind die EDL-Mitarbeiter vorzugsweise im Stammhaus oder einer Niederlassung tätig, so findet entsprechend der Interviewergebnisse eine deutlichere Trennung zwischen Beruf und Freizeit statt und es kommt im Wesentlichen zu rein geschäftlichen Terminen. Sitzen die Mitarbeiter des EDL vor-Ort beim OEM, so wird es durch die persönliche Ebene als wesentlich leichter eingeschätzt, ein Netzwerk beim OEM aufzubauen, als es bei einer Tätigkeit im Stammhaus oder einer Niederlassung der Fall wäre. Benötigte Informationen und die entsprechenden Ansprechpartner können nach Aussage der Experten vor-Ort leichter gefunden werden, da ein OEM-Mitarbeiter eher bereit sein wird, den externen Kollegen zu helfen, die er persönlich kennt. Weiterhin wurde erwähnt, dass bei einem guten Netzwerk potenzielle Aufträge besser aufgespürt werden können, da die aktuellen Tätigkeitsfelder des OEM und die hiermit eventuell verbundenen Kapazitätsengpässe eher transparent sind.346

4.3.3.2

Vorteile der räumlichen Trennung

Bei einer Tätigkeit im Stammhaus oder einer Niederlassung kann der EDL seine Mitarbeiter nach Meinung der Experten besser führen und schafft es somit eher, eine eigene Unternehmenskultur aufzubauen, als wenn die Mitarbeiter beim OEM abgestellt sind. Weiterhin wurde erwähnt, dass der EDL sein im Projekt generiertes Wissen so eher schützen kann, da nur freigegebene Stände an den OEM kommuniziert werden und das benötigte Know-how teilweise nicht transparent ist. Zudem habe der EDL so bessere Möglichkeiten in Form von definierten Reviews auf seine Arbeiten aufmerksam zu machen, da die Ergebnisse explizit herausgestellt werden können. Bei räumlicher Trennung sind Face-to-Face-Kontakte nach Angabe der Interviewpartner insbesondere bei Projektstart wichtig, um eine Vertrauensbasis aufzubauen und somit den weiteren Projektverlauf positiv zu beeinflussen. Weiterhin sollten hierüber hinaus geplante Face-to-Face-Kontakte zu bestimmten Zeitpunkten 346

Ein Nebeneffekt bei einer Vor-Ort-Tätigkeit bestehe darin, dass etwaige Anreisezeiten und Kosten für den EDL entfallen.

162

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

stattfinden, wobei die Tätigkeiten innerhalb spezifischer Arbeitspakete üblicherweise in einem Projektplan mit einem definierten Ende beschrieben sind.347 Je höher die teilweise über Jahre aufgebaute Vertrauensbasis zwischen OEM und EDL sei, desto eher würde eine räumliche Trennung gewählt. Es wurde darauf hingewiesen, dass die EDL-Mitarbeiter bei einer Tätigkeit im Stammhaus oder einer Niederlassung häufiger auf die offiziellen Ansprechpartner des OEM angewiesen sind und somit der informelle Austausch nicht so stark ausgeprägt sei. Für eine Tätigkeit im Stammhaus oder einer Niederlassung des EDL spricht nach Meinung der Experten, dass die Mitarbeiter dort in Ruhe arbeiten können und nicht von dem Tagesgeschäft des OEM abgelenkt werden. Dies biete sich für innovative Lösungen an, die eine vom Tagesgeschäft unabhängige Konzeption erfordern. Insbesondere könnten OEM-übergreifende Standardisierungsaufgaben besser an einem neutralen Ort beim EDL vollzogen werden. Nach Aussage der Interviewpartner sitzen die EDL-Mitarbeiter desto eher im Stammhaus oder einer Niederlassung je höher das Vertrauen zwischen OEM und EDL ist. Abschließend wurde darauf hingewiesen, dass bei einer Standortwahl berücksichtigt werden muss, wo die benötigte Infrastruktur, wie beispielsweise Erprobungsträger und IT-Systeme, verfügbar ist. In der Regel sei diese beim OEM vorhanden, wobei Ressourcen wie spezielle Prüfstände ausschließlich bei einem fokussierten EDL existieren können. Es wurde festgehalten, dass letztlich der Auftraggeber und somit der OEM bestimmt, wo die Mitarbeiter des EDL sitzen.

4.3.3.3

Mischformen

Um die EDL-Mitarbeiter direkt auf dem Firmengelände des OEM platzieren zu können, ist eine entsprechende Anzahl freier Arbeitsplätze erforderlich. Da dies nicht immer gegeben sein wird und der EDL nicht notwendigerweise über eine Niederlassung in der Nähe des OEM verfügt, soll am Beispiel Audi aufgezeigt werden, wie dennoch häufige Face-to-Face-Kontakte ermöglicht werden können. In dem 2002 eingeweihten Zentrum für Simultaneous Engineering in Neckarsulm sind etwa 80 Ingenieure von verschiedenen Partnern (u. a. EDL) vor allem für die Entwicklung von Fahrzeuginnenausstattung, Karosserien und Aggregaten tätig. Dieses Zentrum ist nur 500 Meter vom Werk entfernt und verfügt über eine direkte IT-Anbindung.348 347

348

Ähnliche Empfehlungen geben Barczak/McDonough (2003, S.16-18) im Hinblick auf die Zusammenarbeit von Globalen Teams Vgl. Industrie und Handelskammer (2002).

4.3 Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL

163

Hinsichtlich der Kosten bietet eine solche Lösung Vorteile, da beispielsweise Reisekosten und Spesen entfallen. Darüber hinaus sind seitens des EDL keine Investitionen für eine Niederlassung in der Nähe des OEM erforderlich. Kurzfristige Mietverträge und an den Kapazitätsbedarf anpassbare Räume bieten so die erforderliche Flexibilität. Der Wissenstransfer zwischen EDL und OEM soll einerseits durch die räumliche Nähe und andererseits durch die direkte IT-Anbindung (teilweise eingeschränkt) gefördert werden. Weiterhin soll ein besserer Informationsaustausch verschiedener unter einem Dach befindlicher Partner erfolgen und die Problematik der Arbeitnehmerüberlassung vermieden werden. Zu berücksichtigen ist bei einer solchen Lösung allerdings, dass die Vernetzung und die Kommunikation der Mitarbeiter des EDL mit denen des OEM nicht so stark ausgeprägt sein wird als wenn beide nur wenige Meter auseinander im selben Bürogebäude sitzen.349 Dies wird entsprechend negative Auswirkungen auf die Aufnahme des Stallgeruchs und die Ausbildung der persönlichen Ebene (weniger Gespräche am Kaffeeautomaten etc.) haben. Insofern wird eine solche Lösung nur bedingt für die Steigerung des informellen Wissenstransfers geeignet sein. Neben diesem Beispiel wurden auch Mischformen genannt, bei denen ein Teil der EDL-Mitarbeiter vor-Ort beim OEM in der Rolle eines Schnittstellenmanagers fungiert (Resident Engineer) und ein Teil im Stammhaus oder einer Niederlassung sitzt. Hier werden sich die zuvor genannten Vor- und Nachteile der jeweiligen Extrempole vermischen. Es ist zu bemerken, dass solche Konstellationen dazu dienen sollen, die EDL-Mitarbeiter im Stammhaus oder der Niederlassung besser mit dem OEM zu vernetzen. Dies kann nach Angabe der Interviewpartner jedoch zu Problemen zwischen den räumlich verteilt arbeitenden EDL-Mitarbeitern führen, wenn die beim OEM sitzenden Mitarbeiter zunehmend die Einbindung in die Strukturen ihres eigentlichen Arbeitgebers verlieren und es zu einer gewissen Loslösung kommt. Es wurde darauf hingewiesen, dass eine Abwanderung des Mitarbeiters zum OEM desto wahrscheinlicher ist desto größer die Entfremdung vom EDL wird. Um dem entgegenzusteuern wurde genannt, dass die beim OEM tätigen Mitarbeiter des EDL in der Praxis teilweise an EDL-internen Regelkommunikationen teilnehmen müssen. Dies gestaltet sich aufgrund von Einschnitten in den Arbeitsablauf und Reisezeiten jedoch nach Angabe der Interviewpartner häufig schwierig.350 Tiefergehende Einblicke in die Thematik des Mitarbeiterwechsels finden sich in den folgenden Ausführungen. 349 350

Siehe hierzu die Untersuchungen von Allen (1984) in Kapitel 2.2.1.3. Als eine Lösung für dieses Problem wurde genannt, dass in Form einer Rotation nicht jedes Teammitglied bei jeder Teamsitzung teilnehmen muss.

164 4.3.4

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

Personengebundener Wissenstransfer

Die beiden folgenden Kapitel beschäftigen sich mit der Bedeutung des Wissenstransfers im Hinblick auf Mitarbeiterwechsel an der Schnittstelle zwischen OEM und EDL. Wie die Untersuchung dieser Thematik gezeigt hat, ist zwischen Sachbearbeiter- und Managementebene zu differenzieren, da diesbezüglich in der Praxis unterschiedliche Vorgehensweisen zu beobachten sind.

4.3.4.1

Personaltransfer auf Sachbearbeiterebene

Auf der Sachbearbeiterebene wurde ausgesagt, dass es sehr häufig Mitarbeiterwechsel von einem EDL zu einem OEM gibt, wobei es keine Rolle spielt, ob es sich um einen internen oder externen EDL handelt. Weiterhin kann gesagt werden, dass auch vereinzelt zweistufige Wechsel von Mitarbeitern eines externen EDL zu einem internen EDL und dann zum zugehörigen OEM zu beobachten sind. Der interne EDL fungiert hier nach Aussage eines Experten in einer Zwischenstufe als Fangschale des OEM. Aus Sicht der Mitarbeiter wurde die Wertigkeit, beim OEM beschäftigt zu sein, im Vergleich zu einer Anstellung bei einem EDL, höher eingestuft. Als Beweggründe des Mitarbeiters für den Wechsel von einem EDL zu einem OEM haben sich bessere Verdienstmöglichkeiten, größere Sicherheit, höheres Prestige und bessere berufliche Perspektiven herauskristallisiert. Die Verdienstmöglichkeiten bei EDL sind insofern beschränkt, da diese eine sehr enge Preiskalkulation aufgrund des Wettbewerbs mit anderen EDL haben. Weiterhin befürchten die interviewten Mitarbeiter der EDLs, dass diese bei schlechter Konjunktur schneller Stellen streichen als die auftraggebenden OEMs. Als weitere Gründe wurden das stärkere Wettbewerbsumfeld, geringere Rücklagen und weniger Möglichkeiten von internen Stellenwechseln beim EDL genannt. In Bezug auf das Prestige möchten die Mitarbeiter nach Experteneinschätzungen eher bei einem großen und bekannten Arbeitgeber als bei einem kleineren Dienstleister im Hintergrund arbeiten. Auch die besseren Karriereaussichten beim OEM spielten in den Interviews eine Rolle.351 Aus Sicht des OEMs wurden Mitarbeiter von einem EDL insofern als interessant eingestuft, da diese bereits durch ihre tägliche Arbeit bekannt sind und somit vor einer etwaigen Einstellung besser beurteilt werden können. Ein aggressives Abwerben findet in der Praxis jedoch nach Angabe der Interviewpartner nicht statt. 351

Der Aufstieg in eine leitende Position bei einem OEM wurde als eher möglich eingestuft als bei einem schlanken und durch flache Hierarchien geprägten EDL.

4.3 Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL

165

Fällt ein EDL-Mitarbeiter innerhalb eines Projekts mit einem OEM allerdings besonders positiv auf und passt er auch auf der persönlichen Ebene sehr gut in das Umfeld, so werde er jedoch gezielt auf neu zu besetzende Stellen und interessante Aufgaben beim OEM hingewiesen. Allerdings sieht sich der OEM nach Einschätzung der Interviewpartner bei einer Übernahme eines Mitarbeiters insofern in einem Interessenskonflikt, da der EDL durch die Abwanderung Wissen und Fähigkeiten verliert. Indirekt kann dies auch dem OEM schaden, da die Qualität bei Folgeaufträgen gemindert sein kann. Dies steht jedoch dem Zugewinn eines bewährten Mitarbeiters gegenüber, wodurch dies überkompensiert werden sollte. Ein EDL hingegen wird nach Angabe der Interviewpartner motiviert sein, Mitarbeiter möglichst lange zu halten, da dies zur Aufrechterhaltung seines Know-hows essenziell wichtig ist. Insofern sei der EDL angehalten ein internes Firmenklima zu erzeugen, bei dem sich die Mitarbeiter wohlfühlen. Es wurde darauf hingewiesen, dass durch den Abfluss von Mitarbeitern zum OEM ein permanenter Mangel an Ingenieuren beim EDL besteht. Um diesen Bedarf zu decken wurde ausgesagt, dass EDL ihre Arbeitskräfte über den Arbeitsmarkt rekrutieren und vorzugsweise Berufsanfänger, aber auch Mitarbeiter anderer EDLs einstellen. Als reizvoll für Berufsanfänger wurde angesehen, dass sich bei einem EDL sehr gute Möglichkeiten bieten, innerhalb eines kurzen Zeitraums durch verschiedene Projekte bei mehreren OEMs oder Zulieferern ein breites Erfahrungsspektrum in unterschiedlichsten Bereichen aufzubauen. Dies ist für einen OEM bei der Zusammenarbeit mit EDL interessant, da er auf einen Pool erfahrener Spezialisten zurückgreifen kann. Die Arbeit bei einem EDL wird aus den genanten Gründen häufig als Sprungbrett zu einem OEM angesehen, wenn ein Direkteinstieg bei einem OEM mangels Qualifikation oder aufgrund schlechter Arbeitsmarktverhältnisse zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht möglich ist. Allerdings ist zu bemerken, dass der angesprochene zweistufige Wechsel von einem externen zu einem internen EDL und dann zum OEM nicht so häufig genannt wurde wie ein direkter Wechsel zum OEM. Als Grund wurde angeführt, dass der entsprechende Mitarbeiter möglichst schnell zum OEM wechseln und nicht erst weitere Jahre bei einem internen EDL beschäftigt sein möchte. Ein Wechsel eines Mitarbeiters zu einem OEM hat allerdings nach Aussage der Interviewpartner für den EDL nicht nur Nachteile, da dieser in seiner neuen Rolle beim OEM als potenzieller Auftraggeber anzusehen ist.352 352

Allerdings kann bei einem Transfer auf Sachbearbeiterebene davon ausgegangen werden, dass einige Zeit vergehen wird, bis dieser beim OEM in einer entsprechenden Position ist, um bei einer Vergabeentscheidung mitzuwirken.

166

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

Vor einem Wechsel eines Mitarbeiters zu einem OEM sollte dieser aus Sicht der Interviewpartner möglichst viel beim EDL dokumentieren, damit das aufgebaute Wissen nicht vollständig verloren geht. Dies findet jedoch in der Praxis aufgrund relativ kurzfristiger Wechsel offenbar nicht in dem Maße statt, wie es möglich wäre. Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass gerade informelles Wissen nur dann beim EDL zu halten ist, wenn die Mitarbeiter dieses kontinuierlich während ihrer Zeit beim EDL mit anderen teilen. Dies zeigt wiederum, wie wichtig es für den EDL ist, Wert auf eine eigene Unternehmenskultur zu legen und auch die vor-Ort beim OEM arbeitenden Mitarbeiter bis zu einem gewissen Grad bei sich zu integrieren. Incentives und Teamintegrationsmaßnahmen sowie eine mitarbeiterorientierte Aufgabenverteilung können nach Meinung der Experten unterstützend eingesetzt werden. Im Hinblick auf die Aufgabenverteilung wurde ausgesagt, dass kontaktfreudige Mitarbeiter nach Möglichkeit eher bei Vor-Ort-Tätigkeiten beim OEM eingesetzt und technikzentrierte Mitarbeiter eher internen Entwicklungsabteilungen zugewiesen werden.353

4.3.4.2

Personaltransfer auf Managementebene

Werden die Managementebenen betrachtet, so zeigte sich in den Interviews, dass ein Personalwechsel fast ausnahmslos zwischen OEM und seinem internen EDL stattfindet. Im Gegensatz zu dem oben beschriebenen einseitigen Wechsel vom EDL zum OEM ist allerdings eine beidseitige Bewegung festzustellen. Veranschaulicht wird diese Thematik in Abbildung 48, in der die Hauptströmungen des Personalflusses an der Schnittstelle zwischen OEM und EDL visualisiert sind. Berücksichtigung finden auch die zuvor diskutierten Personaltransfers auf Sachbearbeiterebene. Es stellt sich die Frage nach den Hintergründen für einen solchen beidseitigen Wechsel auf Managementebene und warum dieser insbesondere zwischen OEM und seinem internen EDL stattfindet. Zum einen wurde angeführt, dass die Motivationsstruktur für die Mitarbeiter in den Managementebenen nur bedingt Parallelen mit der auf Sachbearbeiterebene aufweisen. So wurden die Verdienstmöglichkeiten auf Managementebene als vergleichbar mit entsprechenden Positionen beim OEM eingestuft.354

353

354

Hier kann beispielsweise eine indirekte Kommunikation zwischen räumlich getrennten Mitarbeitern des EDL und Mitarbeitern des OEM über Resident Engineers stattfinden. Ein in etwa gleiches Gehalt beim EDL prämiert nach Aussage der Interviewpartner das informelle Wissen und das Netzwerk eines ehemaligen OEM Mitarbeiters.

167

4.3 Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL

Die Kontakte des ehemaligen OEM-Mitarbeiters erleichtern nach Angabe der Experten nicht nur die alltägliche Arbeit, sondern auch die Akquisition von weiteren Aufträgen. Weiterhin wurde geäußert, dass dies dem EDL eine Informationsbasis über den OEM hinsichtlich Strategie sowie Sympathien und Antipathien der beteiligten Projektmitglieder bringt, die externen EDL nicht zugänglich sind. Der Vorteil bei einem Wechsel vom OEM zu einem internen EDL ist somit, dass insbesondere das strategische Wissen innerhalb des Konzerns verbleibt. Bei einem umgekehrten Wechsel ist ein ehemaliger EDL-Manager bei einer späteren Tätigkeit beim OEM entsprechend der Interviewergebnisse vielfach ein potenzieller Auftraggeber. Insofern stellt sich für beide Parteien eine Win-Win Situation ein.

Beirat

Sachbearbeiter

Hierarchie

Interner EDL Management

Externer EDL

OEM

Abbildung 48: Personaltransfer an der Schnittstelle zwischen EDL und OEM

Die Argumente der Sicherheit und der Karrieremöglichkeiten sind nach Angabe der Experten nicht so entscheidend wie auf Sachbearbeiterebene, da bereits ein Aufstieg in der Hierarchie stattgefunden hat und eine Rückkehr zum OEM nicht ausgeschlossen ist.355 Allerdings wurde darauf hingewiesen, dass ein Wechsel zu einem EDL durchaus aus Prestigegründen abgelehnt wird. Es wurde ausgesagt, dass interne EDL gerade auf der unteren Managementebene (Team- oder Gruppenleiter) regelmäßig Schwierigkeiten haben Stellen zu besetzen. Als ein Grund wurde genannt, dass die Sachbearbeiter des internen EDL durch ihre eher operativen Tätigkeiten häufig nicht das notwendige strategische Know-how besitzen, das für eine solche Position erforderlich ist. Ein anderer Grund, der gegen 355

Dies kann mittels Rückkehrgarantien vertraglich festgehalten werden.

168

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

eine Besetzung dieser Stellen durch Mitarbeiter eines anderen EDL oder sonstiger Unternehmen spricht, ist, dass diese nicht über das nötige Netzwerk beim OEM verfügen. Die OEM-Mitarbeiter haben zwar das notwendige Wissen, sind jedoch nach Einschätzung der Interviewpartner oftmals nicht bereit, zu einem EDL zu wechseln, weil sie hoffen, eine vergleichbare Stelle beim OEM zu finden. Dies kann sogar dann der Fall sein, wenn ein Sachbearbeiter die Chance hat, auf eine hierarchisch höhere Position beim EDL zu wechseln. Es wird häufig argumentiert, dass ein Wechsel zu einem EDL nur bei einem deutlich höheren Gehalt durchgeführt würde. Da der EDL jedoch keine höheren Gehälter als der OEM auf vergleichbaren Positionen zahlt, wird diesem Wunsch in der Praxis nicht entsprochen. Um Mitarbeiter des OEM zu motivieren auf gleichwertige Positionen beim internen EDL zu wechseln, werden teilweise Rückkehrgarantien ausgesprochen, die es dem Mitarbeiter ermöglichen, nach einer gewissen Zeit wieder auf eine vergleichbare Position beim OEM zurückzuwechseln. Dies ist in Abbildung 48 durch die gestrichelten Pfeile angedeutet. Wechsel auf der Führungsebene zwischen externen EDL und OEM finden nach Aussage der Interviewpartner in der Regel nicht statt. Obwohl strategische Gründe für beidseitige Wechsel zwischen internem EDL und OEM genannt werden können, wurde angegeben, dass es keine vorbestimmten strategischen Rotationen gibt. Allerdings wurde eingeräumt, dass der Austausch von Führungskräften zwischen internen EDL und den zugehörigen OEMs forciert wird. Durch den hiermit verbundenen Transfer von informellem Wissen entsteht so eine enge Verflechtung zwischen den Unternehmen. Leitende Mitarbeiter des EDL, die vorher beim OEM beschäftigt waren, werden nach Aussage der Interviewpartner als Größen bei diesem wahrgenommen und voll akzeptiert.356 Einer solche Konstellation wurden positive Effekte bei der Umsetzung von Verbesserungs- und Änderungsvorschlägen nachgesagt, da eine breite Vertrauensbasis aufgrund der zuvor gesammelten Erfahrung beim OEM vorliegt. Ehemalige Mitarbeiter des OEM werden nach Meinung der Experten durch ihre alten Arbeitsvorgaben und Sichtweisen aus ihrer Zeit beim OEM geprägt sein und versuchen diese auch beim internen EDL umzusetzen. Dadurch könne der interne EDL auf Managementebene an den OEM gebunden werden. Als ein weiterer Aspekt einer solchen Personalrotation wurde genannt, dass die EDL-Manager, sofern sie im gleichen Themengebiet arbeiten, eine externe Sicht auf ihre bisherige Arbeit

356

Beispielsweise kann es vorkommen, dass sich Abteilungsleiter von OEM und internem EDL noch von früher kennen, wissen wie miteinander umzugehen ist und wie benötigte Informationen zu beschaffen sind.

4.3 Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL

169

bekommen. Dies sei für sie von hohem Nutzen, sowohl während der Arbeit beim EDL als auch bei einer Rückkehr zum OEM. Die oben beschriebene Durchmischung ist entsprechend der Interviewergebnisse auf der Sachbearbeiterebene und unteren Führungsebene deutlich niedriger, da es hier seltener zu einem Wechsel von einem OEM zu einem EDL kommt. Wechsel können beispielsweise stattfinden, wenn ein neues Thema nicht als Kernthema beim OEM angesehen wird und insofern nicht bei diesem aufgebaut werden kann.357 Hier kann der interne EDL die notwendige Flexibilität bieten und mit einem entsprechenden Budget ein Team aufbauen, das für verschiedene Bereiche des OEM arbeitet. Neben den bisher genannten gibt es auch persönlich motivierte Gründe für einen Wechsel zwischen OEM und seinem internen EDL. Dies können beispielsweise Uneinigkeiten über die Arbeitsauffassung oder persönliche Differenzen im bisherigen Umfeld sein. Die durch den Wechsel von Managern des OEM zum internen EDL implizit eingebrachte Kontrollfunktion zeigt sich auch dadurch, dass ein untersuchter interner EDL über einen Beirat verfügt, welcher durch Führungskräfte des zugehörigen OEM besetzt ist. Dies wurde als relevant im Hinblick auf die strategische Anbindung und die Wissenssicherung angesehen.

4.3.5

Strategien des OEM bei der Beauftragung von EDL

Bei der Beauftragung von EDL verfolgen OEMs bestimmte Strategien, um auch in Zukunft in ihrem Kerngeschäft handlungsfähig zu sein. In diesem Kontext ist zunächst zu diskutieren, welche Instrumente gezielt zur Wissenssicherung eingesetzt werden. Weiterhin ist zu untersuchen, wann welche EDL für welche Tätigkeiten beauftragt werden und welche Aufgaben vom OEM selbst bearbeitet werden. Dieser Aspekt wird anhand des so genannten Zwiebelschalenmodells zunächst in einer verallgemeinernden Form besprochen. Anschließend werden Praxisbeispiele aufgezeigt, welche die empirische Relevanz dieses Modells belegen.

4.3.5.1

Instrumente zur Wissenssicherung

Im Hinblick auf die Wissenssicherung existiert eine Reihe von formalen Instrumenten. Diese sollen verhindern, dass ein EDL das bei einem OEM erworbene Wissen an Wettbewerber transferiert. Diesbezüglich wurden beispielsweise Geheimhaltungsvorschriften und streng überwachte Zugangsberechtigungen zu 357

Ein Interviewpartner hat angegeben, dass er von einem OEM zu einem internen EDL gewchselt ist, um so ein für ihn interessantes Thema weiter vorantreiben zu können.

170

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

Bürogebäuden sowie firmeninterne Datenbanken genannt. Weiterhin können vertragliche Klauseln bei EDL-Mitarbeitern genannt werden, die verhindern sollen, dass dieser bei Konkurrenten im selben Themenfeld arbeitet. Ein anderer Aspekt der Wissenssicherung und somit der Reduktion des ungewollten Wissenstransfers ist die Strategie des Dependend Know-how, wie sie in einem anderen Kontext auch von Cannice/Chen/Daniels (2004) diskutiert wird.358 Kerngedanke ist bei diesen Überlegungen, Wissen so aufzuteilen, dass außer einer bestimmten Personengruppe (hier der OEM) die involvierten Parteien (hier der EDL) jeweils nur über einzelne Bestandteile des Wissens verfügen, welche alleine nicht zum Verständnis des Gesamtsystems ausreichen. Somit wird der Wert der Wissensbestandteile reduziert, was die Motivation einer widerrechtlichen Aneignung und Weitergabe verringert. An der Schnittstelle zwischen OEM und EDL konnte allerdings keine bewusste Strategie der OEM zur Stückelungen von Arbeitspaketen für verschiedene EDL festgestellt werden. Eine solche Strategie zum Know-how Schutz würde das Ziel verfolgen, dass jeder EDL nur einen Teil des Gesamtzusammenhangs sehen und somit das Gesamtsystem nicht verstehen würde. Als Grund gegen eine bewusste Stückelung wurde genannt, dass dies zu einer deutlich schlechteren Kommunikation und Zusammenarbeit führen und es zu erheblichen Schnittstellenproblemen durch gesteigerte Koordinationsaktivitäten bei der Gesamtintegration kommen würde. Vielmehr wurde eine Zweilieferantenstrategie als Instrument aufgezeigt, durch die ein Wettbewerb unter den EDL erzeugt werden kann. Diese soll dazu dienen, eine Abhängigkeit von einem EDL, der sonst exklusiv über mehrere Projekte hinweg Erfahrungen sammeln kann, zu vermeiden. Um nicht das gesamte Erfahrungswissen zu verlieren, werden nach Angabe der Experten nur wenige EDL präferiert, die mehr oder weniger abwechselnd beauftragt werden. Gegen die Zweilieferantenstrategie sprechen Argumente der Sachbearbeiterebene, die gerne auf die Erfahrungen der jeweils letzten Projekte aufsetzen möchten und entsprechend immer denselben EDL bzw. denselben Mitarbeiter des EDL beauftragen möchten. Es ist entsprechend situationsspezifisch zu entscheiden, welche Vor- und Nachteile im konkreten Fall höher ins Gewicht fallen. Es wurde ausgesagt, dass zur Sicherung des eigenen Erfahrungswissens manche Tätigkeiten, die üblicherweise an EDL vergeben werden, hin und wieder vom OEM selbst durchgeführt werden. Dies sei

358

Vgl. Cannice/Chen/Daniels (2004, S. 143).

4.3 Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL

171

notwendig, da die OEM-Mitarbeiter bis zu einem gewissen Grad über operatives Know-how verfügen müssen, um in Zukunft noch handlungsfähig zu sein. Dies belegt, dass organisationale Routinen gerade durch ihre Ausführung, d. h. durch repetitive Handlungen in Erinnerung bleiben.359 In diesem Kontext wurde weiterhin erwähnt, dass EDL oftmals versuchen, Pilotprojekte (erste Projekte in einem bestimmten Umfeld) durchzuführen, und diese als Ausgangspunkt für die Akquise weiterer verwandter Projekte sehen.360 Verfolgt wird hier die Strategie, möglichst schnell ein bestimmtes Thema zu belegen, um so Unique-Selling-Positions in dem entsprechenden Marktsegment aufzubauen. Ziel ist es, somit über Erfahrungen in einem spezifischen Kontext zu verfügen, die sonst niemand in der Branche bieten kann. Welche Rolle die strategische Relevanz bei der Wissenssicherung spielt und wie sich diese auf die Vergabe von Aufgaben an EDL auswirkt, wird in den folgenden beiden Abschnitten anhand des Zwiebelschalenmodells ausgeführt. Hier wird unter anderem der Aspekt der konzerninternen Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben als Instrument der Wissenssicherung betrachtet.

