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German Pages 262
Wolf-Dietrich Bukow Urbanes Zusammenleben
Interkulturelle Studien Band 20 Herausgegeben von Georg Auernheimer Wolf-Dietrich Bukow Christoph Butterwegge Hans-Joachim Roth Erol Yildiz
Wolf-Dietrich Bukow
Urbanes Zusammenleben Zum Umgang mit Migration und Mobilität in europäischen Stadtgesellschaften
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17054-1
Inhalt 1
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Warum es schwierig ist, einen angemessenen Zugang zur Thematik zu finden 1.1 Der wissenschaftliche Umgang mit Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität muss überdacht werden 1.1.1 Es ist Zeit für einen Perspektivenwechsel 1.1.2 Der Perspektivenwechsel nötigt dazu, sich auf Alltagsprozesse einzulassen 1.1.3 Über den Zugang zum Alltagshandeln eröffnen sich neue Horizonte 1.1.4 Auch der wissenschaftliche Diskurs selbst kann sich dem nicht entziehen 1.2 Eine Neupositionierung der gesellschaftspolitischen Diskussion ist überfällig 1.2.1 Die Zeit der nationalen Erzählungen ist vorbei 1.2.2 Plädoyer für eine Neuausrichtung der Debatte Welche Bedeutung Mobilität im Übergang zur Postmoderne gewinnt 2.1 Wie man sich in der Stadtgesellschaft mit Mobilität arrangiert 2.1.1 Jenseits des überkommenen „Kulturprogramms“ 2.1.2 Jenseits des überkommenen „Kulturprogramms“ lässt sich die Bedeutung von Mobilität und Migration neu einschätzen 2.1.3 Jetzt wird klar, wie wichtig in der Praxis die Alltagsroutine ist 2.1.4 Es bleibt zu prüfen, ob im Übergang zur Postmoderne die Herausforderungen zunehmen 2.1.5 Wie die europäische Stadt auf Mobilität reagiert 2.1.6 Zu den „grammatischen Bedingungen“ urbanen Zusammenlebens und zur strukturellen „Akkommodation“ von Diversität 2.1.7 Zu den Chancen für eine politische Vernunft im Zeitalter des Übergangs, der Transmoderne 2.2 Auf dem Weg von informeller zu struktureller Akkommodation: Zwei Beispiele 2.2.1 Gelebte Diversität
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2.2.2 Die Weidengasse und das Eigelsteinviertel 2.2.3 Zwischen Keupstraße und Bergisch-Gladbacher Straße 2.2.4 Von informeller zu struktureller Akkommodation auf Diversität Welche Bedeutung Mobilität im globalen Kontext gewinnt 2.3.1 Weshalb im Zeitalter des postmodernen Theoriezerfalls dennoch eine Weltgesellschaftstheorie nützlich ist 2.3.2 Warum Ulrich Becks Weltgesellschaftstheorie zu kurz greift, aber dennoch für „Einsicht schaffende Diskurse“ weiter hilft 2.3.3 Wenn die überkommenen Strukturen der Gesellschaft durch globale Netzwerke substituiert werden 2.3.4 Vom Nutzen eines neu modellierten globalgesellschaftlichen Horizonts
Von der Beharrlichkeit nationaler Erzählungen 3.1 Wenn das urbanen Zusammenleben in die Diskussion gerät 3.1.1 Die Routine macht den Rückgriff auf Deutungen schwer 3.1.2 Wenn Auseinandersetzungen über das Zusammenleben provoziert werden 3.2 Gebetsstätte oder Islamischer Brückenkopf? Das Moscheeprojekt in Köln-Ehrenfeld 3.2.1 Zu den generellen Rahmenbedingungen 3.2.2 Zum Verfahren der Skandalisierung 3.2.3 Der lokale Diskurs 3.3 „Ethnic Theme Park“ oder „Parallelgesellschaft“? Noch einmal zur Keupstraße 3.3.1 Zu den veränderten Rahmenbedingungen 3.3.2 Ein typisches Beispiel: „Ethnic Theme Park“ Keupstraße 3.3.3 Zwei Biographien 3.4 Rassistische Kontextualisierungen und kein Ende 3.4.1 Die Bedingungen für ein erfolgreiches Miteinander sind eigentlich günstiger geworden 3.4.2 Milieurassistische Interventionen gefährden sehr schnell das Miteinander
104 108 115 116 118 123 128 139 151 152 152 155 157 158 162 165 175 176 179 182 197 198 202
3.4.3 Rassistische Kontextualisierungen bleiben nicht unwidersprochen 3.4.4 Warum die nationalen Erzählungen so unendlich zählebig sind 4
Zusammenfassende Überlegungen 4.1 Zusammenleben ist eine Frage wohlverstandener Routine 4.1.1 Zur Leistungsfähigkeit der praktischen Vernunft oder zur generativen Bedeutung einer wohlverstandenen Routine 4.1.2 Wenn sich die praktische Routine mit Hilfe der sozialen Grammatik urbanen Zusammenlebens durchsetzt 4.2 Warum kritische Debatten zur Sicherung des urbanen Zusammenlebens immer wichtiger werden 4.2.1 Zwischen positioneller Selbstbehauptung und kritischer Reflexion 4.2.2 Mobilisierung der praktischen Vernunft
Literaturverzeichnis
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Vorbemerkung Das urbane Zusammenleben beschäftigt die Menschen, seitdem sich Städte entwickelt haben. Aber es beschäftigt sie trotz aller gesellschaftlicher Veränderungen offensichtlich weniger in der Alltagspraxis als vielmehr in der Öffentlichkeit und in politischen Debatten. In der Alltagspraxis herrscht trotz eines zunehmenden gesellschaftlichen Wandels eine relativ große Gelassenheit. In der Politik werden dagegen ständig neue Erkenntnisse und Positionen formuliert. Die politischen Deutungen weisen mitunter ein recht knappes Verfallsdatum auf. Man bekommt dabei den Eindruck, dass die Bevölkerung letzten Endes den Herausforderungen oft eher gewachsen ist als zum Beispiel die Politiker. Um das zu erkennen braucht man nur einen Blick auf die einschlägigen Begrifflichkeiten zu werfen. Nimmt man den Begriff „Ausländer“, so wird das Problem schnell deutlich. Nachdem vor allem durch den Mauerbau 1961 die Ost-Westmobilität gestoppt wurde, hat man ganz massiv Menschen aus dem Mittelmeerraum angeworben. Da sie aber nur als zeitweiliger Ersatz für die „Flüchtlinge aus der damaligen DDR“ betrachtet wurden, benötigte man für sie einen spezifischen Begriff, der genau dies zum Ausdruck bringen sollte. Und da der historisch vertraute Begriff des „Fremdarbeiters“ durch den Nationalsozialismus diskreditiert war, schien zunächst der Begriff „Gastarbeiter“ optimal. Er stellte ein dem Nachkriegszeitgeist geschuldetes politisch korrektes funktionales Äquivalent dar. Und als dann die „Gastarbeiter“ blieben, wurde daraus der Begriff „Ausländer“, der sich zunächst in der Öffentlichkeit, dann aber auch im Alltag durchsetzte. Der „Gastarbeiter“ war ja jetzt nicht mehr automatisch Arbeiter, sondern zunehmend häufig auch Arbeitsloser. Außerdem konnte man jetzt das Attribut „fremd“ wieder einbauen, dieses Mal freilich in der Form eines Präfixes, das eine bestimmte Konnotation herstellt, nämlich die einer Nichtzugehörigkeit und damit eines Fremdseins. All das wäre kein wirkliches Problem, wenn Deutungen und die sie repräsentierenden Begriffe tatsächlich wieder verschwinden würden, wenn sie nicht mehr passen. Leider ist das nur selten der Fall. Das hat natürlich Gründe. Deutungen genauso wie Begriffe sollen ja in der Regel nicht nur abbilden, sondern definieren. Sie erweisen sich schnell als Teil eines gesellschaftlichen Diskurses, der Gesellschaft weniger beschreibt als vielmehr politisch auflädt, also spezifisch definiert. Auch Fehldeutungen führen deshalb noch lange nicht zu einer Revision der entsprechenden Gesellschaftsbilder und zur Neumodellierung der jeweils verwendeten Begriffe, sondern legen allenfalls die hinter der Begriffspolitik 9
erkennbaren Machtinteressen bloß. Oft stehen eben einzelne Begrifflichkeiten für einen bestimmten öffentlichen Diskurs und tragen damit zur Pflege eines entsprechenden kunstvoll tradierten Gesellschaftsbildes bei. Im Grunde hat man nur die seit je bestehende und freilich den Vorstellungen von einer bürgerlichen Gesellschaft zutiefst zuwiderlaufende Mobilität, nämlich „Migration“ „zeitgemäß“ begriffspolitisch aufgeladen und dann unter veränderten gesellschaftlichen Konstellationen geringfügig modifiziert, das heißt die Aufladung aktualisiert. Vergleicht man die zugrundeliegenden sozialen Prozesse mit dem, wie sie im Rahmen des politischen Diskurses definiert werden, so kann man schnell erkennen, dass sie längst ihr Verfallsdatum überschritten haben. Dennoch erscheint es kaum möglich, ohne diesen längst “abgelaufenen” Begriff auszukommen. Warum das so ist, kann man aus der Rückschau leicht erkennen. Die Begriffe sind in das, was sie bezeichnen, nicht nur verwickelt, weil sie definieren, eingrenzen, ausgrenzen, also steuern und werten. Sie sind gemeinsam mit dem Bezeichneten in der jeweiligen gesellschaftlichen Situation und dem zu diesem Zeitpunkt gültigen Gesellschaftsbild verankert. Sie sind zum Kernbestandteil eines „Kulturprogramms“ geronnen. All dies macht es mitunter schwer, die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Prozesse direkt in den Blick zu nehmen. Jedenfalls war es ein weiter Weg, bis man in der Forschung erkannt hat, dass die sozialen Prozesse, um die es heute geht, weder mit dem Begriff des „Gastarbeiters“, noch dem des „Ausländers“, noch dem des „Migranten“, noch dem des „deutschen Ausländers“, noch dem Einsatz einer ganzen Begriffsbatterie, in der „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „Asylanten“ und „Illegale“ sowie „Ausländische Mitbürger“ summiert werden, noch mit der zur Zeit modischen Formulierung „Menschen mit Migrationshintergrund“ oder ganz neu „ mit Migrationsgeschichte“ korrekt abzubilden sind. Immer wieder wird ein neuer Sammelbegriff erfunden, der zwar eine recht genaue Auskunft darüber gibt, was man grade politisch denkt, aber nichts darüber aussagt, ob dies gegenüber der Bevölkerungsgruppe, die man damit definiert, überhaupt irgend einen Sinn macht. Gerade auch die Wissenschaft hat sich an diesen eigentümlichen Definitionsbemühungen immer wieder aktiv beteiligt (Bukow 2003), hat die Begriffe meist mit getragen, gelegentlich aber auch noch durch weitere Formulierungen ergänzt, dabei aber doch im Wesentlichen durchaus bewusst die geltenden politischen „Spielregeln“ eingehalten. Dies hat kaum jemand so klar vorgeführt wie Elisabeth Beck-Gernsheim (Beck-Gernsheim 2004:159ff). Sie spricht vom „Blick der Deutschen auf Migranten und Minderheiten“. Worum geht es eigentlich in all diesen Debatten mitsamt der ganzen begrifflichen Akrobatik? Geht es wirklich nur darum, dass Gesellschaften, wie auch immer die einzelnen Menschen ihren je individuellen Umgang mit Migrati10
on gestalten, eine kollektive Sichtweise im Umgang mit Migration bzw. Mobilität entwickeln müssen? Warum geht eigentlich in diese kollektive Sichtweise nur eine negative Bewertung von Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität ein? Angesichts der Tatsache, dass sich viele Menschen im Alltag mit Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität erfolgreich arrangieren, ist es ist doch keineswegs ausgemacht, dass eine kollektive Einschätzung automatisch negativ ausfallen muss. Und es ist erst recht nicht ausgemacht, dass eine solche Einschätzung für alle sozialen Gruppen, Milieus oder Schichten gleichermaßen gilt. Einen Schritt weiter kommt man erst, wenn man lebende soziale Systeme, wie z.B. eine moderne oder besser „metropolitane“1 Stadtgesellschaft, direkt in den Blick nimmt. Dann kann man zunächst einmal erkennen, dass sich Migration nicht als eine spezifische Variation von Mobilität darstellt und kann anschließend überlegen, inwieweit welche Mobilität vom einzelnen Gesellschaftsmitglied „in Rechnung“ gestellt wird und welche Mobilität die Gesellschaft insgesamt „in Rechnung stellt“. In diesem Sinn wird in der weiteren Diskussion statt von Migration letztlich immer von „Mobilität“ bzw. von „migrationsrelevanter Mobilität“ gesprochen, wenn die Betonung auf dem Überschreiten einer politischen Grenze liegt, gesprochen.2 Unter dieser Prämisse zeigt sich alsbald, dass weder alle Gesellschaftsmitglieder dasselbe unter Mobilität verstehen, noch sie in gleicher Weise einschätzen, ja noch nicht einmal überhaupt automatisch die gleiche Mobilität meinen. Dies gilt dann vice versa auch für die Gesellschaft insgesamt. Immer wieder findet man kunstvolle begriffliche Apparate, um Mobilität mit oder ohne Grenzüberschreitung, mit oder ohne Anspruchsberechtigungen usw. zu definieren. Oft findet man komplexe biopolitische Diskurse, die man in Anlehnung an Siegfried J. Schmidt am einfachsten als Teil eines „Kulturprogramms“ betrachten kann (Schmidt 2003:97) – eines Kulturprogramms, das darauf abhebt, Standorttreue, Sesshaftigkeit und letztlich die „richtige“ Abstammung zu privilegieren. Und das bedeutet zugleich, alles, was über ein unvermeidbares Minimum an Mobilität hinausgeht, zu skandalisieren. Es ist also zu unterscheiden zwischen dem, was jeweils im Dauerablauf des Alltags passiert, den primären Alltagsprozessen, und wie das, was hier passiert,
1 Es geht um die Stadtgesellschaft, genauer um die europäische Stadt, die man aber gut auch als „metropolitane Gesellschaft“ bezeichnen kann, weil sie ökonomisch, sozial, kulturell und politisch den „Ton angibt“. 2 Dies ist nicht nur eine begriffliche, sondern eine erkenntnistheoretische Entscheidung. Mobilität wird zu Migration dadurch, dass das Phänomen dichotomisch reduziert und polarisiert wird. Dem Leser mag das eher aus der gender-Debatte vertraut sein. Aber dort geht es wie hier um das gleiche Verfahren, um die Umwandlung eines Kontinuums in eine Ordnungsstruktur, die Einführung einer dichotomisch ausgerichteten Differenzlinie und die Hierarchisierung der dabei entstanden zwei Sektoren (Ruokonen-Engler 2009:57), also um einen labeling-Prozess (Bukow, Llaryora 1998).
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durch entsprechende Deutungs- und Kulturprogramme dann sekundär definiert wird3:
Was jeweils den Dauerablauf bestimmt, verdankt sich seiner Einbettung in den Dauerablauf des Alltags und lässt sich zunächst einmal nur unterhalb jedes Kulturprogramms, unterhalb einer entsprechenden kulturellen Interpretation aus seinen sozialen Zusammenhängen heraus und damit eher „zweckrational“ rekonstruieren, insbesondere aus dem, was wir heute als „europäische Stadt“ leben. Freilich ist die Stadt in einer zunehmend globalisierten Gesellschaft nur der eine von zwei Bezugspunkten. Der andere ist nicht etwa die Nationalgesellschaft, womit wir dann sofort innerhalb des Kulturprogramms landen würden, sondern die Weltgesellschaft, allerdings nicht im Sinn eines globalen Staates, sondern ausdrücklich im Sinn eines letzten Verweisungshorizontes, einer globalen digitalen Assemblage (Sassen 2008:673). Denn auch die Rede von einer Globalgesellschaft ist nichts als ein modernisiertes, zumeist der Westernisation geschuldetes, besonders universal ausgerichtetes Kulturprogramm. Wie das, was man auf diese Weise beobachten kann, jeweils definiert wird, ist sehr unterschiedlich und findet sich in unterschiedlichsten Versionen, die sich je nach dem Standort derer, die hier definieren, „dazwischen“ abspielen. Doch was sich dazwischen abspielt, weist keine gesellschaftlichen, sondern staatliche Merkmale auf. Staaten pflegen die Mobilität mal zu beschleunigen, indem sie Ein- oder Auswanderung fördern, mal zu bremsen, indem sie Grenzen, Mauern oder Todesstreifen errichten. Allein schon deshalb, weil staatliche Systeme keine Gesellschaften darstellen, bleiben ihre „Erfolge“ im Blick auf den Umgang mit Mobilität begrenzt und bewirken hier bestenfalls zufällig etwas von dem, was sie beabsichtigen. Aber politische Systeme wollen in der Regel ja auch etwas anderes. Sie haben weniger Handlungs-, als vielmehr Macht- und Machtlegitimationsprobleme. Es ist offenbar der Ort, an dem hegemonieorientierte und insofern wertrationale Kulturprogramme und Diskurse hervorgebracht und lebendig gehalten, vervielfältigt und geschichtet werden.
Wenn man zwischen dem, was jeweils zum Thema gemacht wird, und wie das entsprechende Kulturprogramm dann die Dinge definiert, unterscheidet, dann erkennt man, dass es vor allem die sich den sozialen Zusammenhängen und globaler Mobilität entgegen stemmenden hegemonial-wertrational ausgerichteten Programme und Diskurse sind, die immer wieder die größten Probleme machen. 3
Auch hier kann man sich auf die frühe labeling-Theorie beziehen, wie sie von Howard S. Becker, Erving Goffman, John Kitsue, David Matza, u.a. rezipiert wurde.
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Sie machen es nicht nur den hier involvierten Menschen schwer, weil sie deren Erfahrungen, Leistungen und erfahrungsorientierte Praktiken ignorieren und an deren Stelle Machtinteressen setzen, sie sind es auch, die eine sozialwissenschaftliche Annäherung an die sozialen Prozesse, um die es hier geht, behindern und deshalb auch jede kritische Vernunft torpedieren. Bei jeder Diskussion über Integration, interkulturelle Kommunikation, interkulturelles Verstehen, interreligiöse Gespräche und in jeder Auseinandersetzung über doppelte Staatsangehörigkeit, den Bau einer Moschee oder der Gründung einer „türkischen“ Schule – oder ähnliches – findet das gleiche Spiel statt: Das Kulturprogramm ignoriert die praktischen Herausforderungen des Alltags. Warum hier schon in der Einleitung so entschieden für einen Perspektivenwechsel und eine kritische Haltung gegenüber Kulturprogrammen zumal nationalistischer Provenienz plädiert wird, hat einen ganz einfachen Grund. Alle, die sich über die Jahre hinweg mit der Migrations- und Mobilitätsforschung befasst haben, treffen unweigerlich auf geradezu ubiquitäre nationale Erzählungen, die in der Form eines methodologischen Nationalismus zwar nicht nur, aber doch besonders massiv im deutschsprachigen Raum verbreitet sind. Diese Erzählungen haben es immerhin fertig gebracht, dass man sich vierzig Jahre lang einer für alle offensichtliche Einwanderung verweigert hat, und dass man sie erst als empirisches Phänomen akzeptiert, seitdem es schon gar nicht mehr um klassische Einwanderung, sondern um globale Mobilität geht. Offenbar ist eine klassische Einwanderung immer noch leichter „verkraftbar“ als eine globale Mobilität, der man nicht mehr mit Integrationsprogrammen, sondern nur noch mit einer Neueinstellung der Gesellschaft insgesamt begegnen kann (Hamburger 2009). Die nationalen Erzählungen wurden in ihrer Bedeutung lange unterschätzt, schon weil sie in der Mitte der Gesellschaft tradiert werden und die Öffentlichkeit wie selbstverständlich imprägnieren. Dies wird erst erkennbar, wenn man aus der Perspektive andere Länder an die Thematik herangeht und erkennt, dass Mobilität einen ganz normalen und seit je vertrauten Prozess darstellt, der auch für die Entstehung der modernen europäischen Stadt verantwortlich ist. Dazu hatte ich auf einer längeren Forschungsreise Gelegenheit, die nicht ohne die aktive und kritische Mitarbeit von Eva-Regina möglich gewesen wäre. Im Übrigen wäre es zu diesem Text sicherlich auch nicht gekommen, wenn mich nicht immer wieder die unterschiedlichsten Menschen aus den unterschiedlichsten Initiativen und sogenannten Migrantenverbänden ermutigt hätten. Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle noch Melanie Behrens für ihre kritischen Kommentare und Michael Koenen für die Korrekturen.
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1 Warum es schwierig ist, einen angemessenen Zugang zur Thematik zu finden Je länger man sich mit dem Umgang mit Migration bzw. generell mit Mobilität in der europäischen Stadtgesellschaft auseinandersetzt, umso deutlicher wird, dass weder in der Wissenschaft noch in der Politik ein unbefangener Zugang möglich ist. Bei kaum einer Thematik begegnen einem so viele Hindernisse und mitunter sogar unüberwindliche Barrieren wie hier. Und selten wird man mit so vielen vagen Thesen, Behauptungen und Mythen konfrontiert wie hier. Auch wenn wir heute davon ausgehen müssen, dass die großen Erzählungen im Übergang zur Postmoderne zu Ende gegangen sind, in diesem Segment haben sie bis heute irgendwie überlebt. Hier existiert eine Art Kulturprogramm, das nicht nur weit verbreitet ist, sondern auch nach wie vor große Anerkennung genießt; vielleicht kann man auch von einer Art Grundmelodie sprechen, die immer wieder leicht variiert wiederholt wird. Diese Melodie erklingt immer dann, wenn irgendetwas erwähnt wird, was mit Migration zu tun hat, ja schon dann, wenn es bloß um Mobilität geht. Und dabei ist es schon fast gleichgültig, ob man mit Studierenden oder Experten einer Institution diskutiert oder ob man sich innerhalb wissenschaftlicher oder politischer Diskurse bewegt. Dieser Grundmelodie muss endlich grundsätzlich begegnet werden. Ihr muss eine bereits im Ansatz andere Sicht der Dinge entgegen gestellt werden – eine Sicht, die einerseits den vielfältigen praktischen Erfahrungen gerecht wird, die aber anderseits auch der praktischen Vernunft4 geschuldet ist. Wer auch immer sich mit seinem Alltagsleben kritisch auseinandersetzt, wird auf einen relativ trivialen wie selbstverständlichen Umgang mit Mobilität stoßen. Im Grunde muss man nur einmal von seiner praktischen Erkenntnisfähigkeit Gebrauch machen. Dann wird man begreifen, dass Mobilität selbst in der Form der Migration nichts von einem Sonderereignis oder gar einem geschichtlichen Unfall hat, sondern gesellschaftlicher Normalfall ist5. Im ersten Kapitel sollen zunächst einmal einige Takte dieser Grundmelodie erörtert werden. Es wird sich zeigen, dass immer noch viele Bestandteile dieser 4 Der Begriff der praktischen Vernunft wird hier zunächst im Gegensatz zur theoretischen Vernunft oder wissenschaftlichen Erkenntnis gebraucht. Später soll er präziser definiert werden und aus der Alltagspraxis heraus neu begründet werden (Sahlins 1994:299) – vgl. Teil 2.1.5. 5 Wenn in einem Land wie Deutschland im Jahr 2007 etwa 683 000 Menschen ins Land gekommen und fast gleich viele, nämlich 635 000 das Land verlassen haben, dann bedeutet das, dass fast 1,3 Millionen Menschen (mehr als die Einwohnerzahl von München) längerfristig grenzüberschreitend mobil waren, Touristen und Menschen, die nur als Touristen einreisen oder ganz ohne Papiere noch nicht einmal gerechnet.
