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German Pages 429 Year 2008
Vom Selbst-Verständnis in Antike und Neuzeit / Notions of the Self in Antiquity and Beyond
Herausgegeben von / Edited by Alexander Arweiler Melanie Möller
Walter de Gruyter
Vom Selbst-Verständnis in Antike und Neuzeit Notions of the Self in Antiquity and Beyond
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Transformationen der Antike
Herausgegeben von Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath, Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler, Ulrich Schmitzer
Wissenschaftlicher Beirat: Frank Fehrenbach, Niklaus Largier, Martin Mulsow, Wolfgang Proß, Ernst A. Schmidt, Jürgen Paul Schwindt
Band 8
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Vom Selbst-Verständnis in Antike und Neuzeit Notions of the Self in Antiquity and Beyond Herausgegeben von / Edited by
Alexander Arweiler Melanie Möller
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm 앪 über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020571-8 ISSN 1864-5208 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen Logo „Transformationen der Antike“: Karsten Asshauer ⫺ SEQUENZ Satz: Rhema, Tim Doherty, Münster Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen
Inhalt Einleitung – Vom Selbst-Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sektion 1: Poetische Selbstkonzeptionen Melanie Möller: Subjekt riskiert (sich) – Catull, carmen 8 . . . . . . . . .
3
Niklas Holzberg: A Sensitive, Even Weak and Feeble Disposition? C. Valgius Rufus and His Elegiac Ego . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
Andrew Feldherr: Intus habes quem poscis – Theatricality and the Borders of the Self in Ovid’s Tereus Narrative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
Alexander Arweiler: Identity, Identification and Personae in Catull. 63 and Other Roman Texts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
Sektion 2: Autobiographische Genesen des Selbst und Erzählungen vom po(i)etischen Ich Thomas Schirren: »Techne liebt Tyche und Tyche Techne« – Aspekte poetischer Kreativität im Denken des Aristoteles . . . . . . . . . . . .
89
Gyburg Radke-Uhlmann: Aitiologien des Selbst – Moderne Konzepte und ihre Alternativen in antiken autobiographischen Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107
Michèle Lowrie: Cicero on Caesar or Exemplum and Inability in the Brutus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131
Rainer Henke: Eskapismus, poetische Aphasie und satirische Offensive – Das Selbstverständnis des spätantiken Dichters Sidonius Apollinaris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155
Therese Fuhrer: De-Konstruktion der Ich-Identität in Augustins Confessiones . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Paul Geyer: Wege in die Moderne – Von Ariost über Dante zu Tasso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
189
Sektion 3: Zwischen Scham und Schuld. ›Affizierte‹ Subjekte in Tragödie und Lyrik Jan Stenger: Ich schäme mich, also bin ich – Scham und Selbstbewußtsein in der griechischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
Wolfgang Braungart: »Ich suche / Mich selbst, und finde mich nicht mehr« – Das Selbst und die Tragödie unter den Bedingungen des Christentums (Sophokles, Kleist, Corneille, Racine, Schiller) . . . . . . . . .
239
Horst-Jürgen Gerigk: Zerrissenheit – König Ödipus grenzt sich ab gegen das romantische Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
271
Karin Westerwelle: Die Darstellung von Subjekt und Affekt in Giacomo Leopardis Ultimo canto di Saffo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
283
Sektion 4: Selbsterkenntnis und Selbstsorge in philosophischer Literatur Arbogast Schmitt: Subjectivity as Presupposition of Individuality – On the Conception of Subjectivity in Classical Greece . . . . . . . . . . . . .
313
Christian Pietsch: »Im Blick auf den Gott erkennen wir uns selbst« – Zu Platons Verständnis von Personalität im Alcibiades maior . . .
343
Christopher Gill: The Self and Hellenistic-Roman Philosophical Therapy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
359
Klaus Müller: Selbsterhaltung – Ein stoisches Korrektiv spätmoderner Kritik am modernen Subjektgedanken . . . . . . . . . . . . . . .
381
Zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung Vom Selbst-Verständnis
Die in vorliegendem Band versammelten Beiträge aus Klassischer Philologie, Modernen Philologien und Philosophie haben ein gemeinsames Interesse am Verständnis von Selbst und Subjekt, wie es in Texten verschiedenster Gestalt verhandelt wird. Im Begriff von einem Selbst kommen Vorstellungen zusammen, die das Verhältnis eines Menschen zu sich als einem denkenden und handelnden Wesen betreffen; Vorstellungen von dem Verhältnis der körperlichen und geistigen Zustände zueinander und zu metaphysischen oder sozialen Grundlagen menschlicher Existenz, von Individualität, personaler Identität und ihrem Bestand durch die Zeit hindurch, von der Autonomie menschlichen Wollens und Tuns, von der Bedeutung des Bewußtseins und nicht zuletzt vom möglichen Verlust des Selbst 1. Die grundsätzliche Bedeutung und die Vielfalt der betroffenen Problemstellungen haben in allen Epochen der Geistes- und Literaturgeschichte einerseits eine hohe Ausdifferenzierung von Zugängen bewirkt, andererseits aber auch immer wieder zu der Erkenntnis geführt, daß die im Begriff eines Selbst enthaltenen Aspekte einander komplementär sind und ihre isolierte Betrachtung nicht selten mit einer Beschränkung des Erkenntnisgewinns oder der Zuverlässigkeit der erreichten Ergebnisse einhergeht. Die großen Entwürfe zum Beispiel von Charles Taylor (1994) oder Richard Sorabji (2006) zeigen, wie sich die Vielfalt über verschiedene Epochen und Disziplinen hinweg in differenzierter Diskussion untersuchen läßt, ohne die Schwierigkeit der Begrifflichkeiten zum Anlaß zu nehmen, gleich das Problem als irrelevant anzusehen. Daß sich jüngst mit John Searle auch ein Vertreter der analytischen Philosophie nach eigenen Worten »mit größtem Widerstreben« gezwungen sah, von einem irreduziblen Selbst auszugehen, mag unsere Beobachtung bestätigen2. 1 Vgl. die Problemskizze von Roland Hagenbüchle, Subjektivität. Eine historisch-systemati-
sche Hinführung, in: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, hrsg. v. Reto Luzius Fetz, Roland Hagenbüchle, Peter Schulz, Bd. 1, Berlin 1998, 1–90, 6. 2 Searle (2001), 75: »With the greatest reluctance I have come to the conclusion that we cannot make sense of the gap, of reasoning, of human action and of rationality generally, without an irreducible, that is, non-Humean, notion of the self.«
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Einleitung
Bisher war in erster Linie von Begriffen und Problemen die Rede, die wir gewohnt sind, der Philosophie zuzurechnen, und in der Tat hat diese eine reiche Tradition in der Behandlung sowohl des Gesamtbegriffes wie zahlreicher Unteraspekte der Vorstellungen von einem Selbst. Dieser Tradition weiß sich auch der vorliegende Band verpflichtet. Gleichwohl legt er einen Schwerpunkt nicht nur auf die Untersuchung von Selbstbildern und -konzepten in der griechisch-römischen Antike und deren Transformationen, sondern auch auf die Auseinandersetzung mit literarischen Texten, speziell der Dichtung. Daß das Interesse an Selbst- und Subjektkonzepten im Rahmen der skizzierten Problemstellungen einen Schnittpunkt zwischen Literaturwissenschaften und Philosophie markiert, mag dabei nicht nur als Ausgangsthese verstanden werden, die die dem Band vorausgegangene Tagung initiiert und die Zusammenstellung der Beiträge motiviert hat; vielmehr sollen die versammelten Beiträge, jeder für sich und in vergleichender Lektüre, diese Gemeinsamkeit dokumentieren, ohne daß die fachlichen und methodischen Unterschiede verwischt würden. Die Möglichkeiten gegenseitiger Anregung sind angesichts der Überschneidungen in den Gegenständen keineswegs auf zusätzliche Informationen zu interessanten, aber eben doch disziplinär selbständigen Bereichen beschränkt. Wenn Charles Taylor im oben genannten Werk zum Beispiel »die im neuzeitlichen Abendland beheimateten Empfindungen der Innerlichkeit, der Freiheit, der Individualität und des Eingebettetseins in die Natur« als wichtige Aspekte der von ihm untersuchten neuzeitlichen Identität nennt und sich folgerichtig intensiv mit literarischen Zeugnissen und ihren Theorien auseinandersetzt 3, dürften die Überschneidungen in zentralen Themen unmittelbar deutlich werden. Aus der Sicht der Klassischen Philologie ist die Verbindung von Literatur und Philosophie erst recht nichts Überraschendes, da sich griechische wie römische Texte in ihrer Gattungszugehörigkeit, ihrer Themenwahl und -behandlung nicht nur selbstverständlich in beiden Bereichen bewegen, sondern auch das Verhältnis der jeweiligen Zugänge zu Fragen des Selbst behandeln und nach ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden suchen. Lehrdichtung, philosophischer Dialog, Lyrik, Elegie, Erzählungen von Helden, Biographien oder Briefliteratur sind sämtlich Textsorten, in denen die Leser antiker Literatur auf hochkomplexe Auseinandersetzungen mit den hier interessierenden Problemen stoßen. Und doch finden sich erst in jüngerer Zeit vereinzelte Arbeiten, die sich diesen kaum beachteten Fundus zunutze machen, da die Dichtung Catulls oder Ovids, die Reden Ciceros oder das Geschichtswerk des Livius eben nicht als relevant angesehen werden für die Suche nach Antworten auf Fragen nach dem Selbstverständnis, nach der Auseinandersetzung mit dem Subjekt und seiner Handlungsfähigkeit, nach der personalen Identität und ihren Begründungen. Die Ursachen für diese 3 Taylor (1994), 7.
Einleitung
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Ausblendung sind vielfältig und eng verknüpft mit der Entwicklung der akademischen Wissensdisziplinen seit dem 18. Jahrhundert. Im Bereich der antiken Literaturen hat sich das Interesse an den philosophischen Entwürfen Platons und des Aristoteles so übermächtig durchgesetzt, daß sie vielen als mit ›der Antike‹ gleichzusetzen erschienen und entsprechend manche Überblicksdarstellung (nicht nur zu Fragen des Selbst) gleich von hier aus zum einflußreichen Werk des Augustinus in die Spätantike und weiter in die Neuzeit eilt. Solchermaßen konstruierte Linien haben den Vorteil, griffige Aussagen zu generieren, sicher aber den Nachteil, daß diese um den Preis der Unzuverlässigkeit erkauft sind. Die fruchtbare Arbeit der letzten Jahrzehnte an der Literatur des Hellenismus, in dem auch die römische Dichtung und Kunstprosa des ersten vorchristlichen Jahrhunderts zu verankern ist, hat erste Schneisen in diese monolithischen Konstruktionen geschlagen, und Christopher Gill (2006) ist das hohe Verdienst zuzurechnen, mit einer beeindruckenden Synthese zu den hellenistischen Modellen des Selbst den Forschungsstand neu formuliert zu haben. Der Befund des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, demzufolge es offenbleibe, ob »in der Antike« auch schon über Aspekte des späteren Selbstbegriffes reflektiert wurde, dürfte angesichts dieser Forschungen also als überholt gelten4. Im römischen Bereich ist die Ausblendung weiter Teile der antiken Literaturen aus der Forschung besonders deutlich. Gerade hier macht es sich bemerkbar, daß die noch im 19. Jahrhundert selbstverständliche, im 20. Jahrhundert in Deutschland von wenigen Ausnahmen abgesehen verebbte Auseinandersetzung mit den erkenntnistheoretischen, ethischen und ästhetischen Anliegen der eigenen wie benachbarter Disziplinen anderen Prioritäten gewichen ist. Dies ist um so bedauerlicher, als es gerade die Diskussion mit römischen Texten gewesen ist, die zahlreiche der in diesem Band ebenfalls vertretenen Autoren und Werke späterer Literaturen geprägt hat. Vielleicht darf es als symptomatisch angesehen werden, daß es nicht ein Klassischer Philologe war, der eine lebhafte Diskussion über die Konzepte der Selbstsorge zum Beispiel in den Schriften Senecas und des griechischen Schriftstellers Plutarchs ausgelöst hat, sondern Michel Foucault mit dem zweiten Band seiner Histoire de la Sexualité. Weder Gattungszugehörigkeit noch Sprechformen geben den Ausschlag dafür, ob ein Text zu unserer Kenntnis verfügbarer Konzepte in einer Zeit oder Kultur beiträgt; und doch hat zweifellos die Auffassung, in der römischen Dichtung und Kunstprosa könne aufgrund ihrer Form kein Ertrag für die Fragen nach dem Selbst zu erwarten sein, dazu beigetragen, daß sie nicht in den Blick der an den Selbstkonzepten interessierten 4 Schrader/Schönpflug (1995), 292 »Dennoch muß die Frage offenbleiben, ob und in welchen
Termini auch schon in der Antike über das reflektiert wurde, was dann später im Begriff ›Selbst‹ konvergiert: die personale Identität und Individualität, die Einheit des Bewußtseins, die Subjektivität.«
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Einleitung
Disziplinen gerückt sind. Es steht zu hoffen, daß eine Arbeit wie die jüngst von Shadi Bartsch (2006) vorgelegte und auch der vorliegende Band mehr Latinisten für dieses Forschungsgebiet gewinnen werden. Ein weiteres Hindernis, das der Erforschung von literarischen Selbstkonzepten in der Klassischen Philologie entgegenstand, ist spezifischerer Natur und läßt sich daran ablesen, daß Vertreter der neueren Philologien, die sich erfreulicherweise für antike Texte interessieren, im deutschsprachigen Raum nur wenige Publikationen finden werden, die ihnen Anknüpfungspunkte bieten. Hier ist die Auseinandersetzung zum Beispiel mit den Instanzen des Autors und Lesers, der Autonomie literarischer Erkenntnis und den epistemologischen und methodologischen Herausforderungen der letzten Jahrzehnte noch sehr jung, so daß nicht nur einschlägige Texte noch nicht auf ihre Bedeutung im Kontext der Subjektsdiskussion untersucht worden sind, sondern auch in manchen Publikationen der Eindruck erweckt wird, die antiken Konzepte seien vor allem von antiquarischem Interesse. Der Befund in der angelsächsischen oder italienischen Klassischen Philologie ist bereits ganz verschieden davon. Wer etwa die Arbeiten zur römischen Intertextualität und Poetologie liest, die von Gian Biagio Conte, Alessandro Barchiesi, Stephen Hinds oder Philip Hardie, um nur wenige zu nennen, vorgelegt worden sind, wird einen divergenten Forschungsstand vorfinden und wohl ungläubig den Kopf schütteln, wenn er in einer neueren Anthologie zur poetologischen Lyrik liest, diese sei, nach wenigen Vorläufern im 18. Jahrhundert, zur ersten Blüte gelangt. Neben den Folgen, die die Ausdifferenzierung der Disziplinen, ihre jeweils eigene Entwicklung und die Ausblendung vor allem poetischer Texte für die Diskussion über Selbst- und Subjektmodelle in antiken Literaturen haben, soll schließlich ein weiterer Grund genannt werden, der das von den vorliegenden Beiträgen skizzierte Arbeitsfeld als wichtige Ergänzung und Modifizierung derzeitiger Forschungen anzusehen erlaubt. Denn aus der Sicht der Romanistik, Anglistik, Germanistik, Slawistik und anderer Literatur- bzw. Kulturwissenschaften sind einige Fragen aus dem Gebiet der Theorie des Subjekts, der Subjektivität, der Autonomie, der Erkenntnisfähigkeit, der Macht oder Ohnmacht des Individuums bereits gestellt, ist manches Problem schon einer Lösung zugeführt, zumal in den letzten Jahrzehnten wichtige Forschungsbeiträge entstanden sind und wesentliche Begriffe erarbeitet wurden, die in mehreren Beiträgen dieses Bandes aufgegriffen werden. Nun verbindet aber die Untersuchungen zu Selbst- und Subjektvorstellungen in neuzeitlichen Literaturen mit anderen Forschungszweigen ein großes Interesse an der Historiographie von Begriffen und Konzepten. Das jeweilige Werk oder die jeweilige Zeit wird auf ihren Beitrag zur Entwicklung der Konzepte hin untersucht, und es scheint nicht wenige Forscher zu geben, denen der Wunsch, etwas grundsätzlich Neues auszumachen, das erst hier (und nie zuvor) gedacht worden sei, besonders am Herzen liegt. Daran ist nichts Falsches, allein es ist ein durchaus ehrgeiziges Unterfangen, eine Aussage mit der Zeitangabe »zum ersten Mal« inter-
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XI
subjektiv vermittelbar zu machen, wahrscheinlich ein unmögliches, zumal diese Form der Geschichtsschreibung nicht selten die Sammelbegriffe Selbst und Subjekt überzeitlich verwendet, tatsächlich aber nur zum Beispiel einen Aspekt des epistemologischen Subjektbegriffes der Aufklärung meint. Selbst wenn wir uns daran gewöhnen wollten, die heuristische Reduktion als gewinnbringend anzusehen: Die Beweislast des jeweils behaupteten ›niemals an keinem Ort in keinem vorhandenen oder jemals auffindbaren Zeugnis zuvor‹ dürfte kaum ein Entdecker tragen können. Es ist dabei zweifellos ein vergnüglicher Zug, daß hier manchmal eine Moderne, um die es in den unterschiedlichsten begrifflichen, zeitlichen und systematischen Varianten geht, gerade mithilfe der antiken Denkfigur des primus inventor von einer wiederum fließend definierten Vormoderne abgegrenzt wird. Umgekehrt kann aber die antike Literatur nicht mit derselben irrtümlichen Suche nach einem ›hier schon‹ oder ›hier zuerst‹ ins Spiel gebracht werden. Nicht die fraglose Permanenz der Rezeption antiker Texte oder gar ihr ehrwürdiges Alter können die wissenschaftliche Relevanz absichern. Begründung findet sich nur in der Eigentümlichkeit der Texte, die in ihrer Präsenz als grundsätzlich vertraut und prinzipiell fremd gelesen werden müssen, als bekannt, ohne erkannt zu sein. Wenn also in diesem Band Texte der Analyse unterzogen werden, die sich dieser Geschichtsschreibung nicht fügen, so kann dies nicht allein dem Anliegen verpflichtet sein, das herrschende Modell durch einige Bausteine zu ergänzen und bei der Lektüre der späteren Texte die in ihnen diskutierten antiken Traditionen zu berücksichtigen (selbst wenn auch in den vorliegenden Beiträgen deutlich wird, daß dies für ein Verständnis zahlreicher Werke unabdingbar sein dürfte). Das Anliegen ist vielmehr, über die Form und Notwendigkeit der genannten Historiographien nachzudenken und zu fragen, ob nicht gerade die Vorstellungen vom Selbstverständnis, der Handlungs- und Willensfreiheit und ihrer Bedingungen, der Identität oder ästhetischen Relevanz dieser Konzepte für die Literatur einer solchen Chronologie nicht unterworfen werden können und statt dessen verschiedene Probleme in verschiedenen Kontexten jeweils wieder auftreten, während andere in den Hintergrund geraten. Es könnte sich zeigen, daß das ein komplexes Zusammenspiel von literarischen, sozialen, politischen oder religiösen Faktoren zum Beispiel Schriftsteller im Rom des ersten vorchristlichen und im Frankreich des 19. Jahrhunderts gleichermaßen spezifische Aspekte aufgreifen läßt, die in anderen Literaturen kaum eine Rolle spielen. In einem letzten Abschnitt sollen nun noch einige Hinweise auf das versammelt werden, was man – wie oben bereits in einigen Formulierungen angeklungen ist – als eine Konkurrenz zwischen den Texten der Philosophie und denen der Literaturwissenschaften bezeichnen könnte, die den gemeinsamen Interessen an die Seite zu stellen ist. Die literarischen Texte, die hier vorgestellt werden (stellvertretend für zahlreiche andere), zeichnen sich durch die Irreduzibilität ihrer Sprache und Textgestalt aus, sie sind, sei es als Dichtung, sei es als Kunstprosa, also nicht in eine
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Einleitung
Form und eine Botschaft zu zerlegen und entsprechend nur in ihrer individuellen, konkreten Gestalt dazu in der Lage, eine über die Information hinausreichende Aussage zu formulieren. Ein komplementäres Interesse der Literatur gilt dem Einzelnen und Partikulären, das sie im Hinblick auf das Universale betrachten oder aber an dessen Stelle setzen kann. Der einzelne Held oder das private Ereignis sind im literarischen Text gerade nicht das, was abgerechnet werden muß, um zur Aussage über ein Selbstverständnis zu kommen – sie sind bereits Teil dieser Aussage. (Vielleicht darf es als Verdienst der Literatur angesehen werden, tatsächlich die empirische Wissenschaft entdeckt zu haben, indem sie ihre Texte als Fallstudien in einer imaginierten Welt anlegte). Diese Perspektiven und Verfahren können der Philosophie nicht geheuer sein, sie sind aber als erkenntnisleitend wie erkenntnisschaffend der Literatur eigen und müssen entsprechend mit den ihr gemäßen Mitteln erarbeitet werden. In narrativen und lyrischen Sprechweisen setzen sich Texte mit (auto)biographischer Identität, mit der Autonomie des Handelns und ihrem Verlust auseinander, ein Brief oder ein episches Gedicht kann die Feststellung, der Mensch zeichne sich durch seine Vernunftbegabung aus, zum Ausgangspunkt einer Konfliktszene machen, in der Affekt, Zerbrechlichkeit, Entscheidungslust oder Wahnsinn (furor) zu mächtigen Gegenspielern werden. Das politische Selbstverständnis der einflußreichen Individuen wird in der Geschichtserzählung oder der Biographie gegen schicksalsgeleitete oder blinde Wirkkräfte gestellt, die Beschwörung der Ordnung des Geistes nach dem Bild des Kosmos mit dem Aufruhr im Inneren konfrontiert. In welcher Weise die erste Person Singular in der Lyrik und Elegie, aber auch in der Geschichtsschreibung, in Rede und Brief Autorität und Authentizität erzeugt, ist dabei ebenso relevant für eine Analyse der Vorstellungswelten von Lesern und Verfassern wie für die Frage nach den ästhetischen Ansprüchen, die verwirklicht oder zurückgewiesen werden. Vor diesem Hintergrund sind die Beiträge als komplementäre Untersuchungen zu dem differenzierten Feld anzusehen, das sich begrifflich und konzeptuell unter der Frage nach dem Selbstverständnis verankern läßt. Die einheitsstiftende Instanz ist dabei neben dem beschriebenen Bezug zu den antiken Literaturen und Philosophien vor allem ein methodisches und wissenschaftstheoretisches Interesse an der detaillierten Analyse von literarischen Texten, die selbst als Fallstudien zu Aspekten des Selbstverständnisses gelesen werden können. In der thematischen statt chronologischen Gliederung darf ein Hinweis darauf gesehen werden, daß wir den oben skizzierten Entwicklungsmodellen mit ihren Problemen möglichst wenig folgen wollen und in der geduldigen Lektüre des einzelnen Textes in seinen eigenen Zusammenhängen ein wichtiges Element zukünftiger Arbeit an den Fragen zum Selbstverständnis (auch der Philologien) sehen. Während die anschauliche Metaphorik der Rede vom ›Ende des Subjekts‹ und dem ›Tod des Autors‹ zwar zu einer ertragreichen Debatte über Fachgrenzen hinweg beigetragen, aber eben auch eine problematische Lust an der Sensation befördert hat, gelten die Interessen
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der Herausgeber und Beiträger dieses Bandes weniger, um in der Bildlichkeit zu bleiben, dem Todeszeitpunkt als, ein wenig bescheidener, einer Reihe von Geburtsbedingungen, die vielleicht niemals zu einem Geburtsereignis verdichtet wurden, bestenfalls zu einer kontinuierlichen Folge von Geburtstagen und Trauerfällen, deren Anzahl der der vielen Erscheinungsweisen von Selbstkonzepten entspricht. Der Dank der Herausgeber gilt der DFG für die finanzielle Unterstützung der Tagung. Claudia Nissle und Pia Rolli (Heidelberg) sowie Katrin Kroh und Meike Wortmann (Münster) danken wir herzlich für die vielfältige Unterstützung bei der Vorbereitung des Bandes. Herr Tim Doherty hat sich auch unter Zeitdruck aufopferungsvoll um die Erstellung der Druckvorlage gekümmert, Frau Vogt vom Verlag Walter de Gruyter hat nicht nur die Aufnahme in die Reihe angeregt, sondern auch geduldig und hilfsbereit den Weg bis zum Druck geebnet. Oktober 2008 Münster Alexander Arweiler
Heidelberg Melanie Möller
Literaturhinweise Bürger, Peter, Das Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes, Frankfurt/Main 2 1998. Bartsch, Shadi, The mirror of the self. Sexuality, self-knowledge, and the gaze in the early Roman empire, Chicago/London 2006. Fetz, Reto Luzius/Hagenbüchle, Roland/Kobusch, Theo (Hrsgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, 2 Bde., Berlin et al. 1998. Frank, Manfred, Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlass ihrer »postmodernen« Toterklärung, Frankfurt/Main 1991. Giddens, Anthony, Modernity and self-identity. Self and society in the late modern age, Cambridge et al. 2001. Gill, Christopher (Hrsg.), The person and the human mind. Issues in ancient and modern philosophy, Oxford 1990. Gill, Christopher, The structured self in Hellenistic and Roman thought, Oxford et al. 2006. Marquard, Odo/Stierle, Karlheinz (Hrsgg.), Identität, München 1979 (Poetik und Hermeneutik 8). Moos, Peter von (Hrsg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln et al. 2004. Ricœur, Paul, Das Selbst als ein Anderer , München 2 2005. Schrader, W.H./Schönpflug, U., »Selbst«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsgg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Darmstadt 1995, 292–313. Searle, John R., Rationality in action, Cambridge et al. 2001.
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Sorabji, Richard, Self. Ancient and modern insights about individuality, life, and death, Oxford 2006. Taylor, Charles, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/ Main 1994. Teichert, Dieter, Personen und Identitäten, Berlin/New York 2000. Zima, Peter V., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen/Basel 2000. Zima, Peter V., Das literarische Subjekt: Zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen et al. 2001.
Sektion 1 Poetische Selbstkonzeptionen
Die erste Sektion umfasst vier Beiträge, die sich der Verhandlung mit dem Ich und der Nutzung der Subjektskonzeptionen als poetischer Mittel in elegischen, lyrischen und epischen Texten widmen. Alle behandelten Texte (Catull, Horaz, Ovid) entstammen der römischen Literatur der Zeit zwischen ca. 65 v. Chr. und 17 n. Chr. Im Ausgang von einer systematischen Analyse des poetischen Subjektivitätsbegriffes weist Melanie Möller (Heidelberg) in ihrem Beitrag »Subjekt riskiert (sich): Catull, carmen 8« die konstitutive Bedeutung der Dialektik von Selbst- und Fremdbestimmtheit für die Gestaltung des Textes und seiner Figuren nach. Die Spaltung zwischen Wollen und Können des Ichs, zwischen Liebhaber und Geliebter erweist sich in einer präzisen Lektüre des grammatischen und semantischen Gefüges als sprachästhetisches Mittel, als »aktives Werkzeug«, mithilfe dessen die Schaffung des Selbst erst anvisiert und vollzogen wird. Gerade weil sich das Subjekt über ein anderes zu bestimmen sucht, gelingt ihm die Wendung auf sich zurück und damit der Entwurf eines für das Selbstverständnis des Dichters gleichermaßen fundierenden wie umgreifenden Kosmos. An die Stelle einer biographischen Lektüre von Horaz carm. 2,9 setzt Niklas Holzberg (München) eine gattungsbezogene Rekonstruktion des Elegikers Valgius Rufus, mit dessen Maske eine poetologisch skizzierte persona des Horaz in poetologischen Dialog über die Bedingungen epischer Produktion tritt (»A Sensitive, Even Weak and Feeble Disposition? C. Valgius Rufus and his Elegiac Ego«). Eine zentrale Rolle spielt in diesen Brechungen des poetischen Selbstverständnisses die ironisch-ambivalente Nutzung des recusatio-Motivs, mit dem sich die Dichter vorgeblichen Aufforderungen des Herrschers Augustus entziehen, seine Taten zu besingen. Das komplexe Spiel des Horaz mit den Elementen der elegischen Selbstkonstruktion des Valgius, der sich vielleicht intensiv auf die Weigerung und sein gattungsimmanentes Ich bezieht, nutzt Holzberg für eine Neubestimmung der erhaltenen Fragmente. Ovids Erzählung von der Vergewaltigung der Procne durch ihren Schwager und die Rache der Schwestern entfaltet Andrew Feldherr (Princeton) in seinem
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Sektion 1: Poetische Selbstkonzeptionen
Beitrag »Intus habes quem poscis: Theatricality and the Borders of the Self in Ovid’s Tereus Narrative« anhand der Auseinandersetzung des Textes mit den Möglichkeiten des Sehens im Theater und der Frage, welche Identitäten und Rollen Publikum, Leser und Akteure annehmen, um ihr Selbstverständnis zu konstitutieren. Das gesamte Erzählwerk der Metamorphosen gründet auf den Möglichkeiten einer literarischen Verhandlung mit den Fragen nach dem Selbst. Die Spannung zwischen einer theatralisch-dramatischen Struktur der Erzählung einerseits, einer theatralisch nicht darstellbaren Metamorphose als Abschluß andererseits nutzt Ovid, um die Haltbarkeit von Selbstzuschreibungen durch eine beständige Kontamination der Identitäten der handelnden Figuren zu unterlaufen und die fixe Organisation des Selbst mithilfe von Dichotomien wie barbarisch/römisch oder männlich/ weiblich aufzulösen. Differenzen zwischen griechischem und römischem Theaterverständnis erlauben eine Transposition der Identitätskonstitutionen auf die Zuschauer, und in der Überblendung der imaginären mit realen Bildern, die die Selbstverständnisse von Figuren und Zuschauern ausmachen, entsteht ein komplexes Gefüge widerstrebender Identitäts- und Rollenkonstrukte. Alexander Arweiler untersucht in seinem Beitrag Identity, identification, and personae in Catull. 63 and other Roman texts Möglichkeiten und Grenzen einiger literarischer Begriffe von personaler Identität. Akte der Identifikation erlauben einen gesicherten Zugang zu poetischen Identitätsmodellen, wie am Beispiel von Catullus 63 erläutert und im Hinblick auf die spezifische Bedeutung von Vorbildtexten für die poetische Identität beschrieben wird. Catull und Ovid in der Exildichtung benutzen für die Analyse verlorener Identitäten die Kulturentstehungslehre des Lucrez als Kontrastmodell und lassen sich als Beispiele narrativer Identitätskonstruktion beschreiben. Da Kategorien wie Authentizität, Wahrhaftigkeit und Verlässlichkeit in der literarischen Analyse von Sprecheridentitäten (personae) eine wichtige Rolle spielen, wird deren doppelte Bedeutung als Thema literarischer Identifikation und als heuristische Erwartung von Lesern untersucht.
Subjekt riskiert (sich) Catull, carmen 8 Melanie Möller (Heidelberg) Theory allows ancient texts to speak to and potentially transform modern life 1.
Miser Catulle, desinas ineptire – der Eingangsvers eines der berühmtesten Gedichte Catulls hat maßgeblich zu seiner Vereinnahmung durch biographistisch-empathische Deutungstradition beigetragen. So konnte carmen 8 als Dokument der Enttäuschung eines unglücklich verliebten Dichters mißverstanden werden. Doch ist die Verzweiflung bloße Attitüde: Das Gedicht bietet nicht weniger als die poetische Entfaltung eines selbstreflexiven Subjekts, das in seiner Selbstzuwendung und Erkenntnisfähigkeit modern, in seiner von äußeren Gegebenheiten bewirkten Emanzipations- und Handlungsunfähigkeit beinahe postmodern anmutet. Unter welchen Bedingungen aber kann ein antikes Selbst (post)moderne Züge tragen? Längst haben wir uns gewöhnt, dem historischen Dogma Folge zu leisten, wonach anachronistische Applikationen von Vorstellungen und Begrifflichkeiten auf antike Texte einem unhintergehbaren Vorbehalt unterworfen sind. Vorsicht scheint besonders im Falle des Subjekts geboten: Trotz zahlreicher Studien, die bei aller historisch-methodischen Zurückhaltung zu vielversprechenden Ergebnissen gekommen sind 2, ist die Zahl derer groß, die es für unmöglich halten, »an vormoderne Formen des Umgangs mit sich selbst, […], anzuknüpfen« 3. Während antike (und daran anschließende) Modelle der Selbsteinschätzung an ein Allgemein-Menschliches gekoppelt blieben, sei die Suche nach dem davon unabhängigen Wesen des (einzelnen) Menschen zur »uneinholbaren Leitfrage der Moderne«
1 Miller (2002), 425. 2 Erwähnt seien hier nur Schmitt (1990 u. 2002); Oehler (1997); Fetz et al. (1998); v. Moos
(2004); Gill (2006). 3 So der Befund Peter Bürgers ([1998]: 16) in Auseinandersetzung mit Michel Foucaults (1983–
89) Konzept der antiken cura sui.
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geworden4; sowohl das als ontologisches Substrat (hypokeimenon) zu fassende Subjekt der antiken Philosophie als auch das sozial determinierte der rhetorischpolitischen Lebensöffentlichkeit scheint dem erkenntnistheoretischen Subjekt der Moderne und seinen ›zersetzten‹ Nachfolgern nur sehr eingeschränkt verglichen werden zu können. Erfolgversprechender scheint demnach die Abkehr von philosophischen Axiomen und soziologischen Dispositionen. Bei der Suche nach ›Verhandlungen mit dem Ich‹ rückt alsbald die Poesie ins Blickfeld, allem voran die Lyrik als am stärksten auf Innerlichkeit und Subjektivität zielende Gattung, insofern alle Perspektiven in ein lyrisches Ich hineinverlagert sind und dieses keinen Gegenstand außer sich selbst zuläßt. Wer aber seinen auf Subjektkonzepte konzentrierten Blick bis in die Antike zurückgelenkt hatte, mußte sich immer wieder von gattungstheoretischen und gesellschaftlich bedingten Obliegenheiten, die antike lyrische Formen im Gegensatz zu modernen wesentlich bestimmt haben sollen, in die Schranken weisen lassen. Gleichwohl scheinen hier nach wie vor geeignete Möglichkeiten für eine Annäherung zu liegen – über neueren Subjekt- und Subjektivitätskonzepten vergleichbare Vorstellungen, die mit modernen Begriffen insoweit beschreibbar sind, als sie den für alle Theorie der Genese des Erkenntnissubjektes entscheidenden subjektiven Blickpunkt der Perspektive nicht nur textuell entfaltet, sondern auch auf der Grundlage philosophischer und psychologischer Implikationen problematisiert haben5. Subjektivität bedeutet zunächst einmal »Autoreflexivität des Vorstellens« und erfaßt das Verhältnis eines Erkennenden zu sich selbst – ein Kriterium, dessen Berechtigung auch von modernen Subjektkritikern kaum je bestritten worden ist 6. Für alle Subjektkonzepte bleibt das Selbstbewußtsein konstitutiver Bestandteil: »Akte des Selbstbewußtseins bestehen typischerweise in einer sich selbst durchsichtigen, reflexiven Bezugnahme eines Individuums auf die eigenen mentalen, dispositionellen und körperlichen Eigenschaften oder Zustände« 7. Postmoderne Vorbehalte knüpfen sich bekanntlich eher an die idealistische Vorstellung eines autonomen oder auch nur einheitlichen Ichs; unter diesem autonomistischen Gesichtspunkt ist das moderne Subjekt für viele längst genauso ›tot‹, wie das antike angeblich immer schon gewesen ist. An die Stelle eines unabhängigen ›Ich‹ ist eines getreten, das mehrere, durchaus nicht immer interagierende ›Selbsts‹ umfaßt; es weiß sich wesentlich von ›Verfremdungen‹, Unbewußtem und dergleichen bestimmt und hat seine Selbstgewißheit verloren.
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Geyer (1997), 263. Zur Geschichte dieses subjektiven Blickpunkts vgl. Fetz (1998), 33. Vgl. dazu Frank (1988), 7ff. (Zitat: ebd., 7). Pauen (2000), 106.
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Die Vorstellung von einem Subjekt, das sich im Spannungsfeld von Selbstbewußtsein und Abhängigkeit bewegt, liegt, so meine These, auch Catulls carmen 8 zugrunde 8 – das damit verknüpfte Autonomieproblem in philosophisch-soziologischer und dichtungstheoretischer Perspektive bestimmt sogar Form und Thema des Gedichts. Das im Text verhandelte Selbst durchlebt Phasen, die der Entwicklung des modernen Subjekts seit seiner vermeintlichen Entdeckung durchaus vergleichbar sind; so gerät schon der Catull aus c. 8 in ein sprachliches Dilemma, das doch erst der Postmoderne zum Problem geworden sein soll. Wenn die »Moderne immer schon mit ihrer eigenen Postmoderne durchsetzt« ist 9, könnte auch Catulls Subjekt ein modernetaugliches Konglomerat sein.
Perspektiven. Selbst(zer)gliederungen Betrachtet man c. 8 als ganzes, so fällt bezeichnenderweise zunächst die Spaltung des im Gedicht begegnenden Selbst mit Namen Catull auf, die Hans Peter Syndikus folgendermaßen beschreibt: »Aus dem traditionellen Widerstreit zweier Haltungen im Menschen ist bei Catull eine noch kompliziertere, verwirrendere Gefühlsmischung geworden« 10. Ausdruck dieser Verwirrung ist aus erzähltheoretischer Perspektive der Wechsel der Personen, dessen der Sprecher sich bei seiner subjektiven Fallbeschreibung bedient: 1
Miser Catulle, desinas ineptire, et quod vides perisse, perditum ducas. fulsere quondam candidi tibi soles, cum ventitabas quo puella ducebat
8 Die in dieser Hinsicht exzeptionelle Bedeutung von c. 8 erkennt auch Johnson (1982),
122; jedoch behandelt er das Gedicht nur als Komplement des ihm für die Subjektfrage bedeutender erscheinenden c. 76: So bleibe in c. 8 noch implizit, was in c. 76 sichtbar gemacht werden soll: »a disease that has devoured the personality« (ebd.). Ähnlich vorläufig formulierte Überlegungen finden sich bei Tschiedel (1998), 268, insoweit dieser die Funktion einer Dichtung, wie wir sie in c. 8 vor uns sehen, in der »ständige[n] Selbstvergewisserung« des Dichters sieht. – Am weitesten in Richtung der hier vorgeschlagenen Interpretation geht indes die Analyse Fitzgeralds (1995), 120ff., der c. 8 als Schwellensituation deutet; dabei orientiert sich Fitzgerald an Benedetto Croces (1941), 68 Konzept einer inszenierten »naïveté«, das dieser in Catulls Dichtung grundsätzlich am Werke sieht. 9 Geyer (1997), 11. – Einen explizit postmodernen Interpretationsansatz in bezug auf Catulls Lyrik wählt Wray (2001), 37: »[…], I may as well here explicitly characterize my project as an attempt to approach a premodern and preromantic Catullus by reading a postmodern Catullus«. 10 Syndikus (1984), 111. – Als Vorbilder kat+ ‚xoq†n für innere Auseinandersetzungen gelten die tragischen Figuren des Euripides; seit dem Hellenismus gehört das Motiv des innerlich zerrissenen Menschen zum festen Repertoire auch der Liebesdichtung.
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amata nobis quantum amabitur nulla. ibi illa multa cum iocosa fiebant, quae tu volebas nec puella nolebat, fulsere vere candidi tibi soles. nunc iam illa non volt: tu quoque inpote〈ns noli〉, nec quae fugit sectare, nec miser vive, sed obstinata mente perfer, obdura. vale, puella. iam Catullus obdurat, nec te requiret nec rogabit invitam. at tu dolebis, cum rogaberis nulla. scelesta, vae te, quae tibi manet vita? quis nunc te adibit? cui videberis bella? quem nunc amabis? cuius esse diceris? quem basiabis? cui labella mordebis? at tu, Catulle, destinatus obdura 11.
Die beiden Stimmen oder personae, die im Gedicht zunächst zu vernehmen sind, dramatisieren in einer Art innerem Monolog – oder verschobenem Dialog – den Versuch, den drohenden Verlust der Selbstkontrolle abzuwenden12: Die eine Stimme repräsentiert den irrationalen Liebhaber, dem mangelnde Willensstärke zum Problem zu werden scheint13, die andere den rationalen Vermittler in diesem Konflikt zwischen Verstand und Gefühl; diese Disposition mag dualistische antike Subjektkonzepte und deren literarische Adaptionen vor allem aus dem Bereich der Tragödie und der hellenistischen Dichtung variieren. Der Liebhaber wird in v. 1–11 und im letzten Vers (19) in der zweiten Person angesprochen und mit den zugehörigen Personalpronomina belegt; er trägt den Namen »Catull«. Die Selbstanreden14 wechseln hier vom moderaten Jussiv (v. 1–2) in nachdrücklichere 11 Zitiert nach Mynors’ Oxoniensis (1958). 12 Als drohender Selbstverlust ist auch der Freundschaftsentzug durch Alfenus in c. 30 insze-
niert; besonders dramatisch verfahren in dieser Hinsicht allerdings c. 72 und c. 76. In c. 76 etwa sieht Greene (1995), 91 Catull, den Liebhaber und den Dichter, mit seiner eigenen Stimmenvielfalt konfrontiert, zu deren Beschreibung, nicht aber Überwindung er in der Lage sei; ähnliche Schlüsse zieht sie, wenig zutreffend, aus c. 8. 13 Eine ähnliche Situation skizziert Properz in Elegie 2,5. – Es kann schwerlich bestritten werden, daß es sich bei diesem Konflikt um ein hellenistisches Motiv handelt (vgl. dazu z.B. Syndikus [1984], 104ff.). Godwins Kommentar (1999), 123 geht über die bloße Feststellung hinaus: »[…] far more important is the issue of how the narrator […] distances himself both from the puella and also from his persona as lover-poet«. 14 Richten sich Selbstanreden in den homerischen Epen vornehmlich an die verschiedenen geistig-seelischen Teile (kard–h, jumÏc etc.; vgl. dazu Snell [1986]), so gewinnen in der Tragödie Anreden an den eigenen Namen die Oberhand (verstärkt seit Euripides, vgl. z.B. Medea 400ff.). Hernach avancieren die namentlichen Selbstanreden zu einem typischen Verfahren auch der Komödie (etwa im sermo meretricius) und der Lyrik (z.B. Theokrit 11,72); in späterer Lyrik dienen die an der (v.a. neuen) Komödie orientierten Selbstanreden
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Imperative (v. 9–11 u. 19). Eine Ausnahmestellung nimmt das Liebhaber und Vermittler synthetisierende nobis in v. 5 ein, das an die Stelle eines eindimensionalen tibi oder mihi getreten ist15. Der vernunftbemühte Sprecher differenziert im Übergang von v. 11 zu v. 12/13, dem Kernstück des Gedichts, eine dritte Person gegen die zweite aus; obwohl diese dritte Person denselben Namen trägt, wirkt der Wechsel objektivierend16. Man darf wohl von einer internen Fokalisierung sprechen, da der Sprecher, insoweit er auch Erzähler ist, über den gleichen Wissensstand zu verfügen scheint wie der Liebhaber. Während also das Du durch die dritte Person neutralisiert wird, bleibt das Ich verschwunden: Eine erste Person Singular kommt im ganzen Gedicht nicht vor. Die namenlose puella wird zwar angesprochen und als Auslöserin des Konflikts vorgeführt, ist aber als Referent(in) persönlich abwesend17; in umgekehrter Analogie zum Liebhaber werden ihr in v. 1–11 (bzw. 9) die dritte Person und die entsprechenden Pronomina zugewiesen, ab v. 12 bis zum Ende aber kann sie dem direkten Zugriff auf ihr Du nicht mehr entgehen: Nun wird sie nur noch mit der zweiten Person assoziiert. Im letzten Vers verfällt der Sprecher auf eine abschließende Selbstanrede zurück. Dieser Sprecher nimmt von außen Sicht auf sich selbst; die versifizierte Spaltung im Inneren beschreibt ein Spannungsverhältnis von Innen (Befindlichkeit des Selbst) und Außen (gegebene Umstände). Die Möglichkeit der Erkenntnis dieser Spannung und ihrer Zuschreibung bleibt zunächst an die Ausdifferenzierung der Perspektiven (2. gegen 3. Person) gebunden: Beide stehen in einem korrelativen Verhältnis, das sich in der »negative[n] Bezugnahme« der einen auf die andere Perspektive manifestiert 18; so nivellieren sie die Absolutheit des Ich, das im Gedicht in logischer Konsequenz nicht genannt wird. Ellen Greene hat zwar die Personen- und Stimmenwechsel in Catulls Gedichten als Resultat einer (schmerzvollen)
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nicht selten als Verfremdungsfolie (z.B. im Paraklausithyron). – Zu weiteren Selbstanreden bei Catull s. bes. c. 51,13; c. 52; c. 76; c. 79. Kroll (1989), 17 empfindet dies als »Entgleisung« und verweist auf den ähnlichen ›Mißgriff‹ in Prop. 2,8,17. Vgl. Syndikus (1984), 109. Diese Diagnose orientiert sich an der Terminologie des Liebesdiskurses, wie sie Roland Barthes (1988) entworfen hat: »[…] das immer gegenwärtige ich konstituiert sich nur angesichts eines unaufhörlich abwesenden du. Die Abwesenheit aussprechen heißt von vornherein die Behauptung aufstellen, daß der Platz des Subjekts und der Platz des Anderen nicht austauschbar sind; […]« (27; Mark. v. R.B:); »[…] der Andere ist abwesend als Bezugsperson, anwesend als Angesprochener. Aus dieser eigentümlichen Verzerrung erwächst eine Art unerträgliches Präsens; ich bin zwischen zwei Zeitformen eingekeilt, die der Referenz und die der Anrede: du bist fort (und darüber klage ich), du bist da (weil ich mich an dich wende). Ich weiß also, was das Präsens, diese schwierige Zeitform, ist: ein unverfälschtes Stück Angst« (29f.). Vgl. dazu Williams (1968), 461, Greene (1995), 81 sowie Syndikus (1984), 106. Pauen (2000), 111.
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Selbstspaltung gedeutet, die Überzeugungsstrategie des Sprechers im Hinblick auf das Du jedoch lediglich auf die übermäßige Leidenschaft bezogen; leidender Liebhaber und Sprecher fielen als Resultat erotischer (Selbst)Fragmentierung in verschiedene Stimmen auseinander 19. Vor einer vertiefenden Analyse dieser Selbstspaltungen bedarf jedoch ein Merkmal von Subjektivität genauerer Betrachtung, das ihre antike und (nach)moderne Ausformung in besonderer Weise zu affiliieren scheint: Subjektivität hat, wie gesehen, die Unterscheidungsfähigkeit zwischen »innen und außen oder von Eigenem und Fremdem« zur Voraussetzung 20. Einer modernen Definition zufolge müssen »mentale[n] Zustände als eigene Zustände erkannt werden«, und zwar sowohl synchron (im Moment des Erleidens) als auch diachron (auch in Zukunft vergangene Zustände müssen als die eigenen angenommen werden): Diese – auch mit Intuition operierende – »[Re]Identifikation[en] eigener Zustände« hatten Franz Brentano und andere bei der Feststellung der »Unkorrigierbarkeit von Selbstzuschreibungen« im Sinn 21. Eine Eigenschaft schreibt das moderne Subjekt sich zu, wenn es sie bei sich im Vergleich mit anderen als besonders ausgeprägt erfährt; überhaupt bemerkt – in soziologischer Zuspitzung – der einzelne zuerst durch »die Reaktion des sozialen Gegenübers auf sein Handeln«, was er ist22. In c. 8 nun lassen sich derartige Selbstzuschreibungen vom Sprecher an das angeredete Du fixieren, und die Referenz auf die nunmehr vergangenen Glücksmomente mit der puella setzt soziale Reaktion – nämlich ihre – voraus; das andere oder Fremde – hier die puella – fungiert dabei auch als Spiegel der Gefühlswelt des verhandelten Selbst23. Die Unterscheidungsfähigkeit des Selbst schließt die Dialektik von Selbst- und Fremdbestimmtheit respektive Identität und Alterität mit ein; diese besagt, daß das eine Subjekt im anderen entweder das ihm selbst Ähnliche suche oder das andere zweckdienlich mache, um sich darin gespiegelt wiederfinden zu können. Dieser Gedanke wiederum beruht auf einem Narzißmus-Konzept, wie es in der Neuzeit besonders deutlich in La Rochefoucaulds amour-propre greifbar wird24. Doch bereits Catulls (und z. B. Sapphos) Liebesdichtung ist davon bestimmt – das zeigt sich nicht nur an c. 8, sondern etwa auch am unermeßlichen Ausschöpfen des anderen in c. 7 oder an der anspruchsvollen Sehnsucht nach Überzeitlichkeit in 19 Greene (1995), 78 u. 80f. in Auseinandersetzung mit Adler (1981). 20 Pauen (2000), 106. 21 Alle Zitate und Erläuterungen aus Pauen (2000), 106f. u. 109 (Kursivierungen von M.P.).
Franz Brentano entwickelt seine Theorie zum Wesen der Selbstzuschreibungen und inneren Akte im Rahmen der Psychologie vom empirischen Standpunkt (Bd. 1, 1924); vgl. bes. 195ff. 22 Dies die Position George Herbert Meads in der Wiedergabe Alois Hahns (1980), 79ff.; vgl. dazu von Moos (2004), 3f. 23 Vgl. dazu Geyer (1997), 69. 24 Vgl. ebd.
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c. 109 25. Die personalen Wechselspiele und die vigilante Präsenz der 3. Person in c. 8 problematisieren einen Verlust des Selbst an das ›andere‹ – die puella; wollte man die psychoanalytisch gewendeten, an Jacques Lacan anknüpfenden Analyseergebnisse Paul Allan Millers weiterführen 26, so könnten wir bei Catull vielleicht sogar eine je-est-un-autre-Transformation des Subjekts fassen, insoweit das ›eigene‹ Begehren zu einem Begehren des Begehrens des anderen wird.
Interpretation: Negative Arbeit am Subjekt Wilhelm Kroll erschien der Aufbau des 8. Gedichtes wenig komplex, da es in seiner Stimmungsgeladenheit »kaum irgendwo poetische Mittel« verwende; Kevin Newman vergleicht es auch wegen seiner eher schlichten (Alltags-)Sprache mit einer »Reportage« 27. Richard Thomas beobachtet an c. 8, wie emotionale Erregung zur Kunst, mithin Künstlichkeit gerinnt 28; die formale Transparenz steht im Dienste der mehrdimensionalen Entfaltung des poetisch transformierten Subjekts. Im Hinblick auf die Sprachebene erinnert c. 8 an einen dramatischen Monolog der Neuen (attischen) Komödie 29. Der auffällig appellative Ton des Gedichts wird durch den harten, hinkjambischen Rhythmus und das Fehlen von enjambements gestützt 30. Schon hierin wird die Dramaturgie des Emanzipationsprozesses greifbar. Dessen Vermittlung gelingt auch über den zeitlich-perspektivischen Aufbau: In den Termini der Diskursanalyse gesprochen, ist das im Gedicht geschilderte Subjekt als Kristallisationspunkt aus vergangenen Entwicklungen, gegenwärtigen Empfindungen und zukünftigen Visionen konzipiert 31; so plausibilisiert es zunächst die
25 In c. 7 wird die Zahl der von der Geliebten geforderten Küsse mit dem sprichwörtlichen
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libyschen Wüstensand ad absurdum geführt, in c. 109 imaginiert der Sprecher ein aeternum foedus (v. 6). Miller (2002). Zur Separation zwischen Dichter und persona und ihrer unterschiedlichen psychologischen Zuschreibbarkeit vgl. auch Sarkissian (1983). Weder Miller noch Sarkissian erwägen allerdings explizit die Affinität zum Konzept des »je est un autre«. Kroll (1989), 16 und Newman (1990), 158: »Everything in 8 seems like simple reportage«. Thomas (1984), 316: »It is quite simply that a poem, if it is to endure, will be a work of art, not an emotional outburst. […] We may detect emotion behind it, and we may weep when we read it; if so, that will merely be additional testimony to the poem’s artistry«. Die literarischen Vorbilder für Selbstermahnungen sind zahlreich; Anklänge an Menander sind im einzelnen herausgearbeitet von Thomas (1984), 325ff.: Dort wird auch auf die ähnliche Gestaltung der Selbstermahnung des Greises Demeas in der Samia hingewiesen (v. 311). – Zu inhaltlichen Parallelen zwischen c. 8 und der Komödie vgl. o. Anm. 14. Vers 2 weist in für den Hinkjambus ungewöhlicher Manier die Zäsur im 4. statt im 3. Fuß auf; vgl. dazu Kroll (1989), 17. Nach Geyer (1997), 7f.
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»Unkorrigierbarkeit von Selbstzuschreibungen« 32. Entsprechend läßt sich c. 8 nach drei Zeitstufen gliedern: Die Eintracht mit der fingierten Geliebten wird der Vergangenheit zugeordnet; neben die zeitliche tritt hier eine ausgeprägte lokale Deixis (quo, v. 4; ibi, v. 6). Gegenwart und Zukunft sind von Zwietracht gekennzeichnet. In v. 1–2 fassen wir eine Bestandsaufnahme, die – in der Spache Gérard Genettes – auch proleptische Funktion erfüllt (Gegenwart: Was ist?); in v. 3–8 wird eine analeptisch angelegte Retrospektive entwickelt (Vergangenheit: Was war?). Der nochmaligen Referenz auf die aktuelle Situation in v. 9–12 (Gegenwart: Was ist? / Was soll sein?) folgt in v. 13–18 schließlich eine bedrohlich gewendete Vision (Zukunft: Was wird sein?). Im abschließenden v. 19 ruft der Sprecher den gedichtimmanenten Catull wieder in die Gegenwart zurück. Das Gedicht fällt mit der Tür ins Haus und zieht den Leser distanzlos in die dramatische Befindlichkeit des gespaltenen Catull hinein: Das exponierte miser beschreibt sprachlich-rational ein von emotionalem Unglück bestimmtes Selbstverhältnis 33; es ist dem Anruf Catulle beigestellt, der Objekt und Subjekt der Handlung ineins zu setzen scheint. In ineptire, als Verbform von Catull nur hier verwendet, scheint deutlich die Aussichtslosigkeit allen weiteren Verharrens im gegenwärtigen Zustand auf. Das Bedeutungsspektrum des auf apere (bzw. intensiviert aptare) zurückgehenden Begriffs erfaßt in seiner soziorhetorischen Vielfalt am besten Catulls Zeitgenosse Cicero (De orat. 2, 17) 34: quem enim nos ineptum vocamus, is mihi videtur ab hoc nomen habere ductum, quod non sit aptus, idque in sermonis nostri consuetudine perlate patet; nam qui aut tempus quid postulet non videt aut plura loquitur aut se ostentat aut eorum, quibuscum est, vel dignitatis vel commodi rationem non habet aut denique in aliquo genere aut inconcinnus aut multus est, is ineptus esse dicitur.
Die Inkonvenienz kann sich also auf verschiedene soziologisch relevante Facetten beziehen, so auf Unzeitigkeit, Ungelegenheit, Unvernunft, Geschmacklosigkeit, Geschwätzigkeit etc. Doch scheint der gesellschaftliche Aspekt bei Catull sublimiert: Der Begriff wird zum Ausgangspunkt des versifizierten Selbstfindungsprozesses. Desinere und perire (bzw. perdere) bringen gleichermaßen den avisierten Abschluß der Vergangenheit zum Ausdruck, doch der Jussiv in desinas erscheint weniger verbindlich als das Resultativperfekt perisse, das die Einbindung der Vergangenheit vorbereitet. Die Reaktion bleibt der von der puella geschaffenen Tatsache 32 Vgl. o. Anm. 21. 33 Arkins (1999), 29 interpretiert diese Selbstapostrophierung als »romantic irony«. 34 Als negatives Pendant zum aptum sind ineptiae zunächst in der Komödie beliebt (die Verb-
form ineptire ist allerdings nicht häufig und zuerst bei Terenz belegt: Phorm. 420; Ad. 934). Zur substantiellen Bedeutung von ineptire in c. 8 vgl. auch Fitzgerald (1995), 122 mit den dort zitierten Ausführungen B. Croces zur in ineptire aufscheinenden Naivität als »systematic prevention of […] self-consciousness«.
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schon durch zeitliche Verzögerung unterworfen. Das negative Resultat (perisse) ist wiederum an eine indikativische Wahrnehmung gebunden (vides, v. 2); definitives Ende und Eindeutigkeit der Einschätzung werden noch im selben Vers suspendiert: perditum ducas verbindet das faktisch Gegebene mit einer impliziten Widerspruchshaltung, Sein und Sollen fallen auseinander. Nach dieser Bestandsaufnahme richtet sich der Blick des betrachtenden Subjekts in die Vergangenheit: Die candidi soles (v. 3 u. 8) umklammern ringkompositorisch die erzählte Vergangenheit, die sich durch quondam zugleich als abgeschlossen, zugleich als märchenhaft-idealisiert zu erkennen gibt. Die Subjektivität der Wahrnehmung wird durch das dativische tibi unmißverständlich: Es handelt sich um den Eindruck des sprecherabhängigen Du, derjenige der puella scheint irrelevant. So sind die in weite Ferne gerückten (illa … tum) iocosa (v. 6) auch ›nur‹ »geschehen« (fiebant), nicht etwa in beidseitigem Glücksgefühl aktiv genossen worden. In seiner die puella schon hier nur peripher einschließenden Schilderung beschreibt der Sprecher einen Zustand der Hörigkeit ihr gegenüber, der durch die im intensiven ventitabat greifbare Dauer und die Unbestimmtheit des Zielpunktes veranschaulicht wird: Er ist ihr wahl- und willenlos überallhin gefolgt (quo = quocumque). ducebat (v. 4; vgl. auch sectare, v. 10) expliziert indes die Rollenverteilung. Damit wird ein in anderen Gedichten noch nachdrücklicher formuliertes Herrschaftsverhältnis angedeutet, wie es für die Elegie charakteristisch werden wird35. In der in c. 8 evozierten Vergangenheit scheint die puella ›Catull‹ als subiectum überhaupt erst konstituiert zu haben: Emanzipationsversuche waren (noch) kein Thema. Eine Verkehrung der Situation zeichnet sich schon in v. 5 ab: Das emphatische, aus weiteren Gedichten bekannte quantum amabitur nulla 36 behauptet einzigartige (Liebes-)Intensität, die sich auf die puella als Objekt der Begierde, aber auch auf den Liebhaber und seinen hinter dem nobis hervorschei-
35 Für Catulls 11. Gedicht hat Miller (2004) nachgewiesen, daß es mit einer imaginativen Iden-
tität im Sinne Lacans bzw. Foucaults operiert (429f.): Catull hängt von der Beziehung zu Lesbia, symbolisch von Rollen, Gesetzen, Codes, etc. ab; Lesbia herrscht über Catull, Caesar über die Welt usw. Dieses Macht- und Herrschaftsverhältnis, ja die Selbsteinschätzung des ego überhaupt werde in c. 11 einer gründlichen Revision unterzogen; Catull konstituiere eine Subjekt-Position mit Hilfe der Dissoziation zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen. Dieser Interpretation Millers liegt Lacans Theorie zugrunde, nach der der Mensch mit Eintritt in die symbolische Ordnung der Sprache zum sozialen Subjekt wird – dann erst sei eine solche symbolische Identität überhaupt möglich (vgl. ebd., 32). Im Wechselspiel der Subjekt-Positionen zwischen Catull und Lesbia harmonierten die Kategorien des normativen Subjekts und der personalen Identität nicht mehr; es komme zu einer Alternation zwischen Gender- und Subjektpositionen (vgl. ebd., 48). 36 Vgl. z.B. c. 5; c. 37; c. 87.
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nenden Agenten bezieht37. Die futurische Form greift der zweiten Gedichthälfte vor und suggeriert ewige Dauer. In v. 8, der den ›Vergangenheitsbericht‹ beschließt und den diesen Abschnitt einleitenden Vers 3 variiert, ist quondam durch vere ersetzt, das hier zum einen als Bekräftigung zu verstehen ist, zum anderen eine Wertung impliziert: Der ganze Vers bezieht sich wieder nur auf tibi, also den eingangs apostrophierten Catull, wobei das Gedächtnis des Sprechers als Zeuge des erinnernden Subjekts fungiert; auf vergleichbare Weise referiert der Sprecher in c. 76 auf eine durch die memoria vermittelte Vergangenheit38. Man könnte meinen, daß Catull die Subjektivität zur Wahrheit werden läßt39. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, daß wir in c. 8 überhaupt nichts über etwaige Gründe für den Sinneswandel der puella erfahren, wie es in manch anderem Gedicht der Fall ist; man darf daraus auf ihre Bedeutungslosigkeit schließen. Ab Vers 9 kehrt der Blick mit einem nüchtern anmutenden nunc 40 abrupt in die Gegenwart zurück, und wie im Gedichteingang wechselt der Tonfall auf die Ebene negativer Prädikationen: Postmodern gesprochen, ist auch Catulls Arbeit am Subjekt negativ, insoweit sie primär im »Abbau von Selbsttäuschungen« (Lacan) besteht41. Dieser Abbau von Selbsttäuschungen wird im folgenden poetisch konkretisiert, da nec in v. 10–13 zur Leitvokabel avanciert; er kulminiert in dem reziprok auf beide fingierten Liebespartner bezogenen Wortspiel von velle und nolle (je v. 7, 9) 42: Eintracht und Zwietracht erscheinen als einander bedingende Willensakte, wobei das velle auf seiten des Liebenden der Litotes im nec […] nolle der puella zunächst einen eigentümlich passivischen oder indifferenten Aspekt beilegt; dieser wird durch das schlichte wie eindeutige non volt (v. 9) postwendend aufgehoben 43.
37 Die Einzigartigkeit der Liebe wird auch in anderen Gedichten fokussiert, so z.B. in c. 37; c. 51;
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c. 87; c. 107. – Diese Exzeptionalität hängt an einer nach außen gerichteten Orientierungsfähigkeit, mithin an einer »Anthropologie der Selbstüberschreitung« im Sinne Rousseaus (vgl. dazu Geyer [1997], 269). Auch in c. 76 steht am Beginn eine Referenz auf die Vergangenheit (v. 1: priora), die durch die memoria (recordari) vermittelt wird. Die Gleichsetzung von Subjektivität und Wahrheit vollzieht Kierkegaard in kritischer Auseinandersetzung mit Hegel: Vgl. dazu Hagenbüchle (1998), 51. – Eine ähnliche Verbindung von Subjektivität und Wahrheit zeigt sich in c. 11, bes. v. 17–20. Vergleichbar der Übergang von quondam (v. 1) zu nunc (v. 5) in c. 72. Vgl. dazu Bürger (1998), 11. Vgl. das resultative invitam in v. 13. Es kann freilich nicht ausgeschlossen werden, daß einige der hier verwendeten Verben – neben velle und nolle ist auch an rogare (v. 14) zu denken – nebenbei eine sexuelle Botschaft transportieren (vgl. dazu Syndikus [1984], 109 mit Anm. 29 und Holzberg [2003], 89f.); dieser hübsche Nebeneffekt beeinträchtigt allerdings die selbstreflexive Substanz des Gedichts überhaupt nicht.
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Der Bruch mit der scheinbar beseligenden Vergangenheit wird einer Bewältigungsstrategie zugeführt, die Gefühl und Verstand verbindet: Was sich schon am ambivalenten Gebrauch von ducere gezeigt hatte (in v. 2 als Aufforderung zur Reflexion, in v. 4 als Indikator blinden Nachfolgens), wird in obstinata mente perfer fortgeführt44. Die Dramatik des Konflikts kommt auch in der Steigerung von der passiven Duldung (perfer) zu emotionaler Härte zum Ausdruck (in doppelter, sich vielleicht gegenseitig nivellierender Opposition: obstinata […] obdura – beides indes auch hapax legomena im corpus Catullianum); den Höhepunkt der Dramatik stellt die Selbstapostrophierung als impotens dar 45 – doch wird diese Ohnmacht im Moment ihrer Versprachlichung selbstreflexiv überwunden. Der Imperativ noli (in V von Avantius ergänzt) unterstriche indes, daß ein Nicht-Wollen auch zum Telos werden kann. Das geschilderte Subjekt scheint so wenigstens theoretisch in der Lage zu sein, sich von seinen eigenen Gefühlen zu befreien. In c. 8 scheint als Lösung im Beieinander von obstinata, mente und obdura kontrollierte Emotionalität als mögliches Regulativ auf 46. Der Wille des im Gedicht verhandelten Subjekts, vorgeführt als praktische Vernunft der ›Leidensfreiheit‹, ist von seiner emotionalen Fundierung nicht zu trennen 47. Auch hier kreist die Selbstfindung um eine Aussöhnung von Trieb und Vernunft. Bei Catull erscheint das Widersprüchliche als wesentlicher Teil der Imagination48. Auf dieser Ebene geht der Konflikt einstweilen siegreich zugunsten der Vernunft aus, nimmt man das iam obdurat in v. 12 ernst: Der Wechsel in die Perspektive der 3. Person wirkt dabei, wie gesehen, deskriptiv-objektivierend, das iam des Dichters (v. 12) holt das iam der puella (v. 9) ein und überwältigt sie dadurch auch in der kurzen Spanne des Augenblicks: Nicht einmal den Triumph eines kleinen Gegenwartssieges gesteht er ihr zu. Für den gegenwärtigen Augenblick ist – Hegel das Wort zu reden – die »objektive Welt« 44 Zum Spannungsverhältnis von Gefühl und Verstand vgl. bes. die Gedichte 85 und 76: In
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beiden wird innere Satisfaktion gegen Reflexion ausgepielt (85: nescio – sentire, v. 2; 76: voluptas – cogitare, v. 1f.); auch Selbstquälerei und Standhaftigkeit werden dort verhandelt (85,2 und 76,10f.). In c. 76 tritt jedoch der Wille der Götter (v. 12) als äußere Instanz auf den Plan: Eine solche Externalisierung unterbleibt in c. 8, ebenso die z.B. in c. 76 aus dramaturgischen Gründen einbezogene Todesfokussierung. Bei impotens handelt es sich um eine Korrektur aus dem codex R; der Veronensis bietet das sinnlose inpote (in X zu impote assimiliert). Greene (1995), 83 deutet obdurare als Formel des geschlechtsspezifischen Subdiskurses im Gedicht: Der in ›weiblicher‹ Weise leidende »Catull« rufe sich zu ›männlicher‹ Härte zurück. – Zu Descartes und der Möglichkeit der Befreiung von der eigenen Emotionalität vgl. bes. Geyer (1997), 54ff. Insoweit ließen sich hier die Descartesschen Kategorien res cogitans – res extensa heranziehen. Unter »widersprüchlich« soll hier auch das Irrationale verstanden werden, insoweit »der Rationalisierungsprozeß […] eine Entfremdung des reflektierenden Subjekts von seinem irrationalen Anderen [bedeutet]«: Zitat aus Geyers kritischer Wiedergabe der DescartesDeutungen von Foucault und Derrida ([1997], 46).
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des Gedichts dem »subjektiven Gemüt« des Sprechers erfolgreich anverwandelt 49. Daß es sich bei dem in c. 8 vermittelten Prozeß im Ganzen um den Vollzug eines Lebensentwurfes handelt, legt schon der Imperativ (nec miser) vive nahe (v. 10). Der Blick in die Zukunft setzt mit Vers 13 ein und ist durch einen weiteren Perspektivwechsel sowie einen plötzlichen Umschlag der Stimmung gekennzeichnet 50: Der einleitende Appell vale, puella verabschiedet das Mädchen endgültig in die Welt der Bedeutungslosigkeit, und sie bleibt in ihrer Unbeugsamkeit (invitam, v. 13), die doch eines Referenten bedürfte, ohne Bezugsperson. Das den übernächsten Vers (15) einleitende scelesta, vae te variiert eine archaisch-religiöse Formel, um die abwesend Anwesende zu diskreditieren. Dieser neue Ton verschiebt die Einzigartigkeitstopik aus v. 5 und führt in bewährter EmphaseStrategie zu einer erneuten ›Negation‹ der puella: cum rogaberis nulla (v. 14). Allerdings stellt sich nun heraus, daß er, der gedichtimmanente Catull, in Wahrheit sie konstituiert: Für die puella soll ein Leben ohne ihn undenkbar sein. Identität und Alterität fallen an dieser Stelle vollends ineins. Das Risiko, das das im Gedicht entfaltete Subjekt eingegangen zu sein schien51, hat sich erst recht für die puella als gefährlich erwiesen, insoweit sie sich Perspektiven unterwerfen, vergegenständlichen, objektivieren lassen mußte 52. Die Austauschbarkeit, mithin Belanglosigkeit der Geliebten ohne Referenzfigur wird in aller Konsequenz durch die interrogativ-indefinite Pronominalkette in v. 16–18 zur Schau gestellt. Der Hohn besteht darin, daß dieses Austauschbare, unbestimmt Unpersönliche, ja Uneigentliche durch alle Kasus gebeugt wird (mit Ausnahme des Ablativs, diesen letzten Schritt zur Vergegenständlichung geht Catull nicht): quis, cuius, cui, quem. Einmal mehr steht ein unausgesprochenes Ich im poetischen Raum, das an die Stelle dieses 49 Gemeint ist hier der genealogische Befund Hegels, wonach das Subjekt im Lyrischen »am
reinsten zum Ausdruck« komme; die in Hegels Sinne vollzogene Anverwandlung der objektiven Welt durch das subjektive Gemüt hat Friedrich Theodor Vischer in der Ästhetik der Wissenschaft des Schönen pointiert in die Formel des »punctuelle[n] Zünden[s] der Welt im Subjecte« gebannt (§ 886). 50 In ähnlicher Weise werden in c. 76 die Dauer der Liebe und die Plötzlichkeit des Ablassens von ihr in einem Vers kontrastiert (longum […] subito: v. 13). 51 Vgl. damit die Überlegungen Millers zu c. 11: Lesbia entpuppe sich dort als eine Art monstrum, mithin als ein Risiko fürs ego (2004, 427). 52 Diese Strategie ist noch subtiler durchgeführt in c. 76: Die puella wird als schwache und lernresistente, mithin wandlungsunfähige Persönlichkeit vorgeführt und steht damit in krassem Gegensatz zum dortigen amator. Eine Verbesserung seiner Lage erscheint nur möglich durch seine Reflexion auf sie: Schließlich stehen er und seine Besserungsperspektive am Gedichtende (v. 25f.: ipse valere opto et taetrum hunc deponere morbum / o di, reddite mi hoc pro pietate mea). – Im Grunde handelt es sich in beiden Fällen (c. 8 und 76) auch um eine spezifische Art von »Womanufacture« im Sinne Sharrocks (1991), 49: »Love poetry creates its own object, calls her Woman, and falls in love with her – or rather, with the artist’s own act of creating her. This is womanufacture«.
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Unpersönlichen treten könnte – wenn es wollte 53. Die puella wird hier jeglicher Entfaltungsmöglichkeit existentiell beraubt: Sie wird Kontaktverlust erleiden (quis […] adibit), sie wird ihrer subjektiv-ästhetischen Wirkmacht verlustig gehen (cui videberis bella); sie wird nolens, volens ihre Emotionalität einbüßen (quem amabis) und ohne soziale Zugehörigkeit bleiben (cuius esse diceris): Neben den Verlust ihrer Individualität tritt der allen kollektiven Bezugs. In diceris scheint noch dazu der Entzug der Sprache auf: Wenn sie »niemandes« genannt wird, spricht man auch nicht von ihr – von ihrer eigenen Sprachmächtigkeit ist erst gar nicht die Rede. Die mangelnde Zugehörigkeit der Küsse nimmt sich daneben zunächst belanglos aus, doch da das Küssen und kokette Beißen das dichtungsimmanente Mark ihrer Existenz ist und ihre Macht über ihn repräsentiert54, wirkt der Verlust umso bedrohlicher: Der poeta ist ihr Schöpfer und kann sie – verschwinden lassen55; so erklärt es sich auch, daß in c. 8 mehrere Wendungen aus anderen Gedichten mit Bezug auf die (oder eine) puella begegnen, die sowohl in glücklich-preisenden als auch in unglücklich-verfluchenden Kontexten zu finden sind56. Zugleich wirkt die Zukunftsvision auch auf die im Gedicht erinnerte Vergangenheit zurück und entzaubert die puella als Teil der fingierten Liebesbeziehung. Das ganze Gedicht ist durch Übertragungsleistungen gekennzeichnet 57: Der Liebhaber überträgt seinen eigenen inszenierten Schmerz auf die Geliebte. Wollte man unter dieser Prämisse das ganze Gedicht noch einmal rückblickend betrachten und mit Lacans werktechnischer Psychologie davon ausgehen, daß »die eigene Stimme identisch [ist] mit der verdrängten Stimme des anderen« 58, so wäre auch der zuvor geschilderte Schmerz des Liebhabers nichts anderes als der Schmerz der fingierten Geliebten59. Die Selbstzuschreibungen jedenfalls werden in dieser Vision wieder korrigierbar: 53 Ähnlich Schmidts (1985), 114 Kommentar zur Stelle: Er diagnostiziert eine »Verschiebung
von niemand zu nicht ich«. 54 Das Verb mordere findet sich nur zweimal im corpus Catullianum, wobei es sich in c. 8 um
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die erste Nennung zu handeln scheint (die zweite ist in c. 68, 127 zu lesen: mordenti); doch finden sich analoge Formulierungen (z.B. acris solet incitare morsus, c. 2, 4). Das gilt freilich auch für andere Figuren(konstellationen) innerhalb des corpus Catullianum; so bemerkt Schwindt (2002), 82 zu dem ästhetisch-programmatischen c. 16: »Wo intersubjektiv (vom Sprecher an die Adressaten) verschobene Subjektsbeschreibung so auf die subjektsabhängige schriftliche Ablösung bezogen bleibt, kann es keinen Gegenstand geben, der von dieser auktorialen Subjektivität unabhängig wäre und also auch kein Thema jenseits der Ausdrucksformen und Repräsentationsgelüste dieser vorherrschenden persona« (Mark. v. J.P.S.). Beispiele: miser: c. 51,5; perdere: c. 51,16; soles: c. 5,4; quantum amabitur nulla: c. 87,1f.; c. 37,12 (vgl. o. Anm. 36); vive: c. 5,1; basiare: c. 5, c. 7 u.ö. Vgl. schon Syndikus (1984), 110. Hagenbüchle (1998), 65. Diesen Ansatz verfolgt Miller (2002), 48f. bei seiner Analyse der Beziehung ›Catull‹–›Lesbia‹, ohne allerdings c. 8 genauer zu berücksichtigen.
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Die puella war ein von ihm selbst entworfener Teil seiner selbst, doch hat er diesen Teil als ›anderes‹ bestimmt und nachgerade als »Feind« erkannt, der die »Freiheit nichtet« 60; es folgt dessen Züchtigung durch die Entfaltung der Möglichkeiten seines poetisch überhöhten Schaffens. Bleibt noch das eigentliche Ende, v. 19, das auf den ersten Blick wie eine Rückkehr zur Position aus v. 11 und also wie eine Resignation aussieht. Doch vollzieht sich dieser vermeintliche Rückfall unter veränderten Vorzeichen: So ist es auch wieder ein anderer Catull, der hier angesprochen wird. Der Rückfall in die 2. Person im letzten Vers dokumentiert eine veränderte Lage, insoweit die neutrale Perspektive der 3. Person nach der gleichsam sprachhaptischen Überwältigung der puella zur Taktik der Selbstanrede zurückkehrt. So kann der Catull des letzten Verses – im Gestus der Reduktion der Oppositionshaltung (das Präfix ob- wird zu de-) – als destinatus bezeichnet, der Vollzug der reflexiven und emotionalen Besinnung bestätigt werden. Dieser Catull hat den leidenden Liebhaber der 2. Person, sein objektiviertes Gegenstück, den Catull der 3. Person, und den um Emanzipation bemühten Sprecher unter Einfluß der soeben skizzierten Vision in sich aufgesogen, ohne die perspektivische Vielfalt preiszugeben: Denn die Perspektiven heben sich nicht auf, sondern werden in einem »komplexen Satz von Zwischenbeziehungen identifiziert« 61; die eine bleibt der anderen komplementär. Dadurch ist das Subjekt weit genug von einem Intimität und Schwäche preisgebenden ego entfernt. Die Erneuerung der Selbstanrede erfolgt in Form einer (durch das starke Adversativum at) gesteigerten, gleichsam manipulierten Wiederholung und setzt so den Duktus des ganzen Gedichts fort, Verse, Versteile oder einzelne Begriffe in leichter Variation zu reformulieren. Durch die über die inhaltliche Akzentverschiebung hinausgehende Wiederholung und die exponierte Position am Gedichtende gerinnt die Selbstanrede zur Form; sie umschließt den angekündigten Existenzschwund der puella aus beiden zeitlichen Richtungen (von der Vergangenheit herkommend, setzt sie sich formal noch hinter die Zukunft). So kann dieses Gedicht auch über sich hinausweisen: Der in c. 8 zu einem vorläufigen Abschluß gebrachte Prozeß hat ein offenes Ende im Hinblick auf weitere an die imaginäre Liebesbeziehung
60 Dies die radikale Formulierung Jean-Paul Sartres; in ähnlicher Weise deutet Lévinas das
subiectum im Wortsinne als dem (einem) anderen unterworfen. Vgl. dazu Schulz (1979), 32f. und Hagenbüchle (1998), 12. 61 Greene (1995), 91: »Although Catullus does not reconcile those »many selves« in his poetry, he identifies them in a complex set of interrelationships that defies reduction to any unitary discursive practice or experience of the self« (Hervorhebungen von E.G.). Greene bewertet diese Art von Liebe über c. 8 hinaus als taeter morbus und verkennt so den fundamentalen metaphorischen Zug; gleiches gilt für Skinners Überlegungen zu c. 76 (1987).
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geknüpfte Emanzipationsversuche 62, die immer wieder auch scheinbare ›Rückfälle‹ wie den vorliegenden miteinschließen. Diese Pointe verkennt, wer in der Fortsetzung des Gedichtes ab v. 12 vornehmlich das Resultat nicht zu bändigender Leidenschaft vermutet; demnach halte die Obsession des Liebenden ungeachtet der angekündigten Härte an63. Obsessiv ist jedoch nicht sein liebesleidenschaftliches Pathos, sondern seine – allein subjektkonstituierende – Formkunst 64: Die Sprachform avanciert damit zum aktiven Werkzeug, das das Selbst und das andere samt allem Empfindungs- und Handlungsvermögen überhaupt erst schafft. Auf diese sprachpoetische Weise vollzieht sich eine Art von cura sui, deren Funktion auf inhaltlicher und vor allem formaler Ebene des Gedichtes selbstbildend ist.
Fazit: Catulls Subjekt Auf den gesamten Komplex der Liebesdichtung besehen, gewinnt der Dichter Catull seine poetische Identität gerade dadurch, daß er seine als autobiographisches Material getarnte Liebe zur puella in Dichtung transformiert; c. 8 gehört (neben c. 76) zu jenen Gedichten, in denen der Dichter sich von dieser scheinbar identitätsstiftenden Substanz seiner Dichtung zu distanzieren versucht. Mit c. 8 hat Catull ein Gedicht über innere Konflikte, Spannungen und vor allem Spaltungen geschrieben. Wir beobachten einen reflexiven Prozeß ausgeprägter Selbstzuwendung, der als autopoietisches Verfahren gestaltet ist: Der Konflikt zwischen Verstand und Gefühl mündet in eine komplexe subjektive Instanz, die ein explizites starkes Ich nicht (mehr) nötig hat, insoweit das für das Ich riskante andere zersetzt worden ist. Die puella als das andere, das den ein diffuses Außen repräsentierenden Teil seiner innerpoetischen Existenz ausmacht, ist in Konkurrenz zur Spaltung des Selbst getreten; so erklärt es sich, daß das Subjekt sich auch dort fokussiert, wo das andere betrachtet, beurteilt und angesprochen wird. Die überwundene puella ist außerhalb seines sprachpoetischen Kosmos noch weniger einer Bestimmung zugänglich als er selbst. Die Alterität kann nur im Gedicht zum Teil der selbstentworfenen Welt des Subjekts werden. Das zeigt sich schließlich auch daran, daß die puella in c. 8 noch ihres Pseudonyms, Lesbia, beraubt wird, während der Dichter seine ›Selbsts‹ unter dem Namen Catull auftreten läßt. Vielleicht ist die Liebe zur puella im gesamten corpus Catullianum überhaupt Metapher für die 62 Stoessl (1997), 103 datiert das Gedicht im Zuge seiner biographischen Methode in die »Zeit
dieses ersten Zerwürfnisses«. 63 So z.B. Fowler (1989), 99 in seiner gleichwohl subtilen Deutung von c. 8. 64 In diesem Sinne wohl auch Schmidt (1985), 114 zu c. 8: »Die Leidenschaft ist die Form des
Gedichts, und die Form ist die Leidenschaft«.
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Emanzipationsbemühungen des Subjekts? Diese Emanzipation gelingt implizit über die poetische Transformation; das im Gedicht zu Text geronnene Dichtersubjekt hat einen Kosmos geschaffen, den es – in beinahe romantischer Manier – in sich trägt und beherrscht. Dieser wird repräsentiert durch die Spannung zwischen dem – in der Fiktion – affizierten Du, seinem ›neutralisierten‹ Pendant und dem als souverän gestalteten Sprecher. Spaltung und Außen(an)sicht sind nur durch ihre ›Gedichtwerdung‹ überhaupt möglich. Die ganze »Reflexionsbewegung des Selbstbewußtseins vollzieht sich durch [eine vergleichsweise schmucklose] Sprache«, die sich schon gedichtintern als »Vermittlungsinstanz« zwischen Selbst und Welt schiebt und als Instrument der (Selbst)Distanznahme fungiert65. Denn mögen sich metasprachliche Äußerungen aus c. 8 auch kaum herauslesen lassen, so entzündet sich das Gefecht der auftretenden ›Selbsts‹ doch an der fingierten Liebe, die wiederum Teil des dichterischen Kosmos ist, und rückt so die ganze Selbstfindung ins sprachpoetische Zwielicht. Innerhalb dieses Kosmos’ riskiert ein ›Catull‹ sein Leben, der den Verfasser des Gedichts nur insoweit miteinschließt, als – mit Giorgio Agamben zu sprechen – »der Autor den Punkt [markiert], wo sich ein Leben im Werk aufs Spiel gesetzt hat« 66. Doch ist über die Ebene funktionaler Beschreibung nicht hinauszugelangen; nur auf dieser ist auch der Anspruch auf Unverwechselbarkeit, ja Unvergleichlichkeit anzusiedeln: Das verrät das auch für c. 8 konstitutive quantum amabitur nulla. Denn unter diesem funktionalen Aspekt ist die einzigartige Liebe des geplagten Subjekts auf die Unvergleichlichkeit des Dichters, insoweit er ihr Regisseur ist, übertragbar. Die – formal schlichte, aber doch keineswegs anspruchslose – Ästhetisierung der Gefühle und ihrer rationalen Bewältigungsmöglichkeiten ähnelt dabei einem narzistischen Dandyismus. Damit komme ich zum abschließenden Paradox: Dieser narzistische Anspruch auf Unvergleichlichkeit kann nur Teil des sprachpoetischen Kosmos mit den darin uneinholbar verstrickten erkenntnis- und emanzipationsfähigen Subjekten sein – der durch die Selbstverhandlung in den Text eingegangene Autor kann zwar aus dieser Umklammerung hinausweisen, nicht aber sie überwinden. Als hätte Catull um dieses Dilemma gewußt, beginnt er sein Gedicht mit den Worten miser Catulle, desinas ineptire. Zum Inbegriff dieses Dilemmas könnte ineptire werden, das, wie gesehen, als ›Tu-Wort‹ bei Catull hapax legomenon ist 67 und so Handlungsfähigkeit in dem Moment verbalisiert, wo es sie im Wortsinn und im engeren Kontext des Gedichtes zu leugnen scheint.
65 Zitate nach Geyer (1997), 16; Parenthese v. Verf. 66 Agamben (2005), 66. 67 Zur Beleglage vgl. o. Anm. 34.
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A Sensitive, Even Weak and Feeble Disposition? C. Valgius Rufus and His Elegiac Ego Niklas Holzberg (München)
In his elegiac lament for Tibullus Ovid draws a vivid picture of the mournful gathering around the funeral pyre, where the deceased’s mother and sister pay their last respects in company with Delia and Nemesis (Am. 3.9.49–58). The animated scene seems true to life, especially since we are reminded here of the hope once placed in Delia by Tibullus’ persona (1.1.60) – te teneam moriens deficiente manu – and at the same time told by Nemesis how this had in reality been fulfilled (58): me tenuit moriens deficiente manu. Gerlinde Bretzigheimer quite rightly interprets this scene as a literary prank: the lusor Ovid creates a semblance of authenticity by ›emending‹ fiction1. This, of course, all but makes a nonsense of biographical readings. When a poet talks about things connected with another poet’s life, it appears to go without saying that the vita to which he alludes is not that of the author in question, but of his poetic ego. This type of lusus – the earliest instance in extant Augustan poetry is Virgil’s portrait of a plaintive Gallus in Eclogue 10 2 – has not always been recognized as such, either in antiquity or in modern times. The picture drawn by Horace of his friend and fellow poet C. Valgius Rufus in c. 2.9 is no exception. Approaches to the ode have usually been of the conventional biographic type, worse still, it has, since very little is otherwise known about Valgius’ life and work, been consulted as a historical document on which to base reconstructions of his vita. I hope to show in the following not only that, from the first to the last verse of this ode, Horace’s allusions are exclusively, or at least primarily to the persona adopted by Valgius in his elegiac poetry, but also that reading c. 2.9 in this way opens up a new and, I feel, more insightful approach to the surviving fragments of Valgius’ poems. My working assumption corresponds 1 Bretzigheimer (2001), 180. 2 We unfortunately have neither an inventory of such passages, nor a comprehensive study
devoted to this kind of text. For a useful introduction (focusing on Martial) see Watson (1999) and Lorenz (2006).
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to communis opinio: Horace’s Valgius is the elegist named by Servius and in the Scholia Veronensia on Virgil 3. The text of c. 2.9 reads: Non semper imbres nubibus hispidos manant in agros aut mare Caspium uexant inaequales procellae usque nec Armeniis in oris, amice Valgi, stat glacies iners mensis per omnis aut Aquilonibus querqueta Gargani laborant et foliis uiduantur orni: tu semper urges flebilibus modis Mysten ademptum nec tibi uespero surgente decedunt amores nec rapidum fugiente solem. at non ter aeuo functus amabilem plorauit omnis Antilochum senex annos nec inpubem parentes Troilon aut Phrygiae sorores fleuere semper. desine mollium tandem querellarum et potius noua cantemus Augusti tropaea Caesaris et rigidum Niphatem, Medumque flumen gentibus additum uictis minores uoluere uertices intraque praescriptum Gelonos exiguis equitare campis. Not always does rain pour from the clouds upon / Bedraggled farmland, nor is the Caspian Sea forever buffeted by gusting storm-winds, nor up on Armenia’s borders, friend Valgius, does ice remain motionless for all the twelve months, or by the northern blasts are the oakwoods of Garganus troubled and manna-ashes bereft of leafage, but you in mournful measure continually bemoan the loss of Mystes; your passion won’t give way when Hesperus is rising nor when he flees from the ravening Sun. Yet the ancient who saw three generations out did not lament beloved Antilochus lifelong, nor parents and his Phrygian sisters forever shed tears for Troilus the adolescent. Cease your effeminate complaints at long last, and let us rather sing of Caesar Augustus’ most 3 Serv. Verg. Ecl. 7.22; Schol. Veron. Verg. Ecl. 7.22 = frg. 2 FPL; Serv. Dan. Verg. Aen.
11.457 = frg. 3 FPL. I read Horace’s flebilibus modis (9) amores mollium (13), and querellarum (17) as unmistakeable allusions to elegiac poetry; cf. in each case Nisbet/Hubbard (1978), ad loc.
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recent victory-trophies and stark Niphates and how the Parthian river, now added to the conquered races, rolls more submissive crests, and how within fixed bounds Geloni gallop their horses on undersized plains. (Guy Lee)
The article on Valgius in Pauly-Wissowa – compiled by Hermann Gundel and Rudolf Hanslik, it offers a very useful catalogue and evaluation of the relevant testimonia – ends with the following conclusion: »From his grief over the death of Mystes we must infer that his was a very sensitive, even weak and feeble disposition« 4 (276). Given that Gundel was writing in 1955, we can easily cut him some slack, but Hans Peter Syndikus’ lapse in the »third and completely revised edition« of his well-known commentary on the Odes seems less forgivable. Publishing in 2001, he observes of the real Horace and Valgius: »The poet wants to shake Valgius out of this weak-willed letting-himself-go, out of his subjective ego-world. He therefore proposes that the other tackle something sound, vigorous, and objective, just as elsewhere epics on war were seen as the very opposite of elegies« 5 (389). Most readers of c. 2.9 – even those who take Mystes to be a fictional character 6 – belong, like Syndikus, to the interminable line of scholars who will have it that Horace himself was someone who disdainfully regarded writers of erotic elegies as sentimental wimps7. Not many actually go so far as to suppose that the proposed remedium against chronic plaintiveness is seriously meant as a cure, but even those who do think that Horace is simply toying with elegiac discourse here 8 seem reluctant to accept the logical consequence: that his Valgius ode must be read as a humorous dialogue between a lyric and an elegiac persona, and not as the account of a conversation that really took place. The biographical approach is perhaps often considered to be the most obvious one principally because the anonymous author of the Panegyricus Messallae remarks that Valgius, a second Homer, is better equipped than himself to sing his patron’s 4 »Aus seiner Trauer um Mystes müssen wir schließen, daß er eine sehr feinfühlende, vielleicht
eine weiche Natur hatte«. 5 »Der Dichter will Valgius aus einem schwächlichen Sich-treiben-Lassen, aus seiner subjekti-
ven Ich-Welt herausrütteln. Darum stellt er ihm etwas Tüchtiges, Kraftvolles, Objektives als Aufgabe vor Augen, wie ja auch sonst das Kriegsepos als der entschiedene Gegensatz der Elegie angesehen wurde«. 6 Only Nisbet/Hubbard (1978), 136 actually say so. 7 Cf. e.g., Kießling-Heinze (1930), 194 (»der gesunde, aller schwächlichen Sentimentalität abholde Sinn«); Otis (1945), 186; Quinn (1963), 158–162; Anderson (1968), 44 (»Horace attacks the basic mood of elegy«); Quinn (1980), 213; Macleod (1981), 145 = (1983), 240 (»As in Od. 1.33, Horace makes clear what he thinks of such weepy productions«); Syndikus (1998), 376 and 395. Important for arguments against the old notion that Horace nursed a particular antipathy to Propertius: Freis (1983). 8 Irony, parody, and Horace’s tongue in his cheek are noted by Anderson (1963), 36; Nisbet/ Hubbard (1978), 136 and 138; Quinn (1980), 214; Macleod (1981), 147 = (1983), 242; Armstrong (1989); Putnam (1990), 221f.
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praises ([Tib.] 3.7.177–180). The implication is that Valgius was without question up to the task of composing an epic on Augustus, i.e. the very kind of poem which Horace’s persona advises him to write. But the Panegyricus, as Hermann Tränkle’s compelling arguments have established, was composed in the post-Ovidian era: as tribute to a living person it is pure fiction9. This suggests that Ps.-Tibullus’ reference to Valgius is more likely to be ›flesh‹ added to ›bones‹ found in Horace: to Sat. 1.10.81–87, where the addressee of c. 2.9 is clearly named alongside prominent contemporaries on the literary scene (Varius, Virgil, Pollio, and Messalla) as the kind of reader Horace would prefer, and to the final two stanzas of our ode. The reference to Valgius as an epic poet in the Panegyricus Messallae also seems fishy because none of the other ancient authors who know of Horace’s friend mention any such literary production. That he wrote elegies is, by contrast, noted a number of times 10, and it is certain that Valgius – who was consul suffectus of the year 12 bc and probably did not die before ad 14 11 – composed epigrams 12 and prose works; there exist fragments of an epistolary treatise on grammar and evidence of writings on rhetoric and botany (the last unfinished)13; he may also have turned his hand to bucolics 14. So, when c. 2.9 tells us that Valgius is pestering a certain Mystes, who has been taken away from him, with a constant stream of tearful songs, these can reasonably be taken to mean elegiac verses in which a first-person speaker reacts to his separation from a paÿc ‚r∏menoc named Mystes. This could in theory indicate – and most scholars thinks that it does – that the boy’s death has been the cause of their separation. Bearing in mind, however, that Valgius’ flebiles modi are labelled amores here, and that Horace is therefore very probably alluding to an existing collection of his friend’s elegies with this same label as title 15, we need to look at surviving texts from the same genre. Comparable themes there show us that those critical readers who suggest that Mystes was »taken away« from the poeta/amator by a rival (male or female) are more likely to be on the right track 16. Admittedly, the examples taken from mythology in vv. 13–17 are 9 Tränkle (1990), 183 and 245; cf. also Holzberg (1998/99), 176 and 182. 10 Cf. note 3 above. 11 For what we know of Valgius’ life and work see esp. Schanz/Hosius (1935), 172–174 and
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Gundel/Hanslik (1955). Cf. also the possible indication that Valgius was still alive around ad 14 in Plin. Nat. 25.4, where the treatise on botany is said to have been dedicated to diuus Augustus: this could be a quotation from the title (Gundel/Hanslik [1955], 273f.). Char. 138 B (108 K) = frg. 1 FPL; cf. Dahlmann (1982), 34f. GRF 483–86 (edition of fragments from De rebus per epistulam quaesitis) and Schanz/Hosius (1935), 174 (testimonia); on the botanical work see also Geymonat (1974). Frg. 5 FPL; cf. Dahlmann (1982), 45f. Nisbet/Hubbard (1978), 145 ad loc.; Nadeau (1980), 197. Quinn (1963), 158–62; Anderson (1968), 35–45; Murgatroyd (1975); Santirocco (1986), 91. Nisbet/Hubbard (1978), 136 and Putnam (1990), 217 n. 5 come to no clear decision one way or the other, but tend more towards ademptum sc. morte.
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specifically related to the deaths of young men. But, as Nisbet/Hubbard have been the first to point out (and rightly so), both of the unfortunate figures there – amabilis Antilochus and impubes Troilus – were classed as pueri delicati (146f.). When Horace’s persona observes that the relatives in neither case had spent the remainder of their own days in unrelieved mourning, he could be trying to say: »These two pueri delicati were taken by death, your boy was just taken from you by somebody else. If the grief and mourning for them didn’t last for ever, how come you, Valgius, are still yammering inconsolably about being separated from a beloved who is still alive and kicking?« 17 Anyone who, like Syndikus, supposes that Horace the man is advising his friend Valgius that he deals with his pain over Mystes’ death by joining Horace in a song that celebrates Augustus’ nova tropaea, automatically implies that the author of c. 2.9 displays little in the way of tact, or even that he is hard-hearted18. William Anderson, in his important article of 1968, hits the nail on the head: »Suppose you knew a writer or scholar who, when his son was killed in an accident or in war, began to mourn deeply and devote his time to developing a somewhat sentimental memoir or biography of the dead boy. Would you or anyone ever have the affrontery to tell that man, either to his face or in a letter, that he should abandon such a foolish scheme and instead exalt the genius of President Johnson in a learned work? I doubt it«. (40). This objection alone makes Syndikus’ reading appear highly questionable. Extremely plausible, by contrast, is the idea that the advice given by Horace’s lyric persona to an elegiac poeta/amator who unceasingly bemoans the loss of his puer delicatus plays on a motif typically found in Roman love elegy: he should give up his recusatio stance. I shall take a closer look at this thought presently, but before doing so I should like briefly to consider the possibility that it was not a rival of either sex that took Mystes away from the poeta/amator of the Valgius elegy (or elegies) to which Horace alludes, but simply the passage of time: the boy had become too old for the role of paÿc ‚r∏menoc and had left, or been dropped by, his ‚rast†c. Attention has long been drawn to the way in which the first two stanzas of c. 2.9 can be read as metaphorical anticipation of the lamenting in which Valgius’ 17 Even the allusion clearly intended in vv. 10–12 to Virgil’s lamenting Orpheus (cf. Georg.
4.464–466) – one which must also be read as a window reference to Cinna, Zmyrna frg. 6FLP (cf. Putnam [1990], 230; Davis [1991], 53f.; Lowrie [1993/94], 386f. = [1997], 83f.; Labate [1994], 83f.) – does not necessarily imply that Mystes was ademptus morte. As Labate loc.cit., based on G.B. Conte, rightly notes, Orpheus is »un archetipo elegiaco« and can therefore simply stand quite generally for never-ending elegiac plaints. For further allusions to Virgil see Esteve-Forriol (1962), 36f.; Syndikus (1972), 396 n. 18 = (2001), 389 n. 18; Nisbet/ Hubbard (1978), 137f.; Macleod (1981), 147 = (1983), 242; Putnam (1990), 230–235. 18 Sic first Quinn (1963), 160; cf., in addition to Anderson (1968), 40 (cited below), Murgatroyd (1975), 65 and Nisbet/Hubbard (1978), 136.
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elegiac persona is then said to indulge19. The imbres in v. 1 signal his mournful tears, the orni bereft of their foliage the loneliness he feels after his ›bereavement‹. Moreover, Horace writes that the land on which the imbres do not fall all the time is hispidus. This is a word not used in extant texts before Horace, and one that can also sometimes be taken to mean »bearded«20. With that in mind, one can imagine the following scene: the tears of the poeta/amator talking in Valgius’ elegies fell on the stubble that was Mystes’ first beard growth, being shed because the moment had now come when a boy becomes a man and can therefore no longer decently play the role of paÿc ‚r∏menoc: the relationship must end 21. This reading seems tenable when one considers both that Troilus, whom Horace’s lyric persona compares with Mystes, is called impubes, i.e. »beardless« (15), and that in c. 4.10 young Ligurinus, apparently the reluctant object of the same persona’s passion, is warned what will happen to him when he reaches manhood and acquires a facies hispida (5) 22. In Greek and Latin epigrams that are pederastic in content – let us not forget that Valgius is known to have tried his hand at epigram writing – one central conventional theme was, as Sonya Tarán and Hans Peter Obermayer have established, the anxiety that overcomes the ‚rast†c at the thought of his puer delicatus growing facial hair, or indeed any kind of manly fuzz23. Such hairiness means that the beloved is now physically ready not only to take a wife and leave the male-male relationship behind him, but also to go to war and prove his newly acquired masculinity. This latter sign of maturity is the cause of particular concern, for example, to Straton’s persona in AP 12.217, and it is possible that, in Valgius’ elegiac verse, Mystes was »taken away« from his ‚rast†c not only as a result of his reaching manhood, but also by his participation in a military campaign. If this was the case, that in itself would make the recommendation given by Horace’s lyric persona to his plaintive amicus especially apt: he too should go to war, if only in a literary sense, and sing together with his friend of Augustus’ latest victories in the East24. 19 Buecheler (1882), 260f. (whom Esteve-Forriol [1962], 33 n. 1 tries to refute); Syndikus (1972),
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394 = (2001), 387; Nisbet/Hubbard (1978), 135f. and 139–43 ad loc.; Nadeau (1980), 197; Minadeo (1982), 140 (»The symbolic burden of the tree images, bolstered by the feminine imagery of water and field earlier on, argue that love’s weather also changes« – the undertone is conceivable); Santirocco (1986), 92; Putnam (1990), 220f.; Ancona (1994), 108.111. Cf. below on c. 4.10.5. Buecheler (1882), 260f. thoughts also turn here to the custom of mourners letting their hair and beards grow; cf. Ancona (1994), 111. Putnam (1990), 20f. notes the parallel too, but draws a different conclusion. Tarán (1985); Obermayer (1998), 94ff. Williams (1993/94), 404f. speculates about Valgius’ exploits »with the Roman legions in the East«, specifically in Armenia, where the mountain Niphates lies. Nothing of this sort is documented at all, but even if it were, this would support rather than shake any reading of c. 2.9’s two last stanzas in terms of generic typology.
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This reading of the poem’s ending remains purely conjectural, yes, but whichever of the explanations for ademptus hitherto proposed be correct, one thing is certain: if we try not to think of c. 2.9 in biographical terms, then we can read the words potius noua cantemus Augusti tropaea Caesaris […] as an appeal to the elegiac poeta/amator that, in order to put his grief behind him, he flout, indeed literally overturn one of the rules of the ›elegiac code‹ 25. The conventional refusal in elegy to write epic verse, in particular the kind in which the praises of a princeps are sung, is sometimes excused with the poeta/amator’s lack of opportunity: he must of necessity devote his entire existence to the object of his elegiac love26. It is not inconceivable that Valgius’ elegiac work also contained passages or entire poems devoted to the motif recusatio 27, and Horace could be referring playfully to such instances in c. 2.9. If this is so, then his suggestion that the other abandon his notorious ›sorry, no time‹ stance on epic anticipates the fundamental idea on which Ovid built his Remedia amoris. There, as was first shown by Gian Biagio Conte, the ›elegiac code‹ is systematically deconstructed, with the praeceptor recommending that all its binding rules be disregarded 28. Now, when Horace encourages Valgius (persona to persona, that is) to break the recusatio rule, that in itself is – within the parameters of the genre – quite witty. The humorous effect is heightened, however, when one considers that the lyric poeta himself, who has so far also ›demurred‹ – with particular vehemence in c. 1.6 – is now apparently willing, for friendship’s sake, to forget his own reluctance and sing together with the elegiac poeta in praise of the emperor’s res gestae. But is he really and truly willing and ready? Hardly. Already in c. 2.12 we have him announcing recusatio again: here at the very latest, then, the proposal which we could perhaps have taken seriously at the end of c. 2.9 – and which would have turned the lyric and elegiac worlds upside-down – must raise a knowing smile 29. And no less so the way in which Horace uses his play on elegiac discourse to celebrate the emperor indirectly himself. My interpretation of Horace’s Valgius ode makes it seem quite likely that the motif recusatio played a significant role in the elegist’s poems. One further, albeit very cautious assumption may therefore be made: Valgius offered his readers poetic theory not only in connection with his refusal to try out epic writing, but also with regard to other aspects. In addition, his verses are likely to have been implicitly
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Outlined in Holzberg (2006), 15–17. Cf. esp. Prop. 2.1; Tib. 2.4.15–20; Ov. 2.1. Murgatroyd (1975), 71. Conte (1989). Murgatroyd (1975), 70f. sees in the willingness expected of Valgius to compose a panegyric on Augustus »a complete inversion« of Prop. 1.7.15–18 and 1.9.9–12.
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metapoetic in content. We actually have three fragments of elegiac verse ascribed to Valgius which support this assumption. I should like to look first at frg. 2 FPL30: Codrusque ille canit, quali tu uoce canebas atque solet numeros dicere, Cinna, tuos, dulcior ut numquam Pylio profluxerit ore Nestoris aut docto pectore Demodoci. […]tra […]ne […] llam credis mihi sen […] vitam noctem, non hilarum posset … e d〈iem〉 falleris insanus quantum si gurgite nauta Criseae quaerat flumina Castaliae. And yonder Codrus sings in the kind of voice you used to sing in, and is wont to use your metres, Cinna, with the result that sweeter it never flowed from the mouth of Nestor of Pylus or from the breast of the learned Demodocus. […] you believe that (?) for me […] could […] life, night, no bright day […] then in your madness you are mistaken as greatly as a mariner who seeks in the depths of the sea after the waters of the Crisaean Castalia.
On this, as on the two other fragments of elegies to be discussed here, Hellfried Dahlmann has already said what can be said. Valgius’ persona talks in the first two disticha about the poetic skills of Codrus (a now otherwise unknown neoteric), specifically about how he models himself on Cinna, whom Valgius addresses directly; then he turns to his significant elegiac other, someone with whom he is clearly in love and who is obviously male – possibly, then, the Mystes named by Horace in c. 2.9 31. Given the gaps in lines 5 and 6, we can no longer determine the train of thought that leads from vv. 1–4 on to vv. 5–8, but Dahlmann’s conjectures have probably captured for us the sense of 5–8: contra si nullam credis mihi te sine uitam noctem, non hilarum posse placere diem falleris insanus […]
He paraphrases: »If on the other hand you think that life without you could offer me happy nights, happy days, then you are as mistaken in your folly as a mariner who looks in gurgite – this corresponds to a vita sine te – for the blessings of Castalia’s gentle waters – this to the noctem, hilarum diem« (41). Dahlmann too is unable even to guess at the connection between the two pairs of elegiac couplets; obviously, only more knowledge of the context could help us to understand it. One thing we can say, however: the explicit remarks on poetic theory and practice in vv. 1–4 are nicely complemented in vv. 7f. and their allusion to the antithesis 30 Cf. Schanz/Hosius (1935), 172 f.; Rostagni (1960), 807–833; Courtney (1993), 288 f.; Dahlmann
(1982), 37–42. 31 Dahlmann (1982), 40 with n. 66.
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between salty depths and the Castalian spring. As we all well know, Callimachus, in his hymn to Apollo, uses pÏntoc and >Assur–ou potamoÿo mËgac ˚Ïoc on the one hand, and p–dakoc ‚x …er®c Êl–gh libàc on the other as contrasting symbols for grand and lesser poetry (105–12). His imagery exerted, as first established by Walter Wimmel, considerable influence on the figurative language of metapoetics introduced by several authors into Latin poetry 32. It could, then, very well be that Valgius was implicitly contrasting the genus grande and the genus tenue in vv. 7f. I am inclined to think that the eight verses of this fragment formed part of a programmatic poem in which Valgius, in the role of poeta/amator, explained to his youthful beloved the direct link between his favoured poetic style and his chosen way of life. Interestingly, frg. 3 FPL also shows us great and lesser waters side by side: et placidam fossae qua iungunt ora Padusam nauigat Alpini flumina magna Padi. And there where the mouth of the channel unites gentle Padusa 〈with the Po〉, he/it navigates the mighty waters of Alpine-born Po.
Someone or something (the poeta/amator’s boat33?), as Dahlmann perhaps rightly considers most conceivable (43), has hitherto cruised along the southernmost tributary of the Po, placida Padusa. These lines are widely thought to be the remains of a travel-poem written in the tradition of Lucilius’ Iter Siculum. One good reason for this assumption is the last of our fragments (4 FPL), in which Valgius’ persona apparently refers to a journey 34: hic mea me longo succedens prora remulco laetantem gratis sistit in hospitiis. Here my ship, following on at the end of a tow-rope, sets joyful me ashore at a welcome inn.
Both of these two-line fragments could, of course, have belonged to an elegy in which the persona genuinely described the events of a journey. Henri Bardon believes that the »voyage en bateau« took place during a »séparation des amants« (21), and this is not wholly implausible. But it still would not rule out the possibility that metapoetics played a significant role in the poem. »Gentle« Padusa and the »mighty waters« of the Po could stand for the lesser and the grander poetic genres. The arrival at an inn could have stood at the end of a lengthy poem (or a book of poems), marking simultaneously the end of the trip and of the corresponding 32 Wimmel (1960), 222ff. 33 Courtney (1993), 289. 34 Schanz/Hosius (1935), 173; Bardon (1955), 21; Dahlmann (1982), 42–44; Duret (1983), 1472f.;
Courtney (1993), 289f.
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›travelogue‹. A common metaphor in ancient poetry for the ›journey‹ undertaken by the author and by the reader through a book is a voyage or overland travel 35. Valgius’ lines show most similarity to Horace, Sat. 1.5.104, which Sven Lorenz quite rightly hears echoed at the beginning of Martial 4.89, the closing poem of that book36: Brundisium longae finis chartaeque uiaeque. Ohe, iam satis est, ohe, libelle, iam peruenimus usque ad umbilicos. Brundisium is the end of a long poem and journey. – Whoa, there’s enough, whoa now, little book! Now we have got to the bosses.
It is conceivable that Horace’s humorous application in c. 2.9 of elegiac recusatio plays on Valgius’ fondness of the motif. If the latter really did use it frequently in his poems, he perhaps liked to muse there, explicitly and implicitly, on any and every theoretical aspect of poetry writing. He may, then, have wished to present himself as a thoroughly doctus poeta – the reference to Codrus and Cinna in frg. 2 is suitably erudite 37 – and accordingly displayed a preference for impenetrable diction. And that could be one of the reasons why his elegies did not stand the test of time. Do we mourn this loss? Well, it would be nice to know whether my thoughts actually come anywhere near the mark, but such curiosity is unlikely to make me ›wax elegiacal‹. Let us rather find more interesting (dare I say, grander?) fragments of ancient literature on which to test our conjectural skills 38!
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elegy by Valgius (Esteve-Forriol [1962], 34; Nisbet/Hubbard [1978], 136). 38 I am indebted to Regina Höschele and Sven Lorenz for a number of useful pointers.
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Intus habes quem poscis Theatricality and the Borders of the Self in Ovid’s Tereus Narrative Andrew Feldherr (Princeton)
Ovid’s Metamorphoses can be read as a sustained series of inquiries about the nature of the self. Is there some internal self to be distinguished from outward form? Does it survive material changes? Do we recognize another externally and objectively, identifying her by what she seems to be, or subjectively by imagining her own point of view looking out from her body? Ovid’s choice of topic inevitably raises these questions every time »forms are changed into new bodies«. And any political interpretation of the text will depend ultimately on the answers a reader gives to them1. For instance, if Lycaon really is the wolf that his external form resembles, we are more likely to assent to the authority of Jupiter when he demands further punishment for human impiety. Similarly the consolatory conclusion to the story of Daphne, as she seems to nod her boughs in approval to Apollo’s appropriation of her form, requires our accepting that Daphne still abides as a human subject even when she becomes a laurel. Thus there have been many attempts to discover some philosophical theory of the self to clarify the rules of metamorphosis and so guide the reader’s responses to them; most influentially, for example, Dörrie (1959) argued that Ovid’s poem illustrates a stoic notion of identity whereby peculiarly qualified individuals remain themselves despite changes to their appearance: Socrates is still Socrates even if he gets fat. Rather than intervening in such a debate, this paper will resist any appeals to external doctrine to explain the phenomenon of metamorphosis on the grounds that they tend to oversimplify something the poem makes complex. On the contrary, I will argue that the text’s internal ambiguities
1 Feldherr (2002), see also the comments of Hershkowitz (1999), 183f. On the effect of
metamorphosis on identity, see also, especially Sharrock (1996), and Bernsdorff’s (2000: 67–124) transferral of Fränkel’s concept of »wavering identity« from the psyche of Ovid’s characters to the problems of recognition and identification raised by the phenomenon of metamorphosis.
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reflect, indeed complicate, the dynamic and open-ended process of defining identity in other discourses. My focus will be on an episode particularly rich, even for Ovid, in implications about the nature of the self: the story of Tereus’ rape of Philomela and the vengeance Philomela and her sister Procne exact for it. This narrative investigates many of the »ways of talking about the self« outlined in Christopher Gill’s paper: in social and ethical terms, it offers the story of a civilized »us« interacting with barbarian »them«, as each of the two princesses is taken from Athens to quintessentially barbarian Thrace. »Psychologically«, even before the final metamorphosis, many kinds of external barriers are interposed which interfere with the expression or recognition of an internal subject. Thus on the one hand, we will see Tereus’ desires misread by the Athenian audience who assume that he is simply acting as spokesman for his wife when he begs for Philomela to return with him to Thrace. On the other, Philomela herself will be prevented from describing her experiences or even making her own existence known by the brutal metamorphosis that removes her ability to speak. Finally, and most interestingly, these two dimensions of the self raise larger ontological questions about the stability of identity: does the dramatic change in condition the two princesses undergo really reflect a change in who they are? If so, what are the mechanisms by which selves change and what significance might this have for what Ovid’s own audience experience as they read his text? My guide through these issues will be taken not from philosophical accounts of the self, but from another discursive realm, theater, whence the Romans perceived a simultaneous threat to their cultural distinctiveness and their psychological well-being 2. It poses this threat, moreover, by tempting its Roman viewers to recognize selves in the merely external representation of people who fundamentally are not there. Before moving on to develop these claims about Roman drama, let us begin by looking at a short passage that addresses the complex dynamics of selfhood in the episode without any of the sensational elements of rape, cannibalism, and metamorphosis for which it is famous: Procne having just recovered her mutilated sister Philomela deliberates on a course of revenge against the husband who raped her. At this moment her son Itys arrives: Peragit dum talia Procne, ad matrem veniebat Itys; quid possit, ab illo admonita est oculisque tuens inmitibus ›a! quam es similis patri!‹ dixit nec plura locuta triste parat facinus tacitaque exaestuat ira. ut tamen accessit natus matrique salutem 2 Edwards (1993), 98–136 offers a thorough survey of the manifold aspects of Roman suspicion
of the theater in the late republic and early empire.
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attulit et parvis adduxit colla lacertis mixtaque blanditiis puerilibus oscula iunxit, mota quidem est genetrix, infractaque constitit ira invitique oculi lacrimis maduere coactis; sed simul ex nimia mentem pietate labare sensit, ab hoc iterum est ad vultus versa sororis inque vicem spectans ambos ›cur admovet‹ inquit ›alter blanditias, rapta silet altera lingua? quam vocat hic matrem, cur non vocat illa sororem? cui sis nupta, vide, Pandione nata, marito! degeneras! scelus est pietas in coniuge Tereo.‹ nec mora, traxit Ityn, veluti Gangetica cervae lactentem fetum per silvas tigris opacas, utque domus altae partem tenuere remotam, tendentemque manus et iam sua fata videntem et ›mater! mater!‹ clamantem et colla petentem ense ferit Procne, lateri qua pectus adhaeret, nec vultum vertit (6.619–42). »Itys came to his mother and she was reminded by his presence what power she had, and regarding him with cruel eyes she said, »Ah, how like your father!« Speaking no more she prepares her terrible crime and boils with silent rage. But as her son approaches her and wraps her neck in his small arms and joins kisses to a child’s endearments, the mother indeed is moved and hesitates, her anger broken. And her eyes grow damp despite themselves with involuntary tears. But as soon as she senses that her mind stumbles from excessive piety, she turns again from him to the countenance of her sister. And, gazing at them both in turn she says, »Why can the one use endearments while the other is silent with her tongue ripped out? When he calls me mother, why can she not call me sister? See, daughter of Pandion, to what husband you are married. You fall off from your birth! In the case of a husband like Tereus, piety is crime«. Straightway she dragged off Itys, as a tiger of the Ganges drags the nursing offspring of a deer through the dark forests. And when they reached the secluded part of that lofty palace, while Itys stretches out his hands and, now seeing his doom, calls out »mother! mother!« and seeks to embrace her neck, Procne cuts him down with a sword, where the breast and side meet, and she does not turn away her face«.
Procne faces the familiar tragic dilemma of a Medea, which is literally to decide who she is: whether at this decisive moment she will act as the daughter of Pandion and sister of Philomela or as the mother of Itys. The first point to observe here is the extreme density of references to vision in the passage. The conflict between motherhood and sisterhood manifests itself outwardly in the expression of Procne’s own eyes – alternately cruel and tearful. But more importantly, the motives for each course of action come from different visual cues that she herself receives, and, I will argue, from adopting fundamentally different modes of regarding what she sees.
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The process of looking at both Itys and Philomela triggers a complex measuring of likeness and difference 3. Itys is unlike Philomela because he can speak, but all too like his father. And for Procne this visual similarity to Tereus occludes her own connection with the child, aurally invoked when he calls her mater. Gazing at Itys becomes a process of objectification, as she looks on him as increasingly alien to the point where he comes to signify someone who is not there, Tereus, and loses his own subjectivity in the form of his voice – the claim on her as a mother. Something very different happens in the case of Philomela, who, because she has no voice of her own, has to have her words supplied by Procne. In place of a gaze that serves to distance viewer from viewed, and simultaneously to make Itys someone different from who he really is, Procne’s language suggests not only a sympathy for Philomela, but that she has so adopted Philomela’s imagined perspective as to become almost indistinguishable from her. In the line where Procne recognizes her husband in her son, the vocative »daughter of Pandion«, which seems to mark the expression as a soliloquy, points out that her sister Philomela could be described in precisely the same terms, and both have united sexually with Tereus. The two sisters share a father, and now share a husband4; Procne’s role as mother of Itys is the only one to distinguish her from her sister. In rejecting Itys as other, she thus becomes more like Philomela, even as she looks as her sister would look on her rejected child. It is a telling irony that the self Procne chooses here, to become a daughter of the Athenian king Pandion, is so completely undercut by the narrator in the next line, where a simile encourages the reader to see Procne as a »tiger of the Ganges«. The final phrase »nec vultum vertit« provides a final affirmation of the ruthless alienation from maternal feeling that allows her to look on her child – instead of looking back and forth from son to sister – even as she slaughters him. But the same words also underline the uncertainties about selfhood and identity raised by the passage as a whole, for they can also mean »she did not change her appearance«. The internal change in her sense of who she is, reflected in what she sees, has – so far – not transformed the way others perceive her, except for the poet’s audience. Yet the words also tease these readers, making them wait a little longer for their metamorphosis and ›correcting‹ the preceding simile: »She was like a tiger, but she didn’t actually turn into one«. Because of a gap between form and identity that makes being a tigress compatible with looking like an Athenian princess? Or because she always was a »tigress«?
3 Cf. Hardie (2002), 269: »Procne […] is strengthened by the differences that she perceives
between Itys and his aunt Philomela, the difference between speech and speechlessness […]«. 4 As Anderson (1972), 217f. points out, variants of the story survive that actually have Tereus
wed Philomela under the pretence that Procne has died (Apollodorus 3.14.8, Hyginus Fab. 45).
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Ovid’s emphasis on the power of vision in this passage to make you someone other than you really are parallels the contagious effects of gazing seen earlier in the poem, most strikingly at the moment when the Theban king Cadmus, staring at the serpent he has just slain is warned that he too will be gazed at as a serpent5. More generally, the contrasting visual strategies Procne adopts in relation to her son and sister mirror alternative responses to the visual signs generated both by the process of metamorphosis and by the text that records it, signs that raise the question »Is the laurel tree Daphne, or the cow Io, to whom the viewer supplies a voice?« But having signaled these ways in which Procne’s dilemma resembles the reception of Ovid’s own work, I want now to turn to another more explicitly visual medium, drama, to suggest what is at stake for Ovid in making this comparison between reading and viewing. There are of course many elements of the narrative that encourage one to think about drama here. Not only does Procne’s situation recall that of Medea, a character waiting in the wings to make her own entrance at the beginning of book seven, but she was herself a famous tragic character, featuring in the Tereus of Sophocles, as well as that of Accius. Indeed, the episode offers a virtual anthology of Athenian tragedy – taking in the Oresteia, the Bacchae, and even the Oedipus Tyrannus 6. To understand the significance of the explicit theatricalization of this episode, we must first examine a little more closely Roman conceptualizations of what watching a play could do to its audience. Ruth Webb’s discussion of late antique responses to the theater provides an especially suggestive summary of some of the issues involved. Although she treats a later period in the history of the Roman stage, the concerns she illustrates about the effects of dramatic performance draw on ideas going back at least as far as Plato and amply demonstrated for early imperial Rome. Webb sees in the early Christian polemic that paints the theater as a snare of immorality haunted by pagan demons a reflection »of the experience of the theater audience, an idea of the theatre as a domain outside normal experience where the spectator is caught up in something Other a certain risk of alteration to him or herself« (Webb [2005] 3). To understand the terms of this alteration, Webb goes back to Platonic conceptions of mimesis developed in Republic 3 (esp. Rep. 3.393– 6). There Plato worries that (male) actors themselves are assimilated to what they represent, becoming habituated to extreme and debilitating emotion by imitating those who suffer from it. But the moral dangers of imitation apply not only to the performers; Christian writers in particular express the fear that merely by watching men portray women, the male members of the audience themselves will
5 Feldherr (1997). 6 See Feldherr forthcoming. On tragedy and Ovid, see esp. Gildenhard and Zissos (1999).
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be effeminized7. Thus the situation of Procne, as she becomes different from herself, enraged and »degenerate« in the act of looking, reproduces anxieties about the effect of theatrical performance on its spectators. More dangerously still, Procne, at that moment in which she is both spectator and visualized as a performer enacting »Procne,« suggests the communicability of this effect to those who watch her even as she herself crosses the barrier that ideally separates spectator from actor. In Rome anxieties about the theater especially involved questions of gender and ethnicity, as is revealed in Juvenal’s discussion of Greek actors’ ability to portray women: an melior cum Thaida sustinet aut cum uxorem comoedus agit uel Dorida nullo cultam palliolo? mulier nempe ipsa uidetur, non persona, loqui: uacua et plana omnia dicas infra uentriculum et tenui distantia rima (Sat. 3.93–97). Is anyone better when he plays the part of Thais or when the actor takes the part of the wife or of Doris, adorned with no cloak? The woman herself seems to speak, not an actor. And you would say everything below the belly was smooth and void, parted by a slender crack.
