Werbung als Schlüsselfaktor bei der Einführung neuer Produkte : Konsequenzen für die Testmarktforschung
 9783835094598, 3835094599 [PDF]

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Zitiervorschau

Kerstin Hiller Werbung als Schliisselfaktor bei der Einfiihrung neuer Produkte

GABLER EDITION WISSENSCHAFT

Kerstin Hiller

Werbung als Schliisselfaktor bei der Einfiihrung neuer Produkte Konsequenzenfur die Testmarktforschung

Miteinem Geleitwortvon Prof. Dr. Bernd Erichson

Deutscher Universitats-Verlag

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnetdiese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet liber abrufbar.

Dissertation Universitat Margdeburg, 2006 Zugleich: an der Fakultat fur Wirtschaftswissenschaft der Otto-von-Guericke-Universitat Magdeburg unter dem Titel „Werbung als Schlusselfaktor bei der Einfuhrung neuer Produkte - Konsequenzen fiir die Testmarktforschung" vorgelegte und angenommene Inauguraldissertation. Datum der Disputation: 06.04.2006

1. Auflage Januar2007 Alle Rechte vorbehalten © Deutscher Universitats-Verlag I GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Brigitte Siegel / Nicole Schweitzer Der Deutsche Universitats-Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media, www. duv.de Das Werk einschlieBlich aller seiner Telle ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fiir Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und dahervon jedermann benutztwerden diirften. Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, Dipl.-Designerin, Frankfurt/Main Gedrucktauf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8350-0613-3

Geleitwort Fiir den Erfolg neuer Produkte bildet auf den heutigen, iiberwiegend gesattigten und stark umkampften Markten die Werbung einen wichtigen und oft unterschatzten Erfolgsfaktor. Daraus folgt, dass ftir die Planung der Einfiihrung neuer Produkte sowie fiir die friihzeitige Prognose des Markterfolges neben einer Akzeptanzprufimg des neuen Produktes auch eine Prognose der Wirkung der geplanten oder zu planenden WerbemaBnahmen unerlasslich ist. Mit dieser Problematik befasst sich die vorliegende Arbeit von Frau Hiller. Im Kern geht es dabei um die Prognose zentraler Werbewirkungsmafie wie Werberinnerung und Markenbekanntheit in Abhangigkeit von den geplanten Werbeausgaben fur die Belegung von Werbetragem. Wahrend gangige Werbemitteltests wie auch Verfahren der Testmarktforschung die Werbequalitat (Gestaltung der Werbemittel) erfassen, bleibt die Wirkung der Werbequantitat (Werbebudget, Werbestreuung) unberiicksichtigt, da sich die Vielfalt der Medien und das Kommunikationsverhalten von Personen im Teststudio nicht nachbilden lassen. Hierftir entwickelt die Autorin ein geeignetes Simulationsmodell, welches somit eine wichtige Erganzung zu bestehenden Testverfahren bildet. Im Rahmen ihrer Arbeit gibt die Autorin einen Uberblick iiber theoretische Grundlagen zur Analyse der Werbewirkung. Dabei geht sie neben Erkenntnissen der kognitiven Verhaltenstheorie und der experimentellen Lemforschung auch auf neuere Ergebnisse der Gehim- und Gedachtnisforschung ein, um hieraus Schliisse fiir die Entstehung von Werbewirkung zu Ziehen. Insbesondere widmet sie sich dem starken Einfluss von emotionalen Elementen der Werbegestaltung auf die kognitive Verarbeitung von werblichen Informationen. Des Weiteren gibt die Arbeit einen Uberblick iiber bestehende Verfahren zur Neuproduktprognose auf Basis von simulierten oder von realen Testmarktdaten und legt dar, mit welchen Modellen innerhalb dieser Verfahren die Wirkung der Werbung beriicksichtigt wird. Anhand von empirischen Daten demonstriert sie die Anwendung dieser Modelle, zieht Vergleiche und weist auf Schwachen hin. Zur Uberwindung dieser Schwachen entwickelt die Autorin ein eigenes Modell, welches zur Losung der komplexen Problematik die Monte-Carlo-Methode verwendet. Auf Basis empirischer Daten kann sie die Vorteilhaftigkeit dieses Ansatzes demonstrieren. Insgesamt lasst sich sagen, dass hier ein wichtiges und schwieriges Thema aufgegriffen und mit hoher Kompetenz bearbeitet wurde. Die Autorin gibt einen guten Uberblick iiber Grundlagen der Werbewirkungsanalyse und zeigt einen viel versprechenden Weg zur Verbesserung der Prognose von Werbewirkung.

Prof Dr. Bemd Erichson

VII

Vorwort Innerhalb der Neuproduktprognose im Rahmen der Testmarktsimulation wurde die Vorhersage des Aufbaus von Markenbekanntheit lange Zeit durch „intuitive Schatzungen" der Planungsverantwortlichen auf Basis der geplanten Werbeausgaben getatigt. Nicht selten kam es dabei zu erheblichen Uberschatzungen der erwarteten Markenbekanntheit (Awareness), sodass in der Folge auch die letztendlich interessante Prognose des Marktanteils regelmaBig zu hoch ausfiel. Mit der Entwicklung eines Awareness-Modells, welches die bestehende Unsicherheit hinsichtlich des zeitlichen Aufbaus von Markenbekanntheit schlieBt und sich gegeniiber bereits bestehender Modellen durch die explizite Ausrichtung an aktuelle Kommunikationsbedingungen abgrenzt, war die generelle Forschungsrichtung vorgegeben. Als Dissertationsprojekt des Lehrstuhls fur Marketing an der Otto-von-Guericke Universitat Magdeburg lag es zudem nahe, die Arbeit in den Kontext der Neurowissenschaften zu stellen. Mit dem Leibnitz-Institut fur Neurobiologie und dem Zentrum fur Neurowissenschaftliche Innovation und Technologic (ZENIT) steht Magdeburg in der Tradition der Himforschung und stellt damit ein bedeutendes Zentrum neurowissenschaftlicher Forschung in Deutschland dar. Mein besonderer Dank gilt deshalb an erster Stelle meinem Doktorvater, Herm Prof. Dr. B. Erichson, der es mir ermoglichte, an der Grenze zweier Disziplinen zu arbeiten. Als akademischer Lehrer hat er mich nicht nur ausgebildet, sondem auch iiber viele Jahre wissenschaftlich unterstiitzt. Dariiber hinaus hat die menschliche Atmosphare, die er am Lehrstuhl zu schaffen wusste, meine Arbeit sehr gefordert. Weiterhin bin ich Prof. Dr. F. Wimmer und Prof Dr. Dr. B. Vogt fur die Ubemahme der Zweit- und Drittgutachten zu Dank verpflichtet. Mein spezieller Dank gilt Herm Prof Dr. J. Maretzki, der mir als guter Freund stets eine unschatzbare Hilfe bei inhaltlichen Problemen war und mich wahrend des gesamten Projektes durch wertvolle Anregungen unterstiitzt hat. Herm Dr. Wildner von der GfK Ntimberg danke ich fiir die bereitwillige Uberlassung von Trackingdaten aus dem Werbeindikator, die eine wichtige Voraussetzung fur die Bewertung samtlicher Modelle waren. Fiir die kritische Durchsicht des neurowissenschaftlichen Teils der Arbeit mochte ich mich ganz herzlich bei Herm Dr. W. Holtmann bedanken, der mir in vielen anregenden Gesprachen neue Forschungsimpulse gab. Herm P. Loos danke ich vor allem fiir seine geduldige und kompetente Einfuhmng in die C Programmierung. Ohne seine Hilfe ware ein schnelles Gelingen der Simulation nicht moglich gewesen.

VIII

Zu groBem Dank bin ich auch Frau Dipl.-Bibl. Stephanie Lange verpflichtet, die mich stets in ktirzester Zeit und iiber weite Entfemungen hinweg mit umfangreichen, wissenschaftlichen Materialien versorgt hat. Besonderen Dank schulde ich meinem Mann Helmut und meinen beiden Kindem Johanna und Leopold, die mich wahrend des gesamten Projektes liebevoll begleiteten und mir mit viel Verstandnis die erforderliche Zeit sowie den benotigten Freiraum fur meine Nachforschungen zur Verfiigung stellten. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet.

Kerstin Hiller

IX

Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis

XIII

Tabellenverzeichnis

XV

Abkiirzungsverzeichnis 1

2

3

XVII

Einleitung

1

1.1

Problemstellung

1

1.2

Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

3

Stellenwert der Werbung innerhalb des Marketing-Mix

7

2.1

Werbeflut und Rezeptionsbedingungen von TV-Werbespots

10

2.2

Schliisselfunktionen der Einftihrungswerbimg

12

2.3

Einfluss der Werbung innerhalb des Adoptionsprozesses

15

2.4

Zusammenfassung

18

PrognosegegenstandMarkenbekanntheit

3.2

21

3.1.1 Markenbekanntheit als Werbewirkungskriterium

21

3.1.2 Werbeerinnerung als Teilkomponente der Markenbekanntheit

23

3.1.3 Relevante Einflussfaktoren der Werbeerinnerung

28

Testmarktsimulation als ein Testverfahren fiir neue Produkte

32

3.2.1 Grundlagen der Testmarktsimulation

32

3.2.2 Methodische Grundlagen

37

3.3

Zusammenfassende Beurteilung hinsichtlich der Integration der Werbewirkungsmessung innerhalb der Testmarktsimulation

43

3.4

Gegeniiberstellung ausgewahlter Awareness-Modelle

45

3.4.1 Auswahlkriterien und Schwerpunktlegung

45

3.4.1.1 Ayer-Modell

46

3.4.1.2 TRACKER-Modell

49

3.4.1.3 NEWS-Modell

51

3.4.1.3.1 Modellgrundlagen

51

3.4.1.3.2 Modellbeurteilung

59

3.4.1.4 LITMUS-Modell

59

3.4.1.5 GfK-Awareness-Modell

63

3.4.1.5.1 Modellgrundlagen

63

3.4.1.5.2 Modellbeurteilung

68

X

3.4.1.6

3.5

NEWS-Modell vs. GfK-Awareness-Modell: Eine vergleichende Analyse

74

3.4.2 Kritische Wiirdigung der Awareness-Modelle

77

Zusammenfassung

79

Markenbekanntheit durch Werbung im Werbewirkungsprozess

81

4.1

Entwicklungsgeschichte der Ansatze der Werbewirkungsforschung

81

4.1.1 Klassische Stufenmodelle

81

4.1.2 Neuere Ansatze der Erklarung von Werbewirkung

82

4.1.3 Zusammenfassung

89

4.2 4.3

Bewertung der zentralen Werbewirkungsindikatoren Markenbekanntheit und Werbeerinnerung innerhalb der Testmarktsimulation

90

Empirische Befunde der aktuellen Werbewirkungsforschung

92

4.3.1 Quantitative Bestimmungsfaktoren der Werbewirkung

92

4.3.1.1 Kontakthaufigkeit und okonomische Werbewirkung

92

4.3.1.2 Werbeerinnerung als Funktion der Kontakthaufigkeit

98

4.3.2 Qualitative Bestimmungsfaktoren der Werbeerirmerung 4.4

Zusammenfassung

102 105

Theoretischer Bezugsrahmen zur Analyse der Werbewirkungen

109

5.1

Klassische Lemtheorien und Lemforschung

109

5.1.1 Reiz-Reaktions-Theorien

109

5.1.2 Kognitive Lemtheorien und Gedachtnismodelle

111

5.2

5.1.3 Experimentelle Erforschung des (verbalen) Lemens und Vergessens

118

Neurophysiologische Grundlagen des Gedachtnis

121

5.2.1 Neuronale Strukturen des Lemens und Erinnems

121

5.2.1.1 Anatomische Grundlagen

121

5.2.1.2 Temporaler und frontaler Assoziationscortex

125

5.2.1.3 Hippocampus und limbisches System

129

5.2.1.4 Emotionale Konditioniemng

134

5.2.2 Langzeitgedachtnis: Synaptische Wachstumstheorie des Lemens

136

5.2.3 Aufmerksamkeit, unbewusste Wahmehmung und das Konstrukt Awareness

139

5.2.4 Beitrag der Hemispharenforschung zu einer Werbewirkungstheorie

146

5.3

Erklamngsansatze des Vergessensprozesses

151

5.4

Erklamngsbeitrag neurophysiologischer und lemtheoretischer Erkenntnisse fiir den Aufbau von Markenbekaimtheit

154

XI 5.5

Integration des gedachtnisassoziierten Forschungsstandes in ein Awareness-Modell

156

Basis von Daten aus dem Media-Plan und der Testmarktforschimg

161

6.1

Einftihrung in die Simulation

161

6.2

Das Awareness-Modell

163

6.2.1 Grundstruktur des Simulationsmodells

163

6.2.2 Darstellung der Modellannahmen

167

6.2.3 Datenbasis und Eingangsparameter

169

6.2.3.1 Konsumentenpopulation

169

6.2.3.2 Werbebudget und Reichweite

169

6.2.3.3 Lem-und Vergessensrate

170

6.2.4 Simulation der Werbemittelkontakte

173

6.2.4.1 Berechnung der Kontaktverteilung

173

6.2.4.2 Berechnung der wahrgenommenen Werbekontakte

174

6.2.4.3 Vergessensfunktion zwischen den Kontaktklassen

178

6.2.5 Prognose der Werbeerinnerer

180

6.2.5.1 Bestimmung der Awareness-Funktion

180

6.2.5.2 Simulation des Vergessens fur Werbeerinnerer

183

6.3

Validierung der Awareness-Simulation

186

6.4

Kritische Beurteilung des Simulationsansatzes

190

6.5

Parametergewinnung und Implikationen ftir TESI

191

Zusammenfassung und kiinftige Forschungsfelder fur die Testmarktforschung

195

Anhang

201

8.1

Erganzungen zum NEWS-Modell

201

8.2

Erganzungen zum GfK-Awareness-Modell

203

8.3

Monte Carlo-Methode

206

8.3.1 Erzeugung von Zufallszahlen und -verteilungen

206

8.3.2 Testen von Zufallszahlen: Chi-Quadrat-Test

210

Awareness-Simulation

211

8.4.1 Allgemeine Erganzungen

211

8.4.2 Ausgewahlte Prognoseverlaufe

214

8.4.3 Empirische Vergessenskurven

216

8.5

Listing der Awareness-Simulation in C

218

8.6

Gesprachs- und Vortragsverzeichnis

230

8.4

XII 9

Glossar

231

10

Literaturverzeichnis

233

XIII

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1

Der Neuproduktadoptionsprozess fur FMCGs

16

Abbildung 2

Das idealisierte Marktmodell

18

Abbildung 3

BestimmungsgroBen der Markenbekanntheit

23

Abbildung 4:

Wiedererkennen von TV-Spots/Anzeigen und Absenderzuordnung

25

Abbildung 5:

Awareness-Terminologie: Werbeerinnerung (advertising awareness) und Markenbekanntheit (brand awareness)

27

Abbildung 6

Determinanten der Werbeerinnerung

32

Abbildung 7

Datenbasis und Verfahren der Neuproduktprognose

34

Abbildung 8

Ablauf der Testmarktsimulation TESI

35

Abbildung 9

Komponenten und Determinanten des Marktanteils

38

Abbildung 10;

Markenbekanntheit in der Testmarktsimulation TESI

43

Abbildung 11

Determinanten des Ayer-Modell

48

Abbildung 12

Struktur des GfK-Awareness-Modells

69

Abbildung 13

Validierung des AD*VANTAGE-Modells

73

Abbildung 14

Goodness-of-Fit anhand der Korrelationen

74

Abbildung 15;

Leistungsvergleich zwischen NEWS- und GfK-Awareness-Modell

77

Abbildung 16

Wirkungspfad bei informativer Werbung und geringem Involvement

89

Abbildung 17

Mogliche Formen des Zusammenhangs zwischen Kontaktanzahl und Werbewirkung

Abbildung 18:

Werbewirkungssteigerung bei zunehmender Kontaktzahl

Abbildung 19:

Wirkungen der massierten Werbung (steile Kurve) und der verteilten Werbung (Sagezahne)

Abbildung 20:

Abbildung 21:

97 100

101

Steigerung der Werbeerinnerung bei zunehmender Kontaktzahl (Bsp.:Waschmittelwerbung)

103

Werbeeffizienz bei Fast Moving Consumer Goods

106

XIV

Abbildung 22:

Schema der Einteilung des menschlichen Gedachtnisses

116

Abbildung 23:

Lem- bzw. Vergessenskurve nach Ebbinghaus

121

Abbildung 24:

Hauptregionen des Gehims

124

Abbildung 25:

Lappen der GroBhimrinde

124

Abbildung 26:

Aufbau einer idealisierten Nervenzelle

125

Abbildung 27:

Medianansicht des menschlichen Gehims

128

Abbildung 28:

Modell neuronaler Schaltkreise der EmotionsKognitions-Verschrankung

132

Abbildung 29:

Schema des limbischem und cortico-hippocampalem Systems

137

Abbildung 30:

Grundmodell des Aufbaus von Werbe-Awareness ftir neue FMCGs

160

Abbildung 31:

Grundstruktur der Awareness-Simulation

166

Abbildung 32:

Uberblick iiber das Simulationsmodell

169

Abbildung 33:

Transformation der Werbemittelkontakte in effektive Neukontakte

179

Abbildung 34:

Vergessensverlauf in Abhangigkeit von der Zeit und dem Werbekontaktniveau

182

Abbildung 35:

Awareness-Funktion (Variation des Parameters b)

185

Abbildung 36:

Awareness-Funktion (Variation des Parameters c)

185

Abbildung 37:

Vergessenskurve der Marke Maggi Pasta Snack

188

Abbildung 38:

Vergleich der Prognosewerte des GfK-Awareness-Modells und der Simulation

192

Abbildung 39:

Visuelle Abschatzung der Anlaufphase

193

Abbildung 40:

Eingabemaske des NEWS-Modells (Marke: Fairy Ultra)

201

Abbildung 41:

Prognosewerte von NEWS bei unterschiedlicher Periodenlange

202

Abbildung 42:

Eingabemaske GfK-Awareness-Modell (AD*VANTAGE)

204

Abbildung 43:

Prognoseleistung am Beispiel Hellmann's Mayo

205

Abbildung 44:

Eingabemaske Awareness-Simulation

211

Abbildung 45:

Kontaktverteilung

212

Abbildung 46:

Ausschnitt aus der Ausgabeliste

213

XV

Tabellenverzeichnis Tabelle 1 Situationen der Einfiihrung eines neuen Produktes

16

Tabelle 2 Grundtypen der Hierarchie-Modelle

84

Tabelle 3 Daten fiir den Goodness-of-Fit des GfK-Awareness-Modells

203

XVII

Abkiirzungsverzeichnis

DV

Durchsetzungsvermogen

FMCGs

Fast Moving Consumer Goods

GRP

Gross Rating Point

i.d.R.

in der Kegel

i.S.

im Sinne

KK

Kontaktklasse

KZS

Kurzzeitspeicher (Kurzzeitgedachtnis)

lat.

lateinisch

LZS

Langzeitspeicher (Langzeitgedachtnis)

LZ

Lebensmittelzeitung

MAPE

mittlerer absoluter prozentualer Fehler

n

Zufallszahl

OLS

ordinary least squares (Methode der kleinsten Quadrate)

OTS

Opportunities To See

PET

Positronenemissionstomographie

POS

Point of Sale

UKZS

Ultra-Kurzzeitspeicher (Ultra-Kurzzeitgedachtnis)

WI

Werbeindikator der GfK (Werbetracking-Instrument)

1

Einleitung

1.1

Problemstellung

In den Wirtschaftswissenschaften gelten seit Schumpeters Thesen Innovationen als entscheidende Kraft fiir Wirtschaftswachstum.^ Angesichts der angespannten wirtschaftlichen Lage in Deutschland ergibt sich heute mehr denn je eine Innovationsnotwendigkeit fur das Uberleben, die Wettbewerbsfahigkeit und damit das Wachstum eines Untemehmens am Markt? Unter dem Begriff Innovation wird im Konsumgiiterbereich in erster Linie die Entwicklung neuer Produkte verstanden, die sich hinsichtlich ihres Neuheitsgrades stark voneinander unterscheiden konnen. Echte Marktneuheiten (Pionierprodukte), fur die noch keine Produktkategorie existiert, sind dabei eher die Ausnahme. Den weitaus groBeren Anteil an Neuprodukteinfuhrungen stellen dagegen neue Marken, Relaunches, Brand- oder LineExtensions dar.^ Mit der Notwendigkeit zur Einfuhrung neuer Produkte ist jedoch ein betrachtlicher finanzieller Aufwand sowie das hohe Risiko eines Misserfolgs verbunden. In dieser auch als „Neuproduktdilenima" bezeichneten Situation bietet sich dem Hersteller mit der Testmarktsimulation ein vergleichsweise kostengiinstiges und schnelles Instrument der Testmarktfoschung, welches die Marktchancen von Produkten an der Schwelle zu deren Einfuhrung pruft."^ Im Rahmen dieses Testverfahrens wird innerhalb eines reprasentativen

Vgl. Schumpeter, J.A. (1997): Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 9. Aufl., unverand. Nachdruck. der 1934 erschienenen 4. Aufl., Berlin; Booz, Allen & Hamilton Inc. (Hrsg.) (1982): New Products Management for the 1980's, New York; Peters, Th.J./ Waterman, R.H. (1984): Auf der Suche nach Spitzen leistungen, 9. Aufl., Landsberg/Lech; Waterman, R.H. (1988): Leistung durch Innovation, Hamburg; Urban, G.L./ Hauser, J.R. (1993): Design and Marketing of New Products, 2., Aufl., NJ. GemaB dem ifo-Innovationsdienst ist immer dann ein starkes Wachstum in Markten zu beobachten, wenn die in diesen Markten operierenden Untemehmen in groBem Umfang neue Produkte einfuhren. Zum Vergleich: Untemehmen in wachsenden Markten weisen eine Innovationsneigung von 87 Prozent auf, wahrend Untemehmen in stagnierenden Markten auf 68 Prozent und in schmmpfenden Markten lediglich auf 62 Prozent kommen. Vgl. Kofler, P./ Bliemel, F. (2001): Marketing-Management, 10., iiberarb. und aktualisierte Aufl., Stuttgart, S. 507. Siehe zum Einfluss der Neuprodukteinfuhrung fiir das Markt- als auch das Marken wachstum Geis, G./ Wildner, R. (2004): Markterfolge durch Innovation, in: Jahrbuch der Absatz- und Verbrauchsforschung, 3/2004, S. 225 ff. Zur Einordnung neuer Produkte siehe Erichson, B. (1997): Neuproduktprognose mittels Testmarktsimulation, Preprint Nr. 6/1997 der Fakultat fiir Wirtschaftswissenschaft der Otto-von-Guericke-Universitat Magdeburg, Magdeburg, S. 39f Gerade in der Phase unmittelbar vor der Markteinfiihrung ist die Bewertung der Erfolgschance neuer Verbrauchsgiiter von besonderer Relevanz, da ein GroBteil der Einflihmngskosten fiir die Schaffimg von Produktionskapazitaten, Distribution und Markenbekanntheit erst ab dem Markteintritt anfallt. Vgl. Erichson, B. (1997): Neuproduktprognose mittels Testmarktsimulation, Preprint Nr. 6/1997 der Fakultat fiir Wirtschaftswissenschaft der Otto-von-Guericke-Universitat Magdeburg, Magdeburg, S. 15; Vgl. Erichson, B. (1998): Dimensionen der Testmarktsimulation, in: Erichson, B./ Hildebrandt, L. (Hrsg.) (1998): Probleme und Trends in der Marketing-Forschung, Stuttgart, S. 117.

Samples der gesamte Adoptionsprozess des neuen Produktes (Wahmehmung, Erstkauf, Einstellungsbildimg, Wiederkauf) in Verbindung mit den geplanten Marketingaktivitaten (Werbung, Preis, Verpackung) unter Laborbedingungen simuliert. Auf Basis der Labormessungen wird der zu erwartende Marktanteil mittels verschiedener Methoden und Modelle^ berechnet, welcher als Entscheidungsgrundlage fur oder gegen die Einfiihrung des neuen Produktes dient. Bei den zu testenden Produkten innerhalb der Testmarktsimulation handelt es sich vorwiegend um kurzlebige Verbrauchsgtiter, sog. Fast Moving Consumer Goods (im Folgenden kurz: FMCGs).^ Auf Grund der Vielzahl der jahrlichen Produktneueinfuhrungen in den Lebensmitteleinzelhandel, die sich in ihren Produkteigenschaften nicht wesentlich voneinander unterscheiden, wird die Wahmehmung des neuen Produktangebotes mittels entsprechender Werbung zu einer Schliisselfunktion fur den Markterfolg.^ Neben einer ausreichenden Distribution und der Verteilung von Produktproben stellt in erster Linie die Femsehwerbung trotz veranderter Femsehbedingungen einen wesentlichen Beitrag zur Bekanntmachung des Neuproduktes dar. Mit der herausragenden Bedeutung der TV-Werbung zu Beginn der Einfuhrungsphase ist die Forderung nach einem Awareness-Modell^ als wichtigen Bestandteil innerhalb der Testmarktsimulation verbunden, das den zeitlichen Aufbau der Markenbekanntheit durch Werbung abbildet. Trotz Mehrdimensionalitat und Multikausalitat der Werbewirkung existieren einige wenige zentrale EinflussgroBen, welche den Erfolg der Werbung entscheidend mitbestimmen. Empirisch oder theoretisch fundierte Erkenntnisse zu derartigen Erfolgsdeterminanten wurden allerdings bei der Entwicklung von Testmarktsimulationen bisher weitgehend ausgeklammert. Gerade bei der Analyse der Wahmehmung von Werbung sind die Ansatze weitgehend auf dem Niveau der Anfangszeit stehen geblieben, ungeachtet der Tatsache, dass sich die Kommunikationsbedingungen in den letzten Jahren stark gewandelt haben.

Die methodischen Grundlagen der Testmarktsimulation sind Gegenstand des Kapitels 3.2.2. Vgl. Hammann, P./ Erichson, B. (2000): Marktforschung, 4., uberarb. u. erw. Aufl., Stuttgart, S. 215. Vgl. Sissors, J.Z./ Bumba, L. (1995): Advertising Media Planning, 5. Aufl., Lincolnwood, S. 2. Der Begriff Awareness (Bewusstsein) steht fiir hier die Markenbekanntheit durch Werbung. In der vorliegenden Arbeit geht es ausschlieBlich um die Betrachtung der durch Werbung erzeugten Markenbekanntheit. Die Begriffe Awareness, Markenbekanntheit und Werbeerinnerung werden deshalb synonym verwendet. Eine defmitorische Abgrenzung erfolgt in Kapitel 3.

Die intensive Beschaftigung mit dem Problem der Werbewirkung, die bisher fiir den Analysebereich der etablierten Produkte^ festzustellen ist, findet zudem kein entsprechendes Pendant in den Forschungsbemiihungen fur neue Produkte.^^ Gnmdsatzlich ist die Modellierung der zu prognostizierenden Markenbekanntheit von neuen Produkten insofem erschwert, als keine Vergangenheitsdaten zur Verfiigung stehen.^^ Ungenauigkeiten bei der Modellierung sowie Schwachstellen hinsichtlich der Spezifikation erforderlicher Eingangsparameter konnen allerdings Ursache von weit reichenden Fehlem sein, da in der Testmarktsimulation die Anteile der Werbe- bzw. Markenbekanntheit die Basis fur weitere Berechnungen (z.B. der Erstkauferrate) bilden. Werden bei der am Anfang der Prognose stehenden Markenbekanntheit bereits falsche Schatzwerte geliefert, ist auf Grund dieser falschen Ausgangsbasis der Berechnungen insgesamt die Giite der Neuproduktprognose gefahrdet.

1.2

Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

Vor dem Hintergrund der Bedeutung einer genauen Schatzung der Markenbekanntheit fur die Neuproduktprognose und der weitgehenden Vemachlassigung dieses Teilmoduls in der Testmarktsimulation, verfolgt die vorliegende Arbeit die generelle Zielsetzung, aufbauend auf den vorhandenen theoretischen und empirischen Erkenntnissen der Forschung ein umfassendes Modell iiber den Aufbau von Markenbekanntheit durch Werbung im Zeitverlauf fiir neu einzufiihrende FMCGs zu entwickeln. Im Rahmen dieses Modells wird ausschlieBlich die durch Werbung generierte Markenbekanntheit berixcksichtigt, da das zur Verfiigung stehende Datenmaterial das Einbeziehen von weiteren Determinanten der Markenbekaimtheit, wie z.B. die Distributionsquote, nicht zulieB. Im Verlauf werden die zentralen Einflussfaktoren der Mar-

Vgl. Aaker, D.A./ Carman, J.M. (1982): Are you Overadvertising?, in: Journal of Advertising Research, 22. Jg., Nr. 3, S. 57-70; Assmuss, G./ Farley, J.U./ Lehmann, D. (1984): How Advertising Affects Sales: Meta Analysis of Econometric Results, in: Journal of Marketing Research, 21. Jg., Nr. 1, S. 65-74; Little, J.D.C. (1979): Aggregate Advertising Models: The State of the Art, in: Operations Research, 27. Jg., H. (JuliAugust), S. 629-667; Simon, J.L./ Amdt, J, (1980): The Shape of the Advertising Response Function, in: Journal of Advertising Research, 20. Jg., Nr. 3, S. 11-31. Bisherige empirische Befunde zur Marketing-Response-Messung bei neuen Produkten sind auf Grund des eingeschrankten Datenmaterials eher rar. Die Claycamp-Liddy- und Nakanishi-Studie reprasentieren das einzig publizierte Wissen zur empirisch nachgewiesenen Marketing-Response bei neuen Verbrauchsgiitem. Daruber hinaus deuten sie auf instrumentelle Response-Unterschiede (bei Claycamp/Liddy) hin und zeigen die gleichzeitige Wirksamkeit einer MaBnahme auf den Erst- und Wiederkauf (Nakanishi) auf. Vgl. hierzu Claycamp, H.J./ Liddy, L.E. (1969): Prediction of New Product Performance: An Analytical Approach, in: Journal of Marketing Research, 6. Jg., Nr. 4, S. 414-420; Nakanishi, M. (1973): Advertising and Promotion Effects on Consumer Response to New Products, in: Journal of Marketing Research, 10. Jg., Nr. 3, S. 242-249. Eine Spezifikation der Responsefiinktion a priori ist auf Grund des fehlenden Datenmaterials bei der Neuprodukteinfuhrung nicht moglich.

kenbekanntheit durch Werbung und deren Wirkungszusammenhange dargestellt, wobei nur diejenigen Determinanten einbezogen werden, die sich nachfolgend zur Parametrisierung in einem Modell eignen. Im Anschluss an die Einleitung werden in Kapitel 2 zunachst die RoUe der Femsehwerbung bei der Einfiihrung neuer Produkte sowie die Rahmenbedingungen, von denen die Entwicklung und Funktionsweise einer Theorie der Werbewirkung abhangig ist, herausgearbeitet. Da den meisten Neuproduktprognosemodellen eine bestimmte Vorstellung iiber den Adoptionsprozess zugrunde liegt, wird der Einfluss der Werbung auf den Diffusions- und Adoptionsprozess dargestellt sowie auf einzelne Phasen und Determinanten eingegangen. Kapitel 3 gibt den aktuellen Forschungsstand der Werbewirkungsmessung in der Testmarktforschung wieder. Ausgehend von einer allgemeinen Beschreibung der Testmarktsimulation und der Integration der Werbewirkungsmessung erfolgt eine Gegeniiberstellung ausgewahlter Awareness-Modelle der Neuproduktprognose. Die Modellienmg des Awarenessprozesses erfordert zunachst Einsichten hinsichtlich der Wahmehmung neuer Produkte, des Aufbaus der sich daraus entwickelnden Markenbekanntheit sowie deren Einfluss auf die Kaufentscheidung. Insofem wird im theoretischen Kapitel 4 ein Uberblick iiber die relevanten Modelle der Werbewirkung gegeben, um zu verdeutlichen, auf welchen Ebenen Werbewirkung stattfmdet und damit auch prinzipiell erfassbar sein sollte. Weiterhin steht die Wirkungsbeziehung zwischen Kontakthaufigkeit als quantitativem Bestimmungsfaktor sowie der Kontaktbewertung als qualitativer Determinante der Werbebekaimtheit im Mittelpunkt der Ausfuhrungen. An dieser Stelle werden die teilweise kontraren Befunde der Literatur diskutiert und zu kongruenten Erkenntnissen verdichtet. Die Frage nach der erforderlichen Anzahl an Werbekontakten sowie deren zeitlichen Verteilung zur Erzielung einer bestimmten Markenbekanntheit ist nach wie vor ein Schwerpunkt in der Werbewirkungsforschung. Mit der Untersuchung des Einflusses der Wiederholung von Leminhalten auf das Erinnerungsvermogen liefert die Lemforschung wichtige Anhaltspunkte far die Wirkungsweise von Werbung. Kapitel 5 widmet sich deshalb den theoretischen Ansatzen, die zur Erklarung von Lemprozessen hinsichtlich des Aufbaus von Markenbekanntheit herangezogen werden konnen. Der kurzen Darstellung empirischer Lemtheorien folgt eine Beschreibung der Grundstrukturen und Funktionsprinzipien derjenigen Himsysteme, die mit dem Gedachtnis und dem Lemprozess nach derzeitigem Forschungsstand in Verbindung stehen. Es gilt die im Zusammenhang mit der Markenbekanntheit vorherrschenden Theorien der Werbewirkungsforschung mit den aktuellen neurophysiologischen Erkenntnissen zu iiberpriifen und somit diese weitgehend unverbundenen Forschungsgebiete zusammenzufahren.

Aufbauend aus den Ergebnissen der lemtheoretischen und neurophysiologischen Studien wird ein theoretisches Grundmodell beziiglich des Aufbaus von Markenbekanntheit durch TVWerbung fur neue Produkte entworfen, welches die Basis fur die Umsetzung in eine praxisnahe Monte Carlo-Simulation in Kapitel 6 bildet. Das Monte-Carlo-Awareness-Modell stellt eine Alternative zu den in Kapitel 3 vorgestellten Modellen dar und verwendet an Stelle einer iterativ-deterministischen Losung das Monte-Carlo-Verfahren. Nach einer ausfiihrlichen Dokumentation des in der Programmiersprache C geschriebenen Simulationsprogrammes, werden anhand des Modells empirische Daten fur 12 FMCGs (aus den Segmenten Fertiggerichte, Spirituosen, Mundhygiene, SiiBwaren, Wasch- und Reinigungsmittel, Kaffee und Frischkase) analysiert und mit den Ergebnissen der anderen Modelle verglichen. Das Datenmaterial ftir die empirische Analyse entstammt dem GfK-Werbeindikator ATS®-Datenbank, welcher als Werbetracking-Instrument^^ eine Gegeniiberstellung der erfassten Anteile der (un-)gestiitzten Werbeerinnerung und der Werbeausgaben im Zeitablauf fur mehr als 500 Marken bereithalt. Der Analysezeitraum beschrankt sich auf die ersten 12 bis 24 Monate des Lebenszyklus der untersuchten Neuprodukteinfuhrungen. Auf Grund der Bedeutung des Werbetragers Femsehen im Rahmen der Neuprodukteinfiihrung beinhalten die Datensatze ausschlieBlich Erinnerungswerte beziiglich der Femsehwerbung/^ AbschlieBend werden in Kapitel 7 die wesentlichen Kemaussagen der Arbeit zusammengefasst sowie kiinftige Forschungsfelder im Bereich der Testmarktforschung aufgezeigt. Die wichtigsten physiologischen Begriffe werden in einem Glossar dem Anhang beigefiigt.

Bei Werbetracking-Studien handelt es sich um kampagnenbegleitende Befragimgen, die in regelmaBigen Abstanden die psychologischen Wirkungen (Aufinerksamkeitswirkung, Kommunikationsleistung und Motivationsandenmg) einer Werbekampagne in Form eines Panels erfassen. Neben der gestutzten Werbeerinnerung werden z.B. auch die spontane und medienspezifische Werbeerinnerung, erinnerte Werbeinhalte sowie Imagedimensionen abgefragt Vgl. die ausfuhrliche Darstellung des Leistungsspektrums des GfKWerbeindikators bei Hogl, S./ Hubel, W. (1990): Der GfK-Werbeindikator - Anwendung und Weiterentwicklung, in: Planung und Analyse, 17. Jg., Heft 3, S. 91-96. Der Stellenwert der Femsehwerbung innerhalb des Marketing-Mix wird in Kapitel 2.2 erlautert. Siehe dazu auch Erichson, B. (1998): Dimensionen der Testmarktsimulation, in: Erichson, B./ Hildebrandt, L. (Hrsg.) (1998): Probleme und Trends in der Marketing-Forschung, Stuttgart, S. 212.

2

Stellenwert der Werbung innerhalb des Marketing-Mix

Wahrend der Beitrag des Marketing auf den Innovationserfolg empirisch mehrfach belegt ist werden konnte^^, erkannten bereits vor 20 Jahren Horsky und Simon, dass „one of the more important marketing activities to accompany the product's introduction is advertising"^^ Die herausragende Bedeutung innerhalb des absatzpolitischen Instrumentariums, die der Werbung schon damals bei der Neuprodukteinfuhrung beigemessen wurde, hat sich auf Grund der Zunahme des Produktangebotes in vielen Teilmarkten verstarkt. Die wachsende Angebotsdifferenzierung im Bereich der FMCGs ist als Reaktion der Hersteller auf die durch Sattigungserscheinungen und verktirzte Produktinnovationszyklen gepragten Teilmarkte zu sehen. Andererseits unterscheiden sich die meisten neuen Produkte nur unwesentHch in ihren Produkteigenschaften (mit Ausnahme der echten Innovationen bzw. New-to-the-worldProdukte), sodass die Qualitatsunterschiede innerhalb einer Warengruppe fur den Konsumenten objektiv kaum mehr nachvollziehbar sind. Zusatzlich hat die groBe Anzahl an jahrlichen Produktneueinfuhrungen zur Folge, dass die meisten dieser Neuheiten ohne Werbung kaum mehr eine Marktchance haben. Allein im Lebensmitteleinzelhandel kommen pro Jahr ca. 27 000 neue Produkte auf den deutschen Markt.^^ Aus den Verbraucherpanels der GfK ist jedoch bekannt, dass ein Haushalt im Jahr durchschnittlich 438 unterschiedliche FMCGs kauft, von denen allein 180 Artikel neu sind. Damit zeigt sich, dass der eigentliche Engpass fur die Neuprodukteinfuhrung der Verbraucher ist und weniger der Handel. Das Hauptaugenmerk der Hersteller gilt folglich der Schaffung von Aufmerksamkeit fur das neue Produktangebot in Verbindung mit dem Aufbau von Markenbekanntheit. Vor allem in hart umkampften Markten wird mit einer hohen Konzentration des Werbeeinsatzes innerhalb der Werbeflut von etablierten Produkten und Neueinfuhrungen die Aufmerksamkeit der Konsumenten zu erreichen versucht. ErfahrungsgemaB erfordert dabei die Markteinfuhrung eines neuen Pro-

Vgl. Fritz, W. (1990): Marketing - ein Schlusselfaktor des Untemehmenserfolges, in: Marketing ZFP, 12. Jg., Heft 2, II. Quartal, S. 91-110; Siehe auch die Ubersicht uber Befiinde der Arbeiten von Cooper und Kleinschmidt sowie anderer Autoren in Ernst, H. (2001): Erfolgsfaktoren neuer Produkte, 1., Aufl., Wiesbaden, S. 20-26 und 29-34. Horsky, D./ Simon, L.S. (1983): Advertising and the Diffusion of New Products, in: Marketing Science, 2. Jg., Heft (Winter), S. 1-17. Vgl. Twardawa, W. (2004): Der Weg zurtick zur Herstellermarke, in: Nachhaltig erfolgreiche Markenfiihrung - Von den Champions lemen, GfK Panel Services Consumer Research GmbH, GfK Numberg e.V. (Hrsg.), Numberg 2004, S. 69 zit. nach Geis, G.I Wildner, R. (2004): Markterfolge durch Innovation, in: Jahrbuch der Absatz- und Verbrauchsforschung, 3/2004, S. 223. Siehe dazu auch die Aussage von Herm W. Twardawa (Division Manager GfK AG) in o.V. (2004): Marketing Efficiency - Produktivitat und Innovation, in: Absatzwirtschaft Sonderheft 2004, S. 66.

dukts im Vergleich zu etablierten Produkten mindestens das Eineinhalbfache an Werbeaufwendungen.^^ Auf der Herstellerseite wird der groBe Stellenwert der Werbung bei der Neuprodukteinfiihmng innerhalb des Marketing-Mix an den vergleichsweise hohen Werbeausgaben sichtbar. So sind Werbeinvestitionen in Hohe von 50 bis 100 Millionen Dollar in den USA fiir die nationale Einfuhrung eines neuen Konsumgiiterprodukts keine Seltenheit.^^ Allein fur die Einfiihrungswerbung der Geschirrspiilmittelmarke Fairy Ultra im Jahr 1992 wurden ca. 50,9 Millionen Dollar ausgegeben.^^ Die deutschlandweite Markteinftihrung der Marke Plax (Mundhygiene) verschlang im Zeitraum zwischen 1989 und 1991 rund 20,5 Millionen Euro, wobei fast zwei Drittel auf Kommunikationsaktivitaten (v.a. in Form von Werbung) entfiel.'^^ Mit der Neuprodukteinfuhrung der Toilettenpapiermarke Charmin im Januar 2002 waren allein im ersten Jahr schatzungsweise iiber 10 Millionen Euro an Werbeausgaben geplant."^^ Der gleiche Betrag wurde fiir die TV- und Printkampagne des neuen kohlensaurefreien Mineralwassers Naturell des Sprudelproduzenten Gerolsteiner aufgewendet, um der Marke einen Marktanteil von 10 Prozent innerhalb von zwei Jahren zu verschaffen?^ Die Marke PerwoU erreichte mit einem Launch-Etat von insgesamt 4 Millionen Euro (Leitmedium war TV) ein halbes Jahr nach der Einfiihrung der Magic-Range eine gestiitzte Markenbekanntheit zwischen 65 und 75 Prozent."^^ Eine Befragung von Marketingexperten beziiglich geschatzter Werbebudgets fiir die Etablierung einer neuen Marke im deutschen Biersektor innerhalb eines Zeitraumes von fiinf Jahren ergab im Durchschnitt geschatzte Marketingkosten in Hohe von 90 Millionen Euro (ohne F&E-Kosten). Ftir die Etablierung eines neuen Shampoos wurden fiir den gleichen Zeitraum durchschnittlich 49 Millionen Euro

Vgl. Sissors, J.Z./ Bumba, L. (1995): Advertising Media Planning, 5. Aufl., Lincolnwood, S. 418. Vgl. Aaker, D.A./ Keller, K.L. (1990): Consumer Evaluations of Brand Extensions, in: Journal of Marketing, 54. Jg, Nr. 1, S. 27. Hinter diesen hohen Einfuhrungskosten, die in der Folgezeit nicht einmal von den erzielten Umsatzen und Gewinnen gedeckt wurden, stand die strategische Zielsetzung, sich kunftig in dem dicht besetzten deutschen Markt fiir Geschirrspulmaschinenmittel zu etablieren. Vgl. Braun, I./ Schiele, T.P./ Schlickmann, P. (1996): PWA Waldhof. Die Markenpolitik eines expandierenden Untemehmens, in: Dichtl, E./ Eggers, W. (Hrsg.) (1996): Markterfolg mit Marken, Miinchen, S. 157; Nickel, V. (1999): Mehrwert Werbung, Bonn, S. 19 f. Vgl. Diller, H./ Bukhari I. (1996): Plax. Die Etablierung einer Marke, in: Dichtl, E./ Eggers, W. (Hrsg.) (1996): Markterfolg mit Marken, Munchen, S. 46. o.V. (02.11.01): Procter weckt den schlafenden Riesen. http://www.lz-net-net.de/news/topnews/pages/ showmsg.prl.?id=24435&type= 1. o.V. (2003): Trends und Markte, in: Spiegel 04/2003, S. 69. Vgl. Berdi, C. (2005): Magisches Brand Stretching, in: Absatzwirtschaft Sonderausgabe zum MarkenAward2005, S. 110.

veranschlagt, wahrend im Sektor Tafelschokolade ca. 77 Millionen Euro investiert werden mtissen.'^'^ Versucht man den Erfolgsbeitrag der einzelnen Komponenten des Marketing-Mix zu ermitteln, so haben im Rahmen der KommunikationsmaBnahmen sowohl der Werbedruck als auch die Werbequalitat den groBten Einfluss auf den Marktanteil.^^ Gerade in der Einftihrungsphase neuer Produkte konnte im Rahmen einer Single-Source-Studie^^ der hohe Einfluss der Werbeausgaben bestatigt werden. Wahrend das Werbevolumen den Absatz eingeftihrter Produkte in 33 Prozent der Falle erhohte, war bei neuen Produkten zu 55 Prozent ein Absatzzuwachs zu beobachten."^^ Dariiber hinaus war ein signifikant positiver Zusammenhang zwischen der absoluten Werbebudgethohe und dem Umsatzwachstum (r = 0.37) als auch zwischen dem Werbedruck und dem Marktanteilswachstum (r = 0.38) in der Einftihrungsphase nachweisbar."^^ Das Gewicht des Werbetragers Femsehen im Intermedia-Vergleich^^ ist in erster Linie darauf zuriickzufiihren, dass auf Grund der hohen Geratedichte ein vergleichsweise schneller Aufbau von hohen Reichweiten sowie eine hohe Kontaktfrequenz innerhalb eines kurzen Zeitraumes moglich sind.^^ Beides sind Voraussetzungen zur Schaffung einer frtihen Wahmehmung der

Vgl. Sattler, H. (1997): Das Millionenspiel, in: Absatzwirtschaft, 40. Jg., Nr. 12, S. 88. Vgl. Hogl, S./ Wildner, R. (1997): So wirkt Werbung im Marketing-Mix - Die neue Effektivitat der Werbung. Empirische Studie der GWA/GfK, in: GWA (Hrsg.) (1997): GWA-Publikation "Erfolgsbeitrage der Werbung", Frankf./ Main, S. 9, 29. Siehe auch zu den Erfolgswirkungen des Werbebudgets auf den Werbeerfolg Marquardt, R.A./ Murdock, G.W. (1984): The sales-advertising relationship: An investigation of correlations and consistency in supermarkets and department stores, in: Journal of Advertising Research, 24. Jg., Nr. 5, S. 55-60. Mit dem Begriflf Single Source-Studie wird ein ganzheitlicher Untersuchungsansatz umschrieben, welcher den Zusammenhang zwischen gescannten Kaufdaten und erfasstem Medienverhalten der einzelnen Haushalte eines bestimmten Testgebietes aufdeckt,. Neben BehaviorScan (IRI, GfK) existiert noch Nielsen als Anbieter dieses Testansatzes auf dem deutschen Markt. Vgl. Kolblin, M. (1994): Werbeforschung, in: Tomczak, T./Reinecke, S. (Hrsg.) (1994): Marktforschung. St. Gallen, S. 260-261. Vgl. Lodish, L.M. et al. (1995): How Advertising Works: A Meta-Analysis of 389 Real World Split Cable TV Advertising Experiments,, in: Journal of Marketing Research, 32. Jg., Nr. 2, S. 125-139. Damit stiitzen diese Ergebnisse eine fruhere Untersuchung und lassen auf eine dynamische, im Verlauf des Produktlebenszyklus tendenziell abnehmende Werbeelastizitat schlieBen. Vgl. Parsons, L.J. (1975): The Product Life Cycle and Time Varying Advertising Elasticities, in: Journal of Marketing Research, 12. Jg., Nr. 4, S. 476480. Vgl. Schiirmann, U. (1992): Erfolgsfaktoren der Werbung im Produktlebenszyklus - Ein Beitrag zur Werbewirkungsforschung, Frankf /Main u.a., S. 155-158. Im Rahmen des Intermedia-Vergleichs wird auf der Grundlage von Mediaanalysen (z.B. Allensbacher Werbetrager-Analyse) eine Bewertung einzelner Medienkategorien oder Medienkombinationen hinsichtlich ihrer Werbewirkungen (z.B. Nutzungsverhaltens) durchgefuhrt, um die Erfolg versprechendste Kombination fur eine geplante WerbemaBnahme zu bestimmen. Vgl. Diller, H. (Hrsg.) (2001): Stichwort "IntermediaVergleich", in: Vahlens groBes Marketing Lexikon, 2., voUig uberarb. und erw. Aufl., Miinchen, S. 678. Vgl. Hultink, E.J. et al. (2000): Launch Decisions and New Product Success: An Empirical Comparison of Consumer and Industrial Products, in. Journal of Product Innovation Management, 17. Jg., Nr. 1, S. 14-16.