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Melodie tief in dem Argumentationshaushalt des Alltagswissens verankert sind und sich nach wie vor erstaunlich aktuell anhören. Der Eindruck von Aktualität hat sicherlich nicht nur mit der gegenwärtigen Globalisierungswelle zu tun, in der die Skandalisierung von Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität als so etwas wie ein Rückzugsgefecht erscheint, es hat wohl vor allem auch damit zu tun, das Mobilität schon lange zu den wichtigsten Objekten gesellschaftlicher Ressourcensteuerung zählt, die Migration hier zu deren zentralen Instrumenten und damit beides immer im Fokus der gesellschaftlichen Macht steht. Aber dies ist ein Vabanquespiel, weil in all den Fällen, in denen unvermeidliche und damit auch unumkehrbare gesellschaftliche Prozesse zur Steuerung benutzt werden, beträchtliche Widersprüche aufbrechen. Es ist ja kaum zu vermitteln, wenn die Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität der gesellschaftlichen Eliten gefeiert, die der Menschen in prekären Situationen skandalisiert wird. In jedem Fall entsteht ein beträchtlicher Argumentationsbedarf, der Mythen Tür und Tor öffnet und es entstehen beträchtliche Kosten, die wiederum ein entsprechendes „Kostenmanagement“ nach sich ziehen, was in der Regel Externalisierung bedeutet. Ulrich Beck hat schon vor 25 Jahren auf die großen Fertigkeiten hingewiesen, die Risikogesellschaften darin entwickelt haben, Kosten abzuwälzen und die anderen zahlen zu lassen (Beck 2007). Dazu gehört dann aber auch, dass man genau definieren kann, wer die anderen sind. Und damit erschließt sich ein nationalistisch imprägniertes Potential, das dann wiederum die Produktion der Mythen über Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität anheizt. 1.1 Der wissenschaftliche Umgang mit Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität muss überdacht werden Die Mobilität, zumal die in ihrer grenzüberschreitenden Form als Migration definierte Mobilität, wird bis heute zumeist für eine sehr problematische Angelegenheit gehalten und dies weniger aus der Sicht derer, die selbst mobil sind bzw. grenzüberschreitend migrieren, sondern vor allem aus der Sicht derjenigen, die angeblich standorttreu geblieben sind, die Mobilität jedenfalls im Augenblick bloß beobachten und sich folglich distanziert halten. Oft kommt es dann zu einer regelrechten Skandalisierung von Mobilität, vor allem solcher, die grenzüberschreitend geschieht; in jedem Fall werden solche Prozesse für eine beträchtliche Herausforderung für das urbane Zusammenleben gehalten. Nur selten wird darauf hingewiesen, dass es ausgerechnet diese Phänomene waren, ohne die vor
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allem die europäische Stadt6 niemals zu dem geworden wäre, was sie heute ist. Das macht nachdenklich. Es wäre wohl in vielerlei Hinsicht angemessener, zunächst einmal für einen wohlbedachten Umgang mit Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität zu plädieren und sie im Kontext der europäischen Stadtgesellschaft zu würdigen, bevor man dieses Phänomen problematisiert, kritisiert oder gar skandalisiert. 1.1.1 Es ist Zeit für einen Perspektivenwechsel Negative Bewertungen von Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität gehören zum festen Bestandteil jedes urbanen Diskurses zumal in deutschen Debatten. Dies gilt für den Alltagsdiskurs genauso wie für die politische Öffentlichkeit, das politische System als auch für den entsprechenden wissenschaftlichen Diskurs. Diese geradezu hegemonial verbreitete Skepsis fällt nur im Einzelfall dosierter aus. In diesen Fällen bestätigen aber zumindest im deutschen Sprachraum die Ausnahmen die Regel. Man sollte sich in Erinnerung rufen, dass eine solche negative Einschätzung durchaus nicht immer typisch war und ist. Sie gilt in der Regel nicht für denjenigen, der selbst auf die eine oder andere Weise mobil ist und sicherlich auch nicht für alle diejenigen die auf einen Migrationshintergrund zurückblicken können, selbst wenn sie mit dem Erreichten häufig unzufrieden sein mögen. Und sie findet sich auch weniger bei denen, für die die ökonomische Entwicklung der Gesellschaft im Mittelpunkt steht. Und es gab und gibt immer wieder Stimmen, die sich im Klaren darüber sind, dass die gesamte Industrialisierung und später der Ausbau der modernen Kommunikationsmittel bis ins 20. Jahrhundert hinein in die Leere gegangen wären, wenn nicht aus den einen oder anderen Gründen immer wieder sehr viele Menschen bereit gewesen wären, in die Zentrumsregionen zu gehen, sich hier nieder zu lassen und sich ökonomisch, sozial und politisch zu beteiligen. Es erfordert eigentlich auch nur wenig Nachdenken um zu erkennen, dass die Alteingesessenen in diesem Rahmen schon deshalb so gut wie keine Rolle spielen konnten, weil sie zahlenmäßig viel zu wenige waren. Wenn ansonsten aber eine eher negative Einschätzung dominiert, auch wenn die Stadt erst durch Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität ganz beiläufig und wie selbstverständlich zu dem gemacht wurde, was wir heute vor uns haben, so ist das eigentlich begründungsbedürftig. Und wenn Sozialgeschichtler und Historiker, wie zuletzt etwa Klaus Bade (Bade, Aijl 2008, Bade 2004), immer wieder auf dieses historisch eigentlich selbstverständliche 6 Nach Andreas Feldkeller sind die „Dichte“, „Geschlossenheit“ und „Durchmischung“ sowie die Aufteilung des Raumes in “öffentlich und privat” die wichtigsten Merkmale der europäischen Stadt (vgl. Feldkeller 1995:22f).
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Phänomen hinweisen mussten, so ist das erst recht erklärungsbedürftig. Und wenn diese Wissenschaftler damit über Jahrzehnte hinweg in der breiten Öffentlichkeit kaum gehört wurden, weist das deutlich darauf hin, wie blockiert die Wahrnehmung dieses eigentlich völlig trivialen Phänomens letzten Endes ist (Bade 2007). Zunächst einmal ist es sicherlich so, dass Vorgänge, die sich einerseits über Generationen erstrecken und anderseits zu den intrinsischen Eigenschaften der Stadtentwicklung gehören, außerhalb jeder intensiveren Alltagsbeobachtung liegen, man sie also gewohnheitsmäßig hinnimmt und sie folglich erst einmal überhaupt nicht realisiert, geschweige denn intensiver durchdenkt. Sind Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität Phänomene, die allenfalls kurzfristig registriert und alsbald als etwas abgetan werden, was allenfalls den anderen betrifft? Ist es nicht so, dass auch wer selbst eigentlich betroffen ist, schon nach wenigen Jahren meint, er sei „schon immer“ hier gewesen und nur der andere ist jemand, der ggf. hinzugekommen ist, selbst wenn man selbst auch erst wenige Jahre in der Stadt lebt? Insoweit ließe sich vielleicht erklären, warum man sich mit den Dingen nicht weiter befassen möchte und negativ reagiert, wenn man auf die Phänomene dennoch erneut trifft. Aber es bliebe zumindest offen, warum es im Fall des Falles zu so ausgeprägt negativen Diskursen kommt – und dann noch auf allen nur vorstellbaren gesellschaftlichen Ebenen. Man könnte natürlich überlegen, ob nicht die Bedeutung der Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität in den Städten über die Jahrzehnte einfach bloß zurückgegangen ist und eventuell auch deshalb das Bewusstsein über deren grundlegenden Beitrag zur Gesellschaftsentwicklung geschwunden ist und man sich folglich nur noch sehr vordergründig mit den Phänomenen auseinandersetzt. Tatsächlich gilt für die Bedeutung der Phänomene eher das Gegenteil. Schon empirisch betrachtet haben Migration und migrationsspezifische Mobilität in den letzten Jahrzehnten beträchtlich sowohl quantitativ als auch qualitativ zugenommen. Es ist so, dass Städte wie Köln, Frankfurt oder Stuttgart, München oder Berlin heute teils genauso, teils sogar mehr durch Einwanderung geprägt sind als Städte in klassischen Einwanderländern wie Kanada, den USA oder Australien.7 Insgesamt ist die Mobilität, bzw. die migrationsspezifische Mobilität, aus all diesen Gesellschaften nicht mehr wegzudenken. Und das ist den Menschen auch durchaus bewusst, ich möchte nur daran erinnern, wie häufig und wie intensiv immer wieder über den „Ausländer“, ja sogar den „Gastarbeiter“ oder gelegentlich auch über den „ausländischen Mitbürger“ gesprochen wird. Dennoch, die 7 Vancouver und Köln haben beispielsweise den gleichen Anteil an Menschen, die nicht im Land geboren sind. In Stuttgart ist im Übrigen der Einwanderanteil von allen deutschen Städten am höchsten. Dass dies selten thematisiert wird, verweist auf eine eigentümliches Wahrnehmungs- bzw. Diskursphänomen, dem unten nachgegangen wird.
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Phänomene werden in der Regel nicht differenzierter gewürdigt, nicht in ihrer Bedeutung wirklich voll realisiert, sondern eher als eine Fehlentwicklung eingeschätzt – eine Entwicklung die es zu beenden gilt. Wir haben es hier weniger mit einer oberflächlichen Einschätzung als vielmehr mit einem tiefreichenden paradoxen Befund zu tun. Es kommt sogar noch etwas hinzu: Im Augenblick erleben wir im Rahmen des Übergangs der Moderne zur Postmoderne – man könnte hier auch von der Phase der Transmoderne sprechen – einen weiteren Ausbau der Stadtgesellschaft zu einer fast schon virtuellen Stadtgemeinschaft, in der selbst die Menschen, die im Verlauf von Generationen zu Einheimischen geworden sind, erneut mobil werden. Auf dem Weg zur Postmoderne vollzieht sich so etwas wie eine ReMobilisierung der Stadtgesellschaft und damit auch des Teiles der Bevölkerung, der sich schon endgültig zu den Alteingesessenen gezählt hat. Zurzeit tauscht sich in Deutschland in nur drei Jahren eine Bevölkerungsgruppe aus, die in etwa den Einwohnern von Köln entspricht. Wie auch immer das im Detail einzuschätzen sein wird, klar ist jedenfalls, dass Mobilität, bzw. migrationsspezifische Mobilität, mehr denn je die europäische Stadt prägen und weniger denn je zu ignorieren oder wegzudenken sein wird. Wenn also die zumeist negative und wenig differenzierte Sicht von Mobilität, bzw. migrationsspezifischer Mobilität, nicht darauf zurückgeführt werden kann, dass man den Phänomenen kaum noch begegnet und man sich mit ihnen folglich nur oberflächlich befasst, sondern ganz im Gegenteil darauf, dass hier eine ganz bewusste und gezielte Einschätzung verbreitet wird, dann muss es spezifische Gründe geben, die nachdenklich machen. Ein weiterer Einwand könnte sein: Sicherlich sind urbane Entwicklungsprozesse von hoch komplexer Natur und folglich vieldeutig. Wer sich mit dem urbanen Zusammenleben befasst, der wird schnell merken, dass er es mit Prozessen zu tun hat, die nur sehr schwer hinreichend adäquat zu beschreiben sind, zumal sie uns alle betreffen, wir also in sie unentrinnbar verwickelt sind. Komplexe Prozesse, zumal wenn man selbst in sie involviert ist, ließen sich einfacher beschreiben, wenn es einem gelingen würde, sie distanziert, ggf. auch aus einer alternativen Perspektive heraus zu beobachten. Eine distanzierte oder gar neutrale, unbefangene Position gibt es hier tatsächlich nicht. Ganz im Gegenteil, wer sich mit dem urbanen Zusammenleben – ob alltagspraktisch oder politisch oder wissenschaftlich – befasst, gerät automatisch in den Strudel vielfältiger Kontroversen, Konflikte und Polemiken, die auch nicht dadurch transparenter werden, dass wir uns damit in das Zentrum der postmodernen Diskussion begeben. Aber die Frage bleibt letztlich doch: warum muss all das fast automatisch eine negative Einschätzung befördern? Man kommt einen Schritt weiter, wenn man sich weniger mit dem Thema Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität bzw. deren Verarbeitung im 19
allgemeinen befasst als vielmehr nach einschlägigen Eckdaten in der politischen Kultur der letzten Jahre umschaut. Hier wird man durchaus fündig: Wir leben in einer Situation, die von einer über vierzig Jahre lang verleugneten Einwanderung geprägt wird. Wir haben es an dieser Stelle mit einer ganz besonderen, extrem populistisch aufgeladenen Kontroverse um die Frage zu tun, wer zur Gesellschaft gehören soll und wer dies nicht soll. Zumal man nach dem Wiederaufbau bestrebt war, die Dinge weiter für die „Einheimischen“ zu reservieren und ein Allochthoner, der substanziell zur gesellschaftlichen Entwicklung gehört, passt nicht in ein solches Denken, weil er ja automatisch auch Rechte und Zugewinne erhalten müsste. Einem „Gastarbeiter“ braucht man keinen Zugewinn zugestehen. Ein Gast geht ja wieder. Und diese Denkmuster besitzen ein hohes populistisches Potential8. In Deutschland endet man deshalb fast automatisch bei der Frage, ob die Gesellschaft oder die Stadt nicht durch Migration überlastet werden.9 Insoweit basiert die negative Einschätzung von Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität weder auf einem mangelhaften Bewusstsein, noch auf zu wenig Informationen usw., sondern darauf, dass man die Dinge klar vor Augen hat, sie aber nicht positiv würdigen will, weil das den eigenen Interessen schaden würde. Man bewertet sie negativ, gerade weil man ihrer Relevanz erkennt. Man befürchtet, dass diese Prozesse für die urbane Entwicklung konstitutiv sein könnten. Man befürchtet, man muss sie dementsprechend durch Gleichstellung, Beteiligung und Anerkennung honorieren. Grade weil man die Bedeutung dieser Phänomene spürt, befürchtet man, dass hier jemand auf die Idee kommen könnte, seinen Beitrag einzuklagen. Man betrachtet dies als eine „Geschäftsführung ohne Auftrag“. Deshalb wird die Geschichte der Stadt auf den Kopf gestellt und wird der konstitutive Beitrag von Mobilität und Migration „der Einfachheit halber“ ignoriert. Eine Diskursgemeinschaft blockiert sich selbst. Statt zu überlegen, was Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität für eine Gesellschaft historisch bedeutet haben und bis heute bedeuten und warum die Stadt in der Lage war, Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität auf dem jeweiligen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung erfolgreich zu „verarbeiten“, statt zu erkennen, dass die Fähigkeit zur „Verarbeitung“ von Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität sogar die Voraussetzung für die Gestaltung des europäischen Typs von Stadt war, und dann zu diskutieren, wie diese Kräfte ggf. erneut aktiviert werden können, be8 Einwanderung wurde nicht nur verdrängt, sondern zugleich auch populistisch aufgeladen. Und das wirkt erheblich nach, selbst wenn man die Dinge heute etwas nüchterner betrachten mag (Bukow 1989). 9 Pars pro toto kann man an die Fundamentalismusdiskussion erinnern, die einst von Wilhelm Heitmeyer (Heitmeyer 1998) in den Kontext des urbanen Zusammenlebens gerückt wurde (Schiffauer 1999).
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trachtet man die Stadt als eine in ihrem Wesen nach migrationsfreie Größe, die durch Einwanderung in ihrer Leistungsfähigkeit, nämlich der Ordnung des Zusammenlebens bedroht wird. So einfach kann man dann jegliche Ansprüche als „von außen“ abwehren. Auf diese Weise ist der Hintergrund für dieses ganz spezielle, weit über jene oben markierte Wahrnehmungsträgheit hinausgehende Beharren auf einer negativen, ja paradoxen Einschätzung relativ leicht auszumachen, wenn auch schwer wirklich zu erklären, weil dies alles ja unserem modernen Leistungsdenken zutiefst widerspricht. Hier greift die bis heute sehr verbreitete nationale Selbstinterpretation Deutschlands. Sie leistet hier Argumentationshilfe dafür, dass Leistungen unterschiedlich zugerechnet werden können. Leistungen von Allochthonen verhelfen danach noch lange nicht zu den Rechten, zu denen die Leistungen von Einheimischen verhelfen (Bukow, Llaryora 1998). Allerdings – warum an der Idee des Nationalen noch Jahrzehnte nach der mehrfachen und eigentlich sehr nachhaltigen Demontagen des Nationalen festgehalten wird, das müsste dann auch noch geklärt werden. Zumindest teilweise mag es mit einer nur mangelhaften Beschäftigung mit der längst globalisierten Gesellschaft zusammenhängen. Das könnte dazu verführt haben, Leistungen national zu verklären (Sassen 2008:13ff.). Zum Teil hängt es sicherlich damit zusammen, dass wir es bis heute mit einem klandestinen Rassismus zu tun haben, der bis heute den Kern eines entsprechenden gesellschaftlichen Diskurses ausmacht und der deshalb in einer Art self-fullfilling-prophecy in der Mitte der Gesellschaft immer noch gut ankommt (Kaschuba 2001:23f). Der klandestine Rassismus war nach dem Ende des Kalten Krieges als Wahlkampfmunition weiter willkommen und ist es heute noch, wie erst wieder die Landtagswahlen in Hessen von 2008 belegen. Die immer wieder zutage tretende negative Einschätzung von Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität reflektiert deren konstitutive Bedeutung, benutzt dazu aber ein Deutungsmodell, mit dem es gelingt, die Dinge auf den Kopf zu stellen. Ein klandestiner Rassismus leitet die theoretische Vernunft zu dieser paradoxen Einschätzung an. So betrachtet ist es an der Zeit, die Dinge zu wenden, und noch einmal neu und anders an die konstitutive Bedeutung von Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität anzuknüpfen. Es kommt dementsprechend darauf an, die Perspektive umzukehren und nicht, wie politisch oft erwartet mit einer Skandalgeschichte, sondern wie historisch adäquat geboten wäre, mit der Stadt als einer Erfolgsgeschichte anzufangen und von dort aus die Komplexität des urbanen Zusammenlebens aufzurollen und zu prüfen, auf der Basis welcher Fertigkeiten dies „funktioniert“ und wo Probleme auftreten. Es geht darum, noch einmal die ganze Konstruktion Schritt für Schritt aufzurollen.
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Zwei kritische Punkte müssen noch angesprochen werden. Gilt denn die konstitutive Bedeutung von Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität für die ganze Gesellschaft? Man mag einwenden, dass sie vielleicht für die europäische Stadt im engeren Sinn typisch sein mag, nicht jedoch für die übrigen städtischen Siedlungsformen und auch nicht für den ländlichen Raum. Tatsächlich hat aber die Mobilität niemals vor dem ländlichen Raum völlig halt gemacht – abgesehen davon, dass das, was der ländliche Raum einmal war und was früher unter „Hinterland“ diskutiert wurde, heute weitgehend verschwunden ist (Mak 2007). Natürlich existieren nach wie vor zentrale und periphere Regionen, wie es innerhalb der Städte selbst analoge Zonen gibt. Aber prinzipiell ist der ländliche Raum heute genauso strukturiert wie die Stadt. Seit der Industrialisierung der Landwirtschaft herrscht auch im ländlichen Raume der Typ europäische Stadt vor, wobei allenfalls einzelne Elemente nicht vor Ort, sondern im nächsten Mittel- oder Oberzentrum abgerufen werden. Die hier besonders interessierende Mobilität ist sogar im ländlichen Raum heute besonders groß. Die europäische Stadt prägt nicht nur die Zentren, sie prägt in der einen oder anderen Form längst die gesamte Siedlungsstruktur, selbst wenn speziell die Wohnquartiere an den Peripherien weitläufiger und homogener konzipiert sind als in den Zentren selbst. Man mag sodann einwenden, dass die Mobilität bzw. die migrationsspezifische Mobilität früher jedenfalls weniger bedeutsam war, weil sich die Menschen eher lokal bewegten. Aber selbst wenn wir es heute zunehmend mit globalen Migrationsprozessen zu tun haben, waren Differenzen und andere mit Mobilität zusammenhängende Effekte deshalb früher weniger bedeutsam? Auch kleinräumige Mobilität und partielle Differenzen können für das Zusammenleben bedeutsam sein und eine Herausforderung darstellen. Die Bedeutsamkeit ist weniger entfernungs- oder abstandsabhängig, sondern eher „konjunktur“-abhängig. Das lässt sich immer wieder mit geschichtlichen Beispielen belegen. Es zeigt sich dabei aber auch, dass es vorzugsweise die Städte waren, die Mobilität bzw. die migrationsspezifische Mobilität positiv aufgenommen haben. Größere politische Gebilde haben dagegen mit diesem Phänomen immer wieder Probleme gehabt und haben sie auch heute noch. Während z.B. die Hansestädte die Mobilität und die mit ihr verbundene Öffnung der Märkte und Ausweitung des soziokulturellen Horizontes konsequent aufgriffen und nutzten, sahen sich zur gleichen Zeit viele Fürstentümer durch die Mobilität und die mit ihr verknüpften neuen Ideen in ihrer Konstitution eher gefährdet und versuchten sie folglich z.B. religionspolitisch zu bekämpfen. Vierhundert Jahre später – im Zeitalter der Industrialisierung – sieht es noch nicht so viel anders aus. Während man z.B. in den neuen Ruhrstädten massiv Einwanderung fördert, kann man gleichzeitig beobachten, wie der (preußische) Staat gegenüber den Ruhrpolen einen beträcht22
lichen Germanisierungsdruck ausübte, damit sie sich endlich – obwohl katholisch, kleinbürgerlich und fast unsichtbar – dem Deutschtum assimilierten (Matwiejczyk 2006:36f). Und was die Gegenwart betrifft, so wird sich noch zeigen, dass der ganz überwiegende Teil der Einwanderer mit all seinen Gewohnheiten im urbanen Alltag immer wieder aufgegangen ist und sich die Städte dabei erheblich verändert haben. Gleichzeitig haben aber die politischen Instanzen über ihre Migrationsregime die Einwanderung zu dosieren und zu kanalisieren versucht und sich darum bemüht, sie nur ganz unten einzubauen, damit sich nur ja nichts ändert. Tatsächlich wurde die „Generation Gastarbeiter“ systematisch zur Unterschichtung der Bevölkerung genutzt, so dass sie ihr Schicksal heute mit der Unterschicht generell und in jeder Hinsicht teilt und auf ihre spezifische sprachliche Situation keine Rücksicht genommen wird. Es geht also nicht um die Inkompatibilität zwischen ggf. weit auseinander liegenden Kulturen, sondern um den Umgang mit Mobilität und um die Bereitschaft, allen Bevölkerungsgruppen die gleiche Chance einzuräumen (BossNünning 2006:166ff). Oft wird auch auf die „fremdartige“ religiöse Identität der Migranten abgehoben. Der Islam mache mit seinen Besonderheiten ein erfolgreiches Zusammenleben faktisch unmöglich. Abgesehen davon, dass die europäische Stadtkultur ja in der Wirkungsgeschichte der orientalischen Stadt steht (Hobson 2005 Teil 3) und umgekehrt der Islam in der des Judentums und Urchristentums, wird auch verkannt, dass Städte ja grade nicht durch eine soziokulturelle Kohäsion zusammengehalten werden, sondern durch formale Strukturen. Das war ja grade der Punkt, der moderne Städte überhaupt erst zu dem Erfolgsmodell machte, zu dem sie heute geworden sind. Sie boten, um Georg Simmel zu zitieren, erstmals auf der Basis, dass jeder jedem fremd war, die Chance, formal und ohne Ansehen der Person „zusammen zu leben“. Es kann keinen Zweifel daran geben, das die eigentliche Stärke der europäischen Stadt damit zu tun hat, dass sie in der Lage war und immer noch ist, Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität zu verarbeiten, ja ihre Konstruktion von Wirklichkeit dadurch bestimmen zu lassen. Nicht zufällig dient sie bis heute immer wieder als Vorbild, so neuerdings auch für manche chinesische Stadt, man denke nur an die innerhalb weniger Jahrzehnte entstandene Megapole Chongqing am Jangtse mit zur Zeit über 31 Millionen Einwohnern.10
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Noch vor fünfzig Jahren hatte die Stadt nur eine halbe Million Einwohner
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1.1.2 Der Perspektivenwechsel nötigt dazu, sich auf Alltagsprozesse einzulassen Angesichts dieser Diskussionslage bedarf es einer überzeugenden Analyse der konstitutiven Bedeutung von Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität für das urbane Zusammenleben. Um die Phänomene wirklich nachhaltig ins Bewusstsein zu rücken, sind eindeutige und aussagekräftige Befunde erforderlich, d.h. die europäische Stadt als der hier entscheidende Ort muss sachadäquat beleuchtet werden. Hierbei sind nach wie vor die Überlegungen von Max Weber (Weber 1981:8f) hilfreich. Er hat schon vor einem Jahrhundert darauf aufmerksam gemacht, dass man sich sozialen Prozessen – und genau daraus konstituiert sich ja der urbane Alltag – nur erfolgreich nähern kann, wenn man sie so zu rekonstruieren versucht, wie sie sich im Ablauf des Alltags Schritt für Schritt entwickeln, nämlich sinnhaft adäquat.11 Dahinter verbirgt sich die Erfahrung, dass es darauf ankommt, die jeweils konstituierenden sozialen Prozesse herauszuarbeiten und die ihnen innewohnende „soziale Logik“ aufzuspüren, zu berücksichtigen und kontextangemessen zu interpretieren, also nach dem „Sitz im Leben“ zu fragen. Doch gehen wir schrittweise vor. Zunächst einmal ist es wichtig zu sehen, dass soziale Prozesse nicht nur eine praktische und eine inhaltliche Dimension aufweisen, sondern sich damit jeweils auch ein Sinn, eine Pointe verbindet. Aus dem Zusammenspiel der praktischen wie der inhaltlichen Dimension der Handlung resultiert die entsprechende Pointe, die Botschaft, der eigentliche Sinn. Die Pointe erscheint „eingelassen“, eingeschrieben in einer spezifischen Verknüpfung einer spezifischen Handlungsform mit einer dazu korrespondierenden Aussage. Ob die Situation nun in einem Sprechakt, in einem komplexen Plot oder aus einem längerfristigen Drehbuch besteht, ist dabei nicht entscheidend, solange es sich um eine sinnhaftsoziale Handlung handelt. Wichtig ist, dass der Sinn der Handlung der entscheidende Punkt ist und entsprechend stets in Rechnung gestellt werden muss. Um als Dritter adäquat zu deuten, muss man den Sinn rekonstruieren. Das ist allerdings für einen Unbeteiligten ein Problem, weil er ja nicht über das stillschweigend praktizierte Kontextwissen verfügt, über das Handlungspartner quasi automatisch verfügen. Der Dritte muss sich erst dieses Kontextes vergewissern. Da sich der gemeinte Sinn immer nur aus der wechselseitigen Interpretation der Handlung und dem durch Verweise hergestellten Kontext erschließt, muss er den 11 „Sinnhaft adäquat“ soll ein zusammenhängend ablaufendes Verhalten in dem Grade heißen, als die Beziehung seiner Bestandteile von uns nach den durchschnittlichen Denk- und Gefühlsgewohnheiten als typischer (wir pflegen zu sagen: „richtiger“) Sinnzusammenhang bejaht wird.” Das bedeutet, dass das, was in der Forschung rekonstruiert wird, mit dem Denken-wie-üblich korrespondieren muss (Weber 1981:8f).