I introduce this passage in particular into the discussion because its description of the moment when the audience accepts the fiction of the performance, when the actor seems to become what he imitates, so vividly recalls the language of Ovidian metamorphosis, with its catalogue of transformed body parts, and the introduction of an imaginary spectator (even the rhythm of that final half-line, tenui distantia rima, has an Ovidian flavor)8. For Juvenal, the excellence of the actor lies in a mimesis so perfect that he appears actually to turn into what he plays. At one level the ease with which Greek actors seem to lose their male genitalia can be easily parsed as an attack on their masculinity – especially if one bears in mind the Greek Plato’s fear that actors become like what they imitate. But Juvenal’s explicit concern is a much more insidious danger to Roman society. Because the 7 Webb (2005), 6–9, citing especially Gregory Nazianzen, Carmina 2.2.8, 2.2.94–97, and the
counterarguments of Libanios to such a position, Orat. 64.70. 8 The phrase tenui rima itself has an Ovidian precedent at Met. 4.65, describing the crack in
the wall separating Pyramus and Thisbe, and Ovid four times in the Metamorphoses makes up the second half of the hexameter with tenui + a tri- or quadrisyllabic adjective ending in -a + the disyllabic noun modified by tenui (1.549, 3.161, 6.127, 11.735), a pattern whose precedent perhaps occurs in Catullus 64.113: tenui vestigia filo. Vergil, by contrast, never uses this pattern: his preferred position for tenui is at the start of the second half of the second foot. Earlier in the passage as well, Greek skill at role-playing is likened specifically to metamorphosis: »in summa non Maurus erat neque Sarmata nec Thrax / qui sumpsit pinnas, mediis sed natus Athenis« (3.79f.). While the most obvious referent of the allusion is of course Daedalus, the lines could indeed be read as the moral of the Procne and Philomela story.
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Greeks are such good mimics, they make excellent parasites, deceiving their hosts through flattery and taking on a variety of deceptive roles not on the stage but in actual social interactions. While Romans marvel at the Greeks’ ability to confuse reality and illusion on stage, they miss their ability to transform the real space of the Roman city into a world of play-acting that ultimately dissolves its ethnic identity and creates a »Greek Rome« (3.61). Juvenal’s purpose here, then, is to draw the curtain and expose the fraudulent illusionism that threatens Rome’s own integrity – making you not believe in the fictions that the Greeks try so hard to produce. As this invective reminds us, the Greeks do not lack male genitals; on the contrary, their lust threatens every member of the Roman familia, the wife, the virgin daughter, the son who was once chaste, even the old grandmother9. The mechanism for Rome’s ethnic transformation as Juvenal describes it is admittedly less direct than the one Webb finds in the fear that looking at someone playing a woman effeminizes the spectator 10. This difference makes sense given that the satirist here aims to alert his audience to the infiltration that is happening offstage rather than on. But the result is similar, the spectator society loses its ethnic distinctiveness, and at the same time its individual members are stripped of the sexual roles that give them status as members of the freeborn community of citizens. But Juvenal’s recreation of the theatrical experience here also helps point out the other side of its socio-political potency. Of course dramatic performances would never have played an important role in Roman public life if they posed such a threat to the integrity of the populus Romanus. Because the theater itself was so strongly marked off as Greek, it also allowed the Roman audience a wonderful opportunity to remind themselves of how different they were both from the Greek scenes that were set before them in both tragedy and comedy, and the actual Greek actors who played them. The Roman theater, I suggest, offers a double potential either for catalyzing an awareness of who the audience member really is or for blurring the distinctness of that identity through recognition of a likeness to the figures on stage – perhaps simply through acceding to the fictions produced there. Far from enforcing a simple message about the nature of the audience’s Roman identity, the theatrical experience derived its civic power from the dynamic tension between these possible readings. Juvenal’s strategy 11 shows this process in action as a perspective on the theater that stresses the reality of the performance as opposed
9 praeterea sanctum nihil †aut† ab inguine tutum,
non matrona laris, non filia uirgo, nec ipse sponsus leuis adhuc, non filius ante pudicus. horum si nihil est, auiam resupinat amici (Sat. 3.109–112). 10 A position reconstructed from the response in Libanios, Orat. 64.70. 11 Or rather the strategy of the character Umbricius, for the whole satire is itself a »dramatic« monologue.
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to the reality it imitates, showing that the Greek actors are not what they seem, reminds his audience of the difference between Greece and Rome. The alternative pulls between seeing likeness and seeing difference that inspire Procne to become an Athenian as she simultaneously translates Philomela’s appearance into a voice and fails to heed the speech of Itys12 thus mirror the potential impact of the Roman theater on its audience’s identity. In the second half of this paper I want to show how the tension between these modes of seeing, enhanced by references to theatricality, play out over the entire course of Ovid’s narrative. Let us begin with a look at another complicated moment of double gazing that again draws attention to how one looks, and how particular strategies of looking affect their audiences. This is the scene when Tereus, persuaded by his wife’s entreaties, goes to Athens to fetch her sister Philomela. As the Thracian had begun to repeat his wife’s request, Philomela herself enters. This scene, if it cannot yet be called theatrical, certainly recreates the spectacle of her appearance in a way that allows for an overlap between Tereus’ and the reader’s perspective: ecce venit magno dives Philomela paratu, divitior forma; quales audire solemus naidas et dryadas mediis incedere silvis, si modo des illis cultus similesque paratus (6.451–454). Behold, Philomela comes, wealthy, with rich adornment, but richer in her own beauty (forma), as we are accustomed to hear that the nymphs and dryads walk in the midst of forests, if only you grant them finery and adornment like those.
Tereus’ reaction to this sight, in its objectification of Philomela and the possibility it offers the audience of sharing his enjoyment, stands as a textbook example of the »scopophilic« gaze made famous in film studies and well applied to this passage by Segal (1994: 260). But two further observations help us place the scene within the episode’s treatment of issues of theatricality and identity. First, like Procne in response to Itys, Tereus is carried away by a point of view that reduces its object to externals – Philomela’s adornment and forma trigger his infatuation. And, second, such externalized viewing, with its focus on a display of wealth and costume that perhaps recall the material opulence of theatrical performance so often castigated by Roman moralists like Pliny the Elder 13, leads here too towards a regression into barbarism, though of course barbarousness has a rather different relation to identity for a Thracian than for an Athenian. Whereas for Procne seeing Itys as other turned her into a being alien from herself, for Tereus this watching activates 12 In the process of silencing Itys by refusing to hear him, Procne also brings him closer to
a stage representation, for the child victims of a Medea or a Procne would not have had a speaking role in a dramatic performance. 13 Cf. e.g. NH 36.113–15, with the discussion of Edwards (1993), 143.
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his own distinctive ethnic identity – at least from the perspective introduced by the narrator 14. And in this respect his response to the sight of Grecian splendors recalls a very distinctly Roman attitude 15. He sees the wealth of Greece as praeda to be seized, and is captured (captus, 6.465) by captive Greece like the fierce victor in Horace’s tag (Ep. 2.1.156). Indeed his nationalist response recalls in many ways the Rape of the Sabine women, which Ovid himself set at a primitive theatrical performance and uses as an exemplum to persuade present day Romans not to miss out on the cultissimae women coming to the theater to be seen themselves (Ars 1.97). After all Tereus, like Romulus, is a son of Mars (6.427). But as we look back with our inner Roman to these foundational moments in our own cultural history, another, different spectacle takes shape which elicits quite a different response from another audience. For the captive king now himself becomes a producer of images, both as an actor and a creator of fictions. »He returns with lustful countenance to the orders of Procne and performs his own vows with her as a pretext« 16. His desire generates a discrepancy between seeming and reality in his own appearance, and the Athenian audience, with a theatrical sophistication completely different from the barbarous Thracian, look past the physical presence of the actor whose cupido ore actually reveals his own intentions, to hear words and accept the fiction that the desires they express are those of the absent Procne. Accustomed of course to seeing men play women on the stage, they assume that is what is happening here. They need a Juvenal to remind them of the sexual danger posed in real life by this barbarian actor. It goes without saying that the sophisticated Romans of Ovid’s own day, who in the Ars Amatoria have to be reminded of the primitive conditions in early Rome, might more naturally identify their own perspective with the cultivated Athenians, and the narrator gives them a further push in this direction by explicitly pointing out Tereus’ barbarity even as he exposes his words as a performance. The scene, then, anticipates Procne’s encounter with Itys by contrasting a manner of viewing that »sees« only formae and seems to imagine a spectator »self« distant from and in control of the object of his gaze with another that accepts dramatic illusions, that hears voices, and so allows for the construction of a subjectivity within what one sees. Here though, these two responses become strongly associated with divergent ethnic identities, the first as »barbarian«, the second as Greek. And while we have not yet identified the »subjectivizing« response as fem14 … sed et hunc innata libido / exstimulat, pronumque genus regionibus illis / in Venerem est:
flagrat vitio gentisque suoque (6.458–60). 15 Cf. especially the warning about the effects of the spolia from Syracuse in a speech Livy
composes for Cato the Elder, 34.4.3f. 16 Cupidoque revertitur ora / ad mandata Procnes et agit sua vota sub illa (6.467–8). On the
importance of theatricality in this scene, see Hardie (2002), 263f.
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inine, we can certainly say that Tereus’ mode of seeing activates and is motivated by a very masculine desire. Ultimately both modes of viewing bear different threats to the spectators’ own integrity, their ability to maintain a difference between self and other. Tereus, even as he plots the rape of Philomela, is already captured, captus 17. And this initial glimpse of Philomela begins a »plot« that will end in another act of viewing that will teach the king all about the dangers of spectatorship. A key point in Tereus’ erotic combustion comes when Philomela embraces her father to persuade him to assent to Tereus’ plea. »Beholding kisses and arms wrapped around necks, he receives all these impressions as goads and torches and as food for his madness, and as often as she embraces her father, he would wish to be that father, nor would it be less impious« 18. The imagery of food and of fathers embracing their children anticipates none too subtly the moment when Tereus will experience this metaphor as reality by literally engulfing his son, Itys. Here the desire to become what he sees, the father of Philomela, may seem to be an example of empathic watching, but as the narrator’s ironic comment reminds us, it is nothing of the kind. When Tereus wishes that he were Pandion, the desire shows his complete absorption in outward signs; he wants to be doing physically what Pandion is doing; he certainly does not want to be doing it as Pandion. So too when Tereus becomes a maker of fictions, »fingit«, what his imagination creates is not a subjective Philomela, but simply a more intimate exterior; he imagines what she looks like naked (qualia vult fingit quae nondum vidit, 6.492). His own role as producer of fictions throughout the episode continues the tendencies of this first scene: he uses lies, false appearances like the »fictos gemitus« (6.565) with which he convinces Procne that her sister has died, to impose a barrier to the expression of Philomela’s perspective. His lies, like the inane sepulcrum he contrives (6.568), are intended to be mere signs that make it impossible to recover a living presence within what they signify. Correspondingly his physical transformation of Philomela herself, in ways that eerily anticipate her 17 One way of understanding the mechanism of this capture is suggested by Hardie (2002),
267f., where the desiring subjects become so obsessed with the fictions they have created that they lose their own selves as their identity merges with the object of their desire/obsession. Thus, as Hardie, citing Anderson (1972), 218 f., sees in line 6. 513, where Tereus, having made off with Philomela is in possession of what he has prayed for (mecum mea vota feruntur ), Tereus seems to become the desire he has created for himself, and conversely Philomela, at the moment when she weaves the tapestry merges with the figure that she creates »poenaeque in imagine tota est«, 6.586. This dissolution of the self into an external image, which the self actually produces, is, though, an opposite process to the generation of genuine sympathy for another subjectivity, whether present or represented. In the former the self moves outward; in the latter, an other moves inward. 18 18 Osculaque et collo circumdata bracchia cernens / omnia pro stimulis facibusque ciboque furoris / accipit, et quotiens amplectitur illa parentem, / esse parens vellet: neque enim minus inpius esset (6.479–82).
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final metamorphosis, strip her of a voice and force her to rely on visual signs, the woven carmen miserabile she sends to her sister, even as her tongue becomes something to see rather than to hear 19. Tereus’ plot, though, is countered by the consequent representations produced by the two Athenian sisters, and is equally undone by the kind reception of images Procne uses to »become« Philomela while rejecting Itys 20. Space prevents a fuller analysis of how Procne responds to the written song her sister sends her by staging a series of dramatic festivals – the Bacchic rites that mask her expedition to the stables where her sister is imprisoned (6.588), and the patrii moris sacrum where the corpse of Itys is fed to his unknowing father (6.648). But I want to make two general suggestions about how this part of the narrative continues the opposed 19 Evolvit vestes saevi matrona tyranni / fortunaeque suae carmen miserabile legit (6.581–2). The
text of line 582, an important one for my argument, is not entirely certain. I follow throughout the reading given by the oldest surviving manuscripts and printed in Anderson’s Teubner edition. The language is doubly striking: first, a genitive is only very rarely used in Latin to express the subject of a song (it much more commonly refers to its author, and occurs once as a defining or appositional genitive, »the song of the Thebaid«), and, second, the word carmen, »song«, seems at odds with the emphasis on the purely visual aspect of Philomela’s tapestry. Readings attested in later manuscripts have offered solutions to both difficulties, presenting germanae for fortunae and fatum for carmen. In the second case, I believe there are strong literary reasons for retaining carmen. First the very strangeness of describing Procne here as »reading a song« helps alert Ovid’s readers to the contrast between written and aural which plays a thematically crucial role at the episode’s conclusion, where marks or letters (notae) are substituted for song as the distinctive characteristic of the birds the sisters become. Second, the expression carmen miserabile, already subtly anticipates the moment of transformation that, I suggest, reveals its special significance. For the phrase miserabile carmen is used precisely of the nightingale’s song by Vergil (Georg. 4.514). It is unlikely that a copyist simply inserted a reminiscence of Vergil here for a number of reasons: the phrase appears in reverse order and in a different metrical position, and, as yet, there are no nightingales present in Ovid’s text. – The reading fortunae seems to me less certain, and indeed the most recent edition, Tarrant’s OCT , opts for germanae. The genitive is odd, but the syntactical oddness would correspond to the shock of its meaning – in reading Procne is said to discover neither the story of what happened to Philomela, nor even the crime of her husband, which is what Philomela wanted to show, but a revelation of her own circumstances. Germanae, on the other hand, seems initially banal but does form a pointed contrast, heightened by assonance and chiasmus, with the saevi tyranni whose wife Procne also is. In the end, I prefer fortunae: it is certainly the lectio difficilior, and while unusual, not difficult to understand, especially in the environment of a phrase like indicium sceleris, used four lines previously to describe the very same tapestry. In both phrases what the object shows appears in the same case, and this parallel in turn highlights the significant discrepancy between the intentions of the author at the moment of the work’s creation – a revelation of crime done to her – and the meaning it takes on for its reader at the moment of its reception – a description of her own circumstances. 20 Segal (1994), 264 sees a similar opposition between the »mode(s) of narration« used by Tereus and the sisters, but expresses it as speech vs. silence.
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ways of viewing traced in this paper. Here my reading is rather at variance from Hardie’s magisterial interpretation of the scene: where he stresses the similarity and essential reciprocity of the two uses of fiction (2002: 269–72), I want to emphasize rather the differences in the models of reception that balance female actresses against male fictionalizers 21. First, Procne’s recognition of her sister through the written signs she sends begins two contradictory processes that anticipate precisely her later transformation into her sister. As the text becomes a song, a carmen, so what Procne sees in it is a song about herself, the carmen suae fortunae. At the same time that she sees herself in what she reads, though, we watch her from without and see her transformed into Philomela precisely by losing the capacity to speak, by becoming an image herself. So at the moment when she views Itys as Philomela would, we see her from without in the very different form of an Indian tigress. Second, Procne and Philomela’s own plot uses dramatic fictions fundamentally to reveal what has been shut up inside rather than to conceal or imprison. From the moment when she crafts her carmen miserabile, the person that Philomela represents is herself. When she returns to the palace with her sister, she must, like a performer in an imperial pantomime, act out what has happened to her through gesture alone. Finally, her moment of triumph comes as she appears as herself brandishing the head of Itys and so exposing rather than concealing her crime. The kind of separation between appearance and reality generated by Tereus’ lies has no place in her performance, in which, like an absorbed spectator at a drama, we see only the character that she plays. That final moment of recognition, Philomela’s emergence with Itys’ head, brings to a climax the tension between these two modes of seeing and prepares for a final transformation which lets us understand what is at stake for Ovid in the contrasting responses he generates for his narrative. For Procne, this marks the end of dissimulation (dissimulare nequit, 6.653), and the moment when Philomela wants most to give voice to her own pleasures. And yet Ovid simultaneously heightens the pressure on his audience to see both sisters as actors in a theatrical performance: Procne wants to deliver a messenger speech (nuntia cladis, 654), the only way such a scene could be presented in a tragedy. And Philomela, who had been dressed as a bacchant to effect her escape from the stable (6.598f.), now continues performing the Bacchae, as an Agave figure holding the head of a dismembered son. The scene indeed alludes to a moment of meta-theatricality in that play, when the actor playing Pentheus, having been dressed as a bacchant by Dionysus, returns as Agave i.e. as a man dressed as a woman22. And if we continue to super-impose 21 See Hardie (2002), 267–269. 22 Segal (1994), 273–279 traces the Bacchantic imagery in the episode; his emphasis however is
less on the effect of allusion to the genre of tragedy per se, than on how the slippage from Bacchantes to Furies effects our interpretation of the moral quality of female revenge.
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a tragic performance onto Ovid’s scene, then the head of Itys becomes the mask that would have represented the head of Pentheus. Imagining the scene literally enacted in this way draws attention to those two alternative ways of seeing drama. On the one hand we see a tragic character emerging inseparably as the performer, Philomela as Agave, on the other the mask a mere theatrical sign, representing someone, Itys, who no longer has a body and so can never be there. For Tereus this is the ideal punishment for the time when he dreamed of playing the father and fed his madness only with the costume and form of Philomela. In place of being a foreign spectator, with the possibility of merely enjoying, appropriating and manipulating the spectacle – a position that I would argue approximates an ideal »Romanizing« view of the foreign theater – he is revealed as himself a character in a drama, less an authentic son of Mars than a figure from the Greek stage. But if the last step in this reading has seemed to suggest a »sympathetic« Ovidian narrator participating with the wronged Philomela to punish any would-be Tereuses in his own audience, it is important now to insist upon the obvious point that the Metamorphoses is not a drama. Indeed, the tragic scene is itself transformed by a phenomenon that could never be represented on the stage, a metamorphosis. Through this device, as was hinted at before in the tiger simile, all of the characters are clothed with forms that conceal human identities and, as opposed to the sequential progression of the drama, freeze them in a final action destined to be infinitely repeated. This transformation also in eerie ways continues the »fictions« of the other, more Ovidian, author within the story, Tereus himself 23. As is well known, the Greek Procne was identifiable by the song she sang, which was itself the name of Itys. Ovid has »Romanized« them by taking away their voices, and reducing their signifying means to visual signs – the letters, notae, that mark their breasts. In concluding, I want to offer a suggestion about how the interest Ovid has shown in how selves relate to »others« through the medium of drama, elucidates his own procedures in telling the tale and the effect of his narrative on its audience. At first the externalizing, deliberately superficial aspects of the final metamorphosis seems opposed to the sort of internal mutability that Procne experiences in response to her sister’s carmen. Applying the models of dramatic reception developed through our reading of the Juvenal passage, we might say that recognition of the protagonists of the story as what they have become through metamorphosis goes together with a location of the Ovidian audience as the external spectators of a securely demarcated dramatic spectacle, conscious above all of the barriers between the watchers and what they see – a play and not reality. The loss of human form, together with their imprisonment in textuality, as the letters on the page, especially 23 For a rich explication of the relationship between Tereus as internal author and the poet, see
Segal (1994), 263.
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in a narrative genre so transparently unbelievable as fabulae, helps to exaggerate the difference between the characters as subjects and the audience. Paradoxically the desire of the »Roman« reader to interpret the scene in this way becomes another point of similarity with Tereus. Hardie (2002: 271) draws attention to the semantic similarity of the two parallel desires of Tereus after he has discovered what he has consumed. He wants at once to call up the Furies to pursue Procne and Philomela, and to »eject the diras dapes«, which thanks to hyperbaton become briefly synonymous with the contents of his stomach. Adding the emphasis to theatricality implicit in the gesture of calling up the furies, we can interpret the ambiguity here as a way of suggesting that dramatization, by making it possible to substitute the outer for the inner, offers him the chance to escape from himself by projecting his situation on to a representation that is fundamentally other – itself a plausible way of reading Roman emphases on the otherness of the theater. And indeed the metamorphosis that follows which converts the sisters into hybrid females suggestively like and unlike the Furies evoked by the fiction-making Tereus, appears very much as something that results from an act of imagination on the part of the Ovidian audience, »you would think that they were flying, and flying they are«. Though to perceive the Terean-ness of this gesture means that one has already internalized the perspective of the »stage« figure Tereus, and thus experienced something of the discordant revelation that befalls the king when he looks at the mask of Itys. At the same time, by linking the modes of responding to his fictions to the controversy that surrounded the reception of drama at Rome, Ovid emphasizes how choices each reader makes about what to believe and accept as true help to define the social and cultural self of each member of his audience. The divergent pulls the various ethnic identities highlighted in the story would have exerted on a first century Roman audience help make this clear. Which position is it better to occupy? That of a conquering, barbarian hero? Or an inhabitant of the civilized, Hellenized, urban center of Athens? The episode, I have suggested, complicates and destabilizes either perspective, and in doing so captures for written metamorphosis some of the transformative magic of the actor onstage becoming something different from what he is. But by so explicitly sketching out the different ways in which the narrative could be viewed, Ovid also highlights the partiality of the nationalizing reception his conclusion seems to invite. Tereus’ end offers a cautionary tale about the impossibility of fully externalizing what you see. And the simultaneous availability of a Procne-like perspective, encouraging, perhaps, a male reader literally to read as a woman threatens another version of the feminization of the theatrical spectator so feared by the ancient critics of the theater. Those Latin notae can always be heard as well as seen, in which case the Greek »Itys« that was Procne’s cry re-emerges from »within« (intus, 6.655) Ovid’s carmen, »again and again« (iterum. 6.656).
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Identity, identification and personae in Catull. 63 and other Roman texts Alexander Arweiler (Münster) The human being is entirely a disaster. 1
In the Partisan Review of 1947 Paul Bowles published a story entitled A distant episode 2: A professor of linguistics travels to a remote North African town to make a survey of local dialects. Despite uneasy feelings he follows a stranger to a dwelling outside the town where he is captured by nomads who beat him nearly to death and cut off his tongue. The professor (not named throughout the story) falls into a state of near unconsciousness, while the nomads carry him along on their travels through the desert, make him sleep among the camels and after a while start to train him to entertain people at festivities by dancing, covered with »belts made of the bottoms of tin cans strung together«, and making »fearful growling noises«. After more than a year of a beast-like existence he is sold to a new owner, at whose house, at the sound of Arabic words he recognizes without recalling their meaning, »pain began to stir again in his being«. Having been left alone, he senses hunger and manages to escape from his prison, strays around the town, until a French soldier shoots at him, reckoning him to be a sort of »holy maniac«: »The soldier watched a while, smiling, as the cavorting figure grew smaller in the oncoming evening darkness, and the rattling of the tin became a part of the great silence out there beyond the gate. The wall of the garage as he leaned against it still gave forth heat, left there by the sun, but even then the lunar chill was growing in the air.«
Some of the discomforting effects of Bowles’ story originate in the narrator’s unwillingness to engage in his character’s possible feelings or to show sympathy. He is detached from the tragedy he is telling, as is the professor from his own fortune (acting as witness rather than subject), and as his tormentors are detached 1 Herodot 1,32,4 in the translation proposed by Anthony Long (2001), 23. 2 Republished a year later (in: New Directions in Prose and Poetry No. 10, Dec. 1948) and
later integrated into the collection The Delicate Prey and Other Stories 1950 (containing texts written between 1939 and 1949).
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from basic senses of humanity. The story shares many characteristics with Bowles’ other works (especially with The sheltering sky), and some of these may be (and have been) associated with views on the subject and self held to be typically »modern«, such as notions of alienation, fragmentation, disconnectedness, incoherence, and contradiction. The Distant episode develops these notions with regard to another well-established idea of literary and cultural studies and social sciences, namely the individual’s fundamental dependence on his or her cultural environment, whose deliberate abandonment or loss may lead to the collapse of the individual’s inner constitution or, as a common usage suggests, of his or her identity. To motivate my following discussion, I would like to point to three more texts, first an observation by Anthony Long on Greek and Roman philosophies, then two plots from Roman literary texts. Long stated: »Actually, all the philosophies I have discussed were so sensitive to the effects the social forces have on shaping human identity that they more or less anticipated today’s anthropological datum that human beings are ›cultural artifacts‹. Their educational ambitions […] were a critical and very deliberate reaction to it – a reaction to the power of conventional ideologies to shape people’s values and motivations without remainder.« 3
The two literary plots are: A young citizen of a Hellenistic polis travels to the Phrygian shores, participates in orgiastic celebrations of the Great Goddess Cybele, and emasculates himself in frenzy. Having regained reason, he returns to the beach and desperately regrets what has been done until a lion chases him into the woods; he never comes home again (Catull. 63). Finally: A poet is relegated to the margins of the civilized empire where he is deprived from any company and exposed to a hostile nature and beast-like inhabitants; little by little he loses his ability to speak and is isolated and oppressed by fear; he never comes home again (Ovid’s Tristia). If we had the impression that Bowles’ plot is typically modern, are the last two less or equally modern? If Greek and Roman philosophies could think of the human being as a cultural artifact, where do we have to put Roman literature when constructing a history of literary concerns about the self? Which particular features of concepts of the human being do we have to note that were not yet available to ancient or that are not any more available to later poets or writers of prose? Such historiographical concerns about notions of the self seem to have no marginal impact on what scholars in literary studies think their task in dealing with the self should be 4. Not few contemporary accounts deal with something which is sometimes called ›history of the self, of subjectivity, of individuality‹, and 3 (2001), 31–32. 4 Which is perhaps different in the history of thought: The magisterial volumes of Gill (2006)
and Sorabji (2006) both present thoroughly grounded theses about historical development (see notes below); see also the survey on Greek notions of the human person (covering
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try to pinpoint the birthplace of special or all related notions within an epoch, a discourse, or even a single author. My following observations intend to show some difficulties arising from a particularly reductionist historiographical approach to literary texts, and doing so I will concentrate on notions of personal identity and acts of identification in Roman poetry, considering these notions simultaneously as subject-matter of texts and as relevant condition of everyday reading practices. I won’t try to engage in a discussion of what Catullus, Ovid or Lucretius may ›already have seen‹, but I would like to call for a wider approach to the issues of the self by including literary perspectives, and by paying attention to literature’s own agenda concerning philosophical, social, or religious concepts of the self.
1. Preliminary remarks: Personal identity and acts of identification Personal identity in philosophical discussion is often related to metaphysical and logical problems concerning the possibility of being the same through time, while in literary and cultural studies a wider notion is common which refers to a set of attitudes, properties, and life conditions someone holds indispensable for being the person s/he senses s/he is 5. The philosophical tradition is not only much more elaborate and structured than some parts of the discussion on related issues in literary studies 6, the latter also refer to quite different (very young) traditions, mainly ethnological, psychological, sociological, and cultural studies whose mixture brought forth the many histories of subjects and subjectivities that claim Michel Foucault one of the new city’s founding heroes. In literary studies we may be content with terms that are somehow midway between highly specialized (and equally controversial) definitions of philosophy and the obscurities of ordinary language, well
also identity, identification, and individuation) in Teichert (1999), 15–89 (with convincing objections against Snell’s claims of discontinuity). 5 E.g. Searle (2004), 192–194 distinguishes three »families« of problems related to the self: criteria of personal identity, the subject of attribution of psychological properties, and what makes me the person I am, the last being related to character and personality while the first two concern »the metaphysical problem of the existence and identity of a self across time« (ibid. 194). On the distinction between logical notions of identity as relevant for persons (numeric, qualitative, and diachronic) from the wide identity covering relations of someone to himself, how one represents oneself, acts and lives in accordance with what is suitable and wished for by an individual, see Teichert (1999), 4. A verdict on the loose notion of identity in social sciences in contrast to philosophy is Henrich (1979), 133–137. 6 A short historical overview on related ideas and terms in Sorabji (2006), 32–53; a helpful list of issues in modern and ancient discussions of personal identity is in Gill (2006), 72–73.
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knowing that the terms thus circumscribed are provisional and ideally open to later refinement 7. Self and identity are collective terms that are constituted by a variable set of aspects and ideas. For pragmatic reasons it seems legitimate to take the collective terms when referring to a previously established set of features, for example coherence, continuity, autonomy, individuality, uniqueness, sameness or personhood. These features, interrelated with each other and constituting themselves fields of inquiry, can be subordinated to self and identity, but they are not necessarily included or explicit 8. We may single out some particularly unhelpful uses of the collective terms that tend to obscure their meaning when referred to literary texts: abbreviated expressions without previous specification (talking about ›the self‹ instead of a particular concept of a particular aspect related to the self), expressions lacking limitations in time, place, regard etc. (›the Roman/Greek/ancient self‹ instead of a concept of self documented by a specific text, tradition, author etc.), unexplained complex terms (›subjective‹, ›individualistic‹), and references to more than one person or individual involved (›collective self‹, ›cultural identity‹). The last claim is connected with the first and second, but needs some explanation, as it is common to talk of identities of nations, communities, and groups. A shared interest in a specific property or pattern to describe one’s personal identity is not conclusive for stating that the single descriptions of a similar type form one description or involve a new entity such as a collective identity. Individual acts of identification may be concordant or discordant, but the acts remain separate and do not amount to one and the same act carried out by several people. The shortcut also is misleading about the number of possible items, their selection and combination according to changing circumstances, and it ignores the large area of evidence that may be dealt with in a single case, but even then are rarely accessible to the observer (attitudes, beliefs, mental states, psychic experiences, private notions, intentions, experiences). Therefore I doubt that it is meaningful to talk about a Roman self or a Roman identity to be recovered from Ciceronian speeches or Vergil’s Aeneid9. Instead, we have single texts with specific contexts dealing with specific aspects of the concepts of self or identity, and we may study the specific conditions, aims, and 7 On the idea of later refinement see Parsons (2000), 174: »We have in mind ideals of completely
precise concepts. When we use a word, it is to be taken as if it were expressing a precise concept, one which is a refinement of the imprecise one we actually express«. 8 Specification within philosophical studies and schools reinforces this problem, see e.g. Sorabji (2006), 157 on prominent approaches to identity: »I now move from the sort of subject discussed by Derek Parfit to the sort treated in Charles Taylor’s Sources of the Self , from the question of what constitutes personal identity and difference to the rather different idea of possessing an identity in ethical contexts«. 9 Syed (2005) for example is quite difficult to understand for the generalizing, abbreviated approach to the field that is not structured according to the texts and concepts involved.
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outcome which in literary texts is far from being easily transferred to another text and even less so to one or more individual persons behind. Finally, a last discomfort concerns generalization of the historiographical type (mentioned above): The single texts with specific contexts and dealing with specific aspects from the field of self and identity cannot be pressed into the scheme of chronological development, but form an array of different approaches in different times and places where the first inventors of thoughts and concepts remain obscure. Recent scholarship in philosophy has refuted many long-established opinions about the (modern, even late modern) inventions in the thought about the self, and the lack of scholarly tradition within literary studies advises avoiding the trap of historiographical reductionism10. Having set these preliminaries, I would like to confine the following observations to a small part of the questions related to personal identity which is (as announced above) the acts of identification. An act of identification may be understood as a means to differentiate single entities from each other which belong to the same species, as is the case with human beings and literary characters alike 11. Performing this act goes along with an act of individuation (which person out of a group?), and makes use of different categories and attributions that may be ascribed to several persons but either allow for sufficient identification within a confined group of possible candidates (the one named Aeneas, or if there are two of this name: Aeneas who is sitting on the left to Anchises), or are applied in a different sense (the wisdom of Socrates being different from the wisdom of Plato) 12. Another type of acts of identification, and perhaps a more frequent one in literary texts, is not so much referred to differentiating one from the other, but simply to showing who one is, thus delivering information on name, status, descent, preferences, behaviour and so on in order to make a character a character . But the interest in literary acts of identification may begin earlier: Vergil’s Aeneas famously introduces himself to Dido by saying Pius Aeneas sum, thus identifying himself by a quality of his character he may assume to be especially appealing to the queen. Whether this is meant to be a reliable account of what he is or what he thinks about himself, is open to inquiry and depends on what we may infer from the context (as it may also be a deceptive speech such as the one uttered by Sinon in book 2 of the Aeneid). The sentence contains an element of persuasion and exhortation not expressed by grammar: »Believe me, I am Aeneas and I am pius«, or: »Identify me as Aeneas who is pius«. This element of exhortation is easily recognized within a direct speech, but it is also present when the speaker or 10 E.g. See Sorabji (2006), 95–111 on John Locke’s return to ideas of memory in Epicurean and
Stoic texts, explicitly Lucretius (esp. Lucr. 3,843–64). 11 Teichert (1999), 47 (on Aristotle); on differentiating individuals within the Stoic tradition, see
Sorabji (2006), 144–151 (on distinctive qualities, place, and matter). 12 The example and some ideas are from Teichert (1999), 45 (on Aristotle).
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narrator of a literary text utters a statement. Every sentence of the type ›The person x is z‹ may be read as ›Believe me that x is z, Imagine that x is z‹. Once a reader has agreed to dealing with literary texts, s/he will want to follow the proposals and take them as literary facts, even if the fact is not the proposition, but the utterance itself (›Imagine …!‹). Propositions within the text are meant to be measured against other propositions and contexts (structure, composition, affiliation to a genre or mode of speaking, mythographical traditions etc.). Thus the texts may provide a successive series of proposals to identify a character (by name, qualities, behaviour, descent etc.), and it is up to the reader to construct a unified or contradictory image, relate it to other images from literature (e. g. other characters named Ulysses) or historical and political record (e. g. Caesar). Especially characters known from literary tradition and reappearing in different texts pose interesting (and not solved) puzzles to the reader: How can we think of Ariadne as being the same e. g. in Catullus and Ovid? What is her identity that makes her the same despite all modifications?13 Many readers will take it for granted that the proper name may be sufficient to relate the texts one to the other, but presupposing an identical character with changing properties seems to draw a conclusion before the arguments have been found 14. Debates about the results of these and similar acts of identification are due to several factors, one surely being that we are not confronted with (logical) cases of strict identity where (according to a possible definition) every property of person A is equally present in person B, but asked to fill gaps, argue in favour of or against a certain identification, compare our own patterns with those applied in the text or by other readers 15. Acts of identification may be displayed on the level of narrated events (characters being introduced or describing themselves or others, recognition or anagnorisis or confusions of persons [e. g. as parts of plot arrangement, with doubles and mistakes of identities], discussion of relevant or irrelevant features of a person etc.), they are carried out by characters describing others and narrators introducing and 13 As we will see later on, the selection (and awareness) of criteria is a subject-matter of poetic
texts as well as it should be of literary critics; Searle (2004) 196 proposes rightly to look at those criteria »people employ in ordinary speech for deciding which person today is identical with which person in the past« 14 Ariadne in Ovid and Catullus may be referred to as the same (character) in that sense that we refer to other people’s beliefs (it is the same, but we have different images in mind, cf. Henrich [1979], 156–158), but I would think it is a misleading homonymy. 15 Another one may be that we are dealing with a strange entity when referring to literary characters, having biographies, families, and long literary lives, yet no substance we could refer these properties to. Some may interpret divergence in results of identification as a deficiency of the text or an inability of readers to do it »right«, but as it is probable that we are confronted with deliberate distortions of common identification practices, the objection may be dear especially to those whose beliefs in established patterns of identification is challenged by the literary text.
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defining conditions for identification. Inasmuch as writers want readers to participate in proposed acts of identification, they will pay attention to common models and rules available to their readers, in order to use or modify them, the latter especially for the fact that unreliable or misleading acts of identification are creative tools that literature can use without regard to moral or legal constrictions. Identification can be described in terms proper to literary studies, by analysis of conditions, means, methods, structure, presuppositions, circumstances, and representations, in the stage of production as in reception 16.
2. Attis’ failure to identify her self and its reasons Mary Beard in an insightful assessment praises Catullus’ poem 63 thus: »Catullus’ Attis poem goes right to the heart of Roman society and values, questioning the very nature of the ›Romanness‹ that those values entail. […] In short, it is a poem that confronts and questions every notion of the subject, and of subjectivity« 17.
This impression is shared by many readers of the poem, and it may serve as a starting point for observations on how exactly self, identity, and acts of identification are employed for literary purposes. The poem is neatly, even simply structured in its use of stock elements of narrative and composition (a quasi-mythical figure, a sea travel, adventures in a foreign country, direct speeches, the lament at the beach, a set of characters introduced, an abrupt ending) 18. Dichotomies and sharp oppositions structure the poem in order to convey the notion of incompatibility between civilization, rationality, light, social (ethnic, cultic) order on the one hand and loss, darkness, frenzy and beast-like existence on the other. Highly artistic employment of metre, style, and vocabulary as well as the interest in cult and aetiology, the small scale of events narrated, the length of the text, the interest in the characters’ intentions, feelings, and reactions all are elements that show the text affiliating with contemporary and earlier literary concerns. Its richness in content and its reworking of various fields of Roman culture has brought forth an equally rich number of fruitful approaches: The use of ritual and cultic material has lead to propose a cultic function of the text itself, it has been related to the scholarly interests of Hellenistic poetics, it has been read as a discussion of gender issues, of politic and social disconcertment, as a document of religious-historical value, as a political comment, as a poetological 16 I have tried to show the complexities of the process that makes us perceive characters and
narrators as eminent elements of a text in Arweiler (2006), e.g. 4–8, 37–48, 52 (on Lucan). 17 Beard/North/Price (1998), vol. I, 165. 18 On symmetrical patterns in the monologues see Fedeli (1978), on Hellenistic composition
Fantuzzi/Hunter (2002), 550.
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enterprise, as an erotic metaphor, as an allegory of the love poet – and, necessarily, as a biographical document 19. As our interest is directed mainly on acts of identification within this poem, we can start with the central monologue: Catull. 63,50–55 20 ›patria o mei creatrix, patria o mea genetrix, ego quam miser relinquens, dominos ut erifugae famuli solent, ad Idae tetuli nemora pedem, ut aput niuem et ferarum gelida stabula forem, et +earum omnia+ adirem furibunda latibula, ubinam aut quibus locis te positam, patria, reor? ›My country, who gave me birth, my country, mother to me, That I left in my misery, as slaves who flee their masters Leave their owners, and carried my step to the groves of Ida, To be amid the snow and the chilly haunts of beasts, To visit the [?] lairs of [?] in my madness, Where or in what location should I think of you lying, my country?
Attis had addressed her companions (v. 11), now turns to the patria (v. 49) and later to her psyche (v. 61 miser a miser anime). Her speeches thus are addressed to institutions often mentioned as relevant to developing notions of one’s self, and these institutions are, perhaps unlike some later conceptions, not seen as oppressive: There is no stress on a separation between perception of the self from ›inside‹ and ›outside‹, because the self is accused of not having modelled itself according to the needs of the community (we will see later that this is a particular interest the narrator himself displays)21. It may be important to note that we do not read an introspection in the familiar sense of searching for a true, inner, secret self as opposed against the pressure of social patterns and demands. Attis is presented as voluntarily using the community’s patterns and language to create a perception of what she is and what she is meant to do (cf. the Ciceronian notion of res publica as »common thing« that has no meaningful existence independently from the 19 The best starting-point is Harder/Nauta (2005) where all articles have extensive bibliogra-
phies; against Wiseman’s idea that poem 63 was meant for ritual performance at the Megalesia see Fantuzzi/Hunter (2002), 563 n. 74. On religious-historical aspects of the cult see esp. Lane (1996); Nauta (2005), 109–116 has convincingly connected the Cybele cult in Catull 63 with the (re)new(ed) interest in Rome’s Trojan origins. Discussion of the proposed relation to the Bithynian experience of the historical Catullus e.g. in Perutelli (1996), 264 (cf. the convincing objections expressed ibid. 269). 20 Texts and English translations here and afterwards are Stephen Harrison’s, published in Nauta/Harder (2005), 2–7. 21 Reydams-Schils (1998), 35 points to the Roman development of Stoic doctrine to bring out a »self as a mediator between philosophical norms and the demands of society, ranging from those of spouse, children and kin to those of the political community«.
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participants, while the latter’s existence ceases to have meaning when separated from the »common thing«)22. As to the exact questions she asks about her self, it is clear that individuality or uniqueness of the experience are not prominent, and metaphysical interest is probably small 23. Attis does not doubt the sameness of the agent before and after the decisive change she has suffered, yet the text conveys the notion of a serious conflict acted out in the stammering search for words to describe what happened (e.g. 63,58–60). But this conflict bears rarely features of what to us seems the familiar ›turn inwards‹ for inspection, not rarely connected with Hellenistic ideas and with Catullus, too24. The text is explicit about the conditions that allow Attis to perceive this conflict, and it indicates the properties the ego under review owns: The me feels pain and remorse (63,73 dolet, paenitet), recollects through memory what she has done (63,45 sua facta recoluit), observes rationally (63,46 liquidaque mente vidit) and experiences passions such as grief and misery (63,49). The inner connection of body and ›soul‹ is covered by mentions of the breast (our ›heart‹) as place where the recollection of the deeds is located (63,45 pectore), of the mens in connection with rational sight, the tears from her eyes (63,48 lacrimantibus oculis), the voice, and twice the animus, once as experiencing the turmoil of passions (63,47 animo aestuante) and once as addressee of lament (63,61 miser a miser anime). This Attis is having her moment as (perhaps Stoicizing) self that »is rational, unified and subjective consciousness that is reflected in a discourse of explicit self-examination and -assessment« 25, but as we will see later on, she has scarcely anything to say about an inner conflict between passions and reason, or diverging passions 26. Her problems seem to lie somewhere else.
22 E.g. in regard to morality Long (2001), 30 reminds us: »As construed by ancient philosophers,
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morality is not obedience to God as distinct from following one’s own inclinations […] What the ancient philosophers in general take morality to be is the self-imposed rule of good reasoning – called orthos logos by Aristotle and the Stoics, and best translatable […] as »correct ratio« or »correct proportion«. The fact that Attis (in some traditions of the cult) was a name of all priests of Cybele may strengthen the aetiological dimension of the narration and thus make of Attis an archetypical figure. That the galli in the cult itself were no priests is stressed by Thomas (1984), 1526; cf. ibid. 1527–28 on the difficult questions and sources; cf. Lancellotti (2002), 91 n. 157: »cultic appointees« (following Razzano [cited ibid.]). Cf. instead Sorabji (2006), 52: »[…] there will not so much have been an inward turn. rather, from the beginning some philosophers, not all, will have been attracted by the idea that truth lies within.« Reydams-Schils (1998), 35. Perutelli (1996), 261 is different: »L’individuo, e solo quello, si lacera per la sua unicità perduta, dibattendosi in un turbinio di sentimenti non lontano da quello dei gesti rituali del culto di Cibele.«
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The narrator seems almost eager to assemble every feature that could commonly be held as distinctive of human beings: memory, rationality, language, perhaps also sensing remorse and pain. This is the precondition for the speech which accordingly does not show an entire collapse of the person or mind (and no metaphysical crisis). Rationality provides the distance Attis takes to observe her self, as it enables ethical observation famously theorized in the concept of the cura sui, but she sees just what everybody else in her community could see (there are no mental states besides remorse now, there are no questions about her intention when leaving her home country). The self has not only survived the break of her consciousness, but also retains the memory of the past, as she recounts her former life in retrospect, carefully structured by civic categories and permitting to identify the precise place within her former social community 27. What is enacted on the poetic level is, I think, very similar to the observation made by Sorabji: »The thicker descriptions we give of ourselves may be extremely important to us. We come to feel that, in an everyday sense of identity […] we would lose our very identity if the descriptions ceased to hold; if, for example, we changed our gender, profession, nationality, and culture. But there is no suggestion that we would cease to exist without them. And indeed we could come to see a new overarching identity and unity that embraced the new characteristics along with the old.« 28
The last point, a new identity (in the loose sense), is not part of the speech or the narrated events, but, as I will argue later, its omission may be due to the narrator’s specific objectives. Nevertheless, the text’s grammar and style in the speech of Attis are depicting the intensity of the experience, and the asyndetic structure produces a disconnectedness of the words that repeats the separation of Attis from her self. The idea is reinforced by the insistent repetition of ego (probably the highest frequency of the pronoun in Latin literature). The reader follows Attis through the list of properties and states of being that all once belonged to the ego, but now are stripped off, and leave him with the question what may be this ego after all is gone that could be said about it (as the new properties are described as alien to it). The repetition furthermore seems to be self-assuring, hoping that the one called for is really still there. An interesting shift is made after the recollection of social states when, still not doubting the psychic continuity through the course of events, Attis shortly mentions the physical change and immediately gives an outlook on the (threatening) future. 27 Social orders (63,59 patria, bonis, amicis, genitoribus) are followed by civic (urban, Hellenistic)
institutions (63,60 foro, palaestra, stadio, guminasiis) and ritually defined stages of the civic life (v. 63 ego adulescens, ego ephebus, ego puer), the latter in reverse order. 28 Sorabji (2006), 22; ibid. he explains »thicker descriptions« as those used in decision making and reacting emotionally »as a person with a certain standing, past history, culture, and aspiration«.
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Catull. 63,69–72 29 ego Maenas, ego mei pars, ego uir sterilis ero? ego uiridis algida Idae niue amicta loca colam? ego uitam agam sub altis Phrygiae columinibus, ubi cerua siluicultrix, ubi aper nemoriuagus? Shall I be a Maenad, a mere part of myself, a sterile man? Shall I haunt the chilly regions of green Ida, clothed with snow? Shall I spend my life under the lofty peaks of Phrygia, Where the hind lives in the woods, where the boar wanders the grove?
We will come back to the outlook on life in the woods below 30. The sex change, central to the perception of many modern readers, is described mainly in physical terms as Attis fearfully asks how she can be herself while being just a part and a man without procreative power (63,69). Measuring pars mei by the psycho-physical holism amply documented for Hellenistic philosophical schools 31, we may infer that the expression also indicates a mental dimension and Attis is actually referring to her self as being reduced to a part. Another term of considerable interest is the difficult genus figurae (63,62) which Attis employs to introduce the list of stages in social and biological development she has gone through. In Lucretian philosophical terminology figura is the form (of living beings or inanimate objects) which the single semina bring forth by assembling and temporarily being a living being or an inanimate object, and in another sense it denotes the way things and persons appear to us physically as well as as being a person with characteristic attitudes or behaviour. Both meanings point to a notion of inseparability so that appearance to the others (outwards) and the self (inside) are neatly interwoven. Attis has no sense of a contrast between me and an oppressive set of rules, norms, and constraints imposed by the society, as the model she applies is based upon an interaction between individual and community 32. As indicated by the quotation given at the beginning of the chapter, this part of the poem has appealed to many readers and has often been seen as depicting a crisis of identity or a tragedy of the soul, but as my preliminary remarks probably have already suggested, I would refrain from most of the terms involved in these descriptions (especially ›subjectivity‹ or ›individuality‹), and I think the text points into another direction. While the situation of Attis is definitely one that causes sympathy, her monologue is not only less emotional than one may expect (as we will see below, this is the narrator’s fault), it also displays no great interest in 29 30 31 32
Texts and English translations Stephen Harrison’s, published in Nauta/Harder (2005), 2–7. On dancing in the woods in the cult of Cybele cf. Pachis (1996), 216–218. A full account is given by Gill (2006), 3–73. Famously, George Herbert Mead has analysed these interactions at detail, for a sketch of consequences for historical studies (medieval in this case) see Von Moos (2004), 4–8.
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questions of the self as discussed in contemporary philosophy33. We may start with our use of the term of identity when referring to a situation of crisis. Even a decisive change may not cause someone to question the whole of his or her identity, but may seem as natural, necessary, or just happened, demanding appropriate reactions. A great number of changes occurring in one’s life may be serious, but may still be dealt with separately and according to what precisely is at stage (fortune, home, love etc.), and notions of something being indispensable may be overcome before one calls for a crisis of identity (this being sometimes the consequence, sometimes the cause of remaining inactive). In any case, the notion of incompatibility is decisive, and I would shift attention from the contents held to be incompatible (Attis being a male or a supposed female) to the framework that conditions the perception of incompatibility. Attis (probably with good reason) is presented to rank sex change and loss of civic community high on her scale of events relevant to the notion of herself, while changing from boy to adolescent has no such status for her. The actual problem then arises from an incommensurability between the events and the patterns and criteria she uses in her attempt to deliver a narrative of her self. She addresses the cultural community that provided her with patterns to narrate herself in biographical terms, and her failure is due to the circular relation between the patterns and the events they are applied to: developed for life within the community, they fail to apply to life outside. If we are right in paying attention to this conflict between what has to be said and which schemes are available to fulfil this task, the reason for stating a crisis may be less the content of an act or event, but the inability of (established or stable) models of expression and thought to integrate unforeseen or hitherto unknown elements into the narrative the individual wants to give of his or her self. The state and capacities of a community’s language, participating in the formation of the individual and enabling him or her to develop a sense of interaction and one’s own being, can limit the individual’s ability to cope with change, loss, or any incident considered relevant to one’s identity. Attis is equipped with narrative patterns that do not permit her to integrate time, change, and contradiction, and she is limited to dealing with regular cases, while hers is not regular. That it is not so much a problem of contradictory items to be integrated, but one of the patterns 33 We may refer to Sorabji (2006), 50 who distinguishes four aspects in the development of
ancient discussions about the self: »[1] the idea of a true self, [2] the interest in personal identity over time, [3] the interest in individual differences in decision making, [4] and the idea that one must look within oneself for the ultimate truths or realities.« (my numbering). According to Sorabji (ibid.), 50–52 [1] goes back to Homer, [2] discussed in the 3rd century BC or later, [3] at the beginning of the 1st cent. BC, [4] goes back (through Cicero and the Stoics) to the Presocratics. Attis could be interested in all four, but if at all, only touches them, and the absence of [4] is telling.
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available, may be illustrated by problems that in some respects are common to a self-narrative and the much-vexed puzzles of identity, most prominent in the paradox of Theseus’ ship 34. As a ship may be replaced, rearranged, or original, and my notion which one to claim the original one, depends upon my interpretation of which element I think may be the special one that, when taken away, causes the ship to cease to be the same, a person may struggle to find the one element that makes her herself, and this person probably would either vote for the wrong item, or would give up in despair, much like some of the ship theorists 35. Attis does not solve the puzzle, but it may be interesting to think about possible ways to do so, and one would be the notion of narrative identity which does not separate two identities at definite moments in order to reintegrate their relation afterwards. Instead, the narrative concept perhaps could conceive of a person at time z to be the person at a previous time x because the memory not only covers the two states but also the time between x and z, or because the change is only one of the items, or because the semantics of me at a time x do not need to be the same at a time z without me remaining the same. Diachronic identity then may have been a concept helpful for Attis to succeed better with the narrative of her self, and I finish this chapter with some remarks on this type of concept, starting with narrative identity. What may have had an impact on Catullus’ composition of the monologue of Attis is the rhetorical tradition of describing persons through a checklist of properties (attributa personae) which have been prominent in Roman as well as in later conceptions of identification36. In its unspiritual application (criticized by Cicero and Quintilian), this scheme does not allow to integrate change and time into the description of a person and a biography, as every stage, trait of character, or event is to be fitted into a coherent picture of a quasi-static person that from beginning to end displays her qualities or deficiencies, depending on the aim of praise or blame. Stability, coherence, and unity therefore 34 On ancient discussion and some evidence that the puzzle was seen as partly parallel to
personal identity see Sorabji (2006), 62 with quotation of Plutarch, Life of Theseus 23; Searle (2004), 194 dismisses the problem: »It seems to me there isn’t any further fact of the matter. It is up to us to say which is the original ship«; extensive discussion in Parsons (2000), 1–5 (and throughout the book) and Gallois (1998), 16–25 (and throughout the book), again e.g. 190–91. 35 As is the case with the schematical employment of attributa personis (see below) this approach fails for its inability to define how a self is different from the pile of isolated qualities; on ancient and modern discussion of such »unique bundles of characteristics« see Sorabji (2006), 138–143. 36 Von Moos (2004), 13 (in regard to medieval studies) distinguishes common categories which need to be combined to allow for an identification, and those that directly allow to individualize, such as the face, the voice, scars or our fingerprints; the first may be further divided into collective and ›participative‹ features, the latter indicating for example social rank and status (through haircut, clothing, name etc.).
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prevail. But the interest Catullus has in his character’s situation is based upon the narrative abilities needed to survive as a self, and this may be referred to what Anthony Giddens (himself referring to Charles Taylor) stated about the role of narrative within the construction of an identity: »A person’s identity is not to be found in behaviour, nor – important though this is – in the reactions of others, but in the capacity to keep a particular narrative going« 37. Before we have a closer look at some of the implications of this approach to narrative identity, it may be noted that celebrating memory and narrative as if they were an alternative to rational analysis, the first being reliable, the latter deceptive, is a naivety definitely alien to Roman writers, and not apt to distinguish a literary world view from a so-called scientific or rationalistic one – narrative, as we will see later on, is a rational device in itself and used in a highly artistic way to question the readers’ notion of reliable and ›simple‹ telling one’s identity38. The diachronic change is, according to this description, not a problem in itself, but generates a problem only when the narrative patterns available to someone cease to work. This may be the case, in narrative identity as well as in literary narrative proper, when notions of coherence and continuity are too narrow to cope with the range of possibilities. Both are expected to be coherent in order to be reasonable and comprehensible to recipients and community, which in case of literary narrative does not mean that a text has to be linear, or chronologically ordered, or coherent in content and reference, as the expectations of a reader are part of the subject-matter of literary texts, which in turn may be interested in ruptures, time lapses, or other devices of reversing expectations. The meaning of coherence would then not be confined to a particular aesthetic choice, but referred to being coherent within literary conventions. The case with coherence in personal identification outside of literary texts is at the same time quite similar and quite distinct from that. A community displays particular interest in the reliability of its members’ identifications, as an understanding of one’s behaviour and a certain grade of predictability are indispensable for the other members. This is why in
37 Giddens (1991), 54. It is a special pleasure to quote this work as it is entirely devoted to
creating a distinct ›modern‹ self. 38 Cf. Sorabji (2006), 176 on Plutarch’s concerns with memory (first: bad memories obstruct
tranquillity, second: planning future projects is more important than having past memories): »Third, there is the danger of self-falsification, if identity is allowed to depend on memory. In fact, in its earliest version with Epicharmus in the 5th century BC, the Growing Argument’s fragmentation of the self was designed to disclaim responsibility for what was done by selves falsely deemed to be other. If the fragmentation is to be repaired by weaving a narrative, the weaver must not be allowed to weave a narrative that equally falsifies by wrong inclusion and exclusion of data.«
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everyday life people questioning their diachronic continuity are less welcome than in philosophy or literature 39. The failure of Attis to produce coherence in her own narrative is, as we have seen, deeply linked to the demands her community uttered when providing the standard scheme for an account of a citizen’s self, and the observation of this general problem may have been an interesting starting point for Catullus to think about a poem like 63. The obligation to have a coherent story of one’s own, and to be able to give an account of it, is not confined to specific historical times, and the texts of poets like Catull. or Ovid, or Cicero’s explorations of how an individual narrative may successfully be adapted to standard narratives that were incompatible with his own, show that incongruities were likely to promote and extend linguistic patterns and literary conceptions. Amélie Oksenberg Rorty, when discussing the use people can make of conceptions of personhood in order to serve their own purposes, has convincingly drawn her conclusion in literary terms: »The emphasis shifts: the person is first identified as the author of the story, then by the activity of story construction, and then simply by the emergent content of the narrative« 40. But coherence in regard to one’s identity narrative is open to redefinition as it is with literary narratives. An interesting proposal is made by Manfred Frank in his discussion of deconstructionist attacks on the notions of identity and subjectivity as a whole 41. An individual, according to Frank, does not only ascribe different predicates to himself, but also ascribes these predicates semantically changed, accepting possibly different meanings from one time to another 42. The aporetic view that the self is never able to be present to itself, because the necessary time gap causes equally necessary misrepresentations and forbids a signifier to touch the signified, becomes less attractive if we distinguish the continuous sequence of transformations from the accompanying sequence of interpretative acts. These acts do not rely on objective meaning (›sense‹), but on the participants’ acknowledgement that their interpretation is based on the hypothetical judgement that and how two successive states of being are linked one to another 43. The relation between 39 Teichert (1999), 76–86 gives a convenient survey of some problems concerning personal
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identity as discussed in ancient philosophy, one of them from Plutarch, De sera numinis vindicata (in: Lacy [ed. 1959], Moralia VII , 244–247) who paraphrases a scene from a comedy of Epicharm: A debitor says as everything changes he is not the same man who borrowed money, the debtee then punches him, excusing himself with the same argument. Oksenberg Rorty (1990), 30 (with reference to J. Bruner, Actual minds, possible worlds, Cambridge 1986). Frank in id. (1988), esp. 22–28. Frank (1988), 22: »Ein Individuum legt sich im Laufe seines Lebens nicht nur verschiedene (semantisch invariante) Prädikate zu, sondern es legt sie sich auch auf verschiedene Weise, nämlich in wechselnder Semantik, zu.« Frank (1988), 26.
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two states of self-conceptions could be understood by Peirce’s notion of abduction as one state motivating another, thus establishing a connection that is neither causal nor evolutionary44. To hint finally at yet another promising approach, the logical argument for »occasional identities« may be mentioned, as these also allow the integration of time as part of the conception of identity (not its counterpart) and may be fruitfully related to a discussion about literary identities when it comes to single text units whose speaker may be under debate (see below) 45. Whether it is the abductive coherence, the occasional or indeterminate identity, most of these discussions open the horizon of literary studies that often make use of the same patterns of identification that lead Attis into failure. That Catullus himself did not stop with a failed act of identification, may now be proposed.
3. The poetic autobiography of Attis The acts of identification carried out by Attis have failed because she could not apply the narrative patterns she was used to. In the following chapter, I would like to propose that despite this failure on the level of the narrated events, there are other acts of identification that succeed on the level of narration. One successful identification is carried out by the narrator who uses the failure of Attis for his own purposes, and another successful act takes place on an intertextual level, as poem 63 uses the account Lucretius gives of human development. Lucretius is brought in as (reversed) subtext to invite the reader to further (literary) identifications, and establishes a literary biography of Attis that is imbedded into her own retrospection. Let us start with the latter contention. In course of the narration Attis is isolated from her comrades and made to do what tragic heroines used to do when left alone and in grief: She runs to the shores and recites a monologue, preparing for her fellow-heroine Ariadne in poem 64 and enriching the scene of the lamenting female at the shores by a new variant. The motifs of sea travel, reversal of past and present, the crossing of geographical, social, and figurative borders are common to Catullus 62, 63, and 64 (among
44 Frank (1988), 27: »Auf diese Weise würde zwischen zwei aufeinander folgenden Stadien
des Selbstverständnisses der Person (…) sich eine Kontinuität einspielen« (…), »die keine im evolutionären Sinne wäre, sondern eine von einander motivierenden abduktiven Schlüssen«. 45 Gallois (1998), 34 describes his understanding of occasional identity as »the view that an identity can hold at some time without always holding«.
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others) 46. The indication of the galliambic metre in 63,2 (citato pede) 47 may well be a marker of poetological concerns as it is in the later, well-known play on pede in Ovid am. 1,1,3–4. The beginning is linked especially to the epicising elements in Catull. 64 and 101, encouraging the reader to engage in generic discussion 48. Even the act of emasculation is transformed through the metaphorical use of pondera ili that describes the testicles cut off as the »hanging warp threads from a finished loom«, as David Wray has convincingly argued49. Attis carries out an act of reshaping herself (earlier material) into a work of art, and she thus takes part in a Hellenistic metamorphosis, dear to many literary predecessors of Catullus 50. When addressing her companions Attis compares them with exiled citizens (63,14– 16 aliena quae petentes uelut exules loca / sectam meam executae duce me mihi comites / rapidum salum tulistis truculentaque pelagi). She is leader of a failed (epic?) expedition and has turned from a dux of people (like Ulysses, Jason [Catull. 64], Aeneas) who may have looked for a new home or wanted to fulfil some heroic task, to a female leader of Maenades who aimlessly wander around (see 63,15; 32 Attis dux; v. 34 ducem). But the most important datum of her literary past is given by Attis within her speech while recollecting what she did (this time reaching back to the time before the events of the poem): She was an eromenos of love poetry, courted by hopeful lovers lingering at his door. A parallel reading of Catull 63,65–67 and Lucretius’ mockery of the exclusus amator allows for a complementary picture of the situation seen from inside and outside the door: Lucr. 4,1177–79 at lacrimans exclusus amator limina saepe floribus et sertis operit postisque superbos unguit amaracino et foribus miser oscula figit; 46 Fantuzzi/Hunter (2002), 557 underline that the galliambic metre as tetrameter ionicus catalec-
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tic can take the same words and groups as the dactylic hexameter and may be read as a provocative pendant to the latter, especially when confronted with Catull 64. The sea travel may also be linked to the idea of the nefas argonauticum as discussed in Catullus 64 and integrated into Lucretius’ account of the descendant elements in human cultural development (5,1006 improba navigii ratio tum caeca iacebat). Cf. Perutelli (1996), 262: »La propensione ossessiva per la velocità è presente nel ritmo del rito riflesso nel metro del galliambo. […] personaggi, che si conformano alla velocità.« On vectus (Catull 101,1 multas per gentes et multa per aequora vectus), the swift ship and other elements (as in Catull. 64) see e.g. Perutelli (1996), 255 (referring the instances not to epic, but carmina docta with personal notes). Another indication may be given by the iuvenis-theme that despite differences in reference connects the openings of Catull. 62, 63 and 64 (see 62,1 iuvenes, consurgite; 64,4 lecti iuvenes). See Fantuzzi/Hunter (2002), 554–55 on parallels to the epic narrative of Apollonios. David Wray, »Attis’ groin weight«, in: CPh 96 (2001), 120–126. Perutelli (1996), 260.
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Catull. 63,65–67 mihi ianuae frequentes, mihi limina tepida, mihi floridis corollis redimita domus erat, linquendum ubi esset orto mihi Sole cubiculum. My doors were crowded, my thresholds were warm, My house was clad with flowery garlands, When I came to leave my bedchamber at sunrise.
The reader of Catullus may have already been prepared for some love connection when reading Attis’ repeated lament of being miser (see above, 63,51 und 61), itself a coinage found since Lucretius 51. Both poets draw on the established tradition of the motif, and it is not only probable that readers of Catullus were reminded of the Lucretian passage, but also that they added Attis’ memory of having been courted not to the list of social facts, but put it on their list of literary items. Attis is furnished with a biographical fact drawn from her literary tradition, having once been an eromenos of love poetry, and now being Cybele’s follower in a Catullan poem 52. Attis, much as Ovid’s Ariadne in Stephen Hinds’ reading, is a character referring to her own literary biography and reminding the reader of her textual existence relevant to identifying her on her own, literary terms. The poetic descent is included into the set of features that permit a description of the self, so that at an important point within the character’s lament for having lost the former framework, the poet offers a distinctive quality of poetic existence that complements the memory of Attis by the memory of the readers 53. In accordance to what we have lined out above (a literary act of identification being a proposal to imagine things happened as narrated), the character’s biography is not confined to the level of narrated events, but reaches beyond the level of narration: ›Imagine that the character x has been a character y in another text‹. Attis as a narrated character is given a past within other texts, and in order to remind readers of this fact, the poet makes her witness to how her self is textually produced. We do not need, as I will argue later, to worry about a loss of authenticity in accounts of the self if we detect such artistic features, or conventional ones, linguistic formulae, 51 On Lucretius and miser as conventional attribute of the »lover whose will and reason have
been senselessly subjected to passion« see Selden (1992), 469. 52 Another hint towards love poetry (Catullan as well as traditional) can be detected in the use
of erotic language when Attis addresses the patria (see v. 56 cupit ipsa pupula ad te sibi dirigere aciem and Morisi [1999] ad loc.). 53 The interaction with other characters is not far from social interaction as part of an identification of one’s own or another one’s person, as the concepts of personhood have connections with life on stage, cf. Oksenberg Rorty (1990) about the social function of identities (ibid. 28): »Social persons are identified by their mutual interactions, by the roles they enact in the dynamic dramas of their shared lives«.
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quotations and adaptations of earlier writers (on the self or other topics), because within Roman literary history the existing work of predecessors is seen as a regular and authentic category where from an identity can be built. Besides Attis and biography, there is a second character whom we have to take into consideration when reading the acts of identification within the poem, and we may try to identify him through his behaviour. According to the narrator, Attis is not struck by frenzy when arriving at the exotic place, but has already been in a state of haste and excitation before he landed54. The attention both Attis and the narrator pay to constructing a hostile nature awaiting Attis, may convincingly be explained by the well-known device of employing the ›subjective‹ perspective of the character involved55. But we could also put this the other way round and make the narrator, who reports the speech and arranges it according to his own intentions, construct a balance between her (supposed) crime and the punishment she deserves in his eyes (himself trying to see with Cybele’s eyes in order to please her). The interaction between narrator and character, described by Perutelli 56, may then be dependent on the leading voice of the poem that has been identified by Richard Hunter with a Gallus 57. I am entirely convinced that this is the right question to ask, but it seems safer to assume a narrator whose main aims are expressed in the text: convincing the goddess to spare him, and trying to convince her, as being the Roman imported version of Cybele 58, by stressing Attis’ treason 54 See 63,1 celeri rate and the grammar in v. 2, where citato cupide pede denotes circumstances
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when »touching the Phrygian wood«. This is confirmed by her ignorance about where to look for the geographical position of her patria (63,55 ubinam aut quibus locis te positam, patria, reor ?), as in her clear moment we could expect her to remember from what direction she was coming before landing (instead her memory seems to end with the circumstances in the city and does not extend to the circumstances of the sea travel). Cf. the constant mentions of haste (as opposed to rational thought): 4 furenti rabie, vagus animi; 8 citata cepit; 18 citatis erroribus; 19 mora mente cedat; 23 capita vi iaciunt; 25 volitare vaga cohors; 26 citatis tripudiis; 30 citus properante pede chorus; 31 furibunda anhelans vaga; 34 rapidae properipedem; even sleep is ›hasty‹ when leaving Attis (42 somnus fugiens citus abiit), yet its coming slowed down motion and opened the path to rational reflection (63,19 mora tarda mente cedat; 35 lassulae; 36 somnum capiunt; 37 piger sopor, labante langore). Perutelli (1996), 265–66. Perutelli (1996), 266: »Non v’ è dubbio che il narratore tracci il suo percorso attraverso le sensazioni di Attis […] il racconto sia condotto dal punto di vista del giovinetto e che quindi vi sia un’interazione tra narratore e personaggio.« Fantuzzi/Hunter (2002), 550–51. The fate of Catull. 63 and Lucretius as supposedly documentary evidence for the cult of Cybele is quite similar; helpful is Summers (1996), 337–338 about two basic assumptions »1) Lucretius has taken his description in toto from Greek writers, […] 2) Lucretius can be used as evidence for how the cult was practiced throughout the Mediterranean world at all times. Both of these assumptions, I argue, are wrong. […]«; on the Romanness of Lucretius’ account ibid. 365.
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of virile values. The narrator’s intentions are prepared for in his direct address of the Great Goddess in v. 9 (tympanum tuom, Cybebe, tua, Mater, initia) and confirmed by the final plea to spare himself and take others instead: Catull. 63,91–93 59 dea magna, dea Cybebe, dea domina Dindymi, procul a mea tuus sit furor omnis, era, domo: alios age incitatos, alios age rabidos. Goddess so great, goddess Cybele, lady goddess of Dindymum, May all your madness stay far from my home, mistress: Drive others in frantic speed, drive others to madness.
The contrast between undeserved freedom and imposed domination is stressed by all characters alike, and it seems that Attis has the same knowledge as the narrator when, despite framing her worries by a question, she views the final picture of her future existence 60. The closure, not surprisingly an apopompe, makes the reader look back for previous indications that the narrator deliberately selects and reports facts that suit his particular objective, and indeed, we do find several indications that help to convey the narrator’s intentions to side with the Goddess, to persuade her of his submission, and to back up his final plea: »Take her, not me!«. The apotropaic mode is used to structure the narration, focalizing the readers’ attention on the legitimacy of Attis’ punishment, and the mode is enhanced by the employment of conventional patterns of frenzy narratives: people do wrong, are punished by divinely imposed frenzy, do even more wrong, are relieved from their frenzy and ideally given the chance to re-establish former order by acts of purification. As frenzy does not interrupt responsibility for one’s deeds, the confession of guilt uttered by Attis (63,51–52 and 73) fits into the scheme, and the poem’s end is impressive for cutting out the element of purification and restoration of the previous order, leaving Attis with a cold »and lived unhappily ever after«. Further indications may be detected in the narrator’s largely detached way of speaking about Attis, making little use of devices to evoke pity and sympathy, and by thoroughly constructing the allegations against Attis as being shared by all characters alike. We will discuss the allegation of treason and the address of the patria below (as probable allusions to Lucretius), and just note that the narrator’s final plea is also neatly modelled on Attis’ address to her home country61. The prevailing standards that are used by the characters to judge the behaviour of 59 Texts and English translations Stephen Harrison’s, published in Nauta/Harder (2005), 2–7. 60 Attis in 63,68 ministra, famula; Cybele (63,80) mea libere nimis qui fugere imperia cupit; the
narrator (v. 90, conspicuously detached and not revealing sympathy) ibi semper omne uitae spatium famula fuit; cf. the verbal parallels in 63,70–72 and 89–90. 61 Cf. 50 patria o mei creatrix, patria o mea genetrix (…) and 91 dea, magna dea, Cybebe, dea domina Dindymi (…).
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Attis are all related to the narrator’s interest of pleasing the Goddess, and this is (curiously) carried out by using exclusively Roman elite patterns of evaluating its members 62. The emasculation is decisive because it causes a loss of visibility, as Attis has become invisible to the eyes of fertile free citizens who notoriously do not see females, eunuchs, servants, and definitely not a combination of all three 63. Even emasculation itself is deprivation only to Attis and her Roman narrator (the former arguing from the standpoint of the latter), but obviously was not for adherers of Cybele’s cult and many others 64. As we have seen, the attempt of Attis to use narrative patterns of her former community failed, but the narrator’s use of his own patterns succeeds: Attis is seen as cast out, deserving to be chased into the woods, and having lost any adherence to the civic community of free, fertile males. So we find another story of identification, this time a successful one, on the level of narration, where the narrator is shown to have firm intentions, acts consistently in order to achieve his aim and tries to establish a safe relationship with the Goddess. While the narrative patterns of Attis lose their value, the narrator’s patterns seem to continue to work, and he employs devices from his own literary biography (e. g. Hellenistic beginning and end, direct speeches, interest in emotional life of the protagonist etc.). The tension between a failed and a successful attempt to narrate identity enriches our reading of Catullus 63: It is the narrator who is able to maintain his narrative patterns in order to tell about someone who has lost his own patterns, thus pointing to the superiority of literary narrative over social models of identification and covering the interruption in Attis’ life who has passed from the domina patria to a domina dea.
62 The Roman character of the narrator’s perspective is stressed by religious-historical research:
The Cybele of Rome was entirely different from the Phrygian one, see Thomas (1984), 1504 on the unacceptable features of the former, and ibid. 1506: »It was a Roman and national goddess that Cybele entered Rome and occupied her niche in Roman politics.«; another affiliation may be his adherence to some of the public voices current in Rome which tried to limit too much interest of individuals (esp. philosophers and writers) in their self, cf. Reydams-Schils (1998), 54: »A strong notion of the ›self‹ would run counter to the ideal of the mos maiorum and the common good, to which this ›traditional‹ Roman, as he presents himself, adheres.« 63 Cf. Skinner (1997), 142: »a contemporary narrative of political impotence is retold as a myth of self-destructive estrangement from the male body.« 64 On emasculation as »a bond of eternal fidelity to the Great Mother« see Lancellotti (2002), 91 with a list of various scholarly explanations in n. 158.
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4. The Lucretian account of cultural development and the answers of Catull. 63 and Ovid In the following chapter I would like to argue that the narrative of Attis in Catullus 63 is imbued with echoes of Lucretius, whose account of human development from beasts to civilization provides a constant backdrop 65. According to Lucretius invention of metal working is the turning point in the relation between humans and beasts, as the latter lose their role of hunters and become hunted, while before men were not hunters, but the hunted prey (cf. Lucr. 5,984–85 eiectique domo fugiebant saxea tecta / spumigeri suis adventu validique leonis), which is now the fate of Attis (already hunted by a lion at the end of the poem). Attis’ fear of a life in the woods where wild animals threaten her echoes the fearful cries of early mankind (5,992 et nemora ac montis gemitu silvasque replebat). The repeated mention of woods (in contrast to urban settlement) 66, the lack of shelter from the weather 67, and constant wandering (esp. vagus) as opposed to having a stable place to inhabit 68 converge so to embed the story of Attis into Lucretius’ precivilized world69. Attis in her monologue twice devotes two verses to her future being in company of wild animals and suffering from the hostile nature, both at beginning and end of her speech (63,52–54 and 70–71, see above). This attention to nature, beasts, and beast-like existence is astonishing, because the coincidence with elements of the rituals and cult of the Great Goddess does not explain the poetic decision to put so much weight to it. Attis seems to remember what we were told by the narrator who described the orgiastic dances by pointing to the loss of articulate language, comparing the worshippers’ utterances with noises of animals, and explicitly terming the lot »the sheep of the Goddess«70. The combination of 65 Many features are documented for the cult of Cybele (see esp. on the religious-historical
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evidence Pachis [1996], e.g. on music 212–213), but this seems not convincing motivation for the composition of Catull. 63. Cf. 63,2 Phrygium nemus; 3 opaca, silvis redimita loca; 12 alta Cybeles nemora; 20 Phrygia ad nemora; 23 Maenades ederigerae; 30 viridem Idam; 32 opaca nemora; (41 umbras noctis); 52 nemora Idae; 58 in nemora; 79 reditum in nemora; 89 nemora fera. Contrast the lost domus as organized household (63,58) and cubiculum denoting civilzed (erotic) privacy (63,67) A humorous application of Lucretius may be the stress of the delicate nature of Attis, as Lucr. 5,1014–16 states that the invention of fire and clothing made human beings less apt to stand heat and cold; cf. 5,929. Cf. vagus in v. 4, 13, 25, 31, 72 nemorivagus, 86 (Cybele’s lion) pede vago; the notion of flight (fugit) is also connected with (civic) instability (see erifugae). Cf. Lucr. 5,929 nec facile ex aestu nec frigore quod caperetur (sc. genus humanum); Lucr. 5,955 sed nemora atque cavos montis silvasque colebant; Lucr. 5,932 vulgivago vitam tractabant more ferarum (see Catull’s vitam agere and nemorivagus); 5,948 vagi silvestria templa tenebant. Cf. 63,8–9 typanum / typanum tuom, Cybebe; 10 quatiens terga cava taurei; 11 canere tremebunda; 21 cymbalum sonat vox, tympana reboant; 22 tibicen Phryx canit; 23 acutis ululatibus;
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landscape and imagery of savage beasts has little in common with the Roman version of the cult presented in the poem, but finds its background in the Lucretian landscape where it is not the existence of a priest, but the threatening life of early humans that Attis awaits 71. The detailed description of the new daylight that marks Attis’ return to reasoning (63,39–43) may be related to Lucretius’ idea that early human beings suffered during the frightening nights when beasts threatened them until the sunlight brought relief and they could leave their retreats (Lucr. 5,976 dum rosea face sol inferret lumina caelo). Another matter to consider is the deliberate use of archaistic words that are mostly related to Cybele’s world of pre-civilization, present also in the account of the developing human culture by Lucretius 72. The hapax erifugae is coined in accordance with archaizing epic style, which sometimes meets with Lucretian interest73. The stylistic features of Catull. 63 (including repetitions, vocabulary) may reinforce the idea that as the narrative deals with relations to earlier stages of human culture, the language may be one of the poetic past as well as of the early stages of language development itself 74. We will come back to this relation between
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28 thiasus linguis trepidantibus ululat; 29 tympanum remugit; 29 cava cymbala recrepant; 82 cuncta mugienti fremitu loca retonent. It is possible that some literary traditions saw language in the Golden as common to animals and humans alike (but lacking the »designative, propositional, and symbolic powers« of later human language, see Gera [2003], 42–43). Cf. 63,13 Dindymenae dominae vaga pecora; 33 veluti iuvenca vitans onus indomita iugi; 77 pecoris hostem (the lion as opponent of Attis); sounds: 63,21 reboant; 24 ululatibus, 29 remugit; dwellings: 63,53 ferarum stabula; 54 latibula. Frenzy as opposed to rationality is described as rabies fera (63,57) thus signalling the backslide into pre-human existence. The same may apply for 63,78 fac ut hunc furor [agitet] and 89 demens fugit where Attis is again the hunted beast. See 63,23 ederigerae, 34 properipedem, 41 sonipedibus, 51 erifugae [Attis on herself], 72 silvicultrix, nemorivagus). Lucretius has the term montivagus as technical term for animals’ existence (Lucr. 1,404 ut montivagae persaepe ferai; 2,1081 invenies sic montivagum genus esse ferarum); cf. furibundus in Lucr. 5,367 (as Catull 63,31) und tremibundus in Lucr. 1,95. On the archaic elements in 63,50–55 see Fedeli (1978), 47–48 who sometimes mentions Lucretius but sees older (lost) formulae employed, especially of ceremonial and solemn character. The link to Lucretius may be added to other relations, cf. on neoteric interest as well as (when archaistic flavoured) to the language used in describing chthonic deities and their cults Perutelli (1996), 263. Fedeli (1978), 47 mentions the Hapax erifugae and comments on genetrix as solemn and epic (since Ennius); he thinks (ibid. 48) Catull’s ferarum gelida stabula to be derived from an archaic model (following Eduard Norden on Verg. Aen. 6,179), but Catull could well be an immediate model for Vergil, and the first half of Vergil’s hexameter itur in antiquam silvam attracts attention not only for its poetological meaning, but for the relevance this metaphor has for both the account of Lucretius and Catullus (the woods referring to the prehistory of mankind, as they refer to the prehistory of epic accounts of the past). On (later) concepts relations between ideas of poetic and original language see Gera (2003), 42–46; on simplicity as a feature of original language ibid. 44.
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the (individual) story of Attis and the (universal) development of human civilization when showing how (probably) Ovid used the same subtext to frame his narration of the exiled poet, who inhabits a world that synchronically offers all those features which in the diachronic account of Lucretius were left behind step by step in order to achieve civic organization, rationality, safety, control of violence, commerce, and language. Before, I would like to point to another Lucretian text relevant for Catullus 63, which has been variously noted (with different attitudes towards priority), but perhaps not yet valued for its actual impact on the composition of our poem. All characters involved (Cybele, Attis, and the narrator) agree in accusing Attis of treason. Attis seems to be her own fiercest persecutor when employing the image of a fugitive servant who escaped his master (63,51–52 dominos ut erifugae / famuli solent), while Cybele, somehow complementing the argument, does not draw on the bonds of the household (domus), but applies a notion of wider political organisation, being addressed by the narrator as domina and stating an undue wish for freedom in Attis (63,80 libere). There may be a juridicial background here, combining an allegation of private law with an allegation of public interest, violating religious and statal order, but the interesting point is the attention given to charge Attis of treason. This motif alleged by all characters alike can be, I think, linked to the choice of the patria as addressee and both referred to a Lucretian idea, proposed within his account of the cult of Cybele. Even if both texts may be independently related to a common background, namely the eminent relevance attributed to family, community, and the cult of one’s own city’s deities (a relevance stressed by Fustel de Coulange in his eminent study Cité antique published in 1864)75, the context makes it probable that Catullus was interested in the explanation Lucretius gave: The Galli of Cybele were punished by emasculation for having betrayed their home country and families 76. The ungratefulness towards their parentes (Lucr. 2,615 ingrati genitoribus) condemns them to remaining childless themselves, thus suffering the same pain they caused in their parents 77.
75 This notion is also employed by Ovid who seems to frame his lament on the loss by an
accusation of the one who has denied him his natural right to worship his penates (trist. 5,11,18 nil nisi me patriis iussit abesse focis). 76 Lucr. 2,614–617 Gallos attribuunt, quia, numen qui violarint / Matris et ingrati genitoribus inventi sint, / significare volunt indignos esse putandos, / vivam progeniem qui in oras luminis edant. See Craca (2000), 51 on the connection of Lucr. 2,614–15 numen violarint with the first of the Galli which is supposed to be Attis. 77 Sharples (1985) notes the rareness of Lucretius’ explanation and relates it to the theme of parenthood developed in a previous passage on Ceres (2,652–660) and to (scarce) Greek evidence of a custom that young man collected stones they devoted to the »mother of the Gods«, thus trying to avoid »going astray because of impiety and remain loyal to their
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The idea of treason is not common at all and probably only in Lucretius 78, at least within the texts available to us, and it permits to read Catull. 63 as a response to the poetical decisions made by Lucretius, who explored the poetical quality of the cult of Cybele by integrating it into a didactic mode, while Catull extracts the general idea of treason into the narration of one Gallus who is persecuted by a narrator himself applying the allegation of treason for its own persuasive purposes. While the didactic poet discusses the false opinions of those who do not accept nature as sole creatrix and genetrix (and does so not only by referring to philosophical reason, but also in accusing religions as themselves being an act of treason against the truth), the poet in Catull. 63 singles out one character and makes him become victim to the incompatible demands of those who propose the patria as creatrix and genetrix and those, who propose an exotic Goddess 79. There are several notions within the narrator’s conception in Catull. 63 that may also be related to Stoic or Stoicizing concepts of the human being as opposed to beasts by reason, and to the social role granted to the self 80. It seems that Catullus has artfully constructed a Lucretian background, drawing on the two different passages that permit to contrast different notions of nature and social community, both present in Lucretius but developed into a narrative by Catullus. The single character’s fortune is embedded into and contrasted to a poetic history of civilization, thus complementing a tale of humanization by a tale of decay and reversal. Ovid, whom we turn to now, seems to have seen a similar potential in the confrontation of a single character’s tale with the Lucretian account, and the sketch of what Ovid does may shed light on our leading question of how literary acts of identification may have been used by the poets. Within the account of Lucretius in 5,925–1457 we may discern a part concerning the original state of almost beast-like existence before the establishment of settlements and communities (5,925–1018) and the time of development in civic life, based upon the invention of housing, clothing, and fire (5,1018–457). The first concentrates on confathers« (which in Catull 63 does not seem to fit into the narrative); on the pietas argument being ›unique‹ see Craca (2000), 52 (citing the relevant literature). 78 On different allegorical readings of the Cybele cult and their publicity in Roman worlds, see Summers (1996), 340–341 who mainly relies on archaeological evidence. On the galli in Lucretius see Craca (2000), 49–54 (the discussion of the lack of parental pietas argument ibid. 51–54) 79 Cf. Lucr. 1,629 rerum natura creatrix; = 2,1117; 5,1362 primum natura creatrix / ; genetrix in Lucr. 1,1 Aeneadum (= Venus); 2,599 Magna mater (= terra); again 2,708 (no more instances); for Catullus see abouve (63,50 creatrix, genetrix). 80 On Stoic opinions of the relation between human nature and reason, grounded on the distinction from beasts, see Reydams-Schils (1998), 39–41; see ibid., 44–50 on Stoic doctrines on the relation between individual and community as based on »tension, involvement and distance, the linking of an awareness of oneself with the need for self-improvement« (ibid. 50).
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ditions mainly affecting all single human beings, the second on the communities, and respectively we find more echoes of the first in Catullus and of the second in Ovid. As Attis has been cast into a foreign world, the exiled poet travelled the sea to arrive in a country and faces a kind of existence entirely alien to his former life: Not voluntarily (iussus) the poet faces foreign shores without civilized beauty (deformia litora), he is besieged by hostile nature (gelido, frigore, gelu) and barbarian inhabitants, captured within narrow walls (cinctus finitimo Marte, brevis murus), his perception is overwhelmed by threatening instability (pacis fiducia numquam) and constant pressure (10,69 cinctus premor) 81. As in trist. 5,10 the poet uses a spatial structure to convey his perception, separating two synchronic worlds one from the other, while tales of cultural development such as the Lucretian account rely on chronological patterns to distinguish civilized and uncivilized forms of human existence 82. In the Ovidian poet’s world the diachronic stages of history are present at the same time and beset each other, so that in the imaginary Tomis of exile poetry the borders between them are constantly under pressure and sometimes already collapsed83. The fact that half-humans are direct neighbours of the poet, having invaded the town and are riding down the streets, may be a direct reversal of the treaties and friendships among neighbours that Lucretius saw as important achievement (Lucr. 5,1019f. Tunc et amicitiem coeperunt iungere aventes / finitimi inter se nec laedere nec violari; cf. Lucr. 5,1022–23 and 1028–32). Political and social order as enacted through division of the public space and property are decisive for the Lucretian account of civilization (5,1108–1112). Magistrates and laws are meant to repress atrocity, hostility, and violence the human beings were exposed to when cultivating their land, while the exile poet of Ovid is exposed to this violence as contemporary (see Lucr. 5,1143–46 and 1152 circumretit enim vis atque iniuria quemque). The exiled poet turns the Lucretian picture of pre-civilized life into one of a life not civilized any more. The people seem to him like the beasts that hunted men before they invented iron and arms (e.g. 5,7,9–20 with fera and vulnera dare), they are barely human and did not entirely cross the border separating human beings from the beasts (vix hoc nomine digni). They are wolves (lupi) and even 81 See Ovid, trist. 5,2,63–72. 82 The parallels to Skinner (1997), 142 about Catull. 63 are interesting: »Attis’ tragedy is the
triumph of chaos, in which male civic virtue, exhibited in the ordered activities of foro, palaestra, stadio et gyminasiis […] is swept away into the furor sething outside the civilized enclave.« 83 Cf. minari, nihil tutum, hostis advolat, intra muros venire, intus metum facere, discrimen nullum; the walls are meant to separate but seem weak to the poet: 5,10,17 extra, 10,21 intra muros, 10,22 per medias vias, 10,27 intus, 10,29 simul, 10,29 discrimine nullo, 10,44 in medio foro.
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worse (plus saevae feritatis), as they refuse to be bound by law and institution (non metuunt leges) and let violence prevail over the just (v. 5,7,47 cedit viribus aequum, a variation of cedit armis forum). The organisation of justice (iura) is defeated by the sword (victa sub ense iacent), and consequently clothing and outlook further assimilate these quasi-humans to the beasts, wrapped in furs and covered with hair (pellibus; laxis bracis; ora horrida, longis comis). As the aper nemorivagus is the new threatening companion of Attis, the exiled poet finds himself in company of beast-like men whose appearance has just slightly passed the time when early humans did not yet know how to use furs to cover their bodies (Lucr. 5,953–54 neque uti / pellibus et spoliis corpus vestire ferarum). The lack of urban settlement and legal institution points back to the stage before their invention marked a decisive progress (see Lucr. 5,1108–10 and 1143–46). The stable exclusion of violence from civic community fails and rape, as standard threat of early cultural stages, prevails (praeda, rapere). There was no respect of the right to property, and humans (as Getans ›today‹) did not even know how to use laws and morals to order civic life (Lucr. 5,958–59 nec commune bonum poterant spectare neque ullis / moribus inter se scibant nec legibus uti; 5,960 quod cuique obtulerat praedae fortuna). Violence outdoes laws, and it throws the poet back into the time when human beings were lacking protection and felt trapped by universal violence84. The exiled poet’s view that there is no culture within this hostile nature is in accordance with Lucretius’ idea that mild nature taught men their first steps into the fine arts and music (5,1379–87), which definitely cannot be the case in a freezing Tomis85. The language of the inhabitants is not much more refined than the animals’ way of communicating through different sounds at different occasions (Lucr. 5,1081–82), and the poet himself has to draw on gesture that in the beginning of human history paved the way towards language (Lucr. 5,1043f. cuncta notare / vocibus et varios sonitus emittere linguae). Inarticulate sound and noise was, as we have seen, also linked in Catullus 63 with beasts and an existence linked to early stages of human development. According to historical standards, Ovid distorts the prosperous Hellenistic city Tomis with Greek and Latin speaking inhabitants and an unfriendly, but not desperately hostile climate (with exception of the latter a city quite similar to the one Attis may have left), but within the biography of the poet who once identified himself by his relation to love poetry and now constantly tries to adjust epic material to his world of exile, the picture allows for yet another reading: Tomis is conceived as the Lucretian landscape of a civilization »yet to come«, with the 84 Lucr. 5,1145f. Nam genus humanum, defessum vi colere aevum, / ex inimicitiis languebat; 5,1152
circumretit enim vis atque iniuria quemque. 85 On the softening effect of the arts themselves see Ovid, Pont. 1,6,7–8 with the commentary
of Gaertner (2005), ad loc. who quotes Lucr. 5,1014 as probable subtext to Ovid.
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slight alteration that time is reversed and the poet falls back into a civilization »not any more« 86. The exiled poet shares his narrative patterns with the poet of love, as both build their identities upon the separation from social, political, and civic patterns (one deliberately, one seemingly forced), which gives the poetry of exile a similar perspective of playful resistance and opposition that the poetry of love displayed from within the imagined community. The negation of civic existence keeps it constantly in the reader’s mind. To conclude the survey I would like to point to the poet’s perspective on language as this is, as I have indicated above, a decisive means of assessing one’s identity, enabling the individual as well as limiting in its constraints. In the last chapter of this paper, I will extend this notion to the necessity of a poetic, or larger: literary language that allows for modifying the standard narratives of the self within a community. Language, as the account of Lucretius as well as other ancient texts propose, constituted human beings as a community and distinct from the beasts, but the refined language of poetry is (both to Attis and) to Ovid’s exiled poet a necessary basis of their individual existence. Ovid imagines the exiled poet witnessing an epic war between languages and sounds and suffering constant attacks carried out on his own abilities to speak, think, and write (e.g. trist. 5,7,51– 64). The barbarian utterances (lingua) do not contain Latin (civil) words and voices (vox), the Greek way of talking (loquela) is defeated (victa) by the Getan sound (sonus). There are hardly traces of Greek language (vestigia linguae), and even these have been made Barbarian (barbara facta) because of the Getic pronounciation (Getico sono). As hardly anyone is able to repeat Latin words (reddere verba), the former seer of Roman greatness (Romanus vates) is forced to surrender to the Sarmatic way of communicating (Sarmatico more loqui), suffers from the fading of his own abilities (desuetudine longa) and experiences trouble in finding the right words (subeunt verba), all of which is the fault of his being out of place (culpa loci). The poet integrates his own voice (mea vox) into the common sound that he shares with the community (patrio sono), thus building a part of his being himself upon being able to share the sound with an audience, whose loss leads to his falling silent (muta). As language loses its function of establishing a social existence, the poet turns to a dialogue with himself (trist. 5,7,63–64 mecum loquor), which is complemented by his continued poetic endeavour that he is not able to stop (trist. 5,12,59–60) 87. 86 A succinct account of geographical and historical information on Tomis in contrast to
Ovidian pictures is provided by Gaertner (2005), 16–24. On the presence of epic and love poetry see e.g. Gareth Williams (1994). With regard to the professed intentions of an exiled poet to be rewarded forgiveness by the princeps, it may be an awkward way to re-establish a world the bringer of the Golden Age was supposed to have overcome. 87 E.g. trist. 5,7,21–22 vivit in his heu nunc, lusorum oblitus amorum! / hos videt, hos vates audit, amice, tuus; 25–28 stress that a poet without an audience ceases to be himself.
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What both texts, Catullus’ poem on Attis and Ovid’s poetry of an exiled poet, seem to envisage is the notion of irreversibility of culture and civilization, and both link this notion to the fortunes of a single character who experiences what happens if s/he is, despite all optimistic accounts of ascendance, deprived of what he relies on to narrate his identity 88. With regard to the distinction between a failed act of identification by Attis and a successful one of the narrator, we could propose the same for the exiled poet whose narrated identity is built upon loss and fragmentation, while the narration itself successfully constructs the poetic past and engages the reader in its narrative puzzles. The personal identity of the characters is not treated as an isolated problem – we could infer, not as the problem of an individual whose main point of reference is his very identity –, but it is related to two other narratives, one of the poet himself, in his relation to poetic past, and one of the community that allows or denies the person suitable patterns for narrating the self.
5. Identifying personae and poetic authenticity As we have seen, literary texts pay considerable attention to issues of personal identity when related to decision making and acting of characters or readers. Both are summoned to compare their own narrative patterns with what the text proposes to use as new or modified patterns, e. g. through the inclusion of poetic past and literary history as meaningful categories. In these concluding remarks, I would like to sketch some consequences for reading practices and relations between artistic language as developed in literary texts, and notions of truthfulness and reliability as conditions of reacting to (acts of) identification. I will start by pointing to the discussion of persona, understood as a point of view which enables the text to present a perspective that is different from the autobiographical perspective of a historical author. The latter is seen as opposed to the persona’s identity as being a true personal identity of the author-poet, whose authentic feelings, intimate confessions, or individual beliefs are held more valuable than invented ones. I do not intend to repeat the discussion as I haven’t seen any conclusive argument against the separation, and perhaps Paul Veyne has already found the solution, namely that readers with hopes to meet the author are people who do not listen 88 To be clear, Lucretius’ account is not at all simplistic in terms of optimism (in contrary, the
fatal descendance through weariness of nature’s creative power and moral decline prevail), but his summary of cultural achievements provides a checklist for anybody who like the exiled poet of Ovid wanted to picture the world after civilization (see Lucr. 5,1448–1453), reversing its time structure and decomposing everything »little by little, step by step« (see Lucr. 5,1453 paulatim […] pedetemptim).
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enough to pop music 89. But the opposition between a true, authentic, and present authorial self and one hiding behind false feelings and untrue statements is linked to our questions about identification, and it may be seen as a neo-romantic distortion of the aesthetic device Romanticism was interested in when putting up a contrast between nature and originality on the one hand, art and deception on the other. As the decision for a perspective is fundamental for writing, it is inevitable and deliberate, but not irrevocable or stable, neither for one text nor for a corpus like the collection of Catullan poems: Every text may be put into quotation marks, and is meant to make the reader ask »Who is speaking?« 90. Catullus may be seen as the same person in different stages of a biography, or in different moods, or in different perspectives on himself, being a temporary or occasional self 91. The persona’s biography then is one within the chosen genre, detectable in its affiliation with or detachment from other personae, and it enables the reader to compare the information he regularly employs to create an idea of a person’s identity with the information given about the persona (including aims, method, motivation, beliefs, emotional participation). But this is not a game of hide-and-seek, as the identification through poetical past and linguistic choice is a serious one, and the theatrical background of the persona-metaphor may be one reason for some readers to fear that they lose the immediacy of contact with the author, and makes them relate the acknowledgement of a speaker not identical with the author to the (morally ambiguous) interest of an actor in being hidden behind a misleading mask92. Probably Catullus or Cicero would not have understood the problem, and this may be illustrated by pointing to another notion of persona that exceeds the theatrical metaphor. The famous account of the four personae, to be found in Cicero’s De officiis 93, describes a citizen’s identity as constituted and accessible by ›dimensions of visibility‹ equally 89 (English quotation from Selden [1992], 476 [taken from Ariès/Duby, History of private life,
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vol. 1, 231]): »No ancient, not even the poets, is capable of talking about himself. Nothing is more misleading than the use of ›I‹ in Greco-Roman poetry. When an ancient poet says ›I am jealous, I love, I hate‹, he sounds more like a modern pop singer … and makes no claim that the public should be interested in his own personal [condition].« This is the appropriate title of the first chapter in Niklas Holzberg, Catull. Der Dichter und sein erotisches Werk, München 3 2002. Cf. (from a different perspective) Diskin Clay and Roland Mayer. It may be noted that some ideas about a mask and the author are quite simplistic in comparison with the theatrical reality: If we put away a mask, we do not have an author, but an actor out of charge, who in turn would be assigned a new role by the director, again not the author (the director, in terms of ancient theatre practices often participating as an actor himself). We can even push the idea further by considering the fact, that in ancient performance the same actor could be assigned more than one role, changing his masks according to scene and act. Cf. Gill (1988), Möller (2004), 158–161; Reydams-Schils (1998) 51–53.
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conditioning the community’s point of view and the personal one. Cicero’s concern is less with masks, but with the distinction of dimensions that allow the description of a person by combining the different places she maintains in relation to these orders of time, community, memory (personal as well as historical), experience or physical existence. The model is formally concordant with approaching a person through biographical and rhetorical topoi as ›places where arguments can be found‹, where a list of qualities allows for denotation and characterization of a person and which lead at least partially to the failure of Attis’ account of her self (see above), but it differs in its attention to the relation between the various categories 94. The personae come together not just to form layers of the person (with a secret self hidden inside), but to constitute the social self as a position within various orders, and permit to conceive it as being the crosspoint of different relations. If we conceive perspectives of a text, and the persona in literature in general, as another of these dimensions that permit the description of a person (as from the inner perspective as from outside) by her relative position, the textual memory of poetic texts may be seen as a distinct feature added by literature to the canon of structuring acts of identification. We may further illustrate this with regard to the above mentioned discussion on persona as being false inventions, and take as an example the poetic engagement with supposed autobiographical data, which is one of the prominent battlefields for issues in identification of person and persona. Horace’s account of military experience in Philippi (carm. 2,7,9–14) is a wellknown case, as we may try to discern the elements referred to historical truth and those referred to literary past 95. We may try to entangle the neatly woven carpet of allusions to historical, perhaps biographical, and poetical traditions, but the identity of the poet won’t become clearer from one than from the other areas. The authenticity of the text is not guaranteed by historical verification, as it enacts an identification of the poet through textual past, whether it be Archilochos (the shield left behind) or an epic past of mythical figures being rescued by divine intervention96. As with Attis or the exiled poet, the intertextual dimension (the persona) serves to integrate the scattered elements which historical or social models of identification provide, into an overarching identity (Sorabji’s term, see above) that is able to make sense of the otherwise meaningless data (cf. Horace’s sensi) 97. 94 Gill (1988) discusses the lack of interest in possible contradictions between the four personae,
which may be caused by the protreptic interests of Cicero’s text. 95 Horace, carm. 2,7,9–14 tecum Philippos et celerem fugam / sensi relicta non bene parmula, /
cum fracta virtus et minaces / turpe solum tetigere mento; / sed me per hostis Mercurius celer / denso paventem sustulit aere […]. 96 Parallels are assembled in Nisbet/Hubbard ad loc., for epic past esp. their comments on 2,7,12–14. 97 What intertextual genealogies of characters and personae allow to think about identity may be related to the interesting observation of Sorabji (2006), 240 on relevance of other persons
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The extension of the canon of identity criteria in order to include poetic memory is, in contrast to some readers’ perception, not a step towards less credibility, but extends the set of tools. A poetic statement such as the one that Attis has a poetic past within former literary traditions and therefore relies on a particular biography within texts, is meant to strengthen its reliability: The poetic act of identification claims to be entirely truthful and real. The social (philosophical, scientific, religious) patterns available to her are not sufficient and fail to give an account of her self, but the narrator’s perspective on literary tradition succeeds because his is a wider canon of possible criteria and narrative strategies. The same is true for such devices as lexical, metrical, or syntactical choices, which according to other accounts of the self are to be neglected and excluded from having any impact on the true proposition, while literary texts put considerable attention to these regions of the language in order to test their potential for gaining, retaining, or testing knowledge that may or may not hold in narratives of identification98. Finally, by pointing to intertextual memory (and reality) characteristic of literary texts (in the Roman period), we may already see, that the literary notion of individuality and uniqueness is highly important for any text (indeed, every text cannot be but individual), but contradicts most of the philosophical (or everyday) notions (not the same place, time, characteristic features, matter etc.) 99. While philosophical language developed its own standards of reliable language, and still does, poets could only be serious about issues like the self and its problems, if it was conceived of in terms of the poetic project. If language is a »mode of perception« (Donald Davidson) that is necessary to make data delivered by the senses meaningful to us, the language of literature is a highly developed tool for transforming otherwise unavailable notions and facts into meaningful experience. There are no authentic objects that are distorted by artistic language, but meaningless objects made authentic through art and thus made relevant in acts of identification 100. If we understand artistic language as a necessary mode of perception of otherwise unavailable facts, we are not only able to overcome the in thinking about a self: »Other persons may thus enter into one’s very identity, if we take identity in the sense in which a persona or a woven narrative gives one an identity.« 98 E.g. on mutual interference of syntax, semantics, and content in Catullus, sometimes resulting in severe contradiction see Selden (1992), 466. 99 Möller (2004) has explored several aspects of the complex relation between ›man‹ and text in ancient literature, with special attention to textual existence (being one’s style), see e.g. on Ciceronian thought 137–165 and Roman satire 263–96. 100 While Romantic constructions partly revived Lucretian ideas of language and combined originality with notions of natural, spontaneous (true) and emotional (see on Vico und Rousseau Gera [2003], 45), it was not common in Greek and Roman texts (Gera ibid. 46). This may be a starting point for searching the origins of some readers’ claim that simple language is more reliable to provide truth and insight than the distorted poetic diction.
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standard interest in distinguishing real from fictitious elements in a text, but may also embed the successful claims on truth, authority, and reliability put forward by discourses other than literature, into an open framework that may or may not contain promising narrative patterns that allow making personal identity a point of reference in decision making and acting. The reality of poetic facts may be thus grounded in its capacity to select, evaluate, and extend available criteria, and to make available those experiences or truths within the social world that are not covered by this world’s own criteria. This, I think, is one of the main points in the above mentioned account of Ovid’s exiled poet who contradicts the narrated effects of his exile by narrating them, and again we may look back to Lucretius who refused to acknowledge one primus inventor of (poetic) language by employing a clearly military imagery (as did Ovid with his epic war between sounds), and by employing contemporary political language: Lucr. 5,1050f. Cogere item pluris unus victosque domare non poterat, rerum ut perdiscere nomina vellent.
Obviously, language can not be usurped like conquered Gaul or imposed like triumviral legislation, for the users of language, not the least the poets, saw the freedom of choosing the right words for what was happening as the decisive fact in their own narratives and as their own tool within the acts of identifying their self.
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Sektion 2 Autobiographische Genesen des Selbst und Erzählungen vom po(i)etischen Ich
Die zweite Sektion vereint Beiträge, in denen Erzählweisen des Ich und Konzepte eines (literarischen) Selbst analysiert werden, das sich als Dichter oder Künstler von seinem Werk absetzt und in dieses einschreibt. Von der aristotelischen Poetik über hellenistisches, römisch-republikanisches und spätantikes Schreiben führt der Weg bis in die epischen Erzählweisen vom Subjekt bei Ariost und Tasso. Die untersuchten Texte lassen sich teils über die Nutzung der Prosaform komplementär lesen, teils über das Interesse an narrativen Modi, wie sie insbesondere mit Blick auf eine Genese des Selbst in autobiographisch lesbaren Textformen auftreten. Thomas Schirren (Salzburg) untersucht unter dem Titel »›Techne liebt Tyche und Tyche Techne‹ – Aspekte poetischer Kreativität im Denken des Aristoteles« die zentrale Frage poetischer Subjektivität anhand der Überlegung des Aristoteles zur Rolle der Techne im Schaffensprozess. Die neuzeitlichen Kreativitätskonzepte haben insbesondere in den Geniemodellen entscheidend zur Autonomiedebatte über das künstlerische Subjekt beigetragen, das sich über Selbstbestimmtheit konstituiert. Eine detaillierte Nachzeichnung der Faktoren, die den Prozess künstlerischen Handelns nicht nur strukturieren, sondern in seiner Bedeutung für die Theorie des handelnden Subjekts deutlich werden lassen, führt zur aristotelischen Konzeption eines Telos der poetischen Gattungen, das sich sowohl mit einer inkohärenten Entwicklung der poetischen Vollkommenheit wie einem naturgegebenen Talent eines großen Dichters in Einklang befindet. Glückliches Gelingen und regelgeleitetes Handeln lassen sich im Blick auf die Autonomie des Künstlers nur als sein Selbst konstitutierende Faktoren verstehen, wenn der aristotelische Gedanke von einer Psyche der Gattung selbst berücksichtigt wird. Vor dem Hintergrund einer umfassenden Neubestimmung der Funktionen autobiographischer Schreibweisen liest Gyburg Radke-Uhlmann (Berlin) einen der Schlüsseltexte der hellenistischen Literatur, den Aitienprolog des Kallimachos, als eine originelle Erkundung der Aitiologien des Selbst als eines poetischen Subjekts: »Aitiologien des Selbst – Moderne Konzepte und ihre Alternativen in antiken autobiographischen Texten«. Die Forschungsdiskussionen über die mögliche Iden-
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Sektion 2: Autobiographische Genesen des Selbst
tifikation der beteiligten Personen sind als Erfolg einer autobiographischen Strategie deutbar, die sich über die Textkonstitution mit Traum- und Narrationslementen vollzieht. Gegen die verbreitete Deutung in Legitimations- und Rechtfertigungskategorien ist der Illusionscharakter der Situation auszumachen, der die Selbstwerdung des poetischen Ich befördert. Die Autarkie des poetischen Selbst, die absolute Würdigung der literarischen phantasia und damit der Verzicht auf eine Aitiologie im Sinne der platonischen Lehre von der Selbsterkenntnis erweisen Kallimachos’ Selbstkonstruktion als entscheidendes Zeugnis gegen entwicklungsgeschichtlich gefasste Beschreibungen eines »(post)modernen« Selbst. Die unausweichliche Verknüpfung zwischen politisch und literarisch konzipiertem Selbst weist Michèle Lowrie (New York) an einem gleichermaßen zentralen wie kaum bearbeiteten Text nach, Ciceros Rednergeschichte mit dem Titel Brutus (»Cicero on Caesar or Exemplum and Inability in the Brutus«). Die ciceronische Rhetorik der Unfähigkeit bleibt als einfache Bestätigung des Gegenteils unterbestimmt, insofern die Dialektik zwischen Macht und Ohnmacht des Redners/ Politikers als Teil einer komplexen Konzeption des Schreibens verstanden werden kann, in der Stärke und Schwäche des Schriftstellers Cicero nur in Bezug auf die Herausforderung des Selbstverständnisses durch Caesar einen Ort erhalten. Im Konflikt mit dem exemplarischen Caesar werden der Stil und seine Komponenten zum wichtigsten Katalysator der auktorialen Konzeption. Die Unauflöslichkeit der Verbindungen zwischen personae politischer und literarischer Provenienz führen zu einer Erweiterung des zu berücksichtigenden Belegfeldes auf die prinzipielle Auflösung des traditionellen Systems von Möglichkeiten der Selbstbestimmung. Darin wird Caesar gleichermaßen zum undenkbaren wie einzig denkbaren Ersatz der Exemplarität, die die Selbstkonstitution in der Literatur in eine unauflösbare Ambivalenz stellt. Den einflußreichen spätantiken Dichter Sidonius Apollinaris stellt Rainer Henke (Münster) ins Zentrum seiner Betrachtung des Eskapismus als eines gleichermaßen literaturgeschichtlich wie produktionsästhetisch relevanten Modus der Selbstverständigung (»Eskapismus, poetische Aphasie und satirische Offensive: Das Selbstverständnis des spätantiken Dichters Sidonius Apollinaris«). Die Vorstellung von Epoche, Stellung und Werk des erst in jüngerer Zeit in seiner Bedeutung erkannten Dichters bietet einen Zugang zur Lektüre der poetischen Verfahren, die die Selbstkonstruktion des Sprechers bedingen. Literarisch wie identitätspolitisch wirksame Motive der Exildichtung und der Fremd- und Selbststereotypen erfahren im Werk des Sidonius gleichermaßen eine Aktualisierung wie eine Ästhetisierung, die eine Suche nach dem Modus des Lebens in einer sich radikal transformierenden kulturellen Landschaft abbildet. In der Selbstverkleinerung und der Unterordnung unter gattungsimmanente Konventionen entstehen Bilder eines poetischen Selbst, das sich in der kunstvollen Transformation der Sprechweisen und der Spannungen zwischen Aussageinhalten und -formen konstitutiert und zugleich zurückzieht.
Sektion 2: Autobiographische Genesen des Selbst
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Die Frage nach dem Unterschied zwischen historischer und dargestellter Wirklichkeit führt Therese Fuhrer (Berlin) in ihrem Aufsatz »De-Konstruktion der Ich-Identität in Augustins Confessiones« zu dem Vorschlag, einen der Schlüsseltexte der Subjektsdiskussion, die Confessiones des Augustinus, mit Blick auf die Erzählstrategien zu lesen, die die autobiographische Deutung durch die Leser zu einem Teil der Überzeugungsarbeit des Textes machen und die Funktionalität der Elemente einzubeziehen. Authentizität dient in einem religionspolitischen Kontext der Bekräftigung der orthodoxen Lehre, deren Bekenntnis der Sprecher aus seiner intellektuellen Entwicklung begründet. Selbst wenn Form und Thesen funktional auf die Zeichnung einer dezidiert anti-manichäischen Position hingeordnet sind, lässt sich dies nicht als Beweis gegen die Authentizität der Ich-Aussagen insgesamt verwenden. In einer Gegenüberstellung mit Derridas Schrift Circonfession läßt sich zeigen, daß die Kategorie der Selbstentblößung in beiden Texten nicht nur Mittel, sondern auch Gegenstand der Darstellung ist. Fuhrer erkennt Parallelen in der Skepsis gegenüber der grundsätzlichen Möglichkeit, Selbstaussagen zu tätigen, zwischen Augustinus und Derrida, selbst wenn die Radikalität des letzteren nicht gleichzusetzen ist mit der Schreibweise der Confessiones, in denen ein theologisches Menschenbild illustriert werden soll. Unter dem Titel »Wege in die Moderne. Von Ariost zu Tasso« führt Paul Geyer (Bonn) die Analyse narrativer Subjektsentwürfe weiter zu den Erzähltechniken in Ariosts Orlando Furioso und Tassos Gerusalemme Liberata, in denen beiden Verarbeitung von Transzendenzverlust und Suche nach neuen Subjektivitätskonzepten aufscheinen. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung des allegorischexemplarischen vom parodistischen und personalen Erzählen erweist sich Ariosts epische Dichtung als selbstreferentielle Parodie, aus der sich ein Weg zur späteren subjekttheoretischen Reflexion ergibt. In einer transformierenden Lektüre Dantes entwickelt Ariost einen poetologischen Ansatz, in dessen Sinnzentrum das Dichter-Ich steht, und schafft die Voraussetzung für das stringent personale Erzählen Tassos. In Tassos Verzicht auf die Zentralperspektive, aus der das Geschehen entwickelt werden könnte, kommt ein erzählendes Subjekt zur Sprache, dessen komplexe Innerlichkeit weder in einer inneren Mitte noch in einer erfolgreichen Suche nach epischer Totalität aufgeht.
»Techne liebt Tyche und Tyche Techne« Aspekte poetischer Kreativität im Denken des Aristoteles Thomas Schirren (Salzburg) In memoriam Vincent Großkreutz (1983–2007)
Vorbemerkung Die folgenden Überlegungen wollen die Frage künstlerischer Kreativität im Horizont des aristotelischen Denkens diskutieren. Künstlerische Kreativität ist in der Neuzeit in besonderer Weise zum Ausweis eines autonomen Subjektes geworden. Die Geschichte dieses Konzeptes hat dabei den Gegensatz von kreativer Autonomie und reproduktiv-imitativem Regelkonformismus etabliert. Der Dichter tritt dann als poiht†c in Konkurrenz zum Schöpfergott, wenn er gleichfalls Welten zu schaffen vermag, und unterscheidet sich toto coelo vom regelgeleiteten Techniten. Voraussetzung einer solchen Dichotomie ist der Gedanke, daß zwischen Kunst und Natur eine solche Kluft besteht, daß kunstgemäße und naturgemäße Produktion sich grundsätzlich auch qualitativ unterscheiden. Das Aufkommen des Geniebegriffs hat dabei das Verhältnis von imitatio und creatio dahingehend bestimmt, daß nur die creatio den Wert einer eigentlichen, von allen Regeln der technischen Hervorbringung gesonderten »Kunst« im emphatischen Wortsinne für sich beanspruchen kann1. Da sich aufgrund der Problemgeschichte abzeichnet, daß künstlerische Kreativität im neuzeitlichen Sinne zugleich ein Ausdruck von Subjektivität ist und ohne diese gar nicht gedacht werden kann, stellt sich die Frage, wie in der Antike künstlerische Leistung betrachtet wurde. Trägt man diese Frage an den Phänomenologen Aristoteles heran, dann ergibt sich zunächst, daß Aristoteles die von ihm etablierte Trias von poieÿn, pràttein und jewreÿn zwar öfters erwähnt, er aber für eine eigentliche Philosophie der poiesis keinen größeren systematischen Klärungsbedarf zu erkennen scheint. 1 Schmidt (1985), 10–47.
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1. Die Trias von poieÿn, pràttein und jewreÿn Die bekannteste Unterscheidung der Trias poieÿn, pràttein und jewreÿn findet sich in einer Schrift, die der menschlichen praxis gewidmet ist, nämlich der Nikomachischen Ethik 6, 4. Im sechsten Buch werden die dianoetischen Tugenden behandelt. Nachdem in 6, 3 die fünf Wahrheitsvermögen der Seele benannt wurden, als da sind: tËqnh, ‚pist†mh, frÏnhsic, sof–a, no‹c, wird der Bereich dessen, »was sich immer auch anders verhalten kann« (tÄ ‚ndeqÏmena ällwc Íqein) von demjenigen unterschieden, der immer gleich, notwendig so und ewig ist (t‰ ÇÚdion). Das ist das Reich der Wissenschaft (‚pist†mh). Wo aber gehandelt und hergestellt wird, da ist Kontingenz gegeben; dabei kann jedoch zwischen Herstellen und Handeln klar unterschieden werden. Zwar sind beide Èxeic, die sich auf Rationalität (metÄ lÏgou Çlhjo‹c) stützen, doch die eine ist eine handelnde, die andere eine herstellende Èxic. Die herstellende Haltung bewegt sich im Bereich von Entstehen/Werden, bedient sich der techne (teqnàzein) und stellt Betrachtungen an (jewreÿn). Also ist herstellende Haltung diejenige, die für Entstehung im Bereich des Kontingenten sorgt, und zwar für eine Entstehung, deren Ursprung nicht im Entstandenen selbst liegt, sondern im Herstellenden, nämlich gemäß angewandter techne. Techne gehört nur zur Herstellung, aber nicht zur praxis. Im Bereich der techne ist freilich auch glückliches Gelingen möglich, nämlich tyche. Hierfür zitiert Aristoteles den Tragödiendichter Agathon2: tËqnh t‘qhn Ísterxe ka» t‘qh tËqhn Techne liebt Tyche und Tyche liebt Techne.
Dieses Diktum eines Techniten ist insofern interessant, als Aristoteles in der Physik verschiedentlich auf die Rolle des Zufalls zu sprechen kommt. Dort wird zwischen t‘qh und aŒtÏmaton unterschieden: t‘qh ist Akzidenz im Bereich menschlichen Handelns, aŒtÏmaton ist Akzidenz im Bereich von unbeseelten Prozessen. Das Verhältnis von techne und tyche wäre im Kontext der EN so zu bestimmen, daß es im Bereich herstellender Intentionalität (also dem Bereich, der in der praxis durch proa–resic bestimmt ist) Ergebnisse gibt, die zwar nicht so gewollt sind, aber zu einem glücklichen Resultat führen. Oder auch: Im Werkprozeß gibt es Momente, bei denen sich Intentionalität nicht klar bestimmen läßt, da sie dem Herstellenden 2 Der Tragödiendichter Agathon, zu dessen Sieg das Symposium abgehalten wurde, von dem
Platon im gleichnamigen Dialog berichtet, lebte ungefähr von 455–401 v. Chr. Das Frg. 6 (Tragicorum Graecorum Fragmenta I p. 163 hrsg. v. Snell/Kannicht) zeigt den Gorgianischen Einfluß (Paronomasie, Antithese), der auch in der fiktiven Rede (Smp. 194e–197e) deutlich ist. In Platons Gorgias sagt Polos (448c): ‚mpeir–a m‡n gÄr poieÿ t‰n a ¿na ôm¿n pore‘esjai katÄ tËqnhn, Çpeir–a de katÄ t‘qhn. Unter den gn¿mai monÏstiqoi des Menander finden wir einen ähnlichen Spruch, der jedoch bezeichnenderweise kein reziprokes Verhältnis behauptet: t‘qh tËqnhn ∫rjwsen, oŒ tËqnh t‘qhn (740 Jäkel).
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nicht aufgrund eines lÏgoc Çlhj†c gelingen. Hier verläßt poiesis also eigentlich den Bereich strenger Rationalität. Aristoteles resümiert, techne sei nur Sache der poiesis und nicht der praxis, und fährt fort: »Und in gewisser Weise bewegen sich techne und tyche im gleichen Bereich« 3. In Metaphysik Z wird die poiesis im Horizont der physis in ontologischer Hinsicht betrachtet: In den Kapiteln 7–9 wird die Frage nach der Entstehung materieller ousiai gestellt. Hierbei wird natürliche von herstellender Einwirkung getrennt, aber auch nach spontaner Entstehung (aŒtÏmatoc) gefragt. Was entsteht, entsteht aus etwas und zwar durch eine Einwirkung. Also kann man Ík tinoc, ÕpÏ tinoc und ti unterscheiden. Im Bereich natürlichen Entstehens haben wir daher die hyle, eine natürliche Einwirkung (ein Lebewesen, das zeugt) und ein Lebewesen, das entsteht. Bei der poiesis haben wir ein ähnliches Zusammenspiel, nur liegt im besten Falle eine vernünftige Planung durch den Herstellenden zu Grunde, in jedem Falle aber eine Steuerung, die außerhalb des Entstehenden liegt. Wie sich poiesis im einzelnen vollzieht, erklärt Aristoteles folgendermaßen: Da Gesundheit dieser bestimmte Zustand ist, muß zur Herstellung des Gesunden ein anderer bestimmter Zustand vorliegen, sagen wir das Gleichmaß. Wenn aber dies erreicht werden soll, muß Wärme vorliegen. Und der Arzt denkt in dieser Weise immer weiter, bis er die Reihe zu etwas hingeführt hat, das er schließlich selbst verwirklichen kann. Die an diesem Punkt sich nunmehr anschließende Veränderung, die auf das Gesundsein gerichtet ist, heißt Herstellung (po–hsic). (1032 b6–10, Übersetzung Frede/ Patzig)
Der Herstellende betrachtet also einerseits sein Ziel, nämlich das Produkt, das er herstellen will, andererseits den nächsten Schritt seines Herstellens. Diese beiden Aspekte unterscheidet Aristoteles in po–hsic, diànoia und nÏhsic: Bei den Entstehungen und Veränderungen wird nun der eine Teil Überlegung, der andere Herstellung genannt. Der Teil, der vom Anfang der Sache und von der Form ausgeht, heißt Überlegung (nÏhsic), der Teil jedoch, der vom Endpunkt der Überlegung 3 Das unvermittelt eingeführte Thema t‘qh hat schon den mittelalterlichen Aristoteles-Kom-
mentator Eustratius (CAG 20, 301, 26–302, 19) verwundert; seiner Meinung nach verbindet tyche und techne, daß beide von außen (Íxwjen) einen Prozeß beim Herzustellenden in Gang setzen und ein Írgon hinterlassen, das über die Tätigkeit hinaus dauert, während die praxis von innen her und zugleich mit der ‚nËrgeia endet. Wer nämlich etwas zufällig finde, habe es eigentlich auf etwas anderes abgesehen und bewirke so etwas, das er nicht intendiert habe, d.h. er bleibe dem Bewirkten gegenüber äußerlich. Techne und tyche unterschieden sich freilich darin, daß die techne zumeist dasjenige erreiche, was sie vorhatte, während tyche gegen die Absicht der Herstellung seltener etwas schaffe. Richtig an diesem Erklärungsversuch scheint mir zu sein, daß sich die Verbindung von tyche und techne im Kontext EN 6, 4 nicht darauf beziehen kann, daß beide im Bereich der Kontingenz wirken, denn das trifft ja nun auch für die prêxic zu; doch Aristoteles verbindet hier nur t‘qh und tËqnh miteinander.