4.3.5.2

Interner vs. externer EDL: Das Zwiebelschalenmodell

Das auf Basis von Experteninterviews entwickelte Zwiebelschalenmodell in Abbildung 49 versucht die Frage zu beantworten, welche Aufgaben an EDL vergeben werden sollten und nach welchen Kriterien hierbei zwischen internen und externen EDL zu differenzieren ist. In dem Kern des Zwiebelschalemodells findet sich der OEM, auf der inneren Schale der interne EDL und auf der äußeren Schale der externe EDL. Der Pfeil zeigt, dass die strategische Relevanz der Aufgaben zum Kern hin zunimmt. Dementsprechend sollte der OEM alle Aufgaben, die seine Kernkompetenz betreffen, selbst durchführen. Gerade Innovationen und strategisch relevante Forschungsthemen sollten daher nicht an einen EDL vergeben werden. Einerseits kann der OEM bei solchen Themen so eine Abhängigkeit von einem EDL vermeiden und andererseits verhindern, dass Wissen über diese Aktivitäten über die Zwischenstufe EDL an Konkurrenten abwandert. Dort, wo ein OEM Innovationsführer ist und seine Kernkompetenzen hat, sollten Arbeitspakete wenn überhaupt an einen internen EDL vergeben werden. 359 360

Siehe hierzu die Ausführungen zu organisationalen Routinen in Kapitel 2.2.1.1. Siehe hierzu auch Fallstudie 1 in Kapitel 3.2.

172

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

Für strategisch bedeutsame Aufgaben, die nicht die unmittelbaren Kernkompetenzen des OEM betreffen, bieten sich entsprechend des Zwiebelschalenmodells interne EDL an. Dies betrifft Tätigkeiten, bei denen sehr gute Kenntnisse über die internen Abläufe beim OEM unabdingbar sind. Interne EDL haben diesbezüglich den Vorteil, dass sie entsprechend der vorangegangenen Ausführungen enger mit dem OEM vernetzt sind, mehr Erfahrung in der Zusammenarbeit haben und schneller auf umfangreichere Informationen wie vertrauliche Datenbanken zurückgreifen können. Weiterhin hat der OEM bei internen EDL durch konzerninterne Gremien, wie den bereits oben erwähnten Beirat, größere Einflussmöglichkeiten zur Steuerung der Arbeiten des EDL.361 OEM

Interner EDL

sc gi te a r St

he

ng tu eu d Be

Externer EDL

Abbildung 49: Zwiebelschalenmodell

Die externen EDL sollten entsprechend an Themen arbeiten, die für den OEM strategisch deutlich unbedeutender oder aufgrund einer schnellen Branchenentwicklung nicht wettbewerbsdifferenzierend sind. Es handelt sich meist um die operative Durchführung von Aufgaben, deren Abarbeitung beim OEM zu viel Kapazität binden würde. Hier kann ein externer EDL zum einen kostengünstiger und zum anderen flexibler agieren. Von den interviewten Experten wurde bestätigt, dass das Modell in 80% der Fälle in der Praxis zutrifft. Es finden sich aber auch Gegenbeispiele, bei denen externe EDL Aufgaben übernehmen, die eigentlich von einem internen EDL abgearbeitet werden

361

Es wurde darauf hingewiesen, dass der OEM nicht zu viele strategisch bedeutende Aufgaben an interne EDL vergeben sollte, da er sonst in dem entsprechenden Themenfeld eventuell nicht mehr eigenständig handlungsfähig sei.

173

4.3 Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL

sollten. Hier werden häufig historische Gründe angeführt und darauf hingewiesen, dass mehr und mehr versucht werde, sich an dem beschriebenen Modell zu orientieren.362 Zur Beurteilung der strategischen Bedeutung des jeweiligen Technologiefelds kann auf die Abbildung 50 zusammengestellten Bewertungskriterien zurückgegriffen werden.

Wie stark ist der Einfluss der Technologie auf die Erfüllung der kritischen Erfolgsfaktoren?

Sehr gering

Sehr stark

Wie stark ist der Einfluss der Technologie auf die Erfüllung der kritischen Leistungsmerkmale?

Sehr gering

Sehr stark

Wie hoch ist der Nutzen der Technologie für die nachgelagerten Wertschöpfungsstufen?

Sehr gering

Sehr hoch

Wie hoch ist die Erfordernis des langfristigen Erhalts dieser Kompetenz für das Unternehmen?

Sehr gering

Sehr hoch

Wie wichtig ist die Erfordernis der Know-How-Absicherung gegenüber Wettbewerbern?

Unbedeutend

Sehr wichtig

Frei am Markt verfügbar

Sehr schwer zu beschaffen

Wie ist die Situation auf dem Beschaffungsmarkt für diese Technologie? Gesamtscore für die Beurteilung der strategischen Bedeutung

Sehr gering

Sehr hoch

Abbildung 50: Beurteilung der strategischen Bedeutung (Gerybadze 2004b, S. 177)

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es durchaus interne EDL gibt, die sich aufgrund von Gewinnvorgaben nach außen öffnen und Aufgaben für andere OEM durchführen. Dies ermöglicht es ihnen, ihre Unique-Selling-Positions gewinnbringend einzusetzen und zugleich neues Wissen durch den Einblick in andere OEM zu generieren. Allerdings wurde angemerkt, dass sich hiermit die Bindung zu dem eigenen OEM verringert.363

362

363

Bei einem OEM konnte festgestellt werden, dass in der Vergangenheit die Entwicklungsdokumentation sowohl von internen als auch externen EDL durchgeführt wurde. Da der Dokumentation eine hohe strategische Relevanz beigemessen wird, wurde diese Aufgabe aus Gründen des Know-how Schutz mittlerweile vollständig an einen internen EDL vergeben. An einem konkreten Beispiel konnte beobachtet werde, dass bei der Gründung eines internen EDL am Anfang nur ehemalige Mitarbeiter des OEM beschäftigt waren und diese entsprechend beim OEM wie interne Mitarbeiter angesehen wurden. Im Laufe der Zeit hat sich der interne EDL jedoch geöffnet und von seinem OEM entfernt. Dies zeigt sich dadurch, dass ein Umsatz mit externen Partnern von 30% angestrebt wird.

174

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

Das Zwiebelschalenmodell kann auch dazu dienen, die einzelnen Mitarbeiter entsprechend ihrer Qualifikation im Kern oder auf einer der beiden Schalen zu platzieren. OEM-Mitarbeiter übernehmen nach Einschätzung der Experten auf der Sachbearbeiterebene eher strategisch bedeutsame Aufgaben als die operativ ausgerichteten EDL-Mitarbeiter. Es wurde allerdings auch darauf hingewiesen, dass der Wechsel eines strategisch denkenden Sachbearbeiters des OEM auf eine Teamoder Gruppenleiterstelle des internen EDL Sinn machen kann. Interne EDL werden nach Aussage der Interviewpartner bei Beauftragungen in vielerlei Hinsicht wie externe EDL behandelt.364 So laufen beim OEM üblicherweise dieselben Prozesse (Controlling etc.) für interne und externe EDL ab und es gilt dieselbe Rechtslage. Als Hauptkriterien für die Auswahl eines EDL wurden die folgenden Kriterien genannt: x

Technologiekompetenz

x

Kosten

x

Erfahrung

x

Flexibilität

Entsprechend des Zwiebelschalenmodells muss jedoch beachtet werden, dass es bei strategisch wichtigen Themen auch bei vergleichsweise schlechter Erfüllung der genannten Kriterien sinnvoller sein kann, einen internen EDL zu beauftragen. Dies liegt nach Angabe der Experten daran, dass der interne EDL aufgrund seiner Konzernzugehörigkeit ein höheres Vertrauen des OEM genießt und somit im Hinblick auf die Wissenssicherung bei strategisch relevanten Arbeiten bevorzugt wird. Für eine Beauftragung externer EDL in einem strategisch wichtigen Bereich seien daher wesentlich mehr Argumente notwendig. Weiterhin wurde erwähnt, dass die Markteintrittsbarriere für einen EDL auch bei guter Erfüllung der genannten Kriterien sehr hoch ist, wenn ein anderer EDL bereits sehr viel Erfahrung in einem bestimmten Kontext beim OEM gesammelt hat.

4.3.5.3

Praxisbeispiele für das Zwiebelschalenmodell

Belegt werden kann das Zwiebelschalenmodell durch eine Vielzahl von Praxisbeispielen. Im Folgenden wird auf die Softwareentwicklung für automobile

364

Hier ist zu beachten, dass es auch Unterschiede gibt. Beispielsweise wurde angegeben, dass mit internen EDL normalerweise nicht so stark verhandelt wird.

175

4.3 Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL

Steuergeräte sowie auf die Motorenentwicklung eingegangen. Es wird beispielhaft gezeigt, welche Aufgaben typischerweise in welcher Schale zu finden sind. Im untersuchten Fall der Softwareentwicklung war insbesondere die Beschreibung der gesamten Anforderungen im strategischen Kern angesiedelt. Daher wird die Spezifikation der Steuergerätesoftware durch den OEM A erstellt. Auch die zur Entwicklung notwendigen internen Prozesse werden durch den OEM A definiert. Die auf der Softwarespezifikation aufbauende Spezifikation der zugehörigen Testfälle wird gerade bei innovativen Vorhaben in dem untersuchten Kontext durch einen internen EDL A durchgeführt (Abbildung 51).365

Softwareentwicklung

Softwarequalitätsmanagement

OEM A

OEM A

- Spezifikation - Prozesse

- Konzeption - Kernprozesse - Freigabe

Interner EDL

Interner EDL

- Spezifikation von Testfällen

- Operative Durchführung - Redaktionelle Arbeiten - Templates - Checklisten

Externer EDL - Operative Durchführung von Testfällen S

te t ra

sc gi

he

g un ut de e B

Abbildung 51: Zwiebelschalenmodell am Beispiel Softwareentwicklung für Steuergeräte

Dies ist der Fall, da der OEM A die Spezifikation wettbewerbsdifferenzierender Software nicht an Dritte weitergeben möchte. Außerdem kennt der interne EDL A die spezifischen Regelungen und die firmeninternen Standards des OEM A hier hinreichend genau. Die operative Durchführung der Testfälle anhand der Testfallspezifikation wird hier üblicherweise von einem externen EDL B übernommen, der diese Tätigkeit ohne Wissen über die Spezifikation der Software durchführen kann. Im Fall des Softwarequalitätsmanagements übernimmt der OEM A in diesem Beispiel die strategisch wichtige Definition des Qualitätsmanagementkonzepts und die

365

Hier liegt das so genannte V-Modell der Softwareentwicklung zugrunde. Siehe zum V-Modell Balzert (1998, S. 101).

176

4. Empirische Erhebungen an der Schnittstelle zu externen Partnern

Definition der hierzu erforderlichen Kernprozesse. Weiterhin ist der OEM A hier für das entsprechende Qualitätsmanagementhandbuch und Freigaben jeder Art verantwortlich. Da es sich beim Qualitätsmanagement um prozessual ausgerichtete Tätigkeiten handelt, ist es nach Angabe der Experten für einen EDL immens wichtig, dass er die internen Abläufe des OEM A im Detail kennt. Es wurde darauf hingewiesen, dass ein interner EDL A in diesem Bereich klare Vorteile gegenüber einem externen EDL B hat. Ein interner EDL A übernimmt in dem konkreten Fall beim Softwarequalitätsmanagement operative Aufgaben, wie beispielsweise die Beschreibung der Prozesse, und andere redaktionelle Arbeiten, wie das Aufbereiten von Templates sowie die Erstellung von Checklisten. Externe EDL B kommen hier nur selten in Randbereichen zum Einsatz. Wie die obigen Ausführungen zeigen, scheint es für den OEM A essenziell wichtig zu sein, dass nicht zu viel Know-how des operativen Durchführens von Tätigkeiten an einen EDL B verloren geht. Der analysierte OEM A war immer darauf bedacht, dass er im Fall des Falles die operativen Tätigkeiten selbst durchführen kann, um handlungsfähig zu bleiben.366 Ergänzend zu dem obigen Beispiel zeigt der Fall der sich über mehrere Jahre erstreckenden Motorenentwicklung sehr anschaulich, wie der temporäre Einsatz von EDL C zu bestimmten Phasen eines Projekts punktuell die für den OEM B notwendige Flexibilität bringen kann. Da der betrachtete OEM B nicht über einen internen EDL verfügt, wird in diesem Beispiel lediglich zwischen OEM B und EDL C unterschieden. Hinsichtlich der zeitlichen Dimension können die Explorationsphase, die Applikationsphase und die Phase, in der der neu entwickelte Motor bereits im Markt ist, differenziert werden. Es wurde angeführt, dass bei der Motorenentwicklung in der Explorationsphase ein sehr hoher Kapazitätsbedarf entsteht, da verschiedene Konzepte parallel aufgezeigt werden müssen. Hier werden von dem untersuchten OEM B regelmäßig Mitarbeiter des EDL C mit spezifischem Wissen benötigt, die unter anderem dabei unterstützen, die alternativen Motorkonstruktionen in CAD-Modellen367 abzubilden. Wenn kein EDL unterstützen würde, wäre der OEM B angewiesen, kurzfristig zusätzliche Mitarbeiter einzustellen, die er in den folgenden Projektphasen nicht mehr benötigt.

366

367

Dies bestätigt, dass organisationale Routinen nur durch ihre Anwendung in Erinnerung bleiben. Siehe hierzu Kapitel 2.2.1.1. CAD = Computer Aided Design.

4.3 Zusammenarbeit zwischen OEM und EDL

177

Wurde eine bestimmte Konstruktion festgelegt, so ist es nach Angabe der Interviewpartner die Kernkompetenz des OEM B, in der Applikationsphase beispielsweise die Luft- und Verbrennungsführung sowie die Einspritzung für einen leistungsstarken und dennoch verbrauchsarmen Motor zu definieren. Entwickelt wird das ausgewählte Konzept von dem untersuchten OEM B für jeweils eine bestimmte Zielbaureihe368, für die verschiedenste Parameter zu optimieren sind. Hier wird weitestgehend auf EDL C verzichtet. Als Gründe wurden genannt, dass in dieser Phase einerseits der Kapazitätsbedarf nicht so hoch ist wie in der Explorationsphase und zum anderen das Wissen dieses strategischen Themas beim OEM B gehalten werden soll. Ist die Zielbaureihe und somit der neu entwickelte Motor im Markt, so findet in diesem Fall eine Adaption auf Derivate oder andere Baureihen weitestgehend durch EDL C statt. Hier wird die komplette Spezifikation an den EDL C übergeben. Es wurde genannt, dass der OEM B durch den Einsatz von EDL C nicht nur Wissen abgibt sondern umgekehrt auch indirekt Know-how von anderen OEMs aufnehmen kann. Da es sich nicht um innovative Entwicklungen, sondern um Anpassungen bestehender Entwicklungen handelt, wurde das zum EDL C transferierte Wissen für den OEM B aufgrund der schnellen Branchenentwicklung als nicht mehr wettbewerbsrelevant eingestuft. Es wurde erwähnt, dass darüber hinaus beim OEM B üblicherweise in dieser Phase bereits eine Entwicklung der wettbewerbsdifferenzierenden Nachfolgegeneration stattfindet. Neben den beiden obigen Beispielen wurde angeführt, dass sowohl interne als auch externe EDL-Mitarbeiter als Resident Engineers vor-Ort beim OEM A eingesetzt werden und in dieser Rolle die Koordination von Schnittstellen übernehmen. Als relevant wurden in diesem Zusammenhang sowohl OEM-interne Schnittstellen als auch Schnittstellen zu Systemlieferanten eingestuft. Die Wahl des EDL hängt nach Aussage der Interviewpartner wiederum von der strategischen Relevanz des jeweiligen Themas und den erforderlichen Kenntnissen über die OEM A-internen Prozesse ab. Als Beispiel wurde angegeben, dass ein interner EDL A bei der Lieferantenauswahl eingesetzt werden kann, um zu prüfen, ob ein bestimmter Systemlieferant die OEM A-internen Standards erfüllen kann.

368

Eine Zielbaureihe entspricht von der Vorgehensweise einem Pilotprojekt wie es in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2 beschrieben wurde.

5 Interpretative Wissensbestandteile: Ein vernachlässigtes Phänomen Die vorangegangenen empirischen Beobachtungen legen nahe, interpretative Wissensbestandteile detaillierter zu analysieren. Daher wir in den folgenden Abschnitten detailliert auf die Unterscheidung zwischen objektiven Inhalten und subjektiver Interpretation von Wissen eingegangen. Um interpretative Wissensbestandteile sowohl messbar als auch handhabbar zu machen, wird ein Instrument zur Aufdeckung von kritischen Transfersituationen vorgestellt, welches mit situationsabhängigen Handlungsempfehlungen verknüpft wird.

5.1

Objektiver Inhalt vs. subjektive Interpretation von Wissen

In der nachstehenden Argumentation wird in einem ersten Schritt die Notwendigkeit zur stärkeren Betrachtung interpretativer Wissensbestandteile herausgearbeitet. Für die weitere Konzeption wird in einem zweiten Schritt der Begriff des äquivoken Wissen eingeführt, mit dem die Dimension interpretativer Wissensbestandteile beschrieben wird.

5.1.1

Notwendigkeit zur stärkeren Betrachtung interpretativer Wissensbestandteile

Die neueren Modelle des Innovationsprozesses369 zeigen, dass zur Durchsetzung von Innovationen verschiedenste Organisationsbereiche mittels Feedback und FeedForward Prozessen zusammenarbeiten müssen. Eine besondere Herausforderung ist es, durchgängige Methoden über die gesamte Wertschöpfungskette und verschiedene Geschäftsbereiche hinweg zu etablieren. Dies ist darin begründet, dass die einzelnen Teilbereiche des Unternehmens oft historisch gewachsen sind und ihre eigenen, spezifischen Routinen370 entwickelt haben. Vor diesem Hintergrund sind verstärkt interdisziplinäre und bereichsübergreifende Zusammenarbeiten erforderlich, wobei die hierbei auftretenden Probleme häufig unterschätzt werden. In den empirischen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass mit den spezifischen Routinen in den einzelnen Teilbereichen des Unternehmens oftmals unterschiedliche Wertvorstellungen verbunden sind, die zu unterschiedlichen

369

370

Siehe hiezu das Chain-Link-Modell des Innovationsprozesses nach Kline/Rosenberg (1986) in Kapitel 2.1.1.1. Siehe zu organisatorischen Routinen Kapitel 2.2.1.1.

180

5. Interpretative Wissensbestandteile: Ein vernachlässigtes Phänomen

Interpretationen von bestimmten Sachverhalten führen. Die bestehenden Modelle des Wissenstransfers berücksichtigen dies bis zu einem gewissen Grad, legen jedoch den Hauptfokus auf die Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Wissen. In diesen Modellen wird davon ausgegangen, dass explizites Wissen leicht zu transferieren ist und der kritische Pfad in der Übertragung von implizitem Wissen liegt.371 Die vorangegangenen empirischen Erhebungen im Rahmen der Fallstudien und Experteninterviews decken allerdings ein weiteres Phänomen auf. Es wird sehr deutlich, dass hochgradig explizites Wissen, welches in Dokumentenform vorliegt, in verschiedenen Teilbereichen des Unternehmens und auch bei der Zusammenarbeit mit externen Partnern sehr unterschiedlich interpretiert wird. Beispielsweise wurde gezeigt, dass für identische Sachverhalte häufig sehr unterschiedliche Begriffe und Darstellungsarten gewählt werden, die den Wissenstransfer maßgeblich erschweren. Dies ist deshalb so kritisch, da einerseits ex ante häufig nicht transparent ist, dass es sich nur um unterschiedliche Begriffe handelt und die Personen über dieselben Dinge sprechen. Andererseits werden häufig dieselben Begriffe für völlig unterschiedliche Sachverhalte von verschiedenen Personen verwendet.372 Die Fallstudie 1 zur Pilotierung und dem Rollout einer neuen Methode in Kapitel 3.2 belegt, dass unterschiedliche Anwendungskontexte und die hiermit verbundenen Wertvorstellungen und Interpretationen einen erheblichen Einfluss auf den Wissenstransfer haben. Es wird deutlich, dass sich das Vorgehen in den einzelnen Transferphasen gerade im Hinblick auf die Medienwahl unterscheiden sollte und die Kommunikation einen entscheidenden Einfluss hat. In dieser Fallstudie wird gezeigt, wie durch die jeweiligen Pilotprojekte jeweils erst ein gemeinsames Verständnis mit den betroffenen Unternehmensteilen erarbeitet werden musste, bevor ein flächendeckender Transfer im Rahmen eines Rollouts stattfinden konnte. Auch in den übrigen Fallstudien wurde deutlich, dass der Wissenstransfer bei Vorhandensein eines gemeinsamen Verständnisses offensichtlich deutlich besser funktioniert als wenn dieses nicht vorhanden ist. Dies führt zu der Annahme, dass neben der Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Wissen ein stärkeres Augenmerk auf interpretative Wissensbestandteile gelegt werden sollte.

371 372

Siehe zu Modellen des Wissenstransfers Kapitel 2.2.2. Beispiele zu Problemen des Wissenstransfers aufgrund unterschiedlicher Interpretation von Begriffen finden sich in Kapitel 4.1.2.2. (Schnittstelle OEM-Zulieferer), in Kapitel 4.3.2.2. (Schnittstelle OEM-EDL) und in Kapitel 3.2.2.3 (Standortverteilung innerhalb eines Unternehmens).

5.1 Objektiver Inhalt vs. subjektive Interpretation von Wissen

5.1.2

181

Äquivokes Wissen als neue Dimension

Gerybadze (2004a) weist darauf hin, dass die meisten Studien über internationale F&E und Wissensmanagement die bei den systemorientierten Studien373 im Vordergrund stehenden objektiven, rationalen und deklarativen Aspekte überschätzten und gerade interpretative Wissensbestandteile vernachlässigen. Verteilte Innovationsprozesse bestehen nicht nur daraus, objektiv vorhandene Informationen zu sammeln und zu integrieren. Vielmehr besteht die Herausforderung darin, vor dem Hintergrund verschiedener Kulturen und Persönlichkeiten mit oftmals unterschiedlichen Wertesystemen, effektive soziale Kommunikationsprozesse zu etablieren, die sich mit asymmetrischem Verstehen auseinandersetzen374. Dies zeigen auch die Ausführungen von Choo (1998): “…information and insight are created in the hearts and minds of individuals, and that information seeking and use are dynamic and disorderly social process that is enfolded in layers of cognitive, affective, and situational contingencies.”375

In empirischen Studien über Innovationsprojekte konnte Gerybadze (2004a) ebenfalls beobachten, dass Wissen in vielen Situationen hochgradig explizit ist, jedoch nur sehr schwierig bei Standortverteilung oder zwischen unabhängigen Organisationseinheiten innerhalb von MNU zu transferieren ist. Was offensichtlich explizit, eindeutig und unmissverständlich für einen Transferpartner (i. d. R. den Sender) zu sein scheint, kann für eine andere Organisationseinheit sehr schwierig zu verstehen und aufzunehmen sein. Somit müssen globale F&E und Wissensmanagement im Hinblick auf objektive und interpretative Gesichtspunkte zwei stark interdependente Aspekte berücksichtigen.376 Dies führt neben der zuvor aufgezeigten Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Wissen zu der in Abbildung 52 ersichtlichen Differenzierung in kanonische und äquivoke Wissensbestandteile.377 Die Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Wissen folgt der bereits ausführlich erläuterten klassischen Sichtweise.378

373 374 375 376 377 378

Siehe hierzu die Erläuterungen in Kapitel 2.2.1.3. Vgl. Gerybadze (2004a, S. 107-109). Vgl. Choo (1998, S. 29). Vgl. Gerybadze (2004a, S. 107-109). Vgl. Gerybadze (2004a, S. 109-114). Siehe hierzu die Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Wissen in Kapitel 2.2.2.1.

5. Interpretative Wissensbestandteile: Ein vernachlässigtes Phänomen

Canonical knowledge

Equivocal knowledge

182

Equivocal, explicit knowledge

Equivocal, implicit knowledge



Problems of misunderstanding



Very serious communication problems



Hidden, indirect costs of information transfer



Prohibitive costs of information transfer



International knowledge exchange difficult



Location very important

Canonical, explicit knowledge

Canonical, implicit knowledge



Ease of communication



Problems of transferring tacit knowledge



Very low cost of information transfer



Information transfer through people

Global distribution of activities



International transfer feasible but costly



Explicit knowledge

Implicit knowledge

Abbildung 52: Objektive vs. subjektive Wissensbestandteile (Gerybadze 2004a, S.113 )

Neu ist hingegen die Berücksichtigung der Dimension der interpretativen Kohärenz, welche durch die Unterscheidung in äquivokes und kanonisches Wissen ausgedrückt wird. Die Begriffe dieser Dimension werden wie folgt definiert:379 x

Kanononisches Wissen liegt dann vor, wenn alle Mitglieder einer Gruppe den gleichen Bezugsrahmen haben und Probleme, Arbeitsabläufe und Projektergebnisse in gleicher Art und Weise interpretieren (starke interpretative Kohärenz).

x

Äquivokes Wissen ist dann gegeben, wenn Mitglieder einer Gruppe unterschiedliche Bezugsrahmen verwenden und somit Probleme, Arbeitsabläufe und Projektergebnisse ungleich interpretieren (schwache interpretative Kohärenz).

Kanonisches Wissen basiert somit auf sozialen Kommunikationsprozessen, durch welche die Gruppenmitglieder einen gemeinsamen Bezugsrahmen entwickeln. Bei äquivokem Wissen können hingegen dieselben hochgradig expliziten Informationen (z. B. Dokumente, Handbücher, Verfahrensanweisungen) durchaus unterschiedliche

379

Vgl. Gerybadze (2004a, S. 114).

5.2 Gestaltung eines Instruments zur Aufdeckung von kritischen Transfersituationen

183

Bedeutungen für verschiedene Personengruppen haben. Äquivokes Wissen schließt somit asymmetrisches Verstehen ein, was häufig in Interpretationsschwierigkeiten mündet.380 Die Schwierigkeiten des Transfers von implizitem Wissen sind in der Literatur eingehend beschrieben.381 Nicht berücksichtigt wird in diesen Modellen allerdings, dass explizites Wissen in bestimmten Situationen ebenfalls nur unter erhöhten Anstrengungen zwischen verschiedenen Parteien transferiert werden kann. Gerade explizites, äquivokes Wissen führt, insbesondere bedingt durch unterschiedliche Kulturen zu signifikanten Missverständnissen und zu hohen versteckten Kosten des Wissenstransfers.382 Hier ist wichtig zu verinnerlichen, dass die steigende Rate und Intensität der ausgetauschten expliziten Informationen nicht die Probleme kognitiver Inkohärenz lösen: “The problem of ambiguity is not that the real world is imperfectly understood and that more information will remedy that. The problem is that information may not resolve misunderstandings.”383 “The central idea is captured by the phrase technology as equivoque. An equivoque is something that admits of several possible or plausible interpretations and therefore can be esoteric, subject to misunderstandings, uncertain, complex and recondite.”384

Es wird davon ausgegangen, dass äquivokes Wissen, gerade bei der Einführung von neuen Methoden, als eine der Hauptursachen für die Schwierigkeiten des internationalen Wissenstransfers in MNUs angesehen werden kann.

5.2

Gestaltung eines Instruments zur Aufdeckung von kritischen Transfersituationen

Für die Gestaltung eines Instruments zur Aufdeckung von kritischen Transfersituationen wurde auf die Erkenntnisse der bisherigen theoretischen und empirischen Ausführungen zurückgegriffen. Um zu verstehen, wie die Gestaltungsphase abgelaufen ist, erscheint es zunächst notwendig zu sein, detailliert auf die methodische Vorgehensweise einzugehen und die einzelnen Schritte zu erläutern.

380 381 382 383 384

Vgl. Gerybadze (2004a, S. 109-114). Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 2.2.2.1. Siehe zu Kosten des Wissenstransfers die Studie von Teece (1977). Vgl. Weick (1995, S. 92). Vgl. Weick (2001, S. 148).