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Sitz der Handlung (mit ihrem Sinn) im Alltagsleben (mit seinen Erfordernissen, seinen Drehbüchern, seinen Formaten usw.) gezielt in Erfahrung bringen. Erst dann wird sich dem Beobachter die gesamte Hermeneutik der Situation, die ihm – anders als den Teilnehmern an der Handlung – keineswegs intuitiv zuhanden ist, erschließen. Hat der Beobachter die Handlung samt ihrem Kontext, ihrem Sitz im Leben im Blick, erschließt sie sich ihm als ein „Plot“, der sich in ein „Skript“ innerhalb eines Alltags-„Drehbuches“, also in einem mehrstufigen Zusammenhang, zeitlich (z.B. „traditionsgeleitet“) wie räumlich (z.B. „situativ“) einbettet. Soziale Prozesse zu beobachten bzw. zu beschreiben, verlangt also mehr als nur eine Handlung in ihrem oberflächlichen Ablauf zu erfassen. Man muss schon den gesamten „Plot“ in Rechnung stellen, man muss wissen – bzw., wenn man es nicht weiß, eben in Erfahrung bringen – wie sich die Handlung in den Alltagsablauf einbettet, also das „Skript“ und das zugrunde liegende „Drehbuch“ ebenfalls in Rechnung stellen. Man benötigt dazu ein erhebliches Vorwissen über den Aufbau des Alltags und vor allem über den Kern des Handelns, also Kenntnisse darüber, was das Spezifische ausmacht und was dazu gehört. Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass, wenn man so an das urbane Zusammenleben heran geht, sich nicht die Frage nach der Eingliederung einer Bevölkerungsgruppe stellt („Integration“), sondern die Frage nach dem Zusammenleben im Sinn eines Zusammenspiels innerhalb unterschiedlicher Situationen. Die Menschen müssen entweder fraglos zusammenspielen können, was dann gegeben ist, wenn sie länger kooperieren, oder sie müssen sich darüber verständigen, was gerade Sache ist, was dann gegeben ist, wenn es um ein gemeinsames Thema geht. Man kann auf dem Markt einkaufen, wenn er einem vertraut ist. Man kann sich aber auch auf ein Geschäft ganz spontan einlassen, weil man sicher sein kann, es geht um den Tausch von Ware gegen Geld. Und interessant ist dann, wie die Situationen in welchem Sinn bewältigt werden: Welche Kompetenzen eingebracht und berücksichtigt werden, welche Rollen gespielt werden, welche Ziele erreicht werden, wie die Macht und die Chancen verteilt sind. Im Grunde stehen der Teilnehmer und der Beobachter vor der gleichen Aufgabe, nur dass es der Beobachter ungleich schwerer hat. Er steht vor der Frage, wie man aus dem Strom des Alltagsablaufs genau das herauskristallisieren kann, was jeweils zum „Plot“ gehört. Denn sonst ist alles vergeblich. Was ist die Kern-Einheit und worin besteht die Pointe? Es ist eben auch die Frage nach der Emergenz der kleinsten sinnhaft sozialen Einheit solcher Prozesse. Wenn Max Weber eine sachadäquate Analyse fordert, dann bedeutet das letztlich, sich in seinem Interpretationsdesign den sozialen Prozessen intrinsischen Sozialdesigns (Schütz 1981:24f) hermeneutisch korrekt zu nähern. Dies mag zur Zeit der klassischen Soziologen und ihrer eher fraglosen Mittelschichtorientierung noch ein 25
begrenztes Problem gewesen sein, angesichts der heute vorliegenden komplexen sozialen Prozesse haben wir es hier mit einer entscheidenden Hürde zu tun. Man gerät leicht in die Gefahr Zusammenhänge zu unterstellen, wo keine bestehen und dort welche zu übersehen, wo sie fundamental sind. Es ist in vielen Fällen für den Beobachter tatsächlich fast unmöglich, die Dinge auf die Reihe zu bringen, weil die notwendigen umfassenden Vorkenntnisse theoretischer wie praktischer Art fehlen. Genauer formuliert: Das Wissen des Beobachters muss in wichtigen Punkten mit dem in der beobachteten Handlung „eingeschriebenen“ Wissen in Korrespondenz gebracht werden. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten, bei Befragungen den Abschluss eines „hermeneutischen Bündnisses“ (Bukow, Spindler 2006) oder in der Feldforschung einen längeren Aufenthalt vor Ort. Das Ziel wäre jeweils, schrittweise ein korrespondierendes Wissen aufzubauen. Methodisch wurde das bereits in der Grounded Theory (Glaser, Strauss 1998) durchdacht. Ein geradezu klassisches Beispiel ist hier das neuerdings vermehrt getragene Kopftuch. Ist das Kopftuch der muslimischen Frau eine formale Begleiterscheinung einer Alltagshandlung, die nur im Sinn einer korrekten persönlichen Präsentation mit eingebracht wird wie man eben auch eine Markenkleidung benutzt, um zu zeigen, was man oder wer man ist? Oder meint das Kopftuch etwas anderes, meint es, dass man im Gegensatz zu anderen eine fromme Person ist, also Bestandteil einer Ab- bzw. Ausgrenzung ist, so wie die Nonne mit ihrer Kleidung signalisiert, das sie „nicht von dieser Welt“ ist. Um den Sinn der Handlung zu verstehen, ist der Blick auf den Kontext unabdingbar. Etwas trivialer formuliert, geht es darum, ob das Kopftuch als Indikator auf ein partielles Persönlichkeitsmerkmal verweist – erkennbar daran, dass die Person daneben noch weitere Indikatoren wie eine enge, modische Kleidung einsetzt, um auf weitere Persönlichkeitsmerkmale zu verweisen – oder ob die Person sich wie eine Nonne als „Gesamtinstallation“ versteht und sich damit insgesamt, allumfassend bezeichnen will .12 Man muss schon ein wenig über den „Sitz im Leben“ der Handlung wissen. Die Schwierigkeiten mit einer sachadäquaten Orientierung sind grade in der Diskussion über die religiöse Orientierung von Allochthonen zu beobachten, wo man bei den Alteingesessenen ignoriert, wie christlich ihr Weltbild bis heute imprägniert ist, bei den Einwanderern aber glaubt, dass sie in allen Lebenszusammenhängen religiös geprägt seien. Und außerdem kann es sein, dass man zu kurz greift, genauso wie es sein kann, dass man einen zu komplexen Zusammenhang in Rechnung stellt. So wird analog bei den Einheimischen davon ausgegangen, dass sie rein zweckrational agierten, obwohl das Alltagshandeln bis heute 12 An anderer Stelle (Bukow 2007:213f) habe ich mich mit dieser Thematik genauer befasst und vor allem versucht deutlich zu machen, dass man schon ein wenig genauer hinschauen muss, um nicht dem Kulturrassismus auf den Leim zu gehen.
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weitgehend gewohnheitsmäßig erfolgt, während man bei Allochthonen fast automatisch meint, sie wären noch in der dritten Generation von den Einstellungen ihrer „Herkunftsgesellschaft“ geprägt. Oft werden im hiesigen Migrationsdiskurs kulturelle Zusammenhänge überpointiert (siehe unten), es wird kulturalistisch argumentiert, obgleich Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität in der Regel von ganz handfesten alltagspraktischen Motiven angetrieben wird und diese Motive selbstverständlich auch das weitere Leben bestimmen. Einerseits wird der kulturelle Rahmen der Handlung überschätzt, anderseits wird die lebenspraktische Seite ignoriert. So lassen sich mitunter geradezu unglaublich naive Argumente über eine türkische Kultur konstatieren, so als ob der Vielvölkerstaat Türkei letztlich über so etwas wie eine geschlossene ethnische Identität verfüge. Auf der anderen Seite werden Allochthonen mitunter geradezu abenteuerliche Motive unterstellt, so als ob sie überhaupt nur gekommen sein, um hier in kolonialistischer Manier eine eigene Gesellschaft zu errichten. Dass man einfach der Armut entkommen oder mehr verdienen will, um z.B. Angehörige besser unterstützen zu können, erscheint dann fast undenkbar. Dass sich der Einwanderer für sie wie für seine Kinder eine neue Zukunft eröffnen will, scheint sehr fern. Oftmals spielt aber auch die blanke Unkenntnis, also ein mangelhaftes Vorwissen eine folgenschwere Rolle. Wer nicht weiß, dass die Koedukation in der Pädagogik oder die Evolutionstheorie im Biologieunterricht nicht nur in manchen islamischen Konfessionen, sondern zum Beispiel auch in vielen christlichen Gemeinschaften, Sekten und Kirchen große Probleme machen, in den USA sogar einen heftigen „Kulturkampf“ ausgelöst haben, der schreibt dem Islam Dinge zu, die für ihn überhaupt nicht typisch sind. Hier wird ein allgemeines Problem mit den Besonderheiten einer bestimmten Konfession oder religiösen Gemeinschaft verwechselt. Gelegentlich ist es aber auch weniger Unwissenheit als vielmehr Heuchelei, wenn es zum Beispiel um patriarchalische Einstellungen oder Gewalt in der Kleinfamilie geht. Dann werden Dinge, die in den „besten Familien vorkommen“, in geradezu klassischer Manier einem „Fremden“ zugeschrieben und im Gegenzug wird das „Eigene“ von all derartigen Vorkommnissen freigesprochen. Eine derartige Apologetik prägt nicht nur politische, sondern auch alltägliche Diskurse. Sie dienen der Frontbegradigung, sind also nicht rekonstruktiv orientiert, sondern dienen einer Botschaft, sollen ggf. Maßnahmen rechtfertigen und Ansprüche untermauern. Elisabeth Beck-Gernsheim nennt das „Das traurige Lied von der armen Ausländerfrau“ (Beck-Gernsheim 2004:52ff). Sich der konstitutiven Bedeutung von Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität bewusst zu werden, bedeutet freilich auch zu erkennen, dass zur Erfolgsgeschichte mehr gehört als nur, dass sich Allochthone schrittweise in einer 27
Stadt arrangieren und erfolgreich sind. Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität konnten erst unter den Bedingungen der in der Moderne hervortretenden institutionellen, technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten ihre Kraft voll entfalten und solche Formen des Zusammenlebens entstehen lassen, die das Zusammenleben von Millionen Menschen auf kleinstem Raum ermöglichen. Zur Erfolgsgeschichte bedurfte es eines bestimmten Stands der gesellschaftlichen Entwicklung. Es ist sogar mit einer ganzen Reihe von begleitenden Prozessen zu rechnen, die sich beim Arrangement der Migranten fundamental auswirken. Ohne die neuen Mobilitätsmittel wäre zum Beispiel überhaupt nicht vorstellbar, dass sich aus einer Einwanderung von Süditalienern nach Deutschland unter dem Vorzeichen der EU faktisch ein zirkuläres Umzugsverhalten entwickelt hat. Man denke nur an den Eiscafébesitzer, der dem hiesigen Winter dadurch ausweicht, dass er für diese Zeit in sein italienisches Haus zieht. Und analog: Ohne die neuen Formen des Geldtransfers wäre es unvorstellbar, dass Menschen, um ihre Familien oder Verwandten unterhalten zu können, von Nigeria nach Europa gehen und versuchen, sich hier ohne Papiere durchzuschlagen, um Geld zu verdienen. Das Geld muss ja zeitnah zurückzuschicken sein. Identifizierbar werden derartige „Hilfsmittel“ im Vergleich. Vergleicht man den Umgang mit den Hugenotten im Preußen des 17. Jahrhundert mit dem Umgang mit den Einwanderern im Deutschland des 21. Jahrhunderts, so wird schnell deutlich, dass die Einwanderer einst wegen ihres besonderen Wissens und ihrer technologischen Fertigkeiten geschätzt wurden und folglich langfristig umworben waren und über Generationen privilegiert waren, während man heute Allochthone primär zur Unterschichtung und zum Aufstieg der eigenen Bevölkerung einsetzt und bei Bedarf auch wieder los werden möchte, also höhere Qualifikationen eher als deplatziert empfindet. Der Vergleich zeigt, dass die moderne Illegalität von Menschen ohne Papiere und die Aktivitäten der EU-Grenztruppe FRONTEX13 im 21.Jahrhundert so etwas wie ein funktionales Gegenstück zur Privilegierung der Hugenotten und zu den großräumigen Werbeaktivitäten preußischer Gesandter im 17.Jahrhundert darstellen.14 Der Perspektivenwechsel lenkt die Aufmerksamkeit auf das Alltagsleben, das man freilich erst noch genauer verstehen lernen muss. Hier mag der von der verstehenden Soziologie gewiesene und vom Sozialkonstruktivismus weiter entwickelte Weg hilfreich sein. Erst mit diesem Perspektivenwechsel lässt sich 13
Darauf gehe ich unten noch einmal genauer ein (vgl. Anmerkung 29). Die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union wurde errichtet durch die Verordnung (EG) 2007/2004 des Rates vom 26. Oktober 2004 (ABl. L 349 vom 25.11.2004). Die Anwerbung und Privilegierte Integration der Hugenotten in Preußen wurde durch das Edikt von Potsdam vom 29. Oktober 1685 geregelt. Damit versuchte der Große Kurfürst, 20 000 französischen Glaubensflüchtlinge dazu zu bewegen, sich in seinen Ländern niederzulassen. 14
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ein sachadäquater Zugang zum Alltagshandeln gewinnen und die Frage nach dem jeweiligen historischen wie aktuellen gesellschaftlichen Zusammenhang („Sitz im Leben“) stellen. Von daher verbietet sich eine isolierte Diskussion von Fragestellungen, die sich einer „sachfremden“, also einer externen Logik oder Interessenlage verdanken. Dazu gehört beispielsweise die Integrationsdiskussion. Es gibt eben eine bestimmte, historisch eingespielte Komplexität der Thematik, die man nicht ungestraft ignorieren darf (Hamburger 2009). 1.1.3 Über den Zugang zum Alltagshandeln eröffnen sich neue Horizonte Aus der Perspektive des Alltagslebens erweist sich das konkrete Handeln und dessen „Sitz im Leben“ als Teil einer diskursiven Konstruktion von urbaner gesellschaftlicher Wirklichkeit. Gerade auch das konkrete Alltagshandeln im Umfeld migrationsspezifischer Mobilität erscheint hier besonders interessant und aussagekräftig. Um ein entsprechendes Handeln zu würdigen, gilt es dann, die einzelnen Praktiken im Blick auf deren Sitz im Leben sachadäquat zu rekonstruieren und sie angemessen in die urbane Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit einzuordnen. Was jeweils an einer Handlung bzw. Praktik identifizierbar wird, jede einzelne Pointe, jeder Plot, jedes Skript und Drehbuch werden in diesem Rahmen auf ihre entsprechende gesellschaftliche „Einfärbung“ zu prüfen sein. Folglich werden die relevanten sozialen Prozesse wie alles, was wir im urbanen Alltag wahrnehmen, beobachten und erleben, jeweils gleichzeitig als konkrete Aussage und als Ausschnitte der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit betrachtet. Dies lässt sich gut an zwei Beispielen, die aus der aktuellen Diskussion entnommen wurden, erläutern. Wenn man beispielsweise einen Straßennamen sieht, zur Orientierung benutzt und sich u.U. sogar noch einen Augenblick länger mit ihm befasst, bekommt er in jedem Fall erst dadurch Sinn, dass man ihn in seinem Format (der Gestaltung, Platzierung und Systematik) und mit seiner Beschriftung (der Bezeichnung) als Verweis auf etwas, nämlich als Verweis auf ein urbanes Ordnungssystem sowie ein entsprechendes Symbolsystem urbaner Öffentlichkeit und als Hinweis auf eine Person oder ein Vorkommnis oder auf eine spezifische Tradition sieht. Das Schild dient im konkreten Kontext einerseits zur praktisch Orientierung des Betrachters, macht aber anderseits den Betrachter über das Schild zu einem Teilnehmer an einem urbanen Diskurs – einem Diskurs, in dem Wissen über die Bezeichnung, über das urbane System, über die Stadtgeschichte usw. miteinander verschmelzen. Für den, der weiß, dass ein Straßenname mehr ist als eine bloße Markierung einer Straße, für den wird das Schild zu einer semiotischen Konstruktion. Und wenn er etwas genauer Bescheid weiß, wird er 29
allgemeine Annahmen über Namensgebung und Stadtpolitik sowie konkrete Erkenntnisse, die sich ggf. mit der Namensgebung auf dem Schild verbinden lassen, zusammen denken; er wird von der Namensgebung zur konkreten Stadtgeschichte voranschreiten und wieder zurückkehren. Wichtig ist nun aber nicht nur, was in diesem Diskurs alles zusammen gedacht wird, sondern auch, was in diesem Diskurs alles nicht berücksichtigt, nicht einbezogen wird. Trivial, aber folgenreich ist, wenn man bei einer langen Straße nicht gleich erkennen kann, an welcher Stelle man sich befindet oder bei einer ungewöhnlichen Zählweise nicht weiß, in welche Richtung gezählt wird. Aber wenn z.B. in Deutschland neuerdings vereinzelt türkische Straßennamen auftauchen, diese aber stets nur in abgelegenen Industriegebieten, dann ist das schon eine politische Botschaft.15 Vice versa gibt es in den Südstaaten der USA faktisch keine Straßennamen, die an die Zeit der indianischen Besiedlung erinnern, während in Neuseeland die gleichen Einwanderer sehr oft die lokalen Bezeichnungen der Maori aufgegriffen und weiter verwendet haben. Tatsächlich geht es im urbanen Zusammenleben um gezielte praktische Beschreibungen und beschriebene Praxisgewohnheiten in einem. In diesem Zirkel zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem, etwas einfacher formuliert zwischen Handeln und Deuten, Deuten und Handeln spielt sich das ab, was hier interessiert. Der Straßenname stellt eine praktische Beschreibung dar. Er dient der konkreten Orientierung und erweist sich zugleich als Teil einer, weit über die konkrete Orientierung hinausgehenden, gesellschaftlichen Orientierung, indem er bestimmte Kontexte herstellt und andere, auch wenn sie noch so nahe liegen mögen, zu nichtexistenten Kontexten erklärt. Das Konkrete ist nicht ohne das Allgemeine, das Allgemeine nicht ohne das Konkrete zu haben. Beides zusammen bietet einen unverzichtbaren Baustein für das, was den urbanen Alltag ausmacht. Das Beispiel des Straßennamens ist immer noch ein extrem einfaches Beispiel, weil sich Handlung und Deutung, Bezeichnendes und Bezeichnetes über die Zeit hinweg gewissermaßen verfestigt und damit letztlich verstetigt haben. Viel schwieriger wird es, wenn man beispielsweise den Bau einer symbolträchtigen Einrichtung in den Blick nimmt. Das klassische Beispiel sind die Auseinandersetzungen über die Konzerthalle in Los Angeles. Aber man braucht nicht in die Ferne zu schauen. Man muss nur die Errichtung einer Moschee zu rekonstruieren versuchen. Das Bauvorhaben (siehe 3.1) steht nicht nur in einer endlichen Vielzahl von Kontexten, die noch dazu immer einmal wieder anders gerichtet werden, sondern es stellt auch selbst eine hochkomplexe Handlung dar, so
15 Vgl. Motte, Ohliger 2004:7 ff – und „Der einmillionste Gastarbeiter, der Portugiese Antonio Rodrigues, 1964 am Bahnhof Köln-Deutz (der für die Abwicklung von Sonderzügen zuständig war) in http://www.angekommen.com/“.
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dass eine abschließende Rekonstruktion der Baumaßnahme selbst post factum kaum wirklich vollständig gelingt. Beide Beispiele belegen, wie sich eine konkrete Situation einerseits über ihren jeweiligen Sitz im Leben in den Alltag und anderseits über entsprechende Verweise in die gesellschaftliche Konstruktionen des Urbanen einfügt. Allerdings haben wir es hier mit auf Dauer gestellten Situationen, gewissermaßen geronnenen Handlungen zu tun, in die man sich als Passant oder Nutzer nur noch „einzuklinken“ braucht. Das Schild bzw. das Moscheekonzept erweisen sich als längst verdichtet. Deshalb ist es für den Beobachter relativ einfach, einen Zugang zu gewinnen. Wenn er auch nichts über den potentiellen Passanten oder Nutzer weiß, so kann er sich doch über den Straßennamen oder eine Baumaßnahme recht „zuverlässig“ (also „erwartungssicher“) Auskunft beschaffen. Beträchtlich komplizierter wird es für den Beobachter bei Handlungen, die keine fest verankerten Anteile aufweisen und vielleicht auch keine festen Spuren hinterlassen. Dies macht es schwerer, einen Zugang zu finden. Weder kann man in der aktuellen Beobachtung auf sichere Bezüge setzen noch kann man wenigstens im Nachhinein auf eine mehr oder wenig zuverlässige Deutung zurückgreifen. Das urbane Alltagsleben besteht häufig aus Interaktionsprozessen, deren Bezüge nicht so einfach „greifbar“ sind und die alsbald wieder spurlos verschwinden, aus gewissermaßen „rückstandsarmen“ Prozessen, die in ihrer Summe zwar die urbane Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit ausmachen mögen, als einzelne Fälle jedoch aber flüchtig erscheinen. Dennoch helfen hier die beiden Beispiele weiter, geht es doch auch in diesen Fällen um nichts grundsätzlich anderes, sondern nur um stärker ausgearbeitetes Handeln. Letztlich ist der Einkauf im Supermarkt genauso wenig unmittelbar sinnlich erfassbar wie der Straßenname. Auch hier geht es für die Beteiligten wie für den Beobachter stets darum, die Handlungen zu „lesen“, also sie in zuhande Vorstellungen einzuordnen und sich auf die Dialektik von Handlung und Deutung einzulassen. Wir lesen eben nicht nur ein Straßenschild, wir „lesen“ auch die Situation an der Supermarktkasse. Letztlich liegt der Unterschied nur, um im Bild zu bleiben, in der „Dauerhaftigkeit“ des Lesestoffs (Motte, Ohliger 2004:32). Bei einer Vielzahl von sozialen Prozessen haben wir es mit einem ganzen Satz, mit einer ganzen Serie von mehr oder weniger vorstellungsmäßig manifesten Handlungen zu tun. Plot, Skript und Drehbuch bilden oft nur den Nahhorizont der Handlung. Dahinter verbergen sich noch einmal eine ganze Fülle von weiteren Kontexten und einer entsprechenden mehr oder weniger kontingenten Vielzahl an Deutungen. Wirklich lesbar wird alles nur, insoweit es gelingt, die aktuellen Prozesse mit ihren verschiedenen Horizonten und Deutungshintergründen überzeugend, also sozial „korrekt“ zu verschmelzen. Dazu ist es notwendig, beobachtend zu deuten, und deutend zu beobachten und uns dabei zu bemühen, 31
das zu berücksichtigen, von dem wir annehmen, dass es auch für andere wichtig ist („Erwartungserwartung“). Über den Zugang zum Alltagshandeln eröffnen sich neue Horizonte im Blick auf die Stadtgesellschaft insgesamt. Vom Straßennamen aus eröffnet sich ein Einblick in allgemeine Vorstellungen über Straßennamen und damit über die kommunalen Vorstellungen hinsichtlich der Bedeutsamkeit von Personen, Ereignissen usw. Ein Sakralbau gibt Einblicke über analoge Vorstellungen. Genauso lassen alltägliche Praktiken Einblicke in lokale Lebensstile und urbane Gewohnheiten zu: Hinter den Namen, Bauten und Handlungen verbergen sich Vorstellungen, Interpretationsmuster, milieuspezifische Konzepte, Erzählungen, soziale Formate (Kaschube 2006:115f), kulturelle Dispositive (Foucault 1978), ein zwar individuell repräsentierter aber im ganzen gruppentypischer Habitus, wie ihn Pierre Bourdieu ausgeführt hat (Bohn 1991), von Fall zu Fall aktivierte Rituale (Hauschild 2008:204), komplexe ineinander fließende und auseinander driftende Diskurse des Alltags, die im Alltag über den Alltag Aussagen machen. Viele der sozialen Handlungen sind nur lokal verständlich zu machen, andere sind sogar global verständlich, manche haben eine lokale, andere eine globale Geschichte. Manchen gelten zeitweilig und werden wie Moden nach einiger Zeit wieder vergessen, andere weisen eine existentielle Qualität auf wie z.B. Geburtsoder Beerdigungsrituale und erhalten sich Jahrtausende. Hier fügt sich auch der oben erwähnte nationale Diskurs ein. Er wird als kulturelles Dispositiv einbezogen und erweist sich ähnlich zäh und alterungsbeständig wie manche Rituale. Die Vielfalt der hier angedeuteten Horizonte sind kontingent. Welche Gültigkeit erlangen, das entscheiden die Menschen vor Ort, aber sie überlegen es nicht theoretisch, sondern sie machen das praktisch. Der Beobachter hat es da ungleich schwerer. Er muss sich theoretisch entschieden, weil ihm die praktische Teilnahme von der Sache her verwehrt ist. Deshalb ist er von seinem Vorwissen abhängig. 1.1.4 Auch der wissenschaftliche Diskurs selbst kann sich dem nicht entziehen Wenn es gelingt, die Relevanz von Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität im Rahmen des urbanen Zusammenlebens differenziert und kritisch zu würdigen, sozial adäquat einzuordnen, als Teil gesellschaftlicher Konstruktion von Wirklichkeit zu interpretieren, dann ist der weitere Weg für eine angemessene wissenschaftliche Orientierung vorgezeichnet. Jetzt kommt es allerdings noch darauf an, die bisher gewissermaßen alltagsimmanent formulierte Perspektive, das anfangs nur aus der Binnensicht des Alltags heraus angelegte Design in Richtung Wissenschaft auszuweiten. Das bedeutet, zunächst die Perspektive 32
eines „Beobachters zweiter Ordnung“ noch deutlicher auszuarbeiten und dann speziell für die Position der Sozialwissenschaften fruchtbar zu machen. Das Ziel ist, die Rekonstruktion dessen, was im Alltag immer schon konstruiert wird, weiter abzuklären, um damit den auf der Ebene eines Diskurses im Alltag über den Alltag (in politischen Debatten, in der Öffentlichkeit usw.) gehandelten Problemzuschreibungen, Paradoxien und Fehldeutungen und Verzerrungen aus wissenschaftlicher Perspektive ggf. überzeugend entgegentreten zu können. Nach den bisherigen Überlegungen ist klar, dass eine Rekonstruktion des Alltagshandelns bei Rekonstruktionen im Alltag selbst ansetzen muss. Zumindest muss an die Konstruktionsprozesse des Alltags angeknüpft werden. Letztlich sollen die im Alltag verankerten Rekonstruktionsprozesse alltäglicher Konstruktionen zur Basis werden, weil das Wissen über den Alltag, wie das schon vor vielen Jahren Harald Garfinkel formulierte, stets zugleich, ja primärWissen innerhalb des Alltags (Garfinkel:2005) bleibt. Wir finden uns selbst mit einer rekonstruktiven Einstellung auch schon im Alltag selbst vor. Folglich war oben, wo es noch um eine „binnenhermeneutische“ Perspektive ging, automatisch diese Seite auch mit im Blick. Die dort festzumachenden Beobachtungsprobleme sind dort bereits Probleme zweiter Ordnung und sind insofern identisch mit dem, was hier aus sozialwissenschaftlicher Sicht bewältigt werden muss: Wir gehen ja nicht nur weiter auf die Erwartungen anderer ein, sondern wir berücksichtigen sie auch ausdrücklich zurückfragend, zurückblickend, machen uns also aktiv retrospektiv kundig. Bildlich gesprochen halten wir den Alltag auch nur insofern an, wie wir das im Alltag auch selbst tun, wenn wir den Blick zurückwenden wollen oder müssen, um eine Angelegenheit zu klären. Edmund Husserl hat das mit dem Begriff der „Epoché“ anzudeuten versucht (Rovatti 1989:277ff). Der Aufbau des Alltags weist den Sozialwissenschaften im Alltag einen Anknüpfungspunkt zu, der jetzt weiter ausgebaut werden muss. Man mag einwenden, dass auf diese Weise jede sichere Erkenntnis verloren geht. Wir sind zwar von der Sache her zu einer nicht-essentialistischen, konstruktivistischen Sicht genötigt, aber wir müssen deshalb dennoch nicht auf alle Sicherheiten verzichten. Schon im Alltag selbst gibt es bestimmte Formen der Absicherung von Erkenntnissen. Sie erscheinen abgesicherter, wenn sie sich „sozial reimen“, also zum Common sense „passen“, wenn sie entlang der „Alltagslogik“ formuliert werden und – last but not least – wenn sie sich praktisch bewähren („viabel“ sind). Die wissenschaftlichen Erkenntnisse werden sich nicht unbedingt „sozial reimen“. Das kann, wie die einschlägige „Ausländerforschung“ am Ende des letzten Jahrhunderts belegt, zu erheblichen Problemen führen, weil man sich damit jeder Mode ausliefert. Aber die anderen Kriterien kann man unter bestimmten Bedingungen nicht nur weiter verwenden, man kann sie sogar ausbauen und damit die Einsichten sicherer machen. Das gelingt durch 33
methodische Sorgfalt und hermeneutische Tiefe. An dieser Stelle ist die empirische Forschung gefordert. Man kann an die Beobachtung zweiter Ordnung anknüpfend sagen, die Sozialwissenschaften müssen den urbanen Alltag noch einmal methodisch wie hermeneutisch reflektiert „lesen“. Es geht also um eine ReInterpretation dessen, was man immer schon beobachten, rekonstruieren oder materialisiert in Dokumenten, Texten, in der Bauweise eines Quartiers, in der Bezeichnung von Straßen und Plätzen, in der Ausstattung von Wohnungen oder Geschäften in Erfahrung bringen kann. Der Beobachter muss sich bewusst bleiben, dass dieses Zusammenspiel von (wissenschaftlichem) Deuten und (Alltags-)Handeln in der einer dem Alltag zugewandten Wissenschaft letztlich nur partiell rekonstruierbare Auskünfte bietet. Das liegt freilich nicht erst an der Wissenschaft. Es liegt schon am Alltag selbst, weil auch das im Alltag selbst ablaufende Zusammenspiel zwischen (alltäglichem) Deuten und (alltäglichem) Handeln diesen Unsicherheiten unterliegt. Das Verstehen bleibt angesichts einer nicht-essentiellen Welt eben auch hier begrenzt.16 Wie im Dauerablauf des Alltags „intern“ so unterstellen wir auch im Verhältnis der Wissenschaft zum Alltag behelfsweise so etwas wie eine fundamentale Analogie zwischen den verschiedenen Ebenen praktischer Erfahrungen und Erkenntnisse, d.h. wir machen insoweit auch nur das, was wir in der Alltagspraxis tun, wo wir von einem gemeinsamen Bestand an Grundinteressen, Grunderfahrungen, Grunderfolgen und damit konsensfähigem Wissen ausgehen. Dennoch: Wir haben aber anders als im Dauerablauf des Alltags nicht nur die Zeit, zurückzublicken, sondern auch die Zeit, den Horizont auszuweiten. Insofern geht es nicht nur darum, den ständig gelesenen urbanen Alltag mit den gleichen Augen immer wieder noch einmal zu „lesen“, sondern eben auch darum, Zeit für zusätzliche Beobachtungen und Deutungen einzusetzen. Am Ende muss man zugestehen, es bleibt bei der aus dem Alltagsleben vertrauten Bevorzugung praktischer Erfahrungen und Einsichten. Auch oder gerade eine konstruktivistische Sichtweise kann sich dem nicht entziehen und wird anderen Erkenntnisquellen gegenüber, einer externen Ontologie genauso wie einer rein theoretischen Vernunft gegenüber skeptisch bleiben müssen. Siegfried J. Schmidt hat das im Detail skizziert (Schmidt 2003:97) und klar gemacht, dass es „funktioniert“. Das ist das entscheidende Kriterium praktischer Erkenntnis. Nur dass wir diese Feststellung nicht in der Eile des Dauerablaufs des Alltags treffen müssen, sondern uns dafür, wie schon ausgeführt, Zeit lassen können. Wir „lesen“ die Bedeutung des Straßennamens indem wir das Schild lesen und semiotisch einordnen. Als sozialwissenschaftliche Beobachter machen wir das methodisch kontrollierter, weil wir der Alltagspraxis eine bestimmte Regelmäßigkeit 16
In diesem Zusammenhang halte ich die Basisannahmen, unter denen die Interkulturelle Pädagogik arbeitet, für zu wenig reflektiert und problematisch (Bukow 2007:91ff).