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ausgeht, heißt Herstellung (po–hsic). Auf entsprechende Weise entsteht auch jeder der anderen Zustände, nämlich der Zwischenstadien. Was ich meine, ist dies: Wenn jemand gesund werden soll, muß er einen Zustand des Gleichmaßes erreichen. Worin besteht nun dieser Zustand des Gleichmaßes? Hierin; dieser Zustand aber wird dann eintreten, wenn der Patient erwärmt wird. Worin aber besteht nun die Erwärmung? Darin. Das aber ist schon der Möglichkeit nach vorhanden. Dies aber liegt bereits in der Macht des Arztes. (Z 7 [1032 b15–22], Übersetzung Frede/Patzig)
Dianoia und poiesis sind zwei Perspektiven auf den Herstellungsprozeß: Entweder man geht vom Ursprung des Prozesses in der Seele des Herstellenden aus, dann ist das e⁄doc bzw. t‰ t– ™n e⁄nai die Steuerungsinstanz für den Prozeß; von dieser Instanz muß aber ›zurückgegangen werden‹, indem der Herstellende den nächsten konkreten Schritt der Herstellung überlegt 4. Dianoia und poiesis sind also eng verbunden. Sinnvollerweise lassen sie sich auch gar nicht trennen: Wer etwas »vorhat«, der plant einerseits die Ausführung, setzt aber in der Verwirklichung beim zunächst Möglichen und zu Machenden an. Aristoteles trennt hier also lediglich in der Reflexion zwei Aspekte des Herstellungsprozesses, die immer schon zusammen die Herstellung ermöglichen. Aristoteles verknüpft dies hier mit einem anderen Betrachtungsprinzip, nämlich dem von stËrhsic und e⁄doc 5. Denn man kann auch alles unter der Frage betrachten, wie etwas aus etwas entstanden ist. Vom Ergebnis her betrachtet ist der Ausgangspunkt ein Mangel, der dann im Ergebnis durch die zustande gekommene Form behoben wird. Zunächst fehlt der Materie die Form, doch im Laufe der Bewegung zum telos gewinnt das Entstehende diese zunächst fehlende Form. Also beginnt der Herstellende beim Mangel, der stËrhsic, und behebt diesen Schritt für Schritt, indem er das e⁄doc herstellt. In seinem Vorhaben orientiert er sich dabei am ausgebildeten e⁄doc und zieht von diesem Schritt für Schritt ab, bis er dorthin kommt, wo er den ersten Mangel beheben kann usw6. Für die Frage von Herstellung überhaupt ist nun bemerkenswert, daß Aristoteles Gesundheit hier und an anderen Stellen ganz selbstverständlich als einen Prozeß durch Herstellung auffaßt. Das erklärt sich zunächst durch die Definition der Prozeßursache, die hier in einem anderen liegt als in dem, das entsteht, nämlich dem wissenden Arzt (insofern ist eigentlich dessen techne Ursprung der Bewegung). Nun ist aber der Arzt selbst im Falle einer möglichst mechanistischen Auffassung von Gesundheit ein besonderer Hersteller, denn er kann Prozesse in Gang setzen, die, einmal angestoßen, dann auch selbstläufig werden, während andere Techniten, wie z. B. der Automechaniker gerade nicht auf solche Eigenprozesse des Hergestellten bauen können: Jeder Stillstand seiner Bewegung hält 4 Vgl. auch den ähnlichen Gedanken in EN G 3, 1112 b11–27. 5 Metaph. 1033 a8–23. 6 Zur stËrhsic-e⁄doc-Konzeption s. auch Ph. 193 b17–21; 191 b13–16.
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auch den Werkprozeß an. Aristoteles geht auf dieses Problem noch einmal ein, wenn er über das Zufällige (aŒtÏmaton) spricht. Das aŒtÏmaton, also Spontaneität, kann es in der Herstellung dann geben, wenn das dem poietischen Prozeß Zugrundeliegende die Fähigkeit zur Eigenbewegung hat. Das ist beim menschlichen Körper und der Gesundheit möglich. Spontanheilung wäre dann ein Effekt, der durch eine zufällige Erwärmung zustande gekommen ist 7. Nun ist das Produkt Gesundheit natürlich ein besonderes, weil es nicht einen Gegenstand oder Ding im engeren Sinne bezeichnet, sondern einen Zustand. Doch Aristoteles ist über solche Differenzen offenbar unbekümmert 8; ganz parallel zur vom Arzt hergestellten Gesundheit bringt er das Beispiel des Hauses, das vom Architekten hergestellt wird9. Aristoteles kommt es darauf an, daß dasjenige, das entsteht, schon irgendwie vorhanden sein muß, entweder als e⁄doc in der Seele des Herstellenden oder im Zugrundeliegenden, oder in beidem.
2. Theorie der poiesis in der Poetik Man mag versucht sein, in der Poetik eine Theorie von Herstellung überhaupt zu entdecken, obwohl es Aristoteles zunächst um die Dichtung (po–hsic) im engeren Sinne geht. Man muß sich auch darüber im klaren sein, daß Aristoteles mit dieser technischen Schrift zwischen präskriptiven, deskriptiven, aber auch theoretischen Aspekten kommentarlos wechselt. Es wird daher sowohl eine Theorie der Dichtung überhaupt geboten, eine Entwicklungsgeschichte der Tragödie skizziert, und es werden Regeln für die beste Tragödie bzw. das beste Epos gegeben. Herstellung an sich thematisiert aber Aristoteles nicht eigens. Daher kann man diese Schrift nur mit Einschränkung als Quelle für eine Theorie der poiesis in Entsprechung zu den Pragmatien verstehen, die sich mit praxis (also den Ethiken und der Politik) oder theoria (zum Beispiel die Metaphysik) beschäftigen. Wolfgang Wieland warnt daher: 7 Metaph. 1032 b25ff. 8 Dies allerdings im Unterschied zu Rh. 1,1, 1355 b8–14, wo die Medizin ein Beispiel dafür
ist, daß nicht immer ein telos erreicht wird, sondern auch ein Teilergebnis akzeptabel ist; Persuasion und Gesundheit seien in diesem Punkte vergleichbar. 9 Metaph. 1032 b13–14. Vgl. Frede/Patzig (1988), 117: »Eine weitere Sachfrage, auf die der Text des Aristoteles keine Antwort gibt, betrifft den systematischen Ort der »Herstellungen«, die wir im Tierreich antreffen. Vogelnester, Biberdämme, Bienenstöcke werden dort auch hergestellt. Gelten sie durch Herstellung oder als von Natur entstanden? Es ist klar, dass Aristoteles sie aus dem Bereich der Kunstprodukte ausschließen würde«. Auch hier liegt ja der Ursprung in einem anderen als dem, was hergestellt wird, aber es besteht keine Möglichkeit der Planung seitens des Herstellers, oder nur in sehr eingeschränkter Weise; vgl. auch unten S. 8.
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Trotz der Wertschätzung, die diese kleine, in ihrer Wirkungsgeschichte aber ungemein einflußreiche Schrift mit gutem Recht genießt, wird man zögern, gerade sie und sogar ausschließlich sie mit der Aufgabe zu belasten, gegenüber den vielfältig gegliederten theoretischen und praktischen Disziplinen den dritten Grundtypus von Wissenschaft zu repräsentieren 10.
Nun geht es mir in diesen Überlegungen nicht um eine Theorie der poiesis als solcher, sondern um den poiht†c selbst als mögliches Subjekt der poiesis. Vor dem Hintergrund der entfalteten Trias menschlichen Verhaltens ist es nun zunächst auffallend, daß Aristoteles die Dichtung nur über den Umweg der mimesis als poiesis im Sinne der Herstellung aufzufassen scheint. Aristoteles definiert jedoch ganz allgemein die Dichtung (poiesis) als mimesis (Po. cap. 1, 1447 a13–18). Und die mimesis wiederum ist eine mimesis von menschlicher Handlung, also von praxis. Insofern stellt Dichtung einen Sonderfall von poiesis dar, da eine praxis ›hergestellt‹ wird. Diese hergestellte praxis wird nun durch drei Aspekte unterschieden, nämlich das Medium der mimesis, den Gegenstand der mimesis und die Art und Weise der mimesis. Diese differentiae specificae der Gattung mimesis sind nun nicht auf die Dichtung beschränkt, sondern gelten auch für anderes, darstellendes poieÿn wie Tanz und Malerei. Einen Oberbegriff indes scheint Aristoteles für diese mimeseis nicht zu kennen oder zu vermissen (wie wir etwa von »schönen Künsten« sprechen). Und er interessiert sich bei mimesis beinahe ausschließlich für Darstellung von praxis, nicht von Landschaft oder Gegenständen 11. Nun fällt auf, daß bei der Definition derjenigen poiesis, die in der Poetik ganz deutlich im Vordergrund steht, nämlich derder Tragödie, ein telos dieser Herstellung dahingehend formuliert wird, daß sie Íleoc und fÏboc (Jammer und Schauder) hervorbringen soll. Das wird wiederholt (cap. 6, 50 a31; 13, 52 b29) als das Írgon der Tragödie definiert. Das hieße, daß das Herstellen der Tragödie den Zweck hat, über die hergestellte Tragödie hinaus eine bestimmte Reaktion beim Rezipienten hervorzurufen, nämlich die durch Íleoc und fÏboc bewirkte kàjarsic12. Wir haben also ein durch poiesis hergestelltes Írgon, das seinerseits eine k–nhsic bewirken soll. Dies setzt natürlich voraus, daß man sich bewußt als Rezipient auf dieses Írgon einläßt.
10 Wieland (1996), 484; vgl. auch Wieland (2003); Vollrath (1989); Neschke (1997). 11 Einschränkend immerhin in cap. 4, 1448 a17–19. 12 Zur Diskussion Schadewaldt (1955); Flashar (1989).
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3. Der Dichter als Subjekt (künstlerischer) Herstellung oder: Wo das moderne Subjekt seinen Platz hätte und wie Aristoteles diesen Platz bestimmt sein läßt. Es fragt sich nun, wie das Subjekt solcher Herstellung zu fassen ist. Zunächst ist wiederum auf die Leerstelle in der Poetik zu verweisen, in der eine Reflexion über po–hsic qua po–hsic völlig zu fehlen scheint. Wenn wir aber nach den poio‹ntec fragen, dann zeigt sich, daß sie sich zunächst an die präskriptiven Sätze über die von Aristoteles definierte tragische mimesis zu halten hätten. So betrachtet wäre der dichterischen Kreativität genau jene Autonomie genommen, die das neuzeitliche dichterische Subjekt gerade auszeichnet. Nun versieht Aristoteles aber seine Dichtungstheorie auch mit einer entwicklungsgeschichtlich-historischen Dimension; denn tatsächlich muß es im Interesse des Philosophen liegen, auch einen anthropologischen Grund für das Phänomen der Dichtung qua mimesis in der polis zu geben. Wichtige Bestimmungen finden sich im 4. Kapitel der Poetik 13. Hier macht er fusika» a t–ai für das Entstehen der Dichtung verantwortlich, nämlich einerseits die dem Menschen eigentümliche, also natürliche Angelegtheit auf mimesis als Form des Lernens von anderen Menschen (daher s‘mfuton ‚k pa–dwn 1448 b5–6) und andererseits die Freude an mimetischen Produkten. Näherhin sind es dann einzelne, besonders von der Natur begünstigte Individuen (o… màlista pr‰c aŒtÄ pefukÏtec), die die Dichtung aus Stegreifaktionen ›erzeugen‹ bzw. entstehen lassen. Aus diesen improvisierten Anfängen wächst nun die spätere Dichtungsform hervor, indem die dafür besonders Begabten gerade soviel weiterführen (proagÏntwn), wie jeweils die Natur des späteren Produktes kenntlich wird. Nach einigen Wechseln (metabola–) findet schließlich die Tragödie ihre eigene physis, auf die sie angelegt war. Betrachten wir nun diese Produktion einmal unter der Perspektive der Vierursachenlehre, dann wäre zu fragen, woher die Bewegung in die f‘sic der Tragödie eigentlich ihren Anfang nahm (Ìjen ô k–nhsic). War das e⁄doc in der Seele der Begabten? Das wohl nicht, denn diese trieben ja nur eben das hervor, was irgendwie schon sichtbar war. In Metaphysik Z 7 1032 a27–30 läßt Aristoteles als causa movens der poiesis drei Möglichkeiten gelten: tËqnh, d‘namic und diànoia. Neben einer klaren rationalen Planung gibt es also auch noch andere Ursachen beim poiht†c: Mit Dynamis ist eine gewisse Versiertheit bezeichnet, die zwar nicht über das diÄ t–, also den Grund und die Ursache, verfügt, aber doch durch Erfahrung oft das Richtige trifft und dadurch erfolgreich ist. Dianoia wird demgegenüber wohl eine partielle Kenntnis der Zusammenhänge bezeichnen, vielleicht im Sinne eines kundigen
13 Die traditionelle Interpretation der ›Archäologie der Tragödie‹ (Phalloslied und Dithyram-
bos) umkehrend Leonhardt (1991).
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Laien, der den nächsten Schritt planen kann, ohne das ganze Vorhaben auch schon technisch zu überblicken. Diese Unterscheidung ist hier insofern hilfreich, als wir uns ja fragen müssen, was o… màlista pr‰c aŒtÄ pefukÏtec (die von der Natur dafür besonders Begabten) eigentlich wußten, als sie die Tragödie entwickelten. Sie konnten ja gerade nicht auf eine klare techne oder ein eidos zurückgreifen, das zu verwirklichen wäre. Nun spricht Aristoteles in diesem Kapitel eindeutig von einem Vorgang, der an einen natürlichen erinnert. Sollte daran zu denken sein, daß ähnlich wie bei der physischen Fortpflanzung das e⁄doc durch die Individuen weitergegeben wird, ohne daß diese dies steuern könnten? Dann bediente sich die f‘sic der konkreten Wesenheiten gewissermaßen als f‘sei Ónta, um eine ihr gemäße Form, nämlich die der Tragödie hervorzubringen. Wäre die Tragödie dann eine oŒs–a, hätte sie ein substantielles Sein? Diese Möglichkeit wird von manchen Aristoteleskennern ausgeschlossen14. Es sei nur eine metaphorische Redeweise. Freilich fehlt ein sprachlicher Hinweis, der die uneigentliche Rede als solche kenntlich macht. Außerdem übersieht eine solche Auffassung, daß Aristoteles ja ausdrücklich von physischen Ursachen spricht, welche die Dichtkunst hervorgebracht haben. Wenn das so ist, dann darf man sich fragen, wie weit das Wirken der Natur geht und welche Funktion sie bei natürlichen Herstellungen von Lebewesen übernimmt. Ein solcher Fall wird in Physik 2, 8 199 a20–32 erwähnt. Bauen die Spinnen ihre Netze durch techne? Nein, sondern ›herstellende‹ Tiere unterliegen alle dem teleologischen Wirken der Natur. Es gibt in der Natur (als Gesamtheit natürlicher Prozesse) zwar kein Zweckbewußtsein wie beim platonischen Demiurgen, aber doch Zweckhaftigkeit im Kosmos, die sich durch die morf† bzw. das e⁄doc, als den Zielpunkt der Herstellung, definiert. Offenbar ist in der morf† der Spinne auch bereits die Herstellung von zweckmäßigen Netzen zur Nahrungssicherung vorgebildet, so wie auch die Pflanzen zur Nahrungsaufnahme ihre Wurzeln in die Erde wachsen lassen. Wie steht es aber mit einer Herstellung, die sich auf ein Produkt bezieht, das durch das herstellende Individuum noch nicht gleich in sein telos kommt? 3.1 Die Rolle der physis in der Politik Diese Frage ist strukturell derjenigen ähnlich, die im ersten Buch der Politik, cap. 2 behandelt wird. Auch dort wird eine physische Notwendigkeit geltend gemacht, die den Menschen zur Paarung und zur Einrichtung eines o⁄koc treibt. Und der oikos führt dann über den k¿moc, das Dorf, zur Gründung einer polis, in der die von der Natur geleitete Zusammenführung des Menschen zu Gemeinschaften 14 So Kullmann (1998), 325.
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ihr telos erreicht. Dieses telos ist zugleich die physis, da die physis die Menschen zu dieser Form (e⁄doc) des Zusammenlebens gebracht hat. Das begründet Aristoteles mit der Analogie von Lebewesen und Artefakt: Dasjenige, was ist, wenn es in seiner Entstehung abgeschlossen ist, ist zugleich die physis eines jeden Dinges 15. Der erwachsene Mensch ist so betrachtet die physis jedes Menschen, nämlich als die Form, zu der sich der Heranwachsende entwickelt. Hier entspricht physis der oŒs–a als dem konkreten Gegenstand, der seine optimale Form gefunden hat. Das bedeutet aber nun ontologisch, daß das Ík tinoc die Dörfer sind, aus denen sich dann im Sinne der stËrhsic die »vollkommene polis« entwickelt. Aus diesem natürlichen Prozeß kann Aristoteles dann schließen, daß der Mensch dasjenige Lebewesen ist, das »von Natur«, f‘sei, auf eine strukturierte Gemeinschaft gewissen Umfangs (pÏlic) hin angelegt ist und nur hier auch sein eigenes telos entfalten kann. Denn nur die tËleioc pÏlic (nicht nur die vollkommene Stadt, sondern auch die in ihr telos gekommene Entwicklung 16) sichert dem Menschen das efi z®n. Und in diesem efi z®n verwirklicht sich der Mensch erst im eigentlichen Sinne. Nun ist es aber trotz dieser Entwicklung vom o⁄koc zur pÏlic auch evident, daß die Menschen in der Stadt nicht aufhören, in Hausgemeinschaften zu leben. Vielmehr sind dies ausdrücklich Teile der polis –, aber doch so, daß sie allererst im Ganzen die Bestimmung erfahren, die ihr Wesen ausmacht. Daher postuliert Aristoteles gerade hier, daß das Ganze früher als die Teile ist und die Teile aufhören zu sein, was sie sind, wenn sie nicht mehr Teile des Ganzen sind. Das gilt nun zunächst für den Menschen als mËroc pÏlewc, wohl aber auch für die größeren Einheiten der polis. Auch hier in der Politik gehen die Meinungen darüber auseinander, welche Rolle Aristoteles der physis zuschreiben will 17. Werden die Individuen zur polis getrieben? Immerhin nennt Aristoteles einen pr¿toc sust†sac der polis, der sich die allergrößten Verdienste erworben habe. Damit stellt sich aber auch in der Politik die Frage nach dem Individuellen im physischen Prozeß. Als Zwischenergebnis des kleinen Ausflugs in die Politik kann man aber immerhin festhalten, daß es auch hier klar benennbare physische Bewegungen gibt, die dann auf eine bestimmte Form zulaufen, wobei es natürlich menschliche Individuen sind, die hier tätig sind. Doch ist fraglich, ob diese Tätigkeit ihren Ursprung nur aus den Individuen nimmt. Indem es Prozesse gemäß der Natur sind, hat man zu fragen, an welchem Prozeß diese Natur wirksam sein soll. 15 Pol. 1, 2, 1252 b31–34. 16 EN 3, 14 (1153 b16): oŒdem–a gÄr ‚nËrgeia tËleioc ‚mpodizomËnh: »Eine Wirklichkeit, die
behindert wird, kann nicht in ihr telos kommen«. 17 Vgl. Kullmann (1998), 318–327 zur Frage der Substantialität der polis; Schütrumpf (1991),
186–187 schließt sich Kullmanns Interpretation insoweit an, als er die Rolle der Natur auf die spekulative Rekonstruktion der Anfänge beschränken möchte und nicht als Ursache der Staatsformen ansehen will.
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Aristoteles spricht in Metaphysik L 10 von einer Allnatur. Hier stellt Aristoteles die Frage nach dem Status des Guten, das die Allnatur (f‘sic to‹ Ìlou) im Kosmos garantiert; liegt das Gute nun aber in einem getrennten Prinzip oder immanent in der Anordnung des Ganzen? Aristoteles vergleicht das Problem mit einem Heer: Hier liege die Funktionalität (das Gute) sowohl in der konkreten Ordnung des Heeres als auch in dessen Strategen. Ja sogar eher in diesem, denn die Ordnung werde durch jenen hergestellt, nicht umgekehrt. So sei auch in der Natur alles zusammengeordnet; gleichwohl sei nicht alles in der gleichen Weise im Ganzen angeordnet, doch auch nicht so, daß ein Ding ohne Verbindung mit dem anderen wäre. Vielmehr sei alles auf Eines hin geordnet. Die Unterschiede bestünden jedoch darin, daß in Entsprechung zur abnehmenden Vernunft die Kontingenz von der Fixsternensphäre zur sublunaren Welt zunimmt. Daher hätten die vernunftlosen Lebewesen erheblich weniger Anteil am Gemeinsamen (koinÏn) als die vernünftigen. Was heißt das nun? Zunächst erklärt sich aus dieser prinzipiellen Weltordnung, daß es im Bereich menschlicher Handlung und Herstellung eben jene Kontingenz gibt, von der in den EN die Rede ist. Trotzdem steht auch dieser Bereich nicht außerhalb der Ordnung; so wie in einem Haus, ergänzt Aristoteles, den Freien nicht alles zu tun erlaubt ist, die Sklaven jedoch vielfach aufs Geratewohl handeln. Das bedeutet: Der Leiter eines o⁄koc trifft täglich Entscheidungen, die er vor seinem logos verantworten muß, während der Sklave nur Anweisungen befolgt, die ihm sein Herr gibt, und was er dann an eigenen Tätigkeiten vollzieht, das ist zwar zufällig, aber auch weniger ausschlaggebend … also etwa: Nimmt er zum Schöpfen des Wassers den großen oder den kleinen Eimer, füttert er erst die Hühner, dann die Rinder u. a.m. Der Herr hat solche Entscheidungen nicht zu treffen. Daß der Sklave ±c Ítuqe handelt, bedeutet also nicht, daß er grundsätzlich nur tut, was ihm gerade in den Sinn kommt, sondern daß sein Ermessensspielraum überhaupt vornehmlich nur im Bereich des Kontingenten liegt 18. Aristoteles schließt mit der Bemerkung: »Die (All-)Natur ist ein solches Prinzip für jedes von diesen Dingen (im Kosmos)« (Metaph. 1075 a22–23). Das heißt, die Natur hat jedem einzelnen Lebewesen die Çrq† ihrer je eigenen Seinsweise gegeben, aufgrund derer dieses Seiende seinen Platz im Kosmos einnehmen kann19. 18 Anders faßt dies Sedley (2000), 332 auf: Die Sklaven handelten nur selten aus eigenem Antrieb
so, daß es dem Ganzen des oikos nütze: »He is speaking of the degree of their sharing or participation in the households joint activity […] when the slave does the washing up, he is doing ›what he chances to‹ not, I would suggest, in the sense that he slings the dishes around at random, but in the sense that most of his own aims at best merely coincide with the aims of the household, rather than being fully at one with them« (332). Das würde voraussetzen, daß der Sklave überhaupt eine prohairesis ausbilden könne, was nach Pol. 1, 4–6 ausgeschlossen ist, da Sklaven nur auf den logos des Herren hören können, aber nicht selbst einen haben (1254 b22–23). 19 Zu dieser Stelle die eingehende Interpretation von Sedley (1991) und (2000).
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Für die Frage nach der Entwicklung einer Gattung ist dieser Gedanke der Allnatur aufschlußreich. Tatsächlich nämlich ließe sich so erklären, warum die natürliche Ursache der mimesis im Menschen zur Herausbildung der Tragödie führt. Die einzelnen proàgontec handeln hierbei vielfach ±c Ítuqe, und doch ist alles irgendwie auf Eines hin geordnet; das heißt: So wie der Hausherr für die Besorgung eines Geschäftes dem Sklaven Raum der Kontingenz läßt, so läßt die physis als (All-)Natur dem einzelnen Künstler eine gewisse Kontingenz, doch führt sie über die mimetische Anlage des Menschen schließlich die Entwicklung der Tragödie zur vollkommenen Form. Auf diese Weise ist das Prinzip des Individuums im Plan der Gesamtnatur aufgehoben. Wenn etwa Aischylos die Zahl der Schauspieler von eins auf zwei vermehrt und den Chor reduziert 20, dann deshalb, weil sich so die mimesis, auf die ja Dichtung reduziert wird, besser performieren läßt. Sophokles erhöht dann die Schauspieler auf drei, und damit scheint das Optimum dramatischer mimesis erreicht. Ebenso wird der Stoffumfang vergrößert. Das iambische Metrum findet nicht ein einzelner Dichter, sondern die f‘sic21. Und die beiden Zweige der dramatischen mimesis, Tragödie und Komödie, werden durch die ihnen je entsprechenden Charaktere entwickelt, die offenbar auf Dispositionen der physis beruhen. 3.2 Die individuelle Anlage In Kapitel 17 wird die Frage nach der Anlage von Dichtern ausführlicher diskutiert. Dichtung sei Sache eines Manikos oder einer guten Anlage. Denn man müsse die Stoffe in Übereinstimmung mit der lexis zusammenstellen und zwar so, daß man (sich?) dabei die Sache evident mache. Man finde am ehesten das Angemessene (prËpon 1455 a25), wenn man sich durch Imagination in den Situationen befinde, und vermeide dessen Gegenteil (der Dichter muß sich also das, was er dichtet, bei der Konzeption vorstellen). Man solle möglichst auch die sq†mata der Schauspieler (1455 a29) einbeziehen; denn am glaubwürdigsten werde die Dichtung, wenn man selbst in dem emotionalen Zustand sei, den man ausdrücken wolle. Am überzeugendsten wütend sei der, der tatsächlich wütend ist. Daher sei Dichtkunst eine Sache der guten Anlage (eŒfu†c 1455 a32) oder eines manikÏc: Während der eine durch bewußte Imagination wandelbar ist, ist der andere von außen erregbar. Hier haben wir zwar durchaus Aspekte individueller Unterschiede, und man könnte daher versucht sein, darin bereits die Bedeutung subjektiver Imaginationsleistung zu sehen. Doch ist andererseits auch die übersubjektive physis zu erkennen, die sich hier des einzelnen bedient: Nicht umsonst 20 Po. 1449 a15–19. 21 Po. 1449 a22–28.
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nennt Aristoteles den Begabten einen eŒfu†c. Es kommt also viel darauf an, wie man diese physis auffaßt. Auf die Bedeutung einer guten Anlage weist Aristoteles auch im Zusammenhang der lexis hin, als er die Königin der Tropen, die Metapher, behandelt. Ein guter Metaphernbildner zu sein sei nicht jedermann gegeben, lasse sich nicht lernen und sei Anzeichen von einer guten physis (eŒfuÚa 1459 a7). Denn gute Metaphern bilden zu können bedeutet das Ähnliche betrachten zu können (t‰ Ìmoion jewreÿn 1459 a8). Diese Ähnlichkeit müsse in der Beziehung (‚piforà) zwischen ontologischen Kategorien aufgefunden werden, also indem man das e⁄doc für das gËnoc verwende oder umgekehrt das gËnoc für das e⁄doc22; am gebräuchlichsten sei aber die analogisch verfahrende Metapher. Daraus geht hervor, daß die Metapher im wesentlichen eine Erkenntnisleistung erbringt, bzw. daß der Metaphernbildner einen kognitiven Akt vollzieht, indem er Ähnlichkeiten erkennt und auf den Begriff bringt23. Der Rezipient wundert sich über diese Beziehung und sagt sich: »Wie wahr, ich aber war im Irrtum, diese Ähnlichkeit bisher nicht wahrgenommen zu haben«! (Rh. 1412 a20–21) Das entspricht aber auch einer philosophischen Fähigkeit, die sich durch Dialektik schulen, aber nicht streng anleiten läßt. Es ist zwar deutlich, daß Aristoteles individuelle Unterschiede poetischer Fähigkeiten erkennt, aber alle dichterische Herstellung ist entweder rational nachvollziehbar oder entspricht, wenn sie gelungen ist, allgemeinen poetischen Regelsystemen. Diese gehen ihrerseits indessen auf eine allgemeine (menschliche) Natur zurück, die sich einen adäquaten Ausdruck verschafft und daher die ihr gemäßen dichterischen Formen hervorgebracht hat. Die Leistung einzelner ist dadurch im gesamten physischen Prozeß aufgehoben. Sieht also Aristoteles nicht die Möglichkeit eines regelabweichenden und darum genialischen Dichtens, wie die sich vom Klassizismus absetzenden Stürmer und Dränger es konzipieren bzw. wie Pseudo-Longin es sich vorstellt? 3.3 Homer durchbricht alle Maßstäbe Nun gibt es in der Poetik allerdings noch die Figur des großen Dichters, bei dem Aristoteles nicht sicher ist, wie dieser es vermocht hat, alles richtig zu machen, sogar da, wo er gegen seine eigenen Prinzipien zu verstoßen scheint. 1) So kritisiert Aristoteles in Po. 1451 a23, daß die Einheit der Handlung nicht durch Konzentration auf einen Helden ermöglicht werde (per» Èna  m‹joc). Nur Homer, der sich auch sonst von den anderen Dichtern unterscheidt, hat auch hier
22 Arist. Po. 1457 b6–25. 23 Vgl. auch Rapp (2002), II 921–930. Zur Erkenntnisleistung der Metapher Bremer (1980).
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das Richtige getroffen: sei es durch techne, sei es durch seine Natur (¢ toi diÄ tËqnhn £ diÄ f‘sin). Hierüber räsonniert Nickau (2000): Das scheint doch zu besagen, daß (nach der Vorstellung des Philosophen) Homer es eben nicht so gemacht hat, wie die Tragiker, deren einige auf dem Wege von trial and error herausgefunden haben, wie man die Fabeln bauen muß, sondern, ohne viel in den Stoffen herumzusuchen, mit genialem Griff das einzig Richtige tat.
Das heißt, Homer hat Odyssee und Ilias per» m–an prêxin komponiert und nicht alles das erzählt, was dem Odysseus zustieß. Aristoteles ist unsicher, wie er sich diese Fähigkeit des Homer erklären soll. Aber es scheint klar, daß dies nicht durch tËqnh im eigentlichen Sinne geschehen sein kann, da diese ja noch nicht gefunden war; daher bietet sich Aristoteles die f‘sic als Erklärung an. 2) Die Einheit einer Handlung ist nicht durch Zeit gegeben, also dadurch, dass etwas zu einer bestimmten Zeit geschieht, sondern durch die Einheit der Handlung. Wieder ist Homer im Vergleich mit anderen am besten: »Wie wir schon sagten, auch darin erscheint er als ein jespËsioc« 24. 3) In den Formen des Epos (cap. 24): einfach oder kompliziert, ethisch oder pathetisch, erkennt Aristoteles dieselben Teile (mËrh, freilich außer melopoi–a und Óyic, vgl. cap. 6), die auch für die Tragödie gelten, nämlich: – – – –
Peripetien anagnorisis (beide Mythos) dianoia (Gesinnung der Akteure) lexis.
Die Unterschiede zur Tragödie bestehen in Versmaß und Handlungsgefüge (s‘stasic); insbesondere kann man in der Epik durch Episoden verschiedene synchrone Handlungen darstellen25. Homer ist derjenige, der alle diese mËrh als erster und allein richtig gebraucht hat. In dieser Engführung von Epos und Tragödie erweist sich auch, daß in den Augen des Stagiriten die Tragödie die Weiterentwicklung des Epos ist und daher in Homer bereits das tragische Potential des Epos verwirklicht war. Das belegt deutlich, daß es Aristoteles nicht um die Dichtung als solche geht, sondern um einen sich in und mit der Dichtung vollziehenden ›physischen‹ Prozeß, menschliche praxis zur Anschauung zu bringen. Denn für das Epos fehlen eben jene Schlüsselaffekte, die das ergon der Dichtung herstellen, Íleoc und fÏboc, während andererseits sogar durch die bloße Lektüre, also unter Absehung von Óyic, der tragische Effekt, das Írgon der Tragödie, beim Rezipienten ausgelöst werden kann.26 24 Po. 1459 a17. 25 Vgl. auch Nickau (1966), 155–171. 26 Arist. Po. 14, 1453 b1–7.
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4) Homer, der auch in anderer Hinsicht lobenswert ist, ist der einzige Dichter, der nicht in Unwissenheit darüber ist, was er [als Dichter] tun muß: nämlich selbst möglichst wenig kommentieren, erzählen usw., sondern dies soll der Dichter den Akteuren überlassen 27! Denn er ist nicht als Erzähler Mimet. Während andere Epiker glauben, selbst über das ganze Epos hin im Wettkampf stehen zu müssen (Çgwn–zesjai), hat Homer verstanden, daß er sich nur kurz im Prooimium zu Wort melden muß, um sich dann durch Einführung redender Personen sogleich zu verabschieden. Wenden wir uns zur Ausgangsfrage zurück, dann ergibt sich folgendes: Der Fall Homer beweist für Aristoteles, daß es in der Geschichte der Dichtung Figuren gibt, für die das Liebesverhältnis von tyche und techne entscheidend ist. Homer hat bereits alles richtig gemacht: ein jespËsioc Çn†r, der möglicherweise weniger als Technit denn als Liebling der tyche (die dann freilich von der physis geleitet wäre) zum Richtigen kam. Dies offenbar deshalb, weil er alles korrekt gemacht hat, ohne daß es entsprechende Regeln gegeben hätte, an die er sich hätte halten können. Denn andernfalls wäre er nicht der einzige gewesen. Er traf also vielleicht vielfach katÄ t‘qhn das Richtige, und erst Aristoteles ist derjenige, der aufgrund seines Begriffsapparates erklären kann, warum es (das diÄ t–) richtig war. Und erst aus dieser Perspektive des diÄ t– wird eine klare Entwicklungsrichtung kenntlich. Homer tat das poetisch Richtige nicht aus tËqnh, sondern aus d‘namic oder diànoia, wenn wir die erwähnte aristotelische Unterscheidung noch einmal aufgreifen wollen. Die scheinbare Disjunktion ¢toi diÄ tËqnhn £ diÄ f‘sin besagt dann wohl eine quasi technisch agierende Natur, also eine Natur, in der das Regelsystem der techne vollendet ist. Eine solche Verbindung verweist uns auf die enge Verbindung von techne und physis im aristotelischen Denken. Techne setzt physis fort und umgekehrt kann physis auch mit technischen Forderungen kongruieren28. Gegenüber dem Platonischen Ion kann man das aristotelische Konzept als einen Fortschritt ansehen, weil dort noch das alte Enthusiasmus-Konzept diskutiert wird, das hier offenbar durch die physis abgelöst wird. Das eigentliche Subjekt der Dichtung ist die physis, weil Dichtung als ein anthropologisches Phänomen gesehen wird. Damit hängt auch die Eigendynamik der Dichtung zusammen. Sie wurde zuvor als göttlich und enthusiastisch gekennzeichnet, weil sie eine Wirkung entfalten kann, die man dem Artefakt als bloß Gemachtem (ohne yuq†) nicht zutraute. Nun hat aber die Tragödie »gleichsam eine yuq†«, nämlich den Plot (m‹joc 50 a38). Dieser ist es auch, von dem als s‘stasic pragmàtwn die spezifische Wirkung ausgehen muß. Insofern stellt literarische mimesis einen Sonderfall der tËqn˘ Ónta 27 Po. 1460 a5–11. 28 Vgl. Blumenberg (1981), 72–73.
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dar. Dichtung als hergestelltes Írgon muß ein weiteres Írgon erzeugen, nämlich die kàjarsic.
4. Zusammenfassung Wie steht es nun mit der künstlerischen Autonomie im Entstehungsprozeß der Tragödie? Wir konnten aufzeigen, daß es für Aristoteles durchaus möglich ist, einen Vorgang der Herstellung von f‘sei Ónta, also von Dingen, deren Herstellung von der Natur bedingt ist, in sein System zu integrieren. Tiere stellen mitunter etwas her, ohne zu planen, d.h. ohne über techne zu verfügen. Und das Produkt hat seinen Ursprung nur im Herstellenden und nicht in ihm selbst wie bei den Lebewesen. Das Tier kommt bereits mit der Fähigkeit zur Herstellung auf die Welt, da seine f‘sic entsprechend ausgestattet ist. Aristoteles setzt auch eine vollendete Form der Tragödie an. Aber Menschen kommen nicht schon mit der Fähigkeit auf die Welt, Tragödien zu dichten. Aristoteles konstatiert hier vielmehr einen Entwicklungsprozeß, der sich über mehrere Generationen vollzieht. Auch ist den Dichtern der Vorformen mehr als nur ein natürlicher Instinkt gegeben. Sie haben durchaus geplant und haben auf der Grundlage ihrer Kenntnisse Entscheidungen getroffen. Aus der Blickrichtung des Aristoteles vollzieht sich diese Entwicklung aber nicht stringent, sondern mit Brüchen, daher sagt er, es habe Wechsel bzw. Umschwünge im Prozeß gegeben (metabola–). Daraus wird deutlich, daß trotz der teleonomen Grundlinie andere Faktoren ins Spiel kommen. Die Dichter haben wohl oftmals falsche Entscheidungen getroffen. Wenn dann aber doch das telos erreicht worden ist, stellt sich dieser Vorgang aus der Perspektive des e⁄doc als ein – trotz partieller Aberrationen – zielgerichteter Prozeß dar. Diese können aus Aristotelischer Perspektive als Kontingenzen aufgefaßt werden. Nun steht am Ende dieses Prozesses dennoch die vollendete Tragödie; also, wäre zu folgern, haben die Dichter bisweilen auch zufällig das Richtige getroffen. Dieses erschien im Entwicklungsprozeß als gelungen und wurde weiterentwickelt. Denn andernfalls, wenn es den Dichtern möglich gewesen wäre, allein auf Grund ihrer diànoia das Ziel der vollkommenen Tragödie zu erkennen, wäre die Entwicklung nicht umwegig verlaufen. Man muß also davon ausgehen, daß es sich um einen natürlichen Prozeß über mehrere Generationen handelt. Und deshalb sagt Aristoteles auch, die begabten Naturen trieben immer genau soviel weiter, wie von der zu entwickelnden Form gerade sichtbar wurde. Das e⁄doc der Tragödie war vorgegeben, doch fand es sein telos erst über Zwischenstationen. Wenn die Entwicklung bei diesen Stationen aber nicht stehen blieb, dann beweist dies, daß die teleologisch angelegte Allnatur in den Dichtern eine solche Çrq† angelegt hat, daß diese erst zufrieden waren, als die perfekte Form gefunden war. Die Allnatur
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verknüpft auf diese Weise die Bewegungen der Lebewesen. Der Einzelne trägt dazu bei, eine größere Gesamtbewegung ins Werk zu setzen. Ganz verwandt wiederum mit dieser Problematik der Entwicklung einer literarischen Form ist diejenige, der sich Aristoteles in der Eudemischen Ethik 8,2 unter dem Stichwort ›Glückspilz‹, also dem eŒtuq†c, widmet. Ist es reiner Zufall, daß manche immer Glück haben, oder haben sie eine besondere Natur? Für Aristoteles ist klar, daß die Glückspilze nicht besonnen sind; denn auch dann, wenn sie das Richtige taten, können sie keinen Grund dafür angeben. Von den drei in Erwägung gezogenen Ursachen, nämlich Vernunft, göttlicher Beistand und Natur, bleibt für Aristoteles nur die Natur übrig. Daher müßte der Glückspilz eigentlich nicht eŒtuq†c heißen, sondern eŒfu†c; zum habituellen Glück paßt nicht die tyche, sondern nur die Regelmäßigkeit der Natur. Das führt Aristoteles nun zum Ergebnis, daß es zwei Formen von eutychia gibt: 1) aufgrund einer göttlichen Strebung, die auch ohne Vernunft (und sogar besser ohne) im einzelnen als seine Naturanlage funktioniert, und 2) ein allein durch äußere Zufälle herbeigeführtes Ergebnis. Aber beide sind irrational. Überträgt man diesen Gedankengang nun aus dem Bereich der praxis auf den der poiesis, dann hätte in dem von der Natur begabten Dichter Homer (eŒfu†c) eine göttliche Strebung gearbeitet, die ihn bereits in der Epik diejenigen Formen anwenden ließ, die erst später in der Tragödie in ihr funktionales telos gelangen. Es ist aber gerade diese göttliche Strebung, die als Subjekt der poetischen Kreativität nicht das Individuum erkennen läßt, sondern eine Allnatur, die dem menschlichen Zusammenleben durch die Tragödie einen systatischen Effekt verliehen hat. Die Tragödie ist natürlich, weil sich in ihr ein natürlicher Trieb des Menschen eine Form gebildet hat, sich auszuleben. Ähnlich wie die natürliche polis; hierbei ist nicht in einem engen Sinne ein Naturding gezeugt worden, sondern der Mensch hat in der techne ein Desiderat der Natur kompensiert29. Die techne setzt also fort, was die physis begonnen hat und läßt dann das Ergebnis dieser technischen Herstellung wieder in einen natürlichen Prozeß, nämlich die natürliche Polisgemeinschaft, einbiegen. Beim Einzelnen geschieht dies in Form der Katharsis, die durch die Erleichterung auch einen soziopolitischen Effekt hat. Was also in der Entwicklung der Tragödie zunächst als Zufall erscheinen mag, erweist sich in der diachronen Perspektive als geleiteter Prozeß, der trotz partieller Aberrationen an sein telos kommt. In Homers natürlicher Begabung präfiguriert sich also das technische telos einer Gattung.
29 Vgl. Ph. 2, 8, 198 a15–17.
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Aitiologien des Selbst Moderne Konzepte und ihre Alternativen in antiken autobiographischen Texten Gyburg Radke-Uhlmann (Berlin)
I. Einleitung Kallimachos’ Aitienprolog ist einer der bekanntesten Texte des Hellenismus. Er ist außerdem einer der antiken Texte, die intensiv auf ihre reflexiven Züge und das neue dichterische Selbstbewußtsein hin gelesen wurden. Von wenigen Texten der Antike scheinen wir mit solcher Gewißheit sagen zu können, daß sie etwas mit der Konstitution des (dichterischen) Selbst zu tun haben und dazu eine Aussage formulieren. Kaum ein Text scheint daher weniger geeignet zu sein, um neue Ansätze zur Subjektivitätsforschung und zur Archäologie des Selbst in antiker Literatur zu entwickeln und vorzustellen. Dieser Eindruck trügt aber. Die Sprengkraft der Modernität dieser Selbstinszenierung des Erzählers der Aitien muß erst noch erarbeitet werden. Es ist – so meine These – eine Aitiologie des Selbst, die autobiographisch im Sinne postmoderner Autobiographietheorien gelesen werden muß, die gelesen werden muß als Neuerschaffung des poetischen Ich und seiner Geschichte im Akt des Schreibens, der zugleich ein Akt des Träumens des erzählenden (Autor-)Ich ist. Diese neue, auf die Erschaffung des Selbst konzentrierte Lektüre liefert zudem Bausteine für etwas, das ich gerade in einem größeren Rahmen habe entstehen lassen: Sie liefert Bausteine für eine Revision traditioneller Epochenbeschreibungen zum Hellenismus und zur hellenistischen Dichtung, die die Bewegung der Neuerschaffung der Vergangenheit als Literaturgeschichte in dem Akt des gegenwärtigen Dichtens ernst nimmt und daraus eine innere Literaturgeschichte erarbeitet. 1 Die Verknüpfung mit der Entdeckung einer neuen Literaturgeschichte ist nicht assoziativ, denn in dem Konzept der Aitiologie liegen die Potenzen einerseits einer postmodernen Konstruktion des poetischen Selbst und andererseits einer Neuer1 Radke (2007).
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schaffung der Literaturgeschichte von den – selbst entworfenen – Wurzeln und der Vorgeschichte der Tradition her, die komplementär zu und jenseits gegenwärtiger Intertextualitätsforschungen beschrieben werden muß. An die Stelle der Suche nach den intertextuellen Referenzen und Folientexten tritt in diesem Versuch die exemplarische Analyse alternativer, d. h. vorhellenistischer Modelle der Archäologie des Selbst und autobiographischen Schreibens, die für sich und nicht als Konstitutionselement des neuen Konzeptes, in dem sie als sie selbst nicht mehr erkennbar sind, betrachtet werden.
II. Moderne und postmoderne Autobiographietheorien und ihr aitiologischer Charakter Der Aitienprolog kann nicht nur gewinnbringend mithilfe gegenwärtiger Methoden der Autobiographietheorie und als antiker Vorläufer dieser neuen Ansätze interpretiert werden, er gibt auch den Blick frei auf etwas, das die literarische Beschäftigung mit dem eigenen Leben und die korrespondierenden Theorien zu dieser in der Moderne ebenso wie in der Postmoderne bestimmt. Er lenkt den Blick auf eine Gemeinsamkeit zwischen den scheinbar einander entgegengesetzten Autobiographiekonzepten, nämlich auf den aitiologischen Charakter der Autobiographie in Moderne und Gegenwart. Die moderne Autobiographietheorie ging im 19. Jahrhundert von dem Postulat aus, unmittelbares Zeugnis einer Person in ihrer Lebensbeschreibung zu finden: Wie Augustinus wirklich war, lerne man nur aus den Confessiones 2. So konnte und mußte auch die Klassifizierung der Autobiographie als Literatur problematisch bleiben, wenn denn Literatur immer überformte Wirklichkeit, immer fiktive Welten entwirft, die Autobiographie aber gerade unmittelbare Authentizität zu garantieren verspricht. Auch wenn die Diskurse der deutschen Klassik und der Romantik tatsächlich weniger naiv waren, als sie im Rückblick mancher Postmodernen erscheinen: In ihrer Kritik an der Autobiographie steht die – in der Postmoderne als sinnvolle oder mögliche Grenzziehung in Zweifel gezogene – Gegenüberstellung zwischen einem schöpferischen Subjekt und seinem Objekt 2 Freilich trägt die Moderne selbst von Anfang an den Zweifel an dieser Möglichkeit in sich als
ein konstitutives Element ihres Selbstverhältnisses: vgl. Heine (1964), 447: »Die Abfassung einer Selbstkritik wäre nicht bloß eine sehr verfängliche, sondern sogar eine unmögliche Arbeit. Ich wäre ein eitler Geck, wenn ich hier das Gute, das ich von mir zu sagen wüßte, drall hervorhübe, und ich wäre ein großer Narr, wenn ich die Gebrechen, derer ich mir vielleicht ebenfalls bewußt bin, vor aller Welt zur Schau stelle. – Und dann, mit dem besten Willen der Treuherzigkeit kann kein Mensch über sich selbst die Wahrheit sagen. Auch ist dies niemandem bis jetzt gelungen, weder dem heiligen Augustin, dem frommen Bischof von Hippo, noch dem Genfer Jean Jacques Rousseau, […]«.
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im Zentrum. Diskutiert wird die Frage, ob in Selbstzeugnissen eine unmittelbare Identität zwischen beiden möglich ist3. Die Moderne arbeitet sich an diesem ihrem Unmittelbarkeitsideal und der zunehmend radikalisierten Einsicht in die Subjektivität aller Welterfassung und künstlerischen Beschreibung auch mit Bezug auf die Vorstellung vom privilegierten Zugang durch das eigene Selbst 4 ab. Ernst Tugendhat 5 hat in seiner Diskussion sprachanalytischer Beschreibungen des Selbst diesen Topos vom privilegierten Zugang zum Ich zum Thema gemacht. In der Konsequenz dieser Analyse muß der Topos als Mythos, als ›große Erzählung der Moderne‹ erscheinen. In der Postmoderne wird die Autarkie des Subjekts als solche und der ›Mythos vom privilegierten Zugang‹ literaturtheoretisch in Frage gestellt und durch die Überzeugung einer Diskursabhängigkeit ersetzt 6. Nicht mehr das einzelne Subjekt gilt als Urheber der Überformung des Selbstbildes, sondern allgemeine Sprachspiele und – diskurse 7. Autobiographie im Sinne der klassischen Moderne ist damit nicht mehr möglich. Das Ende dieser Autobiographie konnte proklamiert werden8 – ein Ende, das in der modernen Theorie selbst schon als ihre Vollendung oder Selbstaufhebung angelegt war.
3 Die Bedeutung des Identitätskonzepts (durch die verschiedenen Phasen des individuellen
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Lebens hindurch) zeigt exemplarisch die Studie von Pascal (1965), z.B. 210. Ebenso auch Dilthey (1942), 200. Ein charakteristisches Beispiel für diese Position ist Aichinger (1970), 424: »Niemand als der Autor selbst weiß über seine Erlebnisse, Gefühle und Empfindungen besser Bescheid, keinem anderen sind sie so unmittelbar zugänglich; er allein kennt die inneren Zusammenhänge«. Tugendhat (1994) und (1997). Lejeune (1994); de Man (1984); Foucault (1988); Barthes (2000); Schabacher (2005); Cixous (1997); Derrida (1985); Eakin (1985); Lejeune (1989); Finck (1999). Michel Foucault (1980), 364: »… daß wir vor dem geringsten gesprochenen Wort bereits durch die Sprache beherrscht und von ihr durchdrungen sind«. Zurecht weist Finck (1999), 28f. daruf hin, daß das Impliziertsein jedes Subjekts in Sprachspiele schon ein in der Romantik bekannter Gedanke war. Sie verweist auf Novalis (1965), 672f.: »Es ist eigentlich um das Sprechen und das Schreiben eine närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen – sie sprächen um der Dinge wegen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß keiner«. Sprinker (1980); De Man (1984); Derrida (1988); Jay (1982); id. (1984); id. (1987); Kennedy (1981); Lang (1980); Sturrock (1977); Spengemann (1980).
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So mußte nicht die Gattung enden 9, sondern die Fragestellung verschoben werden. Gefragt wird jetzt nicht mehr, ob und wie das Subjekt sich selbst überformt hat oder eine Überformung in der Spiegelung in der Autobiographie vermeiden könnte, sondern gefragt wird, wie die Sprache durch das Subjekt hindurch die Selbstdarstellung fiktionalisiert und diesem dadurch entzieht. Die apriorische Unmöglichkeit unmittelbarer Authentizität wird vorausgesetzt und bildet die Basis. Gearbeitet wird mit dem positiv als Fundus an Alteritäten deutbaren Mangel an Identität und der Einsicht in die Notwendigkeit und Kreativität divergierender Pluralität. Soweit betreffen diese Beschreibungen die Beschäftigung mit dem Selbst und Zugängen zum Selbst überhaupt. Was aber zeichnet die Autobiographie in diesem Kontext aus und ließ sie zu der bevorzugten Form literarischer Produktion und der Synthese von Literaturtheorie und Literaturschaffen avancieren? Wenn Autobiographien – nach einem vorläufigen, technischen und allgemein akzeptierten Begriff – retrospektive Beschreibungen des eigenen Lebens in seinem kontinuierlichen Verlauf 10 sind, dann sind sie in diesem Sinn Entwürfe eines Selbst, das sich das Autor-Subjekt als Objekt literarisch erschafft. Die Fiktionalisierung des Schreibprozesses selbst und das Verschwinden des empirischen Autors und sein Aufgehen in den Autor-Diskursen werden damit zum zentralen Thema in der Autobiographie und der Reflexion auf diese. Dieses Thema trägt den Namen ›Fiktionalisierung des Selbst‹ durch ein seiner selbst entfremdetes Selbst, das, um die Illusion der Identität dieses Ich zu erschaffen, die Kontinuität des Lebensverlaufes des Selbst ebenso benötigt wie die Suche nach den Ursprüngen dieses konstruierten Selbst und die Entlarvung dieser Quellensuche als nachträgliches, von der Gegenwart des Autor-Ich aus entworfenes fiktives Konstrukt eines identisch bleibenden Selbst 11. Hatte sich schon die klassisch moderne Autobiographietheorie als Suche nach den Ursprüngen des Selbst und der Möglichkeit der Identität von erzählendem Subjekt und erzähltem Objekt erwiesen, die mit Blick auf die Subjektivität des Erfassens von Welt und Ich an ihrem eigenen Unternehmen verzweifeln mußte, so muß auch die postmoderne Autobiographietheorie (und -praxis) ihren aitiologischen Charakter bekennen, der sich selbst zerstört, um sich als Konstrukt widererstehen zu lassen. 9 Wir erleben im Gegenteil eine Renaissance der Autobiographie als fiktionalem Text in der
Postmoderne: In den USA gibt es z.B. drei Publikationsorgane, die ausschließlich Studien zur Autobiographie veröffentlichen: Biography – Prose Studies – A/B: Autobiography Studies. Außerdem haben seit 1978, seit dem Erscheinen eines Themenheftes der Modern Language Notes zu Autobiography and the Problem of Subject fast alle wichtigen Literaturzeitschriften spezielle Ausgaben dem Thema Autobiographie gewidmet (s. z.B. Jay [1982]). 10 Lejenune (1994). 11 De Man (1993), 132ff.
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Der Name ›Aitiologien‹ verweist auf die Affinitäten zur hellenistischen Dichtung. Denn diese begreift ihr Erzählen explizit als Summen von Geschichten über Ursprünge und Anfänge. Moderne und postmoderne Autobiographietheorien sind aitiologisch. Sie begreifen den individuellen Lebensweg eines Menschen als eine Geschichte, eine große Erzählung, deren fiktionaler Komposition und deren historischen Quellen, den historischen a“tia, man vom Standpunkt der Gegenwart des Autor-Ich aus nachgehen und deren Konstruktcharakter man – als Teil eines Sprachspiels – aufdecken kann. In diesen Diskursen verschwimmen also die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, weil auch die Wirklichkeit des Selbst als subjektive Fiktion und literarisches Konstrukt erkannt wird. Die dichterische Phantasia gewinnt damit Gewalt über den Entwurf des Selbst im autobiographischen Rückgriff und konstruiert dabei aus der Perspektive der eigenen Gegenwart für diese Gegenwart sich selbst als vergangenes und bis in die Gegenwart fortdauerndes (fiktives) Selbst12. Die dichterische Phantasia erschafft die Vergangenheit als Aition für die Gegenwart und tut dies in einem poetischen Raum, in dem sie nur den eigenen Gesetzen unterworfen, d.h. absolut autonom ist13. So kann dieser poetische Raum zu einer Traumwelt und durch diese als Produkt der Phantasia offenbar werden, denn es ist der Traum, in dem es keine Unterscheidungskriterien zwischen wahr und falsch, zwischen fiktiv und wirklich gibt, weil alles den Index des Vorgestellen, des subjektiv Bildlichen an sich hat. Auf der anderen Seite muß, weil die Illusion von Wirklichkeit von der Gattung Autobiographie gefordert wird, eine Rahmenkonstruktion geschaffen werden, der die Traumwelt, die für die absolute Herrschaft der Phantasia steht, von einer illusionierten realen Gegenwart, in der das Autor-Ich sich als empirisches Ich präsentiert, abgrenzt und als poetischen Raum konstituiert. Es sind Strategien der absoluten Herrschaft poetischer Phantasia, die in diesen Bausteinen als Basis moderner und postmoderner Autobiographien formuliert werden. (Mit dieser Beschreibung kann die Rede von der selbstreferentiellen Fiktionalisierung präzisiert und mit den diesen Kategorien vorausgehenden erkenntnistheoretischen Grundentscheidungen assoziiert werden.)
12 Sprinker (1980), 342 verweist auf das komplementäre Destruktionspotential der Phantasia. 13 Zu diesen Zusammenhängen s. Radke (2007).
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III. Kallimachos’ Aitienprolog als Erschaffung des Selbst in einer Traumwelt der freigelassenen Phantasia Eben diese Strategien aber determinieren die poetische Anlage des Aitienprologs des Alexandriners Kallimachos 14. Eine Analyse dieser Fiktionalisierungsformen bei Kallimachos kann – jenseits und als Gegenbewegung gegen Droysens teleologische, entwicklungs- und bewußtseinsgeschichtliche Beschreibung des Hellenismus als ›Moderne der Antike‹ – zur Aufdeckung der Affinitäten zwischen der alexandrinischen Dichtung und Poetologie und gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen und literarischen Diskursen beitragen. Als Bollwerk gegen die Identifizierung dieser These mit Droysens wirkmächtigem Konzept wird es nötig sein, (unten) eine vorhellenistische Praxis des Schreibens über das eigene Selbst als Alternative und nicht als Vorläufer oder Vorbereitung der antiken Moderne vorzustellen (soweit das in diesem Rahmen möglich ist). Die Struktur von Kallimachos’ Prolog zu den ersten beiden Büchern seines Hauptwerkes 15 bietet eine doppelte Rahmung, die die Postulate der eben skizzierten gegenwärtigen Autobiographietheorien erfüllt 16. Sie erschafft einen poetischen Möglichkeitsraum, in dem die dichterische Phantasia absolute Freiheit genießt, fügt diesen aber ein in die Illusion gegenwärtiger Wirklichkeit, die ihre Legitimation aus einer Bezugnahme auf ihre Ursprünge gewinnt, entwirft den poetischen Kosmos also aitiologisch. Der innere Rahmen ist das berühmte Somnium, in dem das Erzähler-Ich berichtet, es habe geträumt, wie es als junger Mann auf den Helikon versetzt worden sei, wo es mit den Musen in ein Gespräch eintritt, in welchem er sie nach vielerlei Kulten und deren Ursprüngen, deren Aitia fragt. Damit wird die Erzählung aller folgenden Aitien-Geschichten motiviert. Sie alle finden also im Traum statt, sind 14 Die klassische Autobiographiegeschichte verfolgt ein bewußtseinsgeschichtliches Konzept in
der Aufdeckung des genuin Autobiographischen in der Geistesgeschichte. Demnach könne erst die Moderne wirklich ein autobiographisch formulierbares Selbstverhältnis ausbilden, wohingegen es in der Antike lediglich tastende Anfänge gegeben habe. Relativ viele Ansätze (wenn auch nur eine Vorgeschichte der Autobiographie) findet Georg Misch, der Pionier und Enzyklopädist der Autobiographietheorie, in der hellenistischen Literatur. Er findet diese aber als eine kontinuierliche Weiterentwicklung dessen, was seminal schon in der vorhellenistischen Literatur angelegt sei: Misch (1907). Neuere Literatur zur antiken Autobiographie in: Reichel (2005); Gay (1990). 15 In einem anderen, aber verwandten Kontext trage ich eine Interpretation des Aitienprologs in Radke (2007), 273–281 vor, auf der dieser Teil dieses Beitrages gründet. 16 Alan Cameron hat 1995 die Diskussionen zur Einheit der beiden Prologe zusammengefaßt und nachdrücklich dafür plädiert, daß beide schon in der ursprünglichen Form zusammengedacht waren, also gegen die von Pfeiffer zuvor vertretene These von der zweiten Fassung der Aitien, bei der der Autor seinem Werk einen apologetischen Prolog mit der Anrede an die Telchinen hinzugefügt habe: Cameron (1995), 104–132.
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geträumte Wirklichkeit, und zwar die geträumte Wirklichkeit des sich im äußeren Rahmen des Prologs als alter Mann präsentierenden Ich, das träumt, es sei – wieder – ein junger Mann17. Der äußere Rahmen inszeniert die Illusion der realen Gegenwart des AutorIch und verweist sogar – als Illusion – auf das empirische Ich. Dies geschieht auf zwei Weisen: Indem er den in der realen Zeit gealterten Autor im Konflikt mit seinen – mythologisch anonymisierten – Kritikern vorstellt, und indem er die gegenwärtige Dichteridentität dieses attackierten Autors auf deren Anfänge in der Kindheit und ihre Legitimation durch Apoll zurückführt und von diesem Initiationserlebnis aus entwirft. Es ist ein Topos in Legionen von Interpretationen, die Kallimachos’ Einladung zur Vernissage der Programmatik seiner Dichtung gefolgt sind, diesen äußeren Rahmen als erstes Aition des Aitien-Werkes zu bezeichnen18. Als erstes Aition fungiere es zugleich als Apologie des ganzen Werkes und des in den ersten Versen formulierten und in der zeitgenössischen Diskussion im Raum stehenden Vorwurfs der Kritiker, Kallimachos dichte »bloß wie ein Kind« (paÿc âte: Call. Aet. Fr. 1 [Pfeiffer] 6). Das Erzähler-Ich präsentiert tatsächlich ein erstes Aition. Doch ist es notwendig, die Funktion der beiden Rahmenhandlungen und ihr wechselseitiges Verhältnis genau zu bestimmen. Das Autor-Ich will, insofern und weil es eine Autobiographie in Kurzform entwirft, die Illusion der Verortung seiner (fiktiven) Selbstdarstellung in der realen Gegenwart erzeugen. Diese Funktion erfüllt die Auseinandersetzung mit den eigenen Kritikern meisterlich. Die Forschungsgeschichte hat gezeigt, wie meisterlich. Denn noch bis heute halten sich Diskussionen und Erörterungen über die Identität der Kritiker, mit denen das Erzähler-Ich sich selbst konfrontiert. Solche Diskussionen sind – insgesamt und nicht nur in der Spielart der Konstruktion eines Gegensatzes zwischen Kallimachos und Apollonios von Rhodos 19 – ein Zeichen, daß die autobiographische Strategie erfolgreich war. Denn diese Interpretationen geben dem äußeren Rahmen des Aitienprologs, d. h. einer konkreten poetischen Komposition, einen Sitz im Leben des empirischen Autors und deuten das Anliegen und die poetische Struktur von diesem außerliterarischen, realen Zentrum aus. 17 Zur Interpretation und Rekonstruktion der Einfügung des Traumes des jungen Ich in die
Konstruktion des ›alten‹ Erzähler-Ich des Aitienprologs s. die Diskussion in Cameron (1995), 174–184. 18 Wimmel (1960), 101; Harder (2005), ad loc.; Asper (1997), 150; Goldhill (1986), 25–52, 30; Ambühl (2005), 393. 19 Dieser Gegensatz ist schon viele Male philologiegeschichtlich aufgearbeitet und als Mythos entlarvt worden. Er feiert dennoch fröhliche Urständ. Die Gründe für diese Renaissancen müssen demnach tiefer gesucht werden, in einer Schicht jenseits einfacher philologiegeschichtlicher Mißverständnisse. S. Radke (2007).
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Kallimachos’ autobiographischer Pakt wurde also von der Forschung weitgehend akzeptiert 20. Nicht beachtet wurde dabei aber, daß die autobiographische Strategie selbst den Rezipienten gerade zu ihrer eigenen Destruktion anleitet. Die Illusion der Darstellung einer realen Lebenssituation wird als Wirklichkeit angenommen, und die Aitiologie dieser Gegenwart wird als Rechenschaftsbericht auf eben diese Realität bezogen und damit teilweise aus ihrem fiktiven Kontext gehoben: Das wie ein Kind dichtende Autor-Ich legitimiert seine literarische Praxis mit der Erzählung eines Aition, das das Szenario realer Begebenheiten ebenso desavouiert, wie dies die Mythisierung der Kritiker als Telchinen tut, also die Substituierung des Personals der realen Gegenwart mit dem Personal aus der mythischen Frühzeit. Denn die Szene, in der sich Apoll dem jungen Dichter zuwendet, als dieser zum ersten Mal die Schreibtafel auf seine Knie gelegt hatte, führt den Rezipienten auf eine andere Ebene. Sie führt ihn in ein poetologisches Szenario, in dem der junge Dichter mit dem Dichtergott Apoll spricht und von diesem sein späteres Dichtungsprogramm angewiesen bekommt. Die Illusion autobiographischer Wahrhaftigkeit und konkreter Geschichtlichkeit beginnt damit zu bröckeln, und der Leser wird unversehens in die Welt poetologischer Symbole versetzt. Eben zu einer ähnlichen Irritation des Realitätsanspruchs aber hatten auch schon der Kindlichkeitsvorwurf und die Maskierung der (strengen) Kritiker als Telchinen geführt 21. Telchinen sind Geister aus der Frühzeit und gehören in mythische Vorvergangenheiten, in denen der Anfang des Kosmos erzählt wird22. Aber sind diese Geister nicht ein Element, das in der hellenistischen Gegenwart des modernen Dichters – und in diese unmittelbare Gegenwart werden sie im Aitienprolog gestellt – deplaziert erscheinen muß? Auch kann man diese Maskierung nicht schlicht als gelehrte Polemik abtun. Denn wir befinden uns in einem Kontext, der mit verschiedenen Zeitstufen und Lebensaltern spielt 23. In diesem Spiel der Entgegensetzung von alt und jung, der Erschaffung des alten Dichters 20 Herter (1937), 213–15. Polemisch gegen solche Tendenzen ist Lefkowitz (1981), 124. Asper
deutet den Telchinenvorwurf als Verzerrung einer ernsthaften und d.h. wohl: gegenwärtig wirklichen Kritik: Asper (1997), 151 (allerdings schränkt er diese These in Anm. 83 gegen Weber wieder ein, wenn er den Konstruktcharakter von Kallimachos aus zurecht hervorhebt); ebenso auch Cameron (1995), 4, 185–232. Ähnlich auch Hunter (1993), 190f. 21 Ergänzt werden kann diese Reihe durch die Ergebnisse der Untersuchungen der Quantitätsmetaphern durch Markus Asper, der zu dem Schluß kommt, daß Kallimachos gegen keine konkrete Konzeption mit einem bestimmten theoretischen Profil polemisiert, sondern gegen eine unscharfe, pointiert verzerrte allgemeine Vorstellung: Asper (1997), 223: »Wenn sich aber die Polemik keinem theoretischen Hintergrund zuordnen läßt, dann auch schwerlich die Apologie. Kallimachos steht offensichtlich über der literarästhetischen Theorie seiner Zeit, von ihm führt kein Weg zur Rekonstruktion zeitgenössischer Poetologie«. 22 Call. Hym. 4.31; Aet. 3. Fr. 75 (Pfeiffer), 64ff. Dazu auch Wimmel (1960), 72–74. 23 S. Sier (2002), 54–81; Ambühl (2004).
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aus dem jungen, von Apoll erwählten Knaben, hat es etwas zu bedeuten, aus welcher Zeitstufe des Mythos das Ich seinen Gegnern ihre Maskierung entnimmt. Die Konfrontation der Telchinen als Inbegriff der Vorkindheit der mythischen literarischen Tradition mit der Kritik an der neuen Dichtung, die sich nicht an die literarischen Vorbilder und deren Qualitätsvorgaben halte, verleiht dieser Kritik eine neue Dimension. Denn sie wird mit Figuren aus einer Zeit kostümiert, in der es diese Tradition noch gar nicht gegeben hatte. Auf diese Weise bewegt sich die Abwehr dieser Kritik im Bildlich-Phantastischen. Eine Auseinandersetzung mit Geistern aus der mythischen Vorzeit führt man nicht mit rationalen Argumenten, sondern mit der poetischen Phantasia. Die Telchinen sind das namenlose Personal im Mythos, das mit der Kosmogonie, mit der Erschaffung des Kosmos und der Bevölkerung des Kosmos mit den olympischen Göttern assoziiert wird. Sie sind mit Blick auf die illusionierten gegenwärtigen Kritiker nicht faßbar, sondern in ihrer unbestimmten Anonymität in eine universale kosmogonische Vorvergangenheit versetzt, wodurch die prekäre Situation des attackierten Dichters in eine Krise von kosmischer Dimension verwandelt und mit ebensolcher Bedeutung angefüllt wird24. Aus semantischer Unbestimmtheit wird bildliche Anschaulichkeit. Der Dichter wird dieser brachialen Kosmogonie 25 eine andere Form der Welterschaffung, die Erschaffung einer poetischen Welt – in den Aitien – entgegensetzen und die Kritik auf dieser Ebene und indirekt aus den Angeln heben und dekonstruieren. Nicht der äußere Rahmen der Abweisung der realen gegenwärtigen Kritiker des Kallimachos ist also das Zentrum dessen, was das Autor-Ich in den Aitien entwickeln und im Prolog entwerfen möchte 26; sondern das Zentrum ist der innere Rahmen der Traumerzählung27. Nach dem (verläßlichsten) Zeugnis der Florentiner Scholien28 folgte auf den Prolog eine Traumerzählung, die den szenischen Rahmen für alle weiteren Aitia bietet – aller Aitia der ersten beiden Aitien-Bücher, wie wir seit Parsons Rekon24 Zu der Beobachtung der Unbestimmtheit der Telchinen mit Blick auf die – der Suggestion
25 26
27 28
des Aitienprologs nach – gegenwärtigen Kritiker s. auch Asper (1997), 22 und 146: Über Asper hinausgehend müßte man sagen, daß die Telchinen einer historischen Konkretisierung nicht nur nicht bedürfen, sondern sich einer solchen grundsätzlichen entziehen. Die Aufmerksamkeit wird bei diesem Bild der Urgeister daher in allererster Linie auf die Epiphanie dieser Urwesen in dem sich hoch reflektiert präsentierenden Prolog des Hauptwerks des Kallimachos gelenkt. S. die andere Intertextualitäten aufspürende Interpretation von Harder (2002). Wie etwa Markus Asper meint ([1997], 149): »Im fiktiven Rückgriff der Apollonvision erzählt Kallimachos von sich selbst als einem ABC-Schützen […]. Die gesamte Visionsszene ist nur als Apologie des paÿc-âte-Vorwurfs der Telchinen zu verstehen«. Nach AP 7.42 schloß sich eine Traumerzählung an. Cameron (1995), 119–127.
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struktionen wissen 29. Nicht real erlebte, sondern geträumte Wirklichkeit ist es, in die wir in den Erzählungen eintauchen. Dieses Faktum bedarf einer konsequent poetischen und auf die Poetologie dieser Dichtung reflektierenden Interpretation. Denn in dieser geträumten Wirklichkeit des Somnium wird der Möglichkeitsraum einer Welt aufgespannt, in dem die poetische Phantasia und nicht die Ratio die alleinige Herrschaft hat und in der ihrer kosmogonischen Kreativität keine Grenzen gesetzt sind. Die Anspielungen auf die Theogonie im Somnium unterstreichen den universalkreativen Anspruch dieses Unternehmens. Diese poetische Welt ist nicht zufällig in ein Traumszenario eingebettet30, es ist nicht nur deshalb in einen Traum integriert, weil Kallimachos ein gelehrtes Spiel mit intertextuellen Bezügen spielt. Der Traum ist vielmehr für das AutorIch eben der Raum, auf den der äußere Rahmen bereits hingesteuert hatte; es ist der Raum, in dem an die Stelle der Illusion historischer Realität der fiktionale Entwurf der wahren Identität des Dichters tritt. Diese wahre Identität ist keine Wahrheit der Empirie, und auch keine Wahrheit des analysierenden Verstandes, sondern es ist eine genuin poetische Wahrheit, die ihre Welt erschaffenden und eigene Maßstäbe setzenden Potenzen entfaltet und dies durch das Vermögen der dichterischen Phantasia vollzieht. In dieser poetischen Traumwelt wiederum werden nicht einfach Vorstellungsbilder entworfen, sondern es werden Aitia konstruiert. Aitia aber sind die Begründungsformen der Phantasia im Unterschied zu den Formen der Begründung, mit denen der Verstand arbeitet. Denn es sind Begründungsformen, die geschichtlich vorgehen, indem sie einen neuen Zeitrahmen, eine neue Geschichte der Welt als Literaturgeschichte erschaffen, eine Welt, in die durch Sprache Bedeutung hineinkommt, in der die Welt durch Namen und Ursprungserzählungen als ein Raum erschlossen und konstruiert wird, der bedeutungsvoll ist und in der das Ungeheure der bedrohlichen äußeren Welt in die Ungeheuerlichkeit und Unendlichkeit der Möglichkeiten der Phantasia übersetzt ist. Die Suche nach den geschichtlichen Ursprüngen von mythischen Geschichten bewegt sich in einem Vorstellungsraum, der vom erzählenden und wiedererzählenden Subjekt selbst geformt und angeeignet werden kann. Man hat Kallimachos’ Somnium bislang vor allem als intertextuellen Dialog mit Hesiods Dichterweihe gelesen. Diese Interpretationsmethode findet eine Stütze in der Aufnahme der Figur ›Hesiod‹ in das Personal des Somnium, in der Lokalisierung des Traumgeschehens auf dem Helikon und in den direkten Hinweisen auf
29 Parson (1977); Lloyd-Jones/Parson (1981), 254–269; Livrea (1979), bes. 37, id. (1980); weitere
Literatur: Lehnus (1989), 81–85. 30 Vgl. zum Motiv Möller (2007).
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diesen Vortext aus der Theogonie und aus den Erga Hesiods 31. Hesiod erscheint darin – auch – als mythisches Paradigma für das Autor-Ich (bzw. ›Kallimachos‹), das mit seiner Musenweihe die Legitimation seines Dichtens durch den Verweis auf göttliche Inspiration sowie auf die Tradition, in die er sich stellt, begründet. ›Mystische‹ Begründung in der Erzählung einer göttlichen Erfahrung und intertextueller Verweis auf die klassische Tradition gingen in dieser Traumerzählung eine Synthese ein, die den besonderen Innovationscharakter der Kallimachischen Dichtung spiegelten32. Im Zuge dieser Interpretationsstrategie wurden auch Texte aus dem Corpus Platonicum herangezogen, die die These intertextuell untermauern sollen, die Rechtfertigungsstrategie des Autor-Ich gegenüber seinen Kritikern sei das wichtigste Verbindungsglied zwischen Aitienprolog und Somnium. Dabei wird auf das Daimonion in Platons Apologie (Ap. 31c–e) verwiesen, das eine übersubjektive Rechtfertigung für Sokrates’ Verhalten anbiete, so wie Apoll die Rechtfertigung für die ›kindliche‹ Dichtung des Ich im Aitienprolog; außerdem auf den Zikadenmythos im Phaidros (Phdr. 258e–259d) und den Schwanengesang im Phaidon (Phd. 84e–85b) 33. Kallimachos’ Transformationen seiner Vorgänger (Hesiods, Platons usw.) wollen im Rahmen dieser autarken Welt der poetischen Phantasia des Dichters jedoch nicht die ursprünglichen Kontexte dieser Bezugstexte evozieren und sich deren Vorgaben unterwerfen, sondern sie sich einverleiben. Es gibt Gründe dafür, daß ungeachtet einer differenzierten Terminologie, die versucht, die verschiedenen möglichen Formen der Allusion zu unterscheiden 34, die Neuorganisation des intertextuellen Materials bei Kallimachos und der Konstruktcharakter dieser Schöpfung vielfach nicht konsequent genug als solche zur Kenntnis genommen wird. Der Ursprung dieser Zurückhaltung ist die Vorstellung, daß die Gelehrsamkeit der alexandrinischen Dichtung die Durchsicht auf das verwendete, gelehrte Material zu fordern scheint 35. Diese aus der Romantik ererbte Charakterisierung der alexandrinischen Dichtung – als Dichtung, »nachdem die Schönheit aufhörte das Ziel der Kunst zu sein« und »Alexandrien zu einem Sitz der 31 Vgl. v. 3 (Frg. 2, Pf.); v. 265 usw.; s. dazu auch die Studie zu Hesiod als Folie für Kallimachos’
Dichtung von Reinsch-Werner (1976); Livrea (1995), 7–15. 32 So z.B. Ambühl (2005), 401; Livrea (1995), 30; Fantuzzi/Hunter (2004). 33 Ambühl (2005), 402; Harder (2005), ad loc.; Harder (1993), 13; Andrews (1998), 16f.; Crane
(1986), 278; Hunter (1989); Massimilia (1996), 230 ad loc. 34 Abhängigkeit des Kallimachos von Hesiod: Reinsch-Werner (1976) und Cameron (1995),
380–386; zur Pindar-Rezeption: Fuhrer (1988); Conte (1986) entwickelt Kategorien der Unterscheidung zwischen Allusion und Emendatio; Thomas (1986) bringt eine weitere Steigerung der terminologischen Differenzierung, die freilich auf die besondere Rezeptionskultur in Rom (und besonders Vergil) abgestimmt ist. 35 Thomas (1986), 198.
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Gelehrsamkeit und der Gelehrten überhaupt, und auch vorzüglich der Sitz dieser neuen Poesie« 36 wurde – bestimmt als Prämisse die Suche nach der poetischen Struktur der Kallimachischen Dichtung, die vor allem in einer Synthese und einer Amalgamierung der Tradition bestehe. Die Annahme, daß Gelehrsamkeit an die Stelle der Kunst und des Strebens nach Schönheit trete, verwandelt die Analyse der eigenen poetischen Schöpfung des modernen Dichters Kallimachos in eine Suche nach seinen gelehrten Steinbrüchen, deren Kenntnis der Dichter evoziere, um den Rezipienten mit dieser Sekundärtugend der Dichtung zu erfreuen. Die fast widerspruchslos akzeptierte 37 Intertextualitätsforschung zur hellenistischen Dichtung38 neigt dazu, das Gelehrsamkeitsvorurteil der romantischen Literaturgeschichtsschreibung in neuen Begrifflichkeiten weiterzuschreiben 39 und die Radikalität der Neuerschaffung der Literaturgeschichte als Implement einer neuen Kunst durch die Alexandriner zu verharmlosen 40. Welche Konflikte mit der Erschließung der eigentümlichen poetischen Struktur und Bewegung aus der Suche nach dem intertextuellen Durchblick auf die unterstellte Gelehrsamkeitsdemonstration entstehen, kann hier nur an einem Beispiel betrachtet werden: Dieses Beispiel ist eine bestimmte, heute dominierende Interpretation des Verhältnisses zwischen Prolog und Sominum im Gesamtaufbau 36 Schlegel (1794). 37 Annette M. Harder etwa beginnt einen Aufsatz zu Kallimachos’ Aitien folgendermaßen:
»It has long been noted that the character of Callimachus’ poetry is highly intertextual« (Harder [2002], 189); paradigmatisch ist auch der Zugang von Fantuzzi/Hunter (2004) und von Hunter (1996). 38 In der lateinischen Philologie gibt es vermehrte Anstrengungen, die Vereinnahmung der Vorbilder mit begrifflichen Instrumentarien zu analysieren, die die bewußtseinsgeschichtlichen Prämissen zu vermeiden suchen: s. Thomas (1999); Hinds (1998). 39 Eine Ausnahme zu dieser Tendenz ist ein kurzer Aufsatz von Glenn W. Most (1981), 188f., der mit Bezug auf die Dichtung des Kallimachos von einem »system of controlled deformations« einer neu konstruierten literarischen Tradition spricht. Mosts methodische Konsequenz aus dieser Einsicht ist die Verfeinerung der Analyse der Allusionspoetik des Kallimachos, bei dem die Bezugnahmen auf die Vorgängertexte oft nicht klar, sondern eine fordernde Aufgabe seien. Diese Verfeinerung der Intertextualität führe bei Kallimachos zu einer Vielschichtigkeit in den Allusionen, die zwischen dem Original und der Imitation notwendig zu einer »diachronic discrepancy« führe. Diese Strategie der Verfeinerung der Intertextualitätsforschung und die Bereitschaft, subtile Anspielungen in ihrer Gelehrsamkeit zu würdigen, gibt es in vielen neueren Beiträgen: s. z.B. Depew (1998). Deutlich wird die Communis opinio der Forschung über die Bedeutung der Intertextualität am Beispiel des Delos-Hymnos in der Dissertation von Ukleija (2005), z.B. 282: »Aus der Bezugnahme auf die frühere Literatur entfaltet Kallimachos seine dichterische Kraft, die Neuerungen lassen sich nur auf dem Hintergrund der literarischen Tradition, vor allem durch einen Vergleich mit dem (ganzen) hom. Apollon-Hymnus und mit Pindar, in vollem Umfang einschätzen«. 40 S. dazu Radke (2007), bes. 86–112. S. zur Verlustbilanz bei der neuzeitlichen Konstitution des radikal Neuen: Schmitt (2003), bes. 7–19.
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der Aitien. Die Bezugnahme auf Hesiods Musenweihe im Sominum werde für den Aitienprolog als Legitimationsstrategie eingesetzt. Sie bedeute eine Berufung auf eine das Subjektive übersteigende Instanz. Um so argumentieren zu können, müssen die ursprünglichen Kontexte betrachtet werden, nicht ihre Transformationen bei Kallimachos. Denn in dessen Aitienprolog und Somnium ist eben diese Prämisse, daß es sich um Rechtfertigungsstrategien handelt, die über das subjektive Selbst hinausgehen und dessen Autarkie damit einschränken, problematisch. Es käme einer Petitio principii gleich, wollte man diese Strategie der Interpretation der intertextuellen Anspielungen zugrundelegen. Denn eine solche Prämisse impliziert bereits, daß das Somnium dem Aitienprolog untergeordnet ist und helfen soll, die im Prolog formulierte Kritik zurückzuweisen. Kallimachos benutze nur deshalb den Topos der Hesiodeischen Musenweihe, weil er damit seiner von den Telchinen attackierten Dichtung Rückendeckung verschaffen wolle. Die Beschreibung der autobiographischen Strategie bei Kallimachos hat aber etwas anderes als Möglichkeit der Deutung aufgezeigt, nämlich daß die Traumwelt des Somnium das Zentrum der Rahmenhandlung der Aitien ist und die eigentliche Antwort auf die autobiographische Illusion der realen Wirklichkeit, die in dem Kritikervorwurf inszeniert wird, formuliert. Das Autor-Ich destruiert gerade die Möglichkeit selbständiger, die subjektive Fiktionalisierung des Autor-Ich übersteigender göttlicher Legitimationen, indem es diese in den autobiographischen Diskurs und die Traumwelt des poetischen Ich integriert und als deren Produkt erweist. Schon Apolls Aufforderung an den Knaben ›Kallimachos‹ ist ein solches subjektives Produkt des Autor-Ich, das sich eine eigene poetische Vergangenheit und Identität konstruiert, die bis zu den Anfängen der ersten Schreibübungen zurückgeht. ka» gÄr Ìtwe pr v∏wtiston ‚moÿc ‚p» dËlton Íjhka go‘nasiwn, >A[pÏ]llwn e⁄pen Ì moi L‘kioc; ›.......]... ÇoidË, t‰ m‡n j‘oc Ìtti pàqiston ........]n Mo‹san d+ ≤gaj‡ leptalËhn; pr‰c dË se] ka» tÏd+ änwga, tÄ mò patËousin âmaxai tÄ ste–bewin, ·tËrwn “qnia mò kaj+ Âmà d–fron ‚l]ên mhd+ oŸmon ÇnÄ plat‘n, ÇllÄ kele‘jouc Çtr–pto]uc, e ka» steviwnotËrhn ‚làseic.‹ tƒ pijÏmh]n 41 Denn als ich zum ersten Mal die Schreibtafel auf meine Knie legte, sagte zu mir der Lykische Apoll: … Sänger, das Opfer möglichst fett 41 Call. Aet. Fr. 1 (Pfeiffer), 21–29.
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… aber die Muse, mein Guter, schlank. Außerdem] befehle ich dir, das, was Wagen nicht befahren, zu betreten, in den Spuren anderer nicht den Wagen zu steuern und auch nicht auf breiter Straße, sondern Wege, die unberührt sind, auch wenn du einen engeren Weg fährst.
In dieser Betrachtung findet auch der Gelehrtenstreit, ob in dieser Szene die ersten Schreibversuche des Grundschülers beschrieben werden42 oder die ersten dichterischen Entwürfe, eine Lösung. In dem aitiologischen Konstrukt der eigenen Dichteridentität, das von der Illusion einer realen Situation des Rechtfertigungsdrucks ausgeht und von dieser illusionierten Gegenwart aus die Vergangenheit bis zu ihren Wurzeln hinab neu erschafft, gehört es zu der Radikalität Kallimachischer Aitiologien, diese dichterischen Anfänge bis an die materiellen Wurzeln des dichterischen Schaffens zurückzuführen und bis zur Frühzeit, die vor dem eigentlichen Dichten liegt. Es ist die vorliterarische Phase des späteren Dichters, in die Apoll in der Fiktionalisierung bereits eingreift 43. Das aber bedeutet: es gibt keine Zeit vor dieser Szene, denn diese bildet das transitorische Moment vom Vorliterarischen zum Literarischen – ein Moment, das Kallimachos auch in seinen einzelnen Kultaitien immer wieder sucht. Apolls Erscheinen ist ein Instrument dieser Fiktion, bekennt aber zugleich damit seine Beschaffenheit als Produkt des Autor-Ich, auch und besonders durch die Reflexion auf das Medium des Schreibens: auf die Entstehung des Literarischen. mhd+ Çp+ ‚me‹ difêwte mËga yofËousan Çoid†n t–ktesjai;brontêwn oŒk ‚mÏn, vÇllÄw DiÏc.‹ ka» gÄr Ìtwe prv∏wtiston ‚moÿc ‚p» dËlton Íjhka go‘nasiwn, >A[pÏ]llwn e⁄pen Ì moi L‘kioc; 42 So Wimmel (1960), 101; Asper (1997), 150. 43 Asper bezieht die paÿc-âte-Formel auf die Apollonvision und bestimmt das Ziel dieser For-
mel als »vermeintliche Unsicherheit und Unselbständigkeit, mangelnde Souveränität eines Autors, der nicht nur konzeptuell schriftlich, sondern sogar unter Heranziehung von Fachliteratur und so notwendigerweise zögerlich und skrupulös komponiert« (Asper [1997], 149f.). S. auch Latacz (1985), der den Vorwurf kindlicher Dichtung diskutiert. Die Situation des ersten Anfanges des Schreiben-Lernens, also der Elementarbildung, als Grundvoraussetzung für die Existenz von Literatur in der hellenistischen Gegenwart der Aitien überhaupt, steckt den Rahmen für die zu erschaffende Literatur und ihre Geschichte ab. Von der autobiographischen Kindheitserzählung aus betrachtet erscheint auch die illusionierte Gegenwart einer anonymisierten Kritik in anderem Licht: Die paÿc-âte-Formel kann so in Verbindung mit der ›Feststellung‹ des hohen Alters des kindlich dichtenden Ich als Vorgriff auf die autobiographische Neudefinition des Anfangs des Literarischen und seine geschichtliche Entwicklung bis ins Alter des Ich gelesen werden. Die Diskrepanz zwischen Kindheit und Alter wird dabei schließlich aufgehoben, weil durch beide ein einheitlicher poetischer Raum abgesteckt und geschaffen wird, dessen Kontinuität die Betonung der Treue der Musen unterstreicht.
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Und verlangt nicht von mir, einen laut tönenden Gesang zu gebären; Donnern ist nicht meine Sache, sondern die des Zeus. Denn als ich zuallererst die Schreibtafel auf meine Knie legte, da sagte der Lykische Apollon zu mir: … 44
Das Aition entsteht unmittelbar aus der Selbstbeschreibung des Autor-Ich in der illusionierten realen Gegenwart im fiktiven Dialog mit den Kritikern45. Es führt die Ausführung der Anweisung Apolls als etwas ein, das vergleichbar ist mit dem Donnern des Zeus, das aber heißt, als etwas, das die Herrschaft über einen Kosmos hat, nämlich über einen anderen Kosmos als den des donnernden Zeus, der seine Herrschaft mit Blitzen und Naturgewalten ausübt 46. An die Stelle tritt die programmatisch erscheinende Äußerung Apolls. Diese tut aber mehr, als ein poetologisches ›Programm‹ 47 zu formulieren, sie erhebt – auch mit der Verwendung der Wegmetapher, die vage Mysterien-Assoziationen hervorrufen kann, ohne daß dadurch metaphysische Vorstellungen entstünden (oder diese im Gegenteil sogleich als subjektive Illusionen entlarvt werden) 48 – implizit einen weit höheren Anspruch: den Anspruch einer zeusgleichen Welterschaffung mit poetischen Mitteln und als poe44 Call. Aet. Fr. 1 (Pfeiffer) 19–22. 45 Daher ist hier die einfache Gleichsetzung von empirischem Autor und Erzähler nicht unmit-
telbar möglich, wie Asper meint (Asper [1997], 22, Anm. 3). Zum Problem s. auch Hogel (1993). 46 Zum Donnern des Zeus als intertextuell zu deutende Stelle: Cupers (2004). 47 Zur ›Programmatik‹ bei Kallimachos s. Asper (1997), 246f. 48 Asper (1997), 72–94 ist dieser Möglichkeit der religiösen Konnotationen der Wegmetapher im Aitienprolog mit Gründlichkeit nachgegangen und neigt dieser Auffassung – mit aller gebotenen Vorsicht – zu. Die Ergebnisse können aber auch als Bestätigung der autarken subjektiven Konstruktion und des Schöpfungstopos gelesen werden, in der auch religiös anmutende, aber durch den Kontext als subjektiv entlarvte Aspekte eine Rolle spielen. Nicht jede religiöse Färbung ist oder besser: bleibt auch religiös in der dynamischen autobiographischen Transformation, die Kallimachos im Aitienprolog in Bewegung setzt. Man wird aber auch nicht die Position von Livrea akzeptieren können (Livrea [1995], hier: 51), der meint, die religiösen Anspielungen seien eine »griglia di elegante dottrina che consente a capriccioso Leichtsinn del poeta di evitare la stucchevole solennità epica […]« (ebenda, 13). Das Gelehrsamkeits-Urteil ist die Basis für diese Ablehnung einer religiösen Tiefe. Das gelehrte Spiel bleibe an der Oberfläche. Das Gegenteil aber ist der Fall. Es ist eine spielerische Illusion der Metaphysizierung des Subjektiven, die aber als solche eine geradezu grenzenlose Tiefe besitzt: S. auch Bulloch (1984). Die Beiträge zu Kallimachos’ Religiosität sind Legion: S. z.B. Festugière (1977). In jüngeren Forschungen wird – zurecht – verstärkt der Akzent auf die Poetizität der Darstellung der Götter gelegt: Hunter/Fuhrer (2001), die eine universalistische Zeus-Theologie in den Kallimachischen Hymnen erkennen wollen, nach welcher Zeus Inbegriff des Werdens und der Entwicklung in der Welt überhaupt ist, was im corpus der Hymnen gefeiert werde; Henrichs (1993) betont – im Kontext einer ritualistischer Deutung – die Dynamik und die angestrengte Arbeit, in der die Götter in den Hymnen des Kallimachus ihre Göttlichkeit finden bzw. erfinden müssen.
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tische Welt, deren Rahmen im Somnium geschaffen wird. Apolls Prophezeiung und Anweisung spiegelt diesen kosmogonischen Anspruch auch inhaltlich, indem sie der brachialen Gewalt des Wolkenversammlers und Blitzeschleuderers Zeus die Lehre vom Zarten und feinsinnig Durchgearbeiteten entgegenstellt. Ebenso verhält es sich mit dem Element des Dialogs mit den Musen und den Anspielungen auf Hesiods Musenweihe auf dem Helikon. Auch hier gibt es keine Metaphysik als autonomes Begründungselement, sondern die Entfaltung des Autarkie- und Schöpfungsanspruchs poetischer Phantasia im Zuge autobiographischer Begründungsstrategien. Nicht Vollendung der Tradition, nicht Ausdeutung der Vorgänger mit einigen Modifikationen ist das Ziel, sondern absolute Neuerschaffung durch eine freigelassene Phantasia, die neuartige Assoziationsbereiche erschließen kann49. Die autobiographische Fiktion bindet diese Assoziationen nur an dieses individuelle Dichter-Ich. Die Fiktionalisierung der Lebensgeschichte muß angesichts der Autarkisierung der dichterischen Phantasia als Element in dieser Neuerschaffung einer poetischen Welt aufgefaßt werden. Als Ausweg aus dem Dilemma bietet sich die Darstellung und Analyse anderer Konzepte der Archäologie des Selbst in voralexandrinischen Texten an: eine Darstellung dieser Texte, die diese nicht als intertextuelle Folie des Kallimachos betrachtet, sondern in ihrer spezifischen Eigenart als Gegenmodell, vor dem die Konturen der Kallimachischen Autobiographie-Strategie sich deutlicher abheben.
IV. Sokrates’ Aitiologie gegen die Naturphilosophen Ein solcher modellhafter Vor-Text ist eine Passage aus dem Platonischen Phaidon, die meines Wissens noch nie konsequent zur Erhellung des Autobiographischen bei Kallimachos herangezogen wurde. Dies ist umso erstaunlicher, als es sich ebenfalls um eine autobiographisch inszenierte Ursachensuche handelt, die Platon als Lebenskrise des Protophilosophen Sokrates stilisiert. Platon läßt seinen Dialogcharakter Sokrates rückblickend davon erzählen, wie es ihm mit seinen Studien der Lehren der Naturphilosophen ergangen sei und wie er aus Enttäuschung über diese zu seiner eigenen philosophischen Auffassung gekommen sei. Er gibt damit also geradezu seinen Rechenschaftsbericht als Philosoph und legt diesen Erlebnisbericht als eine Suche
49 Nach Asper wird diese Neuerschaffung als poetischer Heilsweg gedacht: Asper (1997),
100, Anm. 322: Der schmale Weg führe »zur Erleuchtung, zur Erlösung, zur ›richtigen‹ Dichtung«.
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nach den Ursachen der Dinge und des Handelns, nach den Aitia, d.h als eine Aitiologie, an 50 (Phd. 96a6–b1 51). Die bestimmte Auffassung, von deren ›Entstehung‹ Sokrates berichtet, ist natürlich Platons berühmte Ideenlehre 52. Sie ist die Antwort und das Ergebnis seiner Aitiologie 53 (Phd. 98e3–99b5 und 99c8–e6). Sokrates erzählt von seinem Leben und seiner Suche nach einer tragfähigen Begründung seines Erkennens gerade in der Absicht und mit dem Zweck, die Annahme von Ideen zu begründen. Er benutzt dazu nicht nur eine begriffliche Argumentation. Der Dialog Phaidon insgesamt lotet ebenso wie Sokrates in seiner Autobiographie und Eidographie die Potenzen der anschaulichen Vorstellung, der Phantasia aus, weist dieser aber ganz bestimmte Grenzen zu54. Daß der große philosophische Lehrmeister und stadtbekannte Wahrheitsforscher par excellence zuerst andere Wege gegangen und anderen Lehrmeistern gefolgt ist, daß er mit diesen aber in eine innere Sackgasse gekommen ist, aus der er sich nur durch eine berühmte ›zweite Fahrt‹ (Phd. 99d1), dadurch, daß er Ideen annahm, befreien konnte, veranschaulicht die begriffliche Notwendigkeit, die in diesem Lebensweg als deren anschauliches Bild gespiegelt wird. Es erweist die begriffliche Notwendigkeit, nicht nach einer empirischen Erklärung des Werdens und Verge-
50 Schmitt (1974), 132ff. hat diese begriffliche Aitiologie als konsequente Suche nach einer vor-
aussetzungslosen und unwiderlegbaren Erkenntnisfundierung in seiner Dissertation wieder neu erschlossen. Ich baue im Folgenden auf seinen gründlich belegten Ergebnissen auf. S. auch Schmitt (2003) passim (mit den Konsequenzen einer auf die Vorstellung als Erkenntnisvermögen konzentrierten Bewußtseinsphilosophie für das Platonverständnis und die Möglichkeit der Würdigung dieser Aitiologie). 51 [SWK] óAkoue to–nun ±c ‚ro‹ntoc. ‚g∞ gÄr, Ífh, ¬ KËbhc, nËoc øn jaumast¿c ±c
‚pej‘mhsa ta‘thc t®c sof–ac õn dò kalo‹si per» f‘sewc …stor–an Õper†fanoc gàr moi ‚dÏkei e⁄nai, e dËnai tÄc a t–ac ·kàstou, diÄ t– g–gnetai Èkaston ka» diÄ t– ÇpÏllutai ka» diÄ t– Ísti. ka» pollàkic ‚maut‰n änw kàtw metËballon skop¿n pr¿ton tÄ toiàde … 52 Diese ist zugleich auch schon die Grundlage und das Prinzip des ganzen ethischen Pro-
gramms von den Tugenden des wahren Philosophen und seiner richtigen Haltung gegenüber dem Körperlichen und der Seele, das im ersten Teil des Dialogs das Thema gewesen war. 53 Denn nur dann (s. dazu den Kommentar des Damaskios (Dam.in Phd. I, 458), wenn die Unvergänglichkeit der Seele und ihre dimensionale Verschiedenheit und Überlegenheit gegenüber der Körperwelt erwiesen werden kann, hat das philosophische ›Tugendprogramm‹ der Übung in der Abwendung von der Körperwelt und Hinwendung zu dem eigentlichen Wesen der Seele und dem, was eigentlich wirklich (d.h. wirklich ›real‹, wirklich etwas von sich selbst her Bestimmtes) ist, seinen Sinn. Die Unsterblichkeit kann, wie der Hauptteil des Phaidon zeigt, nur auf der Basis der Ideenlehre bewiesen werden. Also ergeben das Tugendprogramm und die Anweisungen an den, der wahrhaft philosophisch leben will, nur auf der Basis der Ideenlehre Sinn. 54 S. dazu auch Radke (2003a), bes. 498–500; 561–570.
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hens zu suchen, sondern eine feste, unumstößliche Basis der Erkenntnis von etwas überhaupt und sichere Kriterien für das eigene Handeln zu erschließen. Sokrates’ Erfahrungsbericht veranschaulicht die unmittelbar lebenspraktische Relevanz dieser begrifflichen Einsichten. Der vordergründige Eindruck des Mangels an ›Leben‹ der Flucht zu den Ideen (Phd. 99e4f.) 55 wird durch die Erzählstrategie, die mehr als in anderen Dialogen mit den Mitteln anschaulicher Exempel und konkreter Bildlichkeit arbeitet, korrigiert. Die Verknüpfung der zentralen Lehre Platons mit dem individuellen Lebensverlauf des Vorbilds Platon dient der peij∏. Sie dient der Vermittlung von etwas, das die Möglichkeit einer rein doxastischen oder einer rein phänomenologischen Erkenntnisbegründung, die nur die Phantasia als Erkenntnisvermögen bemüht, widerlegt. Eine wirkliche und lebenspraktisch relevante Aitiologie, eine für das eigene Leben und die eigenen Individualität fundierende Aitiologie könne nur die ratio und die Reflexion auf ihre begrifflichen Kriterien leisten, nicht aber die phantasia (die nur notwendige Materieursachen liefere, Phd. 98 e3–99b5) 56. Konsequent ist die phantasia daher im Phaidon als didaktisches Mittel präsent, erfährt aber eben im Zuge dieser deutlichen Präsenz eine begrifflich motivierte Einschränkung ihrer Autarkie. Der autobiographische Bericht und seine Auswertung bietet aber nicht nur eine Grenzziehung für die Freiheit und Wirkmacht der phantasia, sondern setzt noch spezifischer eine Grenze in der Autarkie der phantasia in bezug auf die Konstitution der individuellen Identität eines Menschen, wie sie das Konzept der Aitien von einer anderen Perspektive aus inszeniert. Platon entscheidet sich dafür, die wahre individuelle Identität seines Lehrers Sokrates nicht durch eine Archäologie seiner Kindheit und seines ganzen philosophischen Lebens in seinem Verlauf zu vermitteln, sondern durch die Herleitung dessen, was er gedacht hat, warum er das gedacht hat und was dies für sein Leben bedeutete. Warum Platons Aitiologie also auch als Suche nach der individuellen Identität des Sokrates eine begrifflich-theoretische Prinzipiensuche sein muß, hat wesentlich mit dieser Funktionsbestimmung der phantasia zu tun57. Man versteht Platons Ansatz, wenn man den Dialog liest, in dem Platon eine umfassende Kritik an – modernen – Selbstbewußtseinstheorien und Selbstreflexionstheorien vorgelegt hat und in dem es auch um die Potenzen einer freigelassenen phantasia geht: wenn
55 Zu diesem Eindruck reicher Bildlichkeit des Phaidon s. die dialogischen Interpretationen,
wie ich sie im 1. Kapitel von Radke (2006) diskutiere. S. auch Radke, Die Energeia des Philosophen – zur Einheit von literarischem Dialog und philosophischer Argumentation in Platons Phaidon, erscheint voraussitchtlich 2008. 56 Dazu Schmitt (1974), 132–232, bes. 209ff. 57 S. zum Phänomen in der antiken und neuzeitlichen Literatur: Dewender/Welt (2003); Behrens (2002); Lobsien/Lobsien (2003).
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man den Dialog Charmides zur Hand nimmt58. Dieser unterscheidet zwischen einer von dem Vorstellungsvermögen geleiteten Selbstreflexion und einer rational begrifflichen. Zu der selbstreflexiven Haltung nimmt der Dialog eindeutig Stellung und kommt zu dem Ergebnis, daß diese sowohl theoretisch als auch praktisch nicht fruchtbar sei. Für das Handeln in hohem Maß relevant sei hingegen die Konzentration darauf, was man weiß, und die Beschäftigung mit diesen Wissensinhalten. Nicht die Reflexion auf das eigene Leben, der rekonstruierende Nachvollzug dieses Lebens in seinem Verlauf von der Kindheit angefangen oder das Bekenntnis zu dieser Vielfalt von Ereignissen in ihrem zeitlichen Zusammenhang verschaffe dem Menschen eine wirklich individuelle Identität, sondern allein die Suche nach begrifflichen Maßstäben, über die man vor sich selbst und anderen Rechenschaft abgeben kann und die als solche nicht zum Einsturz gebracht werden können. Erst eine konsequente Orientierung an solchen allgemeinen Maßstäben verschaffe einem Menschen so etwas wie eine in sich konsistente Identität – eine Identität, die er in der disparaten Vielheit seiner Vorstellungen und Erlebnisse niemals finden könne.
V. Schluß Die Suche nach den begrifflichen Prinzipien ist im Kontext Platonischen Philosophierens die Form der Aitiologie, die im höchsten Maß zur Erkenntnis von Individualität und Identität führt. Sie negiert daher die Absolutheit der Autarkie der phantasia als das das individuelle Selbst konstituierende Instrument, die für das autobiographische Projekt des Aitienprologs gerade konstitutiv ist. Sie ist nicht modern. Kallimachos’ SelbstErschaffung im Akt autobiographischen Schreibens hingegen ist modern und noch mehr postmodern. Es ist keine Modernität im entwicklungsgeschichtlichen Sinn Droysens, sondern eine Modernität, die sich selbst mit der Denkfigur des Neuen59 als autarkes Selbst entwirft.
58 Zum Wissensbegriff im Charmides s. Ebert (1974); Zehnpfennig (1987); Gloy (1986); Schmid
(1998). 59 Moog-Grünewald (2002).
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Cicero on Caesar or Exemplum and Inability in the Brutus * Michèle Lowrie (New York) »Der wichtigste [sc.: Grund 1] ist vielleicht die Einheit von Caesars Persönlichkeit […]. Demgegenüber ist Caesar die letzte Verkörperung der Lebensganzheit in der Antike«. Hans Opperman 2
How to write in the face of power? How to express oneself under constraining circumstances? Tacitus basically says that tyranny under Domitian shut intellectual activity down; he only later began to use his voice in composition (uoce … composuisse, Agr. 3.3) and it is clear that both the silence and breaking it came at some personal cost. Asinius Pollio still had the liberty to quip at the future Augustus: Pollio, cum fescenninos in eum Augustus scripsisset, ait: at ego taceo. non est enim facile in eum scribere qui potest proscribere (Macrobius 2.4.21). When Augustus had written fescinnine verse against him, Pollio said: »But I am silent. For it is not easy to write against one who can proscribe«.
Pollio had political and personal resources unavailable to most. When Cicero writes the Brutus, Julius Caesar was still consolidating power. Civil war may have closed the doors for Cicero’s exercise of oratory, but rather than uttering an oral protest like Pollio’s ironic proclamation of silence, he enters a period of prolific writing. Public expression was central to the artistocratic self in the Roman
* An earlier version of this paper was given at the New York Classical Club. I owe thanks to this audience, that in the conference at Münster, and to my students in a seminar on literary history. Questions by Alexander Arweiler, Andrew Feldherr, Christopher Gill, Jim Zetzel, and subsequent discussion with Phillip Mitsis have improved the paper. 1 Sc.: »Wenn es trotzdem zum Widerstand, zur Verschwörung und zum Mord kam, so hat das bestimmte Gründe«. 2 Oppermann (1967) 497. A genealogy of citation is in Henderson (1996), 278 n. 49.
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Republic 3. Cicero’s Brutus instantiates a dialectic between the power conveyed by the publication of writing and the inability in the public domain expressed within. Cicero writes the history of oratory in the Republic as a document to the freedom of expression jeopardized by Caesar’s victory in civil war. The entire literary history serves as a loud and vocal foil to his own silencing and in the process constructs Cicero as a self in crisis, caught between silence and expression, ability and inability4. The turn to history is a symptom of the impasse in his life 5. The shift from engaging in oratory to writing literary history is symptomatic of the crisis. Although scholarly work is an act of self-expression, Cicero does not
3 Richlin (1999), 200: »Roman texts persistently identify a man’s person with his writings and
his ability to speak«. She cites the elder Seneca on book burning: quid enim futurum fuit si triumuiris libuisset et ingenium Ciceronis proscribere? (»for what would have happened if the triumvirs had decided to proscribe Cicero’s talent as well?« 10 pref. 6; her translation 201). 4 My position is similar to that of Schwindt (2000), who presents Cicero as using a rhetoric of silence as protest (120). He emphasizes the appellative nature of the dialogue in the call to Brutus to carry on the tradition (101) and sees Cicero’s writing of literary history as a symptom of a breakdown in literature itself – here oratory. He must step out of the genre to write its history (99). Habinek (1998), 39 emphasizes Cicero’s strategic use of literary history. The aesthetic teleology it chronicles is just as tendentious as the history of political decline: both serve Cicero’s end of a conjoined defense of himself and the Republic. It would be useful, but beyond the scope of this paper, to read the Brutus according to the criteria for literary modernity outlined by de Man (1983) and according to the principles of the aesthetics of reception articulated by Jauss (1982). Cicero’s critical principles would need analysis to determine the contemporary value of the ancient works he assesses – i.e. the ›horizon of expectation‹ operative in the text – and the Brutus’ own emergence as a classic with a history of reception would also need treatment. The entire process of literary evaluation becomes itself subject to reception. Ancient and modern accounts of literary history are surveyed in Perkins (1992), Schwindt’s introduction, and Ebbeler (2003). 5 De Man (1983), 146, analyzes Nietzsche’s antithesis between ›history‹ and ›life‹ in his essay, »Of the Use and Misuse of History for Life«, as follows: »›Life‹ is conceived not just in biological but in temporal terms as the ability to forget whatever precedes a present situation«. Cicero is brought back to the past in his attempt to move forward with his life. Foucault (1984), 94–5 would in all likelihood categorize Cicero’s use of history according to Nietzsche’s criteria as ›antiquarian‹ in that it ›seeks the continuities of soil, language, and urban life in which our present is rooted‹, but, although Cicero might be open to the accusation of blocking ›creativity‹ – especially Caesar’s – ›in support of the laws of fidelity‹, his life-and-death struggle to maintain his identity as he conceived it would give this history an urgency it would otherwise lack. For Nietzsche’s categories as they pertain to literary history, see Perkins (1992), Chapter 8. Perkins remarks that identity politics leads groups to ›turn to the past in search of identity, tradition, and self-understanding. Their histories do not usually stress discontinuity but the opposite‹ (10). Although he emphasizes the limits of historical contextualization for grasping texts as ›aesthetic designs‹, he would surely appreciate the need for ›the social and literary matrix‹ (7) in a text like the Brutus, which has such a pragmatic aim.
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himself put his intellectual endeavors on par with active political engagement. 6 His idea of what constitutes a whole and successful life – at least for him – is the life of the orator, and this paradigm underlies the history he presents of Republican oratory. Scholarship should enhance the active life, and to be restricted to the former and cut out of the latter is castrating. Rhetoric was so important to Roman society because it was the training ground for the public performance of the self. Under the Republic, Roman identity was played out largely in the public sphere. Elite men competed for honor and uirtus within certain canons of style, which means that they both imitated one another and granted each other recognition. This competition made them who they were and defined them in comparison to others 7. One figure in the Brutus manages to bring these various aspects of the fulfilled aristocratic life together: C. Julius Caesar. Because the participants in the dialogue voluntarily refrain from talking about the current political woes, Caesar comes up not as their cause, but displaced, as an orator and stylist. That is, he is not presented as the exemplum of self-fulfilment he in fact instantiates according to Cicero’s criteria, but is dealt with only partially. His exemplum goes under erasure. Why? The available answers have consequences for our understanding of Cicero’s identity as a politician and a writer. The psychological approach is tempting: Caesar is a site of trauma for Cicero, who cannot contemplate him directly, but the full story leaves traces in the text the reader reconstructs from the position of the analyst. The reading presented in the rest of this paper is fully compatible with this sort of narrative 8. I am not, however, sure this approach gives sufficient credit to Cicero as a conscious agent. Are the fractures in Cicero’s narrative about Caesar a sign that his rhetoric of inability is valid? In this case, Cicero is sufficiently self-aware that he knows that Caesar is a threat – this is undisputed – but not in complete control of the effects of his own vulnerability on his text. Or do these fractures rather enact the double bind of the dialectic between ability and inability 6 Arweiler (2003), section 3, especially 3.1, 2, and 4, argues that writing is a fulfilling endeavor
for Cicero that enables him to make his mark in society. I see this as one half of the picture. 7 For honor, see Lendon (1997); for the stylistic vocabulary of self-fashioning in the Republic,
Krostenko (2001); for the performance of manhood under the Empire, Gleason (1995), and the Republic, Gunderson (2000), Barton (2001), 38–43; for institutionalized competition, Sinclair (1995), 106. Kraus (2005) analyzes the relation between Caesar’s personal self-presentation, his writing style, and his politics. 8 Gill (2006), 336 remarks: »The idea that we have direct and incorrigible access to all our mental states is vulnerable to common-sense objections and scientific research«. His analysis questions the Cartesian ›I‹ as the »unity locus of consciousness«. Arweiler (2003), 305 cautions against psychoanalyzing Cicero without consideration of the codes of self-fashioning and literary expression.
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that is the lot of the writer, an intellectual with the power to define and hence shape the world he lives in, but whose leisured activity (otium) removes him from active participation (negotium)? Under this interpretation, Cicero would emerge as a much stronger and more modern author than usually credited. This narrative is also tempting, but if the unaware Cicero is perhaps too weak, the fully conscious Cicero is likewise perhaps too strong.
Caesar: an exemplum under erasure The Brutus and the De officiis occupy the two ends of Cicero’s productive philosophical period from 46–43 BCE 9, and by the time he reaches the latter work, he has become aware that he uses his philosophical writing as therapy10. He articulates that philosophy substitutes for politics in the De divinatione 2.7 11. This cuts both ways: Cicero presents the equivalent of public speeches in his writings, but, depending on whether we emphasize the success of the equivalence or the displacement it entails, we will come up with a view of philosophy as either a fulfilling public endeavor for Cicero or a pass-time for when he cannot engage in ›the real thing‹. At the beginning of De officiis 3, however, the extended comparison he makes between his own use of leisure to that of Scipio Africanus reveals that, at least in his own self-presentation, he writes out of weakness. This is the rhetoric of inability. Scipio is offered as a contrast to Cicero: the former was able to engage in contemplation without leaving behind »monuments of his genius entrusted to letters« (nulla enim eius ingenii monumenta mandata litteris, Off . 3.4), because his dialogue with his mind meant that »he was never less at leisure than when at leisure, never less alone than when alone«, according to the maxim Cicero cites Cato as recording (numquam se minus otiosum esse, quam cum otiosus, nec minus solum, quam cum solus esset, Off . 3.1). 9 These texts are on the useful time line at Griffin and Atkins (1991), xxxii–iii. For the dramatic
date of the Brutus, see Douglas (1966), ix. The other productive time for Cicero’s scholarship was in the political lull following his return from exile in 57 BCE. To this period belongs the De Oratore (55 BCE), Wilkins (1888), 2. 10 Griffin and Atkins (1991) xi call philosophy »distraction and comfort« and an »honourable use of his leisure for the public good« right after saying that it had become »particularly necessary after the death of his beloved daughter«. 11 Quod cum accidisset nostrae rei publicae, tum pristinis orbati muneribus haec studia renouare coepimus, ut et animus molestiis hac potissimum re leuaretur et prodessemus ciuibus nostris, qua re cumque possemus. In libris enim sententiam dicebamus, contionabamur, philosophiam nobis pro rei publicae procuratione substitutam putabamus. Nunc quoniam de re publica consuli coepti sumus, tribuenda est opera rei publicae, uel omnis potius in ea cogitatio et cura ponenda, tantum huic studio relinquendum quantum uacabit a publico officio et munere.
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Two things useful for the Brutus emerge from this passage. First, writing offers a kind of dialogue solitary contemplation cannot. It is directed outward, and though Cicero may be separated from his audience, whether contemporary or of posterity, writing still affords him a way of connecting with others. He cannot keep his self whole without some sort of audience. The second is related and will occupy the rest of this paper, namely that Cicero defines himself not on his own, but in comparison to others. The exemplum is an overdetermined device for constituting the self. Scipio offers a model that Cicero can only partially imitate, much as he would like to. Cicero says that he does not have Scipio’s strength of mind (nos autem, qui non tantum roboris habemus, Off . 3.4). Furthermore, their external circumstances are different. Cicero’s otium has been imposed by the extinction of the senate and destruction of the law courts (extincto … senatu deletisque iudiciis, Off . 3.2), and is not, like Scipio’s, the result of choice. In the Brutus, Cicero likewise defines himself in relation to exempla, but these are contemporary: Marcellus and Caesar. The time that has elapsed between the De officiis and the Brutus means that Caesar has been murdered in the interval. His death does not make him any easier to talk about, and reference to Caesar simmers under the surface of the De officiis throughout – the difference is that both overt and covert references to Caesar in the De officiis provide a political critique 12, but in the Brutus, the threat Caesar poses to Cicero is more personal and raw. Cicero’s assessment of Caesar’s style is a politically charged moment in the Brutus. The famous judgment on the commentarii (262) needs to be read as the culmination of a discussion begun a few pages earlier (248) in which Cicero weighs the relative value of scholarship, oratory, and military accomplishments. These together define the arenas for elite competition. The contrast between Caesar and Cicero is implicit, but it could not be more stark. In Cicero’s conception, scholarship and engagement in politics are both important activities, but his literary pursuits are subordinate to his activities as a statesman. Oratory participates actively in the state even while it has a strong literary dimension, but he writes philosophy and rhetoric, such as the Brutus itself, only when shut out of politics. Caesar, however, manages to practice politics, scholarly, and literary activities at the same time 13. For Cicero, Caesar occupies a site of ambivalence. Does he represent a desired ideal? Or does his ability to combine a high degree of mastery in these different areas all at once sound the death knell for all other competitors in the collapsing Republic? What should the relationship of literary excellence to statesmanship be and what was it in fact at this time? 12 Griffin and Atkins (1991) xii. 13 Morgan (1997) argues that some comments of Caesar’s recorded in Suetonius (Div. Jul. 77)
which have usually been taken as political statements are uttered in the context of scholarship about language (27) – the intellectual and the politician overlap seamlessly.
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Several buffers keep Cicero from immediately coming to terms with Caesar: Brutus and Atticus provide alternative voices and Marcellus an alternative example. The section begins with Brutus asking Cicero to discuss two contemporaries, Caesar and Marcellus (248). The latter is both explicitly and implicitly compared to Cicero himself. He occupies an analogous position regarding the combination of literarity and statesmanlike qualities, and discussion of him displaces a direct comparison of Caesar with Cicero. Brutus’ intervening voice softens the braggadocio of the portrait’s compliment to Cicero 14. The explicit comparison concerns style, habits of study, and intellectual interests; the implicit concerns life choices, particularly the recourse to scholarship during a period of withdrawal from the state. The portrait as a whole maps the same ground covered by Cicero himself. Between the explicit comparisons comes one that is less overt. The remark about how Marcellus occupies his time in the current political crisis seems tacked on by a -que as if it were just an additional virtue (Brutus 250). maximeque laudandus est, qui hoc tempore ipso, quod liceat in hoc communi nostro et quasi fatali malo, consoletur se cum conscientia optimae mentis tum etiam usurpatione et renouatione doctrinae. And he is especially to be praised because, in this very time – as is allowed in this common and nearly deathly evil of ours – he consoles himself with the self-knowledge of a very good mind and by laying claim to and renewing his learning.
This virtue is directly relevant to Cicero’s own situation as he composes the Brutus. The indirect comparison to Cicero matches a covert reference to Caesar, whose role in the current political evils goes decorously, but conspicuously unstated. Once we reach the assessment of Caesar, however, direct comparison to Cicero goes underground. By leaving the comparison implied but unexpressed, Cicero avoids both presumption on his own part, as he is by no means the principal player in the state, and blame in his treatment of Caesar. The stakes for Cicero are high, since he goes to great lengths to show Brutus denying Marcellus’ emasculation: »For I saw the man recently on Mytilene and, as I said, I saw him fully a man« (uidi enim Mytilenis nuper uirum atque, ut dixi, uidi plane uirum, Brutus 250). Literary pursuits ennoble and are not in themselves unmanning, but, as the preferred leisure activity of statesmen, when done in isolation from political engagement, they risk reminding people of the statesman’s exclusion from the political realm. Devotion to learning keeps up the good show, but it definitely means putting on a brave face. The discussion of Caesar not only establishes an implicit contrast with Cicero, but a number of elements that touch on sore points further go missing. These, however, leave traces. After citing Caesar’s complimentary dedication to Cicero of
14 On techniques for softening self-praise recognized in antiquity, see Lowrie (2002), 241 n. 46.
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his linguistic treatise De analogia 15, Cicero goes into an extended comparison of the relative merits of military and intellectual glory. Brutus turns his own compliment by setting the value of Caesar’s compliment as »higher than the triumphs of many« (triumphis multorum antepono, 255), and Cicero picks up the thread with a repartee in his own voice against an imaginary interlocutor who defends the importance of generals over orators. Douglas suggests the tone here reflects Cicero’s disappointment at not being granted a triumph for his minor military successes when governor of Cilicia (1966 at 255.10), but Cicero is aware that military achievement was not one of his strengths by any measure. The military victories Cicero argues are less important than cultural achievement are negligible, and he is equally defensive when he has Brutus mention the public thanksgiving (supplicatio) he received for his suppression of the Catilinarian conspiracy. Cicero’s vulnerability shows the most, particularly in light of Caesar’s stunning military accomplishments, in the terms he uses to evaluate the different crafts’ relative utility (Brutus 257). sed Atheneniensium quoque plus interfuit firma tecta in domiciliis habere quam Mineruae signum ex ebore pulcherrimum; tamen ego me Phidiam esse mallem quam uel optimum fabrum tignarium. But it was also more useful for the Athenians to have firm roofs on their houses than the most beautiful statue of Minerva of ivory. Nevertheless, I would prefer to be Phidias than even the best carpenter.
While the analogy between oratory (or poetry) and the visual arts is conventional – and frequent in the Brutus – the degradation of military achievement to the equivalent of carpentry is tendentious. The problem with the comparison of cultural and military victories is that no matter how lavish the exaltation of the former at the expense of the latter, the man of letters’ insufficiency in the military domain glimmers through. Pliny the Elder reports that Caesar himself gave Cicero such a compliment, and it has been attributed to the De analogia 16. Pliny apostrophizes Cicero (NH 7.117): facundiae Latiarumque litterarum parens atque, ut dictator Caesar hostis quondam tuus de te scripsit, omnium triumphorum lauream adepte maiorem, quanto plus est ingenii Romani terminos in tantum promouisse quam imperii. Father of eloquence and of Latium’s letters and as the dictator Caesar, once your enemy, wrote about you, you have attained a laurel wreath greater than all triumphs to the extent that it is a greater thing to have moved forward the boundaries of Roman genius than to have moved forward those of empire. 15 For the identification, see Moatti (1997), 370 n. 15. 16 Hendrickson (1906), 118 f. thinks Caesar’s compliment, attested here, is also attested, but
softened in the one Cicero attributes to Brutus at 255; Douglas (1966), at 255.5; Sinclair (1995), 94: »Despite his exaggerated deference to Cicero, Caesar seems to be on the attack«.