10 Marke und schnellen Durchdringung der Zielgmppe mit Informationen iiber das neue Produktangebot. Die Wahmehmung neuer Produkte wiederum beeinflusst maBgeblich das Kaufverhalten.^^ GemaB einer Studie des Werbezeitvermarkters IP rangiert Femsehwerbimg in Deutschland nach wie vor an erster Stelle unter den Informationsquellen iiber Markenprodukte.^^ Zusatzlich bewirkt die multisensorische Ansprache (in Bild, Ton, Bewegung, Farbe) eine Intensivierung der Botschaftsvermittlung, sodass die Wiedererkennung der Marke in der Einkaufsstatte als ein wesentliches Markenbekanntheitsziel forciert wird.^^ Gleichzeitig zeichnet sich dieses Medium durch seine starke kommunikative Kraft aus, mittels derer es gelingt, die zunehmend wichtiger werdende Emotionalisierung flir haufig austauschbare FMCGs aufzubauen.^"^

2.1

Werbeflut und Rezeptionsbedingungen von TV-Werbespots

Von den insgesamt ca. 20 Mrd. Euro Netto-Werbeumsatzen im Jahr 2005 steht der Werbetrager TV mit einem Anteii von 20 Prozent am Gesamtvolumen an zweiter Stelle hinter den Tageszeitungen und kann daher als wichtigster nationaler Werbetrager angesehen werden.^^ Ungeachtet seines Stellenwertes ist dieses kostenintensive Medium allerdings gekennzeichnet durch sinkende Werbeeffizienz. Dieser Umstand ist zu einem groBen Teil auf den Eintritt der privaten Femsehsender in die Medienlandschaft Mitte der 80er Jahre zuruckzufuhren, die sich ihre Finanzierung ausschlieBlich iiber Werbeeinnahmen sicherten. Da die durchschnittliche Femsehdauer seit Mitte der 90er Jahre mit ca. drei Stunden pro Tag weitgehend unverandert geblieben ist,^^ ist die Zunahme an Programmen mit einer verringerten Reichweite fiir den

Vgl. Kolblin, M. (1994): Werbeforschimg, in: Tomczak, 1.1 Reinecke, S. (Hrsg.) (1994): Marktforschung. St. Gallen,S. 260-261. o.V. (1999): Markenbewusstsein: Rat von der Mutter, in: Wirtschaftswoche, Nr. 23, S. 124. Hinsichtlich der Akzeptanz von Werbung in der deutschen Bevolkerung verzeichnete die Verbrauchs- und Mediaanalyse ebenfalls eine positive Entwicklung. So gaben immerhin 56,8 Prozent der Befragten im Jahr 2002 an, dass Werbung einen hilfreichen Uberblick iiber das Warenangebot verschaffe (Vorjahr: 54,7 Prozent). Angaben uber die quantitativen und qualitativen Reichweiten sind der Media-Analyse, eine von der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse e.V. und Media-Micro-Census GmbH durchgefuhrte Untersuchung iiber Werbetrager der Bundesrepublik, zu entnehmen. Informationen uber das Medienverhalten der deutschen Wohnbevolkerung in Privathaushalten halt die Allensbacher Werbetrageranalyse (AWA) bereit. Vgl. Rossiter, J.R./ Danaher, P.J. (1998): Advanced Media Planning, Boston, Dordrecht, London, S. 51. Vgl. Tostmann, T./ Trautmann, M. (1993): Die Femsehwerbung in Deutschland: Status und Perspektiven, in: Bemdt, R./ Hermanns, A. (Hrsg.) (1993): Handbuch Marketing - Kommunikation, Wiesbaden, S. 433. Vgl. ZAW (Hrsg.) (2005): Werbung in Deutschland, Bonn. Vgl. van Eimeren, B.I Ridder, C.-M. (2002): Mediennutzung im neuen Jahrtausend - Langzeittrends und Entwicklungen in Deutschland, in: Cross-Media Management, S. 61-88. Kroeber-Riel, W./ Weinberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, 8. Aufl., Munchen; Jung, H. (1999): Medienexplosion, in: Geffken, M. (Hrsg.) (1999): Das groBe Handbuch Werbung, Landsberg, S. 40, 49.

n^ einzelnen Werbespot und damit insgesamt einen Riickgang des Share of Voice^^ verbunden. Konnten sich 1993 noch drei Viertel der Zuschauer nach dem achten Kontakt an einen Spot erinnem, fuhrte drei Jahre spater die gleiche Kontaktanzahl nur noch bei 49 Prozent zu einer Werbeerinnerung.^^ Die Folge ist eine sinkende Werbewirksamkeit, die sich durch neue Technologien, wie z.B. den digitalen Festplattenrecorder, mittels derer sich Werbung gezielt ausblenden lasst, verstarkt."^^ Ursache fur die abnehmende Effizienz der Werbekontakte ist zum einen die begrenzte Aufmerksamkeitskapazitat des Zuschauers"^^, welche eine wesentUche Grundvoraussetzimg flir die (bewusste) Wahmehmung und Verarbeitung von (Werbe-)Reizen ist. Zum anderen zahlt Femsehwerbung nicht zu denjenigen Informationen, nach denen der Zuschauer gezielt sucht. Sie stellt vielmehr eine meist unliebsame Unterbrechung des gewiinschten Programms dar, sodass die Rezeption von Femsehwerbung ohnehin von einer eher beilaufigen bis abwehrenden Haltung des Zuschauers gepragt ist und dementsprechend einer geringen Aufmerksamkeit gegeniiber dem Werbemittel ausgegangen werden muss."^^ Laut einer Studie des Gong-Verlags (Basis 1000 Interviews) geben 39,9 Prozent der Zuschauer bei einer Werbeunterbrechung an, auf andere Sender umzuschalten (zappen), 61,8 Prozent verlassen den Raum (Toilette, Getrankeholen etc.), wahrend lediglich 13 Prozent der Befragten Werbung tatsachlich ansehen."^^ Die geringe innere Beteiligung (Engagement), mit welcher sich die Konsumenten der Kommunikation zuwenden, fuhrte in der Werbewirkungsforschung zum Paradigma des sog. Low-Involvement."^^

Der Share of Voice setzt die erreichten Zielgruppenkontakte der eigenen Marke ins Verhaltnis zu den Gesamtkontakten des Konkurrenzfeldes Vgl. Diller, H. (Hrsg.) (2001): Stichwort "Share of Advertising", in: Vahlens groBes Marketing Lexikon, 2., vQllig uberarb. und erw. Aufl., Munchen, S. 1541. Vgl. Wiencken, M.-P. (1999): Effektivitat und Effizienz der Werbung: Fallbeispiel TV, Papier, prasentiert anlasslich der 4. Fachtagung des OWM am 22./23.4. 1999 in Hamburg, zitiert nach Turner, S. (1999): Die Effektivitat der Werbung, in: Geffken, M. (Hrsg.) (1999): Das groBe Handbuch Werbung, Landsberg, S. 161. Vgl. Fosken, S. (2005): Die Sender haben ein Problem - Die Technik ist zu schnell, in: Absatzwirtschaft, 48.Jg.,Nr.7,S.84-85. Die physiologisch begrenzte menschliche Aufiiahmekapazitat ist Gegenstand des Kapitel 5.2.3. Die Untersuchung AWA 2004 des Instituts ftir Demoskopie Allensbach zeigte: 53,7 Prozent der Deutschen stehen TV-Werbung generell ablehnend gegeniiber, 24,7 Prozent sind unentschieden und 21,7 Prozent sind fur TV-Werbung gegenuber aufgeschlossen. Vgl. Vogel, S. (2004): Was kostet die Langeweile?, in: Absatzwirtschaft Sonderheft 2004, S. 48. Die geringe Aufmerksamkeit gegenuber TV-Werbung konnte durch neurophysiologische Untersuchungen bestatigt werden. Siehe dazu Kapitel 5.2.4. Vgl. Vogel, S. (2004): Was kostet die Langeweile?, in: Absatzwirtschaft Sonderheft 2004, S. 46; Cameron, G.T./ Krugman, D.M./ White, CM. (1995): Visual Attention to Programming and Commercials: The Use of In-home Observations, in: Journal of Advertising, 24. Jg., Nr. 1, S. 1-12; Morgan, A. (1999): Eating the big fish. How Challenger Brands Can Compete Against Brand Leaders, New York, S. 17. Siehe zum Begriff des Involvement Kapitel 3.1.3. Vgl. auch Kroeber-Riel, W./ Esch, F.R. (2000): Strategic und Technik der Werbung - Verhaltenswissenschaftliche AnsStze, 5., vollig neu bearb. und erw. Aufl., Stuttgart, S. 133-141.

12

2.2

Schliisselfunktionen der Einfiihrungswerbung

Bei der Einfuhrung neuer Produkte besteht die Aufgabe der Werbimg in erster Linie darin, den Verbraucher iiber die Existenz des neuen Produkts zu informieren und ein Kaufbediirfnis zu erzeugen. Als zentrales Werbeziel im Rahmen der Neuprodukteinfuhnmg ist daher der Aufbau von Markenbekanntheit zu sehen, d.h. die Kenntnis einer Marke i.S. der Gelaufigkeit Oder Bewusstseinsprasenz des jeweiligen Markennamens."^"^ Die besondere Relevanz dieses Ziels begriindet sich aus der Theorie des Relevant Set, wonach Konsumenten insbesondere bei Konsumgiitem des taglichen Bedarfs in erster Linie auf bekannte Produkte zuruckgreifen.^^ Die Produkteigenschaften der FMCGs gleichen sich bedingt durch den starken Wettbewerb in immer ktirzerer Zeit an, sodass das Kriterium der Markenbekanntheit i.S. einer Gedachtnisprasenz zum kaufbestimmenden Ausloser wird."^^ Auch vor dem Hintergrund des Verbraucherverhaltens in Deutschland ist die Markenaktualitat ein wichtiger Bestandteil der Kaufentscheidung. Wahrend in England oder Frankreich maximal zwischen zwei Marken gewechselt wird, umfasst das Relevant Set des deutschen Konsumenten im Durchschnitt 3,9 Marken pro Warengattung (FMCGs), da sich in Deutschland iiber die Halfte der Konsumenten an Sonderangeboten orientiert oder Eigenmarken bevorzugt."^^ Hier liegt die Bedeutung der Werbung in der Wahmehmung der Markenattraktivitat, da Preissenkungen und Promotionsaktivitaten langfristig eine Marke erodieren.

Die aus iibergeordneten Untemehmens- und Marketingzielen abgeleiteten Werbeziele verandem sich im Verlauf des Produktlebenszyklus. Vgl. dazu Rossiter, J.R./ Percy, L. (1997): Advertising Communications and Promotion Management, 2. Aufl., New York, S. 12; Steffenhagen, H. (1976): Markenbekanntheit als Werbeziel. Theorie und Operationalisierung, in: Zeitschrift fur Betriebswirtschaft, 52. Jg., Heft 10, S. 715734. Das Relevant Set bezeichnet die Menge von Produkten, die dem Konsumenten am Beginn eines Kaufentscheidungsprozesses bekannt sind und als akzeptabel fur die Bedtirfiiisbefriedigung angesehen werden. Durch die Voraussetzung der Produktbekanntheit, um in die Auswahl bei der Kaufentscheidung zu kommen, stellt es eine Teilmenge des Awareness-Set dar, d.h. die Menge der insgesamt bekannten Marken. Diese umfasst neben dem Relevant-Set auch abgelehnte Marken (Inept Set) und die Marken, zu denen weder positive noch negative Einschatzungen bestehen (Inert Set). Vgl. Diller, H. (Hrsg.) (2001): Stichwort "Praferenzpolitik", in: Vahlens groBes Marketing Lexikon, 2., vollig uberarb. und erw. Aufl., Miinchen, S. 1281f Vgl. Cooper, L.G./Nakanishi, M. (1988): Market-Share Analysis, Boston u.a., S. 69ff Vgl. Geffken, M. (2000): Gewicht der Marken, in: WirtschaftsWoche, Nr. 42, S. 134.

13

Neben der Bekanntmachung tibt die Einfuhrungswerbung fur FMCGs nachfolgend aufgefiihrte Funktionen aus: -

Vermittlung von Produktinformationen

-

Auslosen von Probierkaufen: Diese sind das Resultat der durch Werbung hervorgerufenen Nutzenerwartungen der Konsumenten."^^

-

Beeinflussung der Markenwahrnehmung:'^^ Die dem Probierkauf vorausgegangene Werbung kann eine negative Verwendungserfahrung abmildem bzw. einen positiven Einfluss auf die Markenwahmehmung und -einstellung bei neutraler Produkterfahrung bedingt durch die objektiv schwer bestimmbare Produktqualitat - ausiiben.^^

-

Schaffen von Handelsakzeptanz:^^ Die Bekanntheit des neuen Produktangebotes kann ohne dessen Verftigbarkeit im Handel nicht zum Kauf fuhren. Insofem hat die Handelsstufe neben der notwendigen Verbraucherakzeptanz die Funktion einer Pradeterminante fiir den Einfiihrungserfolg neuer Produkte.^"^ Oftmals ermoglicht nur der Einsatz des Femsehens als Basismedium der Werbeaktivitaten die Gewahrleistung der von Handelsseite geforderten hohen Umschlaggeschwindigkeit.^^ Die auf den Endverbraucher gerichteten WerbemaBnahmen konnen dann indirekt einen Nachfragesog auf den Handel austiben (Pull-Strategie). Die Bereitschaft des Handels, ein neues Produkt aufzunehmen und aktiv zu fuhren, d.h. hinsichtlich der Platzierung, der Preisgestaltung und der

Vgl. Hammann, P./ Erichson, B. (2000): Marktforschung, 4., uberarb. u. erw. Aufl., Stuttgart, S. 462. Vgl. Kempf, D.S./ Smith, R.E. (1998): Consumer Processing of Product Trial and the Influence of Prior Advertising: A Structural Modeling Approach, in: Journal of Marketing Research, 35. Jg., Nr. 3, S. 325. Vgl. Anderson, R.E. (1973): Consumer Dissatisfaction: The Effect of Disconfirmed Expectancy on Perceived Product Performance, in: Journal of Marketing Research, 10. Jg., Nr. 1, S. 38-44; Deighton, J./ Schindler, R.M. (1988): Can Advertising Influence Experience?, in: Psychology and Marketing, 5. Jg., Nr. 2, S. 103-115; Olson, J.C./ Dover, P.A. (1979): Disconfirmation of Consumer Expectations Through Product Trial, in: Journal of Applied Psychology, 64. Jg., Nr. 2, S. 179-189; Smith, R.E. (1993): Integrating Information from Advertising and Trial: Processes and Effects on Consumer Response to Product Information, in: Journal of Marketing Research, 30. Jg., Nr. 2, S. 204-219. Vgl. Sebastian, K.-H. (1985): Werbewirkungsanalysen fiir neue Produkte, Wiesbaden, S. 4-5. Vgl. Becker, J. (2002): Marketing-Konzeption: Grundlagen des strategischen und operativen MarketingManagements, Munchen, 7. Aufl., S. 518. Laut einer Gemeinschaftsstudie der GfK (Niimberg) und der Agentur Serviceplan (MUnchen) haben Marktneuheiten eine 70 prozentige Erfolgsaussicht, wenn diese 10 Tage nach der Einfuhrung bereits in den Supermarktregalen liegen. Vgl. Lindner, E. (09.09.2006): Jede Menge Ladenhuter - Studie: Drei von vier neuen Artikeln fmden keine Kaufer, in: Numberger Nachrichten vom 09.09.2006, S. 23. Das Problem der Gewahrleistung von Distribution liegt zum einen in den zwischen Hersteller und Handel bestehenden Machtverteilung, die sich durch zunehmende Konzentration und Pluralisierung von Handelsleistungen zugunsten der Handelsseite verschoben hat, und zum anderen an der Vielzahl der Neueinflihrungen, denen lediglich eine begrenzte Kapazitat an Regalplatzen gegeniibersteht.

14 Verkaufsfbrderung auch eine aus Herstellersicht zieladaquate Unterstiitzung zu gewahren, ist somit direkt und indirekt von dessen werblichen Aktivitaten abhangig. Uberwindung von Markteintrittsbarrieren: Diese korinen durch Wettbewerber und deren Goodwill, die Schwierigkeiten einer Produktlistung auf Handelsebene als auch durch das gewohnte Kaufverhalten der Konsumenten bestehen. Ausschopfen der zeitlich begrenzten Vormachtstellung im Markt:^"^ Der Wettbewerbsvorteil des Neuheiteneffekts ist auf Grund der zunehmend verkiirzten Produktlebenszyklen und Nachahmungszeiten der Wettbewerber von kurzer Dauer, sodass dessen werbliche Ausnutzung nur in der Einfiihrungsphase strategisch sinnvoll ist. Werbeaussagen zur Neuheit eines Produkts gelten anfangs als tiberdurchschnittlich wirksam, einen Markenwechsel herbeizufiihren. Mit der Zeit nimmt dieser Effekt jedoch ab, da durch die Werbung eine gewisse Informationssattigung erreicht wird und Nachahmerprodukte in den Markt treten. Aufbau von Markenwert:^^ Strategisch betrachtet ist Werbung eine Investition in den Goodwill bzw. in den Markenwert. Eine strategisch orientierte Markenfuhrung beginnt deshalb konsequenterweise bei der Einfuhrung der neuen Marke, denn der Status des Markenartikels setzt per definitionem eine hohe Bekanntheit (Awareness) voraus, die es durch WerbemaBnahmen zu schaffen gilt. Werbung schafft Wahmehmung fiir eine Marke, welche als Orientierungspunkt fiir den Verbraucher innerhalb der Vielfalt des Produktangebotes zunehmend wichtiger wird. Die Bedeutung der Marke liegt in ihrer Funktion als Werttreiber eines Untemehmens. Markenwert als der zusatzliche Profit/Cash Flow eines markierten Produktes im Vergleich zu einem ansonsten technisch-physikalisch identischen namenlosen Produkt^^ stellt damit eine wichtige Voraussetzung fiir Share-

Vgl. Sebastian, K.-H. (1985): Werbewirkungsanalysen fur neue Produkte, Wiesbaden, S. 5f. Einen Beitrag iiber die Diskussion Markenwert, dessen Verbindimg zur Werbung und deren kurzfristigen Effekte findet man bei Lukeman, G. (1995): Advertising's role in Managing Brand Equity. What we know from 179 case studies, Presented at the ARF Brand Builder's Workshop, 13-14 February 1995, zitiert nach Brandt, D./ Biteau, B. (2000): Pre-testing and sales validation, in: Admap, 35. Jg., Heft February, S. 23. Vgl. Erichson, B./ Marketzki, J. (1999): Measuring Brand Equity with Panel Data, Vortrag auf dem Second French German Workshop on Quantitative Methods in Marketing, 17./18. September in Montpellier, Frankreich (Vortragsunterlagen), zitiert nach: Maretzki, J. (2001): Preisorientierte Markenwertmessung, Wiesbaden, S. 37. Vgl Baker, P. (1999): Surely there are lasting effects of advertising, in: Admap, 34. Jg., Heft July/August, S. 40-42; Barwise, P. (1999): Advertising for long-term shareholder value, in: Admap, 34. Jg, Heft October, S. 40-42; Butterfield, L. (1998): How advertising impacts on profitability, in: AD VALUE, Issue One, IP A, September 1998, zitiert nach: Baxter, M. (1999): Advertising and profitability: the long-term returns, in: Admap, 34. Jg., Heft July/August, S. 18-19; Erichson, B./ Maretzki, J. (1993): Werbeerfolgskontrolle, in: Bemdt, R./ Hermanns, A. (Hrsg.) (1993): Handbuch Marketing-Kommunikation, Wiesbaden, S. 523.

15 Durchsetzen eines Premiumpreises: Mittels der Werbung kann ein relativ hohes Preisniveau einer Marke durch Herausstellung von Qualitatsmerkmalen gerechtfertigt werden (Beispiel: Asbach-Uralt-Werbung). Der enge Zusammenhang zwischen einer vergleichsweisen intensiven Werbung und der Durchsetzung relativ hoher Endverbraucherpreise konnte in einer Studie von Farris und Reibenstein nachgewiesen werden. ^^

2.3

Einfluss der Werbung innerhalb des Adoptionsprozesses

Innerhalb des Prozesses der Ausbreitung eines neuen Produktes (sog. Diffusionsprozess) stellt die (TV-)Werbung insofem eine treibende Kraft dar, als sie das Angebot des neuen Produktes bekannt machen soil. Dabei stellt der Diffusionsverlauf das aggregierte Ergebnis der individuellen Ubemahmeentscheidungen (Adoptionen) dar und hat die Verteilung des erstmaligen Kaufzeitpunktes (Penetration) zum Gegenstand.^^ Zwar ist der Anteil (Prozentsatz) der Erstkaufer in der Zielgruppe^^ ein wichtiger Indikator der Marktdurchdringung, allerdings schlieBt die Nichtberiicksichtigung von Wiederkauf- und KaufVolumenaspekten den Einsatz von Difftisionsmodellen bei der Erfolgsprognose neuer FMCGs aus. Deren Markterfolg wird mittel- und langfristig von den Wiederholungskaufen bestimmt.^^ Gelten Erstkaufe in erster Linie als Reaktion auf die durch Werbung und Produktaufmachung erzeugten Nutzenerwartungen der Konsumenten, lasst die Hohe der Wiederkaufe auf die Kundenzufriedenheit und somit den tatsachlichen Produktnutzen schlieBen. Aus Tabelle 1 ist die Bedeutung der Werbung auf den Adoptionsprozess ftir den Fall zu geringer Erstkaufe bei hoher Wiederkaufrate ersichtlich („Sparflanime"), da es nicht gelungen ist, eine ausreichende Anzahl an Konsumenten fur das Produkt zu interessieren. Dies fiihrt langfristig ebenso zu einer Gefahrdung des Einfuhrungserfolges wie die Nichterfiillung der durch intensive Kommunikation gestiitzten Erwartungen der Konsumenten („Strohfeuer").

Vgl. Baker, P. (1999): Surely there are lasting effects of advertising, in: Admap, 34. Jg., Heft July/August, S. 23; Farris, P.W./ Reibenstein, D.J. (1979): How prices, ad expenditures, and profits are linked, in: Havard Business Review, 57. Jg., Nr. 6, S. 178. Vgl. Gierl, H. (1995): Diffusion, in: Tietz, B./ Kohler, R./ Zentes, J. (Hrsg.) (1995): Handworterbuch des Marketing, 2. vollig neu gestalt. Aufl., Stuttgart, Sp. 470. Mit der Erstkauferrate wird die Anzahl der Kunden an der Zielgruppe erfasst, die bis zum Betrachtungszeitpunkt mindestens einmal gekauft haben. Vgl. Erichson, B. (1999): Testmarktsimulation, in: Herrmann, A./ Homburg, Ch. (Hrsg.) (1999): Marktforschung, Wiesbaden, S. 794.

16

Tabelle 1: Situationen der Einfiihrung eines neuen Produktes

Zahl der Wiederkaufe

Zahl der Erstkaufe

hoch

niedrig

Erfolg

"Strohfeuer"

"Sparflamme"

Misserfolg

hoch niedrig

Quelle: Hammann, P./ Erichson, B. (2000): Marktforschung, 4., uberarb. u. erw. Aufl., Stuttgart, S. 463.

Um den Einfluss der Werbung auf die Wahmehmung eines neuen Produktes und damit auf die Ubemahme von Neuerungen im Zeitablauf differenzierter erfassen zu konnen, wird im Rahmen von Adoptionsmodellen der individuelle Ubemahmeprozess darunter einzelne Phasen gegliedert, angefangen von der Nichtkenntnis einer neuen Marke bis zu deren (regelmaBigen) Verwendung. Adoptionsmodelle ermoglichen es somit neben der Zeit auch andere Faktoren, die das Wachstum beschleunigen oder verzogem, in die Prognose einzubeziehen. Die explizite Beriicksichtigung einzelner Phasen des Adoptionsprozesses, welche der Abbildung 1 zu entnehmen sind, fuhrt zu einem besseren Verstandnis iiber mogliche Einflussfaktoren und das Zustandekommen der Prognoseergebnisse.

Abbildung 1: Der Neuproduktadoptionsprozess fiir FMCGs

Wahmehmung (Awareness)

Erstkauf (trial)

—•

Einstellungsbildimg

—•

Wiederkauf (repeat)

Quelle: Hammann, P./ Erichson, B. (2000): Marktforschung, 4., uberarb. u. erw. Aufl., Stuttgart, S. 213, 464.

17

Da der Markterfolg eines neuen Produktes neben der Werbung auch von der Produktqualitat, dem Preis, der Verpackimg und einer ausreichenden Distribution beeinflusst wird, besteht auch im Rahmen der Testmarktsimulation die Schwierigkeit, die Werbewirkung^^ auf die Kaufsimulation zu isolieren (Problem der Zurechnungsvaliditat).^^ Modelle zur okonomischen Werbeerfolgsmessung, wie z.B. das STAS-Modell von Jones^"^, welches die kurzfristige Wirkung der Mediawerbung auf die Umsatze erfasst, sowie das von der GfK entwickelte okonomische Advertising-Response-Modell (ARM)^^, das unter Beriicksichtigung aller Marketing-Mix-Variablen die Wirkung der Werbung auf den Verkauf quantifiziert, benotigen Vergangenheitsdaten und sind deshalb nur for etablierte Marken anwendbar. In der Neuproduktprognose umgeht man das Problem, indem der Adoptionsprozess in mehrere Wirkungsebenen zerlegt wird. Auf diese Weise wird nicht die unmittelbar okonomische Werbewirkung methodisch gelost, sondem der gesamte Adoptionsprozess in mehrere Stufen zerlegt, wobei auf jeder Ebene Teilprognosen wiederum den Input fur die nachste Stufe bilden. Abbildung 2 verdeutlicht das Grundkonzept eines derartigen Marktmodells einschlieBlich der fur relevant erachteten Einflussfaktoren in den einzelnen Phasen. Unterschiede zwischen den am Markt befindlichen Prognosemodellen ergeben sich in erster Linie hinsichtlich der unterstellten Auswirkungen der Marketinginstrumente auf den Ubergang zwischen den einzelnen Ebenen bzw. Berechnungsstufen.

Eine ausfiihrliche Darstellung des Begriffs Werbewirkung erfolgt in Kapitel 4 im Rahmen der Vorstellung der in der Literatur anzutreffenden Werbewirkungstheorien. Da diese Problematik bereits Gegenstand zahlreicher Veroffentlichimgen ist, sei an dieser Stelle auf den Artikel von Erichson, B./ Maretzki, J. (1993): Werbeerfolgskontrolle, in: Bemdt, R./ Hermanns, A. (Hrsg.) (1993): Handbuch Marketing-Kommunikation, Wiesbaden, S. 536 f. verwiesen. Vgl. dazu Jones, J.P. (1995a): When Ads Work: New Proof that Advertising Triggers Sales, New York. Vgl. Ellinghaus, U. (2000): Werbewirkung und Markterfolg, Miinchen; Hogl, S./ Wildner, R. (1997): So wirkt Werbung im Marketing-Mix - Die neue Effektivitat der Werbung. Empirische Studie der GWA/GfK, in: GWA (Hrsg.): GWA-Publikation "Erfolgsbeitrage der Werbung", Frankf / Main, S. 11-53.

18

Abbildung 2: Das idealisierte Marktmodell Werbedruck - Reichweite - Frequenz

Produktqualitat Distribution

Werbequalitat Preis

Verpackungsqualitat Werbequalitat

Werbeeriimerung (advertising awareness)

Kaufmtensitat

Regalplatz

Markenbekanntheit (brand awareness)

M

Erstkauf

M Wiederkauf M

Marktanteil

Mediagewicht Promotion Share of Advertising

Sampling

Quelle: Erichson, B. (1997), internes Arbeitspapier des Lehrstuhls fur Marketing der Ottovon-Guericke Universitat Magdeburg, Magdeburg.

Im Rahmen der Testmarktsimulation wird der Fokus auf die Werbeerinnerung gelegt, da man davon ausgeht, dass die durch Werbung bewirkte Gedachtnisveranderung dem KaufVerhalten vorausgeht. Desweiteren wird dieses Kriterium auf Grund seiner Position am Anfang des Adoptionsprozesses in geringerem MaBe durch andere Variablen und auch weniger durch das KaufVerhalten selbst beeinflusst als nachfolgende Ebenen (z.B. Markenbekanntheit, Erst- oder Wiederkauf). SchlieBlich hat die kiirzere Wirkungskette zwischen den Werbeaktivitaten und der Werbeerinnerung geringere Storeffekte zur Folge und vereinfacht somit eine kausale Zuordnung.

2.4

Zusammenfassung

Die groBe Bedeutung von Werbung innerhalb des absatzpolitischen Instrumentariums bei der Neuprodukteinftihrung wurde in mehrfacher Hinsicht verdeutlicht. Die intendierte Markenbekanntheit fur das neue Produkt iibt von Anfang an einen entscheidenden Einfluss auf den gesamten Adoptionsprozess aus. Zu geringe Werbeanstrengungen fiihren zu einer ent-

Siehe dazu auch Erichson, B./ Maretzki, J. (1993): Werbeerfolgskontrolle, in: Bemdt, R./ Hermanns, A. (Hrsg.) (1993): Handbuch Marketing-Kommunikation, Wiesbaden, S. 549 t

19 sprechenden Unkenntnis iiber das neue Produktangebot auf Verbraucherseite. Die fehlende Markenaktualitat fiihrt dazu, dass in der Kaufsituation die betreffende Marke nicht im Relevant Set des Konsumenten vorhanden ist und deshalb auch nicht gekauft wird. Der Zwang zum schnellen Aufbau von Markenbekanntheit in der Einfuhrungsphase, der sich aus dem Ausnutzen des Neuheiteneffektes sowie den ohnehin verkiirzten Produktlebenszyklen ergibt, lasst das Femsehen innerhalb der klassischen Werbetrager (TV, Print, Funk, Plakat und Kino) auf Grund seiner vergleichsweise hohen Reichweite als Leitmedium in der Einfuhrungsphase als besonders geeignet erscheinen. Die beschriebenen Kommunikationsbedingungen des Werbetragers Femsehen einerseits und das Nutzungsverhalten der Konsumenten andererseits charakterisieren jedoch die aktuellen Herausforderungen, die bei der Modellierung von Markenbekanntheit zu beriicksichtigen sind. Durch die Aufnahme des Konstruktes der Wahmehmung (Awareness) als relevanter Einflussfaktor im Rahmen des Kaufentscheidungsprozesses ist eine hohere Prognosegiite bei der Schatzung der Penetration zu erwarten. Die Wahmehmung der Werbung fiir eine neue Marke wird damit zu einer wesentlichen Pradeterminante fur den Aufbau von Markenbekaimtheit und letztendlich fur das KaufVerhalten.

21

3

Prognosegegenstand Markenbekanntheit

3.1.1

Markenbekanntheit als Werbewirkungskriterium

Die Bedeutung des Konstmktes Markenbekanntheit (brand awareness) als Werbewirkungskriterium und seine Kaufverhaltensrelevanz ergibt sich aus der zugrunde liegenden explorativen Kaufsituation. Kaufentscheidungen fur FMCGs werden in aller Regel spontan in der Einkaufsstatte gefallt, da das (finanzielle) Risiko einer falschen Entscheidung gering ist.^^ Begiinstigt wird der Markenwahlprozess durch die Tatsache, dass der Konsument beim Kauf neuer Produkte oftmals von Neugier, Interesse und der Aussicht auf Belohnung geleitet wird. Dieses als "variety seeking" bezeichnete Verhalten des Markenwechsels trotz Zufriedenheit mit bisher verwendeten Produkten basiert auf dem Wunsch nach Abwechslung. Gleichzeitig muss das durch Werbung geweckte Kaufbediirfnis beziiglich der Marke zum Kaufzeitpunkt erinnert werden, d.h. die durch die Werbung bewirkte Markenbekanntheit ist entscheidend zur Uberbriickung der Zeitspanne zwischen Werbekontakt und Kaufakt.^^ Dabei sind nicht ausschlieBlich die aktiv abrufbaren Markenkenntnisse kaufauslosend, sondem bereits ein durch konventionelle Erinnerungsabfragen nicht erfassbares, generelles Vertrautsein mit der Marke. Wissenschaftler gehen zunehmend davon aus, dass Kaufentscheidungen iiberwiegend unbewusst geschehen und versuchen mittels modemer bildgebender Verfahren zur Messung der Himaktivitat den Nachweis zu erbringen, dass der Kaufminsch im Unterbewusstsein entsteht.^^ Aber auch unbewusste Kaufwoinsche setzen eine Vorstellung im Gehim iiber die betreffende Marke voraus, um verhaltenswirksam werden zu konnen. Die Schatzung der Markenbekanntheit hat entsprechend seiner Bedeutung ftir das Kaufverhalten in der Testmarktsimulation eine wichtige Rolle. Als MaB for die Bekaimtheit von Marken bzw. Produkten wird im Rahmen der Kontrolle des kommunikativen Erfolgs der sog. Recall (Nennung) erhoben. Die Abfrage der ungestiitzten (unaided) Markenbekaimtheit erfolgt dabei lediglich unter Vorgabe der Produktkategorie, z.B. „Welche Universalwaschmittel kennen

Vgl. Bansch, A. (2002): Kauferverhalten, 9., durchges. und erg. Aufl., Munchen, Wien, S. 179. Vgl. Brovm, G. (1994): The Awareness problem, in: Admap, 29. Jg., Heft January, S. 18; Brown, G./ Farr, A. (1994): Enhancement: Zu den verzogerten Wirkungen von Werbung, in: Planung und Analyse, 21. Jg., Heft 3, S. 13-14; Vgl. Vakratsas, D./ Ambler, T. (1999): How Advertising Works: What Do We Really Know?, in: Journal of Marketing, 63. Jg., Nr. 1, S. 26-43. Vgl. Coulter, R.A./ Zaltman, G./ Coulter, K.S. (2001): Interpreting Consumer Perceptions of Advertising: An Application of the Zaltman Metaphor Elicitation Technique, in: Journal of Advertising, 30. Jg., Nr. 4, S. 1-22; Pink, D.H. (04.04.2004): Metaphor Marketing, in: FastCompany online, http://pf.fastcompany.com/ magazine/14/zaltman.html. Siehe zum Einfluss unbewusster Gedachtnisinhalte auf das Kaufverhalten die Ausfjhrungen in Kapitel 5.2.3

22 Sie?". Es zeigt die „aktive Markenbekaimtheit" bzw. spontane Bekanntheit an^°, welche im Rahmen von iiberlegten, geplanten und bewussten Kaufentscheidungen relevant ist, da es die Zahl der generell zu beriicksichtigenden Altemativen begrenzt^^ Wird dagegen die Kaufentscheidung - wie im Falle von FMCGs - spontan in der Kaufsituation getroffen, ist die Erhebung der „passiven Markenbekanntheit", d.h. der gesttitzten (aided) Markenbekanntheit ausreichend. Hierbei erhalt der Befragte Hilfestellungen in Form von vorgegebenen Markennamen bzw. Abbildungen der Marke (Wiedererkennung bzw. Recognition).^"^ Die Vorteilhaftigkeit der passiven gegeniiber der aktiven Markenbekanntheit als Prognosevariable fiir KaufVerhalten konnte auch in einer Untersuchung bestatigt werden. Insbesondere fur Warengruppen mit hoher Kauffrequenz ist zu vermuten, dass die ungestiitzte Markenbekanntheit nicht nur eine Vorstufe zum Kauf, sondem auch eine Folge von Kaufverhalten und Produkterfahrung ist.^^ Allerdings handelt es sich bei der Markenbekanntheit um ein auBerordentlich komplexes Konstrukt, welches durch Werbung, Distribution und/oder Promotionsaktivitaten beeinflusst wird und deshalb nicht undifferenziert als Einflussvariable in die Neuproduktprognose eingehen kann. Zu unterscheiden ist, auf welche Weise Kenntnis von dem Produkt erlangt wurde. So konnen Konsumenten ausschlieBlich durch den Produktkontakt im Supermarktregal von dem neuen Angebot erfahren (Markenbekanntheit durch Distribution^"^) und/oder durch (TV-) Werbung informiert werden (Markenbekanntheit durch Werbung).^^ Abbildung 3 zeigt mogliche Bestimmungsfaktoren der Markenbekanntheit auf, wobei die Couponverteilung ftir die Bekanntmachung neuer Produkte trotz geanderter Gesetzeslage nach wie vor eine untergeordnete Rolle in Deutschland spielt. Ebenso wird der Einfluss der Mund-zuMund-Kommunikation auf die Konsumentenwahmehmung als eher gering erachtet.

Vgl. Erichson, B./ Maretzki, J. (1993): Werbeerfolgskontrolle, in: Bemdt, R./ Hermanns, A. (Hrsg.) (1993): Handbuch Marketing-Kommunikation, Wiesbaden, S. 547. Vgl. Kroeber-Riel, W./ Weinberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, 8. Aufl., Munchen, S. 363f. Vgl. Erichson, B./ Maretzki, J. (1993): Werbeerfolgskontrolle, in: Bemdt, R./ Hermanns, A. (Hrsg.) (1993): Handbuch Marketing-Kommunikation, Wiesbaden, S. 547. Vgl. Erichson, B./ Maretzki, J. (1993): Werbeerfolgskontrolle, in: Bemdt, R./ Hermanns, A. (Hrsg.) (1993): Handbuch Marketing-Kommunikation, Wiesbaden, S. 549 f. Vgl. dazu Heeler, R.M. (1986): On the Awareness Effects of Mere Distribution, in: Marketing Science, 14.Jg.,Nr. 3, S.273. Vgl. Sissors, J.Z./ Bumba, L. (1995): Advertising Media Planning, 5. Aufl., Lincolnwood, S. 3.

23

Abbildung SiBestimmungsgroBen der Markenbekanntheit Werbeerinnerung (advertising awareness)

Distribution

Kaufverhalten

konsumentenorientierte Verkaufsfbrderung

Sampling

Couponing

Persbniiche Kommunikation

starker Einfluss ^

3.1.2

sciiwaciier Einfluss

Werbeerinnerung als Teilkomponente der Markenbekanntheit

Der Einfluss der Werbung auf den potenziellen Konsumenten ist grundsatzlich als langfristiger Prozess anzusehen, der mit Verzogerungen stattfindet. Werbung muss zunachst wahrgenommen und im Gedachtnis verankert werden, um bei der nachsten Kaufgelegenheit in irgendeiner Form eine Wirkung hervorrufen zu konnen. Die Fahigkeit eines Werbemittels Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen wird im Werbemittelpretest durch die Erinnerungsleistung gemessen, da Erinnerungsdaten sowohl auf die Starke der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Werbemittel sowie auf die Verstandlichkeit der Werbebotschaft reagieren. Inwieweit eine derartige Gedachtnisveranderung durch die Werbung erreicht wurde, wird durch die kognitiven Wirkungsindikatoren ungestiitzte (spontane, unaided) und gestiitzte (aided) Werbeerinnerung (advertising awareness) gemessen und neben anderen MaBen, wie z.B. der Einstellung zum Werbemittel, Sloganbekanntheit, Sympathie, durch sog. TrackingUntersuchungen in ihrem zeitlichen Verlauf erfasst. Die aus diesen Datenbanken gewonnenen generalisierbaren Erkenntnisse zur Werbewirkung werden in die Entwicklung von Awareness-Modellen eingebracht, wobei sich die genannten gedachtnisbasierten Indikatoren hinsichtlich ihrer Eignung als Parameter fur ein Awareness-Modell einer Bewertung zu unterziehen haben.

24

Um wirksam Markenkanntheit erzeugen zu konnen, ist es notwendig, dass die Werbung iiberhaupt wahrgenommen wird. Im Rahmen der Erhebung der Aufmerksamkeitsstarke einer Kampagne werden in Erhebungsinstrumenten (z.B. GfK-Werbeindikator) in Wellenbefragungen fortlaufend u.a. die WirkungsmaBe ungestutzte Werbeerinnerung (Recall, Nennung), z.B. „Fur welche Marken haben Sie in letzter Zeit Werbung gesehen?", und gestutzte Werbeerinnerung (Recognition, Wiedererkennung), „Haben Sie fiir Marke x Werbung gesehen?", herangezogen.^^ Sie stellen fur sich eigenstandige Methoden dar, welche unterschiedliche Gedachtnisinhalte erheben.^^ Beide ErinnerungsmaBe wurden hinsichtlich ihrer Aussagefahigkeit in der Vergangenheit immer wieder stark diskutiert.^^ So gilt trotz der nachweisbaren Korrelation beider MaBe die gestutzte Erinnerung als sensitiver und differenzierender als der Recall und vermindert sich mit der Zeit, wobei die hohere Trennscharfe der gestiitzten Werbeerinnerung gegeniiber der ungestiitzten nicht durch alle Experimente bestatigt werden konnte.^^ Weitgehende Einigkeit herrscht zumindest dahingehend, dass sowohl der Recall als auch das Recognition-MaB einen notwendigen, allerdings nicht hinreichenden Indikator fiir Werbewirkung darstellen. Beide werden durch die emotionale Komponente des Werbestimulus beeinflusst. Vergleicht man die WerbewirkungsmaBe (ungestiitzte und gestutzte) Recall (Erinnerung) sowie Recognition (Wiedererkennung) hinsichtlich ihrer Eignung als Prognosevariable innerhalb der Neuproduktprognose, so ist zunachst auf die generelle Fahigkeit des Gehims, eine groBe Anzahl von Bildem mit groBer Genauigkeit nach einer beachtlichen Zeitspanne wiederzuerkennen, hinzuweisen. Fiir eine Aussage, inwieweit es dem Werbemittel

Eine Beschreibung des Trackinginstruments GfK-Werbeindikator findet sich bei Hogl, S,/ Hubel, W. (1990): Der GfK-Werbeindikator - Anwendung und Weiterentwicklung, in: Planung und Analyse, 17. Jg., Heft 3,8.91-96. Vgl. Anderson, J.R./ Bower, G.H. (1972): Recognition and Retrieval Processes in Free Recall, in: Psychological Review, 79. Jg., Nr. 2, S. 98-102, 116, 119-122; Dyne, A.M./ Humphreys, M.S./ Bain, J.D./ Pike, R. (1990): Associative Interference Effects in Recognition and Recall, in: Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, 16. Jg., Nr. 5, S. 821-823; Kasprik, R. (1994): Werbewirkung auf dem Priifstand: Konsequenzen aus der Kaufentscheidungsforschung, Gedachtnisforschung und Sozialpsychologie fur das Werbemittel-Pretesting, in: Marketing ZFP, 16. Jg., Heft 4, S. 251; Stapel, J. (1998): Recall and Recognition: A Very Close Relationship, in: Journal of Advertising Research, 38. Jg., Nr. 4, S. 41-45. Siehe auch die neurophysiologischen Befunde in Kapitel 5.2.1.1. Vgl. Du Plessis, E. (1994): Recognition vs. Recall, in: Journal of Advertising Research, 34. Jg., Nr. 3, S. 75-91; Singh, S.N./ Rothschild, M.L./ Churchill, G.A. (1988): Recognition Versus Recall as Measures of Television Commercial Forgetting, in: Journal of Marketing Research, 25. Jg., Nr. 1, S. 72-80; Thorson, E./ Friestad, M. (1988): The Effects of Emotion on Episodic Memory for Television Commercials, in: Cafferata, P./ Tybout (Hrsg.): Cognitive and Affective Responses to Advertising, New York, S. 14-22; Zielske, H.A. (1982): Does Day-After-Recall Penalize "Feeling" Ads?, in: Journal of Advertising Research, 22.Jg.,Nr. 1,S. 19-23. Siehe Ambler, T.I Bume, T. (1999): The Impact of Affect on Memory of Advertising, in: Journal of Advertising Research, 39. Jg., Nr. 2, S. 29.

25 gelungen ist, einen Beitrag zum Aufbau der Markenbekanntheit zu leisten, ist es jedoch notwendig, dass neben einer hohen Wiedererkennung dem Werbemittel auch die richtige Marke zugeordnet wird. Dass eine derartige Absenderanbindung im Rahmen der Erhebung von Recognition-Werte nicht immer vorausgesetzt werden kann, verdeutlicht Abbildung 4, welche den Anteil der richtigen Absenderanbindung an der Gesamthohe der Wiedererkennungswerte ausweist. Zudem misst das Recognition-Mai3 den tatsachlichen Werbemittelkontakt, was beim Pretest durch die forced exposure Situation in der Regel sichergestellt ist. Die Aussagefahigkeit des Recognition-Mafies beztiglich des Beitrags der Werbung zur Schaffimg von Markenbekanntheit ist somit insgesamt gesehen unbefriedigend.

Abbildun g4: Wiedererkennen von TV-Spots/Anzeigen und Absenderzuordnung

TV Spot 1 24

TV Spot 2

J • Recognition nrichtigeZuordnung

io|

Anzeige 1

201

Anzeige 2

Anzeige 3

4 1

3

5

10

15

20

25

30

35

Quelle: Hogl, S./ Hubel, W. (1990): Der GfK-Werbeindikator - Anwendung und Weiterentwicklung, in: Planung und Analyse, 17. Jg., Heft 3, S. 95.

Auf der anderen Seite verringert das Mafi der ungestiitzten Werbeerinnerung die wahre Werbeerinnerung in hohem MaBe. Zeigt eine Gedachtnispriifung keine Erinnerung an, ist es unzulassig, daraus einen fehlenden Gedachtnisbesitz abzuleiten. Die Unfahigkeit, sich an etwas zu erinnem, ist nicht gleichbedeutend, dass es vergessen wurde. Komplettes Vergessen zeigt sich

26 erst daran, dass man die beworbene Marke nicht mehr wiedererkennt.^^ Zudem basiert das Abfragekriterium des unaided Recall auf der Vorstellung, dass die potenzielle Werbewirkung mit Erinnerbarkeit oder mit bewussten Gedachtnisleistungen verbimden ist. Eine derartige Verkniipfung unterstellt jedoch implizit, dass das KaufVerhalten von bewussten Erinnemngen gesteuert wiirde. Handlungen werden jedoch oftmals von Motiven geleitet, die den Individuen nicht bewusst sind.^^ Es kann somit davon ausgegangen werden, dass sich auch die Werbewirkungen auf das KaufVerhalten in groBen Teilen im Unterbewusstsein vollziehen, d.h. Verbraucher konnen teilweise nicht begrunden, wieso sie ein Produkt kaufen oder eine Marke praferieren.^^ Dies gilt in verstarktem MaBe fiir neue Produkte, da hier keine Verwendungserfahrung vorliegt, die eine Markenpraferenz (z.B. durch Geschmacksargumente) erklaren konnte.^^ Ausschlaggebend fur das KaufVerhalten wird somit eine „empfundene Markenaktualitat", die durch den gestiitzten Recall operationalisiert wird. Werbung muss im Falle spontaner Kaufentscheidungen nicht bewusst memoriert werden, da der Konsument bei gegebener Distribution ohnehin durch den Produktkontakt im Verkaufsregal einen „Erinnerungsanker" erhalt. Es geniigt, wenn durch die Gedachtniswirkungen am Einkaufsort (POS) eine auf das Produkt iibertragene Aktualitat und Attraktivitat ausgelost werden. Die schnelle Wahmehmung eines Produktes als aktuelles und attraktives Angebot aus einer Vielzahl von Konkurrenzprodukten ist umso bedeutender, wenn man bedenkt, dass ein Kunde durchschnittlich nur 3,44 Sekunden aufwendet, um ein Produkt auszuwahlen. Im Rahmen der Neuproduktprognose ist es somit sinnvoll, die gestutzte Werbeerinnnerung als Prognosevariable heranzuziehen, um Messfehler

Eine Vielzahl der Studien wurde vor dem Hintergrund des unbekannten Verhaltnisses zwischen Recognition und Recall durchgefuhrt. So fand Zielske heraus, dass der Recall von TV-Werbung durchschnittlich 29 Prozent unter dem korrespondierenden Recognition-Wert lag. Im Fall der Zeitschriftenwerbung lag der Recall-Wert sogar durchschnittlich um 62 Prozent unter dem dazugehorigen Recognition-Ergebnis. Vgl. Zielske, H.A. (1982): Does Day-After Recall Penalize „Feelings" Ads?, in: Journal of Advertising Research, 22. Jg., Nr. 1, S. 19-23. Vgl. dazu auch Krugman, H.E. (1972): Why three Exposures May Be Enough, in: Journal of Advertising Research, 12. Jg., Nr. 6, S. 11-14. Vgl. Grolle, J./ Traufetter, G. (2001): Das falsche Rot der Rose, in: Der Spiegel, 1/2001, S. 155. Vgl. Scheier, C. (2006): Das Unbewusste messbar machen, in: absatzwirtschaft, Nr. 10, S. 43: Diese Annahme wird durch neurophysiologische Experimente gesttitzt. Siehe dazu Kapitel 5.2.3. Vgl. Grunewald, S./ Szymkowiak, F. (1997): Die Psychologic der Werbewirkung, in: Planung und Analyse, 24. Jg., Heft 2, S. 48. Vgl. Esch, F.-R. (2003): Warum einfaches Marketing fur den Erfolg entscheidend sein kann, in: Absatzwirtschaft, 46. Jg., Nr. 12, S. 47.

27

aufgrund der Abfrage eines ungesteuerten Erinnerungsprozesses oder eines falschen Markenbezugs (Vampir-Effekt) auszuschlieBen.^^ Der Erinnerungsanker ist dabei relevant zur Kaufentscheidung zu wahlen, wie z.B. Produktgattung bzw. Marke. Einen zusammenfassenden Uberblick iiber die Awareness-Typologie sowie die zugehorigen WerbewirkungsmaBe gibt Abbildung 5.