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unterstellen, eine soziale Grammatik postulieren. Das macht schon einen erheblichen Unterschied. Er verdankt sich letztlich der gezielten Berücksichtigung unseres besonderen Standpunktes als Beobachter zweiter Ordnung. Diese Überlegung ist jedoch nicht nur wichtig, um mögliche Erkenntnisfortschritte auszuweisen, es geht noch um mehr. Wenn man die Semiotik des Alltags nicht nur praktiziert, sondern sie sich auch bewusst macht, kann man kritisch mit ihr umgehen. Greift man noch einmal auf die oben bereits zitierten Befunde über den Bildungserfolg von Jugendlichen mit Migrationsgeschichte zurück (Pisakonsortium 2004), wo gezeigt wurde, dass ein straffer Zusammenhang zwischen dem Schulerfolg der Unterschicht und allochthonen Minderheiten in Deutschland besteht, so kann man natürlich folgern, dass die Migration die Probleme, die wir mit der Integration der Unterschicht ohnehin schon haben, noch einmal verdoppelt. Damit werden die Probleme neben einer proletarischen Abkunft auch einer „fremdkulturellen“ Abkunft zugewiesen. Man kann aber, wie schon gezeigt, daraus etwas anderes folgern. Die Überlegungen reimen sich dann zwar nicht mehr mit der allenthalben propagierten Kulturdifferenztheorie, aber sie entsprechen der Alltagslogik: Die Einwandererkinder haben deshalb so geringe Bildungserfolge, weil sie im Rahmen ihrer Inkorporation in die Gesellschaft untergeschichtet wurden. Sie wurden zu einem Bestandteil der Unterschicht und verhalten sich entsprechend, sind also nicht kulturell desintegriert, sondern umgekehrt hoch integriert. Und auf der anderen Seite hat das Bildungssystem sich entsprechend darauf eingestellt und erweitert seine Distanzstrategie. Um das zu erkennen, muss man die Logik des Wegs in die „Aufnahmegesellschaft“ rekonstruieren, und dann die letzten Jahrzehnte im Umgang mit der Unterschicht noch einmal „nachlesen“. Was verloren geht, ist also nicht gesicherte Erkenntnis, sondern nur scheinbar gesicherte Erkenntnis. Was dagegen gewonnen wird, ist ein Mehr an reflexiver Erkenntnis, also Einsicht in die Zusammenhänge. Die konstruktivistische Sichtweise verschafft nicht weniger, sondern mehr Einsicht und mehr Erkenntnissicherheit. Sie zwingt zur Einsicht in die eigene Befangenheit, erlaubt aber gleichzeitig durch den Einsatz von Zeit und methodisch durchdachten Verfahren einen tieferen Einblick. Man hat „Zeit“ Strukturmerkmale zu diskutieren, Modelle einzubeziehen, z.B. linguistische oder systemetheoretische Modelle zu verwenden. Sie erzwingt letztlich eine kritische Haltung zur üblichen, selbst verinnerlichten Sicht der Dinge. Es ist ein Punkt, der gerade im vorliegenden Zusammenhang, wo sich die Forschung teils über Jahrzehnte hinweg ministerielle wie entsprechenden institutionelle Erwartungen schon aus Gründen finanzieller Förderung dienstbar gemacht hat, extrem wichtig ist. Erst heute entwickelt die hier einschlägige Forschung eine unabhängige Position (Beck-Gernsheim 2004:202). War es aber auch nicht die Dienstbarkeit, sondern einfach ein wie selbstverständ35
lich hingenommener methodologischer Nationalismus der Nachkriegswissenschaft, was sich hier nur besonders folgenreich auswirkte. Dazu unten mehr.17 Seit den kritischen Arbeiten über die Soziogenese ethnischer Minoritäten (Bukow, Llaryora 1998) und über die moderne Ethnizität (Dittrich, Radtke 1990) wird zunehmend versucht, einen kritischen, reflexiven Weg zu gehen. Genau in diesem Sinn wurde später auch der Begriff der „sozialen Grammatik des urbanen Zusammenlebens“ eingeführt. Er wird hier noch ein Stück weiter modelliert werden müssen. Wenn man heute die europäische Stadt mit ihren Leistungen in den Mittelpunkt stellt, ist darauf zu achten, semiotisch korrekt zu verfahren, also sie so zu berücksichtigen, wie sie innerhalb des urbanen Lebens relevant erscheinen, was aber eine sorgfältige Beobachtung, eine Überprüfung aller in solche Beobachtungen eingehenden Selbstverständlichkeiten und eine entsprechende Rekonstruktion der sich abzeichnenden sozialen Logik voraussetzt. 1.2 Eine Neupositionierung der gesellschaftspolitischen Diskussion ist überfällig Zunächst ging es vor allem darum, um einen angemessenen Zugang zur Thematik zu finden. Angesichts der Diskussionslage, wo man sich mit der Migration und ihrer Bedeutung für das urbane Zusammenleben sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit teilweise wenig sachgemäß befasst, ist auch ein besonderer Blick auf den öffentlichen Diskurs notwendig. Hier zeigt sich sehr schnell, dass die Diskussionsstränge in vielerlei Hinsicht parallel verlaufen. Deshalb ist es vielleicht nicht falsch, nicht nur von einer nach wie vor anerkannten Grundmelodie, sondern tatsächlich wie oben einleitend schon angedeutet von einem umfassenden und vor allem politisch präsentierten „Kulturprogramm“ zu sprechen. Siegfried Schmidt hat diesen Begriff in einer vergleichbaren Diskussion geprägt. „Kulturprogramme regeln in sozial verbindlicher Weise die gesellschaftlich akzeptablen Bezugnahmen von Aktanten auf das Wirklichkeitsmodell einer Gesellschaft“ (Schmidt 2003:115).
Auch wenn man in einer Gesellschaft, die sich im Übergang zur Postmoderne befindet, nur noch in Ausnahmefällen derart weit verbreitet, geradezu ubiquitäre Kulturprogramme erwarten sollte, scheint das zumindest im Blick auf Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität noch zutreffend. 17
Gelegentlich wird auch von einem „methodischen Nationalismus“ gesprochen. Doch verfehlt man damit die Pointe ( Wimmer und Glick-Schiller 2002:301ff).
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Offensichtlich gibt es in diesem Kontext eine ganze Fülle von Akteuren, angefangen bei den Leuten auf der Straße, die völlig selbstverständlich vom als einer Gruppe von Menschen mit bestimmten sozialen Eigenschaften reden, über die lokalen Funktionäre, die professionellen „Wissensbeschaffer“, die Experten und Forscher bis hin zu Politikern, die sich nach gut vierzig Jahren Einwanderung gerade mal zu einem Zuwanderungsgesetz durchgerungen haben. Anders formuliert: Es gibt in der Gesellschaft anscheinend ein fest verankertes, unverwüstliches, kritikresistentes, mit der Aufteilung der Wirklichkeit in „Wir und die Anderen“ arbeitendes Wirklichkeitsmodell. Die wichtigsten Vertreter dieses hegemonialen Wirklichkeitsmodells über „Wir und die Anderen“ kann man im gesellschaftspolitischen Diskurs finden. Zumindest dort scheint dieses Programm nach wie vor fraglos gültig und omnipräsent, gegenüber dem praktische Erfahrungen nur sehr begrenzte Chancen haben. Man mag die These, dass in der deutschen Öffentlichkeit einem eigentlich längst überholten „Kulturprogramm“ gefolgt wird, vielleicht überpointiert finden, weil die öffentlichen Debatten keineswegs so dicht und homogen geführt werden, wie das bei der Formulierung „Kulturprogramm“ impliziert sein mag. Nun ist das bei Diskursen auch gar nicht anders zu erwarten. Diskurse sind immer breit, fließend und an den Rändern auch ausufernd (Jäger 2006). Erstaunlich ist eher umgekehrt, dass dieses Kulturprogramm ausgerechnet im Blick auf migrationsrelevante Mobilität bemerkenswert konsistent und dicht erscheint. Wir haben oben bereits von einer Art Grundmelodie gesprochen. Tatsächlich existiert in dieser Hinsicht eine durchaus durchgängige Linie. Vielleicht kann man statt von Kulturprogramm sogar genauer von nationalen Erzählungen sprechen. Es wird sich zwar zeigen, dass die Formulierung „Programm“ durchaus berechtigt ist, aber das Programm ist erstens national, zweitens historisierend und drittens handlungsorientiert ausgelegt, also mehr als ein Programm gewöhnlich impliziert. Es knüpft an, es verbindet mit Traditionen, es postuliert Kontinuität und es will Vergangenheit zur Zukunft machen. Die in den öffentlichen Debatten dominierenden nationalen Erzählungen haben also einen durch und durch programmatischen Charakter. Sie zielen auf die Durchsetzung einer bestimmten Konstruktion von Wirklichkeit – einer Wirklichkeit allerdings, die wie alle solche Programme darunter leidet, dass sie so niemals Realität war. Auch das ist eine Beobachtung, die schon Max Weber beispielsweise am Begriff der Ontogonie demonstriert hat.
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1.2.1 Die Zeit der nationalen Erzählungen ist vorbei In den folgenden Überlegungen geht es zunächst darum, die Punkte zu markieren, die in den öffentlichen Debatten die größten Probleme bereiten und die zudem ganz besonders beharrlich reproduziert werden. Entsprechend ist die Systematik angelegt. Dabei werden natürlich die Befunde der bisherigen Diskussion systematisch einbezogen, insbesondere die These, dass die europäische Stadt ohne Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität niemals zu dem geworden wäre, was sie heute ist. a)
Sinnfremder Reduktionismus
Im Rahmen der Überlegungen zur Sachadäquatheit der Forschung sind bereits mehrere Beispiele für eine sinnfremde Argumentation im Umfeld der Wissenschaft angeführt worden. In den öffentlichen, politisch ausgerichteten Debatten sieht es in dieser Hinsicht nicht anders aus. Auch hier werden immer wieder einzelne Aspekte migrationsspezifischer Mobilität oder des Zusammenlebens ohne Rücksicht darauf, dass sich solche Prozesse stets in komplexen globalgesellschaftlichen Zusammenhängen abspielen, aus kurzfristigen politischen Interessen heraus inadäquat reduziert. Es geht dann aber nicht nur um eine sinnfremde Argumentation, sondern auch um einen sinnfremden Reduktionismus. Bernhard Giesen nannte das eine naturalistische Reduktion (Giesen 2007:259), die in geradezu klassischer Weise am „Ausländer“-Begriff zu belegen ist. Mit diesem bis heute beharrlich verwendeten Begriff wird nicht nur ein falscher Verweis verwendet, wenn eine soziale Gruppe aufgrund rechtlicher Merkmale postuliert wird, es wird vielmehr auf eine rechtliche Kategorie zurückgreifend eine soziale Gruppe definiert und ihr sogar spezifische Eigenschaften unterstellt. Es wird eben auch reduktionistisch verfahren, indem oftmals alle irgendwie namhaft machbaren Probleme, Risiken, Verwerfungen, angefangen bei geringeren Bildungschancen und endend bei der Gewalt in der Familie, absolut einseitig auf einen allochthonen Hintergrund reduziert werden, wobei man sogar noch die Kinder oder Enkel der „Gastarbeitergeneration“ mit einbezieht. Dieser Reduktionismus fällt überhaupt nicht mehr auf, weil er längst zum Kernbestand des einschlägigen unreflektierten Alltagsverständnisses zählt. Macht man darauf aufmerksam, dass der Begriff fraglich ist, stößt man auf blankes Unverständnis. Er gehört denn auch längst zu den Basisinstrumenten eines oben schon konstatierten klandestinen Alltagsrassismus. Brisant wird dieser sinnfremde Reduktionismus aber nicht nur beim „Ausländer“-Begriff. Ersatzbegriffe wie der „Migrant“ bzw. der „Asylant“ u.a. haben sich ganz ähnlich entwickelt. Auch Begrif38
fe im weiteren Umfeld, vor allem der Begriff „Parallelgesellschaft“, der erstmals im Rahmen der Bielefelder Arbeit über den „verlockenden Fundamentalismus“ (Heitmeyer u.a. 1998:192) salonfähig gemacht wurde und sich seitdem gleichsam epidemisch in den öffentlichen Debatten breit gemacht hat, gehört in diesen Zusammenhang (Bukow 1999). An dem Begriff „Parallelgesellschaft“ lässt sich die Problematik besonders deutlich machen. Hier findet sich sowohl ein sinnfremder Verweis als auch ein darauf aufbauendes reduktionistisches Argumentationsmuster (Kaschuba 2007: 65ff). Denn zum einen wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass Menschen dann, wenn sie ein Milieu ausbilden, das keine westlichen, sondern östliche Kulturen zitiert, sich automatisch abschotten und ein Eigenleben entwickeln. Und man ist schnell mit einem diese Milieus angeblich prägenden Fundamentalismus zur Hand, so als ob es sich dabei um eine originär islamische Erscheinung handelt. Dabei wird nicht nur der Charakter moderner Milieus ignoriert, es werden auch großzügig globalgesellschaftliche und historische Zusammenhänge ausgeblendet. Eigentlich muss man nämlich konzedieren, dass es sich beim Fundamentalismus um eine dem Pietismus geschuldete, ursprünglich rein christlich ausgerichtete Bewegung handelt, die sich heute zum Beispiel tagtäglich auch in Staaten wie den USA manifestiert (Riesebrodt 2007), und etwa bei den Abtreibungsgegnern zu massivem Gewalteinsatz geführt hat. Und wenn solche Milieus sich auch noch räumlich in Szene setzen, dann wird dies benutzt, um „Klein Istanbul“ vorzuführen. Man ignoriert, dass „ethnische“ Inszenierungen dieser Art weltweit in modernen Städten zu beobachten sind, nämlich als „ethnic theme parks“. Dies sind ethnisch inszenierte Einkaufs- und Konsumquartiere, die aus kommerziellen wie aus touristischen Gründen äußerst beliebt sind. Warum ein solcher alltagsrassistisch gespeister Reduktionismus nicht weiter auffällt, liegt auf der Hand. Er arbeitet ja zumeist mit Verweisen auf den Islam. Und dem traut man ja ohnehin von alters her alles zu. Um einem so ausgestatteten Alltagsrassismus begegnen zu können, muss man schon über einige Kenntnisse verfügen und man muss sie belastbar einsetzen. Man muss dazu in der Lage sein, die kulturellen, sozialen und insbesondere religiösen Repräsentationen, die der Alltagsrassismus aufgebaut und mit entsprechenden Kontexten verknüpft hat, zu dekonstruieren, also in ein neues Licht zu rücken. Das ist nicht ganz einfach, wäre aber auf jeden Fall einfacher, wenn man nicht vom öffentlichen Diskurs her immer wieder zum Gegenteil motiviert würde. Es vergeht faktisch kein Tag, an dem nicht die spezifische Situation von Allochthonen mit Gewalt in der Familie, sexuellem Missbrauch und der Unterdrückung der Frau in Verbindung gebracht und für islamtypisch ausgegeben wird. Je weniger hier jemand von modernen Alltagsreligionen versteht, umso motivierter scheint man zu sein, in den entsprechenden Debatten „kreativ“ zu werden. Anderseits wird 39
beharrlich ignoriert, dass allochthone Menschen unter gleichen gesellschaftlichen Bedingungen gleich erfolgreich sein können oder dass, was die sogenannten Parallelgesellschaften angeht, irgendwelche isolierten Gesellschaften unter den Bedingungen moderner Arbeitsteilung und Marktwirtschaft gar nicht existenzfähig wären. Solche Debatten belegen, wie einfach und effektiv ein sinnfremder Reduktionismus zu platzieren ist und wie schnell er zu einem „Selbstläufer“ wird und wie schwer dem schließlich zu begegnen ist. Das gilt jedenfalls dann, wenn dabei an den offenbar bis heute nachhaltig wirksamen klandestinen Rassismus angeknüpft werden. b)
Familistische Fehlinterpretationen
Ein weniger brisantes, aber durchaus auch sehr effektives Problem stellen familistische Fehlinterpretationen dar. Dabei wird der wohl vertrauteste Typ des Zusammenlebens, die bürgerliche Kleinfamilie, zum Modell für die Deutung von komplexen, arbeitsteilig und formal strukturierten Gesellschaften. Bei der Übertragung der Vorstellungen über die Familie auf die Gesellschaft wirken sich mehrere Komponenten sehr problematisch aus. Zunächst einmal wird ja nicht eine gelebte, empirisch betrachtet extrem heterogene Sozialform, sondern eine extrem stilisierte Vorstellung über Familie verwendet. Dieses Vorstellungsmuster ist geprägt durch das bürgerliche Kleinfamilienideal, wie es im 19. Jahrhundert propagiert wurde und es war schon damals ein historisch wie sozialstrukturell bedingtes Programm mit Modellcharakter, das letztlich von der Tradition der protestantischen Pfarrfamilie gespeist wurde. Problematisch wirkt sich sodann aus, dass es völlig selbstverständlich patriarchalisch ausgerichtet ist. Es ist ein Modell für eine komplementär asymmetrische Struktur mit einer doppelt binären Über-Unterordnung, die männlich-weiblich mit außen-innen und innerhalb der Sozialform die Vater-Mutter-Dyade regelt und hierarchisch zuordnet. Dieses Modell ist selbst im Kontext des privaten Zusammenlebens kaum noch überzeugend. Problematisch erscheint aber aus heutiger Sicht auch, dass es in einen abgeschlossenen Wertkosmos eingebettet wird, von dem aus alle Mitglieder überwacht werden. Dabei entwickelt sich die Familie zum Wert schlechthin, was dann in der primären Sozialisation fraglos tradiert wird. Die Übertragung eines derartigen Modells auf eine Gesellschaft dürfte bereits unter feudalen Verhältnissen zur erheblichen Verwerfungen führen. Heute gilt das umso mehr. Was bei der Übertragung besonders problematische Auswirkungen hat, ist der Exklusivitätsanspruch der Sozialform, der sich in ihrer inneren Geschlossenheit, der Ritualisierung der Zu- und Ausgänge, einer komplexen 40
Mitgliedschaftsregelung und deren körperlicher Einschreibung manifestiert. Und unter den Bedingungen einer globalisierten Gesellschaft, die sich im Übergang zur Postmoderne befindet, erscheint es noch untauglicher. Dennoch wird es ständig benutzt, Gesellschaft zu deuten. Die familistische Fehlinterpretation ist in der Politik gang und gäbe. Auslöser für die familistische Fehlinterpretation ist die Frage, wie man sich den gesellschaftlichen Zusammenhalt vorzustellen hat. Dabei wird eben anders als in modernen Zivilgesellschaften eigentlich zu erwarten und nach dem deliberativen Demokratiemodell auch vorgesehen nicht etwa auf einen Diskurs, sondern auf einen überkommenen Wertekosmos abgehoben, den man dann ggf. nationalstaatlich durch den überkommenen Volksbegriff (Treibel 1993:313ff) weiter arrondieren kann. Angesicht der heutigen Mobilität bzw. migrationsspezifischen Mobilität werden hier zunächst einmal die Mitgliedschaftsregeln virulent. Das familistische Modell legt die Heirat als Integrationsstrategie bzw. funktionale Äquivalente zum Heiratsritual wie einen Einwanderungs- bzw. Einbürgerungstests, Staatsbürgeraufnahmefeiern18 usw. nahe. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung fordert die Einwanderer auf, sich um einen deutschen Ehepartner zu bemühen („Vermischung mit der Mehrheitsgesellschaft“), damit man in Deutschland aufgeht (Berlin-Institut 2009:7, 9, 21 u.ä.). Diese bikulturelle Ehe mit einer bzw. einem Deutschen sei der Weg in die Normalität (Berlin-Institut:36). Umkehrt warnt es vor Ehen innerhalb der Einwanderermilieus, hier drohe die Parallelgesellschaft. Andere warnen generell von Mischehen, wenn kein Deutscher beteiligt ist. Man fühlt sich an die Zeit der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts erinnert, wo noch vor evangelisch-katholischen „Mischehen“ gewarnt wurde. Heute geht es um „bi-nationale Ehen“, die noch nicht einmal religiös, sondern nur sprachlich oder kulturell gemischt sein brauchen. Sie werden als Teil einer „multikulturellen“ Ideologie problematisiert. Das familistische Modell legt dann aber auch die Beschwörung alles überwölbender Normen und Werte nahe und endet immer wieder bei einem Zusammenlebenskonzept, das nicht nur auf Assimilation abhebt, sondern auch noch die Ausstattung der bürgerlichen Kleinfamilie mit ihrem quasi patriarchalischen Regime zur Norm stilisiert. Die familistische Fehlinterpretation erscheint freilich nicht nur aus strukturellen Gründen fehlerhaft. Sie belegt zugleich auch, wie wenig man sich des modernen Alltags bewusst ist. Denn das kolportierte Familienbild stimmt selbst als Bild schon lange nicht mehr, ist selbst längst illusionär. Die Familie hat sich wie andere moderne Wir-Gruppen gewandelt und repräsentiert sowohl in zeitli18 Seit dem 1.9.2008 wird in Deutschland ein “Einbürgerungstest” durchgeführt, der sich im internationalen Vergleich dadurch auszeichnet, dass er nicht dem Einwanderer, sondern dem Eingewanderten gilt. Wie eine Führerscheinprüfung aufgebaut, soll er die “Lizenz” zum Deutsch-Sein erteilen.