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On the one hand, Caesar praises Cicero to the skies; on the other, he reminds us of what he has not done. The viciousness comes out on the reflection that Caesar himself was able to extend the terrain of the Roman empire both intellectually and militarily. Pliny perhaps unconsciously reflects Caesar’s dominant position by calling him dictator . It is easy to forget it would not be necessary to compare these two sorts of endeavors at all 17. The discomfort of Cicero’s position emerges in the awkward relation of intellectual and military endeavors 18. In the prologue leading up to the dialogue proper, Brutus claims that no one can speak well without prudentia, and that he who applies himself to eloquence, applies himself to prudentia, »a thing which not even in the greatest wars can anyone lack with equanimity« (qua ne maximis quidem in bellis aequo animo carere quisquam potest, Brutus 23). 19 Cicero is trying to make his forte necessary for the military, but refuses to grant the converse: »I see that no one has been made eloquent by victory« (eloquentem neminem uideo factum uictoria, Brutus 24). We are a long way from Seneca the Elder’s ability to make ingenium and imperium figurative equivalents: he regrets spending the civil wars in Cordoba in his youth because he never got to know Cicero: »[Otherwise,] I could have got to know that genius, the only possession of Rome to rival her empire« (potui adesse illudque ingenium quod solum populus Romanus par imperio suo habuit cognoscere, Contr. 1 pr 11). 20 Where the labor of scholarship beyond its use for oratory is an alternative to political engagement for Cicero, Caesar appears to bring the two together without struggle. He composed the De analogia while expanding the frontiers of empire in Gaul. Fronto humorously perpetuates the myth of Caesar’s omnicompetence when he describes him as writing about the declension of nouns
17 They are, however, often brought together: eodem animo dixisse quo bellauit (»he spoke
with the same spirit as he waged war«: Quint. inst. 10.1.114); Suet. Caes. 55.1: eloquentia militarique re aut aequauit praestantissimorum gloriam aut excessit (»in eloquence and military skill he either equaled or surpassed the glory of the most eminent«); Ebbeler (2003), 9; Kraus (2005), 107 with references to other ancient and modern analyses. Henderson (1996) shows both how deeply writing matters to Caesar’s Bellum ciuile (264f.) and how the person he puts on display is »not the literate orator and man of writing-culture, but his giant maneuvers athwart the empire« (266). 18 Arweiler (2003), 3.2.2 shows that Cicero had a »military deficit« and wanted to present his intellectual endeavors as equivalent to military success. 19 Douglas analyzes what prudentia could mean in this context, since the military need for »good judgment« does not quite square with the kind of prudentia deemed necessary for eloquence, namely »philosophy« or the weaker »intellectual interests« (1966 ad loc.). 20 Kaster (1998), 255 emphasizes the kitsch aspect of the »sheer extravagance of the conceit« that equals individual genius to empire.
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among flying spears (inter tela uolantia de nominibus declinandis, De bello Parthico 9 21). The peculiar weight that hangs over the dialogue because of the unspeakability of the political situation is figured as a vacillation between memory and amnesia. The transition from Marcellus to Caesar is one of the most overt statements of the role of scholarship as an aid to forgetting about politics (Brutus 251): Etsi, inquam de optimi uiri nobisque amicissimi laudibus libenter audio, tamen incurro in memoriam communium miseriarum, quarum obliuionem quaerens hunc ipsum sermonem produxi longius. Sed de Caesare cupio audire quid tandem Atticus iudicet. Although, I said, I willingly hear the praises of an excellent man and very good friend of mine [Marcellus], nevertheless, I run into the memory of shared miseries, which I intended to forget in drawing out this very conversation at length. But I wish to hear what Atticus thinks finally about Caesar.
It is symptomatic of trauma that the way to forget about Caesar the politician is to displace the discussion to the topic of Caesar the orator, and so the discussion passes to his oratorical and literary style. But his role in what the discussants aim to forget is not so easily erased.
Style and self In the analysis of Caesar’s style, it looks as though the aesthetic, performative aspect of Caesar is being peeled off from the political, since the latter is explicitly excluded from the dialogue, but political considerations permeate this discussion 22. Talking about style is a way of talking about the whole person in a society where identity is played out publicly. John Dugan, for instance, emphasizes the »latent theatrical metaphor« in Cicero’s account of persona theory in the De officiis and argues that one’s »political and professional persona thus becomes assimilated to an aesthetic performance« (2005: 6)23. There, Cicero is laying out Panaetius’ division of the self into four personae. The first and second are our common humanity and 21 Sinclair (1995), 95 situates the treatise’s composition more precisely within its historical
context. 22 Sinclair (1995), 92: Cicero’s treatises on rhetoric in his mature years ›were motivated in part
by the political changes at Rome during Julius Caesar’s rise to power‹. Möller (2004), 163–5 argues that Cicero’s construction of the relation of the individual to society, particularly his putting social needs first, develops in response to the contemporary political context. 23 Gill (1988), 195 entertains the idea that Panaetius »converted ethical theory into aesthetics«, but revises it to make the lesser claim that he took into account the emphasis on style in Greco-Roman daily life. Möller (2004), 160f. also emphasizes the performative aspect of Cicero’s persona theory and the subordination of subjective personality to social convention.
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what is individual in our personalities or animi, but the third and fourth are areas which are not simply given: they depend respectively on external circumstances and the choices we make about what sort of career to pursue (Off . 1.107, 115). These determine roles to be played and a performative conception of the self stresses the outward direction of stylistic choices. Although this is not specified, style presumably permeates every persona and results from a combination of the givens of our individual personalities with our choices, subjected to the constraints of the circumstances governing our lives. Cicero acknowledges that a substantial aspect of who we are is contingent on circumstance (casus or tempus, Off . 1.107). It is up to us, however, to see the potential conflict of externals with the achievement of one’s uoluntas (1.115) in the fourth persona. It is not by accident that the exemplary areas of professional accomplishment Cicero cites represent his own interests: philosophy, the law, and oratory. What is particularly revealing about these professions is that Cicero was currently practicing (philosophy) rather than the others (oratory and the law) because of external circumstances, namely the current political crisis. Christopher Gill analyzes the prevalence in the whole theory of a »highly social perspective« (1988: 171), and shows that the concept of personhood focuses here on success in a competitive society (180–185), on managing to align one’s choices and will with external circumstances, or if one can, vice versa. It is exactly the fact that circumstances are not going according to Cicero’s will that threatens the constitution of his identity. His analysis of Caesar’s style is a way of isolating one aspect of this threat. Simple, transparent language is effective 24. Many achieved power at Rome without the stylistic beauty Cicero valorized – Sulla and Pompey come to mind. The Brutus reveals a tension between Cicero’s desire to valorize his own more ornate style and his recognition that Caesar’s way of speaking in his scholarship, his oratory, and his commentaries has a force beyond his reach. We might be forgiven for assuming, against Cicero, that an absence of style would serve better for success in politics, that style could unmake the man but not make him. What is so infuriating about Caesar is that, in Cicero’s account at least, he shows verbal and political mastery by appearing to divest himself of style, but this highly controlled effect is the inverse of boorishness. An apparent transparency attaches to his scholarship, his oratory, and his commentarii alike. This is crucial for the relationship of words to deeds, a relationship which itself figures that of the intellectual to the political agent.
24 Hendrickson (1906), 103 comments on the difficulty of achieving such a style and collects
passages concerning how excessive care can in fact destroy rhetorical force.
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Scholarship Caesar argues in his treatise, De analogia, for rule-based regularity in word-formation 25. Latinity has been important for good style throughout the Brutus and Atticus recognizes it as the »ground and foundation of the orator« (solum … et quasi fundamentum oratoris, 258). Caesar’s scholarship therefore intervenes in a fundamental topic for debate – he cuts to the chase. When Atticus discusses the De analogia, he first distinguishes between theory and habit. The one is rational and self-conscious, the other not; historically, habit was the origin of good speaking (Brutus 258). Solum quidem, inquit ille, et quasi fundamentum oratoris uides, locutionem emendatam et Latinam, cuius penes quos laus adhuc fuit, non fuit rationis aut scientiae, sed quasi bonae consuetudinis. That one [Atticus] said, »You see that the ground and foundation so to speak of the orator, correct and Latin diction, was not the result of theory and knowledge, but so to speak of good habit in the case of those who have had a reputation for it«.
The initial dichotomy becomes more complex with Caesar. He uses theory to correct habit in such a way that theory disappears, leaving only the replacement of bad habit with good habit (Brutus 261). Caesar autem rationem adhibens consuetudinem uitiosam et corruptam pura et incorrupta consuetudine emendat. Caesar, however, by applying theory, corrects faulty and corrupt habit with pure and uncorrupted habit.
He restores habit from a depraved version to its pure self without the patina of artifice 26. Despite Atticus’ enthusiastic citation, Caesar’s compliment to Cicero in the dedication of the De analogia is somewhat back-handed and reveals a strong difference of opinion between them. He contrasts the basics with ornament, a topic relevant to Cicero’s own assessment of Caesar’s style. Caesar apostrophizes Cicero as the inventor of copia, but then asks if that is a reason to leave behind »easy and everyday language« (hunc facilem et cotidianum … sermonem, Brutus 253). The fulsome praise of Cicero appears ironic in comparison to Caesar’s chosen task, and it is not clear whether Cicero recognizes the double edge. The elaborate first half of the sentence, with its several layers of subordination, imitates the complex Ciceronian period, while the final question is straightforward. Caesar sets aside 25 Hendrickson (1906) sees the De analogia as a treatise in Atticism written in response to
Cicero’s De oratore. 26 The labor that Caesar insists upon in his description of Cicero’s contribution to oratory (non
nulli studio et usu elaborauerunt) does not become manifest in his own work.
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oratorical fulsomeness and ornamentation for issues concerning any speaker of Latin. His valorization of everyday, popular language masks his erudition. No wonder he knew how to speak to the masses 27.
Oratory Similarly, the ornaments Atticus attributes to Caesar’s oratorical style are appropriate and do not detract from the elegant base (Brutus 261). itaque cum ad hanc elegantiam uerborum Latinorum … adiungit illa oratoria ornamenta dicendi, tum uidetur tamquam tabulas bene pictas conlocare in bono lumine. And so he both joins to this elegance of Latin words … those oratorical ornaments, and he seems to locate pictures, so to speak, that have been painted well in a good light.
On the one hand, the ornamentation is supplemental; on the other, the metaphor makes it simply a matter of clear perception. The first description implies that the ornaments could be subtracted without harm to the style, but the second makes them the light itself that allows us to see the picture. The light imagery creates an impression of appropriateness. Seeing a well-painted picture in good light does not hide artifice – it is a painting after all – but the light makes it seem clear. The craftsmanship is transparent. The second is more complex. It is not at all clear we are to align the well-crafted painting with the elegant Latinity, and the good light with ornamentation, but nor is it clear we should not. If we do, the light only better reveals what is already well crafted. Even without light, craftsmanship still remains. Some light, however, is necessary to see at all, and the light we might want to align with ornamentation is specified as good, which, I take, is to be contrasted not with no light, but with bad or insufficient light. If the ornamentation and the good light are removed, the craftsmanship would be harder to perceive.
27 Sinclair (1995), 93 sees Caesar’s plain style in the commentarii as avoiding the »suspicion of
the author’s harbouring intellectual pretensions which might set him apart from the general reading public« and furthermore attributes a »populist, ›democratising‹ grammatical agenda« (96) to the De analogia on the grounds that anyone could learn rules, but that the linguistic usage of the city of Rome would be opaque to those not from there. Henderson (1996), 277 n. 45 situates Caesar in a »cultural politics where normative logocentrism is worn as a badge of semiotic power«.
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Commentarii With their style, Cicero finally intervenes in his own voice and ostensibly lets his own many layers of artifice go (Brutus 262). [Brutus] compluris autem legi atque etiam commentarios, quos idem scripsit rerum suarum. [Marcus] ualde quidem, inquam, probandos; nudi enim sunt, recti et uenusti, omni ornatu orationis tamquam ueste detracta. [Brutus:]: »I, however, have read many of them [speeches] and also even journals, which the same man wrote of his accomplishments«. [Marcus:] »Certainly very strongly are they to be commended«, I said, »for they are nude, straight, and lovely, with every ornament of oratory removed like clothing«.
The clothing imagery implies adornment can be removed from speech, but, if, as John Dugan suggests, the image is of the heroic nude, it still entails the artistry of statuary and furthermore even nudity on its own is, in Larissa Bonfante’s formulation, a costume 28. Nudity has a kind of transparency. As Ovid recommends for seduction, si latet ars, prodest (AA 2.313). Cicero makes explicit elsewhere that lack of ornament is itself a form of ornamentation, notably in his comments on Atticus’ (disappointing) writing up of his own consulship: sed tamen erant ornate hoc ipso quod ornamenta neglexerunt (»but they were nevertheless ornamented in the very fact of their neglecting ornament«, Att. 2.1.1) 29. There are two results to Caesar’s ›transparent‹ style. There is a melding of form and content, just as there is a melding of the roles of intellectual, statesman, and general. Caesar’s style becomes most unornamented, according to Cicero, when he recounts his own accomplishments. The recent section on the relative merit of cultural and military accomplishments gave greater weight to the cultural, and this is what is emphasized here, but everyone knew that these were matched by the content of the journals, which were Caesar’s expansion of empire in Gaul and, 28 Bonfante (1989); though her article is largely about Greek nudity, the aspect Caesar would
have inherited is nudity’s indication of a »readiness to stand up and fight even though one knew one was vulnerable«, an idea she associated with nudity’s transition from a religious to a civic function in classical Athens (556). On ›style as a garment‹, see Douglas (1966), 274.12, who remarks that such images probably derive from art rather than directly from clothing. The heroic nude seems to have been adopted at Rome during the civil wars, though it is uncertain whether Caesar himself was depicted in that guise; the earliest nude of this sort found at Rome was of Octavian, but others have been found in Italy in the first century CE and Roman nudes on Delos as early as the late 2nd century, Hallett (2005), 102–119, 156–158. For an analysis of Caesar’s actual style in the bellum civile, see Batstone/Damon (2006) especially chapters 1 and 5. 29 Eden (1962), 76. Rambaud (1987), 497–515 defends Cicero, that lover of ornament, against apparent contradiction here by comparing his assessment of breuitas elsewhere in his rhetorical writings.
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eventually, the still ongoing civil wars. The political mastery matches the stylistic mastery to produce an effect of untouchable sovereignty. All the elements come together 30. Or do they? Christina Kraus (2005) has analyzed paradoxes in Cicero’s account of Caesar’s style. The disparity between the unadorned style Cicero seems to present and other accounts of Caesar’s louche deportment become less pronounced when Cicero’s word choice is examined more closely. Sexual overtones in Cicero’s adjectives for Caesar’s commentarii evoke his personal dissolute style, so that nudi … recti et uenusti (Brutus 262), usually interpreted as »unadorned, upright, and lovely«, might better be translated »nude, erect, and sexy« (2005: 111 f.). As in the other stylistic descriptions, the transparency initially attributed by Cicero to Caesar appears murkier on closer inspection. A further result is that Caesar’s style puts other intellectuals out of business. The analogy is not made explicitly, but he leaves no room for others to write just as his political mastery leaves no room for political rivals (Brutus 262) 31. Sed dum uoluit alios habere parata, unde sumerent qui uellent scribere historiam, ineptis gratum fortasse fecit, qui illa uolent calamistris inurere: sanos quidem homines a scribendo deterruit; nihil est enim in historia pura et inlustri breuitate dulcius. But while he wanted others to have material prepared from which those who wanted to write history could take, he perhaps pleased the inept, who will wish to burn those things with curling-irons; sane men he certainly deterred from writing. For there is nothing sweeter in history than pure and lucid brevity.
Caesar’s style, no less than his politics, constitutes a crisis for the Republic. He has put the historians out of business, and, even more serious, the orators as well, no less by his actions than by his way of handling language. The result is that Caesar gets the last word. If other historians do not rewrite his account, his interpretation as well as his wording stays. His actions again accord with his words. For orators, the political consequences of Caesar’s style can be measured by the different degrees of power accorded rival styles, particularly Asianism and Atticism. Hortensius, whose death anticipates that of the Republic, used an Asiatic style that Cicero characterizes as suitable for young men. Its flaw is a lack of seriousness, and Hortensius’ that his style did not mature with his age. The particular power the Asiatic style lacks is auctoritas and grauitas (326f.). Cicero does not object to the
30 Lest we be seduced into divorcing writing from action, Henderson (1996) shows how
Caesar’s Bellum Ciuile is a »war of words« (265). 31 Cicero himself is not exempt from deterring others from rewriting his own initial versions.
Eden (1962), 75 calls attention to Att. 2.1.2 about Posidonius, whom Cicero asked to write up his consulship: non solum non excitatum esse ad scribendum sed etiam plane deterritum (»not only was he not aroused to write, but was even frankly scared off«).
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Asianic style per se, but rather to the lack of fit between the style and the power of the speaker. Hortensius’ style detracted from his actual power, when it should enhance it. Clothing imagery occurs again (uestito illo orationis, 327): the style, like clothing, does not fit. The aesthetics of style is not isolated from its use in constituting an appropriate persona 32. Excessive Atticism similarly falls short when it comes to swaying an audience. This is important because it is not merely a question of winning a particular case, but of the interpellation between orator and audience – each constitutes the other in the exchange. Cicero agrees with contemporary Atticists on the need to imitate Demosthenes. He is more sceptical about their and his own ability to do so (288). Contrary to Demosthenes, who attracted a crowd from all over Greece, the extreme Roman Atticists are abandoned, when they speak, »not only by the crowd, which is in itself pitiable, but even by the lawyers« (at cum isti Attici dicunt, non modo a corona, quod est ipsum miserabile, sed etiam ab aduocatis relinquuntur , 289). Cicero grants a positive valuation to a number of the code words of Atticism 33. His provision is that the speakers who espouse these ideals be able to hold an audience as their models Pericles, Hyperides, Aeschines, and Demosthenes did (290), and this they plainly do not. The excessively plain style is ineffective. There is, of course, a mean between the extremes of Atticism and Asianism, and Cicero lets us know that this is his own style. When explaining his education to Brutus, he lets drop that he studied oratory both in Attica and in Asia (315). If this is the style that is effective, that Cicero embraces, the question then arises of how Caesar’s style in the commentarii, which is presented as completely bare, can be effective. First, we should distinguish between his oratorical style, described as having appropriate ornamentation, and the style of his historical journals. History does not need to hold an audience in court. The issue, however, cannot merely be dismissed as a difference in prose genre and has to do with Caesar’s exceptional political status. What Cicero presents as the ideal style has everything to do with power and this in turn has to do with the identity of the man wielding it. The implicit comparison of Cicero with Caesar can illustrate this problematic. If Caesar’s masterful deeds uphold a style that needs no adornment, however much nudity emerges as a style, what then of the fit between Cicero’s words and deeds? Cicero ends the dialogue exhorting Brutus to take up the challenge of being an effective orator in the next generation. The future is open to him,
32 Connolly (2007) emphasizes throughout the political value of affect and aesthetics. 33 anguste et exiliter (»concisely and plainly«, 289), prudens (»practical«), sincerum et solidum et
exsiccatum genus orationis (»a genuine and solid and dry kind of speech«), nec illo grauiore ornatu oratorio utuntur (»and they do not use the heavier oratorical adornment«, 291).
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while it is closed to Cicero. What will remain for Cicero, as he reminds us in his conclusion, are his res gestae. What is remarkable is that Cicero presents his own accomplishments as speaking for themselves, without reference to how they were recorded (330). Equidem etsi doleo me in uitam paulo serius tamquam in uiam ingressum, prius quam confectum iter sit, in hanc rei publicae noctem incidisse, tamen ea consolatione sustentor quam tu mihi, Brute, adhibuisti tuis suauissimis litteris, quibus me forti animo esse oportere censebas, quod ea gessissem quae de me etiam me tacente ipsa loquerentur uiuerentque mortuo; quae, si recte esset, salute rei publicae, sin secus, interitu ipso testimonium meorum de re publica consiliorum darent. Indeed although I grieve that I embarked on life as if on a road a little too late and have fallen, before the journey is finished, into this night of the Republic, nevertheless I am sustained by that consolation which you afforded me, Brutus, with your very sweet letter, in which you gave the opinion that I ought to be of good courage, because I had done things which would themselves speak of me even if I myself were silent and would live while I am dead; which, if all be well, with the Republic’s safety, but if not, with its very death, would give testimony of my advice about the state.
It is a topos in Roman literature that deeds speak for themselves regardless of literary transmission. At Tristia 2.67–72 Ovid’s comments to Augustus that Jupiter does not need to have his success in the Gigantomachy written about, but that it still causes him pleasure. Ovid makes the parallel to his own relation to Augustus. But it is also a topos that deeds are forgotten unless they are recorded. Horace makes the point that many died before Agamemnon, but that we have not heard of them because they were not written of by Homer (uixere fortes ante Agamemnona / multi, Odes 4.9.25f.). Both Caesar and Cicero wrote up their own res gestae and managed to make it impossible for others to write them up for them. They did so, however, in dramatically different ways. Caesar’s commentarii are, if not quite as bare as Cicero makes them out, still a remarkable testimony to the ability of style to make it hard to see through a work’s content. It has taken a great deal of scholarly dedication to show omissions, inconsistencies, and other distortions. Without such labor, his plain style seduces his reader into taking him at his word. Caesar speaks with sovereign authority and his monument to himself has lasted. Cicero, however, wrote up and published his great accomplishments, his quashing of the Catilinarian conspiracy, not only in the revised speeches given on the occasion and through reference to these deeds throughout his corpus, but in elaborate verse which has been ridiculed at least as early as Juvenal. He quotes Cicero’s infamous line as, O fortunatam natam me consule Romam (»O Rome, fortunate to have been born in my consulate«, Juvenal 10.122), and remarks that if all he wrote were as bad as the poetry, he would have been able to disdain Antony’s sword. Cicero wanted
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desperately for others to write him up, as his approaches to Archias, Lucceius, Poseidonius, and Thyillos attest 34. When they did not, he did it himself. The poem has not survived except in fragments, and of these, the longest are due to Cicero’s self-quotation, in the mouth of his brother Quintus in the De diuinatione. What we do know about it is that there are significant sections of high rhetorical ornamentation: the ›O‹ in the line quoted above, the jingle of ›fortunatam natam‹, the prosopopeias of Muses speaking to Cicero, and the verse form itself. The contrast to Caesarian rhetorical nudity could not be greater. Cicero’s deeds do not in fact speak for themselves, because they have Cicero to speak for them, in a variety of styles at that. What he aims at in saying that they do is the kind of transparency he attributes to Caesar but so signally does not himself have. Style makes a representation against which a man can be tested, although such tests may come infrequently – more for public figures in times of crisis. The consequences of the different choices made by Cicero and Caesar become clear only in retrospect. Who they are is not merely a factor of self-fashioning, but of external circumstance, and in Cicero’s case in particular, Caesar was responsible for the political changes that set obstacles in the way of his self-fulfillment. At the end of the Brutus, many of the strands I have been tracing come together: Cicero’s aims for self-development, that competition against rivals is an important aspect of striving toward that goal, that circumstance can stand in the way of achieving an ideal, and an odd omission. Hortensius is specified as Cicero’s rival and Caesar is left out. Cicero’s picture of the ideal orator shows what he aimed for throughout his life and what he, to a large extent, actually achieved. He does not quite say he matches his ideal – that would be boasting35 – but he does specify that anyone like that was lacking when he was starting his career and beginning to rival Hortensius. The ideal, in summary, is a man who has studied literature, philosophy, the law, and history, whose style is concise in handling his adversary, but who can be more expansive in entertaining his audience, who can leave behind the case at hand to expound on general questions, and make other digressions for the audience’s pleasure. Most important, he can manipulate the judge’s emotions (322). Learning, persuasive power, a stylistic mixture of concision and expansion – who fits the bill? We are invited to supply Cicero, but the description is as apt of Caesar. What Cicero identifies as halting his and Hortensius’ competition toward this ideal is external circumstances, namely arms (324):
34 Hall (1998) gives a positive evaluation of Cicero’s request to Lucceius as a piece of urbane
composition; he treats the results of the request to Posidonius (311) and Atticus’ verse account of Cicero’s consulship (314). Also Adcock (1956), 11–12, Eden (1962), 75f. 35 I treat Cicero and self-praise in Lowrie (2007).
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maxime uero perspecta est utriusque nostrum exercitatio paulo ante quam perterritum armis hoc studium, Brute, nostrum conticuit subito et obmutuit. But the practice of each of us was most greatly in public view shortly before this study of ours, Brutus, terrified by arms, suddenly grew quiet and speechless.
He cites Pompey’s legislation in 52 curtailing the amount of time an orator could speak. Although this moment was not the end of his political career, since he went on to become governor of Cilicia, mention of this legislation is significant as a threat to full self-expression. When Cicero does identify the end of his career as an orator, he makes it commensurate with the end of the Republic (328). Sic Q. Hortensi uox extincta fato suo est, nostra publico. Thus Quintus Hortensius’ voice was extinguished by his own fate, mine by that of the public.
Brutus goes on to specify that the public death is due to civil war and the cessation of any hope for peace. It is not Hortensius’ death that symbolizes the end of the Republic, but rather Cicero’s silence, that is, as an orator – in his writings such as here, he quite vocally continues to protest his silence 36. He did not know at the time that he would be writing the Philippics in only a few years, but these speeches do not fully return him to the role of orator; although some were delivered, the famous second Philippic was probably not and circulated rather in written form 37. Writing again substitutes for performance before an audience as a second best, but, if we harbor doubts about its power, many sources attribute Antony’s hatred of Cicero and his putting him to death to these speeches 38. By opening and closing the dialogue with a discussion of himself and Hortensius, Cicero creates the impression they were the only two orators of note during recent years. Yet his description of Julius Caesar in the middle of the dialogue belies this impression. Caesar, up in Gaul in the 50’s, was not pleading cases at Rome as were Hortensius and Cicero, but the praise of his oratorical style shows that he certainly could not be discounted in this domain. Yet he is. The younger Cato is also held in esteem as a speaker, though he is discussed among the Stoics, whom Cicero generally finds too dry and puts in a separate category (118f.). But there is no reason to discount Caesar, except for his surfeit of power. He has moved 36 The link between a man and the state is made early in the dialogue: counsel, intelligence, and
authority – that is, speaking – are arms that befit both a preeminent citizen and a healthy state (quaeque erant propria cum praestantis in re publica uiri tum bene moratae et bene constitutae ciuitatis, Brutus 7). 37 Ramsey (2003), 9–10, 158 f. 38 Implied at Juvenal 10.123–6; Plutarch does not attribute the proscription itself to the composition of the Philippics, but rather the decision to cut off and display on the rostra Cicero’s hands as well as his feet (Cic. 48.4). Richlin (1999) analyzes the relation of the man, his head, and his writings particularly in the context of Cicero’s death.
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over from oratorical to military pursuits, and his most recent literary endeavors are records of his accomplishments. Caesar bursts the bounds of Cicero’s categories. He is no Asianist and he cannot be classified with the extreme Atticists despite the nudity of his style because his is, as Cicero grants, an extremely successful medium of communication. He could be put within the larger category of Attic which Cicero identifies rather with the effective style he himself espouses. The problem, however, is that Caesar’s style is so effective, it puts other writers out of business, as he has the military competition, and the last living orator, Cicero himself. At the beginning of the Brutus, Cicero remarks that if Hortensius were still living, he would grieve among other things over the silence of the forum, which means, he would grieve over the silence of Cicero himself (6): … cum forum populi Romani, quod fuisset quasi theatrum illius ingeni, uoce erudita et Romanis Graecisque auribus digna spoliatum atque orbatum uideret. […] when he saw the forum of the Roman people, which had been almost a theater for his genius, despoiled and deprived of a voice educated and worthy of Roman and Greek ears.
There is no room for anyone else but Caesar in the state and that makes him hard to categorize and to deal with.
Authorial control? The question that remains is how to describe Cicero’s reaction to the particular pressure Caesar puts on his conception of himself. Is Cicero’s fragmentation of Caesar’s portrait in the Brutus defensive and a proof of his inability or is it subtly offensive, a mark of his ability to manipulate a code his contemporaries would have understood? Ideally, a Roman who has mastered self-control will bear up to adversity without being broken by it. Cicero’s continuing to express himself through writing is a vigorous attempt to keep his public persona, crafted over his entire career, in alignment with his self-conception as an active and engaged man. The flip side is the loss of social position he expends so much energy protesting. These are two aspects of the persona theory mentioned above: the combination of external circumstance and volition concerning activities contributes to the whole picture of a man. Conflict between circumstances and volition would result in an identity different from what could be achieved in a smoother situation. On this model, Cicero writes to preserve his identity in the face of an external threat; the conflict between his will and what he cannot control results in a strain in the representation of Caesar, the source of the threat.
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I argued a while back that Cicero himself leaves traces as a subtext in Horace’s Epistle to Augustus, his own literary history, precisely because he provides a model for the integration of intellectual, poetic, and political accomplishments that can no longer obtain under Augustus (Lowrie 2002). In the Epistle, Augustus occupies the role of the statesman, and Horace that of poet. Each belongs in his own dichotomized sphere. What goes unstated is that each also failed in the other’s realm – Augustus’ Ajax famously fell on the eraser, and Horace’s political and military advancement alike were halted at Philippi. The traces of Cicero are distorted versions of his poetry on his consulship, and many indirect allusions to his thoughts on poetry’s role in society. Cicero, however, can only provide a failed ideal of omnicompetence. Plutarch comments that he would have been recognized as a better poet if it were not for the excellence of those who came after, and his political career is marked by a tragic loyalty to a losing cause. Still, Cicero offers a model to Horace at least of an attempt at an integrated life which current political circumstances make impossible, and the reason he goes under erasure is similarly the trauma arising from the impossibility of living according to this exemplum. My analysis here of Cicero’s response to Caesar’s example in the Brutus has an obvious affinity with my argument about Horace. The difference is that I am much more inclined to attribute a canny self-knowledge to the poet than to the orator 39. This set of assumptions would result in Horace’s full control of his text: he makes allusive representations to a social reality that was uncomfortable, but of which he was fully aware. Cicero, by contrast, would be so caught up in current politics that he would make similar representations without full awareness of their implications. Cicero was certainly aware of the disparity between his position and Caesar’s. Was his vanity so strong, that he was blind to the extent of his powerlessness? His suppression of Caesar’s military success, his defensiveness about his lack of similar accomplishments, and his displacing Caesar from the role of significant orator would then all result from a certain amount of unself-conscious self-protection. He knew in his heart of hearts that Caesar had won – at least so far – but could not face reality directly. Caesar consequently gets insufficient direct treatment due to Cicero’s unconscious censorship of what is painful and in this way Caesar escapes classification according to Cicero’s categories. An informed reader then puts the pieces together to come to a knowledge of Cicero that escaped the author himself. But attributing to the poet a greater degree of analytic awareness than to the orator replays the split between the intellectual and the politician Caesar’s model for Cicero and Cicero’s for Horace questions in the first place. Surely unconscious motivation can also be traced in Horace’s text and it would be unfair to rob Cicero of a canny control of his writings simply because of his whirlwind engagement 39 Schwindt (2000), 112f. emphasizes Cicero’s artistry in the ›speech about speech‹ that is the
Brutus.
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with the world. Along these lines, one could argue that by side-stepping the threat posed by Caesar’s example of an omnicompetent self Cicero offers a covert critique. Cicero does not put together a complete picture of Caesar because to do so would be to make clear to all the essential problem: one man is putting everyone else out of business. Cicero would then be consciously avoiding what would appear at the time as a dangerous suggestion. In the first interpretation, Cicero comes off as a fool: a man whose self-esteem surpasses his self-awareness. In the other, he displays a greater mastery than he is often given credit for. If history had played out differently and his hands and neck had not, in Juvenal’s formulation, wet the Rostra with his blood, we might be more generous in our assessment of Cicero 40. Since he lost, he can easily be read as a buffoon. The question of authorial consciousness – another version of authorial intention – cannot be resolved in the terms posed above. I would rather suspend my prejudices about poets and orators to suggest that the texts of Cicero and Horace alike instantiate the combined ability and inability of intellectual activity during the transition between Republic and Empire. Writing the history of literature intervenes in the world not by a dispassionate account of literature’s diachronic development, but by defining the place of the poet or orator within current social and political structures. Can this intervention change anything? No, if we mean that writing would be able to restore the possibility of elite mastery in all fields when social change has altered the playing field. Yes, if we mean that keeping debate going participates in politics understood as an activity involving competing representations. By writing the Brutus, Cicero intervenes publicly in the construction of his identity through social and literary response. The dialogue – itself a form that embodies exchange – was written in response to a letter of Brutus, the De uirtute 41, and to Atticus’ Liber annalis, both dedicated to Cicero (12, 13, 19). Each gave him hope of different sorts and prompted him to pursue scholarly activities as a consolation for changes in his public role. The Brutus’ antiquarianism answers Atticus 42, and the presentation of literary and cultural accomplishments as manly
40 Our tradition of valorizing Cicero as an orator rather than a statesman goes back to reactions
shortly after his murder: Sinclair (1995), 105. Kaster (1998) and Roller (1997), 124 signal the role of declamation in the transmission of representations of Cicero, though Kaster emphasizes the declaimers’ focus on the impotent orator at the moment of his death (262 f.), while Roller gives equal weight to the ›hero of the Republic‹. 41 Hendrickson (1939) identifies the letter as the De uirtute; Douglas (1966), xi; Dugan (2005), 236. 42 Schwindt (2000), 114; Dugan (2005), 191–196 analyzes Cicero’s response to Atticus in light of their different conceptions of history.
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pursuits that can occupy an unemployed statesman responds to Brutus 43. But Caesar also dedicated a book to Cicero, the De analogia, and Cicero responds to him as well 44 by defending a long tradition of oratory he understood civil war and autocracy to be bringing to an end. Cicero’s response poses a problem beyond the threat to his personal identity. He and Caesar are instances that play out a general problem with the areas of potential achievement in the new political formation. Caesar’s exemplum in the Brutus is inimitable and this shuts the system of elite competition down. The point of an exemplum is, in Livy’s famous formulation, to be imitated or avoided (Preface 10). As an instance of a man who brings together military, political, scholarly, oratorical, and historiographical success, Caesar provides a positive model, but his destruction of the state offers an example to be avoided. But here is the crux: no one could even avoid his example once the state is destroyed, simply because there is no further area in which action could be either imitated or avoided. The system as a whole has broken down, and with it, any possibility for aristocratic self-definition according to traditional norms. At least, that is the representation of the Brutus. In point of fact, Julius Caesar was, in the manner of an exemplum, partially imitable. Augustus eventually took over his autocracy and, at least in the Res gestae, his plain style 45, though he also avoided Caesar’s mistakes and fashioned himself as the restorer of the Republic. He did, however, let writing literature go. Others could do that better, and it was not a bad idea to offer some area of achievement among the elite. The generation after Cicero reformulated its ambitions, and, eventually, under the Empire the cultivation of the self turned more inward.
43 Dugan (2005), 237: Brutus’ De uirtute and Atticus’ Liber annalis ›provide the basic codes that
animate the Brutus‹. He analyzes Cicero’s response to Brutus at 236–243. 44 Dugan (2005), 177. Hendrickson (1906), 97–98 suggests the De analogia itself responds to the
De oratore. Arweiler (2003), 3.6.6 cites the exchange of the Cato and Anticato and Caesar’s De analogia as evidence that Cicero and Caesar’s intellectual competition was part and parcel of their political competition. Schwindt (2000), 118 even calls attention to Cicero’s self-stylization as a »Deutero-Caesar«. Moatti (1997), 165 situates the De analogia within a larger concern in this period for rationality and systematization – a cooperative collective effort. 45 Sinclair (1995), 96 notes that Augustus was brought up according to Julius Caesar’s principles of style and that he »strove for a style that was freely accessible to his listener or reader« (Diu. Aug. 86.1).
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Eskapismus, poetische Aphasie und satirische Offensive Das Selbstverständnis des spätantiken Dichters Sidonius Apollinaris Rainer Henke (Münster)
Vorbemerkung: Im Rahmen einer Tagung mit dem Thema »Vom Selbst-Verständnis« kann der gallo-romanische Dichterbischof Sidonius Apollinaris ein besonderes Interesse beanspruchen, weil er sich in der krisengeschüttelten Umbruchzeit des ausgehenden 5. Jahrhunderts genötigt sieht, sein geistig-kulturelles Ich gegenüber der eklatanten militärischen Überlegenheit der germanischen bzw. gotischen Eroberer klar abzugrenzen und zu behaupten. Zwei Fragen werden erörtert: (1.) Inwiefern erscheint das Phänomen des Eskapismus geeignet, um die SelbstDefinition des Autors zu beleuchten? (2.) Welche Rolle spielt bei dieser Selbst-Findung die literarische Tradition für Sidonius?
A. Grundlegende Definitionen von Eskapismus »Die Gedanken sind frei« heißt es bekanntlich im Volkslied. Dahinter steht die uralte Erkenntnis, daß sich der Mensch aus der realen Welt, ja sogar von seiner somatischen Verhaftung lösen und in eine ideale, von ihm selbst geschaffene Welt des Geistes hinübergehen, geradezu flüchten kann. Im Bereich von Soziologie, Psychologie und Literatur spricht man in diesem Zusammenhang oft von Eskapismus. Ein modernes Standardlexikon der Psychologie 1 definiert den Begriff folgendermaßen: »Flucht vor der Wirklichkeit und den realen Anforderungen des Lebens in eine imaginäre Scheinwirklichkeit«. Auf künstlerisch-literarischem Felde versteht Gero von Wilpert2 den Eskapismus als »Flucht vor der widerspruchsvollen Wirklichkeit und (der) sozialen Verantwortung, insbesondere Flucht in die 1 Frey u.a. (2000), s.v. 426. 2 Von Wilpert (2001), s.v. 240.
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Kunst und Literatur als problemlos erscheinende Ersatzwelt des schönen Scheins gegenüber der unbewältigten Realität«. Harry Shaw 3 bietet in seinem Dictionary of Literary Terms eine vor allem leser-, d. h. rezipientenorientierte Interpretation von Escapism/Eskapismus: »The desire or tendency to avoid reality and to seek entertainment and release in fantasy or imaginative situations […] Escape literature enables the reader to forget or put aside his troubles and to live vicariously in another world«. Nehmen wir die Definitionen zusammen, können wir grob sondernd feststellen, daß eine solche Welt- oder Realitätsflucht unter mehrfachen Aspekten zu betrachten ist: Zuerst in der sozialen Realität, dann aber ganz besonders in Kunst und Literatur. Auf dem Gebiet der Literatur wiederum können zunächst der Autor selbst bzw. sein literarisches Ich, zweitens seine Figuren und Protagonisten (etwa im Roman oder im Film) und drittens der Rezipient samt seiner psychischen Bedürfnisse ins Auge gefaßt werden. Zumeist wird der Begriff ›Eskapismus‹ negativ gebraucht: Man unterstellt den Eskapisten, daß ihre Realitätsflucht stets krankhaft sei und daß sie die von außen her drohenden Probleme nicht direkt anzugehen, geschweige denn zu lösen versuchen, schlimmer noch, daß das eskapistische Autor-Ich den Rezipienten unbewußt oder gar absichtlich von sozialen Brennpunkten und einem diesbezüglich notwendigen Engagement ablenke; dies ist gewiß nicht selten der Fall, vor allem im Bereich trivialer Literatur sowie der Computer-, Fernseh- und Kinounterhaltung4. Dem möchte ich jedoch einen positiven oder mindestens wertfreien Begriff von ›Eskapismus‹ entgegensetzen: Dank seiner schöpferischen Phantasie, aber auch im Rückgriff auf tradierte Muster konstruiert der eskapistische Literat ein mehr oder minder artifizielles Universum, um durch dessen Gestaltung seine je eigene Lebenswelt, die er nur unvollständig oder mit einer seine psychischen Reserven aufzehrenden Energie bewältigen kann, zu überschreiten, geistig zu verarbeiten und zu kompensieren 5. Damit wirkt der Autor gleichsam als Seelentherapeut in eigener Sache, aber auch im Interesse der Rezipienten, sofern sich diese als Mitwirkende, gewissermaßen als ›Mitarbeiter‹ der Autoren auf eine so verstandene eskapistische ›Sinnstiftung‹ einlassen wollen. Mit meiner offenen Definition entziehe ich mich einer generalisierenden Wertung oder gar Abwertung eskapistischer Prozesse, weil diese m. E. immer individuell beurteilt werden müssen. 3 Shaw (1972), s.v. 142. 4 Zu dieser Kritik an der Belletristik s. z.B. Slettedahl Macpherson (2000), 26–48 (Escapist
Literature and the Literature of Escape), insbes. 26f. 5 Zum Motiv des schöpferischen, geradezu gottähnlichen Poeten s. Lieberg (1982) mit
Abschnitten zur Spätantike (Cyprian, Claudian, Prudentius); zur Nachwirkung insbes. Kap. XVI: »Der Gedanke des dichterischen Schöpfertums in der antiken und neuzeitlichen Poetik«, 159–173 (bis Goethe). Zur eskapistischen Schöpfung eines Neuen durch den Dichter vgl. ferner die ironische Charakterisierung durch Wilhelm Busch, Balduin Bählamm (unter Nutzung des homerischen Vergleichs mit der Käsebereitung), 1. Kap., Str. 7–18.
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Eine zweite Gefahr für den Interpreten liegt in der Annahme eines indifferenten Paneskapismus. Deshalb erscheint mir z. B. folgende Unterscheidung sinnvoll: 1. Stärkste Eskapismusbereitschaft (Zwangs-Eskapismus) unter der Pression unerträglicher äußerer Zwänge (z. B. unter den oppositionellen, zum Altruismus neigenden Stoikern in der Kaiserzeit); 2. Erhebliche Dissonanzen (DissonanzEskapismus) mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Zielen und Wertvorstellungen (z. B. Elegiker); 3. Literarische Sensibilität und Skepsis (SensibilitätsEskapismus) gegenüber systemstabilisierenden Auftragsgedichten (z. B. die sog. Recusationes; Vergil, Properz, Horaz); 4. Totaler Transzendenz-Eskapismus durch dauerhafte Weltflucht (z. B. Askese und Mönchtum in der christlichen Spätantike). Alle Gruppen schließen nicht selten eine (mitunter heftige) Polemik gegen das gesellschaftliche Establishment ein. Der relegierte Dichter Ovid beispielsweise, der durch seine Verbannung schwer traumatisiert war, ist sicherlich der ersten Gruppe zuzurechnen: In seinem Gedicht Tristien 4, 2 beschreibt er einen imaginierten Triumphzug des Tiberius anläßlich eines nur vorgestellten Sieges über die Germanen. Der Dichter bietet alle Kunst auf, um dem Leser ein lebensvolles, plastisches Bild dieses Staats- und Volksfestes zu demonstrieren und auf diese Weise klarzumachen, daß Geist und Genie nicht verbannt und im fernen Tomis festgehalten werden können: In dem von ihm konstruierten Universum herrscht der Triumphator Ovid über den Despoten Augustus. So beginnt mit Ovid zugleich die besonders für das 20. Jahrhundert wichtige Richtung des Eskapismus in der Exilantenliteratur 6.
B. Sidonius Apollinaris In welchen Traditionssträngen ist der spätantike Dichter und Epistolograph Sidonius Apollinaris zu verorten und in welchem Sinne kann man bei ihm von Eskapismus sprechen? 1. Biographisches Die Lebensspanne des Sidonius Apollinaris fällt hauptsächlich in den zweiten Teil jenes unruhigen fünften Jahrhunderts, das dem weströmischen Kaisertum den Todesstoß versetzte. Sidonius, typischer Vertreter einer stolzen und ehrgeizigen Provinzialaristokratie, ist um 430 in Lyon geboren, war 468 unter dem Kaiser Anthemius Stadtpräfekt von Rom, wurde um 470 Bischof von Clermont-Ferrand und organisierte in diesem klerikalen Amt den heroischen, aber letztlich vergeb6 Siehe hierzu Schmidt (2003), zum Stichwort Eskapismus ebd. 21. 31. 45. 49f. 57. 166–177,
bes. 167. 207–213.
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lichen Abwehrkampf der Auvergne gegen den westgotischen König Eurich, der ihn gefangennahm und zwei Jahre (ca. 475–477) auf eine Festung verbannte, ihn danach aber begnadigte und wieder als Bischof von Clermont einsetzte. Sidonius ist zwischen 480 und 490 gestorben 7. Als Schwiegersohn des Kaisers Avitus war er mit einem großen Teil der süd- und mittelgallischen Elite bekannt oder verwandt, deren ›Corps- oder Kastengeist‹ ihn geprägt, aber auch zur verantwortlichen Übernahme von schwierigen politischen Aufgaben genötigt hat. 2. Werke Sidonius hat uns eine Gedicht-Sammlung mit 24 carmina hinterlassen. Die ersten acht Stücke dieser Edition (Nr. 1–8) enthalten drei umfangreiche Lobreden zum Regierungsantritt der Kaiser Avitus, Maiorian und Anthemius samt deren Begleitgedichten. Dazu treten sechzehn weitere Gedichte (Nr. 9–24), die als Carmina Minora 8 bezeichnet werden. Diese Carmina Minora zeichnen sich durch eine beachtliche Vielfalt ihrer Themen aus. Wir finden: ein Widmungsgedicht, zwei Hochzeitsgedichte mit poetischen Praefationes, ein verhindertes Hochzeitsgedicht (c. 12), aus dem eine ›Satire‹ geworden ist (mit ihr werden wir uns sogleich beschäftigen), eine Bittschrift an den Kaiser Maiorian, drei Dankschreiben, fünf Epigrammata sowie ein abschließendes Propemptikon an den personifizierten Gedichtband, dem Sidonius gute Ratschläge mit auf seinen Weg zu den Freunden gibt 9. Die 147 10 Episteln im Brief-Corpus des Sidonius umfassen in ihrer letzten Edition neun Bücher, eine deutliche Anlehnung an die Briefsammlung des Plinius, der ihm neben Cicero und Symmachus auch im Inhaltlichen überragendes Vorbild gewesen ist; in diese Briefe sind zuweilen Kurzgedichte eingelegt 11. 7 Zu den biographischen Daten s. Delhey (2002). 8 Daß die Carmina Minora 9–24 vom Autor in zwei Ausgaben publiziert worden sind und
nicht in drei, hat Schetter (1994) gegen Loyen nachgewiesen. Demnach sind die Gedichte 9–21 u. 24 (nugae) in einer ersten Edition, die Gedichte 22/23 (als Annex) in einer zweiten (Gesamt-Edition) publiziert worden; zur Datierung Schetter (ebd.), 256: »Exakte Daten für die Übersendung des dem Magnus Felix gewidmeten Gedichtbuchs und die erst danach anzusetzende Abfassung von carm. 22 und 23 lassen sich nicht ausmachen. Sie haben zwischen 462 und 466 stattgefunden. Einen möglichen terminus ante quem für eine Gesamtausgabe der ›Carmina minora‹, […] mit dem Annex von carm. 22 und 23, stellt […] das Jahr 472 dar«. 9 C . 24 (in Hendekasyllabi); s. dazu jetzt den neuen italienischen Kommentar von Stefania Santelia (2002). 10 Abzüglich des Briefes 4,2, eines Schreibens des Schriftstellerkollegen Claudianus Mamertus, auf das Sidonius in 4,3 antwortet. 11 Es handelt sich um Grabgedichte, Kirchweihgedichte, Gelegenheitsgedichte, ein Trauerlied auf den verstorbenen Freund Claudianus Mamertus, das literarische Programm bzw.
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3. Geschichtliche Einordnung Blicken wir auf eine politische Landkarte der sidonianischen Zeit12, so erkennen wir sogleich den entscheidenden Grund für die existientiellen Ängste, die ein südgallischer Romane damals hegen mußte. Die Provence und Gallien überhaupt sind zum ohnmächtigen Spielball mächtiger rivalisierender Germanenstämme geworden, die von allen Seiten die Reste römischer Provinzherrlichkeit bedrängen: Im Norden drohen die Burgunder und nach ihnen die Franken, vom Süden und Westen her die Westgoten, vom Osten und Norditalien aus die Ostgoten. Der fein gebildete Aristokrat fühlt sich abgestoßen von den wilden, urwüchsigen Riesenkerlen der Invasionsheere sowie von deren fremdartiger Sprache und Kultur 13. Als im Jahre 461 die Burgunder Lyon zum zweiten Mal besetzen, ist auch Sidonius von der Einquartierung betroffen. 4. Das carmen 12 an Catullinus In seinem carmen 12 entschuldigt sich Sidonius bei dem Freund Catullinus dafür, daß er ihm nicht das versprochene Epithalamium, also ein Hochzeitsgedicht, übersenden kann14: Quid me, etsi valeam, parare carmen Fescenninicolae iubes Diones inter crinigeras situm catervas et Germanica verba sustinentem, 5 laudantem tetrico subinde vultu
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Was bittest Du mich, obwohl in der Annahme 15, ich sei gesund, für Venus, die Freundin der Fescenninen 16, ein Lied zu dichten, mich, der ich sitze unter langhaarigen Scharen und germanische Worte aushalten muß, der ich
Vermächtnis des Sidonius (epist. 9,16 [Abschluß des Briefcorpus], § 3) sowie um einen Panegyricus auf den Gotenkönig Eurich (epist. 8,9,5; dazu s. unten); die vorherrschenden Versmaße in den Einlagen sind Hendekasyllabus und elegisches Distichon (näheres s. Klotz [1923], 2234f.). Siehe etwa die Karte bei von Padberg (2006), 14 (Das Frankenreich um 500). Vgl. dazu das Kapitel »Die Germanen aus der Sicht des Sidonius« bei Kaufmann (1995), 79–219; ferner die Monographie von Botermann (2005), 382–404, bes. 399–404 (mit einer Übersetzung bzw. Paraphrase des Briefes 2,9 an Donidius und einer Teilübersetzung des Briefes 4,17 an den fränkischen Comes Arbogast, §§ 1f.). Ich gebe den Text in der Übersetzung von Kaufmann (1995), 141f., von der ich allerdings an einigen Stellen abweiche. Zur Interpretation des Gedichts s. Kaufmann (1995), 141–144, der ebd. 142 f. Anm. 374 die verschiedenen Datierungsversuche referiert. etsi valeam (v. 1) ist ironische Anspielung auf den formelhaften Abschiedsgruß im vorauszusetzenden Bittbrief des Adressaten Catullinus. Fescenninicola (v. 2) ist ein von Sidonius selbst ad hoc geschmiedetes Nominalkompositum, also ein Hapax legomenon, freilich in der Tradition der mit dem Suffix -cola zusammengesetzten Nomina (s. Otto Gradenwitz: Laterculi vocum Latinarum, Leipzig 1904, 293f.).
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quod Burgundio cantat esculentus, infundens acido comam butyro? Vis dicam tibi, quid poëma frangat? Ex hoc barbaricis abacta plectris spernit senipedem stilum Thalia, ex quo septipedes videt patronos. Felices oculos tuos et aures felicemque libet vocare nasum, cui non allia sordidaeque caepae ructant mane novo decem apparatus, quem non ut vetulum patris parentem nutricisque virum die nec orto tot tantique petunt simul gigantes, quot vix Alcinoi culina ferret. Sed iam Musa tacet tenetque habenas paucis hendecasyllabis iocata, ne quisquam satiram vel hos vocaret.
mit finsterer Miene wiederholt loben muß, was der vollgefressene Burgunder singt, der mit ranziger Butter sein Haar beschmiert? Möchtest du, daß ich Dir sage, was das 17 Gedicht zerbricht 18? Von den barbarischen Zupfinstrumenten verscheucht, verschmäht Thalia das sechsfüßige Versmaß, seitdem sie die sieben Fuß großen Schutzherren sieht. Glücklich kann man Deine Augen und Deine Ohren, glücklich kann man Deine Nase nennen, der nicht am frühen Morgen schon zehn Kerle Knoblauchdünste und die Zutaten der häßlichen Zwiebel zurülpsen, der Du nicht den ganzen Tag über und nicht nur morgens, wie ein alter Opa und einer Amme Ehemann, durch eine Horde Riesen heimgesucht wirst, so viele und so große, wie sie auch die Küche des Alcinous kaum ernähren könnte. Aber schon schweigt meine scherzende Muse und zieht straff die Zügel nach nur wenigen Hendekasyllaben 19, damit nicht einmal diese jemand eine Satire nennen könnte 20.
a. Referenz auf die Aphasie des verbannten Ovid Wir erkennen in dieser bekannten Schilderung bestimmte Elemente, die uns an den verbannten Ovid erinnern21, so z. B. die anschauliche Beschreibung der äußeren Erscheinung der Barbaren. Der von Augustus so hart gestrafte Dichter hatte 17 poëma (v. 8) bezeichnet hier das Hochzeitsgedicht, das sich der Freund Catullinus von
Sidonius gewünscht hatte; prägnanter könnte auch: »mein Gedicht« übersetzt werden. 18 frangat (v. 8) muß stärker wiedergegeben werden als mit dem von Kaufmann gewählten
Ausdruck »behindert«. 19 Das Gedicht ist im stichischen Maß des phalaecaeischen Elfsilblers geschrieben; die Cäsur
ist meist nach der dritten Hebung gesetzt, einige Male (v. 4. 8. 14) nach den beiden Kürzen; in v. 21 fehlt die Cäsur wegen des langen Wortes hendekasyllabis, aber m.E. auch, weil der Dichter hiermit die Ermattung seiner Muse andeuten will. 20 Dazu Schetter (1994), 245 Anm. 32: »[…] Die Schlußverse […] spielen auf eine Affäre des Jahres 461 an: In Arles kursierte in diesem Jahr eine anonyme beißende Satire, in der die verspotteten hochgestellten Persönlichkeiten namentlich genannt wurden, unter ihnen Paeonius, der Praefectus Praetorio Galliarum 456/7, […] Da Catullinus die bösartige Invektive mit Lob überschüttete, geriet der eng mit ihm befreundete Sidonius in den Verdacht, sie verfaßt zu haben (epist. 1,11). So liegt die Annahme nahe, daß sich carm. 12, v. 22 […] auf diese Vorgänge bezieht und daß diese dem Autor und dem Adressaten noch frisch in Erinnerung waren. Das Gedicht ist vielleicht noch 461 oder jedenfalls bald danach entstanden«. 21 Zum Forschungsstand in bezug auf Ovids Relegation s. Anna Julia Martin (2004).
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mehrfach betont, daß seine Romferne und damit verbunden seine neue getische Umgebung und ihr barbarisches Sprachidiom seinen Stil verschlechtert hätten, ja ihn seine Muttersprache vergessen machten22. Es ist dies ein Phänomen, das man als die Sprachlosigkeit, die ›Aphasie‹ 23 der Exilanten bezeichnet hat, die sich nicht nur mit ihrer räumlichen Entfremdung von ihrer Heimat, sondern auch mit einer neuen Sprache und einer fremdartigen Kultur konfrontiert sehen, ein Problem, das auch vielen deutschen Emigranten des 20. Jahrhunderts, von Bertolt Brecht bis Thomas Mann, sehr zu schaffen machte 24. Freilich hat Ovid auch im Exil das Dichten in seiner lateinischen Muttersprache nicht aufgegeben, auch hat sich die Qualität seiner Poesie nicht vermindert25, ja Ovid hat sogar, wie er selbst bezeugt, Gedichte in der getischen Landessprache verfaßt 26, eine Form der Anpassung, die Sidonius – jedenfalls für sich selbst – ganz und gar verschmähte 27. Die Muse, die ihm in Gestalt der Ars amatoria die Verbannung eingetragen haben soll, hilft dem poetischen Ich durch ›trostbringendes‹ Dichten, die schwere Krise zu überstehen, seinem Unglück durch Kompensation wenigstens zeitweise zu enfliehen 28. Ebensowenig darf man glauben, daß Sidonius nur unter dem schockierenden Ein22 Ov. trist. 3,14,43–52; vgl. Pont. 1,2,61 (cum video quam sint mea fata tenacia, frangor, / spesque
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levis magno victa timore cadit); ferner trist. 1,11,7–10.17f. (Staunen darüber, daß er während der Überfahrt nach Tomis durchs rauhe Meer Verse zustandebringen konnte). Ein zumindest verwandtes Motiv ist die Sprachlosigkeit angesichts der Eintönigkeit des Stoffes, wie Ovid selbst einräumt (Pont. 3, 7, 1f.): verba mihi desunt eadem tam saepe roganti / iamque pudet vanas fine carere preces; dazu s. Fränkel (1970), 150f. Zunächst versteht sich ›Aphasie‹ im medizinischen Sinne als »Verlust des Sprechvermögens infolge einer Störung im Gehirn« (Wahrig Fremdwörterlexikon, München 2001 s.v.); daneben umgreift der Ausdruck auch funktionale Sprachverluste, die auf ein seelisches Trauma oder ein Schockerlebnis zurückgehen. Siehe dazu Doblhofer (1987), 66–72 u. insbes. 114–136 (Die Sprachnot des Verbannten am Beispiel Ovids). Zu Recht betont von Holzberg (1998), 181. Zu den durchaus erfolgreichen Versuchen Ovids im Getischen und Sarmatischen s. Fränkel (1970), 174 (Pont. 4, 13, 19–21). Dazu s. Sidon. epist. 5,5,3 an den Freund Syagrius, der das Burgundische, wie Sidonius ironisch und süffisant bemerkt, so gut verstehe, daß sich »die Burgunder in seiner Anwesenheit fürchteten, einen Barbarismus in ihrer eigenen Sprache zu begehen« (Kaufmann [1995], 144f. mit Anm. 375 sowie 232 f.); von Speyer (2001), 883f. als »eitle[s] Wortspiel« verunglimpft; zum Begriff barbarismus s. Speyer (ebd.), 882–884; zu den mannigfachen Versuchen der alten Oberschicht und des katholischen Klerus, die ›barbarischen‹ Sprachen (das Germanische oder Vandalische) zu erlernen, s. Speyer (ebd.), 867f. Umgekehrt gab es auch gebildete Germanen, ja Barbaren-Könige, die dichteten oder sonstwie literarisch tätig waren (Speyer ebd. 868). Den Topos ›Selbst-Tröstung durch Dichten‹ hat zuletzt Martin (2004), 108–112 erörtert; sie behandelt ebd. sechs diesbezügliche Forschungsansätze (Stroh; Chwalek; Nagle; Doblhofer; Liebermann; Williams); vgl. außerdem Stroh (1981); zur Tröstung gehört auch das Moment des Vergessens, das Martin (ebd.), 112–116 traktiert.
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druck des frappierenden Kulturgefälles zur barbarischen Soldateska dem Dichten abgeschworen hätte 29. Vielmehr arbeitet er wie Ovid mit der Vorstellung, unter Schreibblockaden zu leiden 30. Vermittels deutlicher Markierung durch den Terminus frangere, den auch Ovid benutzt, stilisiert sich Sidonius unter Selbst-Gleichsetzung mit dem exilierten Dichterkollegen Ovid gleichsam als einen ›Exulanten in der eigenen Heimat‹ 31. b. Satirische Transformation der Realität und das ethnozentrische ›Fremdstereotyp‹ des Barbarischen Wie Ovid leidet Sidonius aufgrund der täglichen Konfrontation mit den burgundischen Besatzern, deren Erscheinungsbild er mit den üblichen Mitteln der Satire, wie er am Ende selbst einräumt, übertreibt, überzeichnet und karikaturistisch verzerrt32. »Die satirische Reduktion eines Menschen auf das entscheidende Detail« liegt vor in der Schilderung abstoßender körperlicher Einzelheiten (but-
29 Freilich hat Sidonius bei seiner Übernahme des Bischofsamtes in Clermont die Absicht
bekundet, keine Gedichte mehr zu schreiben, da sich dies mit dem Episkopat nicht vertrage, epist. 9, 12, 1: ab exordio religiosae professionis huic principaliter exercitio renuntiavi (»dieser Tätigkeit, der ich hauptsächlich zu Übungszwecken nachging«); dazu s. Klotz (1923), 2234, 34–63, bes. 53–60: »Erst in dem letzten Buche finden sich größere Neuschöpfungen […] es wird S. offenbar schwer, auf das Versemachen zu verzichten […] Jedenfalls hat er der heidnischen Mythologie abgesagt, mit der er seine Panegyrici und Epithalamien geschmückt hatte«; aber wie der von uns im folgenden behandelte ›Panegyricus‹ auf Eurich (epist. 8, 9, 5) beweist, ist Sidonius dieser Maxime nicht vollständig treu geblieben. 30 Einer anthropologisch konstanten Erfahrung des Kultur- und Sprachschocks von seiten der Exilierten, so jedenfalls die These in den einschlägigen Arbeiten von Doblhofer, die allerdings von Martin (2004), 20f. in Frage gestellt wird; dabei ist Martins Hinweis auf die überwiegend männliche Exilerfahrung kaum überzeugend. Wenn auch Ovid die Situation in Tomis, insbesondere die militärische Bedrohung von seiten einfallender Barbarenstämme, übertrieben negativ darstellt und sein elegisches Ich hierbei literarische Reminiszenzen z.B. an die Skythenbeschreibung Vergils einfließen läßt, sollte die Skepsis nicht so weit gehen, sein Exil in Tomis und seine zumindest temporäre Niedergeschlagenheit grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. 31 Vergleichbar mit Sidonius ist das Eingeständnis des von berberischen Nomadenstämmen bedrängten Epistolographen Synesios von Kyrene, im Moment die vom Freund Simplikios ersehnten Gedichte nicht mehr produzieren zu können, da er unaufhörlich Wache schieben müsse (der Briefschreiber flicht im Kontext einen eleganten Selbstvergleich mit Archilochos ein) und nicht einmal Zeit finde, sich Bücher aus dem Schrank zu holen; zitiert von Speyer (2001), 866: epist. 129 (PG 66, 1514 B, Z. 7–12); gewiß eine Übertreibung, doch ebenso gewiß eine mit wahrem Kern. 32 Die im folgenden aufgeführten Mittel satirischer Sprechweise sind zitiert nach den Kategorien im Inhaltsverzeichnis von Christine Schmitz (2000), IX–XII.
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tergefettetes Haar 33, unmäßige Freßlust, Mundgeruch, nervtötendes Grölen der Betrunkenen). »Die satirische Technik der Übertreibung« mit unzulässiger Verallgemeinerung findet sich in der Angabe, daß die Barbaren von morgens bis abends im Hause herumlungern und daß sie allesamt sieben Fuß hoch seien, also etwa 2 Meter 10, eine bissige Attacke, die Sidonius ein geistreiches Spiel mit dem sechsfüßigen Metrum der Hochzeitsgedichte ermöglicht. Auf »Inkongruenz zwischen erhabenem Mythos und trivialer Situation« treffen wir in der Anspielung auf die Bewirtung des Odysseus durch Alkinoos, wodurch die rohen Barbaren mit den Phäaken, den Bewohnern jenes homerischen Märchenlandes, kontrastiert werden (Hom. Od. 8, 48–71). Im Sinne poetologischer Konkretisierung tritt eine klagende Muse auf, die vor den Barbaren die Flucht ergreift (ein unterschwelliger Anklang des Eskapismus-Motivs!). Epenparodie begegnet auch in den vv. 12 und 13, die formal einen Makarismós bilden, und zwar mit feierlich-sakral klingender Wiederholung von felices an der Versspitze. Dem ganzen Stück eignet eine durchgehende indignatio, wie sie vor allem für Juvenal typisch ist. Vergleichbar dem Antihellenismus bzw. dem Antiorientalismus Juvenals erscheint auch die extrem ethnozentrische Perspektive des Sidonius, die sich in dem ›Fremdstereotyp‹ »Barbar, Barbarisch« 34 zu erkennen gibt (v. 9), während ihm die Muse Thalia (v. 10) das ›Selbststereotyp‹ des Poeten verkörpert. Problematisch wird dieses Reden vom ›Barbarischen‹ durch die Herabwürdigung der vorgeblich primitiven Fremdvölker auf die Stufe des (Halb-)Tierischen35, wie sie sich nicht selten findet36, wobei man beachten sollte, daß Juden und Christen ihrerseits von den Paganen als Barbaren beschimpft wurden. Aber selbst in den perpetuierten Schrecken der späten Völker33 Der französische Dichter Arthur Rimbaud, der übrigens selbst auch lateinische Verse ver-
faßte, rezipiert im ersten Stück seines Gedichtzyklus »Une saison en enfer«, überschrieben mit »Mauvais sang«, die sidonianische Wendung, indem er seine unbeholfene Wesensart und seine barbarische Kleidung von seinen gallischen Vorfahren ableitet, aber mit der Einschränkung: »Mais je ne beurre pas ma chevelure«: Löffler, Tauchmann (1992), 306 (ich verdanke diesen Hinweis Karin Westerwelle, Münster). 34 Zum römischen Barbarenbild ausführlich (mit dem Versuch einer systematischen Strukturierung und Funktionalisierung) Dauge (1981), 307–378 (»Barbarologie Historique: Septième période, de 305 à la prise de Rome par Alaric [410]«), insbes. 375–378: »Le Christianisme et la Barbarie«). 35 In der Auseinandersetzung mit Marianne Kah verteidigt Gnilka (2001), 469 allerdings zu Recht eine Äußerung des Prudentius (c. Symm. 2, 816–819), deren Fehlinterpretation auf einem Mißverständnis beruht; eine weitere umstrittene Stelle (Prud. apoth. 215f. semifer Scottus) entschärft Gnilka (2000), 526–529 durch den Nachweis, daß dieses Zeilenpaar interpoliert ist; jedoch weist Gnilka (ebd.), 528 Anm. 6 darauf hin, daß Prudentius selbst (ham. 784) die Verbindung semiferi […] Goliae, also mit Bezug auf den Riesen Goliath, bietet. 36 Dazu s. die Belege bei Speyer (2001), 884–888, bes. 886 unter der Überschrift: »Die Barbaren sind wie Tiere und leben wie Tiere«; vgl. Sidonius selbst in epist. 4, 1, 4 (dazu jetzt Amherdt [2001], 67f. 84–89).
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wanderungszeit gelangen christliche Autoren wie Salvian zu einem positiven Menschenbild vom ›Barbaren‹ 37. Kritisch zu hinterfragen ist im Hinblick auf Sidonius auch die seit Caesar und Tacitus entwickelte und vielfach willkürlich konstruierte Germanenideologie, die bis in die Neuzeit hinein ihre letztlich verhängnisvolle Wirkung ausgeübt hat38. Für Sidonius ist bezeichnend, daß er sogar innerhalb ›seiner‹ gallischen Elite aufgrund einer wohl an Aristoteles orientierten gestuften Ontologie im Bereich der Vernunftbegabung in sehr rigidem Ton zwischen wahrhaft gebildeten Menschen einer höheren Stufe und den geist- und bildungslosen rustici unterscheidet39. c. Referenz auf die Aphasie des trauernden Catull Zwar hat Sidonius als Geschenkgedicht für den Freund kein anakreontisch-heiteres Hochzeitsgedicht geschrieben (wie etwa Catull sein carmen 61 40 für den Freund Manlius Torquatus 41), sich aber doch wenigstens Luft geschaffen durch ein anspruchsvolles Erzeugnis in bitterbösen Elfsilblern 42, wie sie zu polemischem Zweck derselbe Catull (etwa in carmen 42 43) oder auch der Epigrammatiker Mar-
37 Hierzu Speyer (2001), 863. 38 Siehe hierzu Young (1968) und von See (1970). 39 Dazu s. die Epistel 9, 14 an Philagrius, § 8 (über die erstaunliche Vielfalt von deren phi-
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losophischen Referenzen Courcelle [1970]); daß Sidonius in epist. 1,2 den Westgotenkönig Theoderich II. einer überschwenglichen Schilderung seines Körperbaus und seines Tagesablaufs würdigt, begründet der Autor mit der civilitas (§ 1) des Herrschers, der somit gleichsam seinen Barbarenstatus gegen die Lebensart eines römischen Bürgers eingetauscht hat; s. dazu Kaufmann (1995), 107–117, mit einer Übersetzung des Briefes. Catull verwendet in c. 61 fünfzeilige, glykoneïsch-pherekrateïsche Strophen; zur äußeren Form s. den Kommentar von Syndikus (2001), 12–15, ebd. 12. Hierzu s. Syndikus (2001), 1–49, ebd. 1: »Catulls Gedicht auf die Hochzeit eines Manlius Torquatus und einer Junia oder Vinia Aurunculeia ist wie einst die Hochzeitsgedichte der Sappho zu einem realen Anlaß geschrieben; aber anders als Sapphos Hochzeitsgedichte war es kaum für eine öffentliche Aufführung an diesem Tag bestimmt – für eine poetisch-musikalische Begleitung des Festprogramms wäre es wenig geeignet gewesen –, es ist vielmehr die Feier des Tages durch ein literarisches Geschenk«; als eine solche Festgabe sind auch die Epithalamien des Sidonius zu verstehen. Sidonius selbst hat zwei hexametrische Hochzeitsgedichte geschrieben (c. 11 für Ruricius und Hiberia, c. 15 für Polemius und Araneola), mit jeweils einer praefatio im elegischen Distichon (c. 10) bzw. in Elfsilblern (c. 14); zu c. 14/15 jetzt Ravenna Giovanni (1990). Im ersten Vers dieser Invektive (c. 42,1) apostrophiert Catull die Hendekasyllaben und bittet sie, ihm gegen seine ehemalige Geliebte beizustehen, die sich weigere, Schreibtäfelchen mit (erotischen?) Versen des Dichters herauszurücken; s. Syndikus (2001), 226–230. Sidonius benennt ebenfalls die Hendecasyllabi explizit (in v. 21).
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tial 44 eingesetzt haben. Auf diese Weise, in der satirisch-distanzierten Auseinandersetzung, kann Sidonius den aktuellen Mißständen entfliehen und sie in einem förderlich-eskapistischen Sinne überwinden. Wenn bei Sidonius die gequälte Muse sich momentan nicht in der Lage fühlt, Hexameter zu dichten (vgl. v. 10 spernit senipedem stilum), so alludiert das satirische Ich des Sidonius damit m.E. auf das berühmte Catull-Gedicht 64, aber auch auf das hexametrische Hochzeitsgedicht carmen 6245. Vergleichbar mit der depressiven Stimmungslage des Sidonius ist auch die Eingangspassage der Allius-Elegie des Catull (carmen 68), in der das elegische Ich des Dichters mit Bezug auf die von ihm gepflegte erotische Lyrik die eigene Schreibblockade aufgrund des Todes seines geliebten Bruders hervorhebt, die Catull mit Rücksicht auf seinen Freund Allius überwindet 46. Vielleicht ist es nach alldem kein Zufall, daß Sidonius sein 12. Gedicht einem Manne widmet, dessen Name im Diminutiv den Namen des Catull spiegelt47. Im übrigen herrscht bei vielen Dichtern eine melancholisch-resignative Grundstimmung vor, die sich jedoch in eine Initialzündung poetischer Kräfte transformieren kann, eine letztlich in der Humoralpathologie gründende Vorstellung, die sich historisch seit Aristoteles verfolgen läßt 48.
44 Bei Martial ist der Elfsilbler nach dem elegischen Distichon das zweithäufigste Versmaß:
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Barie/Schindler (2002), 1085 mit einer Übersicht über die Gedichte im Elfsilbenmetrum; satirisch-polemisch ist z.B. Mart. 1, 27. Carmen 62 unterscheidet sich von 61 vielfach, u.a. durch sein hexametrisches Versmaß. Siehe dazu den Kommentar von Syndikus (2001), 50–75, ebd. 50; auch Ovid hat nach eigenem Bekunden (Pont. 1,2,131f.) ein Hochzeitsgedicht für ein ihm befreundetes Paar geschrieben (dazu Schmitzer [2001], 177). Catull. 68, 19–23. 31f.: sed totum hoc studium luctu fraterna mihi mors / abstulit. O misero frater adempte mihi, / tu mea tu moriens fregisti commoda, frater, / tecum una tota est nostra sepulta domus, / omnia tecum una perierunt gaudia nostra / […] Ignosces igitur, si, quae mihi luctus ademit, / haec tibi non tribuo munera, cum nequeo; vgl. dazu den Kommentar von Syndikus (2001), 239f.; auch bei Catull ist vom ›Zerbrechen‹ die Rede (mea frangere commoda = »meine Glücksgaben«). Diese Aphasie des Dichters Catull gehört zu dem umfassenderen Komplex des Verstummens aufgrund übermächtiger Trauer; dazu s. Hillgruber (2002). Zum Verstummen als einem Ausdruck der Unsagbarkeit s. Melanie Möller (2003). Im harten Bild von der barbarischen Besatzung, die »sein Gedicht zerbricht«, wie Sidonius in v. 8 klagt, wirkt zudem gewiß auch die alte Vorstellung inter arma silent Musae (»zwischen Waffen schweigen die Musen«), die in v. 20 explizit ausgesprochen ist (iam Musa tacet); vgl. Cic. Mil. 11: silent leges inter arma. Dazu Klibansky/Panofsky/Saxl (1990), insbes. den Dritten Teil (»Poetische Melancholie« und »Melancholia Generosa«: 319–394), Lambrecht (1994), Mehnert (1978), ferner Lepenies (1969), 9–34 (zu Robert Burton, The Anatomy of Melancholy), 76–90 (Bürgerlicher Eskapismus, Weltflucht, Gesellschaft und Einsamkeit).
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5. Der Brief an Lampridius 49 (epist. 8,9) a. Verlust des Landgutes als Ausgangspunkt poetischer Melancholie Aus seiner Epistel an den in Bordeaux lebenden Rhetoriklehrer Lampridius (epist. 8,9) spricht eine vergleichbare Resignation des poetischen Ichs des Sidonius. Nach seiner Rückkehr aus der Festung, in die ihn der westgotische König Eurich verbannt hatte, befindet sich Sidonius in einer prekären Situation, da seine ererbten Besitzungen auf dem Lande beschlagnahmt worden sind; hierbei muß man, wie es der Soziologe Max Weber mit Hinweis auf den festungsähnlichen Ausbau der Villen getan hat, in Betracht ziehen, welch gewaltige ökonomische und kulturelle Bedeutung die Landhäuser als Refugium gerade für jene noblen Gutsbesitzer der späten Antike besaßen50. Sidonius ist von einem Gnadenakt des Königs Eurich abhängig, der in Bordeaux residiert, und empfindet die Aufforderung seines bereits begnadigten und saturierten Freundes Lampridius, endlich wieder einmal einige Verse zu verfassen, eigentlich als Zumutung 51. b. Rekurs auf Juvenal und Horaz […] forsitan satiricum illud de satirico non recordaris: Satur est, cum dicit Horatius ›Euhoe‹. quid multis? merito me cantare ex otio iubes, quia te iam saltare delectat […] pareo tamen […] tantum tu utcumque moderere Catonianum […] arbitrium.
49 Zu dieser Persönlichkeit La Penna (1995), zu unserem Brief bes. 211–213. 50 Weber (1924), 1–288, ebd. 26–45, 277; s. außerdem Reutti (1990), mit Beiträgen zu Ciceros
Villen (Otto Eduard Schmidt), zur gallo-römischen Villa in Nordfrankreich (Roger Agache) sowie über die Villen der römischen Welt (Guido Achille Mansuelli). Wenn man Sidonius für einen Materialisten hält, der in dieser Epistel unterwürfig um seine Besitzungen bettelt, so verkennt man die Bedeutung dieser Orte für das geistige und soziale Leben jener provinzialrömischen Aristokraten: Man lese nur des Sidonius Villenbrief 2,9 an Donidius oder sein carmen 22 über den Burgus Pontii Leontii (Delhey [1993]), um zu ermessen, welchen kulturellen Stellenwert diese Refugien mit ihren beachtlichen Bibliotheken für die geistige Welt des Sidonius und seiner Standesgenossen besaßen. Im Hintergrund dieses Lebensgefühls stehen die poetischen Villenbeschreibungen des Statius (silv. 1,3 u. 2,2) sowie der mächtige Einfluß der Villenbriefe des Plinius und auch Ciceros Einbindung der Villen in das Ambiente seiner Dialoge. In den Villen befanden sich ansehnliche Privatbibliotheken, wie sie Sidonius in der Donidius-Epistel mit großer Wärme und Anschaulichkeit beschreibt (§ 5); die Klage Ovids, daß ihm in Tomis keine ausreichende Bibliothek zur Verfügung stehe, konnte sich also auch Sidonius zu eigen machen, solange ihm seine Villa genommen war. 51 Kaufmann (1995), 132 glaubt – vielleicht mit Recht –, daß die Initiative zu einem poetischen Gnadengesuch bei Eurich eher von Sidonius ausgegangen sei.
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Lampridius erinnere sich wohl nicht an jenen berühmten Vers des Satirikers Juvenal 52, mit dem dieser, auf die schlechte Lage der Dichter seiner Zeit anspielend, sagen wollte: Ein Dichter läuft erst zur Höchstform auf, wenn er in gesicherten Vermögensverhältnissen lebt. Wir gedenken dabei der Tatsache, daß Maecenas dem Dichterfreund Horaz ein Landgütchen im Sabinerland schenkte, das Horaz über alles liebte und oft beschrieben hat; das Beispiel ist also von Sidonius geschickt ausgewählt. Er, Sidonius, wolle aber dem Wunsch des Lampridius nachkommen, wenngleich dieser im Hinblick auf das poetische Produkt des Sidonius keine allzu strengen Maßstäbe ansetzen dürfe. c. Autoreferenz vermittels eines poetologischen Vergleichs (Fisch im Netz) Die Einschränkung seiner poetischen Leistungsfähigkeit begründet Sidonius folgendermaßen: nosti enim probe laetitiam 53 poetarum, quorum sic ingenia maeroribus ut pisciculi retibus amiciuntur; et si asperum aut triste, non statim sese poetica teneritudo a vinculo incursi angoris elaqueat.
Hier markiert Sidonius deutlich die Schreibblockade des unglücklichen Dichters im vertrauten Bild des Fisches, der sich im tödlichen Netz verfangen hat54. Aber der Poet hebt gleichzeitig hervor, daß dieser lähmende Zustand nicht ewig dauern muß. Er sagt nämlich »nicht sofort« (non statim) und deutet damit an, daß der Dichter die eigentlich geisttötende Bedrohung durch äußeres Unglück nach einer gewissen Zeit überwinden und wieder zu seiner Profession zurückkehren kann. Und tatsächlich demonstriert Sidonius noch in demselben Brief seine Fähigkeit, über den Schock des Güterverlustes hinwegzukommen, indem er seinem Schreiben ein umfangreiches Gedicht einfügt, das immerhin 59 Verse enthält55 und vordergründig im Stile 52 Iuv. 7, 59b–62: […] neque enim cantare sub antro / Pierio thyrsumque potest contingere
maesta / paupertas atque aeris inops, quom nocte dieque / corpus eget: satur est, cum dicit Horatius ›Euhoe‹; zum Kontext (›Der arme Poet‹) s. Schmitz (2000), 95f.; zur horazischen Perspektive (carm. 2, 19: Bacchum in remotis, 5–8) s. Kießling/Heinze 1, 240f. z. St. (»Der Anblick des Gottes hat den Dichter zu seinem Thiasoten gemacht: er stimmt in den bakchischen Jubelruf eŒoÿ ein er fühlt sich des Gottes voll«) sowie Nisbet/Hubbard II 314–331, insbes. 319f. Horaz stellt sich bekanntlich des öfteren humorvoll, auch auf drastische Weise, als epikureischen Genußmenschen dar, z.B. in epist. 1, 4 (an Tibull), v. 15f.: me pinguem et nitidum bene curata cute vises, / cum ridere voles, Epicuri de grege porcum. 53 Vgl. Catull. 68, 22 (oben in Anm. 46 ausführlich zitiert): perierunt gaudia nostra. 54 Zum Bildkomplex Fisch, Netz, Schlinge s. Grinda (2002), 1205–1209, mit unserer Stelle auf S. 1206. 55 Im Versmaß des phalaecaeischen Elfsilblers, der hier doppeldeutig als Metron des Lobgedichtes oder eines Schmähgedichtes interpretiert werden kann. Kaufmann (1995), 136 setzt
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eines Panegyricus die Ausdehnung der Herrschaft des Königs Eurich preist, der in v. 42 persönlich angeredet wird. Im Unterschied zu Frank-Michael Kaufmann56 und anderen glaube ich nicht, daß es sich lediglich um die üblichen – wenngleich hier widerwillig abgefaßten – Schmeicheleien handelt, sondern um eine verstellte Rede, wie sie die Rhetorik lehrte 57. Formal gestaltet Sidonius diese poetische Lobrede als eine übertrieben lange Aufzählung der Gesandten aus aller Herren Länder, die dem König botmäßig sind oder seinen Beistand auf der Grundlage eines Bündnisvertrages erflehen, wobei zuletzt sogar der Perserkönig höchstpersönlich auftritt, der durch die Zahlung von Schutzgeldern (v. 47: foedere sub stipendiali) eine Allianz der Westgoten mit Konstantinopel verhindern wolle – ein völlig phantastischer Einfall, den nur ein plumper ›Barbar‹ wie Eurich als Lob auffassen wird, so suggeriert uns Sidonius zwischen den Zeilen (v. 45–54). Um noch ein durch die unmäßige Übertreibung satirisch wirkendes Element herauszugreifen: Für die Schilderung der grimmigen Germanenhäuptlinge, die sich nach ihren Niederlagen gegen Eurich zum Zeichen ihrer Unterwerfung die Köpfe kahl geschoren haben, wendet Sidonius insgesamt acht Verse auf (v. 23–30). Jene bunte Masse von Bittstellern58 zögert, wie Sidonius klagt, seinen Aufenthalt am Hofe weiter hinaus (v. 55). Wichtig erscheint mir hier noch ein Punkt, der bisher scheinbar übersehen worden ist: Indem Sidonius die übrigen Germanenvölker (bzw. die Ostgoten) als von dem Westgoten Eurich Besiegte und demütig Flehende vor Augen stellt, denkt der Leser/Hörer unwillkürlich an jenes berühmte Stoßgebet des Tacitus angesichts der prekären Lage des Römischen Reichs, die Germanen möchten sich doch nur weiterhin im Bruderkrieg gegenseitig aufreiben (Germ. 33,2). In diesem oft verkannten Pseudo-Panegyricus 59 apostrophiert Sidonius schließlich in Anspielung auf die erste Ekloge Vergils den Adressaten Lampridius als Tityrus 60 (so heißt dort der Rinderhirt, hinter dessen Maske sich gemäß der Aussagen antiker Kommentatoren Vergil verbirgt und dem »der göttliche Jüngling« Octavian sein Landgut zurückerstattet hat) und bezeichnet sich selbst mit impliziter Spitze gegen den König Eurich als
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die »magere(n) 59« Hendekasyllabi in Gegensatz zu den drei wesentlich umfangreicheren Kaiser-Panegyrici und sieht darin schon ein Zeichen für einen »gewissen Widerwille(n)«. Kaufmann (1995), 131–137 hat das eingelegte Poem übersetzt und knapp interpretiert. Zum Topos von der verstellten Rede (lÏgoc ‚sqhmatismËnoc), die u.a. auch dem Selbstschutz (Çsfàleia) des Redenden dient: Demetr. herm. 287–298 (Rhet. Gr. Spengel III, Leipzig 1856, 323–326, bes. 323, Z. 11); dazu Lucia Calboli Montefusco (2003), 117f. (diesen Hinweis danke ich Marcus Heckenkamp, Jena). Unter ihnen auch wieder der Burgundio septipes (v. 34) aus carmen 12. La Penna (1995), 213 will unter Vergleich mit dem Panegyricus Messallae daran festhalten, daß »il panegirico non è del tutto assurdo«. So auch Kaufmann (1995), 137 mit Anm. 354, wo er die unterschiedlichen Meinungen zur Historizität des Eurich-Lobes referiert. Die Anrede Tityre findet sich schon in v. 12, so daß der Panegyricus durch die Bezüge auf die erste Ekloge gerahmt wird.
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unglücklichen Meliboeus, der bei Vergil die im Bürgerkrieg Enteigneten repräsentiert (v. 56–59). Die anfänglich brüske Ablehnung des Ansinnens des Freundes, ihm ein Gedicht zu entlocken (eine Art recusatio, also Sensibilitäts-Eskapismus; vgl. die Wendung poetica teneritudo), verwandelt sich also unter der Hand des Dichters unversehens zu einer satirisch-ironischen Attacke, wenngleich im Mantel einer laudatio auf den barbarischen König (Zwangs-Eskapismus). Ähnlich wie sich Ovid (ohne Grund) darüber beklagt, daß seine poetische Kraft in der barbarischen Fremde nachgelassen habe, so hebt auch Sidonius (ebenfalls ohne Grund) hervor, daß das ihm ›abgezwungene‹ Gedichtchen keinen Vergleich mit der Dichtkunst des Lampridius aushalte. 6. Zusammenfassung und Fazit: Sidoniopolis 61 Die zahlreichen Referenzen auf Catull, Vergil, Horaz, Ovid sowie Juvenal und das mit diesen Allusionen verbundene Aufleuchten der buntesten Gattungsfarben enthüllen die geistige Heimat dieses Dichterbischofs und Epistolographen, der sich in der Fluchtburg seiner Poesie (man möchte sie Sidoniopolis nennen62) wesenhaft als eine intertextuelle Persönlichkeit darstellt. Sidonius’ dichterisches Ich flüchtet sich in die poetische Tradition der imperialen Goldzeit. Diese verknüpft er in seinen großen Kaiserpanegyriken aufs engste mit dem idealisierten Bild einer »Roma Aurea et Aeterna« 63. Freilich nahm Sidonius als Politiker und Kleriker durchaus wahr, daß 61 Neben die mitunter resignative Selbstdarstellung des Sidonius kann man die trübe Stimmung
eines Gedichts von Gottfried Benn stellen, das den Titel trägt »Verlorenes Ich«, insbes. dessen zweite Strophe: »Verlorenes Ich […] Die Tage geh’n dir ohne Nacht und Morgen, / die Jahre halten ohne Schnee und Frucht / bedrohend das Unendliche verborgen –, / die Welt als Flucht« (Hillebrand [1990], 309); ein noch düstereres Bild der Epoche als Sidonius zeichnet Salvian von Marseille (De gubernatione Dei), der die Lasterhaftigkeit seiner Zeit als Ursache für das Unglück und die Leiden seiner Landsleute ansieht; zu den verschiedenen Theorien bezüglich des Zerfalls des römischen Reiches s. Demandt (1984), insbes. 54f. (zur Reichsidee des Sidonius) sowie dens. 1989, 470–492 (Kap. IV: Deutung). 62 Vgl. zur Metaphorik der Dichtung als einem möglichen ›Weltgebäude‹ J.J. Breitinger (Critische Dichtkunst [1740]), zitiert von Jeong-Taeg Lim (1988), 45f.: »[…] denn was ist Dichten anders, als sich in der Phantasie neue Begriffe und Vorstellungen formieren, deren Originale nicht in der gegenwärtigen Welt der würcklichen Dinge, sondern in irgend einem andern möglichen Welt-Gebäude zu suchen sind. Ein jedes wohlerfundene Gedicht ist darum nicht anders anzusehen, als eine Historie aus einer andern möglichen Welt: Und in dieser Absicht kömmt auch dem Dichter alleine der Name […] eines Schöpfers, zu, weil er nicht alleine durch seine Kunst unsichtbaren Dingen sichtbare Leiber mittheilet, sondern auch die Dinge, die nicht für die Sinnen sind, gleichsam erschaffet, das ist, aus dem Stande der Möglichkeit in den Stand der Würcklichkeit hinüberbringet, und ihnen also den Schein und den Nahmen des Würcklichen mittheilt«. 63 Hierzu Günther (1982).
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dieses Ideal in der Realität immer mehr erschüttert wurde64. Christliche Themen spielen in seinem poetischen Werk65 jedoch nur eine Nebenrolle, weil er persönlich zu einer Zeit, in der sich das Christentum (auch unter den sogenannten Barbaren) längst zur Staatsreligion aufgeschwungen hatte 66, das überkommene Bildungserbe, mit dessen Hilfe er sich als Individuum wesentlich definiert fühlte, als die entscheidende Schnittstelle zwischen Kultur und Barbarei betrachtete. Eine noch gesteigerte Rhetorik und Realitätsferne offenbart Sidonius in seinem manierierten, bisweilen nicht ganz zu Unrecht kritisierten Prosa-Stil: Die teils mit Attributen überladenen Junkturen und komplizierten Perioden, teils aber auch die ›zierliche‹ und ›preziöse‹ Sprache verrätseln die Prosa des Sidonius in einem bis dahin ungekannten Ausmaß. Hierdurch versucht Sidonius über einen bloßen Klassizismus hinaus die alten Meister zu überbieten, verliert aber dabei weitgehend den Konnex mit der real gesprochenen und geschriebenen Prosa seiner Zeit, mag auch dieser ›barockale‹ Spätstil insbesondere in Gallien unter dem Einfluß des Asianismus und der Zweiten Sophistik sehr verbreitet gewesen sein67. Trotz aller Künstelei oder vielleicht gerade deswegen gilt er seinen Zeitgenossen, aber auch in den folgenden Jahrhunderten68, insbesondere seinen gallischen und französischen Dichternachfahren69, als großer Stilist und bedeutender Poet, offenbar weil seine Rezipienten sich ebenso gerne und aus ähnlichen Gründen in seine Sidoniopolis flüchteten.
64 Zu dieser Spannung zwischen Realität und Rhetorik zuletzt Amherdt (2004), 387 (»Conclu-
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sion«): »On présente des anti-modèles – qui n’ont peut-être jamais existé –, jusqu’à perdre le contact avec une réalité dont le lecteur a de la peine à distinguer les contours«. Kaufmann (1995), 104f. erkennt, daß Sidonius im Unterschied zum ungebrochenen Romoptimismus eines Rutilius Namatianus sein Rombild »der jeweiligen aktuellen politischen Situation im Reich« anpaßt. Die Briefe dagegen enthalten etliche wertvolle Nachrichten über das kirchliche Leben in der Provinz; s. dazu Delhey (2002). Zwar waren die Goten Arianer und damit Häretiker, aber ausgerechnet bei den Burgundern vollzog sich in der Zeit des Sidonius, ausgehend vom Königshaus, ein Wechsel des Bekenntnisses vom Arianismus zum Katholizismus. Dazu knapp, aber gut in Auseinandersetzung mit Loyen: Norbert Delhey (1993), 20–29. Zum bedeutenden Einfluß, den Sidonius als Satiriker auf das Mittelalter ausgeübt hat s. Blänsdorf (1993), mit Lit. auf S. 122 Anm. 1–4, aber mit einer für Sidonius ungünstigen Gegenüberstellung zu Horaz auf S. 131. So scheint etwa Verlaines Sonett Langueur die Endzeitstimmung und das Barbarenbild des Sidonius zu revozieren (v. 1f.): »Je suis l’empire à la fin de la décadence, / qui regarde passer les grands barbares blancs …« (s. dazu Ley [1984], 205); zu Rimbaud s. oben (Anm. 33).
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De-Konstruktion der Ich-Identität in Augustins Confessiones Therese Fuhrer (Berlin)
Mit seinem erkenntnistheoretischen Konzept der Verinnerlichung gilt Augustin als einer der Vorläufer von Descartes’ subjektivistischer Argumentation: Für Augustin ist der Aufstieg zu Gott gleichbedeutend mit der Einkehr in ein Inneres in der Seele, in den »inneren Menschen« (homo interior ), den Sitz der Wahrheit (vera rel. 72). Durch die Wendung nach innen erlangt der Mensch unerschütterliches Wissen von der Selbstexistenz, das unabhängig von den Täuschungen durch die Außenwelt und die sinnliche Wahrnehmung besteht, weil sein Geist es nicht durch die Sinne, sondern durch sich selbst erreicht. Im Folgenden soll es jedoch nicht um die philosophische Diskussion der Subjektivität in den augustinischen Schriften gehen. Vielmehr soll gezeigt werden, dass Augustin das Konzept der Verinnerlichung in der autobiographischen Erzählung der Confessiones dazu benutzt, um die Darstellung von Fakten – Ereignisse aus dem Leben des schreibenden Autors – zu authentifizieren1. Die dreizehn Bücher Confessiones haben bereits zu Augustins’ Lebzeiten ein großes Echo hervorgerufen, wenn wir seinen eigenen Aussagen glauben wollen 2. Nach dem Tod ihres Autors, der zu einem prominenten Streiter für die Lehre der christlichen Staatskirche geworden war, wurden sie in erster Linie als Dokument für seine Biographie gelesen 3, und diese selektive Lektüretradition hat sich bis heute fortgesetzt. Fasziniert hat offenbar immer wieder die schonungslose Selbstanalyse in den autobiographischen Büchern 1–9 und im zweiten Teil von Buch 10, die Selbstentblößung des schreibenden Ichs, die Analyse des eigenen Tuns und Denkens, der 1 Die Confessiones gelten mit ihrer »kontinuierliche[n] Darstellung eines Lebenszusammen-
hangs« und der »Reflexion des Schreibenden auf das eigene Ich« als »Leitparadigma« in der Geschichte der Autobiographie; Wagner-Egelhaaf (2000), 107. 2 Retractationes 2,6,1 (aus den Jahren 426/427); De dono perseverantiae 53 (um 429/430); vgl. auch conf. 10,3–6. 3 So von Possidius, der mit der Vita Augustini die Confessiones fortsetzen wollte; vgl. Courcelle (1963).
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eigenen Fehler, der Eitelkeiten, des Ehrgeizes, der Willensschwäche, der sexuellen Neigungen. Vergleichbares ist zumindest in der abendländischen Literatur vor Augustin nicht bekannt, oder wie Karl Jaspers sagt: »Nie zuvor hat ein Mensch so vor seiner eigenen Seele gestanden« 4. Dabei ist der Autor eben nicht irgendein Mensch, sondern der Kirchenvater, der Heilige, der Bischof von Hippo Regius, der Begründer des Augustinerordens, jedenfalls aber eine historisch fassbare und äußerst wirkungsmächtige Persönlichkeit. Ich möchte im Folgenden in einem ersten Teil eine kurze narratologische Analyse der Confessiones vornehmen; in einem zweiten Teil möchte ich der Funktion der Selbstdarstellung und der Bekenntnishaltung dieses Texts nachgehen, und im dritten und letzten Teil möchte ich die Frage stellen, wie authentisch »Bekenntnisse« eines schreibenden Ichs überhaupt sein können bzw. wie authentisch ein Autor über sich selbst sprechen kann.
1. Versuch einer narratologischen Analyse Im ersten, autobiographischen Teil (den Büchern 1–9) der Confessiones werden in Form einer mehr oder weniger zusammenhängenden Ich-Erzählung das Leben und die Reflexionen des Akteurs ›Augustin‹ dargestellt, der die Hauptrolle spielt5. Gemäß der Terminologie Gérard Genettes kann man in einem solchen Fall von einer autodiegetischen Erzählung sprechen6. Dabei ist die Figur des Ichs im Text – das erzählte Ich – vom Erzählerstandpunkt aus gesehen in der Vergangenheit handelnd dargestellt (nach unserer Datierung in den Jahren 354–387), steht also in einer zeitlichen Distanz von mindestens zehn Jahren zum autodiegetischen Erzähler, dem Erzähler- oder Sprecher-Ich, das mit dem Bischof von Hippo identifiziert werden will. Diese zeitliche Distanz zwischen erzähltem Ich und Erzähler-Ich soll wahrgenommen werden. Sie wird in Buch 10 aufgehoben, in dem das Sprecher-Ich ausdrücklich sich selbst in der Gegenwart, als Bischof, der inzwischen als Mittbis Endvierziger zu denken ist, zum Gegenstand der Ausführungen macht 7. Hier werden also die beiden Diskurse des erzählten und des erzählenden Ichs zusam-
4 Jaspers (1967), 109. 5 Um die Figur des Protagonisten der Selbstdarstellung vom historischen Autor Augustin zu
unterscheiden, wird im Folgenden die Figur in der Erzählung (der Akteur) mit gnomischen Häkchen ausgezeichnet (›Augustin‹). – Zur autobiographischen Erzählform der Confessiones und ihrer Intention vgl. Fuhrer (2004), 122–128; vgl. auch Zimmermann (2005), 237–249 (mit Literatur). 6 Genette (1998), 174–181. Vgl. auch Lejeune (1994), 16–19. 7 Conf. 10, 4: Der Erzähler stellt sich jetzt dar in ipso tempore confessionum mearum (»in eben der Zeit […] wo ich meine Bekenntnisse niederschreibe«).
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mengeführt8. Mit Buch 11 beginnt die Darstellung der Auseinandersetzung des Ichs mit dem Text von Genesis 1 und 2, dem ersten Schöpfungsbericht, wobei auch hier das Ich das eigene Tun – hier nun die Interpretationsversuche – ständig reflektiert und klar als seine Lektüren neben mehreren möglichen verstanden wissen will9. Auch die drei exegetischen Bücher der Confessiones (11–13) haben deutlich subjektiven Charakter, auch wenn die subjektive Interpretation durch ihren Bezug auf die göttliche Wahrheit, die hinter dem Bibeltext steht, immer wieder objektiviert wird. Für uns moderne Augustin-LeserInnen ist es selbstverständlich, dass wir zwischen dem historischen Autor und dem Ich im Text unterscheiden. Wir wissen um den Konstruktcharakter sowohl des erzählten (oder: artikulierten) Ichs wie auch des erzählenden (oder artikulierenden/sprechenden) Ichs. Wir hüten uns davor, in die biographische Falle zu tappen und aufgrund autobiographischer Aussagen ohne die gebotene Vorsicht – oder überhaupt – auf den historischen Autor und seine Intention zu schließen. Nun macht aber der Text der Confessiones an mehreren Stellen deutlich, dass er als ein Selbstzeugnis des historischen Autors gelesen werden soll oder will, dass wir das im Text dargestellte Ich mit dem Autor identifizieren sollen. Bereits der sicher genuine Titel Confessiones, im Deutschen meist übersetzt mit »Bekenntnisse«, der sowohl als Bekenntnisse zum Glauben an Gott wie auch als Bekenntnisse (»Geständnisse«) der eigenen Fehlbarkeit verstanden werden kann10, verspricht geradezu einen Einblick in das Leben und die Gedanken dieser Persönlichkeit und eine Stellungnahme, ein Bekennen zu einem bestimmten So-Sein und So-Denken. Da zum Wort Confessiones ein Genitivattribut fehlt, dürfte bereits der antike Leser bzw. die Leserin aus dem Titel geschlossen haben, dass der Autor des Buches auch das Subjekt des Bekenntnisberichts sein würde, dass die Confessiones die Selbstbekenntnisse und Selbstzeugnisse des Bischofs von Hippo seien 11. Auch im Text selbst wird deutlich gemacht, dass das Ich im Text mit dem Bischof identifiziert werden soll 12, und der ganze Duktus der Rede lässt auf eine große Unmittelbarkeit der Aussagen schließen: Immer wieder wird die autobiographische Erzählung durch auktoriale Kommentare unterbrochen, mit denen der Ich-Erzähler die Darstellung seiner eigenen Lebensgeschichte in den Büchern 1–9 aus der Perspektive der eigenen Gegenwart heraus kritisch reflektiert, meist in der Anrede an Gott. Der Text gene8 9 10 11
Vgl. dazu Genette (1998), 181f. Vgl. dazu Fuhrer (2008), 376–381. Feldmann (2004), 20–23. Bereits im Titel wird also der autobiographische Pakt zwischen Verfasser und Leser geschlossen, die Identität von Autor, Erzähler und Protagonist garantiert dem Leser den faktualen Status des Textes; dazu Lejeune (1994), 13–51, bes. 33. Das Bekennen gehört zu den für das autobiographische Schreiben typischen Sprechhandlungen; dazu Wagner-Egelhaaf (2000), 56–58. 12 Conf . 11,2.
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riert den Eindruck in uns Leserinnen und Lesern, dass die Ich-Erzählung ständig auf mögliche Abweichungen von den tatsächlichen, nicht nur äußeren Ereignissen, sondern auch dem inneren Geschehen, d.h. den Gedanken, Wünschen, Trieben, Ängsten usw. hin überprüft würde und dass diese Abweichungen laufend korrigiert würden. Dieser Effekt wird verstärkt durch die minutiöse Analyse der eigenen Fehlbarkeit und der Schwächen. Der Text vermittelt tatsächlich den Eindruck, als sei man als LeserIn ZeugIn eines sonst streng vertraulichen Beichtgesprächs. Eine mit den Confessiones vergleichbare Form gibt es nicht in der antiken Literatur. Autobiographische Aussagen finden sich in literarischen Texten selten und in unterschiedlichen Funktionen, etwa in der Dichtung in Form einer Sphragis oder in Texten mit apologetischer Funktion. Offenbar ließen sich in der klassisch-antiken Literatur Aussagen, die den Eindruck erwecken wollen, dass sie der historische Autor oder Sprecher über sich selbst macht, nur in bestimmten Textsorten oder an durch Konvention bestimmten Stellen in einem Text anbringen. Einen möglichen Grund für diese Zurückhaltung bezüglich autobiographischer Aussagen finden wir in den methodischen Äußerungen über die Form der Ich-Darstellung historiographischer Texte. Da wird das Problem diskutiert, dass die Selbstdarstellung dem Eindruck der Objektivität abträglich sei. So wollte beispielsweise Cicero, dass andere Autoren seine Verdienste als Konsul in einem Geschichtswerk würdigen sollten: Dies sei glaubwürdiger als ein Bericht in der Ich-Form; man könnte ihn sonst der Selbstverherrlichung (oder auch zu großer Bescheidenheit) bezichtigen 13. Caesar stellte seine militärischen Erfolge in seinen Commentarii in der Er-Form dar, was als Objektivierungsstrategie verstanden werden kann14. Dagegen wählt Augustin nun also die Ich-Form in einer ganze 13 Bücher umfassenden Schrift und davon in 10 Büchern die autodiegetische Erzählform (die Ich-Erzählung, in der das Ich die Hauptrolle spielt). Die Subjektivität der Darstellung wird noch dadurch betont, dass auf keine Zeugen verwiesen wird, die die Erzählung beglaubigen könnten, außer auf Gott, mit dem das SprecherIch immer wieder in Dialog tritt. Die Ich-Perspektive wird durchweg beibehalten: Immer ist es das Ich, hinter dem der historische Augustin gesehen werden soll, das spricht, denkt und handelt und das eigene Handeln kommentiert.
13 Cicero, fam. 5,12,8f. 14 Vgl. dazu Flach (1992), 106f.; Rüpke (1992), bes. 204–208.
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2. Die Frage nach der Funktion der Selbstdarstellung und der Bekenntnishaltung Ich denke, dass es sich bei dieser betont subjektiven Schreibweise um eine Authentifizierungsstrategie handelt: Der augustinische Text will gerade dadurch objektiv und authentisch wirken, dass nicht beliebige Ereignisse, sondern ganz persönliche, teilweise intime Erfahrungen dargestellt werden, innere Kämpfe, persönliches Versagen, unlautere Handlungen, ein Diebstahl, sexuelle Erfahrungen und Wünsche. Keine der Ich-Figuren dieser Darstellung, sei es das erzählte Ich, sei es der Erzähler, sei es das reflektierende Ich, wird idealisiert, nie ist das Ich ein Held und schon gar kein Heiliger. Der Text signalisiert ein ständiges Bemühen, die erzählten Handlungen des Protagonisten (des Ichs) nicht zu beschönigen, sondern auf die wahren Motive, Absichten und im Innersten verborgen wirkenden Triebe hin zu analysieren. Als berühmtes Beispiel sei die Episode des Birnendiebstahls genannt: Hier deckt das Erzähler-Ich schonungslos auf, dass das erzählte Ich – ›Augustin‹ als halbwüchsiger Junge – die Birnen deswegen gestohlen habe, weil es im Wettbewerb mit den Gleichaltrigen (der peer group) schlicht Böses tun wollte. Ein weiteres Beispiel: Zu Beginn des zweiten Buches schildert das Erzähler-Ich, wie das erzählte Ich durch seine Lust auf sexuelle Abenteuer sittlich verwildert sei (auch wenn von der aktuellen Umsetzung der Lust gar nicht die Rede ist). Ein drittes Beispiel: In seiner Selbstanalyse in Buch 10 legt das Erzähler-Ich Zeugnis ab von seinen nächtlichen Phantasien und feuchten Träumen. Man könnte – mit Bezug auf Morton Bloomfields Begriff des »authenticating realism« – von einem »psychologischen Realismus« der Erzählung sprechen 15: Die Erzählung erhebt den Anspruch, die Gedanken, Handlungsmotive, Gefühle und Triebe realistisch zu beschreiben und einen realitätsnahen Einblick in die Tiefen der Psyche des dargestellten Subjekts zu geben (eine Art Reality-TV). Diese Intimisierung der Darstellung verstehe ich also als Authentifizierungsund damit Beglaubigungsstrategie. Ein ähnliches Phänomen lässt sich in der Schreibweise von Memoiren prominenter lebender Persönlichkeiten wie beispielsweise François Mitterands oder Bill Clintons beobachten, deren Lebensführung in der Öffentlichkeit wegen bestimmter Vorfälle bekannt und umstritten ist, deren Ich-Inszenierung in der Folge nur dann glaubwürdig wirkt, wenn ihr Bericht auch Bekenntnischarakter hat: Je ausgeprägter die Bekenntnishaltung, desto authentischer und glaubwürdiger wirkt die Darstellung. Der Verdacht der fehlenden Objektivität der Ich-Aussagen und der Beschönigung wird durch ein hohes Maß 15 Vgl. dazu Rothfield (1981), bes. 219. Vgl. auch Fludernik (2006), 66f. zu Ian Watts Begriff
des stilistischen und erzähltechnischen Realismus, mit dem im Leser/der Leserin die Illusion evoziert wird, dass die Erzählung die Wirklichkeit abbilde.
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an Intimität, die sich bis zur Selbstentblößung steigern kann, aufzuheben versucht. Die inszenierte punktuelle Ehrlichkeit macht uns Leserinnen und Leser eher geneigt, die ganze Erzählung für glaubhaft zu halten. Kommen wir zurück zu den Confessiones. Angesichts der massiven Authentizitäts-Signale dieses Textes stellt sich nun eben die Frage nach seiner Funktion im lebensweltlichen Kontext: Warum stellt der Bischof von Hippo mehr als ein Jahrzehnt nach seiner Hinwendung zum katholischen Glauben seinen Weg bis zu diesem (Zeit-)Punkt in einer Erzählung dar, die er mit den genannten Signalen authentifiziert? Und warum gibt er sich – einige Jahre nach der Ernennung zum Bischof – als schwacher, elender Sünder und als skrupulöser Interpret des GenesisSchöpfungsberichts zu erkennen? Warum publiziert und verbreitet der historische Augustin eine solche Selbstdarstellung, die der zeitgenössischen Öffentlichkeit einen Blick in die Biographie, die Gedankenwelt und die Triebstruktur des schreibenden Autors und amtierenden Bischofs gewährt oder zumindest zu gewähren verspricht? Ich denke, dass die Wahl dieser literarischen Form durch den religionspolitischen Kontext zu erklären ist. Ich verstehe den Titel Confessiones in dem Sinn als »Bekenntnisse«, dass der historische Autor Augustin sich zu einem System philosophischer und theologischer Lehrsätze oder Axiome bekennt, zum orthodoxen christlichen Lehrsystem, zur fides catholica, der Lehre, die in der Staatskirche vertreten wurde und aufgrund von Konzilsbeschlüssen definiert war. Dass er dies nicht in Form eines theoretischen Traktats, sondern in einer in der antiken Literaturgeschichte einmaligen Form tut, lässt sich so erklären, dass dieses Lehrsystem ausdrücklich als Resultat einer intellektuellen Entwicklung verstanden werden soll, als Resultat intensiver Diskussionen, Verhandlungen, Selbstreflexionen, Zweifel und wiederholter Bibellektüren. Doch warum muss der Bischof von Hippo ein Bekenntnis zu dem Glauben, den er ja ohnehin ex cathedra vertritt, in dieser so markiert subjektiven Form einer Ich-Erzählung und Ich-Darstellung schriftlich publik machen? Die Confessiones werden in der neueren Forschung gerne als Protreptikos verstanden in dem Sinn, dass der Bischof mit der Darstellung seines geistigen Werdegangs und seiner Bekehrung zum katholischen Glauben und zum mönchischen Leben andere Leser zu demselben Schritt anleiten wollte 16. Allerdings ist dieser Weg ja doch mit Tränen und Leid gepflastert, und der Text verspricht kein geläutertes Leben im Frieden mit Gott und sich selbst, sondern eine ständige Auseinandersetzung mit der eigenen Fehlbarkeit, und an zentraler Stelle, am Ende von Buch 10, steht das Eingeständnis der eigenen miseria. Ich denke deshalb vielmehr, dass der augustinische Text auch eine dokumentarische Funktion zu erfüllen hat
16 So Feldmann (2004), 32–50.
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und zwar gerade durch seine konsequent subjektive Färbung und die Betonung der eigenen Schwachheit. Der erste Teil der Erzählung (Bücher 1–9) enthält die Geschichte eines begabten Kindes und jungen Mannes, der im Alter von achtzehn Jahren sein Leben ändern will und auf der Suche nach der Wahrheit und Weisheit sich der manichäischen Lehre anschließt. Die Gemeinschaft der Manichäer war nach strengen Kriterien, ähnlich einer Sekte organisiert17. Die manichäische Religion war insbesondere für die gebildete Elite attraktiv, da sie sich zwar an der christlichen Lehre orientierte, jedoch explizit einen höheren intellektuellen Anspruch erhob. Die Manichäer stützten sich auf die Lehrschriften Manis und bestimmte Schriften des Neuen Testaments; das Alte Testament lehnten sie ganz ab, insbesondere die Schöpfungsgeschichte. Mit ihrer explizit dualistischen Theologie – der Annahme zweier gegensätzlicher göttlicher Prinzipien – lieferten sie eine rational begründete Antwort auf die alte Frage, wie die Existenz des Bösen in der Weltordnung zu erklären sei, die der orthodoxen christlichen Lehre von einem einzigen, allmächtigen und nur guten Schöpfergott große Probleme bereitete. Die Elite der Manichäer (die electi) lebten in strenger Diät und sexueller Askese, um sich von den Elementen des Reichs der Finsternis und des Bösen zu reinigen und zur Erkenntnis der eigenen Göttlichkeit (Gnosis) gelangen zu können. In der Fortsetzung wird beschrieben, wie der junge ›Augustin‹ diese Lehre immer kritischer reflektiert und sich nach neun Jahren von ihr löst und sie aufs Schärfste angreift, um sich schließlich mit Haut und Haar dem katholischen Glauben zu verschreiben. Buch 10 zeichnet ihn als zwar asketisch lebenden, aber der göttlichen Gnade bedingungslos unterworfenen Menschen – weit entfernt von dem Zustand der gnostischen Erleuchtung, den die Manichäer ihren electi als Folge des asketischen Lebens versprechen. Die Bücher 11–13 sind ein Bekenntnis zum Alten Testament und zum allmächtigen Schöpfergott, also zu einer monistischen Theologie, und markieren damit eine Gegenposition gegen den manichäischen theologischen Dualismus und die manichäische Kritik am biblischen Schöpfungsbericht. Ich bezeichne die Confessiones also insofern als Text mit einer dokumentarischen Funktion, als hier in drei je unterschiedlichen Komplexen von Ich-Erzählungen und Ich-Aussagen dokumentiert wird, welche Position das schreibende Ich, der Bischof von Hippo, in theologisch-philosophischen, praktisch-ethischen und biblisch-exegetischen Fragen vertritt bzw. wie – auf welchem Weg – er zu seiner gegenwärtigen Position gelangt ist, und diese Position wird deutlich nicht nur als katholisch, sondern auch als anti-manichäisch gekennzeichnet. Das schreibende Ich, der Bischof von Hippo, soll eindeutig als von der manichäischen Religion zum katholischen Glauben bekehrter Christ identifizierbar sein. 17 Die folgenden Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf Lieu (1992), 151–191; van Oort
(1994).
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Die Manichäer waren am Ende des 4. und Anfang des 5. Jhs. eine prägende Gruppe im öffentlichen Leben des westlichen Nordafrika. Als Augustin seine kirchliche Ämterlaufbahn zunächst als Priester antrat und dann als Hilfsbischof und schließlich als Bischof fortsetzte, gehörten sie neben den Donatisten zu den stärksten Gegnern der Staatskirche, zumal ihre Exponenten, die sich auch Bischöfe nannten, hoch gebildet waren, und ihre Lehre dementsprechend in der intellektuellen Führungsschicht auf große Resonanz stieß. Weder ihnen noch den Donatisten war entgangen, dass Augustin selbst jahrelang – nach eigenen Angaben mindestens neun Jahre lang – manichäischer Laie gewesen war, dass er mit führenden Mitgliedern dieser Gemeinschaft in Karthago, Rom und Mailand enge Kontakte gepflegt hatte und mit einigen auch – weiterhin – freundschaftlich verbunden war. Er hatte offenbar selbst auch missionierend für diese Lehre gewirkt und Leute aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis für sie gewinnen können18. Augustin hatte also eine Biographie, die ihm durchaus zum Vorwurf gemacht werden konnte. Tatsächlich finden sich bereits in Augustins’ Schriften aus den ersten Jahren seines Bischofsamts Hinweise, dass seine Gegner ihm die manichäische Vergangenheit vorhielten. Der Primas der Kirchenprovinz Numidia wollte ihn deshalb zuerst nicht einmal zum Priester weihen19. Die Donatisten bezichtigten ihn auch noch, als er Bischof war, des Kryptomanichäismus 20. Manichaeus war im religionspolitischen Diskurs des vierten und fünften Jahrhunderts. zu einem regelrechten Schimpfwort geworden, das immer dann vorgebracht wurde, wenn ein Gegner einen zu strengen Askesebegriff vertrat oder einer dualistischen Erklärung der Sünde oder des Bösen bezichtigt werden konnte21. Bereits Augustins’ Schriften aus den Jahren unmittelbar nach seiner Taufe hatten klar die Zielsetzung, seine Position in Abgrenzung von den Manichäern neu zu definieren, und die Reihe der antimanichäischen Traktate setzt sich fort bis ins erste Jahrzehnt des fünften Jahrhunderts 22, bis noch fast zwanzig Jahre nach seiner Taufe und zehn Jahre nach Antritt des Bischofsamts. Der Bischof von Hippo musste sich also offenbar als Amtsträger der Staatskirche von seiner langen nicht-katholischen Vergangenheit distanzieren. In dieser Situation scheint sich der rhetorisch brillante und schreibgewandte Bischof von Hippo dazu entschlossen zu haben, neben den theoretischen polemischen Trakta18 So die Adresssaten von Contra Academicos und De vera religione. Manichäer ist auch der
Adressat von De utilitate credendi, Honoratus. 19 Contra litteras Petiliani 3,19; Contra Cresconium 3,92. 20 Dazu Courcelle (1968), 238–245. 21 Dazu van Oort (1991), 199–201. Das Schimpfwort »Manichäer« blieb das ganze Mittelalter
hindurch in Gebrauch, und noch Luther, Melanchthon und Calvin wurde vorgeworfen, ein Manichaeus redivivus zu sein. 22 Sie schließt mit Contra Faustum Manichaeum (zwischen 404 und 406).
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ten ein literarisches Experiment zu wagen, in dem er seine Auseinandersetzung mit der manichäischen Lehre, seine Abkehr von ihr und seine gegenwärtige Position in Form von Bekenntnissen dokumentierte23. Die zeitliche Distanz in der Erzählung von Buch 1–9 einerseits und Buch 10 andererseits markiert zusätzlich die Distanz zwischen der manichäischen Vergangenheit und der rechtgläubigen Position des schreibenden Autors. Augustins’ Selbstdarstellung und Selbstentblößung in den Confessiones hat jedoch wohl nicht allein Beglaubigungsfunktion, sondern dokumentiert auch ein Menschenbild, das klar als nicht-manichäisch identifiziert werden soll, exponiert also eine anti-manichäische Anthropologie. Die Vorstellung, dass allein strikte Askese, strenge Diät, totale sexuelle Abstinenz den Menschen zur Erkenntnis der eigenen Göttlichkeit bringen könnten, ist nicht vereinbar mit den Beobachtungen, die das Ich in den Confessiones macht: dass die menschliche Natur durch ihre Triebhaftigkeit selbst bei einer zölibatären Lebensweise immer wieder von dem Gebot der Mäßigung abgebracht wird, dass der Mensch immer wieder um Einsichten und Erkenntnisse mühsam ringen muss und dass auf der anderen Seite auch der einfache, sündige Mensch – nicht etwa nur der manichäische electus (die Elite) – zur Gotteserfahrung fähig ist, wenn Gott ihm die Gnade erweist und sich ihm offenbart. Die Confessiones zeichnen also – als publiziertes, d. h. in Abschriften in Umlauf gebrachtes Buch, das diese Informationen verbreitet – sozusagen den theologischen und konfessionellen Fingerabdruck des Bischofs von Hippo, mit dem dieser seine Identität als zur katholischen Lehre konvertierter Christ herausstellen will.
3. Wie authentisch können »Bekenntnisse« eines schreibenden Ichs sein? Mit meiner Erklärung der Funktion des Texts, die notwendigerweise auch Spekulationen über die Intention des schreibenden Autors enthalten, ist allerdings nicht bewiesen, dass die »Bekenntnisse« nicht doch authentisch sein können und die Authentizität durch die subjektive und intime Darstellung nicht nur konstruiert ist. Die Funktionalisierung von Selbstaussagen spricht ja nicht a priori gegen ihre Objektivität. Warum sollte die Offenheit in der Erzählung bloß Mittel zum Zweck sein und nicht doch ehrlich und authentisch? Warum sollte die ungewöhnliche Form der schonungslosen Selbstanalyse nicht doch einen zwar nicht direkten, aber doch im Rahmen der literarisierten Darstellung bestmöglichen Zugang zum Denken und Fühlen des schreibenden Ichs – zum denkenden und schreibenden Subjekt – geben können? Ist es vielleicht gerade mit der Form der Confessiones 23 Die antimanichäische Spitze der Confessiones betont auch van Oort (1994), 136f.
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einem Autor gelungen, sich selbst so zu beschreiben, wie er denkt und fühlt, also wirklich ist? Vielleicht geben die Confessiones also tatsächlich den »Fingerabdruck« des historischen Augustin wieder und vermitteln dadurch einen unverstellten Einblick in die Psyche des Kirchenvaters. Die Frage, ob es nicht doch eine schriftliche oder überhaupt in weitestem Sinn mediale Form gebe, mit der sich ein Subjekt so beschreiben bzw. medial darstellen kann, wie es ›wirklich ist‹, lässt sich ja ganz allgemein stellen und wurde insbesondere von den Dekonstruktivisten intensiv diskutiert und natürlich verneint. Gegenstand ihrer Diskussionen waren immer wieder auch Augustins’ Confessiones. Niemand anderer als Jacques Derrida hat mit dem augustinischen Selbstdarstellungsmodus experimentiert und ihn sozusagen an sich selbst getestet: in einem Text mit dem Titel Circonfession, Paris 1991 (Circonfession, Chicago 1993 in der Übersetzung von Geoffrey Bennington) 24. Der Text komplementiert den Versuch von Derridas Freund Geoffrey Bennington, in einer Schrift mit dem Titel Derridabase Derridas Gedanken systematisch (wie mit einem Computerprogramm) zu erfassen und adäquat darzustellen 25. Derridas Text Circonfession ist eine von den Autoren so genannte Periphrase zu Derridabase, die im Buch unten an der Seite gedruckt ist, und in der Derrida sich selbst zum Gegenstand der Ausführungen macht: Hier ist nun die Rede von seiner jüdischen Herkunft, von seiner Beschneidung (Circonfession soll an frz. »circoncision« bzw. engl. »circumcision« anklingen), von wichtigen Momenten in seinem Leben, von seiner Kindheit in der Rue d’Augustin in Algier, von seiner in Algerien im Sterben liegenden Mutter usw. Eingefügt sind auch einige Bilder aus Derridas Kindheit und aus späteren Lebensabschnitten. Der Text der Circonfession enthält somit sehr persönliche Selbstaussagen und ist auch in einem intimen Ton gehalten, der, wie mit ständigen Verweisen auf Augustins’ Confessiones deutlich gemacht wird, offensichtlich an den für diese charakteristischen Ton der Beichte und des Bekenntnisses im Gespräch mit Gott erinnern soll26. Dadurch, dass sich die Syntax immer wieder auflöst und die Selbstaussagen bisweilen wie ein unverständliches Gestammel wirken, verstärkt sich der Eindruck der Unmittelbarkeit. Derrida und Bennington selbst erklären dieses Nebeneinander von Benningtons systematischer und luzider Darstellung von Derridas theoretischem Denken auf der einen Seite (bzw. im oberen Teil der Druckseite) und von Derridas selbstentblößendem Gestammel auf der anderen Seite (bzw. unten an der Druckseite) wie folgt: Damit solle aufgezeigt werden, dass sich der Jacques Derrida in Derrida24 Dt. Zirkumfession, in: Bennington/Derrida (1994). 25 Vgl. dazu die Beiträge in Caputo/Scanlon (2005). 26 Derrida wendet sich an ein Du, das er »G.« nennt, was nach seinen eigenen Angaben
sowohl als »Geoffrey« (Bennington) wie auch als »Georgette« (Derridas Mutter) oder – im englischen Text – als »God« verstanden werden kann (soll?); vgl. dazu Caputo/Scanlon (2005), 4.