Abbildung 5: Awareness-Terminologie: Werbeerinnerung (advertising awareness) und Markenbekanntheit (brand awareness)

AWARENESS

brand awareness

advertising av/areness

(Markenbekanntheit)

(Werbeerinnerung)

gestijtzt (aided)

passive Markenbekanntheit

ungestijtzt (unaided)

aktive Markenbekanntheit

Recall

Recognition (Wiedererkennung)

Messen des realisierten Kontaktes

(Erinnerungsdaten) ungestutzt (unaided)

gestutzt (aided)

Erinnerungsanker: Produktgattung bzw. Marke nicht aile gespeicherten Stimuli werden erinnert

Die eigentlich zu prognostizierende Variable innerhalb der Neuproduktprognose TESI ware die „Markenbekanntheit durch Werbung". Allerdings standen nur Daten beziiglich der gestutzten Werbeerinnerung zur Verfiigung, sodass eine empirische Uberprufung samtlicher Awareness-Modelle nur anhand des Wirkungskriteriums gesttitzte Werbeerinnerung m6glich war.

28

3.1.3

Relevante Einflussfaktoren der Werbeerinnerung

Ftir den Aufbau von Werbeerinnerung sind auf quantitativer Ebene in erster Linie folgende Einflussfaktoren maBgebend:^^ -

die Reichweite, d.h. die Anzahl der Personen mit mindestens einem Kontakt,

-

die Frequenz (Kontakthaufigkeit),

-

die Kontaktsumme, d.h. die Gesamtzahl der Kontakte iiber Personen und Werbetrager,

-

die Kontaktverteilung, d.h. die Anzahl der Personen mit einem, zwei, drei oder mehr Kontakten,

-

der Share of Voice, d.h. der Kontaktanteil einer Marke an der Gesamtheit aller Kontakte in der betreffenden Produktklasse und

-

der Share of Mind, als durchschnittlicher individueller Kontaktanteil einer Marke (je Zielperson).

Bine zentrale Voraussetzung for die Wahmehmung einer Werbung sind die Werbemittelkontakte, welche durch die Reichweite als den (prozentualen) Anteil der Zielpersonen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einem bestimmten Zeitraum Kontakt mit einem bestimmten Werbetrager (Programmanbieter) hatten, defmiert ist.^^ Werden im Rahmen einer Werbekampagne mehrere Werbetrager geschalten, so wird die Summe aller Einzelreichweiten als Bruttoreichweite^^ in Prozent oder auch als Gross Rating Points (im Folgenden: GRPs) definiert. Die GRPs summieren alle Kontakte mit Zielpersonen und prozentuieren diese Summe auf die Zielgruppengrofie. Da das Konzept der GRPs ein MaBfiirdie Gesamtkontakte ist, die ein gegebenes Budget erreichen kann, gibt es keine Informationen iiber den Anteil der erreichten Zielpersonen. Die Anzahl der GRPs ist gleich dem Produkt aus Reichweite, d.h. der Prozentanteil der Bevolkerung, der einen oder mehrere Kontaktmoglichkeiten hat, und der Kontakthaufigkeit als durchschnittliche Anzahl der Kontaktmoglichkeiten, die der Streuplan momentan liefert. Die 100 GRPs konnten entstanden sein, indem die Halfle der Zielgruppe

Vgl. Erichson, B./ Maretzki, J. (1993): Werbeerfolgskontrolle, in: Bemdt, R./ Hermanns, A. (Hrsg.) (1993): Handbuch Marketing-Kommunikation, Wiesbaden, S. 546. Vgl. Diller, H. (Hrsg.) (2001): Stichwort "Reichweite", in: Vahlens grofies Marketing Lexikon, 2., vollig tiberarb. und erw. Aufl., Munchen, S. 1482. Der Anteil der iiberhaupt erreichten Zielpersonen, die mindestens einmal in Kontakt mit der Werbekampagne kamen, wird demgegeniiber als Nettoreichweite der Kampagne bezeichnet. Vgl. Diller, H. (Hrsg.) (2001): Stichwort "Reichweite", in: Vahlens grofies Marketing Lexikon, 2., vollig iiberarb. und erw. Aufl., Munchen, S. 1482.

29 iiberhaupt erreicht wurde, wobei pro erreichter Person im Durchschnitt zwei Kontakte entstanden sind (100 GRP = 50 Prozent x 2). Die gleiche Kontaktmenge entstiinde allerdings auch, wenn nur 25 Prozent der Zielgruppe erreicht worden waren mit jedoch im Durchschnitt vier Kontakten (100 GRP = 25 Prozent x 4). Es gilt generell zu beachten, dass die Reichweitenerhebung lediglich die GroBe des Publikums am Werbetrager liefert und nicht am einzelnen Werbespot. Ob zum Messzeitpunkt das Femsehprogramm mit Aufmerksamkeit verfolgt wurde, kann nicht eindeutig gefolgert werden. Der gemessene Werbetragerkontakt stellt bestenfalls eine Kontaktchance mit dem Werbemittel dar (Opportunities To See, im Folgenden: OTS)^^, da es durchaus denkbar und nicht abwegig ist, dass wahrend der Werbeunterbrechung trotz Beibehaltung des Senders der Raum verlassen oder eine Nebenbeschaftigung aufgenommen wird. Ebenso beantworten die Mal3e Reichweite, Kontakthaufigkeit und GRP nicht, inwieweit wiederholte Kontakte zur Wirkung der Werbebotschaft beitragen. Die angemessene Bewertung von Folgekontakten ist jedoch eine grundlegende Aufgabenstellung im Rahmen der Prognose der Werbeerinnerung. Ein Hauptproblem im Rahmen der empirischen Werbeforschung ist darin zu sehen, dass nicht eindeutig ist, ob Kontaktwiederholung zumindest eine unabhangige Variable darstellt. Ein Zuwachs an Werbeausgaben muss nicht unbedingt zu mehr Werbekontakten fuhren, da eine steigende Anzahl an Spotschaltungen unter bestimmten Bedingungen (z.B. groBere Intermediaselektion^^) eher die Reichweite als die Kontaktanzahl erhoht. Neben der Anzahl der Kontakte beeinflusst auch deren zeitliche Verteilung die Gedachtniswirkung.^^ Wird der Abstand zwischen den Kontakten zu groB, setzen Vergessensprozesse ein. Neben der Werbequantitat wird die Erinnerungsfahigkeit an die Werbung erheblich durch die Werbemittelqualitat (Gestaltung des Werbespots) und die Werbetragerqualitat bestimmt. Welchen Einfluss bestimmte qualitative Merkmale der Spotgestaltung (z.B. Humor,

Die durchschnittliche Kontaktzahl ergibt sich aus der Division der Kontaktsumme durch die Reichweite, wahrend die tatsachliche Kontaktzahl um diesen Wert streut. Der britische Term „Opportunities To See" (OTS) verdeutlicht den Gelegenheitscharakter (i.S.e. Kontaktchance), der dem Begriff „Werbekontakt" anhaftet. Vgl. hierzu auch Rossiter, J.R./ Danaher, P.J. (1998): Advanced Media Planning, Boston, Dordrecht, London, S. 25. Die Intermediaselektion befasst sich mit der Bewertung und dem Vergleich der Werbewirkungen verschiedener Medien (Femsehen, Radio, Zeitung etc.), um den anvisierten Erfolg einer geplanten WerbemaBnahme durch geeignete Auswahl der Medienkategorie oder -kombination herbeizufuhren. Der Vergleich von Werbetragem innerhalb einer Medienart wird dagegen als Intramedia-Vergleich bezeichnet. Vgl, Diller, H. (Hrsg.) (2001): Stichwort "Intermedia-Vergleich", in: Vahlens groBes Marketing Lexikon, 2., vollig uberarb. und erw. Aufl,, Miinchen, S. 678. Vgl. dazu Klupacek, G.I Seitz, I. (1997): Langer, groBer, ofter - Schliisselworter zum Erfolg?, in: Planung und Analyse, 24. Jg., Heft 2; S. 30-34.

30 Key Visuals^^ etc.) auf die Werbeerinnerung ausiiben, wurde im Rahmen einer Studie von Ellinghaus/Erichson/Zweigle deutlich. Im Ergebnis wurde den Werbeausgaben erwartungsgemaB der starkste Einfluss auf die Werbeerinnerung attestiert, gleichzeitig aber auf erhebliche Wirkungsunterschiede bei gleichem Ausgabenniveau verwiesen.^^ Damit wird deutlich, dass Werbeausgaben lediglich als Surrogat flir die Gesamtheit der werblichen MaBnahmen stehen. Schwer messbare Elemente, wie die Qualitat der Werbemittel und Werbetrager auf die Erinnerungsleistung, werden durch sie nicht erfasst.^"^ Ftir die Abfrage von Erinnerungsleistungen ist eine bewusste Wahmehmung Voraussetzung, die wiederum ein MindestmaB an Aufmerksamkeit erfordert. Die Hohe der Aufmerksamkeit wird bestimmt durch das „Engagement, mit dem sich jemand einem Gegenstand oder einer Aktivitat zuwendet", dem sog. Involvement (Ich-Beteiligung).^^ Dabei bilden geringes (LowInvolvement) und hohes Involvement (High-Involvement) die beiden extremen Auspragungen der graduellen Abstufung dieses theoretischen Konstruktes in der Werbewirkungsforschung. Ein hohes Involvement ist immer mit einer starken Aktivierung und aktiven Haltung der Konsumenten gegenuber der Werbung verbunden, wahrend ein niedriges Involvement immer dann unterstellt wird, wenn eine sehr beilaufige Rezeption der Werbung stattfmdet.^^

Ein Key Visual (Schliisselbild) bezeichnet ein Bildmotiv, das eine werbliche Botschaft enthalt und ein „inneres Bild" der Marke (z.B. lila Kuh von Milka, griines Segelschiff von Beck's Bier oder die Bratpfanne von Fairy Ultra) beim Konsumenten hervorruft. Vgl. Kroeber-Riel, W. (1993): Bildkommunikation, Imagerystrategien ftir die Werbung, Munchen 1993, S. 202. Vgl. Ellinghaus, U./ Erichson, B./ Zweigle, T. (1999): Die Werbewirksamkeit altemativer Gestaltungsformen von TV-Spots: Ein Beitrag zur Quantifizierung der Werbequalitat, Preprint Nr. 27/1999 der Fakultat ftir Wirtschaftswissenschaft der Otto-von-Guericke-Universitat Magdeburg, Magdeburg, S. 13. Siehe dazu auch Abbildung 21. Vgl. Erichson, B./ Maretzki, J. (1993): Werbeerfolgskontrolle, in: Bemdt, R./ Hermanns, A. (Hrsg.) (1993): Handbuch Marketing-Kommunikation, Wiesbaden, S. 536. Kroeber-Riel, W./ Esch, F.R. (2000): Strategic und Technik der Werbung - Verhaltenswissenschaftliche Ansatze, 5., v6llig neu bearb. und erw. Aufl., Stuttgart, S. 133. Krugman als Griinder der Low-Involvement-Theorie operationalisierte seinerseits Involvement als die Anzahl der bewusst bruckenschlagenden Erfahrungen, Verknilpftingen oder personlichen Beziehungen pro Minute, die der Zuschauer zwischen seinem Leben und dem beworbenen Produkt herstellt. Die Verkniipftingen gelten innerhalb einer gewissen Spannbreite als variabel. Vgl, Krugman, H.E. (1965): The Impact of Television Advertising: Learning Without Involvement, in: Public Opinion Quarterly, 29. Jg., Nr. 3, S. 349-356; Krugman, H. E. (1967): The Measurement of Advertising Involvement, in: Public Opinion Quarterly, 30. Jg., Nr. 4, S. 583-596.

31

Beeinflusst wird diese komplexe GroBe durch die Eigenschaflen der Personlichkeit (z.B. Werte, Motive), des Produkts (v.a. Preis, wahrgenommenes Kaufrisiko und zunehmend durch die Marke), der Situation^^ (z.B. Zeitdruck, Kauf- und Konsumsituation), der Medien (Printmedien, elektronische Medien, Zielgruppenorientierung der Medien usw.) und der Aktivierungskraft der Werbemittel (sog. Reaktionsinvolvement, z.B. durch die Gestaltung eines TVSpots).^^ Inwieweit das Programmumfeld bzw. die dadurch entstandene Stimmung beim Zuschauer (z.B. Angst bei Thriller oder positiv-heitere Stimmung bei Comedy) eine positive bzw. negative Wirkung auf die Erinnerung an den Werbeblock ausUbt konnte bisher in Studien nicht einheitlich belegt werden.^^ Abbildung 6 fasst die beschriebenen Einflussfaktoren der Werbeerinnerung zusammen, wobei der oft zu beobachtende Einfluss der Produktverwendung auf die Werbeerinnerung bei der Erstkauferprognose auf Grund der fehlenden Verwendungserfahrung irrelevant ist. Allerdings ist anzumerken, dass der Produktverwendungseffekt auf die Erinnerungswerte ein nicht zu unterschatzendes Problem in der Methodenforschung darstellt, da ein beobachtbarer Anstieg der Werbeerinnerung folglich nicht zukiinftiges Kaufverhalten prognostiziert, sondem unter Umstanden lediglich das vergangene Kaufverhalten widerspiegelt.^^^ Mit diesem Problem sind auch die Daten aus dem Werbeindikator behaftet, welche fiir die Beurteilung der Prognosegiite der Awareness-Modelle herangezogen werden. Die erhobenen Tracking-Daten geben nicht nur den Effekt der Werbeausgaben auf die gestiitzte Werbeerinnerung wieder, sondem beinhalten auch die veranderte Erinnerungsleistung an Werbung aufgrund der Produktver-

Entgegen der herrschenden Auffassung in der Literatur wird das Produktintvolvement gegeniiber dem Einfluss der Situation zunehmend als geringer erachtet, da die Aufmerksamkeit fur eine Werbung nicht nur davon abhangt, ob ein generelles Interesse fur das Produkt besteht, sondem vielmehr, „ob wir uns im Moment dafur interessieren und Zeit dazu haben". Insofem gibt es nicht das High-Involvement-Produkt oder das Low-Involvement-Produkt, sondem Involvement ist immer situationsabhangig. Vgl. Jeck-Schlottmann, G. (1987): Visuelle Informationsverarbeitung bei wenig involvierten Konsumenten, Diss, der Universitat des Saarlandes, Saarbrucken, S. 69-78; S. 216. Vgl. Jeck-Schlottmann, G. (1987): Visuelle Informationsverarbeitung bei wenig involvierten Konsumenten, Diss, der Universitat des Saarlandes, Saarbrucken, S. 69-78; Kroeber-Riel, W./ Esch, F.R. (2000): Strategic und Technik der Werbung - Verhaltenswissenschaflliche Ansatze, 5., vollig neu bearb. und erw. Aufl., Stuttgart, S. 135; Lorson, T. (1992): Entwicklung eines Expertensystems zur Beurteilung von Femsehwerbung, Heidelberg; S. 54. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass je starker die Empflndung der (positiven bzw. negativen) Emotion, d.h. die physiologische Aktivierung ist, desto geringer fallt die Erinnemngsleistung aus. Vgl. Pavelchak, M.A./ Antil, J.H./ Munch, J.M. (1988): The Super Bowl: An Investigation into the Relationship Among Program Context, Emotional Experience, and Ad Recall, in: Joumal of Consumer Research, 15. Jg., S. 360-367; Siehe dazu auch Miiller, H./ Khazaka, D. (1995): Stimmungseinfliisse auf die Wirkung informativer und emotionaler Werbung, in: Marketing ZFP, Heft 3, S. 186-194. Vgl. Ellinghaus, U. (1999): Werbewirkung und Markterfolg - Wer hat, dem wird gegeben, in: Absatzwirtschaft, 42. Jg., Nr. 10, S.91.

32

wendung. Allerdings ist der Einfluss der Gedachtnisprasenz auf die Verwendung erwiesenermafien deutlich hoher als umgekehrt/^^

Abbildung 6:Detemiinanten der Werbeerinnerung quanitative Ebene: Kontaktverteilung

konsumtentenbezogene Ebene: Produktinteresse

Involvement |—•[

qualitative Ebene:

Programmumfeld

3.2

Testmarktsimulation als ein Testverfahren fur neue Produkte

3.2.1

Grundlagen der Testmarktsimulation

Der Simulierte Testmarkt bzw. die Testmarktsimulation (im Folgenden: STM) ist heute das wichtigste Verfahren zur Priifung der Marktchancen von neuen Produkten vor deren Markteinfiihrung. Die allgemeine Vorgehensweise einer Testmarktsimulation besteht darin, ftir jede Testperson den angenommenen Adoptionsprozess unter kontrollierten Laborbedingungen zu simulieren. Gegeniiber dem Regionalen Testmarkt als probeweise Einftihrung eines neuen

Vgl. Ellinghaus, U. (1999): Werbewirkung und Markterfolg - Wer hat, dem wird gegeben, in: Absatzwirtschaft, 42. Jg., Nr. 10, S. 93.

33 Produktes in einem lokal oder regional abgegrenzten Teilmarkt besitzt die STM erhebliche Vorteile hinsichtlich Kosten und Schnelligkeit der Durchfuhnmg. Dariiber hinaus ist die Geheimhaltung von Testprodukt und Testergebnissen vor der Konkurrenz gewahrleistet/^^ Neben der Schatzung des zu erwartenden Marktanteils werden auch diagnostische Informationen zur Verbesserung des Testproduktes bzw. der Marketingplanung bereitgestellt. Mit der Durchfiihrung einer STM sind in erster Linie nachfolgende Zielsetzungen verbun-

Schatzung des mengen- bzw. wertmaBigen Marktanteils oder Marktvolumens^^"^ fur das Testprodukt im Gleichgewichtszustand,

-

Aussagen hinsichtlich des Zeitrahmens, innerhalb dessen der prognostizierte Marktanteil erreicht wird, und eine Schatzung der zeitliche Entwicklung des Marktanteils (Zeitpfadprognose),

-

Gewinnung von diagnostischen Informationen zur Aufdeckung von Starken und Schwachen des Testprodukts und der Marketingkonzeption sowie

-

Schatzung von Kannibalisiemngs- und Substitutionseffekten.

Die meisten STM-Verfahren Ziehen fur ihre Berechnungen sowohl Befragungsdaten (Kaufintentionen, Praferenzen, Einstellungen^^^) als auch simulierte Kaufdaten aus Labormessungen heran. Daneben werden alternative Testmarktverfahren angeboten, die sich entweder ausschlieBlich auf Konsumentenbefragungen stiitzen oder zusatzlich Daten aus dem Verbraucherpanel benotigen. Eine Ubersicht tiber Verfahren der Neuproduktprognose^^^ und

Vgl. zu den Vorteilen der Testmarktsimulation gegenuber altemativen Testmarktverfahren Erichson, B. (1997): Neuproduktprognose mittels Testmarktsimulation, Preprint Nr. 6/1997 der Fakultat fur Wirtschaftswissenschaft der Otto-von-Guericke-Universitat Magdeburg, Magdeburg, S. 14-19. Vgl. Erichson, B. (1998): Dimensionen der Testmarktsimulation, in: Erichson, B./ Hildebrandt, L. (Hrsg.) (1998): Probleme und Trends in der Marketing-Forschung, Stuttgart, S. 116. Im Falle von Marktpionieren ohne bestehende Produktkategorie ist das Testverfahren dahingehend zu modifizieren, als dass zur Prognose anstatt einer Marktanteilsschatzung eine Marktvolumensschatzung vorgenommen wird. Vgl. Erichson, B. (1997): Neuproduktprognose mittels Testmarktsimulation, Preprint Nr. 6/1997 der Fakultat fiir Wirtschaftswissenschaft der Otto-von-Guericke-Universitat Magdeburg, Magdeburg, S. 41. Die Einstellimg bezeichnet die Haltung oder Pradisposition gegenuber einem Gegenstand, in diesem Fall die beworbene Marke. Als Objekt der Einstellung konnen auCer Gegenstande im engeren Sinn (Marken, Hauser etc.) auch Menschen, Sachverhalte oder Situationen betrachtet werden. Vgl. Kroeber-Riel, W./ Weinberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, 8. Aufl., Miinchen, S. 54. Anzumerken ist, dass alle Verfahren die Analyse von Individualdaten einschliefien, sodass die zugrunde liegenden Modelle der Klasse der mikroanalytischen Prognosemodelle zuzuordnen sind. Vgl. hierzu Hammann, P./ Erichson, B. (2000): Marktforschung, 4., uberarb. u. erw. Aufl., Stuttgart, S. 465.

34

das jeweils zugrunde liegende Datenmaterial ist der Abbildung 7 zu entnehmen. Aus der Vielzahl der existierenden Ansatze haben sich v.a. ASSESSOR^^^ (in Deutschland: DESIGNOR), LITMUS^^^ COMP^^^ MICROTEST (Research International, Osterreich), BASES (Infratest, Miinchen), QUARTZ (A.C. Nielsen, Frankfurt), SENSOR (Research International, London), NEWS^^^(BBDO) und TESI (GfK, Niimberg) in der Praxis bewahrt/*^

Abbildung 7: Datenbasis und Verfahren der Neuproduktprognose Daten fiir Neuproduktprognosen I Testmarktsimulation

Markt/ Testmarktdaten 1

Verbraucherpanel

Parfitt/CoUins, FourtAVoodlock, STEAM, Eskin

Umfragen

TRACKER, NEWS, NEWPROD

Kaufintention

BASES

—\ Kaufsimulation

Praferenz/ Einstellung

ASSESSOR, TESI, SENSOR, LTM, COMP

Verfahren fur Neuproduktprognosen

Quelle: Hammann, P./ Erichson, B. (2000): Marktforschung, 4., iiberarb. u. erw. Aufl., Stuttgart, S. 465.

Vgl Silk, A.J./ Urban, G.L. (1978): Pre-Test-Market Evaluation of New Packaged Goods: A Model and Measurement Methology, in: Journal of Marketing Research, 15. Jg., Nr. 2, S. 171-191. Vgl. Yankelovich, Skelly & White (1981): LTM Estimating Procedures, in: Wind, Y./ Mahajan, V./ Cardozo, R. (Hrsg.): New-Product Forecasting: Models and Applications, Lexington, Mass, S. 249-268. Ein von Elrick und Lavidge (Chicago) entwickeltes Verfahren. Es existieren zwei NEWS-Varianten, wobei das ursprungliche Modell unter dem Namen NEWS/Market vertrieben wird und auffruheTestmarktdaten angewiesen ist. Ftir NEWS/Planner werden Daten aus dem Marketingplan, der Konsumentenforschung sowie subjektive Expertenschatzungen als Prognoseinput benotigt. Paneldaten oder Daten aus simulierten Kaufsituationen sind fur die Modellierung somit nicht zwingend erforderlich. Vgl. Pringle, L.G./ Wilson, R.D./ Brody, E.L (1982): A Decision-Oriented Model for New Product Analysis and Forecasting, in : Marketing Science, 1. Jg., Nr. 1, S. 10. Eine Beschreibung und Abgrenzung der Erhebungstechniken sowie der Analysemethoden der Verfahren der Testmarktsimulation in Deutschland ist dem tJbersichtsartikel von Gaul, W./ Baier, D./ Apergis, A. (1996): Verfahren der Testmarktsimulation in Deutschland: Eine vergleichende Analyse, in: Marketing ZFP, 18. Jg., Heft 3, S. 203-217 zu entnehmen.

35 Die nachfolgenden Ausfiihrungen beziehen sich auf TESI, welches bereits iiber 600mal fur Neuprodukttests aus verschiedenen Produktbereichen (FMCGs) international eingesetzt wurde.^^^ Abbildung 8 zeigt die typische Aufbaustruktur des Verfahrens, das sich aus Labormessungen und verschiedenen Computer-Analysen aufbaut/^^

Abbildung 8:Ablauf der Testmarktsimulation TESI

Hauptinterview Werbesimulation 1. Studio

Marktdaten

Kaufsimulation

Marktanteile zuHause

Verwendung

f K

Analyseverfahren

\ )

^

Substitution Diagnose

Nachinterview 2. Studio

Planungsdaten Kaufsimulation

Quelle: Erichson, B. (1997): Neuproduktprognose mittels Testmarktsimulation, Preprint Nr. 6/1997 der Fakultat fiir Wirtschaftswissenschaft der Otto-von-Guericke-Universitat Magdeburg, Magdeburg, S. 21.

Fiir die Labormessung wird eine ausreichende Anzahl von etwa 300 bis 400 Testpersonen aus der Zielgruppe in ein eingerichtetes Teststudio akquiriert.^^"^ Um eine valide Marktanteilsprognose zu gewahrleisten, werden samtliche Einflussfaktoren der Kaufentscheidung, v.a.

Mit dem in Kapitel 6 entwickelten Awareness-Modell wird zudem fur TESI eine Kompatibilitat angestrebt. Vgl. Hammann, P./ Erichson, B. (2000): Marktforschung, 4., uberarb. u. erw. Aufl., Stuttgart, S. 213. Der Standort des Studios wird abseits einer dominierenden Einkaufsstatte gewahlt, um Effekte der Einkaufsstattenwahl auszuschalten. Teilweise werden aus Reprasentanzgrunden mehrere Testmarktsimulationen an unterschiedlichen Orten gleichzeitig betrieben.

36 Produktqualitat und Verpackung, Werbung sowie auch die Platzienmg des neuen Produkts innerhalb der konkurrierenden Produkte, moglichst vollstandig beriicksichtigt. Der Ablauf gliedert sich in folgende 5 Stufen:^^^ -

Hauptinterview: Im Rahmen eines ersten Studiotests werden neben soziodemografischen Merkmalen der Testpersonen auch Informationen iiber Markenbekanntheit, Markenverwendung, vergangenes KaufVerhalten, Praferenz- und Einstellungsdaten fur Marken der Produktklasse, in die das neue Produkt eingeftihrt werden soil, erfragt. Dabei wird diejenige Menge an Marken aus der Produktklasse ermittelt, die fiir die Kaufentscheidung relevant ist (Relevant Set). Nur fiir diese begrenzte Anzahl an Marken werden im weiteren Verlauf Praferenz- und Einstellungsdaten erhoben. Das Hauptinterview dient der Kalibrierung des Modells zur Abbildung des existierenden Markts.

-

Werbesimulation: Zur Erzeugung von Wahmehmung des neuen Produktes wird den Probanden per Video^^^ ein Werbeblock gezeigt, der neben dem Werbemittel fur das zu testende Produkt die Spots der wichtigsten Konkurrenzprodukte (insgesamt werden ftinf bis sieben Spots gezeigt) enthalt. Die Spotfolge wird dabei zufallig variiert, um Reihenfolgeeffekte auszuschlieBen.

-

Kaufsimulation: Diese Phase dient primar der Schatzung der Erstkaufrate (Penetration) des neuen Produkts.^^^ Dazu werden die Probanden an ein nachgebautes Supermarktregal gefiihrt, an welchem sie neben den wichtigsten Konkurrenzmarken auch die Testmarke erwerben konnen. Zur Sicherstellung der Kaufkraft wird im Vorfeld ein bestimmter Geldbetrag zur Verfiigung gestellt, der den Preis des teuersten Produkts iibersteigt. Ein Interviewer erhebt zusatzlich, welche Marke die Testperson gewahlt hatte, wenn die bereits gewahlte Marke nicht vorhanden gewesen ware. Dies wird gemaB der Anzahl der eingangs ermittelten Marken im Relevant Set der jeweiligen Person wiederholt, sodass durch diese Vorgehensweise auch die Markentreue der Konsumenten beriicksichtigt wird.

-

Home-Use-Test (Produktverwendung): Nichtkaufer des Testproduktes erhalten dieses gratis, wahrend die Testproduktkaufer das zweitpraferierte Produkt als Geschenk erhalten.

Vgl. Erichson, B. (1998): Dimensionen der Testmarktsimulation, in: Erichson, B./ Hildebrandt, L. (Hrsg.) (1998): Probleme und Trends in der Marketing-Forschung, Stuttgart, S. 125-127. Es besteht auch die Moglichkeit, Anzeigenwerbung in Zeitschriften zu testen. Eine Kombination beider Werbetrager innerhalb eines Testdesigns ist jedoch nicht moglich. Die Messung anhand des tatsachlichen Kaufverhaltens ist dem (WerbewirkungsmaB) Kaufabsicht insofem vorzuziehen, als sich die absolute Zuverlassigkeit der AuBerung von antizipierten Kaufen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes als eher gering erwiesen hat. Vgl. Hammann, P./ Erichson, B. (2000): Marktforschung, 4., iiberarb. u. erw. Aufl., Stuttgart, in Kapitel Methoden eindimensionaler Einstellungsmessung.

37

Die Teilnehmer werden aufgefordert, die erhaltenen Produkte (ohne Hinweis auf das Testprodukt) im hauslichen Gebrauch zu verwenden. Die Dauer dieser Verwendungsphase richtet sich nach der Verbrauchsdauer bzw. Kauffrequenz in der Produktklasse. Der Home-Use-Test gibt jeder Testperson Gelegenheit, das neue Produkt unter realen Bedingungen kennen zu lemen und eine Einstellung zu diesem zu entwickeln. Nachinterview: Analog dem ersten Studio-Test werden in einem zweiten Studio-Test Praferenz- und Einstellungsmessungen, diesmal unter Einbeziehung des zu testenden Produkts, wiederholt. Am Ende des Tests werden offene Fragen zu Verwendungserfahrungen sowie Likes & Dislikes gestellt und eine Starken-ZSchwachen-Analyse des neuen Produkts ermoglichen. Eine Wiederholung der Kaufsimulation dient der Erhebung des Wiederkaufverhaltens bzw. Aufdeckung etwaiger Kauferwanderungen.

Die gewonnenen Daten werden in ein computergestiitztes Analyseverfahren eingespeist, das mittels zahlreicher Methoden und Modelle eine Prognose des zu erwartenden Marktanteils abgibt.^^^ Neben dem Marktanteil des Testprodukts wird auch der Marktanteilsverlust bereits existierender Konkurrenzmarken (Substitutionseffekte) sowie der anbietereigenen Marken (Kaimibalisierungseffekte) geschatzt. Zusatzlich werden diagnostische Informationen bereitgestellt, welche sowohl die Prognose erklaren als auch eine Verbesserung der Marketingkonzeption ermoglichen (z.B. Starken/Schwachen-Analysen, Positionierungsanalysen, Praferenzanalysen, Segmentierungsanalysen sowie Likes & Dislikes).

3.2.2

Methodische Grundlagen

Grundlage der Prognoserechnung in TESI bildet das Parfitt/Collins-Modell^^^, welches urspriinglich zur Schatzung des „langfristigen" Marktanteils, des sog. Gleichgewichtsmarktanteils, eines neuen Produktes auf der Basis von Haushaltspaneldaten entwickelt wurde. Als Gleichgewichtsmarktanteil wird derjenige Marktanteil verstanden, der sich nach Stabilisierung des Diffusionsprozesses eines neuen Produktes und damit nach der Abflachung seiner

Eine ausfuhrliche Dokumentation des Gnmdmodells findet sich bei Erichson, B. (1987): TESI - Prediction and Diagnosis for New Products, Arbeitspapiere zum Marketing Nr. 20 der Ruhr-Universitat Bochum, Bochum, S. 19-43 und Erichson, B. (1997): Neuproduktprognose mittels Testmarktsimulation, Preprint Nr. 6/1997 der Fakultat fur Wirtschaftswissenschaft der Otto-von-Guericke-Universitat Magdeburg, Magdeburg, S. 25-35. Vgl. Parfitt, J.H./ Collins, B.J.K. (1968): The Use of Consumer Panels for Brand Share Prediction, in: Journal of Marketing Research, 5. Jg., Nr. 2, S. 131-145; Hammann, P./ Erichson, B. (2000): Marktforschung, 4., iiberarb. u. erw. Aufl., Stuttgart, S. 465-470.

38 Penetrationskurve einstellt/^^ Dem Parfitt/Collins - Modell entsprechend wird in TESI der Marktanteil multiplikativ in die Komponenten Erstkaufrate, Wiederkaufrate imd relative Kaufintensitat aufgespalten. Die einzelnen Komponenten des Marktanteils sowie deren Determinanten und die jeweils einflussnehmenden absatzpolitischen Marketinginstrumente zeigt Abbildung 9.

Abbildung 9: Komponenten und Determinanten des Marktanteils Marktanteil

Erhaltlichkeit

Distribution

Erstkaufrate

Bekanntheit

x

Wiederkaufrate der Kaufer

Kaufinteresse

Kommunikation

x relative Kaufintensitat der Kaufer

Zufriedenheit, Praferenz

Preis

Merkmal der Zielgruppe

Produktqualitat

Quelle: Erichson, B. (1999): Testmarktsimulation, in: Herrmaim, A./ Homburg, Ch. (Hrsg.) (1999): Marktforschung, Wiesbaden, S. 794.

Allerdings sind im Rahmen der Testmarktsimulation auf Grund der fehlenden Paneldaten diese Komponenten mithilfe der Befragung oder Erfassung des Verhaltens in der Laborsituation sowie unter Berucksichtigung weiterer Informationen bezuglich der erwarteten Distribution und der Bekanntheit sowie des Einflusses der konkurrierenden Produkte zu schatzen.^^^ Die Schatzung der Erstkaufrate bzw. Kauferpenetration (R) fur das neue Produkt (z) basiert auf den Ergebnissen der Kaufsimulation des 1. Studios.

Vgl. Hammann, P./ Erichson, B. (2000): Marktforschung, 4., uberarb. u. erw. Aufl., Stuttgart, S. 465. Die Methodik wird bei Erichson, B. (1999): Testmarktsimulation, in: Herrmaim, A./ Homburg, Ch. (Hrsg.): Marktforschung, Wiesbaden, S. 798-804 ausfuhrlich behandelt.

39

Sie errechnet sich aus der multiplikativen Verkniipfiing der bedingten Erstkaufrate C, die einen Bekanntheitsgrad und eine Distribution von 100 Prozent unterstellt (Bedingungen im Teststudio), und dem von der Kommunikations- und Distributionspolitik des Herstellers abhangigen Erreichbarkeitsfaktor E:

R._=C.'E{D,B)

(1)

mit Rz

= Kauferpenetration

Cz

= bedingte Erstkaufrate (Penetration)

E

= Erreichbarkeitsfaktor maxir)

(2)

mit Cz = bedingte Penetration Kr = Anteil der Personen, die das Testprodukt an r-ter Stelle gewahlt haben K] = Spontankaufrate d

= Diskontierungsfaktor {020

TV-Kontakte/Person (in 3 IVIonaten)

Quelle: IP Werbewirkungskompass, 7.-30. Welle (1994-1999)

Basis sind allein diejenigen Personen von 14-49 Jahren, die nur uber das Femsehen erreicht wurden. Die Auswertungen basieren auf 48.000 personlich-miindlichen Einzelinterviews der Wellen 7-30 (1994-1999) des WWK (ab der 31. Welle entfielen die Schnelldreher). Fur jede erhobene Marke liegen im Abstand von drei Monaten Befragungsergebnisse uber 20 Variablen zur Markenbekanntheit, -verwendung und beurteilung sowie zur Werbeerinnerung und -beurteilung vor. Lediglich in der Hohe des Wirkungsgewinns unterscheiden sich die Branchen. Deutlich zeigt sich, dass bei den schnelldrehenden Konsumgutem durchweg groBere Zuwachse als bei den Finanzdienstleistungen erzielt werden. Die Erinnerung an Werbung fiir Kaffee und Waschmittel verdoppelt sich nahezu, wenn die Konsumenten 20 Kontakte mit der TV-Kampagne hatten. Etwas geringer fallt der Zuwachs bei den Riegeln (+57 %) und Pralinen (+38 %) aus. Kampagnen weniger bekannter Marken (Markenbekanntheit bis zu 30 %) steigem von Anfang an mit zunehmender Kontaktzahl ihre Wirkung, sie gewiimen besonders im Kontaktkorridor 1-8 deutlich an Werbeerinnerung und erreichen bei 20 Kontakten das Startniveau der bekannteren Marken (Markenbekanntheit > 30 %). Bekannte Marken benotigen mehr als 8 Kontakte, um an Werbewirkung zulegen zu konnen.

102 4.3.2

Qualitative Bestimmungsfaktoren der Werbeerinnerung

Die Rolle von Emotionen^^'^ (synonym:^^^ Gefiihle, Affekte) im Werbewirkungsprozess ist bereits seit den 80er-Jahren verstarkt Thema der Werbewirkungsforschung und fuhrte zu einer veranderten Sichtweise der Werbewirkung. So wiesen eine Vielzahl von Studien den Einfluss von Affekten auf die Werbewirkung nach.^^^ Eine differenzierte Betrachtung von quantitativer und qualitativer Werbewirkung auf den Marktanteil verdeutlicht, dass neben der Werbequantitat (GRPs/Woche) auch die Werbequalitat einen groBen Einfluss auf den Absatz ausiibt.^^^ Inwieweit die Zuschauer einen gesendeten Werbespot tatsachlich wahmehmen und in der Folge, sich an die Werbung erinnem konnen, hangt somit auch von den aufmerksamkeitserregenden Eigenschaften des Werbemittels bedingt durch die kreative Umsetzung der Werbebotschaft ab?^^ Werbequalitat wird oftmals gleichgesetzt mit kreativer Gestaltung der Werbebotschaft, diese lasst sich jedoch auf Grund der mangelnden Isolierbarkeit aus dem Gesamteindruck eines Werbemittels nur schwer objektiv messen. Indirekt schlagt sie sich zunachst in der Erinnerungsleistung der Zuschauer nieder?^^

^ Emotionen umfassen samtliche inneren Erregungsvorgange, die angenehm oder unangenehm empfiinden und mehr oder weniger bewusst erlebt werden. Das Konstrukt Emotion beinhaltet drei Aspekte: (1) verbalisierbare, (2) erfahrungsabhangige bzw. subjektive und (3) physiologische Komponente. Von der Emotion zu unterscheiden ist der Begriff Affekt, der weiter gefasst wird und sich allgemein auf bewertete Gefuhlszustande bezieht. Vgl. Izard, C.E./ Kagan, J./ Zajonc, R.B.: (1984): Emotions, Cognition, and Behavior, Cambridge, MA; Kroeber-Riel, W./ Weinberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, 8. Aufl., Munchen, S. 53. ' Wahrend Damasio mit „Emotions" den korperlichen Zustand umschreibt, wird der mentale Zustand eines Individuums mit „Feelings" beschrieben. Vgl. Damasio, A.R. (1995): Descartes' Irrtum: Fuhlen, Denken und das menschliche Gehim, Munchen, S. 15 ff. Im Folgenden werden die Begriffe Emotion, Affekt und Gefuhl synonym verwendet und stehen im Gegensatz zu Kognitionen (Denkprozesse). ^ Siehe dazu Ambler, T./ Bume, T. (1999): The Impact of Affect on Memory of Advertising, in: Journal of Advertising Research, 39. Jg., Nr. 2, S.25 ff. ^ Vgl. H5gl, S./ Wildner, R. (1997): So wirkt Werbung im Marketing-Mix - Die neue Effektivitat der Werbung. Empirische Studie der GWA/GfK, in: GWA (Hrsg.) (1997): GWA-Publikation "Erfolgsbeitrage der Werbung", Frankf / Main, S. 29. Der im Vergleich zur Werbequalitat weitaus groBere Beitrag der Werbequalitat auf den Marktanteil ist v.a. darauf zuriickzuftihren, dass es sich bei den untersuchten Marken um marktanteilsstarke Produkte mit bereits hoher Werbeprasenz handelte. Eine zusatzliche Marktanteilssteigerung durch Erhohung des Werbedrucks ist auf Grund von Sattigungseffekten daher ungleich schwieriger als es bei weniger starken Marken oder bei neuen Produkten zu erwarten ware. ^ Die relevanten Einflussfaktoren auf die Werbeerinnerung sind der Abbildung 7 zu entnehmen. ^ Vgl. dazu Merz, J./ Schmies, C./ Wildner, R. (1993): Bestimmung des Einflusses der Werbequalitat auf den Marktanteil, in: Jahrbuch der Absatz- und Verbrauchsforschung (1993), 39. Jg., S. 177. Dass Affekte in der Werbung die Langzeiterinnerung erhohen, konnte auch in Forschungsstudien empirisch nachgewiesen werden. Vgl. dazu Ambler, T./ Bume, T. (1999): The Impact of Affect on Memory Advertising, in: Journal of Advertising Research, 39. Jg., Nr. 2, S. 25-34.

103 Eine Gegeniiberstellung der durchschnittlichen Werbeausgaben (in TDM/Monat) und der gestiitzten Werbeerinnerung (in Prozent) von 157 stark beworbenen, langjahrig etablierten FMCGs in Abbildung 21 zeigt deutlich, dass es einigen TV-Spots gelingt, bei gleichem Ausgabenniveau ein Vielfaches an Werbeerinnerung zu erreichen."^^^ Die zu beobachtenden Unterschiede in der Effizienz sind dabei in erster Linie auf qualitative Kriterien der Spotgestaltung zurtickzufiihren, welche auf Basis bestimmter Gestaltungskriterien operationalisiert wurden (z.B. Key-Visuals^^^ Geschichte mit Handlungskontinuitat und Spannungsbogen). Zu diesem Zweck wurden die im digitalen Dokumentationssystem GfK-Digi*base erfassten formalen und inhaltlichen Gestaltungselemente der TV-Spots mit den Daten der Werbeerinnerung aus dem GfK-Werbeindikator zusammengefuhrt. Dabei konnte im Rahmen einer groB angelegten Studie gezeigt werden, dass TV-Werbung mit bestimmten Werbeelementen im Vergleich zu produktorientierten bzw. ohne Einsatz von Key-Visuals arbeitenden Spots signifikant hohere Erinnerungswerte erzielt?^^ Der tiberdurchschnittliche Erinnerungseffekt von Schliisselbildem bestatigt gleichzeitig das herausragende Wirkungspotenzial, das von der Bildkommunikation ausgeht.^^^ Ebenso wirken sich

Vgl. Ellinghaus, U./ Erichson, B./ Zweigle, T. (1999): Die Werbewirksamkeit altemativer Gestaltungsformen von TV-Spots: Ein Beitrag zur Quantifizierung der Werbequalitat, Preprint Nr. 27/1999 der Fakultat ftir Wirtschaftswissenschaft der Otto-von-Guericke-Universitat Magdeburg, Magdeburg, S. 4; In ihrer Analyse wiesen auch Brandt und Biteau auf die Bandbreite in der Qualitat der Werbespots bin. Vgl. Brandt, D./ Biteau, B. (2000): Pre-testing and sales validation, in: Admap, 35. Jg., Heft February, S. 24. Key-Visual bezeichnet ein Bildmotiv mit einer werblichen Botschaft, das zum Zweck der Erzeugung von Aufinerksamkeit, der Einpragsamkeit und der Vermittlung von sachlicher Information und/oder emotionalem Erlebnisgehalt eingesetzt wird. Es soil die Entstehung eines „inneren Bildes" der Marke in Form von Symbolfiguren, Tieren (z.B. lila Kuh von Milka), kiinstlichen (z.B. Meister Proper) oder gegenstandlichen Werbefiguren (z.B. Dr. Best mit Tomate), beim Konsumenten bewirken. Vgl. Ellinghaus, U./ Erichson, B./ Zweigle, T. (1999): Die Werbewirksamkeit altemativer Gestaltungsformen von TV-Spots: Ein Beitrag zur Quantifizierung der Werbequalitat, Preprint Nr. 27/1999 der Fakultat ftir Wirtschaftswissenschaft der Otto-von-Guericke-Universitat Magdeburg, Magdeburg, S. 5, 17-20. Beztiglich des positiven Einflusses von Key Visuals auf die (gestiitzte) Werbeeinnerung siehe auch Hogl, S./ Hubel, W. (1990): Der GfK-Werbeindikator - Anwendung und Weiterentwicklung, in: Planung und Analyse, 17. Jg., Heft 3, S. 91-96. Der Vorteil der ganzheitlichen Wahmehmung von Bildem ftir die Erinnerungsfahigkeit kommt allerdings nur dann zum Tragen, wenn Werbeobjekt und Werbebotschaft in einem sinnvollen Bezug zueinander stehen. Beziiglich der Uberlegenheit einer effektiven Bildkommunikation gegeniiber verbalen Informationen siehe auch die Ausfiihrungen in Kapitel 5.2.4.

104

emotionalisierende Werbebotschaften, wie beispielsweise ansprechende Bilder und die Stilelemente Erotik, Humor und dominante Musik^^"^ positiv auf die Gedachtnisleistung aus?^^

Abbildung 21: Werbeeffizienz bei Fast Moving Consumer Goods

Werbeeffizienz bei Fast Moving Consumer Goods Basis: 157 FMCG's der GfK-Werbeindikator-Datenbank 1/93 bis 5/96

100

Gestutzte Werberinnerung in %

Bottom

1000

2000

3000

4000

5000

Werbeausgaben in TDM/Monat

Quelle: Ellinghaus, U./Erichson, B./Zweigle, T. (1999): Die Werbewirksamkeit altemativer Gestaltungsformen von TV-Spots, Preprint Nr. 27/1999 der Fakultat fur Wirtschaftswissenschaft der Otto-von-Guericke-Universitat Magdeburg, S. 4.

Die valide Messung der emotionalen Komponenten sowie der Messung ihres Einflusses auf die Erinnerung stellen jedoch ein Hauptproblem der Werbewirkungsforschung dar. Allein auf Grund der Tatsache, dass es keine allgemein akzeptierte Typologie der Emotionen gibt, sind die Ergebnisse der unterschiedlichen Studien mit ihren teilweise sich uberschneidenden

Vgl. Ellinghaus, U./ Erichson, B./ Zweigle, T. (1999): Die Werbewirksamkeit altemativer Gestaltungsformen von TV-Spots: Ein Beitrag zur Quantifizierung der Werbequalitat, Preprint Nr. 27/1999 der Fakultat fur Wirtschaftswissenschaft der Otto-von-Guericke-Universitat Magdeburg, Magdeburg, S. 8. Vgl. Aaker, D.A./ Stayman, D.M. (1990): A Micro Approach to Studying Feeling Responses to Advertising: The Case of Warmth, in: Agres, S.J./ Edell, J.A./ Dubitsky, T.M. (Hrsg.) (1990): Emotion in Advertising: Theoretical and Practical Explorations, New York, S. 53-86. Siehe dazu auch die Ausfuhrungen zur emotionalen Konditionierung in Kapitel 5.1.1.

105 Emotionskategorien nicht miteinander vergleichbar^^^, was die Entwicklung einer umfassenden Emotionstheorie erschwert. Neben der Selbsteinschatzung des Probanden dominieren in Werbetests nach wie vor apparative Messverfahren, wie das der Blickaufzeichnung oder der Messung der elektrodermalen Reaktion (EDR)"^^^. Die Erhebung der affektiven Wirkung der Werbespots im Rahmen eines Fragebogens ist allerdings problematisch, da die Verbalisiemng von Gefiihlen voraussetzt, dass den Probanden der eigene emotionale Zustand iiberhaupt bewusst ist. Man muss auf Grimd des aktuellen Forschungsstandes jedoch davon ausgehen, dass viele emotionale Reaktionen fur das Bewusstsein nicht verftigbar sind?^^ Die Messung mittels EDR bedarf hinsichtlich der Qualitat der Empfmdung ebenso der verbalen Erganzung durch die Testperson, da dieses Messinstrument lediglich die Starke einer Erregung anzeigt. Inwieweit eine mittels EDR gemessene starke Erregung als angenehm oder unangenehm empfunden wird kann mit dieser Methode nicht objektiv festgestellt werden, sodass auch hier mit Antwortverzerrungen zu rechnen ist."^^^

4.4

Zusammenfassung

Widerspriichliche Beobachtungen in der empirischen Werbewirkungsforschung stellten das Postulat der klassischen Lemhierarchie, welche die Einstellung als notwendige Voraussetzung ftir die Kaufentscheidung ansah, zunehmend in Frage. Vielmehr wurde eine Einstellungsbildung oft erst als Folge des KaufVerhaltens im Zuge der Verwendungserfahrung beobachtet. Ebenso konnten die unterstellten kognitiven Gedachtnisleistungen bei der Rezeption von Femsehwerbung nicht mehr vorausgesetzt werden, sodass im Falle eines geringen Involvements Werbewirkungsmechanismen ohne groBe gedankliche Auseinandersetzung mit dem Werbemittel (kognitive Leistung) zustande kommen. Mit Hilfe von Sozialtechniken der Wer-

Vgl. dazu auch Batra, R./ Ray, M.L. (1986): Affective Responses Mediating Acceptance of Advertising, in: Journal of Consumer Research, 13. Jg., September, S. 235ff. Ftir eine differenziertere Betrachtung der gebrauchlichsten psychografischen Verfahren zur Erhebung der emotionalen Aktivierung von Testpersonen vgl. Hammann, P./ Erichson, B. (2000): Marktforschung, 4., uberarb. u. erw. Aufl., Stuttgart, S. 98ff. Vgl. LeDoux, J.A. (1992): Emotion as Memory: Anatomical Systems Underlying Indelible Neutral Traces, in: Christianson, S.-A. (Hrsg.) (1992): The Handbook of Emotion and Memory: Research and Theory, Hillsdale, S. 278-286; Tobias, B.A./ Kihlstrom, J.F./ Schacter, D.L. (1992): Emotion and Implicit Memory, in: Christianson, S.-A. (Hrsg.) (1992): The Handbook of Emotion and Memory: Research and Theory, Hillsdale, S. 67-89. Auf die Problematik des Bias im Antwortverhalten von Probanden bei der kognitiven Beschreibung affektiver Erfahrungen wird bei Wilson, T.D. et al. (1989): Introspection, Attitude Change, and Attitude-Behavior Consistency: The disruptive effects of explaining why we feel the way we do, in: Berkowitz, L. (Hrsg.): Advances in Experimental Social Psychology, 22. Aufl., New York, S. 78-84 hingewiesen. Siehe dazu auch Bansch, A. (2002): Kauferverhalten, 9., durchges. und erg. Aufl., Miinchen u.a., S. 17f

106 bung, wie z. B. Kontakthaufigkeit oder emotionale Werbung, wurde versucht, die Aufmerksamkeit der Konsumenten zu erhohen und somit die Werbeverarbeitimg zu begiinstigen. Trotz des unterstellten Mangels an kognitiven Vorgangen konnen auch in der Low-InvolvementSituation Erinnenmgsleistungen (z.B. Werbeerinnerung) nachgewiesen werden. Eben diese werden zu einer Art Katalysator, da sie eine Verbindung zwischen Werbeinput und (Kauf-) Verhalten darstellen und in der Kaufentscheidung wirksam werden konnen. Eine Marke, die auf Grund mangelnder Markenaktualitat in der Kaufsituation nicht prasent ist, kann auch keinen Einfluss auf die Kaufentscheidung haben. Die Werbeerinnerung ist somit als Wirkungskriterium im Rahmen der Testmarktsimulation ein wichtiger Wert, sodass wieder verstarkt gedachtnisbasierte Indikatoren in den Mittelpunkt des Interesses der Werbewirkungsforschung rticken. Die Entscheidung fur ein bestimmtes LemmaB - ungestiitzte vs. gestutzte Werbeerinnerung - in der Testmarktsimulation sollte dahingehend erfolgen, auf welche Art und Weise die Information in der tatsachlichen Markenwahlsituation Einfluss ausiibt. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass viele Kaufentscheidungen bei FMCGs erst in der Einkaufsstatte getroffen werden, ist eine gestutzte Werbeerinnerung ausreichend, da in der Kaufsituation das distribuierte neue Produkt im Regal als Gedachtnisanker betrachtet werden kann. Sind die Produktaltemativen in der Kaufentscheidung physikalisch nicht prasent (z.B. Autokauf), ist hingegen der ungestiitzte Recall als Wirkungskriterium entscheidend, da die bei der Handlersuche die Kaufentscheidung bereits determiniert wird.^^^ In dem MaBe, in dem das Kaufverhalten in einem engen Zusammenhang mit der Markenbekaimtheit steht, gewinnen Fragestellungen hinsichtlich der Einflussfaktoren des dahinter stehenden Lemprozesses an Bedeutung. Bei stark kognitiv involvierten Konsumenten kann bereits eine einmalige Wiederholung ausreichend sein, um sich schwer einpragsame Informationen zu merken. Ist das Involvement der Person eher schwach, wird nur gelemt, wenn das Material einpragsam ist und/oder oft wiederholt wird."^^^ Die Verlaufsform der AwarenessFunktion ist somit situationsgebunden, d.h. es gibt keine allgemein gultige optimale Wiederholungsanzahl. Dariiber hinaus existieren Faktoren, die einen Einfluss auf die Awareness und

301

Vgl. Bettman, J.R. (1991): Memory factors in consumer choice: A review, in: Cox, K.K./ Enis, B.M. (Hrsg.) (1991): Marketing Classics, Boston et al., S. 119-144. Vgl. Kroeber-Riel, W./ Esch, F.R. (2000): Strategic und Technik der Werbung - Verhaltenswissenschaftliche Ansatze, 5., vollig neu bearb. und erw. Aufl., Stuttgart, S. 257.