184

5. Interpretative Wissensbestandteile: Ein vernachlässigtes Phänomen

Der Fokus liegt anschließend auf der Operationalisierung relevanter Dimensionen zur Messung der zuvor genannten Wissenscharakteristika. Abschließend werden Handlungsempfehlungen abgeleitet, welche auf die relevanten Dimensionen zugeschnitten sind.

5.2.1

Methodische Vorgehensweise

Zunächst stellt sich die Frage, was mit dem zu gestaltenden Instrument erreicht werden soll. Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass die Charakteristika des zu transferierenden Wissens einen maßgeblichen Einfluss auf die zu wählende Transferstrategie haben. Was bisher allerdings fehlt, ist ein Instrument, um gerade diese Charakteristika in konkreten Transfersituationen messen zu können, um aufbauend darauf Handlungsempfehlungen für die Form des Wissenstransfers abzuleiten. Ziel war es daher, ein möglichst einfaches, in der Praxis anwendbares Instrument zu entwickeln, das einen Beitrag hierzu leistet. Gewählt wurde die Form eines Fragebogens, welcher im Rahmen von Interviews in realen Projektteams in unterschiedlichsten Transfersituationen als Leitfaden eingesetzt werden kann. Zur Gestaltung wurde eine mehrstufige Vorgehensweise gewählt, die insgesamt die folgenden Schritte umfasste: x

Definition der relevanten Konstrukte zur Erreichung der Zielsetzung

x

Operationalisierung der Konstrukte anhand von Items385 unter Berücksichtigung der theoretischen Erkenntnisse und den explorativen Erhebungen

x

Erste Testanwendungen zur Schärfung der abhängigen Items

x

Einarbeitung der gewonnenen Erkenntnisse aus den Testanwendungen

Zur Definition der relevanten Konstrukte, welche die zu operationalisierenden Dimensionen in der Betrachtung widerspiegeln, wurde auf die bisher erarbeiteten Erkenntnisse aufgesetzt. In den vorangegangenen Kapiteln wurde herausgearbeitet, dass sowohl die Explizitheit von Wissen als auch interpretative Gesichtspunkte eine ausschlaggebende Rolle beim Wissenstransfer spielen. Daher wurde im Folgenden die Annahme getroffen, dass es für den Transfer von Wissen zwei kritische Merkmalsdimensionen gibt, welche jeweils zwei extreme Ausprägungen haben: x 385

386

Grad der Explizitheit (Ausprägung explizit vs. implizit)386

Die einzelnen Items wurden als Fragen formuliert und finden sich in Abbildung 53 sowie in Abbildung 54. Siehe hierzu die Definition in Kapitel 2.2.2.1.

5.2 Gestaltung eines Instruments zur Aufdeckung von kritischen Transfersituationen

x

185

Grad der interpretativen Kohärenz (Ausprägung kanonisch vs. äquivok)387

Der nächste Schritt bestand in der Operationalisierung der Konstrukte in Form von Items. Hierzu wurden die theoretischen Erkenntnisse und die empirischen Erhebungen der vorangegangen Kapitel herangezogen. Es wurden auf dieser Basis Kriterien abgeleitet, die zur Messung der Ausprägung der beiden Dimensionen herangezogen werden können. Diese wurden dann als Fragen formuliert, wobei zur Beantwortung eine fünfstufige Likert-Skala388 vorgesehen wurde. Für die Auswertung des Fragebogens ist das arithmetische Mittel über die Befragungsergebnisse zu den einzelnen Items zu bilden. Um die Praxistauglichkeit des so entwickelten Fragenbogens zu testen, wurden erste Testanwendungen durchgeführt. Im Rahmen von zahlreichen Experteninterviews wurde der erarbeitete Fragebogen vorgestellt, um zum einen die Relevanz der erarbeiteten Kriterien zu überprüfen und zum anderen die Formulierung der Fragen zu schärfen. Es handelte sich hier um einen iterativen Prozess, in dem der Fragebogen schrittweise weiterentwickelt wurde. Neue Fragen kamen hinzu, einige Fragen wurden in der Formulierung angepasst und manche Fragen aufgrund mangelnder Relevanz herausgenommen. Die Einarbeitung der gewonnenen Erkenntnisse erfolgte jeweils direkt nach den einzelnen Testanwendungen. Durch diesen iterativen Prozess ist ein in der Praxis anwendbares Instrument entstanden. Die finale Version der als Fragen formulierten Items der einzelnen Merkmalsdimensionen findet sich im folgenden Kapitel.

5.2.2

Operationalisierung relevanter Dimensionen

Für die Operationalisierung sind entsprechend der obigen Ausführungen zum einen der Grad der Explizitheit und zum anderen der Grad der interpretativen Kohärenz als Dimensionen zu betrachten. Da die erste Dimension schon sehr ausführlich in der Literatur diskutiert wurde, liegt der Schwerpunkt dieses Abschnitts auf der Herleitung der zweiten Dimension, dem Grad der interpretativen Kohärenz. Bei der ersten Dimension, dem Grad der Explizitheit, wurde auf die von Winter (1987) und Kogut/Zander (1993) eingeführten Kriterien zurückgegriffen. Diese sind Kodifizierbarkeit, Vermittelbarkeit durch Unterrichtung, Beobachtbarkeit in der Anwendung und Komplexität.389 Die Transformation dieser Kriterien in eine für einen Fragebogen angemessene Form, findet sich in der nachfolgenden Abbildung 53. 387 388 389

Siehe hierzu die Definition in Kapitel 5.1.2. Vgl. Likert (1932). Siehe hierzu Kapitel 2.2.2.1.

186

5. Interpretative Wissensbestandteile: Ein vernachlässigtes Phänomen

Sind die Projektinhalte so dokumentiert, dass Dritte diese ohne weitere Erläuterungen verstehen?

Trifft nicht zu

Trifft voll zu

Können die Projektinhalte in angemessener Zeit durch Schulungen/Gespräche vermittelt werden?

Trifft nicht zu

Trifft voll zu

Können die Projektinhalte leicht durch Beobachten erlernt oder imitiert werden?

Trifft nicht zu

Trifft voll zu

Sind die Projektinhalte bei Kenntnis der einzelnen Bestandteile und deren Zusammenwirken leicht zu verstehen (Komplexität)?

Trifft nicht zu

Trifft voll zu

Implizit

explizit

Vorliegende Wissensart in der konkreten Projektsituation:

Abbildung 53: Messung des Grades der Explizitheit von Wissen

Die Kriterien der zweiten Dimension, dem Grad der interpretativen Kohärenz, wurden auf Basis der beschriebenen Fallstudien und theoretischen Erkenntnisse sowie Experteninterviews abgeleitet. Eine zusammenfassende Darstellung der im Folgenden erläuterten und mittels Beispielen illustrierten Kriterien der für die Messung des Grades der interpretativen Kohärenz relevanten Kriterien findet sich in Abbildung 54. Um zu interpretativer Kohärenz zu gelangen, wird angenommen, dass es erforderlich ist, eine einheitliche Sicht über die Dinge, die zu tun sind, herzustellen. Hierzu zählt beispielsweise, eine gemeinsame Vorstellung von der Projektaufgabe und des zu verfolgenden Ziels zu erarbeiten. Dies erfordert eine gemeinsame Interpretation von überschaubaren und für alle Mitglieder nachvollziehbaren Aufgaben, die aus einer allgemeinen Zielsetzung abgeleitet werden.390 Um konfliktäre Interpretationen der zu bearbeitenden Themen zu vermeiden, scheint es in diesem Zusammenhang hilfreich zu sein, ein gemeinschaftliches Abstecken der inhaltlich relevanten Aspekte vorzunehmen. Hierdurch werden die Sichtweisen der

390

Fallstudie 4 zeigt in Kapitel 4.2.5 sehr anschaulich, dass die Sicht über die Dinge, die zu tun sind, zwischen OEM A und den Zulieferern teilweise sehr unterschiedlich war. OEM A war davon ausgegangen, dass die gestellten Anforderungen des Lastenhefts technisch nicht alle exakt sondern nur bis zu einem gewissen Grad zu berücksichtigen seien und vielmehr ein wirtschaftlich und technisch überzeugendes Angebot zu erarbeiten sei. Dies berücksichtigte beispielsweise Zulieferer B aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit OEM A. Zulieferer D hingegen hielt sich sehr stark an die dokumentierten technischen Anforderungen und vernachlässigte die Wirtschaftlichkeitsbetrachtung.

5.2 Gestaltung eines Instruments zur Aufdeckung von kritischen Transfersituationen

187

einzelnen Personen deutlich und eine Involviertheit der Gruppenmitglieder gewährleistet.391

Gibt es eine einheitliche Sicht über die Dinge, die zu tun sind? Trifft nicht zu (gemeinsame Vorstellung über Projektaufgabe/-ziel)

Trifft voll zu

Trifft nicht zu

Trifft voll zu

Werden die inhaltlich relevanten Aspekte gemeinschaftlich abgesteckt?

Trifft nicht zu

Trifft voll zu

Besteht ein Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb des Projektteams?

Trifft nicht zu

Trifft voll zu

Gibt es eine einheitliche Sicht über das, was mit dem Projekt bewirkt werden soll? (Ursache/Wirkung)

Trifft nicht zu

Trifft voll zu

Gibt es ein einheitliches Verständnis, was gut und richtig ist? (z.B. Einheitliche Bewertung von Ergebnissen)

Trifft nicht zu

Trifft voll zu

Gibt es eine einheitliche Bewertung, was wichtig ist und mit Priorität verfolgt werden sollte?

Trifft nicht zu

Trifft voll zu

Besteht Einvernehmen darüber, wer was konkret ausführt und wie es gemacht wird?

Trifft nicht zu

Trifft voll zu

Besteht Einvernehmen über das Gesamtkonzept?

Äquivok

Kanonisch

Vorliegende Wissensart in der konkreten Projektsituation:

Abbildung 54: Messung des Grades der interpretativen Kohärenz von Wissen

Für die inhaltliche Arbeit an den abgesteckten Aspekten erscheint es darüber hinaus notwendig zu sein, dass innerhalb der Projektgruppe ein Einvernehmen über das Gesamtkonzept besteht, und jedes Mitglied sich mit seinen Aufgaben dort einordnen kann. Ein solches Einvernehmen kann durch die gemeinsame Entwicklung oder Durchsprache einer Visualisierung des Gesamtkonzepts erworben werden.392 391

392

So können alle Teammitglieder die aus ihrer Sicht wichtigen Aspekt einbringen. In Fallstudie 3 in Kapitel 3.5 wurden die inhaltlich relevanten Aspekte zunächst nicht gemeinsam abgesteckt, sondern es gab einen Vorschlag des deutschen Mitarbeiters. Erst bei dem Besuch in Deutschland wurden die relevanten Aspekte Face-to-Face abgesteckt. Dies hat dazu beigetragen, dass die Projektaufgabe im Nachgang anhand mehrerer Videokonferenzen abgeschlossen werden konnte. In Fallstudie 1 in Kapitel 3.2. war die Herstellung einer einheitlichen Sicht auf das Gesamtkonzept ein wesentlicher Bestandteil der Aktivitäten, da sehr viele unterschiedliche Parteien involviert waren. Das Gesamtkonzept wurde den entsprechenden Parteien Face-to-Face zielgruppensensitiv vermittelt. Ein Beispiel für die Visualisierung eines Gesamtkonzepts findet sich in Abbildung 28.

188

5. Interpretative Wissensbestandteile: Ein vernachlässigtes Phänomen

Die Theorien zur Gruppenentwicklung zeigen, dass nicht nur die inhaltliche Arbeit an den zu erledigenden Aufgaben eine Rolle spielt. Vielmehr sind für den offenen Austausch relevanter Interpretationen auch sozioemotionale Faktoren und der interpersonale Bezug zwischen den Teammitgliedern zu berücksichtigen. Ausgedrückt wird dies mit dem Kriterium Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb des Projektteams.393 Für ein gemeinsames Verständnis ist es nicht nur wichtig, welches Ziel verfolgt werden soll und welche Aufgaben zu erledigen sind. Vielmehr erscheint es hilfreich zu sein eine einheitliche Sicht über das, was mit dem Projekt bewirkt werden soll, zu erarbeiten. Dies zielt auf die Ursache/Wirkungs-Zusammenhänge zwischen den zu erledigenden Aufgaben und den damit zu erzielenden Ergebnissen in der Organisation ab.394 Weitere Aspekte, von denen ausgegangen wird, dass sie in Beziehung auf die interpretative Kohärenz eine bedeutende Rolle spielen, sind unterschiedliche Wertvorstellungen und Bewertungsmaßstäbe einzelner Projektmitglieder. Entsprechend wird berücksichtigt, ob es im Projektteam ein einheitliches Verständnis gibt, was gut und richtig ist. Beispielweise stellt sich hier die Frage, ob eine einheitliche Bewertung von Ergebnissen vorliegt.395 In dem Themenkomplex Wertvorstellungen und Bewertungsmaßstäbe soll weiterhin untersucht werden, inwieweit eine einheitliche Bewertung, was wichtig ist und mit Priorität verfolgt werden sollte, vorliegt. Hierzu zählt beispielsweise die Einigung über die zu wählende Reihenfolge der Aufgabenabarbeitung.396 Um die oben genannten 393

394

395

396

Siehe zur Gruppendynamik Kapitel 3.3.1. Beispielsweise zeigt Fallstudie 3 in Kapitel 3.5, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl durch den Austausch der Fotos und durch die abendlichen Social Events unterstützt wurde. Somit wurde die Bereitschaft einer offenen Diskussion gefördert und die inhaltlich relevanten Interpretationen konnten leichter ausgetauscht werden. Siehe hierzu die Fallstudie 1 in Kapitel 3.2.2.3. Hier zeigt sich, dass die Ansprechpartner in den USA verstanden hatten, dass die Ergebnisse der Prüfschritte nach Deutschland rückgemeldet werden sollen (Ursache). Allerdings hatten sie eine andere Sicht darauf, was mit der Rückmeldung bewirkt werden soll (Wirkung). Die deutschen Methodenentwickler wollten anhand der Rückmeldungen ihre Prüfschritte optimieren. Die amerikanischen Mitarbeiter sind jedoch teilweise davon ausgegangen, dass ihre Rückmeldungen nur Fahrzeugfehler beinhalten und haben häufig direkt an den Methodenentwicklern vorbei an die Entwicklung zurückgemeldet, was letztlich dort zu Missverständnissen geführt hat. Fallstudie 4 in Kapitel 4.2.5 zeigt beispielsweise, wie die eingereichten Angebote der 4 Zulieferer von verschiedenen Parteien innerhalb von OEM A sehr unterschiedlich bewertet wurden, obwohl alle dieselben expliziten Angebotsdokumente vorliegen hatten. In Fallstudie 1 in Kapitel 3.2. wurde sehr viel Wert darauf gelegt, dass zunächst die Methode im Rahmen des Pilot abgesichert und eine Akzeptanz in der Organisation geschaffen wurde. Die beteiligten Parteien waren sich einig, dass gerade dieses Vorgehen letztlich zum Erfolg der Methode führt. Es gab im Projekt ein gemeinsames Verständnis darüber, dass die Absicherung der Methode eine höhere Priorität hat als die schnelle Verbreitung in der Organisation.

5.2 Gestaltung eines Instruments zur Aufdeckung von kritischen Transfersituationen

189

Aufgaben mit der entsprechenden Stringenz durchführen zu können, wird letztlich angenommen, dass es innerhalb des Projektteams ein Einvernehmen darüber, wer was konkret ausführt und wie es gemacht wird, geben muss.397 Abschließend ist zu erwähnen, dass die Ergebnisse des Fragebogens für verschiedene Mitglieder der Projektgruppe durchaus unterschiedlich sein können. Dies ist darin begründet, dass es in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt, wie lange die betreffende Person bereits in der Projektgruppe tätig ist und welche Erfahrungen sie bereits im Vorfeld mit den anderen Projektmitgliedern oder dem Themengebiet innerhalb des Unternehmens sammeln konnte. Um die Befragungsergebnisse sinnvoll nutzen zu können, werden in dem folgenden Abschnitt Handlungsempfehlungen im Hinblick auf die möglichen Wissenscharakteristika aufgezeigt.

5.2.3

Ableitung von Handlungsempfehlungen

Wird davon ausgegangen, dass mit Hilfe der beschriebenen Operationalisierungen der Grad der Explizitheit und der Grad der interpretativen Kohärenz gemessen werden kann, so stellt sich die Frage, wozu die erzielten Messergebnisse eingesetzt werden können. Zum einen sind die gemessenen Wissenscharakteristika hilfreich zur Strukturierung von standortverteilten Teams und zum anderen zur Identifikation von Situationen, in denen eine Standortverteilung nicht zielführend ist. Hierzu können die in Abbildung 55 zusammengestellten Handlungsempfehlungen, welche durch die verschiedenen Fallstudien empirisch belegt wurden, herangezogen werden. Generell erscheint es sinnvoll eine Standortverteilung dann zu realisieren, wenn das zu transferierende Wissen zu großen Teilen explizit und kanonisch gelagert ist. Relevante Informationen können dann expliziert werden, sind leicht zu verstehen und werden in kohärenter Weise interpretiert. In diesem Fall können die benötigten Informationen durch formale Kommunikationskanäle wie beispielsweise E-Mail oder Internet transferiert werden.

397

Fallstudie 3 in Kapitel 3.5 zeigt, wie sich anhand des Papiers mit den 4 Spalten für die unterschiedlichen Normen darauf geeinigt wurde, wer was konkret ausführt und wie es gemacht wird. Es wurde besprochen, dass jeder diejenigen Spalten füllt, mit denen er Erfahrungen hat. Die amerikanischen Mitarbeiter füllten die Spalten für die amerikanische Norm und die deutschen Mitarbeiter die Übrigen. Es wurde von vorneherein vereinbart, dass die befüllten Spalten im Anschluss gemeinsam diskutiert werden und Unklarheiten beseitigt werden.

190

Canonical knowledge

Equivocal knowledge

5. Interpretative Wissensbestandteile: Ein vernachlässigtes Phänomen



Joint meetings to develop identity and coherent frame of understanding



Locally distributed work in intermediate phases



Exchange of explicit information through IT



Joint workshops for coordination and project review



Internationally distributed work at best locations



Extensive use of information technology



Short, infrequent meetings of coordination

Explicit knowledge



Highly-specialized, locally concentrated activities and workgroups



Highly-interactive face-toface communication



Long-term transfer of people/teams to develop capabilities at other locations



Temporary visits to other locations to learn about best practices



Transfer through sending people and teams to other locations



Information technology and written documents not very effective

Implicit knowledge

Abbildung 55: Effektive Gestaltung des Wissenstransfers (Gerybadze 2004a, S. 114)

Das andere Extrem umfasst Projekte, bei denen ein hoher Prozentsatz des Wissens implizit und äquivok gelagert ist. In diesem Fall ist das Wissen stark an Personen gebunden oder in lokale Routinen eingebettet. Hierdurch wird der Wissenstransfer gerade bei Standortverteilung erheblich erschwert. In solchen Fällen sind Unternehmen gut beraten die Projektaktivitäten an einem speziellen Ort zu bündeln. Hilfreich sind in solchen Situation spezielle Projekthäuser, bei denen die am Projekt beteiligten Personen in einem oder mehreren angrenzenden Büroräumen allokiert werden.398 Für die beiden anderen Fälle ist eine Standortverteilung generell möglich. Gerade bei explizitem und äquivokem Wissen können jedoch versteckte Kosten durch unterschiedliche Interpretationen kodifizierten Wissens an verschiedenen Standorten auftreten.399 Es ist der Fokus darauf zu legen, asymmetrisches Verstehen durch gemeinsame Face-to-Face-Meetings sowohl zu Beginn als auch zu bestimmten

398 399

Vgl. Gerybadze (2004a, S. 114). Siehe zu Kooperationen in Projekthäusern Kapitel 4.1.1.1. In Entwicklungsprojekten für Automobile, Elektronik oder Software werden zu einem hohen Anteil explizite Informationen ausgetauscht, wobei verschiedene Projektmitglieder diese gerade bei neuen Themenfeldern und (globaler) Standortverteilung durch verschiedene Prioritätensetzungen, Arbeitserfahrungen und lokale Unternehmenskulturen unterschiedlich interpretieren.

5.2 Gestaltung eines Instruments zur Aufdeckung von kritischen Transfersituationen

191

Zeitpunkten während des Projekts im Rahmen von Workshops und Reviews zu minimieren. Diese Face-to-Face-Meetings helfen sowohl die Zielsetzung zu schärfen als auch Vertrauen, Gruppenidentität und einen gemeinsamen Bezugsrahmen zu entwickeln.400 Liegt größtenteils implizites, kanonisches Wissen vor, kommt es häufig bei einer Standortverteilung zu Problemen beim Transfer von impliziten Fähigkeiten und Praktiken, da hier das Wissen in standortgebundenen Teams eingebettet ist. Temporäre Besuche zu den fortschrittlichsten Standorten helfen in solchen Situationen, um mehr über die dort eingesetzten Praktiken zu lernen. Der Wissenstransfer ist in diesem Fall kostenintensiv, da er primär über Personen abläuft.401 Abschließend kann festgehalten werden, dass bei äquivokem Wissen innerhalb der Projektgruppe unbedingt die Schaffung eines gemeinsamen Bezugsrahmens notwendig ist, um eine starke interpretative Kohärenz herzustellen. Dass dies gerade bei implizitem Wissen besonders kritisch ist, kann leicht nachvollzogen werden. Allerdings soll an dieser Stelle nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass Probleme durch explizites, jedoch äquivokes Wissen in der Literatur bisher unterschätzt werden. Auch Manager in Unternehmen berücksichtigen dieses Phänomen bei der Entscheidung über die Standortverteilung von Mitarbeitern noch nicht in ausreichendem Maße. Es ist wünschenswert, dass das vorgelegte Instrument hierzu einen Beitrag leistet.

400 401

Vgl. Gerybadze (2004a, S. 114). Vgl. Gerybadze (2004a, S. 114).

6 Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern Die Implementierung und nachhaltige Anwendung von neuen Methoden stellt sich in der Praxis häufig als relativ schwieriges Unterfangen mit vielschichtigen Barrieren dar.402 Hierbei ist zu beobachten, dass nicht vordergründig technische Unwägbarkeiten zu einem Scheitern von Implementierungsprojekten führen, sondern die Art und Weise, wie an die zu lösende Aufgabenstellung herangegangen wird. Gerade bei hoher Produkt- und Prozesskomplexität konnte beobachtet werden, dass insbesondere zunächst auf theoretischer Basis entwickelte Methoden sehr schwer in der Organisation zu verankern sind. Im Fokus der weiteren Ausführungen stehen IDL, deren Kernaufgabe es ist, neue Methoden in der Organisation zu verankern. Für solche IDL wird im Folgenden ein aus den zuvor vorgestellten empirischen und theoretischen Erkenntnissen abgeleiteter Ansatz zur Implementierung von neuen Methoden vorgestellt. Zunächst werden grundlegende und von der konkreten Transferphase unabhängige Aspekte des Transferprozesses herausgearbeitet. Im Anschluss hieran wird ein phasenspezifisches Vorgehensmodell offeriert, mithilfe dessen IDL ihren Transferprozess optimieren können.

6.1

Grundlegende Aspekte im Transferprozess

Bevor im nachfolgenden Kapitel ein dreistufiger Ansatz zum Transfer von Wissen und Methoden von IDL zu verschiedenen Nutzergruppen aufgezeigt wird, sollen zunächst einige grundlegende Aspekte im Transferprozess beleuchtet werden. Hierzu gehört zunächst, die Motivation für den Aufbau von IDL zu untersuchen und das zugrunde gelegte Verhältnis zwischen IDL und den Anwendern aufzuzeigen. Weiterhin werden einige Gesichtspunkte im Hinblick auf die Dokumentation und Übergabe von Ergebnissen herausgearbeitet sowie der positive Einfluss räumlicher Nähe betrachtet. Abschließend wird die nicht zu vernachlässigende Thematik von Personaltransfers zwischen IDL und den Anwendern aufgegriffen.

6.1.1

Motivation für den Aufbau von IDL

Unternehmen verfügen über IDL, die von diversen Unternehmenseinheiten beauftragt werden, neue Methoden für eine bestimmte Problemstellung zu 402

Siehe zu Transferbarrieren Kapitel 2.3.2.

194

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

entwickeln oder bestehende Methoden an einen neuen Anwendungskontext zu adaptieren. Die hier im Fokus stehenden IDL besitzen eine hohe Methodenkompetenz und sind üblicherweise in Querschnittsbereichen (z. B. Qualitätsmanagement) oder auf Corporate-Level (z. B. interne Unternehmensberatung) zu finden. Gemessen werden solche Einheiten normalerweise an den erfolgreich durchgeführten Implementierungsprojekten und somit an den zu den Anwendern transferierten Methoden. Um genau dieser Kernaufgabe nachkommen zu können, ist es für IDL essenziell wichtig, relevante Problemstellungen bei ihren internen Kunden aufzuspüren und diese, soweit erforderlich, von dem Mehrwert eines neuen methodischen Ansatzes zu überzeugen. Insofern sind IDL vergleichbar mit externen Dienstleistern (z. B. Beratungsunternehmen), bei denen die Akquisitionstätigkeit ebenfalls ein zentrales Element zur Existenzsicherung ist. Hier wird bereits deutlich, dass die betrachteten IDL darauf fokussiert sind, Lösungen zu erarbeiten, die ihren internen Kunden sowohl einen unmittelbaren als auch einen langfristigen Nutzen stiften. Hier besteht die Herausforderung darin, ein Gleichgewicht zwischen der Nutzung bestehender Methoden und der Suche nach völlig neuen Lösungsmöglichkeiten zu finden.403 Da der Nutzen für das Unternehmen umso höher sein wird, je größer der Verbreitungsgrad einer bestimmten Methode ist, wird der IDL versuchen, neue Methoden nicht nur als Insellösung, sondern als Standardwerkzeuge für unterschiedliche Nutzergruppen zu implementieren. Motiviert ist eine solche Vorgehensweise auch durch die Tatsache, dass Unternehmen gerade im Hinblick auf Komplexitätsreduktion bestrebt sind, standardisierte Verfahren zu etablieren. Gerade in Unternehmen, die komplexe Produkte entwickeln, ist die Einführung solcher Verfahren regelmäßig an die zugehörigen Produktentwicklungsprojekte und somit an die Produkte gekoppelt.404 Die Implementierung von bestimmten Methoden kann durchaus auf verschiedenen Wertschöpfungsstufen, wie beispielsweise in unterschiedlichen Phasen des Produktentstehungsprozesses, sinnvoll sein. Allerdings kommt es regelmäßig vor, dass eine Methode auf einer bestimmten Wertschöpfungsstufe, wie beispielsweise der Entwicklungsphase, implementiert ist, jedoch aufgrund verteilter Verantwortlichkeiten auf einer anderen Wertschöpfungsstufe, wie beispielsweise der Produktion, nicht 403

404

Siehe hierzu die Unterscheidung nach Exploration und Exploitation nach March (1991, S. 71-72) Siehe zu dieser Forderung weiterhin Wernerfelt (1984, S. 178), Knudsen (1996, S. 33-34) und Christensen (1996, S. 123-124). Komplexe Produkte werden nach Hobday (1998) im Rahmen von Projektorganisationen entwickelt. Siehe hierzu die Produktentwicklung am Beispiel Mercedes-Benz in Kapitel 2.1.2.3.