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cher wie in räumlicher Hinsicht nur noch Teilaspekte des Alltagslebens und keineswegs mehr den „ganzen Menschen“. Die Familie ist zu einer „Baustelle“ geworden und man macht neuerdings sogar umgekehrt bei der Zivilgesellschaft und bei neuen kulturellen Bricolage-, bzw. Hybridisierungstechniken Anleihen, um aus der Familie eine „Verhandlungsfamilie“ oder ein „Verwandtschaftsprojekt“ zu machen (Beck, Hess, Knecht 2007). Nicht mehr die Familie fungiert als Modell für die Gesellschaft, sondern umgekehrt überträgt man zusehends zivilgesellschaftliche Konzepte auf die Familie. Angesichts von Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität zählt diese Entwicklung offenbar wenig. Auch stellt sich die Frage, warum der Familismus überhaupt noch „funktioniert“. Wie oben ist einerseits der Hinweis wichtig, dass man sich damit durchaus in stark verankerten Traditionen bewegt, die beispielsweise auch von den großen Kirchen mit getragen werden. Insofern „reimt“ sich das familistische Denken und fügt sich damit in die überkommene Machtarchitektur gut ein. Dass es von der praktischen Erfahrung nicht bestätigt wird, ist dabei eher folgenlos, weil es hier um eine Modellierung von Wirklichkeit geht, nicht um deren Gestaltung, sondern um deren Definition. Ironischer Weise will man das ausgerechnet dann nicht mehr wahr haben, wenn man die Gesellschaft selbst oder die „fremde“ Familie modelliert. c)
Methodologischer Nationalismus
Schon aus nationalstaatlichen Traditionen heraus ist man immer noch gewohnt den Staat mit der Gesellschaft gleichzusetzen. Der Staat wird nicht nur als eine Rechts-, sondern auch als eine Lebensgemeinschaft verstanden. Die Staatsgrenzen werden als Grenzen sozialer Strukturen und eines damit verknüpfen sozialen Sinns, mithin als Handlungs-, Deutungs-, und Orientierungshorizont verstanden. Das lässt sich in vielen Zusammenhängen beobachten und hat überall, vor allem aber auch hinsichtlich Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität beträchtliche Konsequenzen. Doch Ulrich Beck hat diese Vorgehensweise immer wieder ganz allgemein kritisiert (Beck 2003) und diesem methodologischen Nationalismus einen methodologischen Kosmopolitismus entgegengestellt19. Ihm geht es darum, gesellschaftliche Fragestellungen analog zur aktuellen Globalisierung globalgesellschaftlich aufzurollen. Es gib keinen Grund dafür, bei der Erörterung sozialer Prozesse, ob es sich um ökologische, soziale oder milieuspezifische handelt, Staatsgrenzen zu berücksichtigen, die sich im Alltagskontext so überhaupt nicht ergeben (Beck 2008:301). 19
Siehe dazu U. Beck, Der kosmopolitische Blick (2005: Kap. II); Beck/Grande, Das kosmopolitische Europa (2007: Kapitel VI und VII).
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In den öffentlichen Debatten über Fragen der Mobilität bzw. der Migration und ihren Auswirkungen wird die empirische Realität eines diversifizierten und global eingebundenen Alltags, in dem die Menschen zunehmend mobil sind, ignoriert. Vielmehr wird stillschweigend auf die hypothetische Entität einer national-homogenen Gesellschaft abgehoben, in der Migration bzw. Mobilität allenfalls marginale Erscheinungen darstellen. Das führt dann dazu, die Auswirkungen von Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität als „das Eindringen von etwas Fremden“ zu betrachten. Grotesk wird das Festhalten an jener quasi angeborenen „homogenen“ Nationalgesellschaft bei der Beschreibung von Menschen, die mitten unter uns aufgewachsen sind und im Nachhinein zu Fremden stilisiert werden, wenn man sie als Menschen mit Migrationsgeschichte betrachtet, ja selbst deren Kinder und Enkel noch als Fremdkörper auffasst. So spricht man von der zweiten, der „dritten“ oder sogar noch der „vierten Generation der Ausländer“. Nur wenige Politiker wie der Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster20 gehen ganz bewusst von der Faktizität einer durch Migration hervorgerufenen Diversifizierung des Alltags aus. Das von ihm propagierte Bündnis für Integration basiert auf einer lokal definierten Gesellschaft (Stuttgart) in einem globalen Kontext von Weltgesellschaft. Er orientiert sich damit an einem von realen Netzwerken, Beziehungsmustern usw. definierten zugleich lokalen wie globalen Kosmos. Geht es in den Debatten konkret um die Bildung, wirkt sich der methodologische Nationalismus noch grotesker aus. Beispielsweise werden sozio-kulturelle Kompetenzen von SchülerInnen, sobald sie vom westlich-christlich- imprägnierten Mainstream abweichen, entweder ignoriert oder abgewertet. Man fordert beispielsweise die Enkel der „Generation Gastarbeiter“ auf, endlich in Deutschland anzukommen, lehrt die Kinder den Unterschied zwischen Deutschen und Ausländern, „würdigt“ deren eventuell noch vorhandene spezifische Familienbzw. Haussprache als „Muttersprache“ (Bukow, Behrens 2008). Kaum jemand kommt auf die Idee, dass es nicht das Land der Groß- oder Urgroßeltern ist, das das Kind prägt, sondern das globalgesellschaftliche Quartier, in dessen Mitte es fraglos und selbstverständlich aufwächst. Die Behörden entwickeln entsprechende Programme, die letztlich auf das abzielen, was man mit „Westernisation“ bezeichnen könnte. Migration soll unsichtbar gemacht werden, die nationale Homogenität „re“-etabliert werden. Der methodologische Nationalismus macht das logisch und lässt es plausibel erscheinen. Die Frage ist aber nicht, ob die „Muttersprache“ in Deutschland etwas nützt, sondern ob die sprachliche Realität der Kinder und Jugendlichen zur Grundlage pädagogischer Arbeit gemacht werden oder nicht. 20
taz Nr. 8282 vom 24.5.2007 „Der Pass interessiert mich nicht“ – Stuttgarts OB Wolfgang Schuster (CDU) empfiehlt auf dem diesjährigen Städtetag das Konzept „Internationale Stadt“
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Der methodologische Nationalismus ist nicht nur ein Problem in den öffentlichen Debatten, sondern findet sich auch in den einschlägigen Institutionen und deren Expertendiskursen wieder (vgl. 3.3). Von dort her ist es nicht verwunderlich, wenn er auch in der Wissenschaft und hier zumal in den wissenschaftlichen Diskursen auftritt, die institutional verlaufen.21 Man denke nur an die wissenschaftlichen Bereiche, die von den Mitteln der Regierungen bzw. den Behörden abhängig sind. Längst ist der methodologische Nationalismus zu einem festen Bestandteil des gesellschaftlichen wie des wissenschaftlichen Diskurses geworden, genauer zu einem Kernbestandteil geradezu ubiquitärer nationaler Erzählungen. Dies hat sich trotz vehementer Kritik an einer entsprechenden Politik beispielsweise durch Klaus Bade (Bade 2002), an der entsprechenden Forschung beispielsweise durch Ulrich Beck22 sowie der hier einschlägigen angewandten Forschung, der interkulturellen Pädagogik beispielsweise durch Marianne Krüger-Potratz (Krüger-Potratz 2005:109f) bis heute nicht nachhaltig verändert (Bukow 2008:53ff). Trotz einer zunehmenden Kritik am methodologischen Nationalismus wird immer noch und immer wieder die Überschreitung politischer Grenzen quasi automatisch mit der Überschreitung gesellschaftlicher Begrenzungen gleichgesetzt, also Gesellschaft und Staat als miteinander verwobene Größen betrachtet. Auf dieser Basis wird dann beispielsweise über Integration, über interkulturelles Verstehen usw. debattiert. Interkulturelle Kompetenzen stellen dann so etwas wie Fremdsprachenkenntnisse dar. Wie Fremdsprachen lernt man sie, um den Fremden kulturell besser zu verstehen. Solche Argumentationen zielen dann darauf ab, Menschen beim „Ankommen in Deutschland“, beim Ankommen in einer neuen Kultur, in einem bislang unbekannten Alltagsleben, ja ganz einfach auf dem Weg in die Moderne zu unterstützen. Man hilft diesen Menschen, ob sie nun erste, zweite oder dritte Generation sind, bei der Überwindung der Staatsbzw. Gesellschaftsgrenze, indem man ihnen verständnisvoll entgegen kommt, ihnen bei in der Integration bzw. neuerdings auch einer „nachholenden Integration“, so im Landesintegrationsbericht von Nordrhein-Westfalen, zu helfen. Sind diese Menschen erst einmal zu „echten Fremden“ abgestempelt, erhalten sie die Chance, nach dem Überschreiten der Staatsgrenze irgendwann zu „echten Deutschen“ zu werden. Das Ziel ist erreicht, wenn man in der homogenen Welt „Deutschland“ angekommen ist und genau das sozialstrukturelle Profil aufweist,
21 Die Kritik am methodologischen Nationalismus richtete sich zunächst auch direkt an die Wissenschaft (Wimmer, Glick-Schiller 2002). Es zeigt sich jedoch, dass die Wissenschaft und die Öffentlichkeit hier nach dem Zweiten Weltkrieg synchron argumentierten. Es gibt offenbar deutliche Parallelen zwischen nationalem Denken und wissenschaftlichem Arbeiten. 22 Beck 2005 Kap. II, 2003 Kap. I; Beck, Grande 2007 Kap. VI - VII
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das auch die Einheimischen kennzeichnet, wo eben jeder seinen festen Ort hat (Berlin-Institut 2009:70). Politik, Wissenschaft und Verwaltungsexperten arbeiten hier Hand in Hand: So hat Hartmut Esser (Esser 2006) immer wieder, zuletzt in seinem Leitreferat bei der Eröffnung der Deutschen Islamkonferenz (DIK) im Jahr 2006 klar zum Ausdruck gebracht, dass für ihn als Sozialwissenschaftler die deutsche Gesellschaft der Bezugsrahmen für die Auseinandersetzung mit Migration und migrationsspezifischer Mobilität ist. Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität importieren fremde Religionen und Kulturen. Sie nützen jedoch so nichts und sind nur geeignet, das Alltagsleben zu stören. Deshalb müssen die Allochthonen die Front wechseln. Die Plausibilität dieses Denkens basiert auf der Gleichsetzung von Staat und Gesellschaft. Hinzu kommt freilich noch eine geradezu familistische Ausstattung dieser Staat-Gesellschaft-Figur. Der Fremdheit wird erwartungsgemäß interne Homogenität entgegen gestellt. Und der globalgesellschaftlichen Realität wird nur insofern Rechnung getragen, als man die nun schon einmal hier lebenden „Fremden“ dazu auffordert, dem nationalen Wertekosmos beizutreten.23 Der methodologische Nationalismus verhindert hier nicht nur die Einsicht in globale Zusammenhänge, sondern auch das Akzeptieren einer zunehmenden Diversifizierung des Alltags durch Mobilität, durch die neuen Medien, durch Migration, durch Individualisierung usw. Er verhindert auch das Denken nach der Logik eines zivilgesellschaftlichen Gesellschaftskonzeptes, in dem die Mitglieder einer Gesellschaft eben als konstitutive Mitglieder dieser Gesellschaft zu betrachten sind. Und dieser Effekt scheint durchaus willkommen zu sein, entspricht er doch der Einschätzung der Politiker, dass die „Multikulturelle Gesellschaft“ gescheitert sei. Der methodologische Nationalismus erspart der öffentlichen Debatte die Auseinandersetzung mit einer längst diversifizierten Gesellschaft. d)
Kulturalistischer Fehlschluss
Die Bedeutung expliziter kultureller und religiöser Deutungsmuster werden in ihrer Funktion für die Steuerung einer Gesellschaft immer wieder überschätzt. Gleichzeitig werden beide Begriffe aber auch extrem unscharf bzw. ungenau 23
Esser diskutiert dort die “Integration fremdethnischer Kulturen” angesichts der durch sie in der Gesellschaft ausgelösten “Gefährdung der grundlegenden Überzeugungen und Werte”. Eine offene Gesellschaft müsse in der Lage sein, Migration zu verkraften, weil die Migranten letztlich selbst ja daran interessiert seien, sich in die Gesellschaft einzufügen (Hartmut Esser, Wertekonsens und die Integration offener Gesellschaften, Vortrag vor der Arbeitsgruppe ‚Deutsche Gesellschaftsordnung und Wertekonsens‘ der Deutschen Islam Konferenz (DIK),1. Sitzung, Nürnberg, BAMF, 6.11.2006.).
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verwendet. Selbst die einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen und Ansätze sind hier oft wenig hilfreich und nehmen denn auch gänzlich unterschiedliche Einschätzungen vor (Bukow 1999:267ff). Wenn man die beiden Phänomene aus der Perspektive des Alltags betrachtet, dann erscheinen weder kulturelle noch religiöse Deutungsmuster als etwas in sich Geschlossenes noch überhaupt als etwas gesellschaftlich Konstitutives, sondern als vage Verweisungshorizonte. Sie werden überhaupt erst relevant, wenn der praktizierte Alltag ins Stocken gerät oder/ und wenn man sich explizit diesen Horizonten zuwendet. „Es ist vor allem das Handeln der Akteure, das Kultur bewegt“ (Hörning, Reuter 2004:9). Je weiter man sich vom konkreten Dauerablauf des Alltags entfernt, umso konturenloser werden die Orientierungsmuster. Gerät die konkrete Verankerung des Handelns aus dem Blick, gerät man schnell auf die Ebene von vieldeutigen Vorstellungen über formale Strukturen, über generelle Erwartungen und beginnt über die Einschlägigkeit von Erzählungen zu debattieren. Man sieht sich gezwungen, sich auf ein komplexes Wissen über den Alltag einzulassen. In einer solchen Situation, in der die Welt „ins Schwimmen“ gerät, liegt es nahe, auf Freunde oder Bekannte, auf Internet-Suchmaschinen, eventuell auch besondere Institutionen oder Experten zurückzugreifen. Aber selbst dann bleibt es unsicher, ob der Rat, die Information oder die Deutung stimmt, mitunter erkennt man, dass man niemals fertig verfasstes Wissen erhält, dass man sich im Umgang mit kulturellen und religiösen Deutungen auf Fragestellungen einlässt, zu denen man nur schwer selbst und faktisch auch niemals bei anderen eine abschließende Antwort findet. Dann bleibt nur, die Dinge in den Alltag zurück zu holen oder sich auf die Suche nach Autoritäten zu begeben. Bei religiösen Deutungen wird das ganz besonders plastisch. Auch wenn man im Alltag spirituelle Elemente beobachtet, so sind das noch keine expliziten religiösen Deutungsmuster, sondern Handlungsbausteine. Sie stehen in keinem eindeutigen Zusammenhang mit dem, was beispielsweise eine kulturelle Einrichtung oder eine kirchliche Institution dazu verlautbart. Selbst wo wir, wie das in Deutschland der Fall ist, eine verfasste Kirche mit einer spezifischen, sogar wissenschaftlich etablierten Sinnproduktion haben, bedeutet das für religiös ausgewiesene Deutungsmuster des Alltags wenig. Sie sind nicht konstitutiv. Sie sind interpretativ und deuten im Nachhinein. Religiöse Repräsentationen werden aus der Alltagspraxis heraus mit Sinn gefüllt. Sie stehen also in Korrespondenz zu einem vorgängigen Dauerablauf des Alltags. Das gilt explizit für religiöse Muster, implizit aber auch für die diversen kulturellen Muster, die man aus der Perspektive eines urbanen Zusammenlebens analog einschätzen kann. Nur so ist es zu verstehen, wenn wir in einer Alltagspraxis bei Menschen in ganz analogen Lagen ganz unterschiedliche alltagsreligiöse Deutungen beobachten und eine ganz unterschiedliche religiöse Indexikalität konstatieren können, wenn sich der 46
eine auf einen kirchlich etablierten Protestantismus, der andere auf die Tradition der Aleviten beziehen kann und beide dabei daraus ähnliche „Lehren“ ziehen, auch wenn der theologisch geschulte Beobachter das kaum für möglich halten würde. In den öffentlichen Debatten geht man in der Regel genau umgekehrt vor. Hier versucht man nicht nur, die Diversität des Alltags zu reduzieren, sondern vor allem auch in Relation zu spezifisch zentrierten kulturellen bzw. religiösen Diskursen zu setzen und entsprechend zu werten, kehrt also Handeln, Deutung und Deutungshorizont um, so als ob der Horizont letztlich die Handlung definierte. Man hat dabei freilich zwei Probleme. Zum einen muss man damit klar kommen, dass das Alltagsleben eine interpretative Struktur aufweist, die nur im Handeln bzw. aus der Performanz heraus überhaupt erst zu etwas Eindeutigem verdichtet wird, sonst aber nur imaginär, kontingent bleibt. Zum anderen hat man das Problem, dass kulturelle und auch religiöse Diskurse immer nur greifbar werden, wo sie sich unter bestimmten Bedingungen manifestieren, also innerhalb eigens dafür geschaffener Institutionen, die wiederum nur punktuelle gesellschaftliche Bedeutung haben. Aber darum geht es dort offenbar auch gar nicht. Es ist also gar nicht so einfach, kontrafaktisch zu argumentieren. Man kann das eigentlich nur dann, wenn man die gouvernementale Macht auf seiner Seite weiß. Deshalb konnte der Staat hier am einfachsten Religion und Kultur umdefinieren. Und er hat das auch intensiv getan: Im europäischen Feudalismus hat man versucht, den Staat in seiner Struktur religiös zu untermauern, was ja bekanntlich zu den Religionskriegen führte und schließlich mit dem Augsburger Religionsfrieden einen ersten Abschluss fand.24 Der Absolutismus hat dann mehr auf eine kulturelle Identitätsbildung gesetzt. Im Zeitalter der Nationalstaaten hat man versucht, beide Erzählungen in unterschiedlicher Weise zu verknüpfen und nicht nur öffentlich zu inszenieren, sondern vor allem auch im Alltag zu implementieren. Der Alltag einerseits und die kulturproduzierenden Institutionen anderseits wurden durch eine massive Kultur- und Religionspolitik über vielfältige Formen der Symbol- und Erziehungspolitik verwoben, wobei es immer wieder auch darum ging, eine breitere spirituelle Basis zu schaffen. Nachhaltige Effekte sind freilich weitgehend ausgeblieben, weil es fast unmöglich ist, die auf der „Hinterbühne des Alltagslebens“ ablaufenden Deutungsverfahren für spezifische politische Anliegen wirklich dienstbar zu machen. Man hat Kultur und Religion nicht nur falsch eingeschätzt, sondern auch in ihrer gesellschaftskonstitutiven Bedeutung überschätzt. In einer Zeit des Übergangs in die Postmoderne, in der 24 Der Augsburger Religionsfrieden wurde am 25. September 1555 auf dem Reichstag in Augsburg zwischen Ferdinand I und den Reichsständen geschlossen. Als Reichsgesetz für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation sicherte er den Anhängern der Confessio Augustana Frieden und ihre Besitzstände zu.
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sich Nationalstaaten zurückbilden und sich im Rahmen der zeitgenössischen Globalisierung nicht nur auf sozial- sondern auch kulturferne Aufgaben zurückziehen, ist es eigentlich erstaunlich, wenn man Kultur und Religion immer noch dermaßen beschwört, während selbst die einschlägigen Institutionen von den Volkshochschulen bis zu den Kirchen unter Mitglieder- und Interessenschwund leiden und ihre Programme entsprechend „säkularisieren“. Anders als bei einem reduktionstischen Argumentationsverfahren, wo Erscheinungen auf etwas zurückgeführt werden, was nicht die unterstellte Breite und Tiefe aufweist, geht es ja bei dem kulturalistischen Fehlschluss um eine unrealistische bzw. sozial inadäquate Platzierung von Kultur und Religion. Mit dieser kontrafaktischen Indienstnahme von Kultur und Religion werden aber nicht nur eine Reihe von Problemen erkauft, sondern auch die Bedeutung von Kultur und Religion für das Alltagsleben diskreditiert. In dem Bemühen, Kultur und Religion für die Konstitution der Staats-Gesellschaft in Dienst zu nehmen, wird verkannt, das sie zwar nicht für die Konstitution einer Gesellschaft wohl aber für die Konstitution der Subjekte interessant sind. Die religiösen und kulturellen Diskurse fungieren zwar nicht als Dach einer Gesellschaft, wie das noch in dem Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons wie selbstverständlich vorausgesetzt wurde, sondern bilden gegebenenfalls Teile eines diskursiv repräsentierten Verweisungshorizonts eines alltagspraktisch eingebetteten Subjekts. Es handelt sich ja um Themen, die man sich anders als bei politischen oder rechtlichen Fragestellungen selbst zurechnet. Sie gelten als Überzeugungs- oder Glaubenssachen und sind denn auch vorwiegend im privaten Bereich zuhause und im Hintergrund des individuellen Lebensstils verankert. Allerdings erscheinen sie auch hier zumeist diffus und variabel. Sie werden zunehmend zu Bestandteilen eines mehr mode- als traditionsabhängigen Alltagsdiskurses. Diese kontrafaktische Indienstnahme von Kultur und Religion ist nicht nur schwierig und wirkt nicht nur für Kultur und Religion im Übergang zu Postmoderne destruktiv, sondern wirkt auch kaum noch glaubwürdig. Die Frage ist, warum an ihr bis heute festgehalten wird. Was verspricht man sich davon? Man muss gute Gründe haben, wenn doch dieser Umgang mit Kultur nicht mehr „zeitgemäß“ ist. Tatsächlich pflegt man hier bis heute ein unglaublich dichtes und argumentativ „aufgetakeltes“ Kulturverständnis, wie erst jüngst wieder die Auseinandersetzungen über die Leitkultur belegen (Nowak 2006:20f). Entscheidend ist wohl, dass man in diesen Debatten Kulturen und Religionen immer noch wie geschlossene Systeme behandeln kann, die sich entwicklungslogisch entfalten und an deren Ende die fortgeschrittenen Industriegesellschaften stehen. Kultur und Religion werden zwar ihrer diskursiven Repräsentation entkleidet und auf Kernaussagen reduziert, aber es gelingt auf diese Weise, sie in Relation zum Stand der gesellschaftlichen Entwicklung zu setzen und zu bewerten. So kann 48
man den Kulturbegriff in einen Zivilisationsbegriff überleiten. Am Ende ist man in der Lage, die eigene Kultur als westliche Kultur und die christliche Religion als fortgeschrittene Lehre von technologisch „zurückgebliebenen“ „fremden“ Kulturen und vorsäkularen Religionen abzugrenzen. Zugleich gewinnt der Stand der technologischen Entwicklung die notwendige religiöse Weihe und avanciert zum Maß aller Dinge. Im Grunde wird auf diesem Weg die überkommene gouvernementale Logik nur modernisiert. Die Folgen dieser Entwicklung sind an dem Umgang mit der allochthonen Bevölkerung und überhaupt mit dem von migrationsrelevanter Mobilität nur zu gut abzulesen. Plötzlich erscheint es völlig plausibel, wenn von den entsprechenden nichtwestlichen und nichtchristlichen allochthonen Bevölkerungsgruppen wie selbstverständlich erwartet wird, dass sie sich für die ganz offenkundig „überlegene“ Kultur, nämlich die „deutsche Kultur“ als der Kultur ihres Aufnahmelandes entscheiden und zumindest jeder angeblich „ländlichen“ und vormodernen „Herkunftskultur“ entsagen. Diese Erwartung prägt denn auch die Debatte über die doppelte Staatsangehörigkeit (die sich entsprechend auch nur an diese Bevölkerungsgruppen richtet) und wird noch einmal ganz besonders an die allochthonen Frauen adressiert. Dieser ethnozentrische Blick verstellt nicht nur die Einsicht, dass die modernen Probleme wie Gewalt oder patriarchalische Strukturen, Ausbeutung oder Kinderarmut alle Gesellschaften durchziehen, also auch für alle eine gemeinsame Herausforderung darstellen, sondern führt auch zu erheblichen Irritationen, wenn sich ausgerechnet „türkische“ Mädchen als die imaginierte Inkarnation des zurückgebliebenen Mädchens vom Lande modisch und selbstbewusst geben25. Der kulturalistische Fehlschluss wirkt sich besonders extrem auf das Religionsverständnis aus, wie man gegenwärtig bei fast jedem Moschee-Bauprojekt erleben kann (siehe unten). Sobald der Islam den Hinterhof zu verlassen „droht“, um sich auf gleicher Augenhöhe zu etablieren, fühlen sich viele Menschen in ihrem überkommenen Selbstverständnis provoziert und wenden sich gegen den Islam. Folglich werden die Moscheen nur am Rande der Städte in den Industriegebieten oder an Zufahrtsstraßen geduldet. Es kommt kaum vor, dass man sie mitten im Ort zulässt. Wer die öffentlichen Debatten verfolgt, wird mitunter erstaunt sein, was alles kulturell verrechnet wird und zwar vorzugsweise dort, wo es um den entsprechenden „Fremden“ geht. Es ist offenbar besonders „ertragreich“, Probleme oder Konflikte fremdkulturellen Einstellungen zuzurechnen. Dies gilt für die Gewalt 25 Als ein Beispiel für viele kann der Beitrag in der TAZ angeführt werden, wo versucht wird, das betont modische und körperbewusste Verhalten junger Türkinnen zurecht zu rücken, bis das alte ethnozentrische Klischee wieder stimmt (TAZ vom 22.12.2008 „Eine Sexualmoral wie in den 50erJahren“).