107

andere Wiederholungswirkungen haben und demzufolge in die Beurteilung der Wiederholungsanzahl mit einzubeziehen sind.^^^ Insbesondere die zunehmend anerkannte Bedeutung emotionaler Vorgange fiir den Gedachtnisaufbau^^^ erfordert den Einbezug lemtheoretischer imd neurowissenschaftlicher Erkenntnisse fur das Verstandnis von Werbewirkung sowie die Uberpriifimg neuerer Werbewirkungstheorien, welche die durch Werbung ausgelosten Emotionen ftir die Bildung von Erinnerung als wichtig erachten. Durch die interdisziplinare Zusammenarbeit dieser Forschungsrichtungen erhofft sich die Werbewirkungsforschung zudem die vorherrschenden, allerdings auch angreifbaren WerbewirkungsmaBe Recall und Recognition hinsichtlich ihrer Eignung als GedachtnismaBe zu untersuchen und gegebenenfalls adaquate Messmethoden der Gedachtnisveranderung zu entwickeln.

Vuokko fiihrte 1997 eine Studie mit dem Ziel durch, mittels eines Kontingenzansatzes derartige Determinanten der Werbewiederholung herauszufiltem und ihren Einfluss auf die Wiederholungswirkung zu messen. Vgl. Vuokko, P. (1997): The Determinants of Advertising Repetition Effects, in: Wells, W. (Hrsg.) (1997): Measuring Advertising Effectiveness, Mahwah, S. 239-260. Die Armahme, dass Geflihle die Gedachtnisbildung beeinflussen, wurde in jungerer Zeit auf breiter Basis auch durch neurowissenschaftliche Studien bestatigt. Vgl. Ambler, T.I Bume, T. (1999): The Impact of Affect on Memory of Advertising, in: Journal of Advertising Research, 39, Jg., Nr. 2, S. 25-34.

109 5

Theoretischer Bezugsrahmen zur Analyse der Werbewirkungen

5.1

Klassische Lerntheorien und Lernforschung

5.1.1

Reiz-Reaktions-Theorien

Die mit den Low-Involvement-Modellen einhergehende Riickbesinnung auf gedachtnisbasierte MaBe im Rahmen der Erklarungs- und Prognoseversuche des Konsumentenverhaltens lenkte den Fokus auf die Erforschung von Lemen und Gedachtnis als geistige Prozesse hoherer Ordnung. In diesem Zusammenhang erhoffte sich die Werbewirkungsforschung Hinweise aus bisher bestehenden lemtheoretischen Ansatzen, wobei in der allgemeinpsychologischen Literatur hauptsachlich zwischen zwei Theorien differenziert wird:^^"* -

Reiz-Reaktions-Theorien (behavioristische Theorien, Assoziations-Theorien)

-

kognitive Lerntheorien

Reiz-Reaktions-Theorien umfassen neben den einfachsten nichtassoziativen Lemformen der Behavioristen, die Habituation (Gewohnung)^^^ und Sensitivierung"^^^, auch Formen des Assoziationslemens, wie die klassische und die instrumentelle (operante) Konditionierung. Bei letzterer auch als Versuch-Irrtums-Lemen bezeichneten Form des impliziten (unbewussten)^^^ Lemens lemt die Versuchsperson (oder das Versuchstier) durch Belohnung Oder Bestrafimg, in Reaktion auf einen zuvor neutralen konditionierten Reiz eine Handlung (keinen bereits vorhandenen Reflex) auszufuhren oder zu unterlassen."^^^ Das Prinzip der von Pawlow begriindeten klassischen Konditionierung^^^ geht davon aus, dass sich ein zunachst

Vgl. Bower, G.H./ Hilgard, E.R. (1983): Theorien des Lemens, Bd. I, 5., verand. Aufl. Stuttgart, S. 17-41. Eine vertiefende Darstellung lemtheoretischer Ansatze fmdet sich ebenfalls bei Bandura, A (1979): Sozialkognitive Lemtheorie, 1. Aufl., Stuttgart und Edelmann, W. (2000): Lempsychologie, 6., voUst. uberarb. Aufl., Weinheim. Bei der Habituation handelt es sich um eine einfache, nichtassoziative Form des Lemens, bei der die Eigenschaften eines einzelnen, harmlosen Reizes gelemt werden. Der Organismus lemt, den Reiz zu ignorieren, was zu einer verminderten neuronalen Reaktion auf den Reiz fuhrt. Siehe Kandel, E. (2006): Auf der Suche nach dem Gedachtnis, Miinchen, S. 465. Die Sensitiviemng stellt eine Form des nichtassoziativen Lemens dar, bei der die Darbietung eines schadlichen Reizes eine starkere Reflexantwort auf andere, auch harmlose Reize hervormft. Siehe Kandel, E. (2006): Auf der Suche nach dem Gedachtnis, Munchen, S. 477. Das implizite Gedachtnis ist Gegenstand von Kapitel 5.2.1.1. Vgl. Kandel, E. (2006): Auf der Suche nach dem Gedachtnis, Munchen, S. 472. Der bertlhmte Pawlow'sche Hund reagierte auf einen Glockenton mit vermehrtem Speichelfluss, da er gelemt hatte, dass mit diesem akustischen Signal die Gabe von Futter verbunden war. Vgl. dazu Bemdt, R./ Hermanns, A. (Hrsg.) (1990): Das Konsumentenverhalten, in: Bemdt, R./ Hermanns, A. (Hrsg.) (1990): HandbuchMarketing-Kommunikation, Wiesbaden, S. 184.

110 neutraler Reiz durch wiederholtes gemeinsames Auftreten (Kontiguitatsprinzip) mit einem reaktionsauslosenden Reiz allein zum Ausloser fur diese oder eine ahnliche Reaktion entwickelt. In einer spateren von Doty durchgefuhrten Untersuchung konnte zudem in einem Tierversuch nachgewiesen werden, dass die klassische Konditionierung im Gehim nicht auf Motivation angewiesen ist, sondem die einfache Koppelung zweier Reize ausreichend fiir das konditionierte Verhalten ist.^^^ Die Technik der klassischen Konditionierung wird in der Werbung v.a. in Form der emotionalen Konditionierung von Werbeempfangem eingesetzt. Der Markenname als zunachst neutraler Reiz wird zusammen mit einem emotional aufgeladenen Reiz (z.B. Bilder, Musik oder Worte) wiederholt geboten. Nach einigen Wiederholungen wird der vorher neutral besetzte Markenname ohne den naturlichen emotionsauslosenden Reiz mit dessen hervorgerufenen Emotionen in Verbindung gebracht. Die raumzeitliche Kontiguitat der Reize hat dem urspriinglich neutralen Reiz die emotionsauslosende Eigenschafl tibertragen, indem sich zwischen dem naturlichen und konditionalen Reiz eine Assoziation gebildet hat. Die Kontiguitat, die neben der Ahnlichkeit die wichtigste Bedingung fiir die Assoziationsbildung darstellt'^^^ wird in der Werbung meistens dadurch erfuUt, dass die Produkte im Kontext von Erlebnisdarstellungen und emotionalen Produktaussagen gezeigt werden.^^^ Dabei kann bereits eine fliichtige Wahmehmung Assoziationen bewirken, die sich zu Assoziationsfeldem um das betreffende Produkt bilden konnen. Durch die emotionale Konditionierung ist Werbewirkung fur FMCGs erklarbar.^^^ Dabei ist die Verkniipfungsstarke neben der Anzahl der Wiederholungen auch von der gedanklichen Passivitat der Konsumenten, der Reizstarke, der Gleichzeitigkeit der Darbietung von emotionalem Reiz und Marke sowie der Konsistenz der Reizdarbietung abhangig.^^^

Doty reizte einen bestimmten Teil des Hundehims, der ftir das Sehen zustandig ist, mit einem schwachen elektrischen Reiz und beobachtete wohl elektrische Aktivitat in Neuronen des visuellen Cortex, jedoch keine Bewegung. Mittels eines elektrischen Reizes im motorischen Cortex gelang es ihm, dass der Hund die Pfote bewegte. Nachdem beide Reize in einer Versuchsreihe gepaart eingesetzt wurden, loste der schwache Reiz allein bereits die Pfotenbewegung aus. Vgl. Kandel, E. (2006): Auf der Suche nach dem Gedachtnis, Miinchen, S. 180. Vgl. Bower, G.H./ Hilgard, E.R. (1983): Theorien des Lemens, Bd. I, 5., verand. Aufl. Stuttgart, S. 86-87. Vgl. dazu auch Behrens, G. (1991): Konsumentenverhalten, 2., uberarb. u. erw. Aufl., Heidelberg, S. 277. Im Rahmen des HOBA-Experiments gelang Kroeber-Riel der Wirkungsnachweis fiir das Prinzip der emotionalen Konditionierung im Bereich des Konsumentenverhaltens. Siehe Kapitel B.III.2.b. in Kroeber-Riel, W./ Weinberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, 8. Aufl., Miinchen, S. 133ff. Vgl. Kroeber-Riel, W./ Weinberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, 8. Aufl., Munchen, S. 213.

Ill Bei der instrumentellen (und operanten) Konditionierung^^^, deren bekanntester Vertreter der amerikanische Psychologe und Verhaltensforscher Skinner war, erfolgt das Lemen nach dem Verstarkungsprinzip, wobei hier die Kontingenz zwischen der (positiven oder negativen) Verstarkung und der typischen Reaktion fur den Lemvorgang ausschlaggebend ist.^^^ Eine zunachst neutrale Reaktion erhalt durch nachfolgende Verstarkung (belohnender oder bestrafender Art) ftir den Organismus eine Bedeutung und tritt dadurch mit veranderter Wahrscheinlichkeit auf. Durch diesen Ansatz konnen Gewohnheiten im Kaufverhalten (Markentreue) auf Grund positiver Erfahrungen der Konsumenten mit dem Produkt erklart werden. Die vorgestellten klassischen S-R-Theorien^^^ bieten einen ersten Einblick in die Mechanismen des Lemens anhand einfacher Modelle. Fur die Erklarung komlexer Lemprozesse beim Menschen sind sie auf Grund ihrer einfachen Struktur nur bedingt geeignet, da hohere kognitive Prozesse, wie Bewusstsein und Wahmehmung, ausgeklammert sind.

5.1.2

Kognitive Lerntheorien und Gedachtnismodelle

Kognitive Lerntheorien gehen iiber die Vorstellung einer Reiz-Reaktionsverkniipfung hinaus, indem nicht mehr Umweltreize direkt, sondem die dadurch ausgelosten kognitiven Prozesse das Verhalten des Lemenden bestimmen.^^^ Mit der Betonung innerer Reprasentationen^^^, den kognitiven Karten der AuBenwelt erzeugt das Gehim „eine bedeutungsvolle Vorstellung von dem, was es dort drauBen zu horen und zu sehen gibt."^^° Diese Reprasentationen oder „intervenierende Variable" bezeichnen „Vorgange im Innem von Mensch und Tier, welche

Da der Unterschied zwischen instrumenteller und operanter Konditionierung, der in der unterschiedlichen Reizgebundenheit der geauBerten Reaktion besteht, fur den Fortgang der Arbeit von untergeordneter Bedeutung ist, wird an dieser Stelle keine weitere Differenzierung vorgenommen. Siehe dazu auch Kroeber-Riel, W./ Weinberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, 8. Aufl., Munchen, S. 338. Vgl. Skinner, B.F. (1973): Wissenschaft und menschliches Verhalten, S. 76, 175; Bower, G.H./ Hilgard, E.R. (1983): Theorien des Lemens, Bd. I, 5., verand. Aufl. Stuttgart, S. 101. Daneben existieren Mehrfaktorentheorien, die sowohl das Kontiguitatsprinzip als auch das Verstarkungsprinzip integrieren. Vgl. Kroeber-Riel, W./ Weinberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, 8. Aufl., Munchen, S. 334 f. Vgl. Kroeber-Riel, W./ Weinberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, 8. Aufl., Munchen, S. 334. Als Reprasentation bezeichnet man diejenigen Neuronen, die nur auf bestimmten Input feuem und damit auf diesen spezialisiert sind. Vgl. Spitzer, M. (2002): Lemen: Gehimforschung und Schule des Lebens, Heidelberg, Berlin, S. 28. Kandel, E. (2006): Auf der Suche nach dem Gedachtnis, Munchen, S. 324. Die bekannteste innere Representation ist die von Penfield, der den somatosensorischen Cortex des Menschen kartierte und zeigte, dass jeder Korperteil systematisch und proportional zu seiner Bedeutung fur die Sinneswahmehmung im Cortex reprasentiert ist. Tastempfindliche Regionen, wie z.B. Fingerspitzen und Mund, sind viel groCer reprasentiert als die Haut des Riickens. Die so entstandene Querschnittskarte ist und der Figur des sog. sensorischen Homunkulus bertlhmt geworden. Vgl. Kandel, E. (2006): Auf der Suche nach dem Gedachtnis, Munchen, S. 130.

112 die reine Reiz-Reaktionsbeziehung mehr oder weniger stark beeinflussen konnen."^^^ Friihere Informationen werden mit diesen Gedachtnisreprasentationen verbunden, wobei durch Aufmerksamkeitsprozesse die kognitive Struktur verandert werden kann. Die kognitiven Reprasentationen gelten als Ausloser zielgerichteten Verhaltens^^^, waren allerdings auf Grimd ihrer Abstraktheit einer direkten und qjektiven Analyse nicht zuganglich. Mit dem Einbeziehen geistiger Prozesse, d.h. jenen Mechanismen, die zwischen Reiz und Reaktion liegen und damit einen Sinnesreiz in eine Handlung iiberfuhren, riickten Fragestellungen nach den Speicherorten und Speicherungsvorgangen in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses, wobei als Bezugsrahmen fiir die kognitiven Theorien sog. Gedachtnismodelle dienten.^^^ Gemeinsam ist alien, dass neue Gedachtnisinhalte zunachst leicht storbar sind und erst mit der Zeit in ein stabiles, langzeitiges Gedachtnis iiberfiihrt werden. Diese Phase der Konsolidierung setzt neben dem Zeitaspekt auch eine (bewusste) Wiederholung des Leminhaltes voraus. Gegenwartig werden folgende Formen des Gedachtnisses unterschieden:^^^ -

Sensorischer Ultrakurzzeitspeicher (UKZS): Hier fmdet die kurzfristige Speicherung physikalischer Reizmuster (elektromagnetische Wellen, Schall etc.) der durch die Sinnesorgane transformierten Information statt. Die kurzfristige Prasenthaltung der Information erfolgt dabei modalitatsspezifisch, d.h. fiir visuelle, akustische und andere Reize werden unterschiedliche Systeme (primare sensorische Himareale) angenommen. Kognitive Verarbeitung fmdet auf dieser elementaren Stufe kaum oder gar nicht statt.^^^ Insofem handelt es sich vorwiegend um ein „passives Festhalten von Sinneseindriicken".^^^

-

Kurzzeitspeicher (KZS)\ Das in Teilen mit dem Arbeitsgedachtnis identische Kurzzeitgedachtnis^^^ weist eine beschrankte Speicherkapazitat auf, sodass auf dem Ubertragungsweg vom Ultra-Kurzzeitspeicher bereits Informationen verloren gehen.

Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig Uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 38. Vgl. Kandel, E. (2006): Auf der Suche nach dem Gedachtnis, Munchen, S. 324. Zu den kognitiven Theorien des Lemens siehe Anderson, J.R./ Lebiere, C. (1998): The atomic components of thought, Mahwah, NJ. Vgl. Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 172f Auf die in den primSren corticalen Feldem prSattentive (unbewusste) Verarbeitung der eingehenden Sinnesreize wird in Kapitel 5.2.3 naher eingegangen. Vgl. Kroeber-Riel, W./ Weinberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, 8. Aufl., Munchen, S. 227 Das bedeutet, dass die aufgenommenen Reize oder Informationen fur die Verarbeitung durch das Arbeitsgedachtnis eine bestimmte Zeit im KZS bereitgehalten werden miissen, um somit iiberhaupt eine aktive Verarbeitung zu ermoglichen. Man geht beziiglich der Inhalte des Kurzzeitgedachtnisses von einer durchschnittlichen Verweildauer von 15 Sekunden aus. Vgl. Edelmann, W. (2000): Lempsychologie, 6., vollst. uberarb. Aufl., Weinheim, S. 168.

113 Dabei erfolgt die selektive Ubertragung der Informationen in den Kurzzeitspeicher in erster Linie auf Grund des Aktivierungspotenzials der Reize. Spatere Befunde wiesen jedoch darauf hin, dass ein einheitliches Kurzzeitgedachtnis, das gleichzeitig als Speicher und als Arbeitsgedachtnis fungiert, wenig wahrscheinlich ist. Vielmehr wird das Arbeitsgedachtnis als ein Gedachtnissystem angesehen, das neben der kurzfristigen Reproduktion von Informationen verstarkt an der Bewaltigung kognitiver Aufgaben beteiligt ist. Mit der von Baddeley^^^ eingefiihrten Theorie des Arbeitsgedachtnisses wurde zwar die Funktion des Gedachtnisses fur die Informationsverarbeitung deutlich gemacht, zugleich aber auch das Spektrum an Strukturen und Prozessen erheblich erweitert. Langzeitspeicher (LZS)\ Damit neue Informationen langfristig eingespeichert und konsolidiert, d.h. in einen dauerhaften Speicher iiberfuhrt werden konnen, muss die fliichtige Kurzzeiterinnerung in eine stabile Langzeiterinnerung verwandelt werden. Dies geschieht durch das Wachstum neuer synaptischer Verbindungen, wobei dieser Prozess an eine gengesteuerte Synthese von EiweiBstoffen unter Beteiligung verschiedener biochemischer Substanzen (Neurotransmitter, Enzyme) gebunden ist."^^^

Die Speicher sind als theoretische Konstruktionen und keinesfalls als vorzufmdende funktionale Einheiten zu interpretieren.^^^ Neben der traditionellen Aufteilung der Gedachtnisspeicher in zeitabhangige Komponenten fmden sich in der neueren allgemeinpsychologischen Literatur auch inhaltsabhangige Gedachtnisformen, die sowohl das Kurz- als auch das Lang-

Zu den aktivierenden Prozessen sowie dem Aktivierungspotenzial von Reizen vgl. Kroeber-Riel, W./ Weinberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, 8. Aufl., Miinchen, S. 53 ff. Zur Aufmerksamkeit und die damit im Zusammenhang stehende Problematik der Wahmehmung siehe die Ausfuhrungen zu Kapitel 5.2.3. Vgl. Kluwe, R.H. (1997): Komponenten des Arbeitsgedachtnisses: Zum Stand kognitionswissenschaftlicher Forschung, in: Liier, G.I Lass, U. (Hrsg.) (1997): Erinnem und Behalten: Wege zur Erforschung des menschlichen Gedachtnisses, Gottingen, S. 144-146. Vgl. Baddeley, A.D.(1997): Human Memory: Theory and Practice, 3. Aufl., Hove, UK, zit. nach Bredenkamp, J. (1998): Lemen, Erinnem, Vergessen, Miinchen, S. 81. Die mit den substanziellen Gedachtnisspuren einhergehenden biochemischen und synaptischen Veranderungen werden kurz in Kapitel 5.2.2 abgehandelt. Fiir eine ausfiihrliche neurophysiologische und molekularbiologische Darstellung zellularer Gedachtnisprozesse vgl. Bower, G.H./ Hilgard, E.R. (1984): Theorien des Lemens, Bd. II, 3., verand. Aufl., Stuttgart, S. 228 f.; Kandel, E. (2006): Auf der Suche nach dem Gedachtnis, Miinchen, S. 263-284. Die mit den substanziellen Gedachtnisspuren einhergehenden biochemischen und synaptischen Veranderungen werden in Kapitel 5.2.2 behandelt. In ihrer urspriinglichen Auffassung wurden diese Speicher als postulierte fixierte Gedachtnisstrukturen verstanden, welche durch feste Informationsfliisse miteinander in Verbindung stehen (Mehrspeichermodell von Atkinson und Shiffrin). Vgl. Bettman, J.R. (1991): Memory factors in consumer choice: A review, in: Cox, K.K./ Enis, B.M. (Hrsg.) (1991): Marketing Classics Boston et al., S. 120. Auf den Paradigmenwechsel in der Vorstellung der Arbeitsweise des Gehims wird im Kapitel 5.2 ausfiihrlich eingegangen.

114 zeitgedachtnis umfassen. Wie der Abbildung 22 zu entnehmen ist, wird zwischen deklarativem (expliziten, bewussten) und implizitem (unbewussten) Gedachtnis unterschieden. Innerhalb des expliziten Gedachtnisses wird zwischen dem episodisch-autobiografischen Gedachtnis, dem Wissens- und Faktengedachtnis (semantisches Gedachtnis) und dem Bekanntheitsbzw. Vertrautheits-Gedachtnis differenziert.^^"^ Das implizite (prozedurale) Gedachtnis umfasst Fertigkeiten (z.B. Fahrradfahren), Gewohnheiten, Priming (vorbewusste Wahrnehmungen) und die Konditionierung.^^"^

Abbildung 22: Schema der Einteilung des menschlichen Gedachtnisses explizites (deklaratives) Gedachtnis

1

1

1

Episodisches Gedachtnis

1

Wissens- und Faktengedachtnis

Bekanntheits- bzw. Vertrautheitsgedachtnis

Autobiografische s Gedachtnis

impiizites (prozedurates) Gedachtnis

1 FertigkeitsGedachtnis

1 Gewohnheiten

I Klassische Konditionierung

1

I

1 Priming

Nichtassoziatives Lernen (Habituation, Sensitivierung)

Quelle: nach Roth, G. (2003): Fiihlen, Denken, Handeln, neue, vollig iiberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 154.

Das episodische Gedachtnis speichert Daten iiber zeitliche, raumliche und inhaltliche Ereignisse mit autobiografischem Bezug („was mir Montag voriger Woche in Niimberg passierte"). Zusatzlich werden Informationen iiber die Frequenz, mit der ein Ereignis in einem gegebenen

Die Unterscheidung zwischen episodischem und semantischem Gedachtnis geht auf Tulving zuruck. Vgl. Tulving, E. (1972): Episodic and semantic memory, in: Tulving, E./ Donaldson, W. (Hrsg.) (1972): Organisation of Memory, New York, S. 381-402. Vgl. zur Klassifikation von Gedachtnisinhalten auch Kandel, E. (2003): Hime verandem sich, in: Spiegel Special "Die Entschlusselung des Gehims", 4/2003, S. 73. Siehe auch Bower, G.H./ Hilgard, E.R. (1984): Theorien des Lemens, Bd. II, 3., verand. Aufl., Stuttgart, S. 228 f

115 Kontext aufgetreten ist, abgelegt. Im Wissens- und Faktengedachtnis werden deklarative Gedachtnisinhalte, die das Wissen tiber Fakten umfassen gespeichert, z.B. in Form erlemter Tatsachen, Erfahmngen, Bedeutungen sowie Namen von Dingen und Personen."^^^ Zudem enthalt es eine Art geistigen Thesaurus (semantisches Gedachtnis), welcher als Voraussetzung fiir Sprachverhalten das gesamte organisierte Wissen einer Person iiber Worter und andere verbale Symbole umfasst. Da diese Definition Informationen tiber Wortbedeutungen einschlieBt, kann das Konstrukt Markenbekanntheit als semantischer Gedachtnisinhalt interpretiert werden. Um ein bestimmtes Objekt oder Geschehen als bekannt oder vertraut zu identifizieren, wird ein sog. Bekanntheits- oder Vertrautheitsgedachtnis dem deklarativen Gedachtnis zugeordnet.^^^ Da eindeutige Befunde zu der Unterscheidung zwischen episodischem, semantischem und Vertrautheitsgedachtnis noch ausstehen, bleibt allein auf Grund der vorhandenen Interaktionen (gelemtes Wissen iiber Fakten ist zwangslaufig in einer bestimmten Art und Weise vertraut) die Frage, ob es sich tatsachlich um funktional und anatomisch unterscheidbare sowie unabhangige Gedachtnisstrukturen handelt.^^^ Das im Gedachtnis verankerte prozedurale Wissen, welches Fertigkeiten bzw. Gewohnheiten als automatisierte Bewegungsablaufe umfasst (z.B. Fahrradfahren, Klavierspielen), wird als implizit angesehen, da es sich dem Detailbewusstsein und einer verbalen Beschreibungsfahigkeit entzieht.^^^ Dabei ist es sogar moglich, dass sich dieses Wissen aus dem expliziten Gedachtnis entwickelt hat. Das sog. Priming (Bahnen, Vorbereiten) wird insoweit dem impliziten Gedachtnis zugerechnet, als es ahnlich der klassischen Konditionierung eine Briicke zur Analyse von unbewussten Entscheidungen^^^ bildet.^"^^ Dieses System nimmt eine

Vgl. Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 155; Springer, S.P./ Deutsch, G. (1993): Linkes-rechtes Gehim: Funktionelle Asymmetrien, 2., neu bearb. Aufl., Heidelberg, Berlin, New York, S. 153. Vgl. Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handehi, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 155. Vgl. Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handehi, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 168f. Vgl. Tulving, E. (1972): Episodic and semantic memory, in: Tulving, E./ Donaldson, W. (Hrsg.) (1972): Organisation of Memory, New York, S. 381-402; Kolb, B./ Whishaw, I.Q. (1993): Neuropsychologie, Heidelberg u.a., S. 304; Bredenkamp, J. (1998): Lemen, Erinnem, Vergessen, Miinchen, S. 58. Das Studium unbewusster Entscheidungsprozesse steUt ein aktuelles Feld der Psychologic dar und wird unter dem Begriff des „Adaptiven Unbewussten" subsumiert. Das adaptive Unbewusste ist jedoch nicht mit der Auffassung des Unterbewusstseins von Sigmund Freud zu verwechseln, welche das Unbewusste als einen dunklen und dusteren Ort gefullt mit Wiinschen, Erinnerungen und Phantasien darsteUte und sich auf Grund der damit einhergehenden Beunruhigung jeglicher Bewusstheit entzog. Vgl. Gladwell, M. (2005): Blink - The Power of Thinking without Thinking, New York, S. 11. Vgl. Roth, G. (2003): Aus der Sicht des Gehims, Frankfurt a.M., S. 94.

116

Vielzahl von Reizen auf (z.B. Worter oder eigene/ fremde Ideen), wobei die Inhalte vorbewusst^"^^ (i.S. von nicht aktiv) abrufbar bleiben und erst in dem Moment bewusst werden, wenn das Individuum mit einem ahnlichen Reiz konfrontiert wird. Ein dargebotener Reiz kann durch das Priming auch besser erkennbar werden oder ein Reizteil kaim besser erschlossen werden, da man diesem Reiz zu einem friiheren Zeitpunkt schon einmal (zufallig) ausgesetzt war.^"^^ Dieser Teil des Gedachtnisses konnte somit im Moment des Produktkontaktes im Supermarkt das kaufauslosende Vertrautsein einer Marke durch vorherige Werbekontakte darstellen.^"^^ Da der Vorgang der klassischen Konditionierung^"^^ weitgehend unbewusst ablauft, gehort dieser Lemmechanismus zum impliziten Gedachtnis und betrifft lediglich relativ einfach Leminhalte bzw. Reiz-Reaktionszusammenhange. AUerdings beschrankt sich das Feld der klassischen Konditionierung nicht nur auf bestimmte Korperreaktionen, wie z.B. die Augenlidbewegung beim Erklingen eines Tones, well der Ton ftir einige Male mit einem LuftstoB auf unser Auge gepaart wurde, sondem bezieht auch die emotionale Konditionierung mit

ein?« Ebenso ist das nichtassoziative Lemen in Form von Habituation und Sensitivierung dem impliziten Gedachtnis eingegliedert und beruht auf einfachen Reflexbahnen des Nervensystems. Beispielsweise gewohnen sich die Bewohner mit Hausem in der Einflugschneise eines Flughafens mit der Zeit an den Fluglarm, indem die Flugzeuggerausche nicht mehr so stark wahrgenommen werden.^^^ Im Gegensatz zu den nichtassoziativen Lemformen stellen Gewohnheiten das Ergebnis impliziten Assoziationslemens dar und konnen als eine Spielart der instrumentellen Konditionierung interpretiert werden. Da das Wesen dieser Lemform darin liegt, dass Versuchspersonen durch Belohnung lemen, auf Grund eines zuvor neutralen konditionierten Reiz eine Handlung auszufuhren, konnte unter dieser Kategorie die Markentreue subsumiert werden.

Allgemein wird der Status von Wahmehmungsinhalten wahrend ihrer Verarbeiung auf Ebenen unterhalb der assoziativen GroBhimrinde als vorbewusste Wahmehmung bezeichnet. Bewusst werden nur diejenigen Vorgange, die mit einer Aktivitat des assoziativen Cortex verbunden sind. Siehe dazu die Kapitel 5.2.1 und 5.2.3. Vgl. Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 229; Schacter, D.L. (1987): Implicit memory: history and current status, in: Journal of Experimental Psychology, 13, Jg., Nr. 3, S. 501-518. Siehe dazu auch die Ausfiihrungen in Kapitel 5.2.3. Siehe dazu Kapitel 4.3.1.1. Das Prinzip der klassischen Konditionierung wurde bereits eingehend in Kapitel 5.1.1 erlautert. Vgl. Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 157. Siehe dazu auch die Ausfuhrungen in Kapitel 5.2.1.3. Vgl. Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 154-157.

117 Der Forschungsstand eines Modells der menschlichen Kognition ist momentan durch eine zunehmende Aufsplitterung in neuroanatomische Teilsysteme gekennzeichnet, deren Zusammenspiel noch weitgehend unklar ist."^"^^ Abgesehen von Problemen innerhalb dieses Forschungszweigs ist eine Ubertragung der Erkenntnisse auf einen konsumentenbezogenen Kontext problematisch. Zu unterschiedlich sind die Untersuchungsdesigns von der tatsachlichen Werberezeption. Dariiber hinaus sind Werbestimuli wesentlich komplexer als die in lempsychologischen Untersuchungen eingesetzten Reize. Dennoch stellen die Erkenntnisse wichtige Indikatoren fur weitergehende Untersuchungen im Bereich der Konsumentenforschung dar. So ist die differenzierte Betrachtung unbewusster Vorgange (z.B. autonome Funktionen) und grundsatzlich bewusster Vorgange sowie die entsprechende Unterscheidung von Gedachtnisinhalten , die bewussten Entscheidungen zugrund liegen, von denen, die bei willkiirlichen Entscheidungen relevant sind eine unerlassliche Voraussetzung ftir die Beurteilung bestehender ErinnerungsmaBe und deren Erfassbarkeit als Werbewirkungskriterien sowie das Verstandnis hinsichtlich ihrer Verhaltenswirksamkeit. Bewertungen und implizite Wissensinhalte, die iiber unbewusste Lemvorgange ins Gehim gelangen und sich der Bewusstmachung und damit Erinnerung entziehen, stehen zwar fur die bewusste (Kauf-) Entscheidung nicht mehr zur Verfiigung, konnen aber gleichwohl verhaltenssteuemd wirken und bewusste Entscheidungsprozesse beeinflussen. Die Bedeutung von bestimmten Informationen entsteht durch unbewusste Bewertungsprozesse, wobei das Gehim an sich als „bedeutungsgenerierendes System" angesehen werden kann.^"^^ Bekanntestes Beispiel fur den Einfluss von Bewertungsprozessen auf die Handlungsmoglichkeiten ist das als PEPSI-Test beriihrnt gewordene Experiment von Montague, dessen Untersuchungsziel darin bestand, die Wirkung von Pepsi-Cola und Coca-Cola auf das Gehim zu vergleichen. Ausgangspunkt der Untersuchung war die Beobachtung, dass im Blindtest regelmaBig Pepsi-Cola als besser

Vgl. auch Kluwe, R.H. (1997): Komponenten des Arbeitsgedachtnisses: Zum Stand kognitionswissenschaftlicher Forschung, in: Liier, G./ Lass, U. (Hrsg.) (1997): Erinnem und Behalten: Wege zur Erforschung des menschlichen Gedachtnisses, Gottingen, S. 166. Weiterhin sind bei der Gedachtnisbildung auch molekularbiologische Prozesse beteiligt, welche auf Grund des begrenzten Umfangs der Arbeit keine Vertiefung erfahren konnen. So ist es der Existenz eines bestimmten Molekuls zu verdanken, dass die Weiterleitung der Information vom Kurz- ins Langzeitgedachtnis unter bestimmten Bedingungen blockiert wird. Nur wenn die Wirkung des Molekuls unterdriickt wird, kann ein neuer Inhalt dauerhaft den Weg in das Gedachtnis finden, Der Neurotransmitter GABA (Gamma-Aminobuttersaure) ist eine hemmende und blockierende Substanz. GABA-Systeme bremsen die Neuronen, mit denen sie in Kontakt treten, und verhindem unter Umstanden, dass sie elektrische Nervensignale weiterleiten. Fiir eine detaillierte Beschreibung der molekularen Vorgange muss jedoch auf weiterfuhrende Literatur verwiesen werden. Eine iibersichtliche Einftihrung fmdet sich bei Robert, J.-M. (1995): Nervenkitzel: Den grauen Zellen auf der Spur, Heidelberg, S. 207-220 Gesprach mit Prof H. Scheich beziiglich einer Kooperation mit dem Lehrstuhl fur Marketing in Magdeburg, wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts fur Neurobiologie in Magdeburg am 09.Marz 1995.

118 schmeckend empfunden wurde, wahrend bei Nennung der Marken, Coca-Cola vor Pepi-Cola bevorzugt wurde. Als Montague seinen Probanden Coca-Cola und Pepsi blind servierte, bevorzugten die meisten Tester wie im ursprtinglichen Pepsi-Test die Pepsi-Cola. Mittels der fMRT-Technik war zu erkennen, dass der Endhimkem aufleuchtete (das sog. ventrale Putamen), und zwar fiinfmal so stark fur Pepsi wie fiir Coca-Cola. Dieses Areal ist eines der Belohnungszentren des Gehims und somit fur unser Wohlbefinden verantwortlich. Montague wiederholte das Experiment, erzahlte aber den Testpersonen diesmal, welche Marke sie gerade tranken. In diesem Versuch bevorzugten die meisten Probanden allerdings Coca-Cola. Auch im fMRT ergab sich ein anderes Bild, da die Neuronen verstarkt im medialen prafrontalen Cortex feuerten, ein Bereich, der fiir das Selbstbild einer Person pragend ist. Offenbar, so Montagues Interpretation, werden mit dem Namen Coca-Cola mehr positive Assoziationen und Selbstwertgefiihle verbunden als mit Pepsi.^"^Vorstellbar wird damit auch, dass durch die unbewussten Bewertungen allein schon der Auswahlprozess gesteuert wird, der die potenziell bewusstseinsfahigen Variablen (alternative Marken einer Produktkategorie) ins Bewusstsein des Verbrauchers riickt und damit das Relevant Set festlegt.

5.1.3

Experimentelle Erforschung des (verbalen) Lernens und Vergessens

Die Bildung von Erinnerung im Rahmen von Lemprozessen wurde in einer Vielzahl von Untersuchungen analysiert. Eine der ersten Studien stammt von Hermann Ebbinghaus, der zunachst in einem Selbstversuch die Anzahl der fur eine Erinnerung notwendigen Wiederholungen untersuchte.^^^ Um sicherzustellen, dass seine Versuchspersonen neue Assoziationen bilden und nicht auf vorhandenes Wissens zugreifen, verwendete er rund 2 000 sinnlose Silben als Lemmaterial (z.B. wux, caz, jek), die auf Grund ihrer Bedeutunslosigkeit in kein bereits bestehendes Assoziationsnetz passten."^^^ Per Zufallsauswahl stellte er unterschiedlich lange Wortlisten zusammen, die zwischen 7 und 36 Silbenworter bestanden. In einem Selbstversuch pragte er sich diese Listen ein, indem er sie mit einer Frequenz von 50 Wortem pro Minute laut las. Ergebnis seiner Beobachtungen war, dass er sich mit jedem Tag in einer vorhersehbaren mathematischen Progression mehr erinnem konnte. Das Experiment

Vgl. Tomlin, R. (2004): Neuroscience breaks down soft drink „battle" inside brain, in Baylor College of Medicine, 3. Jg., Nr. 9 (November), S. 12-29. Ein weiterer Befiind fur den Einfluss unbewusster Bewertungen auf das Verhalten, welche erst zu einem spateren Zeitpunkt verbalisiert werden konnten, lieferte das sog. Kartenexperiment von Iowa. Siehe dazu Bechara, A. et al. (1997): Deciding advantageously before knowing the advantages stragey, in: Science, Nr. 275 (Februar), S. 1293-1295. Vgl. Ebbinghaus, H. (1885): Uber das Gedachtnis, Leipzig. Vgl. Baddeley, A.D. (1979): Die Psychologic des Gedachtnisses, Stuttgart, S. 21-22.

119 bezog neben der Methode des emeuten Lemens und den damit verbundenen Einsparungen an Lemaufwand, um Behaltensleistungen zu erschliefien, auch das Phanomen des Vergessens mit ein. Aus den Befunden leitete er seine in Abbildung 23 dargestellten Lem- bzw. Vergessenskurven ab.

Abbildung 23: 100 1 \ 90-

Lem- bzw. Vergessenskurve nach Ebbinghaus

durchschnittliche Lemefspamis in %

8070-

eo50403020Behaltensintersall

100 -I I I 20mi "IStd.

1

9Std.

1T^

1

2T^e

1

6Tage

1

31T^e

Quelle: Schermer, F. (1991): Lemen und Gedachtnis, Stuttgart et al., S. 109.

Die Untersuchung der Geschwindigkeit, mit der Informationen vergessen werden, wurde von Ebbinghaus mithilfe der Erspamismethode in 169 Doppelversuchen untersucht. Jeder Doppelversuch bestand aus dem Erlemen von acht Listen mit je 13 Silben und dem Wiederlemen nach einem Intervall von 20 Minuten bis zu 31 Tagen. Um zu messen, wie viel in diesem Zeitraum vergessen worden war, wurde die Anzahl der zum Wiederlemen benotigten Lemdurchgange in Prozent der urspriinglich erforderlichen Anzahl ausgedriickt. Folglich gibt die Differenz zwischen diesem Wert und den vollen 100 Prozent an, welcher Prozentsatz des Materials behalten wurde. Die unabhangige Variable stellte in diesen Experimenten das seit der letzten vollstandigen Einpragung verstrichene Zeitintervall (20 Min., 1 Std., 9 Std., 1 Tag, 2 Tage, 6 Tage, 31 Tage) dar, dessen Einfluss auf die abhangige Variable „Behaltensleistung" bzw. „Vergessensumfang" interessierte. Es kristallisierte sich in den Studien eine negativ beschleunigte Kurve heraus, derzufolge in den ersten Stunden nach der Einpragung der grofite

120 Gedachtnisverlust eintritt. In der Folgezeit war ein deutlich geringerer Verlust zu beobachten, sodass kurz nach dem Erlemen eines Stoffs mehr vergessen wird als zu einem spateren Zeitpunkt."^^^ Allerdings wird der Verlauf des Vergessens, wie er in Abbildung 23 dargestellt wird, durch zahlreiche Faktoren beeinflusst, z.B. durch das eingesetzte Lemmaterial (sinnvoll Oder nicht sinnvoll), den vorhergehenden Lemprozess, situative Einfliisse und individuelle Faktoren, wie z.B. die vorhandene Motivation. Aus der Arbeit von Ebbinghaus war eine direkte Beziehung zwischen der Zahl der Wieder holungen am ersten Tag und der Menge der behaltenen Worter am nachsten Tag erkennbar. Damit liegt die Schlussfolgerung nahe, dass das Langzeitgedachtnis eine Erweiterung des Kurzzeitgedachtnisses darstellt.^^^ Weiterhin war aus den empirischen Studien unmittelbar erkennbar, dass einem zunachst starken Abfall der Erinnerungsleistung vor allem in den ersten Stunden nach dem Lemen eine Phase des weniger starken Riickgangs iiber einen Zeitraum von vier Wochen folgte. Insgesamt wurden 75 Prozent der gelemten Information bereits in der zweiten Woche vergessen, nach Ablauf der vierten Woche waren 95 Prozent der Informationen der ersten Woche verloren. Der Verlauf der Geschwindigkeit des Vergessens ist dabei eindeutig nicht-linear, d.h. es ist sogar eine logarithmische Beziehung erkennbar.^^"^ Auch Strong, der in seiner Studie Werbeanzeigen anstatt sinnloser Silben einsetzte, kam zu einer negativ beschleunigten Lemkurve.^^^ Dass ein derartiger Lemkurvenverlauf auch fur TV-Spots unterstellt werden kann, zeigten die Experimente von Zielske.^^^ Diese Funktion wurde durch zahlreiche Studien bestatigt und ergab sich auch unter Einsatz unterschiedlicher Lemmaterialien und Priifmethoden, wenngleich es dann zu signifikanten Unterschieden in der Auspragung der Kurve kam. So ist die Vergessensrate bei sinnhaltigem Material deutlich geringer als bei sinnlosem, zeigt aber immer noch den negativ beschleunigten Verlauf

Vgl. Schermer, F. (1991): Lemen und Gedachtnis, Stuttgart et al., S. 109. Vgl. Kandel, E. (2006): Auf der Suche nach dem Gedachtnis, Mtinchen, S. 23If. Obwohl in zahlreichen Veroffentlichungen die Erinnerungsfunktion von Ebbinghaus als eine logarithmische Funktion dargestellt wird, handelte es sich bei seiner komplexen Erinnerungsfunktion tatsachlich um eine Kombination aus logarithmischer und hyperbolischer Funktion sowie der Potenzfunktion. Vgl. Rubin, D.C./ Wenzel, A.E. (1996): One hundred years of forgetting: A quantitative description of retention, in: Psychological Review, 103, S. 749. Vgl. Strong, E.K. (1912): The Effect of Length of Series Upon Recognition, in: Psychological Review, Nr. 19, S. 44-47. Siehe dazu die Ausfuhrungen in Kapitel 4.3.1.2.

121

5.2

Neurophysiologische Grundlagen des Gedachtnis

5.2.1

Neuronale Strukturen des Lernens und Erinnerns

5.2.1.1

Anatomische Grundlagen

Zum Verstandnis hoherer geistiger Prozesse im Rahmen von Lemen und Erinnerung, sind die damit in Verbindung stehenden neuronalen Substrate naher zu betrachten. Ausgehend von der Erkenntnis, dass alle geistigen Prozesse biologischer Natur sind, d.h. vom Gehim hervorgebracht werden, und bestimmte geistige Funktionen abgegrenzten Regionen des Cortex (GroBhimrinde) zugeordnet werden konnen, sind Kenntnisse der anatomischen Organisation des Gehims unabdingbare Voraussetzung fur die Entwicklung einer Lemtheorie in der Werbewirkungsforschung. Wie aus Abbildung 24 ersichtlich kann zwischen Himstamm (als Fortsetzung des Riickenmarks), der das Aufmerksamkeitsverhalten regelt, dem dariiber liegenden Hypothalamus, dem Thalamus, dem Kleinhim, und den GroBhimhalften (Hemispharen) mit der GroBhimrinde (Isocortex) als tiefgefurchter AuBenschicht unterschieden werden. Mit dem Isocortex^^^ wird der aus sechs Zellschichten bestehende evolutionsgeschichtlich jiingste Teil des Gehims bezeichnet, der fur die hoheren geistigen Funktionen wie Wahmehmung, Handeln, Sprache und Planung zustandig ist.^^^ Verbunden sind die beiden paarig angeordneten Hemispharen durch den sog. Balken (Corpus callosum).

Der Begriff Cortex bedeutet wortlich "Baumrinde" und steht fur die ausgebuchtete Oberflache des Gehims. Falschlicherweise wird dieser Teil des GroBhims haufig auch als Neocortex bezeichnet. Vgl. Roth, G. (2003): Fiihlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. Aufl., Frankfurt, S. 99. Vgl. Cytowic, R.E. (1996): Farben horen, Tone schmecken, Munchen, S. 29f. Der Begriff wird im Text synonym zu Cortex verwendet.

122

Abbildung 24:

Hauptregionen des Gehims GroBhimrinde

Hypothalamus Hirnstamm

-\

Quelle: Kandel, E. (2006): Auf der Suche nach dem Gedachtnis, Miinchen, S. 62.

Die beiden Hemispharen werden jeweils in vier Lappen unterteilt, welche der Abbildung 25 zu entnehmen sind. Es werden der Frontal-, Temporal-, Occipital und Parietallappen unterschieden, wobei sich diese Gliederung vorwiegend nach anatomischen und weniger nach funktionalen Gesichtspunkten richtet.^^^ Die verschiedenen flinktionellen Systeme (z.B. visueller oder auditorischer Cortex) werden durch die von Brodmann eingeteilten 52 Himareale bezeichnet.^^^ Abbildung 25:

Lappen der GroBhimrinde

Frontallappen

/"~\ ,-. { '

y

'

"

/

^

'



'

Parietallappen

%

•y^.y :,:\ - _~~ \ /

\ ' ' '"^^\ \ ^ ~\~/ ./' •j Temporallappen •-'^^-^

y ^

Okzipitallappen

Quelle: Kandel, E. (2006): Auf der Suche nach dem Gedachtnis, Miinchen, S. 128.

Die Benennung der jeweiligen Lappen ist von dem jeweiligen Schadelknochen abgeleitet, unter welchem er liegt. Vgl. Kolb, B./ Whishaw, I.Q. (1993): Neuropsychologie, Heidelberg u.a., S. 12. Vgl. zu den Brodmann-Arealen Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig iiberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. lOOf. sowie Kolb, B./ Whishaw, I.Q. (1993): Neuropsychologie, Heidelberg u.a, S. 15.

123 Die (sensorischen) Erregungen (z.B. visuelle oder auditive Reize) werden von den Nervenzellen (Neuronen) aufgenommen und verarbeitet bzw. weitergegeben."^^^ Abbildimg 26 zeigt den Aufbau einer Nervenzelle bestehend aus einem Zellkorper, den Fortsatzen (Dendriten) und einem Fortsatz (Axon). '

Abbildung 26:

Aufbau einer idealisierten Nervenzelle

Empfangseiement (Dendriten)

Axonendlgungdes Senderneurons

^ynaptischer Spalt

Zellkorper

UbertragungS' element (Axon und Endigungen)

Quelle: Kandel, E. (2006): Auf der Suche nach dem Gedachtnis, Miinchen, S. 80.