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base und der Jacques Derrida in der Circonfession unverbunden gegenüberstehen können, auch wenn es sich um die Darstellung des Denkens und der Gefühle ein und derselben Person handelt27. Derridas Text soll deutlich machen, dass auch intime Selbstaussagen nicht den ganzen Derrida authentisch abbilden können: Jede Ich-Aussage, selbst die Aussage »ich bekenne« (»je confesse«) stellt sich spätestens in dem Augenblick, in dem sie gemacht wird, zwischen ihr Subjekt und die Realität, in die hinein sie geäußert wird, und verliert damit ihre Authentizität 28. Deshalb kann eine con-fessio also immer nur eine circum-fessio sein29. Das Subjekt einer Ich-Aussage kann trotz größter Anstrengungen, seine eigenen Gedanken zu beschreiben, nicht autonom oder stabil bleiben, sondern wird im Moment der Aussage selbst – im Moment des Gesprochen- oder Geschriebenwerdens und im Moment des Rezipiert-Werdens – einer Veränderung unterworfen. Das Phänomen, dass ein Versuch, das eigene Denken mit größtmöglicher Authentizität in Sprache zu fassen, wegen der letztlich nicht herstellbaren Unmittelbarkeit immer misslingen wird, hat man auch – wiederum mit Bezug auf Augustin – mit dem Begriff »Parasubjektivität« zu fassen versucht 30: Die Aussagen, die eine Person über sich selbst macht, gehen im Prozess ihrer Veräußerlichung in Sprache immer bereits »neben« dem denkenden und sprechenden »Subjekt« her, sie bleiben parasubjektiv. Ich teile den extremen Sprach-Skeptizismus Derridas nicht. Dennoch denke ich, dass der historische, authentische Augustin in den Confessiones nicht durch den Inhalt der Selbstaussagen zu fassen ist: Es handelt sich um einen vollständig durchkomponierten, stilistisch ausgefeilten, hoch artifiziellen Text, der ein bestimmtes Augustin-Bild konstruiert, dessen Authentizität wir nicht überprüfen können. Der historische Augustin, als Mensch, als Mann, der diesen Text am Ende des 4. Jahrhunderts in Nordafrika verfasst hat, der dieses Augustin-Bild bzw. Selbstporträt produziert hat, ist uns aber gerade genau in diesem Produkt doch fassbar: durch die Schreibweise, durch die Machart dieses literarischen Produkts. Ich denke also sehr wohl, dass wir über den historischen Augustin in den Confessiones vieles 27 Auf die augustinischen Confessiones nehmen auch Derridas Schriften Glas oder L’otobiogra-
phie Bezug. 28 Vgl. dazu Caputo/Scanlon (2005), 5 bzw. Derridas eigene Äußerungen, zitiert in Caputo/
Scanlon (2005), 32 f. und 37f. (Confessions and Circumfession. A Roundtable Discussion with Jacques Derrida, moderated by Richard Kenney); Greisch (2004) 170–172; Schramm (im Druck). Zur Frage nach den Bedingungen für die »Authentizität« einer Darstellung vgl. auch Strub (1997), 7–17; Hügel (1997), 43–58. 29 Eine vergleichbare Skepsis gegenüber dem ›geschriebenen‹ Selbst der Confessiones äußert Jean-François Lyotard in dem unvollendet gebliebenen Werk La confession d’Augustin (Paris 1998); dazu Nagl-Docekal/Nagl (2003), 30–38. Vgl. auch Taylor (1994) zur ästhetischen Konzeptualisierung des Selbst bei Foucault u.a. 30 Radermacher (1985).
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erfahren, aber weniger durch die Erzählung seiner Erlebnisse und die Darstellung seiner geistigen Entwicklung – nicht einmal durch die schonungslose Darstellung der Schwächen, das Geständnis eines Diebstahls oder fleischlicher Begierden –, als vielmehr durch die Art und Weise, wie er schreibt, wie er mit der Technik der Selbstentblößung sein Lesepublikum lenkt, die Darstellung seiner Tränen und Schwächen gezielt einsetzt, um zu illustrieren, welches Menschenbild seiner Theologie zugrunde liegt. Zum Abschluss sei noch darauf hingewiesen, dass Augustin selbst über den Konstruktcharakter sprachlicher Äußerungen reflektiert hat. In den sprachtheoretischen Schriften (De dialectica, De magistro, De doctrina christiana), aber auch in den hermeneutischen Reflexionen in conf . 12 und anderswo vertritt Augustin eine Hermeneutik, die sich im Ansatz durchaus mit poststrukturalistischen Theorien vergleichen lässt: Ein Text nach ist Augustin ein organisiertes Zeichensystem, das für etwas steht, das aber nicht die Intention (sententia) des Autors abbilden kann31. Augustin selbst würde also wohl – wie Jacques Derrida – das sprachliche Konstrukt der Confessiones als Produkt menschlichen Unvermögens, sich selbst adäquat darzustellen, bezeichnet haben. Selbst wenn man ihn fragen könnte, ob gewisse Aussagen nicht doch der Wirklichkeit entsprechen würden, und wenn er die Frage bejahen und sagen würde: »Ja, das bin ich, Augustin« – selbst dann müssten wir entsprechend seinen eigenen sprachtheoretischen und hermeneutischen Äußerungen skeptisch bleiben.
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bzw. Zeichensysteme gibt (wie den Bibeltext), die auf eine Wahrheit (die göttliche Wahrheit) hinweisen können (weil der Bibeltext ja von göttlich inspirierten Autoren verfasst ist). Dazu Clark (1981); Schildgen (1994); Young (2004); Fuhrer (2008), 371–376 und 381–383.
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Wege in die Moderne Von Ariost über Dante zu Tasso Paul Geyer (Bonn)
Einleitung zum Begriff der Moderne und Thesen Mit dem Begriff »Moderne« ist hier ein Selbst- und Weltverhältnis des menschlichen Subjekts gemeint, das man in der Krise der Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begründet sehen könnte und dessen erste literarische Erscheinungsform entsprechend die Romantik wäre. Charakteristika moderner Subjektivität sind unter anderen: der fortschreitende Verlust sinnstiftender Traditionsmächte; die fortschreitende Einsicht in die radikale Kontingenz und Endlichkeit menschlicher Kulturleistungen sowie menschlicher Individualität; der Privatisierungs- und Verinnerlichungsprozess des Einzelsubjekts; und zuletzt und damit verbunden: der Verlust individueller Selbst-Gewissheiten, die in traditionalen Kulturen noch durch die Identifikation des Einzelnen mit heteronomen Sinnsystemen garantiert waren. Mit den kulturellen Selbstverständlichkeiten zerbricht auch die subjektive Selbst-Gewissheit. Was die Postmodernisten als Moderne bezeichnet haben, war das ideologische Zerrbild der Moderne: die Illusion vom autonomen, logozentrischen Subjekt, das in freier Selbstbestimmung sich selbst verwirklicht und am Fortschritt der Menschheit arbeitet, dabei aber der Dialektik der Aufklärung anheimfällt. Etwas komplexere Denker und vor allem Dichter der Moderne haben immer schon gesehen, dass das moderne Subjekt zu sich selbst kommt, indem ihm seine Welt- und Selbstgewissheiten entgleiten. Nun handelt es sich bei diesen Veränderungen im ›Aggregatzustand‹ menschlicher Subjektivität um sehr langfristige Entwicklungen, die zudem nicht alle Subjekte in gleicher Weise ergreifen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist in Europa ein qualitativer Sprung eingetreten, durch den die erwähnten Charakteristika moderner Subjektivität theoriefähig werden1. Spuren solcher Subjektivität finden sich in der konkret-mimetischen Sprache der Dichtung aber schon seit dem 1 Vgl. hierzu Geyer (1997 und 2007).
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Mittelalter 2. Und einer der Bereiche, in denen diese Problematik am intensivsten durchgespielt wurde, ist der Bereich des »Epischen« im weiteren Sinne, in dem das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft verhandelt wird. Georg Lukács hat in seinem wirkmächtigen Versuch über die Formen der großen Epik von 1916 in Anlehnung an Hegels Ästhetik (1817–1829) eine Dichotomie bzw. geschichtsphilosophische Abfolge des Epos im engeren Sinne und des modernen Romans konstruiert, in der das Epos zum idealtypischen Ausdruck vormoderner Subjektivität wird, der Roman aber zum »Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit« (Lukács [1983] 32) moderner Subjektivität. Die Lukácssche Idealtypik wirkt allerdings, insbesondere was das Epos betrifft, etwas holzschnittartig, und es kommt nicht von ungefähr, dass Lukács auf die wichtigsten epischen Dichtungen des italienischen 16. Jahrhunderts, auf Ariosts Orlando furioso (1516/1532) und auf Tassos Gerusalemme liberata (1581), kaum bzw. überhaupt nicht eingeht. Der italienische »poema cavalleresco«, insbesondere in seiner komisch-parodistischen Form, wie sie im Furioso ihre kanonische Ausprägung erfährt und noch in die Gerusalemme hinein nachwirkt, fügt sich nicht in das Schema von Lukács. Und so hat die Applikation dieses Schemas auf Ariosts und Tassos Werk bislang zu völlig disparaten Ergebnissen geführt, die hier nicht im einzelnen rekapituliert werden können. Um aus der Lukácsschen Sackgasse zu finden, möchte ich nun den Blick zurück auf die Textkonstitution, die Machart der beiden Werke lenken. Ich möchte zeigen, wie im Furioso und in der Gerusalemme die Erzählstruktur und deren Veränderungen zum Ausdruck der Wandlungen menschlicher Subjektivität werden. Die Vertextungsverfahren, die ich behandeln möchte, sind das allegorisch-exemplarische Erzählen, das parodistische und das personale Erzählen. Über das allegorisch-exemplarische Erzählen im Furioso und in der Gerusalemme und über das parodistische Erzählen im Furioso ist viel gehandelt worden. Ich möchte hier im Anschluss an und in kritischer Auseinandersetzung mit Klaus Hempfer (1989) zeigen, wie Ariost das allegorisch-exemplarische Erzählen – zum Teil in intertextueller Auseinandersetzung mit Dante – parodistisch dekonstruiert, dabei aber in einer Art »mise en abyme« auch diese parodistische Dekonstruktion selbst noch einmal dekonstruiert. Damit führt Ariost das epische Erzählen an eine Art »degré zéro«, von dem aus er selbst schon ansatzweise, vor allem dann aber Tasso den Weg zum modernen, personalen Erzählen bahnt. Narrative Techniken wie das personale Erzählen haben bislang eher selten die Aufmerksamkeit der Ariost- und TassoForschung auf sich gezogen, und wenn doch, wie bei Dalla Palma oder Rozsnyói, dann auf Strukturebenen des Narrativen, die für subjekttheoretische Erwägungen weniger relevant scheinen.
2 Vgl. Geyer (1995, 1998 und 2008).
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1. Parodistische Dekonstruktion allegorisch-exemplarischen Erzählens im Orlando furioso Die Rezeptionsgeschichte des Orlando furioso hat gezeigt, dass dieser Text durchgehend allegorisch-exemplarisch gedeutet werden kann (vgl. Hempfer 1989). Und dies ist auch der Grund, warum so viele Interpretationen hinter dem komisch-parodistischen Litteralsinn doch einen ernsten moralischen Sinn vermuten. Schon die Haupthandlung kreist trotz allen Abschweifungen letztlich immer wieder um den Abwehr- und schließlich siegreichen Angriffskampf Karls des Großen und seiner Paladine gegen die sogenannten »Heiden«. Darüber hinaus wird das Werk geradezu rhythmisiert durch Sentenzen und Maximen, die jeden Canto einleiten. Die vielen eingelegten Novellen sind zumeist als »novelas ejemplares« konstruiert, die besonders edles oder besonders unedles menschliches Verhalten beleuchten. Und die zahlreichen magisch-fantastischen Elemente lassen sich ebenfalls in Sinnbilder menschlicher Seelenkräfte und deren Konflikte übersetzen. Ein Beispiel für solch allegorisch-exemplarisches Erzählen bietet die Beziehung zwischen Ruggiero und Alcina bzw. zwischen Ruggiero und Logistilla. Der zunächst heidnische, später christlich getaufte Held Ruggiero fliegt mit dem Hippogryphen auf die verzauberte Insel der schönen und nymphomanischen Fee Alcina und ihrer ebenso schönen, aber keuschen Halbschwester Logistilla. Beide Feen führen Krieg gegeneinander, und Ruggiero will eigentlich der guten Fee helfen, erliegt aber doch zunächst den Reizen Alcinas, ›ver-liggt‹ sich mit ihr, bis ihm eine weitere Fee einen Ring an den Finger steckt, der jeden Zauber bricht. Ernüchtert sieht er, dass seine zauberhafte Alcina in Wirklichkeit alt und hässlich ist, was nun genauso ausführlich und topisch geschildert wird wie vorher ihre Schönheit. Danach flieht Ruggiero zur Fee Logistilla, der vernunfttriefenden, wie ihr Name, schon leicht ironisch unterlegt, sagt, und Ruggiero erkennt, als er in die diamantenen Mauern ihrer Burg blickt, endlich sich selbst und seine Bestimmung als vernunft- und tugendbegabtes Wesen: Quel che piú fa che lor si inchina e cede ogn’altra gemma, è che, mirando in esse [le mura], l’uom sin in mezzo all’anima si vede; vede suoi vizii e sue virtudi espresse, sí che a lusinghe poi di sé non crede, né a chi dar biasmo a torto gli volesse: fassi, mirando allo specchio lucente se stesso, conoscendosi, prudente.
Was diesem Stein vor jeglichem Juwele den Vorzug gibt, ist dieses: Wer ihm naht, durchschaut sich selbst bis mitten in die Seele, mit allem, was er Gutes, Schlimmes hat. Drum glaubt er nicht dem Schmeichler seiner Fehle noch dem, der ihm durch Tadel Unrecht tat, und wird demnach, im Spiegel dieser Scherben sich selbst erkennend, Klugheit sich erwerben:
(X, 59; Übersetzungen in Anlehnung an die in der Bibliographie aufgeführten Werke)
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Wenn Ariost seine Allegorien, Sentenzen und Exempla ernst nähme, wäre der Orlando furioso heute lange vergessen. Die Raffinesse des Werks besteht nun aber darin, dass solche eindimensionalen Deutungsmuster immer wieder anzitiert und dann ironisch dekonstruiert werden. Dementiert wird Ruggieros Bekehrung zu Tugend und Vernunft sofort anschließend in der nächsten Episode. Auf seinem Rückflug von Alcinas und Logistillas Insel kommt er ganz zufällig an dem Felsen vorbei, an dem die schöne Angelica gefesselt und nackt einem Meerungeheuer zum Opfer dargebracht werden soll. Ruggiero schlägt das Ungeheuer mit seinem Zauberschild in die Flucht, lässt Angelica – nackt, wie sie ist – hinter sich aufs Pferd steigen, erinnert sich unterwegs kurz an seine Verlobte Bradamante, lenkt das Pferd an einen einsamen Lustort und schickt sich an, Angelica zu vergewaltigen. Der Versuch misslingt, weil Ruggiero nicht schnell genug aus seiner Rüstung herauskommt und Angelica so die Gelegenheit findet, den Zauberring, den Ruggiero ihr vorher zum Schutz gegen Verzauberung gegeben hat, in den Mund zu stecken. Ruggiero hatte im Eifer des Gefechts nicht mehr daran gedacht, dass der Ring unsichtbar macht, wenn man ihn in den Mund steckt, und Angelica kann entkommen. Abschließend kommentiert der Erzähler das Geschehen mit einer Sentenz: Quantunque debil freno a mezzo il corso animoso destrier spesso raccolga, raro è però che di ragione il morso libidinosa furia a dietro volga, quando il piacere ha in pronto;
Ein schwacher Zaum vermag zwar oft zu wehren im stärksten Lauf des Rosses wildem Mut; doch der Vernunft Gebiss zwingt umzukehren gar selten nur die lustentbrannte Wut, wenn das Vergnügen winkt. (XI, 1)
Die Vernunftlehre, die als moralischer Anspruch aus der Logistilla-Episode zu ziehen war, wird durch diese Sentenz am Lustprinzip gemessen und für zu rigoristisch befunden. In diesem Falle zerstört also eine Sentenz die allegorische Botschaft aus der Alcina-Logistilla-Episode. Ich will am nächsten Beispiel zeigen, wie umgekehrt eine Sentenz, die inhaltlich eine ähnliche Tendenz hat wie die eben zitierte, nun ihrerseits durch den narrativen Zusammenhang, in dem sie steht, ironisch relativiert wird. Es handelt sich um den alten Topos, dass Liebe blind macht bzw. irreale Illusionen erzeugt: Quel che l’uom vede, Amor gli fa invisibile, e l’invisibil fa vedere Amore.
Wenn wir verliebt sind, sehn wir Unsichtbares, und was wir sehn, kommt unsichtbar uns vor. wenn das Vergnügen winkt. (I, 56)
Mit dieser Sentenz schließt der Erzähler eine der vielen Episoden vorläufig ab, die sich um Angelicas Flucht kreuz und quer durch Europa vor den sie begehrenden Rittern ranken. Angelica will in ihr Königreich Catai im Fernen Osten zurückkehren und sucht zu diesem Zwecke einen starken und verlässlichen Begleiter, der ihr
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sexuell nicht zu nahe treten würde. Und da entscheidet sie sich nun für Sacripante, den König des ebenfalls im Fernen Osten liegenden Circassien, der früher auch schon vergeblich um sie geworben, sich dabei im Gegensatz zu anderen aber immer respektvoll verhalten hatte. Sacripante, der sie immer noch liebt, ist allerdings etwas argwöhnisch, was Angelicas Jungfräulichkeit betrifft, da sie inzwischen unter der Obhut Orlandos und anderer durch die Kriegswirren dieser Welt gezogen war. Angelica versichert ihm, dass da nichts gewesen sei mit den anderen, was der Erzähler folgendermaßen kommentiert: Forse era ver, ma non però credibile a chi del senso suo fosse signore.
Dies konnte wahr sein, doch nicht glaublich war es für jemand, der nicht den Verstand verlor. (I, 56)
Sacripante glaubt Angelica aber, weil er ihr glauben will, und daran schließt Ariost dann das vorletzte Zitat mit der Sentenz über die blind machende Liebe an. Die Pointe der ganzen Episode setzt Ariost erst viel später in seinem Werk (XIX, 33), wenn Angelica sich in Medoro verliebt, den sie auch heiratet und der, wie es dann heißt, die Blüte ihrer Jungfräulichkeit pflücken darf. Damit wird im nachhinein der Gemeinplatz von der blind machenden Liebe ironisch aufgehoben, da das Unglaubliche, an das der liebestolle Sacripante glauben wollte, in diesem Falle doch der Wahrheit entsprach, ihn die Liebe also nicht blind, sondern sehend machte. Auf diese Weise verfährt Ariost mit allen Sentenzen, Allegorien und Exempeln im Orlando furioso, ja zuletzt, wie wir gleich sehen werden, sogar mit dem höheren Sinn der Haupthandlung selbst: für jede verallgemeinernde Sentenz gibt es einen Casus, der sie widerlegt, für jedes Exemplum gibt es ein Anti-Exemplum, für jeden allegorischen Sinn einen Wider-Sinn. Frauenlob – das zwar überwiegt – steht herbe Frauenschelte gegenüber. Eingefügte Novellen von treulosen Männern und Frauen wechseln sich ab mit Novellen, in denen musterhafte Treue dargestellt wird. Fürchterliche Bösewichter stehen neben selbstlosen Verkörperungen der Tugend. Hypertrophes Fürstenlob wird an einigen Stellen sehr deutlich von Herrschertadel konterkariert. Allein schon die Tatsache, dass der nicht nur in Liebesdingen zweifelhafte Held Ruggiero zum Stammvater der Ferrareser Dynastie der Este stilisiert wird, wirft ein ambivalentes Licht auf die Enkomiastik. Aufgrund dieser ambivalenten Grundstruktur des Werks haben Albert Gier und sinngemäß auch Klaus Hempfer (1989) den Orlando furioso »die Dichtung des Sowohl – als auch« genannt. Da aber die Dichotomien keiner Aufhebung zugeführt werden, sondern sich in einer einfachen wechselseitigen Negationsbewegung erschöpfen, erscheint es mir eher angebracht, von einer Dichtung des »Weder – noch« zu sprechen. Und dies gilt eben auch für den vordergründig noch heilsgeschichtlich abgesicherten Sinn der Haupthandlung des Furioso. Der gattungs- bzw. stofftypisch positive Ausgang der Haupthandlung vermag es nämlich im nachhinein nicht mehr, die disparate Moral- und Lebenslehre der eingelegten
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Erzählungen und Allegorien sowie die Irrungen und Wirrungen der Helden im vordialektischen Sinne des Wortes »aufzuheben«. Die Helden verfolgen subjektiv ihre eigenen Interessen und lassen sich nicht mehr in höhere epische Gemeinschaftsunternehmungen einbinden. Sie duellieren sich lieber, als sich der Disziplin offener Feldschlachten zu unterwerfen, und Liebesangelegenheiten sind ihnen allemal wichtiger als Karls des Großen Abwehrkampf gegen die Mauren. Orlando findet seinen aus Liebe zu Angelica verlorenen Verstand erst wieder, als der Kampf um Frankreich schon entschieden ist. Orlandos Cousin Rinaldo, der in Britannien dringend benötigte Hilfstruppen für das von den »Heiden« belagerte Paris werben soll, zieht es vor, zunächst einmal in Schottlands Wäldern nach Aventiuren zu suchen. Orlandos Freund Brandimarte eilt mitten aus der Entscheidungsschlacht weg, um andernorts einen ihm wichtiger scheinenden Zweikampf zu bestehen. Der Paladin Astolfo fliegt lieber auf dem Hippogryphen durch die Welt, um seine Neugier zu stillen, als zu Karls Heer zu eilen. Ruggiero konvertiert erst im 41. von 46 Gesängen, und noch dazu quasi unter Zwang, wie der ihn taufende Eremit zürnend hervorhebt, weil nur die Angst vor dem Ertrinken bei einem Schiffbruch ihn dazu brachte, dem Christengott als Gegenleistung für die Errettung die Taufe zu geloben. Und sein militärischer Seitenwechsel kommt auch viel zu spät, um noch kriegsentscheidend wirken zu können. Karl siegt zuletzt vor allem deswegen über die Heiden, weil deren Helden genauso unzuverlässig sind wie seine eigenen. Karl siegt zufällig über die Heiden. Auf der Ebene der »Histoire« steigt der durch keinen providentiellen Hintersinn mehr gebändigte Zufall zum obersten Organisationsprinzip des Werks auf. Er regiert diese Welt, angefangen bei den Beziehungen einzelner bis zum nur noch scheinbar eschatologischen Endkampf zwischen Christen und Heiden. Das spiegelt sich auch darin, dass die epische Haupthandlung, der Kampf der Christen gegen die sogenannten Heiden, nurmehr scheinbar die Haupthandlung des Orlando furioso ist. Weniger als 900 von den insgesamt ca. 5000 Strophen des Werks sind dieser Haupthandlung gewidmet, die ursprüngliche Haupthandlung des Epos ist hier nur mehr ein Handlungsstrang neben anderen, sie nimmt selbst Episodencharakter an und wird reduziert auf die Funktion, die anderen Handlungsstränge locker zusammenzuhalten. So verlässt Orlando im Canto VIII in einer militärisch nahezu ausweglosen Situation das belagerte Paris, um sich wieder einmal auf die Suche nach Angelica zu machen, die ihm in einem Traum erschienen war und um Hilfe gerufen hatte. Karl bleibt nichts übrig als hilflos zu lamentieren, während Orlando als Sarazene verkleidet zunächst im Sarazenenheer, dann in ganz Frankreich und Europa nach Angelica sucht. Erst im Canto XII kommen Orlando und der Erzähler ganz zufällig einmal wieder vor dem besetzten Paris vorbei und treffen dabei auf eine inzwischen eingetroffene sarazenische Eliteeinheit:
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Orlando a caso ad incontrar si venne (come io v’ho detto) in questa compagnia, cercando pur colei, come egli era uso, che nel carcer d’Amor lo tenea chiuso.
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Zufällig stößt (wie ihr bereits erfahren) Graf Roland nun auf dieses Heergeleit, indem er, wie er pflegt, der nachgegangen, die ihn im Liebeskerker hält gefangen. (XII, 73)
Im Ur-Roland, der Chanson de Roland (um 1100) herrscht die christliche Providenz, die die Weltgeschichte teleologisch zurichtet. Und in dieser durch göttliche Vorsehung garantierten Sinnhaftigkeit der Welt fühlt sich auch das Einzelindividuum aufgehoben. Der epische Held bestätigt durch seine Tathandlungen die ihm vorausgehende Sinnhaltigkeit seiner Gemeinschaft. Noch in der Artusepik bestätigt der Held den alten Sinn in der je neu von ihm zu bestehenden Aventiure. Der Held sucht die Aventiure, in der er sich und die Werte seiner Gemeinschaft beweisen kann, aber die Aventiure sucht auch den Helden, sie wird auf den Helden zukommen (vulg.-lat. »adventura«), sie fällt ihm nicht »zufällig« zu. Aber im Falle Orlandos klaffen die Sinnsuche des Einzelnen und der Sinn der Gemeinschaft unheilbar auseinander. Orlando befindet sich auf seiner sinnlosen Suche nach Angelica, die ihn nicht will und die zudem »Heidin« ist und es bis zuletzt auch gerne bleiben wird. Und auf dieser sinnlosen Suche stößt Orlando nun plötzlich und zufällig auf die heidnische Eliteeinheit vor Paris. Was nun folgt wirkt genauso sinnlos, wie alles, was Orlando tut. Er dringt unerkannt ins Heidenlager ein, um nach Angelica zu suchen, und will sonst eigentlich überhaupt keinen Ärger. Aber da, ohne ihn als Orlando zu erkennen, fordert ihn ein übermütiger junger sarazenischer Ritter zum Duell, eher zum Spaß und als Mutprobe. Doch Orlando versteht überhaupt keinen Spaß und tötet den Sarazenen kurzerhand. Im Anschluss bricht ein Tumult aus im Sarazenenlager, alle fallen über Orlando her, er richtet ein Blutbad unter ihnen an und hört nicht eher auf, sie niederzumetzeln, als bis er die ganze Eliteeinheit aufgerieben hat. Wenn Orlando und die anderen christlichen Helden immer so für Carlomagno kämpften, wäre der Krieg bald gewonnen. Aber Orlando kämpft nur zufällig so, weil er von jenem vorwitzigen Sarazenen gereizt wurde. Zwar fügt er den Sarazenen hier schwere Verluste zu, aber das interessiert ihn eigentlich überhaupt nicht. Er hat nur seine persönliche fixe Idee Angelica im Kopf und zieht gleich danach wieder weiter und überlässt Paris und Karl ihrem Schicksal. Rolands und der anderen Helden Abenteuer sind Anti-Aventiuren. Was die Figuren im Orlando furioso suchen, finden sie nicht, und was sie nicht suchen, finden sie zufällig. Und was sie suchen, hat auch keinen höheren Sinn mehr, erscheint arbiträr. Funktion des klassischen Epos und der klassischen Metaphysiken war es, Kontingenz und Arbitrarität zu domestizieren, zu eskamotieren, zu verdrängen. Nun aber tritt die Kontingenz ihre Herrschaft über die Welt des modernen Menschen an. An die Stelle der Providenz tritt der folgenlose Scherz des Schicksals:
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Poi che Fortuna ebbe scherzato un pezzo, dannosa ai Mori ritornò da sezzo.
So scherzt das Glück zu Anfang beiderseitig, doch endlich wird’s den Mohren widerstreitig. (XVI, 68)
Ersatz für den Verlust göttlicher Providenz auf der »Histoire«-Ebene aber leistet die dichterische Vorsehung auf der Ebene des »Discours«. Die häufigen, abrupten und willkürlichen Szenenwechsel und Schnittstellen zwischen den vielen Handlungssträngen reproduzieren auf der »Discours«-Ebene die absolute Herrschaft des Zufalls auf der Ebene der »Histoire«. An diesen Stellen gibt der Erzähler andererseits auch sehr deutlich zu erkennen, dass er die Fäden der Handlungen seiner fiktiven Welt quasi-teleologisch in der Hand behält. Einen jener abrupten erzählerischen Szenenwechsel motiviert er zum Beispiel wie folgt und nimmt dabei schon die poetologische Konstruktion von Pirandellos Sei personaggi (1921) vorweg: Di questo altrove io vo’ rendervi conto; ch’ad un gran duca è forza ch’io riguardi, il qual mi grida, e di lontano accenna, e priega ch’io nol lasci ne la penna.
Ein andermal sollt ihr davon erfahren; denn ich muss jetzt nach einem Herzog sehn, der winkt und ruft, auf ihn doch auch zu passen und in der Feder ihn nicht ganz zu lassen. (XV, 9)
Hinter der Ironie tritt der Dichter als Demiurg hervor, der in seiner Dichtung Ersatz schafft für die transzendental obdachlos werdende Welt. Die Frage ist allerdings, ob der Orlando furioso diese Verheißung selbst schon erfüllt. Das allegorisch-exemplarische Dichten liquidiert sich im Hauptstrang der Handlung wie auch in den eingelegten Aventiuren, Novellen und Sentenzen von selbst. Aber auf der Ebene metafiktionaler Ironie und Parodie kann man als Dichter auf die Dauer nicht stehenbleiben. Auch hier herrscht die Struktur des »Weder – noch«: Weder kann man offensichtlich zu Ariosts Zeiten noch allegorisch-exemplarisch erzählen, weil das Erzählen sein Sinnzentrum und die Subjekte ihre personale Mitte verloren haben, noch kann man vorläufig anders erzählen, als das allegorisch-exemplarische Erzählen ironisch-parodistisch zu umspielen. Ariost dreht sich im Kreis von Rekonstruktion und parodistischer Dekonstruktion der traditionellen Sinnstiftungssysteme. Eine Parodie von sinnentleerten Erzählmustern aber muss auf die Dauer steril wirken. Ariost fasst die paradoxe Selbstaufhebung des Parodistischen selbst wieder in eine Allegorie.
2. Dante-Parodie als Selbstaufhebung des Parodistischen im Orlando furioso Im 34. und 35. Gesang unternimmt Astolfo eine Jenseitswanderung, die unschwer als Parodie auf Dantes Divina Commedia zu erkennen ist. Nun erfüllt ja auch eine Parodie traditionellerweise die Funktion eines gattungstechnischen »Sowohl
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– als auch«: Eine parodistische Umkehrung zerstört die parodierte Gattung nicht, vielmehr koexistieren seit Beginn der Überlieferung ernste Gattungen und ihre Parodien problemlos, ja man möchte fast sagen notwendigerweise neben- und miteinander. Und deshalb müssen parodistische Ritterromane wie der Orlando furioso das Ethos ernster Ritterepik keineswegs liquidieren, ja nicht einmal relativieren. Aber in Bezug auf die Divina Commedia funktioniert solch traditionelle Parodie nicht, weil dieses Werk keiner literarischen Gattung zugerechnet werden kann. Als einzigartige summa christlich-mittelalterlicher Weltanschauung erträgt die Divina Commedia weder Imitationen noch Parodien. Eine Parodie auf die Divina Commedia verfällt der Weder-noch-Struktur, in der sich Parodie wie Parodiertes wechselseitig zersetzen. Sehen wir genauer hin: Im Gegensatz zu Dante ist Astolfo ohne Führer im Inferno unterwegs und muss wegen des beißenden Rauchs schon bald umkehren. Der erste und einzige Kreis der Hölle, den Astolfo betritt, ist als Parodie auf Dantes »Cerchio die Lussuriosi« gestaltet, den Kreis derer, die wie Paolo und Francesca wegen mangelhafter Beherrschung ihrer sexuellen Triebhaftigkeit dazu verdammt sind, auf alle Ewigkeit in der Finsternis von einem Orkan durch die Lüfte gewirbelt zu werden, der als »contrapasso« die ungebändigten sinnlichen Triebe symbolisiert. Was Ariosts Astolfo zunächst im Inferno zu sehen bekommt (und mehr wird er auch nicht zu sehen bekommen) ist ein weiblicher Kadaver, der wie ein Gehenkter am Galgen oder ein Schinken im dichten Rauch hängt, – so weit stimmt die Parallele zu Dante wenigstens noch ungefähr. Aber das ändert sich sehr schnell, als die verdammte Seele erzählt, weswegen sie hier hängen muss: E cominciò: »Signor, Lidia sono io, del re di Lidia in grande altezza nata, qui dal giudicio altissimo di Dio al fumo eternamente condannata, per esser stata al fido amante mio, mentre io vissi, spiacevole et ingrata. D’altre infinite è questa grotta piena, poste per simil fallo in simil pena. […] Qui presso è Dafne, ch’or s’avvede quanto errasse a fare Apollo correr tanto […]«.
»Herr, ich bin Lydia«, spricht der Geist, »entsprossen vom Lydierkönig in erhabnem Stand, auf ewig nun von diesem Rauch umschlossen, seit Gottes Strafgericht mich her gebannt, weil ich vordem, als ich des Lichts genossen, dem treuen Freund undankbar widerstand. Von andern voll ist dieser Ort der Qualen, die gleich’ Vergehn mit gleicher Marter zahlen. […] Auch Daphne muss hier ihre Schuld erkennen, dass sie Apollo zwang, so weit zu rennen«. (XXXIV, 11–12)
Bestraft werden also bei Ariost nicht diejenigen, die aus sexueller Lust gesündigt haben, sondern ganz im Gegenteil diejenigen (Frauen, aber auch Männer), die ihre Verehrer nicht erhört haben. Besonders krass wirkt dabei die Umwertung des Daphne-Mythos: Bei Ovid konnte die Nymphe Daphne den Nachstellungen des Gottes Apollo nur dadurch entkommen, dass sie von ihrem Vater, dem
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Flussgott Peneios, als Apollo sie vergewaltigen wollte, in letzter Sekunde in einen Lorbeerbaum verwandelt wurde. Und hier, bei Ariost, wird es ihr nun als Schuld angerechnet, dass sie vor Apollo davonlief bzw. dass sie Apollo zwang, ohne Erfolg hinter ihr herzulaufen. Diese Episode aus Astolfos Jenseitswanderung hat noch die Struktur einer traditionellen Parodie, einer Parodie mit Sowohl-als-auch-Struktur, die mit dem Parodierten friedlich koexistiert. Dies kann in diesem Falle nur funktionieren, weil sich die Parodie hier nicht in erster Linie gegen die Divina Commedia richtet, sondern gegen die Petrarkistische Liebeslyrik. Damit ist die Voraussetzung einer gelingenden Parodie gegeben, nämlich das Sich-Abarbeiten an den Normen einer bestehenden Dichtungsgattung und nicht an einem in sich geschlossenen metaphysischen Weltsystem. Auch dass Astolfo im Anschluss an sein Gespräch mit Lidia fluchtartig das Inferno verlassen muss, weil er im dichten Rauch einfach keine Luft mehr bekommt, und sich, draußen angekommen, in einer Quelle penibel von Kopf bis Fuß den Ruß der Hölle abwäscht, ist als solch harmlose Variante des Parodistischen anzusehen. Ariost wendet dabei eine Technik der Parodierung an, die man realistische Konkretisierung des Allegorischen nennen könnte. Dadurch wird das Allegorische seines höheren oder tieferen Sinnes beraubt und auf sein konkret-bildliches Substrat reduziert. Dies ist eine der klassischen Verfahrensweisen des Parodistischen, die den tieferen Sinn des Allegorischen gerade nicht ernsthaft beschädigt, da er nur vorübergehend suspendiert wird und die Parodie ihren Unernst gleichsam ostentativ vor sich herträgt. Bei anderen Formen unernster Distanzierung von ernsten Inhalten der Divina Commedia überschreitet Ariost aber die Toleranzgrenzen traditioneller Parodie, weil er die Eckpfeiler des Normsystems selbst angreift. Nach seinem Kurzbesuch in der Hölle fliegt Astolfo auf seinem Flugpferd Ippogrifo am Purgatoriumsberg entlang in die Höhe – ohne die großen Mühen, die Dante sein Aufstieg gekostet hat – direkt ins irdische Paradies. Dantes Aufenthalt im Irdischen Paradies in den Gesängen 28 bis 33 des Purgatorio stellt den Höhepunkt, die höchste Konzentration allegorischen Dichtens in der Divina Commedia überhaupt dar. Im Zentrum der Darstellung des Irdischen Paradieses bei Dante steht ein allegorischer Triumphzug (»trionfo«) der Kirche, der Heilsgeschichte und der katholischen Orthodoxie. Und Dante findet den Triumphzug und das ganze Irdische Paradies so überirdisch schön, dass er mit Bitterkeit des Sündenfalls gedenken muss, der die Menschheit und damit auch ihn selbst solcher Schönheiten beraubte: Ed una melodia dolce correva per l’aere luminoso; onde buon zelo mi fe’ riprendere l’ardimento d’Eva; ché là dove ubbidía la terra e il cielo, femmina sola e pur testé formata, non sofferse di star sotto alcun velo:
Und eine süße Melodie durchtönte die lichte Luft, weshalb ein guter Eifer mich trieb, Evas Vermessenheit zu tadeln. Denn dort, wo Erd und Himmel selbst gehorchten, hat nur ein Weib, das eben erst geschaffen,
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sotto il qual se divota fosse stata, avrei quelle ineffabili delizie sentite prima e più lunga fiata.
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durchaus allein den Schleier lüften wollen. Wenn sie ihm fromm sich unterworfen hätte, so hätt ich jene unsagbaren Freuden viel früher schon und lange Zeit erfahren. (Purg. XXIX, 22–30)
Ariosts Technik der realistischen Überkonkretisierung und Ent-Allegorisierung macht auch vor Evas und Adams Sündenfall und der Erbsünde nicht halt, wenn er Astolfos Empfang im Irdischen Paradies so beschreibt: Con accoglienza grata il cavalliero fu dai santi alloggiato in una stanza; fu provisto in un’altra al suo destriero di buona biada, che gli fu a bastanza. De’ frutti a lui del paradiso diero, di tal sapor, ch’a suo giudicio, sanza scusa non sono i duo primi parenti, se per quei fur sí poco ubbidïenti.
Sehr freundlich ward dem Paladin indessen von diesen Heil’gen Wohnung hier verliehn; und auch sein Flügelross ward nicht vergessen, man reicht’ ihm Korn, soviel genügend schien. Ihm selber gab man Edens Frucht zu essen, von solchem Wohlschmack, dass der Paladin das erste Paar sich fast entschuldigt dachte, wenn solches Obst es ungehorsam machte. (XXXIV, 60)
Schon die Tatsache, dass Astolfo im Irdischen Paradies ein Gästezimmer zugewiesen und sein Ippogrifo reichlich Hafer bekommt, stellt eine grenzwertige Banalisierung der Danteschen Allegorie dar. Darüber hinaus aber isst Astolfo Früchte aus dem Paradiesgarten, die ihm so gut schmecken, dass er nun den Tabubruch Evas und Adams, als sie vom Baum der Erkenntnis aßen, in milderem Lichte sieht (die Übersetzung von Gries verharmlost hier etwas). Was natürlich im Lichte der christlichen Orthodoxie eine Ungeheuerlichkeit darstellt, weil Astolfo bzw. Ariost damit die Erbsünde relativieren, auf der das gesamte christliche Heilsgeschehen aufbaut. Hier hört der parodistische Spaß auf und schlägt in den Ernst umwertender und neuwertender Zersetzung um. Davon kann aber auch die Parodie selbst nicht unberührt bleiben. Die parodistische Energie hat sich im Laufe der Jenseitsreise Astolfos gleichsam erschöpft und schlägt zuletzt in existenziellen Ernst um. Den Abschluss von Astolfos Jenseitsreise bildet ein Besuch im Paradiso, wo er auch wieder nur die erste Himmelssphäre, den Mondhimmel, besucht. Für seine Mondfahrt erhält Astolfo dann sogar doch noch einen hochkarätigen Führer: Johannes, »lo scrittor de l’oscura Apocalisse / den Verfasser der dunklen Apokalypse« (XXXIV, 86, 2). Und dieser bietet Astolfo und dem Leser zunächst auch noch eine Teleologie ex post für dessen Irrfahrten auf der Erde und im Universum an, mit der er die Entfesselung der Kontingenz im Orlando Furioso noch einmal rückgängig zu machen verheißt. Höherer Endzweck der Weltreise Astolfos sei es gewesen, am Schluss auf dem Mond im Tal der verlorenen Dinge und enttäuschten Hoffnungen Orlandos verlorenen Verstand, der dort in einer Flasche aufbewahrt wird, zurückzuholen, damit Orlando im Endkampf gegen die Sarazenen kriegs-
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entscheidend eingreifen könne. Astolfo packt dann auch die Flasche mit Orlandos Verstand ein, allerdings haben wir ja schon gehört, dass später, als er Orlando seinen Verstand tatsächlich wieder einflößt, der Krieg mit den Sarazenen schon entschieden ist und damit die rekonstruierte Teleologie ins Leere läuft. Aber auch schon auf dem Mond destruiert Ariost bzw. sein Sprachrohr Johannes alle möglichen Teleologien a priori und a posteriori durch die Neudeutung der Lethe-Fluss-Allegorie aus Dantes Irdischem Paradies. Und zwar destruiert Ariost Dantes Lethe-Fluss-Allegorie hier mit den Mitteln einer ernstgemeinten Allegorie selbst, vor allem aber mit einer theoretisch-poetologischen Ausdeutung dieser seiner eigenen Allegorie, durch die er die Grenzen des allegorischen Diskurses überhaupt aufzeigt und den gemeinsamen normativen Boden mit Dante endgültig verlässt. In Dantes Irdischem Paradies durchschwimmen die im Purgatorio gereinigten Seelen den Lethe-Fluss, und trinken in dessen köstlich-klarem Wasser das Vergessen ihrer Sünden. Ariost situiert Lethe nicht im Irdischen Paradies, sondern auf dem Mond, aber das ist nicht das Entscheidende. Entscheidend ist, dass bei Ariost Lethe ein trüber, schlammiger Fluss ist, in den kleine Schildchen mit den Namen der soeben Verstorbenen geworfen werden, manche aus Blech, manche aus Silber, manche aus Gold. Nicht die Seelen der Verstorbenen also durchschwimmen Lethe, um das Vergessen ihrer Sünden zu trinken und dann ins ewige Leben einzugehen, sondern nur ihre Namensschildchen werden hineingeworfen, von den Seelen selbst ist gar nicht mehr die Rede. Die meisten dieser Namensschilder aber versinken sofort und für immer im Schlamm »dell’eterno oblio / des ewigen Vergessens« (XXXV, 19). Von hunderttausend schwimmt nur eines noch eine Weile oben, und von diesen wenigen wiederum wird sehr selten eines, bevor es auch untergeht, von Schwänen herausgefischt und in den Tempel der Unsterblichkeit gebracht. Und Ariost lässt den Evangelisten Johannes dann die – scheinbar leicht zu durchschauende – Allegorie auch selbst auflösen: Ma come i cigni che cantando lieti rendeno salve le medaglie al tempio, cosí gli uomini degni da’ poeti son tolti da l’oblio, piú che morte empio. Oh bene accorti principi e discreti, che seguite di Cesare l’esempio, e gli scrittor vi fate amici, donde non avete a temer di Lete l’onde!
Doch wie der Schwan zu jenen heil’gen Stätten die Tafeln trägt mit fröhlichem Gesang so werden würd’ge Menschen von Poeten entrissen des Vergessens hartem Zwang. O kluge Fürsten, die es wohl erspähten, die ihr befolgtet Cäsars weisen Gang und machtet die Autoren euch gewogen, ihr brauchet nicht zu fürchten Lethes Wogen! (XXXV, 22)
Cesare steht hier für Augustus, der sein Fortleben und seinen Nachruhm vor allem Vergil zu verdanken habe. Funktion des Lethe-Flusses ist nicht mehr die Reinigung der erlösten Seelen von der Erinnerung an ihre Sünden, sondern die restlose Tilgung irdischer Memoria, die bereits als einzige Art des Fortlebens erscheint. Hier und
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im folgenden geht nun aber des Evangelisten Johannes Ausdeutung der Allegorie von Lethe, den Namensschildchen und dem Tempel der Unsterblichkeit über den gleichsam materialen Gehalt der Allegorie hinaus und zeigt damit an, dass der Diskurs des Allegorischen selbst sich erschöpft hat. Allein die Dichter, heißt es in Vers 3 und 4 des letzten Zitats, verheißen Erlösung von der Auslöschung im Vergessen, das schlimmer ist als der Tod, der damit indirekt für endgültig erklärt wird (Gries übersetzt »piú che morte empio / schlimmer als der Tod« in Vers 4 nicht). Fürsten, die sich nicht als Kunstmäzene betätigen, bezeichnet Johannes als »ignoranti«: Credi che Dio questi ignoranti ha privi de lo’ntelletto, e loro offusca i lumi; che de la poesia gli ha fatto schivi, acciò che morte il tutto ne consumi. Oltre che del sepolcro uscirian vivi, ancor ch’avesser tutti i rei costumi, pur che sapesson farsi amica Cirra, piú grato odore avrían che nardo o mirra.
Gott selbst hat diesen des Verstandes Gabe geraubt und ihr Gesicht umhüllt mit Nacht und, dass der Tod sie ganz zu eigen habe, der Dichtkunst Hass in ihnen angefacht. Sie würden lebend steigen aus dem Grabe, ward lastervoll ihr Leben auch verbracht; ja, machten sie zu Freunden sich die Barden, anmut’ger wär ihr Duft als Myrrh und Narden. (XXXV, 24)
»Poesia o morte / Dichtung oder Tod« heißt es sinngemäß in Vers 3 und 4. Die einzige Wiederauferstehung (v. 5), und zwar völlig unabhängig von ethischen Gesichtspunkten (v. 6: so verbrecherisch einer auch gelebt haben mag), ist auf ästhetischem Wege möglich. Und das sagt ausgerechnet der Evangelist und Lieblingsjünger Jesu, Johannes, der in den folgenden, hier nicht wiedergegebenen Versen die Deutungsmacht der Dichtung bis zum Religionsersatz steigert: Aeneas, meint er, war in Wirklichkeit gar nicht so »pius« noch Achill so stark, Augustus nicht so milde und Nero nicht so verbrecherisch, wie sie von Dichtern oder Historikern gezeichnet wurden. Und Johannes schließt mit einer Selbstreferenz: Gli scrittori amo, e fo il debito mio; ch’al vostro mondo fui scrittore anch’io. E sopra tutti gli altri io feci acquisto che non mi può levar tempo né morte: e ben convenne al mio lodato Cristo rendermi guidardon di sí gran sorte.
Ich muss, wie billig, die Autoren lieben; denn auf der Erde hab auch ich geschrieben. Gewonnen hab ich, vor den andern allen, was weder Zeit noch Tod mir je entreißt; und die Belohnung, die mir zugefallen, ist Christi wert, den meine Feder preist. (XXXV, 28–29)
Johannes reiht sich im zweiten Vers des Zitats unter die »scrittori« wie Vergil und Homer ein, von denen im oben zitierten vorletzten Vers der Oktave 22 dieses XXXV. Gesangs die Rede war. Und er fügt in diesem Zitat hier selbstsicher hinzu, dass Christus ihm für seine Darstellung im Evangelium und in der Apokalypse durchaus dankbar sein könne (die Übs. schwächt wieder etwas ab). Und wenn Christus hier in eine Reihe mit Augustus, Aeneas und Achill gerückt wird, deren
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Ruhm die Dichter stifteten, dann steigt zuletzt Johannes selbst und damit die Dichtung auf zur Erlöserin vom Tode. Die Frohe Botschaft wird zur Botschaft der Dichtung, der Dichter selbst setzt sich an die Stelle des Weltenrichters und schafft in seinen Werken Ersatz für die leer werdende Transzendenz. Was als Parodie auf die Divina Commedia begann, ist zu deren kaum mehr verhülltem, sehr ernsthaftem poetischen und poetologischen Widerruf geworden. Sinnzentrum der Welt ist nicht mehr der göttliche Heilsplan, sondern das schöpferische Dichter-Ich. Die Parodie hat das parodierte Wertsystem zersetzt und damit selbst das Prinzip ihrer Wirksamkeit zerstört. Wie die Dichtung der Zukunft allerdings an den dann rein irdischen Sinnstiftungsprozessen teilhaben wird, muss bei Ariost noch offen bleiben, zumal seine allegorische Destruktion der Danteschen Lethe-Allegorie zuletzt auch die Defizite seines eigenen allegorischen Diskurses vorführt und in den theoretisch-poetologischen Meta-Diskurs übergeht. Ariost führt die Dichtung bis an die Schwelle, wo das Alte nicht mehr trägt, aber das Neue noch kaum sichtbar ist. Er dreht sich im Kreis von Parodie, Selbstdestruktion der Parodie, Rekonstruktion der Parodie und metapoetischen Passagen, die eine neue Poetik und deren waltende Kraft beschwören, ohne diese schon realisieren zu können. Eine andere, neue Art des Erzählens zeichnet sich im Furioso erst in Ansätzen ab. Ariost kündigt etwas an, was Tasso dann einlöst.
3. Darstellung moderner Subjektivität durch personales Erzählen in Tassos Gerusalemme liberata Tassos Gerusalemme liberata als Ganzes ist als Allegorie deutbar und gedeutet worden, zuallererst von Tasso selbst; Luigi Derla trägt die verschiedenen Belege zusammen. Es liegt nahe, ein Epos von der Eroberung Jerusalems im ersten Kreuzzug allegorisch zu deuten, womöglich sogar im vierfachen Schriftsinn mittelalterlicher Allegorese. Erleichtert wird eine solche Deutung auch dadurch, dass Tasso ein völlig unironischer Schriftsteller ist, der außerdem durch den poetologischen Neo-Aristotelismus hindurchgegangen ist und einen einsträngigen, gut motivierten Spannungsbogen aufbaut, in dem nicht mehr der Zufall, sondern das christliche meraviglioso entscheidende Weichenstellungen bewirkt. Das fantastisch-magische Element wird orthodox zurückgebunden in schwarze, diabolische, und weiße, christlich akzeptierte Magie. Auch die moralischen Grenzen zwischen Christen und Nicht-Christen sind wieder deutlicher gezogen als bei Ariost. Grenzüberschreitungen sind als heidnische Bekehrungen gestaltet oder als christliche Verirrungen, die Handlungsauslöser für ihre Überwindung sind. Und dennoch kann eine allegorische Gesamtdeutung des Werkes nicht gelingen. Die gegenreformatorische Orthodoxie hat in ihrer Kritik an der Gerusalemme seinerzeit genau gesehen, dass die Durchführung des Werks im einzelnen eine
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mögliche allegorische Gesamtdeutung unterläuft. Tassos allegorischer Selbstdeutungsversuch ist in erster Linie apologetisch intendiert und führt dann letztlich zur Selbstverstümmelung seines Werkes in der Gerusalemme conquistata. Anders als im Furioso findet sich in der Gerusalemme liberata schon auf der Ebene kleinerer struktureller Erzähleinheiten kaum noch allegorisch-exemplarisches Erzählen. Eingelegte Novellen und Exempla gibt es nicht, mit Sentenzen und Maximen, mit Frauenlob und enkomiastischen Passagen geht Tasso im Vergleich zu Ariost eher sparsam um. Auch metapoetisch erzählt Tasso kaum noch. Das deutlichste metapoetische Signal ist das gleichsam donnernde Canto, mit dem er sein Werk eröffnet: Canto l’arme pietose e ’l capitano che ’l gran sepolcro liberò di Cristo.
Ich sing die frommen Waffen und den Feldherrn, der Christi hochgeweihtes Grab befreite. (Gerusalemme liberata, I, 1; Staigers Übersetzung fügt die bescheidenheitstopische Inversion ein)
Tasso verschmäht die bescheidenheitstopische Inversion Ariosts und Vergils: Le donne, i cavallier, l’arme, gli amori, le cortesie, l’audaci imprese io canto […].
Die Fraun, die Ritter, Waffen, Liebesbande, die Zartheit sing ich, den verwegnen Mut […]. (Orlando furioso, I, 1)
Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris Italiam fato profugus Laviniaque venit litora, […].
Kampf und den Helden besing’ ich, den einst von den Ufern von Troja nach Italien flüchtig sein Los an Laviniums Küsten trieb, […]. (Aeneis, I, 1)
Durch den selbstbewussten Einsatz des dichterischen Ichs signalisiert Tasso, dass er seine neue Poetik gefunden hat und darüber im Werk nicht weiter reflektieren wird. Im folgenden soll gezeigt werden, wie Tasso das allegorisch-exemplarische Erzählen in personales Erzählen transformiert. Als Beispiel mag das Verhältnis von Rinaldo und Armida dienen. Die schöne heidnische Magierin Armida lockt den wichtigsten christlichen Helden Rinaldo in ihren Einflussbereich, will ihn zunächst als gefährlichen Gegner töten, verliebt sich dann aber in ihn und entführt ihn durch die Lüfte auf die Isole Fortunate, die Kanarischen Inseln, in deren ewigem Frühling sie ihn durch ihre Liebe alle anderen Verpflichtungen vergessen lässt. Die Figur Rinaldos ist analog zu Ruggiero im Orlando furioso konzipiert. Auch Rinaldo ist Stammvater des Hauses Este und hat somit ebenso (gebrochen) enkomiastische Funktion. Armida entspricht als Verführerin der schönen Fee Alcina bei Ariost. Damit erschöpfen sich freilich die Analogien. Zu Alcina gab es im Furioso die Kontrastfigur der Logistilla, und beide blieben Allegorien ohne persönliches Relief, die die Psychomachie zwischen Neigung und Pflicht, zwischen Sinnlichkeit und Ratio im Bewusstsein Ruggieros versinnbildlichten. Die Armida der Geru-
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salemme aber erscheint wie eine progressive Synthese aus Alcina und Logistilla. Armida entwickelt sich von einer Allegorie zur Fiktion einer immer differenzierter dargestellten realen Frau. Diesen Vorgang gestaltet Tasso als Bewusstwerdungs- und Verinnerlichungsprozess zunehmend intensiv in personaler Erzählsituation. Gerhard Goebel (1978) hat als erster und – wenn ich richtig sehe – bislang einziger auf die personale Perspektivenführung in der Gerusalemme aufmerksam gemacht, dabei aber nur Phänomene analysiert, die sich so auch schon bei Ariost erkennen lassen. Auch letzterer erzählt manchmal aus der Perspektive seiner Figuren und arrangiert Perspektivenwechsel, zum Beispiel, um die Belagerung von Paris einmal aus der Sicht der Eingeschlossenen und dann aus der Sicht der Angreifer zu schildern. Eine ähnliche Erzählsituation inszeniert Ariost bei Ruggieros Libidoausbruch angesichts der nackten Angelica. Der Erregungszustand von Ruggiero und das ängstliche Abwehrverhalten von Angelica werden in einer dramatischen Szene mit mehrfachen ›Kameraschwenks‹ auf die eine oder andere Figur vorgeführt. Freilich wird hier die personale Optik mit ironischer Distanz auktorial gefiltert. Funktion solcher personaler Erzählhaltung bei Ariost ist es, die Pluralität der Perspektiven darzustellen, ohne dass diese im allgemeinen noch in sich differenziert und vertieft werden. Ganz vereinzelt finden sich freilich auch bei Ariost schon Ansätze zu den narrativen Vertextungsstrategien, die ich jetzt im folgenden bei Tasso analysieren werde. Und in solchen Passagen, etwa beim Liebesverhältnis Ruggieros und Bradamantes oder bei der Schilderung Orlandos kurz vor dem Ausbruch seiner follia, vergeht Ariost im übrigen auch völlig seine ironische Distanz. Die Zentralperspektive des ironisch-auktorialen Erzählers überwiegt aber bei Ariost bei weitem noch. Bei Tasso ändert sich dies. Sehen wir uns die Liebesgeschichte, den Liebesroman von Armida und Rinaldo etwas genauer an. Solange ihr Liebeszauber auf Rinaldo wirkt, bleibt Armida für den Leser bloße, schöne Oberfläche. Dann aber dringen, zunächst unbemerkt von Armida, zwei Gesandte des christlichen Heerführers Goffredo in ihr Reich ein, die Rinaldo zur christlichen Räson zurückbringen sollen. Schon die heimliche Annäherung der beiden Gesandten an den Lustort, an dem sich Armida und Rinaldo vergnügen, ist in raffinierter personaler Perspektivenführung aus der Sicht der beiden gestaltet: Ecco tra fronde e fronde il guardo inante penetra e vede, o pargli di vedere, vede pur certo il vago e la diletta, ch’egli è in grembo a la donna, essa a l’erbetta.
Und siehe! Zwischen Laub und Laub ihr Spähen dringt durch und sieht und meint zu sehen, sieht nun gewiss die Liebende und den Verliebten. Er ruht in ihrem Schoß, sie ruht im Grase. (XVI, 17)
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Zeitlich verlangsamt in drei Phasen (»penetra e vede, o pargli di vedere, vede pur certo«) wird der Prozess des Erblicktwerdens des Liebespaares durch die beiden zwischen Büschen heranschleichenden Gesandten wiedergegeben. Der Leser wird quasi hineingezogen in die Dialektik des Blicks zwischen Subjekt und Objektkonstitution. Aus der Sicht der beiden Voyeure wird dann noch über acht Strophen das Liebesspiel Armidas und Rinaldos geschildert, bevor Armida ihren Geliebten vorübergehend allein zurücklässt. Diese Gelegenheit nutzen die beiden Gesandten, um sich Rinaldo zu erkennen zu geben und ihn zur gemeinsamen Flucht zu überreden. Noch sind ja Armidas Zauberkräfte zu fürchten. Doch im Schmerz der verlassenen Liebenden hat Armida ihre magischen Kräfte verloren. Stattdessen entfaltet sie von nun an ein seelisches Innenleben: Volea gridar : »Dove, o crudel, me sola lasci?«, ma il varco al suon chiuse il dolore, sì che tornò la flebile parola più amara indietro a rimbombar su ’l core.
Sie wollte schrein: »So lässt du mich allein, Grausamer!« Doch der Schmerz verschloss die Stimme,so, dass die Jammerrede, bittrer noch, sich einwärts wandte und im Herzen tönte. (XVI, 36)
Verzweifelt folgt Armida Rinaldo zum Meeresstrand, wo er im Begriff ist, sein Schiff zu besteigen. Sie bringt ihn dazu, sie noch einmal anzuhören. Bevor sie zu reden beginnt, verlangsamt Tasso den Erzählrhythmus: Lui guarda e in lui s’affisa, e non favella, o che sdegna o che pensa o che non osa. Ei lei non mira; e se pur mira, il guardo furtivo volge e vergognoso e tardo.
Sie sieht ihn, hält ihn fest im Blick und spricht nicht, sei’s in Gedanken, sei’s aus Zorn, aus Kleinmut. Er sieht sie nicht an; sieht er doch, so wendet er den verstohlnen Blick, beschämt und zögernd. (XVI, 42)
Bemerkenswert erscheint die zweite Zeile des Zitats, in der der Erzähler verschiedene mögliche Motive für das kurze Schweigen Armidas vor ihrer Rede angibt. Auch Ariost greift des öfteren zu diesem Mittel der pluralen Motivierung von Handlungen oder Nicht-Handlungen. Bei ihm jedoch ist dieses Mittel Teil des ironischen Spiels mit der Erzählerrolle. Als zum Beispiel Angelica wieder einmal in die Gefahr gerät, Opfer des männlichen Begehrens zu werden, diesmal des wahnsinnigen Orlando (XXIX, 62–66), und wieder ihren Ring in den Mund steckt, um sich unsichtbar zu machen, fällt sie, schon in der Tarnung, vom Pferd, und der Erzähler gibt vor, er wisse nicht genau, ob dies aus Angst geschehen sei oder wegen der Ablenkung durch den Ring oder weil das Pferd gestrauchelt sei. Der Erzähler resümiert ironisch: »che non posso affermar questo né quello / dass ich weder dies noch jenes bestätigen kann« (Strophe 65, Vers 4). Eine ganz andere Intention und Intensität der Bewusstseinsdarstellung vermittelt das letzte Tasso-Zitat. Armida fehlen zunächst angesichts ihres feige fliehenden
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Geliebten die Worte, und der Erzähler bietet in der zweiten Zeile drei emotionale Motive dafür an: Empörung oder Gedankenverlorenheit oder Kleinmut. Klar wird, dass es sich hier nicht um emotionale Alternativen handelt, sondern um einen äußerst ambivalenten Motivkomplex. Das dreifache »o … o … o …«, »sei es dies, sei es das, sei es jenes«, wird gleichbedeutend mit einem dreifachen »e … e … e …«, »sowohl dies, als auch das, als auch jenes«. Tasso, nicht Ariost, ist der Dichter des »Sowohl – als auch«, der feinste Nuancen im emotionalen Haushalt des modernen Subjekts darzustellen weiß. Rinaldo lässt sich aber von Armida nicht erweichen und kehrt zum Endkampf des christlichen Heeres um Jerusalem zurück. Als Armida sieht, dass ihr Liebesflehen nichts genützt hat, reduziert sich ihr komplexer und ambivalenter Gemütszustand auf Hass und Rachegefühle. Nun kehren auch ihre magischen Kräfte zurück, sie fliegt auf ihrem Flugwagen nach Gaza und schließt sich dem ägyptischen Heer an, das den eingeschlossenen moslemischen Glaubensbrüdern in Jerusalem zu Hilfe eilt. Sie setzt sich selbst zum Preis für denjenigen aus, der Rinaldo im Kampf töten wird. An der offenen Feldschlacht vor Jerusalem nimmt Armida selbst als Bogenschützin teil. Sie schießt auf Rinaldo und trifft ihn, aber nur leicht. Der Schuss und ihre emotionale Verfassung, während der Pfeil fliegt, werden nun wieder in zeitdehnendem Erzählen, quasi in Zeitlupe geschildert: Sorse amor contra l’ira, e fe’ palese che vive il foco suo ch’ascoso tenne. La man tre volte a saettar distese, tre volte essa inchinolla, e si ritenne. Pur vinse al fin lo sdegno, e l’arco tese e fe’ volar del suo quadrel le penne. Lo stral volò, ma con lo strale un voto sùbito uscì, che vada il colpo a vòto.
Dem Zürnen widersetzte sich die Liebe und offenbarte die verborgnen Gluten. Dreimal erhob sie zielend ihre Hände, zog dreimal sie zurück und ließ sie sinken. Am Ende siegt der Zorn, sie spannt den Bogen und lässt die Federn des Geschosses fliegen. Wohl flog der Pfeil, doch mit dem Pfeil entfuhr ihr der jähe Wunsch, dass er sein Ziel verfehle.
Torria ben ella che il quadrel pungente tornasse indietro, e le tornasse al core; tanto poteva in lei, benché perdente (or che potria vittorioso?), Amore. Ma di tal suo pensier poi si ripente, e nel discorde sen cresce il furore. Così or paventa ed or desia che tocchi a pieno il colpo, e ’l segue pur con gli occhi.
Sie zöge vor, dass des Geschosses Spitze sich wende und ihr selbst das Herz durchbohre. So viel vermochte noch, besiegt, in ihr die Liebe (was vermöchte sie als Sieger?). Doch dann bereute sie, was sie empfunden, und im entzweiten Herzen wuchs die Wut. So fürchtet sie und wünscht sie, voll zu treffen, und folgt dem Flug des Pfeils mit ihren Augen. (XX, 63–64)
Und erst in der folgenden Oktave 65 trifft der Pfeil dann endlich. Armidas innere Zerrissenheit zwischen Mordgelüsten und Selbstbestrafungswünschen verlangsamt in Tassos Darstellung gleichsam den Flug des Pfeils. Die Exaltation der gegensätzlichen emotionalen Impulse mündet in besinnungslosen Furor (64. Oktave, 6. Vers: »e nel discorde sen cresce il furore«). Die nächsten anderthalb Verse,
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»or paventa ed or desia che tocchi / a pieno il colpo«, die Staiger vereinfachend aber treffend mit »So fürchtet sie und wünscht sie, voll zu treffen« übersetzt, offenbaren diese widersprüchliche Gemütshaltung. Armidas Schuss verletzt Rinaldo nur leicht, die Heiden werden vernichtend geschlagen. Armida flieht vom Schlachtfeld und will sich mit ihrem eigenen Pfeil den Tod geben. Doch Rinaldo, der ihr heimlich gefolgt ist, fällt ihr in den Arm. Sie wird ohnmächtig, er fängt sie auf, sie kommt wieder zu sich: E con man languidetta il forte braccio, ch’era sostegno suo, schiva respinse; tentò più volte e non uscì d’impaccio, ché via più stretta ei rilegolla e cinse. Al fin raccolta entro quel caro laccio, che le fu caro forse e se n’infinse, parlando incominciò di spander fiumi, senza mai dirizzargli al volto i lumi.
Und stieß mit matter Hand den starken Arm, der ihre Stütze war, erzürnt beiseite. Doch es gelang ihr nicht, das Band zu lösen. Nur enger wurde sie von ihm umschlungen. Dann überließ sie sich der lieben Fessel (ihr lieb vielleicht, obwohl sie es verhehlte). Und unter einem Strom von Tränen sprach sie, doch ohne je den Blick auf ihn zu richten. (XX, 130)
Erzählerisch raffiniert gestalten vor allem die Verse 5 und 6 Armidas emotionale Verfassung. Die stützende Umarmung durch Rinaldo empfindet sie als »caro laccio«, »liebe Umschlingung«, was jedoch mit einem »forse / vielleicht« relativiert wird. Will der Erzähler sich unwissend stellen oder will er signalisieren, dass Armida selbst es nicht so genau weiß? Er fügt hinzu »e se n’infinse«. Die semantische Konstruktion »se n’infinse« ist äußerst komplex: »infingere« heißt soviel wie »hineinfingieren«, »hineinprojizieren«, »etwas vormachen«; »infinse« ist 3. Person Perfekt; die reflexive Form »se infinse« mit Genitivus partitivus »se n[e] infinse« meint, sie wollte sich davon nichts anmerken lassen, es schwingt semantisch aber auch mit – und dies geht in der Übersetzung Staigers ein bisschen verloren –, dass sie selbst es sich nicht eingestehen wollte. Das Ende des Liebesromans von Armida und Rinaldo bleibt offen. Die Erotik wird am Schluss der religiösen Thematik untergeordnet. Rinaldo, der mehr für Armida empfindet, als er wahrhaben wollte, muss alles Weitere von ihrer Konversion abhängig machen, die sie in Anklang an die Worte der Jungfrau Maria an den Erzengel Gabriel (»Ecco l’ancilla tua / Siehe, ich bin deine Magd«, XX, 136, 7; vgl. Lukas 1,38) in Aussicht stellt. Die raffinierte Perspektivenführung und die differenzierte Darstellung des Bewusstseinsinnenraums behält Tasso nicht den christlichen Figuren in seinem Werk vor, wie schon hier bei Armida deutlich wird, die allerdings am Schluss wohl Christin wird. Wenn ich eingangs dieses Kapitels erwähnte, dass die moralischen Grenzen zwischen Christen und Nicht-Christen bei Tasso wieder deutlicher gezogen erscheinen als bei Ariost, so wird diese Tendenz relativiert durch die gegenläufige Tendenz, auch den sogenannten Heiden, oder doch zumindest eini-
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gen von ihnen, ein ebenso differenziertes emotionales Innenleben zuzuschreiben wie den Christen. Eine Episode um Erminia mag dies weiterhin belegen. Erminia ist die Tochter des Königs von Antiochien, das vom christlichen Helden Tancredi erobert wurde, dessen Gefangene sie eine Weile war, bevor er sie nach Jerusalem ins Exil ziehen ließ. In ihrer Gefangenschaft hatte sie sich in Tancredi verliebt, dies aber niemandem anvertraut. Und als nun das christliche Heer Jerusalem belagert, beobachtet sie die Kampfhandlungen von einem Turm an der Stadtmauer aus. Einmal kommt es vor der Stadtmauer zu einem Duell zwischen dem heidnischen Helden Argante und Tancredi. Das Duell wird zunächst aus auktorialer Sicht geschildert, wobei Tasso weniger historische Exaktheit anstrebt, sondern die Gelegenheit nützt, einen Fechtkampf nach allen Regeln des Turnierwesens im 16. Jahrhundert zu schildern. Wichtiger ist aber, dass der Erzähler nach Beendigung des Kampfes, der durch die einbrechende Dunkelheit zunächst unentschieden bleiben muss, einen Perspektivenwechsel und eine Rückblende im Erzählen vornimmt und aus der Sicht Erminias das Duell noch einmal von vorn schildert: Nel palagio regal sublime sorge antica torre assai presso a le mura, […]. Quivi […] s’asside, e gli occhi verso il campo gira e co’ pensieri suoi parla e sospira. Quinci vide la pugna, e ’l cor nel petto sentì tremarsi […]. Così d’angoscia piena e di sospetto mirò i successi de la dubbia sorte, e sempre che la spada il pagan mosse, sentì ne l’alma il ferro e le percosse.
In dem Palast des Königs ragt empor ein alter Turm, ganz nahe bei den Mauern, […]. Dort […] lässt sie sich nieder und blickt zum Kampfplatz und spricht mit ihren Gedanken und seufzt. Da sah sie auch den Zweikampf, und das Herz in ihrer Brust fühlte sie erbeben […]. So voller Angst und Sorge folgte sie des zweifelhaften Loses Wechselfällen. Und wenn sein Schwert der Heide schwang, so spürte sie in ihrer Seele das Eisen und die Hiebe. (VI, 62–63)
Tasso vollzieht die Kopernikanische Wende im Erzählen. Mit ihm setzt der narrative Pluriperspektivismus ein, der die Welt von keiner Zentralperspektive mehr geordnet, sondern als Konstrukt und Projektion von Bewusstseinsmonaden erkennen lässt. Und zugleich gestaltet Tasso die Labilität und Unzuverlässigkeit dieser Bewusstseinskonstrukte, indem er zeigt, wie anfällig sie für Täuschung und Selbsttäuschung sind. In der Nacht wird Erminia von Albträumen heimgesucht, die teilweise auch Wunschträumen gleichen. Der im Kampf verwundete Tancredi erscheint ihr und bittet sie um Hilfe, da sie über Wissen um wundheilende Kräuter verfügt. Nachdem sie aus dem Schlaf hochgeschreckt ist, schildert der Erzähler den Bewusstseinsprozess, der dazu führt, dass Erminia zuletzt die Entscheidung trifft, heimlich die Stadt zu verlassen und Tancredi im Feldlager der Christen aufzusuchen. Der Entscheidungsfindungsprozess wird zunächst noch durchaus traditionell als allegorische Psychomachie zwischen den Personifikationen des Onore und des
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Amore wiedergegeben. In der konkreten Durchführung geht die Psychomachie aber in moderne narrative Bewusstseinsanalyse über: L’un [Onore] così le ragiona: »[…] tu libera or vuoi perder la bella verginità ch’in prigionia guardasti?«
Die Ehre spricht: »[…] du willst die schöne Jungfernschaft in Freiheit verlieren, die du als Gefangene dir bewahrtest?« (VI,71)
Vorher hatte sich Erminia immer nur eingeredet, sie wolle dem großmütigen Tancredi, der sie in ihrer Gefangenschaft so zuvorkommend behandelt hatte, aus reiner pietà helfen. Nun deckt aber Onore, ihr moralisches Über-Ich, noch ein weiteres, stärkeres Motiv für ihre Hilfsbereitschaft auf, das sie gerne vor sich und der Welt verborgen hätte. Und genau dieses sich ins Bewusstsein drängende Motiv wieder zu verdrängen, unternimmt dann im folgenden der personifizierte Amor: Da l’altra parte, il consiglier fallace con tai lusinghe al suo piacer l’alletta: »[…]. Crudel sei tu, che con sì pigra voglia movi a portar salute al tuo fedele. Langue, o fera ed ingrata, il pio Tancredi […]. Deh! ben fòra […] ufficio umano, e ben n’avresti tu gioia e diletto, se la pietosa tua medica mano avicinassi al valoroso petto«.
Dagegen verlockt schmeichelnd sie der trügerische Berater zu ihrer Lust: »[…]. Grausam bist du, dass du so zögerst, deinem Getreuen das Heil zu bringen. Es schmachtet der gütige Tancredi, o du grausam Undankbare […]. Ach, es wäre […] nur menschliche Pflicht und brächte dir wohl Freude und Entzücken, wenn Du deine erbarmungsvoll heilende Hand der heldenhaften Brust nähern könntest«. (VI, 73–76)
Der erotische Impuls verbirgt sich in Amors Worten hinter dem Motiv humanen Erbarmens mit dem Verwundeten sowie hinter dem Appell an die moralische Pflicht, demjenigen zu helfen, der auch ihr schon aus Lebensgefahr geholfen hat. Undankbar, ja grausam müsse ihr Verhalten erscheinen, wenn sie jetzt nicht handele. Das erotische Motiv ist zwar am Schluss des Zitats noch erkennbar hinter dem angeblich rein wohltätigen »diletto«, ihre Hand der verwundeten Brust nähern zu dürfen. Aber Amor oder das Lustprinzip behält zuletzt doch deshalb die Oberhand im inneren Motivkonflikt, da es geschickt sich selbst hinter vorgeschobenen moralischen Motiven, die die Bedenken des Onore ausbalancieren, unsichtbar macht. Noch an einem letzten Beispiel will ich die Transformation allegorisch-exemplarischen Erzählens in personales Erzählen durch Tasso belegen. Es betrifft wieder einen Vertreter der sogenannten Heiden, den türkischen Sultan Soliman. Nach einer verlorenen Schlacht vor den Toren Jerusalems schafft er es nicht, in die Stadt zurückzukehren, bevor die Stadttore geschlossen werden, kann allein und verwundet fliehen, und dann schildert der Erzähler über neun Strophen lang seine Gemütsverfassung. Ich zitiere nur zwei besonders eindrückliche Stellen:
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E rivolgendo in sé quel che far deggia, in gran tempesta di pensieri ondeggia. […]. Ma d’ora in ora a lui si fa più crudo sentire il duol de le ferite, ed anco roso gli è il petto e lacerato il core da gli interni avoltoi, sdegno e dolore,
Und überlegt bei sich, was nun zu tun sei, und schwimmt in großer Sturmflut von Gedanken. […]. Doch immer schlimmer macht sich der Schmerz seiner Wunden spürbar, und auch zernagen ihm die Brust und zerreißen ihm das Herz seine inneren Geier: Wut und Schmerz. (X, 3, 6)
Die Metapher einer Sturmflut der Gedanken im zweiten Vers des Zitats erinnert an entsprechende Metaphern in Petrarcas Canzoniere zur Analyse von Gemütsregungen und -verwirrungen des lyrischen Ichs. Man sieht, wie nun mit Tasso die in der Lyrik schon wesentlich differenzierter entwickelten Instrumente der Bewusstseinsanalyse ins Epos bzw. eben in den Roman, zu dem Tassos Werk immer mehr wird, einwandern. Und am Schluss des Zitats werden die allegorischen Geier oder Adler, die zur Strafe für den Frevel des Feuerraubs an der Leber des Prometheus genagt haben, verinnerlicht, psychologisiert, zur Metapher emotionaler Zerrissenheit. Tasso findet an anderer Stelle in seiner Gerusalemme, im großen Trauermonolog Tancredis, nachdem dieser unwissentlich im Kampf seine (Fern-)Geliebte Clorinda getötet hat, ein Bild oder eine Umschreibung für die prozessuale und in sich gebrochene Struktur des modernen Bewusstseins: Temerò me medesmo; e da me stesso sempre fuggendo, avrò me sempre appresso.
Ich werde mich selbst fürchten; und immer auf der Flucht vor mir selbst, werde ich immer in meiner Nähe sein. (XII, 77)
Hier findet Tasso als erster eine Formel für die moderne »différance«-Struktur des Selbstbewusstseins, die prozessuale Struktur des Aufschubs, in dem das Ich sich niemals selbst innewird und sich selbst immer auf der Spur bleibt.
4. Fazit Schon im Orlando furioso schlägt das ironische Spiel mit dem allegorisch-exemplarischen Erzählen in den Ernst des drohenden Verlustes transzendenter Sinngebung um. Radikale Kontingenz steigt zum obersten Weltprinzip auf, das nur noch im dichterischen Artefakt kompensiert werden kann. Dieses Artefakt besteht allerdings vorläufig nur darin, die Auflösung der traditionellen Sinnstiftungssysteme immer wieder ironisch zu umspielen. Tasso geht in seiner Gerusalemme liberata einen Schritt weiter. Er zeigt, dass das Zerbrechen des alten Sinnes eine neue Form von Subjektivität erzeugt. Er (er)findet narrative Techniken, die die komplexe Innerlichkeit des modernen Sub-
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jekts darzustellen erlauben, das mit seinen Sinnsystemen zugleich seine innere Mitte verloren hat. Die künstliche Rekonstruktion epischer Totalität in der Gerusalemme aber kann das sich ankündigende moderne Subjekt nicht mehr in sich einbinden, sondern symbolisiert dessen hoffnungslose Suche nach Totalität.
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Sektion 3 Zwischen Scham und Schuld. ›Affizierte‹ Subjekte in Tragödie und Lyrik
Literarische Selbstdarstellungen mit imaginierten biographistischen Tendenzen und theoretisch forcierte Autorenkonzepte wurden in der vorangegangenen Sektion vorgestellt. In der nun folgenden Gruppe von Aufsätzen rückt der Affekt als Träger und Zerstörer von Selbst-Verfassungen in den Mittelpunkt. Die hier verhandelten Figurationen des Selbst werden im Spannungsfeld von Autor, Text und Hörer/Leser entfaltet. Der Widerstreit zwischen Verstand und Gefühl bestimmt die Selbstentwürfe und Selbstprojektionen aller Texte, die in den hier versammelten Beiträgen untersucht werden. Dieser Widerstreit wird oftmals durch einen affektbezogenen Konflikt zwischen dem Innen des menschlichen Selbst und dem Außen einer wie immer gearteten Öffentlichkeit ausgelöst und stellt eine ›anthropologische Konstante‹ dar, wiewohl die Positionen, die das Selbst jeweils einnimmt, ganz unterschiedlich sind und von der produktiven Hinnahme der Abhängigkeit vom Außen der Gesellschaft bis zum von irreparablen Schäden begleiteten Rückzug des Selbst in das Innere reichen. Es handelt sich in der Hauptsache um Beiträge zur produktiven Rezeption antiker Autoren, Werke und Paradigmen. Die thematische Affinität erklärt die sektionsinterne Anordnung, die Chronologie ist dabei eher zufällig (weitgehend) eingehalten. Unter dem Titel »Ich schäme mich, also bin ich. Scham und Selbstbewußtsein in der griechischen Literatur« entfaltet Jan Stenger (Kiel) in breiter literaturhistorischer Perspektive die existentielle Kraft der Scham als einer teils affektiven, teils rationalen Kontrollinstanz. In vergleichender Analyse (mit einem Schwerpunkt auf der griechischen Tragödie) diskutiert Stenger das (körperliche und moralische) Schamempfinden bekannter literarischer Konfliktfiguren und erweist es als konstitutiven Bestandteil kanonischer Werke der europäischen Literatur, soweit sie ein Selbstverhältnis thematisieren. In kritischer Auseinandersetzung mit der shameculture-Forschung nach E.R. Dodds u. a. lenkt Stenger den Blick auf das an die Scham gekoppelte ›Ich‹: Während Wahrnehmung als unhintergehbare Zugangsvoraussetzung des Selbst zur Welt gefasst wird, erscheint die Größe ›Scham‹ als
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– fast immer pathetisch konfigurierte – Erfahrungstatsache, die zwischen der Reflexion auf die Situation und dem Affekt der Furcht aufscheint. Im Fokus steht dabei stets das Außenverhältnis des Selbst: Stenger analysiert die Scham-Konflikte im Spannungsfeld von Autonomie und Heteronomie, von Soziabilität und Zerrissenheit und widmet dem Schmerz als Folgeerscheinung einige Aufmerksamkeit: »Da es sich bei der Scham um das Selbstinnewerden einer Defizienz [»Nacktheit«] handelt, wird das Ich als schmerzhaft empfunden«. Identität und Alterität lassen sich dabei nicht auseinanderdividieren, impliziert doch zumal der griechische ›Scham‹Begriff immer auch eine Frage der (äußeren) Ehre. Obzwar sie es überhaupt erst ermöglicht, stellt die Scham ein permanentes Risiko für das Selbstbewusstsein dar; Scham wird dabei in fruchtbare Beziehung zur Handlung(snotwendigkeit) gesetzt. Besonderes Augenmerk legt Stenger auf Grenzen und Möglichkeiten von Rationalität und Willensfreiheit: Kommt es zur »innere[n] Zerrissenheit des Ich«, so sind »Wollen und Handeln auseinander[getreten]«. Die Existenz von Scham wirft die Frage nach Schuld und Schuldbewusstsein auf: Mit ihr beschäftigt sich Wolfgang Braungart (Bielefeld) in seinem Beitrag »›Ich suche / Mich selbst, und finde mich nicht mehr.‹ Das Selbst und die Tragödie unter den Bedingungen des Christentums (Sophokles, Kleist, Corneille, Racine, Schiller)«. Das leitende Interesse des Beitrages ist in das Racines Phaedra entlehnte Titelzitat gebannt: Der Zusammenhang von Schuld, Selbstsuche und Selbstverlust, den Braungart an Textbeispielen aus den genannten Autoren problematisiert. Die ausgewählten Tragödien befassen sich mit dem individuellen Leid der Protagonisten, deren Ausgeliefertheit an Affekte und Verstrickung in Schuld ihre Selbstsuche und ihre Individuationsbestrebungen befördert. Auch hier bleibt die Spannung zwischen dem Selbstverhältnis und der Orientierung an gesellschaftlichen Koordinaten im Interesse der Stabilisierung des Ganzen bestimmend: Dabei hält Braungart an einem Gegensatz zwischen antiker (zumal aristotelischer) und moderner Erkenntnisproblematik fest, den er am Beispiel von (Selbst)Opfer und Versöhnung aufzeigt: Die Antike habe sich in dieser Frage empirisch statt theoretisch orientiert, so seien »Selbst-Erkenntnis und Subjekt-Bewußtsein […] aus Erfahrung [entstanden]«. Bei den klassizistischen Tragödien lenkt Braungart den Blick auf die auf christlichen Werten beruhenden Erlösungs- und Versöhnungsmöglichkeiten, die dem infolge der Selbsterkenntnis am Rande der Zerstörung befindlichen Selbst noch bleiben könnten: Erst im Bann der Unmöglichkeit dieser Optionen (und ihrer Wahrnehmung) steht auch das Subjekt auf der Schwelle zur Unhintergehbarkeit. Den entscheidenden Schritt vollzieht laut Braungart Schiller in der Tragödie »Die Braut von Messina«; hier figuriere das Christliche nur noch als notwendiges, aber fernes Relief und markiere gleichzeitig den – auch bei Schiller einsetzenden – Beginn der Ablösung des Ästhetischen vom Ethischen. Braungart verknüpft die Frage nach dem Subjekt mit der nach dem konstitutiv-destruktiven Zusammenspiel von Kunst und Selbst.
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Auch Horst-Jürgen Gerigk (Heidelberg) liefert eine synoptische Betrachtung eines antiken und eines (christlich kodifizierten) modernen Textes; er vergleicht Sophokles’ »König Ödipus« mit E.T.A. Hoffmanns »Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde«. Der programmatische Titel des Beitrages: »Zerrissenheit. König Ödipus grenzt sich ab gegen das romantische Ich«, legt in kühner chronologischer Provokation die Überzeitlichkeit der Zerrissenheitsproblematik offen, wenngleich nach Gerigks Analyse die Art und Weise ihrer Beschaffenheit und Konsequenzen durchaus divergieren. Zwar liege den beiden exemplarischen Texten über ein Selbstverhältnis die »anthropologische Prämisse« zugrunde, worunter Gerigk mit Hegel die »Definitionen des Wesens des Menschen« schlechthin versteht, nämlich sein auf hermeneutisches Bewusstsein gegründetes Weltverständnis. Dieses entzündet sich an dem bereits bekannten dramatischen Konflikt zwischen Wollen und Nichtwollen, zwischen Freiheit und Schuld in psychologischer und anthropologischer Perspektive. Doch während das ›Ich‹ des Ödipus ein öffentliches sein müsse, dessen Subjektivitätsgrad von der Schuldfrage nicht abzutrennen sei, bleibe das des hoffmannschen Protagonisten Erasmus Spikher innerlich. Die Spaltung des Ödipus wird als Resultat der Kollision mit der Außenwelt gedeutet. So ist Ödipus »zerrissen«, weil er Ungewolltes getan, Spikher hingegen, weil er Gewolltes durchgeführt hat. Gerigk verortet seine Untersuchung im ›Realismus-Antirealismus‹-Diskurs, berücksichtigt also traumhafte und spiegelbildliche Transformationen des Ich, wie sie besonders den späteren Text kennzeichnen. Diesen Verzerrungen mit ihrer diffizilen Schein-Sein-Problematik in Hoffmanns Stück kontrastiere im antiken Drama die subjekttheoretisch gewendete »Selbstwendung wegen Klarsicht«. Der Konflikt von Schein und Sein mit seinen affektiven Konsequenzen für ein individuelles Subjekt beschäftigt wiederum den Beitrag von Karin Westerwelle (Münster): »Die Darstellung von Subjekt und Affekt in Giacomo Leopardis Ultimo Canto di Saffo«. Westerwelle klärt zunächst Leopardis, des Dichterphilologen, Position innerhalb der querelle: Obzwar ein großer Bewunderer der Antike, konstatiert er einen substantiellen Unterschied auf der Grundlage der historisch gewandelten Lebensbedingungen: »Damit integriert sich [auch] das Antike-Moderne-Paradigma dem historischen Prozeß«. Leopardis Modernekritik sei immer auch »Rationalismuskritik«, die den Verlust antiker Imaginationskraft und Illusionsbildung bedauert; die Antike bleibt der ideale Referenzrahmen im Hinblick auf Kunst-, Form- und Stilfragen: »Antikisierende Sprachformen und moderne Bildlichkeit« kommen im Idealfall zusammen. Unter diesen Voraussetzungen deutet Westerwelle die Saffo-Canzone, in der die Dichterin – durchaus im Einklang mit der literarhistorischen Fiktionstradition – als vom Leid gezeichnet dargestellt wird; Ursache dieses Leides ist das Ungleichgewicht, das zwischen ihrer dem Schönheitsideal verpflichteten Jugend und ihrer realen körperlichen Hässlichkeit entsteht. Dabei geht es aber keineswegs um ein »individuell-biogra-
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phisches Element«, sondern um das »allgemeine Mißverhältnis zwischen Schein und Sein«; bei Leopardi führt die Verunmöglichung eines unmittelbaren Naturzugangs zur Zerrissenheit des lyrischen ›Ich‹, zu Unglück, Ausgrenzung und Tod. Saffo koinzidiert nicht mit der antiken Dichterin Sappho, die sich in ihren Gedichten selbst anspricht, sondern wird in ihrer »typisch modernen« Affektbestimmtheit zur »Projektionsfigur […] für die moderne Situation des Menschen« umgeformt, deren Kennzeichen die Trennung des Guten vom Schönen, des Ethischen vom Ästhetischen ist: Dieses signum hat Leopardis Saffo mit Schillers Don Cesar und Hoffmanns Erasmus Spikher gemein; der Schmerz, der diese Trennung begleitet, affiliiert sie den ›schamhaften‹ tragischen Subjekten, die handlungsunfähig geworden sind.
Ich schäme mich, also bin ich Scham und Selbstbewußtsein in der griechischen Literatur Jan Stenger (Kiel)
6 VND das Weib schawet an / das von dem Bawm gut zu essen were / vnd lieblich anzusehen / das ein lüstiger Bawm were / weil er klug mechte / Vnd nam von der Frucht / vnd ass / vnd gab jrem Man auch da von / Vnd er ass. 7 Da wurden jr beider Augen auffgethan / vnd wurden gewar / das sie nacket waren / Vnd flochten Feigenbletter zusamen / vnd machten jnen Schürtze. 8 VND sie höreten die stimme Gottes des HERRN / der im Garten gieng / da der tag küle worden war. Vnd Adam versteckt sich mit seinem Weibe / fur dem angesicht Gottes des HERRN vnter die bewme im Garten. 9 Vnd Gott der HERR rieff Adam / vnd sprach zu jm / Wo bistu? Vnd er sprach / 10 Jch hörete deine stimme im Garten / vnd furchte mich / Denn ich bin nacket / darumb verstecket ich mich. 11 Vnd er sprach / Wer hat dirs gesagt / das du nacket bist? Hastu nicht gessen von dem Bawm / da von ich dir gebot / Du soltest nicht da von essen 1?
Am Beginn der Geschichte der Menschheit steht die Erfahrung der Scham. Dem Alten Testament zufolge, dessen Luthersche Übersetzung hier zitiert ist, übertreten die ersten Menschen im Garten Eden ein Gebot Gottes, worauf sie sich in ein und demselben Augenblick selbst erkennen und schämen. Adam und Eva werden sich der Bedeutung ihres Handelns, ihres Normverstoßes bewußt, der ihre Existenz bloßlegt, wie es darin zum Ausdruck kommt, daß sie ihrer Nacktheit gewahr werden. Aus Scham über seine körperliche und zugleich moralische Blöße, nämlich den Fehltritt, versucht Adam sich vergeblich dem Blicke Gottes zu entziehen und unsichtbar zu werden. Offenbar rechnet er damit, daß man ihm die Scham ohne weiteres ansehen wird, und fühlt sich nicht in der Lage, diesem Blick standzuhalten. Das zuvor unschuldig-unproblematische Dasein des ersten Menschenpaares wird durch die Koinzidenz von Scham und Selbsterkenntnis schlagartig zur peinlichen, schmerzlichen Tatsache 2.
1 Gen 3,6–11. Zitiert nach Luther (1972). 2 Vgl. dazu auch die Ausführungen bei Aug. de Genesi ad litteram 11, 31–34.
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Schamerfahrungen gehören in ihren mannigfaltigen Ausprägungen zum Inventar der europäischen Literaturgeschichte, von Sophokles’ Aias bis hin zu Kafkas Proceß, von der Lucretia des Livius bis zu Martin Walsers Fliehendem Pferd 3. Auch wenn die Anlässe für Scham, da sie von sozialen Strukturen abhängen, sich synchron unterscheiden und einem diachronen Wandel unterworfen sind, scheinen, mustert man einschlägige literarische Bearbeitungen des Themas sowie theoretische Erörterungen, gewisse anthropologische Konstanten zu existieren, die auf die Affektstruktur der Scham zurückzuführen sind, etwa das Erröten des Betroffenen oder die enge Verknüpfung mit dem Blick. Gerade für die Griechen, zumindest die der archaischen Zeit, so ist seit Erec Dodds’ The Greeks and the Irrational 4 immer wieder behauptet worden, war die Scham bzw. die a d∏c, also die Rücksicht auf gesellschaftliche Sanktionen für Fehlverhalten, ein zentrales Konzept 5. Die Griechen avancierten zu exemplarischen Vertretern einer sogenannten shame-culture bzw. Schamkultur, die auf rein äußeren Sanktionen für gutes und schlechtes Betragen beruhe, während ihr die in der Schuldkultur zentrale internalisierte Verurteilung von Fehlverhalten abgehe. Diese strikte Trennung in zwei grundsätzlich verschiedene Kulturen ist allerdings nicht unwidersprochen geblieben. So hat Douglas Cairns anhand von Texten der archaischen und klassischen Epoche gezeigt, daß sich die Rücksicht auf die Meinung der anderen gar nicht vom Eigeninteresse und der Rücksicht auf das eigene Selbst trennen lasse 6. Trotz diesen unterdessen vorgebrachten Einwänden hat allerdings nach wie vor die Beobachtung Gültigkeit, daß nach Ausweis der erhaltenen literarischen Texte Ehre und Reputation in der archaischen wie klassischen Zeit Leitlinien für das Verhalten und das Handeln des einzelnen waren. Bevor im folgenden näher auf das Phänomen der Scham in einzelnen Texten eingegangen wird, ist eine kurze Bemerkung zur griechischen Vorstellung und Begrifflichkeit der Scham erforderlich. Wer im Deutschen von ›Scham‹ spricht, vermag damit nur einen Aspekt dessen zu erfassen, was im Griechischen mit den Wörtern a d∏c, a deÿsjai und a sq‘nh, a sq‘nesjai bezeichnet wurde. Scham, Scheu, Respekt, Achtung und Ehrgefühl können immer nur approximative Behelfsübersetzungen für die Konnotationen des Wortes a d∏c bleiben, so daß allein eine fundierte Begriffsuntersuchung, wie sie Cairns unternommen hat, dazu geeignet ist, alle möglichen Facetten zum Vorschein zu bringen7. Hinzu kommt, 3 Zu verschiedenen Aspekten der Scham in der Literatur vgl. die Beiträge in Pontzen und
Preußer (voraussichtlich 2007). 4 Dodds (1970 [1951]), 15–37. 5 Siehe etwa Adkins (1960), 48 f., 154–164 und Williams (2000), 91, 106f.; skeptisch Hooker
(1987). 6 Cairns (1993), passim, zur Kritik der Unterscheidung von shame-culture und guilt-culture
27–47. Siehe ferner Gill (1996), 65–67. 7 Cairns (1993). Siehe auch von Erffa (1937).
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daß es seit Homer 8 zu Begriffsentwicklungen kam und auch das Verhältnis zwischen den Termini a d∏c und a sq‘nh keineswegs stabil blieb 9. Im vorliegenden Zusammenhang soll von den vielfältigen Aspekten des griechischen a d∏c-Konzeptes im wesentlichen ein Element herausgegriffen werden, das, von Vorstufen abgesehen, erst mit der klassischen Zeit deutlicher in Erscheinung tritt: die retrospektive Scham. Während a d∏c einerseits im Sinne einer Scheu prohibitiv wirken und damit Handlungen hemmen, aber ebenso Handlungen oder ein bestimmtes Verhalten anmahnen kann10, ist sie andererseits ebenso geeignet, ein Verhalten aus der Rückschau zu bewerten. Die retrospektive Scham bedeutet also das SichSchämen für etwas, das man getan, gesagt oder auch unterlassen hat. Wenn in der folgenden Untersuchung von ›Scham‹ die Rede ist, so wird damit in der Regel diese retrospektive Scham bezeichnet11, die in den griechischen Texten häufig, aber nicht immer mit den Wörtern a d∏c und a deÿsjai gekennzeichnet wird. Anhand von literarischen Texten und theoretischen Erörterungen wird versucht, den insbesondere in der klassischen Zeit geführten Diskurs von Scham und Selbstbewußtsein zu rekonstruieren. Es läßt sich zeigen, daß das beschriebene Schamverhalten häufig mit Aspekten verknüpft ist, die man aus moderner Perspektive mit dem Selbst und dem Selbstbewußtsein in Verbindung bringt. Auf diese Assoziation führt auch eine nähere Bestimmung, worin das Phänomen der retrospektiven Scham besteht. Die retrospektive Scham kann als ein Gefühl des Unwohlseins bzw. ein mit Unlust verbundenes Erleben einer Person begriffen werden, das sich darin äußert, daß der Betroffene unwillkürlich errötet, wie Aristoteles konstatiert 12, und den Blick senken muß, also anderen nicht ins Auge sehen kann13. Das Bedürfnis, sich zu verhüllen oder am liebsten im Erdboden zu versinken, weist darauf hin, daß Scham in der Regel auf andere, auf eine soziale Gruppe bezogen ist, deren Gegen8 Zur a d∏c bei Homer siehe neben von Erffa (1937), 4–43 und Cairns (1993), 48–146 auch
Yamagata (1994), 156–174 und Rademaker (2005), 50–54. 9 Im Unterschied zu a d∏c bezeichnet a sq‘nh sowohl im objektiven Sinne die Schande bzw.
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die Beschämung als auch im subjektiven die Scham. In klassischer Zeit scheint a sq‘nh das übliche Wort der Prosa gewesen zu sein, während a d∏c eher auf poetische Kontexte beschränkt war. Vgl. Cairns (1993), 415. Man denke nur an die Kampfparainese unter Berufung auf a d∏c in Hom. Il. 5, 529–532; 5, 787; 8, 228; 13, 95; 15, 502; 15, 561–564. Siehe von Erffa (1937), 4–6 und Rademaker (2005), 51. Die Unterscheidung zwischen prospektiver und retrospektiver Scham ist freilich ohnehin nicht als exklusiver Gegensatz aufzufassen, da die prospektive im Grunde nichts anderes ist als eine in Gedanken vorweggenommene, theoretisch durchgespielte retrospektive Scham. Weil man diese Scham vermeiden möchte, unterläßt man dann Handlungen, die sie nach sich ziehen könnten. Arist. EN 4,15, 1128b13. Für Definitionen der Scham siehe auch Taylor (1985), 54–57, Landweer (1999), 125, Williams (2000), 91f., 195–198.
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wart von dem sich Schämenden als unangenehm empfunden wird. Literarisch ist dieses Motiv etwa sehr deutlich in den Euripideischen Figuren des Herakles, des Orest und der Phaidra zu greifen, ja die Geste des Verhüllens bzw. das Senken des Auges scheint auf der Theaterbühne geradezu ein für das Publikum erkennbares Signum der Scham zu sein14. Scham ist offenbar mit unfreiwilliger Selbstenthüllung verbunden 15; man zeigt etwas von sich, was nicht an diesen Ort gehört. Was an den jeweiligen Ort gehört und was nicht, bestimmen die Reaktionen der anderen, genauer: das, was die sich schämende Person als die Reaktion der anderen wahrnimmt oder antizipiert. Von zentraler Bedeutung für das Verständnis dieses Gefühls ist der Verstoß gegen Normen, Regeln oder Konventionen 16. Wer Scham empfindet, bekundet damit, Normen, die in der Gesellschaft oder Gruppe, der er angehört, akzeptiert sind, außer acht gelassen zu haben. Und nicht nur dies, er bekennt außerdem, daß er selbst ebenso wie die Gruppe diese Normen prinzipiell anerkennt und nur für einen Moment gegen sie verstoßen hat. Würde er sie nämlich nicht als verbindlich erachten, schämte er sich nicht, sondern würde es auch im nachhinein als unproblematisch bewerten, daß er sich über sie hinweggesetzt hat. Scham geht demnach auf einen konkreten Auslöser oder Anlaß zurück, eben einen Fehltritt17, der ungewollt, nicht beabsichtigt geschieht. Die Verletzung der Normen und die Scham dafür führen in dem Betroffenen zu dem Eindruck, defizitär zu sein und an Wert eingebüßt zu haben18. Genügt er doch, wie sein Verhalten demonstriert hat, nicht in vollem Umfang den Ansprüchen der Gruppe und seinen eigenen an sich selbst. Der sich Schämende fällt also ein ungünstiges Urteil über sich und nimmt an, daß andere ebenso über ihn denken, selbst wenn sie realiter sich indifferent verhalten. An diesem Punkt zeigt sich, wie eng das Gefühl der Scham mit dem Selbstbild der Person verknüpft ist. Wer sich schämt, wird schlagartig gewahr, daß er gehandelt oder sich verhalten hat, wie es seinem eigentlichen Selbstbild nicht entspricht. Man könnte, auch ohne psychoanalytischen Ansätzen zu folgen19, von einem Verfehlen des Ich-Ideals sprechen, 14 Soph. OT 831–833, 1371–1390, 1409–1412; Eur. Hipp. 243–246, 300, 415–418, HF 1155–1162,
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1198–1201, Or. 459–461, 467–469; Agathon fr. 22 TrGF (Çdikeÿn nom–zwn Óyin a do‹mai f–lwn). Vgl. Plat. Smp. 178d–179a, 216b/c, Arist. Rh. 2,6, 1385a8–13, Xen. Cyr. 5, 5, 9, Plut. de vitioso pudore 528c. Daß Scham grundsätzlich visuell konzipiert ist, hebt Williams (2000), 104–106 hervor. Die Bedeutung des Normverstoßes für die Scham betont besonders Landweer (1999), 37 u. 125. Vgl. von Moos (2001), XIV–XVII. Ein anschauliches Bild hat für diesen Sachverhalt Sophokles in der Tyro gefunden (fr. 659 TrGF). Dort vergleicht sich die Titelheldin mit einem Fohlen, dessen Mähne geschoren wurde. Es erblickt im Wasser sein Spiegelbild und schämt sich für sein Aussehen. Gerade in der Psychoanalyse hat das Phänomen der Scham seit einiger Zeit verstärkte Aufmerksamkeit gefunden. Grundlegend dazu Wurmser (1990).
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insofern das Selbstbild aus einem Ensemble an Werten, Normen und Eigenschaften besteht, die der einzelne sich selbst als Maßstab setzt und zu verwirklichen trachtet. Exemplarisch mag für diesen Sachverhalt der Aias des Sophokles stehen, der, als er aus dem Wahnsinn wieder zur Besinnung gelangt ist, erkennen muß, daß das Abschlachten hilflosen Viehs mit seinem eigenen Status eines heldenhaften Kriegers unvereinbar ist, woraus sich für ihn ein eklatanter Selbstwertverlust ergibt 20. Scham setzt mithin eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität voraus; sie manifestiert sich hier in einem Konflikt zwischen dem handelnden Ich, das, wenn auch ungewollt, den heroischen Ehrenkodex verletzt hat, und dem erkennenden Ich, das retrospektiv diesen Normenverstoß als inakzeptabel bewertet. Explizit wird diese Antinomie zwischen den gleichsam zwei Ichs im Philoktet zur Sprache gebracht, wenn Neoptolemos gerade dadurch, daß er prospektive Scham im Sinne einer Scheu empfindet, den Zwiespalt zwischen seinem eigentlichen Wesen, seiner f‘sic, und dem von Odysseus geforderten Verhalten reflektiert 21. Nur weil er die Scham und damit sein Selbstbild ablegt bzw. verleugnet, kann Neoptolemos sich bereitfinden, Philoktet zu täuschen. Er nimmt nachgerade eine andere Identität an und läßt sich von Odysseus zum Werkzeug machen. Wie an Aias und Neoptolemos abzulesen ist, setzt Scham eine gewisse Selbstachtung und einen Sinn für Wert voraus, da es eines festen Maßstabes bedarf, damit die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität wahrgenommen wird. Den erwähnten Beispielen kann man entnehmen, daß Scham offensichtlich in intrikater Weise mit dem Selbstbewußtsein des Betroffenen zusammenhängt, was auch im Hinblick auf die Gegenwart von psychologischer und philosophischer Warte aus beobachtet wurde22. Da es sich wie bei Aias um eine krisenhafte, konfliktreiche Wahrnehmung des eigenen Ichs handelt, insofern das Ich zu Bewußtsein kommt und sich gleichzeitig in Frage gestellt sieht, ist es adäquat, das Selbstbewußtsein, das in der Scham zum Vorschein kommt, anhand solcher inhärenten Spannungen, Ambivalenzen oder Paradoxien zu untersuchen. Das erste Paradox ist das von Affekt und Reflexion. Scham äußert sich und wird für andere sichtbar in erster Linie durch körperliche Phänomene oder eng mit dem Körperlichen verbundene Verhaltensweisen. Sobald jemand die Scham in sich aufsteigen fühlt, errötet er, wodurch er die Aufmerksamkeit der anderen, die er eigentlich zu vermeiden sucht, gerade auf sich zieht. Darüber hinaus steht der 20 Soph. Aj. 364–367: Ârîc t‰n jras‘n, t‰n eŒkàrdion, t‰n ‚n daÒoic ätreston màqac, ‚n
ÇfÏboic me jhrs» dein‰n qËrac; o“moi gËlwtoc; oŸon Õbr–sjhn ära (Aias [zum Chor]: »Siehst du den Kühnen, den Beherzten, den in hitzigen Schlachten Unerschütterten, mich, gewaltig mit den Händen gegen ungefährliche Tiere? Weh mir über das Gespött, wie wurde ich mit Schmach bedeckt«!). 21 Soph. Ph. 79–120, bes. 86–95. 22 Vgl. Blume (2003), ferner Agamben (2003), 76–118, dem zufolge Subjektivität im Innersten Scham ist.
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Gesichtssinn in enger Beziehung zur Scham, insofern der sich Schämende es nicht vermag, sein Gegenüber geradeheraus anzublicken, sondern dem Blick ausweicht und Augenkontakt vermeidet23. Orest etwa geht im gleichnamigen Drama des Euripides dem Blick seines Großvaters Tyndareos aus dem Wege, da er sich vor ihm wegen der Tötung Klytaimestras schämt24, und Phaidra wendet sich im Hippolytos ab und senkt ihren Blick, als sich ihre unstatthaften Gefühle der Amme nicht länger verheimlichen lassen25. Gemeinsam ist dem Erröten und dem Vermeiden des Blickkontaktes, daß diese körperlichen Symptome der Scham überhaupt nicht oder nur in äußerst geringem Maße steuerbar sind. Die Gesichtsröte stellt sich plötzlich, unvermittelt ein; ebenso unwillkürlich muß der sich Schämende das Auge senken und weicht dem Blick seiner Mitmenschen aus. Von den körperlichen Anzeichen ausgehend, bestimmt deshalb auch Aristoteles in der Nikomachischen Ethik die Scham als Affekt (pàjoc), nicht als Tugend, obgleich er sie andernorts durchaus in die Nähe der Çret† rückt26. Der von ihm vorgetragenen Definition zufolge ist sie nämlich eine Furcht vor Ansehensverlust (fÏboc tic Çdox–ac), die sich auch ganz ähnlich wie die Furcht bei Gefahr manifestiere, nämlich in einer körperlichen Reaktion 27. Allerdings handelt es sich für Aristoteles anscheinend nicht um ein rein körperliches Phänomen; setzt doch die Scham voraus, daß in dem Betroffenen ein Urteil vorhanden ist, ob ein Ereignis Anlaß für Scham ist oder nicht, mag diese Bewertung in dem Moment auch nicht zu Bewußtsein kommen. Der Affekt birgt demnach eine gewisse Erkenntnismöglichkeit28. Bereits bei Platon war die Scham 23 Den visuellen Aspekt der Scham bemerkt auch Aristoteles, wenn er feststellt, daß sich Scham
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auf das offen Sichtbare bezieht, und das Sprichwort, daß die Scham in den Augen sitze, zitiert (‚n Êfjalmoÿc e⁄nai a d¿). Man schäme sich mehr vor den jeweils Anwesenden (Arist. Rh. 2,6, 1384a33–1384b1). Vgl. dazu Rapp (2002), Bd. 2, 638f. Eur. Or. 461f., 467–469. Zu der Scham treten bei Orest außerdem noch Schuldbewußtsein und Reue hinzu, wie er in v. 380–412 zeigt. Eur. Hipp. 239–250, 300. Arist. EN 4,15, 1128b10–15; EE 2,2, 1220b12–14; anders jedoch EN 3,11, 1116a28 f. und EE 2,3, 1221a1. Normalerweise können pàjh bei Aristoteles keine Mitte bilden, die a d∏c jedoch wird als Mittleres definiert (EE 2,3, 1221a1 und 3,7, 1233b26–29; MM 1,29, 1193a1–10). Außerdem kann man für ein pàjoc eigentlich nicht gelobt werden. Auch wenn sie keine Çret† ist, scheint sie auch nicht einfach ein pàjoc zu sein. Zur a d∏c in der Aristotelischen Ethik siehe Stark (1954), 64–86 und Cairns (1993), 393–431 (zur vorliegenden Frage 411–414). Arist. EN 4,15, 1128b11f. (etwas anders Rh. 2,6, 1383b12–15). In Top. 4, 5, 126a6–12 hingegen meint Aristoteles, Scham dürfe nicht mit Furcht verwechselt werden, weil Art und Gattung nicht identisch seien. Die Scham sitze im denkenden Seelenteil, die Furcht aber im mutigen. Auch in der Stoa scheint man a d∏c in die Nähe des fÏboc gerückt zu haben, vgl. Nemesios, SVF 3, 416 (cap. 20). Dies zeigt sich deutlich in Aristoteles’ Behandlung der Furcht in der Rhetorik. Wenn er konstatiert, daß man sich nicht unterschiedslos vor allem fürchte und daß Furcht auch durch bloße Anzeichen von Furchterregendem ausgelöst werden könne (2,5, 1382a20–32), folgt daraus, daß dem eigentlichen Affekt der Furcht ein Urteil, ein unterscheidendes Achten
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ebenfalls als eine der Furcht verwandte Gefühlsregung verstanden worden29. In der Scham spürt sich also der Mensch mit einem Schlag zunächst körperlich, er ist affektiv betroffen, weswegen in der heutigen Diskussion die Scham, nicht zuletzt in Abgrenzung von der Schuld, des öfteren als primitiv aufgefaßt wird 30. Doch schon die Affektstruktur der Scham macht deutlich, daß in besonderer Weise das Selbst des Menschen involviert ist. Denn das Erröten und das Gefühl des Unwohlseins sowie der Eindruck, die Anwesenden würden einen anblicken, bedeuten, daß der Betroffene sich seiner selbst bewußt wird, mag es sich auch um ein präreflexives Selbstbewußtsein, um ein unmittelbares Sich-Selbst-Haben handeln. Gleichwohl bleibt das Selbstbewußtsein des sich Schämenden nach Ausweis der literarischen Texte keineswegs auf dieser affektiven, präreflexiven Stufe stehen. Den Beispielen der Euripideischen Phaidra oder des Araspas der Kyrupädie läßt sich entnehmen, daß der Moment der Scham mit einem Prozeß der Selbstreflexion zusammenfällt oder diesen erst auslöst. Als in Phaidra die Scham über die Liebe zu ihrem Stiefsohn emporsteigt, denkt sie zunächst über den Zusammenhang zwischen Erkennen und Handeln nach, bevor sie sich selbst ihres eigenen Handelns und ihres Status als Frau bewußt wird. Zwar hat sie über die Bedingungen des menschlichen Lebens bereits zuvor reflektiert, doch löst, wie sie selbst gegenüber den Frauen von Troizen bekennt, erst die mit Scham behaftete Liebe das Nachdenken darüber aus, wie sie ihrem Selbstbild der treuen Gattin gerecht werden könnte. Die Erkenntnis, daß ihre Liebe zu Hippolytos gegen gesellschaftliche Konventionen verstößt, bringt Phaidra zu Bewußtsein, was ihre Identität ausmacht und welchen Platz sie in der Gesellschaft einnimmt 31. In der schmerzlichen Erfahrung der Scham über seine mangelnde Selbstbeherrschung schreibt sich Araspas zwei Seelenteile, einen irrationalen und einen vernünftigen, zu, um die Diskrepanz zwischen der Erkenntnis des Richtigen und dem Tun des Schändlichen zu erklären32. Nachdem er zunächst noch gegenüber Kyros den Standpunkt vertreten hat, Liebesverlangen sei eine Regung, die man
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30 31
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vorangeht. Schmitt (1994), 331–336 sieht deshalb bei Aristoteles im Affekt Vernunft wirksam. Es liege kein exklusiver Gegensatz von Affekt und Vernunft vor. Die kognitivistische Auffassung von Emotionen bei Aristoteles wird jedoch relativiert von Rapp (2002), Bd. 2, 554–575, unter anderem mit dem Hinweis, daß für Aristoteles auch Tiere Emotionen haben. In Euthphr. 12a–c meint Sokrates in Auseinandersetzung mit einem Dichterzitat (—na dËoc Ínja ka» a d∏c: »Wo Furcht ist, dort ist Scham«), daß die Scham nur ein Teil der Furcht sei. Wer eine Sache scheue bzw. sich ihrer schäme, fürchte den Ruf der ponhr–a. Auch der Athener in Lg. 646e–647b setzt Furcht und Scham (a sq‘nh) gleich; vgl. ferner ebd. 700a–701d. Vgl. Gill (1996), 66f. Eur. Hipp. 405–407: t‰ d+ Írgon ¢idh tòn nÏson te duskleê, gun† te pr‰c toÿsd+ ofis+ ‚g–gnwskon kal¿c, m–shma pêsin (»Die Sache kannte ich und die Schmach meiner Krankheit, und überdies erkannte ich sehr wohl, daß ich eine Frau bin, gehaßt von allen«). Xen. Cyr. 6, 1, 31–41. Zur Dichotomie der Seele vgl. auch Xen. Mem. 1, 2, 23.
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rational kontrollieren könne 33, widerlegt er sich selbst, als er der schönsten Frau Asiens, Pantheia, verfällt und sie bedrängt. Das Bekanntwerden dieses Fehltritts führt zu einer Schamreaktion des Araspas, die ihrerseits wiederum eine Reflexion über das eigene Selbst nach sich zieht. Während er sich vorher im Gespräch mit Kyros offensichtlich einer Selbsttäuschung hingegeben hat, erkennt er nun, wie es in Wirklichkeit um das Verhältnis von Affekten und Vernunft in seiner Seele bestellt ist. Erst das Erlebnis der Scham ermöglicht es ihm demnach, zu einer realistischeren Selbsteinschätzung zu gelangen und sein bisheriges Selbstbild zu korrigieren. Die der Scham folgende Erkenntnis 34 bezieht sich also auf das eigene Ich, das gerade von dieser Scham betroffen ist, wobei es über den Konflikt zwischen dem angestrebten Verhaltensideal, d. h. den verinnerlichten Normen, und dem tatsächlichen Betragen reflektiert. Zudem führt das Schamerlebnis dazu, daß die Personen sich der diachronen Dimension ihrer Identität bewußt werden. Vor allem im Sophokleischen Aias spielt der Gedanke eine wesentliche Rolle, worin Aias’ Identität vor der schändlichen Tat bestand und inwiefern sie sich durch eben diese Tat verändert hat. Er hält sich vor Augen, daß er bislang der zweitbeste griechische Kämpfer war, der bedingungslos dem Ziel von Ehre und Ruhm folgte und von allen dafür geachtet wurde. Nun, nach der Tötung des Beuteviehs, ist ihm genau dieser Mittelpunkt seiner Identität abhanden gekommen, wie er selbst einsieht, nachdem er wieder zu Bewußtsein gelangt ist35. In ähnlicher Weise, wenn auch mit entgegengesetztem Ergebnis, hält am Ende des Euripideischen Herakles die Titelfigur ihr bisheriges Dasein der Existenz nach der Scham gegenüber. Herakles erkennt, daß er nicht mehr der auf sich selbst gestellte, aktive Held sein kann, der er war, sondern daß er der Hilfe anderer bedarf und sein Heldentum im Ertragen finden muß 36. Da die Scham eben dadurch ausgelöst wird, daß man seinen eigentlichen Überzeugungen und Normen zuwider handelt, erfordert sie geradezu zwangsläufig ein Nachdenken darüber, ob sich angesichts dieses schwerwiegenden Fehltritts die eigene Identität noch aufrechterhalten läßt oder sich wandeln muß. Die von Scham ergriffenen Figuren schreiben sich also bestimmte Eigenschaften zu und entwickeln ein reflexives Selbstbewußtsein, das in dieser Form vor dem Erlebnis der Scham nicht präsent war. Das zweite Gegensatzpaar bilden das Ich und der andere. Wenn ich mich schäme, so haben wir eben gesehen, löst dieser Affekt eine auf das Ich gerichtete 33 Xen. Cyr. 5, 1, 2–18. 34 Teilweise wird explizit geäußert, daß es sich um einen Vorgang der Erkenntnis, um Reflexion
handelt. Siehe etwa Soph. Aj. 257–262, 306; Eur. Hipp. 247. 35 Soph. Aj. 364–366, 412–427, 430–456. Vgl. auch die Äußerungen des Chores in 609–620. 36 Eur. HF 1256–1280, 1347–1357, 1413f. Zur Schlußszene siehe auch Papadopoulou (2005),
157–189.
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Erkenntnis aus. Das bedeutet, daß ich mir in diesem Augenblick, zuerst körperlich, dann reflektierend, meiner Existenz bewußt werde und dessen, daß ich es bin, der etwas getan oder unterlassen hat. Mit aller Deutlichkeit wird dies beleuchtet, wenn Aias und Herakles nach ihren Taten aus dem gottgesandten Wahnsinn erwachen. Bei ihnen geht der Scham unmittelbar die schrittweise gewonnene Erkenntnis voraus, daß sie selbst tatsächlich Urheber der schändlichen bzw. schrecklichen Tat sind. Und daß sie sich schämen, ist gerade diesem Umstand geschuldet: sie selbst sind es und kein anderer, dem die Verantwortung für die Tat anzulasten ist. Wäre noch ein anderer für das Geschehene verantwortlich, stünde das Ich nicht dermaßen im Mittelpunkt, daß es – vermeintlich oder real – die Blicke aller auf sich zieht. So scheint die Scham mit einer Konzentration auf das eigene Ich einherzugehen37. Der Betroffene ist offenbar völlig in der Reflexion befangen, was er selbst getan hat und welche Konsequenzen dies für seinen Status hat. Dem erwähnten Motiv des Blickes läßt sich jedoch entnehmen, daß in das Selbstbewußtsein der Scham andere als das Ich involviert sind. Die plötzlich zutage tretende Erkenntnis der eigenen Existenz und der eigenen Verantwortlichkeit ist nicht ohne die zumindest imaginierte Existenz eines anderen denkbar. In seinem berühmten Selbstgespräch vor dem Kampf mit Achill verbinden sich retrospektive und prospektive Scham Hektors untrennbar miteinander 38. Da er dem Rat des Polydamas, sich in die Stadt zurückzuziehen, nicht Folge geleistet und damit das Leben vieler Trojaner sinnlos geopfert hat, schämt sich Hektor ob seiner Unbesonnenheit39 vor den anderen Trojanern und will, um sich nicht erneut Vorwürfen auszusetzen, dem Zweikampf mit dem Peliden nicht länger aus dem Wege gehen. Sein schambehaftetes Versagen besteht darin, seiner Aufgabe, die Trojaner zu schützen, nicht genügt zu haben. Er ist damit einer zentralen Forderung seines Selbstbildes nicht gerecht geworden. N‹n d+ ‚pe» ∫lesa la‰n Çtasjal–hisin ‚m®isin, a dËomai Tr¿ac ka» Trwiàdac ·lkesipËplouc, m† potË tic e“phsi kak∏teroc älloc ‚meÿo, ìEktwr ©fi b–hfi pij†sac ∫lese laÏn. ∑c ‚rËousin; ‚mo» d‡ tÏt ãn polà kËrdion e“h änthn ¢+ >Aqil®a katakte–nanta nËesjai ¢Ë ken aŒt¿i ÊlËsjai ‚Ùkle–wc pr‰ pÏlhoc.
37 Demgegenüber zeichnet sich das Schuldgefühl dadurch aus, daß die Person viel stärker das
Objekt ihrer Tat in den Blick nimmt, indem sie darüber reflektiert, wem sie etwas angetan hat und wie sie diese Schuld wieder kompensieren kann. Siehe dazu Landweer (1999) 46–50 und Williams (2000), 195–198. 38 Vgl. Gill (1996), 81–93. 39 Cairns (1993), 81f. hingegen sieht hier keine retrospektive Scham.
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Nun aber, da ich das Volk verdarb durch meine Verblendung, schäme ich mich vor den Troern und Troerinnen mit schleppendem Peplos, daß nicht einst ein anderer, Schlechterer als ich sage: »Hektor verdarb im Vertrauen auf seine eigene Stärke das Volk«. So werden sie reden. Für mich aber wäre es dann viel besser zurückzukehren, nachdem ich vor aller Augen Achill getötet, oder ruhmvoll durch ihn vor der Stadt zugrundezugehen (Hom. Il. 22, 104–110).
Bemerkenswert ist an dieser Stelle, daß Hektor explizit den Standpunkt eines anderen einnimmt, um sein eigenes Verhalten zu bewerten. Zweimal wird die Instanz des anderen in Erinnerung gerufen, einmal als Einzelperson, das andere Mal als kollektiver Plural. Hektor tritt gleichsam aus sich selbst heraus und wendet sich von außen auf sein Ich zurück 40. Indem er den Tadel auf ein anonymes Kollektiv projiziert, bekennt Hektor, daß er die Verhaltensmaßstäbe, die in der Gruppe Gültigkeit haben, verinnerlicht hat und sich ihnen grundsätzlich unterwirft41. Er mißt sein Handeln an diesen für allgemein gültig gehaltenen Normen, abstrahiert also nun von dem Standpunkt, den er selbst während des Geschehens eingenommen hatte. Ohne diesen auch von der modernen Philosophie konstatierten Perspektivenwechsel 42 käme es gar nicht zur Scham; denn erst er bringt es zu Bewußtsein, daß das eigene Verhalten nicht mit den anerkannten Normen der Gruppe und dem Anspruch an sich selbst in Einklang steht 43. Da es hier um die moralische Bewertung von Handlungen geht, ist es allerdings nicht unerheblich, wie beschaffen dieser andere ist. Während Hektor sich vorstellt, sogar von einem Schlechteren getadelt zu werden, zeigt sich sonst eher, daß der sich Schämende Rücksicht auf Leute nimmt, die in seinen Augen kompetent für eine Beurteilung erscheinen. So fürchtet etwa Aias eindeutig die Kritik seiner Standesgenossen, also derjenigen, die demselben Ideal nacheifern wie er. Insbesondere Aristoteles reflektiert dann darüber, daß als diejenigen, vor denen man sich schämt, am ehesten Menschen in Frage kommen, die auf Grund einer untadeligen Lebensweise selbst über eine hohe Reputation verfügen 44.