6.1 Grundlegende Aspekte im Transferprozess

195

zum Einsatz kommt. Ferner ist nicht notwendigerweise sichergestellt, dass eine bei einem Produktprojekt bereits etablierte Methode auch in anderen, vergleichbaren Produktprojekten innerhalb desselben Geschäftsbereichs Anwendung findet. Selbst wenn eine Methode für alle Produktprojekte innerhalb eines Geschäftsbereichs angewendet wird, ist nicht unbedingt davon auszugehen, dass andere Geschäftsbereiche diese Methode ebenfalls einsetzen werden. Dies kann aus verschiedensten Gründen auch dann der Fall sein, wenn der Einsatz der Methode objektiv gesehen mit einem hohen Nutzen verbunden wäre. Ein nicht flächendeckender Einsatz einer bestimmten Methode kann im einfachsten Fall darin begründet sein, dass schlichtweg keine Kenntnisse über die Existenz der Methode in dem spezifischen Anwendungskontext vorliegen. Weiterhin wird der Nutzen einer Implementierung häufig unterschätzt oder es sind keine für die Implementierung der Methode erforderlichen Kompetenzen vorhanden. Auch können motivationale Gründe bei der potenziellen Nutzergruppe eine Rolle spielen, da diese versuchen werden, ihre bestehenden Routinen beizubehalten.405 In diesem Zusammenhang ist überdies zu bedenken, dass potenzielle Nutzergruppen, bereits bestehende Nutzergruppen aufgrund ihrer organisatorischen oder räumlichen Zuordnung nicht notwendigerweise kennen. Weiterhin muss berücksichtigt werden, dass die Nutzer einer Methode nicht an deren Transfer in einen neuen Anwendungskontext gemessen werden. Vielmehr verfolgen sie das Ziel, durch die Anwendung der Methode ihre Kernprozesse besser durchführen und hierdurch einen besseren Ergebnisbeitrag liefern zu können. Sie werden daher üblicherweise nicht die Motivation aufbringen, nach anderen potenziellen Nutzergruppen zu suchen, mit denen sie ihr Wissen aktiv teilen können. Gerade vor diesem Hintergrund ist die Existenz von IDL für Unternehmen besonders interessant, da sie, je nach ihrer organisatorischen Verankerung, projektübergreifend, geschäftsbereichsübergreifend und unabhängig von der Wertschöpfungsstufe agieren können. Sie sind prädestiniert horizontale Transfers zu Nutzergruppen mit gleichem Aufgabenspektrum in anderen Geschäftsbereichen oder vertikale Transfers zu Nutzergruppen mit ähnlichen Aufgabenstellungen auf einer anderen Wertschöpfungsstufe durchzuführen. Es zeigt sich, dass ein IDL je nach seiner organisatorischen Verankerung durch sein übergreifendes Agieren auch den Vorteil besitzt, als Mittler zwischen verschiedenen Parteien wirken zu können. Somit

405

Siehe zu organisationalen Routinen Kapitel 2.2.1.1.

196

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

können Prozesslücken und methodische Defizite leichter aufgedeckt, analysiert und entsprechend geschlossen werden. Durch die Tätigkeit in unterschiedlichen Anwendungskontexten erkennen die Mitarbeiter des IDL darüber hinaus auch leichter für das Unternehmen relevante übergreifende Herausforderungen, denen wiederum mit neuen methodischen Ansätzen begegnet werden kann. Hierdurch gelingt dem IDL im Idealfall ein kontinuierlicher Aufbau von Methodenkompetenzen sowie die Bündelung von umfassendem Erfahrungswissen aus unterschiedlichen Anwendungskontexten, welches zur Etablierung von ganzheitlichen Lösungen unabdingbar ist. 406

6.1.2

Verhältnis zwischen IDL und den Anwendern

Unabhängig von der eigentlichen Problemstellung und Transferphase gibt es einige grundlegende Dinge, die seitens des IDL beachtet werden sollten, um erfolgreiche Implementierungsprojekte durchführen zu können. Zunächst ist festzustellen, dass ein IDL vor dem Hintergrund, dass seine Kernaufgabe die Einführung von neuen Methoden ist, üblicherweise eine hohe Motivation hat, sich mit der Funktionsweise, dem Vergleich und der Bewertung unterschiedlicher Methoden zu beschäftigen. Hierbei ist der spätere Anwendungskontext zunächst vielfach nebensächlich. Bereiche, in denen eine von einem IDL entwickelte Methode angewendet werden soll, sind hingegen nicht vordergründig an neuen Methoden an sich, dem hiermit verbundenem Wissen oder neuen Technologien interessiert. Vielmehr wollen sie maßgeschneiderte Problemlösungen für real existierende Anwendungsfälle implementieren. Ziel ist es, für die Nutzer, durch den Einsatz von neuen Methoden einen unmittelbaren und möglichst leicht messbaren Nutzen zu generieren.407 Die Messbarkeit ist insofern wichtig für die anwendenden Bereiche, da diese ihrerseits die für die Methodenentwicklung und -durchführung notwendigen Ressourcen im Hinblick auf Kosten-/Nutzenüberlegungen rechtfertigen müssen. Der Transfer einer Methode wird vor diesem Hintergrund umso leichter zu vollziehen sein, je höher einerseits der Handlungsdruck bei dem anwendenden Bereich ist und desto besser die zu implementierende Methode von dem IDL auf gerade dieses Problemfeld zugeschnitten ist. Um dies zu gewährleisten, ist von Anfang an eine sehr 406

407

In Fallstudie 1 in Kapitel 3.2 wurde gezeigt, wie eine Methode vor den hier genannten Hintergründen durch einen IDL über verschiedene Wertschöpfungsstufen hinweg und in unterschiedlichen Geschäftsbereichen implementiert wurde. Bei klassischen Zentralforschungseinheiten konnte beobachtet werden, dass dem Anwendungskontext oft eine zu geringe Bedeutung beigemessen wurde und daher Implementierungsprojekte gescheitert sind.

6.1 Grundlegende Aspekte im Transferprozess

197

enge Zusammenarbeit zwischen IDL und den anwendenden Bereichen anzuraten. Die anwendenden Bereiche werden hier verstärkt an einer kurzfristigen Lösung interessiert sein. Daher muss der IDL vor diesem Hintergrund immer darauf bedacht sein, die zu erarbeitende Lösung so auszulegen, dass sie nicht nur kurzfristig sondern auch langfristig einen Nutzen stiftet.408 Eine reine Top-Down-Implementierung von Standards, bei denen die späteren Anwender nicht frühzeitig eingebunden werden, trifft im Gegensatz hierzu regelmäßig auf Schwierigkeiten. In solchen Fällen wird das Not-Invented-HereSyndrom409 stärker ausgeprägt sein als bei einer frühen Einbindung und einer gemeinsamen Erarbeitung von Problemlösungen.410 Oftmals ist es hier nicht entscheidend, dass die späteren Anwender intensiv mitarbeiten, sondern den Eindruck bekommen, eingebunden zu sein. Förderlich für einen reibungslosen Transfer ist es, wenn die anwendenden Bereiche durch die Mitarbeit das Gefühl bekommen, selbst etwas Neues geschaffen zu haben, und somit für die spätere Anwendung der neuen Lösung motiviert werden. Daher sollte der IDL Wert darauf legen, sich nicht als überlegen, sondern als Partner darzustellen, der unterstützend tätig ist und auf eine gemeinsame Lösungsfindung bedacht ist. Das bedeutet, dass, insbesondere wenn unbekannte Personen aufeinander treffen, eine entsprechende Balance zwischen der eigentlichen Aufgabenerfüllung im Hinblick auf die tatsächliche Problemlösung und sozioemotionalen Faktoren gefunden werden muss.411 Weiterhin ist für einen IDL die Kenntnis von Prozessen und spezifischen Charakteristika des Transferpartners ein entscheidender Erfolgsfaktor. Hierzu gehören nicht nur die operativen Prozesse des Tagesgeschäfts, sondern auch die Prozesse und die hiermit verbundenen Gremien, welche zur Planung von Transferleistungen (z. B. Budgetrunden) im Vorfeld und während der verschiedenen Implementierungsphasen durchlaufen werden müssen. Je unterschiedlicher die von einem IDL zu bedienenden Transferpartner sind, desto verschiedener werden auch die entsprechenden Prozesse und Gremien ausgestaltet sein.

408

409 410

411

Fallstudie 1 in Kapitel 3.2 zeigt, dass die konsequente Problemorientierung des IDL in Verbindung mit dem Handlungsruck bei dem anwendenden Bereich als klarer Erfolgsfaktor gesehen werden kann. Vgl. Katz/Allen (1982, S. 7). Dies zeigt sich beispielsweise in der Anfangsphase von Fallstudie 3 in Kapitel 3.5, bei der die Vorgehensweise zum Transfer der firmeninternen Normen nicht gemeinschaftlich ausgearbeitet wurde. Siehe hierzu die Diskussion der Theorien zur Gruppenentwicklung in Kapitel 3.3.1.

198

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

So ist es beispielsweise keine Seltenheit, dass die Prozesse bei verschiedenen Geschäftsbereichen sowohl in inhaltlicher als auch in zeitlicher Hinsicht erheblich differieren und die relevante Gremienlandschaft anders ist. Insofern ist es eine Kernaufgabe des IDL, kontinuierlich eine diesbezügliche Transparenz zu schaffen, um nicht an organisatorischen Fragestellungen vor und während des Transfers zu scheitern. Besonders wichtig ist dies bei neuen oder selten bedienten Transferpartnern, da die Transparenz hier üblicherweise deutlich niedriger sein wird als bei Transferpartnern, mit denen schon mehrmals zusammengearbeitet wurde. Weiterhin spielen persönliche Kontakte zu den potenziellen Transferpartnern eine nicht zu unterschätzende Rolle. Je geringer die Kontakte zu einem potenziellen Transferpartner sind, desto formaler muss diesem gegenübergetreten werden und desto undifferenzierter wird dieser gerade in der Akquisitionsphase behandelt. Dies liegt auch daran, dass nicht genügend informelles Wissen über die tatsächlich vorhandenen Strukturen und Abläufe vorliegt, was den schnellen Aufbau von persönlichen Beziehungen erschwert. Die Vertrauensbildung zwischen dem anwendenden Bereich und dem IDL ist deshalb besonders kritisch, da dieser sich bei dem Transferprojekt von gewohnten Prozessen lösen und sich auf etwas Neues einlassen muss. Insofern kann eine zu geringe Vertrauensbasis eine nicht zu unterschätzende Transferbarriere darstellen.412 Ein wichtiger Aspekt bei der Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Anwenderbereichen aus verschiedenen Wertschöpfungsstufen oder Geschäftsbereichen ist, dass die Erwartungshaltungen bei diesen sehr stark differieren können. So kann sich die Erwartungshaltung über die Art der Zusammenarbeit und die Form der Transferergebnisse je nach Anwendungskontext in wesentlichen Punkten unterscheiden. Daher ist es wichtig, sich im Vorfeld über genau diese Punkte zu unterhalten und die Zielsetzung gemeinsam zu schärfen. Insbesondere gilt es zu vermeiden, dass die formalen Zielerreichungsvereinbarungen von den realen Problemen abweichen und somit einer maßgeschneiderten und problemorientierten Lösung im Wege stehen.413 So ist es bei der Übergabe von bestimmten Teilergebnissen zu bestimmten Meilensteinen entsprechend der Zielvereinbarung unerlässlich, zwischenzeitliche Abstimmungen durchzuführen. Es bietet sich hier ein geregelter Informations-

412

413

Siehe hierzu die Parallelen im Hinblick auf EDL in Kapitel 4.3. Dort spielt ebenso das gegenseitige Vertrauern eine große Rolle. Siehe hierzu die Unterscheidung zwischen formal verankerten offiziellen Handlungstheorien und den tatsächlich verwendeten Handlungstheorien in Kapitel 2.2.1.2.

6.1 Grundlegende Aspekte im Transferprozess

199

austausch im Rahmen von Reviews als regelmäßige Projektfortschrittskontrolle mit den Beteiligten und Betroffenen an. Je komplexer ein Projekt ist, je mehr Parteien involviert sind und je geringer die gemeinsame Erfahrung ist, desto kürzer sollten die zwischenzeitlichen Abstimmungszyklen sein.414

6.1.3

Dokumentation und Übergabe von Ergebnissen

Bei der Präsentation von Zwischenständen und Ergebnissen sowie der Gestaltung von Dokumenten müssen sich die Mitarbeiter des IDL bewusst machen, dass ungewohnte Darstellungsarten sowie unübliche Semantik die späteren Anwender irritieren und den Wissenstransfer negativ beeinflussen können. Daher sollten sich die Mitarbeiter des IDL an den Darstellungsarten und der Semantik ihres internen Kunden, dem späteren Nutzer dieser Dokumente, orientieren. Hierzu gehört beispielsweise, die Art der Dokumentation (z. B. von Prozessbeschreibungen und Verfahrensanweisungen) sowohl in Bezug auf das Abstraktionsniveau als auch im Hinblick auf das Layout in einer frühen Phase zu klären und, sofern möglich, beim Projektstart festzulegen. Abgewichen werden sollte hiervon nur in beiderseitigem Einverständnis, um Missverständnisse und Interpretationsschwierigkeiten bereits im Vorfeld so weit wie möglich zu vermeiden. Orientierungshilfen im Hinblick auf die Dokumentationsart können Vorgängerprojekte bieten, da die hier verwendeten Darstellungsarten bereits bei den Nutzern bekannt sind. Bei der Verwendung solcher Vorlagen kann somit neues Wissen in einer bekannten Form präsentiert werden.415 Bei der Dokumentation müssen weiterhin sprachliche Besonderheiten Berücksichtigung finden. So haben diverse Begriffe in unterschiedlichen Nutzergruppen oft verschiedene Bedeutungen. Dies trifft sowohl auf Nutzergruppen mit derselben als auch auf Nutzergruppen mit unterschiedlichen Muttersprachen zu. Beispielsweise haben Begriffe, die in bestimmten Entwicklungsbereichen verwendet werden nicht notwendigerweise dieselbe oder überhaupt eine Bedeutung für Mitarbeiter im Produktionsumfeld. Darüber hinaus treten regelmäßig bei Übersetzungen Schwierigkeiten auf. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn diese durch Dritte (z. B. professionelle Übersetzungsdienste) erfolgen, die inhaltlich nicht in

414

415

In Kapitel 2.1.2.2 wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass komplexe Projekte kürzere Abstände bei der Abstimmung benötigen. Siehe zur Standardisierung von Begriffen, Darstellungsarten und Vorgehensweisen Kapitel 4.1.2.2.

200

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

dem Projekt involviert sind oder die Begriffsverwendung im Anwendungskontext nicht kennen.416 Dementsprechend ist sicherzustellen, dass alle einbezogenen Personen ein gemeinsames Begriffsverständnis entwickeln. Gerade bei einer hohen Begriffskomplexität in Verbindung mit wenig gemeinsamer Erfahrung der Beteiligten sind standardisierte Termini ebenso wie standardisierte Abkürzungen für bestimmte Sachverhalte unabdingbar. Förderlich ist hier eine gemeinsame Durchsprache von Dokumenten (z. B. Spezifikationen) zwischen Mitarbeitern des IDL und den Vertretern der Nutzergruppe. Gerade wenn Dokumente nicht gemeinsam geschrieben werden und erst nach Fertigstellung übergeben werden, kann durch eine gemeinsame Durchsprache der dokumentierten Sachverhalte die Problematik von Interpretationsschwierigkeiten hinsichtlich inhaltlichen Details und der Prioritätensetzung deutlich verringert werden. Hier bieten sich je nach Komplexität der Dokumentation mehrtägige gemeinsame Workshops an.417 Im Hinblick auf die Dokumentation ist wesentlich, dass gerade dann viel dokumentiert und entsprechend durchgesprochen werden sollte, wenn es sich um spezifisches Wissen handelt, über das nur einer oder wenige Experten verfügen. Eine detaillierte Dokumentation der wichtigsten Aspekte dient allerdings nicht nur zur Erhöhung der Verfügbarkeit des Wissens in der Projektgruppe, sondern ist auch wesentliche Grundlage zur Diskussion und Weiterentwicklung der bestehenden Ergebnisse.

6.1.4

Einfluss räumlicher Nähe

Räumliche Nähe hat einen positiven Einfluss auf die Kommunikationshäufigkeit und folglich auf den fachlichen und persönlichen Austausch.418 Regelmäßige Kommunikation und viele Face-to-Face-Kontakte ermöglichen den Formalisierungsgrad sowie den Detaillierungsgrad der Aufgabenspezifizierung so zu gestalten, dass die für innovative Projekte notwendige Flexibilität erhalten bleibt. Häufige Kommunikation fördert weiterhin die Entwicklung eines gemeinsamen Bezugs-

416

417

418

Ein Beispiel für die Problematik von professionellen Übersetzungseinheiten findet sich in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2.2.3. Beispiele zu Problemen des Wissenstransfers aufgrund unterschiedlicher Interpretation von Begriffen finden sich in Kapitel 4.1.2.2. (Schnittstelle OEM-Zulieferer), in Kapitel 4.3.2.2. (Schnittstelle OEM-EDL) und in Kapitel 3.2.2.3 (Standortverteilung innerhalb eines Unternehmens). In Kiesler/Cummings (2002) findet sich eine detaillierte Diskussion über den Einfluss räumlicher Nähe auf Gruppen. Siehe hierzu auch die Untersuchung von Allen (1984) in Kapitel 2.2.1.3.

6.1 Grundlegende Aspekte im Transferprozess

201

rahmens und die Netzwerkbildung, was gerade bei komplexen Projekten mit mehreren Parteien unerlässlich ist. Face-to-Face-Kontakte mit mehreren Beteiligten bieten überdies den Vorteil, Informationen und Sichtweisen von mehreren Seiten gleichzeitig einzuholen und unmittelbar auf ihre Konsistenz hin überprüfen zu können. Missverständnisse und Konflikte können so im Vorfeld vermieden werden, da offene oder unklare Punkte im Dialog mit allen Anwesenden synchron angesprochen werden können. Unterschiedlich Auffassungen der involvierten Personen können so ohne Zeitverzug diskutiert werden, wodurch die Bildung eines gemeinsamen Verständnisses erleichtert wird. 419 Face-to-Face-Meetings und gemeinsame Social Events fördern zusätzlich das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe und sind hilfreich für einen informellen Wissensaustausch, welcher wiederum positive Effekte für die fachliche Zusammenarbeit und den Wissenstransfer im Projekt hat. Um eine räumlich Nähe zwischen den Beteiligten schaffen zu können, eignen sich beispielsweise Projekthäuser. Dies sind speziell für ein Projekt bereitgestellte Büroflächen, die direkt miteinander verbunden sind. In einem solchen Projekthaus sollten wesentliche Teile des Projekts vorangetrieben werden. Falls die Mitarbeiter nicht mit ihrer gesamten Kapazität in dem Projekt involviert sind, bietet es sich an, dort an definierten Tagen zusammenkommen, sodass möglichst viele Face-to-FaceKontakte realisiert werden können. In einem solchen Projekthaus entstehen üblicherweise im Zeitverlauf eigene Verhaltensnormen. Diese können durchaus von denen der Funktionalbereiche, aus denen die Beteiligten stammen, abweichen, was für die gemeinsame Projektarbeit sehr hilfreich sein kann.420 Allerdings sollte darauf geachtet werden, dass die Mitarbeiter im Projekthaus nicht im Rahmen eines Loslösungsprozesses die Einbindung in ihre eigentlichen Linienabteilungen verlieren. Dies würde dazu führen, dass die Mitarbeiter nicht mehr so stark von ihren eigentlichen Abteilungen gesteuert werden können. Dies ist sicherlich positiv für das inhaltliche Vorankommen im Projekt, jedoch negativ für die Interessen der Abteilung, die sie im Rahmen des Projekts vertreten. Ein Ansatz zur Vermeidung dieser Problematik ist, dass die Mitarbeiter des Projekts weiterhin an den Regelkommunikationen und sonstigen Veranstaltungen ihrer Abteilung teilnehmen. Je nach der Auslastung im Projekt kann es vor diesem 419

420

Siehe hierzu die Diskussion zur Mediennutzung, insbesondere zur Media-Synchronicity-Theorie in Kapitel 3.3.2. Siehe zu der Kooperationsform des Projekthauses Kapitel 4.1.1.1.

202

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

Hintergrund auch hilfreich sein, wenn neben der Projektarbeit weiterhin Linienaufgaben durch den entsprechenden Mitarbeiter übernommen werden.421 Sollte eine Bearbeitung des Projekts nur bei räumlicher Trennung möglich sein, so sind Face-to-Face-Kontakte nach Möglichkeit gerade am Anfang und zu definierten Fortschrittszeitpunkten während des Projekts herzustellen. Eine häufige Kommunikation über andere Kanäle während der zwischenzeitlichen Distanz sollte ebenso sichergestellt sein.422 Letztlich kann festgehalten werden, dass eine häufige Kommunikation mit entsprechenden Face-to-Face-Kontakten sowohl bei räumlich konzentrierter als auch räumlich getrennter Zusammenarbeit ein klarer Erfolgsfaktor ist.

6.1.5

Personaltransfer zwischen IDL und Nutzergruppe

Falls ein IDL regelmäßig Projekte mit derselben Nutzergruppe durchführt, sind Personaltransfers keine Seltenheit und in vielen Fällen erwünscht. Diese Transfers können sowohl auf Sachbearbeiter- als auch auf Managementebene eine bessere Vernetzung zwischen IDL und dem Unternehmensbereich fördern. Durch Personaltransfers kann die Schaffung eines gemeinsamen Bezugsrahmens positiv beeinflusst sowie das gegenseitige Vertrauen gesteigert werden. Gerade auf der Sachbearbeiterebene wird hier die Wahrscheinlichkeit eines Wechsels von einem IDL zu einem Kundenbereich höher sein als umgekehrt. Dies liegt daran, dass der Mitarbeiter spezifische Methodenkenntnisse über die im Kundenbereich implementierte Methode besitzt und seine neue Arbeitsstelle durch die bisherigen Tätigkeiten kennt. Der Mitarbeiter wird darüber hinaus motiviert sein, sich im Kundenbereich zu beweisen. Der Kundenbereich hat seinerseits den Vorteil, dass er den neuen Mitarbeiter bereits aus seiner Projektarbeit kennt. Hierdurch wird die Gefahr einer Fehlbesetzung entscheidend verringert. Solche Personaltransfers sind eine gute Möglichkeit für Berufseinsteiger, da sie zunächst durch verschiedene Projekte beim IDL eine breite Wissensbasis über das Unternehmen aufbauen können und anschließend reibungsfrei in eine Tätigkeit wechseln können, die näher am Kern der Wertschöpfung des Unternehmens angesiedelt ist. Umgekehrt sollte die Besetzung von Managementpositionen beim IDL regelmäßig durch Personen aus dem Umfeld der anwendenden Bereiche 421

422

Eine solche Entfremdung wurde auch bei der Vor-Ort-Tätigkeit von EDL-Mitarbeitern beim OEM beobachtet. Siehe hierzu Kapitel 4.3.3. Vgl. hierzu Barczak/McDonough (2003, S.16-18).

6.2 Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU

203

vorgenommen werden. Dies ist für die Mitarbeiter des IDL ein hervorragender Weg, um, neben einer Erweiterung ihres Netzwerks, Wissen über die interessantesten Fragestellungen des internen Kunden zu erwerben. 423

6.2

Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU

Wie bereits angeführt existieren insbesondere bei der Implementierung von zunächst theoretisch entwickelten Methoden bei hoher Produkt- und Prozesskomplexität diverse Transferbarrieren. Daher wird im Folgenden ein dreistufiger Ansatz zur Implementierung von neuen Methoden aufgezeigt, der im Sinne einer Downstream Wissensgenerierung an den real existierenden Bedürfnissen der späteren Anwender orientiert ist.424 Die Beschreibung erfolgt aus der Perspektive eines IDL, dessen Kernaufgabe es ist, neue Methoden für verschiedene Nutzergruppen zu implementieren. Nutzergruppen unterscheiden sich hierbei anhand der Wertschöpfungsstufe und des Geschäftsbereichs, in denen sie operieren. Unterschieden werden, wie in Abbildung 56 ersichtlich, die Pilotphase, die Rolloutphase und die Migrationsphase. Pilot Proof of Concept

Rollout – Standardisierung

Migration Neuer Anwendungskontext Pilot-Proof of Concept

Rollout

Downstream Wissensgenerierung

Nutzenmaximierung Step I

Nutzenmaximierung Step II

Erarbeitung einer neuen Methode gemeinsam mit den Anwendern zur Lösung relevanter Probleme der Business Unit.

Transfer der neuen Methode zu allen Projekten, die in der Verantwortung der Pilotnutzergruppe liegt, um deren Nutzen zu maximieren.

Transfer der neuen Methode zu anderen Nutzergruppen unter Verwendung der gesammelten Erfahrungen, um den Gesamtnutzen für das Unternehmen zu maximieren.

Abbildung 56: Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden

Die Pilotphase dient im Wesentlichen der Erarbeitung und Absicherung einer neuen Methode. Die Erarbeitung findet gemeinsam mit den späteren Nutzern für einen konkreten Handlungsbedarf auf einer bestimmten Wertschöpfungsstufe in einem 423

424

Die Personaltransfers zwischen IDL und den internen Kunden weisen viele Parallelen zu den Personaltransfers zwischen internem EDL und OEM auf. Siehe hierzu auch die Fallstudie in Kapitel 2.1.1. Dies entspricht dem Mode 2 der Wissensgenerierung nach Gibbons (1994).

204

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

dezidierten Geschäftsbereich für ein ausgewähltes Produkt statt. Die Konzeption erfolgt demnach nicht wie bei theoretisch entwickelten Methoden ausschließlich durch den IDL, sondern in einem ständigen Dialog mit den späteren Anwendern. Hierdurch wird es ermöglicht, eine maßgeschneiderte Lösung bereitzustellen, die frühzeitig an den relevanten Randbedingungen ausgerichtet ist und optimal in die Prozesse der späteren Anwender eingebettet werden kann.425 Ist das Konzept der Methode abgesichert und eine erfolgreiche Anwendung nachgewiesen, so kann in der Rolloutphase eine sukzessive Ausweitung der Methodenanwendung für alle von der Pilotnutzergruppe betreuten Produkte stattfinden. Hierdurch wird der Nutzen der neu entwickelten Methode für diese Gruppe durch eine flächendeckende Anwendung in diesem Umfeld maximiert. Wesentlich ist in dieser Phase, den Kern der Methode vor dem Hintergrund einer Anwendung für mehrere Produkte zu standardisieren und eine hinreichend hohe Retentionsfähigkeit426 aufzubauen. Diese ist notwendig, damit eine Methodenanwendung auch bei weiteren, in der Zukunft neu hinzukommenden Produkten innerhalb dieser Nutzergruppe sichergestellt ist.427 Bei vielen erfolgreich eingesetzten Methoden stellt sich heraus, dass sie im Kern auch für andere Nutzergruppen auf anderen Wertschöpfungsstufen oder in anderen Geschäftsbereichen interessant sind. Allerdings kann die Bekanntheit dieser Methoden dort nicht unbedingt vorausgesetzt werden. Weiterhin sind häufig geringfügige Anpassungen erforderlich, die jedoch üblicherweise nicht ohne weiteres von im Bezug auf die Methode unerfahrenen Mitarbeitern durchgeführt werden können. Genau hier ist es Aufgabe eines IDL in der Migrationsphase aktiv auf andere Nutzergruppen zuzugehen, dort Interesse zu wecken und die für diesen Anwendungskontext notwendigen Adaptionen voranzutreiben.428 Die Diffusion der neuen Methode für eine bestimmte Nutzergruppe kann wie eine SKurve beschrieben werden. Der Verbreitungsgrad steigt nach dem Pilotprojekt am Anfang des Rollouts zunächst üblicherweise schnell an, bevor im weiteren Verlauf eine Sättigung eintritt. Ist die Methode für alle aktuellen Produkte innerhalb der Nutzergruppe im Einsatz, so ist eine Erhöhung des Verbreitungsgrades erst wieder 425

426 427

428

Siehe hierzu die erstmalige Einführung der IQT in der Produktion bei Marke 1-1 für eine Pilotbaureihe in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2. Siehe zur Retentionsfähigkeit die Argumentation nach Szulanski (2003, S. 30) in Kapitel 2.3.2. Siehe hierzu die flächendeckende Einführung der IQT in der Produktion bei Marke 1-1 für alle Baureihen in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2. Siehe hierzu die Einführung der IQT in der Entwicklung bei Marke 1-1 oder die Einführung der IQT in anderen Geschäftsbereichen in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2.

6.2 Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU

205

möglich, wenn neue Produkte von der Nutzergruppe betreut werden. Die Diffusion in der Migrationsphase kann ebenfalls wie eine S-Kurve beschrieben werden, da zu Beginn ebenfalls ein Pilot durchgeführt wird und die Verbreitung erst bei dem darauf folgenden Rollout stark ansteigt und wiederum eine Sättigung eintritt, sobald alle aktuellen Produkte bedient werden.429 Um mehr über die kritischen Erfolgsfaktoren dieser Vorgehensweise zu erfahren, finden sich im Folgenden detailliertere Ausführungen zu den einzelnen Phasen mit entsprechenden Handlungsempfehlungen.

6.2.1

Pilotphase – Proof of Concept

Die Pilotphase beinhaltet die Entwicklung und Absicherung einer neuen Methode für eine spezifische im Anwendungskontext existierende Problemstellung. Resultieren kann diese beispielsweise aus Anforderungen eines Produktprojekts, einer Änderung der Randbedingungen im Produktenstehungsprozess oder der Einführung von neuen Technologien. Ziel ist es, in dieser Phase eine prototypische Durchführung der Methode bei einem bestimmten Produkt durch Mitarbeiter des IDL und die späteren Anwender zu erreichen. Hierfür ist zunächst erforderlich, ein geeignetes Pilotprojekt auszuwählen und die existierenden Randbedingungen im Anwendungskontext im Detail zu analysieren. Zudem sind bestimmte Gesichtspunkte bei der Informationsbeschaffung und der eigentlichen Konzeption der Methode zu berücksichtigen. Gerade in diesem Zusammenhang kann äquivokes Wissen zu erheblichen Problemen im Transferprozess führen. Weiterhin ist zu Beginn der Pilotphase eine geeignete Organisationsform zu wählen und später der effektive Transfer des zur Anwendung der Methode erforderlichen Know-hows zu den Nutzern sicherzustellen. Letztlich spielt auch die interne Kommunikation, welche ebenso wie die zuvor genannten Aspekte in den folgenden Ausführungen detailliert betrachtet wird, eine maßgebliche Rolle.