Daneben gibt es noch die sog. Gliazellen, welchen eine Stutz- und Versorgungsfiinktion zukommt. Inwieweit sie spezifischer an der neuronalen Erregimgsverarbeitimg beteiligt sind, ist umstritten. Vgl. Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. Aufl., Frankfurt, S. lOlf. Bei den Dendriten kann es zu sog. Domfortsatzen (spine) kommen (hier nicht eingezeichnet), die zu den erregenden Synapsen gezahlt werden.

124

Die Dendriten dienen der Erregimgsaufnahme, wahrend das Axon mit der Weitergabe der Erregung an andere Zellen (Nervenzellen, Muskelzellen etc.) befasst ist. Die Erregungsverarbeitung im Nervensystem und im Gehim erfolgt tiber sog. Aktionspotenziale. Diese stellen elektrische Impulse dar, welche uber die Oberflache (Membran) der Nervenzelle von Axon zu Axon tiber sog. Synapsen laufen. Die Synapsen bestehen aus Endverdickungen von Axonen (Prasynapsen), die an einem bestimmten Ort an einer anderen Nervenzelle ansetzen (Postsynapse). Bei chemischen Synapsen losen die Aktionspotenziale entsprechend den AusstoB von chemischen Boten- oder Ubertragerstoffen (Neurotransmitter) aus (Synapsenpotenzial), die wiederum in den Zwischenraum von Pra- und Postsynapse ( = synaptischer Spalt) eindringen und von dort aus auf die Postsynapse einwirken. Durch die Wirkung des Transmitters auf die Postsynapse kann die Membran nun ihre elektrische Spannung^^^ verandem, sodass die Erregung von der Postsynapse tiber die Dendriten zum Zellkorper und weiter zum Axon geleitet wird und u.U. wiederum Aktionspotenziale auslost.^^^ Inwieweit ein Impuls einen groBen oder kleinen Effekt auf die Erregung des nachfolgenden Neurons hat, ist von der Starke der synaptischen Verbindung abhangig.^^^ Hinsichtlich der moglichen Wirkungsweisen der Synapsen ist zwischen der Erregung (Exzitation) und Hemmung (Inhibition) der Nervenzellen zu unterscheiden. Ob eine Prasynapse auf die nachfolgende Postsynapse erregend oder hemmend wirkt, hangt nicht nur von der Art des Transmitters ab, sondem auch von der chemischen Empfanglichkeit der postsynaptischen Membran. Als wichtigster Transmitter, der iiberwiegend erregend wirkt, ist das Glutamat zu nennen, wahrend die beiden wichtigsten hemmend wirkenden Transmitter die Gamma-Amino-Buttersaure (GAB) und Glycin darstellen. Alle drei sind ftir die schnelle (im Bereich von Millisekunden liegenden) Erregungsiibertragung verantwortlich. Als langsamer wirkende Transmitter (im Bereich von Sekunden) gelten dagegen die Stoffe Noradrenalin, Serotonin, Dopamin und Acteylcholin. Da sie einen Einfluss auf die schnellen Transmitter

Im Ruhezustand weist das Zellinnere gegeniiber der Umgebung eine negative Spannung von ca. 70 Millivolt auf. Eine Verringerung der negativen Spannung, teilweise sogar eine Umkehrung in den positiven Bereich nennt man Depolarisation. Entsprechend spricht man von Hyperpolarisation, wenn die negative Spannung verstarkt wird. Letzters bewirkt eine Hemmung der Zelle und hat zur Folge, dass sie fur nachfolgende Erregungen von der vorgeschalteten Zelle vorubergehend unempfmdliche wird. Ftir eine vertiefende Betrachtung hinsichtlich der Membran- und Aktionspotentiale siehe Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeb, neue, v5llig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 104-112. Ftir eine tiefergehende Darstellung der Erregungsubertragung siehe Kandel, E. (2006): Auf der Suche nach dem Gedachtnis, Munchen, S. 285-301 sowie Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig tiberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 102-123. Der gleiche Impuls hat somit je nach Synapsenstarke eine unterschiedliche Wirkung. Siehe dazu auch die Ausfuhrungen in Kapitel 5.2.2 Langzeitgedachtnis: Synaptische Wachstumstheorie.

125^ ausiiben, werden sie auch Neuro-Modulatoren genannt.^^^ Dem Dopamin kommt neueren Erkenntnissen zufolge eine besondere Rolle im Rahmen von Lemprozessen zu. Gerade der prafrontale und orbitofrontale Cortex, die im Rahmen kognitiver Vorgange eine entscheidende Rolle spielen^^^, stehen mehr als andere Teile der GroBhimrinde unter dem Einfluss des dopaminergen Systems. Dessen Einfluss auf die synaptische Ubertragung fordert die bei Lemprozessen notwendige neuronale Plastizitat.^^^ Im menschlichen Gehim spielt die Tatigkeit eines einzelnen Neurons allerdings kaum eine Rolle, sondem vielmehr das Zusammenspiel Tausender oder Millionen anderer Nervenzellen mit dergleichen Funktion. Neurone, welche gleiche Funktionen aufweisen, sind meist zu anatomisch sichtbaren Gruppen zusammengefasst, die man als Kerne (lat. Nuclei) bezeichnet. Diese Kerne haben eine sensorische Funktion, wenn sie an der Entstehung von Wahmehmungen beteiligt sind. Dagegen spricht man von motorischen Funktionen, wenn sie die Steuerung des Bewegungsapparates bewirken. Bei komplexeren Wahmehmungsleistungen, wie Denken, Vorstellen oder Erinnem, handelt es sich um kognitive Funktionen. Dagegen liegt eine limhische Funktion immer dann vor, wenn die neuronalen Kerne am Entstehen und an der Kontrolle von Affekten und Gefuhlen beteiligt sind. Um exekutive Funktionen handelt es sich dann, wenn sie mit der Planung und Vorbereitung von Handlungen zu tun haben.^^^

5.2.1.2

Temporaler und frontaler Assoziationscortex

Im Rahmen von Denk- und Entscheidungsprozessen sind hauptsachlich die zwei in Abbildung 27 dargestellten Bereiche im Assoziationscortex^^^ des Frontallappens (frontaler Assoziationscortex) maBgeblich beteiligt:^^^

Zusammen mit anderen chemischen Himsubstanzen, Neuropeptide und Neurohormone, haben diese eine tiefgreifende Wirkung auf die seelische Befmdiichkeit. Vgl. Roth, G. (2003): Aus der Sicht des Gehims, Frankfurt a.M., S. 16. Die Bedeutung und Funktion dieser dem Frontallappen zugehorigen Gehimregionen werden in Kapitel 5.2.1.2 dargestellt Vgl. Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, v5llig tiberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 151, 191. Die neuronale Plastizitat, d.h. die Fahigkeit des Gehims, sich zu reorganisieren, ist die molekulare Entsprechung des Lemens und wird in Kapitel 5.2.2 ausgefuhrt. Vgl. Roth, G. (2003): Aus der Sicht des Gehims, Frankfurt a.M., S. 16 f. Der assoziative Cortex umfasst diejenigen Teile der GroBhimrinde, die nicht sensorische oder motorische Himrindenareale sind. Vgl. Kolb, B./ Whishaw, I.Q. (1993): Neuropsychologic, Heidelberg u.a., S. 48. Vgl. Damasio, A.R. (1995): Descartes' Irrtum: Fuhlen, Denken und das menschliche Gehim, Munchen, S. 61-62; Roth, G. (2003): Aus der Sicht des Gehims, Frankfurt a.M., S. 62f. Der Langsschnitt des Gehims in Abbildung 25 vermittelt einen tJberblick iiber die Lage der im Weiteren besprochenen neuronalen Stmkturen.

126

-

prafrontaler Cortex: Dieser ist am Erfassen der handlungsrelevanten Sachlage, der zeitlich-raumlichen Strukturierung von Wahmehmungsinhalten, an planvollen und kontextgerechten Handlungs- und Sprechvorgangen sowie an der Entwicklung von Zielvorstellimgen beteiligt.

-

orbitofrontaler Cortex: Er ist fur die Einschatzung der langerfristigen Konsequenzen unseres Handelns zustandig, d.h. dort werden Handlungen mit sozialen Erwartungen abgestimmt.

Abbildung 27:

Medianansicht des menschlichen Gehims

Gyrus «'"9u'«

Corpus Grofthirnrinde callosum Medialansicht ^ ^ \ L... Thalamus . \ / ^ / "^~7(-v^ Fornix

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Quelle: Roth, G. (2003): Aus der Sicht des Gehims, Frankfurt a.M., S. 13.

Im prafrontalen Cortex werden die bewusst ablaufenden Himflinktionen vermutet, wie kognitive Leistungen, komplexe Wahmehmungen, Vorstellungen, Erinnerungen und Handlungsplanungen sowie das Sprachzentrum. Er gilt damit auch als Sitz des Arbeitsgedachtnisses.^^^

Vgl. Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 148. Siehe zum Begriff des Arbeitsgedachtnisses Kapitel 5.1.2.

127 Dariiber hinaus ist der frontale Cortex am intemen Praferenzsystem und damit an der Kerintnis und Codiemng der personlichen Vorlieben (z.B. Apfel vor Niissen) beteiligt, indem er Signale aus bioregulatorischen Abschnitten des menschlichen Gehims (v.a. dem limbischen System) empfangt.^^^ Zwischen dem Frontal- und dem Temporallappen auf der gleichen Hemisphare besteht eine komplementare Beziehung.^^"^ Der Temporallappen gilt als Zulieferer fur das emotionale und das kognitiv-deklarative Gedachtnis in der Amygdala und der Hippocampusformation, welche sich nach unten und innen an den Temporallappen anschliefien. Er stellt eine wichtige, mit dem Gedachtnis in Verbindung stehende Gehimregion dar, dessen Strukturen (wie z.B. der anteriore temporale Cortex, die Amygdala, der Hippocampus und der entorhinale Cortex) auf unterschiedliche Weise an der Bildung von Erinnerung beteiligt sind.^^"^ Man geht davon aus, dass vor allem die mediale temporale Region und hierbei insbesondere der subcortical limbische Cortex bei Lemprozessen eine funktionale Beziehung mit dem prafrontalen Cortex eingeht.^^^ Es besteht eine Vielzahl von Afferenzen zwischen beiden Cortices, wobei angenommen wird, dass dem linken prafrontalen Cortex verbale und dem rechten nichtverbale Gedachtnisinhalte vermittelt werden. Studien zur Untersuchung beziiglich der beteiligten Himregionen bei der langzeitigen Einspeicherung von visuellen Informationen aus der TVWerbung konnten jedoch zeigen, dass die Konsolidierung von visueller Information im linken frontalen Cortex stattfmdet.^^^ Dieser Befund spricht fur das von Tulving und seinen Mitarbeitem entwickelte Modell, nach dem der linke Frontalcortex fiir das Einspeichem, der rechte fur das Auslesen von Gedachtnisinformation zustandig ist.^^^ Andere Studien wiederum legen den Schluss nahe, dass der Frontalcortex nur am Abruf von episodisch-autobiografischen

Vgl. Vgl. Bachmarm, K. (2003): Die verkaimte Macht der Gefuhle, in: Geo Wissen, Nr. 32, S. 30; Damasio, A.R. (1995): Descartes' Irrtum: Fiihlen, Denken und das menschliche Gehim, Munchen, S. 247 f. So spielt auf der linken Seite der Temporallappen eine wichtige Rolle fiir die verbale Erkennung und der Frontallappen fiir die Merkfahigkeit der Reihenfolge von Worten. Lasionen im rechten Temporallappen fuhren zu einem Versagen der Bilderkennung und im Bereich des rechten Frontallappens wird die zeitliche Ordnung der visuellen Erfahrungen gestort. Vgl. Popper, K.R./ Eccles, J.C. (1997): Das Ich und sein Gehim, 6. Aufl., Munchen, Zurich, S. 416 f. Vgl. Cameron, A. (2001): Human hippocampal neurons predict how well word pairs will be remembered, in: Neuron, 30. Jg. (April), S. 289-298; Kolb, B./ Whishaw, I.Q. (1993): Neuropsychologic, Heidelberg u.a., S. 242; Roth, G. (2003): Fiihlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfiirt, S. 146. Vgl. Roth, G. (2003): Fiihlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfiirt, S. 160. Video-Bilder, welche die schnellste Himaktivitat im linken fi-ontalen Cortex hervorriefen, konnten auch besser wiedererkannt werden. Vgl. Rossiter, J.R./ Silberstein, R.B. (2001): Brain-Imaging Detection of Visual Scene Encoding in Long-term Memory ft)r TV-Commercials, in: Journal of Advertising Research, 41. Jg.,Nr.2, S. 15f Vgl. Rossiter, J.R./ Silberstein, R.B. (2001): Brain-Imaging Detection of Visual Scene Encoding in Longterm Memory for TV-Commercials, in: Journal of Advertising Research, 41. Jg., Nr. 2, S. 14.

128 Gedachtnisinhalten beteiligt ist, wohingegen die Erinnerung an semantische Inhalte (Wissensdaten) in den Zustandigkeitsbereich des Temporalcortex fallt.^^^ Die Neurone im assoziativen Cortex sind multimodal, d.h. sie konnen auf verschiedene Arten den sensorischen Input verarbeiten. Zugleich sind sie hochintegrativ, da dort die unterschiedlichsten Informationen zusammenlaufen. Bedeutsam ist, dass dieser Teil des GroBhims in hoherem MaBe mit dem limbischen System verbunden ist, dessen emotionales Bewertungssystem einen starken Einfluss v.a. auf den prafrontalen und orbitofrontalen Cortex ausiibt. Emotion und Kognition sind somit architektonisch eng miteinander verkniipft und bedingen sich gegenseitig.^^^ Diese enge Verbindung ist als Ursache fur den experimentell zu beobachtenden Einfluss von emotionalen Gestaltungselementen der Werbung (Werbequalitat) auf die kognitive Verarbeitung anzusehen, welche im Ergebnis zu Markenbekanntheit fiihren kann.^^^ Insgesamt steht jedoch ein umfassendes Verstandnis der Funktionen des Frontallappens auf Grund seiner Komplexitat und Vielfalt der (reziproken) Verbindungen^^^ auch mit subcorticalen Regionen, wie dem limbischen System, weitgehend noch aus. In der Diskussion iiber Funktions-Lokalisations-Zuordnung des Gedachtnisses wurde erst in neuerer Zeit der Einfluss des limbischen Systems bei der Bildung von Gedachtnisinhalten zunehmend beriicksichtigt. So konnte im Rahmen eines Projektes an der Universitat Magdeburg, welches die Untersuchung von beteiligten neuronalen Strukturen bei der Wahmehmung von Femsehwerbung zum Gegenstand hatte, zunachst nicht im prafrontalen Cortex eine Aktivitat nachgewiesen werden, sondem nur im Schlafenlappen. Dort befmdet sich neben der Hippocampus-Formation auch die Amygdala, eine Gehimstruktur, welche - wie im folgenden Abschnitt dargelegt wird - ftir die emotionale Bewertung von visuellen Informationen zustandig ist. Die hierarchische Verarbeitung visueller Informationen beginnt dabei im primaren Cortex (im Occipitallappen), wobei die Informationen parallel in unterschiedliche Orte des Assoziationscortex weitergeleitet werden. Assoziative Areale sind den primaren und sekundaren sensorischen Gehimarealen somit nachgeschaltet und hierarchisch hoher angesiedelt, d.h. es ist davon auszugehen, dass sowohl eine parallele als auch eine sequentielle Informationsverarbeitung stattfmdet. So werden visuelle Informationen, die mit der Objekterkennung („was") befasst sind, iiber einen eigenen Verschaltungsweg im Temporallappen verarbeitet.

Vgl. Squire, L.R./ Knowlton, B. (1995): Memory, hippocampus, and brain systems, in: Gazzaniga et al. (Hrsg.) (1995): The Cognitive Neurosciences, Cambridge, Mass., S. 825-836. Vgl. Roth, G. (2003): Fiihlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 221 f. Siehe dazu Kapitel 4.3.2. Eine ausfuhrliche Darstellung der cortical-subcorticalen Ruckkoppelungsschleifen findet sich bei Kolb, B./ Whishaw, I.Q. (1993): Neuropsychologic, Heidelberg u.a., S. 46-48.

129 wahrend eine parallele sekundare Route zwar im gleichen primaren Areal beginnt, jedoch Informationen beziiglich des Ortes („wo") wahrgenommener Objekte im parietalen Cortex verarbeiten. Das Identifizieren und Kategorisieren von Objekten beansprucht Assoziationsfelder im Temporallappen, wo auch deren Bedeutung erfasst wird.^^^ Die Verarbeitung der visuellen Informationen aus der Verschaltungsschleife der auditorischen und visuellen Objekterkennung im Temporallappen ist moglicherweise auch die Erklarung fur die im Magnetresonanztomographen (MRT) zu beobachtende Gehimaktivitat in der temporalen Region im Rahmen des oben genannten Magdeburger Femsehprojektes

5.2.1.3

Hippocampus und limbisches System

Mit der zunehmenden empirischen Evidenz, dass nicht nur die Verhaltenssteuerung, sondem auch Gedachtnisprozesse zum grofiten Teil auf emotionalen Vorgangen beruht,^^"^ verstarkten sich die neurowissenschaftlichen Forschungsbemiihungen auf die neuronalen Korrelate der Gedachtnisspeicherung. Samtliche neuronalen Prozesse, auf denen geistige Phanomene wie Wahmehmung, Lemen, Erinnerung, Gefiihl und Empfmden basieren, werden neben dem Hypothalamus"^^^ und dem Himstamm hauptsachlich vom limbischen System gesteuert. Der Begriff des „limbischen Systems"^^^ steht fur eine komplexe Ansammlung miteinander verbundener Himkeme oder neuronaler Zentren, die in der Fachliteratur unterschiedlich weit gefasst werden.^^^ Die fur die enge Verbindung zwischen Emotion und Kognition bedeut-

Vgl. Kolb, B./ Whishaw, I.Q. (1993): Neuropsychologie, Heidelberg u.a., S. 50f; Roth, G. (2003): Fiihlen, Denken, Handeln, neue, voUig iiberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 146. Im Rahmen eines Projekts des Lehrstuhls ftlr Marketing unter der Leitung von Prof. Erichson wurde mittels MRT die Gehimaktivitat der Testperson beim Betrachten von Werbung gemessen. Wahrend zunachst im fur kognitive Prozesse hauptsachlich zustandigen Frontallappen keine erhohten Stoffwechselprozesse stattgefunden haben, war eine Aktivitat im Temporallappen zu erkennen. Weiterhin finden dort auch Bewertungen des Gesehenen durch das limbische System statt. Siehe dazu Kapitel 5.2.1.3. Vgl. Damasio, A.R. (1995): Descartes' Irrtum: Fiihlen, Denken und das menschliche Gehim, Miinchen, S. 108 ff.; Phelps, E.A./ Anderson, A.K. (1997): Emotional memory: What does the amygdala do?, in: Current Biology, 7. Jg., Nr. 5, R311-R314. Der Hypothalamus ist eine Himregion, die flir emotionalen Ausdruck und Hormonausschiittung zustandig ist. Vgl. Kandel, E. (2006): Auf der Suche nach dem Gedachtnis, Munchen, S. 159. Der Begriff wurde von MacLean 1952 im Rahmen seiner Ausftihrungen zum „dreieinigen Gehim" gepragt, der das limbische System zwischen den entwicklungsgeschichtlich neueren (Cortex) und den ursprunglich alteren Himpartien ansiedelte. Die hierarchische Anordnung ftihrte lange Zeit zu der Vorstellung, dass der Cortex als Sitz des menschlichen Geistes alle anderen Telle beherrscht. Neueren Erkenntnissen zufolge stehen die komplexen anatomischen Verbindungen zwischen dem Cortex und den subcorticalen Gebieten jedoch in wechselseitiger Abhangigkeit, sodass die Vorstellung der Dominanz des Isocortex uber die phylogenetisch alteren Telle als iiberholt gilt. Vgl. Cytowic, R.E. (1996): Farben h5ren. Tone schmecken, Miinchen, S. 187-189. Manche Neuroanatomen zahlen die Hippocampus-Formation nicht zum limbischen System, da diese iiberwiegend mit kognitiven Funktionen im Zusammenhang mit Gedachtnis und Aufmerksamkeit befasst ist.

130 samen Schaltkreise des limbischen Systems mit dem prafrontalen Cortex sind in einem einfachen Modell in Abbildung 28 dargestellt, welches sich auf die wesentlichen an der Speicherung beteiligten, neuronal verkniipften Zellgmppen beschrankt. Es wird vermutet, dass die Vorderhimstrukturen des limbischen Systems zusammen mit den corticalen Regionen an der Zuordnung des Erlebniswertes (z.B. Gefallen der Werbung) zu Objekten (Marken) arbeiten.

Abbildung 28:

Modell neuronaler Schaltkreise der Emotions-Kognitions-Verschrankung

prafrontaler Cortex

Assoziationscortex

Gyrus cinguli

Hippocampusformation

anteriore Thalamuskerae

f

Amygdala Mammilarkorper Hypothalamus

limbisches System

Quelle: Schiepek, G. (2004): Neurobiologie der Psychotherapie, Stuttgart, S. 3.

Zusammen mit anderen, nahe gelegenen Strukturen des Temporallappens (z.B. entorhinaler Cortex, Amygdala) hat der Hippocampus als Teil des Schlafenlappens nachweislich einen besonderen Einfluss auf die Gedachtnisbildung.^^^ Als Hauptbestandteil des limbischen

Vgl Roth, G. (2003): Fiihlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 256ff. Kritisich au6erte sich auch der amerikanische Neurobiologe LeDoux uber den Begriff des limbischen Systems, da es sich seiner Ansicht nach um ein anatomisch und funktional auBerst heterogenes Gebilde handele, welches sich von anderen funktionalen Systemen des Gehims nicht eindeutig abgrenzen lasse. Vgl. LeDoux, J.A.(1998): Das Netz der Gefuhle. Wie Emotionen entstehen, Miinchen, Wien. Eine Reihe von Testverfahren belegen vorhandene Korrelationen zwischen dem AusmaB einer Gedachtnisstorung mit der Grofie einer unilateralen Lasion des Hippocampus. Vgl. Kolb, B./ Whishaw, I.Q. (1993): Neuropsychologic, Heidelberg u.a., S. 314.

13^ Systems wird ihm bei der Speicherung und Konsolidierung^^^ von Gedachtnisinhalten eine entscheidende Rolle zugeschrieben. Dabei gilt der Hippocampus als das Tor der individuellen Wahmehmung. Nur Informationen, die den Hippocampus passieren, konnen in den Neuronennetzen abgelagert werden. Das bedeutet, dass zunachst alle extemen sensorischen Signale (mit Ausnahme des Geruchssinns^^^) von den jeweils zustandigen sinnesspezifischen Teilen der GroBhimrinde^^^ verarbeitet werden. Um ins Bewusstsein zu gelangen (explizites Gedachtnis), mussen die unbewusst wahrgenommenen Sinnesreize an den Hippocampus weitergeleitet und dort verarbeitet werden, bevor sie zuriick an den Cortex zur Speicherung verteilt werden. Dabei erfolgt das Abspeichem genau an der Stelle, an welcher ursprunglich der unbewusst wahrgenommene Reiz verarbeitet worden ist.^^^ Die Beobachtung, dass es bei Eintreffen der neuronalen Sinnesreize in der GroBhimrinde zunachst nicht zu einer unmittelbar bewussten Empfindung kommt^^^, konnte Libet in einer aufsehenerregenden Studie"^^"^ iiber die zeitHche Beziehung von bewusster Wahmehmung zu Vorgangen im primaren sensorischen Areal der GroBhimrinde bestatigen.^^^ Dariiber hinaus stellte er fest, dass die wenigsten Wahmehmungen tatsachUch bewusst werden - und wenn, dann auch noch zeitUch verzogert.^^^

Die Konsolidierungsphase umfasst den Zeitraum beginnend vom ersten Einpragen bis zur dauerhaften Speicherung. Vgl. Kroeber-Riel, W./ Weinberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, 8. Aufl., Munchen, S. 360. Das Geruchssystem projiziert iiber den Cortex piriformis (PC) und die Amygdala (A) direkt zum limbischen System ohne zuvor die neocorticalen Bahnen zu passieren, wie die somatosensiblen (Beruhren), visuellen (Sehen) und auditorischen (Horen) Systeme. Vgl. Popper, K.R./ Eccles, J.C. (1997): Das Ich und sein Gehim, 6. Aufl., Munchen, Zurich, S. 334. Jeder Sinn ist in seinem primaren Projektionsfeld in der Himrinde, d.h. dem zugehorigen Brodmannschen Feld, landkartenartig ausgebreitet. Modalitaten und Qualitaten von Sinnesreizen werden nicht durch die Beschaffenheit der damit verbundenen neuronalen Aktivitat festgelegt, sondem durch den Ort der Verarbeitung im Gehim. Vgl. dazu ausftihrlicher Kolb, B./ Whishaw, I.Q. (1993): Neuropsychologie, Heidelberg u.a.,S. 13-16. Physiologisch gesehen sind Wahmehmen und Speichem somit an gleicher Stelle im Gehim lokalisiert. Vgl. Kandel, E. (2003): Hime verandem sich, in: Spiegel Special "Die Entschlusselung des Gehims", 4/2003, S.73. Vgl. Popper, K.R./ Eccles, J.C. (1997): Das Ich und sein Gehim, 6. Aufl., Munchen, Zurich, S. 312. Libet griff als einer der ersten Wissenschafller in das Gehim lebender Patienten ein, um anhand der Untersuchung von Hautempfmdungen herauszufmden, das die Wahmehmung des Sinnesreizes erst verzogert bewusst wird. Vgl. dazu Libet, B. (1978): Neuronal vs. subjective timing for a conscious sensory experience, in: Buser, P.A./ Rougeul-Buser (Hrsg.) (1978): Cerebral Correlates of Conscious Experience, Amsterdam u.a., S. 69-82; Libet, B. (1990): Cerebral processes that distinguish conscious experience from unconscious mental functions, in: Eccles, J.C./ Creutzfeldt, O.D. (Hrsg.) (1990): The principles of design and operation of the brain, Pontificae Academiae Scientiamm Scripta Varia 78, S. 185-202. Vgl. Popper, K.R./ Eccles, J.C. (1997): Das Ich und sein Gehim, 6. Aufl., Munchen, Zurich, S. 309. Vgl. Kraft, U. (2004): Schone neue Neuro-Welt, in: Gehim & Geist, Nr. 6, S. 28f; Roth, G. (2003): Aus der Sicht des Gehims, Frankfurt a.M., S. 176-178.

132 Der Hippocampus ist jedoch nicht der Ort, an dem die Gedachtnisinhalte selbst abgelegt werden, da bei dessen Schadigimg nur das Abspeichem und Abrufen von Ereignissen nach der Stoning dieser Gehimfunktion (anterograde Amnesie) nicht mehr moglich ist. Bereits gespeicherte Informationen und deren Abruf bleiben davon unberiihrt. Der Hippocampus ist vielmehr als Organisator des bewusstseinsfahigen, deklarativen Gedachtnisses anzusehen. Nach gegenwartiger Anschauung legt er fest, welche Wahmehmungsinhalte wo und in welcher Weise bzw. in welchem Kontext in den unterschiedUchen neuronalen Netzen (Gedachtnisstrukturen) niedergelegt werden. VermutHch ist er auch am Abruf von Gedachtnisinhalten und damit an Erinnerungsprozessen beteiligt.^^^ Somit zeichnet sich der Hippocampus fur das Niederlegen der Gedachtnisspur und den Zugriff auf das Gedachtnis (Erinnem) verantwortUch.^^^ Deklarative Gedachtnisinhalte werden im Isocortex festgelegt, vermutlich in erster Linie im assoziativen Cortex, wobei die Konsolidierung modalitats-, qualitats- und funktionsspezifisch geschieht.^^^ Dem Hippocampus kann damit eine Art doppelte Funktion unterstellt werden. Zum einen dient er als zeitlich voriibergehendes Stiitzgewebe fur neue Erinnerungen, indem er als dazwischenliegende Verbindungsstation von Verkniipfungen arbeitet, bevor diese auf corticaler Ebene fest etabliert sind. Zum anderen fungiert er als Kontrollzentrum fur Plastizitat, im Sinne der Formbarkeit der Verbindungen der Nervenzellen unter dem Einfluss der wiederkehrenden Erregungsmuster (z.B. durch Veranderungen in der Synapseneffizienz)."^^^

Vgl. Roth, G. (2003): Fiihlen, Denken, Handeln, neue, vollig tiberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 167. Dass der Hippocampus bei der Alzheimerischen Erkrankung besonders betroffen ist, gilt als weiterer Beleg fiir dessen Rolle als Organisator des Langzeitgedachtnisses. Vgl. Holtmann, W./ Struder, H.K./ Tagarakis, C.V.M. (2003): Korperliche Aktivitat fordert Gehimgesundheit und -leistungsfahigkeit, in: Nervenheilkunde, 22. Jg., S. 467-474. Vgl. Popper, K.R./ Eccles, J.C. (1997): Das Ich und sein Gehim, 6. Aufl., Munchen, Ztirich, S. 454, 471; Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 167. Ein vom Hippocampus kontrolliertes Erregungssystem hat moglicherweise eine wichtige Rolle als Kontrollzentrum fur Plastizitat inne. Vgl. Popper, K.R./ Eccles, J.C. (1997): Das Ich und sein Gehim, 6. Aufl., Miinchen, Ztirich, S. 467-479. Siehe auch die Ausfuhrungen in Kapitel 5.2.2.

133

Wahrend mehrheitlich davon ausgegangen wird, dass der Hippocampus die isocorticalen Vorgange"^^^ in erster Linie nach kognitiven Aspekten (z.B. die Objekterkennung) steuert, werden die emotionalen und motivationalen Komponenten iiber die neuromodulatorischen'^^^ Systeme vermittelt, von denen das cholinerge basale Vorderhim, welches die gerichtete Aufmerksamkeit beeinflusst, und das dopaminerge mesolimbisch-mesocorticale System, welches ftir Neugier, Interesse, Belohnung steht, im Rahmen der Wahmehmung von Neuproduktwerbung eine groBe Rolle spielen diirften. Die Amygdala hat insoweit eine Schliisselfunktion inne, da sie iiber ihren Einfluss auf das basale Vorderhim indirekt die cholinerge Modulation neuronaler Netzwerke steuert. Dariiber hinaus beeinflusst und kontrolliert sie in hohem MaBe auch den Hippocampus. Es wird vermutet, „dass beim episodischen Gedachtnis Hippocampus und limbische Zentren (Amygdala, mesolimbisches System) arbeitsteilig zusammenwirken, indem der Hippocampus die Details des Erinnerten, die Amygdala und das mesolimbische System die Emotionen hinzuliefem.""^^^ Insofem ist die basolaterale Amygdala bei der Konsolidierung von Gedachtnisinhalten durch Emotionen maBgeblich beteiligt. Bei der emotionalen Konditionierung geht dementsprechend eine hohe Aktivitat der Amygdala einher, welche im Zuge der Gewohnung des konditionierten Verhaltens zuriickgeht. Abgesehen von ihrem Einfluss auf den Hippocampus projiziert sie auch zum orbitofrontalen Cortex und damit zu den neuronalen Gebieten, welche fur unbewusstes und bewusstes inhaltsreiches emotionales Erleben und Erinnem zustandig sind."^^"^ Nach ubereinstimmender Auffassung werden in der basolateralen Amygdala die sensorischen mit den affektiv-emotionalen Zustanden verkntipft und erhalten in der Folge eine emotionale Bewertung.'*^^

Wie in Kapitel 5.2.2 dargestellt, werden die Inhalte des deklarativen Gedachtnisses durch die Veranderung der synaptischen Koppelung in den dortigen neuronalen Netzwerken niedergelegt. Die neuromodulatorischen Systeme (noradrenerges, serotonerges, dopaminerges und cholinerges System) produzieren die langsam arbeitenden (im Sekundenbereich) Neuromodulatoren Noradrenalin, Serotonin, Dopamin und Acetylcholin und beeinflussen die Wirkung schneller (im Millisekundenbereich) Transmitter wie z.B. Glutamat, Gamma-Aminobuttersaure und Glycin. Die neuromodulatorischen Systeme beeinflussen neben anderen Neuropeptiden unseren emotionalen und psychischen Zustand, indem sie Synapsen in corticalen Netzwerken sowie in subcorticalen limbischen Zentren induzieren und kontrollieren. Vgl. dazu ausfuhrlicher Roth, G. (2004): Wie das Gehim die Seele macht, in: Schiepek, G. (Hrsg.) (2004): Neurobiologie der Psychotherapie, Stuttgart, S. 35. Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 308f. Vgl. Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 309. Vgl. Roth, G. (2003): Aus der Sicht des Gehims, Frankfurt a.M., S. 99-102.

134 5.2.1.4

Emotionale Konditionierung

Emotionen im engeren Sinn (Basisemotionen) umfassen einige wenige Grundzustande, die alien Menschen gemeinsam sind: Gliick, Uberraschung, Furcht, Verachtung, Trauer und Arger. Da diese keine konkreten vorgegebenen Inhalte aufweisen, konnen sie iiber die emotionale Konditionierung an beliebige Objekte angebimden werden."^^^ So bedient sich auch die Werbung dieser Sozialtechnik, indem sie an sich neutrale Reize (Marken) mit emotionalen Zustanden verkniipft. Eine Versicherung setzt beispielsweise in ihren Spots Bilder ein, die Warme und Geborgenheit vermitteln, um die dargestellten Emotionen auf das Produkt zu ubertragen und mit diesem verbunden (bzw. gelemt) werden. Wenn dies gelingt, so wird bei der Wahmehmung des Produktes unmittelbar eine positive Emotion beim Zuschauer aktiviert. Mochte ein Konsument einen Versichemngsvertrag abschlieBen, so wird er im Rahmen der Angebotsuberprtifiing an Warme und Geborgenheit denken und sich fur die entsprechend „emotional belegte" Versicherung entscheiden.'^^^ Dieser Vorgang wird als implizites Lemen in der Regel vollig unbewusst geschehen. Anders als bei der klassischen Konditionierung, die - soweit sie motorische Reaktionen betrifft - vom Kleinhim abhangt, ist beim Vorgang der emotionalen Konditionierung immer die Amygdala beteiligt ist.^^^ Diese wird auch durch die Zentren der unteren Ebene fiir elementare, d.h. lemunabhangige affektive Zustande (Wut, Furcht, Lust etc.) beeinflusst, d.h. die in Verbindung stehenden neuronalen Zentren bewerten samtliche Objekte und auch Geschehnisse und speichem das Bewertungsergebnis im unbewussten, emotionalen Erfahrungsgedachtnis ab. Bewertungen von Objekten und Geschehnissen, die auf bewusster, detaillierter, meist multimodaler Wahmehmung und auf autobiografischen Gedachtnisinhalten beruhen, finden in der cortico-hippocampale Ebene, reprasentiert u.a. durch den orbitofrontalen Cortex und Teilen des temporalen Cortex, statt (explizites Lemen). Das unterstellte Wechselspiel zwischen limbischen System und cortico-hippocampalen System wird in Abbildung 29 grafisch dargestellt, wobei in der Starke der Pfeile die Einwirkungsstarke unterer Ebenen auf die oberen ausgedriickt werden und vice versa.

' '

Vgl. Roth, G. (2003): Ftihlen, Denken, Handeln, neue, vollig tiberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 549. Vgl. Florack, A./ Scarabis, M. (2002): Psychologie der Werbung - Subtile Machte, in: Gehim und Geist, 1/2002, S. 28f. ' Vgl. Roth, G. (2003): Fiihlen, Denken, Handeln, neue, vollig tiberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 171.

135

Abbildung 29: Schema des limbischem und cortico-hippocampalem Systems

bewusste, kognitive, emotionale und exekutive Zustande

schnelles, explizites Lernen und Umlernen

u.a. orbitofrontaler prafrontaler Cortex, parietaler und temporaler Cortex

langsames, implizites, nachhaltiges Lernen und Umlernen

emotionale positive und negative Konditionierung

Details

episodisch-autobiografisches Gedachtnis (nicht emotional) Cortex - Hippocampus

u.a. basolaterale Amygdala, mesolimbisches System, limbische thalamische Kerne

XIE

angeborene AffektzustSnde u.a. autonomes Nervensystem, Hypothalamus, retikulare Formation, mesolimbisches System, Amygdala

Quelle: in Anlehnung an Roth, G. (2003): Fiihlen, Denken, Handeln, neue, voUig iiberarb. 1. Aufl., Frankfurt. S. 374.

Indem das limbische System die Bew^ertung festlegt, fungiert es ahnlich einem Regulativ, das entscheidet, welchen Informationen Aufmerksamkeit gewidmet wird. Mit dieser wechselseitigen Verbindung zwischen Cortex und limbischem System ist die Annahme einer hierarchischen Spitzenstellung der GroBhimrinde nicht langer haltbar. Vielmehr ist aus den bisherigen Untersuchungen eine mittlere Position abzuleiten nimmt, die durch vielfaltige parallele und rekursive Bahnen gekennzeichnet ist."^'^ Durch Herausfiltem qualitativ signifikanter Informationen aus dem vorbeistromenden Informationsfluss werden in den limbischen

Vgl. auch LeDoux, J.A. (1989): Cognitive-Emotional Interactions in the Brain, in: Cognition and Emotion, 3.Jg.,Nr.4, S.247-289.

136 Strukturen den Wahmehmungen subjektive Werte und Bedeutungen beigemessen.'^^^ Die Wertung der einstromenden Umweltinformation erfolgt somit nicht durch die rational analysierende GroBhimrinde, sondem durch das limbische System. Dieses steht in enger Verbindung mit der individuellen Geftihlswelt, sodass die Wertigkeitszuweisung nicht objektiv, sondem auf Grund der gefuhlsmaBigen Erfahrung des Einzelnen vorgenommen wird.

5.2.2

Langzeitgedachtnis: Synaptische Wachstumstheorie des Lernens

Bereits 1949 ging Hebb in seinen Forschungsarbeiten davon aus, dass das Kurzzeitgedachtnis einen aktiven Prozess von begrenzter Dauer darstellt, wahrend fiir das Langzeitgedachtnis strukturelle synaptische Veranderungen des Nervensystems verantwortlich sind."^^^ Von dieser Annahme, dass die strukturelle Basis des Langzeitgedachtnisses in der Modifikation von Synapsen liegt, wird nach wie vor in der Neurobiologie ausgegangen."^^^ Es wird angenommen, dass im Rahmen von Lemprozessen iiber verschiedene Mechanismen (Genexpression"^^"^, Proteinsynthese, Molekiile) die Ubertragungseigenschaften von Synapsen im Hippocampus, im Cortex, im Kleinhim sowie an anderer beteiligten Gehimregionen kurz-, mittel- und langfristig verandert werden, indem die Ubertragungsstarke erhoht (LangzeitPotenzierung) oder vermindert (Langzeit-Depression) wird."^^^ Beim Kurzzeitgedachtnis handelt es sich immer um kurzfristige physiologische Veranderungen an der Pra- und Postsynapse, wahrend es bei der Bildung des Langzeitgedachtnisses auch zu strukturellen Veranderungen an den Synapsen bzw. an den Nervenzellen kommt. Weiterhin setzt die Speicherung im Langzeitgedachtnis die Synthese neuer Proteine voraus, die den Aufbau neuer

Vgl. Cytowic, R.E. (1996): Farben horen, Tone schmecken, Miinchen, S. 231. Hebb unterstellte, dass die wiederholte hochfrequente Reizung einer Synapse (v.a. die simultane Reizung der pra- und postsynaptischen Membran) zu einer langer anhaltenden Verstarkung der synaptischen Ubertragung fuhrt. Eine derart veranderte "effizientere" Synapse ist die sog. „Hebb-Synapse". Vgl. Hebb, D.O. (1949): The Organization of Behavior, New York, zit. nach Milner, P.M. (1993): The mind and Donald O. Hebb, in: Scientific American, 268. Jg., Nr. 1, S. 124-129. In Untersuchungen von Ratten konnte die verstarkte Synapsenbildung sowie eine vermehrte Produktion von Nervenwachstumsfaktoren bereits nachgewiesen werden. Vgl. Holtmann, W./ Struder, H.K./ Tagarakis, C.V.M. (2003): Korperliche Aktivitat fordert Gehimgesundheit und -leistungsfahigkeit, in: Nervenheilkunde, 22. Jg., S. 467-474; Popper, K.R./ Eccles, J.C. (1997): Das Ich und sein Gehim, 6. Aufl., Munchen, Zurich, S. 179,457. Die Genexpression beschreibt den Vorgang der „Herstellung von Proteinen anhand der spezifischen genetischen Informationen, die in der DNA eines Organismus verschltisselt ist. Kandel, E. (2006): Auf der Suche nach dem Gedachtnis, Munchen, S. 464. Die Veranderung der synaptischen Ubertragungseffizienz kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Eine Moglichkeit ist die Langzeitpotenzierung, deren genauer Mechanismus in der Arbeit von Roth, G. (2003): Fiihlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 117, 164ff dargelegt wird.

137 Kontaktstellen konstituieren."^^^ Das bedeutet, dass neben der langeren Dauer der Veranderung der synaptischen Starke sich auch die Zahl der Synapsen im Schaltkreis verandem. Damit ist das Langzeitgedachtnis nicht nur eine Erweiterung des Kurzzeitgedachtnisses, sondem zeichnet sich durch anatomische Veranderungen bzw. Strukturveranderungen aus. Durch Lemen konnen inaktive Synapsen aktiviert werden und aktive Synapsen inaktiviert werden. Die synaptischen Veranderungen laufen teilweise „von selbst" (Genexpression) ab und unterliegen den Gesetzen einfacher zeitlicher und raumlicher Assoziation. Gleichzeitig haben kognitive Zustande, wie z.B. die Aufmerksamkeit, Vorwissen oder emotionale Zustande einen erheblichen Einfluss auf dieses dynamische Geschehen. Die grundlegende Idee hinter der synaptischen Wachstumstheorie ist, dass jede wiederholte Wahmehmung zu wiederholten neuronalen Regelkreisen im Gehim ftihrt, an denen eine Vielzahl von Synapsen beteiUgt ist. Mit diesen Wiederholungsregelkreisen wird nicht nur das Kurzzeitgedachtnis erklart, sondem auch das Wachstum der Synapsen als Voraussetzung fur das Langzeitgedachtnis. Dass die Wirksamkeit der Synapsen mit ihrem Gebrauch, d.h. mit Wiederholung der Reize, zunimmt, konnte experimentell gezeigt werden. Je ofter ein Impuls iiber die betreffenden Synapsen erfolgte, desto niedriger wurde dadurch die Energieschwelle zum Ubergang auf die Empfangerzellen. Dabei sind es keine einzelnen Gehimzellen, die einen Gedanken speichem, sondem immer ein Raum-Zeit-Muster von vielen, gleichzeitig aktivierten Neuronen. Dieser Zellverband tritt wiedemm mit ahnlichen Mustem in anderen Gehimbereichen in Verbindung. Die beteiligten Synapsen werden in Relation zu den nicht beteiligten umso effektiver, je mehr ein bestimmtes Raum-Zeit-Muster von Impulsen in der Rinde abgespielt wird."^^^ Neben der zunehmenden Effizienz gibt es allerdings auch Hinweise darauf, dass die Synapsen im Hippocampus mit zunehmendem Gebrauch selbst wachsen.'^^^ Dies wurde in einem Experiment unter Londoner Taxifahrem deutlich, bei welchem in einem Zeitraum von zwei Jahren eine deutliche VergroBemng des Hippocampus zu beobachten

Flexner machte die Entdeckung, dass Wirkstoffe, welche die Proteinsynthese im Gehim hemmen, das Langzeitgedachtnis hemmen, wenn sie wahrend und kurz nach der Lemphase eingenommen werden. Das Kurzzeitgedachtnis war nicht von diesem Vorgang betroffen. Vgl. Flexner, J.B./ Flexner, L.B./ Stellar, E. (1963): Memory in mice als affected by intracerebral puromycin, in: Science 141, S. 57ff. zit. nach Kandel, E. (2006): Auf der Suche nach dem Gedachmis, Mtinchen, S. 234. Vgl. Vester, F. (2000): Denken, Lemen, Vergessen, 27. Aufl., Munchen, S. 76-77. Fiir den Nachweis, dass Lemvorgange an die Bildung neuer Nervenzellen im Hippocampus gekoppelt sind vgl. Kempermann et al. (1997): im Hippocampus erwachsener Mause wachsen Neuronen, in: Nature; Eriksson et al. (1998): im Hippocampus erwachsener Menschen wachsen Neuronen, in: Nature Medicine; Gould et al. (1999): nachwachsende Neuronen haben eine mogliche Rolle bei Lemprozessen, in: Trends in Cognitive Sciences; Scharff et al. (2000): nachwachsende Neuronen haben eine tatsachliche Rolle beim Wiedererwerb von durch Neuronenuntergang verlorenen Fahigkeiten; Shors et al. (2001): nachwachsende Neuronen haben eine wichtige Rolle bei Lemprozessen im Hippocampus, in: Nature; zit. nach Spitzer, M. (2002): Lemen: Gehimforschung und Schule des Lebens, Heidelberg, Berlin, S. 31f.

138 war."^^^ Nicht gebrauchte Synapsen werden geschwacht oder beseitigt, ein Prozess, dem das Vergessen zugrunde liegen konnte.'^^^ Gleichzeitig bestatigen die Ergebnisse die herausragende Rolle des Hippocampus fur das raumliche Gedachtnis fur Umgebung. Ein derart lembedingtes Neuronenwachstum konnte trotz eingehender Untersuchungen im Kortex bisher nicht nachgewiesen werden."^^^ Durch Wiederholung der Erregungsmuster werden in der Zelle die Prozesse ftir die dauerhafte Senkung des elektrischen Schwellenwerts ausgelost. Spatere Aktivierung dieser synaptischen Verbindimg durch wiederholte Wahmehmung des gleichen Reizes oder durch Erinnem wird damit erleichtert. Die neue Information muss allerdings mit bereits vorhandenen oder anderen neuen Wahmehmungen assoziiert werden. Diese Funktion iibemimmt der Hippocampus im Temporallappen. Durch gezielte Strukturveranderungen von Synapsenverbindungen werden weitere neuronale Netze gekniipft. Neben der notwendigen Voraussetzung der Wiederholung, miissen fiir einen erfolgreichen Lemvorgang mehrere Synapsen eines (iiber mehrere Gehimregionen verteilten) neuronalen Schaltkreises gleichzeitig angeregt werden. Aus Untersuchungen ist bekannt, dass die Langzeitpotenzierung nur unter der Voraussetzung der Koinzidenz zweier neuronaler Ereignisse ausgelost wird. Mit der Entdeckung des sog. NMDA-Rezeptors und seiner Funktion als Koinzidenzdetektor war der molekulare und zellulare Prozess fur die Fahigkeit, dauerhafte geistige Verkniipfungen zwischen zwei Gedanken oder Reizen herzustellen (Assoziationsprozess) entschliisselt."^^^ Das spatere Wiederauffmden dieser Netze wird durch passende Assoziationen erleichtert, d.h. je mehr Moglichkeiten einer vielfaltigen Zuordnung vorhanden sind, umso weniger Wiederholungen sind notwendig."^^^ Der gemeinsame Nenner der verschiedenen expliziten Gedachtnisformen'^^'^ liegt somit im Hinweisreiz, d.h. dem Reiz bzw. Ausloser, der bewirkt, dass die Erinnerungen wieder in das gegenwartige Bewusstsein treten.^'^^ Ubertragen auf Fragestellungen der Verhaltensrelevanz von Gedachtnisreprasentationen wie die Werbeerinnerung, bedeutet das zum einen, dass in der Einkaufssituation entweder durch die Abfrage der Produktkategorie durch die gebahnte

Das Beispiel fiel im Rahmen eines Gespraches mit Dr. W. Holtmann am Mittwoch, den 14.01.04. Neben der Effizienzsteigerung wird auch das Wachstum der Synapsen unter dem Einfluss einiger Neurotransmitter sowie bestimmter chemischer Veranderungen fur die Bildung des Langzeitgedachtnisses verantwortlich gemacht. So wird vermutet, dass der Neurotransmitter Dopamin einen wesentlichen Einfluss auf das Synapsenwachstum und damit auf die Plastizitat des Gehims als Voraussetzung fur Lemvorgange hat. Vgl. Popper, K.R./ Eccles, J.C. (1997): Das Ich und sein Gehim, 6. Aufl., Munchen, Zurich, 179. Vgl. Komack & Racik (2001): im Cortex wachsen keine Neuronen nach, in: Science Vgl. Kandel, E. (2006): Auf der Suche nach dem Gedachtnis, Munchen, S. 309ff Vgl. Vester, F. (2000): Denken, Lemen, Vergessen, 27. Aufl., Munchen, S. 84. SieheKapitel 5.1.2. Vgl. Tadie, J.-Y./ Tadie, M. (2003): Im Gedachtnispalast: Eine Kulturgeschichte des Denkens, Stuttgart, S. 169.