40 Vgl. die ähnlichen Aussagen in Hom. Il. 6, 441–446 (ebenfalls Hektor) und Od. 21, 321–329
41 42 43
44
(die Freier der Penelope), wo zum Teil die gleichen Worte verwendet werden wie an der vorliegenden Stelle. Siehe auch Gill (1996), 83f. Vgl. Taylor (1985), 57–60, Landweer (1999), 100–103 u.ö. Dem Perspektivenwechsel liegt letztlich die Kritik zugrunde, die Hektor von Polydamas gewärtigt (Hom. Il. 22, 99–103). Dieser eignet sich als Verkörperung einer anderen Perspektive um so besser, als er so etwas wie das alter ego Hektors darstellt. Beide sind am selben Tage geboren, und beider Fähigkeiten verhalten sich komplementär zueinander (ebd. 18, 249–252). Daher liegt es nahe, daß sich Hektor nun Polydamas’ Standpunkt zu eigen macht. Arist. Rh. 2,6, 1384a21–33, 1384b1f. Vgl. auch Plat. Cri. 46c–48a.
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Bei Hektor oder der Euripideischen Phaidra handelt es sich um einen in dieser Situation imaginierten, gleichwohl realen anderen45, bei anderen literarischen Figuren, zum Beispiel Aias oder Araspas, sind es die tatsächlich gegenwärtigen Standesgenossen, deren Hohn und Schadenfreude den Hintergrund für die Scham bilden46. Hier erzwingt also die Präsenz von Kritikern den Perspektivenwechsel. Die faktische Anwesenheit der anderen, von der dann auch Aristoteles ausgeht 47, ist allerdings nicht unbedingt erforderlich, da sich der Betroffene, wie gerade das Beispiel des Aias demonstriert, mindestens ebensosehr vor sich selbst schämen kann wie vor den Angehörigen der Gruppe. Das setzt aber voraus, daß er den imaginierten anderen geradezu internalisiert und zu einem Bestandteil seines Ichs gemacht hat, da er sich ja in gewisser Weise von dem noch während der Tat selbstverständlichen, unproblematischen Handeln oder Unterlassen distanziert48. Diesem Faktor der Internalisierung scheint Demokrit Ausdruck verliehen zu haben, sofern ein leider ohne Kontext bewahrtes Fragment diesen Schluß zuläßt 49: mhdËn ti mêllon toÃc Çnjr∏pouc a deÿsjai ·wuto‹ mhdË ti mêllon ‚xergàzesjai kakÏn, e mËllei mhde»c e d†sein £ o… pàntec änjrwpoi; Çll+ ·wut‰n màlista a deÿsjai, ka» to‹ton nÏmon t¨ yuq¨ kajestànai, πste mhd‡n poieÿn Çnepit†deion. Man soll sich vor den Menschen nicht mehr schämen als vor sich selbst und nicht eher ein Unrecht begehen, wenn es niemand erfahren wird, als wenn es alle Menschen erfahren. Vielmehr soll man sich vor sich selbst am meisten schämen, und das soll als Gesetz für die Seele bestehen, so daß man nichts Unschickliches tut (Demokr. 68 B 264 DK).
Er löst die Scham gänzlich von möglichen Zeugen ab und empfiehlt statt dessen das eigene Ich als moralische Richtschnur 50, die dazu dient, schändliches Tun zu
45 Phaidras Fehltritt ist ja bis dahin niemandem zu Ohren gekommen, da er sich noch rein in
46 47 48
49 50
ihrem Innern abspielt. Ähnlich verhält es sich auch mit Hektor im Gespräch mit Andromache, wo er bekundet, sich vor den Trojanern zu schämen, falls er sich aus dem Kampf zurückhalte (Hom. Il. 6, 441–446). Da Hektor diese Gedanken bislang noch niemandem mitgeteilt hat, handelt sich hier auch um einen imaginierten anderen als Schamzeugen. Siehe ferner Eur. HF 1289f. sowie Plat. Ep. 7, 328c–329b, wo Platon sich in einer imaginierten Rede vorstellt, welche Vorwürfe ihm Dion machte, falls er nicht nach Syrakus führe. Soph. Aj. 379–382, 454f.; Xen. Cyr. 6, 1, 37. Arist. Rh. 2,6, 1383b11f., 1384a21–33, 1384b20–1385a13. Die Kongruenz zwischen den Ansichten des Ichs und dem imaginierten anderen kommt in Hektors Monolog etwa auch durch Übereinstimmungen in der Wortwahl zum Ausdruck (vgl. Hom. Il. 22, 104 mit 107). Indem er sein eigenes Verhalten als Çtasjal–ai charakterisiert, übernimmt Hektor den Standpunkt und das Urteil der anderen. Siehe auch Cairns (1993), 363–370. Der Gedanke findet sich bei Demokrit ebenso in B 84 und 244 wieder. Vgl. außerdem die Äußerungen zur Pflicht in B 41 und 181, wo gleichermaßen äußere Sanktionen gegenüber
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unterbinden51. Der Blick und der mögliche Tadel der anderen werden hier also in das Innere der Person selbst verlegt, die ihre ethischen Maßstäbe dann nicht mehr aus den Überzeugungen einer Gruppe ableitet und an externen Sanktionen orientiert, sondern eine eigene Ethik entwickelt hat 52. Sei er real, sei er imaginiert: Dieser im Perspektivenwechsel aufscheinende Blick des anderen53 macht das Ich zum Objekt. Die Scham bringt mir nicht nur mein Selbst zu Bewußtsein, sondern sie beraubt zugleich das Ich seiner zentralen Stellung. Denn der Betroffene ist in der Scham dem Blick und dem Urteil der anderen ausgesetzt, ohne daß er sich davon freimachen könnte. Eng mit diesem Dualismus hängt das dritte Paradox zusammen, das in der Koinzidenz von Subjekt und subiectum im Wortsinne besteht. Wir hatten bereits gesehen, daß zu dem Selbstbewußtsein der Scham auch die Erkenntnis gehört, selbst für die Tat bzw. das Verhalten verantwortlich zu sein, auch wenn man vielleicht wie Aias oder Herakles unter dem Einfluß des Wahns gehandelt hat. Wer sich schämt, rechnet sich etwas an, was als ungehörig oder schändlich empfunden wird, er nimmt dies als seine Aktivität wahr, mag es sich auch bislang etwa nur um ein unstatthaftes erotisches Begehren handeln. Doch in der Scham schlägt diese Aktivität unvermittelt um in Passivität und in die Erfahrung, hilflos äußeren Einflüssen ausgesetzt zu sein. Nach der Tötung Klytaimestras ist Orest bei Euripides mit der Verachtung und Ablehnung der Bürger von Argos konfrontiert. Während er sich für die Tat, die er mit dem Hinweis auf Apollons Verantwortung nicht vollends zu rechtfertigen vermag, schämt, verhält er sich gänzlich passiv, ohne auch nur den geringsten Einfluß auf das Geschehen nehmen zu können. Immer wieder von krankhaften Zuständen befallen, ist er auf die Hilfe seiner Schwester Elektra angewiesen. Selbständig eine Lösung seines Problems zu ersinnen, einen Ausweg zu den internalisierten Normen des einzelnen abgewertet werden. Zur Vereinbarkeit von Moral und Eigeninteresse in den ethischen Fragmenten Demokrits siehe Nill (1985), 75–91. 51 Eine Vorstufe zur gänzlichen Loslösung der Scham von realen Zeugen repräsentiert die Aussage des Sokrates im Platonischen Gorgias, es sei egal, ob er sich vor vielen, vor wenigen oder nur vor einem schäme, wenn er seinen eigenen Anspruch an sich selbst verfehle (522d). 52 Demokrit scheint sich damit an einer Diskussion zu beteiligen, ob man unbeobachtet genauso handeln solle wie vor Zeugen. Die Phaidra des Euripides vertritt hier den Standpunkt, daß es wesentlich darauf ankomme, bei Handlungen von einer Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Ihre swfros‘nh soll kommuniziert werden (Eur. Hipp. 403–430). Siehe auch Antiph. 87 B 44, col. 2f. DK und Kritias’ Sisyphos-Fragment (TrGF 43 fr. 19). Vgl. Gill (1990), 92f. 53 Diesen Blick des anderen erhebt dann Jean-Paul Sartre zum wesentlichen Charakteristikum der Scham: »[…] die Scham oder der Stolz enthüllen mir den Blick des Andern und mich selbst am Ziel dieses Blicks, sie lassen mich die Situation eines Erblickten erleben, nicht erkennen. Die Scham aber ist […] Scham über sich, sie ist Anerkennung dessen, daß ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt« (Sartre [1994], 471, Hervorhebung im Original).
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finden vermag er nicht54. Erst die Initiativen seines Gefährten Pylades und schließlich gerade die Überwindung oder besser gesagt die Verdrängung seiner Scham55 lassen ihn die Lähmung abschütteln. Gleichermaßen hilflos sehen wir auch Phaidra ihrer Scham und ihrer inneren Zerknirschung hingegeben. Sie erkennt zwar, daß ihre Liebe ihrem Selbstbild widerspricht, doch erweist sie sich als unfähig, diesen Widerspruch selbständig zu beseitigen oder irgendeine Initiative zu ergreifen. Auch hier ist es erneut eine Vertraute, die Amme, die allein das Geschehen beeinflussen kann. Nicht anders verhält es sich mit dem Euripideischen Herakles oder Araspas, die in der Scham die eigene Machtlosigkeit erfahren. Auch sie sind darauf angewiesen, daß jemand anderes für sie die Initiative ergreift und ihnen hilft, die Scham wenn schon nicht auszulöschen, so doch zumindest zu ertragen 56. Die Scham scheint also unauflöslich mit der Erfahrung von Passivität, Handlungshemmung, Macht- und Hilflosigkeit verbunden zu sein57. Während Selbst und Subjekt gemeinhin mit dem Gegenteil, also Aktivität, Willen und Gestaltungsvermögen, assoziiert werden, findet offenbar in der Scham gleichzeitig mit Selbsterkenntnis und Selbstbewußtsein eine Art Entsubjektivierung statt. Das sich schämende Ich wird gänzlich auf seine körperliche Existenz und sein Erkenntnisvermögen zurückgeworfen, wohingegen ihm Initiative und Wille fehlen. Dies gilt selbst für Fälle, in denen die Scham mittelbar Handlungen auslöst. Sofern nämlich jemand, weil er sich schämt, tätig wird, um die Scham zu überwinden, handelt er nicht wirklich selbständig, sondern wird erst unter Zwang, der auch seine Handlungsmöglichkeiten einschränkt, aktiv. Aias’ Selbstmord ist keine im eigentlichen Sinne freie Entscheidung, sondern wird ihm von seiner Scham und damit von seinem Ehrenkodex diktiert58, oder wenn Demosthenes die Scham für die eigene Lage als Çnàgkh ansieht, folgt daraus, daß ein eventueller Entschluß der Athener zum militärischen Vorgehen gegen Philipp nicht auf freier Entscheidung beruhte. Denn den ‚le‘jeroi verlangt die Scham auf Grund erniedrigender Umstände ein Handeln ab, das den eigenen Wert und damit die Reputation wiederherstellt59. Wer sich durch sein früheres Verhalten einen bestimmten Ruf oder 54 Orests mangelnde Eigeninitiative zeigt sich weiterhin darin, daß er seine Hoffnungen auf
einen Ausweg allein auf eine eventuelle Hilfe des Menelaos oder des Tyndareos setzt. 55 Die Verdrängung der Scham im Orest wird durch den Kontrast im Verhalten des Protago-
nisten in den beiden Dramenhälften augenfällig. Siehe dazu Stenger (voraussichtlich 2008). 56 Dies wird sehr deutlich, wenn am Ende des Stücks Herakles sich in seiner Hilflosigkeit als
tapeinÏc empfindet und Theseus nur noch folgen kann (1413, 1423f.). 57 Siehe ferner Soph. Aj. 194, 305–325, 609–620; Xen. Cyr. 5, 5, 9. 58 Soph. Aj. 457–480. Vgl. auch Hektor in Hom. Il. 22, 99–130. Platon begründet seine zweite
Sizilienreise im Siebten Brief mit seiner Scham, wenn er nur Worte mache, ohne Taten folgen zu lassen. Hinzu kommt, daß er sich durch die Gastfreundschaft zu Dion, also gesellschaftliche Konventionen, verpflichtet fühlt (328c–329b). 59 Demosth. or. 4, 10. Zu bedenken ist hier natürlich, daß Demosthenes mit seiner Bemerkung zur Scham als Zwang zum Handeln die Athener gerade dazu bewegen will, tätig zu wer-
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Status erworben hat, ist also gezwungen, sofern er diesen nicht verlieren möchte, in einer mit ihm übereinstimmenden Weise aktiv zu werden. Statt den freien Willen eines autonomen Akteurs widerzuspiegeln, resultiert die Handlung eher aus dem Zusammenspiel gegebener Faktoren, nämlich der sozialen Rolle der Person, ihren bisherigen Handlungen bzw. Verhaltensweisen und den Ansprüchen oder Erwartungen der Umwelt an sie. Schlagartig erhellt die Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein in dem vergeblichen Drang der sich Schämenden, sich zu verbergen und zu fliehen. Wenn der Blick des anderen, wie oben bemerkt, den sich Schämenden zum Objekt macht, so impliziert dies eben auch, daß dieser dem Blick ausgeliefert ist und sich ihm nicht entziehen kann. Das Ich wird in der Scham zum Zeugen seiner Hilflosigkeit und seines Kontrollverlustes, ohne von sich selbst loszukommen. Wenn Subjekt und Subjektivität als genuin moderne Konzepte aufgefaßt werden, so sind damit Vorstellungen von der Individualität und Unverwechselbarkeit des Subjekts impliziert. Teilweise wird auch die Autonomie als wesentliche Eigenschaft des Subjekts betont 60. Der vormoderne Mensch, so eine gängige Annahme, habe sich demgegenüber noch nicht als Subjekt in diesem Sinne verstanden. Die mit diesen Vorstellungen verknüpften Fragen werden m. E. auch von der Scham und ihrer literarischen Repräsentation berührt. So besteht das vierte Paradox in dem Gegensatz von Autonomie und Heteronomie 61. Wenn jemand sich für sein Handeln schämt, hat er zumindest eine vage Vorstellung von der eigenen Willensfreiheit und der Verantwortung für das eigene Tun. Wenn nämlich das menschliche Handeln ausschließlich durch Schicksal und äußere Zwänge determiniert wäre, entfiele jeglicher Grund für Scham, oder die Scham wäre zumindest deshalb abgeschwächt, weil die Verantwortung für das Handeln außerhalb des eigenen Ichs läge. Daß grundsätzlich auch die Griechen der archaischen und klassischen Zeit sich der Zusammenhänge von Kausalität, Intention und Verantwortung bewußt waren 62, zeigen zahlreiche Beispiele aus den Homerischen Epen, der Tragödie oder etwa auch die Tetralogien des Antiphon, worauf noch einmal Bernard Williams aufmerksam gemacht hat 63. Auch die Figuren des Dramas, die sich schämen, rechnen sich ihr Handeln selbst an und übernehmen die Verantwortung dafür, selbst wenn
60 61 62 63
den. Er instrumentalisiert also das Schamkonzept und reflektiert nicht ohne Eigeninteresse darüber. Vgl. Hagenbüchle (1998), 6 (mit weiterer Literatur). Auf die Beziehung von Scham und Autonomie in der griechischen Literatur geht auch Williams (2000), 88–119 ein. Zur Frage von menschlicher Freiheit, Intentionalität und Verantwortung in der griechischen Literatur siehe beispielsweise Schmitt (1998) und Williams (2000). Vgl. Williams (2000), 58–87.
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sie daneben versuchen, entschuldigende Gründe vorzubringen64. Ebenso ist ihnen bewußt, daß die anderen ihnen die Verantwortung für die Tat zuschreiben werden, mag diese auch wie im Falle des Aias in geistiger Verwirrung begangen worden sein65. In normativer Weise stellt daher Aristoteles in der Nikomachischen Ethik fest, daß sich Scham bei ·ko‘sia, bei freiwilligen Taten, einstelle. Deshalb sei Scham auch kein Charakteristikum des ‚pieik†c, da er niemals freiwillig das Schlechte tue 66. Das Konzept der Scham setzt demnach voraus, daß man den Menschen nicht als gänzlich von externen Faktoren determiniert sieht. Innerhalb einer gegebenen Situation kann er eine Entscheidung treffen, für die er dann verantwortlich ist. Damit einher geht der Aspekt der Individualität und der Identität. Wie etwa die Beispiele Hektors oder des Aias zeigen, wird der Mensch sich in der Scham des eigenen Andersseins bewußt, er erkennt, daß er über Eigenschaften verfügt, die ihn von der Menge der anderen abheben. Hektor imaginiert einen anderen, schlechteren Menschen, der sein, Hektors, Vertrauen auf die eigene Stärke kritisiert. Indem er sich und die Gruppe der Trojaner gegenüberstellt, wird Hektor seines herausgehobenen Status gewahr und der überdurchschnittlichen Ansprüche, die er zu erfüllen hat. Auch Aias veranlaßt die Scham, wie bereits erwähnt, darüber zu reflektieren, was eigentlich seine Identität ausmacht und inwiefern sie durch das schändliche Tun unterminiert wird. Diese Reflexion führt dazu, daß er sich vor Augen hält, wodurch er aus der Menge der Griechen herausgehoben ist. Sein Charakter, seine Individualität verbietet es ihm, sich mit der Zurücksetzung durch das Waffenurteil abzufinden und mit der Schmach, Vieh hingemetzelt zu haben, weiterzuleben67. Genau dieser Zusammenhang von Scham und Erkenntis der eigenen Individualität steht dann im Philoktet im Vordergrund, wenn durch die vorweggenommene Scham des Neoptolemos seine f‘sic, also das, was ihn als Individuum ausmacht, schärfere Konturen gewinnt 68. Scham scheint demnach ohne Individualität gar nicht denkbar zu sein, sie setzt offenbar voraus, daß der Betroffene sich seines eigenen Wertes und seines Andersseins bewußt wird69. 64 Wie bereits erwähnt wurde, schämt sich Orest für den Muttermord und empfindet Reue
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(Eur. Or. 380–412, 460f.), gleichzeitig aber versucht er, Apollon die Verantwortung für die Tat zuzuschieben (284–287, 414–418, 544–604). Phaidra beurteilt ihr eigenes Verhalten als Fehler, sieht mithin eine Schuld bei sich selbst (Eur. Hipp. 323). Auch ihre Überlegungen in v. 373–402 zeigen, daß sie sich die maßgebliche Verantwortung für ihr Handeln selbst zuschreibt, insofern sie sich für eine unter mehreren Optionen entschieden hat. Siehe z.B. Soph. Ai. 260–262; Eur. HF. 1281–1300. Arist. EN 4,15, 1128b28f. Siehe Soph. Aj. 646–692. Soph. Ph. 79–120. Dies geht auch aus Hom. Od. 21, 321–333 hervor, wo Penelope auf die Sorge der Freier, es könnte Gerede im Volk über sie geben, entgegnet, daß jemand, der sich wie die Freier
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An den Dramenfiguren läßt sich aber ebenso ablesen, wie problematisch diese durch Alterität, durch die Distanz zu den anderen konstituierte Identität ist. Die Scham bedeutet nämlich, daß man der Mißbilligung der anderen ausgesetzt ist, weil man gegen allgemein akzeptierte Normen und Regeln verstoßen hat. Diese Mißbilligung ist es aber gerade, was das eigene Selbstverständnis in Frage stellt. Phaidra will das, was sie von den anderen unterscheidet, die Liebe zum Stiefsohn, besiegen und überwinden, also eben nicht anders sein als ihre Mitmenschen, doch gelingt ihr das nicht. Ihre Ethik ist eine abgeleitete, da sie darauf beruht, was die anderen über sie denken (Eur. Hipp. 403f.). Phaidras Ziel bei ihren Handlungen besteht darin, einer sozialen Rolle gerecht zu werden, die durch gesellschaftliche Erwartungen determiniert wird70. Araspas würde sich viel lieber verhalten, wie es Kyros und seine Standesgenossen von ihm erwartet haben; aber auch er hat sich als zu schwach erwiesen. Das Ideal, das die sich schämenden Figuren verfehlt haben, besteht mithin zu einem beträchtlichen Teil aus intersubjektiv ausgehandelten gesellschaftlichen Konventionen und Normen, die der Betroffene als gültig anerkennt. Er hat solche Konventionen und die Erwartungen der anderen übernommen und internalisiert71, weshalb er sich für ihre Übertretung schämt. In der Scham werden ihm die Normen und die allgemeine Auffassung von Schicklichem und Schändlichem zu Bewußtsein gebracht. Als Bezugspunkt für die Scham fungiert, was Gabriele Taylor honour-group nennt 72, also die soziale Gruppe, deren Werte man teilt und von der man anerkannt werden möchte. Daraus folgt aber, daß das Ich und seine Identität etwas nicht unerheblich heteronom Bestimmtes sind73. Obgleich die Scham einen freien Willen und Verantwortlichkeit vorauszusetzen scheint, macht ihr Auftreten unabweisbar deutlich, daß das Ich stets in einen sozialen Kontext eingebunden ist und von diesem beeinflußt wird, woraus die Bewertung der schändlichen Tat resultiert. Genau diese Furcht vor externen
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verhalte, gar nicht in gutem Ruf stehen könne. Sie könnten es folglich nicht als Schande betrachten, sollte der Bettler den Bogen zu spannen vermögen. Die Freier empfinden also falsche Scham vor der öffentlichen Meinung, da sie von einem illusionären Selbstbild ausgehen, ihren eigenen Wert mithin verkennen. Vgl. Gill (1990), 89f. Auf den Prozeß dieser Aneignung von gesellschaftlichen Normen durch das Individuum weist indirekt auch Aristoteles hin, wenn er die Scham insbesondere den jungen Menschen zuweist (Arist. EN 4,15, 1128b15–21). Scham ist hier das Korrektiv, das den Heranwachsenden an die Grenzen des gesellschaftlich Akzeptierten heranführt. Taylor (1985), 54–57, 79–82. Als Furcht vor schlechtem Ruf ist a d∏c bei Aristoteles eng mit dem Urteil anderer Menschen assoziiert. In der Rhetorik scheint immerhin die Möglichkeit gegeben, daß es um verinnerlichte Normen geht und ein Publikum nicht unbedingt anwesend sein muß (2,6, 1383b11–18). Die a d∏c umfaßt damit auch ein subjektives Bewußtsein des wahren Charakters der eigenen Handlungen. Siehe Cairns (1993), 420–423.
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Sanktionen ist es ja auch, was die Schamkultur im Gegensatz zur Schuldkultur kennzeichnet. Wenden wir uns dem letzten Paradox zu, dem Gegensatz zwischen Selbsterhaltung und Selbstvernichtung! Wie wir gesehen haben, bringt die Scham eine Fixierung auf das eigene Ich mit sich, da sie die Aufmerksamkeit auf das lenkt, was ich bin, insofern sie mir meine eigene Unzulänglichkeit bewußt macht. Dieser Vorgang läßt sich durchaus als ein Mechanismus des Selbstschutzes verstehen, da man sich durch die Scham der Werte versichert, die man kurzzeitig mißachtet hat, grundsätzlich jedoch anerkennt. Während man etwas tut, das im nachhinein Scham auslöst, ist man sozusagen nicht bei sich, man verhält sich, wie man es eigentlich nicht täte. Darauf verweist in der Literatur das Motiv des Wahnsinns und der Krankheit. Es ist nämlich sicherlich kein Zufall, daß bei Aias und Herakles das die Scham auslösende Handeln durch gottgesandten Wahnsinn verursacht wird74. Auch wenn diese Verknüpfung von Ursache und Wirkung in den jeweiligen plot eingebunden ist und zur Auslösung der weiteren Handlung benötigt wird, kommt in diesem Motiv doch ebenso zum Ausdruck, daß die beiden Helden während ihrer Tat nicht sie selbst waren. Sie hatten offensichtlich ihre Identität und ihr Bewußtsein verloren. So bemerkt auch der Bote, als er von Herakles’ Kindermord berichtet: Â d+ oŒkej+ aÕt‰c ™n75. In ähnlicher Weise ist es zu verstehen, wenn Aias’ Zustand oder Phaidras Verfassung als Krankheit aufgefaßt wird76. Wären sie bei sich, also sie selbst, würden sie nicht so handeln bzw. sich so verhalten 77. In Platons Kriton reflektiert über diesen Identitätsverlust Sokrates in seinem imaginierten Dialog mit den Gesetzen. Würde sich Sokrates durch Flucht der Hinrichtung entziehen, verstieße er gegen die Normen, die er sein ganzes bisheriges Leben über eingehalten hat. Ein Leben in Schande und mit Scham wäre die Konsequenz 78. Wer gegen seine Ideale und damit sein Selbstbild verstößt, verliert seine bisherige Identität und seine Reputation; er erniedrigt sich selbst. In diesen Zusammenhang sind schließlich auch die Äußerungen des Aristoteles zur filaut–a, zur Selbstliebe, zu stellen 79. Aristoteles zufolge besteht nämlich bei dem schlechten Menschen ein Mißklang zwischen dem, was er tun sollte, und dem, was er tatsächlich tut, während der gute
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Soph. Aj. 51–70, Eur. HF 822–885. »Er war nicht mehr derselbe« (Eur. HF 931, vgl. auch 865f. und Soph. Aj. 119f., 182 f.). Soph. Aj. 59, 66, 271–277; Eur. Hipp. 392–394, 398, 405, ferner ebd. 214, 232, 248. Vgl. auch die oben zitierte Stelle der Ilias, in der Hektor retrospektiv sein Verhalten als Çtasjal–ai bezeichnet, also der Meinung ist, er sei zuvor verblendet gewesen. Auf diesen Identitätsverlust verweist auch Hom. Il. 18, 310–313, wo Athene den Trojanern den Verstand nimmt, damit sie Hektors unklugem Rat zustimmen. 78 Plat. Cri. 52d–54d. Zum Motiv der Scham siehe 53c, e. 79 Arist. EN 9,8, 1168a–1169b2.
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das, was er tun sollte, auch wirklich tut 80. Wenn man Gutes tut, verwirklicht man demnach sein Selbst, da man in Übereinstimmung mit der Vernunft, dem Kern des eigenen Selbst, handelt (EN 1168b31–1169a3). Wenn man etwas Schändliches tut, ist man nicht wirklich Herr über sich selbst, man folgt nicht seinem Ich, sondern niedrigen Regungen, Affekten. Wer bei einem Verstoß gegen Normen Scham empfindet, hat zumindest den Sinn dafür bewahrt, was das bedrohte Selbst schützt. Er hält an der Person, die er war, fest und hat so – zumindest theoretisch – die Möglichkeit, seine alte Stellung wiederzuerlangen. Die Scham bringt ihm seinen eigentlichen Wert zu Bewußtsein und trägt den Appell in sich, diesen Wert zu restituieren und die Selbstachtung wiederherzustellen 81. Sich selbst zu achten bedeutet also zu tun, was das Selbst vor Zerstörung schützt. Scham ist mithin ein Gefühl des Selbstschutzes: sie kann im prospektiven Sinne davon abhalten, sich in eine bestimmte Lage zu bringen, aus der ein Reputationsverlust resultiert, oder im retrospektiven Sinne die Erkenntnis bewirken, daß man nicht in der Lage sein sollte, in der man sich befindet82. Dieser Aspekt der Zurückgewinnung der eigenen Identität zeigt sich in aller Deutlichkeit, wenn Philoktet Neoptolemos entrüstet fragt, ob er sich für sein Verhalten, nämlich List und Trug, nicht schäme, und ihn auffordert, zu sich selbst zurückzukehren 83. Ebenso bezeugen den Mechanismus der Selbstvergewisserung Aias’ Rückblicke auf seine Identität. Wenn er sich bewußt macht, wer er denn eigentlich ist bzw. war, scheint zumindest die Möglichkeit auf, diese Identität zurückzugewinnen. Falls jedoch diese Wiedergewinnung nicht gelingt, droht dem Ich die Vernichtung. Der gleichsam schizophrene Zwiespalt zwischen dem eigentlichen Ich und dem entfremdeten, das die Tat begangen hat, wird für den Betroffenen so unerträglich, daß er sich wünscht, von seinem Ich loszukommen. Aias, Herakles, Phaidra, Orest auf der Theaterbühne und der Araspas der Kyrupädie wollen, sobald sie sich ihres Problems bewußt sind, verschwinden, sich verhüllen, im Erdboden versinken. Sie versuchen, den Blicken anderer auszuweichen, und trachten danach, einen leeren Raum zu hinterlassen. Das Verschwinden des Ichs erscheint ihnen als die einzige Möglichkeit, das Versagen vor den eigenen Ansprüchen und denen der Umwelt vergessen zu machen. Ins Extrem gesteigert wird das vergebliche Begehren, das in Frage gestellte Ich auszulöschen, durch den Wunsch, sich tatsächlich physisch zu vernichten84. Wenn ein Leben in Selbstachtung nicht mehr möglich
80 Ebd. 1169a11–18. Aristoteles spricht hier davon, daß der Schlechte sich auf diese Weise selbst 81 82 83 84
schädigt. Vgl. die Äußerungen des Atheners in Plat. Lg. 648d. Vgl. Taylor (1985), 79–82. Soph. Ph. 929, 950 (ÇllÄ n‹n Ít+ ‚n sauto‹ geno‹). Zum Selbstmord aus Scham in der Literatur siehe Garrison (1995), 45–79 und Papadopoulou (2005), 166–173.
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scheint, bleibt als gangbarer Ausweg nur die Selbsttötung, wie sie Aias und Phaidra vollziehen, während sich Herakles von seinem Vorhaben abbringen läßt 85. Aias hat durch die Tötung des Viehs den Kern seiner Identität, nämlich den heroischen Ehrenkodex und seine tim†, dermaßen radikal verfehlt, daß ihre Wiederherstellung zu Lebzeiten in seinen Augen unmöglich ist. Entweder schön, d. h. ehrenhaft, leben oder schön tot sein geziemt dem edlen Mann: So lautet seine Überzeugung (Soph. Aj. 479f.). Die physische Vernichtung soll ganz ähnlich wie bei Phaidra die verlorene Selbstachtung und gleichzeitig die Ehre restituieren. Da das Ich künftig unablösbar mit der Scham kontaminiert wäre, wie das Gegenbeispiel des Herakles lehrt, läßt sich die Scham nicht anders tilgen als im Verbund zumindest mit der physischen Hülle, also dem sichtbaren Teil, des Ichs. Einerseits kann also die Scham als Mechanismus des Selbstschutzes fungieren, andererseits ist in ihr die Möglichkeit angelegt, daß das Ich verloren geht, da es problematisch, nämlich unauflöslich mit Versagen und Machtlosigkeit verknüpft ist. Gelingt es nicht, die Kluft zwischen dem Selbstbild und dem neuen Status zu vermitteln, ist das Ich grundlegend in Frage gestellt. Aus den erhaltenen Texten läßt sich ein literarischer Diskurs über den Zusammenhang von retrospektiver Scham, Ich und Selbstbewußtsein rekonstruieren, der in der klassischen Zeit insbesondere von den Tragikern geführt wurde. In literarischen Darstellungen wurde immer wieder aufgezeigt, welche Konsequenzen ein Schamerlebnis für das Selbstverständnis des Betroffenen hat und inwiefern es seine Identität transformiert. Daneben hat man sich, wie die Ausführungen Demokrits, Platons und des Aristoteles erkennen lassen, auch theoretisch des Themas angenommen. Gerade diese theoretischen Reflexionen lassen sichtbar werden, daß es sich bei der Scham um ein im Kern soziales Gefühl handelt, insofern es immer das Verhältnis des einzelnen zu einer Gruppe, zu einem anderen, und sei er auch nur imaginiert, berührt. Wenn sich in der Scham das Ich seiner selbst bewußt wird, so besteht dieses Ich niemals im luftleeren Raum, sondern ist stets ein relationales, das wesentlich von den Beziehungen zu seiner Umwelt geprägt ist. Da das Ich in der Scham darauf verwiesen ist, was es ist und welchen Wert es hat, ist von vornherein sein sozialer Status involviert. Auch die Normen, deren Verletzung Auslöser der Scham ist, verweisen darauf, daß das Ich zu einem beträchtlichen Teil heteronom bestimmt ist, nämlich durch die intersubjektiv ausgehandelten ethischen Grundlagen der Gruppe, der es angehört. Insbesondere wenn die Scham praktische Konsequenzen fordert – sei es den Selbstmord, sei es eine andere Handlung –, läßt sich nicht verkennen, daß es sich weniger um die freie Entscheidung eines autonom agierenden Subjekts handelt als vielmehr um das Resultat von Überlegungen, welche die soziale Rolle der Person und die Erwartungen der anderen in Rechnung stellen. 85 Soph. Aj. 361, 387–391; Eur. Hipp. 419–430, 599f., 723; HF 1146–1152, 1241, 1247, 1301f.
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Neben der Sozialität des Ichs läßt die Verknüpfung von Scham und Selbstbewußtsein in der griechischen Literatur einen Aspekt hervortreten, der bei der modernen Diskussion über das Subjekt als Angelpunkt gelten kann: die Konfliktbzw. Prozeßstruktur 86. Die Paradoxien oder Spannungen, die dem schambehafteten Ich zugrunde liegen, können als Indikatoren für die innere Zerrissenheit des Ichs gelten. Sie lenken die Aufmerksamkeit darauf, wie problematisch das Selbst ist. Da es sich bei der Scham um das Selbstinnewerden einer Defizienz handelt, wird das Ich als schmerzhaft empfunden. Denn das Gefühl der retrospektiven a d∏c resultiert aus einem inneren Zwiespalt, dem Auseinandertreten des eigentlichen Wollens und des tatsächlichen Handelns. Wie das Vermeiden des Blickkontakts und der Wunsch, im Boden zu versinken, auch für die Außenstehenden sichtbar machen, würde der Betroffene am liebsten von seinem Ich loskommen oder hinter die Scham und die von ihr ausgelöste problematische Selbsterkenntnis zurückgehen. Das unangenehme Ich abzuschütteln gelingt jedoch nur um den Preis der physischen Selbstvernichtung. Sobald infolge der Scham Subjektivität, Verantwortlichkeit, Autonomie und Selbsterhaltung auf dem Spiel stehen, sind diese Kennzeichen des Ichs immer schon in Frage gestellt. Eben weil das Ich und seine Identität auf Grund des schambehafteten Verhaltens nicht mehr selbstverständlich sind, kommt es ja zu einer Reflexion darüber, wer man ist und warum das Verhalten nicht mit dem eigenen Selbstbild in Einklang steht. Eine innere Krise kann mithin als Auslöser für Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis betrachtet werden. Diese Krise läßt aber die Identität nicht unberührt. Solange man in Übereinstimmung mit seinem Selbstbild handelt, besteht kein Anlaß, eine Überprüfung der eigenen Identität vorzunehmen. Wenn man jedoch eklatant gegen die akzeptierten Normen verstößt und dadurch der Mißbilligung seiner Mitmenschen ausgesetzt ist, erhebt sich die Frage, ob sich das Selbstbild noch aufrechterhalten läßt. Aias kann diese Frage nur verneinen; Herakles vermag seine Identität neu zu bestimmen; Araspas kann seine Identität nur dadurch restituieren, daß ihm ein anderer, Kyros, die Möglichkeit dazu gewährt. In jedem Falle ist unverkennbar, wie prekär die Identität eines Menschen ist. Sie ist alles andere als stabil, auch wenn der sich Schämende sie zu behaupten versucht. Vielmehr verändert sie sich mit jeder Handlung, und zwar selbst gegen die eigentlichen Intentionen des Betroffenen. Gerade diese Zerrissenheit stellt auch der eingangs zitierte Abschnitt der Genesis in den Mittelpunkt: Die Scham der ersten Menschen bietet ein Potential zur Selbsterkenntnis; diese Selbsterkenntnis ist aber immer ein Eingeständnis der eigenen Defizienz, der Nacktheit.
86 Vgl. Hagenbüchle (1998), 11–13.
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»Ich suche / Mich selbst, und finde mich nicht mehr«1 Das Selbst und die Tragödie unter den Bedingungen des Christentums (Sophokles, Kleist, Corneille, Racine, Schiller) Wolfgang Braungart (Bielefeld)
I. Sophokles, Antigone »Ich bin’s, der ihn getötet, ich! / Ich rede wahr. […] Ich bin am Ende, bin nichts mehr!« 2 Im tiefsten Schmerz über den Tod seines Sohnes Haimon und über den Tod Antigones: also über das, was er in seiner ›politisch‹ motivierten Strenge angerichtet hat, sieht sich Kreon am Schluß von Sophokles’ Tragödie radikal auf sich selbst zurückgeworfen: »Im Leid erkenn ich’s. Ah! Mich schlug / Ein Gott aufs Haupt mit gewaltiger Wucht. / Warf auf wilde Pfade mich hin, / Trat mit Füßen des Lebens Glück«. (v. 1271 ff.) »Kann größrer Schmerz noch sein als dieser Schmerz?« (v. 1282) »Elender ich! Weh! Weh! / In Elends Jammer versunken«. (v. 1310f.) »Letzter Tag! Auf! Laßt / Mich keinen Morgen mehr schauen«. (v. 1330f.) »Ich Ärmster! Wo ist / Ein Weg? Wo schaue ich hin? / Es sinkt / Alles in meiner Hand. Aufs Haupt / Bricht übergewaltiges Schicksal«. (v. 1340ff.) Der Faszination dieser Verse kann man sich auch heute noch kaum entziehen. Angesichts des übergroßen Leids, das den König Thebens trifft – freilich nicht ganz ohne eigene ›Schuld‹; er forciert eine ›politische‹ Entscheidung, wo wirkliche Kom1 Racine (1980), 606; Hippolyte zu Aricie in Phèdre II/2; Hervorhebungen von mir. Ich zitiere
nach der großartigen Übersetzung Friedrich Schillers, die aus seinen letzten Lebensjahren stammt und die einzige wirklich genaue Übersetzung ist, die er vorgenommen hat. Die französische Schreibweise der Namen behalte ich auch für die deutsche Übersetzung bei. Im Original: »Maintenant je me cherche, et ne me trouve plus«. Racine (1985), 767. – Melanie Möller, Heidelberg, und Alexander Arweiler, Münster, danke ich herzlich für ihre Einladung nach Münster und ihre Kritik, den Tagungsteilnehmern für ihre Anregungen. Hervorhebungen durch Fettdruck in den Zitaten jeweils von mir; Kursivierungen sind Hervorhebungen des Originals. 2 Sophokles (1944), 271; v. 1319ff. Die weiteren Nachweise im Text durch Angabe der Verse in Klammern.
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munikation notwendig wäre 3 – erfassen auch den heutigen Leser oder Zuschauer noch »Jammer und Schauder«. Die (aristotelische) Katharsis ist gewiß noch immer eine grundlegende Dimension ästhetischer Erfahrung 4. Die Schläge des Schicksals verweisen Kreon vollständig auf sich selbst. Jetzt, nach der Katastrophe, muß er mit sich selbst zurechtkommen. Das ist bekanntlich oft das Schwierigste. Denn was hat er nun? Weil er in seinem ›politisch‹, von den Interessen der Polis her begründeten Handeln scheitert, fragt er nun radikal nach sich selbst5. Solange dieses politische Handeln gelang, mußte er sich noch nicht selbst wissen. Die Frage nach sich selbst ist das Ergebnis der Tragödie: »Im Leid erkenn ich’s«. Die theoretische Konzeption von Selbst und Subjekt tritt hier, bei Sophokles, noch völlig zurück. Selbst-Erkenntnis und Subjekt-Bewußtsein gegenüber dem »Schicksal« entstehen aus der Erfahrung. Im ästhetisch-poetischen »Diskurs der Tragödie« 6 wird das Subjekt wahrlich unter größten Schmerzen geboren: im Modus der hervorbrechenden, unabweisbaren und unbeantwortbaren Frage nach dem Selbst: Wer bin ich in der Erfahrung dieses Schicksals? Wer bin ich überhaupt? Das Subjekt muß in eine Auseinandersetzung mit sich selbst eintreten 7. Freilich: Selbst-Erkenntnis und Subjekt-Bewußtsein sind nicht identisch mit Subjektivität im Sinne sich selbst wissender Individualität. Es scheint mir müßig, ihre ›Entdeckung‹ dieser oder jener Epoche zuschreiben zu wollen (etwa der frühen griechischen Liebeslyrik oder der Sophistik, wofür es gute Gründe gäbe), weil wir für ihre Rekonstruktion eben nichts haben als sprachliche Zeugnisse. Und Sprache ist nun einmal das ›individuelle Allgemeine‹ (M. Frank); mit ihr ist grundsätzlich die Option auf subjektive Expressivität gegeben8. Das Leiden individuiert. Leiden heißt, das Allein-Sein zu erfahren: so Kreon hier, so Oedipus, so Philoktet9. Das scheint uns so bekannt, daß man schon fast vom Klischee der Tragödie sprechen könnte. Die Frage der Tragödie ist die Frage nach dem Selbst. Die Tragödie ist, sobald sie sich als Gattung erkennen läßt, nicht mehr allein rituelles Kultspiel im Rahmen der großen Dionysien. Sie ist nicht nur 3 Genau dies werden Lessings Nathan und Goethes Iphigenie anders machen! 4 Ich wähle hier bewußt die Übersetzungsvariante Manfred Fuhrmanns. Zum ›Mitleid‹ als
Affekt und Effekt der Tragödie dann kurz unten, S. 210f., S. 221ff. 5 Ich kann damit das Problem der ›Individualität in der Antike‹ hier nur andeuten, das Arbogast
Schmitt (2004) ausführlich anspricht. 6 Lehmann (1991). 7 Nur hingewiesen sei hier auf die beiden großen Studien Christopher Gills (1996 und 2006). 8 Kritisch zu einem großzügigen Gebrauch des modernen Ehrenzeichens ›Subjektivität‹ Polke
(1999). 9 Ausführlicher hierzu: Verf. (2007c). – Die Studie von Eva Bartsch (2000) setzt m.E. eine
problematische Ausgangsthese, wenn sie behauptet, die griechische Tragödie stehe »als unmittelbarer Ausdruck eines dramatischen Geschehens in der Dimension der Erlösung« (8). Die Kategorie der Erlösung ist der griechischen Tragödie grundsätzlich nicht angemessen.
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sozial-integratives Spiel vor der Polis und für die Polis 10, sondern ebenso schon ästhetisches Spiel des Subjekts11. Die Faszinationskraft der griechischen Tragödie gerade auch noch für die ästhetische Moderne, die Werner Frick kürzlich so eindringlich in Erinnerung gerufen hat, hängt genau mit dieser Frage nach dem Selbst zusammen12. Sie ist auch anthropologisch zentral. (Selbst-)Bewußtsein ist evolutionsgeschichtlich ein emergentes Phänomen. Für seine Entstehung gibt es keine überzeugende Erklärung. Bewußtsein und ›Sprache‹, freilich in ihrem »intermedialen Zeichengebrauch« 13, machen den Menschen überlegen gegenüber allen anderen Lebewesen. Sprache ist das Medium des Bewußtseins 14. Bewußtsein brockt dem Menschen aber auch unlösbare Probleme ein. Die größten hat er mit der Liebe, mit dem Leiden und dem Tod. Die Literatur redet seit jeher vor allem davon. Die ersten Spuren religiösen und ästhetischen Bewußtseins, die sich in der frühen Geschichte materieller Kultur finden, deuten an, daß die Spezies ›Mensch‹ ihre Position in umfassender Weise bestimmen will 15. Selbst-Bewußtsein ist kein Privileg der Neuzeit, gar der Moderne. Angesichts der Differenziertheit der Argumentation, der Tiefe und geschichtlichen Reichweite der anthropologischen Reflexion der platonischen und der aristotelischen Philosophie (man denke nur an die aristotelische Bestimmung der Freundschaft) scheint es vermessen, das Selbst-Bewußtsein der griechischen Literatur von dem der Neuzeit und den Ausformulierungen der ästhetischen Moderne allzu strikt unterscheiden zu wollen 16. Warum sollten Erfahrung und Reflexion des Allein-Seins im übergroßen Leiden im 5. Jahrhundert v. Chr. so grundsätzlich anders sein? Leid und Schmerz, ihre Intensität, die Bedeutung, die man ihnen gesellschaftlich zubilligt: Sie mögen so subjektiv sein, wie sie wollen. Sie sind dennoch von derart unbestreitbarer Evidenz, daß sich das Subjekt nicht vor ihnen davonmachen kann. Leiden und Schmerz kann man sich, trotz ihrer ganz subjektiven Abschattierungen, nicht wirklich einreden; und sie lassen sich nicht beliebig zum Kreuz spiritualisieren. In Schmerz und Leiden herrscht der Grundton des Authentischen. (Darum scheinen die Haltung der Zustimmung und die Wahrnehmung und Anerkennung des Gelingenden oft auch so viel anstrengender als die der Klage. Das gilt besonders für die Moderne.) An der Evidenz von Leid und Schmerz zu zweifeln, wäre so unsinnig, wie wenn man bestreiten wollte, daß 10 11 12 13 14
Vgl. vor allem Meier (1988). Lehmann (1991). Vgl. Frick (1998 und 2003). Jäger (2006), 20. Ich übernehme und erweitere hier den zentralen Gedanken der imponierenden Studie von Oliver Jahraus (2003). Jahraus konzentriert sich auf Literatur; ich meine: Es geht um menschliche Sprachlichkeit. 15 Jeder Versuch, die Anfänge menschlicher Kultur zu bestimmen, hat etwas Willkürliches. Vgl. etwa die schöne, zugänglich gehaltene Darstellung von Kuckenburg (2001). 16 Vgl. Schmitt (2004).
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man naß wird, wenn man vor das Haus in den Regen tritt – und natürlich naß wird. So kulturell und individuell unterschiedlich sie sich ausprägen17: Leiden und Schmerz sind keine bloß kulturellen ›Konstruktionen‹.
II. Kleist, Penthesilea Ein Sprung in der Geschichte der Literatur um mehr als 2000 Jahre und von Sophokles zum Werk Heinrich von Kleists, für den das Problem von ›Selbst‹ und ›Bewußtsein‹ bekanntlich zentral ist. Die Marquise von O., die Protagonistin der gleichnamigen Erzählung (1807), wird durch die »schöne Anstrengung« – die Lösung vom Vater, die Suche nach ihrem Vergewaltiger und Vater ihres Kindes –, der sie sich unterziehen muß, »mit sich selbst bekannt gemacht«18. Sie kommt wirklich zu Selbst-Bewußtsein: ihrer Familie, der Gesellschaft und sich selbst gegenüber. Im zentralen 15. Auftritt von Kleists Tragödie Penthesilea (1808) fragt die Amazonenkönigin Achill, diesen herrlichen Helden, zunächst scheinbar unverfänglich und offen: »Sprich, wer den Größesten der Priamiden / Vor Trojas Mauern fällte, warst das du?« 19 Das Heroische, das das Selbst vom Politischen und vom großen öffentlichen Auftritt her definiert, soll hier noch Achills Identität ausmachen. Mit dem Heroischen steht auch ein grundsätzliches Problem der Poetik der Tragödie zur Debatte: die Dramaturgie des Erhabenen und der Bewunderung, die schon Lessing so heftig kritisiert hatte 20. Penthesilea ruft Achills grausames Heldentum in Erinnerung, um dann aber insistierender auf dessen Selbst hin weiterzufragen: »Sprich! Rede! Was bewegt dich so? Was fehlt dir?« (15, v. 1798). Aus dem theatralisch sich inszenierenden Heroischen in seiner ›objektiven‹, kriegspolitischen Funktionalität ist nun, in der sich anbahnenden Beziehung der Liebe, keine wirkliche Identität mehr zu gewinnen. Das Heroische reicht nicht an das Selbst in der Erfahrung der Liebe heran. Achill antwortet mit den Worten, mit denen Jesus bei seinem letzten Verhör antwortet: »Ich bins« (vgl. Mk 14,62; Lk 22,70). Wie kann er das sagen? Und was sagt er damit? Vor dem Hohenpriester steht dieser Jesus, der sich selbst als König der Juden bezeichnen läßt, als ›nackter Mensch‹ in seiner völligen ›Eigenschaftslosigkeit‹. Das Erhabene eines politischen Königtums zählt 17 Zur Geschichte des Schmerzes vgl. Morris (1994). 18 Kleist (1977), II, 126. 19 Kleist (1977), I, 384 (15, v. 1794f.); die weiteren Nachweise mit Angabe von Szene und Vers
im Text. 20 Albert Meier (1993) hat gezeigt, welche Kontinuität durch das ganze 18. Jahrhundert die
Dramaturgie der Bewunderung hatte, auch nach ihrer Kritik durch Lessing. Sie bleibt eine Option für die Tragödie.
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hier nichts mehr; allenfalls zählt es noch zu seiner Verhöhnung. Sein wirkliches Königtum kommt nämlich aus seiner Gottessohnschaft allein. Jesus löst in seiner Nacktheit und Schutzlosigkeit die zentrale anthropologische Aussage der Bibel, der Mensch sei ›imago Dei‹, exemplarisch, ganz und gar ein. Er braucht darum nichts als sein nacktes Dasein. Es gilt völlig. Was für ein Selbst-Entwurf! Auf ihn muß ich noch zurückkommen. Zählt aber das Heroische noch für Achill selbst? Penthesilea echot: Nun denn, so grüß ich dich mit diesem Kuß [!], Unbändigster der Menschen, mein! Ich bins, Du junger Kriegsgott, der du angehörst; Wenn man im Volk dich fragt, so nennst du mich. (15, v. 1805 ff.)
Achill soll sich ganz durch seinen Bezug auf Penthesilea definieren. Das trägt sie ihm auf; das fordert sie geradezu von ihm. Der ›Unbändigste‹ wird allein durch sie ›gebunden‹. Die Ambivalenz dieses Kusses wird sich allerdings, wie schon im Judas-Kuß, bald zeigen. Kleist will das Objektiv-Pronomen ›mich‹ betont wissen. Die heroische Bestimmung Achills durch den Krieg (also durch seine Polis) wird durch den Anspruch Penthesileas abgelöst, sich ihrer Liebesordnung zu unterwerfen. Aber kann dies gelingen, wo sich Penthesilea selbst doch mit ihren Amazonen für die ›männliche‹, heroisch-erhabene Lebensform entschieden hat? Achill sakralisiert sie genau darin seinerseits: O du, die eine Glanzerscheinung mir, Als hätte sich das Ätherreich eröffnet, Herabsteigst, Unbegreifliche, wer bist du? Wie nenn ich dich, wenn meine eigne Seele Sich, die entzückte, fragt, wem sie gehört? (15, v. 1809ff.)
»Wer bist du?« Die graeco-mariologische Anspielung wiederholt sich wenig später: »Was ists, du wunderbares Weib, daß du, / Athene gleich, an eines Kriegsheers Spitze, / Wie aus den Wolken nieder […] fällst?« (15, v. 1877–1880) Biblisch-mariologische Anspielungen sind bei Kleist – und in der Literatur um 1800 überhaupt – nicht gerade selten 21. »Wer bist du?« Deutlicher geht es nicht. Wer wüßte darauf schon eine Antwort! Und doch spitzt große Literatur immer auf diese Frage zu, die einen förmlich 21 Die Marquise von O. wird von ihrer Mutter mit mariologischen Attributen belegt; vgl.
auch Kleists Erzählung Das Erdbeben von Chili: Als Jeronimo nach dem Erdbeben Josephe wiederfindet, ruft er aus: »O Mutter Gottes, du Heilige!« Die Familienszene in paradiesischer Landschaft evoziert die Heilige Familie. Die Familie beschließt, »nach La Conception zu gehen«. – Kleist (1977), 148 und 150.
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anfällt: »Wer bin Ich und wer bist Du?« Das ist die Kernfrage der Literatur 22. – »Wer bist du?« Ganz ähnlich wird Schillers Johanna, »ein Weib«, das sich ebenfalls »mit kriegerischem Erz / Umgeben«, von Lionel gefragt 23. Auch Johanna ist »die Wunderbare«, »das wunderbare Mädchen«. Sie vollbringt und an ihr selbst vollziehen sich »Wunder«. Das größte und eigentliche ist das der Subjektwerdung. Johanna gegenüber Raimond: »Doch in der Öde lernt ich mich erkennen« (V/4, v. 3170). Zu Sorel sagt sie: »Mir zeigt der Geist nur große Weltgeschicke, / Dein Schicksal ruht in deiner eignen Brust!« (III/4, v. 2133f.) Kleists Tragödie läßt sich auch als Antwort auf Schiller verstehen. In Jungfrau Johannas Untergang triumphiert nämlich zuletzt doch die Idee der Versöhnung von christlich geprägtem Mitleid und Liebe und Politik, also des individuellen und des allgemeinen Interesses. Das ist Subjektwerdung für Schiller. Die Jungfrau von Orleans ist letztlich keine Tragödie mehr, sondern ein modernes Versöhnungsdrama. Versöhnungsdramen waren schon Philoktet des Sophokles und Alkestis des Euripides. Dort aber besteht das versöhnende Wunder im Eingriff des Gottes; hier ist es das Wunder der Subjektwerdung in der entschiedenen Selbstrelativierung 24. Darauf werde ich am Ende dieses Aufsatzes noch einmal eingehen. Direkter, als Kleist es tut, kann man die Frage nach dem Selbst kaum stellen. Die Gattung der Tragödie stellt sie fortwährend. Wer bist du? Derjenige, der der Ordnung der Griechen oder derjenigen der Amazonen angehört? Beides sind, sozusagen, Polis-Ordnungen und beides Ordnungen des Krieges. Die Polis definiert sich genau dadurch, daß sie im Krieg liegt mit einer andern (Carl Schmitt). Achill will Penthesilea zu seinen Griechen führen und sie ihn nach Themiscyra zum Rosenfest der Amazonen, dem rituellen Unterwerfungsfest der Männer unter die archaische Ordnung der »ersten Mütter« (15, v. 1909). Er hält dieses Ritual der Amazonen für »ein Gesetz, / Unweiblich, du vergibst mir, unnatürlich«, »[d]em übrigen Geschlecht der Menschen fremd« (15, v. 1902–1904). Solange diese Antagonismen so sind, gibt es nur »Versehen« und reimen sich in der Tat »Küsse, Bisse« (24, v. 2981). Selbst-Werdung müßte aber bedeuten, sich einer Liebe zu öffnen, die nur in der wirklichen ›Anerkennung‹25 des anderen auch sich selbst finden kann, nicht in den Repräsentanzen der Polis-Ordnungen, aus denen die beiden Liebenden kommen. Im Tod begreifen sie das beide. Hier ›gleiten‹ keine Signifikanten, wie dekonstruktive Deutungen dies gerne hätten. Penthesilea ist keine ›Tragödie‹ der (Sprach-)Ordnung als solcher, sondern eine Tragödie des Selbsts, 22 Gadamer (1986). 23 Schiller (1981), 180; III/4, 2255f. Die weiteren Nachweise mit Angabe von Akt, Szene, Vers im
Text. Eine ausführlichere Interpretation zu dieser Frage des Christlichen in Schillers Jungfrau von Orleans in: Verf. (2007b); in anderem Kontext: Verf. (2007a). 24 Zum Typus und Verständnis des Versöhnungsdramas vgl. auch Hösle (1984). 25 Vgl. Honneth (1998); Ricœur (2006).
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welches das, was ihm Lessing in seinem Nathan und Goethe in der Iphigenie, beides Tragödienvermeidungsdramen26, zu leisten auftragen, nicht zu leisten vermag: »Denn jetzt steig ich in meinen Busen nieder, / Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz, / Mir ein vernichtendes Gefühl hervor«. Im Tod, so Penthesilea, ›sage ich‹ »vom Gesetz der Fraun mich los / Und folge diesem Jüngling hier« (24, v. 3013ff.). Im Tod! Jetzt begreift sie, daß sie zuerst sich, ihrem »Gefühl« und ihm gehört und nicht dem vor-subjektiven »Gesetz der Fraun«. Lessings Komödie Minna von Barnhelm (1767) ist mit ihrem Komödienschluß, sozusagen, das antizipierte Gegenstück zu Kleists Penthesilea. Hier gelingt unter größten Mühen, was dort scheitert: die Annahme der Person in den lebensweltlichen Ordnungen, aus denen sie kommen. Minna lernt, daß es das Selbst ›pur‹ nicht gibt, sondern immer nur in sozial-kommunikativen Zusammenhängen, also letztlich: in der Anerkennung des andern und in dem Anerkanntwerden durch den andern. Sie will ihren Tellheim zunächst gleichsam ›nur‹ als Menschen haben, jenseits seiner ganzen männlichen Ordnung der Ehre und des Krieges und seiner über sich selbst unaufgeklärten Vernunft. Am Ende begreift und akzeptiert sie, daß es nur konkrete Individuen gibt, die die Ordnungen, in denen sie stehen, nicht nach Belieben verlassen können. Und Tellheim begreift, daß er zu einer subjektiven Individualität kommen muß – und ihretwegen geliebt wird! –, zu einer Individualität, die sich nicht nur aus den gesellschaftlichen und politischen Ordnungen definiert, in denen er steht.
III. Notiz zur biblisch-christlichen Anthropologie Die Literaturwissenschaft ist als hermeneutische Disziplin für die Aufhellung der Prozesse literarisch-ästhetischer Sinnkonstitution zuständig. Auch die Frage nach dem Selbst ist letztlich die Frage nach dem ›Sinn‹ der Kunst in ihrer spezifischen Ästhetizität. Wohl für keine Gattung sonst ist die Frage nach dem Selbst so konstitutiv wie für die Tragödie, weil für keine andere Gattung Leid und Schmerz so sehr konstitutiv sind (die Subjektivität der Lyrik nötigt das Subjekt nicht ähnlich zwingend ins selbst-bewußte Subjekt-Sein). Das Subjekt-Sein wird den Protagonisten der griechischen Tragödie aufgezwungen. Die Protagonisten nennen diesen Zwang ›Schicksal‹. Erst das Neue Testament denkt ein Subjekt, das etwas sein soll jenseits solcher Hinsichten und Hinblicke, jenseits der sozialen Verfügungen und sozialen Verfügbarkeiten, auch jenseits seiner Funktion in der ›Polis‹. So sehr das Neue Testament gerade den Blick auf das Soziale richtet und das Karitative betont und fordert, so denkt es das Subjekt doch als ein Unverwechselbares: »in der ersten Person Singular« (F. Vouga). Es läßt dem Subjekt all seine Eigenarten und Eigen26 Ausführlicher dargestellt in Verf. (2007a und c).
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schaften, denkt es aber letztlich doch in seiner ›Eigenschaftslosigkeit‹, ohne dabei seinen sozialen Bezug, seine Aufgaben, seine Erfahrungen zu bestreiten27. In dieser ›Eigenschaftslosigkeit‹ ist es anzuerkennen. Die Durchsetzung des Christentums verändert nicht nur das Körperkonzept im Rahmen der nun geforderten imitatio Christi, die Leiden und Schmerz nobilitiert28. Auch dies hat größte Bedeutung für die Geschichte der Literatur. Werther, zum Beispiel, ist ein großer Leidender, der sein Leiden postfigurativ nach dem Leben und Leiden Jesu gestaltet. Hyperion berauscht sich förmlich an seinem Leiden selbst. Die neutestamentliche ›Eigenschaftslosigkeit‹ des Subjekts impliziert Freiheit. Das Subjekt des Neuen Testamentes hat seinen Wert ganz in sich selbst; es ist nicht deshalb wertvoll, weil es die Gesetze erfüllt, bloß weil es Gesetze sind. Das nur zu tun, ist die Kritik Jesu an den Pharisäern. Damit wird jedoch nicht gesagt, daß die gesellschaftlichen und politischen Ordnungen nicht ihr Recht hätten. Das Subjekt wird in seinem eigentlichen, letzten Wert nur nicht von seiner Funktion her und in seiner Funktionalität bestimmt29. Mitleid ist die notwendige Anerkennung, die diesem Subjekt in seiner ›eigenschaftslosen‹ Freiheit in der sozialen Welt zukommen muß. Die Gottes- und Nächstenliebe ist das höchste Gebot. Das ist, meines Erachtens, das Zentrum neutestamentlicher Anthropologie, die ihrerseits, wie schon gesagt, in der alttestamentlichen Aussage der Gottebenbildlichkeit des Menschen gründet. Mit Jesus Christus bekommt dieser ›eigenschaftslose‹ Mensch eine konkrete Gestalt, die ihren höchsten Ausdruck in seinem Selbst-Opfer findet. Die Bedeutung, die die Durchsetzung der neutestamentlichen Anthropologie für die Geschichte des Denkens und auch für die Geschichte der Literatur hat, kann meines Erachtens überhaupt nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Poeto-Theologie René Girards versucht, dem gerecht zu werden, ist aber für die Tragödie der Neuzeit noch kaum ausgeschöpft 30. Diese neutestamentliche Anthropologie ist die Grundlage der Ethik Kants, der Idee der Menschenrechte, auch der emphatischen Subjektivität der Moderne und damit der Autonomieästhetik, wie sie in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts entwickelt wird. Das Selbstopfer Jesu ist notwendig und freiwillig zugleich. Jesus läßt an sich vollziehen, was, nach dem Willen des Vaters und nach seiner eigenen Einsicht, vollzogen werden muß, damit Versöhnung möglich wird. Und er erleidet das, was er selbst erleiden will. Das ist im Kern auch Schillers Position. Schiller verbindet in diesem 27 Vgl. Vouga (1998), bes. 38–40; id. (2000) und id. (2004); zur geschichtlich-theologischen
Entfaltung des Subjekt-Gedankens vgl. Müller (1994). 28 Dazu gibt es natürlich eine reiche Forschung; vgl. nur Feichtinger/Seng (2004). 29 Ich konzentriere mich auf diesen einen Aspekt; umfassender und differenziert: Reinmuth
(2006). 30 Vgl. bes. Girard (1988). Zu Girards Konzeption vgl. Palaver (2003). – Das Problem des
Opfers/Selbstopfers hat in den letzten Jahren – wohl auch aus Gründen seiner schrecklichen Aktualität – neues Interesse hervorgerufen. Vgl. Janowski/Welker (2000); Malsch (2007).
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Sinne auch Ethik und Ästhetik. Freiheit, die sich im ästhetischen Spiel ereignet, ist die Freiheit des Menschen, in der das Subjekt ganz es selbst sein kann: Individuum und Gattungswesen zugleich. Mit dem versöhnenden Selbstopfer Jesu kommt die ›Polis‹, die soziale Gemeinschaft wieder ins Spiel, aber jetzt eben auf der Basis eines neuen Subjekt-Begriffs. Ich betone also diese neutestamentliche Konzeption des ›autonomen‹ Subjekts, nicht den Gedanken der Heilsgeschichte, der dafür natürlich die theologische Grundlage bildet. Subjekttheoretisch ist der Gedanke der Heilsgeschichte jedoch eher zweitrangig. Darauf kommt es mir also an: auf diese Verbindung von Selbst-Bewußtsein, das Schuld-Bewußtsein ist und Selbst-Reflexion verlangt, und Anerkennung des Subjekts in seiner ›Eigenschaftslosigkeit‹. Dies ist der entscheidende Schritt des Neuen Testamentes, durch den es über die bloße ›cura sui‹ hinauskommt. Die Poetik der neuzeitlichen Tragödie hat auf diese neutestamentlichen Vorgaben vor allem drei Antworten gegeben. Eine kommunikativ-ethische, die das Subjekt in seiner ganzen sozialen Kraft herausfordert. Sie heißt ›Poetik des Mitleids‹ und wird, wirkungsmächtig mindestens bis Brecht, erstmals von Lessing wirklich ausformuliert. Eine subjekt- und freiheitstheoretisch modellierte, und sie stammt vor allem von Schiller. Und eine der objektiven Logik des geschichtlichen Prozesses, in dem das Leiden des tragischen Subjekts seinen notwendigen Ort erhält: so Hegel 31. In seiner Theorie des Homo sacer hat Giorgio Agamben das ›nackte Selbst‹ aus der Perspektive der Macht zu bestimmen versucht 32. Es ist bezeichnend, daß er dabei die Anthropologie des Neuen Testamentes außer acht läßt. Dagegen betone ich mit Bezug auf das Neue Testament Selbst-Wert, Selbst- Gefühl 33, Selbst-Definition und Selbst-Bewußtsein (ein Begriff, der erst im 18. Jahrhundert als Übersetzung aus dem Lateinischen aufkommt). Die sozial Deklassierten werden zum himmlischen Hochzeitsmahl geladen. Die Armen, Mühseligen und Beladenen werden die wahrhaft Seligen sein. Die Hure, der betrügerische Zöllner, der nichtsnutzige Herumtreiber, der das väterliche Erbe verpraßt, die Säufer und Fresser: Sie zählen mindestens so viel wie die Tüchtigen. Unter einer Bedingung: Sie müssen sich ihrer selbst bewußt werden und bereit sein zur conversio; sie müssen zur vollen Einsicht in sich selbst kommen, in ihr verfehltes Leben, also in ihre Schuld. Sie müssen ein Gewissen entwickeln, an dem sie sich selbst messen. Maßstab und Reflexionsinstanz liegen im Innern des Subjekts selbst. Und sie müssen sich dann ganz darauf verlassen, daß sie gerade in diesem ihrem ›nackten‹ Selbst-Sein zählen. Der am Kreuz hat es vorgelebt und vorgesprochen: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Also: Was bin ich jetzt noch im größten Leiden und als 31 Vgl. dazu Verf. (2007a). 32 Agamben (2002). 33 Vgl. Frank (2002).
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sozial Ausgestoßener? Das Selbst, das dieser Mann am Kreuz konstituiert, kommt, ich folge hier ebenfalls dem Neutestamentler François Vouga, aus dem Geist der ›Umsonstheit‹ der größten Liebesgabe Gottes, die er durch das Selbstopfer Jesu Christi spendet34. Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32) hat sein ganzes Erbe durch ein »zügelloses Leben […] durchgebracht« (Lk 15,13f.). Als er das sieht und begreift, daß er so sein Leben radikal verfehlt, kehrt er um und bittet seinen Vater um Verzeihung. Er wird vom Vater wieder angenommen und wird in seinem Wert und seiner Würde wieder anerkannt. Es braucht dazu nichts als die völlige Einsicht in sich selbst. Solange nun die Frage nach dem Selbst gewissermaßen ganz und vollständig in das heilsgeschichtlich begründete rituelle Opfer-Spiel der Passionsgeschichte eingelassen ist und von dorther gelöst wird, braucht es keine Tragödie und kann es keine geben. Das Selbst ist gleichsam im Ritual geborgen und verborgen. Das mittelalterliche Passionsspiel ist rituelle und theatrale Performanz der Heilsgeschichte; es ist wichtiger Bestandteil des ästhetisch-religiösen Gesamtsystems Liturgie35, geht aber im Liturgischen nicht auf 36. Die Gattung der Tragödie schweigt gleichsam bis in die Frühe Neuzeit hinein. Ich behaupte damit nicht, daß es im Rahmen des religiösrituellen Passionsspiels grundsätzlich keine Spielräume gegeben habe, die aus dem Ästhetischen selbst kommen, ja daß das Ritual überhaupt nur ein Handlungstyp hochgradiger Normiertheit und Starrheit sei. Insbesondere die Forschungen Gerd Althoffs haben deutlich machen können, daß das Ritual im Mittelalter als ein spezifischer Typus symbolischer Kommunikation mit spezifischen Handlungsoptionen verstanden werden muß37. Ich sage nur, daß das Passionsspiel, anders als die Tragödie, die Frage nach dem Selbst nicht stellen muß; sie ist von vornherein heilsgeschichtlich beantwortet. Michael Lurje hat vor kurzem an der Rezeptions- und Interpretationsgeschichte des König Oedipus gezeigt, wie die antike Tragödie in der Frühen Neuzeit neue Aufmerksamkeit findet, wenn das Problem von Schuld und Reinigung vom reformationstheologischen, humanistisch-philosophischen und -poetologischen Diskurs aufgegriffen und jeweils ›situationsangemessen‹ neu interpretiert wird 38. Unter den Bedingungen des reflexivwerdenden Christentums der Frühen Neuzeit muß die Frage nach der Schuld gestellt werden, die für die aristotelische Tragödienpoetik noch keine subjekttheoretisch und individuell moralisch relevante Frage war. In der Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit hat man sich lange Zeit besonders 34 35 36 37
Vgl. Vouga (1998). Reiches, eindrucksvolles Material bietet jetzt Divina Officia (2004). Müller (1998), 543f. und 546ff. Vgl. außerdem Petersen (2004). Vgl. Dörrich (2003); Witthöft (2004, bes. die Einleitung); und vor allem Quast (2005); bei Witthöft werden auch die wichtigsten Untersuchungen Gerd Althoffs genannt; bes. Althoff (1997 und 2003). 38 Lurje (2004).
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auf den Zusammenhang von frühneuzeitlicher Staatenbildung und Konfessionalismus konzentriert. Auch wenn die Reichweite und Erklärungskraft dieses Modells inzwischen relativiert wird, so besteht doch kein Zweifel, daß die religiösen bzw. konfessionellen Auseinandersetzungen an der frühneuzeitlichen Staatenbildung entscheidend beteiligt waren. Für die Gattung der Tragödie heißt dies jetzt wieder: Sie ist grundsätzlich und jetzt erneut eine ›politische‹, eine auf die Polis, auf das Ganze, das alle angeht, bezogene Gattung. Jetzt gewinnt sie unter neuen Bedingungen ihren politischen Bezug zurück. Wie wichtig der ist, kann man detailliert am Verhältnis von Jesuitentheater und protestantischem Schultheater beobachten, an Breslau und der schlesischen Schule (Gryphius, Lohenstein). Ich sehe also für das mittelalterliche Passionsspiel und die frühneuzeitliche Tragödie zunächst nicht einen Weg »vom Kult zur Kunst«, sondern eine Erweiterung des ästhetischen Ausdrucks, der durch sich verändernde historische Bedingungen möglich und nötig geworden ist39. Die reformatorische Theologie mit ihrem neuen Subjektkonzept und die frühneuzeitliche Staatenbildung: Sie müssen in einem Zusammenhang gesehen werden, und sie ›konfigurieren‹ nicht nur das Verhältnis von ›Selbst‹ und ›Institution Kirche‹, sondern auch das von ›Selbst‹ und ›Polis‹ neu. Humanismus und Reformation initiieren nun, von neuen theologischphilosophischen Voraussetzungen aus, einen theoretischen und anthropologischen Diskurs des Subjekts, an dessen vorläufigem Ende die großartige Subjekt- und Bewußtseinsphilosophie von Frühromantik und Idealismus steht 40. Religion ist, man sieht es hier einmal mehr, eine große kulturelle, ästhetisch produktive Kraft. Die reformatorischen Kontroversen entritualisieren die religiöse Praxis, lösen das Subjekt aus dem Ritual und verweisen es auf sich selbst. Es muß seine Selbst-Wahrnehmung schärfen und muß selbst das Vertrauen aufbringen in die Kraft der Schrift, des Glaubens und der göttlichen Gnade. Die Anstrengung dieses Vertrauens wird dem Subjekt ganz und gar zugemutet. Vertrauen ist von nun an auch eine Grundkategorie des Sozialen, des Politischen, aber auch, in seiner kritischen Reflexion, des Ästhetischen: siehe Kleist 41. Die Poetik der Tragödie entwickelt sich in den neuen theologisch-konfessionellen Auseinandersetzungen der Frühen Neuzeit (Schuld, Vorsehung, Glaube und Gnade) und, damit verbunden, jedoch davon nicht allein abhängig, in einer neu einsetzenden Reflexion des Politischen und des Subjekts weiter. Das ›nackte‹ Selbst des Neuen Testamentes differenziert sich in den Diskursen doch aus und findet, sozusagen, zu sich erst wieder in der Tragödien-Poetik Schillers zurück, die nun aber eine utopische Poetik selbst-bewußter menschlicher Freiheit und Autonomie gerade im höchsten Leid 39 ›Kunst‹ ist in dieser Perspektive nicht das Telos des Passionsspiels; anders Quast (2005). 40 Vgl. Geyer (1997). Auf die grundlegenden Studien Dieter Henrichs und Manfred Franks sei
nur summarisch hingewiesen. 41 Vgl. hierzu Verf. (2005). Vgl. auch Frevert (2003).
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ist 42. Das macht für Schiller die Erhabenheit der Tragödie aus. Die subjekttheoretischen Implikationen der Durchsetzung des Christentums sind selbst bei Lessing noch nicht völlig erkannt. Das Problem reflektiert erst Schiller konsequent. Das ist meine These, die ich nun noch etwas weiter zunächst an Corneille und Racine skizzieren will. Dann komme ich abschließend noch einmal kurz auf Schiller zurück.
IV. Corneille, Oedipe und Polyeucte; Racine, Phèdre Der französische Klassizismus des 17. Jahrhunderts erneuert bekanntlich die strenge Regelhaftigkeit der Tragödie. Die leitenden poetologischen Kategorien der Schicklichkeit, Angemessenheit und Wahrscheinlichkeit gehören zu dieser Restitution der ästhetisch-rituellen Dimension des ästhetischen Spiels dazu. Rituell ist etwas im Hinblick auf ein gegebenes oder mitgedachtes Kollektiv. Dieses ästhetisch-poetologische Konzept der Tragödie sollte man aber nicht vorschnell nach dem schwierigen ›Spiegel-Modell‹ deuten: als ›spiegelten‹ sich in der Ordnung der Tragödie die Ordnung der Gesellschaft und die Ordnungssehnsüchte des Subjekts. Wie, von welchen Annahmen her will man dieses ›Spiegel-Modell‹ begründen? Einfacher: Die höfische Gesellschaft Frankreichs scheint ein Gespür dafür zu entwickeln, daß sie ein ästhetisches Ordnungsritual braucht, an dem sie sich als das, was sie ist, vollzieht und erfährt 43. (Ritual ist nicht Kult!) Das war schon eine Grundbedeutung der attischen Tragödie für die Polis 44. Deshalb besteht die höfische Gesellschaft Frankreichs darauf, das Ritual zu kontrollieren. Diese Rolle beansprucht die 1635 von Richelieu gegründete ›Académie Française‹ für sich. Sie »mündet« erst »allmählich ein in ein relativ offenes Diskussionsforum« 45. Corneille selbst hat schnell begreifen müssen, daß die Lizenzen hier nicht beliebig groß sind. Seine Auseinandersetzung mit d’Aubignac und die Kritik, die sein Cid (1637) entfacht hat, zeigen dies 46. 42 Weil die Tragödie der eigentliche ästhetische Gestaltungs- und Erfahrungsraum von Freiheit
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ist – das Glück ist keine Herausforderung für das moralische Subjekt (und das Moralische ist der Kern des Subjektes) –, ist auch die Geschichte für Schiller nicht an sich tragisch, sondern erst in der Auswahl des Stoffes und in der Deutung durch den tragischen Dichter. Vgl. Söring (1982), 320. Zu diesem Problem auch Chihaia (2002); dort die einschlägige Literatur zur ›tragédie classique‹. Meier (1988). Mayer (2005), 231; zur Querelle du Cid, 235ff. Auf François Hédelin, Abbé d’Aubignac (La Pratique du Théâtre des Franzosen d’Aubignac, Paris 1657) antwortet Corneille 1660 in seinen Trois Discours sur le Poème Dramatique. Diese drei Abhandlungen über die Kunst des Theaters sind außerordentlich wirkungsvoll gewor-
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Allgemeiner: Gruppen, Gemeinschaften und Gesellschaften brauchen ästhetisch-präsentative Ordnungs- und Kohärenzerfahrungen, an denen sie sich als solche wahrnehmen, weil sich dabei Gemeinschaft und Gesellschaft jeweils neu vollzieht. Das ästhetische Ritual der Tragödie und des Theaters enthält eine solche Option, setzt damit aber eine potentielle Spannung zum Subjekt mit, sofern es denn eine relevante Größe ist. Dazu wird es im Prozeß der Frühen Neuzeit und in den Prozessen, in denen sich subjektive Individualität herausbildet, die dem Allgemeinen: der Polis, dem Staat, der Gesellschaft, der Ökonomie, nicht mehr von vornherein den Vorrang zugesteht: siehe Kleist 47. Denn genau darauf setzt die Reformation – fast – alles. Soziale Ordnung gibt es nicht einfach; »sie bedarf der rituellen Inszenierung und der mythischen Artikulation: Die Mythen«, man könnte auch sagen: die alten Geschichten, »sprechen die Ordnung aus, die Riten stellen sie her« – so Jan Assmann48. Der Oedipus Rex des Sophokles war die Mustertragödie des französischen Klassizismus. Corneilles Tragödie Oedipe (1659) aus seiner zweiten Werkphase lehnt sich in der Grundstruktur an Sophokles und auch an Seneca an, erweitert die ›politische‹ Handlung freilich auf charakteristische Weise um eine Liebeshandlung. Das ist auch das Strukturprinzip des höfischen Romans. So scheint nun eine modernere, subjektivere Komponente in das alte Spiel zu kommen. Dircé, eine Tochter des Königs L’Aios, die bei Sophokles nicht erwähnt wird (nur bei Plutarch), erhebt ebenfalls Anspruch auf den Thron Thebens und will deshalb den Herrscher von Athen, Thésée, heiraten. So kommt der Liebeshandlung doch auch eine politische Dimension zu. Die Liebeshandlung, die zunächst nur eine Nebenhandlung zu sein scheint (das ist in der Rezeption des Stückes auch früh kritisiert worden), rückt zudem das Problem des Opfers stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit 49. Darauf will ich mich kurz konzentrieren: Der Schatten des toten Königs L’Aios gibt zu verstehen, daß das Verhängnis über Theben nur durchbrochen werden könne, wenn einer aus »seinem Blut« sich opfere. Dircé und Thésée rivalisieren förmlich darum, wer von ihnen beiden denn als Opfer geeigneter sein könnte. Besonders wichtig ist die letzte Szene des dritten Aktes, in der es im Grunde um die Frage der Prädestination geht. Thésée: Wie denn! Der Zwang zur Tugend oder der zum Laster Soll Launen eines unabweislichen Gestirnes folgen, Der Mensch hätt auf sich selber so geringen Einfluß, den; sie verschaffen gegenüber den starren Regeln d’Aubignacs einen gewissen Spielraum, bleiben aber der Regelhaftigkeit verpflichtet. 47 Vgl. dazu van Dülmen (1997). 48 Assmann (1991), 24. 49 Unter dem Gesichtspunkt des Opfers, aber mit anderen Akzenten, untersucht Chihaia (2002) die ›haute tragédie‹.
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Daß er ein Schurke wird, wenn Delphi es vorausgesagt? Die Seele wäre also gänzlich Sklave: ein höheres Gesetz Zerrt unablässig sie zum Guten oder Schlechten hin; Und diese Freiheit, die uns keine Wahl beläßt, Flößt keine Furcht und kein Verlangen je uns ein, Ohn Unterlaß an die erhabene Weisung ganz gefesselt, Voll Tugend ohne jed’ Verdienst, und lasterhaft ohn’ eigenen Frevel. […] Versenken wir nicht Euern Blick und nicht den meinen In diesen tiefen Abgrund, wo wir nichts erkennen können 50.
Das Subjekt: nur ein willenloser Spielball des Schicksals? Die Protagonisten von Corneilles Tragödie wollen nicht bloß das Schicksal vollziehen. Sie wollen vielmehr die Versöhnung durch ihr eigenes ›Opfer-Werk‹ selbst erreichen. Die soziale Bedeutung des Opfers tritt mit der individuellen Tat nur um so unverstellter hervor. Für Thésée und Dircé bedeutete freilich ihr Opfer auch das Ende ihrer Liebe 51. Im Diskurs der Tragödie der Frühen Neuzeit: Liebeshandlung als das, was die Subjekte in ihrem Selbst angeht, und politische Handlung (das versöhnende Opfer für die Gemeinschaft) treten auseinander 52; sie sind nicht integrierbar. Das wird ein grundlegendes Problem der Tragödie bleiben, gerade auch des sogenannten ›Bürgerlichen Trauerspiels‹ über Schiller (Kabale und Liebe, auch Wallenstein) und bis hin zu Hebbel, ja bis hin zu Brecht. Daß sich die Liebe autonomisieren könnte
50 Corneille (1968), 192. Im Original: »Quoi, la nécessité des vertus, et des vices / D’un Astre
impérieux doit suivre les caprices, / Et Delphes malgré nous conduit nos actions / Au plus bizarre effet de ses predictions? / L’âme est donc tout esclave, une loi souveraine / Vers le bien, ou le mal incessamment l’entraîne, / Et nous ne recevons, ni crainte, ni désir / De cette liberté qui n’a rien à choisir, / Attachés sans relâche à cet ordre sublime, / Vertueux sans mérite, et vicieux sans crime […] / N’enfonçons toutefois, ni votre œil, ni le mien / Dans ce profond abîme, où nous ne voyons rien«; Corneille (1987), 62f. 51 Man sieht von hier aus schon die Verschiebung in der Liebeskonzeption bei Lucile am Ende von Büchners Dantons Tod (1835): Bewahrung der Liebe um den Preis des durch den Ausruf »Es lebe der König« provozierten Todes; Opfer an die Liebe, nicht Opfer an die Gemeinschaft. 52 Wolfgang Theile hat darauf hingewiesen, daß die Bearbeitung des Oedipus-Stoffes durch Corneille im Unterschied zu der durch Sophokles das Schuld-Problem von Beginn an in den zwischenmenschlichen Bereich verlagert; aus einer vertikalen Struktur (Oedipus und das Orakel, Oedipus und die Götter) wird eine horizontale. So wird die Tragödie zum Diskursort dessen, was politische Macht ist, wie sie ihre Ansprüche artikuliert und wie sie sich durchsetzt. Der Konflikt zwischen Oedipus und Dircé referiert unübersehbar auf die zeitgenössische politische Debatte im Anschluß an Machiavelli und Bodin. Diese Beobachtung nimmt der Kritik an Corneilles Drama, es falle in eine Liebeshandlung und in eine Oedipus-Handlung auseinander, ein wenig von der Schärfe, erledigt sie aber nicht. – Theile (1975), bes. 40.
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bis in die Lebenspraxis hinein, das ist die Befürchtung, die die religiös motivierte Kritik der Frühen Neuzeit auch dem Roman entgegenbringt53. Die letzte Szene von Corneilles Oedipe bringt, gemäß dem Mythos, den Bericht über die Selbstblendung Oedipes, die nun wirklich als Opfer für den Staat gedeutet wird und so auch die Versöhnung zwischen Staat und Familie eröffnet: In diesen Mauern breitet plötzlich sich Gesundheit wieder aus, Und alles glaubt an Wunder, preist mit hocherhobener Stimme Die Güte unserer Götter ob solch raschem Wandel 54.
Indem die Tragödie zum Mythos zurückfindet, relativiert sie den Autonomieanspruch des selbst-opferbereiten Paares Dircé und Thésée. Das Opfer Oedipes erhält dabei christologisch-postfigurative, martyrologische Züge: »Nur seinem Blut verdanken wir den öffentlichen Jubel«. Aus seinem Blut entsteht »den Thebanern neues Leben […] kaum hat dieses kostbar Blut den Boden nur berührt« 55. Das Opfer Oedipes erscheint weniger grausam und sowohl gegenüber der archaischen Monumentalität bei Sophokles als auch gegenüber der Drastik bei Seneca deutlich gemildert. Mit dem »Wunder« wird die sichtbare Wirkung des Opfer-Rituals betont. Es muß seinen sozialen Effekt dabei zeigen. Das ist, sozusagen, eine katholische Variante der Tragödie. Sie begnügt sich nicht, wie im protestantischen Märtyrerdrama, mit der Emblematisierung des geschundenen Körpers allein 56. Das »Wunder« beglaubigt die Leistung des Opfer-Rituals, das freilich die Handschrift des sich selbst zum Opfer bestimmenden Subjekts schon trägt. Das Selbstopfer Oedipes und das daraus entstehende Wunder konstituieren eine »neue Ordnung«. Der Fluchtpunkt des Rituals ist, wie Dircé sagt, diese »neue Ordnung«, die »der morgige Tag uns bringen« mag 57. Diese neue Ordnung stabilisiert die Polis. Auf der Ordnung liegt der Akzent. Auch dies ist ›katholisch‹. Sie hat zwar den ›Erlöser‹ Oedipe als ihren Begründer, kommt aber nun ohne ihn aus. Sie wird nun weiterhin auf dynastischer Planung beruhen, wie dies von Thésée und Dircé repräsentiert wird und wie es sich für frühneuzeitliche Herrschaftsrationalität gehört. Hier zeichnet sich eine merkwürdige Spannung ab, deren Problem sich in Corneilles berühmter fünfaktiger Märtyrer-Tragödie Polyeucte Martyr, uraufgeführt 53 Eine der interessantesten und deutlichsten kritischen Stellungnahmen stammt von dem
calvinistischen Pfarrer Gotthard Heidegger (1611–1711): id. (1969). 54 Corneille (1968), 214. Im Original: »La santé dans ces murs tout d’un coup répandue / Fait
crier au miracle, et bénir hautement / La bonté de nos Dieux d’un si promt changement«. Corneille (1987), 91. 55 Corneille (1968), 215. Im Original: »On ne doit qu’à son sang la publique allégresse […] Là ses yeux arrachés par ses barbares mains / Font distiller un sang qui rend l’âme aux Thébains. Ce sang si précieux touche à peine la terre …«: Corneille (1987), 92f. 56 Vgl. Benjamin (1928). Die jüngste Deutung stammt von Bettine Menke (2006). 57 Corneille (1968), 216. Im Original: »Un autre ordre demain peut nous être donné«. Corneille (1987), 93.
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1642/43, noch einmal verschärft. Einerseits betont Corneille hier noch sehr viel stärker dieses Moment des Wunders. Andererseits wird gerade so, durch das Wunder, der säkulare Staat vorbereitet. Sévère ist keineswegs nur ›severus‹. Beeindruckt durch die Standhaftigkeit, mit der Polyeucte das Martyrium erleidet, bekehren sich sowohl Pauline als auch ihr Vater. Der Repräsentant der römischen Zentralgewalt Sévère ist ebenfalls äußerst beeindruckt. Er räumt nun individuelle Religionsfreiheit ein. Staat und Religion treten, vorangetrieben gerade durch das Wunder, auseinander. Die Politik wird gewissermaßen liberal. Das kultische Ritual (das heißt nicht: jedes Ritual) kann und muß sie nicht mehr wirklich fundieren. Das kultische Ritual ist nur initial für den modernen Staat. Beide, der Kaiser und Gott, dürfen nun Verehrung beanspruchen. Damit daraus kein Konflikt entsteht, braucht es aber das Band der Liebe und des Vertrauens zwischen Herrscher und Untertan: Unterdessen will ich [Sévère] Gestatten, daß ein jeder seinen Göttern Auf seine Weise dient, und ohne Furcht Vor Strafe. Seid ihr Christen, fürchtet nichts Von meinem Haß, ich liebe sie, ich will Ihr Schützer ferner sein, nicht ihr Verfolger. Behalte deine [Felix’] Macht, nimm sie zurück, Verehre deinen Gott und deinen Kaiser. Du wirst die Grausamkeiten enden sehen, Wenn ich des Kaisers Liebe mir erhalte, Der ungerechte Haß bringt ihm nur Schande 58.
Schon der für den französischen und überhaupt den europäischen Absolutismus zentrale Staatsphilosoph Jean Bodin, mit Niccolò Machiavelli Begründer einer rationalen und pragmatisch orientierten politischen Theorie in der Frühen Neuzeit, fordert, daß zwischen den Untertanen und seinem Souverän ein Verhältnis der Liebe und des Vertrauens bestehen müsse, ohne das keine stabile politische Ordnung sein könne. Wie die Polis so darf auch der Staat nicht einfach eine abstrakte Größe sein, sondern bedarf affektiver Verbundenheit seiner Bürger mit dem Souverän. In der Zweiten Abhandlung über die Regierung (1690) wird John Locke genau diese Kategorie des Vertrauens besonders betonen. Vertrauen aber 58 Corneille (1962), 65. Im Original: »J’approuve cependant que chacun ait ses Dieux, / Qu’il
les serve à sa mode, et sans peur de la peine. / Si vous êtes Chrétien, ne craignez plus ma haine, / Je les aime, Félix, et de leur protecteur / Je n’en veux pas sur vous faire un persécuteur. / Gardez votre pouvoir, reprenez-en la marque, / Servez bien votre Dieu, servez notre Monarque, / Je perdrai mon crédit envers sa Majesté, / Ou vous verrez finir cette sévérité, / Par cette injuste haine il se fait trop d’outrage«. Corneille (1980), 1049. – Man kann sich hier schon, wenn »ein jeder seinen Göttern / Auf seine Weise dient«, an Lessings Ringparabel erinnert fühlen. Lessing hat Corneille bestens gekannt; vgl. Golawski-Braungart (2005).
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braucht Begründung und Bekräftigung in ›vertrauensbildenden Maßnahmen‹, in vertrauensbildender Kommunikation. In dieser Perspektive wird Politik generell zum kommunikativen Prozeß. Kann man durch Kommunikation das Opfer und das Selbst-Opfer vermeiden? Lessings Nathan und Goethes Iphigenie gelingt dies, freilich mit bemerkenswerten ironischen Relativierungen59. Diese Frage wird zu einer zentralen Herausforderung für die Poetik der Tragödie im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert. Ein Musterbeispiel dafür ist Schillers verwickelte Tragödie Don Carlos. Das bloße Opfer-Ritual braucht dagegen kein Vertrauen, keine Einfühlung, keine emotionale Bindung des Subjekts 60. Aber dann ist auch fraglich, wie weit es unter den Bedingungen neuzeitlicher subjektiver Individualität trägt. Corneille entwickelt also gewissermaßen die katholische Variante des SubjektProblems der Tragödie unter den Bedingungen des Christentums, indem er das Subjekt zwar noch rituell abfängt, ihm dabei die Möglichkeit zum eigenen, erlösenden und versöhnenden Opfer-Werk, zur Selbsttätigkeit aber läßt. Es scheint mir wichtig, daß man auch diese ästhetische ›Produktivkraft‹ von Religion und Konfession sieht, die sich unter den Bedingungen der frühneuzeitlichen konfessionellen Auseinandersetzungen schärfer darstellt. Die Handlungsoption, die sich im SelbstOpfer für das Subjekt bietet, bringt Corneilles Tragödie freilich in die Nähe des Mirakel-Spiels und löst den tragischen Konflikt tendenziell auf. Racines Phèdre (1677) setzt dagegen nun einen jansenistischen Akzent: »Ich suche / Mich selbst, und finde mich nicht mehr«. So Hippolyte gegenüber Aricie, ganz dicht an der Sprache Kreons aus Sophokles’ Antigone 61. Oder Thésée, zu Beginn des vierten Aktes, in all seiner Verwirrung auch über sein eigenes Tun, in der Irritation über die für ihn versagenden Deutungsmuster: »Ich weiß nicht, was ich soll, nicht, was ich bin!« 62 Oder dann im 2. Auftritt des 4. Aktes, wo Hippolyte gegenüber Thésée betont: »Du billige das Gefühl, das mir den Mund / Verschließt, und, statt dein Leiden selbst zu mehren, / Prüfe mein Leben, denke,
59 Besonders gravierend ist, wie der Schluß von Lessings Drama relativiert. Das Drama ist näm-
lich als ganzes selbst eine Art Märchen. Plötzlich sind alle mit allen verwandt. Ein großes allegorisches Tableau der Menschheitsfamilie inszeniert sich da auf der Bühne, aber um den Preis waghalsiger und verworrener Konstruktionen von Verwandtschaft. Und bei Goethe wird mit einem hermeneutischen Trick gearbeitet: Denn das ›Bild‹ der Göttin, das Orest und Pylades bei den Tauren suchen, soll Iphigenie selbst sein. Man deutet den Mythos einfach um! Dieser Trick spielt dabei auf die jüdisch-christliche Anthropologie an; die Gottebenbildlichkeit des Menschen ist die zentrale anthropologische Aussage der Bibel. 60 Ich habe dieses Problem zu umreißen versucht in: Verf. (2005). 61 Racine (1980), 606. Im Original: »Maintenant je me cherche, et ne me trouve plus«. Racine (1985), 767. 62 Racine (1980), 623. Im Original: »Je ne sais où je vais, je ne sais où je suis«. Racine (1985), 782.
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wer ich bin« 63. Zwar ist das zunächst so gemeint, daß Hippolyt seinen Vater an seinen eigenen sozialen und familialen Stand erinnert. Und doch läßt sich diese Formulierung durchaus doppeldeutig und grundsätzlicher verstehen: Hier wird nach dem Subjekt selbst gefragt. Man darf wohl die Neubelebung der Mystik im 17. Jahrhundert auch so verstehen, daß sie bereits auf diese frühmoderne Frage nach dem Subjekt antwortet. Bei Angelus Silesius (Johannes Scheffler) heißt es z.B. in dem bis heute gesungenen Kirchenlied Ich will dich lieben, meine Stärke (1657): »Ich lief verirrt und war verblendet, / Ich suchte dich und fand dich nicht, / Ich hatte mich von dir gewendet / Und liebte das geschaffne Licht«64. In dem ebenfalls bis heute noch gebräuchlichen Lied Mir nach, spricht Christus, unser Held (1668) heißt es in der fünften Strophe: »Wer seine Seel zu finden meint, / Wird sie ohn mich verlieren, / Wer sie um mich verlieren scheint, / Wird sie nach Hause führen« 65. Wenn das Subjekt erst einmal – im äußersten Affekt der Liebe – in sich selbst hinabgestiegen ist, dann gibt es keinen Weg mehr heraus. Racine wählt die höchste Stilebene, den gereimten Alexandriner, die erhabenste Sprache, das höchste Pathos (vgl. etwa die große Rede Phèdres in II/5). Das mußte Schiller anziehen. Sein fünfhebiger Jambus ist ebenfalls äußerst pathetisch und doch nie trivial; er kippt nie ins Lächerliche, wie es mit den Sturm-und-Drang-Dramen häufiger geschieht. Der hohe Stil trägt das hohe Pathos, auch wenn die Geschichte fast trivial scheint. Die Liebe als der erschütternde Affekt, als der Affekt, der die Person ganz besetzt, von dem aus die Person sich ganz ergriffen sieht: Das ist das zentrale Thema. Phèdre: »Ins Labyrinth stieg ich hinab mit dir, / Mit dir [Hippolyte] war ich gerettet oder verloren«66. Zwar steht Racines Phèdre in der Tradition der Vorstellungsgeschichte von der Liebe als Krankheit; das Drama erinnert immer wieder an den medizinischen Diskurs. Und doch ist die Liebe hier vor allem Medium des Ausdrucks und der Darstellung eines äußersten seelischen Konfliktes des Subjekts. Aricie und Phèdre konkurrieren auch in der Liebe67. In der Liebe als der größten Leidenschaft wird zugleich die Tugend als der größte moralische Anspruch des Subjekts sichtbar. Auch dieses Problem mußte Schiller interessieren. Hinzu kommt das Heroische, das Hippolyt repräsentiert68. Wozu 63 Racine (1980), 625. Im Original: »Approuvez le respect qui me ferme la bouche; / Et sans
64 65 66 67 68
vouloir vous-même augmenter vos ennuis, / Examinez ma vie, et songez que je suis«. Racine (1985), 785. Angelus Silesius (1949), 47. Angelus Silesius (1949), 311. Racine (1980), 611. Im Original: »Et Phèdre au Labyrinthe avec vous descendue / Se serait avec vous retrouvée, ou perdue«. Racine (1985), 771. So z.B. in der langen Rede Aricies: Racine (1980), 602 ff. und 616. Vgl. das Original: Racine (1985), 763f. und 776. So Racine (1980), 604ff. Vgl. das Original: Racine (1985), 764f.
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soll der große Affekt gut sein? Das ist für Schiller die entscheidende Frage: Welche Form der Katharsis provoziert der Affekt? In welche Richtung geht die seelische Erregung, die der Zuschauer erlebt, wenn er dem Geschehen auf der Bühne folgt? Ist seelische Erregung an sich gut? Wo bleibt der Fluchtpunkt – die Polis, der Staat, die Gemeinschaft? Das Drama beantwortet diese Frage nicht. Es stellt den großen Affekt als ästhetische und seelische Herausforderung vor Augen, ohne ihn noch wirklich moralisch oder sozialethisch durch eine implizite Theorie der Katharsis aufzufangen. Freilich ist der Schluß von Racines Tragödie dann äußerst interessant. Jetzt wird der Selbstmord durch Gift auch dramaturgisch legitimiert. Er gibt Phèdre Zeit, ihre Schuld zu gestehen. Ihr Geständnis führt Thésée ebenfalls zur Einsicht. Durch das Geständnis der Schuld entsühnt sich Phèdre, sie erhält die Absolution. Jetzt klingt auch sogar in diesem Drama ein postfiguratives, christologisches Moment an: Thésée wünscht, daß sich die Tränen der Rührung über das Schlußtableau nun »mit dem Blut / Des lieben Sohnes […] mischen!« Seine »teuren Reste« (V/7, 1793) werden nun doch zu einer Art Reliquie, zu einem Opfer uminterpretiert, das integrative Kraft haben soll: für die Gesellschaft wie für das Subjekt selbst. Die Perspektive des Dramas ist jetzt ganz die des sich selbst wissenden und im Tod selbst-behauptenden Subjekts. Dies macht den Schluß mit dem Bekenntnis der individuellen Schuld Phèdres auch plausibel. In der Annahme ihrer Schuld hat sie sich doch gefunden.
V. Schiller Wenn man Racines Phèdre so versteht, wird nachvollziehbar, warum Lessing mit seinem Konstruktionsprinzip von ›Furcht‹ und ›Mitleid‹ die Katharsis konsequent christianisieren und moralisch kanalisieren mußte 69. Lessing antwortet auf genau dieses Problem, das sich auftun mußte, als im Prozeß der am Ende des 18. Jahrhunderts heftig beklagten Ausdifferenzierung von Staat und Gesellschaft 70 der Ort der Tragödie in der ›Polis‹ nicht mehr wirklich klar anzugeben war, weil sich 69 Weil das ›eigenschaftslose‹, ›nackte‹ Selbst, das sich im späteren 18. Jh. z.B. in der Idee
der Menschenrechte oder in der Moralphilosophie Kants wiederfindet, grundlegend neue Voraussetzungen auch für poetologische Konzepte des ›Mitleids‹ schafft, scheint es mir nicht sinnvoll, mit dem Mitleidsbegriff zu großzügig schon in der griechischen Tragödie zu operieren; vgl. Radke (2003), bes. 46ff. Dieses ›neue‹ Mitleid ist etwas ganz anderes als die bloße ›Sympathie‹ mit dem Helden oder das bloße ›Mit-Bangen‹, das ›Etwas-für-denHelden-Wollen‹ (ebd., 50): nämlich die volle Anerkennung des anderen. Es geht, zunächst, um den Subjektbegriff und dann erst (und daraus hervorgehend) um den Literaturbegriff. 70 Grundlegendes Dokument dieser Diagnose: das sog. Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (Hölderlin, Schelling, Hegel).
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die politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen veränderten. In Lessings Miss Sara Sampson (1755) wird, insbesondere in der großen, aufwühlenden Auseinandersetzung zwischen Sarah und Marwood in der Mitte des Dramas, zunächst ein, sozusagen, racinescher Weg der höchsten Affekterregung angepeilt. Das Ende des Dramas aber mit seinen unverkennbaren Anspielungen auf die Heilige Familie beheimatet diese sozial ›ortlose‹ Katharsis wieder im christlichen Diskurs 71. Lessings Tragödienpoetik stellt insofern die wirkungsvollste Synthese von antiker und christlicher 72 Tradition dar. Bekanntlich übersetzt Lessing – in engster Auseinandersetzung mit der französischen Poetik der Tragödie73 – die aristotelische Formel von phobos und eleos als die Affekte, welche die Tragödie hervorrufen soll, mit ›Furcht und Mitleid‹ 74. Man darf darin nicht bloß einen Übertragungsfehler oder ein Mißverständnis sehen. Lessing versucht vielmehr, einen Grundgedanken der aristotelischen Poetik neu aus dem Geist der christlichen Ethik und des christlichen Konzepts des Individuums zu formulieren. Der heroisch standhaltende, die Bewunderung der Zuschauer erregende Held, wie ihn sich Moses Mendelssohn in der Kontroverse mit Lessing um die Tragödie wünscht (1755/56) 75, wie er in der französischen ›tragédie classique‹ vorgebildet ist und wie ihn auch der stoisch-neustoische Tragödien-Typus kennt, kann für Lessing nicht der Nächste sein, der unser Mitleid erregt. Er ist viel zu weit weg. Der bewunderte Held hat besondere Eigenschaften; er ist vor allen wahrnehmbar ausgezeichnet – er wird also nicht um seiner selbst willen in seiner ›Eigenschaftslosigkeit‹ bemitleidet. Er ist, gewissermaßen, kein christliches Subjekt im Sinne der oben skizzierten neutestamentlichen Anthropologie. Die Tragödienpoetik Lessings ist in ihrem Kern ›gesellige‹, kommunikative (also in gewisser Weise auch moderne) Poetik, weil aller ›Sinn‹ und alles Gelingen bzw. Mißlingen sich aus der sozialen Interaktion entwickeln muß 76. Im Mit-Leiden (mit der entsprechenden Handlungskonsequenz) ist das Leiden der Tragödie erst richtig verstanden. Diesen ethischen Anspruch gibt Lessings Poetik an die Geschichte der neuzeitlichen Tragödie weiter. Im konsequenten Bezug des (leidenden) Subjekts auf den andern ist deshalb auch die Option zur grundsätzlich kommunikativen Auflösung des tragischen Konflikts angelegt. Man müßte das Mitleiden im symbolischen Spiel des Theaters nicht einüben, wenn man die Zuwendung zum andern schon beherrschte. Das Mitleid als zentrale poetologische Kategorie tendiert jedoch dazu, das Tragische in der Versöhnung aufzuheben. Der Schluß 71 72 73 74 75 76
Zur Geschichte der Katharsis-Konzepte in der Moderne vgl. Luserke (1991). Vgl. allgemein zum Christlichen bei Lessing Schilson (1980). Ausführlich hierzu Golawski-Braungart (2005), bes. Kap. 3, 63ff. Ausführlicher hierzu Verf. (2005); id. (2007a). Der sog. Briefwechsel über das Trauerspiel ist vorzüglich ediert in Lessing (2003). Dazu Verf. (2003).
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von Miss Sara Sampson zeigt dies ganz deutlich. Am Ende von Lessings Werk steht denn auch das Versöhnungsdrama Nathan der Weise, das ein Tragödienvermeidungsdrama ist: Tragödienvermeidung durch unablässige, beharrliche Kommunikation. Ich komme nun noch einmal kurz zu Schiller, der beide Hypotheken des christlichen Subjekt-Begriffs zu tragen hat: Mitleid und Freiheit. Die Freiheit ist ihm dabei wichtiger; das Mitleid wird ihr untergeordnet. Ästhetisch ist Schiller damit das Erhabene viel näher als das Empfindsame. Man sieht dies besonders gut an seinen Tragödien aus der Zeit um 1800: Maria Stuart, Die Jungfrau von Orleans und Die Braut von Messina. Schillers Tragödientheorie ist in ihrem Kern eine Theorie des Erhabenen, die auch das Mitleid daraufhin ausrichtet. Das Mitleid ist bei Schiller zwar auch ein zentraler, gleichwohl nicht bloß habitualisierter, ›automatisch‹ wirksamer Affekt wie bei Lessing. 1793 schreibt Schiller die Abhandlung Über das Erhabene, schon Anfang 1790 Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. Alle Bestimmungen dieser Abhandlungen laufen immer darauf hinaus: Die moralische Zweckmäßigkeit muß die »Oberhand« behalten, »nur dann erweist sich die ganze Macht des Sittengesetzes, wenn es mit allen übrigen Naturkräften im Streit gezeigt wird und alle neben ihm ihre Gewalt über ein menschliches Herz verlieren. Unter diesen Naturkräften ist alles begriffen, was nicht moralisch ist, alles, was nicht unter der höchsten Gesetzgebung der Vernunft stehet«. Und weiter: »Diejenige Dichtungsart also, welche uns die moralische Lust in vorzüglichem Grade gewährt, muß sich eben deswegen der gemischten Empfindungen bedienen und uns durch den Schmerz ergötzen. Dies tut vorzugsweise die Tragödie, und ihr Gebiet umfaßt alle möglichen Fälle, in denen irgendeine Naturzweckmäßigkeit einer moralischen oder auch eine moralische Zweckmäßigkeit der andern, die höher ist, aufgeopfert wird« 77. Die Idee, der Geist, das Sittengesetz – kurz: das Nicht-Sinnliche, das Nicht-Naturhafte ist der eigentliche Ort der Freiheit, weil wir das Sittengesetz besitzen und weil wir uns ihm unterwerfen. In diesem Reich der Freiheit triumphieren wir über unsere sinnliche Abhängigkeit. Den Plan, sich intensiver mit dem Stoff der Maria Stuart zu befassen, hatte Schiller schon 1783 gefaßt. Die Tragödie wird 1799 begonnen, im Juni 1800 abgeschlossen. Gleich darauf, im Juli 1800 beginnt Schiller mit der ›romantischen Tragödie‹ Die Jungfrau von Orleans, die 1801 abgeschlossen wird, und sofort folgt 1802 die Tragödie Die Braut von Messina, die Schiller schon im Mai 1801 plant. Es lohnt sich, diese drei Dramen insgesamt und in dieser Reihenfolge ihrer Entstehung kurz zu überblicken, weil sich hier die Bezüge auf die antike Tragödie wie
77 Schiller (1993), 364.
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auf das christliche Erbe in signifikanter Weise ausfalten 78. Maria Stuart und Die Jungfrau von Orleans suchen christliche Lösungen der tragischen Konstellationen und lösen die Erhabenheit des Tragischen damit tendenziell auf; Die Braut von Messina beruft sich dagegen wieder explizit auf die griechische Tragödie, nimmt aber das Christliche zurück. Am Ende der Maria Stuart schwingt sich Maria geradezu zu einer Postfiguration Jesu auf, ohne für sich in Anspruch zu nehmen, wirklich schuldlos gelebt zu haben. Aber zum Tode wird sie ungerechtfertigterweise verurteilt: »Gott würdigt mich, durch diesen unverdienten Tod / Die frühe schwere Blutschuld abzubüßen« (V/7, v. 3735f.). Melvil, der Haushofmeister, interpretiert Marias Tod als versöhnendes Opfer: »So gehe hin, und sterbend büße sie [die Blutschuld]! / Sink ein ergebenes Opfer am Altare, / Blut kann versöhnen, was das Blut verbrach« (V/7, v. 3737ff.). Er reicht Maria die heilige Kommunion. Die Sprache folgt ganz eng der Sakralsprache und richtet sich doch völlig an das Subjekt allein; der personale »Gott« – ›dein Gott‹ – weitet sich aber zum »Göttlichen«: Ich aber künde dir, Kraft der Gewalt, Die mir verliehen ist, zu lösen und zu binden, Erlassung an von allen deinen Sünden! Wie du geglaubet, so geschehe dir! […] Nimm hin den Leib, er ist für dich geopfert! […] Nimm hin das Blut, es ist für dich vergossen! Nimm hin! Der Papst er zeigt dir diese Gunst! Im Tode noch sollst du das höchste Recht Der Könige, das Priesterliche, üben! […] Und wie du jetzt dich in dem irdschen Leib Geheimnisvoll mit deinem Gott verbunden, So wirst du dort in seinem Freudenreich, Wo keine Schuld mehr sein wird, und kein Weinen,
78 Die beiden Dramen Wallenstein (1800) und Wilhelm Tell (1804) lasse ich beiseite, weil sie sehr
viel mehr eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Geschichte als mit dem der Tragödie darstellen. Sie thematisieren den geschichtlichen Prozeß in seinen ›erhabenen‹ Protagonisten, ohne den Mitleidsdiskurs aufnehmen zu müssen. Wallenstein kann man zudem als Schillers Antwort auf Goethes Faust deuten. – Die besten neueren Forschungsüberblicke bieten Zymner (2002) und Luserke-Jaqui (2005). Gesamtdarstellungen zu Leben und Werk geben die großartige Monographie von Peter-André Alt (2000) und, knapper, Oellers (2005). Zu Schillers Verhältnis zur Geschichte jetzt Hofmann/Rüsen/Springer (2006), mit einer Studie Ingo Breuers zum Wallenstein (209–225).
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Ein schön verklärter Engel, dich Auf ewig mit dem Göttlichen vereinen. (V/7, v. 3743 ff.)
Maria fühlt keine »Regung / Der Bitterkeit, des Hasses«: »Meinen Haß / Und meine Liebe hab ich Gott geopfert« (V/7, 3759ff.). Dieses katholisierende, romantische Ende Marias als Märtyrerin ist oft gesehen worden. Maria wiederholt in der heiligen Kommunion symbolisch das versöhnende Opfer Jesu Christi. Entsprechend ist auch ihr reales Opfer, als das die Annahme ihrer Hinrichtung verstanden werden kann, ein versöhnendes Opfer, keines, das neue Rache und neue Gewalt nach sich ziehen sollte. Jedenfalls wird ihr Tod von Maria selbst als ein wirklich versöhnender intendiert und interpretiert. Man sieht, wie Schiller vom Subjekt aus die ›Polis‹, die Belange des Ganzen, des Staates in ihrer Bedeutung für die Tragödie wiederentdeckt, nachdem Lessing das Subjekt in seiner ethisch-kommunikativen Kraft betont hatte. Die Tragödie Die Jungfrau von Orleans wird von Schiller selbst als ›romantische Tragödie‹ untertitelt. Wiederum, und jetzt noch deutlicher, kommt ein katholisierendes Element ins Spiel. Johanna von Orleans tritt im Zeichen der himmlischen Jungfrau und des apokalyptischen Weibes an, und oft ist im Text gar nicht so leicht zu entscheiden, wo noch von Johanna selbst oder von Maria die Rede ist. Diese Neigung zum Katholisieren darf man wohl selbst schon als ›romantisch‹ verstehen. Das ist für Schiller durchaus erstaunlich und zeigt seine Nähe zur Epoche der Romantik79, aber eben auch zur christlichen vorreformatorischen Epoche. Schiller und das Christentum: Das scheint mir gegenüber dem Klassizismus Schillers grundsätzlich ein von der Forschung noch immer unterschätztes Problem. Johanna muß sich zu dieser Position jedoch erst durchkämpfen. Zunächst nämlich scheint sie eher eine wild kämpfende Amazone für die gerechte Sache, durchaus von archaischem Zuschnitt, kompromißlos und hart. Erst als sie durch den schwarzen Ritter die Versuchung an sich selbst wahrnimmt und ihre Kraft völlig verliert, erst als sie sich selbst in ihrer Schwäche anzunehmen vermag und so ihre Kraft wiederfindet, kommt sie beim christlichen Opferkonzept an. Für den Sieg der gerechten Sache der Franzosen gegen die englischen Usurpatoren opfert sie ihr Leben. ›Romantisch‹ ist die Tragödie eben deshalb, weil sie das Tragische konsequent auf das Christliche treffen läßt und so einen Weg aus den poetischen Spannungen vorzeichnet: Die Tragödie geht ins traumhafte, phantasmagorische und versöhnliche Mirakelspiel über. Man kann Schillers Jungfrau von Orleans tatsächlich als Modellfall dafür deuten, wie die Tragödie in der antikischen Tradition mit der christlichen Tradition, und das heißt besonders: mit dem christlichen 79 Vgl. zum schwierigen Verhältnis Schillers zur Romantik und vor allem umgekehrt: der
Romantik zu Schiller Oesterle (2007); außerdem Schneider (2002) und Wilm (2003).
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Opfergedanken, konfrontiert wird. Die Sache wird um so schwieriger, je mehr das Opfer wirklich realsymbolisch gedeutet wird, je weniger es bloßes Zeichen der Erinnerung ist – also das Grundproblem eines christlichen Zeichenverständnisses (als präsentativ-transsubstantiatives oder als Erinnerungszeichen). Weil Die Jungfrau von Orleans dieses kritische, auf die Auflösung des Tragischen hinauslaufende Potential hat, setzt Schiller nun ein starkes Gegengewicht. Zum Schluß dieser Tragödien-Trias schreibt er ein griechisch-klassizistisches Drama: Die Braut von Messina – ein überaus konstruiertes Stück. Diese Neigung zur Konstruktion der Kunst von der philosophisch-theoretischen Reflexion aus hat man Schiller immer wieder vorgeworfen. Die Tragödie ist ganz und gar erfunden. Sie wirkt seltsam steril mit ihren vielen Anspielungen auf die antike Tragödie und den antiken Mythos. Sie verzichtet, wie die griechische Tragödie, auf eine Einteilung durch Akte. Gliederndes Element ist der Chor. Rüdiger Zymner hat das Stück als eine »Befreiung zur Poesie« interpretiert und damit zu Recht diesen auffälligen Kunstcharakter des Stückes hervorgehoben 80. Die dem Stück vorgeschaltete Abhandlung Über den Gebrauch des Chores in der Tragödie beginnt schon entsprechend: »Ein poetisches Werk muß sich selbst rechtfertigen, und wo die Tat nicht spricht, da wird das Wort nicht viel helfen« 81. Ästhetische Rechtfertigung durch die Tat! Ein wenig später dann: Das Theater soll »das Vergnügen des Zuschauers nicht aufheben, sondern veredeln. Es soll ein Spiel bleiben, aber ein poetisches. Alle Kunst ist der Freude gewidmet, und es gibt keine höhere und keine ernsthaftere Aufgabe, als die Menschen zu beglücken. Die rechte Kunst ist nur diese, welche den höchsten Genuß verschafft. Der höchste Genuß aber ist die Freiheit des Gemüts in dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte« 82. Diese Abhandlung macht also ganz deutlich, daß es Schiller um die Kunst selbst geht als Ausdruck der Freiheit des Subjekts. Schon das soeben gegebene Zitat komprimiert die Schillersche Kunsttheorie: Die wahre Kunst [will] den Menschen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von Freiheit […] versetzen, sondern ihn wirklich und in der Tat frei […] machen, und dieses dadurch, daß sie seine Kraft in ihm erweckt, übt und ausbildet, die sinnliche Welt, die sonst nur als ein roher Stoff auf uns lastet, als eine blinde Macht auf uns drückt, in eine objektive Ferne zu rücken, in ein freies Werk unseres Geistes zu verwandeln und das Materielle durch Ideen zu beherrschen 83.
Kunst wird zur ›real-symbolischen‹ ›Tat‹-Handlung, in der Freiheit sowohl eingeübt als auch schon vollzogen wird. In der Kunst muß es, nach Schiller, immer 80 Zymner (2002), 138. 81 Schiller (1981), 815. – Zu dieser (Kantischen) Betonung der ›Freiheit‹ bes. Schwinge (2003),
126, 128. 82 Ebd. 816. 83 Ebd. 816f.
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auch um die Kunst selbst gehen, weil sie, als der eigentliche Selbst-Ausdruck des freien Menschen, wie dieser nicht nur Mittel sein darf, sondern immer auch Zweck an sich selbst sein muss: »Es ergibt sich daraus von selbst, daß der Künstler kein einziges Element aus der Wirklichkeit brauchen kann, wie er es findet, daß sein Werk in allen seinen Teilen ideell sein muß, wenn es als ein Ganzes Realität haben und mit der Natur übereinstimmen soll. // Was von Poesie und Kunst im Ganzen wahr ist, gilt auch von allen Gattungen derselben« 84, also auch von der Tragödie. Schiller nimmt für sich in Anspruch, als erster den Chor wieder eingeführt zu haben, aber, wie der Chor des griechischen Theaters, »als eine einzige ideale Person, die die ganze Handlung trägt und begleitet« 85. Darum wird der Chor bei Schiller auch zu einer beweglichen Instanz, die sich nicht einfach deuten läßt. So fügt sie sich in den Kunstcharakter des ganzen Stückes. Schiller unternimmt diesen Versuch, dem (antiken) Chor eine Renaissance zu verschaffen, nur hier: Ich habe die christliche Religion und die griechische Götterlehre vermischt angewendet, ja, selbst an den maurischen Aberglauben erinnert. Aber der Schauplatz der Handlung ist Messina, wo diese drei Religionen teils lebendig, teils in Denkmälern fortwirkten und zu den Sinnen sprachen. Und dann halte ich es für ein Recht der Poesie, die verschiedenen Religionen als ein kollektives Ganze [!] für die Einbildungskraft zu behandeln […]. Unter der Hülle aller Religionen liegt die Religion selbst, die Idee eines Göttlichen, und es muß dem Dichter erlaubt sein, dieses auszusprechen, in welcher Form er jedesmal am bequemsten und am treffendsten findet 86.
Die »christliche Religion und die griechische Götterlehre«: ihr Verhältnis zueinander ist für Schiller (und die Epoche) bekanntlich ein Grundproblem, fast begrifflichabstrakt auf den Punkt gebracht im philosophischen Lehrgedicht Die Götter Griechenlands (erste Fassung 1788, zweite 1800). Man kann wohl in diesem Zitat noch Lessing durchhören (»diese drei Religionen«). Aber ging es Lessing am Ende des Nathan doch um das Glück der Menschheitsfamilie in ihrer rechten Auffassung von Religion als Konkurrenz um die rechte soziale Praxis, so geht es Schiller um die Kunst als dem wahren Ausdruck und Organ menschlicher Freiheit und Selbstbestimmung. Es gibt in der Tragödie Die Braut von Messina viele Belege dafür, wie sich antikisch-politischer Diskurs und christlicher Diskurs überlagern: »So spracht ihr rauhen Männer, mitleidlos / Für euch nur sorgend und für eure Stadt, / Und wälztet noch die öffentliche Not / Auf dieses Herz, das von der Mutter Angst / Und Sorgen schwer genug belastet war« (v. 75ff.). Und etwas später: »Verderblich diesem Land, und ihnen selbst / Verderben bringend war der Söhne Streit; / Versöhnt, vereinigt, sind sie mächtig genug, / Euch zu beschützen gegen eine Welt, / 84 Ebd. 818. 85 Ebd. 823. 86 Ebd. 823.
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Und Recht sich zu verschaffen – gegen euch!« (v. 96ff.) Im selben langen Monolog Isabellas wird also das skizzierte Problem intensiv entwickelt. Am Schluß des Dramas kommentiert der Chor den Selbstmord Don Cesars mit sprichwörtlich gewordenen Versen: Erschüttert steh ich, weiß nicht, ob ich ihn Bejammern oder preisen soll sein Los. Dies eine fühl ich und erkenn es klar, Das Leben ist der Güter höchstes nicht, Der Übel Größtes aber ist die Schuld. (v. 2835 ff.)
Das wirkt wie Idealismus in Reinform. Die Schuld erscheint aus der Perspektive des Chores als Verstoß gegen die sittliche Weltordnung und ist für ihn schlimmer als der Verlust des Lebens. Der Tod Don Cesars soll nicht primär die Polis versöhnen, sondern die Brüder im Tode miteinander (man hört vielleicht auch den französischen Nachhall: fraternité!), und soll die Schuld aus der Welt schaffen, die Don Cesar durch die Ermordung seines Bruders auf sich geladen hat. Aber ist der Selbstmord wirklich sittliche Tat des Subjekts, das zunächst sich entsühnt und damit dann die sittliche Weltordnung wieder ausgleicht? Staat, Gesellschaft, Familie – sie alle können nicht gelingen, wenn die sittliche Weltordnung durch die Tat des Subjekts aus den Fugen ist. Im – aus der Sicht einer christlichen Ethik höchst fragwürdigen – Selbstmord Don Cesars formuliert sich sein Anspruch auf radikale Freiheit. Im Unterschied dazu muß man die Selbstblendung des Ödipus am Ende des Oedipus Rex zunächst deuten als eine Tat aus der Verzweiflung heraus über die Einsicht in das Grauen, das Ödipus selbst bewirkt hat und in das er unentrinnbar verstrickt ist. Diese Tat wirkt für die Polis entsühnend; die Pest verschwindet. Corneille deutet, wie skizziert, dieses Motiv noch stärker als Sophokles aus. Schillers Isabella schlägt in diesen Schlußszenen ihrem Sohn Don Cesar die christlich-naive Lösung der Entsühnung vor: Reich ist die Christenheit an Gnadenbildern, Zu denen wallend ein gequältes Herz Kann Ruhe finden. Manche schwere Bürde Ward abgeworfen in Lorettos Haus, Und segensvolle Himmelskraft umweht Das heilge Grab, das alle Welt entsündigt. Vielfältig auch ist das Gebet der Frommen, Sie haben reichen Vorrat an Verdienst, Und auf der Stelle, wo ein Mord geschah, Kann sich ein Tempel reinigend erheben. (v. 2708 ff.)