6.2.1.1

Auswahl des Pilotprojekts

Um einen möglichst hohen Beitrag durch den Einsatz einer neuen Methode leisten zu können, sind von dem IDL gerade solche Problemstellungen aufzuspüren, bei denen der Handlungsdruck zur Herbeiführung von Veränderungen bei den potenziellen Anwendern am größten ist. Die Herausforderung für den IDL liegt in der

429

Siehe hierzu die Erläuterungen zur Diffusionsforschung nach Rogers (1983) in Kapitel 3.1.1.

206

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

Anfangsphase darin, den späteren Anwendern aufzuzeigen, wie und warum eine neue Methode sie bei ihrer Zielerreichung unterstützen kann. Hierzu gehört die Herausarbeitung des potenziellen Nutzens für den Anwender sowie die Darstellung der Wirkungsweise der Methode. Gelingt dies, so werden die potenziellen Anwender motiviert sein, sich für die neue Methode und die damit einhergehenden Änderungen zu öffnen. Bei komplexen Produktprojekten kann beispielsweise dasjenige ausgewählt werden, das am nächsten zur Markteinführung ist, wobei sicherzustellen ist, dass noch genug Zeit verbleibt, eine bestimmte Methode mit einem hinreichenden Reifegrad einführen zu können. 430 Falls die Einführung der Methode bei einem Misserfolg zu negativen Konsequenzen für ein Produktprojekt führen kann, sollte aus Risikogesichtspunkten eine Variante oder ein Nischenprodukt mit geringen Stückzahlen gewählt werden.431 Dies kann beispielsweise dann relevant sein, wenn eine bestehende Methode ersetzt werden soll und somit das Risiko eingegangen wird, dass weder die alte noch die neue Methode ihre Wirkung entfalten kann. Dies ist gerade dann risikoträchtig, wenn die alte Methode nicht mehr angewendet wird und die neue Methode noch nicht vollständig implementiert ist oder im Hinblick auf ihre Funktionalität nicht den Erwartungen entspricht. Unter Umständen kann es bei solchen Konstellationen sinnvoll sein, aus Sicherheitsgründen beide Methoden parallel einzusetzen. Dies erfordert allerdings zum einen die prinzipielle technische Machbarkeit einer solchen Vorgehensweise und zum anderen einen deutlich höheren Ressourceneinsatz. Durch eine konsequent problemorientierte Vorgehensweise wird die Motivation bei den späteren Anwendern zur Mitarbeit bei der Methodenentwicklung und deren späteren Implementierung vergleichsweise hoch sein. Außerdem kann der IDL in der Akquisitionsphase so leicht den Nutzen der Arbeiten aufzeigen, wodurch die Barriere einer mangelnden Motivation des Empfängers bereits zu Beginn der Zusammenarbeit gering sein sollte. Zusätzlich positiv wird der Pilot durch ein fruchtbares organisatorisches Umfeld beeinflusst, wobei nach Möglichkeit diejenigen Nutzer auszuwählen sind, die sich selbst als am besten oder fortschrittlichsten sehen. Diese werden nach Szulanski (2003) am ehesten bereit sein, neues Wissen aufzunehmen.432 Es ist zu erwähnen, dass Vorkenntnisse über eine bestimmte neu einzuführende Methode durchaus einen positiven Effekt auf die absorptive Kapazität, d. h. die 430 431 432

Siehe hierzu die Auswahl der Pilotbaureihe in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2. Siehe hierzu die Kriterien zur Auswahl der Zielbaureihe in Kapitel 4.1.1.1. Siehe hierzu die Diskussion zu Transferbarrieren in Kapitel 2.3.2.

6.2 Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU

207

Aufnahmefähigkeit der späteren Nutzer haben kann. Allerdings muss beachtet werden, dass Vorkenntnisse über eine Methode gerade dann im Hinblick auf motivationale Aspekte kontraproduktiv sein können, wenn die ausgewählten Nutzer bereits schlechte Erfahrungen bei vergleichbaren Implementierungsprojekten gemacht haben.433

6.2.1.2

Analyse der Randbedingungen

Der Erfolg von Transferergebnissen ist von vielen Variablen abhängig. Daher müssen gerade zu Beginn eines Projekts die Randbedingungen genau analysiert werden. Hierzu gehört beispielsweise eine Untersuchung, ob bereits eine andere Partei an einer alternativen Lösung arbeitet und ob vorhandene oder geplante Inputgrößen, wie beispielsweise bestimmte Dokumentationsdaten für eine bestimmte Methode, sowohl zum Implementierungszeitpunkt als auch langfristig verfügbar sein werden. Weiterhin ist zu prüfen, ob es Schnittstellen zu anderen Methoden gibt. Ist dies der Fall, so sind diese klar herauszuarbeiten und so zu beschreiben, dass die unterschiedlichen Zielsetzungen und Verantwortungsbereiche transparent werden. Dementsprechend sind die Zuständigkeiten zeitnah zu klären und voneinander abzugrenzen. Existiert bereits eine Methode, welche für die Problemstellung eine Abhilfe schaffen soll, so muss die neue, konkurrierende Methode einen klaren Vorteil gegenüber der existierenden Methode aufweisen. Idealerweise sollte dieser auch einfach kommunizierbar sein. Es ist klar herauszuarbeiten, wo die Ursache des Bedarfs tatsächlich liegt und warum die bisher eingesetzte Methode für die verfolgte Zielsetzung nicht hinreichend ist. Ist dies aufgezeigt, können eine zielgerichtete Detaillierung des Konzeptvorschlags vorangetrieben und die notwendigen Ressourcen eingesetzt werden.434 Vor der eigentlichen Methodenentwicklung durch den IDL sollten eine detaillierte Problemanalyse und eine enge Abstimmung der Vorgehensweise mit der Nutzergruppe erfolgen. Es eignen sich interdisziplinär besetzte Kick-Off Meetings mit Experten der beteiligten und betroffenen Bereiche. Dies hilft, um von Beginn an ein gemeinsames Verständnis zu schaffen und die Zielsetzung zu schärfen. Weiterhin kann so eine gemeinsame Sicht auf die anzustrebende Funktionalität der zu

433

434

Siehe zum Begriff der absorptiven Kapazität Cohen/Levinthal (1990) und die Ausführungen hierzu in Kapitel 2.3.2. Das Kriterium der relativen Vorteilhaftigkeit findet sich beispielsweise bei Rogers (1983). Siehe hierzu auch Kapitel 3.1.1.

208

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

entwickelnden Methode und die zu berücksichtigenden Randbedingungen gewonnen werden. Es sollte sich allerdings nicht nur um formale Meetings handeln, sondern auch die Möglichkeit eines informellen Austauschs (z. B. Social Events) gefördert werden. Die frühe Einbindung der Beteiligten und Betroffenen gibt diesen das Gefühl von Anfang an selbst mitgearbeitet und gestaltet zu haben, was die Schaffung der notwendigen Akzeptanz in der Organisation erleichtert. 435 Einhergehen sollte eine möglichst frühe Klärung der AKV zwischen dem IDL und der Nutzergruppe. Dies trägt dazu bei, dass sich die Projektmitglieder auf inhaltliche Fragestellungen konzentrieren können und nicht durch politische Diskussionen abgelenkt werden. Anschließend sollten Abstimmungen möglichst Face-to-Face bei der Nutzergruppe vor-Ort erfolgen. So werden in der Regel einerseits die meisten fachliche Details angesprochen und andererseits die Bildung einer gegenseitigen Vertrauensbasis gefördert. Die Face-to-Face-Kontakte dienen insbesondere dazu, herauszufinden, welche Handlungstheorien in dem Anwendungskontext tatsächlich bestehen, da diese erheblich von den offiziellen Handlungstheorien abweichen können. Daher sollten sich die Mitarbeiter des IDL nicht auf Verfahrensanweisungen und sonstige Dokumente verlassen, sondern auch in späteren Phasen den direkten Kontakt mit den späteren Anwendern suchen, um die tatsächlich etablierten Abläufe analysieren zu können.436 Zur Erfassung der Randbedingungen zählt weiterhin, möglichst alle Anforderungen der Pilotnutzergruppe im Hinblick auf die Methodenerweiterung aufzunehmen. Allerdings ist zu beachten, dass ein erfolgreiches Pilotprojekt relativ schnell einen Rollout nach sich ziehen kann. Entsprechend sollten die für weitere Anwendungsfälle relevanten Anforderungen nicht aus den Augen verloren und in dem Konzept berücksichtigt werden. Die Methode ist so auszulegen, dass sie auch flächendeckend für alle von der Nutzergruppe betreuten Produkte eingesetzt werden kann. Beispielsweise ist bei dem Einsatz einer Datenbank zu berücksichtigen, dass sich die Anzahl der Datensätze, ausgehend von einer überschaubaren Menge in der Pilotphase, bei einem Rollout innerhalb kurzer Zeit dramatisch erhöhen kann. Ein nicht hinreichend gut ausgelegtes System wird so schnell an seine Grenzen stoßen und eine Barriere für den weiteren Methodenerfolg darstellen. Dies ist insofern

435

436

Siehe zu dem Argument der frühen interdisziplinären Zusammenarbeit beispielsweise Kapitel 2.1.1.3 (Stage-Gate-Modell), Fallstudie 1 in Kapitel 3.2 und Kapitel 4.1.2.1(Schnittstelle OEMZulieferer). Siehe hierzu Argyris/Schön (1996, S. 12-15) und die Ausführungen in Kapitel 2.2.1.1.

6.2 Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU

209

kritisch, da die Nutzer die Erwartungshaltung haben, die neue Methode auch ohne größeren Zeitverzug für andere von ihnen betreute Produkte einsetzen zu können.437

6.2.1.3

Informationsbeschaffung und Konzeption

Die Konzeption einer neuen Methode erfordert eine systematische Analyse der Randbedingungen, wozu insbesondere in bisher nicht bekannten Anwendungskontexten eine umfangreiche Informationsbeschaffung notwendig ist. Informationen werden gerade im Pilot aus einer Vielzahl formeller und informeller Quellen bezogen, wobei der Zugang zu den informellen Quellen häufig durch die bestehenden Netzwerke ermöglicht wird.438 Oftmals ist allerdings zu beobachten, dass die Mitarbeiter des IDL aus Prestigegründen die am leichtesten zugänglichen Informationen und nicht diejenigen mit der besten Qualität und Zuverlässigkeit beschaffen. Erklärt werden kann dieses Phänomen dadurch, dass die Mitarbeiter in diesen Situationen aus psychologischen Gründen tendenziell keine Unwissenheit zugeben möchten.439 Dies ist besonders kritisch, da die Entwicklung der Methode gerade auf diesen Informationen aufsetzt und eine nicht hinreichend genaue Analyse der Randbedingungen zu einem Scheitern der Methode in einer späteren Phase führen kann. Vor diesem Hintergrund ist es die Aufgabe des Managements der Nutzergruppe sicherzustellen, dass die besten Informationsquellen für den IDL zugänglich sind, wobei zu beachten ist, dass häufig für bestimmte kritische Fragestellungen nur eine oder wenige Personen über das benötigte Wissen verfügen. Dies ist gerade dann problematisch, wenn diese aufgrund ihres Expertenwissens in der Organisation sehr nachgefragt und somit intensiv in andere Aktivitäten eingebunden sind. Hier ist es in der Praxis häufig schwierig, die notwendigen Ressourcen freizusetzen und die nötigen Freiräume zu finden, sodass die Experten ihr Wissen mit den Methodenentwicklern des IDL teilen können. Weiterhin ist in diesem Kontext zu beachten, dass die Mitarbeiter des IDL entsprechend der ASK Hypothese gerade im Pilot nicht exakt spezifizieren können, was sie eigentlich suchen. Da es sich um eine neue Problemstellung handelt, wissen sie oftmals nicht genau, welche Informationen ihnen genau fehlen. Auch 437 438 439

Siehe als Beispiel hierfür den schnellen Rollout der IQT in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2. Siehe hierzu Choo/Auster (1993, S. 284-285) und die Ausführungen in Kapitel 2.2.1.3. Siehe hierzu Allen (1984, 183-193) und die Ausführungen in Kapitel 2.2.1.3.

210

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

Informationen aus IT-Systemen helfen meist nur begrenzt, da sie in der Regel nicht auf das konkret vorliegende Problem zugeschnitten, sondern für andere Fragestellungen konzipiert sind.440 Aufbauend auf der Informationsbeschaffung bringen die Mitarbeiter des IDL bei der im Anschluss folgenden Konzeption ihre Methodenkompetenz sowie ihre Erfahrung aus Vorgängerprojekten ein. Die späteren Anwender der Methode bringen ihrerseits das Anwendungswissen ein, das für eine maßgeschneiderte Lösung unabdingbar ist. Insofern vollzieht sich an dieser Stelle in einem bestimmten Anwendungskontext eine Fusion von neuem Methodenwissen mit vorhandenem Anwenderwissen durch die Bildung von Teams aus Anwendern der Nutzergruppe und Methodenentwicklern des IDL. Diese sind vergleichbar mit Technologieintegrationsteams, wie sie von Iansiti (1998) beschrieben werden.441 Gerade in frühen Phasen, in denen die Gruppe aus Mitarbeitern des IDL und Anwendern noch keine akzeptierten Normen hat, ist daher die Nutzung von Medien mit einer hohen Synchronität zu empfehlen, wobei diese Notwendigkeit im Zeitverlauf abnimmt.442 Bei der Konzeptdetaillierung auf Basis der beschafften Informationen sollte beachtet werden, dass Innovationen wie neue Methoden auch neue Routinen, d. h. neue Abläufe in der Organisation erfordern. Diese sollten soweit wie möglich in bestehende Abläufe eingebettet werden, da diese sehr schwer zu ändern sind. Sofern auf bestehende Abläufe zurückgegriffen wird, sollte allerdings sichergestellt sein, dass diese wohlverstanden und verlässlich sind und nicht ihrerseits zu Problemen führen.443

6.2.1.4

Besondere Problematik äquivoken Wissens

Im Rahmen der Informationsbeschaffung und der Konzeption wird üblicherweise auf einen erheblichen Umfang expliziten Wissens zurückgegriffen. Beispiele sind bestehende Verfahrensanweisungen und Dokumente, wie Protokolle oder Präsentationen. Darüber hinaus wird üblicherweise während der Projektarbeit ein nicht zu unterschätzender Teil des Informationsaustauschs über E-Mail vollzogen. Daher ist es gerade in der Pilotphase, bei der die Methode erstmals für den Anwendungskontext erarbeitet wird, enorm wichtig, jeweils ein gemeinsames

440

441 442 443

Siehe hierzu die Argumentation nach Belkin (1980, S. 137) und Wilson (1981, 11) in Kapitel 2.2.1.3. Siehe hierzu Kapitel 3.1.2.3. Siehe hierzu die Media-Synchronicity-Theorie nach Dennis/Valacich (1999) in Kapitel 3.3.2.2. Siehe hierzu die Diskussion von Routinen als organisationale Wissensbasis in Kapitel 2.2.1.1.

6.2 Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU

211

Verständnis über den aktuellen Stand herzustellen. Es muss immer davon ausgegangen werden, dass die benötigten Ansprechpartner nicht alle denselben Hintergrund haben und auch die für den einen Mitarbeiter vermeintlich einfachen Sachverhalte für einen anderen Mitarbeiter intensiver Erläuterungen bedürfen. Gerade Mitarbeiter, die nur zu geringen Anteilen ihrer gesamten Kapazität in dem Pilotprojekt involviert sind, interpretieren Sachverhalte tendenziell anders als Personen, die mit ihrer gesamten Kapazität in einem Projekt arbeiten und bereits bei vielen Besprechungen und informellen Austauschen anwesend waren. Insofern ist gerade in der Pilotphase darauf zu achten, dass das Wissen bei dem Austausch von expliziten Dokumenten kanonisch ist, d. h. von allen involvierten Personen in der gleichen Art und Weise interpretiert und verstanden wird.444 Hierzu gehört eine gemeinsame Durchsprache von Dokumenten, um bei allen Beteiligten eine einheitliche Sicht auf die Inhalte zu schaffen. Dies ist insbesondere bei wenig gemeinsamer Erfahrung und einer hohen Fluktuation von Ansprechpartnern empfehlenswert. Gerade bei sehr innovativen und hochkomplexen Zusammenhängen kann es von Vorteil sein, wenn Spezifikationen gemeinsam von den Beteiligten (beispielsweise IDL-Mitarbeiter und Vertreter der Nutzergruppe) geschrieben werden. Hierdurch kann sichergestellt werden, dass die verwendeten Begriffe entsprechend den Gegebenheiten des Anwendungskontextes gewählt werden. Dies vermeidet Missverständnisse von explizitem Wissen von vorneherein. Falls dies nicht möglich ist, sollte zumindest eine gemeinsame Durchsprache der Dokumente zwischen Autor und Nutzer stattfinden. Liegt tendenziell äquivokes Wissen innerhalb der Projektgruppe vor, so ist unbedingt die Schaffung eines gemeinsamen Bezugsrahmens notwendig, um eine starke interpretative Kohärenz herzustellen. Hilfreich sind in solchen Situation regelmäßige Face-to-Face-Kontakte oder spezielle Projekthäuser, bei denen die am Projekt beteiligten Personen in einem oder mehreren angrenzenden Büroräumen allokiert werden. Diese räumliche Nähe beeinflusst die Kommunikationshäufigkeit stark positiv und sorgt dafür, dass die organisatorischen Grenzen der Projektmitglieder innerhalb des Projekts eine geringere Rolle spielen. Ein Projekthaus ist somit ein

444

Siehe hierzu die Argumentation zu der Unterscheidung zwischen äquivokem und kanonischem Wissen in Kapitel 5.1.

212

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

Instrument, um die bereichsübergreifende organisatorische Grenzen zu überwinden.445

Kommunikation

zu

fördern

und

Weiterhin hilft eine frühzeitige Standardisierung von Begriffen, Darstellungsarten und Vorgehensweisen bei der Vermeidung äquivoker Situationen. Dies ist erforderlich, da gerade in der Konzeptionsphase viele neue Begriffe und Abkürzungen eingeführt werden. Findet keine frühzeitige Standardisierung statt und werden die Begriffe nicht kohärent verwendet, so kann es vorkommen, dass für denselben Sachverhalt verschiedene Bezeichnungen in der Organisation existieren. Dies ist abträglich für die Schaffung eines gemeinsamen Verständnisses, da es dann passieren kann, dass über dieselben Dinge gesprochen wird, ohne dass die Gesprächspartner davon in Kenntnis sind.446 Zur Schaffung kanonischen Wissens bieten sich neben den genannten Face-toFace-Kontakten Visualisierungen an, die den Gesamtzusammenhang aufzeigen. Daher sollten auch Zwischenergebnisse nach Möglichkeit visualisiert werden, da diese als Diskussionsgrundlage für die Weiterentwicklung dienen können. Zudem können Visualisierungen helfen, bei den involvierten Personen ein gemeinsames Bild entstehen zu lassen. Diese geben den Beteiligten und Betroffenen zusätzlich das für die Motivation wichtige psychologische Gefühl, bereits etwas geschaffen zu haben. Als Visualisierung eignen sich beispielsweise Prototypen und Demonstratoren wie beispielsweise die Oberfläche einer Datenbank, an denen ein Teil der neuen Methode visualisiert werden kann, ohne die gesamte Funktionalität implementiert zu haben. Einfacher zu handhaben sind mit Beispieldaten ausgefüllte Templates, anhand derer die Vorgehensweise der Methode erläutert werden kann.447 Entsprechend könnte bei der Entwicklung eines toolgestützen Risikomanagements ein schrittweise ausgefülltes Risikomanagementformular in Verbindung mit einer groben Prozessbeschreibung die prinzipielle Vorgehensweise in einem frühen Stadium veranschaulichen. Visualisierungen unterstützen die Bildung gemeinsamer mentaler Modelle, die durch den Dialog und gemeinsame kollektive Reflexion entstehen.448

445

446 447

448

Siehe hierzu das Beispiel von Projekthäusern in Kapitel 4.1.1.1. und die Vorteile zur Vor-Ort-Arbeit von EDL in Kapitel 4.3.3.1. Siehe zur Standardisierung von Begriffen und Darstellungsarten Kapitel 4.1.2.2. Jensen/Szulanski/Casaburi (2003) zeigen, wie Templates den Wissenstransfer unterstützen können: 1) Nutzung als Referenz während der Implementierung von Methoden 2) Nutzung zur Überzeugung in der Initiierungsphase eines Transfers. Siehe zur Bildung gemeinsamer Mentaler Modelle Nonaka/Konno (1998, S. 43-44) in Kapitel 2.2.2.2.

6.2 Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU

6.2.1.5

213

Organisatorische Fragestellungen in der Pilotphase

Als organisatorische Gestaltungsform für die pilothafte Implementierung bietet sich die Bildung von Projektteams aus Mitarbeitern des IDL und den späteren Anwendern an. Üblicherweise ist der hierarchische Einfluss der Linienbereiche auf ein Projekt niedriger und die Teammitglieder können sich besser mit der ihnen übertragenen Aufgabe identifizieren. Es sollten neben den Mitarbeitern des IDL Fachpromotoren in der Nutzergruppe identifiziert und entsprechend in die Methodenentwicklung eingebunden werden. Diese sollten ein hohes Interesse an der neu zu entwickelnden Methode besitzen und zugleich andere Personen in ihrem Umfeld von dem Nutzen der Methode überzeugen können. Die Aufgabe dieser Fachpromotoren ist somit neben der Einbringung von Wissen aus dem Anwendungskontext die Schaffung der notwendigen Akzeptanz in der Nutzergruppe. Idealerweise kristallisieren sich Personen heraus, zu denen über mehrere Projekte hinweg eine gute Beziehung aufgebaut werden kann. Diese können dann die Rolle eines Key Account Managers zur Nutzergruppe einnehmen.449 Allerdings ist zu beachten, dass die Ansprechpartner der Nutzergruppe aus diversen Gründen wechseln können. Infolgedessen sind die neuen Ansprechpartner häufig auf einem anderen Wissensstand und müssen sich erst in ihre neue Rolle einarbeiten.450 Weiterhin ist zu beachten, dass ein Commitment zur Entwicklung der Methode durch das Management sowohl bei den Beteiligten der Methodenentwicklung als auch bei den von dem Methodeneinsatz Betroffenen besteht. Durch eine solche managementseitige Unterstützung wird es für die Mitarbeiter des IDL leichter sein, die für eine erfolgreiche Implementierung der Methode erforderlichen Informationen sowie Zugang zu den entsprechenden Ansprechpartnern zu erhalten. Gerade bei hoher Komplexität zählen zu den Betroffenen nicht nur die späteren Anwender, sondern fast immer auch andere tangierte Bereiche. Um diese ausfindig zu machen, sind gute Organisationskenntnisse erforderlich. Daher bedarf es einer Person, welche die Rolle eines Prozesspromotors einnimmt und für eine diesbezügliche Transparenz sorgt.451

449

450 451

In der dynamischen Perspektive des Promotorenmodells würden sich die Fachpromotoren, wie in Abbildung 25 dargestellt, im Laufe der Zeit zu Prozesspromotoren oder entwickeln. Siehe hierzu die Bildung des Projektteams im Rahmen der Pilots in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2. Siehe zur Rolle des Prozesspromotors Kapitel 3.1.2.2.

214

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

Eine frühzeitige Einbindung der beteiligten und betroffenen Bereiche auf Managementebene ist oftmals kritisch für die Schaffung von Akzeptanz in der Organisation. Instrumentalisiert werden kann dies beispielsweise durch die Bildung eines zyklisch tagenden Steuerkreises, in den die Methodenentwickler regelmäßig gemeinsam mit einem Vertreter der späteren Anwender berichten.452 Ziel sollte es sein, notwendige Entscheidungen von den Führungskräften in ihrer Rolle als Machtpromotor treffen zu lassen.453 Hier liegt es im Geschick der Projektleitung, die aktuellen Problemstellungen in einer geeigneten Form aufzubereiten und entsprechende Entscheidungsvorlagen zu gestalten. Um beurteilen zu können, wer von bestimmten Entscheidungen im Unternehmen betroffen ist, sollte die Projektleitung daher über ein breites Prozesswissen verfügen. Die getroffenen Entscheidungen sollten die notwendigen Freiräume für die inhaltliche Arbeit des Projekts schaffen und etwaige unternehmenspolitische Spannungen von dem Projektteam fern halten. Dies gelingt allerdings nur, wenn der Steuerkreis mit Vertretern der wichtigsten beteiligten und betroffenen Bereiche besetzt ist, und die getroffenen Entscheidungen eindeutig und verbindlich sind. Neben den genannten Faktoren sollte eine klare Definition der AKV bereits in der Anfangsphase der Methodenentwicklung die Weichen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit innerhalb des Projektteams und auf Managementebene stellen. Sollten sich in späteren Phasen Veränderungen in der Aufteilung der AKV ergeben, so sind diese allen involvierten Personen zu kommunizieren, sodass keine falschen Erwartungshaltungen entstehen. Jeder sollte genau wissen, was in welcher Form von ihm erwartet wird und was er von anderen erwarten kann. Beispielsweise sollte ein Projektleiter auf der Seite des IDL die Verantwortung zur Konzeptdetaillierung haben und sein Pendant auf der Seite der späteren Anwender mit der Verantwortung für die Umsetzung in der Nutzergruppe ausgestattet sein.454

6.2.1.6

Effektiver Transfer des Methoden Know-hows

Nach Fertigstellung der Methode stellt sich die Frage, wie das zur Anwendung der Methode notwendige Know-how effektiv an die späteren Anwender transferiert werden kann. Es bietet sich an, dass die Methodenentwickler während der ersten

452

453 454

Siehe hierzu die Einbindung der beteiligten und betroffenen Bereiche auf Managementebene in Form eines Steuerkreises in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2. Visualisiert ist dieser Steuerkreis in Abbildung 29. Siehe zur Rolle des Machtpromotors Kapitel 3.1.2.2. Siehe zur Notwendigkeit der Definition einer AKV Kapitel 4.1.2.4.

6.2 Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU

215

pilothaften Anwendung in der Rolle eines Resident Engineers455 direkt vor-Ort bei den Anwendern sind. So können diese einerseits ihr methodisches Know-how einbringen und andererseits im Rahmen der Erfahrungssammlung herauskristallisieren, welche Verbesserungspotenziale im Hinblick auf eine Weiterentwicklung der Methode existieren. Ist eine solche permanente Anwesenheit aufgrund von Ressourcenengpässen nicht möglich, so können alternativ Face-toFace-Schulungen vor-Ort bei den Anwendern den Wissenstransfer deutlich verbessern. Durch diese Maßnahmen kann neben dem Know-how-Transfer einerseits die Akzeptanz für die Methode bei den Anwendern erhöht und andererseits ein für die Erfahrungssammlung hilfreicher Feedbackkanal installiert werden. Durch ein angeleitetes Learning by Doing kann so das für die Anwendung der Methode notwendige Wissen von den Anwendern internalisiert werden.456 Es zeigt sich, dass das gemeinsame Praktizieren einer neuen Methode mit Experten wie den Methodenentwicklern oder mit anderen Anwendern, welche die Methode bereits ausüben, ein kritischer Erfolgsfaktor für den Wissenstransfer ist.457 Gerade in der Anfangsphase, aber auch zu späteren Zeitpunkten kann eine gut erreichbare und kompetente Hotline die nachhaltige Implementierung der Methode wirkungsvoll unterstützen. Idealerweise ist diese durch Methodenentwickler besetzt, die bei der ersten Implementierung der Methode vor-Ort bei den Anwendern waren und bereits ein persönliches Verhältnis zu diesen haben. Die Hotline kann im einfachsten Fall so ausgestaltet sein, dass Fragen per Telefon oder Mail entgegengenommen und beantwortet werden. Bei komplexeren Methoden bietet es sich jedoch gerade in frühen Phasen wie der Pilotphase an, dass der Methodenentwickler je nach Situation die Fragen auch direkt beim Anwender vor-Ort beantwortet. Den Methodenentwicklern kann eine solche Hotline im Gegenzug gerade in frühen Phasen zur Einholung von Feedback dienen, wodurch die Weiterentwicklung der Methode aufgrund der Rückmeldungen von Pilotanwendern positiv beeinflusst wird. Eine weitere Möglichkeit zur Einholung von Feedback bieten dezidierte Anwendertreffen, bei denen verschiedene Anwender ihr Erfahrungswissen mit Methodenexperten austauschen.458 455 456 457 458

Siehe zum Einsatz von Resident Engineers Kapitel 4.1.1.2 und Kapitel 4.3.3.3. Siehe hierzu die Argumentation nach Nonaka/Konno (1998, S.47) in Kapitel 2.2.2.2. Siehe hierzu die Argumentation nach Cook/Brown (1999, S. 383) in Kapitel 2.2.2.4. Siehe hierzu die in der Fallstudie in Kapitel 2.1.3 analysierten Kommunikationskanäle.