139 Markenaktualitat das Suchverhalten beeinflusst wird oder der Produktkontakt (im Regal) die Erinnerung an die Marke und das zum Zeitpunkt der Werberezeption empfimdenen Kaufbedurfnis auslosen. Damit ist es durchaus moglich, dass sich der Konsument beispielsweise in einer Befragungssituation nicht an das Produkt erinnert hatte, der visuelle Kontakt im Supermarkt wohl aber den Zugang zum neuronalen Netzwerk, das die Markenbekanntheit zum Gedachtnisinhalt hat, verschaffte.

5.2.3

Aufmerksamkeit, unbewusste Wahrnehmung und das Konstrukt Awareness

Inwieweit Reize erinnert werden konnen, hangt stark von der Aufmerksamkeit ab, da nur diejenigen Reize wahrgenommen werden, welche die Aufmerksamkeit erregen oder auf welche sich die Aufmerksamkeit bewusst richtet.'^^^ Umgekehrt gih, dass alles, was nicht im Fokus der Aufmerksamkeit steht, nur schwach oder iiberhaupt nicht bewusst wird. Aufmerksamkeit als psychische Disposition gegeniiber einem auBeren oder inneren Reiz gilt somit als Voraussetzung fur bewusste Wahrnehmung und damit auch der (Werbe-) Erinnerung. Auf Grund ihrer naturlichen Begrenztheit ist sie eine knappe Ressource der Informationsverarbeitung.^'^^ Unter dem Begriff Aufmerksamkeit werden jedoch oftmals verschiedene Sachverhalte bezeichnet. Zum einen kann darunter der Grad der allgemeinen Wachheit (Aktualbewusstsein, Vigilanz) subsumiert werden, welcher das allgemeine Aufmerksamkeitsniveau eines Menschen meint (z.B. hellwach, miide, schlafrig, im Koma) und ein MaB fur die Gesamtheit der gerade zur Verfugung stehenden geistigen Leistungsfahigkeit darstellt."^^^ Demgegentiber beschreibt die sog. selektive Aufmerksamkeit (Schweinwerfer) als aktiver Vorgang die Zuwendung zu bestimmten Stimuli und deren bevorzugte Verarbeitung, sodass ihre Wahrnehmung uberhaupt erst ermoglicht wird."^^^ Es konnte experimentell gezeigt werden, dass der Effekt der Aufmerksamkeit von dem corticalen Himareal abhangig ist, in dem das Signal verarbeitet wird, d.h. je „h6her" die Verarbeitung, desto „breiter" der Scheinwerfer."^^^

Zur Theorie der selektiven Wahrnehmung vgl. Rosenstiel, v. L./ Neumann, P. (1982): Einfuhrung in die Markt- und Werbepsychologie, Darmstadt, S. 57 ff. Siehe zur zeitlichen und inhaltlichen Begrenztheit des Arbeitsgedachtnisses und die damit einhergehende Begrenztheit des Aufinerksamkeitssystems auch die Ausfuhrungen in Kapitel 5.1.2. Vgl. Spitzer, M. (2002): Lemen: Gehimforschung und Schule des Lebens, Heidelberg, Berlin, S. 142. Man vergleicht diese Form der Aufmerksamkeit auch mit einem „Scheinwerfer", der einen bestimmten Bereich des Gesichtsfeldes besser ausleuchtet und fur eine bessere Verarbeitung der an dieser Stelle vorhandenen Informationen sorgt. Vgl. Spitzer, M. (2002): Lemen: Gehimforschung und Schule des Lebens, Heidelberg, Berlin, S. 143. Spitzer, M. (2002): Lemen: Gehimforschung und Schule des Lebens, Heidelberg, Berlin, S. 143f

140 Davon zu unterscheiden ist die Fahigkeit, sich zu konzentrieren und unwichtige Reize auszublenden. Deutlich wurde die enge Verbindung zwischen Aufmerksamkeit i.S.v. Konzentration und Bewusstsein im Rahmen einer Untersuchung zur fokussierten Aufmerksamkeit.'^"^^ Bei einer Videodemonstration iiber zwei Spielerteams, die sich einen Ball zuwarfen, wurden die Versuchspersonen gebeten, die Anzahl der gefangenen Balle des einen Teams zu zahlen. Eine anschlieBende Befragung nach Besonderheiten ergab, dass fast niemand die als Gorilla verkleidete Person gesehen hatte, die in dem Getummel plotzlich auftauchte, sich gegen die Brust trommelte und wieder verschwand. Erst bei einer nochmaligen Filmdarbietung mit der Anweisung, die Szenen moglichst unbefangen zu betrachten, fiel den Probanden der Mensch im Gorillakostiim auf. Das beobachtbare Phanomen des Ausblendens nicht-attentierter Objekte und Geschehnisse aus dem Bewusstsein wird mit dem Begriff Blindheit durch Unaufmerksamkeit (Inattentional Blindness) umschrieben. Wahrgenommen wird in erster Linie das, was die Aufmerksamkeit erregt, d.h. die Aufmerksamkeit kann als eine Art Filter interpretiert werden, der das Individuum vor Informationsiiberlastung schiitzt.'^^'^ Durch Experimente konnte nachgewiesen werden, dass die Informationsverarbeitung von irrelevanten Stimuli davon abhangt, inwieweit die Aufmerksamkeit relevanten Stimuli zugewandt wird. Da die Menge an Informationsverarbeitungskapazitat insgesamt konstant ist, bedeutet das: Je mehr Verarbeitungskapazitat eine bestimmten Aufgabe fur sich beansprucht, desto weniger steht anderen Aufgaben zur Verfiigung. Umgekehrt gilt bei Vorliegen eines bestimmten Niveaus an Informationsverarbeitungskapazitat, dass irrelevante Stimuli immer dann besser verarbeitet werden, wenn fiir die relevanten Stimuli nicht viel Kapazitat benotigt wird."^^^ Auf diese Weise ist es moglich, dass Stimuli auf Grund freier Kapazitaten auch unbewusst wahrgenommen werden.

Vgl. o.V. (2004): Augenblicke der Illusion, in: Suddeutsche Zeitung, S. 23; Roth, G. (2003): Fiihlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 235. Seit der „Filtertheorie" von Donald Broadbent fanden auch die informationstheoretischen Begriffe der kognitiven Verarbeitung und Kapazitat von Kanalen Eingang in das Forschungsfeld. Vgl. Broadbent, D. (1958): Perception and Communication, New York. Vgl. Spitzer, M. (2002): Lemen: Gehimforschung und Schule des Lebens, Heidelberg, Berlin, S. 144-146.

141 Ubertragen auf die Situation bei der Rezeption von Femsehwerbung kann sich trotz geringer Aufmerksamkeit imd dem damit einhergehenden niedrigen Niveau der Werbemittelverarbeitung Werbeerinnerung bilden, was auf den ersten Blick diametral im Widerspruch zu den Erkennntissen in der Lemforschung zu stehen scheint. Auch die Low-InvolvementTheorie geht davon aus, dass unter den genannten Rezeptionsbedingungen und verstarkt durch die Bildlastigkeit des Mediums die Werbung nicht kognitiv verarbeitet wird. Es stellt sich somit die Frage, wie sich die Erinnerung, d.h. die Markenbekanntheit durch Werbung, aufbaut. Es gilt, den Mechanismus zu identifizieren, auf welchem die Transformation von peripher und mit geringer Aufmerksamkeit wahrgenommener Femsehwerbung zu bewussten Gedachtnisinhalten basiert. Fur die Problemstellung sind dabei in erster Linie folgende Zustande von Interesse, die alle auf unbewussten Vorgangen basieren:'*^'^ (1) Vorgange in Gehimregionen auBerhalb des assoziativen Cortex, (2) vorbewusste Inhalte von Wahmehmungsvorgangen, (3) unterschwellige (subliminale) Wahmehmungen so wie (4) Wahmehmungsinhalte auBerhalb des Fokus der Aufmerksamkeit. Die unbewusste Verarbeitung von beilaufig wahrgenommener Werbeinformation ist vielfach experimentell untersucht und auch bestatigt worden. Obwohl sich die Konsumenten an den auslosenden Stimulus nicht erinnem konnten, war eine Veranderung des Urteils, z.B. hinsichtlich der Vertrautheit mit der Marke oder Gefallen an der Werbung bzw. Marke, erkennbar."^^^ Andere Untersuchungen ergaben, dass eine der Aufmerksamkeit vorgelagerte, nicht-kognitive Verarbeitung der Werbestimuli eine positivere Werbemittelbewertung nach sich zog als eine aufmerksame Verarbeitung.^^^ Dieses Phanomen kann unter Umstanden auftreten, wenn der Umworbene im Zuge der erhohten Aufmerksamkeit den Versuch der Beeinflussung vom Umworbenen wahmimmt (Reaktanz)."^^^ Auch Perfect und Askew konnten in ihrer Untersuchung zeigen, dass bereits gesehene Werbung als erinnerungswerter und auBer-

Siehe dazu auch Roth, G. (2003): Fiihlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 227. Vgl. Jacoby, L.L./ Woloshyn, V./ Kelley, C M . (1989): Becoming famous without being recognized: Unconscious influences of memory produced by dividing attention, in: Journal of Experimental Psychology: General, 118. Jg., Nr. 2, S. 115-125. Vgl. Janiszewski, C. (1988): Preconscious processing effects: The independence of attitude formation and conscious thought, in: Journal of Consumer Research, 15. Jg., Nr. 2, S. 199-209; Janiszewski, C. (1993): Preattentive mere exposure effects, in: Journal of Consumer Research, 20. Jg., Nr. 3, S. 376-392; Shapiro, S./ Maclnnis, D.J. (1992): Mapping the relationship between preattentive processing and attitude, in: Sherry Jr., J.F./ Stemthal, B. (Hrsg.) (1992): Advances in Consumer Research, 19. Jg., Chicago, S. 505-513; Shapiro, S./ Heckler, S.E./ Maclnnis, D.J. (1997): Measuring and Assessing the Impact of Preattentive Processing and Ad and Brand Attitudes, in: Wells, W.D. (Hrsg.) (1997): Measuring Advertising Effectiveness, Mahwah, S. 27-44. Siehe zum Begriff der Reaktanz Schweiger, G./ Schrattenecker, G. (2001): Werbung, 5., neu bearb. Aufl., Stuttgart, S. 167.

142 gewohnlicher beurteilt wurde, ohne von den Probanden tatsachlich auch erinnert oder wiedererkannt zu werden."^^^ Ein weiterer Beleg fur die unbewusste Wahmehmung visueller Reize wurde in einer aktuellen Untersuchung unter der Leitung des Magdeburger Neurowissenschaftlers Heinze gefunden."^^^ Durch den kombinierten Einsatz von EEG (Elektroenzephalographie)'^'^^, MEG (Magnetenzephalographie)'^'^^ und der funktionalen Kemspintomographie (fMRI)'^'^^ konnte der Verlauf der Aktivitat der verschiedenen visuellen Areale vom primaren iiber die sekundaren zu den tertiaren und hoch-assoziativen Arealen raumlich als auch zeitlich verfolgt werden. Wahrend die Darbietung des visuellen Reizes nach 60-90 Millisekunden den primaren visuellen Cortex - erwartungsgemaB ohne bewusst wahrgenommen zu werden - aktivierte, konnte die Aktivierung des assoziativen Cortex immer noch keine bewusste Wahmehmung erzeugen. Erst nachdem der primare visuelle Cortex noch einmal aktiviert wurde (nach 140-250 Millisekunden) war dies mit Bewusstsein verbunden. Dies spricht fiir eine Beteiligung des primaren visuellen Cortex bei bewusster Wahmehmung von Sehreizen.'^'^^ In weiteren Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass das subjektive Erleben des Reizes nicht nur durch die neuronale Aktivitat in den assoziativen visuellen Arealen hervorgemfen wird, sondem auch durch die Aktivitat des primaren visuellen Cortex in seinen spateren Antworten zwischen 150-300 MilUsekunden. Der Mechanismus, welcher bei der Reizverarbeitung unterstellt werden kann, verlauft bis zur ersten Aktivitat im primaren visuellen Cortex (nach ca. 60 Millisekunden) ohne Bewusstsein iiber diese Vorgange. Das spricht fur die Annahme, dass dort das Gesehene vorverarbeitet

Vgl. Perfect, TJ./ Askew, C. (1994): Print Ads: Not Remembered but Memorable, in: Applied Cognitive Psychology, 8. Jg., Nr. 7, S. 698. Vgl. Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S.214f. Das EEG dient der Messung von elektrischer Aktivitat groBer Netzwerke durch die intakte Schadeldecke hindurch, indem eine Vielzahl von Elektroden auf dem Kopf des Probanden angebracht werden. Es sind mit diesem Messverfahren zwar Aktivitatsanderungen im Bereich von Bruchteilen einer Sekunde nachweisbar, allerdings ist die raumliche Auflosung gering. Als weiterer Nachteil ist anzufiihren, dass im Wesentlichen nur die Aktivitat der Grofihimrinde dargestellt werden kann, wahrend subcortical VorgSnge nicht oder nur indirekt erfassbar sind. Vgl. Roth, G. (2003): Fiihlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 124. Die MEG ist ein diagnostisches Verfahren, welches mittels einer helmartigen Anordnung von Magnetfeldsensoren die durch die elektrischen Strome aktiver Nervenzellen verursachten magnetischen Signale des Gehims mit guter rSumliche und sehr hoher zeitlicher Auflosung aufzeichnet. Die fMRI registriert die Erhohung des Blutflusses bzw. Veranderungen des Sauerstoffgehaltes des Blutes in unmittelbarer Nahe der aktiven Himzonen, die mit der Steigerung des Stoffwechsels zusammenhangen. Fiir eine tiefergehende Darstellung dieses bildgebenden Verfahrens siehe Krings, T. (2004): Grundlagen der funktionellen Magnetresonanztomographie, in: Schiepek, G. (Hrsg.): Neurobiologie der Psychotherapie, Stuttgart, S. 104-130. Vgl. Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig Uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 214f.

143 wird.'^'^'^ Nach ca. 100 Millisekunden hat bereits eine erste, unbewusste Bewertung der Wichtigkeit des Reizes durch das limbische System stattgefunden (sog. vorbewusste Wahrnehmung). Die bewusste Wahmehmung erfolgt erst, nachdem bereits eine komplexe Verarbeitung stattgefunden hat. In den assoziativen Arealen wird das visuelle Material nach Kriterien der Gestalt- und Sinnhaftigkeit untersucht und das Objekt beispielsweise als Reinigungsmittel identifiziert. Das Ergebnis der Analyse wird zum primaren (bzw. sekundaren) visuellen Cortex zuriickgemeldet. Dort erst werden die Einzelmerkmale in Verbindung mit eventuellen auditiven Reizen zu einem vollstandig bewusst erlebten Bild oder einer Erfahrung, wie z.B. Markenbekanntheit, zusammengefugt. Diese zeitliche Verzogerung der Bewusstwerdung der visuellen Wahmehmung liegt je nach Neuigkeit, Abweichung und Bedeutungsgehalt des Reizes bei ca. 300 Millisekunden bis zu mehreren Sekunden."^^^ Allerdings muss nicht jeder Reiz zwangslaufig zu einer bewussten Wahmehmung fuhren, vor allem dann nicht, wenn er zu schwach ausgepragt oder zu kurz dargeboten wurde."^"^^ Auch Libet geht in seiner Time-on-Theorie davon aus, dass alle bewussten geistigen Prozesse zunachst unbewusst beginnen und erst ein betrachtlicher Anstieg in der Dauer (time-on) der entsprechenden neuronalen Aktivitat das Bewusstsein fiir eine ansonsten unbewusste psychologische Funktion erzeugt.^"^^ Es stellt sich die Frage, ob diese teils unbewusste Verarbeitung von Reizen einen Einfluss auf das Lemen und das Kaufverhalten ausiibt. Dahingehende Untersuchungen ergaben im Prinzip die gleichen Ergebnisse wie die Experimente zur unterschwelligen (subliminalen) Wahmehmung^'*^, d.h. dass zumindest im Falle relativ einfacher Wahmehmungsinhalte durchaus ein Einfluss von unbewusst wahrgenommenen Informationen auf das Wiedererkennen von

Anzumerken ist, dass im primaren (und sekundaren) visuellen Cortex lediglich die Einzelmerkmale eines Objekts (z.B. Kontrast, Kantenorientierung, genaue GroBe und Bewegungsrichtung) verarbeitet werden und nicht dessen Gestalthaftigkeit oder Identitat. Die Identifizierung erfolgt erst im assoziativen Cortex, der allerdings keine Details des gesehenen verarbeiten kann. Dafiir sind wiederum die Neurone im primaren visuellen Cortex zustandig. Man vermutet, dass sog. KontroUinstanzen die Wahrscheinlichkeit von Stimuli, Auftnerksamkeit zu erregen, in Abhangigkeit von deren Relevanz fur aktuelle Ziele des Individuums anpassen. Sind die einstromenden Reize mit den momentan vorhandenen Zielsystem inkonsistent, werden diese leichter ignoriert. Vgl. Folk, C.L./ Remington, R.W./ Johnston, J.C. (1992): Involuntary covert orienting is contingent on attentional control setting, in: Journal of Experimental Psychology: Human Perception and Performance, 18. Jg.,Nr.4, S. 1030-1044. Ein visueller Reiz, der nur ftir 50 Millisekunden oder ktirzer dargeboten wird, entzieht sich der bewussten Wahmehmung. Vgl. Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig iiberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 229. Vgl. Libet, B. (2004): Mind Time - Wie das Gehim Bewusstsein produziert, Frankfurt a. Main, S. 141. Vgl, allgemein zur Problematik des Nachweises unterschwelliger Wahmehmungs- und Beeinflussungswirkungen Kroeber-Riel, W./ Weinberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, 8. Aufl., Miinchen, S. 275 f.

144 Reizen nachgewiesen werden kann.^'*^ So wurde nach einer unterschwelligen Darbietung von Stimuli, die in ihrer Bedeutung nicht mehr bewusst erfahrbar waren, gezeigt, dass diese ein schnelleres Wiedererkennen ermoglichten (Priming'^^^). Im Rahmen der Versuchsanordnung wurden den Versuchspersonen Pfeile gezeigt, die entweder nach links oder rechts wiesen. Entsprechend der Richtung sollten die Probanden mit der linken oder rechten Hand einen Knopf betatigen. Blitzte kurz vor dem eigentlichen Reiz fiir 50 Millisekunden ein anderer Pfeil auf, wurde dieser von den Testpersonen nicht registriert. Der erste Reiz (Pfeil) wird durch den nachfolgenden verdeckt (maskiert) und somit aus dem Bewusstsein verdrangt. Allerdings hatte die kurze Einblendung zur Folge, dass sich im Falle einer gegensatzlichen Pfeilrichtung zwischen unbewusst und bewusst wahrgenommenem Pfeil, die Reaktion des Knopfdmcks verlangsamte. Zeigten beide Pfeile in die gleiche Richtung, driickte die Testperson vergleichsweise schneller den entsprechenden Knopf. Bine anschlieBende Aufforderung zu raten, in welche Richtung der nicht bewusst wahrgenommene Pfeil zeigt, wurde signifikant haufiger die korrekte Ausrichtung angegeben. Ebenso wurde das Wiedererkennen von Gesichtem, Gegenstanden und Wortem sowie deren Bewertung durch diese Technik der maskierten Hinweisreize positiv gepriift.'^^^Erste Forschungshinweise sprechen auch dafiir, dass diese unbewussten Gedachtnisleistungen nicht nur die Beurteilung und Wahmehmung des Produktangebots"^^^, sondem auch das Kaufverhalten beeinflussen konnen."^^^

Vgl. o.V. (2004): Augenblicke der Illusion, in: Siiddeutsche Zeitung, S. 26; Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 230 f, 235. Siehe auch die Ausfuhrungen in Kapitel 5.1.2. Beispielhaft sei an dieser Stelle auf das Experiment von Murphy und Zajonc verwiesen, in welchem Versuchsteihiehmer ihnen unbekannte chinesische Schriftzeichen positver bewerteten, wenn zuvor subliminal ein frohliches Gesicht dargeboten wurde, als wenn ein wiitendes Gesicht oder eine neutrale geometrische Figur prasentiert wurden. Vgl. Murphy, S.T./ Zajonc, R.B. (1993): Affect, cognition and awareness, in: Journal of Personality and Social Psychology, 64. Jg., S. 723-739. Weitere Beispiele sind bei Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 230f. zu entnehmen. Siehe dazu auch die Ausfuhrungen zur Mere Exposure-Theorie in Kapitel 4.1.2. Vgl. Cameron, A. (1999): Recognising the power of hidden memories, in: Admap, 34. Jg., Heft October, S.22.

145

Im Rahmen einer Untersuchung zum Kaufentscheidungsverhalten an der Havard Business School wurden derartige imbewusste Prozesse, welche fiir das spontane Kaufverhalten verantwortlich gemacht werden, mit dem Positronenemissionstomografen (PET)'^^'^ bei Frauen gemessen."^^^ Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass beim KaufVorgang der Verbraucher eher von diesen unbewussten Wahmehmungen als von rationalen Uberlegungen geleitet wird.^^^ Wahrend sich die Aufmerksamkeit auf der Ebene des Verhaltens gut untersuchen lasst"^^^, sind die damit verbundenen Himfunktionen weitaus schwieriger zu identifizieren. Entsprechend den Unterschieden zwischen den genannten Aufmerksamkeitsprozessen Vigilanz, selektive Aufmerksamkeit und Konzentration liegen diesen jeweils auch verschiedene biologische Korrelate zugrunde. Das Verlangerte Mark gilt als der neuronale Ort, der an der Steuerung von unspezifischen Aufmerksamkeits- und Bewusstseinszustanden beteiligt ist und den Zustand der allgemeinen Vigilanz aufrechterhalt.^^^ Fiir konzentrierte Aufmerksamkeit ist vor allem der Frontallappen zustandig."^^^ Dieses im prafrontalen Cortex angesiedelte „vordere Aufinerksamkeitssystem" hat v.a. mit nicht-raumlicher Aufmerksamkeit in Form von

Bildgebendes Computerverfahren, welches die metabolischen Aktivitaten des Gehims misst. Im Gegensatz zum EEG Oder auch zur Magnetenenzephalographie werden beim PET nicht die elektrischen oder magnetischen Veranderungen der Himaktivitat gemessen, sondem den damit verbundenen Stoffwechsel bestimmter Substanzen wie Zucker (Glucose) oder Wasser. Siehe dazu ausfuhrlicher Kolb, B./ Whishaw, I.Q. (1993): Neuropsychologic, Heidelberg u.a., S. 180. Vgl. Coulter, R.A./ Zaltman, G./ Coulter, K.S. (2001): Interpreting Consumer Perceptions of Advertising: An Application of the Zaltman Metaphor Elicitation Technique, in: Journal of Advertising, 30. Jg., Nr. 4, S. 1-22; Pink, D.H. (04.04.2004): Metaphor Marketing, in: FastCompany online, http://pffastcompany.com/ magazine/14/zaltman.html. Vgl. auch Kroeber-Riel, W./ Weinberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, 8. Aufl., Munchen, S. 301; Siehe auch die Untersuchungsergebnisse bei Zaltman, G. (2003): How Customers Think: Essential Insights into the Mind of the Market, Boston. In einem eigens eingerichteten Customer Behavior Lab an der Havard Business School wird mit modemen bildgebenden Verfahren erforscht, was geschieht, wenn Konsumenten Entscheidungen treffen. Traditionell angewandte Methoden zur Aufmerksamkeitsmessung, wie die Blickaufzeichnung, sind in der einschlagigen Literatur bereits mehrfach beschrieben, sodass an dieser Stelle lediglich auf weiterflihrende Literatur verwiesen wird. Siehe Hammann, P./ Erichson, B. (2000): Marktforschung, 4., iiberarb. u. erw. Aufl., Stuttgart; Kroeber-Riel, W./ Wemberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, 8. Aufl., Munchen, S. 71 ff; Strassmann, B. (2003): Das geht ins Auge, in: Die Zeit, vom 01. Oktober 2003, Nr. 41, S. 43. Hier umgeben die Kerne der Formatio reticularis als netzwerkartige Struktur samtliche motorische und sensorische Kemgebiete der ftinften bis zwolften Himnerven. Von Bedeutung sind hierbei die sog. ereigniskorrelierten Potenziale (auch: evozierte Potenziale), die innerhalb weniger Hundertstelsekunden nach Prasentation eines Sinnesreizes auftreten und die Verarbeitung der erhaltenen sensorischen Informationen durch das Gehim widerspiegeln. Bei dem ereigniskorrelierten Potenzial handelt es sich um eine kurze Folge groBer langsamer Wellen, die z.B. mittels EEG von der Schadeloberflache abgeleitet werden konnen und eine Antwortaktivitat der Neuronen anzeigen. Das ereigniskorrelierte Potenzial ist Ausdruck einer selektiven Aktivierung („Ansprechbereitschaft") des Gehims. Vgl. Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vSllig iiberarb. Aufl., Frankfurt, S. 94 f Vgl. Klivington, K.A. (1992): Gehim und Geist, Heidelberg u.a., S. 220; Singer, W. (1999): Zur Neurowissenschaft der Aufmerksamkeit, in: Kunstfomm Kunstfomm, Bd. 148, Dezember 1999-Januar 2000, S 109.

146 Konzentration auf einen bestimmten geistigen Inhalt zu tun. Dagegen werden die raumliche Aufmerksamkeit und die damit verbimdenen bewussten Augenbewegungen vom hinteren Scheitellappen, besonders von der rechten Hemisphare, gesteuert („hinteres Aufmerksamkeitssystem"). Beide interagieren miteinander, z.B. beim Lesen oder beim genauen Betrachten eines Gegenstandes."^^^ Insoweit ist es fraglich, ob bei der traditionellen Methode der Aufmerksamkeitsmessung mittels Blickaufzeichung auch das gemessen wird, was letztendlich von Interesse ist, namlich das vordere Aufmerksamkeitssystem. Eine wichtige Struktur im Rahmen des spezifischen Aufmerksamkeitsbewusstseins ist das basale Vorderhim.^^^ Uber die Amygdala ist es im Rahmen der emotionalen Konditionienmg moglich, dieses Aufinerksamkeitszentrum zu beeinflussen, d.h. eine Aufmerksamkeitszuwendung zu erreichen. Femer aktiviert es den Hippocampus, der vermutlich die Inhalte abruft, die verarbeitet werden sollen. Bei der visuellen und auditorischen Aufmerksamkeitssteuerung spielt das sog. Pulvinar als die groBte thalamische Kemgruppe eine wichtige Rolle. Uber die Verbindungen zum frontalen Augenfeld sind sie fur die aufmerksamkeitsgesteuerten Augenbewegungen zustandig. ^^^

5.2.4

Beitrag der Hemispharenforschung zu einer Werbewirkungstheorie

Kennzeichnend fur die jiingsten Ansatze der theoriegeleiteten Werbewirkungsforschung ist die Integration neurophysiologischer Forschungsbefunde zur Erklarung der Werbewirkung von Femsehwerbung. In diesem Zusammenhang fanden auch Erkenntnisse aus der Hemispharenforschung, welche sich schwerpunktmaBig mit den jeweils speziellen Funktionen, Leistungspotenzialen und Verarbeitungsstrategien der beiden GroBhimhalflen (Hemispharen) beschaftigt, Eingang in die Werbetheorie. Mit direkten Messungen der Gehimaktivitat wurde die Uberpriifung vieler verhaltenswissenschaftlicher Annahmen ermoglicht, die im Rahmen der Theorienfmdung in der Werbewirkungsforschung aufgestellt wurden. GemaB der Hemispharenforschung ist die rechte Gehimhalfte vorwiegend auf ganzheitliche Wahmehmung, emotionale Ausdrucksweise und raumliches Vorstellungsvermogen spezialisiert, wahrend semantische, verbale und mathematische Aufgaben in erster Linie die linke Hemisphare beanspruchen."^^^

Vgl. Roth, G. (2003): Aus der Sicht des Gehims, Frankfurt a.M., S. 46. Siehe auch Kapitel 5.2.1.3. Vgl. Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 199f. Auch wenn es zahlreiche Kontroversen auf dem Gebiet der Hemispharenspezialisierung gibt, ist eine generelle Ubereinstimmung unter den Wissenschaftlem dahingehend vorhanden, dass ein funktionaler Unterschied hinsichtlich Verarbeitungsstrategien zwischen den Hemispharen angenommen wird.

147 Zustandig fiir die Verarbeitung holistischer Informationen ist die rechte Hemisphare, dagegen ist die linke Hemisphare Trager der analytischen Informationsverarbeitung (v.a. Sprachwahrnehmung und rationale Denkoperationen)."^^^ Damit konsistent sind die Erkenntnisse aus Beobachtungen an Patienten, welche den Schluss zulassen, dass analog der Hemispharenlateralisation der linke Hippocampus ftir das Niederlegen oder die Konsolidierung verbaler Erinnerungen und der rechte fur bildliche sowie raumliche Erinnerungen zustandig ist.^^^ Allerdings ist die hemispharische Spezialisierung (Lateralisation, Dominanz) relativ zu sehen, d.h. die durch kognitiv sprachliche oder raumliche Wahmehmungsprozesse hervorgerufenen langsamen Himpotenziale spiegeln vielmehr eine ungleich starke Aktivierung beider Hemispharen wider.'*^^ Rossiter und Silberstein zweifeln auf Grund ihrer Forschungsergebnisse mit ihrem quasi-bildgebenden Verfahren die bislang vorherrschende Annahme an, dass die Bildverarbeitung vorwiegend durch die rechte Himhalfte geleistet wird."^^^ Zumindest fiir die Verarbeitung von Femsehbildem konnte eine starke Aktivitat des linken frontalen Bereichs beobachtet werden.^^^ Einen Nachweis ftir die Beteiligung der rechten Hemisphare an der Verarbeitung von Videobildem erbrachten dagegen Cahill et al., die neben ihrem Nachweis der erhohten Erinnerungsfahigkeit ftir emotionale Filmsequenzen im Vergleich zu emotional neutralem Filmmaterial eine erhohte Aktivitat in der rechten Amygdala feststellen konnten."^^^

Solange diese Prozesse in der rechten Hemisphare ablaufen, bleiben sie imbewusst. Daher wird diese Gehimhalfte manchmal vereinfachend mit dem Unterbewusstsein gleichgesetzt. Die bewussten Prozesse und damit das Bewusstsein werden konsequenterweise der linken Gehimhalfte zugeordnet. Vgl. Springer, S.P./ Deutsch, G. (1993): Linkes-rechtes Gehim: Funktionelle Asymmetrien, 2., neu bearb. Aufl., Heidelberg, Berlin, New York, S. 238-239. Siehe auch die Ausfuhningen im Rahmen des impliziten und expliziten Gedachtnisses in Kapitel 5.2.1.3. Vgl. Kolb, B./ Whishaw, I.Q. (1993): Neuropsychologic, Heidelberg u.a., S. 314; Popper, K.R./ Eccles, J.C. (1997): Das Ich und sein Gehim, 6. Aufl., Munchen, Zurich, S. 467 f. Siehe zu den Aufgaben des Hippocampus auch die Ausfuhningen in Kapitel 5.2.1.3. Dies wird durch elektrophysiologische Messungen erkennbar, die (bei Rechtshandem) auf eine relative Dominanz der linken Hemisphare bezUglich Sprache und Rechnen sowie auf eine relative Dominanz der rechten GroBhimhalfte bei der raumlichen Wahmehmung hindeuten. Auch ist die Dominanz ftir erne bestimmte Art der Wahmehmung nicht immer eindeutig. So werden beispielsweise bestimmte Aspekte der Musikverarbeitung (z.B. Beurteilung von Dauer, Zeitstmktur, Rhythmus) von der linken Hemisphare (v.a. der Sprachregion im linken Temporallappen) vorgenommen, wahrend die rechte Temporab*egion fur die Tonalitat und Harmonic sowie am Wiedererkennen von Melodien beteiligt ist."*^^ Zudem sprechen empu-ische Untersuchungsbefunde fur einen asymmetrisch verlaufenden Gefuhlsprozess, da vor allem Stmkturen in der rechten GroBhimhalfte des Menschen bei der gmndlegenden Verarbeitung von Gefuhlen beteiligt sind. Unklar ist allerdings, inwieweit diese Annahme pauschal ftir alle Geftihle gilt. Vgl. Damasio, A.R. (1995): Descartes' Irrtum: Ftihlen, Denken und das menschliche Gehim, Miinchen, S. 194. Siehe dazu Kelley, W.M. et al. (1998): Hemispheric Specialization in Human Dorsal Frontal Cortex and Medial Temporal Lobe for Verbal and Nonverbal Memory Encoding, in: Neuron 20. Jg., Nr. 5 (May), S. 927-936. Vgl. Rossiter, J.R./ Silberstein, R.B. (2001): Brain-Imaging Detection of Visual Scene Encoding in Longterm Memory for TV-Commercials, in: Joumal of Advertising Research, 41. Jg., Nr. 2, S. 13-22. Vgl. Cahill, L. et al. (1994): B-Adrenergic activation about memory for emotional events, in: Nature,

148 Insgesamt konnte die Annahme der Uberlegenheit der Bildverarbeitung gegeniiber dem verbalen Lemen durch Experimente bestatigt werden, da der Einsatz von Bildem den Recall signifikant erhohen konnte."^^^ Medienspezifische Verarbeitungsunterschiede in den Hemispharen wurden auch von Weinstein mittels Vergleich der Messergebnisse von Gehimstromaktivitaten beim Lesen (Zeitschriften) und Femsehen (TV-Werbung) untersucht. Tendenziell lieBen die Ergebnisse den Schluss zu, dass die Betrachtung von Zeitschriftenwerbung als lesende Tatigkeit insgesamt eine hohere Gehimstromaktivitat als Femsehwerbung hervorruft und gleichzeitig eine hohere Aktivitat in der linken Gehimhalfte bewirkt.^^^ Bei Femsehwerbung wurde wenn auch nicht auf signifikantem Niveau - eher eine rechtsseitige Gehimaktivitat beobachtet."^^^ Die schwerpunktmafiig in der linken GroBhimhalfte stattfindende verbale Verarbeitung der Zeitschriftenwerbung setzte somit ein im Vergleich zur Bildverarbeitung relativ hoheres Involvement voraus. Zieht man zusatzlich die Pupillenweite als Gradmesser fur die Gehimaktivitat (corticale Aktiviemng) heran, so zeigt sich beim Femsehen eine signifikant geringere Pupillenweitung im Vergleich zum Lesen.'^''^ Die Wirkung des Femsehens schlagt sich auch in einer durch EEG messbaren Veranderung der Himstromtatigkeit nieder. Generell korrelieren die unterschiedlichen Schwingungsrhythmen des EEG mit verschiedenen Wachheits- und Entspannungszustanden. Wahrend im Dunkeln und bei geschlossenen Augen die relativ langsamen Alpha-Wellen (8-13 Hertz) dominieren, werden diese beim Augenoffnen oder im Hellen von den viel schnelleren BetaWellen (13-28 Hertz), die fur Wachheit und visuelle Aufmerksamkeit stehen, zuriickgedrangt. Untersuchungen zeigten, dass beim Ubergang vom lesenden Zustand zum Femsehen die Beta-Wellen stark abnehmen, wahrend die Alpha-Wellen als Indikator fur Miidigkeit bzw. fur

Vgl. Kroeber-Riel, W./ Esch, F.R. (2000): Strategic und Technik der Werbung - Verhaltenswissenschaftliche Ansatze, 5., vollig neu bearb. und erw. Aufl., Stuttgart, S. 141 ff; Lutz, K.A./ Lutz, R.J. (1977): Effects of Interactive Imagery on Learning: Application to Advertising, in: Journal of Applied Psychology, 62. Jg., Nr. 4, S. 493-498. Die Sprachdominanz der linken Hemisphare war von Broca und Wernicke bereits seit 1865 auf Grund klinischer Befunde festgestellt worden. Vgl. Klivington, K.A. (1992): Gehim und Geist, Heidelberg u.a., S. 205. Vgl. Weinstein, S. et al. (1980): Brain Activity Responses to Magazine and Television Advertising, in: Journal of Advertising Research, 20. Jg., Nr. 3, S. 57-63. Vgl. Crown, P./ Featherman, G. et al. (1979): Electroencephalographic and Electrooculographic Correlates of Television Viewing. Final Technical Report, Amherst, S. 20, Tafel 3, zit. nach Patzlaff, R. (2000): Der gefrorene Blick, Stuttgart, S. 25.

149

verringerte visuelle Aufmerksamkeit dominieren.^^^ Es ist zu beobachten, dass im EEG die Alpha-Wellen immer dann von den schnelleren Beta-Wellen zuriickgedrangt werden, wenn ein bewusstes Erkunden und Abtasten der Umgebung stattfindet. Gestiitzt wurden diese Befunde durch die bereits erwahnte Studie von Weinstein et al., die im Fall des Betrachtens von Zeitschriftenwerbung ebenfalls ein hoheres Niveau von Beta-Aktivitat in beiden Hemispharen nachweisen konnte als bei Femsehwerbung."^^^ Fiir das Phanomen der geringeren Aktiviemng wurde von Krugman der Begriff „Low Involvement" gepragt, der ftir passives Lemen ohne Anteilnahme steht."^^^ Die gemessene Passivitat kennzeichnet weitgehend die Low-Involvement-Situation, in der sich der Zuschauer wahrend des Femsehens und der Rezeption von Femsehwerbung befindet."^^^ Die wahrend des Femsehens eintretenden biochemischen, endokrinen, neuromuskularen und sensorischen Prozesse sind noch weitgehend unbekannt. Auch von den bildschirmbedingten Vorgangen im Zentralen Nervensystem weiB die Forschung so gut wie nichts."^^^ Erst mit der physiologischen Betrachtungsweise der programmunabhangigen Wirkungen des Bildschirmes wird die Basis ftir die Wirkungsweise der TV-Werbung geschaffen."^^^ Eine mogliche Erklarung fur die differierende Aufmerksamkeitsleistung wahrend des Femsehens gegenuber dem Lesen liegt in den unterschiedlichen Ermiidungsprozessen der Hemispharen. Untersuchungen hinsichtlich der regionalen Himdurchblutung lassen darauf

Vgl. Scheurle, H.J. (1998): Information und Bewusstseinshelligkeit - Was kann die neurophysiologische Forschung zur Untersuchung des Femsehens beitragen?, in: Buddemeier, H. (Hrsg.) (1998): Das Problem von Wahmehmung und Bewusstsein auf dem Hintergrund der Medien- und Himforschung, Medienkritische Reihe, Bd. 1, Bremen, S. 74-170.In der Neurophysiologie wird zwischen den Alpha- und Beta-Wellen eine reziproke Beziehung unterstellt, d.h. der Begriff „Alpha-Blockierung" wird fur das Erscheinen von BetaWellen im Rahmen der Stimulation verwendet. Vgl. Weinstein, S. et al. (1980): Brain Activity Responses to Magazine and Television Advertising, in: Journal of Advertising Research, 20. Jg., Nr. 3, S. 57-63. Vgl. Krugman, H.E. (1970): Electroencephalographic Aspects of Low Involvement, in: American Association of Public Opinion Research, New York. Siehe dazu auch die Ausfiihrungen im Rahmen des Kapitel 5.2.4. Buzzel, K. (1998): The Children of Cyclops. The Influence of Television Viewing on the Developing Human Brain, Fair Oaks, S. 52. So ist zu beobachten, dass der Mensch die visuellen Reize des Femsehens durch emotionale Befmdlichkeiten erganzt (z.B. durch Schwindel bei einer Kameraperspektive aus dem Hubschrauber). Eine Erganzungsleistung ist beim Femsehen ohnehin notwendig, da bereits das Femsehbild bedingt durch die Braunsche Rohre kein vollstandiges Bild darstellt. Der von der Kathode ausgehende Elektronenstrahl wird mithilfe von Ablenkspulen mittels eines festgelegten Rastersystems uber die gesamte Schirmfiache geschickt. Dabei werden ca. 25 Bilder pro Sekunde gesendet, jedoch jedes Bild in zwei Teilbildem. Zuerst werden alle ungeradzahligen Zeilen auf den Schirm erzeugt, dann alle geradzahligen. D.h. statt 25 Ganzbildem werden 50 unvollstandige Bilder mit einer Dauer von 1/50 Sekunde auf den Schirm geworfen. Die Femsehbilder entstehen erst vollstandig auf der Netzhaut. Vgl. dazu Patzlaff, R. (2000): Der gefrorene Blick, Stuttgart, S. 20f

150 schlieBen, dass der rechten Hemisphare beztiglich der Aufmerksamkeit eine sehr allgemeine Bedeutung zukommt und zwar unabhangig davon, ob es sich um eher die rechte oder die linke Hemisphare starker beanspruchende Testaufgaben handelt."^^^ Weiterhin konnten Dimond und Beaumont in ihren „Fehlerentdeckungstests" zeigen, dass die Aufmerksamkeitsleistung der linken Gehimhalfte bei vergleichsweise hoherer Genauigkeit im Gegensatz zur rechten Gehimhalfte, die nahezu keinerlei Ermudungserscheinungen zeigt, schneller nachlasst."^^^ Damit kann die kontinuierliche Aktivitat und die beachtUche Toleranz fiir die bestandige, jedoch geringere Aufmerksamkeit der rechten Gehimhalfte bei dauerhaftem Femsehkonsum erklart werden. In der Gesamtbetrachtung der Gehimaktivitat im Zeitablauf und auch bei wiederholten Werbekontakten (untersucht wurden bis zu drei Kontakte) ist erkennbar, dass die linke Hemisphare, die konzentriert, selektiv und mit bewusster Aufmerksamkeit arbeitet, relativ schnell ermiidet und dabei eine zunehmende Aktivitat der rechten Himhalfte zulasst. Hierin liegt auch nach wie vor das Problem von Werbe-Pretests, die nur mit einem Kontakt arbeiten. Bei der Testsituation ist in diesem Fall die Anfangsreaktion der Befragten auf die Umwelt atypisch far die normale Femsehsituation. D.h. es ist die linke Gehimhalfte aktiv, da die Zuschauer sich nicht im Zustand des natiirlichen Femsehens befinden, welcher eine Verarbeitung mit relativ ausgeschalteter linker Gehimhalfte durchfuhrt. Hier kann auch eine Erklarung fur das scheinbar widerspriichliche Phanomen im Rahmen der Studie von Rossiter und Silberstein gesehen werden. Eventuell wurde hier nicht die Verarbeitung von Femsehwerbung unter normalen Rezeptionsbedingungen gemessen, sondem die linkshemispharische aktive Verarbeitung in der Testsituation. Kmgman leitet aus diesen Befiinden seine Hypothese ab, dass es die Eigenschaften der rechten Hemisphare sind, die lange Perioden des Femsehens untersttitzen. In Verbindung mit den relativ unermiidlichen Qualitaten der rechtshemispharischen Aufmerksamkeit vermutete bereits Kmgman ein unbegrenztes Gedachtnis fiir Bilder, von denen nicht zwangsweise alle explizit erinnert werden konnen."^^^ Insbesondere dann, wenn die Befragten um verbale Bildbeschreibungen gebeten werden, tritt das Problem, dass die Erinnemngen nicht abmfbar sind,

Vgl. Springer, S.P./ Deutsch, G. (1993): Linkes-rechtes Gehim: Funktionelle Asymmetrien, 2., neu bearb. Aufl., Heidelberg, Berlin, New York, S. 96. Vgl. Dimond, S.J./ Beaumont, J.G. (1973): Differences in the Vigilance Performance of the Right and Left Hemispheres, in: Cortex, 9. Jg., Nr. 3, S. 259-265. Die angenommene Uberlegenheit des Bildgedachtnisses iiber das verbale Gedachtnis konnte in mehreren Experimenten bestatigt werden. Vgl. Shepard, R.N./ Chang, J.-J. (1967): Recognition Memory for Words, Sentences and Pictures, in: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, 6. Jg., S. 156-163; Standing, L/ Conezio, J./ Haber, R.N. (1970): Perception and memory for pictures: Single-trial learning of 2500 visual stimuli, in: Psychonomic Science, 19. Jg., Nr. 2, S. 73-74; Paivio, A. (1979): Imagery and Verbal Process, New York, u.a., S. 112f.

151 verstarkt auf, da es generell mit Schwierigkeiten verbunden ist, bildliche Erinnerungen der rechte Gehimhalfte mit Befragungsmethoden der verbal orientierten linken Hemisphare zu erreichen (Modalitatsproblem).^^^ Im Rahmen der rechtshemispharischen Verarbeitung von Femsehbildem wird die zugehorige verbale Argumentation nach einem davon zu unterscheidenden Mechanismus und vermutlich auch in einem anderen Gehimbereich abgelegt. Werden die getrennten Speicherorte nicht durch wiederholte Werbekontakte als neuronales Netzwerk im Sinne der Synaptischen Wachstumstheorie des Lemens verstarkt"^^"^, kann dies dazu fiihren, dass bei einer Gedachtnisprufung keine Verbindung zwischen der verbalen Argumentation und dem Bild mehr hergestellt werden kann. Eine korrekte Zuordnung des Werbespots zur beworbenen Marke ist dann nicht mehr moglich."^^^

5.3

Erklarungsansatze des Vergessensprozesses

Jede Lemtheorie hat neben dem Phanomen des Lemens auch das Verlemen bzw. Vergessen einzubeziehen. Das Phanomen Vergessen ist in dem hier verwendeten Kontext gleichzusetzen mit „fehlender Erinnerung". Es besteht ein allgemeiner Konsens, dass der Verlust an Erinnerung eine Funktion der seit dem Werbekontakt verstrichenen Zeit ist."^^^ In Werbewirkungsstudien, welche die Zeitabhangigkeit des Vergessens empirisch darstellen, zeigte sich erwartungsgemaB, dass werbeahnliche Aussagen nach 20 Minuten noch signifikant hohere Recognition-Werte erzielten als dies nach einer Woche der Fall war."^^^ Drei Monate

Vgl. Krugman, H.E. (1980): Point of View: Sustained Viewing of Television, in: Journal of Advertising Research, 20. Jg., Nr. 3, S. 66-67. Der im AD*VANTAGE-Pretest-Verfahren zu beobachtende Ruckgang der Durchsetzungsfahigkeit (gemessen als gestiitzte Werbeerinnerung) ware eventuell dadurch erklarbar, dass die im Rahmen der Umstellung des klassischen Prozedere via Computer auf Human Interface-System (mit Voice Recording und Touch Screen) erhohte Spotanzahl (von sieben auf neun Werbespots) den Schwerpunkt der Himaktivitat weiter zugunsten der rechten Hemisphare verschiebt. Eine aktive Erinnerung an diese Spots ware gemal3 der Theorie von Krugman erschwert. Die Beobachtung der geringeren Durchsetzungswerte ergab sich aus der parallelen Anwendung der beiden Verfahren und wurde im Rahmen eines Informationsgespraches mit Herm Dziemballa am 16.03.1998 erwahnt. Siehe dazu auch Kapitel 5.2.2. Vgl. Kroeber-Riel, W./ Weinberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, 8. Aufl., Munchen, S. 235 f. Die Problemstellung der fehlenden Zuordnungsfahigkeit der Werbung zur beworbenen Marke auf Seiten der Befragten wurde bereits in Kapitel 3.1.3. Hutchinson, J.W./ Moore, D. (1984): Issues surrounding the examination of delay effects in advertising, in: Kinnear, T. (Hrsg.): Advances in consumer research, Provo, S. 650-655. Vgl. Gregan-Paxton, J./ Loken, B. (1997): Understanding Consumer Memory For Ads: A Process View, in: Wells, W.D. (Hrsg.) (1997): Measuring Advertising Effectiveness, Mahwah, New Jersey, London, S. 183-202; Hawkins, S.A./ Hoch, S.J. (1992): Low involvement learning: Memory without evaluation, in: Journal of Consumer Research, 19. Jg., Nr. 2, S. 212-225; Singh, S.N./ Rothschild, M.L./ Churchill, G.A. (1988): Recognition Versus Recall as Measures of Television Commercial Forgetting, in: Journal of Marketing Research, 25. Jg., Nr. 1, S. 72-80.