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Hier wird das christliche Versöhnungs- und Erlösungsmodell angesprochen (Katharsis!), das letztlich nicht auf dem guten Werk und der freien Tat des Subjekts beruhen kann, sondern ein Geschenk ist, ein Akt der Gnade des unverfügbaren Gottes und seiner Fürsprecherin Maria an dem, der in der christlichen Weltordnung noch steht. Von dieser naiven Lösung aber will Don Cesar nichts wissen. In seiner Antwort betont er sich selbst, das Selbst, das Subjekt in seinem AutonomieAnspruch: Lebe, wers kann, ein Leben der Zerknirschung, Mit strengen Bußkasteiungen allmählich Abschöpfend eine ewge Schuld – ich kann Nicht leben, Mutter, mit gebrochnem Herzen. Aufblicken muß ich freudig zu den Frohen, Und in den Äther greifen über mir, Mit freiem Geist – Der Neid vergiftete mein Leben, Da wir noch deine Liebe gleich geteilt. Denkst du, daß ich den Vorzug werde tragen, Den ihm dein Schmerz gegeben über mich? Der Tod hat eine reinigende Kraft, In seinem unvergänglichen Palaste Zu echter Tugend reinem Diamant Das Sterbliche zu läutern und die Flecken Der mangelhaften Menschheit zu verzehren. Weit wie die Sterne abstehn von der Erde, Wird er erhaben stehen über mir, Und hat der alte Neid uns in dem Leben Getrennt, da wir noch gleiche Brüder waren, So wird er rastlos mir das Herz zernagen, Nun er das Ewige mir abgewann, Und jenseits alles Wettstreits wie ein Gott In der Erinnerung der Menschen wandelt. (v. 2719ff.)
Daß sein Bruder, der Ermordete, durch seinen Tod der Gerechtfertigte sein könnte, der ihm, Don Cesar, Überlegene, das hält dieser nicht aus. Jenen hat das Mitleid schon ausgezeichnet (»dein Schmerz«) und der Tod bereits »gereinigt«, Don Cesar aber nicht. Don Cesar argumentiert ganz vom Subjekt und seinem Selbst-Gefühl her 87: Noch immer erscheint hier die alte Rivalität der Brüder, die wenigstens im Tod gleichziehen müssen. Das Subjekt ist, bei aller Radikalität seines AutonomieAnspruchs, notwendig ein Inter-Subjekt, selbst dann, wenn es kein christliches mehr sein will. Das ist Don Cesars subjektive Tragik. 87 Vgl. Frank (2002).
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Auf diese Analyse des Subjekts kommt es Schiller entscheidend an, selbst in dieser schrecklichen Erhabenheit des Selbstmords. Das Subjekt mit seinem Anspruch an und auf sich selbst ist nicht mehr hintergehbar. Es kann dabei aber nicht völlig im Mitleid, in der christlichen Demut und in einem christlichen Erlösungs- und Versöhnungskonzept aufgehen. Daß dies so scharf gesehen werden kann, hat das christliche Konzept zwar notwendig zur Voraussetzung. Es winkt hier jedoch, sozusagen, nur noch romantisch-sentimentalisch von ferne 88. In der Faszinationskraft und erhabenen Größe dieses Selbstmords beginnt sich, auch bei Schiller, ganz gegen seine eigene Intention, und dann charakteristisch für die Ästhetik des Schreckens und des Erhabenen in der Moderne, das Ästhetische vom Ethischen zu lösen. Dieser Prozeß findet sich nicht schon in der Antike und ist mit dem Erhabenen dort allenfalls strukturell vergleichbar 89, weil er bei Schiller die Durchsetzung des Christentums zur geschichtlichen Voraussetzung hat. Es geht mir also nicht um eine weitere Einzigartigkeitserklärung der Moderne 90, sondern um eine geschichtlich reflektierte Hermeneutik.
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des Tragischen m.E. sehr überzeugend von der ›Tragödie der Griechen‹ ab. 89 Vgl. Fuhrmann (1992). 90 Kritisch dazu Verf. (2007a), mit weiterer Literatur.
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Zerrissenheit König Ödipus grenzt sich ab gegen das romantische Ich Horst-Jürgen Gerigk (Universität Heidelberg)
Vorbemerkung zum Begriff der ›anthropologischen Prämisse‹ Zwei literarische Texte stehen an zum Vergleich: König Ödipus von Sophokles und Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde von E.T.A. Hoffmann. Vergleichsgrundlage ist die den Texten jeweils zugrunde liegende anthropologische Prämisse. Die Welt eines jeden literarischen Kunstwerks ist jeweils durch eine bestimmte anthropologische Prämisse gekennzeichnet. Anthropologische Prämissen sind Definitionen des Wesens des Menschen1. Sie legen fest, von welchen Faktoren die menschliche Situation bestimmt wird. Dies kann explizit zum Ausdruck gebracht werden oder implizit bleiben. In der Komödie zum Beispiel sind es andere Faktoren als in der Tragödie, in Voltaires Candide andere als in Schillers Die Kraniche des Ibykus. Die Selbstverständlichkeiten im Verhalten der Charaktere sind als implizite Axiome präsent. Der Anfang und das Ende der Geschichte, die erzählt wird, erhalten durch die anthropologische Prämisse ihre Exemplarik. Man könnte sagen, die anthropologische Prämisse ist ein vom Autor jeweils gewählter Denkraum, worin Charaktere und Handlung auf ihre Verallgemeinerung entworfen und fixiert werden. So hat etwa in Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow ein Mörder nach dem Vollzug seiner Tat aufgrund des Sittengesetzes, das hier die Wirklichkeit bestimmt, drei Möglichkeiten des Verhaltens: Er kann durch Annahme der gesetzlich vorgesehenen Strafe in die menschliche Gemeinschaft zurückkehren, die er durch sein Verbrechen verlassen hat. Oder er kann ins Ausland entfliehen, für Dostojewski der Ort der Unsittlichkeit. Oder er kann Selbstmord begehen. Und weil Dostojewskis anthropologische Prämisse den Menschen als moralische Person, als »intelligiblen Charakter« (im Sinne Kants) definiert, sind für ihn Naturkatastrophen oder etwa Seuchen nicht darstellbar. Es kann immer nur um das Böse gehen, das Menschen einander antun, weil sie 1 Gerigk (1975), 11–15.
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es wünschen und deshalb für ihr Tun verantwortlich sind. Verantwortlichkeit ist die Folge des Freiheitsbegriffs, den Dostojewski wirklichkeitsschaffend wirksam werden lässt. Es ist leicht einzusehen, dass die anthropologische Prämisse einer hermeneutischen Verpflichtung des Lesers gleichkommt. Er hat diese Prämisse zu durchschauen, um den Text, dessen Welt von ihr geprägt ist, adäquat zu verstehen. Grundsätzlich sei vermerkt: Der Dichter ist der Hermeneut. Nicht wir! Der Dichter hat verstandene Welt in seiner Dichtung für uns hinterlegt. Deshalb ist es die erste Aufgabe aller »Interpretation«, zunächst einmal nachzuzeichnen, was als bereits verstandene Welt vorliegt 2. Wer die anthropologische Prämisse verfehlt, verfehlt die vom Text erschlossene Welt. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass die anthropologische Prämisse auch darüber entscheidet, ob den Gestalten der Fiktion ihre eigene Stellung in der Welt zu vollem Bewusstsein kommen kann oder nicht. In den Dramen Schillers und in den großen Romanen Dostojewskis gelangen die Gestalten in ausgezeichneten Augenblicken zu uneingeschränkter Selbstreflexion, nicht aber in Gogols Revisor oder in Tschechows Drei Schwestern. Der Grund dafür liegt im Unterschied der anthropologischen Prämissen, die die Möglichkeiten des Selbstverhältnisses der Subjekte jeweils fixieren. Anthropologische Prämissen mögen geschichtlich vermittelt sein, in einem literarischen Kunstwerk festgehalten können sie aber jederzeit vom Leser als Möglichkeiten des Weltverständnisses erfahren werden. Dazu bedarf es allerdings eines geschulten hermeneutischen Bewusstseins, um nicht die eigene geschichtliche Situation, die Selbstverständlichkeiten hier und jetzt, in die jeweils literarisch hinterlegte und erschlossene Welt hineinzutragen.
Datierung und Aktualität der Texte Die beiden von mir sogleich exponierten Texte liegen weit auseinander: König Ödipus stammt aus dem fünften Jahrhundert vor Christi Geburt (Uraufführung nach 430), Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts: zuerst 1815. Aber auch der jüngere der beiden Texte, Hoffmanns Erzählung, ist von den impliziten Axiomen unserer Gegenwart weit entfernt. Und doch wird niemand leugnen wollen, dass beide Texte im literarischen Bewusstsein unserer Zeit feste Größen sind. Sophokles wird durch Sigmund Freuds Terminus ›Ödipuskomplex‹ zur gemeinsprachlichen Realität, und die Giulietta aus der Geschichte vom verlornen Spiegelbilde liefert in Hoffmanns Erzählungen (Les Contes d’Hoffmann, 1881) von Jacques Offenbach als Hauptgestalt des dritten Akts mit ihrer Barcarole eine Perle gehobener Unterhaltungsmusik in Wunschkonzer2 Gerigk (2005), 153–154.
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ten: »Schöne Nacht, du Liebesnacht, / o stille das Verlangen« (Belle nuit, ô nuit d’amour / souris à nos ivresses) 3. Kurzum: die hier zur Analyse anstehenden Texte von Sophokles und E.T.A. Hoffmann sind jeweils auf spezielle Weise populär geworden. Mit der Psychologie und Soziologie solcher Wirkung möchte ich mich aber im heutigen Zusammenhang gar nicht abgeben. Symptomatisch für diese Popularität erscheint, dass beidemal eine sexuelle Komponente im Vordergrund steht.
Fragestellung Und damit komme ich zur leitenden Frage: Wie sieht jeweils die anthropologische Prämisse im König Ödipus und in der Geschichte vom verlornen Spiegelbilde aus? Die Antwort leitet sich aus der Knüpfung und Lösung der zentral gestalteten Problemsituation her. Anders gefragt: Wie wird jeweils Zerrissenheit dargestellt? Wird sie als Sachverhalt der Außenwelt in ein festes Verhältnis zur Innenwelt des Protagonisten gestellt? Oder wird die geschilderte Außenwelt als Seelenlandschaft des zentralen Bewusstseins eingebracht? Wahrigs Deutsches Wörterbuch definiert Zerrissenheit als »Zustand des Zerrissenseins (auch politisch); innerer Zwiespalt, Uneinigkeit mit sich selbst« 4. Mit solcher Definition vor Augen, fällt sofort auf: König Ödipus gerät in den Zustand der Zerrissenheit, weil er etwas getan hat, was er nicht wollte; Hoffmanns Erasmus Spikher hingegen, weil er getan hat, was er wollte. Des Weiteren fällt auf: Das Lebenselement des Königs Ödipus ist die Öffentlichkeit, das des Erasmus Spikher die Innerlichkeit. Ein antikes Ich steht einem romantischen Ich gegenüber. Solche Exemplarik sei nun erläutert.
Realistische Psychologie und anti-realistische Konstruktion In beiden Texten liegt der Handlungskern fern aller Empirie. Wer ermordet schon seinen Vater und heiratet seine eigene Mutter! Und das, ohne zu wissen, dass. Und wer verliert schon sein eigenes Spiegelbild! Der eine kann sich nicht mehr sehen lassen und blendet sich selbst, der andere sieht sich selbst nicht mehr und lässt deshalb alle Spiegel verhängen. In solchen Voraussetzungen steckt der Aufruf, die Allegorie zu suchen und zu sehen, die übertragene Bedeutung des buchstäblichen Sinnes: Allegorie als ›andere Lesart‹, die im Text selber fest verankert ist, ihm gleichsam eingewebt, und uns über die Zeiten hinweg direkt anspricht. Die Spannung 3 Offenbach (1982), 103. 4 Wahrig (1997), 1393.
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in poetologischer Sicht, nicht die äußere Spannung, die darauf abzielt, das Ende der Geschichte zu verzögern und vorzubereiten, die poetologische Spannung also, besteht in beiden Texten in der Diskrepanz zwischen der realistischen Psychologie der Oberfläche und der sie tragenden radikal anti-realistischen Konstruktion. Es kommt darauf an, diese Spannung als prinzipiell, das heißt: als eine poetologische zu erkennen. Aus der realistischen Psychologie der Oberfläche gewinnen beide Texte ihre Eingängigkeit, die leicht über die Eigenart der zugrunde liegenden anthropologischen Prämisse hinwegtäuschen kann.
König Ödipus Sehen wir uns den ersten Dialog zwischen König Ödipus und Kreon daraufhin an: König Ödipus reagiert ›realistisch‹ auf den vollkommen unrealistischen Vorwurf und lässt damit für uns, die Zuschauer, die impliziten Axiome der innerfiktionalen Realität erkennen. Ödipus, von Kreon beschuldigt, seinen Vater erschlagen, seine Mutter geheiratet und mit ihr Kinder gezeugt zu haben, wundert sich ganz und gar nicht über die Absurdität des Sachverhalts, sondern erwidert nur: Das könne nicht stimmen. Das habe er nicht getan. Die Anschuldigung sei eine Intrige, um ihn vom Thron zu stürzen. Kreon wolle König sein. Und es setzt ein völlig realistischer Dialog über einen als solchen völlig unrealistischen Sachverhalt ein, zu dem ja auch die unbezweifelte Voraussetzung gehört, die Pest herrsche in der Stadt Theben, weil der Mörder des Laios noch nicht gefunden sei. ›Realistisch‹ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass durchgehend psychologisch plausible Reaktionen präsentiert werden, und das im Bannkreis zutiefst unrealistischer Rahmenbedingungen 5. Das heißt: Alle Beteiligten sind in das Koordinatennetz der impliziten Axiome verspannt, die die anthropologische Prämisse ausmachen. Zu diesen Axiomen gehört, dass göttliche Weissagung unter allen Umständen ihre Erfüllung findet. Hieraus resultiert ein ganz bestimmter Subjekt-Begriff, der seinen bestätigenden Kommentar in den Äußerungen des Chores findet. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik nimmt Hegel zu diesem Subjekt-Begriff folgendermaßen Stellung: Ödip hat den Vater erschlagen, die Mutter geheiratet, im blutschänderischen Ehebette Kinder gezeugt und dennoch ist er, ohne es zu wissen und zu wollen, in diesen ärgsten Frevel verwickelt worden. Das Recht unseres heutigen, tieferen Bewusstseins würde darin bestehen, diese Verbrechen, da sie weder im eigenen Wissen noch im eigenen Willen gelegen haben, auch nicht als die Taten des eigenen Selbst anzuerkennen; der plastische Grieche aber steht ein für das, was er als Individuum vollbracht hat, und 5 Gerigk (2002), 67.
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zerscheidet sich nicht in die formelle Subjektivität des Selbstbewusstseins und in das, was die objektive Sache ist 6.
Man sieht: Hegel scheut sich nicht, das griechische Bewusstsein, wie es uns im König Ödipus entgegen tritt, als weniger tief zu kennzeichnen. Weniger tief als sein damals ›heutiges‹. Das ist zweifellos eine poetologische Ungerechtigkeit. »Die Kunst« ist »überall am Ziel« – sagt Schopenhauer, der absolute Hegelfeind: Während die Wissenschaft dem rast- und bestandlosen Strohm vielfach gestalteter Gründe und Folgen nachgehend, bei jedem erreichten Ziel immer wieder weiter gewiesen wird und nie ein letztes Ziel, noch völlige Befriedigung finden kann, so wenig als man durch Laufen den Punkt erreicht, wo die Wolken den Horizont berühren; so ist dagegen die Kunst überall am Ziel 7.
Überall am Ziel – das heißt für uns: Wir haben der Einspurung in die Welt des König Ödipus Folge zu leisten. Diese wird durch die dem Verhalten der Charaktere impliziten Selbstverständlichkeiten veranlasst. Aus diesen Selbstverständlichkeiten erwächst ein spezieller Subjekt-Begriff. Dieser profiliert sich in den dramatischen Dialogen voll realistischer Psychologie, die die impliziten Axiome transportieren. Für diese Überlegung ist, ich erwähnte es schon, der erste Dialog zwischen Ödipus und Kreon exemplarisch. Die psychologische Pointe dieses Dialogs besteht darin, dass Ödipus Kreon vorwirft, dieser habe, zusammen mit Teresias, seinen Sturz geplant. Kreon selbst wolle auf den Königsthron und Teresias habe sich diesem Komplott angeschlossen. Orakel und Sehersprüche würden missbraucht, um ihn, Ödipus, und sein Volk zu täuschen. Ein Intrigant und ein Krüppel, der nicht sehen kann, haben sich zusammen getan, so Ödipus. Im Grundsätzlichen bedeutet das: Göttliche Voraussage kann als Hinterbringung in Frage gestellt werden, und der Seher steht in der Möglichkeit, sich bestechen zu lassen. Das Ich des Ödipus wehrt sich zu Recht gegen die Macht des Geschicks, hat darin sein Profil, ist darin lebendiges Subjekt. In diesem Fall zutiefst paradox: Denn Ödipus besteht ja gerade darauf, niemals das sein zu können, was ihm vorgeworfen wird. Seine lebhaft verbalisierten Grundsätze bekräftigen nur im Voraus seine Verurteilung durch sich selbst nach der Strenge des Rechts. Und darin gründet am Ende seine Zerrissenheit. Das delphische Orakel als Sender des Schicksalsspruchs wird hier in die äußerste Möglichkeit gebracht, Recht zu behalten. Im Bewusstsein gelebter Tugend als Herrscher seines Volkes ist Ödipus selbstbewusstes Ich. Er weiß sich selber als untadelig, hat er doch seine Eltern verlassen, um nicht als Vollstrecker des Orakels ein Frevler zu werden. Dass es seine Pflegeeltern waren, konnte er nicht wissen. 6 Hegel (1976), Bd. 2, 585. 7 Schopenhauer (1948–1950), Bd. 2, 217/218.
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Der Sturz der sich ihrer selbst gewissen Tugend in den von außen bewiesenen Frevel darf nun weder christlich als Strafe für superbia missdeutet werden noch aufklärerisch als Folge des insgeheimen aber verdrängten Strebens nach Inzest und Mord. Solcher Sturz ist im autonomen Walten der Götter angelegt, das sich mit dem, was geschieht, selbst beglaubigt. Kleinheit und Größe des Subjekts werden eins. Unsere hermeneutische Wachsamkeit gegenüber dem Text hat also gegenüber dem, was sich christlich oder modern als Interpretament anbietet, abweisend zu sein. Die ›Zerrissenheit‹ des Königs Ödipus besteht in der Paradoxie seines Lebensweges: Er will den Freveltaten, die ihm vorherbestimmt sind, ausweichen und begeht, gerade deswegen, die Freveltaten, die ihm vorherbestimmt sind. Die Zerrissenheit steckt in der Eigentümlichkeit der gelebten Sache: Er selber ist sowohl mit sich als tugendhaftem König als auch mit sich in der Selbstverstoßung und Selbstblendung identisch. Immer ist die Öffentlichkeit der wahre Spiegel seiner Aufrichtigkeit in der Einheit seiner Erlebnisgegenwart: Den Klartext des König Ödipus könnte man mit Karl Reinhardt, wie es Heidegger getan hat, als »Tragödie des Scheins« benennen 8.
Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde Ich gehe jetzt auf die Darstellung von Zerrissenheit in E.T.A. Hoffmanns Geschichte vom verlornen Spiegelbilde ein und kehre danach in einem kurzen Schlusswort zum König Ödipus zurück. Hoffmanns Erzählung gehört in die literarische Reihe der Doppelgänger-Geschichten, die in der Romantik eine besondere Ausprägung, ja Zuspitzung erhalten. Das Wort »Doppeltgänger« (mit t) ist eine Prägung Jean Pauls, dessen Definition in einer Fußnote zu seinem Roman Siebenkäs (1795) lautet: »Doppeltgänger« – »So heißen Leute, die sich selber sehen« 9. Wie René Wellek vermerkt hat, ist der Doppelgänger aus der Zwillingskomödie hervorgegangen10. Und er nennt Plautus’ Menaechmi (um 206 v. Chr.) und Shakespeares Comedy of Errors (um 1592/93) als prominente Exempel. Bei Shakespeare sind es gleich zwei Zwillingspaare, die Verwirrung stiften. Mit der Romantik aber wandelt sich die komische Doppelung zum Bild tiefster Ich-Spaltung, die dann im 19. und 20. Jahrhundert zum signum moderner Subjektivität wird. Man denke an Poe, Dostojewskij, Stevenson, Pirandello und Nabokov. Solche Erinnerung mag die Relevanz der Geschichte vom verlornen Spiegelbilde für unsere Fragestellung 8 Heidegger (1957), 82. 9 Jean Paul (1959), 66. 10 Wellek (1965), 22–24. Auf den Spuren René Welleks bewegt sich Sandro M. Moraldo (1996).
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verdeutlichen. Wir haben es mit einem Musterbeispiel ›moderner‹ Subjektivität zu tun. Das verlorene Spiegelbild ist Ausdruck der verlorenen gesellschaftlichen Identität. Es ist die bürgerliche Öffentlichkeit mit ihren Konventionen, ihren Fixierungen, aus der ein Unbehagen hervorgeht, das das Ich beunruhigt. Es kommt so zum Wunsch, ein anderer zu sein. Dieser Andere ist das »schimmernde Traum-Ich« des Helden, das die Erzählung mit dessen Spiegelbild identifiziert 11. Erasmus Spikher, der Familienvater, ist »leiblich« bei seiner Frau. Mit seinem »schimmernden Traum-Ich« aber, seinem Spiegelbild, ist er bei Giulietta, seiner Geliebten, in Italien. Das Problem besteht nun darin: Er ist ohne Spiegelbild ein defizitärer Mensch. So formuliert es die Erzählung als »Phantasiestück« in »Callots Manier«, wobei Stück hier ein Synonym für Bild ist. Wir haben es also mit einem »Phantasiebild« zu tun, einem Phantasiebild von Zerrissenheit, das dazu animiert, in den Klartext empirischer Realität übersetzt zu werden. Hier die Story: Erasmus Spikher, siebenundzwanzig Jahre alt, verheiratet und Vater eines noch kleinen Sohnes, reist allein nach Italien, erfüllt sich damit einen Wunsch, den er »sein Leben lang in seinem Herzen genährt« hat: »Mit frohem Herzen und wohlgefülltem Beutel setzte er sich in den Wagen, um die nördliche Heimat zu verlassen und nach dem schönen, warmen Welschland zu reisen«. Florenz ist das Ziel. Er trifft dort einige Landsleute, die »in zierlicher altteutscher Tracht« lustige Feste feiern. Er selber aber hält sich fern von den Mädchen. Denkt an seine »liebe fromme Hausfrau«. Mit solcher Konstellation ist der Konflikt schon vorprogrammiert. Spikher verliebt sich unversehens in die schöne Giulietta, die ihn alsbald »ohne allen Rückhalt« ihre »innigste Liebe« merken lässt. Von Giulietta wird er »in andere feudale Gesellschaft eingeführt« und vergisst seine Freunde. Friedrich aber, der ihm am nächsten steht, warnt ihn: »Du musst es doch wohl schon gemerkt haben, daß die schöne Giulietta eine der schlausten Kurtisanen ist, die es je gab. Man trägt sich dabei mit allerlei geheimnisvollen, seltsamen Geschichten, die sie in gar besonderem Lichte erscheinen lassen. Daß sie über die Menschen, wenn sie will, eine unwiderstehliche Macht übt und sie in unauflösliche Bande verstrickt, seh’ ich an dir. Du bist ganz und gar verändert, du bist ganz der verführerischen Giulietta hingegeben, du denkst nicht mehr an deine liebe fromme Hausfrau«. Als Erasmus Spikher dies hört, hielt er »beide Hände vors Gesicht, er schluchzte laut, er rief den Namen seiner Frau«. – Wörtlich heißt es weiter: »Friedrich merkte wohl, wie ein innerer harter Kampf begonnen«. Erasmus will abreisen. Doch da taucht der Wunderdoktor Signor Dapertutto auf (ital.: überall = da per tutto, auch: dappertutto) auf: ein langer dürrer Mann mit spitzer Habichtsnase, funkelnden Augen, hämisch verzogenem Munde, im feuerroten Rock mit strah11 Hoffmann (1924), Bd. 6, 27–48.
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lenden Stahlknöpfen. Kurzum: eine Teufelsgestalt. Dapertutto lacht dem Erasmus ins Gesicht und ruft: »Ach, eilt doch, eilt doch nur schnell, Giulietta wartet schon, das Herz voll Sehnsucht, die Augen voll Tränen. – Ach, eilt doch, eilt doch! » Erasmus erliegt der Animation des Teufels. Und spätestens hier wird deutlich, dass wir uns in einem seelischen Innenraum befinden, im Bewusstsein der Hauptgestalt. Ein Rivale stellt sich ein, ein junger Italiener »von recht hässlicher Gestalt und noch hässlicheren Sitten«, der »sich viel um Giulietta« bemüht. Was tut unser Held? Er packt ihn wütend bei der Kehle und wirft ihn nieder, ein »kräftiger Fußtritt ins Genick und der Italiener gab röchelnd seinen Geist auf«. Erasmus erwacht als Mörder in den Armen Giuliettas: »Du böser, böser Teutscher«, sprach sie unendlich sanft und mild, »welche Angst hast du mir verursacht! Aus der nächsten Gefahr habe ich dich errettet, aber nicht sicher bist du mehr in Florenz, in Italien. Du mußt fort, du mußt mich, die dich so sehr liebt, verlassen«! Und nun folgt der Satz: »Der Gedanke der Trennung zerriss den Erasmus in namenlosem Schmerz und Jammer«. An dieser Stelle bringt E.T.A. Hoffmann das Bild des Titels seiner Erzählung ein: Sie standen gerade vor dem schönen breiten Spiegel, der in der Wand des Kabinetts angebracht war und an dessen beiden Seiten helle Kerzen brannten. Fester, inniger drückte Giulietta den Erasmus an sich, indem sie leise lispelte: »Lass mir dein Spiegelbild, du innig Geliebter, es soll mein und bei mir bleiben immerdar«.
Seine Antwort: Muss ich denn fort von dir? – muss ich fort, so soll mein Spiegelbild dein bleiben auf ewig und immerdar. Keine Macht – der Teufel soll es dir nicht entreißen, bis du mich selbst hast mit Seele und Leib.
Nachdem Giulietta ihn losgelassen, streckt sie sehnsuchtsvoll die Arme nach dem Spiegel aus: Erasmus sah, wie sein Bild unabhängig von seinen Bewegungen hervortrat, wie es in Giuliettas Arme glitt, wie es mit ihr im seltsamen Duft verschwand.
Und Dapertutto, der Teufel, kommentiert: Bravissimo, mein Bester! Nun könnt ihr durch Fluren und Wälder, Städte und Dörfer laufen, bis ihr euer Weib gefunden nebst dem kleinen Rasmus und wieder ein Familienvater seid, wiewohl ohne Spiegelbild, worauf es eurer Frau auch weiter wohl nicht ankommen wird, daß sie euch leiblich hat, Giulietta aber immer nur euer schimmerndes Traum-Ich.
Die unrealistische Unterstellung, dass jemand sein Spiegelbild verlieren kann, wird nun von E.T.A. Hoffmann mit »realistischer« Psychologie entfaltet: An einer Wirtstafel in »einer großen Stadt« bemerkt ein »Satan von Kellner«, dass Erasmus
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kein Spiegelbild hat. Die anwesende Gesellschaft schreit: »ein mauvais sujet, ein homo nefas, werft ihn zur Tür hinaus«. Ja, man droht ihm »von Polizei wegen« an, dass er »binnen einer Stunde mit seinem vollständigen, völlig ähnlichen Spiegelbilde vor der Obrigkeit erscheinen oder die Stadt verlassen müsse«. Und er verlässt die Stadt, vom Pöbel und den Straßenjungen verfolgt: »da reitet er hin, der dem Teufel sein Spiegelbild verkauft hat, da reitet er hin«! Das Ende der Geschichte: Erasmus kehrt zu Frau und Kind zurück. Sie aber sieht plötzlich, dass er kein Spiegelbild hat und stößt ihn mit Abscheu von sich: »Du bist es nicht, du bist nicht mein Mann, – nein – ein höllischer Geist bist du, der mich um meine Seligkeit bringen, der mich verderben will. – Fort, verlasse mich, du hast keine Macht über mich, Verdammter«! – Er stürzt aus dem Haus und begegnet im Park vor der Stadt dem Signor Dapertutto, der ihm versichert, Giulietta werde ihm sein Spiegelbild »glatt und unversehrt, dankbarlichst« zurückgeben, wenn er zuvor Frau und Kind vergifte. Erasmus lehnt ab, und Giulietta und Dapertutto verschwinden im »dicken stinkenden Dampf, der wie aus den Wänden quoll, die Lichter verschlingend«. Er kehrt zu seiner Frau zurück, die ihm »milde und sanftmütig« die Hand reicht, ihn vor den Spiegel stellt, der leer bleibt und ihm sagt: »Wandre also nur noch ein bisschen in der Welt herum und suche gelegentlich dem Teufel dein Spiegelbild abzujagen. Hast du’s wieder, so sollst du mir recht herzlich willkommen sein. Küsse mich (Spikher tat es) und nun – glückliche Reise«! Spikher geht »in die weite Welt«. Der letzte Satz lautet: »Er traf auf einen gewissen Peter Schlemihl, der hatte seinen Schlagschatten verkauft; beide wollten Kompanie gehen, so daß Erasmus Spikher den nötigen Schlagschatten werfen, Peter Schlemihl dagegen das gehörige Spiegelbild reflektieren sollte; es wurde aber nichts daraus«. Man sieht: Der Doppelgänger des Helden als dessen lebendig gewordenes Spiegelbild hat zwar kein eigenes Sein, kann aber doch, solange er existiert, das Ich des Helden traumatisieren. Der Doppelgänger nimmt dem Helden die Würde seiner bürgerlichen Lebensform. Solches Resultat wird als Werk des Teufels imaginiert. Hinter solcher Zerrissenheit tauchen Faust und Mephisto als repräsentative Gestalten auf. Die impliziten Axiome der zugrunde liegenden anthropologischen Prämisse setzen das Verbotene als Verlockung an. Zerrissenheit ist hier Selbstentzweiung, die vom Gewissen bestraft wird als etwas, das nicht dem Menschen entspricht, weil es »des Teufels« ist. Der Teufel aber kommt nur, wenn er gerufen wird. Die anthropologische Prämisse des König Ödipus kennt bezeichnenderweise keine Verführung durch den Teufel. Innerhalb der literarischen Reihe der Doppelgängergeschichten hat E.T.A. Hoffmann mit dieser Erzählung zweifellos eine einzigartige Variante geschaffen: Der Doppelgänger wird als Spiegelbild veranschaulicht und in dieser ja durchaus realistischen Erscheinungsform unsichtbar gemacht. Aber in solcher Unsichtbarkeit als verlorenes Spiegelbild ist er paradoxerweise sichtbar, denn alle Spiegel
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müssen ja verhängt werden, damit das Fehlen des Spiegelbildes nicht bemerkt wird. Das »schimmernde Traum-Ich« hat also kein eigenes Sein. Zerrissenheit ist ganz Sache des Subjekts, ganz Sache seiner Innerlichkeit.
Schlusswort König Ödipus grenzt sich ab gegen das romantische Ich. Die gestaltete anthropologische Prämisse kennt im König Ödipus keine christliche Kodierung. Die Selbstverstoßung ist per definitionem nicht empfangene Strafe, sondern Anerkennung des delphischen Orakels, das kein Heilsgeschehen kennt, sondern nur den Lauf der Dinge, der als Sache der Götter keine angebbare Regel hat: »Zerrissenheit« als Resultat des delphischen Imperativs »Erkenne dich selbst«! Selbstblendung aufgrund von plötzlicher Klarsicht. Das Subjekt übernimmt sein Schicksal, ohne es zu hinterfragen. Völlig anders Hiob oder auch die »Helden« des französischen Existentialismus eines Sartre oder eines Camus. Delphische Voraussage ist ontologisch nichts anderes als vorweggenommene Rechtfertigung dessen, was dann als unglückliche Verkettung vorliegt. Die Dichtung erhebt diese falsche Reihenfolge zum Erklärungsmodell: zu einer Metapher für das, was einen schlimmsten Falls wider alle Erwartung ereilen kann. Das Ergebnis ist die Geschichte des Königs Ödipus. Das romantische Ich, wie es bei E.T.A. Hoffmann zur Veranschaulichung gelangt, wird dagegen dem objektiven Lauf der Dinge entzogen. Erklärt wird das Funktionieren des »Traum-Ichs« innerhalb der reinen Innerlichkeit. Aus der Kollision der Seele mit einer Außenwelt, die als Alltäglichkeit erfahren wird, bezieht das romantische Ich sein Profil. »Zerrissenheit« ist Dauerzustand solcher Kollision: von Angst durchsetzte Sehnsucht nach dem Ideal, die ewige Zwangslage des gesitteten Bürgers. Der Schluss der Geschichte skizziert die schlechte Unendlichkeit unmöglicher Selbstreflexion. Bei Sophokles sprengt der psychologische Scharfsinn der Dialoge die naivstarre Prämisse der impliziten Axiome; bei E.T.A. Hoffmann ist dem Konflikt der Hauptgestalt die Parodie inhärent. »So träumen alle«, könnte man romantisch sagen. Beide Autoren treten also jeweils aus dem Horizont der dargestellten, anthropologischen Prämisse heraus: durch demonstrierten »Geist«. Und nur deshalb können sie mit uns hier und jetzt unmittelbar kommunizieren. Es kommt darauf an, die gestalteten anthropologischen Prämissen nicht mit den Prämissen des gelebten Lebens ihrer Autoren zu verwechseln. Literatur stellt, zu künstlerischen Zwecken, Laboratoriumsbedingungen her, unter denen uns der Mensch in Grenzsituationen vorgeführt wird. Zur Beobachtung.
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Bibliographie Gerigk, Horst-Jürgen, Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes, Berlin/New York 1975. Id., »Kann Kunst ›realistisch‹ sein?«, in: id., Lesen und Interpretieren, Göttingen 2002, 63–75. Id., »Gibt es unverständliche Dichtung?«, in: Neue Rundschau, 126. Jahrgang (2005), Heft 3, 149–159. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Ästhetik, 2 Bde., nach der zweiten Ausgabe Heinrich Gustav Hothos (1842) redigiert und mit einem ausführlichen Register versehen von Friedrich Bassenge, Weimar 1976. Heidegger, Martin, Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1957. Hoffmann, E.T.A., Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde, in: id., Dichtungen und Schriften sowie Briefe und Tagebücher , Gesamtausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben und mit Nachworten versehen von Walther Harich, Weimar 1924, Bd. 6, Die Spukdichtungen, 27–48. Moraldo, Sandro M., Wandlungen des Doppelgängers. Shakespeare – E.T.A. Hoffmann – Pirandello. Von der Zwillingskomödie (The Comedy of Errors) zur Identitätsfindung (Prinzessin Brambilla; Il fu Mattia Pascal), Frankfurt a.M. 1996. Offenbach, Jacques, Hoffmanns Erzählungen. In der Originalsprache (Französisch mit deutscher Fassung). Opernführer, verfasst und herausgegeben von Kurt Pahlen unter Mitarbeit von Rosemarie König. München, 2. Aufl. 1982. Paul, Jean, Siebenkäs, in: Werke, Bd. 2, Siebenkäs, Flegeljahre, herausgegeben von Gustav Lohmann, München 1959. Schopenhauer, Arthur, Sämtliche Werke, 7 Bde., herausgegeben von Arthur Hübscher, Wiesbaden 1948–1950. Bd. 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band, § 36. Sophokles, König Ödipus, in der Übertragung von K.W.F. Solger, in: Griechische Tragiker. Aischylos, Sophokles, Euripides. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Wolf-Hartmut Friedrich, Anmerkungen von Klaus Ries, München 1958, 395–489. Wahrig, Gerhard, Deutsches Wörterbuch. Neu herausgegeben von Dr. Renate Wahrig-Burfeind, Gütersloh 1997. Wellek, René, »German and English Romanticism. A Confrontation (1963)«, in: id., Confrontations. Studies in the Intellectual and Literary Relations between Germany, England and the United States during the Nineteenth Century, Princeton, New Jersey 1965, 3–33.
Die Darstellung von Subjekt und Affekt in Giacomo Leopardis Ultimo canto di Saffo Karin Westerwelle (Münster)
In einem berühmten Brief hat sich Leopardi gegen eine Gleichsetzung des poetisch-gedanklichen Konstrukts, der »philosophie désespérante«, mit seiner eigenen Person und biographischen Lebenssituation gewehrt 1. Die biographische Lesart pathologisiert den Dichter und führt zu einem diskursiven Ausschluss, der das Sagbare auf ein normatives Maß zu begrenzen trachtet. Schmerz, Desillusion, Negativität und Nihilismus bestimmen die fiktionale Sprechersitutation in den Gedichten und Prosatexten; sie charakterisieren die Entwürfe von reflexiver Subjektivität, die im Horizont von anthropologischen und historischen Bedingungen sowie dichterischer Tradition zur Darstellung kommt. Die in ihrer Phänomenalität wahrgenommene Natur, die Deutung der Bedingungen des zivilisiert städtischen und gesellschaftlichen Lebens begründen ein subjektives Bewußtsein, das sich in emotionaler Reaktion auf die diagnostizierte Entzweiung von Sein und Schein äußert und diese reflektiert. Gegen die romantische Ästhetik und ihr Ziel, Affekte direkt in Ich-Aussagen zum Ausdruck zu bringen, betont Leopardi, dass diese nur mittels gegenständlicher oder szenischer Gestaltung mitteilbar sind. Die elegische Klage angesichts der Unvergänglichkeit und Unendlichkeit der Natur, der der Mensch ausgegrenzt gegenübersteht, veranschaulicht seine Dichtung in diversen Rollenentwürfen. Dazu gehört neben der romantischen Tasso-Figur 2 die imaginierte Figur der Sap1 In einem Brief vom 24. Mai 1832 an Luigi de Sinner kritisiert Leopardi die biographisie-
rende Lesart als analytische Schwäche: »on a voulu considérer mes opinions philosophiques comme le résultat de mes souffrances particulières, et […] l’on s’obstine à attribuer à mes circonstances matérielles ce qu’on ne doit qu’à mon entendement.« L. de Sinner war ein langjähriger Freund, Gelehrter und Lehrer in Paris, dem Leopardi philologische Manuskripte überließ. Leopardi (1997), 1417. Zur »philosophie désespérante«: ib., S. 1416. 2 Der Status des Dichters als unglücklicher Außenseiter in der modernen Gesellschaft wird in dem Gedicht Ad Angelo Mai über die romantische Bezugsfigur Torquato Tasso entworfen. In der rinascimentalen Dichterfigur stellt Leopardi hohe Geistigkeit und schönen Gesang auf der einen Seite und subjektiv tragisches Schicksal auf der anderen gegenüber: Tassos Gesang
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pho im Ultimo Canto di Saffo. Saffo spricht hier aus einer zweifach inszenierten Distanz. Sie ist eine Spiegelfigur aktueller Konzepte und rückt diese doch als antike Gestalt und weibliche Autorin in eine Perspektive entrückter Unmittelbarkeit. Mit diesem Darstellungsmodus ist das Problem einer Romantisierung der Antike verbunden, oder anders gesagt, die bloß subsumierende Betrachtung der Antike unter der condicio der Modernen. Sowohl die philologischen Betrachtungen zur Kanzone als auch die stilistisch-semantischen Elemente des Gedichtes weisen darauf hin, dass Leopardi den Inszenierungscharakter und damit auch den Bruch mit der antiken Figur mitgedacht hat. Die condicio des sich als vereinzelt bestimmenden Sprechersubjekts soll im Folgenden erläutert werden. Sie zu verstehen, ist die Voraussetzung, um Leopardis Entwürfe von Subjektivität in der Zusammenschau unterschiedlicher Gedichte zu begreifen.
I. Leopardi und das Paradigma Antike »Tutto si è perfezionato da Omero in poi, ma non la poesia« 3, so lautet Leopardis Urteil über den Antike-Moderne-Streit in seinem Aufschreibebuch, dem Zibaldone. Es konstatiert den rationalistischen und naturwissenschaftlichen Fortschritt, der im ausgehenden 17. Jahrhundert die Querelle des Anciens et des Modernes 4 entfacht und sich in der Epoche der Aufklärung beschleunigt hatte, bestreitet aber, dass die Dichtung einem Fortschrittsmodell untersteht. Für Leopardi bildet der Vergleich mit der griechischen und römischen Literatur eine ideale Referenzgröße, die ihm ästhetische, erkenntnistheoretische und gesellschaftspolitische Orientierung bietet. Es handelt sich keineswegs nur darum, die antike Literatur und Kultur an sich zu erschließen und sie in ihrer Höhe zu bewundern, sondern in ihrem Vergleich mit der Jetztzeit bildet sich kritisches Gegenwartsbewusstsein aus. Ähnlich wie Winckelmann, Madame de Staël oder Stendhal erkennt Leopardi, der Bewunderer der antiken Literatur, die »contrarietà sostanziali« 5 zwischen Antike und
ist den Menschen Geschenk, den Sänger aber vermag er in Schmerz und Verlassenheit nicht zu trösten. Insofern sind die Affekte und das ihnen verbundene subjektive Bewußtsein eine negative Größe, die der Gesang nur partiell zu transzendieren vermag. Vgl. zum romantischen Thema: Moog-Grünewald (1986), 113–132. 3 Leopardi (1991), I, 79 [§ 87 Die in Klammern gestellten Paragraphen verweisen auf die von Leopardi angebrachten Seitenangaben]. 4 Vgl. zum springenden Punkt der Gegenüberstellung von Homer und Fortschritt: Most (1991), 144–168. 5 Leopardi (1991), I, 163 [§ 163].
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Moderne. Diese Differenzen betreffen auch den Status des Dichters und die Funktion von Literatur 6. Das Bewusstsein, sich von antiken Lebensbedingungen entfernt zu haben, setzt nach Leopardi nicht erst in Neuzeit und Aufklärung ein. Im fiktiven Dialog zwischen Plotin und Porphyrius in den Operette morali, gilt den beiden Protagonisten der Spätantike »[q]uella natura primitiva degli uomini antichi«7 nicht mehr als die ihrige. Damit integriert sich das Antike-Moderne-Paradigma dem historischen Prozess 8. In einer frühen autobiographischen Selbstbestimmung im Jahr 1819, zur Zeit einer gesundheitlichen Krise, als der zwanzigjährige Dichter zu erblinden drohte, erfasste er seine individuell-persönliche Entwicklung in der Parallele eines welthistorischen Entwicklungsschemas: »Nella carriera poetica il mio spirito ha percorso lo stesso stadio che lo spirito umano in generale« 9. Durch Krankheit an der Lektüre gehindert und nicht mehr von sich selbst abgelenkt, tritt das neue Ich aus einer negativen Metamorphose, der »mutazione totale« 10, mit folgenden, auch universal geltenden Ergebnissen hervor. Erstens ist das Unglücklichsein nunmehr ein Modus des Fühlens, der dem Ich distanzlos nahe rückt, nicht mehr lediglich ein Stoff des Erkennens. Zweitens geht die Hoffnung, d. h. die Projektion von glücklicher Zeit in das zukünftige Erleben, verloren. Drittens ändert sich der Status des intellektuell Schaffenden kategorial: Der Dichter wird zum Philosophen, denn die modernen Dichter sind nicht mehr der natura und der imaginatio, sondern dem Wahren und der Vernunft verpflichtet. Ihre Dichtung ist sentimentalische Dichtung. Die besondere körperliche Schwäche als Krisensituation initiiert eine Selbstinterpretation des Subjekts, das sich auf sich selbst zurückverwiesen sieht. Die antike Literatur und die antiken Autoren bilden das Paradigma, um sowohl die eigene aktuelle als auch die gesellschaftliche Situation zu bestimmen. Der Sprecher situiert sich nunmehr im Abstand zu den Antiken und in der Nähe der Modernen. Wichtigste Kriterien der paradigmatischen Gegenüberstellung und der autobiographischen Analyse des Selbst sind die erkenntnistheoretischen Entwürfe von Welt über ratio respektive imaginatio. Der junge Leopardi, der uns auf den ersten Seiten des Zibaldone begegnet, ist hochgebildet und in der Kenntnis der Antike bereits äußerst bewandert. Er hat die Grenzen seines Geburtsortes Recanati, unweit von Ancona, zu dieser Zeit noch nicht überschritten, sich aber durch sein Selbststudium, »sette anni di studio matto e disperatissimo« 11, große Kenntnisse in den antiken Sprachen und den Schriften 6 Vgl. zum Verhältnis Antike und Moderne bei Leopardi die ergiebige Darstellung von Rigoni 7 8 9 10 11
(1985). Leopardi (1997), II, 203. Zum Verhältnis von Antike und Moderne vgl. Jauß (1970), 11–66. Leopardi (1991), I, 146 [§ 143]. Ibd. 147 [§ 144]. Leopardi (1983), 78 (Brief vom 2. März 1818 an Pietro Giordani).
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des Altertums erworben. Sein philologisches Können und sein Interesse an antiken Schriften sind in der italienischen Tradition nur denen des Humanisten Francesco Petrarca 12 vergleichbar. Das literarische Werk Leopardis ist relativ schmal: Es besteht aus den Canti, die in unterschiedlichen Ausgaben und Erweiterungen seit 1824, dann 1831 und schließlich in der letzten Edition zu Lebzeiten des Dichters in Neapel 1835 erschienen sind. Zu den Canti zählen die frühen Idilli (darunter L’Infinito) und die Gruppe der längeren Gedichte, wie der 1822 entstandene Ultimo canto di Saffo, der thematisch und zeitlich im Zusammenhang mit den Langgedichten Bruto minore, Alla Primavera, o delle favole antiche und dem Inno ai Patriarchi, o de’ principii del genere umano steht. Außerdem gehören zum literarischen Werk die in Prosa verfassten Operette morali, die sich ebenso wie die Dichtung durch häufige Bezüge zu antiken Texten auszeichnen, und der Zibaldone, der von 1817 bis 1832 als Reflexions-, Aufzeichungs- und Tagebuch entstanden ist. Zudem hat Leopardi eine Reihe von z.T. erst postum publizierten kulturkritischen Prosatexten verfasst, zu denen die Reden über die Romantik (Discorso di un Italiano intorno alla poesia romantica) und über die Sitten und Gebräuche der Italiener (Discorso sopra lo stato presente dei costumi degl’Italiani) zählen. Bevor er Dichter wurde, hat sich Leopardi über lange Zeit als Philologe und Übersetzer beschäftigt. Zu den frühen Übertragungen von vor 1818 zählen der erste Gesang der Odyssee von Homer, der zweite Gesang der Aeneis von Vergil sowie der Froschmäusekrieg; Leopardi hat Fragmente des Bukolikers Moschos ins Italienische übersetzt, Aufsätze über die Gattung der Idylle (den Discorso sopra Mosco) oder den Ruhm des Horaz (Sopra la fama di Orazio) verfasst. Er hat u. a. Vergil, Horaz, Lukian, Cicero und Platon gelesen, ein später an ihn herangetragenes Projekt der Gesamtübertragung Platons lehnte er ab 13. Leopardis Kritik an der Moderne ist Rationalismuskritik. Im Prozess der Moderne, der unterschiedliche Etappen der europäischen Kulturgeschichte wie den Aufstieg des Christentums oder die französische Aufklärung und Revolution umfasst, hat sich ein Defizit, ein Mangel, ein »nulla« eingestellt. Wie erklärt sich das Defizit der Modernen? Gegenüber der antiken, von der Imagination bewirkten Illusionsbildung hat sich im Zivilisationsprozess ein Wandel vollzogen. Die in der antiken Literatur entworfenen Bilder und Vorstellungen sind in ihrem fiktionalen Status unbeschädigt. Es handelt sich um »felici errori« (»glückselige Irrtümer«), wie es in der Kanzone Ad Angelo Mai 14 heißt, deren Scheindimension nicht hinterfragt wird. Ihre Anschaulichkeit präsentiert die Welt, ohne dass das Nichts (»nulla«) auf12 Vgl. zum Philologen Petrarca: Pfeiffer (1982); die kritische Beschäftigung Leopardis mit
antiken Texten haben Timpanaro (1955) und Scheel (1992) erforscht. 13 Eine detaillierte Lebens- und Werkdarstellung gibt Tellini (1998), 727–830. 14 Leopardi (1987), I, 19, v. 110.
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bricht. Form und Gehalt situieren sich deshalb innerhalb des Scheins, hinter dem schönen Schein gibt es nichts zu suchen, Hässlichkeit als ästhetisches Phänomen ist nicht vorstellbar. Im Zuge der rationalistischen Aufklärung – der illuminismo des Settecento bildet davon nur eine Phase –, sind das Schöne und das Wahre in Widerstreit getreten. Das Schöne, die schöne Illusion, wird auf ihren Grund hin befragt. Die rationalistische Erschließung von Welt verzichtet auf die sinnliche Dimension und den schönen Schein der Erfahrung. Sie erkundet die Innerlichkeit und den unsichtbaren Geist, vernachlässigt aber die Dimension des Körpers und den irrationalen Impuls als Motiv für tugendhaftes Handeln. Deswegen behauptet Leopardi – einschlägig hierfür sind der Discorso di un Italiano intorno alla poesia romantica und die im Zibaldone beschriebene »mutazione totale« –, dass die moderne Poesie auf dem kritischen Geist und philosophischer Erkenntnis beruhe und sentimentalisch sei, während die antike Dichtung als eine Schöpfung aus der »immaginazione« zu verstehen sei. Sentimentalisch heißt, dass die Illusion immer nur reflexiv erzeugt werden kann; das Bewusstsein hat immer schon den Riss der gebrochenen Illusion durchschaut. Die Antike bildet für die theoretische und poetologische Reflexion den idealen Referenzpunkt der modernen Kunst und Gesellschaft, weil sie den schönen Schein und die Illusion als Dimensionen der Erfahrbarkeit von Welt bestärkt und damit für die Modernen in der Produktion des Scheins ein vorbildhaftes Modell bietet. In der Beschäftigung mit der antiken Literatur wird auch klar, wie es Leopardi in seiner kritischen Besprechung romantischer Dichtung formuliert, dass die bloße Aussprache des Ich und des subjektiven Empfindens nicht ausreicht, um mit dem Leser zu kommunizieren oder ihn emotional zu rühren. Stil und hohe Kunstfertigkeit sind für die Darstellung des Sentimentalischen sowie des Selbst unverzichtbar. Diese Abhängigkeit des Stoffs vom Modus der Darstellung erfasst Leopardi in der pointierten Formel: »la minor arte è minor natura« 15, d. h. ein weniger an Kunst bewirkt ein weniger an Natur(darstellung). Wie verträgt sich die Gegenüberstellung von antiker und moderner Kultur, die alle Vorbildhaftigkeit auf Seiten der Antike sieht, mit dem Ultimo canto di Saffo? Wie ist sein Thema der »sventura« mit einer im Namen Sapphos verbürgten Antike, d. h. dem von Leopardi vertretenen Antikekonzept in Einklang zu bringen?
15 Leopardi (1991), I, 27 [§ 21]. Die Natur-Kunst-Formel bildet den Abschluss der langen
Auseinandersetzung Leopardis mit der Romantikdebatte; die gesamte Passage, ib., 19–27 [§§ 15–21], hebt mit dem Satz an: »Finisco in questo punto di leggere nello Spettatore n. 91. le Osservazioni di Lodovico di Breme«.
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II. Leopardis Canti Als Giacomo Leopardi 1824 in Bologna seine Canzoni publiziert, ist er sich des Neuigkeitsanspruchs seiner Lyrik gewiss. In den Annotazioni schreibt er: »Sono dieci Canzoni, e più di dieci stravaganze. […] di dieci Canzoni nè pur una amorosa.« / »Es sind zehn Kanzonen, und mehr als zehn Extravaganzen. […] unter zehn Kanzonen nicht eine Liebeskanzone« 16. Mit den »stravaganze« bezeichnet Leopardi sein Heraustreten aus der dichterischen Tradition; er führt eine Reihe von Brüchen an, die allesamt die Lesererwartung herausfordern. Liebeslyrik, wie sie der Kanzone eigen ist, darf der Leser nicht erwarten. Die für sie typische, die präsentische innamoramento-Situation, also die Begegnung des lyrischen Ich mit der Schönheit der geliebten Dame, findet sich in Leopardis Dichtung nicht. Der besondere Augenblick der Liebesvision gehört immer schon der Vergangenheit an, die Zukunft als mögliche Zeit ist ihm als Ereignis verschlossen. Die Potenz, sich der Liebe zu öffnen, begrenzt Leopardi auf das Erwachen der jugendlichen illusionsvollen Öffnung zur Welt. Aber die enttäuschende Dimension des Realen verkürzt jene hoffnungsvolle Phase auf einen kaum fassbaren Ereignispunkt. Angesichts der Diskrepanz von Wunsch und Welt ist die Liebesbegegnung eine nicht realisierbare, eine immer schon enttäuschte, sie ist nie gegenwärtig, sondern jeweils bereits in die Erinnerung verschoben. Die Canzoni, so erläutert Leopardi in einer Ankündigung, im Annuncio delle canzoni im Mailänder Nuovo Ricoglitore von 1825, sind nicht im petrarkistischen Stil geschrieben, sie ähneln der bisherigen italienischen Lyrik nicht (»in somma non si rassomigliano a nessuna poesia italiana«), der Stoff der Kanzonen ist nicht aus ihren Titeln zu erraten (»nessun potrebbe indovinare i soggetti delle Canzoni dai titoli« 17). Zwischen dem Titel und dem evozierten Vorstellungshorizont besteht auch in der Saffo-Kanzone eine Abweichung. Anspruch und Stoff der SaffoKanzone (die in der Ausgabe 1824 den Untertitel Canzone ottava trägt18) erfasst die Vorankündigung folgendermaßen: Una, ch’è intitolata Ultimo canto di Saffo, intende di rappresentare la infelicità di un animo delicato, tenero, sensitivo, nobile e caldo, posto in un corpo brutto e giovane: soggetto così difficile, che io non mi so ricordare nè tra gli antichi nè tra i moderni nessuno scrittor famoso che abbia ardito di trattarlo, eccetto solamente la signora di Staël, che lo tratta in una lettera in principio della Delfina, ma in tutt’altro modo 19.
Nicht die Darstellung von Glückseligkeit, sondern die »infelicità« der edlen Seele, die in einem hässlichen und zugleich jungen Körper gefangen ist, bildet das Thema 16 17 18 19
Leopardi (1987), I, 163 [meine Übersetzung]. Ibd. Zur Anordnung der Kanzonen in den unterschiedlichen Ausgaben vgl. Blasucci (1989), 70. Leopardi (1987), I, 163 (für sämtliche Zitate).
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des Canto. Weder ein antiker noch ein moderner Dichter hat sich bislang erkühnt, es anzugehen (»ardito di trattarlo«). Ungewöhnlich und schwierig ist der Gegenstand aufgrund der Nichtentsprechung von Innen und Außen, von Inhalt und Form: Innere, unsichtbare Seelengröße (Empfindsamkeit, Feinheit, Adel der Seele) zeigt sich nicht in einer schönen Gestalt, sondern steht äußerer Hässlichkeit gegenüber. Innere und äußere Welt korrespondieren einander nicht, ebenso stehen auf der stilistischen Ebene Titel des Gedichtes und Inhalt, wie Leopardi behauptet, in einer überraschenden Wendung zueinander. Im Bezug zur französischen Autorin Madame de Staël hat die Forschungsliteratur für den Ultimo canto vor allem den Einfluss des Romans Corinne ou l’Italie (1807) und sein letztes Kapitel »Dernier chant de Corinne« hervorgehoben. Dort nimmt die sterbende Protagonistin in unerfüllter Liebe feierlich Abschied, indem sie den Schmerz (das »souffrir«) als das ihr eigene Vermögen ihres Lebens bezeichnet und sich nunmehr dem christlichen Mysterium des Todes überantwortet20. In unveröffentlicht gebliebenen Manuskriptergänzungen 21 der Saffo-Kanzone erläutert Leopardi das Verhältnis von Hässlichkeit und Interesse am Gegenstand noch ausführlicher. Seine Quellen sind die Heroides von Ovid, fiktive Briefe von berühmten Frauenfiguren wie Dido, Helena oder Penelope an ihre Geliebten. Aus dem 15. Brief der Sappho an Phaon zitiert Leopardi den Vers, in dem die Schreiberin in einer Litotes über ihre mangelnde Schönheit spricht (»Il fondamento di questa canzone sono i versi che Ovidio scrive in persona di Saffo, epist. 15. v. 31 segg. Si mihi difficilis formam natura negavit etc« 22). Auch hier unterstreicht Leopardi noch einmal das schwierige Unterfangen, den Leser für das Hässliche zu interessieren23. Den Themen Hässlichkeit und dem unglücklichen Leben als Gegenstand von Kanzonendichtung kommt der Wert des Neuen zu, weil sie mit der Erwartungshaltung brechen, die in der Lyrik die Entsprechung von hoher Form und hohem Gegenstand sucht. In Bezug auf die von Leopardi im Zibaldone und in anderen kunstkritischen Schriften vertretene Gegenüberstellung von Antike 20 Madame de Staël (1985), 582 ff. Vgl. zur Rezeption von Madame de Staël durch Leopardi und
in Italien: Schöning (2003), 203–227, und Damiani (1993), 538–561. Das nach dem Tod der Autorin entstandene Gemälde des Baron François Gérard (1770–1836) Corinne au cap Misène (1822, auch als Madame de Staël en Corinne au cap Misène bekannt) zeigt in dramatischer Küstenszenerie mit der Leier in der Hand eine Dichterinnenfigur, die in Analogie zu Sappho und dem Leukadischen Felsen dargestellt ist. Vgl. DeJean (1989), 180f. 21 Leopardi (1978) 347 (nach dem neapolitanischen Manuskript). Auch in Leopardi (1987), I, 681. 22 Ibd. und Ovid, Heroides, Sappho Phaoni, XV, v. 31 (»Wenn die neidische Natur mir die Schönheit versagte«, meine Übersetzung). 23 »La cosa più difficile del mondo, e quasi impossibile, si è d’interessare per una persona brutta; […] di commuovere i Lettori sopra la sventura della bruttezza«, Leopardi (1978), 347 (nach dem neapolitanischen Manuskript). Auch in Leopardi (1987), I, 681.
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und Moderne ergibt sich dabei ein tiefgreifendes Problem: Titel und Stoff des Gedichtes fügen sich nicht dem theoretischen Konzept. Der Name der antiken Dichterin Sappho erweckt für den Leser zunächst die Vorstellung der antiken Welt und Literatur. Aber die Inszenierung der Figur in ihrer »bruttezza« und Entfremdung von der Natur scheint nicht der Stilisierung einer antiken Idealfigur der dichterischen Rede zu gehorchen, wie es die poetologische und philosophische Kritik Leopardis vorsieht.
III. Sappho und Fiktionen über Sappho Leopardis Ultimo canto di Saffo situiert sich nicht nur im unmittelbaren Rückgriff auf die Antike, sondern ordnet sich der rezeptionsgeschichtlichen Aneignung der antiken Dichterin und Frauenfigur in der modernen Literatur ein. In den späteren Notaten zu den 1831 nunmehr unter dem Titel Canti publizierten Kanzonen weist Leopardi auf die philologische Auslegungstradition hin, zwei Sappho-Figuren zu unterscheiden: die legendarische Figur der Phaon-Liebe und die Dichterin. Er führt aus: nel nono Canto si seguita la tradizione volgare intorno agli amori infelici di Saffo poetessa, benchè il Visconti ed altri critici moderni distinguano due Saffo; l’una famosa per la sua lira, e l’altra per l’amore sfortunato di Faone; quella contemporanea d’Alceo, e questa più moderna 24.
Leopardi folgt nicht der neueren Auslegung, die zwischen der antiken Dichterin zu Zeiten des Alkaios (»famosa per la sua lira«) und der legendarischen, unglücklich Liebenden, die Ovid erfunden hat – der zeitlich moderneren Sappho, wie Leopardi sagt – unterscheidet. Ennio Quirino Viscontis (1751–1818) Iconographie grecque von 1808, wurde von den Göttinger Gelehrten Anzeigen positiv besprochen. Deren Rezensent lobte Viscontis kritische Feststellung, das Altertum habe beide Sapphogestalten verwechselt25. Leopardi kennt folglich die philologische Kritik, vereint aber in den legendarischen Elementen beide Sapphogestalten in einer Figur. In seinem Gedicht spricht er von der Dichterin, die zugleich die unglücklich Liebende ist. Leopardi hat die antike Dichterin Sappho hoch geschätzt, deren Liebeslyrik in der Antike gerühmt wurde und die Platon als zehnte Muse apostrophierte. Über 24 Leopardi (1987), I, 149 25 Den Hinweis auf Visconti und die Göttinger Gelehrten Anzeigen gibt Rüdiger (1933), 141. Der
Archäologe Ennio Quirino Visconti, zunächst Konservator des Kapitolinischen Museums, folgte Napoleon nach Frankreich, wo er für die Sammlungen des Louvre verantwortlich zeichnete und Konservator der Altertümer wurde. In Paris erschienen die Iconographie grecque (1808) und die Iconographie romaine (1818–1820).
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Sappho hat er nicht zusammenhängend geschrieben, während von ihm ein kleiner Beitrag zur bukolischen Dichtungstradition mit Rückbezug auf die moderne und zeitgenössische Editionslage und – kritik vorliegt. In der väterlichen Bibliothek in Recanati standen dem jungen Autor die Sappho-Übersetzungen des häuslichen Beraters und Hellenisten Saverio Broglio d’Aiano zur Verfügung 26. Als 14-jähriger übersetzt er in den Scherzi epigrammatici, tradotti dal greco unter dem Titel La Impazienza. Ode di Saffo das Fragment einer Sappho-Ode »Es tauchte der Mond schon unter«27; in seinem Horaz-Essay, Della fama di Orazio presso gli antichi von 1816, erwähnt er »die große Herrin Sappho« und bedauert die schlechte Überlieferungssituation: »quella gran donna di Saffo di cui abbiamo poco più che niente« 28. Sicherlich hat Leopardi auch die weiteren Urteile des Horaz zur Kenntnis genommen, die traditionell zitiert werden, wenn die Dichterin Sappho vorgestellt wird, so z. B. im ausführlichen Artikel von Pierre Bayle im Dictionnaire historique et critique (1697). Wegen ihrer hohen Dichtkunst spricht Horaz in seinen Briefen von der »männlichen Sappho«; im vierten Buch der Carmina, Ode 9, lobt er ihre unvergängliche Kunst und spricht ihren Versen über die Liebe Leben zu. In der Unterwelt lässt er die Toten in andächtigem Schweigen den Gesängen Sapphos lauschen, ihre Klagen seien »des heiligen Schweigens würdig« 29. In einer sehr schönen Eintragung im Zibaldone vom 16. September 1823 vergleicht Leopardi mit Verweis auf Pseudo-Longinus einen Vers der Sappho mit einem Petrarca-Vers 30. Sapphos Dichtung ist nur fragmentarisch auf uns gekommen, sie ist über Catull in der Schrift von Pseudo-Longinus Über das Erhabene (Perì Hypsous) überliefert 31. Die Verse weisen Sappho als Dichterin aus, die das Bittersüße der Liebe besingt und das epiphane Moment mit der Grenze des Todes in Verbindung setzt. An der genannten Stelle sind Sapphos Verse über das liebreiche Lächeln zitiert, das »das Herz in der Brust zum Erzittern bringt« 32. Zu diesen Versen rückt Petrarca in den Vergleich, der in der Canzone Chiare fresche e dolci acque vom Schrecken, dem »spavento« 33, angesichts der paradiesischen LauraErscheinung spricht. Den Erscheinungsschrecken bei Petrarca und das Zittern des 26 Muscetta (1976), 51. Nach Maurer (2000), 227, hat Saverio Broglio d’Aiano die bis zur
27 28 29 30 31 32 33
Mitte des 19. Jahrhunderts »vollständigste italienische Wiedergabe der erhaltenen SapphoFragmente« erstellt. Maurer verweist auf den Rückblick von G. Bustelli, Vita e frammenti di Saffo da Mitilene. Discorso e versione (prima intera), Bologna 1863, 56. Sappho (1978), 77. Leopardi (1997), II, 921. Horaz, Carmina IV, 9, v. 10–12, und id., Epistulae I, 19, 28. Leopardi (1991), II, 1800 [§§ 3443–44]. Vgl. zur italienischen Übersetzung, die sich in Leopardis Bibliothek befand, und zur Rezeption von Pseudo-Longinus: Macchioni Jodi (1982). Sappho (1978), 17. Petrarca (2006), 589, v. 54.
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Herzens bei Sappho lobt Leopardi als gelungene Darstellungen der sinnlichen Wirkung, die die Schönheit auslöst. Der Sappho-Vers ist jenem verwandt, der in dem berühmten Gedicht L’Infinito den beinahe eintretenden Schrecken des Herzens angesichts unendlicher Räume charakterisiert. Im Ultimo canto di Saffo ist gerade diese emphatische und entrückende Liebesimagination, das Moment einer Projektion der Wahrnehmung des Schönen, ausgeblendet. Von besonderer Bewandtnis in der Rezeptionsgeschichte Sapphos und Gegenstand des kulturhistorischen Forschungsinteresses ist die homoerotische Liebe, die Sappho in ihren Gedichten besingt, folglich die Frage, wie die Dichterin zu den anderen Frauen in ihrem Mädchenkreis stand 34. Man nimmt an, dass Sappho eine erzieherische und kultische Rolle ausübte und die Homoerotik vermutlich ebenso zur Bildung junger Frauen und ihrer Initiation in gesellschaftliche Aufgaben gehörte wie zur Bildung junger Männer. In der Rezeptionsgeschichte hat man auf der einen Seite der Dichterin die unkeuschen, skandalösen Liebespraktiken angelastet, auf der anderen Seite versuchten Autoren wie Madame Dacier im 17. Jahrhundert oder Friedrich Gottlieb Welcker mit seiner Schrift aus dem Jahr 1816, Sappho von einem herrschenden Vorurteil befreit, Sappho von der moralisch anstößigen Sexualität zu trennen 35. Leopardi reflektiert im Zibaldone in der Eintragung vom 4. Oktober 1821 auch im Bezug auf Sappho das kulturgeschichtliche Phänomen der Homosexualität. Er erläutert die »pederastia« als ein im antiken Griechenland allgegenwärtiges hohes Kulturphänomen, das in der gegenwärtigen Zivilisation, selbst im hochzivilisierten Frankreich, Anstoß erregen würde, und zwar auch dann, wenn literarisch in Periphrase von der homoerotischen Liebe die Rede wäre. In seinen Überlegungen zu den Regeln von Norm und Ausschluss stellt er fest, dass die zivilisierteste Kultur der Welt, das antike Griechenland, die Homosexualität sowohl in die Mythologie eingeführt als auch in der Poesie dargestellt hat. Es verhielte sich nämlich so, dass sowohl Platon im Symposion als auch Anakreon und Sappho die gleichgeschlechtliche Liebe meinten. Die Liebe zu den Frauen sei zu vulgär, zu banal, »appunto perchè troppo naturale« erschienen 36. Sappho singe mit Zartheit von der Liebe zu einer Frau: »E Saffo con tanta tenerezza canta la sua innamorata« 37, sie besinge die Liebe zwischen Frauen: Tutti i sentimenti nobili che l’amore inspirava ai greci, tutto il sentimentale loro in amore, sia nel fatto sia negli scritti, non appartiene ad altro che alla pederastia, e negli scritti di
34 35 36 37
Vgl. Glei (1993), Most (1996). Vgl. dazu Rüdiger (1933), 14–16; 102–109; Most (1996), DeJean (1989). Leopardi (1991), II, 1056–57, [§§ 1840–41]. Leopardi (1991), II, 2182 [§ 4047].
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donne (come nella famosa ode o frammento di Saffo phaínetai ec.) all’amor di donna verso donna 38.
Wenn die Ansicht von Sapphos Homosexualität vor dem 20. Jahrhundert wenig verbreitet war, so hat sie Leopardi vertreten 39. Die gleichgeschlechtliche Liebe spielt in Leopardis Ultimo canto di Saffo keine Rolle. Sie gewinnt erst bei einem anderen Dichter der Moderne Bedeutung – bei Charles Baudelaire. Der zunächst geplante Titel (1845–47) für die 1857 erschienenen Fleurs du mal war Les Lesbiennes; die Gedichte Lesbos, bereits 1850 zum ersten Mal publiziert, und die Femmes damnées evozieren Formen der gleichgeschlechtlichen Liebe, d.h. eine Normüberschreitung und dichterische Suche, deren Anliegen es ist, moderne Kunstanschauung in ihrer besonderen Vermittlung von Welt und Ich zu fixieren. Die legendarische und die dichterische Sappho sind in der Apostrophe »la mâle Sapho, l’amante et le poète« 40 aufgerufen. Sappho ist für Baudelaire eine poetologische Figur, die Leidenschaftlichkeit und Sterilität vereint. Die unter sich seienden Frauen, die Spiegelbeziehung der blicklosen Augen (»filles aux yeux creux« 41) weisen auf die Sterilität der Liebesbeziehung, die den Venuskult, anders als oberflächlich suggeriert, nur in negativer Lust überbietet. In dem Gedicht »Lesbos« hat das lyrische Ich in Sterilität, Nichttransparenz und Dunkelheit Anteil an den Mysterien, in die es eingeweiht ist, und hofft zugleich, auf dem Wächterposten des Leukadischen Felsens der Situation der Moderne, die sich nach den »voluptés grecques« und den »jeux latins« 42 eröffnet, zu entrinnen. Auch Leopardis Gedicht zeigt den modernen Grenzfall des Menschen zur Natur und die neue Repräsentation der Liebe, nur bei Baudelaire liegt sie aber in der Kodierung homosexueller Attraktivität. Einen wichtigen Traditionsstrang bildet die legendarische Version, die Ovids Heroides begründen. Die Geschichte der unglücklichen Liebe zu Phaon und der Sprung vom Leukadischen Felsen in der Ovidischen Inszenierung der Frauenfigur war rezeptionsgeschichtlich äußerst wirksam, ist aber frei erfunden43. In einem fiktiven Brief klagt Sappho gegenüber Phaon, dass er sie verlassen hat. Sie brennt vor Liebe zu ihm; ihre Gefährtinnen, die einst ihren Augen gefielen, haben angesichts der schönen Erscheinung des Phaon alle Attraktivität eingebüßt. Sappho sagt von sich, dass ihr die Natur nicht Schönheit gewährt habe, sie aber durch ihren ingeniösen Geist diesen Mangel ausgleiche. Auf den Vers: »Si mihi difficilis for38 Leopardi (1991), II, 1057 [§ 1840]. 39 Most (1996). In alter Wertung diagnostiziert Heinrich Dörrie (1933), 217: »[i]hr an Perversion 40 41 42 43
grenzendes Hingezogen-Sein zu den Frauen und Mädchen von Lesbos«. Baudelaire, Œuvres complètes (1976), I, 151. Vgl. Horaz, epist. 1, 19, 28. Baudelaire, Œuvres complètes (1976), I, 150. Ibd. Glei (1993).
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mam natura negavit / Ingenio formae damna rependo meae […]. Candida si non sum […]« 44 bezieht sich Leopardi in den Annotationen zu seinem Gedicht. Von einer Naijade bekommt Sappho den Rat, vom Leukadischen Felsen zu springen, um sich in einem kultischen Akt von ihrer Liebe zu befreien. Der Sprung vom Leukadischen Felsen und die unerfüllte Liebe zu Phaon sind die legendarischen Elemente, die in der Rezeption Sapphos auch in der italienischen Literatur weite Verbreitung erfahren haben. Schon Boccaccio berichtet in De claris mulieribus (Die großen Frauen) 45 von der unerfüllten Liebe Sapphos zu einem Mann; für die romantische Epoche ist vor allem Alessandro Verri zu nennen, der in seinem Roman Le Avventure di Saffo poetessa di Mitilene die legendarische Leidenschaft der Sappho zu Phaon ausgeschmückt hat. Der 1782 veröffentlichte Roman fand in zwölf Auflagen, darunter drei französischen Übersetzungen, Verbreitung 46. Leopardi, der Verris Roman kennt, erwähnt ihn in seinen Anmerkungen zu den Canti nicht, ebenso wenig finden sich im Zibaldone Kommentare zum Roman Verris; allerdings hat er Ausschnitte in seine Crestomazia della prosa aufgenommen. Die Rezeptionsgeschichte Sapphos zeichnet sich durch das Fehlen von positivem Belegmaterial aus. Gerade diese Lücke erlaubte es, Projektionen und Fiktionen auf die Sappho-Figur zu werfen. Solche Entwürfe sagen jeweils mehr über den jeweiligen Erfinder und seine Epoche aus als über die reale Sappho. Leopardi nennt die zeitliche Ferne als günstige Bedingung, die poetische Imagination anzuregen, d. h. er entdeckt und spricht über das Potential, das die fragmentarische Überlieferung birgt 47. Auch in der Gestaltung Leopardis ist Sappho eine Projektionsfigur, die im Gedichtablauf zunehmend antikische Formen der Rede ablegen und in neuen Bildkonzepten eine radikale Negativität der Moderne veranschaulichen wird. Die auf die Sappho-Figur projizierten Bilder illustriert besonders gut eine Lithographie des französischen Karikaturisten Honoré Daumier [Abb. 1]. Das Blatt gehört zur Serie der Histoire ancienne, die in der Satirezeitschrift Charivari von Dezember 1841 bis Januar 1843 erschienen ist. Daumier karikiert antike und mythologische Bildthemen und beleuchtet spöttisch die Rezeption antiker Stoffe
44 Ovid, epist. [=Heroides] 15, 31f. 45 Boccaccio, De Sapho puella lesbia et poeta, in: id. (1995), 151–155. 46 Verris Roman erschien zuerst 1798 mit dem Titel Les Amours de Sapho et de Phaon in Paris,
dann in einer neuen Fassung 1803 und 1813 mit dem Titel Les Aventures de Sapho. DeJean (1989), 169–175. 47 »Il grande spazio frapposto tra Saffo e noi, confonde le immagini, e dà luogo a quel vago ed incerto che favorise sommamente la poesia«. Leopardi (1978), 347 (nach dem neapolitanischen Manuskript). Auch in Leopardi (1987), I, 681.
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und Formen, die die neoklassizistische Kunst entwirft und die bürgerliche Welt goutiert. Eine der insgesamt 50 Lithographien zeigt die Sappho-Figur48.
Abb. 1: Honoré Daumier, La Mort de Sapho, 1841–1842
Die Szene spielt nach der legendarischen Vorgabe auf der Anhöhe eines Felsvorsprungs. Man sieht eine widerstrebende Sappho, die in abwehrender Gestik ihres gesamten Körpers, ihrer übergroßen Hand, ihrer sich aufstemmenden Beine und Füße, dargestellt ist. Ihre groben Gesichtszüge, v. a. die dicke gebogene Nase, stechen besonders hervor und weisen sie – ähnlich der Serie der Bas-bleus – als gelehrtes Frauenzimmer aus. Sie soll, von einem Amor-Knaben mit besonders bösartigen Gesichtszügen gestoßen und gedrängt, von einem Felsen springen, so wie es ihre Rolle verlangt. Daumiers antike Karikaturen haben zumeist zeitgenössische Gemälde zur Vorlage 49, vor ihrem Hintergrund gewinnt die verzerrende Darstellung stärkere Kontur. Hier ist es ein Bild des romantischen Malers Antoine Jean Gros (1771–1835), der 1801 eine Sappho mit der Leier in der Hand auf dem Leukadischen Felsen gemalt hat. Daumier verabschiedet die sentimentalisierende Projektion, seine Karikatur bringt Skepsis gegenüber der Inanspruchnahme der legendarischen Form zum Ausdruck, die Sappho in eine Rolle drängt, die ihr nicht mehr zukommt und die sie selbst abwehrt. 48 Vgl. Daumier (1982) und für weitere Informationen http://www.daumier-register.org/login.
php. 49 Vgl. zu Daumiers Verfahren Full (2005), 93–111.
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Eine Daumier vergleichbare Distanzschaffung gegenüber alten Formen erzeugt auch Leopardi. Zwar unterstreicht er im direkten Kommentar zum Gedicht die Ovid-Referenz, die Elemente der Ovidschen Epistel erscheinen im Canto allerdings nur im zurückgenommenen Hinweis (z. B. wird der Felsen nicht als leukadisch identifiziert; die Liebesanrede bleibt anonym, Phaon wird also nicht genannt; der Selbstmord wird nicht als Ritual oder verzweifelter Todessprung vom Leukadischen Felsen inszeniert). Leopardi bedient sich der Bildlichkeitselemente einer individuell unglücklichen Liebessituation und ihres Ausgangs, entscheidend aber ist, dass die legendarischen Elemente auf die Redesituation der Dichterin zurückverlagert werden und eine neue, allgemeine Funktion gewinnen. Die Sappho, die bei Leopardi spricht, ist eine Dichterinnenfigur. Für diese illustrieren die legendarischen Liebeselemente nunmehr eine substantielle, nämlich allgemeine und subjektiv erfahrene condicio, die in der grundsätzlichen Trennung des Menschen bzw. des sprechenden Subjekts von den Göttern und der Natur sowie in der Entzweiung des Schönen und des Guten liegt. Sappho spricht als große Liebende, so wie sie in den wenigen Fragmenten auch Leopardi bekannt ist, aber ihre Leidenschaft, ihr furor, gilt der sich verweigernden Natur, einer Natur, die in ihrem schönen Schein die Sprecherin nicht integriert. An ihr stellt sich das in Dichtungstheorie und philosophischer Zivilisationskritik entworfene Moderne-Antike-Konzept differenziert dar. Sappho als dichterisch Sprechende zeichnen drei Momente aus: Die Leidenschaften bleiben auf der Ebene der anschaulich werdenden Natur ohne Erwiderung; das sprechende Subjekt erfährt sich aufgrund dieser Nicht-Entsprechung als kontingent und jenseits göttlicher Transzendenz; die kathartische Reinigung besteht darin, dass sich das selbstbewusste und reflexive Subjekt, das über die bestehende Weltordnung hinaus Glückseligkeit anstrebt, als einen Irrtum in der göttlichen Schöpfung begreift und auslöscht. Die Darstellung der antiken Sappho konfrontiert den Leser mit entscheidenden Fragen, die das poetologische Konstrukt, den Antike-Moderne-Vergleich Leopardis insgesamt betreffen: Wie ist die Rückprojektion einer als modern zu erkennenden Situation auf die Antike zu verstehen? Soll im Kontrast die gänzliche Umkehrung einer antiken Situation deutlich werden – oder ist die Antike selbst für den modernen Blick eine immer schon entschwundene Welt?
IV. Antikisierende Sprachformen und moderne Bildlichkeit in der Saffo-Kanzone Der Ultimo canto di Saffo wurde von Leopardi im Mai 1822 verfasst, er besteht aus vier Strophen mit jeweils 18 Versen. Versform ist der reimlose Elfsilber (endecasillabo sciolto) mit Ausnahme des jeweils vorletzten Verses, der als Siebensilber (settenario) mit dem abschließenden Vers einen Paarreim bildet. Die charakteristi-
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schen Versformen der italienischen Kanzonenstrophe sind folglich aufgenommen, in ihrer Verteilung aber liegt eine metrisch-stilistische Extravaganz des Canto, die überdies die geschlossene Form der Strophen, nicht aber ihre innere Verbindung untereinander akzentuiert. Der Ultimo canto steht in den späten Editionen an neunter Stelle der Canti, ihm voraus gehen zwei Kanzonen, Alla Primavera o delle favole antiche (1822) und der Inno ai Patriarchi o de’ principii del genere umano (1822), in denen sich die Antike auf einen idealen und mythischen Raum reduziert, der in historischen Begriffen nicht zu fassen und einzuordnen ist 50. Die Selbstmordthematik verbindet den Canto mit dem ebenfalls vorausgehenden Gedicht Brutto minore, dem Cäsarmörder, verwandelt aber die Motive der militärischen Unterlegenheit und der Niederlage der Tugenden in eine blasphemische Anklage der Götter. Im Ultimo canto tritt zum ersten Mal ein lyrisches Ich auf, das in den folgenden Gedichten nicht als Sprecher-Ich personalisiert ist. Die Formensprache zeichnet sich durch einen starken lexikalischen Rückgriff auf latinisierende und archaische Sprachelemente, auch Sizilianismen, aus, die allesamt zum hohen Stil gehören. Die Syntax gehorcht nicht der fließenden Satzstellung, sondern ist stark anakoluthisch. Die geschlossene Wortstellung ist dem Lateinischen nachgebildet; es entstehen Sätze, deren Anfangs- und Endelement sich aufeinander beziehen und spannungsvolle und zugleich in sich geschlossene Perioden bilden (»oh dilettose e care / Mentre ignote mi fur l’erinni e il fato, / Sembianze agli occhi miei«, v. 4–6). Die abgekürzte, stark elliptische und deshalb eher schwer zu verstehende Ausdrucksweise entspricht dem pathetisch hämmernden, sublimen Stilniveau. In einer vielschichtigen, teilweise fremdartigen Bildlichkeit stellen sich zunächst referentielle Bezüge zur antiken Dichtung, vornehmlich zu Horaz und Vergil, aber auch zur Dichtung Sapphos selbst her. Der Horizont der alten Göttervorstellungen ist durch »Giove« (v. 12, 64), die »numi« (v. 22), die »parca« (v. 43), die Rachegöttinnen (»l’erinni«, v. 5) und die Unterweltsgöttin (»la tenaria Diva«, v. 70) intensiv belegt. Sie zeigen das lyrische Subjekt vor den göttlichen Entscheidungsmächten, denen es unterlegen ist. Die genannten lexikalischen, syntaktischen und semantischen Elemente unterstreichen den Rückbezug zur lateinischen Dichtung, wenngleich, wie zu zeigen sein wird, die Bildlichkeit – dazu gegenstrebig – auch moderne Konzepte aufnimmt. Der lyrische Monolog hebt an mit den Bildern des nächtlichen Mondes und dem Aufgehen des Morgensterns über dem Felsen. Von Beginn an spricht Saffo 51 in deiktischen Verweisen, die Apostrophen weisen sie als Sprecherin erst in Vers 4 explizit aus. Ohne narrativen Rahmen setzt die lyrische Rede mit ihrer Anrede an die »Placida notte« ein: 50 Rigoni (1985), 13. 51 Mit direktem Bezug auf die Kanzone Leopardis nehme ich in der folgenden Interpretation
die italienische Namensform auf.
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Sapphos letzter Gesang 52
Ultimo canto di Saffo I 1 2
Placida notte, e verecondo raggio Della cadente luna; e tu che spunti
3
Fra la tacita selva in su la rupe,
4 5
Nunzio del giorno; oh dilettose e care Mentre ignote mi fur l’erinni e il fato,
6
Sembianze agli occhi miei; già non arride
7
Spettacol molle ai disperati affetti.
Noi l’insueto allor gaudio ravviva 9 Quando per l’etra liquido si volve 10 E per li campi trepidanti il flutto 11 Polveroso de’ Noti, e quando il carro, 8
12
Grave carro di Giove a noi sul capo,
13 14 15
Tonando, il tenebroso aere divide. Noi per le balze e le profonde valli Natar giova tra’ nembi, e noi la vasta
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Fuga de’ greggi sbigottiti, o d’alto
17 18
Fiume alla dubbia sponda Il suono e la vittrice ira dell’onda.
Ruhevolle Nacht und reiner Strahl des sinkenden Mondes; und du, der du aufsteigst inmitten des schweigenden Waldes über dem Felsen, Bote des Tages; o ihr, teuer und lieb mir, solange mir unbekannt Erinnyen und Schicksal waren, ihr Bilder vor meinen Augen; nicht mehr lächelt sanftes Schauspiel den verzweifelten Leidenschaften. Uns belebt dann ungewohnte Freude, wenn durch den klar fließenden Äther und durch die erbebenden Gefilde sich wälzt die stäubende Woge des Südwinds und wenn der Wagen, uns der mächtige Wagen des Zeus über dem Haupte, Donnernd, die finstere Luft zerteilt. Uns gefällt, über steile Hänge und tiefe Täler zwischen Wolken zu schwimmen, uns die weite Flucht der verschreckten Herden oder des hohen Flusses mit ungewissem Ufer Ton und die siegreiche Wut der Welle.
Es bleibt zu Beginn des Gedichts für den Leser zunächst ungewiss, in welcher Zeit und in welchem Raum die Ich-Rede anzusiedeln ist. Zwar ist auf den Felsen (»su la rupe«, v. 3) angespielt, aber die direkte Ortsbenennung »leukadisch« unterbleibt. Die täuschende Überblendung zwischen Einst und Jetzt, zwischen in die Antike versetzter Szene und moderner Sprecherposition wird durch das Thema der Mondlandschaft unterstrichen, die ein Motiv sowohl der sapphischen als auch der leopardischen Mondapostrophen, z. B. in La Sera del dì di festa oder Alla Luna ist. In wiederkehrend antithetischer Gestaltung sind in den genannten Gedichten die schönen und leuchtenden Mondbilder der schmerzvollen Innenansicht der lyrischen Ichrede verbunden, die zumeist Verzweiflung, Einsamkeit, Zeitverlust, Desillusion thematisiert. Hier aber präsentiert sich Saffo in dieser Zerissenheit. Sie 52 Leopardi (1987), I 40–42; dt. (mit Veränderungen von K.W.) nach Leopardi (1990), 74–78.
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rückt mittels ihrer Rede in eine Wiederholungsstruktur ein, die sie zur Maske, zur persona, des lyrischen Ich der anderen Gedichte macht. Die einst schönen und entzückenden Erscheinungsbilder der Natur zeichnen sich durch Ruhe und unberührte Reinheit aus. Für die Protagonistin sind sie durch die Erfahrung des eigenen Schicksals entzaubert. Der Grund für die Entzauberung wird nur verallgemeinernd mit den mythologischen Instanzen Erinnyen und Fatum angegeben; ebenso wenig sind die »verzweifelten Leidenschaften« (v. 7), denen das entzückende und teure Schauspiel fern gerückt ist, personalisiert, das Possessivpronomen ist also ausgespart. Große Freude, »gaudio« (v. 8), wie sie das alte Wort der Dichtungssprache benennt, taucht nur in der Ausnahmesituation der Gewitterlandschaft auf. Aber auch diese gehört der Vergangenheit an. Dann sind Luft und Felder durch die Winde in die fließende und umstürzende Bewegung des »flutto« (v. 10) versetzt; der Donnergott Jupiter mit seinem Wagen zerschneidet – Leopardi übernimmt hier variierend ein mythologisches Vorstellungsbild des Horaz 53 – die schwarze Luft, das Himmelsdunkel ist mithin durch Blitze zerfurcht. Nicht mehr in die idyllische Landschaft, sondern nur noch in den locus terribilis, in die sublime Landschaft des Aufruhrs, vermag sich die Sprechende ekstatisch und in der Pluralform »noi« (v. 8, 14, 15) zu integrieren: Für Saffo, die sich der Bewegung des Windes hingibt, werden steile Hänge und tiefe Täler zu Meereswogen, zu Wellenbergen und -tälern, die die Sprechende durchschwimmt; der Anblick der ausbrechenden Herden gefällt ihr im Moment des Schreckens (»greggi sbigottiti«, v. 16) und der weiten fliehenden Bewegung (»vasta / Fuga«, v. 15–16), ebenso wird sie vom Dröhnen der Wellen des reißenden Stromes wieder zum Leben erweckt. Die zweite Strophe setzt wiederum mit der Evokation und erneuten Affirmation von Schönheit ein, die nunmehr in der »[i]nfinita beltà« (v. 21) göttlichen Himmel und taubenetzte Erde umfasst. II 19
Bello il tuo manto, o divo cielo, e bella
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Sei tu, rorida terra. Ahi di cotesta Infinita beltà parte nessuna
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Alla misera Saffo i numi e l’empia Sorte non fenno. A’ tuoi superbi regni
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Vile, o natura, e grave ospite addetta,
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E dispregiata amante, alle vezzose Tue forme il core e le pupille invano
Schön ist dein Kleid, o göttlicher Himmel, und schön bist du, taufeuchte Erde. Ach, an dieser unendlichen Schönheit gaben der unseligen Sappho die Schicksalsmächte und das gottlose Geschick keinen Anteil. Deinen stolzen Reichen schändlicher, oh Natur, und traurig zugewiesener Gast und verschmähte Liebende, deinen schönen Formen wende ich Herz und Pupillen
53 Die Kommentare verweisen auf Horaz, carm. 1, 34, 5–9, und 1, 12, 58.
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Supplichevole intendo. A me non ride L’aprico margo, e dall’eterea porta
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Il mattutino albor; me non il canto De’ colorati augelli, e non de’ faggi
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Il murmure saluta: e dove all’ombra Degl’inchinati salici dispiega Candido rivo il puro seno, al mio Lubrico piè le flessuose linfe Disdegnando sottragge, E preme in fuga l’odorate spiagge.
flehentlich bittend zu. Mir lächelt nicht der frühlingshelle Saum, und von der luftigen Pforte die morgendliche Helle; mich begrüßt nicht der Gesang der farbigen Vögel, nicht der Buchen leises Murmeln: und wo im Schatten der gebeugten Weiden der keusche Bach den reinen Schoß ausdehnt, da entzieht er meinem gleitenden Fuß das geschmeidige Nass voller Verachtung und drängt im Entfliehen die duftenden Ufer.
Aus der unendlichen Schönheit von Himmel und Erde ist die Sprechende ausgeschlossen, die göttlichen Mächte (»i numi«, v. 22) und das unfromme, gottlose Schicksal (»l’empia / Sorte«, v. 22–23) haben Saffo daran keinen Anteil gegeben. Sie fällt aus der Ordnung der Natur sowohl als unwürdiger Gast als auch als verschmähte Geliebte heraus (»vile […] e grave ospite addetta«, »dispregiata amante«, v. 24–25). Hier verhält es sich aber nun so, dass die Zurückweisung nicht die unerwiderte Liebe des Phaon meint, vielmehr spricht Saffo grundsätzlicher als unerwidert Liebende der schönen Natur. Herz und Auge richtet sie flehentlich auf die »schönen Formen« (v. 25–26) der Natur; in einer langen Aufzählung (v. 27–36) vergegenwärtigen konkrete Vorstellungsbilder ihren Ausschluss aus der Natur. In der jeweils wiederholten Negation (»non«, v. 27, 29, 30) und im nunmehr anaphorisch unterstrichenen Ichbezug (»A me«, v. 27, »me non«, v. 29, »al mio«, 33), der dem mit der aufgewühlten Natur vereinenden »noi« (v. 14, 15) zu Beginn und dem mit allgemein menschlicher condicio verbindenden »nostra età« (v. 66) am Ende gegenübersteht, ist das Glücksversprechen der Natur neu erinnert und zugleich als untauglich distanziert54. Die aufgezählten Bildelemente sind solche des kanonischen Frühlingseingangs, d.h. des Erwachens der Natur, die den Menschen beim Eintritt in die Welt begrüßt und die der Dichter besingt. Saffo vergegenwärtigt und benennt folglich potentielle Möglichkeiten der Integration in die Natur, an denen sie aber nicht teilhat. Gerade die physische Annäherung an die wiederum als rein und keusch vorgestellte, anthropomorphisierte Schönheit der Natur, so ist in Vers 33 die Rede vom »candido rivo« und dem »puro seno«, misslingt. Integration und Genuss sind verwehrt55. Nähert sich Saffos Fuß dem flüssigen Element, flieht es in jenem Schein, der sinnliches Glück versprach (»E preme in fuga l’odorate spiagge«, v. 36). Wie für das moderne Bewusstsein ist für die von Leopardi inszenierte SaffoFigur der unmittelbare Zugang zur Natur, und d. h. der schöne Schein, gebrochen. 54 Zur Opposition von »io« und »noi« vgl. auch Blasucci (1989), 78ff. 55 Vgl. zu den weiblichen Elementen der Evokation Blasucci (1989), 86f.
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Die evozierte Keuschheit und in anthropomorphen Qualitäten beschworene Reinheit der schönen Natur (»verecondo raggio della cadente luna«, v. 1–2, »candido rivo«, v. 33, »il puro seno«, v. 33) vergegenwärtigen das hohe Ideal einer Seinsweise, an der die leopardianische Saffo Anteil zu erlangen sucht; die Flucht des Schönen bei der Annäherung verdeutlicht die Ferne des sich entziehenden Scheins. Entzauberung und Ausgegrenztheit markieren die Position einer einsamen, in ihren Leidenschaften unerfüllten Sprecherin56. In der dritten Strophe versucht Saffo, die Gründe ihres Ausgegrenztseins zu begreifen. Worin liegt ihre tragische Schuld? Die Selbstbefragung macht klar, dass Leopardis Saffo sich von jeder subjektiven Schuld frei sieht und sich dem unerklärbaren Fatum unterstellt. In bitterer Ironie bezichtigt sich die Sprecherin, unvorsichtige und frevelhafte Worte den Göttern gegenüber zu gebrauchen (»Incaute voci / Spande il tuo labbro«, v. 45). Ironisch ist ihre Rede, weil Saffo bereits die göttliche Willkürherrschaft festgestellt hat und weiß, dass es kein gerechtes Verhältnis von Fehler und Strafe gibt. Die menschliche Revolte erscheint ihr bereits sinnlos, sie weiß mithin, dass ihre Rede ins Leere läuft. Dem allgemeinen Glauben, dem beschwichtigenden Erklärungsmodell des göttlichen Ratschlusses (die Götter leiten im Arkanen menschliches Geschick, »i destinati eventi move arcano consiglio«, v. 45–46), hält Saffo entgegen, dass dem Menschen nur Eines gänzlich einsichtig ist: »il nostro dolor« (v. 47). Sie klagt hier nicht nur über ihr individuelles Schicksal, sondern ihr Scheitern steht im Rang des AllgemeinMenschlichen. III 37
Qual fallo mai, qual sì nefando eccesso
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Macchiommi anzi il natale, onde sì torvo
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Il ciel mi fosse e di fortuna il volto? In che peccai bambina, allor che ignara Di misfatto è la vita, onde poi scemo
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Di giovanezza, e disfiorato, al fuso Dell’indomita Parca si volvesse Il ferrigno mio stame? Incaute voci Spande il tuo labbro: i destinati eventi
Welches Vergehen denn, welch derart verruchtes Verbrechen besudelte mich vor meiner Geburt, dass so finster Mir Himmel und Fortuna ihr Antlitz zeigten? Worin sündigte ich in Kindheit, wo Untat dem Leben noch unbekannt ist, dass dann um die Jugend verkürzt, und verblüht, um die Spindel der unerbittlichen Parze sich mein eherner Faden spann? Unbedachte Töne verbreitet dein Mund: Vorbestimmtes Geschehen
56 Traditionell wird folgender Passus aus dem Zibaldone (1991), I 459 [§ 718], vom 5. März
1821, herangezogen, um die Rolle Saffos im Zusammenhang der Naturentfremdung zu situieren: »L’uomo d’immaginazione di sentimento e di entusiasmo, privo della bellezza del corpo, è verso la natura appresso a poco quello ch’è verso l’amata un amante ardentissimo e sincerissimo, non corrisposto nell’amore«.
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Move arcano consiglio. Arcano è tutto, Fuor che il nostro dolor. Negletta prole Nascemmo al pianto, e la ragione in grembo De’ celesti si posa. Oh cure, oh speme
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De’ più verd’anni! Alle sembianze il Padre, Alle amene sembianze eterno regno
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Diè nelle genti; e per virili imprese, Per dotta lira o canto, Virtù non luce in disadorno ammanto.
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leitet dunkler Ratschluss. Dunkel ist alles, außer unserem Schmerz. Ein vernachlässigtes Geschlecht, zum Weinen geboren, und im Schoß der Himmlischen ruht alle Erklärung. O Sorgen und Hoffen der blühenden Jahre! Den Bildern, schenkte Gottvater, den anmutigen Bildern ewige Herrschaft unter den Völkern, und für mannhafte Taten, für gelehrte Leier oder Lied glänzt Tugend nicht im schmucklosen Kleid.
Die Strophe schließt mit der Wiederaufnahme der Scheinproblematik vom Gedichtanfang. Hier ist sowohl das Wort »sembianze« (v. 50, 51) als auch die epanaleptische Rhetorik erneut aufgenommen: Der zu Anfang über das Naturgeschehen bestimmende kosmologische Gott (»il carro, / Grave carro di Giove« [v. 11–12]) ist nun der über die Abbilder verfügende Gottvater: »Alle sembianze, il Padre, / alle amene sembianze eterno regno / diè« (v. 50–51). Während das Vorstellungsbild zu Beginn des Gedichtes den paganen Gott Jupiter repräsentiert, mit dem, verstärkt durch den Horazbezug des wagenfahrenden Diespiter, antike Welterklärungsmodelle aufgerufen sind, beziehen sich die Anrede »il Padre«, die Vorstellung des »eterno regno« (v. 51) und vor allem die Scheinproblematik (»amene sembianze«, v. 51) auf christliche Konzepte der Weltdeutung, die zugleich überschritten werden. Während in christlicher Vorstellung die eitle Scheinhaftigkeit, die vanitas der Welt in der göttlichen Ewigkeit transzendiert wird, ist den »sembianze« hier von einem Gott, der außerhalb ihrer und jenseits der Ewigkeit steht, »eterno regno« verliehen. Die Entleerung der Welt geht folglich über christliche Auffassung hinaus, da sie – in der Redeweise Saffos – in aller Ewigkeit unerlöst bleibt. Ebenso wie die Leidensbestimmung des Menschen (»Nascemmo al pianto«, v. 48), von der bereits Rüdiger als »Zug der Leidensseligkeit, der der Griechin weniger ansteht als der Christin« spricht57, zeigt die Scheinproblematik in ihrer stilistischen Parallele zum Kanzonenanfang, dass Saffo nunmehr in einem gänzlich anderen Zeithorizont zu situieren ist. Wenn sie in affektiver Nähe gerade jenen, ihr nicht gewogenen Gott als »il Padre« apostrophiert, der die Welt derart eingerichtet hat, dass Tugend und gelehrte Lyrik ohne den schönen Schein wertlos bleiben und damit Saffo selbst in der schönen Erscheinungsqualität der Natur keinen Platz eingeräumt hat, ist ihre Rede im höchsten Maß scheinhaft, weil ironisch gebrochen. Jene Infragestellung, die Saffo hier vornimmt, ist gemäß Leopardis theoretischen Aussagen dem 57 Rüdiger (1933), 115.
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antiken Menschen fremd. Der Rückbezug zu Ovids Sappho und der Bruch mit ihrer Darstellung sind hier besonders deutlich: Auch Leopardis Frauenfigur ist eine Verkörperung des »disadorno ammanto« (v. 54), denn obgleich in ihr die edle Seele (der »dotta lira o canto«, v. 53) wohnt, strahlt diese Schönheit nicht in ihren Körper. Wiederum verhält es sich so, dass der Einzelfall zu einem allgemeinen Erklärungsmodell von Welt transformiert ist und keinesfalls eine individuelle Ausnahme bildet. Aus der Erkenntnisdarlegung folgt in der vierten Strophe der Todesgedanke: IV 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72
Morremo. Il velo indegno a terra sparto,
Sterben wir. Die unwürdige Hülle auf der Erde ausgebreitet, Rifuggirà l’ignudo animo a Dite, wird nackt ins Reich des Dis fliehen die Seele. E il crudo fallo emenderà del cieco Und auslöschen wird sie den grausamen Fehlgriff Dispensator de’ casi. E tu cui lungo des Himmels, der blind die Lose verteilt. Und du, Amore indarno, e lunga fede, e vano an den lange, vergebliche Liebe, lange Treue und leerer D’implacato desio furor mi strinse, Furor des ungestillten Verlangens mich fesselten, Vivi felice, se felice in terra lebe glückselig, wenn glückselig auf Erden Visse nato mortal. Me non asperse je ein Sterblicher lebte. Mich benetzte nicht Del soave licor del doglio avaro mit süßem Nektar aus geizigem Kruge Giove, poi che perìr gl’inganni e il sogno Zeus, da die trügerischen Bilder und die Träume Della mia fanciullezza. Ogni più lieto meiner Kindheit untergingen. Jeder frohere Giorno di nostra età primo s’invola. Tag unseres Lebens verfliegt zuerst. Sottentra il morbo, e la vecchiezza, e Vordrängen sich Krankheit und Alter l’ombra und der Della gelida morte. Ecco di tante Schatten des eisigen Todes. Siehe, von so viel Sperate palme e dilettosi errori, erhofften Palmenzweigen und entzückenden Irrtümern Il Tartaro m’avanza; e il prode ingegno bleibt mir der Tartarus; und dem hohen Geist Han la tenaria Diva, gebieten die unterirdische Gottheit, E l’atra notte, e la silente riva. die schwarze Nacht und die schweigenden Gestade.
Saffo zieht aus der Einsicht in die Fehlbarkeit der Götter den Entschluss, zu sterben. Die stilistische Formel »Morremo« vergegenwärtigt im intertextuellen Verweis auf den Liebestod der Vergilischen Dido58 das grausame Schicksal der Königin Karthagos, die bloßes Opfer in der Intrige der Götter und für Aeneas’ 58 Vgl. zum intertextuellen Bezug zu Vergil und zum elegischen Ton der Kanzone: La Penna
(1980), v.a. 172–175.
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Gründungstat ohne Bedeutung ist. Ebenso wie Dido hat Saffo keinen Platz in der Ordnung der Götter, mit dem Unterschied, dass in der Saffo-Figur das partikular Weibliche zum Allgemein-Menschlichen hin überschritten wird. Mit ihrem Tod legt Saffo die körperlich unwürdige Hülle ab, so dass der nackte Geist in die Unterwelt fahren kann; damit ist der Fehlgriff des Schicksals, die falsche Verteilung des schönen Scheins – ähnlich der Emendation eines schriftlichen Textes (»emenderà«, v. 57) – gelöscht. Erst am Ende des Gedichtes richtet sich Saffo erneut an ein »tu«, erstmals nun an den namentlich nicht genannten Phaon. Die Affektbestimmtheit der Saffo ist wiederum stilistisch in der Wendung vom »vano / D’implacato desio furor« (v. 59–60) unterstrichen. Hier ist die menschliche Liebessituation und ihre Nichterfüllung ein Spiegel jener Saffo der »disperati affetti« (v. 7), die von der Natur als Liebende nicht erhört wird. Der Liebesfuror verwandelt sich durch das Epitheton »vano« in eine negative energetische Größe, die in ihrer Potenz gerade durch das unbezähmbare Begehren (»D’implacato desio«, v. 60) weiter gesteigert wird. Der Abschied von Phaon strebt keine Versöhnung an; er möge glückselig leben, so heißt es, wenn es denn den Sterblichen möglich ist, glücklich auf Erden zu sein. Auch hier ist wiederum die besondere Lebenssituation nur ein Spiegel des Allgemeinen. Von allen Versprechungen und Erwartungen, die Saffo einst hegte, bleibt ihr nur der Gang in die Unterwelt, der als Vollendung aller irdischen Wünsche ausgegeben wird. Im bildlichen Spiegelbezug von Ende und Anfang – die »atra notte« (v. 72) antwortet der am Auftakt stehenden »[p]lacida notte« (v. 1) – endet der Canto in einer zyklischen Form. Thematisch-bildlich ist die Idyllensituation des Beginns im Jetzt des Todes aufgehoben. Im Durchgang durch das Gedicht ist der Schein enthüllt. Folgende Ergebnisse lassen sich abschließend für das Verhältnis von Antike und Moderne sowie die Selbstdefinition des Sprechersujekts festhalten. Während die Fülle der mythologischen Anspielungen auf Vorstellungsbilder der Antike zurückverweist und selbst die syntaktischen Satzgefüge lateinische Bauprinzipien nachahmen, um damit in der Suggestion des Antikischen Distanzeffekte zum zeitgenössischen Kontext aufzubauen, zeigen andere Verfahren die rezeptionsgeschichtliche Synthese und damit die Konstruktion einer fiktionalen Frauenfigur klar an, die gerade nicht intendiert, die Antike zu romantisieren. Zu diesen dichterischen Mitteln zählt die überblendende Sprechsituation am Anfang des Gedichts, die zunächst offen lässt, ob die Rede aus der Gegenwart oder einer antiken Zeit erfolgt; dazu gehören auch die neue Gestaltung einer Saffo-Figur, die die griechische Autorin mit der legendarischen Sappho zu einer neuen Sprecherposition vereint, und die religionsgeschichtliche Perspektive, die sich vom antiken Götterhorizont in den christlichen verlagert. Saffo ist somit eine Projektionsfigur, die im Verlaufe des Gedichts zunehmend die moderne Situation des Menschen enthüllt, nicht aber antike Welt in ihrer Rede abbildet.
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Die Sprecherinnenposition ist im Besonderen durch die negative Größe ihrer Affekte (den »disperati affetti«, V. 7, dem »vano / D’implacato desio furor«, V. 59– 60) charakterisiert. Zum Furor gesteigert, ist der Affekt nicht nur passives Erleiden, sondern er führt die Sprecherin in einen Reflexionszusammenhang, in dem sie das Verhältnis zur Natur und zu den Göttern zu bestimmen sucht. Leopardi folgt hierin keiner legendarisch-sentimentalen Ausschmückung der Sapphogestalt, sondern der Einzelfall des Verlassenseins wird lediglich ein Exemplum für eine allgemeine Situation des Menschen. Gegenüber dem für die Selbstbefragung in der literarischen Tradition wirkmächtigen Modell des Sündenbekenntnisses und seiner Schulderkenntnis behauptet sich Saffo von jeder Verfehlung gegenüber den Göttern frei. Sie überschreitet damit im Horizont des Antiken eine für christliche Weltanschauung auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch verbindliche Sichtweise. Leopardi eröffnet auch hierin eine moderne Sichtweise, die die Freistellung der Gesellschaft und des Subjekts von metaphysischen Vorgaben antizipiert und differente Erklärungsmodelle erprobt. Die Interpretation des Gedichtes zeigt, dass sich in Saffo keine antike Idealität verkörpert, wie sie Leopardi konzeptuell in der Gegenüberstellung von Antike und Moderne erfasst. Der entzauberte Blick auf die Natur, ein Verhältnis, das sich im individuellen Schicksal der Kluft zwischen hässlichem Körper und innerer schöner Seele noch einmal spiegelt, erscheint als allgemeiner Fall einer von den Göttern nicht begünstigten Menschheit, denn in der göttlichen Schöpfung sind das Gute und der schöne Schein voneinander getrennt. Wie für das moderne Bewusstsein ist für die inszenierte Saffo-Figur der unmittelbare Zugang zur Natur, und d. h. der schöne Schein, gebrochen. In dieser Anschauung von Welt liegt aber, wie man auch in den einschlägigen Stellen des Zibaldone nachlesen kann, die Signatur des modernen Bewusstseins. Bibliographie Primärliteratur Boccaccio, Giovanni, De claris mulieribus. Die großen Frauen, Lat.-Dt., hrsg. von Irene Erfen/Peter Schmitt, Stuttgart 1995. Daumier, Honoré, Antike Geschichte, übersetzt und hrsg. von Wolfgang Drost/Karl Riha, Frankfurt am Main 1982. Leopardi, Giacomo, Canti, hrsg. von Francesco Moroncini, Bologna 1978. Id., Canti e Frammenti. Gesänge und Fragmente. Ital.-Dt., übersetzt von Helmut Endrulat, hrsg. von id./Gero Alfred Schwab, Stuttgart 1990. Id., Discorso di un Italiano intorno alla poesia romantica, hrsg. von Rosita Copioli, Mailand 1998 (Rede eines Italieners über die romantische Poesie. Discorso di un italiano intorno alla poesia romantica, übersetzt und eingeleitet von Franca Janowski, Tübingen 1991).
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Sektion 4 Selbsterkenntnis und Selbstsorge in philosophischer Literatur
Fragen der Selbsterkenntnis, Selbstverantwortlichkeit, der Gesellschafts- und Gottbezüglichkeit sowie des Leib-Seele-Dualismus sind auch im Rahmen der in den drei vorangegangenen Sektionen versammelten Beiträge immer wieder zur Sprache gekommen: Vor allem in der zweiten und dritten Sektion wurden nicht nur anthropologische Bedingungen, sondern auch christliche Implikationen des Selbst-Verhältnisses diskutiert. Die Probleme, die beobachtet worden sind, hängen ursächlich mit den Entfaltungsmöglichkeiten des einzelnen in der Gemeinschaft zusammen; sie sollen im folgenden und letzten Kapitel auf eine spezifisch philosophische resp. theologische Grundlage gestellt werden. Begriffliche Ausdifferenzierungen werden auch aus philosophiehistorischer Perspektive vorgenommen, vor allem moderne Konzepte werden – auch terminologisch – auf ihre Antiketauglichkeit überprüft – und umgekehrt. Arbogast Schmitt (Marburg) gründet seinen Beitrag »Subjectivity as Presupposition Individuality: On the Conception of Subjectivity in Classical Greek« auf eine kritische Revision der Burckhardtschen Idee von der »Entdeckung des Individuums in der Renaissance«. An die Stelle einer solchen »Entdeckung« – ob sie nun für die Renaissance oder für die Romantik proklamiert wird – setzt Schmitt die Umprägung des Konzepts von Individualität. Die Differenz zwischen antiker und moderner Individualitätsvorstellung (insoweit diese wenigstens die Idee eines autonomen Subjekts verabschiedet hat) sei ehestens im Verhältnis vom Individuellen zum Allgemeinen zu finden: Um dieses zu klären, unterscheidet Schmitt auf der Grundlage der aristotelischen Analysen homerischer Charaktere zunächst zwischen dem »Allgemeinen« und dem »Typischen«. Im Gegensatz zum Typischen werde das Allgemeine »in der Dimension subjektiver Individualität selbst« betrachtet; es beschreibe eine Kombination von allgemeinen Verhaltenstendenzen des Menschen und je einzelnen, konkreten Handlungen. Von dieser handlungstheoretischen Dimension führt der Weg direkt zum Verhältnis von Subjektivität und Individualität am Beispiel der platonisch-aristotelischen energeia. Das »Allgemeine« verweist auf die Existenz eines selbständigen, rational verfügbaren Prinzips;
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Sektion 4: Selbsterkenntnis und Selbstsorge
Subjektivität bezeichnet die Potenz, die dem einzelnen Menschen konkret »in für ihn charakteristischen Formen« (»optimal« im Sinne seiner Tugend/Bestheit) zur Verfügung steht und die er verwirklichen muss (kraft seines Unterscheidungsvermögens): So »wird aus einer allen gleich zu Gebote stehenden Subjektivität Individualität«. Auch die Selbstidentität bleibe dabei gewahrt, insoweit Platon und Aristoteles bei allen internen Differenzierungen an der Einheit und Selbstbestimmtheit der Person festgehalten hätten. Nach den »spezifischen Vermögen oder Leistungen der Seele«, die die »Personalität eines Menschen ausmachen«, fragt auch Christian Pietsch (Münster) in seinem Beitrag »›Im Blick auf Gott erkennen wir uns selbst.‹ Zu Platons Verständnis von Personalität im Alcibiades maior«. Hier tritt das Verhältnis von Person(alität)-Individuum-Selbst in den Blickpunkt. Anhand des für platonisch befundenen Alcibiades maior untersucht Pietsch die Rolle des Einzelnen in der Gemeinschaft, gründe doch epimeleia immer auch auf der Erkenntnis des eigenen Ortes im ›System‹. Als spezifischer Bestandteil des »Personsein[s]« umfasst Selbsterkenntnis hier nicht die »Summe des Erlebten«, nicht das »Ich-Bewußtsein«, sondern ein »bestimmtes Verhältnis« der »verschiedenen rationalen und nicht-rationalen Aspekte der menschlichen Seele« zueinander« – dies steht im Einklang mit Schmitts Beobachtungen zur energeia. Pietsch differenziert zwischen verschiedenen Wirklichkeitsebenen, entsprechend dem »mehrschichtigen« Selbstbegriff Platons, der von einer Hierarchie zwischen Seele, Körper und Intellekt ausgeht; vom Körper elementar verschieden, figuriere die Seele als Selbst und der »Intellekt als Selbst der Seele«. Die Seele bedarf der Spiegelung, um sich selbst sehen und erkennen zu können. In Form der Anamnesis muss sich das wahre Selbst sukzessive (wieder) enthüllen. Für die intelligiblen Ideen ergibt sich indes höchste Individualität, insoweit sie denkbar spezifisch hinsichtlich ihrer Bestimmungsmerkmale sind. Der Weg zu diesen Ideen führt bekanntlich nach oben, und so wird der Mensch denn auch um so ›persönlicher‹, je höher er steigt. Die Voraussetzung bildet die unhintergehbare theologische Anerkenntnis Gottes »als höchste[r] Form von ›Selbst‹ und als Ziel des Menschen«. Einen differenzierten Blick auf die Frage nach der Applizierbarkeit moderner Subjektvorstellungen auf antike Selbstbilder wirft Christopher Gill (Exeter) in seinem Aufsatz »The Self and Hellenistic-Roman Philosophical Therapy«. Gill warnt vor allem davor, antike Begriffe von Selbst und Personalität im modernen Sinne mit Subjektivität und Individualität aufzuladen: Die antike Bewusstseinsphilosophie äußere sich eher in objektiver Terminologie als in ›Ich‹-zentriertem Selbstbewusstsein oder Subjektivität; leitender Maßstab für Selbstkonstruktion und Selbstbewertung sei der Grad der Partizipation an der Gemeinschaft. Gill arbeitet eine »subjektiv-individualistische« Perspektive (Moderne) gegen eine Perspektive »objektiver Teilhabe« (Antike) heraus; letztere finde sich indes auch in moderner Bewusstseinsphilosophie, Epistemologie und Ethik wieder. Zwei Verfahrenswei-
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sen stellt Gill in den Mittelpunkt seiner Untersuchung antiker Selbstverhältnisse: die Introspektion und die Selbsttherapie. Auf dem (Text)Prüfstand stehen vor allem Epiktets Diatriben (resp. Ciceros Referenzen darauf und auf die persona-Theorie des Panaitios) als Beispiel für den nach innen gewandten Blick. Die therapeutische Funktion der Philosophie führen Stoiker wie auch Epikureer auf die menschliche Fähigkeit zurück, sozialisationsbedingte Fehler zu erkennen und zu korrigieren. In dieser auf Prinzipien wie Selbstkritik und Revisionsbereitschaft aufruhenden Leistung sieht Gill allerdings kaum ein Indiz für eine modernetaugliche Subjektivitätskonzeption, sondern für die starke Gewichtung überindividueller, objektiver medizinisch-ethischer Aspekte. Zu ähnlichen Schlüssen führt ihn sein letztes Textbeispiel, die (therapeutisch motivierte) Bekämpfung der Todesangst in Lukrezens De rerum natura: Der im Lehrgedicht formulierte Aufruf zu verstärkter Selbstwahrnehmung offenbare keine Zunahme an Subjektivität, sondern akzentuiere die atomistische Beschaffenheit des Menschen und seine prinzipielle Austauschbarkeit, mithin Bedeutungslosigkeit, mit dem konkreten Ziel der Reduktion der Angst. Die stoische Selbstwahrnehmung und ihre ›selbst‹relativierende Funktion im Hinblick auf das große Ganze gründet auf das Prinzip der oikeiosis; von dieser nimmt Klaus Müller (Münster) seinen Ausgang in dem Beitrag »Selbsterhaltung. Ein stoisches Korrektiv spätmoderner Kritik am modernen Subjektgedanken«. Müller zeichnet eine komplexe Skizze der historischen Entwicklung von antiker hin zu christlicher und moderner Selbsterhaltung; gleichzeitig liefert er einen kompakten Überblick über neuere Theoriegeschichte zum (gescheiterten) Subjekt und den damit verbundenen Herrschaftsdiskursen. Die Größen ›Selbstverhältnis‹ und ›Selbsterhaltung‹ gehörten auch in der Antike untrennbar zusammen; während in der Stoa die Fähigkeit zur Selbsterhaltung als »Mitgift der Natur« betrachtet worden sei, wisse sich das christlich(-›moderne‹) Subjekt in dieser Hinsicht dem »Schöpfer« verpflichtet. In beiden Fällen orientiert sich die Selbsterhaltung an einem sie selbst übersteigenden Telos, und damit steht sie in einem markanten Gegensatz zur Moderne: Im Zeichen der Krise des Metaphysischen tritt die »radikale Selbstbeziehung« an die Stelle der Zielbeziehung. In Hobbes ›Leviathan‹ wird auch die Sozialität zur Bedingung für die Selbsterhaltung der Individuen. Daraus erwächst allmählich ein noch heute populärer Vorwurf an das Subjekt als Herrschaftsinstanz mit ›Unterwerfungsgelüsten‹, den Müller nachhaltig kritisiert; als Verantwortliche macht er Nietzsche, Heidegger sowie vor allem Émmanuel Levinas aus. Dieser habe, bedingt durch seine persönliche Biographie, mit seiner Forderung nach »radikaler Alterität« den Herrschaftsvorwurf an das Subjekt moralisch aufgeladen und so der Subjektdezentrierung in der Diskurslandschaft weiteren Vorschub geleistet. Solchen Subjektkonstruktionen mangele jedoch die Berücksichtigung des maßgeblichen »konstitutiven Zuges der Selbsterhaltung«: Müller verweist auf sein »stoisches Korrektiv«, die oikeiosis, die auf »geordneter Zueignung von Dingen an Personen« basiert; in deren – auch erkennt-
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nistheoretisch fundierter – Ermöglichung und Bewahrung der Differenz zwischen Eigenem und Fremdem sieht Müller beträchtlichen Spielraum für das essentielle ethische momentum der Selbsterhaltung.
Subjectivity as Presupposition of Individuality On the Conception of Subjectivity in Classical Greece Arbogast Schmitt (Marburg)
I. Subjectivity as Disposition and Actualisation Descartes, seen by many as founder of the modern notion of subjectivity, defines the subject as substance. The human capacity of thinking differs from all its possible thoughts, of which it can never be sure, whether they own indeed the definite being, as which they are thought. Human mind is a pure substance. Being a substance is a characteristic of human thought, because it stays itself through all possible changes; it remains constant and identical with itself. »… the human mind is not similarly composed of any accidents, but is a pure substance. For although all its accidents be changed, although, for instance, it thinks certain things, wills others, perceives others, etc., despite all this it does not emerge from these changes another mind«1. It is in this sense that human thought is a subiectum, an underlying basis for all changes which happen to it. This interpretation of subjectivity as substance has been criticized heavily, especially since Kant. The idea of a thinking I as a substance was replaced by the conviction that the I could only be understood as an ultimate acting subject (Handlungssubjekt). But even if the subject is not seen as an ultimate ›bearer‹ or vehicle of substance by Kant in this sense, he still defines it using one of the characteristics of the substance taken from Aristotle’s categories: The I is conceived as the ultimate subject, something »which cannot be predicated, and which itself is subject to all predicates« 2. It is interesting to see that Aristotle reflects upon this conception of subjectivity in a central chapter of the seventh book of his Metaphysica. He also begins from 1 See Descartes, Meditationes de prima philosophia, Synopsis § 4: »mentem vero humanam
non ita ex ullis accidentibus constare, sed puram esse substantiam: etsi enim omnia eius accidentia mutentur, ut quod alias res intelligat, alias velit, alias sentiat, etc. non idcirco ipsa mens alia evadit«. Cf. Descartes (1996), 25f. 2 See Kant (1772/73), 10. Unless otherwise noted, all translations are by the author.