216 6.2.1.7

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

Aspekte der internen Kommunikation

Die Diffusion der neuen Methode innerhalb des Rollouts hängt maßgeblich von der internen Kommunikation ab. Im Hinblick auf Marketingaspekte empfiehlt es sich daher, einen prägnanten Methodennamen bereits in der Pilotphase zu wählen, sodass sich dieser bereits vor der eigentlichen Methodenanwendung im Management, bei den potenziellen Anwendern und darüber hinaus auch bei anderen interessierten Bereichen festsetzt. Es ist festzustellen, dass sich ein prägnanter Methodenname sehr schnell etablieren kann und häufig auch von Personen genutzt und diskutiert wird, die über die eigentlichen Inhalte nicht im Bilde sind. Um eine semantische Verwirrung in der Organisation auszuschließen, sollte der gewählte Methodenname im Nachhinein, auch wenn dies inhaltlich sinnvoll zu begründen ist, nicht gewechselt werden. Dies ist darin begründet, dass sonst diejenigen Personen, die nicht täglich mit dem Projekt zu tun haben, den neuen Methodennamen nicht mehr zuordnen können. Ein Wechsel sollte höchstens dann vollzogen werden, wenn der ursprüngliche Name in der Organisation sehr negativ behaftet ist. Prägnante Methodennamen können beispielsweise Akronyme wie TLA (Three letter acronym) oder MEPRO (Methodology for Engineering Process Synchronization) sein.459 Idealerweise wird die Pilotphase nach der Absicherung des Konzepts (Proof of Concept) mit einem kurzen Bericht von den Anwendern über die Wirksamkeit der Methode als Nutzennachweis abgeschlossen. Sofern quantifizierbare Ergebnisse vorliegen, sollten diese explizit aufgeführt werden. So kann einerseits der Nutzen der Methode im Pilot untermauert und darüber hinaus eine weitere Argumentationsgrundlage für die Notwendigkeit eines Rollouts geschaffen werden.460 Weiterhin sollten zwischen dem IDL und der Nutzergruppe gemeinsame Lessons Learned Workshops stattfinden, um die im Pilotprojekt gemachten Erfahrungen zu sichern und die Methode im Hinblick auf einen möglichen Rollout nochmals zu optimieren. Solche Veranstaltungen helfen insbesondere den Mitarbeitern des IDL, ihre methodische Vorgehensweise bei einem erneuten Pilotprojekt zu verbessern.461

459

460 461

Siehe zur Wahl des Methodennamens IQT Fallstudie 1 in Kapitel 3.2 und für das Beispiel MEPRO Kapitel 2.1.2.2. Siehe als Beispiel für einen solchen Bericht Fallstudie 1 in Kapitel 3.2. Lessons Learned Workshops werden beispielsweise auch in dem Prozesssynchronisationsansatz in Kapitel 2.1.2.2 empfohlen.

6.2 Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU

6.2.2

217

Rollout – Standardisierung der Methode

Nach einer erfolgreichen Pilotierung einer neuen Methode bei einem bestimmten Produkt stellt sich in der Regel die Frage, ob eine Anwendung auch bei weiteren, ähnlichen Produkten einen Nutzen stiftet. Wird dies als gegeben angesehen, so erfolgt während des Rollouts eine Verbreitung der Methode innerhalb einer bestimmten Nutzergruppe einhergehend mit einer Standardisierung. Eine wesentliche Rolle in diesem Zusammenhang spielt der Nutzennachweis des Pilotprojekts. Weiterhin ist zu Beginn des Rollouts zu entscheiden, ob dieser dezentral durch die Nutzer oder zentral unter Einbindung des IDL durchgeführt werden soll. Motiviert kann eine Einbindung des IDL aus verschiedensten Gründen sein, wobei in einem solchen Fall eine sinnvolle Organisationsform zu wählen ist. Wie auch bei dem Pilot ist während des Rollouts ein effektiver Transfer des zur Anwendung der Methode notwendigen Know-hows sicherzustellen. Auch die darüber hinausgehende interne Kommunikation zur Unterstützung der Diffusion sollte wohl überlegt sein. Weiterhin ist zu beachten, dass gerade bei einem standortübergreifenden Rollout weitere Herausforderungen auftreten können, denen mit geeigneten Mechanismen zu begegnen ist. Abschließend ist zu erwähnen, dass eine nachhaltige Anwendung der Methode durch entsprechende Betreibermodelle unterstützt werden kann. Die wichtigsten Aspekte zu den genannten Themenfeldern werden in den folgenden Ausführungen aufgegriffen und im Detail herausgearbeitet.

6.2.2.1

Nutzennachweis des Pilotprojekts

Die Nutzergruppe des Rollouts umfasst idealerweise einen Personenkreis, der bereits Kontakt zu der neuen Methode in der Pilotphase hatte oder räumlich direkt bei den Pilotnutzern angesiedelt ist. Dies ist darin begründet, dass diese Personen ähnliche Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster462 haben werden, und die neue Methode für dieselbe Fragestellung mit nahezu identischen Randbedingungen angewendet werden kann. Voraussetzung ist, dass von dieser Nutzergruppe die gleichen Tätigkeiten für andere Produkte ausgeführt werden und ähnliche Randbedingungen existieren.

462

Tversky/Kahnemann (1981) verwenden den Begriff „cognitive frame“ und zeigen auf, dass Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster an die Normen, Gewohnheiten und Merkmale bestimmter Gruppen gebunden sind.

218

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

Handelt es sich beispielsweise um eine Methode, die bei der Produktdokumentation in der Entwicklung angesiedelt ist, und wurde die Methode pilothaft bei der Dokumentation von einem bestimmten Produktprojekt eingesetzt, so werden die Personen, die vergleichbare Produkte dokumentieren, dieselben Vorgehensweisen benutzen und auch mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sein. Für den zügigen Start des Rollouts kann ein Nutzennachweis aus der Pilotphase erheblich beitragen. Das Pilotprojekt hat in der Phase des Rollouts insofern als Referenzprojekt einen positiven Einfluss, da die Methode von den potenziellen Nutzern nicht mehr nur als Prototyp, sondern als erprobtes Werkzeug angesehen wird. Bei der Kommunikation der Methode muss nicht mehr auf Demonstratoren oder Templates mit Beispieldaten zurückgegriffen werden, sondern es können reale Anwendungsfälle herangezogen werden. Diese sind hervorragend bei den Pilotanwendern in der täglichen Praxis beobachtbar, wodurch das Vertrauen der Nutzer in die Methode im Rahmen des Rollouts beträchtlich gesteigert werden kann. Dies hat folglich einen erheblich positiven Effekt auf die Diffusion der Methode in der Organisation.463

6.2.2.2

Zentrale vs. dezentrale Weiterentwicklung der Methode

Die Art und Anzahl der Produkte, bei denen die Methode implementiert werden soll, spielt eine entscheidende Rolle für die organisatorische Ausgestaltung des Rollouts und der einhergehenden Weiterentwicklung der Methode. Generell hat eine dezentrale Weiterentwicklung der Methode durch die Anwender selbst den Vorteil, dass Änderungs- und Ergänzungswünsche schneller eingearbeitet werden können und keine Abstimmungsrunden mit tangierenden Projekten gefahren werden müssen. Allerdings leidet notwendigerweise die Standardisierung unter einer solchen Vorgehensweise. Sofern die Produkte eine hohe Ähnlichkeit aufweisen und gegebenenfalls Abhängigkeiten zwischen ihnen existieren, sollte der Rollout und auch die Weiterentwicklung der Methode zentral durch den IDL gesteuert werden. Hierdurch können in vielen Fällen redundante Arbeitsschritte und die Entwicklung von proprietären Lösungen seitens der Anwender vermieden werden. So kann bei einer zentralen Weiterentwicklung beispielsweise sichergestellt werden, dass bei der Verwendung eines Datensatzes für mehrere Produkte, dieser bei einer 463

Siehe zu dem positiven Einfluss des Nutzennachweises eines Pilotprojekts Fallstudie 1 in Kapitel 3.2.

6.2 Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU

219

standardisierten Methode nur einmal zentral eingegeben oder geändert werden muss. Dies vermeidet Redundanzen und hat gerade im Hinblick auf die Komplexität beim Änderungsmanagement erhebliche Vorteile. Die Anforderungen der Anwender können so zentral von den Mitarbeitern des IDL gesammelt und gebündelt umgesetzt werden. Weiterhin können die Mitarbeiter des IDL die in den verschiedenen Projekten gesammelten Erfahrungen so einspeisen, dass diese auch anderen Projekten zugute kommen. Bei dieser Vorgehensweise kann darüber hinaus sichergestellt werden, dass Anwender, die für unterschiedliche Produkte arbeiten, dieselben standardisierten Arbeitsschritte durchlaufen. Weiterhin wird die Standardisierung von Begriffen und Darstellungsarten bei der Methodenanwendung über verschiedene Projekte vereinfacht, was zu der Bildung eines gemeinsamen Verständnisses der Anwender beiträgt.464 Handelt es sich hingegen um sehr viele unterschiedliche Produkte, so wird es nicht sinnvoll sein, dass der IDL den Rollout sowie die Weiterentwicklung der Methode durchführt. Er wird nicht in der Lage sein, die unterschiedlichen Randbedingungen der einzelnen Projekte zu durchschauen und jeweils eine entsprechend maßgeschneiderte Lösung anzubieten. Gerade wenn die Anforderungen an die Methode für verschiedene Produkte sehr stark differieren und es keine Abhängigkeiten zwischen den Produkten gibt, sollte die Methode spezifisch an die jeweiligen Nutzergruppen angepasst werden. Hier bietet es sich an, dass eine Adaption und Weiterentwicklung der Methode von den Anwendern selbst vorangetrieben wird, da dies keine Auswirkungen auf andere Bereiche hat und so eine bessere Berücksichtigung der vorliegenden Randbedingungen gewährleistet werden kann. Der IDL sollte in solchen Fällen das Wissen über den Kern der Methode an die Nutzer transferieren und eher passiv in einer Beraterrolle agieren. Anders sieht hingegen die Situation aus, wenn es sich nur um wenige Projekte handelt und die Methode aufgrund der Unterschiedlichkeit der Projekte nicht sehr stark standardisiert werden kann. Es ist situationsabhängig zu entscheiden, ob der Rollout von dem IDL oder von der Nutzergruppe durchgeführt wird. Dies ist abhängig davon, ob der IDL in der Lage ist, die jeweiligen Anforderungen der einzelnen Projekte zu berücksichtigen. Je weniger Projekte betroffen sind, desto eher wird der IDL in der Lage sein, sich in die differierenden Anforderungen der einzelnen Projekte einzuarbeiten und die relevanten Aspekte für eine Methodeneinführung und – weiterentwicklung zu durchschauen.

464

Siehe hierzu die Fallstudie 1 in Kapitel 3.2, welche diese Argumentation bestätigt. Hier stehen die verschiedenen Fahrzeugbaureihen innerhalb einer Marke für sehr ähnliche Produkte.

220 6.2.2.3

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

Motivation für die Einbindung des IDL beim Rollout

Bei dem Wissenstransfer von den Pilotanwendern zu anderen Nutzern ist jeweils die Motivationsstruktur der einzelnen Parteien zu beleuchten. Es ist zu beachten, dass eher selten von einem aktiven Transfer seitens der Pilotanwender auszugehen ist, da diese nicht an einem erfolgreichen Transfer der Methode zu anderen Nutzern, sondern an dem Erreichen ihrer originären Ziele interessiert sind. Insofern werden sie vorzugsweise bestrebt sein, die Methode, welche sie bei der Erreichung ihrer Ziele unterstützt, anzuwenden. Der Wissenstransfer kann häufig auch durch Anreizsysteme nicht in dem Maße unterstützt werden wie es notwendig wäre, um die Pilotanwender in eine treibende Rolle zu bringen. Hingegen wird der IDL direkt an dem Wissenstransfer gemessen. Seine originäre Aufgabe ist es, neue Methoden, die einen hohen Nutzen für das Unternehmen haben, bei verschiedenen Nutzergruppen zu etablieren. Insofern hat der IDL ein hohes Interesse daran, die bei einem Pilotprojekt erfolgreich eingeführte Methode im Rahmen des Rollouts in der entsprechenden Nutzergruppe zu verbreiten und bei möglichst vielen Produkten zu etablieren. Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass eine Begleitung des Piloten und der Anfangsphase des Rollouts durch den IDL die Vermeidung einer unangeleiteten Verwendung der neuen Methode bewirkt. Dies ist nicht zu unterschätzen, da andere potenzielle Nutzer ebenfalls versuchen werden, möglichst schnell die neue Methode einzusetzen. Das wird gerade dann problematisch, wenn die Funktionsweise der Methode von den potenziellen Anwendern nicht verstanden wird und ein falscher Methodeneinsatz zu ungewünschten Effekten führt. Dies kann der Reputation der neuen Methode einen erheblichen Schaden zufügen, auch wenn ein objektiver Nutzen im richtigen Anwendungskontext vorliegt.465

6.2.2.4

Organisatorische Ausgestaltung bei Einbindung des IDL

Wird der Rollout mit Unterstützung des IDL durchgeführt, so sollte dieser gerade in der Anfangsphase eine treibende Rolle einnehmen und auch operative Tätigkeiten im Rahmen der Methodenanwendung bei den Nutzern durchführen. Dadurch dass die Mitarbeiter des IDL nicht nur konzeptionelle Aufgaben annehmen, wird die Akzeptanz bei den späteren Anwendern der Methode gefestigt. Weiterhin kann von den Mitarbeitern des IDL so besser verstanden werden, welche zusätzlichen Anforderungen die Nutzer haben. Die Mitarbeiter des IDL können in dieser Phase 465

Siehe hierzu die Argumentation in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2.3.

6.2 Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU

221

Erfahrungen aus dem Pilot weitergeben und ihrerseits selbst weitere Erfahrungen sammeln. Dies dient der Absicherung und Standardisierung der Methode in erheblichem Maße. Wenn bei dem Rollout eine Implementierung der Methode für mehrere Produkte durchgeführt werden soll, bietet sich die Bildung mehrere Projektteams und eines Steuerkreises an. Beispielsweise kann jedes Projektteam die neue Methode für genau ein Produkt einführen. Die Koordination der Aktivitäten sollte dann durch den Projektleiter des IDL und der Nutzergruppe zentral gesteuert werden. Somit wird die Sammlung und Weitergabe des Erfahrungswissens von zentraler Stelle unterstützt.466 Die Projektleiter sollten die Eigenschaften eines Prozesspromotors aufweisen und wissen, wie administrative Barrieren zu überwinden sind. Sie stellen die Verbindung zwischen den einzelnen Projektteams (Fachpromotoren) und dem Steuerkreis (Machtpromotoren) her. Letzterer sollte in der Lage sein, bei konkurrierenden Anforderungen entsprechende Entscheidungen herbeizuführen und notwendige Ressourcen zu allokieren. Wie auch in der Pilotphase ist es essenziell wichtig, die AKV der einzelnen Personen möglichst früh zu klären und entsprechend zu kommunizieren.467 Die einzelnen Projektteams haben ihrerseits, wie in Abbildung 57 gezeigt, die Aufgabe Transferprojekte durchzuführen und die Methode in einem konkreten Anwendungsfall, beispielsweise bei einem Produktprojekt, zu implementieren. Hier ist es vor dem Hintergrund der Erfahrungsweitergabe sinnvoll, dass in jeder Projektgruppe Mitarbeiter enthalten sind, die bereits Erfahrungen in dem Piloten sammeln konnten. Es bietet sich an, eine Mischung aus mit der Methode erfahrenen sowie diesbezüglich unerfahrenen Mitarbeitern zu wählen. Dies kann insofern Vorteile haben, da neue Mitarbeiter eher neue Potenziale entdecken werden und über zusätzliche Lösungsansätze nachdenken, die bei einem eingespielten Team vielleicht nie aufgegriffen würden. Weiterhin können diese Mitarbeiter sich persönlich stark weiterentwickeln, da sie in einem neuen Umfeld aktiv werden und von erfahrenen Mitarbeitern profitieren können. Sobald innerhalb des Rollouts die Methode erfolgreich in einigen Projekten implementiert worden ist und die Methode sukzessive Verbreitung in der 466

467

Siehe hierzu beispielhaft die Bildung von mehreren Projektteams währende des Rollouts bei Marke 1-1 in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2. Siehe zu Promotorenmodellen im Projektmanagement Lechler (1999, S. 186-187).

222

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

Nutzergruppe gefunden hat, wird das für die Anwendung kritische Wissen üblicherweise verstärkt innerhalb der Nutzergruppe weitergegeben. Der IDL sollte sich daher in dieser Phase wieder vermehrt konzeptionellen Tätigkeiten widmen.468 Dies kann, wie in Abbildung 57 gezeigt, durch eine Übergabe von operativen Tätigkeiten an einen EDL erfolgen. Oftmals werden durch die Tätigkeiten während des Piloten und des Rollouts weitere Herausforderungen bei den betreuten Nutzergruppen identifiziert. Hieraus ergeben sich dann vielfach neue Projekte mit dem Ziel, weitere Methoden zu entwickeln, die in verwandten Tätigkeitsgebieten angesiedelt sind.

Steuerkreis Leiter der beteiligten und betroffenen Bereiche (IDL, Nutzergruppe, tangierte Bereiche)

Projektleitung Projektleiter des IDL Projektleiter aus Nutzergruppe

Projektteam 1

Projektteam 2

Projektteam n

Mitarbeiter IDL Mitarbeiter Nutzergruppe Mitarbeiter tangierte Bereiche

Mitarbeiter IDL Mitarbeiter Nutzergruppe Mitarbeiter tangierte Bereiche

Mitarbeiter EDL Mitarbeiter Nutzergruppe Mitarbeiter tangierte Bereiche

Pilot

Frühe Phase Rollout

Späte Phase Rollout

Abbildung 57: Organisatorische Gestaltung des Rollouts in einer Projektorganisation

Bei der Weiterentwicklung der Methode über verschiedene Projekte hinweg ist bei einer solchen Organisationsform ein stringentes Änderungs- und Versionsmanagement zu etablieren. Ziel sollte sein, unabgestimmte Änderungen der Methode und hieraus resultierende Missverständnisse zu vermeiden. Notwendige Änderungen sollten entsprechend dokumentiert und kommuniziert werden, sodass jederzeit Transparenz über die inhaltlichen Abweichungen zum vorherigen Stand bei den involvierten Personen herrscht. Es ist zu beachten, dass bei hoher Komplexität auch kleine Änderungen Auswirkungen haben können, die im Vorhinein so nicht transparent sind.

468

Siehe hierzu Kapitel 6.2.2.8 in dem Betreibermodelle zur Unterstützung der nachhaltigen Anwendung der Methode vorgestellt werden.

6.2 Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU

223

Weiterentwicklungen der Methode sollten möglichst so erfolgen, dass die existierende Funktionalität für die bestehenden Anwender nicht verändert wird, da die Anwendung der Methode schon bei diesen routinisiert ist. Ein Aufbrechen dieser Routinen ist dann nur noch schwer möglich und führt im Extremfall zu einer Ablehnung der Methodenanwendung.469

6.2.2.5

Know-how Transfer zu den Anwendern der Methode

Um den Rollout optimal zu unterstützen, bietet es sich an, dass der IDL seinerseits die Anwender Face-to-Face schult und eine Hotlinefunktion zu den Methodenentwicklern eingerichtet wird. Hierdurch kann eine korrekte Anwendung der Methode unterstützt und die Akzeptanz bei den Anwendern gesteigert werden. Gerade in Fällen, bei denen eine große Anzahl an Schulungsteilnehmern erreicht werden muss, bieten sich Kommunikationskanäle wie Schulungsfernsehen oder Face-to-FaceSchulungen über ein Trainernetzwerk mit Multiplikatorfunktion im Prinzip Train-theTrainer470 an. Unterstützt werden kann die Kommunikation weiterhin durch Marketing in internen Zeitschriften und Intranet sowie dem Einsatz von Newslettern bei Änderungen und Neuerungen. In einer späteren Phase können sowohl die Schulungen als auch die Hotlinefunktion von speziellen internen oder externen Schulungseinheiten (z. B. EDL) übernommen werden, die ihrerseits vorab von den Methodenentwicklern geschult wurden. Hierdurch ist es möglich, dass sich der IDL wieder konzeptionellen Tätigkeiten widmen kann, und dennoch ein flächendeckender Support für die Anwender gewährleistet ist. Sollten trotzdem spezielle Fragen zu der Methode auftreten, so sollte wiederum der IDL in einer Art 2nd oder 3rd Level Support agieren und Antworten liefern. Zu einem erfolgreichen Rollout tragen weiterhin Schulungsunterlagen mit prozessorientierten Inhalten bei, die den Ablauf der Methode aus Anwendersicht beschreiben. Sollte die Methode durch ein IT-System realisiert worden sein, so können Hilfemenüs und elektronische Hilfedokumente oder Verweise auf diese am Point-of-Use ebenfalls den Anwender unterstützen. Flankiert werden sollte der Rollout mittels einer zielgruppensensitiven Kommunikation auf allen Ebenen, vom Sachbearbeiter über das mittlere Management bis hin zum Top Management.

469

470

Die Beibehaltung der einmal eingeführten Routinen bei den bestehenden Anwendern hat sich beispielsweise in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2 als Erfolgsfaktor herausgestellt. Siehe zu Train-the-Trainer Konzepten beispielsweise Zink (1997).

224

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

Auf Sachbearbeiterebene bieten Erfahrungsaustausche (Lessons Learned Workshops etc.) mit Anwendern eine gute Möglichkeit, die verschiedenen Aspekte der neuen Methode zu diskutieren, Erfahrungen zu teilen und potenzielle Weiterentwicklungsanforderungen zu erkennen. Ebenso kann die tatsächliche Methodenanwendung erfragt und eine nachhaltige Anwendung unterstützt werden. Um in solchen Erfahrungsaustauschen ein möglichst tiefgreifendes Feedback zu generieren, sollte neben einem formellen auch ein informeller Teil eingebaut werden. In solchen informellen Teilen werden dann häufig Dinge besprochen, die so nicht in formalen Treffen thematisiert worden wären. Wichtig sind bei solchen Erfahrungsaustauschen daher der Aufbau eines persönlichen Verhältnisses und die Bildung einer Vertrauensbasis zwischen Mitarbeitern des IDL und denen der anwendenden Bereiche. Unterstützt werden kann eine solche Kommunikation durch die Installation von Key Account Managern auf beiden Seiten, die für eine bessere Vernetzung sorgen.471 Nachdem im Rahmen des Rollouts die Methode in einigen Projekten erfolgreich implementiert und ein ausreichender Standardisierungsgrad hinsichtlich der Arbeitsabläufe erreicht werden konnte, bietet es sich an, die wesentlichen Aspekte in einer Verfahrensanweisung schriftlich zu fixieren. Hierzu gehören sowohl textuelle Beschreibungen als auch Prozessdarstellungen, welche die organisatorischen Abläufe mit den entsprechenden Verantwortlichkeiten veranschaulichen.472

6.2.2.6

Interne Kommunikation zur Unterstützung der Diffusion

Unterstützt werden kann der Rollout auf Sachbearbeiter- und Managementebene durch gezielte Präsentationen in den relevanten Gremien. Bei solchen Vorträgen sollte auf die Kernaspekte eingegangen werden, indem stringent die Problemstellung erläutert, der Lösungsansatz vorgestellt sowie der aktuelle Status der Implementierungsprojekte und die weitere Roadmap aufgezeigt werden. Hierbei sollte insbesondere der Lösungsansatz möglichst gut visualisiert werden, damit die Zuhörer die Logik der Methode schnell verstehen und nicht von etwaiger Komplexität überfordert werden. Dies ist insofern kritisch, da das Management mit einer Vielzahl von Themen konfrontiert wird und sich nicht bei jedem Aspekt in die Tiefe einarbeiten kann. Es 471

472

Siehe hierzu die Fallstudie 2 in Kapitel 3.4 in der zahlreiche Kommunikationskanäle aufgezeigt und bewertet werden. Siehe hierzu die Verabschiedung der Verfahrensanweisung in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2.2.4.

6.2 Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU

225

bieten sich Live-Demonstrationen oder Screenshots der Methode mit Inhalten des Piloten an. Bei der Kommunikation in solchen Gremien kann es durchaus sinnvoll sein, im Rahmen eines Deltareports mehr als einmal zu berichten. Somit kann der Nutzen der Methode wiederholt herausgestellt werden. Es darf nicht vergessen werden, dass die Sichtbarkeit einer Methode im Rahmen der internen Kommunikation in vielen Fällen ein essenzieller Baustein des Erfolges ist. Die Unterstützung des Rollout durch regelmäßige Managementpräsentationen, wie beispielsweise bei der Geschäftsleitung, kann den Bekanntheitsgrad der Methode außerhalb der Nutzergruppe sukzessive steigern und auch in anderen Bereichen Interesse wecken. 473

6.2.2.7

Besonderheiten bei standortübergreifendem Rollout

Die zuvor beschriebene Vorgehensweise für den Rollout einer neuen Methode kann sowohl standortgebunden als auch standortübergreifend angewendet werden. Allerdings wird sich der Transfer bei standortübergreifenden Aktivitäten als deutlich schwieriger herausstellen. Daher ist es notwendig, im Folgenden einige Aspekte herauszuarbeiten, die sich diesbezüglich in den Untersuchungen als besonders kritisch herausgestellt haben. Zunächst kann erwähnt werden, dass bei einem standortübergreifenden Rollout die zu bedienenden Anwender aufgrund von Kommunikationsbarrieren im Vorfeld gewöhnlich deutlich weniger über die neue Methode wissen und somit eine geringere absorptive Kapazität474 haben. Zum einen werden sie durch die räumliche Distanz üblicherweise weniger an relevanten Gremien und sonstigen formellen Informationsveranstaltungen partizipieren und zum anderen einen deutlich geringeren informellen Kontakt zu den bisherigen Anwendern haben. Dies hat zur Folge, dass die positive Resonanz der bisherigen Anwender nicht in dem Maße zu anderen Standorten dringt wie es wünschenswert wäre. Insofern wird für die neuen Anwender das Empfinden hinsichtlich des Nutzens der Methode deutlich geringer sein und auch das Not-Invented-Here-Syndrom eine größere Rolle spielen. Es ist daher außerordentlich wichtig, die an einem anderen Standort operierenden Anwendern von dem Nutzen der Methode zu überzeugen.475

473

474

475

Siehe hierzu die erste Vorstandspräsentation in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2.1.4. sowie der Deltareport im Rahmen der zweiten Vorstandspräsentation in Kapitel 3.2.2.4. Siehe zum Begriff der Absorptiven Kapazität Cohen/Levinthal (1990) sowie die Ausführungen in Kapitel 2.3.2. Siehe zum Not-Invented-Here-Syndrom Katz/Allen (1982, S.7) und Kapitel 2.3.2.