152 nach dem Werbekontakt lag der Prozentsatz der Versuchspersonen, die sich noch an die betreffende Marke erinnem konnten, werbemittelabhangig zwischen 45 und 70 Prozent."^^^ Damit wird zwar offensichtlich, dass die Erirmenmg an Werbung im Zeitablauf verfallt, dennoch lassen die Ergebnisse keinen Schluss auf die relevanten Variablen und deren Einfluss auf den Prozess des Vergessens zu."^^^ Uber die moglichen Ursachen des Vergessens existiert eine Vielzahl von Annahmen, die sich hinsichtlich der gesuchten relevanten Variablen zum Teil erheblich unterscheiden."^^^ So ist denkbar, dass Informationen gar nicht erst Bestandteil des LZS geworden sind, da der Prozess der Konsolidierung gestort wurde. Moglich ist auch, dass die Informationen des LZGs beispielsweise auf Grund fehlender Hinweisreize nicht abgerufen werden konnen. Unter den zahlreichen hypothetischen Annahmen haben sich in erster Linie zwei Theorien des Vergessens durchgesetzt:"^^^ (1) Spurenzerfallstheorie: Vergessen wird in erster Linie als ein zeitabhangiger und passiver Vorgang angesehen, d.h. Gedachtnisspuren verlieren mit der Zeit an Starke und zerfallen, wenn der Leminhalt nicht gefestigt wird (z.B. durch Wiederholung). (2) Interferenztheorie: Vergessen ist als ein aktiver Vorgang aufzufassen, der durch vorangegangenes Lemmaterial (proaktive Hemmung) und/oder nachfolgend gelemtes Material (retroaktive Hemmung) ausgelost wird. Wahrend im KZS bestehende Interferenzen fur das langsame Verschwinden der ursprunglichen Gedachtnisspuren verantwortlich ge-

Vgl. Wansink, B./ Ray, M, (1993): How expansion advertising affects brand usage frequency: A programmic evaluation, Marketing Science Working Paper No.93-126, Cambridge. Dass Erinnerungsverlust eine Funktion der seit dem Werbekontakt verstrichenen Zeit ist, erscheint zwar unmittelbar einleuchtend, jedoch ist zeitlicher Abstand per se keine kausale Variable. Wohl aber konnen kausale Ereignisse in der Zeit ablaufen, die den Erinnerungsverlust bewirken. Setzt man einen Eisenhammer den normalen Witterungseinflussen aus, wird er mit der Zeit rosten. Aber nicht die Zeit ist die Ursache fiir den Rostvorgang, sondem die in der Zeit ablaufende Reaktion einer chemischen Oxidation. Hinter der Zeit als monokausaler Erklarungsvariable &r Vergessen stehen eine Reihe von Einflussfaktoren, welche einen erfolgsfaktorendeterminierenden Status fur die Behaltensleistung (von Werbung) einnehmen. Auch eine Interpretation dahingehend, dass ,Jede Lemerfahrung ... eine neurologische Spur hinterlasst, die langsam durch zufallige, in regelmafiigen Abstanden auftretende neuronale Storimpulse verwischt oder ,erodiert' wird, sodass die Spur mit zunehmendem Behaltensintervall immer weniger abrufbar wird", ist zu ungenau und wird einem wissenschaftlichen Anspruch nicht gerecht. Vgl. Bower, G.H./ Hilgard, E.R. (1983): Theorien des Lemens, Bd. I, 5., verand. Aufl. Stuttgart, S. 222. Freud machte aktive Verdrangungsprozesse gewisser Materialien im Unterbewussten fur das Vergessens verantwortlich (sog. motiviertes Vergessen). Gestaltpsychologen suchten die Ursache ftir das Vergessen in Veranderungen bzw. Entwicklung der Erinnerungsspur hin zu einer besseren Organisation oder Gestalt. Vgl. Baddeley, A.D. (1979): Die Psychologic des Gedachtnisses, 1. Aufl., Stuttgart, S. 69-78. Vgl. Schermer, F. (1991): Lemen und Gedachtnis, Stuttgart u.a., S. 159-170; Whittlesea, B.W.A. (2002): Two Routes to Remembering (and Another to Remembering Not), in: Journal of Experimental Psychology, 131.Jg,Nr.3,S.330ff

153 macht werden, wird das Vergessen im LZS mit einer Reduktion der Verfugbarkeit von Abrufinformationen fur die Zielworter auf Gmnd von interferierenden Spuren zu erklaren versucht (retroaktive Hemmung).

Beide Theorien erflihren im Laufe der Zeit zahlreiche Modifikationen"^^^, dennoch ist es bisher nicht gelungen, eine befriedigende Erklarung des Zusammenwirkens der Einflussfaktoren zu fmden und zu einer umfassenden Theorie zusammenzufuhren.'^^^ Aus dem derzeitigen Wissensstand heraus konnen Vergessensprozesse im LZS auch nicht ausschlieBlich auf Interferenzen zurtickgefuhrt werden. So geht man in der Neurobiologie davon aus, dass Erirmerungen durch Veranderungen in der Verbindungsstarke von Neuronen gespeichert werden. Wird neues Wissen erworben, geschehen komplexe Veranderungen an den Synapsen (hinsichtlich der Funktion und Plastizitat), welche die Neuronen miteinander verbinden."^^^ Das urspriingliche neuronale Netzwerk ist verandert worden und deshalb nicht mehr abrufbar. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist Interferenz durch eine fehlerhafle Synapsenschahung, welche durch mangelnde Aufmerksamkeit, Stress und andere psychologische Faktoren begiinstigt wird, verursacht."^^^ AUerdings konnen derartige Veranderungen mit der Zeit abgeschwacht werden, sodass eine Erinnerung als Reaktivierung der urspriinglich beteiligten neuronalen Netze auch aus diesem Grund nicht mehr moglich sein kann."^^^ Neuronen, die bei Erinnerungsprozessen nicht mehr abgerufen werden, verlieren ihre synaptischen Verbindungen, da ihr Milieu mit Wachstumsfaktoren unterversorgt ist. Der zeitlich bedingte Abbau von synaptischen Verkniipfungen und der einsetzende Neuronentod zieht das Vergessen nach sich. Dieses neurobiologische Ereignis stiitzt wiederum die Spurenzerfallstheorie. Die derzeit am meisten favorisierte Vergessenstheorie im Bereich des Marketing ist die der Interferenz, d.h. ftir das Vergessen von Werbematerial werden in erster Linie Ahnlichkeitsinterferenzen verantwortlich gemacht. Hintergrund ist eine Zunahme an Anzahl und Umfang der gesendeten Werbeblocke."^^^ Die hinsichtlich des Werbeauftritts (Werbeaussagen, Hinter-

Vgl. Baddeley, A.D. (1979): Die Psychologic des Gedachtnisses, 1. Aufl., Stuttgart, S. 78-122. Vgl. Bower, G.H./ Hilgard, E.R. (1983): Theorien des Lemens, Bd. I, 5., verand. Aufl. Stuttgart, S. 214; Bredenkamp, J./ Wippich, W. (1977): Lem- und Gedachtnispsychologie, Bd. II, Stuttgart u.a., S. 89-95. Siehe dazu auch Kapitel 5.2.2. Vgl. Tadie, J.-Y./ Tadie, M. (2003): Im Ged^chtnispalast: Eine Kulturgeschichte des Denkens, Stuttgart, S. 188. Vgl. o.V. (2001): Knubbel der Erinnerung, in: Geo Magazin online, 1/2001. http://www.geo.de/themen/geoskope/00/01 /Knubbel.html. Vgl. dazu auch Bogart, L./ Lehmann, C. (1983): The case of the 30-second commercial, in: Journal of Advertising Research, 23. Jg., Nr. 12, S. 382-405.

154 grundmotive) konkurrierender Produkte festzustellenden Ahnlichkeiten zwischen den Werbespots ftihrten zu Verwechslungen und niedrigen Erinnerungswerten bei den Zuschauem. Als Beleg fiir das Phanomen der Interferenz gait die Beobachtung, dass mittels Erinnerungsanker (z.B. Werbefoto) die Werbeerinnerung verbessert werden konnte, wahrend bei nicht konkurrierenden Warengmppen keinerlei Effekte von dem Hilfsmaterial auf die Erinnerungswerte ausging."^^^ Auf Grund der mangelnden Bestatigung im auBerexperimentellen Bereich ist die Erklanmg des zu beobachtenden Verfalls der Werbeerinnerung allerdings auch mit modemen interferenztheoretischen Konzeptionen (noch) nicht uneingeschrankt moglich.'^^^ Die experimentelle Forschung analysiert Situationen, in welchen die Probanden willentlich und absichtlich lemen. Im Gegensatz dazu lemen die Werberezepienten weniger bewusst, sondem eher beilaufig.^^^

5.4

Erklarungsbeitrag neurophysiologischer und lerntheoretischer Erkenntnisse fiir den Aufbau von Markenbekanntheit

Ein wesentlicher Erkenntnisgewinn sowohl der Lemexperimente als auch der Neurowissenschaften fur die Werbewirkungsforschung war die Bestatigung der Annahme, dass das reine Wiederholen des Lemmaterials und damit die Kontaktfrequenz von Werbemitteln durchaus einen Einfluss auf die langerfristige Erinnerungsleistung ausiiben.^^^ Dieser Lemeffekt kommt auch dann zustande, wenn die Werbung ohne Aufmerksamkeit aufgenommen wird, was insofem von Relevanz ist, als dass man es i.d.R. mit einem wenig involvierten Femsehzuschauer bei der Rezeption von TV-Werbung zu tun hat. Ebenso konnte das Postulat einer Low-Involvement-Situation neurophysiologisch bestatigt werden.^^^ Im Mittelpunkt der neurophysiologischen Betrachtung des Lemprozesses stand jedoch die Untersuchung des neuronalen Substrats von Gedachtnis und dessen Zustandekommen auf Grund kognitiver Vorgange, wie Wahmehmung und Lemen, und die sich daraus ableitende Uberpriifung der Annahmen der vorherrschenden Ansatze in der Werbewirkungstheorie. Eine grundlegende

Vgl. die Studien von Keller, K.L. (1991): Memory and evaluation effects in competitive advertising environments, in: Journal of Consumer Research, 18. Jg., Nr. 17, S. 463-476. Vgl Potter, M.C. et al. (2002): Recognition Memory for Briefly Presented Pictures: The Time Course of Rapid Forgetting, in: Journal of Experimental Psychology: Human Perception and Performance, 28. Jg., Nr. 5, S. 84-95; Stewart, D. (1989): Measures, methods, and models in advertising research, in: Journal of Advertising Research, 29. Jg., Nr. 3, S. 54-60. Vgl. o.V. (1999): Kaufwunsch entsteht im Unterbewusstsein, in: Welt am Sonntag, vom 15.08.1999, Nr. 33, S. 37. Vgl. Baddeley, A.D.(1997): Human Memory: Theory and Practice, 3. Aufl., Hove, UK, zit. nach Bredenkamp, J. (1998): Lemen, Erinnem, Vergessen, Miinchen, S. 81. Siehe dazu die Ausfuhrungen in Kapitel 5.2.4

155 Erkenntnis ist, dass kognitive Vorgange nicht losgelost von emotionalen Prozessen betrachtet werden konnen. Vielmehr mehren sich die Hinweise, dass - entgegen der bisherigen Auffassung - die bewusste Wahmehmung von Reizen nicht vor deren emotionaler Bewertung stattfindet, da im Rahmen der Informationsverarbeitung die sensorischen Inputs zunachst direkt zu Himbereichen geleitet werden, die fur Emotionalitat zustandig sind (z.B. die Amygdala). Damit Informationen tiberhaupt ins Bewusstsein gelangen, miissen eine Vielzahl rekursiver Riickkoppelungsschleifen zu den limbischen Zentren durchlaufen werden. Mittels modemer bildgebender Verfahren konnten die beteiligten neuronale Korrelate identifiziert werden. Deutlich wurde, dass diese neuronalen Schaltkreise nicht nur auf den Isocortex beschrankt sind, sondem auch subkortikortale Strukturen, wie z.B. Thalamus oder Hippocampus, integrieren.^^^ Vieles spricht dafur, dass der Hippocampus bei der Festigung der Erinnerung mittels Verschaltungsschleifen eine entscheidende Rolle spielt.^^"^ Weiterhin wurde die Funktion der Amygdala im limbischen System bei der Entstehung und dem Memorieren von Gefiihlen im Kontext erinnerungsfahiger Sachverhalte erkannt. Diese subcorticale Struktur sucht den sensorischen Input nach biologisch relevanten Stimuli ab und verarbeitet diese gleichzeitig mit dem Cortex.^^^ Die Sinneseindriicke werden von primaren Cortexfeldem in die Amygdala geleitet, in welcher in Sekundenschnelle der Gefiihlsgehah des Erlebten bewertet und gemessen wird. Die verarbeiteten extemen Sinnesinformationen werden dabei zu vergangenen Erfahrungen in Beziehung gesetzt. Ob ein Werbereiz aktivierend wirkt und somit potenziell in hoheren, bewusstseinserzeugenden neuronalen Netzwerken weiterverarbeitet wird, hangt somit zum groBen Teil von dem eng mit der Gefiihlswelt verkniipften limbischen System beigemessenen Wichtigkeit und Ich-Relevanz der Werbebotschaft in der aktuellen Situation ftir das Individuum ab. Die Selektion und damit die Entscheidung, welche Werbeinformationen als wichtig erachtet werden, erfolgt somit nicht - wie bisher angenommen - rational durch die analytisch arbeitende GroBhimrinde, sondem in erster Linie emotional. Insofem wird auch die subjektiv bewertete Werbequalitat zu einer wesentlichen Wirkungskomponente beim Aufbau von Markenbekaimtheit durch Werbung. Aktuelle Forschungsergebnisse legen zudem den Schluss nahe, dass die Informationsverarbeitung zum groBten Teil unbewusst ablauft, sodass lediglich das Endprodukt dem

Vgl. Kolb, B./ Whishaw, I.Q. (1993): Neuropsychologic, Heidelberg u.a., S. 299, 301; Popper, K.R./Eccles, J.C. (1997): Das Ich und sein Gehim, 6. Aufl., Miinchen, Zurich, S. 335. Vgl. Kolb, B./ Whishaw, I.Q. (1993): Neuropsychologic, Heidelberg u.a., S. 300-301. Vgl. Murre, J.M.J. (1996): TraceLink: A Model of Amnesia and Consolidation of Memory, in: Hippocampus, 6. Jg., Nr. 6, S. 676.

156 Bewusstsein zuganglich ist und damit nur dieses kognitive Konstrukt auch im Rahmen von Erinnerungstests iiberhaupt abgefragt werden kann. Dariiber hinaus existieren empirische Belege dafur, dass diese unbewussten Gedachtnisleistungen die Beurteilung und Wahmehmung des Produktangebots sowie auch das KaufVerhalten beeinflussen konnen.^^^ Ungeachtet der beilaufigen und damit niedrigen Verarbeitung der Werbeinhalte ist es somit moglich, dass sich unter bestimmten Bedingungen (z.B. emotionale Konditionierung) Gedachtnisreprasentationen beziiglich des beworbenen Produktes ausbilden.^^^ Die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine dauerhafte Gedachtnisreprasentation fur Markenbekanntheit ausbildet, sowie deren Verfugbarkeit zum Kaufzeitpunkt sind maBgebUch von der Starke der neuronalen Verbindung abhangig. Den groBten empirisch nachweisbaren Einfluss auf die Verbindungsstarke sowie die Ausbildung eines neuronalen Netzwerkes, welches die Markenbekanntheit beinhaltet, hat neben der Reizwiederholung auch die Werbequalitat.^^^ Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass Emotionen eine entscheidende Rolle bei der Speicherung und dem Abruf von Erinnerungen spielen, erscheint das emotionale Aufladen der beworbenen Marke im Rahmen der emotionalen Konditionierung eine effektive Sozialtechnik, um Markenbekanntheit zu generieren.

5.5

Integration des gedachtnisassoziierten Forschungsstandes in ein Awareness-Modell

Die neurophysiologischen und lemtheoretischen Erkenntnisse der vorangegangenen Kapitel bieten weitreichende Implikationen fur die Erklarung des Lemeffektes „Markenbekanntheit" trotz geringer Aufmerksamkeit gegeniiber dem Werbemittel. Da der Komplexitat und den verschiedenen Umweltbedingungen auch im Falle der Neuproduktwerbung durch ein einheit-

Vgl. Cameron, A. (1999): Recognising the power of hidden memories, in: Admap, 34. Jg., Heft October, S.22. Zahlreiche Studien weisen auf die emotionale Komponente der Werbemittelverarbeitung und deren Einfluss sowohl auf das Kaufverhalten als auch auf die Werbewirkung. Siehe dazu Allen, C.T./ Machleit, K.A./ Kleine, S. (1992): A Comparison of Attitudes and Emotions as Predictors of Behavior at Diverse Levels of Behavioral Experience, in: Journal of Consumer Research, 18. Jg., Nr. 4, S. 493-504; Erevelles, S. (1998): The Role of Affect in Marketing, in: Journal of Business Research, 42. Jg., Nr. 2, S. 199-215. So konnte in mehreren empirischen Untersuchungen gezeigt werden, dass in TV-Spots vermittelte Emotionen einen positiven Einfluss auf die Erinnnerungsleistung ausuben. Vgl. dazu u.a. Ambler, T./ Bume, T. (1999): The Impact of Affect on Memory of Advertising, in: Journal of Advertising Research, 39. Jg., Nr. 2, S. 25-34; Holbrook, MB./ Batra, R. (1987): Assessing the Role of Emotions as Mediators of Consumer Response to Advertising, in: Journal of Consumer Research, 14. Jg., Nr. 3, S. 405; Lee, A.Y./ Stemthal, B. (1999): The Effects of Positive Mood on Memory, in: Journal of Consumer Research, 26. Jg., Nr. 2, S. 115127; Vakratsas, D./ Ambler, T. (1999): How Advertising Works: What Do We Re ally Know?, in: Journal of Marketing, 63. Jg., Nr. 1, S. 26-43.

157 liches Werbewirkungsmuster nicht geniigend Rechnung getragen werden kann, ist das unterstellte Wirkungsmuster und damit die Giiltigkeit des in Abbildung 30 dargestellten Grundmodells auf die nachfolgend angegebenen Rahmenbedingungen beschrankt. In Anlehnung an das von Kroeber-Riel entwickelte Modell werden folgende Determinanten als Bedingungen der Werbewirkung angenommen:^^^ -

gemischte Werbung: die geringe Erklarungsbediirftigkeit bei neuen FMCGs und die objektiv kaum darstellbaren Produktvorteile gegeniiber Konkurrenzprodukten lasst im Rahmen der Werbemittelgestaltung neben dem informativen (Aufmerksamkeit erzeugenden) Neuheiteneffekt i.d.R. auch emotionale Inhalte zum Einsatz kommen.

-

geringes Involvement der Konsumenten.

Das Modell kann als Erweiterung des Modells des „Wirkungspfads der informativen Werbung bei wenig involvierten Konsumenten" von Kroeber-Riel^ ^^ gesehen werden. Wie aus Abbildung 30 ersichtlich, fuhren Werbemittelkontakte bei geringem Involvement auf zwei parallelen Verarbeitungswegen, d.h. durch kognitive als auch emotionale Vorgange, zur (gesttitzten) Markenbekanntheit. Ausgehend von einer geringen Aufmerksamkeit gegeniiber der Femsehwerbung bleibt diese auf Grund der flachen Informationsverarbeitung in der Folge eines einmaligen Kontaktes meist erinnerungslos. Bei hoherer Reizintensitat, Neuartigkeit Oder Wichtigkeit der Reize werden diese allerdings ins Zentrum der Aufmerksamkeit geriickt. Voraussetzung ftir eine derartige Bewertung als „hinreichend neu"oder „wichtig" ist ein unbzw. vorbewusst arbeitendes (limbisches) System.^^^ Dabei sind die Einflussfaktoren hohe Reizintensitat und Bewertung als neuer u/o wichtiger Reiz in ihrer Wirkung auf die bewusste Wahmehmung als komplementar anzusehen, d.h. je hoher die (qualitative) Bewertung ausfallt, desto weniger Wiederholungen sind far eine bewusste Wahmehmung des Werbemittels notwendig und vice versa.^^^

Vgl. Kroeber-Riel, W./ Weinberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, 8. Aufl., Munchen, S. 612 ff, 616, 621. Vgl. Kroeber-Riel, W./ Esch, F.R. (2000): Strategie und Technik der Werbung - Verhaltenswissenschaftliche Ansatze, 5., vollig neu bearb. und erw. Aufl., Stuttgart, S. 159. Vgl. Roth, G. (2003): Fuhlen, Denken, Handeln, neue, vollig uberarb. 1. Aufl., Frankfurt, S. 237-239. Vgl. dazu auch Werber, N. (1999): Zweierlei Aufmerksamkeit in Medien, Kunst und Politik, in: Kunstforum, Bd. 148, Dezember 1999-Januar2000, S. 143.

158

Abbildung 30:Grundmodell des Aufbaus von Werbe-Awareness fiir neue FMCGs

schwache Aufinerksamkeit

kognitiv cortical-hippocampale Vorgange Bewertung als neuer oder wichtiger Reiz

emotional subcorticale Vorgange (unbewusste Wahmehmung)

Aufinerksamkeitszuwendung (bewusste Wahmehmung) Kontakt am POS (Schliisselreiz)

Markenbekanntheit durch Werbung

Kaufverhalten

Einstellung

Die Aufinerksamkeitszuwendung dient als MaB fiir den quantifizierten Wert der durch Werbung vermittelten Neuigkeit oder deren Erlebnisgehalt. Die im Rahmen der Werbung vermittelte Information ist der Neuigkeitswert, den wir aus den Reizen ziehen. Der Wert kann sich dabei auf das Reizmuster als solches oder auch darauf beziehen, was das Muster

159

bedeutet. „Der Neuigkeitswert des Musters (an sich, eig. Anm.) karm als die (Un-)Wahrscheinlichkeit seines Auftauchens in einem zufallsgesteuerten Fluss von Signalen gemessen werden. Der Neuigkeitswert von Mustem, die etwas bedeuten, ist schwieriger zu messen. Seine Messung verlangt die Einbeziehung der Instanz (das limbische System, eig. Anm.), die die Bedeutung versteht."^^^ Fiir den Kaufentscheidungsprozess ist nur die semantische bzw. pragmatische Information wichtig, d.h. der Neuigkeitswert von Mustem, die zu etwas in Bezug gesetzt werden konnen (z.B. Bediirfnisbefriedigung).^^'^ Die Verarbeitung der Werbeinformationen, d.h. das Erfassen der Bedeutung und des Sinns (Semantik)^^^, nimmt jedoch Ressourcen der Informationsverarbeitung in Anspruch, die mit dem Ansteigen der Informationsflut immer knapper werden. Wahrend die Aufmerksamkeitszuwendung bzw. die bewusste Wahmehmung durch den Hippocampus gesteuert wird, umfassen die corticalhippocampalen Vorgange den Einfluss des Hippocampus auf die Plastizitat assoziativer Strukturen hinsichtlich der Synapsenverbindungen zur Konsolidierung von Gedachtnisinhalten beziiglich der Marke. Entscheidend ist, dass im Rahmen des vorgestellten Modells bei jeder Informationsverarbeitung sowohl kognitive als auch emotionale Vorgange beteiligt sind, d.h. beide Systeme verarbeiten parallel die eingehenden Werbereize. Der Schwerpunkt des theoretischen Konzepts liegt auf der Wiederholung sowie der Reizqualitat als Einflussfaktoren der Markenbekanntheit durch Werbung. Beides sind Faktoren mit einem nachweislich hohen Wirkungsgrad, die gleichzeitig das Potenzial zu einer Erhebung in zukiinftigen TESI-Versionen beinhalten.^^^

Hierbei ist anzumerken, dass im Rahmen der Informationstheorie "der Wert der "Information" nicht mit dem Inhalt der mitgeteilt wird, gleichgesetzt werden darf. Die Information ist das Mafi der Wahlmoglichkeit bei der Selektion einer Botschaft". Eco, U. (1994): Einfuhrung in die Semiotik, 8., unverand. Aufl., Miinchen, S. 54. Der Neuigkeitswert bedeutungsloser Muster wird dagegen als syntaktische Information bezeichnet. Vgl. Franck, G. (1999): Jenseits von Geld und Information: Zur Okonomie der Aufmerksamkeit, in: Kunstforum, Bd. 148, Dezember 1999-Januar 2000, S. 85. Bereits Eco konstatierte, dass sich in neuerer Zeit"eine Tendenz herausgebildet (hat), das Problem der Massenkommunikation in eine semiotische Perspektive einzubeziehen, da die semiotischen Methoden sich als niitzlich zu Erklarung zahlreicher Phanomene der Massenkommunikation herausgestellt haben.". Die Semiotik als "die Lehre von den Zeichen" darf dabei nicht gleichgesetzt werden mit der Semantik, die sich traditionellerweise mit Sinn und Bedeutung beschaftigt hat, sondem "muss auch die Prozesse untersuchen, die, ohne die Bedeutung direkt einzubeziehen, die Zirkulation von Bedeutung ermoglichen". Es geht mithin um die Untersuchung aller kulturellen Vorgange als Kommunikationsprozesse. Eco, U. (1994): Einfuhrung in die Semiotik, 8., unverand. Aufl., Munchen, S. 25, 3If, 200ff. Ausgeklammert bleibt das generelle Problem der semiotischen Erforschung der Bedeutung. Aus Griinden der Komplexitatsreduktion sowie aus Mangel an empirischen Daten wurde auf andere Werbewirkungsdeterminanten, wie z.B. das Programmumfeld (siehe Abbildung 6) verzichtet. Zum Einfluss des Programmumfeldes bzw. -involvement auf die Werbewirkung siehe Aylesworth, A.B./ MacKenzie, S.B. (1998): Context Is Key: The Effect of Program-Induced Mood on Thoughts about the Ad, in: Journal of Advertising, 27. Jg., Nr. 2, S. 17-32.

160 In dem vorliegenden Modell wurde weiterhin der Einfluss unbewusst wahrgenommener Werbung auf das KaufVerhalten berucksichtigt, welcher in einer zukiinftigen Erweiterung der TESI-Modellstruktur ebenfalls berucksichtigt werden miisste. Die Beobachtung, dass sich Konsumenten oftmals spontan und ohne kognitive Kontrolle fur ein Produkt entscheiden, riickt das Forschungsinteresse auf die unbewussten Gedachtnisprozesse im Rahmen der Informationsverarbeitung.^^^ Die durch subcorticale Verarbeitungsvorgange der Werbung entstandenen emotionalen Gedachtnisreprasentationen durch das limbische System (Priming) werden auf Grund der fehlenden Relevanz (Neuheit, Wichtigkeit fur das Individuum) nicht bewusst und konnen somit auch nicht aktiv abgerufen werden. Sie konnen jedoch am Kaufort (POS) durch den visuellen Produktkontakt (Schliisselreiz) ein Gefuhl der Vertrautheit auslosen, welches wiederum die Kaufentscheidung positiv beeinflussen kann.^^^ Da dieser Pfad (gestrichelte Linie) nicht iiber die bewusste Markenbekanntheit flihrt, wird er bei der nachfolgenden Umsetzung in die Awareness-Simulation auch nicht einbezogen. Die Annahme, dass fur den Erwerb von Markenkenntnis durch Femsehwerbung weniger die kognitiven Gedachtnisprozesse, sondem vielmehr unbewusste emotionale Informationsverarbeitungsprozesse den Lemvorgang beeinflussen, wurde durch den aktuellen Kenntnisstand der Neurowissenschaften gestiitzt. Obwohl hinsichtlich der himphysiologischen Vorgange im Rahmen der Wahmehmung und Speicherung von Informationen nach wie vor ein groBer Forschungsbedarf existiert, haben sich einige hypothetische Vorstellungen tiber den Einfluss des Hippocampus und der Amygdala auf den Speicherprozess im disziplinaren Diskurs bisher bewahrt. Diese grundlegenden neurophysiologischen Erkenntnisse der letzten Jahren sind in die Entwicklung einer umfassenden Werbewirkungstheorie zu integrieren und im interdisziplinaren Kontakt fur die eigenen Fragestellungen auszubauen.

Siehe dazu auch die Untersuchungen von Zaltman und Kosslyn an der Havard Business School mit modernen bildgebenden Verfahren. Vgl. Coulter, R.A./ Zaltman, G.I Coulter, K.S. (2001): Interpreting Consumer Perceptions of Advertising: An Application of the Zaltman Metaphor Elicitation Technique, in: Journal of Advertising, 30. Jg., Nr. 4, S. 1-22; Pink, D.H. (04.04.2004): Metaphor Marketing, in: FastCompany online. http://pffastcompany.com/ magazine/14/zaltman.html. Vgl. Cameron, A. (1999): Recognising the power of hidden memories, in: Admap, 34. Jg., Heft Oktober, S. 21-23.

161

6

Basis von Daten aus dem Media-Plan und der Testmarktforschung

6.1

Einfiihrung in die Simulation

Ein Modell als die vereinfachte Abbildung eines Systems (Prozesses, Theorie) dient dazu, das Verhalten des Systems (Prozesses, Theorie) besser verstehen, vorhersagen und moglicherweise kontrollieren zu komien.^^^ Die in Abschnitt 3.4.1 vorgestellten Modelle zur Prognose von Werbeerinnerung (resp. Markenbekanntheit) waren mit Ausnahme des Litmus- und GfKModells analytische Modelle, welche unter vereinfachten Annahmen tiber den AwarenessProzess einen mathematischen Algorithmus i.S. einer strukturierten Abfolge von einzelnen Gleichungen zugrunde legen. Der in dieser Arbeit verfolgte Ansatz stiitzt sich dagegen auf ein Simulationsmodell, da die abzubildenden realen Vorgange einen hohen Komplexitatsgrad aufweisen. Die strenge Struktur analytischer Losungsmodelle kann nicht ohne Einschrankung die komplexen interdependenten Beziehungen erfassen. Derartige Beschrankungen ergeben sich durch die Bedingungen einer mathematischen Gleichung, dagegen gibt es hinsichtlich der logischen Struktur, d.h. der Beriicksichtigung moglicher Einflussfaktoren auf das Entscheidungsproblem, im Simulationsmodell keinerlei Einschrankungen.^^^ Dem Modellentwickler bleibt zudem mehr Freiraum, die Struktur des Problems zu spezifizieren. So existieren gerade im Bereich der Werbewirkungsprognose eine Vielzahl nicht-linearer Beziehungen^^\ die durch lineare Programme ohnehin nicht adaquat abgebildet werden konnen. Eine unterstellte Linearitat der Zielfunktion der Awareness beziiglich der Anzahl der Werbekontakte geht beispielsweise von der unrealistischen Annahme aus, dass zehn Werbekontakte bei einer Person gleichwertig sind mit einem Werbekontakt bei zehn Personen. Unberiicksichtigt bleibt folglich auch, dass bei hohen Kontaktfrequenzen zusatzliche Werbekontakte nur noch einen marginalen Nutzenzuwachs hinsichtlich der PrognosegroBe bewirken. Zusatzlich bietet die Simulation den Vorteil, dass zugleich wichtige und langfristige Aspekte des Verhaltens eines Systems in verkurzter Zeit dargestellt werden konnen. Damit wird es moglich, den zeitlichen Aufbau der Werbeerinnerung computergestutzt durchzuspielen, wobei auf jeder Stufe des zu simulierenden Prozesses defmitorische Gleichungen bzw. Verhaltensgleichungen mit determinierten und/oder stochastischen EinflussgroBen existieren. Die Fortfiihrung des Prozesses hangt von den Werten bestimmter Einfluss- oder ZielgroBen ab. Neben

Vgl. Mertens, P. (1982): Simulation, 2. neu bearb. Aufl., Stuttgart, S. 1. Gewohnlich kommt die Simulation mit weniger vereinfachenden Annahmen aus, welche i.d.R. bei der mathematischen Umformung das Modell in seiner Leistung begrenzen wtirden. Dieser Umstand wird bereits bei den Kosten fur eine Spotschaltung deutlich. Sind fur einen Spot zu einer bestimmten Zeit Aufwendungen in Hohe von beispielsweise 30.000 Euro notwendig, werden bei mehreren Schaltungen in aller Regel Ermafiigungen gewahrt.

162 der geringen algorithmischen Beschrankung spricht auch der Einsatz von individuellen Daten^^^ und die Moglichkeit einer schnellen sowie einfachen Modellanpassung bei neuen Informationen oder alternativen theoretischen Formuliemngen (z.B. alternative Verlaufe der Kontaktmengenbewertung) fiir die Losung des Prognoseproblems mittels eines Simulationsmodells. Allerdings ist zu beachten, dass gerade durch die Nichtbeachtung von mathematischen Beschrankungen keine Moglichkeit besteht, eine Optimallosung zu bestimmen. Jeder Durchlauf eines stochastischen Simulationsmodells erzeugt lediglich Schatzwerte der wahren Eigenschaften des Modells ftir ein bestimmtes Set von Eingangsparametem. Deshalb sind fur die Untersuchung unterschiedlicher Parameterkonstellationen mehrere, unabhangige Durchlaufe des Modells notwendig. Aber auch mit einer gegebenen Parameterkonstellation ist nur tiber zahlreiche Wiederholungen eines Simulationsexperiments ein Uberblick iiber die Variationsbreite der Ergebniswerte moglich. SchlieBlich sind Simulationsmodelle oft teuer und zeitaufwandig in der Entwicklung. ^^^ Das vorliegende Simulationsmodell basiert auf dem sog. Monte Carlo-Verfahren, bei dem die Effekte statistischer Verteilungen mithilfe von Zufallszahlen erzeugt werden.^^"^ Unterstellt wird, dass die der Werbeerinnerung zugrunde liegenden ftinktionalen Beziehungen (z.B. zwischen Werbeausgaben und Verteilung der individuellen Werbekontakte) abhangig von spezifischen Wahrscheinlichkeitsparametem sind. Folgende Eigenschaften charakterisieren die Monte Carlo-Methode:^^^ -

Zufallszahlen bzw. Zahlen, die in gewissem Sinne als Zufallszahlen gelten konnen (Pseudo-Zufallszahlen), werden zur Realisierung von Zufallsexperimenten benutzt.^^^ Deren Ergebnisse lief em dann eine Schatzung der gesuchten GroBe.

-

Die Simulation eines Systems oder Prozesses mit inharenten Zufallskomponenten erfordert eine Methode, Zahlen zu erhalten, die zufallig i.S. von nicht vorhersagbar sind. Statt echter Zufallszahlen werden so genannte Pseudo-Zufallszahlen^^^ verwendet, da

Vgl. Gensch, D.H. (1973): Advertising Planning, New York, S. 112. Vgl. Law, A.M./ Kelton, D.W. (2000): Simulation Modeling and Analysis, 3. Aufl. Boston et al., S. 92. Vgl. Mertens, P. (1982): Simulation, 2. neu bearb. Aufl., Stuttgart, S.3. Vgl. Schmitz, N./ Lehmann, F. (1982): Monte-Carlo-Methoden I, 2., durchgesehene Aufl., Meisenheim, S. 1-3. Die Erzeugung und Verteilung von Zufallszahlen sowie die damit einhergehende Problematik wird im Anhang 8.3 detailliert beschrieben. Die Bezeichnung „Pseudozufallszahlen" wird fur diejenigen Zahlenfolgen verwendet, die die Eigenschaften echter Zufallszahlen „hinreichend gut" nachbilden. Siehe auch Schmitz, N./ Lehmann, F. (1982): MonteCarlo-Methoden I: Erzeugen und Testen von Zufallszahlen, S. 22-53.

163 diese mithilfe eines geeigneten Computeralgorithmus meist rekursiv berechnet, d.h. rein deterministisch bestimmt werden konnen. Die Losung eines Problems wird als Parameter einer hypothetischen Grundgesamtheit dargestellt und eine Folge von Zufallszahlen herangezogen, um eine Stichprobe der Gesamtheit zu konstruieren, aus der dann statistische Schatzungen des Parameters gewonnen werden.

Der Zufallszahlengenerator, der ftir die gewiinschte Verteilung von Zufallsvariablen fiir die Beschreibung der Prozesse herangezogen wurde, stammt aus dem Laufzeitsystem des verwendeten C++-Compilers.

6.2

Das Awareness-Modell

6.2.1

Grundstruktur des Simulationsmodells

Das nachfolgend beschriebene Awareness-Simulationsmodell verfolgt die Zielsetzung, den zeitlichen Aufbau der Prognosevariable „Werbeerinnerung" fiir neue FMCGs unter Zuhilfenahme von Daten aus dem Media-Plan (Reichweite des Spots, geplante Werbeausgaben, etc.) zu simulieren (sog. Zeitpfadprognose). Die zu prognostizierende Variable stellt die „gestutzte Werbeerinnerung" (Advertising Awareness) dar, welche in der Simulation durch den absoluten Anteil der Zielgmppe, die die Marke auf Grund der Werbung kennen, ausgedriickt wird. Diese GroBe wird als Surrogat fur die „Markenbekanntheit durch Werbung" des theoretischen Grundmodells in Abbildung 30 herangezogen, da keine Messungen der „gestutzten Markenbekanntheit durch Werbung" vorliegen und dementsprechend auch nur Werte fiir die „gestutzte Werbeerinnerung" zur Modelluberpriifling herangezogen werden konnen. ^^^ Auch aus Griinden der Vergleichbarkeit mit dem in Kapitel 3.4.1.5 dargestellten GfK-AwarenessModell, welches ebenfalls die gestiitzte Werbeerinnerung zum Prognosegegenstand hat, ist die Kongruenz der zu prognostizierenden GroBen sinnvoll. Die zeitliche Entwicklung der simulierten Awareness-Werte ist ein Gradmesser fur die Effektivitat der Einfiihrungswerbung und dient wiederum als Basis fiir die Berechnung der Erstkauferrate. Die Werbeerinnerer, die

Altemativ konnte bei gegebenem Datenmaterial von der gestiitzten Markenbekanntheit die KSuferrate in Abzug gebracht werden, um so den Einfluss des Kaufverhaltens auf die Entstehung von Markenbekanntheit zu eliminieren.

164 Erstkaufe tatigen, scheiden aus dem Awareness-Modell auf Grund des veranderten Wahmehmungsverhaltens der Marke bedingt durch den Produktgebrauch aus.^^^ Die Problematik bei der Modellierung des Bekanntheitsverlaufes besteht generell darin, dass die Beziehungen zwischen Werbeausgaben, der individuellen Kontakthaufigkeit und der Variablen Werbeerirmerung kaum definiert sind. Basis der zugrunde gelegten mathematischen Modellstruktur hinsichtlich des zeitlichen Aufbaus von Awareness in Abbildung 31 bildet das aus den empirischen Befunde und theoretischen Uberlegungen abgeleitete theoretische Grundmodell der Awareness aus Abbildung 30.

Abbildung 31: Grundstruktur der Awareness-Simulation Mediaplan-Daten

I

Anzahl der geschalteten Spots

Simulation der Kontaktverteiiung

Berechnung der wahrgenommenen Werbekontakte (Neukontakte)

Berechnung des individuellen kumulierten Werbekontaktniveaus

Zuordnung zu Kontaktklassen (KK)

KKo,

KK7t

Legende * Vergessen

WEt

" * Lernen Erstkaufer

Siehe dazu die Ausfuhrungen in Kapitel 3.1.3.

fallen aus der Awareness-Simulation

165 Auf Basis der geplanten wochentlichen Werbeausgaben, des durchschnittlich angesetzten Schaltpreises fur den Werbespot sowie der Spot-Reichweite werden in einem ersten Schritt die wochentliche Anzahl der Schaltungen berechnet. Diese stellen die maximal mogliche Anzahl der individuellen Werbekontakte der Woche dar. Auf Basis der Reichweite je Spot wird mittels der Monte Carlo-Methode die Kontaktverteilung im Planungszeitraum simuliert. Auf der Grundlage der individuell erhaltenen TV-Werbekontakte^^^ werden unter Beriicksichtigung der qualitativen Werbemittelbewertung (Bewertung als neuen oder wichtigen Reiz) die effektiven Werbekontakte (Neukontakte) ermittelt, d.h. der Anteil der unbewusst verarbeiteten Werbekontakte. Es handelt sich hierbei um eine noch nicht im Rahmen von Erinnerungstests nachweisbare Gedachtnisreprasentation, die streng genommen zwei Unsicherheiten hinsichtlich der Werberezeption beinhaltet. Zum einen die Moglichkeit, dass auf Grund von Nebenbeschaftigungen wahrend des Werbemittelkontaktes (z.B. Unterhaltung, Verlassen des Raumes etc.) der Werbung keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde, zum anderen eine zu geringe Aufmerksamkeit und damit kognitive Auseinandersetzung, die auch nicht in eine bewusste Wahmehmung der Werbung fuhrt. Der effektive Neukontaktwert einer jeden Periode wird im sog. individuellen Netto-Werbekontaktniveau kumuliert und bereinigt um Vergessenseffekte wahrend kontaktfreier Phasen fortgeschrieben. Das Nettokontakt-Niveau entspricht dem Grad an (Un-) Aufmerksamkeit und Wahmehmung gegeniiber der TV-Werbung des neuen Produktangebotes und ist der quantifizierte Gegenwert der bisher gebildeten Gedachtnisreprasentation. Das kumulierte individuelle Kontaktniveau bildet wiederum die Grundlage fur die Zuordnung der Individuen in die einzelnen Kontaktklassen, wobei im Modell zwischen 8 Kontaktzustanden unterschieden wird. Ein tatsachlich stattgefundener Werbekontakt fiihrt nicht in jedem Fall zu „Werbeerinnerung", da die Reizintensitat nicht ausreichend ist, um entsprechende Lemprozesse in Gang zu setzen. Unterstellt wird, dass mit zunehmender Nettokontaktanzahl (ausgedriickt durch die einzelnen Kontaktklassen KK), die Wahrscheinlichkeit, zum Werbeerinnerer zu werden, steigt. Gleichzeitig sinkt mit steigender Kontaktdosis die Wahrscheinlichkeit, vorhandene Gedachtnisstrukturen hinsichtlich der Werbeerinnerung zu vergessen. Ebenso wie die Kontaktverteilung wird auch die probabilistische Beziehung zwischen Kontaktmenge und Werbeerinnerung im Simulations-Modell durch die Monte-Carlo-Methode umgesetzt. Mittels Zufallszahlen werden aus jeder Kontaktklasse mit der in der Awareness-Funktion errechneten Wahrscheinlichkeit (Kontaktmengengewichtung) der entsprechende Anteil an Individuen ausgewahlt, der in Werbeerinnerer transformiert wird. In Abhangigkeit von der kumulierten Kontaktdosis

Diese Grofie ist vergleichbar mit den sog. Opportunities to see (OTS).

166 bleiben diese Werbeerinnerer bis sie entweder durch Vergessensprozesse oder durch den Erstkauf diesen Status als Werbeerinnerer wieder verlieren. Wahrend die Vergesser wieder in ihre letzte Kontaktklasse eingespeist werden, fallen die Erstkaufer aus der AwarenessSimulation heraus. Insgesamt werden im Awareness-Modell folgende Basiskomponenten beriicksichtigt: -

Wiederholungskontakte (Reizintensitat)^^^

-

Phanomen des Vergessens bei Werbeerinnerern als auch bei Personen mit einem bestimmten Awareness-Niveau unterhalb der Werbeerinnerung,

-

kontaktgruppenspezifische Werbewirkungsreaktionen, die den Effekt der verminderten Werbewirkung mit zunehmender Kontaktmenge einschliefien sowie die

-

absolute Hohe der Werbeerinnerer im Zeitverlauf

Der Einfluss der Werbewiederholung als Wirkungskriterium wurde bereits ausfuhrlich in Kapitel 4.3.1.2 dargelegt. Vgl. dazu auch Kroeber-Riel, W./ Esch, F.R. (2000): Strategic und Technik der Werbimg - Verhaltenswissenschaftliche Ansatze, 5., vollig neu bearb. und erw. Aufl., Stuttgart, S. 150 ff; Bruhn, M./ JanBen, V. (1998): Zur informationsokonomischen Erklarung der Werbewirkung: ein dynamisches Modell der Wiederholungswirkung von Werbeimpulsen, in: Marketing, 20. Jg., Heft 3, S. 167-179.

167

Das Modell erfordert nur solche Daten als Input, deren Vorhandensein im Rahmen der Mediaplanung vorausgesetzt werden kann. Abbildung 32 vermittelt in einem Uberblick die erforderlichen EingangsgroBen sowie den generierten Output der Simulation.

Abbildung 32: Uberblick iiber das Simulationsmodell INPUT

OUTPUT

Lernrate (DV)

1

Kontaktverteilung

Vergessensrate J Reichweite je Spot

J

individuelle Nettokontakte (iiit)

Simulationsmodell U

durchschnittliche Schaltkosten pro Spot (PreisProSpot)

J ~\

kumulierte Anteile in den einzelnen Kontaktklassen N,=={0,...,7}

wochentliche Werbeausgaben

J

Werbeerinnerer (WE)

6.2.2

Darstellung der Modellannahmen

Der Simulation liegt ein wochentlicher Prognosehorizont zugrunde, um eine gewisse Kompatibilitat des Awareness-Modells mit den meist wochentlich geplanten Promotionsaktivitaten zu ermoglichen.^^^ Folgende Annahmen, die aus den theoretischen und empirischen Erkenntnissen abgeleitet sind, werden der Modellstruktur zugrunde gelegt: -

Die Wahrscheinlichkeit, Werbeerinnerung zu erzeugen steigt mit der Haufigkeit der Werbekontakte in der Vergangenheit, wobei der letzte Werbemittelkontakt den starksten Effekt ausiibt.

Promotionsaktivitaten stellen neben der Werbung ein wichtiges Element des Marketingplanes zur Schaffung von Markenbekanntheit fur neue Produkte dar und sind ebenfalls in einem Gesamtkonstrukt Markenbekanntheit zu beriicksichtigen. Gerade fur FMCGs ist eine wochentliche Periodizitat zugrunde zu legen, da mit dem Monatsdurchschnittspreis zentrale Effekte nicht berucksichtigt werden konnen.

168 Die (un-)bewusste Wahmehmung der Werbebotschaft (Neukontakt) ist abhangig von der Kontaktmenge und der Werbequalitat. Entsprechend des kumulierten Werbekontaktniveaus, welches sich aus der Fortschreibung der effektiven Werbewahmehmung und unter Einbeziehung von Vergessenseffekten ergibt, werden die Individuen der Zielgruppe in jeweils eine der 8 Kontaktklassen (im Folgenden kurz: KK0...KK7) eingruppiert.^^"^ Der Gedachtniseffekt der Werbnng wird zudem von der zeitlichen Kontaktverteilung im Zeitverlauf beeinflusst, d.h. fiinf Kontakte in den ersten ftinf Perioden ergeben in der Periode 12 ein geringeres Werbekontaktniveau als fiinf Kontakte verteilt auf die zwei letzten aktuellen Perioden. Alle Personen innerhalb einer Kontaktklasse werden bei der Ermittlung der Werbeerinnerer als identisch angesehen, unabhangig von ihrer vergangenen Kontakthistorie. Der Einfluss der vergangenen Werbekontakte und deren Verteilung iiber die Zeit findet ihre Entsprechung im sog. Werbekontaktniveau, sodass dieser auch Ausdruck der dynamischen Kontaktwirkungen ist, d.h. die zeitliche Kontaktverteilung sowie die damit verbundenen individuellen Vergessensprozesse werden in dieser GroBe bereits mit einbezogen. Solange eine Person den Zustand der Awareness noch nicht erreicht hat, werden samtliche Berechnungen mittels des ungerundeten, kumulierten Kontaktniveauwertes durchgefuhrt. Wird ein Zuschauer zu einem bestimmten Zeitpunkt auf Grund seiner vergangenen Kontakte zum Werbeerinnerer, unterliegt auch dieser Zustand dem Vergessen. Angenommen wird, dass mit dem Ansteigen der Werbekontakte die Wahrscheinlichkeit, vorhandene Gedachtnisreprasentationen zu vergessen, sinkt (analog erhoht sich mit steigender Kontaktklasse auch die Wahrscheinlichkeit, Werbeerinnerer zu werden). Bei Ausbleiben weiterer Kontakte fallt der Werbeerinnerer nach einer berechneten Zeitspanne wieder in seine alte KK zuriick.

Die folgenden Ausfiihrungen dienen der Dokumentation des Awareness-Simulationsprogramms in der Programmiersprache C, welches als Listing dem Anhang 8.5 beigefiigt ist.

Auf Grund der Ausfiihrungen in Kapitel 4.3.1 wurde die Anzahl der beriicksichtigten Kontaktklassen von den urspriinglich drei (im GfK-Awareness-Modell) auf insgesamt acht erhoht Innerhalb der Simulation ist es jedoch ohne weiteres moglich, eine Anpassung der Anzahl vorhandener Kontaktklassen vorzunehmen.

169 6.2.3 6.2.3.1

Datenbasis und Eingangsparameter Konsumentenpopulation

Die Basis der Simulation bildet eine Zellstruktur, die das zugrunde liegende Sample (Zielgruppe) reprasentativ abbildet. In der Voreinstellung des Simulationsprogramms auf ist dieses auf 100 Personen festgelegt, welche mit jeweils gleichem Gewicht in die Berechnungen eingehen. In zukiinftigen Versionen ware eine Erweiterung der Simulation dahingehend denkbar, die Individuen gemaB bestimmter Personlichkeitsmerkmale (z.B. Femsehgewohnheiten, Interesse an der Produktkategorie, Konsumintensitat) mit Attributen (z.B. Innovatoren vs. Imitatoren) zu versehen. Mit der dadurch geschaffenen Moglichkeit der Segmentbildung konnen die hinsichtlich einer Eigenschaft homogenen Gruppen jeweils mit unterschiedlicher Gewichtung gemaB der Einflussstarke des Merkmals auf die Erinnerungsleistung sowie auch auf das Kaufv^erhalten in die Simulation eingehen. So gelten gerade die auf Innovatoren zielenden Werbestrategien in der Einfiihrungs- und Wachstumsphase als besonders Erfolg versprechend, sodass eine derartige Attribution auch eine Veranderung in der Wahrscheinlichkeit, Werbeerinnerer zu werden, nach sich ziehen wiirde.^^^

6.2.3.2

Werbebudget und Reichweite

Das Modell setzt voraus, dass die geplanten wochentlichen Werbeausgaben vorliegen, aus welchen dann mithilfe des durchschnittlich angesetzten Spotpreises die gesendete Anzahl an Spots pro Woche berechnet wird: Anzahl der Schaltungen =

— Spotpreis

(33)

Die Anzahl der gesendeten Spots stellt das gerundete Ergebnis der Division von wochentlichen Werbeausgaben und dem durchschnittlichen Preis je Spot^^^ dar.^^^

Vgl. Schtirmann, U. (1992): Erfolgsfaktoren der Werbimg im Produktlebenszyklus - Ein Beitrag zur Werbewirkungsforschung, Frankf. /Main u.a., S. 125-127. Vor dem Hintergrund, dass in Abhangigkeit von der spezifischen Preis- und Rabattgestaltung der einzelnen Sendeanstalten und sowie der belegten Sendezeitsegmente starke Preisdifferenzen zwischen den einzelnen Spotpreisen auftreten konnen, erfolgt die Festlegung auf einen durchschnittlichen Spotpreis aus Grtinden der Vereinfachung und mangels empirischen Datenmaterials. Die Eingabemaske fur die erforderlichen Parameter und Daten ist dem Anhang 8.4.1 beigefugt.