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in der Ehe genauso wie für autoritäre Erziehungsstile, für mangelhaften Schulerfolg genauso wie für Erwerbslosigkeit. Damit wird auch deutlich, dass der Fehlschluss keine irgendwie geartete Fehlleistung darstellt, sondern tatsächlich eine ethnozentrische Logik besitzt, der man nicht dadurch beikommt, dass man den Fehlschluss als solchen darstellt. Er erweist sich nämlich als durchaus effektiv, d.h. er hat eine ordnungspolitische Funktion und wirkt sich für die, die das Sagen haben, strukturerhaltend aus. Er fundiert die heute allenthalben verwendeten Kulturdifferenztheorien, um den Umgang mit dem Fremden ordnen zu können und er erweist sich damit als ein zentraler Baustein nicht nur der nationalen Erzählungen, sondern hier auch eines modernen Kulturrassismus. Und er wirkt sich nicht nur gegenüber den Adressaten aus, er nötigt diese auch, sich darauf einzustellen. Nikola Tietze belegt sehr plastisch, wie aus einer so ausgestatteten Ausgrenzung die Sinnkonstruktion der Ausgegrenzten neu strukturiert wird (Tietze 2006:147f). Damit wird ein sekundärer Ethnozentrismus etabliert, der dann die Adressaten selbst zu neuen Handelnden macht (Teil 3.3). e)
Der Sesshaftigkeitsmythos
Bis heute geht man davon aus, dass Sesshaftigkeit bzw. Standorttreue das Natürlichste von der Welt seien. Man übersieht dabei freilich einerseits, wie viele Menschen nach wie vor mobil sind, genauer dass noch immer die Mehrheit der Weltbevölkerung mobil ist, und man berücksichtigt auch nicht, dass die Vorstellung der Sesshaftigkeit mehr eine „gefühlte“ als eine empirische Tatsache ist. Sie stellt sich bei vielen Leuten bereits dann ein, wenn sie wenige Jahre standorttreu gewesen sind. Nicht „objektive“ Sesshaftigkeit, sondern die „gefühlte Sesshaftigkeit“ bestimmt das Bild und täuscht die Wahrnehmung. Gefühlte Sesshaftigkeit tritt schnell ein und prägt Ansprüche, die alsbald gegen den „Fremden“ gewendet werden. Ihm gegenüber verhält man sich genau umgekehrt. Dem Allochthonen wird selbst dann keine Sesshaftigkeit zugebilligt, wenn er schon seit Generationen dazu gehört, das ist dann so etwas wie „gefühlte Fremdheit“. Mit anderen Worten, Sesshaftigkeit ist eher eine imaginäre als eine empirische Größe. Ihre Logik besteht darin, dass eine gesellschaftspolitische Konstruktion darzustellen, die einen normativen Geltungsanspruch erhebt. „Sesshaftigkeit“ sagt demnach nichts über einen sozialen Zustand sondern vielmehr über einen politischen Anspruch aus. Der Anspruch hat damit zu tun, dass Sesshaftigkeit lange sehr vorteilhaft für eine Gesellschaft erschien, deren wichtigster Wirtschaftsfaktor die Landwirtschaft war, die an Eigentum an Grund und Boden gebunden war (Simmel 2006:764). Folglich hat man sie gerne beansprucht und natürlich bei Bedarf auch massiv verteidigt. Heute mag Eigentum eine gänzlich andere Bedeu50
tung haben. Aber deren Implikationen sind wohl noch nicht bewusst (Bukow 2006:209ff). Die traditionelle „Sesshaftigkeit“ bildet nach wie vor den einen Pol eines binären Schemas, das im vorliegenden Umfeld nur zu vertraut ist. Es korrespondiert positiv mit „alteingesessen“, „Deutscher“ und negativ mit „fremd“, „Ausländer“ usw. Der zu „Sesshaftigkeit“ komplementäre Begriff ist das „Nomadentum“. Mit anderen Worten, wir haben es mit einer binären Reduktion eines Kontinuums zu tun, mit einer einseitigen Reduktion von Mobilität auf zwei Pole und deren Polarisierung unter dem Begriff der Sesshaftigkeit (Schroer 2006:124) . Es lohnt unter dieser Voraussetzung einen genaueren Blick auf die unterschiedlichen Formen der Mobilität zu werfen, um diesen Seßhaftigkeitsmythos noch genauer in den Blick zu bekommen. Vor Ort wird erst die ganze Spannbreite von Sesshaftigkeit/ Standorttreue bis zum Nomadentum/Dauermobilität erkennbar:
Im einen Extrem gibt es eine generationenübergreifende Standorttreue, wie sie beispielsweise für Industriellenfamilien wie die Siemens oder die Quandts oder Handwerkerfamilien bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts typisch gewesen ist. Das Eigentum an Produktionsmitteln erzwang hier eine beträchtliche Standorttreue. Im Einzelfall mag es dafür auch heute noch Beispiele geben. Dann gibt es eine zumindest subjektiv empfundene Standorttreue. Man geht zwar von Zuhause weg und ist mehrfach „endgültig“ umgezogen, ist auch auf jeden Fall mal zwischendurch touristisch global mobil, aber letztendlich fühlt man sich standorttreu. Ferner gibt es die, die „sequenziell mobil“ sind. Hier könnte man den italienischen Cafébesitzer anführen, der im Sommer in Köln seinen Betrieb führt, in Rom aber in seiner eigenen Wohnung überwintert. Analog könnte man denjenigen einschätzen, der schon als Schüler ein Jahr in Australien war, sich später als Backpacker erneut ein Jahr in Neuseeland aufhält und dann zum Unternehmer wird, der zwischen seinem Reisebüro in Hamburg und einer Hundeschlittenfarm in Whitehorse pendelt. Selbstverständlich gibt es auch den „klassischen“ Migranten, der beispielsweise als Gastarbeiter in der Türkei angeworben wurde, nach Köln gekommen ist und heute, längst Kölner und Rentner, in einer Eigentumswohnung lebt. Andere Beispiele wären ggf. unter so etwas wie einer „seriellen Mobilität“ zu fassen. Jemand ist als Au-pair aus Polen nach Deutschland gekommen, hat dann in Paris das Studium aufgenommen und arbeitet heute als Kinderfrau in New York. 51
Im anderen Extremfall gibt es Menschen, die generationsübergreifend, das heißt dauerhaft „unterwegs“ sind. Die erste Generation ist nach Deutschland eingewandert. Der Sohn der Familie gründet eine Band, mit der erst nach Istanbul und später nach New York geht, wo er jetzt zusammen mit seinen Freunden lebt. Ganz ähnlich mobil ist die Studentin, die einst mit ihren russisch-jüdischen Eltern nach Köln gezogen ist und dann als Studentin nach Vancouver ging, um jetzt dort ihren Abschluss zu machen. Noch weiß sie nicht, wo sie eines Tages landet.
Zwei weitere Formen der Mobilität entziehen sich den bisher skizzierten Schemata, weil sie sich dem Spannungsbogen zwischen den beiden Polen extremer Standorttreue und extremer Mobilität eindeutig entziehen.
Es gibt nach wie vor die Nomaden, sowohl in klassischer als auch in moderner Form. Viele Bevölkerungsgruppen sind seit jeher mobil und folgen den sich im naturbedingten Rhythmus verändernden Lebensbedingungen. Andere werden durch Kriege und Pogrome zu einem nomadischen Leben gezwungen. Dies gilt beispielsweise für viele Roma aus Russland, Rumänien und Bulgarien. In der EU wird zurzeit die zirkuläre Mobilität intensiv diskutiert. Damit sind weniger deutschsprachige Mennoniten gemeint, die über Jahrhunderte gewandert sind, zunächst nach Russland, dann nach Sibirien, dann nach Chile und schließlich nach Kanada, wo sie heute Manitoba, die östliche Prärieprovinz Kanadas besiedeln. Zu denken ist hier eher an Flüchtlinge oder Arbeitsmigranten aus Mexiko oder Nordafrika, die in die Zentren des Nordens zu kommen versuchen, oder an Menschen aus den ehemaligen GUSStaaten, die in die Zentren Russlands, der EU oder in die Türkei gehen und als Menschen ohne Papiere arbeiten, um sich und ihrer Verwandtschaft im Herkunftsland ausreichende Ressourcen zu sichern.
Diese Reihe ließe sich mit ethnographischem Material noch weiter differenzieren. Stets spielt sich das Leben irgendwo zwischen Mobilität und Sesshaftigkeit ab, wobei die Mobilität eher die Basis bildet, während die Standorttreue eine kaum je endgültig erreichte und wohl auch nur partiell erwünschte Bestimmung darstellt. Empirisch betrachtet muss man dabei von den unterschiedlichsten Übergangs- oder Mischformen ausgehen. Zudem wechseln sich Phasen stärkerer Mobilität häufig mit Phasen einer gewissen Standorttreue ab. Der/Die Einzelne ist generell mobil und dies in immer wieder unterschiedlicher Ausprägung. Wenn sich der Alltag irgendwo zwischen Nomadenexistenz und Sesshaftigkeit abspielt, ist es völlig deplatziert, binär zu argumentieren und das Nomaden52
tum einerseits und die Standortreue anderseits zum Maßstab zu machen und die binäre Struktur dann auch noch auf Staatsgrenzen zu beziehen. Vielmehr muss man von einem „Kontinuum“ mit allenfalls spezifischen „Merkmalsverdichtungen“ auszugehen (wo Grenzen als „Maßeinheit“ empirisch irrelevant sind). Zurzeit scheinen mir zwei Verhaltensweisen besonders häufig und damit für den Übergang in die Postmoderne ziemlich charakteristisch:
Serielle Mobilität (Mobilität geschieht für einen begrenzten, einen bestimmten überschaubaren Zusammenhang): Die Gestaltung des Alltags kann durch wohlbegrenzte Mobilitätsphasen (Urlaubsphasen oder auch Montagephasen usw.) geprägt sein. Ausbildung und berufliches Arrangement mögen größere Mobilitätsphasen erzwingen. Menschen, die bei internationalen Schulen oder Organisationen, beim Militär oder im diplomatischen Dienst arbeiten, verbringen ganze Lebensabschnitte im „Ausland“. Eine prekäre Lage erzwingt längerfristige Illegalität oder das Leben in der Diaspora. Sequenzielle Mobilität (Mobilität führt zu einer neuen Situation): Nach einer ersten Lebensphase wird man zum Einwanderer in einer anderen Region. In einem günstigen Augenblick siedelt man sich in einem neuen Land an. Entsprechend arrondiert geht man als Rentner oder Pensionär in ein attraktives Land. Die Mobilität zieht sich über Generationen hin. Mobilität ist ein fester Bestandteil des Alltagsablaufs.
Wichtig ist also, von einem Mobilitäts-Kontinuum auszugehen und „Sesshaftigkeit“ wie „Nomadentum“ als eine historisch gewachsene normative Positionierung zu deuten. Es ist sozial adäquater (wie das oben auch schon immer wieder gemacht wurde) die Mobilität zum primären Bezugsrahmen zu machen und dann ggf. darauf hinzuweisen, insoweit es in der Debatte speziell um migrationsrelevante Mobilität geht. Zugleich werden eine Fülle von Implikationen forschungsstrategischer Art erkennbar, die zusätzlich bedacht werden müssen. Insbesondere die mehr oder weniger exklusiv standorttreuen Bevölkerungsgruppen zugeschriebenen Eigenschaften müssen neu überlegt und anders interpretiert werden. Was spricht beispielsweise dagegen, auch mobilen Menschen die Entwicklung einer stabilen Identität oder fester Beziehungen zuzugestehen oder ihnen die Orientierung an einer wohldefinierten Bezugsgruppe zuzubilligen? Warum sollen sie sich nicht auch einem bestimmten kulturellen Horizont zugehörig fühlen, sich mit bestimmten Formen des Broterwerbs identifizieren können? Warum können sie nicht auch ökonomisch, sozial und technologisch in die Globalgesellschaft gut eingebunden sein und sich auch an den politischen Auseinandersetzungen beteiligen? Eigentlich sollte man meinen, dass spätestens in Zeiten moderner Kom53
munikations- und Transportmittel solche Eigenschaften auch unter Bedingungen großer Mobilität problemlos zu entwickeln sind. So wenig also Sesshaftigkeit automatisch eine stabile Lebenslage erzeugt und bürgerliche Tugenden ermöglicht26, so wenig bedeutet eine mobile Lebensweise, dass man sich zwangsläufig im Dschungel der Vielfalt verirren und orientierungslos werden muss.27 Nimmt man die Befunde ernst, so kommt man also bei gerade für territorial fixiert gehaltenen Eigenschaften zu ganz neuen Einschätzungen. Dazu möchte ich noch einmal einen kurzen Blick auf einige der bereits zitierten Beispiele oben werfen. Wie gelingt es – um nur auf den letzten Punkt genauer einzugehen – dem backpacker in Australien, sich in einer scheinbar unbekannten Situation als SaisonarbeiterIn oder PraktikantIn effektiv zu bewegen? Das geht offensichtlich recht einfach, indem er/sie sich an dem orientiert, was man in einer solchen Situation als backpacker eben in der Regel tut, wobei schon einmal die Hausordnung im Hostel oder der/die LeiterIn einer Farm aushilft. Diese Orientierung funktioniert nicht anders als auch sonst im Alltag. Man orientiert sich an einem virtuellen kulturellen Raum, unter dessen Horizont man sich trotz unterschiedlichster Herkunft sofort vertraut ist und miteinander umgeht wie unter alten Bekannten. Der Orientierungshorizont, innerhalb dessen man sich bewegt, ist im Prinzip translokal und zugleich so definiert, dass man sich mit ihm situativ verankern kann. Wenn also die sozialen, ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen der Situation passend erscheinen – so kann man schlussfolgern –, dann kann man sich als backpacker verankern. Und dann entsteht eine Situation hoher Eindeutigkeit und Verlässlichkeit. Auf diese Weise finden sich auf einer Farm oder im Hostel oder in einem Handwerksbetrieb in wenigen Tagen internationale Teams buntester Zusammensetzung zusammen, die sehr erfolgreich arbeiten. Und ganz ähnlich gelingt es dem Besitzer der Hundeschlittenfarm in Whitehorse/Yukon oder dem deutschen Auswanderer in Alanya an der türkischen Mittelmeerküste Fuß zu fassen und eine eigene Existenz aufzubauen. Beide können auf passende translokale Vorstellungen zurückgreifen – der eine auf den unter dem Eindruck Jack Londons vor allem in Europa reaktivierten und in den Yukon/ Kanada reimportierten Hundeschlittenrennenmythos und der andere auf den europäischen Orientalismus-Mythos des 19. Jahrhunderts. Am Anfang stehen Orientierungsmuster, die nicht lokal, sondern im kulturellen Wissen bis heute 26 Ironischer Weise sind ja ausgerechnet die drei Hochreligionen Judentum, Christentum und Islam, die jeweils wesentlich zur Ausstattung der bürgerlichen Gesellschaft beigetragen haben und die heute so viel auf Sesshaftigkeit geben, ursprünglich nomadische Religionen, die mit Religionen der Sesshaftigkeit konkurrierten! 27 Die Beschwörung der Orientierungslosigkeit gehört seit 100 Jahren, konkret seit Oswald Arnold Gottfried Spengler zu den festen Bestandteilen einer Kritik an der Moderne und findet sich bis heute in den Arbeiten von Wilhelm Heitmeyer bis Richard Sennett (Preyer 2006:194f).
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vorrätig gehalten werden (Bay 2006), die dann zusammen mit „einschlägigen Kreisen“ zitiert werden, neu gemischt schließlich zielgenau platziert werden. Jenseits des Sesshaftigkeitsmythos tut sich ein Kontinuum zwischen Nomadentum einerseits und Sesshaftigkeit anderseits auf, das ganz verschiedene Formen der Mobilität kennt und wo jede Version von mehr oder weniger mobiler Existenz sich eines semantischen Feldes bedienen kann, das das notwendige Wissen darüber bereit hält, was man in einer solchen Situation zu denken und wie man jeweils zu handeln hat. Wenn lange Zeit bestimmte Versionen der Mobilität, nämlich solche, die zumindest vordergründig als standorttreu erschienen, normativ hervorgehoben wurden, so verweist das auf gesellschaftliche Bedingungen, unter denen das als vorteilhaft erschien. Wenn heute eine solche normative Bevorzugung zugunsten der Eröffnung eines breiten Kontinuums zurücktritt, so müssen Gesellschaften Wege gefunden haben, die überkommenen Vorteile von Sesshaftigkeit zu kompensieren. Und damit schließt sich der Kreis. Die europäische Stadt hat hier wohl Wege gefunden, Mobilität nicht nur zuzulassen, sondern sogar konstitutiv einzuarbeiten, anderseits den überkommenen Mythos aufrecht zu erhalten, was sich heute beides als sehr folgenreich erweist. 1.2.2 Plädoyer für eine Neuausrichtung der Debatte Wenn hier gesagt wird, dass Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität zu den Basiseigenschaften aller einschlägigen Wirklichkeitskonstruktionen gehören, und speziell der Alltag der modernen urbanen Zentren ohne Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität überhaupt nicht vorstellbar ist, dann hat das nicht nur für die Forschung, sondern auch für die gesellschaftspolitische Orientierung erhebliche Implikationen. Angesichts dieses offenbar beide Diskursstränge prägenden „Kulturprogramms“ sind nicht nur in der Forschung, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit ein Perspektivenwechsel und eine Neupositionierung angesagt. Zwei Dinge bleiben dabei für die vorliegenden Überlegungen besonders wichtig:
Wenn Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität zu den Basiseigenschaften der Stadtgesellschaft gehören, die aktuellen Migrationsprozesse nichts wirklich Neues sind, sondern nur eine überkommene Entwicklung fortsetzen, dann müssen in diesem Kontext auch eine Fülle von Fertigkeit entstanden sein, die das Zusammenleben mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen ermöglichen – Fertigkeiten, die das Zusammenleben geradezu auf Mobilität und Migration aufbauen. Man wäre dann in der Öffentlichkeit genauso wie in der Wissenschaft aufgefordert, diese Fertigkeit immer wieder 55
zu würdigen und unter den Bedingungen neuer Formen der Kommunikation und einer beschleunigten Mobilität fortzuschreiben. Denn es ist ja klar, dass bei jeder Migration immer wieder neue Bevölkerungsgruppen, neue Arbeitsweisen, neue Lebensstile und neue Religionen entstehen und damit automatisch zu unumkehrbaren Bestandteilen der jeweiligen gesellschaftlichen Wirklichkeit werden. Wenn gewissermaßen kontrafaktisch dazu insbesondere in der Öffentlichkeit immer wieder Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität skandalisiert und eine unzureichende Integration einklagt wird, so kann das vor diesem Hintergrund eigentlich nicht jenen Prozessen selbst zugerechnet werden. Entweder haben die Menschen plötzlich ihre praktischen Kompetenzen im Umgang mit Mobilität und Migration vergessen oder es gibt politische Gründe dafür, dass man sie vergessen machen will. Schaut man sich aktuelle politische Diskurse an, so erkennt man schnell, dass das zweite der Fall ist. Hier werden Erwartungen an Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität formuliert, die einen kompetenten Umgang miteinander unmöglich machen, weil sie diejenigen, die sich für Alteingesessene halten, von denjenigen, die im Verlauf der letzten Generationen hinzugekommen sind, abschirmen, und statt auf gemeinsame Erfahrungen, Rechte und Interessen zu setzen, Differenzen heraufführen und Barrieren errichten. Mit anderen Worten, die gesellschaftliche Entwicklung ist vom politischen Diskurs nicht ausreichend realisiert worden. Ganz im Gegenteil – man gibt sich Illusionen hin und ignoriert Entwicklungen aus spezifischen politischen Interessen und Traditionen heraus. Diese Einstellung ist für die Gesellschaft insgesamt, aber auch für den Umgang mit Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität kurz- wie langfristig folgenreich.
Damit fügen sich die Dinge erneut zusammen: Die Aufgabe speziell der Sozialwissenschaften als Wissenschaft ist es in dieser Situation nicht nur wissenschaftsintern für eine sozial adäquate Analyse der Situation zu plädieren, sondern vor allem auch die in der breiten Öffentlichkeit und vor allem in einschlägigen politischen Debatten erkennbaren Fehlschlüsse zu markieren und den auf jener Grundlage aufgestellten Behauptungen und Deutungen zu widersprechen. Hier ist politische Verantwortung gefragt. Die Aufgabe der Sozialwissenschaften als Fachdisziplin sollte es eben auch sein, sich ganz konkret um die Bedingungen des urbanen Zusammenlebens zu kümmern. Es kommt darauf an, einerseits die Selbstverständlichkeit und Fraglosigkeit von Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität bewusst zu machen und bei der Beschreibung und Fortentwicklung entsprechender urbaner Kompetenzen mitzuwirken, sowie anderseits drohende Verwerfungen, Risiken und Probleme frühzeitig zu erkennen und anzuge56
hen. Die Aufgabe des öffentlichen Diskurses wäre es in diesem Fall, umgekehrt vor allem die kritische Forschung aufzugreifen und zu rezipieren, was natürlich im Zeitalter der Auftragsforschung nicht unbedingt zu erwarten ist. Und bedenkt man dann, dass sich in diesem Zusammenhang vor allem der administrative Sektor – und zwar vor allem der, der für die innere Sicherheit zuständig ist, engagiert – mag man erst recht Zweifel haben (Bukow 2008:157ff).
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2 Welche Bedeutung Mobilität im Übergang zur Postmoderne gewinnt Vergegenwärtigt man sich die einzelnen Elemente jener wissenschaftlichen „Grundmelodie“ bzw. – wenn es richtig ist, dass hier Wissenschaft und Öffentlichkeit oft konform gehen – jenes Kulturprogramms an nationalen Erzählungen und bedenkt man die jeweiligen Implikationen, so wird schnell klar, wie wichtig es ist, in Umkehrung der Perspektive Migration und migrationsspezifische Mobilität nicht länger im Sinn eines zu vermeidenden Sonderfalles, sondern umgekehrt im Sinne eines substantiellen, basalen Geschehens zu betrachten. Von daher ist es systematisch zu reinterpretieren und im Kontext der Stadtgesellschaft zurechtzurücken. Genau genommen ist hier freilich die europäische Stadt, bzw. die metropolitane Stadt gemeint. Das ist oben ja auch schon stillschweigend so vorausgesetzt worden.28 Es ist wichtig, das in Erinnerung zu behalten, da sich nicht alle Stadtgesellschaften gleich entwickelt haben. Es gibt auch Stadtgesellschaften, die ein völlig anderes Bild bieten. Hier ist vor allem an die hoch segmentierte und extrem gestreute amerikanische Stadt zu denken. Während nämlich die europäische Stadt trotz aller Veränderungen in den letzten hundert Jahren (Feldkeller 2001) bis heute eine verdichtete, binnendifferenzierte und zentripedale Struktur mit Zentrumsstrukturen aufweist und durch einen schnellen Wechsel von öffentlichem und privatem Raum geprägt ist, breitet sich die typische amerikanische Stadt29 extrem segmentiert, extrem entmischt, zentrifugal und ohne wirkliches Zentrum uferlos in die Fläche aus und verzichtet zudem weitgehend auf öffentliche Räume, so dass sich urbanes Zusammenleben auf funktional begrenzte rechtlich gesehen private Zonen (Arbeitsplatz, Shopping Mall, Fastfood-Restaurants, Schulen, Kirchen) beschränkt. Die europäische Stadt hat dagegen eine metropolitane Funktion übernommen, das umgebende Land mit geprägt, gewissermaßen von sich abhängig gemacht und insofern eine Schrittmacherfunktion übernommen. Die typische amerikanische Stadt hat solche metropolitanen Funktionen kaum und wenn dann nur rudimentär entwickelt. Es gibt dort freilich auch einige wenige metropolitan funktionierende Städte wie New York oder San Francisco. Sie sind jedoch die Ausnahme. Man kann sich vorstellen, dass sich der Umgang mit mobilitätsgenerierter Vielfalt völlig unterschiedlich darstellt. 28
Vgl. Anmerkung 6. Die nördlichen Küstenstädte im Westen wie im Osten fallen heraus. Sie sind aus teils historischen und teils geographischen Gründen der europäischen Stadt viel näher als die großen Städte an den Seen bzw. im Binnenland und im Süden. 29
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Hier geht es also um die europäische Stadt. Dabei soll schrittweise verfahren und zunächst die gesamte Thematik aus der Perspektive jenes Kulturprogramms heraus gelöst werden. Dabei werden die Migration und die migrationsrelevante Mobilität im Kontext de Postmoderne, genauer im Kontext des Übergangs zur Postmoderne bzw. der sich entwickelnden transmodernen Weltgesellschaft eingeordnet und genauer differenziert. Damit sollten ausreichende Grundlagen für die Diskussion dieser beiden Prozesse im urbanen Zusammenleben zur Verfügung stehen. 2.1 Wie man sich in der Stadtgesellschaft mit Mobilität arrangiert Um verstehen zu können, wie die metropolitane Stadtgesellschaft auf zunehmende Mobilität reagiert, muss wie gesagt die Diskussion über Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität vollständig aus dem überkommenen „Kulturprogramm“ herausgelöst und unter dem Vorzeichen des Übergangs zur Postmoderne einerseits und dem Umgang mit Mobilität anderseits neu strukturiert werden. Sicherlich, der Begriff der Postmoderne selbst ist umstritten. Aber längst unumstritten ist, dass wir uns in einer Zeit des Übergangs, in der Transmoderne befinden (Albrow 1988:121f). Der Begriff hat sich ja auch schon in der bisherigen Diskussion bewährt. Tatsächlich signalisiert er allein schon einen ganz anderen Referenzrahmen als den, den das oben kritisierte Kulturprogramm mit seinen nationalen Erzählungen unterstellt. Er besagt, dass das überkommene „Projekt der Moderne“ zu Ende geht und die Karten gegenwärtig neu gemischt werden. Und er signalisiert, dass die Zeit der großen Entwürfe oder Erzählungen zu Ende gehen. Dies gilt für das positivistische Weltbild genauso wie für den klassischen Kapitalismus. Und auch die großen Machtblöcke wie die USA oder Russland haben längst beträchtlich an Konsistenz und Einfluss verloren und müssen sich heute in eine Reihe mit weiteren Staaten bzw. Quasistaaten wie China oder die EU einordnen. Unstrittig ist ebenfalls, dass auch die anderen Staaten einen erblichen Wandel und Bedeutungsverlust erleben, da die alten Nationalstaaten an Bedeutung verlieren. Was für den vorliegenden Zusammenhang aber besonders wichtig ist, ist, dass gleichzeitig Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität beträchtlich zunehmen. Warum im Weiteren aber nicht bloß von einer Gesellschaft im Übergang, einer zweiten Moderne o.ä.30, sondern explizit vom Übergang in Richtung Postmoderne gesprochen wird, hat mit einer, wie sich noch zeigen wird, sehr folgen30 Die Position von Ulrich Beck hat sich deutlich verändert. Er spricht heute nicht mehr so eindeutig von einer zweiten Moderne, sondern eher von einem “sowohl – als auch”, was m.E. in die hier vertretene Richtung zielt (Beck 2007 Kap XII).