226

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

Neben dieser motivationalen Barriere ist bei einem standortübergreifenden Transfer zu beachten, dass sich die Prozesse an dem neuen Standort von denen des Pilotstandorts in einem nicht zu unterschätzenden Maße unterscheiden können. Dies kann auch dann möglich sein, wenn es sich um denselben Geschäftsbereich und dieselbe Wertschöpfungsstufe handelt, formal gesehen dieselben Verfahrensanweisungen gültig sind und entsprechend identische Prozesse zu erwarten wären. Diese Differenzen sind beispielsweise auf unterschiedliche Interpretationen von Verfahrensanweisungen in Verbindung mit anderen Prioritätensetzungen aufgrund von Kultur- und Mentalitätsunterschieden an den verschiedenen Standorten zurückzuführen. Insofern ist es gerade bei einer Standortverteilung besonders wichtig, Transparenz über die tatsächlich vorhandenen Arbeitsabläufe zu schaffen, wozu beispielsweise die Identifikation der relevanten Ansprechpartner und die Analyse der internen Kommunikation bei der neuen Nutzergruppe zählen.476 Aufgrund etwaiger Sprachunterschiede, abweichender Darstellungsarten und Begriffsverwendungen an dem neuen Standort spielen Face-to-Face-Schulungen eine noch wichtigere Rolle als bei dem Rollout an dem Pilotstandort. Dies ist dadurch bedingt, dass im Gegensatz zu dem Pilotstandort das Wissen über die neue Methode nicht so stark auf informellen Kanälen von den bisherigen Nutzern der Methode weitergegeben wird. Obwohl Face-to-Face-Kontakte gerade bei großen Entfernungen sehr kosten- und zeitintensiv sind, sollte diese Kommunikationsform gezielt eingesetzt werden. Hier bietet es sich insbesondere zu Projektstart an, gemeinsame Kick-Off Meeting zwischen Mitarbeitern des IDL und den Nutzern an dem neuen Standort zu organisieren. Dies hilft den Mitarbeitern des IDL, die Randbedingungen des neuen Standorts kennen zu lernen und die Kommunikationsstrukturen zu analysieren. Im Gegenzug empfiehlt es sich in einer frühen Phase, dass die Vertreter des neuen Standorts die tatsächliche Methodenanwendung an dem Pilotstandort beobachten und, wenn möglich, die Methode dort selbst ausführen (Learning by Doing). An den Pilotstandorten werden das Know-how und die Erfahrung mit der Methode am größten sein. Die neuen Nutzer sollten sowohl mit Mitarbeitern des IDL als auch mit den Pilotanwendern Face-to-Face zusammenkommen. Diese beiden Parteien können so einerseits ihre Erfahrungen hervorragend weitergeben zum anderen den Nutzen der Methode vermitteln. Die Schulung der neuen Anwender sollte im Nachgang dann 476

Vergleiche hierzu die Ausführungen zu den Handlungstheorien von Argyris/Schön (1996) in Kapitel 2.2.1.2.

6.2 Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU

227

direkt vor-Ort an dem neuen Standort seitens des IDL durchgeführt werden, damit die Methode in die lokalen Routinen des neuen Standorts eingebettet werden kann.477 In späteren Phasen sollten zu definierten Zeitpunkten weitere Face-to-Face-Kontakte folgen, um die Bildung eines gemeinsamen Bezugsrahmens zu fördern und Missverständnissen vorzubeugen. Dies ist notwendig, da das Verhalten des Gegenübers bei anderen Kommunikationskanälen sonst schnell falsch interpretiert werden und zu Missverständnissen führen kann. Unterstützt werden kann die Bildung eines gemeinsamen Bezugsrahmens und eines Vertrauensverhältnisses durch positive zwischenmenschliche Einzelereignisse und Social Events, wie gemeinsame Mittagessen oder Abendveranstaltungen. Die erforderliche Frequenz der Face-to-Face-Kontakte hängt von mehreren Faktoren ab. Zum einen sollte die Frequenz umso höher sein, je mehr neue Nutzer nicht aus dem bisherigen Netzwerk der IDL-Mitarbeiter und der bisherigen Anwender stammen. Weiterhin sollte die Anzahl der Face-to-Face-Kontakte zunehmen, je größer die Sprachbarrieren sind und je stärker die Wertvorstellungen der involvierten Personen voneinander abweichen. Sobald ein gemeinsames Verständnis zwischen den involvierten Personen existiert, können Detailabstimmungen in der Zwischenzeit dann je nach Inhalt auch im Rahmen von Videokonferenzen, per Telefon oder via EMail durchgeführt werden.478 Im Hinblick auf die oben genannten Sprachbarrieren in Verbindung mit spezifischen Begriffsverwendungen muss bei standortübergreifenden Transfers bedacht werden, dass bei dem Austausch von explizitem Wissen im Rahmen von Dokumenten wie Verfahrensanweisungen aufgrund von unterschiedlichen Interpretationen leicht Missverständnisse auftreten können. Dies kann beispielsweise dann vorkommen, wenn professionelle Übersetzungseinheiten beauftragt werden, die, obwohl sie über sehr gute Fremdsprachenkenntnisse verfügen, nicht in der Lage sind, Übersetzungen so durchzuführen, dass sie von den neuen Anwendern so verstanden werden, wie sie im Originaldokument ursprünglich gemeint sind. Dies ist darin begründet, dass sie die technischen Hintergründe nicht ausreichend verstehen und darüber hinaus nicht den Sprachgebrauch des zukünftigen

477 478

Siehe hierzu die Einführung der IQT in den USA in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2.2.3. Siehe hierzu Fallstudie 3 in Kapitel 3.5. Hier war die Entwicklung eines gemeinsamen Bezugsrahmens durch einen mehrtägigen Face-to-Face-Workshop mit entsprechenden SocialEvents ein kritischer Erfolgsfaktor.

228

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

Anwendungskontextes kennen. So können verschiedene Begriffe und Fachtermini falsch interpretiert werden und zu erheblichen Transferproblemen führen. Diese Problematik sollte den neuen Anwendern bewusst gemacht werden, wobei bei auftretenden Unklarheiten ein direkter Kontakt zu den Mitarbeitern des IDL herzustellen ist. Diese haben so die Möglichkeit korrigierend einzugreifen.479 Eine weitere Herausforderung bei einem standortübergreifenden Transfer tritt dann auf, wenn durch große räumliche Distanzen Zeitverschiebungen in dem Maße existieren, dass offene Punkte erst nach einigen Stunden oder Tagen besprochen werden können. Dies führt zu Synchronitätsproblemen480 zwischen den neuen Anwendern und den Mitarbeitern des IDL sowie den Pilotanwendern. Es sollten von vorneherein feste Zeitfenster definiert werden, in denen beispielsweise Video- oder Telefonkonferenzen durchgeführt werden, damit eine Verfügbarkeit der benötigten Personen sichergestellt ist.

6.2.2.8

Betreibermodelle zur Unterstützung der nachhaltigen Anwendung der Methode

Bei der Einführung von neuen Methoden fallen in der Regel in den anwendenden Bereichen zusätzliche operative Tätigkeiten, wie beispielsweise das Durchführen von Tests oder die Dokumentation von bestimmten Sachverhalten an. Diese Tätigkeiten können zur Absicherung der Methode und zur Erfahrungssammlung in der Pilotphase sowie in den ersten Schritten des Rollouts von dem IDL gemeinsam mit den im Anwendungskontext agierenden Nutzergruppen durchgeführt werden. Da sich die Mitarbeiter des IDL jedoch sukzessive wieder auf konzeptionelle Tätigkeiten fokussieren sollten, ist zu klären, wie die Anwendung der Methode dauerhaft gesichert werden kann und wer welche Tätigkeiten ausüben wird. Aktivitäten, die bei der Anwendung der Methode eine hohe strategische Relevanz für das Unternehmen haben, sollten, wie bei dem Zwiebelschalenmodell aufgezeigt, von internen Mitarbeitern der Nutzergruppe ausgeübt werden. Für Tätigkeiten, die hingegen einen operativen Charakter haben und nicht im strategischen Kern liegen, bietet es sich an, spezialisierte EDL einzusetzen. Insbesondere bei wettbewerbsdifferenzierenden Methoden sollten soweit wie möglich interne EDL gewählt werden. EDL bieten den Vorteil, dass sie flexibel je nach benötigter Kapazität beauftragt werden können und folglich keine zusätzlichen internen Kapazitäten aufgebaut 479

480

Siehe hierzu die Ausführungen zur Einschaltung eines professionellen Übersetzungsbüros in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2.2.3. Vgl. hierzu die Media-Synchronicity-Theorie nach Dennis/Valacich (1999) in Kapitel 3.3.2.2.

6.2 Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU

229

werden müssen. Dies ist gerade dann interessant, wenn die neue Methode nur zu bestimmten Zeitpunkten, wie beispielsweise der Markteinführung eines neuen Produkts, angewendet werden soll.481 Bei der Auswahl des EDL und den zugehörigen Mitarbeitern sind im Hinblick auf den Wissenstransfer insbesondere diejenigen zu bevorzugen, die bereits in ähnlichen Kontexten für das Unternehmen tätig waren. Vorteilhaft ist es weiterhin, wenn diese mit den Wertvorstellungen und Kulturen des Anwendungskontextes vertraut sind. Die Übergabe der Tätigkeiten sollte dann schrittweise erfolgen, wobei es sich anbietet, zunächst ein Projekt auszuwählen, an dem der EDL die Beherrschung der Tätigkeiten nachweisen kann. Kritisch ist es, gerade bei diesem Projekt, einen reibungslosen Wissenstransfer zu organisieren, sodass der EDL in die Lage versetzt wird, die anfallenden operativen Tätigkeiten durchzuführen. Idealerweise transferieren die Mitarbeiter des IDL und/oder die bisherigen Nutzer das notwendige Wissen in Face-to-Face-Schulungen an die Mitarbeiter des EDL, wobei sich ein Einlernen vor-Ort bei dem IDL oder den bisherigen Nutzern im Rahmen eines Learning by Doing eignet. Dies hat den Vorteil, dass jederzeit ein interner Mitarbeiter angesprochen werden kann und auch ein informeller Wissensaustausch stattfindet. Vorzugehen ist aus didaktischen Gründen so, dass zunächst die einfachen Tätigkeiten und dann nach und nach komplexere Tätigkeiten übergeben werden, sodass die neuen Mitarbeiter nicht durch die Komplexität überfordert werden.482 Auch wenn die operativen Tätigkeiten an einen EDL übergeben werden, ist es essenziell wichtig, dass das Unternehmen in der Lage bleibt, diese auch durch die bestehenden internen Mitarbeiter durchführen zu können. Dies kann beispielsweise dadurch sichergestellt werden, dass die Tätigkeiten hin und wieder durch interne Mitarbeiter ausgeführt werden. Weiterhin ist zu beachten, dass das Unternehmen bei der Übergabe von operativen Tätigkeiten immer in einem gewissen Spannungsverhältnis zwischen Aufbau von Erfahrungswissen bei einem EDL und einer sich daraus ergebenden Abhängigkeit steht. Eine solche Abhängigkeit ist gerade dann zu erwarten, wenn Tätigkeiten in mehreren Projekten nur durch einen einzigen EDL erbracht werden und keine Zweilieferantenstrategie gewählt wird. Der IDL hat insofern ein Interesse an der Beauftragung eines EDL, da er so selbst wieder konzeptionelle Arbeiten durchführen kann und darüber hinaus sichergestellt 481 482

Siehe hierzu das Zwiebelschalenmodell in Kapitel 4.3.5.2. Siehe hierzu die Analyse der Schnittstelle zwischen OEM und EDL in Kapitel 4.3.

230

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

wird, dass die durch ihn implementierten Methoden auch in Zukunft Anwendung finden. Dies wird insofern durch die Einbindung eines EDL unterstützt, da dieser aufgrund seines Geschäftsmodells versuchen wird, möglichst viel Projektvolumen und somit Beauftragungen zu generieren. Allerdings kann dies auch dazu führen, dass der EDL je nach Situation versuchen wird, konzeptionelle Aufgaben an sich zu reißen. Dies würde ihm den Vorteil bringen, dass er in strategisch relevante Arbeitsgebiete vorstoßen kann, somit für das Unternehmen wertvoller wird und nicht so leicht zu ersetzen ist. Daher ist es unabdingbar bei der Übertragung von operativen Tätigkeiten an einen EDL, eine klare Definition der AKV vorzunehmen und die Einhaltung dieser Vorgaben zu bestimmten Zeitpunkten zu überprüfen. Die Weiterentwicklung der Methode sollte nicht zuletzt vor diesem Hintergrund durch die Experten des IDL in Zusammenarbeit mit den Anwendern erfolgen. Dies ist insofern anzuraten, da es sich um strategisch relevante Tätigkeiten handelt, der IDL bereits Erfahrungen bei der Einführung gesammelt hat und überdies zusätzlich Erfahrungen aus anderen Anwendungskontexten und Geschäftsbereichen einfließen lassen kann. Der IDL hat in einer solchen Konstellation die Aufgabe, die Anforderungen der Anwender zu sammeln und entsprechend zu berücksichtigen. Dies bringt eine Entlastung der Anwender, da diese so weiter ihren eigentlichen Tätigkeiten nachgehen können. Sie werden ohnehin nur wenig Motivation haben, die Methode weiterzuentwickeln, da dies nicht ihr Kerngeschäft ist und sie nicht daran gemessen werden. Die Mitarbeiter des IDL können so ebenfalls ihrem Kerngeschäft, der Implementierung und Weiterentwicklung von neuen Methoden, nachgehen.483

6.2.3

Migration – Adaption an einen neuen Anwendungskontext

Der in dem vorangegangenen Abschnitt besprochene Rollout bezieht sich auf die Implementierung einer neuen Methode bei verschiedenen Produkten in einem Geschäftsbereich und einer Wertschöpfungsstufe. Eine Methode, die zunächst für eine konkrete Problemstellung eines Geschäftsbereichs auf einer bestimmten Wertschöpfungsstufe konzipiert wurde, kann durchaus auch in anderen Wertschöpfungsstufen oder in anderen Geschäftsbereichen einen hohen Nutzen bieten (siehe Pilot 1 / Rollout 1 in Abbildung 58). Beispielsweise kann ein vertikaler Transfer zu einer Nutzergruppe desselben Geschäftsbereichs auf einer anderen Wertschöpfungsstufe (Entwicklung vs. Produktion vs. Service) dazu dienen, die Durchgängigkeit der Methode über den Lebenszyklus sicherzustellen. Ziel sollte es

483

Siehe hierzu die Einbindung von EDL im Rahmen des Betreibermodells in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2.2.2.

6.2 Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU

231

sein, Insellösungen auf verschiedenen Wertschöpfungsstufen so weit wie möglich zu vermeiden.484

Geschäftsbereiche

Produkte

Pilot 3

Pilot 2

Pilot 1 Wertschöpfungsstufe

Abbildung 58: Evolutionärer Prozess bei der Implementierung einer neuen Methode

Da es sich sowohl bei horizontalen Transfers zu einer anderen Wertschöpfungsstufe (Pilot 2) als auch bei vertikalen Transfers zu einem anderen Geschäftsbereich (Pilot 3) um einen anderen Anwendungskontext handelt, muss die Methode in diesen migriert werden.485

6.2.3.1

Motivation für die Migration einer Methode durch den IDL

Eine Migration zu einer anderen Wertschöpfungsstufe und/oder einem anderen Geschäftsbereich ist notwendig, da sich die Anforderungen und die Prozesse entsprechend des neuen Anwendungskontextes von denen des Piloten und des Rollouts unterscheiden werden. Darüber hinaus sind die neuen Nutzer üblicherweise

484

485

Vergleiche hierzu die Fallstudie 1 in Kapitel 3.2.2.1. Hier ist eine Migration von der Wertschöpfungsstufe Produktion der Marke 1-1 des Geschäftsbereichs 1 zur Wertschöpfungsstufe Entwicklung der Marke 2-1 des Geschäftsbereichs 2 beschrieben. Dies zeigt, dass auch eine Migration zu einer anderen Wertschöpfungsstufe und einem anderen Geschäftsbereich simultan erfolgen kann. Weitere Migrationsbeispiele finden sich zu dieser Fallstudie in Kapitel 3.2.2.5. Siehe hierzu die Fallstudie 1 in Kapitel 3.2.2.1 und 3.2.2.5. Hier wird beschrieben, wie die Forschung von OEM A als IDL auftritt und die Migration der IQT in neue Anwendungskontexte aktiv treibt.

232

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

sowohl räumlich als auch organisatorisch von den Nutzern des Piloten und des Rollout getrennt. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass sowohl der formelle als auch der informelle Wissenstransfer in den neuen Anwendungskontext nicht ohne entsprechende Maßnahmen gewährleistet sein wird. Je stärker sich die Bezugsrahmen der beiden Nutzergruppen unterscheiden, desto stärker muss die Migration unterstützt werden. Durch die Analyse der Motivationsstrukturen der involvierten Parteien wird deutlich, dass die bisherigen Anwender kein gesteigertes Interesse an einem Transfer der neuen Methode zu einer anderen Wertschöpfungsstufe und/oder Geschäftsbereich haben werden. Das ist darin begründet, dass sie an den originären Zielen in ihrem Bereich gemessen werden und vielmehr motiviert sind, durch eine konsequente Methodenanwendung ihren Zielerreichungsgrad zu steigern. Ein aktiver Transfer zu anderen Nutzergruppen bringt hingegen keinen Beitrag zu ihrem Zielerreichungsgrad und ist daher in der Regel nicht zu erwarten. Anders sieht die Situation bei dem IDL aus. Dieser wird bestrebt sein, die bereits erfolgreich eingesetzte Methode auch in anderen Anwendungskontexten zu etablieren. Dies ist deshalb der Fall, da der IDL gerade an den erfolgreich durchgeführten Implementierungsprojekten gemessen wird und ein erfolgreicher Transfer zur Erreichung seiner originären Ziele beiträgt.

6.2.3.2

Vorbereitung der Migration

Vorbereitet werden kann eine horizontale und/oder vertikale Migration durch eine Erhöhung des Bekanntheitsgrades der neuen Methode im Rahmen von Präsentationen auf den für die neue Nutzergruppe relevanten sowie anderen übergreifenden Gremien (z. B. Vorstandsmeeting). Weiterhin kann die Bekanntheit der Methode informell sowohl über das Netzwerk der bisherigen Anwender als auch das des IDL gesteigert werden.486 Allerdings ist, wie bereits beim Rollout geschildert, darauf zu achten, dass vor dem offiziellen Transfer der Methode durch den IDL keine unangeleitete Verwendung der Methode durch die neuen Transferpartner stattfindet. Um ein Zustandekommen des Transferprojekts sicherzustellen sollte das Management des IDL dann in einem ersten Schritt gezielt bei dem Management der potenziellen Nutzergruppen die organisatorischen Rahmenbedingungen schaffen. In einem zweiten Schritt kann dann eine detailliertere Vorstellung der Methode durch den Projektleiter des IDL bei den eigentlichen Anwendern der potenziellen 486

Siehe hierzu die zweite Vorstandspräsentation in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2.2.4 in der die Potenziale für andere Geschäftsbereiche explizit aufgeführt wurden um den Bekanntheitsgrad der IQT zu steigern.

6.2 Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU

233

Nutzergruppen auf operativer Ebene erfolgen. Sobald eine Vereinbarung zur Durchführung eines Pilotprojekts getroffen werden konnte, sollte dann die Klärung der AKV stattfinden. Dies wird ausdrücklich angeführt, da sich gerade bei der Migration die Rollen und Arbeitsweisen der einzelnen Personen des neuen Transferpartners erheblich von denen des vorherigen Transferpartners unterscheiden können. Ebenso können aufgrund von anderen Hintergründen (Studienrichtung, bisherige Berufserfahrung etc.) durchaus andere Erwartungshaltungen und Bezugsrahmen existieren. Dies spiegelt sich beispielsweise bei der Artikulation und Priorisierung von Anforderungen sowie dem Grad der Verbindlichkeit von Aussagen wieder. Gerade in der Anfangsphase und bei wenig gemeinsamer Erfahrung sollte über Kanäle mit hoher Media-Richness und hoher Synchronität (Face-to-Face, Videokonferenz) kommuniziert werden, um Missverständnisse im Vorfeld zu vermeiden.487 Mit im Vordergrund sollte zunächst der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen IDL und der neuen Nutzergruppe stehen. Es ist wiederum zu beachten, dass hochgradig explizites Wissen, welches beispielsweise in landes- und geschäftsbereichsspezifischen Standards oder Normen festgeschrieben ist, von den involvierten Parteien durchaus unterschiedlich interpretiert werden kann.

6.2.3.3

Pilotierung und Rollout im Rahmen der Migration

Bei der Migration darf die Tatsache, dass ähnliche, in dem neuen Anwendungskontext bereits existierende oder in der Entwicklung befindlichen Methoden eine erhebliche Transferbarriere sein können, nicht unterschätzt werden. Dies ist gerade vor dem Hintergrund relevant, dass die potenziellen Transferpartner bestrebt sein werden, ihre eigenen Methoden zu rechtfertigen. Die Herausforderung besteht darin aufzuzeigen, warum die neue Methode entweder besser als die zu substituierende Methode ist oder wie sich die Zielsetzung der neuen Methode von den bisherigen Methoden unterscheidet und somit komplementär eingesetzt werden sollte. Gerade bei vertikalen Transfers zu getrennt gewachsenen oder zugekauften Geschäftsbereichen kann sich dies vor dem Hintergrund unterschiedlicher technologischer Trajektorien488 in Verbindung mit andere Wertvorstellungen und Prioritätensetzungen als besonders schwierig erweisen. Um die oben aufgezeigte 487

488

Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 3.3 zum Thema Gruppenentwicklung und Mediennutzung. Siehe zum Begriff der technologischen Trajektorie Dosi (1982).

234

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

Problematik abzumildern, bietet es sich an, bei der Migration zunächst wieder ein Pilotprojekt für den neuen Anwendungskontext durchzuführen. Ein solches Pilotprojekt dient dazu, die neue Methode so einzubetten, dass die differierenden Randbedingungen hinreichend berücksichtigt werden. Weiterhin kann mit dem Pilotprojekt so der Nutzen der Methode für den neuen Anwendungskontext bewiesen werden, ohne zuvor eine Entscheidung für eine flächendeckende Einführung treffen zu müssen. Darüber hinaus bietet ein Pilot für die Mitarbeiter des IDL die Möglichkeit Erfahrungen in dem neuen Kontext zu sammeln und Akzeptanz zu schaffen. Ziel des Piloten im Rahmen der Migration ist es somit, die bestehende und erprobte Methode in einen neuen, nutzergruppenspezifischen Anwendungskontext mit differierenden organisatorischen Randbedingungen zu transferieren. Durch den erfolgreichen Pilot 1 und den angefangenen oder abgeschlossenen Rollout 1 der neuen Methode hat der IDL bei der Migration den Vorteil, dass bereits ein anschaulicher Nachweis über den Nutzen der neuen Methode im Unternehmen existiert.489 Anwendungskontext 1

Kern der Methode

Anwendungskontext 2

Notwendige Anpassungen

Kern der Methode

Abbildung 59: Anpassung einer Methode an einen neuen Anwendungskontext

Bei der Migration sollte, wie in Abbildung 59 visualisiert, der Kern der Methode nicht verändert werden. Allerdings kann es erforderlich werden, einige Anpassungen vorzunehmen, sodass eine Methodenanwendung auch in dem neuen Anwendungskontext und den hiermit verbundenen organisatorischen Abläufen sichergestellt werden kann. Da der Kern der Methode konstant bleiben soll, kann bei der Migration nicht so spezifisch auf die Anforderungen des neuen Anwendungskontextes eingegangen werden wie es bei einer speziellen Neuentwicklung wie bei

489

Der Einsatz von Pilotprojekten bei der Migration ist beschrieben in Fallstudie 1 in Kapitel 3.2.2.1 und 3.2.2.5.

6.2 Dreistufiger Transferansatz zur Etablierung von neuen Methoden innerhalb von MNU

235

dem Pilot 1 der Fall wäre. Der Vorteil ist hingegen eine robustere Lösung, die bereits in einem anderen Anwendungskontext erprobt wurde.490 Nach einer erfolgreichen Pilotierung der Methode in dem neuen Anwendungskontext kann durch eine flächendeckende Einführung im Rahmen eines Rollouts der Nutzen der Migration maximiert werden. Die abgestellten Mitarbeiter des IDL waren idealerweise bereits bei anderen Nutzergruppen tätig und können somit entsprechende Erfahrungen im Hinblick auf die Methode einbringen. Zur weiteren Erfahrungssicherung bieten sich bei der Migration ebenso wie beim Rollout gemeinsame Lessons Learned Workshops zwischen Mitarbeitern des IDL und den neuen Nutzern an.

6.2.3.4

Weiterentwicklung der Methode durch den IDL

Für die Weiterentwicklung der Methode bietet sich eine konsequente Sammlung der Anforderungen der bisherigen und potenziellen Nutzergruppen durch den IDL an. Sollten sich im Rahmen der Migration Weiterentwicklungen der Methode als sinnvoll herausstellen, so sollten diese jeweils so erfolgen, dass sich die Nutzung für die bisherigen Anwender, bei denen die Methode bereits etabliert ist, nicht oder nur möglichst wenig ändert.491 Kann dies nicht gewährleistet werden, so kann es durchaus vorkommen, dass die Motivation für die Nutzung der Methode bei den bisherigen Anwendern sinkt. Dies liegt daran, dass die Anwender den mit der Methode verbundenen Arbeitsablauf bereits internalisiert haben und kein gesteigertes Interesse haben werden, die aktuellen Routinen aufzugeben. Sollte es dennoch für die Anwender zu erlebbaren Weiterentwicklungen kommen, so muss durch eine konsequente Kommunikation transparent gemacht werden, wann welche Features für welche Nutzergruppe zur Verfügung stehen. Ebenso muss klar herausgestellt werden, welche Features für welche Nutzergruppe nicht zur Verfügung stehen. Dies ist unbedingt erforderlich, damit keine Erwartungen geweckt werden, die später nicht erfüllt werden können.492 Abschließend kann festgehalten werden, dass die IDL-Mitarbeiter sich durch Migrationsprojekte in dem jeweiligen Themengebiet weiter festigen können und zunehmend Experten anerkannt werden. 490

491

492

Das Dilemma zwischen der Übernahme der Kerns der Methode (Exploitation) und einer Adaption oder Weiterentwicklung (Exploration) bezeichnen Winter/Szulanski (2001, S. 737) als „Replication Dilemma“. In Fallstudie 1 in Kapitel 3.2.2.1 wird darauf hingewiesen, dass die Anwendung der Methode durch die Migration gerade für die bestehenden Anwender nicht verändert werden sollte. In Fallstudie 1 in Kapitel 3.2.2.1 wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass eine solche Transparenz als Erfolgsfaktor angesehen wird.

236

6. Wissens- und Methodentransfer von IDL zu den Nutzern

Dies kann der Ausgangspunkt für die Erarbeitung weiterer Problemlösungen sein, die auf den bisherigen Erfahrungen aufbauen. Um die notwendigen Ressourcen freizusetzen, ist es jedoch erforderlich, dass sich der IDL nach erfolgreichen Implementierungsprojekten aus rein operativen Tätigkeiten zurückzieht und diese anderweitig geleistet werden. Hierfür sind, wie bereits oben beschrieben, geeignete Betreibermodelle zu etablieren.