170 Im Rahmen der Simulation der individuellen Werbemittelkontakte wird vereinfachend angenommen, dass jede Person die gleiche durchschnittliche Kontaktwahrscheinlichkeit aufweist. Das Sehverhalten verteilt sich dabei entsprechend der Reichweite gleichmaBig, d.h. rein zufallig iiber den Planungszeitraiim (Hypothese der Gleichverteilung des Femsehverhaltens). Die Reichweite geht als Schatzparameter in die Simulation ein, wobei auf Referenzwerte Bezug genommen wird. Die Unsicherheit beziiglich der Aufnahme des Werbemittels wird im Simulationsmodell mit der Berechnung der Kontaktverteilung sowie durch deren Umrechnung in sog. Neukontakte erfasst.

6.2.3.3

Lern- und Vergessensrate

Der Aufbau an Gedachtnisreprasentationen, die das Wahmehmungsniveau des neuen Produktes ausdrlickt, wird vor allem von zwei Komponenten maBgeblich beeinflusst: -

die Reizintensitat, d.h. die Anzahl der erhaltenen Werbemittelkontakte und

-

die qualitative Beurteilung der Werbung, d.h. die emotional verarbeitete Werbequalitat.

Wahrend die Anzahl der erhaltenen Kontakte relativ einfach simuliert werden kann, ist eine Quantifizierung der Werbequalitat immer mit Problemen verbunden, da schwer erfassbare psychologische Wahmehmungs- und Bewusstseinskategorien angesprochen werden. Der Einfluss der Werbequalitat auf die Wahmehmung des Werbemittels wird im Modell durch das sog. Durchsetzungsvermogen (DV)^^^ dargestellt. In seiner Eigenschaft als Indikator fur die Erinnerungsfahigkeit eines einmaligen Werbekontaktes umfasst es den Einfluss der Werbequalitat auf die Werbeerinnerung, d.h. eine hohe Werbequalitat im Sinne einer kreativen und die Sozialtechniken (z.B. emotionale Konditionierung, Einsatz von Key-Visuals) ausschopfenden Spotgestaltung erhoht das Durchsetzungsvermogen. Ein hoher Wert hat zur Folge, dass fur das Erreichen eines bestimmten Wahmehmungsniveaus weniger Kontakte notwendig sind, als wenn das Werbemittel ein niedriges Durchsetzungsvermogen aufweist. Neben der qualitativen Umsetzung der Werbebotschaft wird das Durchsetzungsvermogen auch durch innere Vorgange, d.h. durch die emotionale Beurteilung des Zuschauers, beein-

Die Quantifizierung der Werbequalitat anhand des Durchsetzungsvemi5gens erfolgt in Anlehnung an das Werbemittel-Pretestverfahren AD*VANTAGE (GfK) bzw. daraus abgeleitet auch an das GfK-AwarenessModell. Eine ausfuhrliche Darstellung der Sozialtechniken in der Werbung findet sich bei Kroeber-Riel, W./ Esch, F.R. (2000): Strategic und Technik der Werbung - Verhaltenswissenschaftliche Ansatze, 5., vollig neu bearb. und erw. Aufl., Stuttgart, S. 16Iff.

171 flusst. Die Erfassimg dieses Teilaspekts durch einen extern vorzugebenden Schatzparameter des Modellanwenders ist nahezu unmoglich. Der unterstellte Wirkungszusammenhang zwischen der qualitativen Verarbeitung des Werbemittels und dem spontanen Kaufakt bildet jedoch einen moglichen Ansatzpunkt fur die Erhebung der Werbequalitat in TESI durch gesttitzte Erinnerungsabfrage nach der Kaufsimulation. Momentan findet die Werbequalitat in TESI lediglich indirekt durch die Hohe der vollzogenen Kaufakte fur das beworbene Produkt ihre Entsprechung. Existieren DV-Daten aus dem Werbemittel-Pretest-System AD*VANTAGE, wurden diese bisher unnormiert in das GfK-Awareness-Modell fur TESI ubemommen.^^^ Eine Normierung ist jedoch insofem notwendig, als es sich bei dem in AD* VANTAGE erhobenen DV um den ungestiitzten Recall des Markennamens handelt, wahrend im Rahmen der Testmarktsimulation TESI der gesttitzte Recall des Markennamens ausschlaggebend ist.^"^^ Abgesehen von diesem methodischen Problem wurde von Herstellerseite in der Mehrzahl der Falle kein AD*VANTAGE-Pretest im Vorfeld einer Testmarktsimulation durchgefuhrt.^"^^ Die Schatzung des DV-Wertes ist somit auf Basis subjektiver Erfahrungswerte oder Referenz-Spots vorzunehmen. EinstellungsmaBe, wie z.B. die ebenfalls in AD*VANTAGE erhobene motivationale Schubkraft als Ausdmck der kaufmotivierenden Wirkung des Spots^"^^, sind auf Grund der bei FMCGs zu unterstellenden Low-Involvement-Wirkungshierarchie fiir die Awarenessprognose nicht relevant und werden dementsprechend auch nicht beriicksichtigt. Sie wird allerdings innerhalb des gesamten Simulationsverfahrens von TESI implizit iiber die Werbe- und Kaufsimulation beriicksichtigt. ^^^ Diese Wirkungstheorie lost sich von der klassischen Vorstellung, dass das KaufVerhalten notwendigerweise durch die Einstellung zum Produkt bestimmt wird. Sie geht vielmehr davon aus, dass bei sehr ahnlichen Produktaltemativen und LowInvolvement-Bedingungen die Werbeerinnerung oder Markenbekanntheit kaufauslosend ist.

Besprechung zur Weiterentwicklung des Testmarktinstruments "TESI-Volume" in Anwesenheit von Vertretem des Lehrstuhls fur Marketing Magdeburg und TESI-Verantwortlichen der GfK am 28.03.01. Die Relevanz des gestiitzten Recall des Markennamens ftir die Testmarktsimulation wurde in Kapitel 3.1.1 ausftihrlich erlautert. Eventuelle Daten aus konkurrierenden Werbemittel-Pretests sind aus Griinden der Geheimhaltung nicht zuganglich und ohnehin auf Grund der Unkenntnis iiber deren Zustandekommen nicht mit dem GfKAwareness-Modell kompatibel. Insofem war es im Rahmen dieser Modellentwicklung auch nicht moglich, eine derartige Kompatibilitat i.S.einer Umrechnung der Form „DV Testspot in TESI = X x DV in AD*VANTAGE" herzustellen. Vgl. Merz, J./ Schmies, C.I Wildner, R. (1993): Bestimmung des Einflusses der Werbequalitat auf den Marktanteil, in: GfK (Hrsg.) (1993): Jahrbuch der Absatz- und Verbrauchsforschug, 39. Jg., S. 187 f Eine Quantifizierung dieser Variable ist iiber ein Testsplitting in TESI durchaus moglich. Vergleiche dazu die Ausfiihrungen in Kapitel 6.4.

172 Erst im Zuge des Produktgebrauchs und damit nach dem Probierkauf bildet der Konsument eine Einstellung auf der Grundlage der unmittelbar gemachten Erfahrungen mit dem Produkt.'^' Die Variable Vergessensrate wird fiir die Berechnung von Vergessensprozessen benotigt, wobei drei Vergessensparameter zu unterscheiden sind: -

Vergessen(WKN): Dieser Parameter legt die Hohe des neuronalen Abbaus an aufgebauter (unbewusster) Wahmehmung der Marke und damit die Vermindenmg des kumulierten Werbekontaktniveaus (im Folgenden: WKN) bei ausbleibenden Werbekontakten fest. Erfahrungen mit der Simulation lieBen einen Wert von 0,60 als zweckmaBig erscheinen.

-

Vergessen(WE): Diese Rate setzt ausschlieBlich am Pool der Werbeerinnerer (WE) an. Je nach der Anzahl der Wochen ohne emeute Werbekontakte fallen Werbeerinnerer mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit in ihre alte Kontaktklasse zuriick. Diese Vergessensrate wird aus der Analyse hinsichtlich der Einfuhrungsbedingungen (z.B. Produktkategorie, Werbestreuung) ahnlicher zu erwartender Bekanntheitsverlaufe friiherer Neuprodukteinfiihrungen geschatzt.

-

Vergessen(KKo): Dieser Parameter stellt die Vergessensrate in der Kontaktklasse 0 (KKo) dar und betrifft Individuen, die zwar bereits Werbekontakte erhalten haben, deren individuelles Werbekontaktniveau allerdings den Wert von 0,5 nicht iiberschreitet. In der Voreinstellung wird dieser Parameter auf den Wert 0,75 gesetzt, d.h. Individuen in der Kontaktklasse 0 verlieren 75 Prozent ihres Werbekontaktniveaus, wenn sie keine Werbemittelkontakte in der Folgeperiode erhalten.

Die Bestimmung der Parameter richtet sich nach Referenzwerten von Neuprodukteinfuhrungen mit vergleichbaren Werbebedingungen. Handelt es sich bei dem neuen Produkt beispielsweise um eine Brand Extension, so ist bei entsprechender Werbemittelgestaltung (z.B. Einsatz von Markensymbolen) von einer hoheren Lem- und niedrigeren Vergessensraten I.

545

auszugehen.

Die unterschiedlichen Werbewirkungstheorien und ihre Bedingungen wurden in Kapitel 4.1.2 ausfiihrlich dargestellt. Das Ziel von Brand Extensions ist die Ausnutzung von Markentransfereffekten, wodurch es u.a. zu einer hoheren Werbeeffizienz kommen kann. Vgl. Aaker, D.A./ Keller, K.L. (1990): Consumer Evaluations of Brand Extensions, in: Journal of Marketing, 54. Jg., Nr. 1, S. 27-41; Tauber, E.M. (1988): Brand Leverage: Strategy for Growth in a Cost-Control World, in: Journal of Advertising Research, 28. Jg., Nr. 4, S. 26-30.

173^ 6.2.4

Simulation der Werbemittelkontakte

6.2.4.1

Berechnung der Kontaktverteilung

Das Hauptproblem im Rahmen der Simulation der Werbemittelkontakte besteht in der unbekannten Relation zwischen den (TV-)Werbeschaltungen eines Media-Plans und den sich auf individueller Ebene ergebenden tatsachlichen Werbekontakten. Die Werbeausgaben bzw. die Anzahl der gesendeten Spots sind per se keine geeigneten unabhangigen Variablen ftir die Untersuchung von Wiederholungseffekten, da nicht eindeutig ist, inwieweit diese die Reichweite und/oder die Kontakthaufigkeit beeinflussen. Die Kontakthaufigkeitsverteilung innerhalb einer Planperiode kann lediglich auf Basis der geplanten Werbeausgaben und der erwarteten Reichweite des Spots geschatzt werden. Insofem ist es zunachst notwendig, die Daten fiir die Werbeausgaben in Werbeschaltungen umzurechnen und in Verbindung mit der Reichweite je Werbespot in individuelle Werbekontakte zu transformieren. Dies geschieht im Simulationsmodell mit Hilfe der Monte Carlo-Methode. Bei der Monte Carlo-Methode werden Wahrscheinlichkeitsverteilungen durch sog. (Pseudo-) Zufallszahlen erzeugt. Entsprechend werden in der Awareness-Simulation die unter einer gegebenen Kontaktwahrscheinlichkeit (Reichweite) zu erwartenden individuellen Werbekontakte durch Zufallszahlen simuliert. Im Kern geht es um die Umwandlung einer gegebenen Reichweite in ein Kontaktmuster. Mittels Zufallszahlengenerator^"^^ werden PseudoZufallszahlen z generiert und den einzelnen Individuen jeweils eine Zufallszahl n zugeteilt.^"^^ Liegt beispielsweise die Reichweite eines Werbemittels bei 10 Prozent, so erhalten nur diejenigen Personen mit einer Zufallszahl zwischen 00 und 09 in der Planperiode einen Werbemittelkontakt. Das Prozedere wird gemaB der berechneten Anzahl der gesendeten Spots in der Planwoche wiederholt. Die hochstmogliche Kontaktanzahl des einzelnen Individuums ist somit gleich der Anzahl der insgesamt gesendeten Spots in der Periode. Die (rechteckverteilten) Zufallszahlen z werden in diejenigen Zahlen x iiberfiihrt, deren Folge der gewunschten statistischen Verteilung, d.h. in diesem Falle der Binomialverteilung, entspricht.^"^^ Ist x < Reichweite, erhalt die Person einen Werbemittelkontakt.

Die durch den Zufallsgenerator der Programmiersprache C erzeugten Zufallszahlen geniigen laut Herstellemachweis (MS Microsoft) den im Anhangkapitel 8.3.2 aufgefuhrten Beurteilungskriterien. Die mit dem programmintemen Zufallsgenerator erzeugten Zufallszahlen geben eine Ganzzahl vom Typ Integervariablen an zwischen 0 und tiblicherweise 32767. Fur die Transformation der Pseudo-Zufallszahlen in den gewunschten Wertebereich bedient man sich des Modulus-Operators, d.h. der Ausdruck 23415 mod 10 erzeugt beispielsweise eine Zahl zwischen 0 und 9. Als Startwert fiir die Berechnung, d.h. fiir die Initialisierung, wurde die Tageszeit der intemen Computeruhr gesetzt. Siehe bezuglich der Transformation der rechteckverteilten Zufallszahlen auch die Ausfiihrungen bei Mertens, P. (1982): Simulation, 2. neu bearb. Aufl., Stuttgart, S. 14 ff

174 6.2.4.2

Berechnung der wahrgenommenen Werbekontakte

Die Transformation der Werbemittelkontakte in effektive, i.S.v. tatsachlich wahrgenommenen Werbekontakten, ist insofem von Bedeutung, als dieser Prozess den Aufbau mentaler Reprasentationen beschreibt. Es ist an dieser Stelle zu betonen, dass es hier nicht um die Unterscheidung zwischen Werbetragerkontakt und Werbemittelkontakt geht, da bereits der Werbemittelkontakt als gegeben betrachtet wird. Der Werbetragerkontakt beschreibt zunachst lediglich den Umstand, dass der Zuschauer das jeweilige Femsehprogramm mit dem geschaltenen Werbemittel gesehen hat. Unberiicksichtigt bleibt bei diesem MaB allerdings, inwieweit ein Werbekontakt (Werbemittelkontakt) umgangen wurde (z.B. durch Zapping, Verlassen des Raumes etc.). Die effektive Kontaktdosis einer Periode wird in diesem Zusammenhang als die von den Sinnesorganen der Empfanger aufgenommene Werbung definiert. Dabei ist es unerheblich, ob die Reizverarbeitung bewusst oder unbewusst zustande kommt.^"^^ Wie bereits erwahnt, wird die Wahmehmung einer Werbebotschaft neben der Hohe der Kontaktdosis (Reizintensitat) auch in erheblichem MaBe von der gestalterischen Umsetzung des Spots (Werbequalitat) beeinflusst. Beide Komponenten fiihren zu einer bestimmten Anzahl an effektiven Werbekontakten der Periode (Neukontakte). Dabei gilt die Beziehung zwischen emotionaler Verarbeitimg der Werbequalitat und der Kontakthaufigkeit als komplementar, d.h. bei entsprechend gestalterischer Umsetzung der Werbebotschaft sind weniger Kontakte zum Erreichen eines bestimmten Wahmehmungsniveaus notwendig und vice versa. Die simulierten Werbemittelkontakte einer Person stellen die maximal wahmehmbaren Kontakte in der Periode dar, welche zunachst auf Grund geringen Verarbeitungstiefe der Low Involvement-Situation in die effektiv wahrgenommenen Neukontakte (neuKontakt) transformiert werden. An dieser Stelle im Awarenessprozess wird die Starke beschrieben, mit welcher die beteiligten Neuronen gereizt werden, was im theoretischen Grundmodell dem Ubergang von der subcorticalen Ebene zur cortical-hippocampalen Verarbeitung entsprache.

Vgl. hierzu auch Kroeber-Riel, W./ Weinberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, 8. Aufl., Munchen, S. 615,621.

175

Die Berechnung der effektiven Werbemittelkontakte (Neukontakte) aus der simulierten Kontaktverteilung erfolgt in der Awareness-Simulation nach folgender Formel:

NK, = WMKf''

(34)

mit WMKt = Werbemittelkontakte in Periode t DV

= Durchsetzungsvermogen (0 < DV < 1)

NKt

= Neukontakte

Die Kontakthaufigkeit wird in der Variable Werbemittelkontakte berticksichtigt, wahrend die Werbequalitat, z.B. die Starke des Werbeeindrucks (Impact), durch den Exponenten DV Eingang in die Neukontaktbewertung fmdet. Durch die Formelstruktur wird eine Kontaktmengengewichtung deutlich, d.h. mit zunehmender Kontakthaufigkeit nimmt die Wirksamkeit einer Werbebotschaft bei einer Person unterproportional zu. Die degressiv steigende Kontaktmengen-Bewertung veranschaulicht Abbildung 33.

176

Abbildung 33: Transformation der Werbemittelkontakte in effektive Neukontakte Neukortakte 4.5.

W/^rbemJttelkontakte

Bei der Berechnung der Kontaktwirkungen wird das komplementare Verhaltnis zwischen Kontakthaufigkeit und Werbequalitat (DV) und dessen Wirkung auf den Aufbau von Werbeerinnenmg beriicksichtigt, indem ein hoheres DV eine vergleichsweise hohere Bewertung der in dieser Periode erhaltenen Kontakte (Neukontakt) bewirkt als im Falle eines niedrigeren DV (bei gleicher Anzahl an Werbemittelkontakten). Die Gleichung erfiillt damit den Anspruch, dass weniger aktivierende Werbung im Vergleich zu stark aktivierender Werbimg haufiger geschaltet werden muss, um ein gewisses Wahmehmungsniveau zu erreichen.^^^ Die Wirkung einer Kontaktwiederholung auf die Wahmehmung insgesamt hangt neben der absoluten Haufigkeit auch von der Kontaktverteilung im Zeitablauf ab. Zusatzlich zu der Wertung der Kontakthaufigkeiten innerhalb einer Periode ist deshalb zu beriicksichtigen, dass die einzelnen „Neukontakte" hinsichtlich ihrer Zeitdimension nicht gleichwertig sind. Ein aktueller Neukontakt geht mit mehr Gewicht in ein derartiges Gesamt-Werbekontaktniveau ein als ein langer zuriickliegender Neukontakt. Aus diesem Grund werden die berechneten

Vgl. dazu auch die Ausfuhrungen bei Kroeber-Riel, W./ Esch, F.R. (2000): Strategie und Technik der Werbung - Verhaltenswissenschaftliche Ansatze, 5., vollig neu bearb. und erw. Aufl., Stuttgart, S. 176.

177 Neukontakte unter Beriicksichtigung von Vergessensprozessen in Perioden ohne Kontakte uber den gesamten Prognosezeitraum im sog. „kumulierten Werbekontaktniveau" (im Grundmodell: bewusste Wahmehmung) fortgeschrieben. Dieses stellt das wertmaBige Pendant iiber den aktuellen Bewusstseinsgrad des Zuschauers hinsichtlich der Werbeerinnerung dar (implizites Wissen^^^ durch kognitive Vorgange). Dieser Wahmehmungszustand kann in der Folge in eine durch (gestiitzte) Werbeerinnemngstests empirisch nachweisbare Werbeerinnerung miinden. Der mentale Zustand des Werbekontaktniveaus als Ergebnis eines Lemvorganges beinhaltet: -

die seit dem letzten Kontakt vergangene Zeit (V fiir Vergessensprozesse^^^) und

-

das aktuelle Werbekontaktniveau.

Die Berechnung des Werbekontaktniveaus (K) erfolgt auf Basis der folgenden Formel:

Kt=KM + NK,-Vt

(35)

Die Schatzung der Wirkung der Werbekontakte wird damit nicht nur allein auf Grund der Kontaktfrequenz vorgenommen, sondem auch beziiglich des Effekts der Zeitdimension. Wahrend mit der Simulation der Kontaktverteilung die Kontaktchancen simuliert werden, driickt das Werbekontaktniveau den momentanen individuellen Wahmehmungszustand der beworbenen Marke aus, der sich aus den tatsachlich erhaltenen und auf bestimmte Weise wahrgenommenen Kontakten im Zeitablauf ergibt. Das zentrale Kriterium der Wahrnehmungswirkung ist nur eine, wenn auch notwendige Voraussetzung ftir die Werbeerinnerung. Sie ist jedoch nicht als dafiir hinreichend anzusehen, denn ein bestimmtes Wahrnehmungsniveau schafft nicht zwangslaufig eine iiberpnifbare Werbeerinnerung. Dazwischen liegen psychologische und sozial bedingte Faktoren, welche die Ausbildung dauerhafter Gedachtnisreprasentationen verhindem.

Derartige Gedachtnisreprasentationen iiber die Werbeerinnerung liegen zwar vor, sind jedoch noch nicht iiber ungestiitzte Erinnerungstests abrufbar. Vgl. Kapitel 5.1.2. Die Variable Vergessen wird im folgenden Kapitel 6.2.4.3 behandelt.

178

6.2.4.3

Vergessensfunktion zwischen den Kontaktklassen

Der Prozess des Vergessens zwischen den einzelnen Kontaktklassen ist abhangig von: -

der seit dem letzten Werbekontakt verstrichenen Zeit,

-

dem aktuellen Werbekontaktniveau.

Der Vergessensterm in Gleichung (36) setzt sich aus dem Produkt des (ungerundeten) Werbekontaktniveaus der Vorperiode und der Vergessensrate (VR) zusammen:

Vt = Kt-rVRt

(36)

VRt = s-ve-'^^'-^^

(37)

mit VR = Anteil, um den sich mit ausbleibenden Werbekontakten das Werbekontaktniveau abbaut (Vergessen) s

= Lange der Periode zwischen aktuellem Neukontakt nnd Zeitpunkt des letzten Neukontaktes (in Wochen)

V

= Vergessenskonstante (v = 0,6)

Fasst man die einzelnen Formeln zu einer Gesamtgleichung zusammen, ergibt sich for die Berechnung des Werbekontaktniveaus folgende Formelstmktur:

K^=NK^^K^_^

\-s-v-e

' '

(38)

179

Die Berechnung der Vergessensrate basiert auf einer negativ beschleunigten Exponentialfunktion, welche sich experimentell in vielen Fallen bestatigt hat.^^^ Zugrunde liegt die Gleichung ftir radioaktiven Zerfall, bei welcher die Hohe des Verlustes sich proportional gegeniiber dem verbleibenden Rest verhalt. Abbildung 34 stellt den Vergessensverlauf in Abhangigkeit von der Zeit sowie dem Werbekontaktniveau graphisch dar.^^'*

Abbildung 34: Vergessensverlauf in Abhangigkeit von der Zeit und dem Werbekontakt-

10

11

12

13

-Vergessen (Kontaktniveau = 1)

—•—Vergessen (Kontaktniveau = 3)

-Vergessen (Kontaktniveau = 5)

-•—Vergessen (Kontaktniveau = 2)

14

15

16

Vgl. Rubin, D.C./ Wenzel, A.E. (1996): One hundred years of forgetting: A quantitative description of retention, in: Psychological Review, 103. Jg., Nr. 4, S. 737, 749. Die Vergessensrate in der Gruppe KKQ wurde auf den Wert von VR=0,75 voreingestellt, um ein zu niedriges Vergessen auszuschliefien.

180 6.2.5

Prognose der Werbeerinnerer

6.2.5.1

Bestimmung der Awareness-Funktion

Die Wahrscheinlichkeit, Werbeerinnerer zu werden, ist eine Funktion der zugehorigen Kontaktklasse, wobei nur diejenigen Personen beriicksichtigt werden, die in der aktuellen Periode einen Werbekontakt erhalten haben.^^^ Die Beziehung zwischen Kontaktklasse und Erinnerungswahrscheinlichkeit wird durch die Awareness-Funktion ausgedriickt. Generell gilt, dass mit steigender Kontaktklasse sich die Wahrscheinlichkeit eines Individuums erhoht, Werbeerinnerer zu werden.^^^ Dabei konnen jedoch unterschiedliche Verlaufsformen der Awareness-Funktion zugrunde gelegt werden. Neben dem linearen Verlauf, der bislang empirisch nicht validiert werden konnte, kann die Wirkungskurve entweder degressiv steigend oder s-formig verlaufen.^^^ Wahrend eine degressive Verlaufsform oftmals bei etablierten Produkten empirisch nachgewiesen werden konnte, dominierte in Untersuchungen bei neuen Produkten meist ein s-formiger Kurvenverlauf.^^^ Letztere Verlaufsform wird auch bei der Bestimmung der Awareness-Funktion im hier vorgestellten Modell zugrunde gelegt und durch eine Gompertz-Funktion^^^ spezifiziert: h-c-KK

p{KK)=A'e~^

(39)

mit p(KK) =

Wahrscheinlichkeit, mit der eine Person aus der KK Werbeerinnerer wird

A

Asymptote^^^ bzw. Sattigungsniveau

=

Personen, die in der aktuellen Periode keine Werbung empfangen haben, konnen somit auch nicht Werbeerinnerer werden. Die Moglichkeit, uber einen Produktkontakt im Supermarkt Markenbekanntheit zu erlangen (Markenbekanntheit durch Distribution), wird in diesem Modell (Markenbekanntheit durch TVWerbung) nicht erfasst. Hierflir werden die Individuen gemafi der Hohe ihres Werbekontaktwertes in die einzelnen Kontaktklassen eingeordnet. Die Zuordnung erfolgt durch Aufrunden bzw. Abrunden des Werbekontaktwerts jeweils am Ende der Berechnungsperiode. Vgl.dazuKapitel4.3.1.2. SieheKapiteU.S.l.l. Die in Gleichung (39) dargestellte Funktion wird allgemein zur Beschreibung von Wachstumsprozessen herangezogen. Die generelle Eignung der Gompertz-Funktion fur die Erklarung der Diffusionsdynamik von Produkten mit geringen Marktbarrieren konnte nachgewiesen werden. Vgl. Mertens, P./ Falk, J. (1994): Mittel- und langfristige Absatzprognose auf der Basis von Sattigungsmodellen, in: Mertens, P. (Hrsg.) (1994): Prognoserechung, 5., neu bearb. u. erw. Aufl., Heidelberg, S. 157-193. Theoretisch wird ein Endwert erst erreicht, wenn t gegen oo geht. Mit der Asymptote A wird verhindert, dass der Einfluss der Werbebotschaft unendlich groB wird.

18^ b, c

=

Parameter, welche den Anstieg und den Wendepunkt der Kurve charakteri-

Es wird angenommen, dass sich der kontaktklassenabhangige Anstieg in der Wahrscheinlichkeit, Werbeerinnerer zu werden, proportional zu dem kontaktklassenspezifischen Wahmehmungsniveau und der logarithmischen Differenz von absolutem Sattigungsniveau A und dem Wahrscheinlichkeitsniveau in der jeweiligen Kontaktklasse verhalt. Wie aus Abbildung 35 ersichtlich, ist die Gompertz-Funktion gekennzeichnet durch zunehmende Lemzuwachse bis zu einem bestimmten fixen Wendepunkt^^\ dessen Koordinaten sich aus der Nullstelle der zweiten Ableitung ergeben:

p{KK)w = A/e

(40)

KKw^bjc

(41)

Ab dem Wendepunkt weist die Funktion abnehmende Zuwachsraten auf, d.h. ab einer bestimmten Kontaktklasse wachst die Wahrscheinlichkeit Werbeerinnerer zu werden nur noch unterproportional. Dahinter steht die Uberlegung, dass wenn sich trotz haufiger Reizung der beteiligten Neuronen keine dauerhaften Veranderungen in der neuronalen Representation gebildet haben, sich der aufmerksamkeitsschaffende Effekt nicht durchsetzen kann. D.h. die emotionale Bewertung des Produktes als nicht relevant andert sich auch mit weiteren Werbekontakten kaum, sodass diese auch weniger erinnerungswiirdig bleibt. Wie aus den Abbildung 35 und 36 ersichtlich, lasst sich mittels der Parameter b und c das Niveau und die Form des Funktionsverlaufs festlegen. Durch das Verhaltnis b/c wird eine Wendepunktkoordinate festgelegt.^^^ D.h. mit steigendem (sinkendem) c verschiebt sich die Kurve nach links (rechts) mit der Folge hoherer (niedrigerer) ErinnerungsWahrscheinlichkeiten fiir die einzelnen KK. Damit entspricht das Verhalten des Parameters c dem des Eingangsparameter DV (MaB fur die Werbequalitat) und kann als kontaktklassenspezifische Lemrate aufgefasst werden. Ein niedriger Wert fiir c bedeutet eine geringere

Aus der Bestimmung des Wendepunkts ist ersichtlich, dass er immer in einem konstanten Verhaltnis zur Asymptote steht (bei ca. 36,8 Prozent des Endwerts). Im Gegensatz zur symmetrischen logistischen Funktion ist die Gompertz-Funktion asymmetrisch um den Wendepunkt. Dabei ist der Wert fiir den Parameter b immer grower zu wahlen als fiir den Parameter c. Andemfalls liegt kein s-formiger Verlauf, sondem eine negativ beschleunigte Exponentialfunktion vor. Sowohl die Asymptote A als auch der Parameter b wurden in dem Beispiel mit dem Wert 0,6 angesetzt.

182 Werbequalitat, sodass eine bestimmte Erinnerungswahrscheinlichkeit erst in hoheren Kontaktklassen erreicht wird. Der Parameter b ist als kontaktklassenspezifische Wirkimgsgrenze zu interpretieren, wobei mit steigendem Wert, die Wahrscheinlichkeiten in den einzelnen KK sinken und vice versa. Die Abbildung 36 zeigt die Sensitivitat der Awareness-Funktion im Hinblick auf den Parameter b, wobei eine Asymptote A von 0,6 sowie ein c = 0,4 unterstellt wurde.

Abbildung 35:

Awareness-Funktion (Variation des Parameters b)

p(KK9 0,7 n

(0 = 0,8)

0,6^

^ ^ _ ^ ^

(c = 0,4)

0,5-

0,4-

y ^

^ ^ ^ " ^

^

^

^

(c = o.2)

0,3

0,2-

0,1-

00

Abbildung 36:

1

2

3

4

5

6

7KK

Awareness-Funktion (Variation des Parameters c)

183 Die Emennung der neuen Werbeerinnerer basiert auf folgenden Annahmen: -

nur Personen mit einem aktuellen Werbekontakt haben die Chance, Werbeerinnerer zu werden. Insofem bestehen die jeweiligen Kontaktklassen auch nur aus diesen Personen, d.h. Personen ohne Werbekontakt in der aktuellen Periode gehen nicht in den Pool der jeweiligen KK ein. Dabei steigt die Wahrscheinlichkeit, Werbeerinnerer zu werden, mit zunehmender Kontaktklasse.

-

die Berechnung der Wahrscheinlichkeiten erfolgt mittels einer Gompertz-Funktion.

-

je Kontaktklasse wird den Individuen mit Werbekontakt in der aktuellen Periode eine Zufallszahl n zugeordnet. Mittels des Gompertz-Wertes der jeweiligen Kontaktklasse wird die Wahrscheinlichkeit festgelegt, mit der ein Individuum zum Werbeerinnerer wird, d.h. wenn n < Gompertz-Wert • 100 dann wird die Person zum Werbeerinnerer emannt.

6.2.5.2

Simulation des Vergessens fur Werbeerinnerer

Bleiben Wiederholungskontakte bei den Werbeerinnerem aus, bauen sich die mit der Marke verbundenen Wissensinhalte mit der Zeit ab, d.h. das Modell unterstellt die Spurenzerfallstheorie mit der Annahme des zeitabhangigen Vergessens.^^^ Auf Grund der Tatsache, dass es sich beim Vergessen von Werbeerinnerung im Gegensatz zum Vergessen in der Phase des unbewussten Wahmehmungsaufbaus (Werbekontaktniveau) um den Abbau bewusster kognitiver Inhalte handelt, werden zwei Vergessensprozesse unterschieden. Das Vergessen der Werbeerinnerer wird in der Modellierung gesondert berechnet, was durch den eigenstandigen Parameter Vergessen_WE zum Ausdruck kommt. Durch diesen wird die Hohe des Erinnerungsverfalls festgelegt, wenn innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls kein Werbekontakt stattgefunden hat.

Die Spurenzerfallstheorie wurde in 5.3. dargelegt. Das auf Interferenzen mit ahnlichen Werbespots zuruckfuhrbare Vergessen musste in der vorliegenden Arbeit aus Mangel an empirischem Datenmaterial unberUcksichtigt bleiben. Die Wirkung von Interferenzen auf die Werbeeffektivitat ist nicht zu unterschatzen, und es ist zu hoffen, dass auf Grund der Tendenz, immer mehr Werbeblocke (Clutter) einzusetzen, durch weitergehende Forschungsarbeiten ein vertieftes Verstandnis fiir den Prozess der gegenseitigen Beeinflussung der Werbeinhalte auf die Werbeerinnerung erreicht wird. Vgl. Ray, M.I Webb, P. (1979): Effects of TV clutter, in: Journal of Advertising Research, 19. Jg., Nr. 3, S. 7-12.

184 Hinsichtlich des Vergessens, denen die Werbeerinnerer unterworfen werden, gelten folgende Annahmen: -

Werbeerinnerer fallen mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit (WS_Vergessen) in ihre urspningliche KK (berechnet sich aus dem Werbekontaktniveau) zunick.

-

Diese Wahrscheinlichkeit steigt in Abhangigkeit vom gewahlten Parameter VergessenWE mit Anzahl der Wochen ohne Neukontakt.

-

1st die einem Werbeerinnerer zugeordnete Zufallszahl n kleiner als der berechnete Grenzwert (WS-Vergessen), faUt der Werbeerinnerer in seine alte KK zunick.

Die Vergessensfunktion wurde in dieser Arbeit aus empirischen Datenverlaufen ermittelt, indem die vorhandenen Zeitreihen aus dem Werbeindikator der GfK auf den Abfall der Werbeerinnerung nach Absetzen der Werbung hin analysiert wurden, um den Verlauf des Nachlassens der Werbeerinnerung quantitativ zu erfassen. Problematisch in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass die empirischen Daten nicht wochentlich, sondem vierwochentlich anfallen. Theoretisch miisste somit auch die Auswirkung der verwendeten Zeitraumlange auf die Verfallrate erfasst werden. Zur Bestimmung der Funktion des Erinnerungsverfalls wurden die nach Absetzen der Werbung gemessenen Erinnerungswerte gegen die Zeit geplottet. Im Anschluss daran wurde eine Kurvenanpassung in MS Excel vorgenommen. d.h. durch die bestehenden empirischen (WE-)Datenpunkte wurden verschiedene Trendlinien gelegt.^^"^ In die Analyse einbezogen wurden die lineare, hyperbolische, logarithmische, exponentielle Funktion sowie die Potenzfunktion. Fiir die Marken Odol med 3 gel, Ritter Sport Cniss Biss, Bacardi Limon und Latta wurde die vorhandene Datenbasis als nicht ausreichend erachtet, um zwischen den untersuchten Funktionstypen zu differenzieren.^^^ Die Rohdaten im Fall Thomy Les Sauces lassen keinen Trend erkennen. Fiir die anderen Datenpunkte kormte die beste Anpassung mit der Logarithmusfunktion erreicht werden. Abgesehen von dem Nachteil, dass bei t = 0 und t = oo der Logarithmus nicht definiert ist, entfallt eine Trans-

Siehe dazu die in Anhangskapitel 8.4.3 durchgeflihrten Kurvenanpassungen der empirischen Datensatze. Im Rahmen der Trendbestimmung mit der Logarithmusfunktion wurden die Rohdaten logarithmiert und linear geschatzt. Zur Beurteilung der Gute der Schatzung wird in MS Excel standardmaBig das BestimmtheitsmaB (R^) herangezogen. Um die Einflusse, die sich allein aus der Zahl der Regressoren sowie aus der StichprobengroBe ergeben, zu eliminieren, wurde fiir die beriicksichtigten Datensatze das korrigierte BestimmtheitsmaB berechnet. Vgl. zur Uberpriifung der QuaHtat von Regressionsgleichungen mittels statistischer Schatzverfahren Backhaus, K./ Erichson, B./ PHnke, W./ Weiber, R. (2003): Multivariate Analysemethoden, 10. Aufl., Berlin u.a., S. 63ff. In diesen Fallen lagen nur zwei bzw. vier Messpunkte fur die gestutzte Werbeerinnerung vor.

185 formation in wochentliche Verfallraten, da ihre Steigung nicht abhangig vom gewahlten ZeitmaB ist.^^^ Ohnehin existieren keine Erinnerungsdaten zum Zeitpimkt 0 im Datenmaterial, da die Erinnerungserhebung immer einen bestimmten zeitlichen Abstand nach Darbietung des Lemmaterials erfolgt. In Abbildung 37 ist beispielhafl die Vergessenskurve^^^ ftir die Marke Maggi Pasta Snack dargestellt.

Abbildung 37: Vergessenskurve der Marke Maggi Pasta Snack Vergessen Maggi Pasta Snack

GW 0,35-1

0,30-

^^^^..^^^^

0,25 •

^

'



0,20 G W = -0,0488Ln(t) + 0,3302 rkorr^0,8454 =

0,15-

0,10-

0,05 -

0,00 2

3

4

5

6

7

8

9

10

11 Monate t

Vgl. Rubin, D.C./ Wenzel, A.E. (1996): One hundred years of forgetting: A quantitative description of retention, in: Psychological Review, 103. Jg., Nr. 4, S. 753. Der Begrifif Vergessenskurve ist nicht sinngemaB zu verstehen, da nicht das Vergessen an sich gemessen wird, sondem erinnerte Gedachtnisinhalte. Nicht erinnerte Marken konnen nur zum Zeitpunkt der Messung als vergessen betrachtet werden.

186

Die Ermittlung der Vergessens-Rate fur Maggi Pasta Snack, wenn in der ersten Periode kein Werbekontakt stattgefunden hat, beruht auf folgender Gleichungsstruktur:

y^=a-blnx^

(42)

y^=a-b\nx^

(43)

Vergessens-Rate: X

y\-y2^ y.

b'ln-^ h a-b'\nx.

(44)

Ftir die Berechnung der Vergessens-WS in der Simulation werden die Vergessensraten entsprechend des Intervalls vom Zeitpunkt des letzten Kontaktes kumuliert, d.h. je langer der letzte Werbekontakt zuriickliegt, umso groBer die Wahrscheinlichkeit, dass die Werbung vergessen wird.

6.3

Validierung der Awareness-Simulation

Die Giitebeurteilung des vorgestellten Simulationsansatzes ist zunachst dadurch erschwert, als dass sich das gesamte Theoriegebilde des Awarenessmodells (Abbildung 30) sowie das relevante Konstrukt der „Markenbekanntheit durch Werbung" einer direkten Beobachtung oder Messung entziehen. Bisher werden ftir die Messung derartiger Gedachtnisreprasentationen, welche im Grunde ein diffuses Bild von Markenaktualitat darstellen, die klassischen GedachtnismaBe Recall oder Recognition erhoben. Da das theoretische Konstrukt der Werbeerinnerung nicht zwingend als Manifestation einer wie auch immer gearteten Markenaktualitat i.S.e. kaufauslosenden Faktors angesehen werden kann, ist die Beurteilung der prognostizierten Werte auch in dieser Hinsicht problematisch (Problem der Konstruktvaliditat). Ohnehin sind die zur Messoperationalisierung herangezogenen Erinnerungswerte, die nicht durch das KaufVerhalten beeinflusst sind, nicht bekannt (Problem der Kriteriumsvaliditat). Implizit wird mit der Verwendung des Prognosekriteriums „gesttitzte Werbeerinnerung" eine kausale Abhangigkeit von dem theoretischen Konstrukt „Markenbekanntheit durch Werbung" unterstellt, die unter Umstanden gar nicht gegeben ist.

187

Dennoch wird die „gestutzte Werbeerinnerung" im Rahmen dieser Arbeit zumindest als Indikator fiir die Gedachtnisprasenz von Marken herangezogen, da das vorhandene Datenmaterial keine altemativen Kriterien aufweist iind auch ein Vergleich mit dem vorgestellten NEWS-Modell sowie Gfk-Awareness-Modell erleichtert wird. Bevor jedoch die Ergebnisse aus den genannten Modellen mit denen der Awareness-Simulation gegeneinander abgewogen werden, sollen an dieser Stelle zunachst die wesentlichen Unterschiede herausgearbeitet werden. Mit Ausnahme des GfK-Awareness-Modells mangelte es den in Kapitel 3.4 vorgestellten analytischen Ansatze vor allem an der fur die Werberezeption notwendigen Beriicksichtigung von Stochastizitat im Hinblick auf die Reichweite des Spots bzw. der Kontaktwahrscheinlichkeit. Zudem basierte deren Prognose auf durchschnittliche Kontakthaufigkeiten (GRPs) anstatt der vorteilhafteren individuellen Kontaktverteilung. Da es von groBem Interesse ist, das neue Produkt mittels der Werbebotschaft durch Penetration vertraut zu machen, ist es nicht unerheblich, wie sich die durchschnittliche Kontakthaufigkeit auf alle Zielpersonen verteilt. Fiir den Lemprozess ist es nicht gleichgiiltig, ob bei hoher Kontaktsumme viele Personen selten oder wenige Personen oft erreicht werden. Schon allein auf Grund der groBen Anzahl moglicher Awareness-Zustande (8 Kontaktklassen) sowie der Kombination aus kontaktklassenspezifischen Lem- und Vergessenseffekten stellt sich die AwarenessSimulation dabei weitaus komplexer dar als bestehende Modelle und wird folglich den geanderten Rezeptionsbedingungen eher gerecht. Mit der Aufhebung des Paradigmas, 3 Werbekontakte als ausreichend zu erachten, wird eine hohere Aussagefahigkeit der Prognose und in der Folge eine hohere Prognosegenauigkeit erreicht. Gleichzeitig hat die Simulation bedingt durch die relativ einfache Formelstruktur mit wenig einschrankenden Annahmen das Potenzial, unterschiedliche Funktionsverlaufe relativ einfach implementieren zu konnen und gewahrleistet ein hohes MaB an Anpassungsfahigkeit. Eine Uberpriiftang diverser Theorien beziiglich unterschiedlicher Verlaufe der Awarenessftinktion sowie auch des Vergessens ist deshalb ein entscheidender Vorteil gegentiber mathematisch-analytischen Verfahren. Ebenso ist die Integration stochastischer GroBen problemlos moglich. Die Reproduzierbarkeit der Zufallszahlen ermoglicht zudem Sensivitatsanalysen, welche eine umfassende Untersuchung der Input-Output-Beziehungen gestattet, um somit mogliche Ursache-Wirkungsbeziehungen (z.B. Einfluss der Werbequalitat auf die Werbeerinnerung) aufzudecken.^^^ Mit der Simulation bietet sich dem Anwender die Moglichkeit, die Unsicherheit des Problems und die sich

Gerade in dieser Vorhersagemoglichkeit der Wirkung veranderter Parameter oder in einer Umbewertung bestimmter Einflusse ist die Bedeutung des Experimentierens mit einem Simulationsmodell zu sehen.

188 daraus ergebenden Konsequenzen auf die verwendeten Bewertungskriterien abzuschatzen. Zusatzlich konnen Sensitivitatsanalysen zur Abschatzung der Unsicherheit auf die Bewertungskriterien als Basis fur die Entscheidung herangezogen werden, in welchen Bereichen weitere empirische Forschung zur Gewinnung objektiver Daten am erfolgversprechendsten ist. An die Uberpriifung, inwieweit das formalisierte Modell richtig in ein Computerprogramm iiberfuhrt wurde, schlieBt sich die Kontrolle der empirischen Validitat an. Im Rahmen einer ex-post-Prognose wurde deshalb mittels empirischer Daten aus dem GfK-Werbeindikator iiberpriift, ob der Modell-Output den tatsachlich zu beobachtenden Werbeerinnerungswerten entspricht.^^^ Im Folgenden wird die Einzelleistung des Modells am Beispiel der Marke Maggi Pasta Snack iiberpriift sowie ein Leistungsvergleich mit dem GfK-Awareness-Modell durchgefuhrt.^^^ Zur Auswertung der Simulationsergebnisse wurden 200 Simulationslaufe durchgeftihrt und deren Mittelwert bestimmt. Wie der Abbildung 38 zu entnehmen, konnte der Kurvenverlauf der Erinnerungswerte vor allem in seiner Fluktuation genauer erfasst werden als durch das GfK-Awareness-Modell. Dies mag zum groBen Teil auf die hohere Kontaktklassenzahl als auch darauf zuriickzufuhren sein, dass sowohl die Lemrate (DV) als auch die Vergessensrate in Abhangigkeit von der jeweiligen Kontaktklasse variieren. Gleichzeitig zeigt sich das Validitatskriterium "viability" erfiillt, da das Modell in der Lage ist, unter plausiblen Anfangsbedingungen und Parametereinstellungen ein bestimmtes Verhalten (Werbeerinnerung) im Zeitablauf zu generieren.^^^

Im Rahmen des Tracking-Systems GfK-Werbeindikator entspricht die monatlich erhobene gestutzte Werbeerinnerung (GW) dem Prognosewert der Simulation. Einschrankend ist darauf hinzuweisen, dass die Daten im Werbeindikator zwangslaufig auch den Einfluss der Produktverwendung auf die Werbeerinnerung widerspiegehi. Die Ergebnisse der Simulationslaufe fur die Marken, bei welchen das AD*VANTAGE Modell in seiner Prognose die tatsachliche Werbeerinnerung nicht zufr-iedenstellend wiedergeben konnte, sind dem Anhang in Kapitel 8.4.2 zu entnehmen. Vgl. zu den Ebenen der Modellvalidierung Amstutz, A.E. (1967): Computer Simulation of Competitive Market Response, Cambridge u.a., S. 380ff.; Hammann, P./ Erichson, B. (2000): Marktforschung, 4., uberarb. u. erw. Aufl., Stuttgart, S. 128 ff.

189

Abbildung 38:

Vergleich GfK-Awareness-Modell und der Simulation Maggi Pasta Snack

GW/WE 0,4-1

0,35•••••

/

\

1

\

Sim (DV 0,4)

0,3y' > • • • • • • •

1

jeeeeeeeee?/^

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i$| i§;

202

Abbildung 41:

Prognosewerte von NEWS bei unterschiedlicher Periodenlange

0,80-



*

"

0,70-

0,60-

/

J^^'^ 1

0,50-

0,40-

0,30-

0,20-

0,10-

0,00

^

1 1 1 I

1

2

3

4

5

6

7

8

9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 Pericxtet

^ ^ - 2 4 Perioden mit mcmatlich 300 GRPs

-•—4Pericxtena6Monate(1800GRPsprDPeriode)

203

8.2

Erganzungen zum GfK-Awareness-Modell

Tabelle 3: Daten fur den Goodness-of-Fit des GfK-Awareness-Modells GfK-Awareness-Modell (Monatsbasis) Korrelation

MAPE(%) 1

Daten GW (WA)

GW-WA

WE-GW

WE-GW

Bacardi Limon (Spirituosen)

7(4)

0,50

0,33

25,92

Fairy Ultra (Dish Wasliing Liquid)

6(24)

0,26

0,96

10,40

pdol medSgel (Zahnpflege)

4(15)

-0,03

-0,14

28.41

Ritter Sport XXL [(Tafelscholcolade)

6(18)

-0,02

0,65

10.44

Hellmann's Mayo (l\/layonnaise)

Produkt (Produktkategorie)

3(7)

0,38

0,91

85,68

Maggi Pasta Snack l(Nudelfertiggerichte)

12 (24)

0,23

0,28

49,99

Ritter Sport Cniss Biss (Schokospezialitaten)

11 (32)

-0,01

0,22

53,64

Latta (Frisciikase)

6(13)

0,41

0,93

14,14

Barenmarke |(Kaffeewei(ler)

21(16)

0,05

0,73

28,87

Tiiommy Extra-leiclit [(Mayonnaise)

24(18)

0.32

0,76

24,60

Thommy Les Sauces [(Mayonnaise)

26 (26)

0,71

0,00

41,68

WE

Werbeerinnerung (Awareness-Modell)

WA

Werteausgaben

GW

gestijtzte Werbeerinnemng (Wl)

MAPE

mittlere absolute prozentuale Abweichung

204

Abbildung 42:

Eingabemaske GfK-Awareness-Modell (AD*VANTAGE) (Fairy Ultra)

\m

II If

1 H ip o o o^ o(Ho oo rM oo o ^ ^ r--~ o^ rsi r^ en-"a-r~-^T) rsi Lo o r o r ^ - c r i ^ O rv. rsj - rH t n i—i o • ^ - CTi oo O M ^ i-n T J - o O ^ ^ ^ f v j

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