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reichen Einschätzung dieses Übergangs, der Transmoderne zu tun. Während manche Theorien meinen, dass der Übergang gewissermaßen ungerichtet sei, meine ich, dass man durchaus schon neue Konturen erkennen kann. Wenn man sozialgeschichtlich informiert denkt, bedeutet ja „neu“ niemals „gänzlich anders“, sondern nur, dass Zuordnungen verändert, individuelle Arrangements neu definiert und formale Strukturen ausgebaut werden . Geht man mit solchen eher niedrigen Erwartungen an die Thematik heran, so kann man erkennen, dass der sich vollziehende Übergang „nur“ zu neuen Organisationsprinzipien führt, in denen alte Elemente teilweise wie Zitate aufgenommen werden, in denen aber auch neue Elemente entstehen, die im wesentlichen durch die aktuelle Globalisierungswelle erzeugt werden. Der Übergang ist also ein Übergang in eine neue Version von Gesellschaft, von Weltgesellschaft – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Mit der Formulierung „Übergang zur Postmoderne“ soll dann angedeutet werden, dass manche alten Elemente der Moderne als Zitate überleben, freilich jetzt nicht mehr unter dem lokalen Dach einer spezifisch ausgeprägten Gesellschaft, sondern unter einem neuen globalisierten Dach der Weltgesellschaft reinstalliert werden und dabei ambivalente Eigenschaften entwickeln (Baumann 2000:201ff). Vor diesem Hintergrund möchte ich nun in mehreren Schritten vorgehen. Zunächst gilt es endgültig vom überkommenen Kulturprogramm Abschied zu nehmen. Dann sollen einige Befunde aus dem bereits an anderer Stelle dokumentierten Forschungsprojekt über Köln-Ehrenfeld eingeblendet werden. Sie sollen belegen, dass die europäische Stadt im Kern durch Routine bestimmt wird. Diese Routine legt sich wie ein Schleier über das Alltagsleben und erlaubt es, sich in einer hoch diversen Situation sicher zu bewegen. Probleme entstehen erst, wenn die gewohnte Vielfalt, die gewohnten Verwerfungen und Konflikte ungewöhnlich unter- oder überschritten werden. Der Übergang zur Postmoderne scheint hier bestimmte Auswirkungen zu haben. Spätestens postmoderne Irritationen lenken dann auch die Aufmerksamkeit auf die hinter der Routine wirksamen urbanen Mechanismen, die hier als Grammatik urbanen Zusammenlebens bezeichnet werden. 2.1.1 Jenseits des überkommenen „Kulturprogramms“ Wie sich gezeigt hat, ist es unabdingbar, die wissenschaftlichen Diskussionen genauso wie die politischen Debatten über Mobilität und Migration aus dem überkommenen „Kulturprogramm“ heraus zu lösen. Sie scheinen in mancherlei Hinsicht immer noch nachhaltig in die alten Debatten verhakt zu sein.
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Das Problem ist nun freilich nicht nur, dass im Zeitalter der Postmoderne an so umfassenden und komplexen Kulturprogrammen festgehalten wird, die immer noch absolute Wahrheiten einfordern, statt auch einmal andere und mitunter keineswegs neue Einsichten zuzulassen, sondern auch, dass man sich hier weiter an den überkommenen nationalen Erzählungen orientieren und dementsprechend nach der oben schon markierten sehr alten und tief verwurzelten Logik von „wir und die Anderen“ verfahren. In diesem Kontext wird mit einem radikal dichotomischen Wirklichkeitsbild gearbeitet, obgleich solche geschlossenen Weltbilder allen praktischen Erfahrungen widersprechen. Das Kulturprogramm impliziert nun nicht nur, dass es einen grundsätzlichen Unterschied, eine substantielle Differenz zwischen dem „Wir“ und „dem Anderen“ gibt, es postuliert auch, dass beide Seiten eine in sich jeweils intrinsische Konsistenz aufweisen, ja, es unterstellt oppositionelle Kulturen, so als ob Deutschland einerseits und der Rest der Welt, das „Ausland“, zwei Quasiethnien darstellten. Es dauert nicht lange und das Wirklichkeitsmodell avanciert zu so etwas wie einer kollektiv verbindlichen Basis von Gesellschaft. Auf diese Weise lässt sich das gesamte Kulturprogramm nachhaltig verankern. Es gewinnt gleichzeitig an Exklusivität, die es über alles andere erhebt und gegen jede Kritik immunisiert. Ein solches Kulturprogramm bietet seinen Akteuren die Sicherheit, eindeutig und unwiderruflich dazu zugehören und ermöglicht zugleich, „den anderen“, der eben niemals dazu gehört, genauso eindeutig und unwiderruflich zum Fremden zu erklären (Reuter 2002:205) und, da er ja keinen Zugang zur „letzten Wahrheit“ hat, entsprechend abzuwerten. So wird aus dem Kulturprogramm ein Machtspiel. Dann ist es auch kein Wunder, dass man, wenn man aus welchen Gründen auch immer mit einem Fremden in Nachbarschaft lebt, schnell ein Integrationsproblem mit dem anderen bekommt. Dies lässt sich unter den Bedingungen dieses imaginierten Wirklichkeitsmodells am zuverlässigsten dadurch überwinden, dass man den Anderen auffordert, die Fronten zu wechseln, also zum „wir“ überzugehen, zu konvertieren. Solange man das „Anderssein“ des Anderen dabei bloß an einer anderen Religion oder einer falschen Staatsangehörigkeit fest macht, mag eine Konvertiere möglich sein. Der andere muss „nur“ die Religion wechseln oder die unpassende Staatsangehörigkeit aufkündigen. Aus der Religionsgeschichte sind entsprechende Formen erzwungenen Glaubenswechsels zu Genüge bekannt. Im 19. Jahrhundert war es die jüdische Bevölkerungsgruppe, die man dazu motivierte. Im Blick auf die Staatsangehörigkeit sei nur auf die aktuelle Debatte um doppelte Staatsangehörigkeiten verwiesen. Richtig prekär wird es jedoch, wenn die Differenz an der Herkunft oder der Hautfarbe festgemacht wird, denn dann sinken für den „anderen“ die Chancen noch weiter, sich irgendwie zu arrangieren. In solchen Fällen bietet das Gesellschaftsmodell nur noch „Mitleid“ oder „Gnade“. 62
Das nach der Logik von „Wir und die Anderen“ arbeitende Kulturprogramm funktioniert also wie ein Machtspiel. Es kennt keinen fairen Weg der Anerkennung des Anderen. Es kennt im Umgang mit dem Anderen nur den Weg der Assimilation (den Seitenwechsel) oder in Umkehrung des Verfahrens den Weg der Ausgrenzung („Festung Europa“) bzw. in dem Fall, in dem sich der Andere schon unter das „Wir“ gemischt hat, die Aussortierung („Ausweisung“, unter bestimmten Bedingungen auch „ethnische Säuberung“). Je nach dem stiftet es auch zu Pogromen an („national befreite Zonen“). Bei einer nicht nur gelasseneren, sondern auch gesellschaftsgeschichtlich informierteren Betrachtungsweise wird einem irgendwann bewusst, dass tatsächlich nicht die Mobilität und speziell die Migration die eigentliche Herausforderung für eine Gesellschaft darstellen, sondern das Sich-darauf-Einstellen, die „Bändigung“ einer angeblich zunehmenden und angeblich immer „bedrohlicheren“ Mobilität. Solange man jedoch ein Szenarium beschwört, in dem eine generationenübergreifende Sesshaftigkeit zur Basis der Gesellschaft stilisiert wird, wird man alles daran setzen, sie immer wieder neu auszutarieren und wird zwangsläufig davon ausgehen, dass man nur unter dieser Voraussetzung seinen sozialen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Reichtum sichern kann. Bei diesem feudalen Denken, Reichtum generationenübergreifend zu bewahren und an Blut und Boden zu binden, muss einen jede Form der Mobilität a priori mit Angst erfüllen. Diese Angst ist der Stoff, aus dem sich die Abgrenzung vom Anderen und die Manifestierung des Eigenen speist. Sie verstellt den Zugang zur jeder tieferen Erkenntnis. Anders formuliert, das Festhalten an diesem Szenarium hat wohl vor allem auch damit zu tun, dass Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität schon lange zu den wichtigsten Instrumenten der Ressourcensteuerung zählen und damit immer im Fokus der gesellschaftlichen Macht stehen. Und wenn die „Bändigung“ der Mobilität hinreichend gelungen ist, dann scheint man zu hoffen, dass sich auch die Herrschaftsstrukturen so verfestigen, dass man den Anderen nicht mehr zu fürchten hat. Es ist klar, dass die „Bändigung“ der Mobilität erst dann wirklich gelungen ist, wenn die Mobilität auf Dauer und fraglos zum Sonderfall und die Sesshaftigkeit zum Normalfall erklärt worden ist. Dann kann man sich daran machen, ein geschlossenes sesshaftes Eigenes zu definieren und zugleich die Spuren des Anderen zu externalisieren, zu „exkommunizieren“ und gegebenenfalls auch auszumerzen. Die Geschichten des Antiziganismus, des Rassismus, des Antisemitismus und heute des Neorassismus belegen, wie schnell man bereit war, für die Sicherung seiner so definierten Ansprüche gegen den Anderen vorzugehen. Sie belegt im Übrigen auch, dass es noch nicht einmal
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einer migrationsrelevanten Mobilität bedurfte. Es genügte schon, als „Fremder“ imaginiert zu werden.31 Tatsache ist jedoch, dass es sehr oft auch anders gegangen ist. Dies belegt, dass solche Kulturprogramme keineswegs durchgängig gegolten haben und damit keineswegs die gesellschaftliche Wirklichkeit vollständig geprägt haben. Im Gegenteil, es gibt eine Fülle von Beispielen, dass im Umgang mit dem Anderen andere Wege gegangen wurden. Und das hat, wie oben schon im Blick auf die europäische Stadt gezeigt wurde, eher pragmatische Gründe. Die erkennt man freilich erst, wenn man den skizzierten Diskurszusammenhang der nationalen Erzählungen verlässt. Die Logik dieser Erzählungen zu durchbrechen heißt, die Mobilität und Migration im Sinn historischer Normalität zu rekonstruieren, sie also als soziale Prozesse zu sehen, die sich irgendwo zwischen einem extremen Nomadentum einerseits und einer extremen Sesshaftigkeit anderseits abspielen. Die Bandbreite moderner Mobilitätsformen habe ich oben schon in einer ersten „Formatsübersicht“ skizziert. Dann erscheint auch eine „gefühlte“ Sesshaftigkeit in der Regel als eine relative Größe und die Beschwörung dieser Position wird als Bemühen erkennbar, Privilegien zu postulieren, und als ein Versuch, quasi feudale Strukturen zu erhalten bzw. neu zu etablieren. Eine Gesellschaft jedoch, die auf den formalen Prinzipien und nicht mehr auf Zuschreibungen beruht, wird diese Bestrebungen als eine historisch längst überholte Strategie entmystifizieren und nach legalen, d.h. erworbenen Ansprüchen fragen. Auf dieser Basis geht es um Fragen der Fairness und Gerechtigkeit – Fragen, die nichts mit Ethnizität oder Herkunft zu tun haben, sondern einerseits mit dem je individuellen Vermögen, sich in der Gesellschaft zu arrangieren, und anderseits den Chancen, die die Gesellschaft dem einzelnen einräumt, sich beteiligen zu können. Unter diesen Bedingungen dürfte der „Grad“ der Sesshaftigkeit, also wie lange man sich an einem Standort schon aufgehalten hat, konstitutiv belanglos sein. 2.1.2 Jenseits des überkommenen „Kulturprogramms“ lässt sich die Bedeutung von Mobilität und Migration neu einschätzen Jenseits des überkommenen Kulturprogramms lässt sich die Bedeutung von Mobilität und Migration neu einschätzen. Im Grunde geht es darum, die Bedeutung einer ganz normalen Mobilität und Migration anzuerkennen. Tatsächlich 31 Dieser Punkt ist nicht unwichtig, belegt er doch, wie wenig es in den nationalen Erzählungen um das geht, was in Geschichte und Gegenwart tatsächlich passiert. Das ist bis heute so. Man denke nur an die rassistischen Aktivitäten der rechten Parteien in den neuen Bundesländern, wo es kaum allochthone Menschen gibt.
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findet man in den meisten Ländern eben auch eine eher selbstverständliche Mobilität in der Form von klassischer Landflucht in der Folge einer massiven Industrialisierung ganzer Regionen, in der Form nationaler Säuberungen im Gefolge von Krieg und Vertreibung, in der Form von Ein- und Auswanderung in Reaktion auf eine wechselnde Attraktivität großer Zentren bzw. häufig sehr prekärer Lebenslagen an den Peripherien (Bade 2004). Klaus Bade spricht vom „Einwanderungskontinent Europa am Ende des 20. Jahrhunderts“ (Bade 2002 Kap. V). Nur noch in wenigen Ländern geht man wie in Deutschland davon aus, dass Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität einen – noch dazu im Prinzip problematischen – Sonderfall innerhalb der Moderne darstellen. Unterdessen bahnt sich aber auch hier ein Perspektivenwechsel an. Dies hat einerseits mit einer zunehmenden Sensibilität für die neuzeitliche Sozialgeschichte zu tun. Dort wird allmählich deutlich, wie wichtig Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität für die Entstehung der modernen Städte auch innerhalb Europa gewesen ist und dass das bis heute so geblieben ist. Und es hat anderseits mit der aktuellen Globalisierungswelle zu tun, die für zumindest zeitgenössische Mobilitätsprozesse die Augen geöffnet hat. Mobilität ist für ein Land wie Deutschland nicht nur genauso relevant wie für die klassischen Einwanderungsländer, sondern auch genauso grundlegend. Nur das jeweils dominierende Format, in dem Mobilität stattfindet, unterscheidet sich von Situation zu Situation und mitunter auch von Ort zu Ort. Aber selbst diese Einschränkung ist eigentlich schon wieder überholt, wie man aus der dargestellten Übersicht über die Mobilitätsformate erkennen kann (Teil 1.2.1e). Im Rahmen der aktuellen Globalisierung beobachten wir, wie sich die verschiedenen Mobilitätsformate ubiquitär ausbreiten und selbst solche Formate, die lange nur für bestimmte Regionen typisch waren, zunehmend Verbreitung finden. Lange Zeit gab es beispielsweise Regionen mit typischer Binnenmigration oder es gab einzelne Gebiete, in denen sich immer wieder ethnische und/oder nationale Säuberungen abspielten und in manchen Ländern hatte sich über die Jahrhunderte eine wie selbstverständlich praktizierte Auswanderungstradition entwickelt. Heute findet man fast alle Formate beinahe überall. Aber es entstehen auch immer wieder neue Formate. Hier ist an solche Formate wie die transnationale Migration (Bittner, Vöckler 2007; Bürkner 2005) oder genauer gesagt zirkuläre Migration (Europäische Kommission 2007) zu denken. Postmoderne Pendelmigration und andere Formen von Mobilität verdichten sich zu einem neuen QuasiNomadentum und breiten sich über den gesamten Globus aus. Doch nicht nur die Mobilitätsformate verteilen sich zunehmend gleichmäßiger, auch die Intensität der Mobilität nivelliert sich auf hohem Niveau (Kreuzer 2006). Waren es lange vor allem die industriellen Wachstumszonen, im 19. Jahrhundert das Ruhrgebiet, die schlesischen Industriegebiete, im 20. Jahrhundert die Industriegürtel an den 65
Peripherien der Schwerindustrie, die eine hohe Mobilität erlebten, geht die Mobilität heute – nicht nur geographisch, sondern auch sozial betrachtet – quer durch die Gesellschaften. Noch findet man einzelne Lokalitäten, die durch eine extreme Standorttreue oder Sesshaftigkeit geprägt sind, aber sie schrumpfen und verflüchtigen sich zusehends. Längst geht es um eine globale Mobilität, die sich in unterschiedlichen Formaten ausdifferenziert, weltweit „verstetigt“ und in den letzten Jahren noch einmal zusätzlich verstärkt. Die Frage ist allerdings, ob Gesellschaften auf solche Entwicklungen überhaupt mit neuen Reaktionsmustern antworten, oder ob sie sich nicht einfach weiter wie üblich zu arrangieren versuchen. Dabei muss man zwischen den wichtigsten Ebenen gesellschaftlicher Wirklichkeit unterscheiden. Was im Alltag geschieht, was die Alltagspraxis kennzeichnet, das ist eine Sache, was auf der Ebene eines gezielten gesellschaftlichen Umgangs mit diesen Entwicklungen gemacht wird, ist eine andere Sache. Einerseits wäre zu vermuten, dass eine Gesellschaft, die sich seit Jahrhunderten im Umgang mit Mobilität geübt hat, keine Probleme hat, im Alltagsleben auf die aktuellen Entwicklungen angemessen und effektiv einzugehen. Andererseits beobachten wir aber auch, dass im Kontext der Selbstinterpretation einer Gesellschaft schnell behauptetet wird, der Bogen sei überspannt oder die erworbenen Kompetenzen im Umgang mit Mobilität stießen an ihre Grenzen. Die Diskussion in der Öffentlichkeit legt oft ein paradoxes „sowohl als auch“ nahe: Einerseits, so wird gesagt, haben wir längst ausreichend Fähigkeiten, mit Mobilität umzugehen und auch die neue Entwicklung unter dem Kapitel „wie üblich“ einzuordnen, man denke nur an die Mobilität der besser Verdienenden, der Manager und der Rentner bzw. der „Altersnomaden“ (Bukow 2007:209f). Anderseits meint man schon lange, wir seien an einem Punkt, wo ganz neue Fertigkeiten, nämlich Exklusionsmechanismen wie z.B. verbesserte Grenzkontrollen, Rückkehrhilfen usw. gefragt sind, weil die alten nicht mehr ausreichen. Man denke nur an die „Das-Boot-ist-voll“ Diskussion in den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts oder die aktuelle Diskussion über die Europäische Grenzkontrolle durch die FRONTEX32. Ein entsprechender Eindruck wird offenbar regelmäßig dann und nur dann vermittelt, wenn es um die Mobilität von Unterprivilegierten geht, die zunächst als Flüchtlinge und heute als Menschen ohne Papiere oder Saisonarbeiter in die Zentren zu kommen versuchen33.
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Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (FRONTEX) wurde 2007 gegründet und hat ihren Sitz in Polen. 33 Die Europäische Union rüstet sich mit neuen Systemen gegen illegale Einwanderer. Justizkommissar Franco Frattini stellt am 13.2.2008 in Brüssel dazu sein „Modell für die Welt, ein Vorbild für Freiheit und Sicherheit“ vor.