7 Schlussbetrachtung In dieser Arbeit wurde diskutiert, wie der Wissenstransfer bei hoher Produkt- und Prozesskomplexität bestmöglich gestaltet werden kann. Den Anstoß zur Untersuchung dieser Problematik gab eine konkrete Problemstellung aus der Praxis. Es Stand eingangs die Frage im Raum, warum manche Transferprojekte von zentralen Forschungsabteilungen zu den einzelnen Geschäftsbereichen, bei vergleichbaren Randbedingungen und ähnlichen Themenstellungen, erfolgreicher sind als andere. Es reifte schnell die Erkenntnis, dass es lohnenswert ist, sich dieser Thematik anhand konkreter Fallstudien zu nähern und auf die in der Praxis etablierten Vorgehensweisen bei Transferprojekten vor dem Hintergrund der auftretenden Schnittstellenproblematik abzuzielen. Ausgehend von den durchgeführten explorativen Fallstudien, welche das Untersuchungsfeld abstecken, wurde in Kapitel 2 ein Überblick über den Wissenstransfer bei hoher Produkt- und Prozesskomplexität im Innovationsprozess gegeben. Die in Kapitel 2.1 vorgestellten allgemeinen und automobilspezifischen Prozessmodelle zeigen beispielhaft, dass der Innovationsprozess mehr und mehr Downstream ausgerichtet ist und bei der Produktentwicklung in frühen Phasen Anforderungen aus unterschiedlichsten Stufen der Wertschöpfungskette Berücksichtigung finden müssen. Hierzu zählt nicht nur die frühe Interaktion mit Kunden, sondern auch das Zusammenspiel zwischen unterschiedlichen Organisationseinheiten innerhalb des Unternehmens sowie über Unternehmensgrenzen hinweg. Um die relevanten Aspekte des Wissenstransfers an diesen vielfältigen Schnittstellen zu verstehen wurden in Kapitel 2.2 theoretische Grundlagen zum Wissenstransfer betrachtet. Hier wurde herausgearbeitet, dass Routinen ein wichtiger Bestandteil des organisatorischen Gedächtnisses sind und die Organisationsmitglieder versuchen auf einem Pfad relativ inflexibler Routinen zu beharren. Weiterhin wurde der Unterschied zwischen formal verankerten und den tatsächlich verwendeten organisationale Handlungstheorien herausgearbeitet und mit Single-Loop, DoubleLoop und Deutero-Lernen insgesamt drei unterschiedliche Lernniveaus ins Licht der Betrachtung gerückt. Ergänzend hierzu wurden theoretische Erkenntnisse zu Informationsbedürfnissen und Informationsnutzung aufgenommen. Hier zeigte sich, dass neuere Studien den Nutzer stärker in den Vordergrund stellen, da interpretative und subjektive Aspekte eine maßgebliche Rolle spielen. Weiterhin wurden Modelle des Wissenstransfers zusammengestellt, wobei hier zusammenfassend festgehalten

238

7. Schlussbetrachtung

werden kann, dass diese auf der Unterscheidung zwischen explizitem und impliziten Wissen aufbauen und mit dem Individuum, der Gruppe und der Organisation insgesamt drei miteinander verzahnte Betrachtungsebenen beleuchten. Die zuvor genannten interpretativen Aspekte des Wissenstransfers spielen in den bestehenden Modellen allerdings nur eine untergeordnete Rolle. In Kapitel 2.3 wurden Formen und typische Barrieren des Wissenstransfers bei hoher Produkt- und Prozesskomplexität zusammengestellt. Hier offenbarte sich, dass zahlreiche Tansfermechanismen existieren, diese jedoch in der Praxis häufig weder systematisch noch der Transfersituation angemessen eingesetzt werden. Die Betrachtung von typischen Barrieren beim Wissenstransfer zeigte, dass insbesondere kausale Ambiguität, mangelnde absorptive Kapazität des Empfängers sowie ein schwieriges Sender-Empfänger-Verhältnis den Wissenstransfer negativ beeinflussen. Da diese Faktoren typischerweise bei hoher Komplexität auftreten, wurden Merkmale und der Einfluss hoher Komplexität ergänzend angeführt. Nach diesen grundlegenden Ausführungen wurde in Kapitel 3 der Wissenstransfer bei der Einführung von neuen Methoden innerhalb von MNU betrachtet, bei welchem der Pfad inflexibler Routinen durchbrochen werden muss. Hierzu wurde in Kapitel 3.1 auf den Diffusionsprozess und diffusionsrelevante Charakteristika eingegangen. Weiterhin wurden typische Rollen im Innovationsprozess betrachtet, wobei hier insbesondere auf technologische Gatekeeper, Promotoren und Technologieintegrationsteams abgezielt wurde. Die Brücke zur Empirie wurde in Kapitel 3.2 mit Fallstudie 1 geschlagen. Diese Fallstudie zeigt anhand eines überaus erfolgreichen Projekts sehr detailliert auf, wie der Diffusionsprozess einer neuen Methode von der Konzeption, über die erste Anwendung bis hin zu einer flächendeckenden Einführung gestaltet wurde. In dieser Fallstudie wurde herausgearbeitet, dass gruppendynamische Faktoren und die Mediennutzung einen erheblichen Einfluss auf den Wissenstransfer haben. Diesbezügliche Erklärungsansätze wurden in Kapitel 3.3 aufgezeigt, wobei in Bezug auf die Mediennutzung neben der sehr bekannten Media-Richness-Theorie auf die im deutschen Sprachraum bisher unterrepräsentierte Media-Synchronicity-Theorie eingegangen wurde. Ergänzende empirische Untersuchungen in Bezug auf den Transfer von neuen Methoden innerhalb von MNU wurden in zwei weiteren Fallstudien gemacht. Da in Fallstudie 1 der Wissenstransfer zu einer begrenzten Anzahl von Personen im Mittelpunkt stand, wurde in Fallstudie 2 in Kapitel 3.4 als Gegenpol der

7.1 Zusammenfassende Darstellung der Untersuchungsergebnisse

239

Wissenstransfer von einer zentralen Einheit zu einer Vielzahl global verteilter Mitarbeiter ins Licht der Betrachtung gerückt. Der in Fallstudie 1 ebenfalls nur angerissene, jedoch für die weiteren Überlegungen hochinteressante Aspekt des standortübergreifenden Wissenstransfers wurde in Fallstudie 3 in Kapitel 3.5 erneut aufgegriffen und weiter vertieft. In beiden Fallstudien wurden die zuvor genannten theoretischen Erklärungsansätze gespiegelt und weitere Erkenntnisse abgeleitet. Insbesondere wurde herausgearbeitet, dass hochgradig explizites Wissen teilweise äußerst interpretationsbedürftig und die Gewinnung eines gemeinsamen Verständnisses ein wesentliches Element beim Wissenstransfer ist. Weiterhin wurde herauskristallisiert, dass persönliche Erfahrungen sowie die Transferphase eine entscheidende Rolle spielen. Um die zuvor genannten Aspekte vertiefend zu analysieren wurden weiterführende empirische Untersuchungen zum Wissenstransfer an der Schnittstelle zu externen Partnern durchgeführt. Es wurden hier in Kapitel 4.1 zunächst Bestimmungsgründe im Hinblick auf die Standortverteilung gesucht. Hier wurden mit der räumlich konzentrierten Arbeit in Projekthäusern, dem Einsatz von Resident Engineers und einer räumlichen Trennung insgesamt drei mögliche Zusammenarbeitsformen gefunden. Darüber hinaus wurden insgesamt sieben Erfolgsfaktoren abgeleitet, die einen positiven Einfluss auf den Wissenstransfer haben. Fallstudie 4 in Kapitel 4.2 bestätigte die aus den vorherigen Untersuchungen abgeleitete Vermutung, dass explizites Wissen in manchen Situationen hochgradig interpretationsbedürfig ist. Dies wurde am Beispiel der Lieferantenauswahl in der Lastenheftphase belegt. In der zugrunde gelegten Fallstudie haben verschiedene Lieferanten das hochgradig explizite Wissen, welches in Form eines Lastenhefts vorlag, äußerst unterschiedlich interpretiert. Ergänzend zu der Zuliefererschnittstelle wurde in Kapitel 4.3 die Schnittstelle zu EDL untersucht. Die Relevanz dieser Schnittstelle zeigte sich bereits in Fallstudie 1, da EDL zu bestimmten Transferphasen oftmals für operative Aufgaben eingebunden werden. Hier wurden Fragestellungen zur Standortverteilung vertiefend behandelt und zusätzlich personengebundene Aspekte beim Wissenstransfer untersucht. Im Hinblick auf die Wissenssicherung wurde mit dem Zwiebelschalenmodell ein Instrument zur Leistungstiefengestaltung zwischen OEM und EDL entwickelt. In Kapitel 5 wurde auf die Notwendigkeit einer stärkeren Betrachtung interpretativer Wissensbestandteile hingewiesen und äquivokes Wissen als neue Dimension eingeführt. Es kann angemerkt werden kann, dass diese Thematik in der bisherigen Literatur deutlich unterrepräsentiert ist und in der Praxis vielfach massiv unterschätzt

240

7. Schlussbetrachtung

wird. Zur Identifikation von kritischen Transfersituationen wurde vor diesem Hintergrund ein Instrument entwickelt, welches sich auf die Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Wissen sowie die Unterscheidung zwischen äquivokem und kanonischem Wissen stützt. Zum Management der jeweils gemessenen Wissensart wurden entsprechende Handlungsempfehlungen offeriert. Aus der Zusammenführung der empirischen Ergebnisse und den theoretischen Erkenntnissen wurde in Kapitel 6 anschließend ein Gestaltungsansatz für den Transfer von Wissen und Methoden bei hoher Produkt- und Prozesskomplexität abgeleitet. Abgezielt wird auf IDL, die eine hohe Methodenkompetenz aufweisen. Hierdurch konnte die Brücke zu der aus der Praxis abgeleiteten Problemstellung geschlagen werden. Neben einer Betrachtung von grundlegenden Aspekten im Transferprozess wurde ein dreistufiges Modell zur Etablierung von neuen Methoden in MNU konzipiert, welches die Phasen Pilot, Rollout und Migration unterscheidet.

7.1

Zusammenfassende Darstellung der Untersuchungsergebnisse

Vor dem Hintergrund einer deutlichen Steigerung der Innovationsgeschwindigkeit und einer zunehmenden Globalisierung der F&E-Aufwendungen weg vom Stammland hin zu den weltweit jeweils besten Standorten ist zu beobachten, dass sich der Innovationsprozess von einem traditionellen Upstream Technologie-Push hin zu einem Nachfrage- und Lead-Markt orientierten Prozess wandelt. In dieser Arbeit konnte gezeigt werden, dass dieser Downstream-Gedanke auch für innerbetriebliche Innovationen wie die Einführung von neuen Methoden zutrifft, obwohl dies von vielen Managern in MNU heute noch unterbewertet wird. Es zeigt sich, dass nicht vordergründig technische Unwägbarkeiten zu einem Scheitern von Implementierungsprojekten führen, sondern die Art und Weise wie an die zu lösende Aufgabenstellung herangegangen wird. Gerade bei hoher Produktund Prozesskomplexität stellt sich regelmäßig heraus, dass insbesondere zunächst auf theoretischer Basis entwickelte Methoden oftmals sehr schwierig in der Organisation zu verankern sind. Schnelle innerbetriebliche Innovationen erfordern jedoch gerade bei hoher Produktund Prozesskomplexität eine frühe Interaktion mit den späteren Anwendern, einen engen Kontakt zu den späteren Anwendungskontexten und verstärkt interdisziplinäre und problemorientierte Vorgehensweisen. Hierzu gehört nicht nur die frühe Einbeziehung der späteren Nutzer und der an der Methodenentwicklung Beteiligten, sondern auch die Berücksichtigung der von der Methodeneinführung indirekt

7.1 Zusammenfassende Darstellung der Untersuchungsergebnisse

241

betroffenen Bereiche. Es konnte aufgezeigt werden, dass sich gerade die Erwartungshaltungen über die Art der Zusammenarbeit und die Form der Transferergebnisse je nach Anwendungskontext in wesentlichen Punkten unterscheiden können. Sowohl die empirischen als auch die theoretischen Erkenntnisse zeigen, dass der Anwendungskontext eine entscheidende Rolle beim Wissenstransfer spielt. In der täglichen Praxis wird dies jedoch regelmäßig vernachlässigt. Wie wichtig die Berücksichtigung des Anwendungskontextes ist, offenbart auch der Trend weg von systemorientierten hin zu nutzerorientierten Studien in der Literatur. In dieser nutzerorientierten Sichtweise werden Informationen im Gegensatz zu systemorientierten Sichtweise als subjektiv von den Nutzern kreiertes Konstrukt gesehen, wobei objektive Inhalte erst durch Interpretationsvorgänge eine Bedeutung für den jeweiligen Nutzer erhalten. Studien in MNU heben vielfach hervor, dass der Grad des impliziten Wissens die kritischste Variable für einen standortübergreifenden Wissenstransfer ist. Unterbewertet ist die Tatsche, dass insbesondere hochgradig explizites Wissen wie beispielsweise die schriftliche Fixierung von Prozessen im Rahmen von Verfahrensanweisungen gerade bei innovativen Vorhaben regelmäßig äußerst interpretationsbedürftig ist. Die objektiven, rationalen und deklarativen Aspekte des Wissenstransfers werden sowohl in der Literatur als auch in der Praxis überschätzt. Die Folge ist, dass die Gewinnung eines gemeinsamen Bezugsrahmens unter den Akteuren vor diesem Hintergrund oftmals nicht mit einer angemessenen Priorität verfolgt wird. Häufig unterscheiden sich die technischen Fragestellungen bei verschiedenen Nutzergruppen auch auf verschiedenen Wertschöpfungsstufen nur marginal. Jedoch kommt es durch die Verwendung von unterschiedlichen Begriffen und organisatorischen Abläufe vor dem Hintergrund unterschiedlicher Denkmuster zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Einführung von standardisierten Abläufen. Dies führt regelmäßig zu Missverständnissen, wobei kulturelle und sprachliche Barrieren in Verbindung mit wenig gemeinsamer Erfahrung diesen Effekt dramatisch verstärken. Gerade wenn neue Personen aufeinander treffen, ist eine entsprechende Balance zwischen der eigentlichen Aufgabenerfüllung im Hinblick auf die tatsächliche Problemlösung und sozioemotionalen Faktoren zu finden. Die Herausforderung besteht darin, vor dem Hintergrund verschiedener Kulturen und Persönlichkeiten mit oftmals unterschiedlichen Wertesystemen, effektive soziale Kommunikationsprozesse zu etablieren, die sich mit asymmetrischem Verstehen

242

7. Schlussbetrachtung

auseinandersetzen. Diesbezüglich wurde in dieser Arbeit zwischen kanononischem und äquivokem Wissen unterschieden und ein Fragebogen zur Messung dieser Größen offeriert. Kanonisches Wissen liegt dann vor, wenn alle Mitglieder einer Gruppe den gleichen Bezugsrahmen haben und Probleme, Arbeitsabläufe sowie Projektergebnisse in gleicher Art und Weise interpretieren. Äquivokes Wissen ist entsprechend dann gegeben, wenn Mitglieder einer Gruppe unterschiedliche Bezugsrahmen verwenden und Probleme, Arbeitsabläufe und Projektergebnisse unterschiedlich interpretieren. Diese Dichotomie ist bei dem Wissenstransfer gerade im Hinblick auf die zu verwendenden Kommunikationskanäle bedeutsam. Die Diskussion um die zu wählenden Kommunikationskanäle zeigt, dass im Hinblick auf die konkrete Transfersituation sowohl der Reichtum als auch die Synchronität von Kommunikationskanälen eine Rolle spielt. Reiche Medien mit hoher Synchronität sind entsprechend der empirischen und theoretischen Erkenntnisse gerade bei äquivoken Situationen empfehlenswert. Umgekehrt kann im Falle von kanonischen Situationen mit weniger reichen Medien und mit geringerer Synchronität operiert werden. Im Hinblick auf gruppendynamische Faktoren benötigen neu formierte Gruppen sowie Gruppen mit neuen Mitgliedern und Gruppen ohne akzeptierte Normen eine stärkere Nutzung von Medien mit hoher Synchronität. Durch den vergleichsweise hohen Anteil an sozialen Kommunikationsaktivitäten empfiehlt sich bei solchen Gruppen weiterhin die Nutzung von Medien, die Symbolsets mit höherer sozialer Präsenz enthalten. Medien mit einer hohen Synchronität sind darüber hinaus besser für konvergente Kommunikationsprozesse geeignet, Medien mit einer geringen Synchronität hingegen besser für divergente Kommunikationsprozesse. Im Hinblick auf die Nutzung von Kommunikationskanälen kann weiterhin festgehalten werden, dass diejenigen Kommunikationskanäle umso häufiger genutzt werden, je besser die Erfahrungen waren, die in der Vergangenheit mit ihnen gemacht wurden. Andererseits ist darauf zu achten, dass Kommunikationskanäle nur dann effektiv sind, wenn sie zielgruppensensitiv eingesetzt werden. Sowohl in den empirischen Ergebnissen als auch durch die Heranziehung von theoretischen Erklärungsansätzen wurde aufgezeigt, dass die interne Kommunikation ein essenzieller Bestandteil des Wissenstransfers ist und die Transferprozesse regelmäßig iterativ ablaufen. Hinzukommt, dass die räumliche Nähe zwischen den relevanten Akteuren einen deutlich positiven Einfluss auf die Kommunikationshäufigkeit und folglich auf den

7.1 Zusammenfassende Darstellung der Untersuchungsergebnisse

243

fachlichen und persönlichen Austausch hat. Es zeigt sich, dass viele Transferprobleme aus einer räumlichen Separierung und einer zu geringen Anzahl an Faceto-Face-Kontakten resultieren. Wie wichtig Face-to-Face-Kontakte sind, hat sich auch bei dem Wissenstransfer des für die Anwendung einer neuen Methode notwendigen Know-hows gezeigt. Face-toFace-Schulungen und Erfahrungsaustausche spielen bei der Implementierung von innovativen Methoden gerade in der Anfangsphase eine entscheidende Rolle. Ziel sollte es daher sein, durch Face-to-Face-Kontakte sowohl eine korrekte Methodenanwendung sicherzustellen als auch einen Feedbackkanal zum Austausch von Erfahrungswissen der Akteure aus dem Anwendungskontext aufzubauen. In späteren Phasen wird das zur Anwendung der Methode notwendige Know-how in der Regel primär unter den Nutzern dezentral weitergegeben und die Wichtigkeit von Schulungen nimmt ab. Ein interessanter Aspekt ist, dass Face-to-Face-Schulungen und sonstige Face-to-Face-Kontakte auch vor dem Hintergrund neuer Kommunikationsmöglichkeiten als nicht wegzudenken angesehen werden. Es hat sich gezeigt, dass die Kommunikation einen wesentlichen Beitrag zur Überwindung verschiedenster Widerstände im Innovationsprozess leistet, wobei jeweils ein kontinuierlicher Informationsaustausch mit entsprechenden Feedbackschleifen sicherzustellen ist. Als Transferbarrieren haben sich weiterhin bestimmte Attribute des zu transferierenden Wissens herauskristallisiert. Hier kann insbesondere ein mangelnder Nutzennachweis des zu transferierenden Wissens sowie kausale Ambiguität genannt werden. Hinzukommen Eigenschaften der im Transferprozess beteiligten Akteure. Auf Seiten des Senders können eine mangelnde Glaubwürdigkeit sowie eine mangelnde Motivation zum Transfer von Wissen genannt werden. Auf Seiten des Empfängers ebenfalls eine mangelnde Motivation und darüber hinaus eine zu geringe absorptive Kapazität und eine mangelnde Retentionsfähigkeit. Zur Steigerung der Retentionsfähigkeit wurden in dieser Arbeit anhand des Zwiebelschalenmodells, das bestimmte Aufgaben anhand ihrer strategischen Relevanz einordnet, Betreibermodelle vorgestellt. Diese zielen auf die Einbindung von externen Partnern im Rahmen der Leistungstiefengestaltung ab. Es wurde gezeigt, wie operative Tätigkeiten flexibel an EDL vergeben werden können, sodass bei der Einführung von neuen Methoden keine zusätzlichen internen Ressourcen aufgebaut werden müssen und dennoch eine Methodenanwendung sichergestellt werden kann.

244

7. Schlussbetrachtung

Einen weiteren negativen Einfluss auf den Wissenstransfer haben Kontextfaktoren wie ein gestörtes Sender-Empfänger-Verhältnis sowie ein unfruchtbares organisatorisches Umfeld. Wie sich gezeigt hat, spielen solche Kontextfaktoren gerade dann eine nicht zu unterschätzende Rolle, wenn neue Methoden zwischen getrennt gewachsenen Unternehmensbereichen transferiert werden sollen. Die Historie des Anwendungskontextes darf daher nicht vernachlässigt werden. Besonders kritisch ist dies in der Post-Merger-Phase, da dann die Wertvorstellungen der Beteiligten erheblich differieren können und unterschiedliche Prioritätensetzungen zu erwarten sind. Die Organisationsmitglieder sind gerade vor diesem Hintergrund häufig bestrebt auf ihren eigenen technologischen Trajektorien zu verweilen. Sie versuchen ihre Interessen zu wahren, indem sie auf einem Pfad relativ inflexibler Routinen, bei denen ihnen das interne politische Gleichgewicht gesichert ist, beharren. Die Einführung von Innovationen erfordert hingegen eine Änderung von Routinen, wobei die damit verbundenen Konsequenzen im Allgemeinen erst vorhersehbar sind, nachdem bereits Erfahrungen mit diesen gesammelt wurden. Die Einführung einer neuen Methode erfordert vor diesem Hintergrund, dass die Vorteile, Nachteile und die hiermit verbundenen Konsequenzen für einen spezifischen Anwendungskontext verstanden werden. Die Einführung wird dann besonders gut gelingen, wenn die neue Methode eine relative Vorteilhaftigkeit über bestehende Methoden im Hinblick auf Wirtschaftlichkeit, soziales Prestige, Bequemlichkeit oder anderen Nutzen aufweist und kompatibel zu bestehenden Wertstrukturen, Erfahrungen und Bedürfnissen der potenziellen Nutzer ist. Weiterhin unterstützen eine geringe Komplexität, im Hinblick auf das Verstehen und Anwenden der Innovation, sowie die Erprobbarkeit, bevor letztlich eine Entscheidung für oder gegen eine neue Methode gefällt wird, den Diffusionsprozess erheblich positiv. Um den genannten Aspekten Rechnung zu tragen wurde aufbauend auf den empirischen und theoretischen Erkenntnissen ein dreistufiger Ansatz zum Transfer von Wissen und Methoden von IDL zu den Anwendern in den verschiedenen Geschäftsbereichen erarbeitet. Dieser Ansatz zeigt auf, wie der Herausforderung einer Implementierung von durchgängigen Lösungen über verschiedene Wertschöpfungsstufen und Geschäftsbereiche hinweg begegnet werden kann. Es handelt sich bei diesem Ansatz um einen evolutionären Prozess, der von der Einführung einer Methode von der ersten Idee bis hin zur Etablierung als Standardmethode in verschiedenen Geschäftsbereichen und Wertschöpfungsstufen reicht. Unterschieden werden die Phasen Pilot, Rollout und Migration.

7.1 Zusammenfassende Darstellung der Untersuchungsergebnisse

245

Die Pilotphase dient einer kontextsensitiven und problemorientierten Erarbeitung einer neuen Methode mit dem Ziel eines Nutzennachweises, wobei in einer frühen Phase interdisziplinär unter Einbeziehung der späteren Anwender zusammengearbeitet wird. In der Rolloutphase wird basierend auf dem Pilot eine sukzessive Ausweitung der Methodenanwendung in dem spezifischen Anwendungskontext mit dem Ziel der Standardisierung vorangetrieben. Es wurde in diesem Zusammenhang gezeigt, wie durch organisatorische Maßnahmen ein geregelter Erfahrungsaustausch zwischen verschiedenen Implementierungsprojekten sichergestellt werden kann. Um den oftmals differierenden Anwendungskontexten gerecht zu werden, findet in der Migrationsphase eine Adaption der Methode statt, wobei zunächst wiederum mit einem Pilotprojekt gestartet und somit ein Nutzennachweis für den neuen Anwendungskontext geliefert wird. Über dieses phasenspezifische Modell hinaus wurden grundlegende Aspekte im Transferprozess herausgearbeitet, auf die Motivation für den Aufbau von internen IDL eingegangen und das Verhältnis dieser zu den anwendenden Bereichen beleuchtet. Es konnte beobachtet werden, dass gerade das gegenseitige Vertrauen eine entscheidende Rolle spielt. Weiterhin wurden Handlungsempfehlungen zu der Dokumentation und Übergabe von Ergebnissen sowie zur Standardisierung von Begriffen und Darstellungsarten im Rahmen der Methodenimplementierung gegeben. Es zeigte sich weiterhin, dass eine frühe Klärung der AKV eine Grundvoraussetzung für eine geregelte und reibungsfreie Zusammenarbeit ist. Weiterhin ist sowohl ein stringentes Änderungs- und Versionsmanagement bei der neuen Methode als auch eine klare Schnittstellendefinition zu anderen Komponenten und Systemen sicherzustellen. Im Hinblick auf das Management des Erfahrungswissens haben die Untersuchungen gezeigt, dass Unternehmen sich immer in dem Spannungsverhältnis bewegen, einerseits bei Mitarbeitern kontinuierlich in bestimmten Bereichen Kompetenzen und Erfahrungswissen aufzubauen und andererseits dieses durch eine Personalrotation an andere Unternehmensbereiche weiterzugeben. Daher wurde in dieser Arbeit abgeleitet, wann welche Art von Personaltransfer für die beteiligten Transferpartner einen Vorteil bringt. Es wurde dargestellt, dass Personaltransfers auf Managementebene insbesondere dazu genutzt werden, Wissen über Herausforderungen und vorhandene Netzwerke des Anwendungskontextes zu transferieren und auf Sachbearbeiterebene vorzugsweise um den Transfer von Methodenwissen zu fördern.

246 7.2

7. Schlussbetrachtung

Implikationen für Forschung und Unternehmenspraxis

Aus den vorgelegten Ergebnissen dieser Arbeit können eine Reihe von Implikationen für die weitere Forschung sowie die Unternehmenspraxis abgeleitet werden. Zunächst kann festgestellt werden, dass in der Literatur kein Mangel an empirisch oder theoretisch entwickelten Methoden besteht, sondern es vielmehr an geeigneten Vorgehensmodellen fehlt um diese in spezifischen, real existierenden Anwendungskontexten in MNU zu implementieren. Im Hinblick auf die weitere Forschung empfiehlt es sich vor dem Hintergrund, dass die objektiven, rationalen und deklarativen Aspekte des Wissenstransfers sowohl in der Literatur als auch in der Praxis überschätzt werden, auf diese bisher vernachlässigten Wissenscharakteristika einzugehen. Gerade die Dichotomie zwischen äquivokem und kanonischem Wissen und die hiermit verbundenen Fragestellungen können weiterhin als spannendes Forschungsgebiet angesehen werden. Hier kann die empirische Untersuchung von weiteren Transferprojekten Aufschluss über bisher noch nicht ausreichend verstandene Aspekte des Wissenstransfers geben. Gerade die Gegenüberstellung von erfolgreichen und nicht erfolgreichen Transferprojekten im Rahmen von Fallstudien erscheint ein probates Mittel zu sein. Auch das Analyseobjekt des IDL, welcher bei hoher Produkt- und Prozesskomplexität operiert, stellt sich in diesem Zusammenhang auch für die Zukunft noch als überaus interessant dar. In diesem Zusammenhang sollten evolutionäre und kompetenzbasierte Sichtweisen verstärkt ins Licht der Betrachtung gerückt werden. Weiterhin wäre eine quantitative Analyse denkbar, welche die Korrelation zwischen erfolgreichen und nicht erfolgreichen Transferprojekten im Hinblick auf die stringente Anwendung des beschriebenen dreistufigen Vorgehensmodells aufzeigt. Zu erwarten wäre, dass bei Einhaltung der aufgezeigten Handlungsempfehlungen für die einzelnen Phasen die Erfolgsquote deutlich höher ausfällt. Abschließend ist in Bezug auf die weitere wissenschaftliche Betätigung im Umfeld von innerbetrieblichen Innovationsbestrebungen anzuraten, vermehrt Erkenntnisse aus verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen zur Erklärung der auftretenden Phänomene heranzuziehen. Ziel sollte es darüber hinaus sein, verstärkt problemorientiert und über Forschungsgebiete hinweg in frühen Phasen interdisziplinär mit Experten aus der Industrie zusammenzuarbeiten, um so relevante Fragestellungen zu entdecken und zu verstehen. Methodisch kann eine solche anwendungskontextsensitive Forschung, in die auch die vorliegende Arbeit

7.2 Implikationen für Forschung und Unternehmenspraxis

247

eingeordnet werden kann, auf Fallstudien und Experteninterviews sowie weiteren Techniken der qualitativen Datenanalyse basieren. Neben den genannten Anregungen für die weitere Forschung finden sich diverse Anknüpfungspunkte für die Unternehmenspraxis. Es zeigt sich, dass die besondere Herausforderung für MNU darin besteht, vor dem Hintergrund verschiedener Kulturen und Persönlichkeiten mit oftmals unterschiedlichen Wertesystemen, effektive soziale Kommunikationsprozesse zu etablieren, die sich detailliert mit asymmetrischem Verstehen auseinandersetzen. Von vielen Managern in MNU wird heute noch unterschätzt, dass der DownstreamGedanke auch bei innerbetrieblichen Innovationen gerade bei hoher Produkt- und Prozesskomplexität und sich verkürzenden Innovationszyklen eine zentrale Rolle einnimmt. Ausgehend von den Untersuchungsergebnissen kann angenommen werden, dass in vielen Unternehmen traditionell Upstream-orientierte Einheiten wie zentrale Forschungseinrichtungen eine Verlagerung ihrer Tätigkeitsfelder nach und nach hin zu einer Downstream-Ausrichtung vollziehen werden. Leider finden die in der Literatur vorhandenen und meist detailliert ausgearbeiteten Methoden in Multinationalen Unternehmen häufig zu wenig Anwendung. Als ein Grund hierfür kann genannt werden, dass diese regelmäßig nicht an den tatsächlichen Bedürfnissen der jeweils spezifischen innerbetrieblichen Abläufe orientiert sind und durch eine generische Beschreibung oftmals der Link zu dem eigentlichen Anwendungskontext fehlt. Es ist wünschenswert, dass das in der vorliegenden Arbeit beschriebene dreistufige Vorgehensmodell mit den Phasen Pilot, Rollout und Migration einen Beitrag dazu leistet, vorhandene methodische Ansätze mit spezifischen innerbetrieblichen Anwendungskontexten so zu fusionieren, dass ganzheitliche, geschäftsbereichsübergreifende und standardisierte Lösungen über verschiedene Wertschöpfungsstufen hinweg entspringen.

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