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the assumption that the subject (hypokeimenon = sub-jectum) is that »of which everything else is predicated, while it is itself not predicated of anything else« 3. But then he shows that if we conceive the subject as an invariable and identical basis to all possible modifications which can occur to it or not, we do not arrive at a sufficient determination of the subject. The subject, being vehicle of all its possible qualities or predicates, must be different from all those qualities or predicates: it has to be something invariable amidst all changes. According to Aristotle, the unchangeable cannot be thought of as having a distinct definition any more, but is most indeterminate with respect to all its determinate qualities, and most abstract. He calls it ›matter‹: either the determined matter of a particular thing, e. g. the stones of a house, or the matter of all possible things, atoms in the modern sense of the word. Anyone who finds out that the stones of a house survive its development without changes does not know anything, from this discovery, about this (particular) unique house, since the unchanged stones could just as well be elements of a church, a bridge, etc. The same is true, even more so, of atoms. Precisely when we accept that everything is a nuclear cloud, we do not gain any knowledge from this about the uniqueness of any certain thing. This is why one has to look, according to Aristotle, for the real identity of something within the eidos, i.e. that »what it is said to be propter se« (to ti en einai) 4. This eidos, in its turn, will be recognized when one recognizes the certain energeia of something, its action (work). A house, for instance, has a certain work, to protect its inhabitants against the weather, to serve for living, etc. This eidos is actualised through the single stones, and this actualisation is the individualisation of the eidos (not in the strong sense of the word, i.e. as precondition for the possibility that something general can be realized in a particular thing 5). The Aristotelian notion of individuality, however, should not be confused with the modern one: The stones as matter are not the reason for individuality as the unique form (eidos) of a house. This appearance is a result of its enérgeia, its work, to serve as accommodation, for the requirements of status, and so on. The stones effect the actualisation of this work here and now 6. Stones and timber are ›principles of individualisation‹ only in the ›material‹ sense. They offer the mere possibility to accept a certain eidos (this is why Aristotle and Plato designate the matter also hypodoché, Lat. receptaculum). Eidos is the principle of the ever singular structure into which the matter can be brought. The matter, therefore, is the ›principle of individualisation‹ according to possibility 3 4 5 6
Aristotle, Metaphysica 1028b36f. Cf. Aristotle, Metaphysica VII, 4, 1029b12 ff. Cf. Aristotle, Metaphysica VII, 8, 1034a2–8. Aristotle, Metaphysica 1043a14–18, book VIII, chapt. 2 passim; chapt. VII, chapt. 4–6 passim; and see Frede/Patzig (1996), comm. ad chapt. 4–6.
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(dynámei), the eidos, on the other hand, is the ›principle of individualisation‹ according to reality (energeía). Only the eidos is the cause of the singular and (with itself) identical essence of a particular thing. According to Aristotle, this can by analogy be applied to the human being. Wishing to know the reasons for the specific being of a certain person, one has to look at his most accomplished energeia, i.e. his thinking activities, since – according to Aristotle – noûs, the intellect, is the cause of the specific being (the Self) of a person 7. According to Aristotle, we can therefore only talk of a person as being a subject – in a way that allows conceptual determination – if we describe him as an individual, an individual in the sense of a concisely determined, self-identical and unique being. Now, if individuality, according to this, is a prerequisite of subjectivity, then subjectivity is only potentially given to humankind. Man is able to become a subject. He possesses the disposition and the potency. He is not a subject simply according to his nature. That subjectivity might turn into complete reality for a certain person, but a long process of experience and education is needed beforehand.
II. Hermeneutical Problems in Applying the Notion of Individuality to Ancient Texts Trying to find an interpretation of the notion of individuality in Aristotle and classical Greek antiquity, one faces many hermeneutical problems. For to talk about the notion of individuality in antiquity appears to be as difficult – according to a still popular idea of the difference between antiquity and the modern age – as (or even more difficult than) searching for ›proper‹ forms of subjectivity. The best one could do is to inquire after pre-forms and preparations of these notions, since individuality is not just a notion characteristic of modernity, it is the notion with which modernity defines itself as a radically new epoch in direct comparison to the Middle Ages, and in indirect comparison to antiquity. Jacob Burckhardt, for instance, expresses this self-image of the Modern Age, as follows: In the Middle Ages, both sides of human consciousness – that which was turned within as that which was turned without – lay dreaming, or half awake beneath a common veil. The veil was woven of faith, illusion, and childish prepossession, through which the world and history were seen clad in strange hues. Man was conscious of himself only as a member of a race, people, party, corporation, family – only through some general category. In Italy this veil first melted into air; an objective treatment and consideration of the State and of all the things of this world became possible. The subjective side 7 Aristotle, Nicomachean Ethics, 1168b34f.
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at the same time asserted itself with corresponding emphasis, man became a spiritual individual, recognized himself as such 8.
When Jacob Burckhardt wrote Die Kultur der Renaissance in Italien, the idea of the Renaissance discovery of the individual already was common knowledge among experts. Burckhardt rephrases the idea, reworking it with a lot of historical facts and concise formulations. It was to gain so much influence, not least through Burckhardt’s reputation, that it has been repeated time and again up to the latest publications, though more recent research 9 has demonstrated on the basis of an enormous amount of material that the conception of history which is required for this idea can be shown to be an untenable cliché 10. The pattern is always the same: the Middle Ages are described as a time of belief in authorities in which everyone is tied down by general rules and orders, whereas modernity is seen as a time when one delivers oneself from those ties, in a revolutionary turn towards oneself, and finds in this way a new, reflexive relationship to oneself and to a world of actual particular things surrounding oneself. The obstinacy with which the idea that modernity is the epoch in which humankind liberates itself towards itself and towards the world (sc. of particular things) persists throughout all times and arguments, is, on the one hand, not only astonishing for an expert who knows about the many counterarguments, but also, on the other, barely to be reconciled with the common and generally approved judgements about the particular problems of modernity. It is, in fact, not only Foucault’s discourse analysis or Derrida’s deconstructionism which would teach us that modernity has not at all succeeded in freeing the human being from general discourses – by which it is, so to speak, dragged along – towards an individual subjectivity. In his Dialektik der Aufklärung, Adorno and Horkheimer already claimed in 1944, by theoretical analysis as well as on the basis of a large amount of empirical material from the ›new world‹, that the ›individuals‹ of modern mass culture are not individuals, but »merely centers where the 8 Burckhardt (1976), 123. 9 Cf. e.g. Haskins (1927); Gurjewitsch (1994); Aertsen/Speer (1996). 10 Gottfried Boehm (1985), 15 e.g. emphasizes particularly the fact that the recent research
regarding Burkhardt’s image of the Middle Ages as cliché (»als ein Cliché durchschaut« hat), recommends all the same to expect – notwithstanding all progress of our insights (»Fortschritts unserer Einsichten«) – that it was the Renaissance period which made the foundation of portrait and individual possible. The recent search for an individual self in the Middle Ages is also criticized emphatically by Michael Sonntag who wishes to revalidate the distinction between modernity and the Middle Ages – Michael Sonntag (1999); see also Oexle (1990), 1–22. For further publications and for a critique of the premises required for this discussion, showing more or less regard for aspects like reception and historical influence, see Schmitt (2003), 7–69.
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general tendencies meet« (»bloßer Verkehrsknotenpunkt der Tendenzen des Allgemeinen«). At the same time, they declare that the »false identity of the general and the particular« (»rückhaltlose Identität des Individuums mit dem Allgemeinen«) which emerges in the modern culture industry indicates the »fictitious character of the ›individual‹ in the bourgeois era«, (»den fiktiven Charakter« »den die Form des Individuums im bürgerlichen Zeitalter seit je aufwies«). Following Horkheimer and Adorno the »process of individuation has never really been achieved« in the modern age (ist es »zur Individuation gar nicht wirklich gekommen«).«Self-preservation in the shape of class had kept everyone at the state of a mere species being« (»Die klassenmäßige Gestalt der Selbsterhaltung hat alle auf der Stufe bloßer Gattungswesen festgehalten«)11. The problem of differentiating one’s own individual I from all general movements, and keeping it separate from them has not only been in existence since bourgeois times. Petrarch 12 and Montaigne 13 already express considerable doubts about the subjectivity and authenticity of the individual. Descartes, again, was criticized already by his contemporary Gassendi who claimed that the ›I‹ which Descartes had found by turning back to his own thinking was nothing but human thought (Geist), not an individual I to whom one could talk 14. Kant’s transcendental I is not individual, neither in its epistemic nor in its moral function. In Hegel, the I is conscious of itself only while becoming the place of manifestation (Manifestationsort) of the absolute spirit. The notions formed by human consciousness (bewußte Begriffe) of Gadamer (whose continuation of Heidegger’s philosophical hermeneutics was an important element in the development of discourse analysis 11 See Horkheimer/Adorno (1969), 163f. Cf. the still fundamental studies, ed. by Hans Ebeling
(1996), for how important the concepts of self-preservation are for the construction of modernity (and of antiquity too, esp. for the Hellenistic philosophers); in two influential papers, Dieter Henrich has demonstrated that not only the basic structure of the modern philosophy but also the modern consciousness of history (and evolution) is prefigured by the idea that the subject has a natural instinct for self-preservation which it can and should appropriate (following the Stoic oikeiosis-doctrine) by conscious reflection. See id. (1996a; 1996b). That the very same concepts in which the offspring of modern subjectivity is detected can and must be regarded as offspring of its decline – according to well considered reasons, which are offered e.g. by Adorno and Horkheimer –, is a reason to watch this complex pattern carefully in a critical way. In the following, I only can elaborate on a limited number of central aspects; for a more detailed study, see my Die Moderne und Platon, passim. 12 Kablitz (1998). 13 Lobsien (1998). How the subject doubts the self-experience of itself and founds the security of the world’s experience on this doubt (and only on it) are two questions which guide the many subtle analyses by Verena Lobsien, who shows the dependence of the early modern discourses on those questions in: Skeptische Phantasie. Eine andere Geschichte der frühneuzeitlichen Literatur , München 1999, esp. 9–48. 14 See the replies by Gassendi to Descartes’ Meditationes de prima philosophia (Descartes [1982]).
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and deconstructivism) which a subject as an I believes himself to form, are carried by the processes of communication which we bring about while we talk (»getragen von dem kommunikativen Geschehen, das wir sprechend vollziehen«)15. Etc. etc. Peter Bürger 16 has collected a great number of examples from the belles lettres which show the same, sceptical tendency, denying the possibility that individuality could still unfold within the dimension of modernity. Bürger traces the development of the self-conscious subject in autobiographical literature from Montaigne to the post-modern age. He tries to prove that there is no such thing as a continually progressing process of self-alienation of the I, within which the individual would become more and more incapable of separating himself from the Other, the Others, and the General. According to Bürger, the modern I was, from the start, confronted with the problem – a problem considered unsolvable – of how to constitute itself as a unique individual 17. In the same way as »the disappearance of the subject belongs to the subject philosophy and does not show its end« 18, also the discovery and the ›birth‹ of the individual in the modern period has been linked ever since to the consciousness that it is impossible to be an individual, and to the feeling of being overwhelmed by conventions and general rules. In confrontation with this sceptical position, different and variedly radical strategies to deal with this problem have been developed. The difficulty of how to constitute the self is, however, a most constant one. Therefore, in my opinion, we cannot talk of a gradual disappearance of the subject – or of the individual in the modern and post-modern age –, but of a phenomenon within the area of the modern epistemic theory of cognition and subjectivity in general. That Peter Bürger’s study is characteristic of the feeling of superiority towards the Middle Ages and antiquity, a feeling originating in the »discovery« of individuality, has its reason in the fact that the observations he makes do not cast any critical doubt on the assumption that what was modern about the Modern Age is the new cognition of individuality and subjectivity. They, again, make possible the liberation of humankind from the commitments and dependencies not recognized before. In antiquity, the self found its order by watching the cosmos, inner and outer world corresponded so naturally to each other for human thinking that the idea of separating the interior from the exterior did not arise at all. Whereas now, the subject is confronted
15 16 17 18
See e.g. Gadamer (1977), 15f. u. (1972), 249f. Bürger (1998). E.g. ibid., 220. Ibid. 230.
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with the object, it is independent, it searches for the purely mechanical order of the world in order to exploit its powers, discovered in this way, for its own purposes 19.
The ›modern‹ incapacity to keep the individual ›I‹ away from declining into a general ›everyone‹ is regarded by Bürger as simply being one of the constitutive conditions of the new discovery. It does not bring about any historically critical reflection. Let us now change the perspective. Let us behold the Middle Ages and the antiquity from the heights of the modern ›discovery‹ of the individual, and let us ask the experts when exactly the veil which covered both, self-consciousness and the world, was lifted for the first time, and when man severed himself from the bias of general ties to become a self-conscious individual. Doing so we learn – depending on the epoch and the author we turn to – that this revolutionary act of deliverance has happened dozens of times since the transition from Homer’s Iliad to the Odyssey, and also up to the 21st century. We find collections of essays, in which the different papers, one directly following the other, and each written by reputable experts, tell us about the ever new stages, at which subjectivity and individuality were ›discovered‹ for ›the first time‹: by Augustine, by St. Francis of Assisi, by Thomas Aquinas, by Dante, by Petrarch, by Giotto, by Montaigne, by the Spanish mystics of the 16th century, by Shakespeare, etc.20. There is good reason to assume that those hypotheses are often the results of careful and trustworthy analysis of texts, of works of art, or of other historical sources. What one here must conclude is that those hypotheses cannot be reached entirely by mistake. This is to say that the criteria »Is there indeed a recognition of the self?« and »Is there indeed a severance from generality?« etc. seem obviously to be answered however correctly. But this also means that, clearly, in order to meet those criteria it is not enough to accept or reject that an epoch or a single work betrays individuality. A fundamentally critical treatment of the criteria by which one measures when and under which circumstances individuality could have emerged for ›the first time‹ is needed and justified. The perspective on Homer and Plato will serve the purpose of widening the horizon within which the question is to be treated and to increase the awareness of the following point: in my opinion, the pathos of deliverance and freedom – by which one conceives the severance from any kind of subordination under something general as a precondition for making the birth of individuality possible – has narrowed the discussion. Evidently, it is not enough to regard the deliverance from generalities as the cause of individuality. In this case, being an individual would only be possible if one lived, without exception, by oneself, determined exclusively by oneself and in no way by rules, 19 Ibid. 219. 20 See the collection of papers on history and prehistory of the modern subjectivity ed. by
Fetz/Hagenbüchle/Schulz (1998), passim.
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ideals, conventions, commitments, traditions and so on, in which some commonly binding force would have influence. Whoever wants to detect individuality in this way is forced to decide between two alternative positions, which share no middle, which cannot be reconciled by any mediator: is the person under consideration still influenced by typical things, by generalities? or is his existence exclusively determined by himself? Wanting to explain, for instance, why the painting of St. Francis in Subiaco (painted between 1226 and 1228) is a precursor of the individual Renaissance portrait, one observes that Francis, in this picture, is no longer represented as a hierarchic person (pope, cardinal, emperor, etc.), nor in his function (consecrator, founder, scribe, etc.), but simply »as an important personality for his own sake« 21. But when it is the aim to explain, on the contrary, the difference of this portrait from the really individualizing representations of modernity, one states that one could not yet speak of »an actual portrait […], in which the entire person would really confront us, alive«, and that the lines of the saint were only kept »in a general, more or less schematic way« 22. Both interpretations are obviously founded upon correct observation. But, at the same time, they also suffer from obvious deficits, which are due to the fact that a far too general conclusion is drawn from a (correctly) distinguished feature. St. Francis, of course, was neither emperor, nor pope, nor scribe, but monk: a monk of the mendicant order he himself had founded – and this is exactly the position and the function in which he is represented. So, of course, the portrait has general traits. But that Francis does not ›encounter‹ us as ›the entire person‹ (sc. with wart and liver spot, in his corporeal, contingent manifestation), does not prove, on the contrary, that the painting is schematic. One would only be entitled to state this if indeed the complete totality and not the characteristically particular traits would render a human being as an individual (and recognizable as such). This is to say that one would only be entitled to state this, if there was solely the alternative between painting, on the one hand, all the details of an empirical, contingent person with his determinate traits, which are acquired by him in the course of his life –, or painting, on the other hand, an abstraction extracted from this, i.e. a general type. As can easily be seen, already in this one example, it is obviously difficult to draw a line between ›real‹ individuality and generality (in whatever sense); it is difficult to find anything at all which could only be said about a certain person but not about others too, i. e. to find something, which is really unique, ›genuinely individual‹, and not only something which someone shares with many others.
21 See Ladner (1964), 453. 22 See Thode (1934), 87.
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In my opinion, the repeated rediscovery of individuality in ever new contexts is not least caused by the fact that one detects still existing features of generality in each preceding position. Philosophical theory also encircles the problem of how to distinguish between however general and individual things. It has the tendency to acknowledge ›real‹ individuality only if any derivation from generic, specific, or other general notions fails. In the history of philosophy it is often the period of the later Middle Ages, represented by John Duns Scotus and William of Occam, which is said to have had the insight not to conceive the individual any more (as in antique or scholastic Platonism or Aristotelianism) as an ultimate species, a species specialissima, or an atomon eidos, forming the lowest, the last element of higher species and genera, but as something which cannot be derived in any way from general notions. In this view, the individual is what shows (in itself, in its actual existence, in its hereand-now) a surplus when compared with the general, i.e. what is molded by this surplus in all of its characteristics and manifestations in a most specific, ineffable and unpronounceable way – so that everything which is general in it gets an absolutely unique shape by this determination23. Even if one does not accept this discovery as a work of the late Middle Ages, but instead, like Manfred Frank, interprets it as an »early Romantic revolution of the history of notions« – it still is the discovery of the same thing: »The individual can«, as Frank characterises the ›revolution‹ of the early Romantics, »never be reached in a chain of methodical derivations from the general on down to the last link. Individuals are not to be deduced from a concept (a structure, a symbolical order, an apparatus of categories, a discourse …), because it is they who first of all invent or assign the notion for the whole, of which they are specifications« 24. According to this, it would seem that in order to comprehend and determine individuality one would need to find that which, like a seed, contains, as Hegel says, as »the immeasurable abbreviation of the multitudes of particular things« 25, all that can ever unfold from within it as a possible manifestation of the individual. If one does not wish to interpret this seed in a speculative and metaphysical way 23 In the Scotism and Occamism of the late Middle Ages, there is indeed a turn taking place
in epistemology and a re-foundation of cognition and knowledge, the basis of which is an evident ›well-determination‹, a ›harmony‹ of the particular things. This includes a radical acknowledgement of the particular things (see Schmitt [1998], 17–34; see now also Radke [2007/8]). The concept of individuality, which is dominant throughout the modern history of mind and today regarded as the only valid concept of individuality, is directly dependant on this turn. There was also however a theory concerning the possibility of cognition of particular things which was directly derived from an epistemology before Scotism, and which in its turn was also the foundation for the Scotism. I go more into detail on p. 14ff. 24 Frank (1991), 69. 25 Hegel (1976), 39.
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– and after Hegel, there are few who still believe in an intellectual intuition (of the inmost essence of a thing or person) – one has to look for individuality as a kind of role model by which all manifestations of someone are characteristically formed: one’s principal decisions as well as everything unimportant, one’s soundly reflected, well considered actions as well as everything possible and contingent that happens to someone, the way one laughs, one moves, one clears one’s throat, one stumbles, i. e. a form, in which one feels, though mostly surely unconsciously, as oneself 26. Manfred Frank is certainly right in regarding the versions of this conception of individuality by Schleiermacher and Humboldt as the ones which have had most influence to the present day. This concept, however, is to be found much earlier (unfortunately, I cannot elaborate on this now): It was established in the modern period – due to an enormous work of reception of the Stoa in early modernity – as a concept which claimed to be science, or even philosophy. Christoph Martin Wieland’s novel Agathon may serve as an arbitrarily chosen literary example. Wieland makes the sophist Hippias claim (in the Gespräch im Elysium of 1800) that we all have our specific nature, »our own way of imagination, a specific strength, mixture and direction of our drives, our very specific way to act«. Everyone having different things inscribed and a different story would thus follow a different purpose in life 27. According to this view, there is no other possibility of showing Agathon’s individuality and of grasping it than to go through his whole story with all its fissures and contingencies in order to recognize through it that Agathon was all of what the story told and, at the same time, nothing. The narrator Wieland adds that Agathon leaves behind successively the impressions of being »a devotional enthusiast, a Platonist, a republican, a hero, a stoic, a voluptuary«, but that he »was none of those«. Who he »really was, in which respects he indeed did not change and remained invariably identical under all those guises«, this is what the reader must find out for himself 28. The singularity of this modern understanding of individuality is made especially clear by the fact that the picaro, the rogue, capable of all changes, whose specific nature is this capacity to change, is seen as the incarnation of a character of modern fiction.
26 On this interpretation of individuality see also e.g. Manfred Frank (1988). 27 Cf. here also Zeuch (2000), 187. 28 Ibid., 184.
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III. The Representation of Character in Homer and its Analysis by Aristotle Investigating ancient texts and documents of the times from Homer to Plato and Aristotle, one will notice that the modern understanding of individuality (as explained in the last section) is not represented or analysed – or, at least, that it is impossible to prove it as a predominant form. This neither means that there was no interest in individual people in antiquity, in their specific distinctiveness from society, nor, if anything, that individual people served only as members of the so-called conventional communities and that they merged with the roles allotted to them by the society29. But it does mean, as opposed to a well-established prejudice, that the aspects which are seen as essential conditions of individuality in modern times were not regarded to be sufficient in antiquity, either in the literary presentation of individuality or in philosophical analysis. This is the reason for the apparent contradiction that many scholars already discover the features which we regard as typical for individuality in ancient texts, but that they nevertheless – in contrast to modern literature and philosophy – do not find the problem of how to explain and to experience individuality, under the condition of an unutterable, non-determinable and non-deducible uniqueness of existence, being discussed directly. We have to ask ourselves: is it all about the distinction of an individual from the community, about one’s interest in oneself or in others only for the sake of oneself, and not having any conventional relationship to them? Or is it about the will of individual people to live their own lives according to personal desires and rules, without regard for common standards and commands of society or religion? For the second point, for this subjective and private deviation from generalities, there are many instances in ancient texts! The scope of representation in Iliad and Odyssey is, in fact, already almost completely oriented to individual aims: the subject of the Iliad is not the story of a common army moving to Troy, but of Achilles’ rage: a rage which is caused by Agamemnon, who – himself prefering the daughter of a priest of Apollo (Chryseis) to his own wife – takes away a girl from Achilles whom he loves tenderly (Briseis). And the actual subject of the Odyssey is an uncommon, exceptional, unequalled character, his homecoming to a wife, who shows an exceptional character too, similar to his beyond every usual measure 30.
29 Such a hypothesis – and with the claim to be universal – is, in contrast to my opinion, still
held e.g. by Jauss (1988). 30 Cf. here also Schmitt (2001), 9–52.
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There is no need to demonstrate the by no means rare deviation of Homer’s persons from the roles assigned to them by society or religion, no need to demonstrate that they follow their own self. On the contrary, this is the perspective of Homer’s representation: He only concentrates on the reasons and motives on the basis of which his great men, Achilles, Agamemnon, Hector, Patroclus put their private interests and feelings above the welfare of society and do not orient themselves at all towards general ideals or standards, but take only their momentary subjective situation as a yardstick. All this can be found in Homer, but it would be misguided to think that he wanted to represent through this kind of behaviour the self-determination of his persons. On the contrary, this behaviour is taken to be an expression of the state in which someone is or feels controlled by foreign powers, it is taken to be something that someone is doing because he does not act out of himself, but is tragically involved in things which deprive him of his autonomy. When Achilles, seemingly having reached the top of his bitterness, says: »I do not give up my anger« (Iliad, 9, 426; transl. Murray), then especially he does not act, according to Homer, out of his individual centre, out of his innermost or own self. This is clear by the fact that he does not identify himself completely with his rage, and that his words sound harder than his temper is at that very moment. He is, in fact, already touched by the others, has pity and is half-way to the insight, which he utters a little later, namely, that his rage had deprived him of his sound reasoning (Iliad, 18, 208f.), and that it would have been much better for him to not give into the sweet feelings of revenge (Iliad, 19, 56ff.). Analogous things can be said about Hector: For him it is essential that he is (and wants to be) the far-seeing and brave saviour of his city. When he therefore says that he does not want to retreat into the town (Iliad, 18, 243–309) after Achilles’ re-entry into the battle, he pronounces something which he did not want at all of himself – as he says a little later in his well-known monologue before the battle with Achilles (Iliad, 22, 96–107). His apparent will to stay outside the gates was, as he recognizes, an act of blindness or hubris, caused by the victories which Zeus had made him win, a behaviour in which he got involved despite all his usual caution. Obviously, a distinction can be drawn between different types of human action in Homer. Man can act out of himself, but he also can act at a more or less vast distance from himself. Not everything which is done by him, not even everything which he believes himself to desire is really caused by himself or really serves his actual personal and proper individual interests. In many respects, he is not under his own but rather under foreign control, and remains still himself (and an identical subjectum) during this only insofar as he has been and will be capable of shielding himself against heteronomy – so that it is possible, e. g., to appeal to him to find his way back to himself.
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From Homer’s perspective (in contrast e. g. to Wieland), it does not make any sense to demonstrate individuality via representation of everything a person possibly can be and become, in order by means of this to arrive finally at his individual form which persists throughout all the changes. One has to concentrate rather on finding out and defining as precisely as possible what it is at all that stays completely under someone’s control and that gives all one’s actions, in the pregnant sense of the word, a specific mold. This must be something by means of which one can, when regarding someone’s actions, also define what is not individual, but can be traced to external causes of generality: force, hazard, rules, conventions, role-models, propaganda, etc. With a view to this question, it is very important that Aristotle calls Homer an outstanding poet, just because he had not made the easy mistake of thinking that by telling the story of one man he had created a work possessing inner unity 31. Trying to make a person a literary subject by following his development, his varied actions and sufferings, one should expect the same difficulties a historian has to face 32. A historian wishing, for example, to write the history of a political leader has to include many things which are not initiated by this leader’s personality. Thucydides’ history of the Peloponnesian war is full of accounts of how someone’s decisions get crossed by accidents, intriguers, and unforeseeable, external obstacles33. As historian, he must relate of all that, being obliged not just to concentrate on the things characteristic of one person, e.g. of Pericles, but to try to represent and explain the totality of the actual occurrences with their mixture of internal and external necessary, probable and contingent causes. According to Aristotle, this need not be done in a poetical representation, nor even aimed at. Its specific purpose is rather to concentrate on that which »a man of a certain character because of the general nature of this character, in a certain situation is doing or saying« 34. The actual saying or doing should be conceived in such a way that probability or necessity is to be recognized: the way in which it is to be derived from the general character tendencies of this specific person 35. Let me give an example of how Homer represents the general tendencies of someone’s propensity to act by a single action. To illustrate this, I have chosen the well-known meeting of Priam and Achilles, who can sit together with the father of his most hated enemy, and moan and whine with him together (Iliad, 24,507–512). 31 Cf. Aristotle, Poetica, chapt. 8, passim, esp. 1451a22–30. 32 The comparison of the poet’s specific ergon with the historian’s aim is the subject of the
ninth chapter of the Aristotelian Poetica (1451b37ff.). 33 Cf. Heitsch (1996). 34 Cf. Aristotle, Poetica, chapt. 9, 1451b8–9; cf. Aristoteles (2007), ad l. 35 Cf. Aristotle, Poetica, chapt. 9, 1453a38 f; cf. Aristoteles (2007), ad l.
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If Achilles can do that, then this particular behaviour is made by Homer to be recognized as a probable or even necessary behaviour for someone like Achilles. Anyone who has Achilles’ behaviour in mind, from the beginning of the story onwards, who has seen, to mention only some points, how Hera had chosen just him as the one who is touched by the affliction of the army, and motivated to offer unhesitant help (Iliad, 1, 54–56); how the seer Calchas turned to him, just him, to find courageous support against Agamemnon (Iliad, 1, 68–83); how Achilles rages because of Agamemnon’s egoism and unjust behaviour, but how he nevertheless follows Athena’s advice to contain his wrath despite the hubris of Agamemnon (Iliad, 1, 193–214); how he welcomes Agamemnon’s messengers with chosen cordiality (Iliad, 9, 197ff.); how he is able to make a distinction between perpetrators and ambassadors and addresses the latter gently when they come to take away his beloved Briseis (Iliad, 1, 334–336); how he relates his many sacrifices for the community during all the years of war and his love to all people close to him (Iliad, 9, 315–332); how he – though he cannot let go of his anger at Agamemnon – does suddenly watch the Achaians intensely in their hard-pressed situation (Iliad, 11, 599–601); how he finally accepts the fact that Patroclus, whom he had sent out to spy at first, enters the battle with his armour, etc. – whoever has followed all of this can easily imagine, and this is to say to regard it as likely, that Achilles, when he encounters Priam, will be capable of distinguishing between the anger he has for the murderer of his beloved Patroclus and the distress of the old father, afflicted by many misfortunes, a situation which he understands immediately to be similar to the misery of his own father (Iliad, 24, 507–512). Aristotle says about this type of representation that it is more philosophical and more serious than history, which is bound to particular facts 36. This formulation has given rise – again and again, since the first Renaissance commentaries on the Ars poetica – to the interpretation that Aristotle demanded of poets that they take not individuals as subject but rather types of character, ideal role-models, or men as they tend to be – due to their hierarchic position, their age, their class, their epoch, etc. This is exactly the sense in which Horace had determined the task of the poet – following Hellenistic conceptions. The persona (a character on stage) should have a character in agreement with his own self. Horace claims that the personae should follow a general character pattern throughout the story: Anyone who intends to show Achilles on stage has to design a never calm, but rather aggressive, irascible, violent persona, softened by no plea, for whom legal claims do not have any meaning at all and who takes everything by force 37. Only if he abstracts in such a way from the particular mixture of real characters, will a poet succeed 36 Aristotle, Poetica, chapt. 9, 1451b5–7. 37 Horace, Ars poetica, 120–122.
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– according to Horace – in presenting a persona who is identical with himself from his first entrance to his last exit. The unity and identity of the personae which is aimed at only seems to be kept by such abstraction and concentration on a certain character trait. To recognize the identity of a character in the manifoldness of his manifestations seems only to be possible by a representation such as that described. I believe it has already become clear that Homer does not comply with such a precept of abstraction, that he does not want to comply with it, and that Aristotle does not formulate it. Homer’s Achilles is not an incarnation of irascibility, nor does he behave, and in no way consistently, in accordance with general rules. Certainly, Achilles has an aggressive and violent nature, but before we learn that he is like this, we hear about his empathy and his courageous commitment to justice, and during his first fit of anger we already learn about his capacity to not lose sight entirely of the demands of reasonability. He is – as an ideal soldier must be – courageous, tough and self-sacrificing, but he is also soft, he moans and whines in a very un-heroic way, which Plato, as we know, disliked a lot 38. With these and a number of other traits, Achilles unifies characteristics in himself which should belong – according to the concept of a seemingly consistent character – to different characters. How can the fact that someone abuses, on the one hand, an enemy out of a non-ending, insatiable wrath twelve days in a row, and that he sheds tears, on the other, a little later together with the father of this enemy because of his misfortune be reconciled with a character due to a universal pattern of behaviour? In my view, it is not possible to deny that the mixture of character traits as we find them in Achilles is an individual, indeed, that it is highly individual and without comparison. Achilles, however, is not a mere, arbitrary bag of characteristics, which lie around chaotically like the warriors in the belly of the Trojan horse 39 and do not fit one another, not resulting in a consistent picture. Homer has, on the contrary, done everything to make us recognize and understand that and how the seemingly disparate details can belong to one single character. We have already seen that Achilles’ anger, from its beginning, is restrained by an ever present capacity to listen to the voice of reason, so that reason and passion in Achilles do not fall apart radically. Moreover, the transitions by means of which Achilles changes from one psychic state into another are also signposted in a subtle way in Homer. When the embassy comes to him, his pity, understanding, and sympathy for the affliction of the Achaians grows during Odysseus’ speech, and even more so during that of Phoenix, and more again during that of Ajax, who almost manages to convince him. And though the ambassadors go without having reached an agreement, he 38 Plato, Politeia, iii, 388a–e. 39 Cf. this picture in Plato, Theaitetos (184d).
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does not go back into his tent and console himself further by playing the kithara, but watches the others from the deck of his ship, staring, and sends Patroclus to them when their woe seems to him to have grown too great. Contrary to the opinion of many philologists 40 that in Homer’s Achilles no interior determination could be found, that the changes of his behaviour were always initiated by exterior causes, for instance by Athena, or by the death of Patroclus, I claim that there is a consequent and psychologically subtly differentiated representation of inner developments in Homer. Homer shows with wonderful precision that Achilles, despite his different, and on the surface completely contradicting actions, never reacts arbitrarily to external factors but decides every time and with every thing by the inmost of his nature. First, of course, it seems as if the Achilles who cares about the disaster of the army, about the worries of Calchas, the plight of his comrades, even about the sufferings of Priam, would be a person entirely different from the one who rages in an unrelenting and obdurate manner against Agamemnon and drags Hector around Troy for many days etc. But, secondly, if one accepts with Aristotle the fact that Homer makes his men prefer and avoid particular things and that this is a concrete expression and a consequence of their ethos, of their general character tendencies, then it is easy to recognize that Achilles is a constant character, that he remains true to himself in every thing he does. He is always the first one who commits himself – worrying with strong emotions – to giving everyone just what he deserves to get; when Agamemnon denies this to the army, to the priest and finally also to himself, he is outraged; when Hector commits an injustice against his Patroclus, he punishes him; on Priam, not unlike his own father, having been deprived of all his happiness about his sons, he takes pity, etc. Interesting as it would be, we cannot follow this aspect any further and clarify the reasons Homer gives for the fact that the reasonable Achilles is still driven to irrationality, to actions and deeds out of excessive emotions. But we can at this stage, however, come to the conclusion that the consistency of a character and his individual determination is (also) represented by the continual development of his tendencies for action, i. e. the way he reacts to and behaves towards certain external conditions. Homer depicts a richly differentiated and yet unified and consistent portrait of a persona by showing in detail how Achilles hardens in his wrath and how it is possible for him to gradually free himself from it. Doing this, Homer draws a type of persona that escapes the disjunction ›abstract–general–typical‹ or ›absolute–individual–ineffable‹. He shapes a persona, which is to be understood by means of reason – but without being merely an abstract scheme.
40 Cf. Schmitt (1990), 21–52.
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IV. Unity and Self-Determination of the Person in Plato and Aristotle Therefore, Aristotle is not wrong in referring to Homer when claiming that poetry is capable of making one see the general tendencies of a character (its generality) through someone’s action and speech41. In Aristotle, this generality has nothing to do with the relationship between an abstract type and its concrete actualisation. The question, essential for modernity, whether someone acts typically, as king, as soldier, citizen, lover, etc., or just out of himself, is circumvented here in a very interesting way. The generality, as conceived by Aristotle, lies in the unity of someone’s interior tendencies of action. In contrast to someone’s particular, single actions, this generality is the means by which one recognizes those single actions as manifestations of just one character. Furthermore, this generality is not abstract or empty. It is not the nucleus of a personality consistent throughout all changes but completely indeterminate by itself. It is in fact a range of general tendencies, named exactly and described in all their inner features and outlines. It is a range of tendencies to act in a certain way, to be inclined, e. g., to help, to be courageous, persistent, brave, fair, sympathetic, etc. In trying to grasp how those general character traits can at the same time also be individual, one has to consider different aspects. First, it is important to see that the generality of which Aristotle speaks is a generality in the dimension of individuality. He is concerned with the general tendencies of human behaviour as different from each single action which is shaped by those tendencies, i. e. by that which someone prefers or avoids. From this perspective, one can say that Aristotle defines the task of poetry as the representation of individuality: Poetry should focus – contrarily to reality, where whatever someone does is determined partly not by himself but also by external reasons – exclusively on actions of which the individual himself is, as Aristotle says 42, the source and principle of his decisions. In the means which serve to fulfil this demand, we find the proper cause affording individuality. When enquiring whether it is justified to apply notions like individuality and subjectivity (which is even more fundamental for modernity) to ancient texts, we have to postulate the following: There has to be an autonomous principle, a principle of which (and of whose criteria) man has knowledge and which he possesses through the powers of his reason. What is to be said about this demand? We do find explanations of how to accomplish it in ancient theoretical texts, e. g. in Plato and Aristotle, as well as in texts of the modern period. Yet to investigate the ›preconditions for the 41 Aristotle, Poetica, chapt. 9, 1451b5–10 and cf. also chapt. 24, 1460a5–10. 42 Aristotle, Nicomachian Ethics, III, 1 passim (esp. 1100b1–5) and 3, esp. 1111a22–24.
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possibility‹ of accomplishing this demand – this is something completely different. In the modern period, man gains subjectivity – put briefly and simplified – by being conscious and self-aware of his activities. Individuality, in principal, is not something one has gained, but rather the unifying core of the personality by which all of someone’s developments, modifications and activities are shaped uniformly. Our look at Homer above has hopefully clarified that the self-determined power of the human being over himself is not understood in the ancient texts as a potency which man owns as such. The faculty to decide independently and to determine oneself must not be a mere potentiality to act in a self-determined, spontaneous manner; instead, human beings have to actualise this principle in particularly characteristic forms, so that subjectivity, similarly available to anyone, can turn into individuality. But a person must in the course of this actualisation also keep his identity with himself, since we want to conceive of a person as someone who remains himself not only during rational actions, but also when he feels, wants, perceives, etc. At this very point the philosophical positions already differ from each other in antiquity, and it is also here that the modernity develops its opposition against scholastic Aristotelianism. Plato reflected on how man may become a uniform entity out of a plurality in particular in his Politeia, Aristotle in his Ethics and Politics. Their point of departure is the conviction that man is finite, i. e. a spatially and temporally divided being. Man is not even capable of perceiving anything undividedly or uniformly. We cannot smell with our eyes nor see with our ears. The so-called synesthetic phenomena do not disprove this, since they can be explained as insufficiently analysed compositions of different actions of the soul, not solely such of perception 43. Imagination can work independently from perception. Therefore imagination and perception are not identical. One can imagine something precisely without having any knowledge about it, without (perhaps) even having an opinion about what is imagined. Therefore imagination, opinion, and cognition can be regarded as different possible activities of our mind. Because of such and of analogous deliberations, Plato and Aristotle arrived at the conclusion – similar to what we have already found in Homer 44 – that we have to suppose the existence of different centres of action in the soul. The Stoa, and similarly modern philosophy, has misunderstood this attention to the differences within a person’s unity as though this unity was believed to be dissolute and distributed to several internal protagonists. The Stoa, therefore, developed the concept of a logical imagination (this is the doctrine of the so-called hêgemonikon, i. e. the directive faculty of the soul), which – and Descartes adopts this metaphor –, just as the sun shines differently in different regions, only is differ43 Cf. Schmitt (2002). 44 On Homeric psychology see Schmitt (1990), esp. 115–228.
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ent (in a quantitatively gradual sense) by being applied to different things and thus is turned into cognition, imagination, perception or will 45. In all respects, however, man would stay a unity through doing whatever he does with imagination, or, in modern terms, with consciousness. This radical postulation of unity has put the ancient Stoa as well as the modern philosophy of consciousness and self-consciousness on the spot: There are too many things in man which happen without, or indeed, against his conscious thought. In order to explain how it is possible that we can sense irrationally generated affects or follow the drives of our will against better knowledge, Poseidonius (in the first century B.C.) already believed that he had to turn back to a putative Platonic division of the soul 46. For the same reasons, and also because of observations concerning judgements of taste by which we often detect that which is morally or aesthetically right before any conscious formation of a concept, the modern period too admitted, beside the so-called higher cognitive faculty, a lower one with its own, especially aesthetic autonomy. Tetens and finally Kant, in the last third of the 18th century, differentiated radically between this lower faculty and the conscious cognition and assigned it to an irrational and unconscious part of the soul. Again they claimed that the soul was divided into three parts, a conscious cognitive faculty (faculty of knowledge), and an unconscious sensitive faculty of feelings of lust and reluctance on the one hand (faculty of pleasure and displeasure) and of desires or will on the other (faculty of desire). Those faculties are supposed to be in permanent interaction with each other, but at the same time to be autonomous, and each to have its derivative form. When contemporary psychology distances itself from this ›out-dated‹ doctrine of faculties, they often ignore the fundamental commonalties: For example, the very idea of an »emotional intelligence« is heir to the doctrine of faculties, originating in the Age of Enlightenment, culminating in the 18th century. This doctrine has its roots in the intensive discussions of the 17th century about capacities like taste, common sense, criticism, (and their French and German correspondent notions: sens commune, bon sens, Geschmack, Gemeinsinn, Urteilskraft, etc.). Their common work had been seen in their capacity to grasp something adequate to a notion, i. e., something intellectual, before conceptual rational thinking took place. In fact, one had really believed them to be capable of possessing a higher intelligence than rational cognition for particular rational 45 See René Descartes, Regulae ad directionem ingenii, Regula I, 1 und Regula XII, 10; cf. id.
(1991). 46 On the Stoic explanations of the problem of the unity of a variously determinate soul
see Maximilian Forschner (1995), 58–60. On a judgement concerning the Stoic positions from a Platonic perspective and by means of a comparison to the Platonic concept which distinguishes between several capacities of the soul see Schmitt (2003), 305–316 (part II, chapter IV: »Die Seele in bewußtseinsphilosophischer und unterscheidungsphilosophischer Analyse«).
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actions, e. g., for the experience and evaluation of aesthetical or ethical matters. Moreover, those faculties were never imagined to be isolated systems, but always as something continually interrelated, as entities – in the ideal case – interacting with each other just as in a harmonious game (Kant, Schiller)47. With a view to those widely held opinions, prevalent to this day, i. e., with a view to the hypothetical existence of such quasi-autonomous, interacting control systems in us, it is not clear to me why we claim that for Plato (as Wolfgang Kersting 48 has recently done), »the idea of the subject unity and the personal identity« – »most important for the philosophy of the modern period« – was entirely foreign, and that he supposed »instead of one acting soul […] a triad of distinctive parts of the soul«,«which interact as autonomous dramatis personae under strain«. Those autonomous »dramatis personae« are especially characteristic for the modern doctrine of reason, will and emotion, regarded as the psychic principles of human action. But they are not characteristic for the Platonic parts of the soul, which only interact independently if someone has not yet reached his autonomous individuality, or has lost it again, or deviates in a certain situation, because of certain reasons, from his intellectual nature, from his actual individuality. To go more into detail, I have now to treat something which has been called the fundamental faculty of the soul (Grundkraft) up to Kant. The early modern period, as also many contemporary philosophical and psychological positions, believed consciousness to be that which characterises the human being as human being. The un- or non-conscious acts in us are also believed to get their specifically human hue by virtue of consciousness, i. e., because of the possibility that we can become conscious of them. Our notion of individuality, again, depends fundamentally on this hue, on how we are conscious of ourselves in everything we do or sense. Plato and Aristotle, however, do not conceive those fundamental faculties of the soul as consciousness or imagination; for them, in fact, that which makes the human being a human being is noûs or dianoia, that is, intellect or reason. And again, they are believed to be also the cause of someone’s individuality. It is without any doubt, according to Aristotle49, that noûs is – at least predominantly – the cause of the specific being of a person. We now therefore have to look closer at noûs and dianoia. What are they?
47 Though psychology no longer uses the terminology of faculty psychology, we have all the
same retained the radical distinction between consciousness and unconsciousness. Instead of faculties, we now speak of e.g. systems, of a perception system, which controls our perceptions, and of a limbic system that controls our feelings and so on. 48 Kersting (1999), 162. 49 Aristotle, e.g. Nicomachean Ethics 1168b34ff.
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Both Plato and Aristotle describe their principle activity as the voluntary and accomplished performance of a distinction (krinein). Whether it is possible at all to recognize something which can be distinguished and conceived of for itself, which is not, at once, itself and another, different thing than itself. This is a principle requirement for thought, since human thought cannot think anything to which it cannot come back as the same thing. Plato reflects on this axiom of reasoning most intensively in the dialogues Politeia (books V–VII), Parmenides and Sophistes, and demonstrates that human thought possesses in itself many criteria by means of which it proves whether and in what sense something is actually something. It is not possible to regard something as something if it cannot be conceived as unity, as entity, as identical with itself, as different from other things, as a whole made from parts, sc. as having beginning, middle and end, as a synthesis of a manifold (sc. of parts) in order to get a unity, i. e. as number. These criteria must be applied in every act of distinction and therefore form the dimension of purely rational notions. Anyone who knows them and applies them correctly (because of this knowledge) is thinking ›rationally‹ in the proper sense of the word. One distinguishes not only in the case one knows what one is doing as well as the conceptual criteria, towards which each act of distinction must be oriented, but one also distinguishes in every cognitive action, in fact, in every action at all. Anyone who wants no more than to perceive a single sound must be capable of distinguishing this sound (from all other sounds) as a certain one. He does not have the capacity of doing so if he does not perceive the beginning and the end of the sound while distinguishing a certain wave from another as an identical one (with itself) and being aware of the equality of the waves’ frequency throughout the whole the time, etc. 50. Although one may know these criteria in themselves, one nevertheless also uses categories like unity, identity, entireness, part, equality, beginning, number, symmetry etc. in a simple act such as the act of perception. This act of distinction can be performed more or less rationally, e.g., one either can focus on the identity of a sound over a certain time or simply grasp a rough outline of it approximately. However rational these acts of hearing are, rationality in the proper sense is solely the sovereign cognition of the cognitive criteria itself, a knowledge which is neither restricted to several concrete applications nor bound to such.
50 See Boethius, Institutio musica I, 9 und V, 2; Augustinus, De Musica, VI, 8, 21. On the
importance of general and conceptual criteria and principles of cognition and music as well as perception in general see Schmitt (1990b), 221–237.
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V. On the formation of Individuality according to Plato and Aristotle From the philosophical perspective on the basis of distinctions (I call this perspective unterscheidungsphilosophisch), we see on the one hand a clear distinction between rational reasoning in the proper sense and non-rational acts (e.g. perception). On the other hand we recognize that the non-rational acts are kinds of distinction which grasp the essence of something more or less precisely, i. e. more or less rationally. The latter case, however, is concerned with cognitive subjects, which contain fewer differences and therefore require also a lesser level of distinction. This is why human recognition starts not, in fact, from cognitive acts but from acts of perception and imagination. Both distinguish – as recognition – »something«. But both are different from recognition, since they are not capable simply of conceiving a difference, conceivable in itself; in fact, they always have to be related to empirical things at hand, from which they simply read off, so to speak, a certain distinction. In this conception of Plato and Aristotle, human rationality and irrationality are distinguished from each other – according to certain methodically clear criteria – but they are not separated from each other radically and incommensurately. Concerning the question of how someone shapes his potentiality of diverse actions into a unified identity, it is most important that this conception does not oppose conscious rationality to emotionality. On the contrary, Aristotle demonstrates in impressive analyses that the feeling of pleasure or displeasure is not a separate system of the soul, but a phenomenon that accompanies each kind of action directly so that it might be as diverse as the mind’s possible actions are different 51. Saying that someone is living a life of lust, for instance, is – according to Aristotle – only speaking approximately. The life one is speaking of in this case is one which searches for the pleasures that depend on certain sensory experiences. Pleasure, however, is not solely the effect of sensory perceptions, but also of mere bodily movements, and again – in a higher and purer manner – of intellectual activities in the proper sense 52. To the higher, i. e. more complex activities of distinction correspond therefore the higher more differentiated experiences of lust. In the same way, as the human being begins in childhood with merely simple and undifferentiated activities of distinction, he begins also with undetermined, i.e. relatively low and unspecific experiences of pleasure (a fact which can become the 51 For more details concerning this Aristotelian conception of the relationship between the
feelings (of lust and reluctance) and several kinds of cognition, which Aristotle develops esp. in the tenth book of the Nicomachian Ethics, (and also on the distinction of this concept from contemporary theories of emotionality) see Schmitt (2003), 368–372 und ff. 52 See Aristotle, Nicomachian Ethics X, 7, 1177a12ff.
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actual occasion or movens to overcome those simple forms of distinction and of pleasure). At any rate, the pleasure corresponds to the degree of distinctiveness at which the distinguishing subject arrives. The lust appears, as Aristotle says, in the prime of life 53, this means, that the lust is not an addition to the action, coming from the exterior, but that it is a direct expression of the action’s unhindered and accomplished evolvement. Experience of lust and complete performance of an action are therefore identical. An activity is complete, however, according to the philosophical principle of distinction of Plato and Aristotle, if it is really what it is. If cutting e. g. is a certain activity, then something is really cutting if it performs this activity ideally and purely and not if it rips or squeezes instead of cutting. The complete performance of an activity is therefore at once its actual being. This is also valid for the human being. This is to say: Someone will be really himself if he performs his specific activity ideally – to say this with PlatonicAristotelian notions – if someone behaves according to his aretê, to his bestness, or, as we translate un-precisely with the terms of virtue ethics, according to virtue 54. Since the optimal performance of an activity is the one bearing maximal pleasure, and pleasure is what everybody is voluntarily looking for, we have to conclude that the proper human aim, if one wants to find his own self himself, is to learn to taste the really agreeable things, full of relish 55, namely, by each activity, also by perception. Only someone who knows the differences which occur while tasting, hearing, smelling, etc. in complete distinction – this includes the knowledge of the objects which allow this kind of distinction – learns the highest possible pleasure due to those activities. It is not possible to taste something without knowing if one likes it or not. The nature of a complete performance of sensory perception is, so to speak, to be inclined, not to isolate itself, not to make itself independent, but, on the contrary, to contribute to the situation full of relish which someone is searching for with his entire personality. It is not the tongue and the nose, which as themselves would take in the nuances of taste and smell of a good wine, but it is the one person who uses his sense of smell according to his one faculty of distinction in order to comprehend differences. In case the sense of smell is at one’s service in an optimal, ideal way, it allows the subtlest distinctions, this is to say, it is generally in agreement with the faculty of distinction. Anyone who relishes the wine in this manner, will himself stop drinking as soon as he is not capable anymore of sensing 53 See Aristotle, Nicomachian Ethics X, 4, 1174b31–33. 54 On this relationship between the accomplished actualisation (this is the one which comprises
the highest relish) of a certain work (ergon) and its specific aretê see also Platon, Politeia 352e– 353e. 55 See Aristotle, Nicomachian Ethics X, 1, 1172a16–b2.
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the optimal pleasure. He will not be inclined to drink further so that he becomes unable to perceive. Plato calls this situation of voluntary agreement with the rational part of the human being sôphrosynê 56. Sôphrosynê is the basic aretê of the human being, and aretê is the best form of human reasoning, i. e. the result of rational insights in general under the guidance of reasoning. Sôphrosynê means the state of accomplished evolvement and development of all human psychic faculties that are related to sensory perception. For this kind of autonomy, however, an already complete and well-founded knowledge and the education of the higher faculties are, in fact, preconditions. According to Plato, this can be afforded only via recognition and education. The moderation, i. e. the accomplished formation and activity of the senses and the subordination of the sensory faculties to the insight of reason, is for Plato, as for Aristotle too (at first), a virtue of the faculty of perception, i. e. a virtue of something which is not capable by itself of conceptual, rational cognition. Insofar, one could speak of this kind of sôphrosynê as a virtue of the sensory faculties or one could call it a principle virtue of all creatures in general. When anyone is capable of cultivating – in the course of his development – his capacity of perception as far as he can sense the highest possible pleasure while tasting or seeing etc., then we also call this an achievement. Yet, no one has created himself as person or as certain human individual through this achievement. It is only by development and achievement of his higher faculties, especially of the faculty of conceptual cognition and critical reflection on his own cognitive activities, that someone can determine himself, in the proper sense, to be an individual, since it is only by such ›dispositions‹ and actions of the soul that he differs from animals and also from other human beings. This is because if individuality is that which is the cause of the identity of something (and its guarantee), it must be that by which something is distinguishable from anything else; what it does not share with anything else. But everybody does many things which are similar to those done by others. It is necessary, therefore, if we wish to come to know something about the uniqueness and individuality of someone, to differentiate those common actions from those which are specific for someone, which are caused by his special character, since it is not by any action that someone ›reveals‹ himself in his individual singularity. In some actions one expresses oneself only as a living being, in others as a social being related to a community, in others again as a rational being, and only in most particular actions as this determinate, certain, individual rational being. 56 Moderation is a word for the psychic situation in which the rather bound and unfree human
faculties of distinction are settled in agreement of opinion (homodoxia; Plato, Politeia 442d1) with the general cognitive faculty of man, which is free, knows itself and, this given, governs of itself.
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The ›higher‹ human faculties are – in contrast to the faculties of perception – characterised by the fact that they are less, or not at all, directly related to mere survival and self-preservation. Their actions are oriented exceptionally to things which enable the human being to use all of his capacities in an autonomous and controlled way, i. e. to the conditions and criteria which enable the human being to distinguish and recognize. The knowledge of these criteria and the free disposition of them is the cause for the transition from a mere surviving, from a mere preservation of the physical corporal existence to a cultivated, good living. For only by knowing the criteria is the possibility given that someone arrives at his optimal development and, given this, at the highest relish which is possible for him. Man, in this sense, only becomes actually man and individual if he does not put (or no longer puts) his efforts into merely surviving, but if he has learnt that this natural self-preservation is solely a condicio sine qua non of his own individual being. This, of course, does not mean that the Platonic-Aristotelian position was hostile to body or senses. On the contrary, the formation of rationality requires the evolvement of sensuality as precondition: its acceptance is presupposed. According to Plato and Aristotle, man cannot be complete either as man nor as individual by neglecting those aspects. Nevertheless it is right that they are, taken separately, that in the human being which he has in common with the animals and which cannot make him an individual. Nature creates the human body, as well as all other (perceptible) bodies – e. g. the animal bodies and things like stones etc. – as something discrete, separate. A human body is already a human body when someone is born (surely already some time before birth), and it is always this particular human body of this particular human being57. This kind of ›individuality‹ is, however, something, by which man cannot differentiate himself from other animals, not even from other inanimate things, since, in this general sense, each body is also something unique and indivisible. This kind of ›individuality‹ is therefore abstract and indeterminate; it is something which never can be the ground for a determinate human identity as a particular (so to speak one-to-one) individual. It is a different case with the psychic faculties of the human being. They are not given to us at birth as complete, entirely accomplished, specifically individual entities, but instead are no more than seeds out of which someone can develop his particular individuality, accomplishing those gifts by means of education in the optimal way. The education, in its turn, cannot succeed because of someone’s simple adaptation to the environment. It must orient itself, in fact, appropriately 57 Cf. the position of Philoponos in his commentary on the Aristotelian Physics: Ioannis Philo-
poni in Aristotelis Physicorum libros tres priores commentaria, (Commentaria in Aristotelem Graeca (= CAG) XVI), ed. Hermann Vitelli, Berlin 1887, 14, 5–12.
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to the possibilities towards which the human gifts have to be developed. Anyone who wishes to develop his capacities of listening cannot expose himself and his ears to any environmental noises, but must address himself to that which makes listening s. o. possible at all: to the capacity to grasp the particular distinctiveness of sounds and notes caused by the constancy of different waves. Let us turn back to generalisation: An appropriate formation of the human gifts cannot differ according to occasions or needs, but must correspond to that which the human being as human being is capable of doing. According to Plato and Aristotle, this is the faculty of establishing the activities of distinction (i. e. thinking and feeling) by reflection – in a self-determined and voluntary manner. Therefore, to find finally the clue for the cause of autonomy and of achievement of real individuality, we only have to look for the cognitive faculty of distinction: this is the only entity which really knows what it is doing and which is therefore able to dispose of itself voluntarily in any case. Anyone who distinguishes by means of the eye or the tongue is bound to the possibilities of perception those organs possess. The eye only sees and never tastes or hears, it never imagines or has opinions. It will always see the sun as something small. The tongue, again, will always like the sweet, regardless of any teaching by reason. The education can only come to someone who is capable of doing all of his different things. This is the case for man solely due to his faculty of distinction. The faculty of distinction, to conclude, is the cause for the actual free autonomy of man, by which he appropriates everything that he acquires as himself and not in the service of someone else. This appropriation is always oriented towards something general. There is no ability, nor reason for man to free himself of it. The generalities will be taken in by the appropriation in the way which is the most agreeable and pleasure-full for man, i. e. the appropriation will be independently, voluntarily and individually self-dependent. With a view to Plato, it is especially clear that what he believes to be aretaî are not models or general rules, given by history and society. The moderate person is, according to Plato, not supposed to live in a dignified measured peace all the time 58, the righteous person does not always have to give back what was lent to him 59, the brave one does not always have resist enemies 60, namely not when those generally accepted ideas of virtue do not serve the special aim they should, to contribute, in fact, to that which really is agreeable and good for a certain person now and here, in this particular situation. 58 Cf. Plato, Charmides 159b–160d. 59 Cf. Plato, Politeia 331e1ff. 60 Cf. Plato, Laches 190e–192b.
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Kant contrasted this Platonic ethics of lust with a neo-Stoical ethics of virtue, believing lust to be sensory lust (in a neo-Epicurean tradition); Popper thought to have to accuse Plato of totalitarianism because of the subordination of the lower faculties of the soul to reason which Plato demanded; most of the scholars who interpret Plato and are oriented to history, believe him – because of the very same subordination – only to have pre-shaped modern subjectivity and individuality. That the subordination of the lesser pleasure to the higher one is really the proper seal of human freedom; that Plato explained this freedom to be deeply rooted in human rationality; that he developed a critical concept of the problem of individual human autonomy without reducing this rationality to an abstract consciousness – to offer some arguments for these hypotheses, albeit in a necessarily brief form, has been the aim of my lecture. The fact that we find an opinion, familiar to that of Plato and Aristotle, in Homer can lead us to the assumption that the ancient conception of individuality, which I have tried to present, is not alienated from reality, but, on the contrary, based upon empirical analyses of the human being.
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»Im Blick auf den Gott erkennen wir uns selbst« Zu Platons Verständnis von Personalität im Alcibiades maior 1 Christian Pietsch (Münster)
Die Frage, was ein menschliches Individuum eigentlich zur Person oder, um es mit dem antiken Begriff auszudrücken, zum Selbst2 macht, wird nicht erst seit der Moderne gestellt. Von Sokrates war bekanntlich, wie Cicero formuliert, die Philosophie nach einer Phase vorrangiger Naturbetrachtung vom Himmel in die Häuser der Menschen geholt worden3, d. h. der Mensch wurde selbst zum Ziel des Philosophierens. Alles nach außen gerichtete Interesse, vor allem aber alles politisch-soziale Handeln konnte nur sinnvoll sein, wenn das Prinzip des Handelns selbst in gutem Zustand war. Die Blickrichtung hatte sich also zunächst von außen weg auf die eigene Seele zu richten4. Sie bildete das eigentliche Selbst, auf 1 Der in der älteren Forschung meist nicht Platon zugeschriebene Dialog wird inzwischen
überwiegend für echt gehalten; vgl. Allen (1962), 189f.; Annas (1985), 112–115; Goldin (1999), 2 f.; Johnson (1999), 1f.; Denyer (2001), 14–26. Auch die folgenden Ausführungen sehen die Autorschaft Platons als sehr wahrscheinlich an, erweist sich doch der Alc. m. in seinen inhaltlichen Aussagen als eng mit anderen Dialogen verknüpft. Entsprechend wurde die Autorschaft Platons in der gesamten Antike nicht bezweifelt, während sie in der modernen Philologie primär gar nicht aus inhaltlichen, sondern formalen Gründen wie etwa der fehlenden dramatischen Gestaltung oder wegen sprachlicher Eigentümlichkeiten abgesprochen wurde, so zuerst Schleiermacher (1861), 203–208; weitere Lit. bei Goldin (1999), 1, A. 2. 2 Neben dem Begriff des ›Selbst‹ (aŒtÏ) findet sich in der antiken Terminologie auch noch ›Ich‹ (‚g∏), z.B. Olymp. 3,12; 197,13 Westerink. 3 Cic. Tusc. V 10: Socrates … primus philosophiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit et in domus etiam introduxit et coegit de vita et moribus rebusque bonis et malis quaerere. 4 Dieser Grundcharakteristik seines Philosophierens gibt Platon an mehreren Stellen Ausdruck: Alc. m. 132c1–6: SW. yuq®c ‚pimelhtËon ka» e c to‹to bleptËon. – AL. d®lon. – SW. swmàtwn d‡ ka» qrhmàtwn tòn ‚pimËleian ·tËroic paradotËon. – AL. t– m†n; Sokrates: »Man muß sich um die Seele kümmern und darauf schauen«. – Alkibiades: »Klar«. – Sokrates: »Die Sorge um Körper und Sachen aber muß man anderen überlassen?« – Alkibiades: »Was sonst?« Phdr. 229e5–230a3: oŒ d‘nama– pw katÄ t‰ Delfik‰n gràmma gn¿nai ‚mautÏn; geloÿon d† moi fa–netai to‹to Íti Çgnoo‹nta tÄ ÇllÏtria skopeÿn.
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dem das Handeln der leiblichen Erscheinung des Menschen beruhte. Man philosophierte seitdem für den optimalen Zustand des eigenen Inneren, der in der Vervollkommnung aller persönlichen Fähigkeiten bestand, der kognitiven ebenso wie der sozialen. Die volle Entfaltung der eigenen Möglichkeiten bedeutete für den Philosophierenden die beste und beglückendste Lebensform. Dieses Verständnis von ›Person‹ oder ›Selbst‹ meint also, sofern man an der physischen und sozialen Existenz des Menschen ansetzt, die seelische Ebene. Zu Recht ist gerade in den letzten Jahrzehnten, etwa von Pierre Hadot, herausgearbeitet worden, wie sehr diese Bemühung um das eigene ›Selbst‹, die cura sui oder ‚pimËleia aÕto‹, als zentrale Aufgabe des nachsokratischen Philosophierens angesehen wurde 5. Wenn man nun darüber hinaus fragt, welche spezifischen Vermögen oder Leistungen der Seele es sind, die die seelisch begründete Personalität eines Menschen ausmachen, kann man ebenfalls bereits auf einer Reihe wichtiger Ergebnisse von Forschern wie Schmitt, Annas oder Gill aufbauen6. Demnach vertrat die Antike zwar nicht das moderne Verständnis von Person. Das heißt, sie sah das eigentlich Personale ebensowenig in der mehr oder weniger zufälligen Summe des individuell Erlebten, Gefühlten oder Gedachten wie in dem Ich-Bewußtsein, das in der Reflexion auf das alle individuellen psychischen Akte gleichermaßen begleitende Moment gründet. Sie entwickelte aber sehr wohl eine eigenständige Konzeption davon, durch welche seelischen Akte Personalität konstituiert wird. Das Personsein besteht nach antikem Verständnis darin, daß die verschiedenen rationalen und nicht-rationalen Aspekte der menschlichen Seele in ein bestimmtes Verhältnis zueinander gebracht und so ein der jeweiligen Lebenssituation angemessenes individuelles und situationsgerechtes Verhalten begründet werden soll. Je mehr es dem Individuum gelingt, den eigenen Platz im Leben zu erkennen, die ihm im Rahmen einer Gemeinschaft vorgegebene Rolle auszufüllen und seine Intentionen der Lebenssituation und deren Anforderungen anzupassen, um so mehr wird der Mensch zu innerer Geschlossenheit finden, um so mehr wird er er selbst sein. Unter den Platonischen Dialogen hat der Alcibiades maior für die vorliegende Frage besondere Bedeutung7. Mit seiner Hilfe soll im folgenden die Platonische Ìjen dò qa–rein ‚àsac ta‹ta, peijÏmenoc d‡ tƒ nomizomËn˙ per» aŒt¿n, Á nundò Ílegon, skop¿ oŒ ta‹ta Çll+ ‚mautÏn … (»Ich bin noch nicht in der Lage, mich der delphischen Inschrift entsprechend selbst zu erkennen. Da kommt es mir doch lächerlich vor, obwohl ich das noch nicht weiß, auf die fremden Dinge zu schauen. Daher lasse ich diese Dinge sein und mich von dem überzeugen, was der Brauch darüber für richtig hält, und betrachte, wie ich gerade sagte, nicht diese Dinge, sondern mich selbst«). 5 Hadot (1991). 6 Annas (1985), 121f.; Schmitt (1990); (2003); Gill (1996); (2006), 325–433. Von ähnlicher Grundtendenz, aber in der Durchführung undifferenzierter Oehler (1998). 7 Die Thematik der Betrachtung des Selbst findet sich auch im Charm. 164c ff.
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Variante des antiken Verständnisses vom menschlichen Selbst vorgestellt werden, denn sie bildet einen besonders kontrastreichen Gegenpol zu modernen Erwartungshaltungen. Allerdings soll der Blick nicht, wie von den genannten Forschern bereits erfolgreich geleistet, auf das Innenleben der Seele gerichtet werden. Vielmehr sollen andere, bisher vielleicht noch nicht hinreichend betrachtete Aspekte des Platonischen Umgangs mit dem ›Selbst‹ betrachtet werden. Da ist zum einen eine genaue Betrachtung der bei der Suche nach dem Selbst entdeckten, unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen. Denn für Platon deckt sich der Begriff des Selbst nur teilweise mit dem der Seele. Vielmehr wird in einem scheinbaren Paradox ein um so höherer Grad an Personalität erreicht, je mehr die einzelne, leiblich-empirische Existenz selbst noch über die Seele hinaus auf einen umfassenderen Grund hin überstiegen werden kann. Platons Verständnis von Person bzw. vom Selbst ist also mehrschichtig und bezieht sich auf verschiedene, gleichsam vertikal gestufte Ebenen von unterschiedlicher Wertigkeit. Zugleich soll die Methode betrachtet werden, mit der Platons Argumentation bewältigt wird und mit der sie kritisch begründet werden kann. Ich möchte daher zunächst zeigen, was Platon veranlaßte, das wahre Selbst des Menschen ›hinter‹ der empirischen, leiblichen Existenz zu suchen (I). Anschließend wird zu betrachten sein, wie Platon das wahre Selbst im Menschen noch jenseits der Seele erschloß (II). Dann ist zu fragen, inwiefern dieses wahre Selbst personale Eigenschaften besitzt (III). Schließlich wird noch zu zeigen sein, daß Platon die Suche nach dem Selbst noch nicht bei der höchsten Instanz im Menschen, sondern erst jenseits des Menschen enden läßt (IV).
I. Die Seele als Selbst Der Gedankengang des Alc. m. ist zweigeteilt. Der Dialog verfährt zunächst elenktisch, d. h. mit negativem Beweisziel (106c4–127d8). Der junge Alkibiades wird von Sokrates zu der Einsicht gebracht, daß er in doppelter Hinsicht unwissend ist. Er weiß nichts über richtiges politisches Handeln und er weiß nicht, daß er darüber nichts weiß. Am Ende dieses ersten Teils ist zumindest das zweite Unwissen in Wissen verwandelt: Alkibiades weiß nun, daß er nichts weiß (127d6–8). Doch der Alc. m. beläßt es nicht bei dieser negativen Beweisführung. Im zweiten Teil (127d9ff.) versucht er, positiv den Weg zu wirklicher Erkenntnis und zu einer auf ihr gründenden Lebensführung aufzuweisen. Dieser Weg wird nach der Beseitigung der falschen Meinung über sich selbst beschritten durch die Entdeckung von Alkibiades’ wahrem Selbst8. Doch wie kommt Platon darauf, daß man differenzie8 Zur im folgenden beschriebenen sukzessiven, durch immer weiter fortschreitende Differen-
zierung geleisteten Entdeckung immer spezifischerer Stufen des Selbst vgl. Johnson (1999).
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ren muß zwischen dem eigentlichen Selbst eines Menschen und anderen Aspekten am Menschen, die zu dem, was er eigentlich ist, offenbar nicht gehören? Das menschliche Individuum erweist sich bei genauerem Hinsehen als komplex. Dabei besitzen nicht alle Aspekte, die es in sich vereint, denselben Rang. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was etwas selbst ist, und dem, was sich zwar an diesem Selbst befindet, aber kein Bestandteil dieses Selbst ist, ihm also nur äußerlich angehört. Wenn etwa, um ein Beispiel aus dem Text zu bringen, der Fuß die Sache selbst ist, sind die Schuhe etwas am Fuß und gehören nur in sekundärer Weise zu ihm. Ebenso ist der Ring etwas am Finger, aber nicht Teil des Fingers selbst (128a5ff.). Aber nicht nur die wesentlichen und unwesentlichen Aspekte an einer Sache unterscheiden sich, sondern auch die Methoden, damit umzugehen. Um den Fuß kümmert man sich mittels der Gymnastik, um die Schuhe, in denen er steckt, mittels der Schusterkunst. Es kommt also darauf an, innerhalb des zunächst einheitlich erscheinenden Ganzen, des beschuhten Fußes, zu differenzieren und primäre und sekundäre Elemente voneinander zu unterscheiden. Nur so läßt sich erreichen, daß die Bemühung sich auf die Sache selbst richten kann. Analog zu diesem Beispiel weist auch der Mensch Elemente primärer und sekundärer Wertigkeit auf. Nur wer beide Bereiche zu unterscheiden versteht, kann das wirkliche Selbst erfassen und im Blick hierauf dann auch das Leben des empirischen Menschen formen (128e10f.). Wie sich diese Differenzierung methodisch leisten läßt, wird ebenfalls zunächst an einfachen Beispielen demonstriert. Am Handwerker und an dem von ihm benutzten Werkzeug wird deutlich gemacht, daß der spezifische Unterschied zwischen beiden in der Fähigkeit zu gezieltem, planvollem Gebrauch (qr®sjai) einerseits und der passiven Verfügbarkeit zu bestimmten Zwecken (≈ qr®tai) andererseits liegt (129b1 ff.). Es ist das auch sonst für Platon zentrale Widerspruchsaxiom, das hierbei die erkenntnisleitende Funktion besitzt9. Denn die Beobachtung eines mit Werkzeugen arbeitenden Handwerkers zeigt, daß einer scheinbar einheitlichen Sache zwei gegensätzliche Merkmale zugewiesen werden müssen, die allem Anschein nach zugleich und in derselben Hinsicht gültig sind. Da aber a priori sicher ist, daß Gegensätzliches nicht zugleich und in derselben Hinsicht gelten kann, da also die gegensätzlichen Merkmale Gebrauchen und Gebrauchtwerden zwar wohl zugleich, aber nicht in derselben Hinsicht gültig sein können, müssen sie verteilt werden auf unterschiedliche Instanzen, auf Handwerker und Werkzeug – eine Differenzierung, die zunächst übersehen worden war. Übertragen auf das menschliche Individuum führt diese Differenzierung analog auf den Unterschied zwischen Seele und Körper. Auch hier lassen sich gebrau9 Zur Bedeutung des Widerspruchsaxioms in der Platonischen Philosophie s. Schmitt (2003),
215–269.
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chendes und gebrauchtes Element unterscheiden. Allerdings ist der Unterschied der verschiedenen Elemente schwerer einsehbar als im Handwerkerbeispiel. So beschreibt Platon im Phaidon, wie sich selbst im unmittelbaren Umfeld des Sokrates eine damals offenbar populäre Ansicht halten konnte, die den Körper und Seele umfassenden Komplex (t‰ sunamfÏteron) oder gar nur den Körper (s¿ma) für die eigentliche menschliche Person hielt (Alc. m. 130a9). So sagt Sokrates über einen seiner Freunde: »Ich kann, ihr Männer, Kriton einfach nicht davon überzeugen, daß ich hier der Sokrates bin, der jetzt mit euch redet und ein jedes, was gesagt wird, in die rechte Ordnung bringt, sondern er hält mich für jenen anderen, den er in kurzem als Leichnam sehen wird« (Phd. 115c6–8). Zu dieser Auffassung konnte es nach Platon nur aufgrund mangelnder Differenzierung kommen. Was in Wahrheit unterschieden ist – Seele und Körper – wird ungeschieden für eine Einheit gehalten. Die Möglichkeit zur Überwindung dieser Position ergibt sich daraus, daß auch ihre Vertreter folgende Prämissen zugeben müssen: 1. der, der gebraucht (Â qr∏menoc), und das, was von ihm gebraucht wird (≈ qr®tai), sind voneinander verschieden (ällo) (129c5. d1–3); 2. der (eigentliche) Mensch, d. h. die jeweilige Seele, gebraucht den jeweiligen Körper, der Körper hingegen wird gebraucht (129e3–8; 130a1 f.). Diese Prämissen erzwingen als Conclusio, daß Seele und Körper voneinander verschiedene Elemente im komplexen Gebilde der leiblichen Existenz eines Menschen sind10. Die zunächst undifferenzierte Einheit ist nunmehr aufgebrochen. Es werden Elemente sichtbar, die nicht nur verschieden, sondern auch von unterschiedlicher Wertigkeit sind. Wie immer zwischen dem Handwerker und seinem Werkzeug werthaft unterschieden werden muß, so besitzt auch in jedem individuellen Menschen die Seele immer eine höhere kausale Wertigkeit und darf den Anspruch erheben, der eigentliche Mensch zu sein 11.
II. Der Intellekt als das Selbst der Seele Damit hat der Gedankengang eine neue Ebene erreicht. Nach der Einsicht, daß die Seele vom Körper zu unterscheiden und daß sie das Selbst des leiblichen Menschen ist, ist klar, daß Selbsterkenntnis und Sorge um das Selbst sich auf die eigene Seele 10 Olympiodor formuliert daher zurecht die von Platon intendierte Definition des empirisch-
leiblichen Menschen so, daß sie beide Elemente sichtbar macht: »logische Seele, die sich des Körpers als Werkzeug bedient« (208.8–9: Âr–zetai t‰n änjrwpon yuqòn logikòn Êrgàn˙ qrwmËnhn tƒ s∏mati). 11 Alc. m. 130c2f.: le–petai mhd‡n ällo t‰n änjrwpon sumba–nein ô yuq†n.
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richten müssen (132b6ff.). Doch wie läßt sich eine solche Reflexion leisten? Auch diesmal bereitet Platon die Lösung durch ein einfaches Beispiel vor. Will man sich selbst sehen, schaut man auf eine reflektierende Fläche. In einem Spiegel oder in der Pupille, d. h. im besten Teil eines fremden Auges, spiegelt sich das eigene Auge oder das eigene Gesicht. Man sieht das andere und sich selbst. Oder besser: Man sieht im anderen sich selbst. Mit der Selbsterkenntnis der Seele verhält es sich analog. Um sich selbst ›sehen‹ zu können, muß sie sich in etwas spiegeln. Wie das Auge sich in einem Auge sieht, so die Seele in einer Seele. Und wie das Auge sich im besten Teil des Auges, in der Pupille, sieht, so auch die Seele im besten Teil der Seele. »Wenn die Seele sich selbst erkennen soll, muß sie in eine Seele schauen, und ganz besonders in diejenige Stelle von ihr, in der sich der beste Teil (Çret†) der Seele befindet, die Weisheit (sof–a), und in etwas anderes, das ihr ähnlich ist« (133b7–10). Diese Stelle erbringt nicht nur die Methode, mit der die Seele sich selbst erkennen kann. Sie erbringt auch noch eine weitere Differenzierung bei der Suche nach dem wahren Selbst. Denn Selbsterkenntnis wird offenkundig nicht durch die Betrachtung einer Seele als ganzer geleistet. Der Blick auf die andere, spiegelnde Seele zeigt der Seele ihren eigenen besten, ursächlichen Teil, der im Verhältnis zum Rest der Seele wie ein Gott ist. Es ergibt sich also eine weitere Differenzierung zwischen der den Körper gebrauchenden Seele als sozusagen unmittelbarem Selbst (aŒtÏ) des empirischen Menschen und einem noch eigentlicheren Selbst, das von Platon das Selbst selbst (aŒt‰ t‰ aŒtÏ, 129b1; 130d4) 12 genannt wird. Dieses Selbst selbst bildet gleichsam den kausalen Kern der Seele 13. Platon beschreibt diesen besten Teil mit sof–a und frÏnhsic (133b10; c5). Diese Begriffe bezeichnen das Wissen von den (Handlungs)prinzipien (sof–a) und von der Fähigkeit zu ihrer Applikation auf den jeweiligen Einzelfall (frÏnhsic). Sie benennen also den Bestzustand eines Erkenntnisvermögens, genauer: den Bestzustand des höchsten seelischen und zugleich bereits über die Seele hinausführenden Teils im Menschen, des Intellekts. Er gründet in der Erkenntnis intellegiblen Seins 14. 12 Zum nominalen Verständnis von t‰ aŒtÏ s. Allen (1962), 187–189. Gill (2006), 349–353 macht
darauf aufmerksam, daß der Begriff des ›Selbst‹ deutlich von den modernen Implikationen dieses wirkungsgeschichtlich für den modernen Leser hochbelasteten Begriffs ferngehalten werden muß. Er wählt daher – wie vor ihm bereits Denyer (2001), 211f. – mit ›the itself itself‹ auch eine terminologisch gezielt von dem (im Englischen) sonst Üblichen (›the self itself‹) abweichende Übersetzung. Dem entspricht meine eigene deutsche Übersetzung ›das Selbst selbst‹. 13 Gill (2006), 349. 14 Für die Bewertung des Intellekts als besten Teil der Seele finden sich etliche Parallelstellen bei Platon. So wird in Pol. IV 437b7ff. in der Lehre von den drei Seelenteilen zunächst der vernunfthafte Teil der Seele (logistikÏn), dessen Vollendung in sof–a besteht, von den nicht-vernünftigen Teilen (‚pijumhtikÏn und jumikÏn), deren Vollendung in swfros‘nh
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Von dort her entfalten sich wie aus einem Prinzip heraus die Vollkommenheiten auch der übrigen Seelenteile, die für die Ausübung des praktischen, sozialen Lebens eines Menschen zuständig sind, wie Besonnenheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit (134c9–11) 15. Das menschliche Selbst umfaßt also drei unterschiedliche Intensitätsgrade, die sich am ehesten mit immer näher um einen Mittelpunkt konzentrierten Kreisen vergleichen lassen: 1. die leibliche Existenz: sie bildet die unterste, werthaft niedrigste Ausformung des Selbst. Sie gründet in und ist zurückführbar auf 2. die Seele: sie fungiert als das Organisationsprinzip des Körpers und der mit seiner Hilfe durchgeführten Handlungen. Sie wiederum ist zurückführbar auf und Çndre–a besteht, abgegrenzt und wird den beiden anderen werthaft übergeordnet. In Pol. 509d6ff. zeigt das Liniengleichnis darüber hinaus, daß der vernunfthafte Teil in sich selbst noch eine weitere Differenz aufweist, nämlich zwischen dem diskursiven Denken (diànoia) und dem werthaft übergeordneten, intuitiven Erfassen der Prinzipien des diskursiven Denkens (nÏhsic). Man kann also sagen, daß in einem weiteren Sinne der vernunfthafte Seelenteil überhaupt, in einem engeren, spezifischeren Sinne nur der Intellekt (no‹c) den besten Teil der Seele bildet. Korrekt erklären auch die neuplatonischen Kommentare des Alc. m. das aŒt‰ t‰ aŒtÏ: Die Aussage des Proklos, es sei damit der vernunfthafte Seelenteil insgesamt (ô logikò yuq†) gemeint, wird differenzierend eingeschränkt von Olympiodor, die von dem kathartisch-theoretischen bzw. von dem vernunfthaften Teil der Seele sprechen, sofern er sich nicht des Körpers bedient, d.h. in der Kontemplation des Seienden begriffen ist (204.14f.: tòn kajartikòn ka» tòn jewrhtik†n 〈yuqòn〉, °tic oŒd‡ Êrgàn˙ qr®tai tƒ s∏mati; 209.24f.: logikòn yuqòn tòn mò qrwmËnhn Êrgàn˙ tƒ s∏mati). In Phdr. 247c7f. erscheint der Intellekt als Steuermann der Seele (yuq®c kubern†thc), der allein zur Schau des Intellegiblen fähig ist und das Geschaute dann – in adäquater Form – als Nahrung an die Seele weitergibt. Aufgrund dieser klaren kausalen Überordnung des Intellekts über die Seele sind daher Deutungen abzulehnen, die aŒt‰ t‰ aŒtÏ als Seele (Bluck [1953], 46; Clark [1955], 231), als Verallgemeinerungen der Seele (Allen [1962], 189; Annas [1985], 131f.) oder als Form im Sinne der allen individuellen Personen gemeinsamen Züge (Denyer [2001], 211f.) verstehen. Denn so würden jeweils auch die nicht-vernunfthaften Seelenteile umfaßt, von denen Platon doch den besten Teil der Seele durch Zuweisung von sof–a und frÏnhsic gerade klar abgrenzt (so zu Recht schon Dönt [1964], 40). Das Verständnis als »form of the Self […] which will be responsible for any thing’s being the very thing it is« (Goldin [1999], 9–13; so auch schon Allen [1962], 188f.) kommt zwar dem angemessenen Verständnis bereits erheblich näher, weil mit ›Form‹ eine oberhalb der Seele liegende Instanz bezeichnet wird. Allerdings darf diese kausale Instanz nicht als apersonal und unindividuell angesehen werden. Nach platonischem Verständnis ist das kausal Höherstehende immer das die umfassendere und implikationenreichere Verwirklichung eines bestimmten Sachverhaltes und mithin auch das gegenüber den Kausaten Individuellere (s.u. S. 9 ff). Um die modernen Konnotationen von ›Form‹ zu umgehen, sollte mit Gill (2006), 349 von »the core or essential features of ›the itself‹« gesprochen werden. 15 Olympiodor 214.7 ergänzt zu Recht die im Text nicht ausdrücklich genannte Tapferkeit (Çndre–a) als vierte Kardinaltugend.
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3. den Intellekt: als ›göttlichster Teil der Seele‹ oder als ›Gott‹ charakterisiert (133c1. c5), transzendiert er die Seele als ihr Erkenntnis- und Handlungsprinzip. Der Intellekt ist also das eigentliche und primäre Selbst. Und wie sich zuvor die Seele als das individuelle Prinzip eines belebten Körpers erwiesen hat, so ist es auch beim Intellekt: der Text zeigt klar, daß mit ihm keine Instanz gemeint ist, die die einzelmenschliche Individualität bereits völlig hinter sich läßt. Gemeint ist hier durchaus der Intellekt, sofern die individuelle Seele über ihn verfügt. Denn die sich im besten Teil einer anderen Seele spiegelnde Seele – und d.h. konkret: die Seele des Alkibiades als des Geliebten, die sich in der des Sokrates als des Liebenden spiegelt 16 – sieht sich selbst über den Umweg der Seele des anderen. Der Blick in die andere Seele hat eine vermittelnde, helfende, sokratisch gesprochen ›maieutische‹ Funktion. Er zeigt der betrachtenden Seele, was sie selbst ihrem Wesen nach sein kann, aber noch nicht ist, und aktualisiert sie gleichsam zu sich selbst hin 17. Wir haben es also tatsächlich zunächst mit zwei verschiedenen ›besten Teilen‹ zu tun: mit dem der betrachtenden und mit dem der betrachteten Seele. Jede individuelle Seele hat also ihren besten Teil. Und doch ist ihnen eines gemeinsam, nämlich der für alle identische Inhalt intellektiven Erkennens, sof–a und frÏnhsic. In der Bezogenheit hierauf treffen sich alle individuellen Intellekte. Denn individuell sind sie lediglich dadurch, daß sich die Wirksamkeit des noetischen Wissens, d.h. die Weise, in der es sich gleichsam nach unten in die Seele entfalten und aktual werden kann, von Mensch zu Mensch unterscheidet 18. Dieses wahre Selbst hat nun eine bemerkenswerte Eigenschaft: Es muß – zumindest in gewisser Weise – nicht erst erworben werden. Das wirkt zunächst verwunderlich, war doch die sokratische Forderung nach Selbsterkenntnis mit der Fürsorge um sich selbst verbunden, d. h. es sollte aus dem noch unwissenden Alki16 Die Konstellation des liebenden Sokrates, in dessen Seele der geliebte Alkibiades sich spiegelt,
gilt nach Phdr. 255d5f. für das Verhältnis des Liebenden zum Geliebten überhaupt. 17 Vgl. Gill (2006), 357: »The image […] is […] that of recognizing (through another) what
you are, essentially, and what you could become«. In Alc. m. 105d2–106a1 erhebt Sokrates, der einzige wirkliche Liebhaber des Alkibiades (vgl. 131e1–4), den Anspruch, nur er allein könne Alkibiades zu dessen Ziel führen, ein wirklich guter Politiker zu werden. Aber diese noch am Anfang des Dialogs genannte Zielsetzung ist noch nicht das letzte Ziel, zu dem der wahrhaft Liebende seinen Geliebten zu führen versucht. Nach Phdr. 252d5–253c2 versucht jeder Liebende, den Geliebten möglichst gottähnlich zu machen. Dieses Ziel stimmt wiederum mit der Aufforderung des Sokrates im Alc. m. 133c4–6 überein, Alkibiades (als der Geliebte) solle im Auge des anderen (d.h. des liebenden Sokrates) den göttlichen Teil erkennen und zugleich in ihm sich selbst, wie auch mit der Aufforderung zur »Angleichung an Gott« als generelle Zielsetzung alles Philosophierens im Tht. 176b1. 18 Daß der Intellekt sich unterschiedlich durchsetzen kann, dafür gibt es individuelle Gründe: Geburt, Begabung (Seelenmetall): Pol. III 415a4–7; Lebenslauf (intelligenter, aber durch Schmeichelei verdorbener junger Mann): Pol. VI 490e2–496a10.
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biades ein wissender werden. Wie kann dann das Selbst des Alkibiades bereits über sof–a verfügen? Der Text gibt darauf eine differenzierte Antwort. Denn er sagt einerseits, daß die Erkenntnis dieses göttlichen Teils swfros‘nh bedeute (133c18f.). Der Blick auf den Intellekt bewirkt also eine ethische Qualität, die vorher offenbar noch nicht vorhanden war. Aber der Intellekt, dieses eigentliche Selbst, das die charakterliche Vervollkommnung bewirkt, scheint im Moment seiner ›Entdeckung‹ bereits vollkommen zu sein. Der Intellekt ist kein formales Vermögen, das erst noch mit Inhalten zu füllen wäre. Die differenzierende Reflexionsbewegung führt also auf etwas, das Alkibiades, wenn auch noch nicht in aktualisierter Form, schon längst und eigentlich ist. Offenbar können sich – und dafür legen Dialoge wie der Phaidros oder der Menon Zeugnis ab – sof–a und frÏnhsic, die den Gegenstand des Intellektes bilden, in den menschlichen Individuen nicht immer ungehindert in die nachgeordneten Bereiche entfalten. Es muß unterschieden werden zwischen dem, was die vom Intellekt genährte Seele von ihrer pränatalen Existenz her prinzipiell weiß 19, und dem Unvermögen, dies im leiblichen Dasein aus eigener Kraft zu aktualisieren. Die inkorporierte Seele kann – und wird häufig – im Widerspruch zum eigentlichen Selbst leben, da sie die leibliche Existenz für das Selbst hält (133c21–d7). Das wahre Selbst und seine Çret† müssen erst wieder entdeckt werden. Der Prozeß der sukzessiven Enthüllung fällt dabei unter das, was Platon als Wiedererinnerung (Çnàmnhsic) bezeichnet 20.
III. Der Intellekt und das Problem der Individualität Aus dem Gesagten ergibt sich aber möglicherweise ein Problem. Nach unserem Verständnis hat Personalität etwas mit Individualität zu tun. Nun scheint die Individualität des je individuellen besten Teils der Seele in dem je unterschiedlichen Grad der Aktualisierung von sof–a und frÏnhsic zu bestehen, d. h. also in dem Abweichen bzw. dem Defekt gegenüber den für alle gleichen Erkenntnis- und Handlungsprinzipien. Ein vollentfalteter Intellekt scheint dagegen über einen für alle identischen Inhalt zu verfügen und daher auch für alle identisch zu sein. Demnach wäre Individualität – und damit Personalität – kein positiv besetzter Begriff und wäre Platons Ziel gerade die Überwindung von Personalität auf ein apersonales Allgemeines hin.
19 Nach Phdr. 247d1–5 gilt für die menschlichen Seelen im Zustand der Lösung vom Körper
prinzipiell dasselbe wie für die Seelen der kosmischen Götter: Sie stehen in direktem Kontakt mit dem Intellekt oder können dies zumindest tun. 20 Men. 81c5–d5.
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Sehen wir uns einmal an, worin die sof–a als Vollendung des Intellekts besteht und woher er sie hat. Bekanntlich unterscheidet Platon einen Bereich reinen, unvergänglichen Seins und einen Bereich des Werdens (Tim. 27d5–28 a4). Der Bereich reinen Seins wird abermals unterschieden in Prinzipien bzw. Ideen (e“dh) und in deren diskursive Entfaltung (diànoia) (Pol. 510a5–511e5). Die Prinzipien bzw. Ideen bilden den Gegenstand der Erkenntnistätigkeit (nÏhsic) des Intellekts 21. Platon beschreibt den Ideenbereich metaphorisch als vollkommenes Lebewesen (pantel‡c zƒon), das alle intellegiblen Inhalte in sich umschließt (Tim. 30c2–31b3), oder als Ort jenseits des (irdischen) Himmels ohne sinnlich wahrnehmbare Qualitäten (Phdr. 247c3). Kein Intellekt gestaltet also seine Inhalte individuell. Der Ideenbereich, auf den er bezogen ist, ist nur einer und für alle Betrachter derselbe, denn jedes wahrhaft Seiende ist immer nur ein eines. In der Tat scheint dieser Befund widersprüchlich. Denn einerseits sollte die analytische Suche das eigentliche Selbst des jeweiligen menschlichen Individuums offenlegen. Andererseits besteht die Leistung dieses Selbst aber gerade darin, intellegible Inhalte zu betrachten, die für alle dieselben sind. Dort also, wo angeblich besondere Individualität vorliegen soll, ist zugleich ein nicht mehr überbietbarer Grad an Allgemeinheit erreicht. Entweder ist Platon dieser Widerspruch nicht aufgefallen, oder es war in seinen Augen keiner. Betrachten wir zwei Beispiele, die verdeutlichen können, wie Platon Allgemeinheit und individuelle Personalität möglicherweise zusammengedacht hat: 1. In der bekannten Beschreibung des Aufstiegs zum Schönen im Symposion (210a4–212a7) wird eine Stufenfolge beschrieben, die den Personalitätsebenen im Alc. m. entspricht. Auf der Suche nach dem Schönen geht man zunächst von den Körpern aus. Dann entdeckt man die Schönheit der Seelen (t‰ ‚n taÿc yuqaÿc kàlloc). Dabei trifft man erst auf das im Handlungs- und Charakterbereich, also auf das im Bereich der vita activa Schöne (t‰ ‚n toÿc ‚pithde‘masi ka» toÿc nÏmoic kalÏn), dann auf das Schöne im Bereich der diskursiven Wissenschaften, also der vita contemplativa (‚pisthm¿n kàlloc). Doch auch die Ebene der Seele wird noch überstiegen. Man stößt auf einen Bereich reinen Seins, auf das Schöne selbst, das nicht mehr nur in einer Hinsicht schön, in anderer aber nicht schön ist. Vielmehr ist es erstens immer und nur das, was 21 Die Bedeutung der Platonischen Termini liegt oft nicht genau fest. So kann nÏhsic in einem
weiteren Sinn die Erkenntnis des reinen Seins zusammen mit ihrer diskursiven Entfaltung meinen (Tim. 28a1: nÏhsic metÄ lÏgou) und entsprechend kann der Inhalt noetischer Erkenntnis, das nohtÏn, ein reines Seiendes bzw. Seinsprinzip, aber auch dessen diskursive Entfaltung bezeichnen (Pol. VI 510a5ff.). Es können aber sowohl nÏhsic (Pol. VI 511d8) wie auch nohtÏn (Tim. 30c7) auch in einem engeren, spezifischeren Sinn nur auf das im eigentlichen Sinne intellektive Begreifen eines Intellegiblen, d.h. eines Seinsprinzips bzw. einer Idee verwendet werden.
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es ist, nämlich schön, und zweitens besitzt es diese Qualität von sich selbst her und nicht etwa nur, wie die vielen schönen Dinge, gleichsam leihweise durch Teilhabe. Wie hat man sich dieses Schöne selbst im Unterschied zu dem vielen und offenbar unvollkommen Schönen zu denken? Hier kann das zweite Beispiel weiterhelfen. 2. Auch der aporetische Dialog Hipp. m. hat das Schöne zum Thema. Sokrates hatte seinen Gesprächspartner, den Sophisten Hippias, um eine Definition des Schönen gebeten, und zwar nicht um die Definition dieses oder jenes Schönen, sondern des Schönen selbst (aŒt‰ t‰ kalÏn, 286d8). Hippias kommt dieser Bitte durch eine Reihe von Definitionsversuchen nach: Das Schöne ist ›ein schönes Mädchen‹ (287e4), ›Gold‹ (289e3), ›ein schöner Tod nach einem glücklichen Leben‹ (291d9–e2) – mit solchen Definitionen versucht Hippias das immer gültige Wesen der Sache zu fassen. Doch die Versuche scheitern jedesmal. Denn das schöne Mädchen reicht nicht aus, um die Schönheit schlechthin und in jedem Fall erklären zu können, findet sie sich doch auch an anderen Dingen, die keine Mädchen sind, etwa an schönen Pferden, an schönen Gefäßen usw. Ja, das schöne Mädchen ist nicht einmal selbst nur und in jeder Hinsicht schön, sondern sogar häßlich, wenn man es etwa mit einer schönen Göttin vergleicht. Die Schönheit, die das Mädchen hat, ist nur in einer Hinsicht schön, in anderer Hinsicht wiederum nicht. Und so ergeht es Hippias auch bei den übrigen Versuchen. Sie alle sind von dem jeweils benannten Sachbereich her weitaus zu schmal und sie sind selbst in der Schönheit, die sie tatsächlich haben, nur in einem relativen Sinn, aber nicht schlechthin schön. Hippias benennt immer nur konkrete, einzelne Instanzen, wie etwas in einem partikulären Sinn und festgelegt auf eine mögliche Ausdrucksweise schön sein kann. Aber er benennt nie das, was immer und nur gilt, wenn irgendetwas schön sein soll, d.h. die notwendigen und hinreichenden Bestimmungsmomente des Schönseins, wie es doch eigentlich Hippias’ Absicht entsprochen hatte (291d1–3). Wäre Hippias dagegen eine solche Bestimmung des ursächlich Schönen gelungen, hätte er eine Ebene erreicht, die jede partikuläre Ausformung des Schönen übersteigt und die daher selbst auch keinerlei Merkmale partikulärer, etwa körperlicher Schönheit aufweisen darf, wie im Symposion ausdrücklich angemerkt wird (Smp. 210e6–211b5). Dieses ursächliche Schöne ist ein nur geistig begreifbarer, intellegibler und immer gleicher, mit sich identischer Sachverhalt. Allein sein Begreifen macht verstehbar, was das viele, einzelne Schöne, das als Mädchen, Pferd usw. über ganz unterschiedliche Sachmerkmale verfügt, trotzdem zu einem jeweils Schönen macht. Was diese Beispiele für die vorliegende Frage nach Individualität und Allgemeinheit einer Person bzw. des Selbst erbringen, ist dies: Der in diesem Aufstieg gefundene, eine geistige Sachverhalt ist zwar allgemein, da er die Bedingungen und Möglichkei-
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ten allen partikulären Schönseins in sich umfaßt. Aber er ist eben deswegen nicht im Sinne einer Abstraktion allgemein. Eine Abstraktion reduziert die Fülle der Merkmale auf das allen Gemeinsame. Sie ist eine nur im abstrahierenden Subjekt existente, nachträgliche Verdünnung gegenüber der Fülle der Phänomene. Dagegen hat das hier gemeinte Allgemeine ursächlichen Charakter. Es wird von allen partikulären Weisen des Schönseins vorausgesetzt, weil es die Ermöglichungsbedingungen jedweden Schönseins in sich enthält. Ein derartiges Schönes ist als die Sache selbst in weitaus höherem Maße wirklich als alle empirischen Instanzen. Damit ist dieses ideenhafte Seiende aber nach Platons Auffassung zugleich auch individueller als seine partikulären Instanzen. Denn Individualität besitzt etwas dadurch, daß es über spezifische Merkmale verfügt. Je charakteristischer aber die Merkmale sind und je klarer sich etwas von etwas anderem unterscheidet, um so individueller ist es. Daraus folgt, daß die intellegiblen Ideen ein Höchstmaß an Individualität besitzen müssen. Denn sie besitzen ihre Merkmale, also etwa die Bestimmungsmomente des Schönen, des Gerechten usw., in höchstem Maße und aus sich heraus. Sie sind die Sache selbst und nur sie selbst. Sie haben ihr Schön-Sein, Gerecht-Sein usw. nicht nur durch Teilhabe als ein Merkmal neben anderen an sich, und sie haben es nicht nur in bestimmter Hinsicht, sondern sie sind ausschließlich und ohne Einschränkung dieser eine Sachverhalt. Daher impliziert eben dieses ihr Sein die vollständige Abgrenzung gegenüber allen anderen Sachverhalten. Das Intellegible, das der Intellekt in seiner sof–a besitzt, ist in der Tat in einem ursächlichen und primären Sinn allgemein und zugleich und eben dadurch in einer alle leiblich-empirische Wirklichkeit übersteigenden Weise individuell. Was das für das menschliche Selbst bedeutet, ist nun leicht zu sehen. Je mehr es sich auf seine höheren, ursächlichen Ebenen zurückzieht und je mehr es sich von deren Inhalten bzw. Wirklichkeiten bestimmen läßt, um so mehr nimmt es selbst deren Qualität an. Je mehr es sich dem Intellegiblen öffnet, um so mehr gewinnt es Anteil auch an dessen Individualität. Der Aufstieg über den leiblichen Bereich führt nicht zu einem abstrakt-apersonalen Allgemeinen 22. Er führt zu immer wirklicherem, individuellerem Sein, in dem die raumzeitliche Individualität in kausaler Weise gleichsam aufgehoben ist. Dadurch findet das menschliche Selbst in der sof–a seines Intellekts sein ursprüngliches und eigentliches Sein.
IV. Gott als höchste Form von ›Selbst‹ und als Ziel des Menschen Es versteht sich, daß diese Bewegung der Rückführung des zweitrangig Komplexen auf das höherwertige Primäre erst dort Halt macht, wo keine Möglichkeit des Überstiegs mehr gegeben ist. Daher ist nach Platons Auffassung sogar mit der 22 So etwa Annas (1985), 131; Goldin (1999), 2.
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Rückführung auf den Intellekt noch nicht das oberste Ende der kausalen bzw. personalen Stufenleiter erreicht. Nach Alc. m. 133c8–17 wird selbst der beste Teil der Seele noch transzendiert 23. Mit dem Gott erreicht die Aufstiegsbewegung einen letzten, unhintergehbaren Punkt, über die bisher durch Differenzierung gewonnenen drei Ebenen hinaus eine vierte. Sie bildet gleichsam das Zentrum, um das die drei anderen wie Kreise geordnet sind. Dieser Gott ist in keiner Weise mehr Teil unserer Seele (133c10f.). Was für die Seele im Verhältnis zum Körper galt und für den Intellekt im Verhältnis zur Seele, muß nun auch für Gott im Verhältnis zum Intellekt gelten. Als erster Ursprung aller Dinge bedeutet er eine letzte Steigerung zu überseiender Wirklichkeit und Individualität. Indem der Mensch seinen Aufstieg bis dorthin leistet, stößt er vor auf den letzten, unhintergehbaren Grund aller Wirklichkeit. »Im Blick auf ihn«, sagt Sokrates (133c13–16), »sehen und erkennen wir am allermeisten uns selbst«, denn Gott ist »der schönste Spiegel«. In ihm sehen wir zugleich den eigenen Grund. Der Mensch erreicht in scheinbarer Paradoxie gerade dort seine höchste Individualität und Selbsterkenntnis, wo er völlig über sich selbst hinausgeht. Platon hat dieses letzte Ziel menschlicher Bemühungen mit der Rede von der »Angleichung an Gott« (Âmo–wsic jeƒ) in eine prägnante Formulierung gebracht (Tht. 176b1).
V. Schluß Selbsterkenntnis und Selbstvollendung im Spiegel der intellegiblen Welt, ja gar im Spiegel der Gottheit: Die Suche nach dem eigentlichen Selbst führt das menschliche Individuum stufenweise über die eingeschränkte Wirklichkeit der leiblichen Exis23 Dieses nur bei Eusebios und Stobaios überlieferte Textstück wurde in der älteren Forschung
in der Regel athetiert. Friedländer (1964), 334, A. 13 vermutet eine neuplatonische Interpolation. Linguiti (1981) und Fortuna (1992) halten die Interpolation für christlich. Dagegen hat Goldin (1999), 12, A. 30 eine Reihe überzeugender Gegenargumente zusammengestellt, die unabhängig vom Inhalt operieren. Am entscheidendsten ist jedoch die inhaltliche Verknüpfung erstens dialogintern mit den angrenzenden, sicher echten Passagen, v.a. 133c4– 6 und 134d1–6 (Wiggers [1932], 700–702; Johnson [1999], 10–14) und zweitens mit anderen Dialogen. So ist außer dem Aufstieg zum Guten (z.B. Pol. VII 517a8–c5) noch Phdr. 247c3–e6 zu nennen. Dort wird, ohne daß der Begriff des Spiegels fällt, berichtet, daß die Seele durch Vermittlung des Intellekts bei der Betrachtung des überhimmlischen, intellegiblen Ortes u.a. Gerechtigkeit (dikaios‘nh) und Beherrschtheit (swfros‘nh) sieht, Qualitäten, die eigentlich ja seelische Çreta– sind. Auch hier ist es der Sache nach so, daß der Mensch/die individuelle Seele durch seinen/ihren Intellekt im Göttlichen das sieht, was er/sie selbst werden soll bzw. wozu er/sie durch die Betrachtung wird. Er/sie spiegelt sich selbst im Göttlichen. Wenn daher der bei Eusebios und Stobaios überlieferte Text die in Alc. m. 133c18ff. genannten seelischen Qualitäten swfros‘nh (133c18) und dikaios‘nh (134c10) im Anschluß an eine Spiegelung ihres menschlichen Trägers im Gott auftreten läßt, ist die Nähe zum Phdr. offenkundig.
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tenz hinaus. Entsprechend ist der Begriff der Personalität für Platon mehrschichtig, gewinnt ein menschliches Individuum an Personalität in eben dem Maße, in dem ihm dieser Aufstieg gelingt. Denn erstens wird in der Bindung der Seele an den Körper die Fülle des prinzipiell Möglichen auf nur eine Möglichkeit beschränkt. Zweitens wird das empirische Individuum durch eine Vielzahl akzidenteller Bestimmungen mit Merkmalen versehen, die für sein eigentliches Selbst unspezifisch sind. Dieser mindere Grad an Selbstsein oder Personalität wird schrittweise überwunden durch den Rückgang auf das jeweils ursächliche Moment bis hin zu einer obersten Konzentration von Wirklichkeit im göttlichen Prinzip. Wirklichkeitsfülle, Individualität und Personsein – all dies ist dort in einer sich jeder Eingrenzung entziehenden Weise gesteigert. Wer diese höchste Form des Selbst gewinnen will, muß – und will – zugleich sein eingeschränktes Selbst verlieren. Mit dem Aufkommen der hellenistischen Philosophie verschwand diese Auffassung von Personalität zunächst. Doch der in der Kaiserzeit wieder neu zum Leben erwachende Platonismus griff die Lehren des Meisters auch in diesem Punkt wieder auf. Die Sorge um sich selbst in der Form, die Platon ihr vor allem im Alc. m. gegeben hatte, wurde zum beherrschenden Lebensziel, das die gesamte platonisch geprägte spätantike Gesellschaft, Heiden und Christen gleichermaßen, formte 24. Die leibliche Existenz des Menschen mußte so gestaltet werden, daß der Aufstieg vom Körper zur Seele, zum Intellekt und zu Gott möglich wurde. Askese und Mystik, d.h. die Zurücknahme der leiblichen Interessen und das Streben nach der Gottesschau, in der sich das eigene Selbst vollendete, wurden bis zum Ende des Mittelalters zu Leitbildern der persönlichen Lebensführung 25.
Literatur Allen, Reginald E., »Note on Alcibiades I 129b1«, in: AJPh 83 (1962), 187–190. Annas, Julia, »Self-Knowledge in Early Plato«, in: D.J. O’Meara (Hg.), Platonic Investigations, Washington 1985, 111–138. Beierwaltes, Werner, Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen, Frankfurt a.M. 2001. Bluck, Richard S., »The Origin of the Greater Alcibiades«, in: CQ 47 (1953), 46–52. Clark, Pamela M., »The Greater Alcibiades«, in: CQ 45 (1955), 231–240. Denyer, Nicholas, Plato. Alcibiades, Cambridge 2001. Dönt, Eugen, »Vorneuplatonisches im Großen Alkibiades«, in: WS 77 (1964), 37–51. Fetz, Reto Luzius, »Dialektik der Subjektivität. Die Bestimmung des Selbst aus der Differenz von Ich und Mein, Sein und Haben: Alkibiades I, Epiktet, Meister Eckhart«, in: Fetz/ Hagenbüchle/Schulz 1998, 177–203. 24 O’Daly (1973); Beierwaltes (2001), 84–122. 25 Vgl. dazu Kremer (1981); Fetz (1998).
»Im Blick auf den Gott erkennen wir uns selbst«
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The Self and Hellenistic-Roman Philosophical Therapy* Christopher Gill (Exeter)
Introduction In this discussion, I examine two well-marked themes in Hellenistic and Roman thought, with a view to exploring the question – a large and complex one – whether there are substantive changes in the conception of self in this period, by contrast with earlier Greek thought. These themes are, first, that of introspection or the turn towards the self, and, second, the idea of philosophy as therapy. Both of these themes become more prominent in Hellenistic-Roman philosophy than in earlier thought, and both have been taken to express a shift towards a more subjective and individualistic conception of self than is found in Classical Greek thought – a view I wish to challenge. Before turning to these themes in Hellenistic-Roman philosophy, I clarify the standpoint from which I approach this question. In two books on ancient concepts of self or personality (Gill 1996, 2006), I have argued that, if we are to engage effectively with ancient ideas on this subject, we need to counteract the modern tendency to conceive ›self‹ or ›personality‹ in terms that give a central role to subjectivity and individuality. For complex cultural and philosophical reasons, modern Western thought (at least since Descartes and Kant) has attached special importance to the idea of the self-conscious ›I‹, seen as the locus of a subjective, first-personal viewpoint and as the bearer of unique individuality. This tendency has had a profound influence on modern Western thinking in psychology or the philosophy of mind, the theory of knowledge, and ethics, and has shaped our thinking about what it means to be a ›self‹ or ›person‹. In ancient thought and culture, I have argued, we do not find the special factors that have promoted the modern focus on subjectivity and individuality. Ancient psychology or philosophy * A French translation of this chapter (›Le moi et la thérapie dans la pensée hellénistique et romaine‹) will appear in Le moi et l’interiorité dans la pensée antique, eds. G. Aubry and I. Ildefonse, Paris: Vrin 2008, 85–108.
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of mind is conceived in ›objective‹ terms (those of the operation and co-ordination of functions, for instance), rather than of ›I‹-centred self-consciousness and subjectivity. Ancient ethics is conceived in terms of participation in different types and forms of community, rather than as the exercise of individual moral autonomy. The search for knowledge – especially knowledge of the most profound, morally important kind, such as the nature of the human good – is understood as a shared dialectical search for truths that apply universally. This contrasts with a prevalent modern idea that the deepest kinds of ethical truths are to be found within ourselves, in some sense, and discovered through introspection or self-analysis. I have presented the distinction between these modern and ancient ways of thinking about the self and personality as a contrast between a ›subjective-individualist‹ and ›objective-participant‹ conception of person. In fact, although much modern thought is ›subjective-individualist‹ in this sense, there are also powerful ›objective‹ and ›participant‹ strands in modern thought too (for instance in the theory of mind, epistemology, and ethics). For this reason especially, exploring the ancient (objective-participant) conception of self can be valuable for us, in our current cultural and intellectual situation 1. It is this kind of factor that has, in part, encouraged the recent return to (ancient-style) virtue-ethics in modern moral thinking, for instance 2. The idea of an ›objective-participant‹ conception of self was one that I formulated, in the first instance, to define the salient features of classical Greek thought about personality in Greek literature and philosophy from Homer to Aristotle. It is possible to argue that Hellenistic and Roman thought sees a shift towards a more ›subjective-individualist‹ view of the person. For instance, it has often been supposed that the loss of power by Greek city-states in the Hellenistic era and Roman Empire undermined small-scale communal involvement and promoted a more individualistic ethic 3. Some scholars have also suggested that certain features in Hellenistic-Roman philosophy of mind and epistemology (for instance, the tendency to analyse perception in terms of ›appearances‹ or impressions, phantasiai) produced a way of conceiving perception that is more ›subjective‹ (in a post-
1 See further Gill (1996), especially Introduction and ch. 6, (2006), especially ch. 6. On the
relationship between ancient and modern concepts of ›person‹ (as a normative idea), see Gill (1990 and 1991). For a different view, stressing similarities between ancient and modern concepts of self, see Sorabji (2006). 2 On the modern revival of virtue-ethics and on the relationship between ancient and modern ethical thought, see Gill (2005), esp. Introduction. MacIntyre (1985), a major stimulus to this revival, advocated what I am describing as an ›objective-participant‹ approach to ethical theory. 3 See e.g. Bryant (1996), 400–467; for a (partly critical) review of this kind of idea, see Foucault (1990) 41–43.
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Cartesian sense) than earlier ancient thought 4. Taken together, these two points might suggest that the Hellenistic and Roman eras saw a significant cultural and philosophical shift towards a more subjective-individualist view of self. However, I have argued in Gill (2006) that the case for seeing a shift towards ›I‹-centred subjectivity in Hellenistic philosophy is much weaker than it seems at first sight 5. The question whether there is a shift towards greater individualism in Hellenistic and Roman culture is a very complex one. But some recent work has underlined the continuing importance of social and political ›identity‹, as it is often termed, in Hellenistic Greece and under the Roman Empire 6. Some scholars have also argued that certain types of social and communal participation remain very important in Stoic and, indeed, Epicurean thought 7. So I think there are good reasons to doubt the claim that there is a significant move towards a more subjective-individualist sense of self in Hellenistic-Roman thought and culture. However, the question whether there is or is not a shift of this type remains very much a matter of debate 8. This makes it worthwhile to consider here the two features of Hellenistic-Roman thought noted earlier – the turn towards the self or introspection and the idea of philosophy as therapy – and to assess their implications for this question. As will become clear, I want to suggest that there are indeed some significant changes in thinking about the self in some HellenisticRoman theories, and that these explain the emphasis on these two features. But, as I will also argue, these changes do not mark a shift from an objective-participant to a subjective-individualist conception of self but modification within the objectiveparticipant framework of thinking.
4 See e.g. Long (1996), 266, discussed in text to nn. 34, 36f. below. See also Engberg-Pedersen
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(1986, 1990a), and (1990b), 64–100, on this view of Cicero’s presentation of the Stoic theory of oikeiôsis. Fine (2003) claims that we find a subjective approach to knowledge in the Cyrenaics and in the Sceptic thinker Sextus Empiricus. See Gill (2006), 375–377, responding to Long, Gill (2006), 359–370, responding to EngbergPedersen, and Gill (2006), 391–407, responding to Fine. Bulloch et al. (1993) brings out the continuing importance of communal forms of life in Hellenistic culture. On ›identity‹, defined in social terms, in the Second Sophistic, see Whitmarsh (2005), 32–37. On Stoic thought on involvement in family and community, see Reydams-Schils (2005). On Epicurean interpersonal and social ethics, see references in nn. 75f. below. See e.g. the partly contrasting views on this question in two recent essays (centred on Seneca), Inwood (2005) and Long (2006), 360–376.
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Two Themes in Hellenistic-Roman Thought What reason do we have for seeing introspection or the turn towards the self as important recurrent features of Hellenistic-Roman thought? The most obvious illustrations of this theme come in works of practical ethics, especially in Stoic writings in the early Roman Empire. For instance, Seneca often presents retreating or retiring ›into oneself‹ as the best response to immediate crises, while his report of his own nightly (private) self-examination has become rather famous 9. In Epictetus’ teachings, as reported by Arrian, we find a repeated call to ›examine your impressions‹ (phantasiai), and to treat your capacity for rational or moral agency (prohairesis) as what you really are and as a foundation for living a good life 10. Marcus Aurelius, the second-century AD emperor, actually wrote a kind of philosophical diary to and for himself, in which he also reminds himself that he is (in a crucial sense) his ›mind‹ or rational agency (hêgemonikon) 11. These features of Hellenistic and Roman practical ethics have been much examined in recent years and seen as the expression of a kind of self-concern that is characteristic of the period. Pierre Hadot has seen here the emergence of specific forms of ›spiritual exercise‹ 12 and Michel Foucault the expression of a much more culturally pervasive ›care for the self‹ 13. Some scholars, quoted later, find in these features the expression of a new kind of subjective or individualistic conception of self – though I shall shortly suggest a quite different way of interpreting their importance. What about the second feature of Hellenistic-Roman thought, the presentation of philosophy as a kind of therapy or quasi-medical treatment? This idea, like much else in Hellenistic thought, goes back to Plato’s Socrates 14; but it becomes a very central idea in Stoicism and Epicureanism and pervades Hellenistic-Roman thought more generally15. Here, for instance, are some typical expressions of this view taken from the second-century AD Epicurean Diogenes of Oenoanda, on the 9 See Seneca Epistles 3.36.1–3 on his nightly self-examination; see further Edwards (1997),
25–29, Sellars (2003), 148. 10 See text to nn. 31–41 below. 11 See e.g. Marcus Aurelius, Meditations 2.2, 5.26. On the form of his work and the significance
of this form, see Rutherford (1989), Hadot (1998). 12 See Hadot (1995), 79–144; also Sellars (2003), chs. 5–7. 13 Foucault (1990), 42, sees in the Hellenistic-Roman period a greater »intensity of the relations
to self, that is, of the forms by which one is called upon to take oneself as an object of knowledge and a field of action, so as to transform, correct, and purify oneself, and find salvation«. On Foucault’s approach to this topic, see Gill (2006), 330, 334f. 14 See e.g. Plato, Charmides 156b–157c, Gorgias 505b–c. On Socrates as a powerful influence on Hellenistic thought in general, see Long (1999), 617–641; on Socrates as an influence on Stoic practical ethics, see Sellars (2003), part 1. 15 See Nussbaum (1994) on this theme in Stoicism and Epicureanism, and, on the idea of the ›care of the self‹ more broadly in Hellenistic-Roman culture see Foucault (1990).
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one hand, and from the great Stoic theorist, Chrysippus, on the other. Epicurean and Stoic expressions of this idea: […] most people are sick all together, as in the plague, of false opinion concerning things, and since they are becoming more numerous – for because of their reciprocal emulation, they get the disease from one another, like sheep […] I have decided, using this stoa, to put out in public for all the drugs that will save them 16. It is not true that, whereas there is an art, called medicine, concerned with the diseased body, there is no art concerned with the diseased soul […] just as the physician of the body must be ›inside‹, as they say, the affections that befall the body and the proper cure of each, so it is incumbent on the physician of the soul [i.e. the philosopher] to be ›inside‹ both of these things in the best possible way 17.
There are in fact two versions of this idea. One is that therapy, along with encouragement (protreptic) and advice, is one of the functions of practical ethical discourse 18. For instance, the Stoic theorist Chrysippus concluded his four-book treatise on the passions with a ›therapeutic‹ book, summing up key features of his theory for the management of emotions 19. Essays on the therapy of the passions or on one particular passion remained a standard feature of Hellenistic and Roman thought until at least the end of the second century AD 20. The other idea is that philosophy as a whole (the combination of all three branches of philosophy, logic, physics and ethics) can function as a type of therapy of the psyche 21. How does this very distinctive feature of Hellenistic-Roman thought relate to the other feature (the turn towards the self) and the larger question posed here, whether or not there is a shift from an objective-participant to a subjective-individualist conception of self? Some scholars (for instance, Martha Nussbaum and Richard Sorabji) have linked the therapy-theme with the emergence of a strongly practical conception of philosophy (especially ethical philosophy), which is designed to respond in a 16 Diogenes of Oenoanda, fr. 2 Chilton (1971), trans. Nussbaum (1994), 137. 17 Chrysippus, quoted by Galen, de Placitis Hippocratis et Platonis (PHP) 437 Kühn, 5.2.22f.,
trans. De Lacy (2005). On this passage, see Tieleman (2003), 143–146. 18 On genres of practical ethics in this period, see Gill (2003), 42f. See Stobaeus 2.39.20–41.25
for this three-fold schema, associated there with Philo of Larissa. See also Long and Sedley (1987) (= LS, references are normally to section and paragraph), 66. 19 For a reconstruction of this book, see Tieleman (2003), 140–197. 20 For instance, there are works on the control of anger by Philodemus, Seneca and Plutarch, and one on the control of passions generally by Galen; Cicero, Tusculan Disputations 3–4 reviews therapeutic strategies, especially Stoic ones. See further Nussbaum (1994), Braund/ Gill (1997), Sorabji (2000). 21 On the idea of the combination or synthesis of the three branches of philosophy in Stoicism and Epicureanism, see Gill (2006), 161f., 187–189. On possible links between these two ideas (branches of knowledge and therapy, or at least modes of practical teaching), see Hadot (1995), 24–6, (1998), 89–98, Sellars (2003), 78–81, 135f.
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specific and diversified way to the needs and concerns of different individuals 22. However, I am less convinced that this feature of Hellenistic-Roman philosophy is linked with a new focus on individuality or subjectivity. On the contrary, the use of the medical metaphor in this connection implies that there is objective ethical knowledge and that the philosophical doctor’s perspective is, in principle at least, objectively better or truer than the patient’s23. So it is far from obvious that the prominence of this idea points to a shift to a more subjective-individualist conception of self.
Two ancient views of ethical development Before pursuing this question, however, I want to take up another topic – though one that sheds light on the conception of self that is implied by Hellenistic-Roman introspection and therapy. I want to suggest that both these themes are closely linked with certain very central and distinctive features of Stoic and Epicurean thought, which mark a significant difference from earlier (especially Platonic and Aristotelian) thought. They express partial changes in the conception of the self – though these modifications remain within an objective-participant framework of thinking. I have in view two well-marked innovative features of Stoic and Epicurean thought, one relating to ethical development and the other to the structure of the human psyche. In some Platonic works, especially the Republic and Laws, and in Aristotle (the ethical writings), we find the view that development towards virtue depends on a combination of (1) (the right kind of) inborn nature, (2) ethical habituation in (the right kind of) community and (3) reflective or dialectical enquiry based on the first two factors. This view is also linked with a conception of the psyche as subdivided into rational and non-rational parts (roughly, reason and emotion or desire). The full development of virtue depends on the innate possession of a psyche that is first, amenable to habituation in the right patterns of emotions and desire and, second, capable of reflective enquiry based on the foundation of emotional habituation 24. By contrast, Stoics and Epicureans, despite 22 See Nussbaum (1994), 46, 73f., Sorabji (2000), 211–227. 23 On the tendency in ancient philosophy to treat the doctor as the paradigm of the holder of
(objective) expertise and the contrast between this ideal and reality – competitiveness and dispute between rival doctors, see Lloyd (2003), 237–239. 24 See Gill (2006), 134–136; the pattern is continued in Middle Platonic thinking, e.g. Plutarch, On Ethical Virtue (virtue as a combination of physis, ethos, and logos, coupled with the idea that the psyche is a combination of rational and non-rational parts); see Gill (2006), 231f., referring to Plu. Moralia (Mor ). 443C–D. For detailed study of the Platonic-Aristotelian pattern, see Gill (1996), ch. 4, esp. 266–287, relating the two-stage programme of ethical education (habituative and rational) to a part-based conception of psychology. Key relevant
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other important differences, maintain that (as the Stoics put it) ›all human beings have the starting-points of virtue‹ 25, regardless of their specific inborn nature or localized social/political context. This claim is supported by the shared Stoic-Epicurean beliefs that everyone is constitutively capable of forming ›preconceptions‹ (prolêpseis) of core ethical ideas, such as good or god 26. It is also supported by the belief, held in different forms by both theories, that there are no irrational parts of the psyche that need to be habituated (and can be irredeemably corrupted) by upbringing and social influence. Stoics and Epicureans hold a unified or holistic view of human psychology, in which emotions and desires are directly dependent on beliefs and reasoning and do not constitute separate parts or independent sources of motivation. Hence, changes in belief (for instance, about the nature of happiness or the good) necessarily bring about changes in patterns of motivation or desire. For similar reasons, ethical change and development are seen as possible at any point in people’s lives, whatever their age or situation27. These innovative features of Stoic and Epicurean thought are well-marked aspects of these theories; and the points of difference from Platonic-Aristotelian thought (and from later ancient thought in a Platonic-Aristotelian style) are increasingly recognized in the first and second centuries AD28. These features are also closely linked with some absolutely central and innovative features of Stoic and Epicurean theory. In Stoicism, they are linked with the idea of development as oikeiôsis (familiarization), a core theme of Stoic ethics. The main relevant idea here is that all human beings are naturally capable, as rational animals, of two related forms of development. One is that of developing to the point of recognizing that virtue is the only good and of feeling and acting in line with this belief. The other
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texts include Plato, Republic 400–2, 485a–496d, Aristotle, Nicomachean Ethics 1.3f., 1.13, 2.1, 10.9. Stobaeus 2.65.8 (= LS 61 L). See Gill (2006), 132–134, 180f., referring to Diogenes Laertius 7.53 (= LS 60 C), Plu. Mor . 1070 C–D, 1041E (= LS 60 B), Cicero de Finibus (Fin.) 1.31, 3.