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Man geht nicht falsch in der Annahme, wenn man vermutet, dass die Dramatisierung von Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität zumindest indirekt sehr viel mit dem Übergang von der Moderne zur Postmoderne zu tun hat. Die in der Moderne akzeptierte Mobilität war sozialstrukturell „wohlgeordnet“, war untergeschichtet und die „Gastarbeiter“ fügten sich ein, der Gesellschaftsraum als solcher erschien also weiter stabil. Insofern schien dies zumindest eine gewisse Zeit die überkommene Ordnung nicht zu tangieren. Erst wenn der Migrationshintergrund nicht mehr aufzufallen schien, war an Aufstieg zu denken. Dann wiederum wurde er aber als solcher auch nicht mehr zur Kenntnis genommen (Mannitz 2006:306). Die sich im Übergang zu einer hochindividualisierten Postmoderne abzeichnende Mobilität bringt die alte Ordnung durcheinander, die Situation erscheint zunehmend unstrukturiert, ohne Anfang und Ende, und – wie bereits skizziert34 – teils sequenziell, teils seriell, jedenfalls irgendwie „endlos“. Man scheint nicht mehr wirklich anzukommen, sondern bleibt letztlich unterwegs. Die alte Raumordnung löst sich auf und weicht einer neuen, hochindividualisierten Struktur. Die Frage der Grenzen erscheint zunehmend klärungsbedürftig. Gibt es sie hier überhaupt noch (Hettlage, Deger, 2007:11f)? Die Menschen verankern sich jetzt deutlich anders. In der Moderne verankert man sich schließlich doch immer irgendwann, auch wenn man sich zum Schluss nur noch auf sein Milieu beschränkt. Jetzt verlagert sich diese Milieuorientierung in eine virtuelle, in eine zunehmend fluktuierende Welt. Aus den lokalen Milieus mit ihrer Bindung an Straßen, Baustile, Kneipen und kulturellen Installationen werden Diskursmilieus, die im Wesentlichen imaginär fundiert sind und deshalb faktisch überall „re“-installiert werden können. Die Lokalitäten diversifizieren sich und diffundieren, die Diskursmilieus kondensieren und verdichten sich zu Diskursgemeinschaften, ohne sich noch weiter lokal verankern zu müssen. Die Verankerung geschieht virtuell durch das Telefon, das Internet, wechselseitige Besuche. Was aus lokaler Sicht nunmehr divers erscheint (Lanz 2007:333f), verlagert sich auf die Ebene virtueller Kontingenz. Die Menschen werden zu Nomaden.35 Damit lassen sie sich aber nicht mehr nach den alten Spielregeln 34
Siehe oben Teil 1.2 In Pressemitteilungen des Zentrums für Türkeistudien wird immer häufiger auch auf die transnationale Orientierung von Migrantenorganisationen verwiesen (z.B. in der Erklärung zum Nationalen Integrationsplan – Zwischenbilanz vom 28.10.2008). Es wird gesagt: Es sei denkbar, dass zukünftig nicht mehr die Herkunftsorientierung für Migrantenorganisationen entscheidend ist, sondern die transnationale Orientierung. Sie wird neue Integrationsperspektiven für Zuwanderer eröffnen. Wenn es richtig ist, dass in einer sich globalisierenden Welt Migration auch dann ein wichtiges Element für die Entwicklung darstellet, wenn der Aufenthalt der Migranten nicht immer stetig verläuft, wenn Pendelmigration auftritt und mediale Netzwerke immer weiter geknüpft werden, dann kommt auch einer transnationalen Zivilgesellschaft, zu der auch Migrantenselbstorganisationen zählen dürften, eine wachsende Bedeutung zu. 35
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einordnen, unterordnen und „entschärfen“. Es kommt allerdings noch „schlimmer“, da ja auch die scheinbar Alteingesessenen zunehmend mobil werden. Noch allerdings ist die Transformation zur Postmoderne in vielen Bereichen der Gesellschaft nicht vollständig „angekommen“. Aus naheliegenden Gründen verschließt sich die politische Öffentlichkeit vor allem in den Zentrumsländern der Europäischen Union gegenüber dieser Einsicht und setzt weiter auf Standorttreue und privilegiert diejenigen, die hier ein besonderes Beharrungsvermögen zeigen und auf ihre Abkunft pochen. Da sich die Mobilitätsprozesse jedoch immer weiter ausdehnen und längst die gesamte Bevölkerung erfasst haben, verstrickt man sich zunehmend in Abwehrkämpfe und Rückzugsgefechte, die zwar eine fortschreitende Mobilität nicht aufzuhalten, wohl aber nach wie vor zu diskreditieren vermögen und damit die Revitalisierung alter Abschirmungsmaßnahmen, Mauern und Grenzssicherungswerke nach dem Vorbild der DDR auch noch zu legitimieren scheinen. Man hat eine feine Semantik entwickelt, um einerseits die Versionen von Mobilität, die man noch grade irgendwie zu ignorieren vermag, in die überkommene Vorstellungswelt einzuebnen und anderseits die Versionen von Mobilität, die man nun nicht mehr leugnen kann, weil sie das Bild des urbanen Zusammenlebens unwiderruflich nachhaltig verändert haben, zu diskreditieren, zu diskriminieren und auszugrenzen. Da aber solche Maßnahmen in einer globalisierten Welt keinen durchschlagenden „Erfolg“ versprechen, werden auf den verschiedensten gesellschaftlichen Ebenen Übergangsregeln erwogen. Auf der juristischen Ebene werden zwischen dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit und dem Verbleiben als Mensch ohne Papiere zahlreiche Zwischenstufen etabliert, die je nach Bedarf mal als Passage, mal als Barriere dienen. Auf sozialer Ebene werden zwischen der vollen Integration als „Deutscher“ und dem Verbleiben als Fremder ebenfalls zahlreiche Zwischenstufen installiert, die je nach Bedarf mal der Integration und mal der Kriminalisierung dienen. Auf kultureller und religiöser Ebene funktioniert es analog. Es sind aber nicht nur ein zunehmendes historisches Bewusstsein für die Entstehung der modernen Städte und auch nicht nur eine zunehmende Sensibilität gegenüber einer kaum noch zu übersehenden Zunahme an Mobilität, was einen Perspektivenwechsel überfällig macht. Es ist auch der Wandel der gesellschaftlichen Grundlagen selbst, der die alten Deutungsmuster obsolet macht. Die Basis der Gesellschaft selbst hat sich erst unter dem Einfluss zunehmender Mobilität und dann unter dem Einfluss einer sich extrem ausweitenden Alltagskommunikation dank der quantitativ wie qualitativ radikal angewachsenen Kommunikations- und Medientechniken längst „verflüssigt“ und ihre Bodenständigkeit verloren. Die Alltagswelt und die in sie eingebetteten Alltagsdiskurskulturen haben ihre Bodenhaftung eingebüßt und eine virtuelle Qualität gewonnen, in der sich das, was „man“ tut, denkt und deutet, verflüssigt, eine ubiquitäre 68
Relevanz erreicht, sich dynamisiert, zu Moden gerinnt und als Diskurs auch konsumierbar wird. Folglich ist es auch nicht mehr die Familie, soweit sie überhaupt noch in der Postmoderne eine nennenswerte Orientierungsfunktion hat, sondern sind es diese virtuellen Welten, eben Diskurse, die nun die erforderlichen Informations-, Orientierungs-, Sozialisations- und Deutungskapazitäten bereit stellen. Die skizzierten Probleme werden schon länger wahrgenommen. Es entstehen neue Beobachtungs-, Beschreibungs- und Handlungsformate. Im Grunde geht es „nur“ darum, den Anschluss an den gesellschaftlichen Wandel zu gewinnen, d.h. noch einmal genauer hinzuschauen und daraus entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Um die Bedeutung dieses Paradigmenwechsel klar zu machen, möchte ich auf Benoît Mandelbrot Bezug nehmen. Er trat 1968 mit einem kurzen Aufsatz hervor, der eines der berühmtesten Paradoxe der Fraktalgeometrie in eine spielerische Frage zusammenfasst: „How long is the coast of Britain?“ Mandelbrots Antwort lautet überraschenderweise, dass die Küste von England unendlich lang ist. Mit seiner Antwort weist er eigentlich nur darauf hin, dass wir uns alle bei der Beobachtung und Beschreibung selbst so „unverfügbarer“ Gegebenheiten wie der Länge einer Küste an Normen orientieren, und zwar nicht nur an Maßen, um etwas abzubilden, sondern auch an Normen, um das Phänomen überhaupt erst zu etwas Messbarem zu machen. Es geht ja nicht nur darum, einen Maßstab anzuwenden, sondern auch zu entscheiden, was uns hier überhaupt interessiert. Für den Autofahrer sehen die Dinge eben anders aus als für den Wanderer, für den Farmer anders als für das Katasteramt. Da aber theoretisch ein unendlich kleiner Maßstab an eine Küstenlinie (wie an jede natürliche Form) herangebracht werden kann, ist die Küste von England eben auch unendlich lang, genauer: so lang wie der angelegte Maßstab klein. Die Konsequenz aus diesem Aufsatz ist, man muss einen Paradigmenwechsel vornehmen und zur Kenntnis nehmen, dass eine Gesellschaft nicht darin besteht, Wirklichkeit zu exekutieren, sondern immer wieder zu erfinden. Auf diese Weise entstehen immer wieder neue Versionen von Wirklichkeit und damit von Gesellschaft. Auffällig wird das freilich erst, wenn sich die Prozesse beschleunigen, also Ungereimtheiten, Widersprüche, Paradoxien und Krisen auftreten. Lange hat man sich der Illusion einer gezielten gesellschaftlichen Entwicklung, die von standorttreuen Bürgerinnen und Bürgern vorangetrieben und von Wissenschaft, Technik und Politik ordentlich begleitet wird, hingegeben und hat Konflikte und Krisen vor dem Hintergrund einer derartigen Folie definiert, interpretiert und als Abweichung, mithin als mehr oder weniger unvermeidliche Randerscheinungen verbucht, selbst wenn sie Millionen von Menschen betroffen haben und betreffen. Ein solches normativ ausgerichtetes Verfahren hat sich als 69
Illusion erwiesen. Die Vorstellung der Standorttreue, die Vorstellung von Entwicklung u.a.m., dies alles sind Versuche, die Länge der Küste Englands auf der Grundlage einer vorweg definierten Kartenbasis, also einer Karte mit einem handlichen oder sonst wie nahe liegenden Maßstab zu messen. Notfalls kann man ja den Maßstab wechseln, z.B. von der Generalkarte zum Messtischblatt und zur Grundkarte. Wir müssen heute zugestehen, dass die Basis der Beobachtungen nicht die Standorttreue, sondern nur noch eine zunächst noch undefinierte Mobilität sein kann. Wir alle sind mehr oder weniger mobil und gehen damit mehr oder weniger erfolgreich um. Und Gesellschaften sind dann auch nur der Versuch, mit Mobilität umzugehen und Strukturen zu erfinden, um die Dinge einigermaßen in den Griff zu bekommen, das heißt einigermaßen erwart- und berechenbar zu machen. Daraus ergibt sich die im Folgenden noch genauer zu differenzierende Frage nach der „Behausung“ von Mobilität in der Postmoderne. Nachdem dies deutlich ist, kann man gezielter, komplexitätsangemessener und genauer überlegen, inwieweit hier und heute tatsächlich neue Aspekte auftreten. Und wenn man unsere gegenwärtige Lage als eine Situation deutet, die durch den Übergang von der Moderne zur Postmoderne geprägt ist, dann lässt sich noch einmal sehr viel gezielter fragen, nämlich inwiefern im Rahmen dieses Übergangs zur Postmoderne Entwicklungen freigesetzt werden, die einerseits die Mobilität und andererseits den Umgang mit ihr neu herausfordern. Man könnte hier einerseits an eine forcierte „praktische“ Mobilität denken, eine beschleunigte „informationelle“ Mobilität oder eine fortgeschrittene Individualisierung und Diversifizierung. Und man müsste anderseits die aktuelle Integrationsdiskussion in den Blick nehmen, die sich auf den Wandel von einer endlichen zu einer endlosen Mobilität einzustellen versucht – eine Diskussion, die dann in erster Linie eine Folge von Irritationen wäre, die durch Mobilität unter den Bedingungen einer zunehmend individualisierten Gesellschaft hervorgerufen wird, und endlich durch die Forderung nach einer Akkommodation auf Diversität hin ersetzt werden müsste. 2.1.3 Jetzt wird klar, wie wichtig in der Praxis die Alltagsroutine ist36 Jenseits des überkommen Kulturprogramms wird klar, wie wichtig die Routine für den Umgang mit Mobilität, für die Alltagspraxis ist. Eine ganz wesentliche Eigenschaft des Alltagslebens ist, dass es Routine erzeugt. Und diese Routine erzeugt eine gewisse Verlässlichkeit, eine Verstetigung und damit so etwas wie 36
Im folgenden Text greife ich auf die Ehrenfeldstudie zurück: Ein Rückblick auf die Rekonstruktion urbanen Zusammenlebens – Bukow 2001: Teil VII,2 Seite 438-452
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einen Schleier (Rawls 2006:159f)37, unter dem man vertrauensvoll miteinander agiert und nicht so genau hinschaut. Man kann das am besten durch einen genaueren Blick auf das (Großstadt)leben plastisch machen. a)
Unter dem Schleier der Routine erscheint der Alltagsablauf gesichert
Man geht in die Stadt, lebt in der Stadt und beteiligt sich am urbanen Leben. Was das eigene Leben berührt, also etwa mit Wohnung, Arbeit, Familie, Bekannten, dem persönlichen Lebensstil und vielen anderen Dingen zu tun hat, spielt im Alltag eine Rolle, muss berücksichtigt werden. Was für einen selbst relevant ist, muss einbezogen und zum Orientierungshorizont gemacht werden – zu einem Horizont, unter dem man sich von Tag zu Tag neu einzurichten hat, was aber mehr oder weniger selbstverständlich hingenommen und routiniert abgewickelt wird. Natürlich mag es Augenblicke geben, wo trotz aller Selbstverständlichkeiten plötzlich die Aufmerksamkeit geweckt wird. Das sind jedoch stets Augenblicke, in denen die Alltagsroutine stockt und damit das sich wie ein Schleier über alles erstreckende und alles nur grob konturierende Selbstverständliche aufreißt und den Blick für die Dinge schärft. In solchen Augenblicken, wo der Schleier der Routine gewissermaßen aufreißt, wird nichts wirklich Neues, aber doch das Alte neu und in aller Schärfe erkennbar. Solche Augenblicke mögen damit zu tun haben, dass sich ein Horizont verändert – eine neue Wohnung, eine neue Ausbildungsphase, eine andere Arbeit oder ein neues Geschäft zu einer Umstellung nötigt. Vielleicht reicht auch schon ein neuer Nachbar, ein neuer Kollege, ein neues Produkt, das einen aufmerken lässt. Gerade heute, wo sich die Gesellschaft insgesamt beschleunigt, die Mobilität zunimmt, durch die Ausweitung der Kommunikation vermehrt Irritationen auftreten mögen, gerade heute wird eines sofort klar: die Routine muss möglichst schnell wiederhergestellt werden, die Irritationen müssen zum Verschwinden gebracht und der Alltag muss verflüssigt werden. Es kommt darauf an, die Irritationen aus dem Blick zu räumen, die Konturen wieder zu verwischen und den routinierten Ablauf des Alltags wieder zu garantieren.38 Die hier zunächst einmal entscheidende Pointe ist jedoch nicht, dass die Routine unterbrochen wird, sondern zunächst einmal, dass sie sich im Dauerab37
Das Bild vom Schleier der Routine lehnt sich ganz bewusst an die theoretischen Überlegungen von Rawls zur Theorie der Gerechtigkeit an. Er argumentiert theoretisch. Ich meine, er hätte sich dabei auch auf die urbane Alltagspraxis und deren praktische Vernunft beziehen könne. 38 Erving Goffman hat diese Einstellung in seiner Arbeit über das Stigma sehr eindrucksvoll beschrieben.
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lauf des Alltags bewährt, also eine zentrale Eigenschaft des urbanen Alltags darstellt. Die Routine stabilisiert und erhält den Alltag, wobei es überhaupt nicht darauf ankommt, was hier wie selbstverständlich abläuft, sondern es allein darauf ankommt, dass etwas selbstverständlich ist. In Anspielung auf Niklas Luhmann könnte man hier von einer Sicherung des Zusammenlebens durch Routinierung sprechen. Was auch immer passiert, es kommt immer darauf an, den Alltag routiniert zu handhaben oder die „Dinge" so lange zu veralltäglichen, bis sie zur Routine werden. Nicht eine Norm oder ein Wert oder eine Ordnung, wie uns noch das „Projekt der Moderne" glauben machen wollte, sondern – wie von jeher – die Routinierbarkeit ist und bleibt der alles überlagernde Maßstab. Das Alltagsleben wird auf diese Weise nicht nur von der Routine getragen, sondern die Routinierbarkeit wird zugleich indirekt auch zur Basis dafür, was gilt. Und die Nicht-Routinierbarkeit avanciert zur Basis dafür, was nicht gilt. Was Routinierbarkeit im Detail impliziert, ist nicht so einfach zu beschreiben. Dass Routine wichtig ist, wissen wir spätestens seit Alfred Schütz (2004:238ff) und Harald Garfinkel (vgl. Abels 1998:127ff). Sie haben auch die Form und den Inhalt der Routine genauer beschrieben. Natürlich ermöglicht Routine die Bewältigung des Alltagslebens über entsprechend verfügbare Konventionen und allgemein vertraute Deutungsmuster. Aber was bedeutet sie für den Dauerablauf des Alltags? (Mehr dazu Barthes 1981:Kap. IV) Entscheidend in der Alltagspraxis ist, dass sie entproblematisiert. Sie erzeugt einen Schleier, der sich über das Alltägliche legt und damit definiert, was zu gelten hat. b)
Die Routine macht aber auch Brüche und Verwerfungen sichtbar
Die Routine ermöglicht aber noch etwas anderes, was meist übersehen wird. Über das, was als konventionell zu gelten hat und damit selbstverständlich erscheint, definiert sich auch das, was nicht passt, was von dort her unsere Aufmerksamkeit zu erregen vermag, was demzufolge problematisch erscheint. Die Routine macht so auch das Problematische sichtbar. Auf die urbane Situation bezogen, ist es das, was sich nicht sofort in die urbane Szenerie einfügt, was anders erscheint, was uns neugierig macht. Die im Alltag entwickelte Routine wird nicht nur zum Orientierungspfad, sondern gleichzeitig auch zum „Maß aller Dinge“. Der Bettler beispielsweise, der vor dem Supermarkt steht, kann solange nicht irritieren, wie er jeden Vormittag zur gleichen Zeit dort steht. Irritiert ist man, wenn er plötzlich zu einer anderen Tageszeit auftaucht, vielleicht vor Sauberkeit strahlt und ganz offensichtlich weder nach Alkohol riecht noch mit drogengeweiteten Augen umher starrt. In diesem Augenblick hebt sich der Schleier. Die durch die Routine erzeugte Unschärferelation im sozialen Handeln erscheint 72
aufgehoben. Genauso ist es mit der Verkäuferin, mit der ich bisher im lokalen Dialekt gesprochen habe. Sie fällt mir auf, weil sie plötzlich ins Türkische wechselt, was ich nicht erwartet hatte. Solange also die Routine aufrechterhalten wird, bleiben die Besonderheiten des Alltags hinter ihrem Schleier konturenlos, „konstitutiv belanglos“. Bricht die Routine zusammen, werden erstmals Besonderheiten wichtig. Die Aufmerksamkeit nimmt plötzlich alle bislang nur nebulös gebliebenen Spezifika wirklich wahr und sieht sie jetzt zugleich als etwas Besonderes, ggf. auch Anderes, Fremdes, eben wohl Aus- und Eingegrenztes. Diese Überlegungen reichen aus, um ein erstes Element für ein Alltagskonzept zu formulieren, wobei dies noch keine Diagnose sein soll, sondern „nur“ Beobachtungen darüber, wie wir den Alltag beobachtend leben: „Nicht deshalb wird etwas für alltäglich oder gewohnheitsmäßig gehalten, weil es für eine Stadt angeblich seit Jahrzehnten typisch, oder weil es für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe kennzeichnend wäre, und nicht deshalb wird etwas als ungewöhnlich oder vielleicht auch störend und fremd empfunden, weil es von meinem persönlichen Lebensstil abweichen oder Konflikte enthalten würde, sondern deshalb wird etwas als alltäglich oder gewohnheitsmäßig hingenommen, weil es sich mitsamt allen seinen Besonderheiten, Kontrasten und Abweichungen in die Alltagsroutine einfügt, und deshalb wird etwas abgelehnt und als ungewöhnlich empfunden, weil es sich mit den „normalen" Störungen, mit den „normalen" Besonderheiten oder den „normalen" Konflikten, dem ganz normalen Chaos aus irgendwelchen Gründen nicht verträgt.“ (Bukow 2001:440)
Was das Leben in der Stadt betrifft, so ist es also zunächst einmal von Routine bestimmt, einer Routine, in die die gesamte Dynamik und die gesamten alltäglichen Konflikte und Probleme entproblematisiert und mit einem gehörigen Maß an Unschärfe versehen eingehen. Und in der Tat, die modernen urbanen Quartiere sind voll von einer sehr spezifischen Dynamik, die dem Quartierbewohner eigentlich gar nicht besonders bewusst wird. Angetrieben wird die Dynamik von aktuellen Individualisierungs- und Pluralisierungsprozessen genauso wie von einer zunehmenden Mobilität mitsamt einer insgesamt ansteigenden Migration (Münz 1998). Man lebt in ihr und lebt mit ihr. Man hat seinen Pfad gefunden, dem man routiniert folgt. Erst wenn man das Quartier wechselt, erkennt man Ungewohntes, bemerkt Differenzen und muss sich überlegen, was sie für einen bedeuten und wie man mit ihnen umgeht, bis man wieder alles in den Griff bekommt und alles wieder in ganz normale Routine mündet. Allerdings, wenn die Routine Brüche und Verwerfungen identifizierbar macht, so geschieht das nicht aus Gründen der Einsicht oder Kritik, sondern weil etwas aus der Reihe tanzt und damit den Dauerablauf des Alltags gefährdet. Die Routine enthält also schon normative Implikationen, aber eben nur pragmatischer Art. Wenn man zum Bei73
spiel gewohnt ist, dass (wie später im Ehrenfeld-Beispiel gezeigt wird) die Generation Gastarbeiter vor allem deshalb nützlich ist, weil sie unterschichtet wurde, so zeigt sich, dass die Routine nicht vor Ungerechtigkeit bewahrt. Die Routine zielt also nicht auf Toleranz, es geht nur darum, „miteinander auszukommen“. Das Auskommen gerinnt im modernen Alltag zu Toleranz nur dann und nur so lange, wie es praktisch ist. Etwas pragmatischer formuliert kann man sagen: „Die schwachen Bindungen sind die eigentliche Stärke“ dieser Form des Zusammenlebens (Steffen u.a. 2004:2f). Damit ist ein erster Hinweis darauf, wie man heute den urbanen Alltag managen kann, gewonnen. Diese pragmatisch ausgerichtete Routine ist also notwendig, aber nicht in jedem Fall hinreichend. Schauen wir aber noch einmal genauer hin, so wird deutlich, wie notwendig eine solche Routine ist. Noch sieht es so aus, als sei der Alltag stets gleich gelagert, als gäbe es gewissermaßen nur eine Routine, nur eine Version der Entproblematisierung des Alltags. Hinter der Routine verbirgt sich jedoch noch mehr, nämlich eine sehr ausgefeilte soziale Strategie. Es ist eine Strategie, die man sicherlich überall braucht. Aber in der modernen Stadt, die sich sehr stark ausdifferenziert hat, die zunehmend von Mobilität gekennzeichnet ist, wo die Verweildauer immer kürzer wird, wo die modernen Verkehrssysteme einen schnellen Ortswechsel ermöglichen, wo sich Quartiere modernisieren, in einer solchen Situation muss man seine Routine immer häufiger neu austarieren. Routine wird zu einer virtuosen Leistung. Und es wird noch spannender, weil man mit Hilfe der Routine zwischen den verschiedensten Situationen und zu ihnen passenden Rollen jonglieren muss. Mal ist man Kunde beim Bäcker, mal Kollege am Arbeitsplatz, mal Gast bei Freunden, mal Mitglied in einem Verein, mal Berater, wenn sich der Nachbar einen neuen Computer anschafft, mal Radfahrer, der die Ampeln bei Rot überquert und mal Autofahrer, der sich über die zügellosen Radfahrer ärgert. In der vorliegenden Untersuchung werden zahlreiche Situationen erwähnt, in denen die Routine das Zusammenleben qua Entproblematisierung fundiert. Mit anderen Worten, die hier beschriebene Entproblematisierung arbeitet auf verschiedenen Gleisen. Sie arbeitet kontextspezifisch. Die Routine des Alltags verläuft in einer Institution anders als unter Freunden. In die Routine gehen alle die Routine leitenden Orientierungen ein. Sie definieren, was in einer bestimmten Situation zu entproblematisieren ist und was nicht. Oder anders formuliert: Der Dauerablauf des Alltags ist nur gesichert, wenn die situationsspezifischen Anforderungen und Situationsdefinitionen exakt berücksichtigt werden. Zu Recht spricht Goffman von einer Situationszentrierung (vgl. Goffman 1973:17ff). Das hat Folgen für das, was jeweils entproblematisiert und genauso für das, was jeweils sichtbar gemacht und eventuell sogar skandalisiert wird. Als Autofahrer fließt man im Verkehrsstrom mit, solange die Regeln des Rechtsver74
kehrs usw. beachtet werden. Der urbane Radfahrer wird den auf dem Radweg entgegenkommenden Radfahrer kaum registrieren, solange er einer kaum erklärlichen Gewohnheit gemäß links fährt. Erst der Fahrradpolizist wird sich quer stellen, weil er nicht als Radfahrer, sondern als Mitglied eines Kontrollsystems auftritt, in dem eine andere Routine gilt. Damit sind wir in der Lage, noch ein zweites Element für ein Alltagskonzept zu formulieren. Der durch die Routine vorerst gesicherte Alltag stellt keine abstrakte Orientierung her und folgt keinen externen Standards, sondern erscheint, je nach Situation, kontexttypisch zentriert. Die Sicherung des Zusammenlebens durch Routine geschieht nicht wertorientiert, sondern kontextspezifisch. Wenn sich in die Routine eine erhebliche Ungleichheit „eingeschlichen“ hat, dann läuft sie solange routiniert mit, bis jemand sich dagegen wehrt. Rückt etwas in den Blick, dann weniger deshalb, weil es im Sinn der Routine unerwartet ist, sondern eher in dem Sinn, dass es sich der Routinierbarkeit entzieht, sich nicht in die Situationsdefinition einfügt. Die Routine wird fraglich, wenn sich etwas nicht sozial reimt, sich nicht zur richtigen Zeit und nicht an der richtigen Stelle, also nicht in die entsprechende Situation und damit nicht in den Aufbau des urbanen Zusammenlebens einfügt. Edmund Leach (1978:71ff) drückt es sehr anschaulich aus, wenn er schreibt, dass „Dreck nichts anderes als Sand im Wohnzimmer“ sei. Ob der Sand „wirklich“ dreckig macht, bleibt im Kontext der Alltagsroutine erst einmal offen und müsste erst eigens in den Blick gerückt werden, was freilich spätestens dann der Fall ist, wenn einer, der beteiligt ist, nicht mehr „mitspielt“. Spätestens in den Augenblicken, in denen die Routine auf die eine oder andere Weise fraglich wird, zeigt sich, dass sie zwar eine notwendige Technik des Zusammenlebens ist, dass sie aber nicht hinreichend ist. Hier ist zunächst einmal eine ganz spezifische Fähigkeit gefragt, nämlich die praktische Vernunft. Man kann sie als den Kern der Alltagspraxis auffassen. Genauso hat sie schon Marshall Sahlins definiertet (Sahlins 1994:299). Und nehmen die Augenblicke, in denen die Routine fraglich wird, heute nicht zu? In diesen Fällen, wird sich zeigen, reicht eine derartige praktische Vernunft nicht mehr aus. Zunächst geht es freilich darum zu klären, inwieweit tatsächlich die Routine zunehmend herausgefordert wird. Dabei wäre auch zu prüfen, inwiefern die praktische Vernunft ggf. zunehmend gefragt, vielleicht aber auch überfragt ist. Dazu ist ein Blick auf den Übergang zur Postmoderne erforderlich.
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2.1.4 Es bleibt zu prüfen, ob im Übergang zur Postmoderne die Herausforderungen zunehmen Nach diesen Überlegungen sollte es möglich werden zu identifizieren, was im Rahmen des Übergangs zur Postmoderne an wirklich neuen Herausforderungen erkennbar ist und ob die im Augenblick sehr aufgeregte Diskussion über „Integration“ tatsächlich aus gesellschaftlicher Sicht berechtigt ist. Inwieweit wird die Routine des Alltagslebens durchbrochen, inwiefern muss das Zusammenleben unter diesem Vorzeichen tatsächlich noch einmal neu durchdacht werden? Die Vermutung liegt nahe, dass die aktuelle Integrationsdebatte weniger gesellschaftlich als vielmehr politisch begründet ist, also letztlich weniger mit Mobilität als mit den Besonderheiten des politischen Diskurses im Land zu tun hat. Aber gehen wir weiter schrittweise vor. Der Ausgangspunkt ist nicht mehr die von althergebrachter Mobilität geprägte Position – eine Situation, in der der Migrant mehr oder weniger schnell ankommt –, aber anderseits auch nicht die vollständig individualisierte Postmoderne, – eine Situation, in der man letzten Endes nicht mehr ankommt, also sich allenfalls noch punktuell verankernd virtuell orientiert, sondern speziell der Übergang der Moderne zur Postmoderne. Es geht um die Augenblicke, in denen man versucht, angesichts einer schrittweise entgrenzenden Mobilität die gewohnten Formen des Zusammenlebens neu zu justieren bzw. sich neue Formen des Zusammenlebens zu erschließen (Lanz 2007:333f). Es sind zwei dem Übergang in die Postmoderne geschuldete Impulse, die eventuell ein „Nachjustieren“ der praktischen Vernunft erforderlich machen: ein zunehmender Individualisierungsund ein damit einhergehender Mobilisierungsdruck. a)
Zum zunehmenden Individualisierungsdruck
Wer sich mit dem Alltag in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften Europas befasst, der wird schnell feststellen, dass sich in der letzten Zeit überall die Spielregeln mehr und mehr verändert haben. Immer mehr Menschen gehen davon aus, dass man sich vorwiegend an seinem eigenen Leben, den eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten orientieren muss, wenn man sich in der Gesellschaft erfolgreich platzieren will. Man muss die Dinge selbst in die Hand nehmen und kann sich nicht mehr auf überkommene Regeln, Konzepte und Institutionen verlassen. Diese Erfahrung reflektiert – ganz knapp formuliert – ein zentrales Moment im Übergang von der Moderne zur Postmoderne. In der Moderne rechnete man noch mit einer wohlorganisierten, zunehmend rationaleren, sozialeren, gebildeteren und komfortableren gesellschaftlichen 76
Entwicklung, bei der das, was im Grunde schon mit dem Projekt der Aufklärung versprochen wurde, endlich zum Zuge kommen sollte. In der beginnenden Postmoderne scheint man diese Erwartung weitgehend aufgegeben zu haben. Zunächst ist man mit Begriffen wie Entwicklung, Modernisierung und entsprechenden Derivaten wie Entwicklungshilfe usw. vorsichtiger geworden, dann hat man sich mit Begriffen wie nachhaltige Entwicklung zu begnügen begonnen. Unterdessen ist auch diese Illusion verflogen und es wird zunehmend von Differenzierung, Komplexitätszunahme und allenfalls im Bereich der Technologien von Fortschritten geredet. Die am nationalen Wohlergehen orientierten Vorstellungen beginnen sich zu verflüchtigen, und man fühlt sich zunehmend auf sich selbst als Einzelnen „zurückgeworfen“. Zunächst sah es wohl nur so aus, als ob die Erwartungen der Moderne schlicht überzogen seien und man einfach etwas mehr Geduld haben müsse. Dann glaubte man, man sei in der globalisierten Weltgesellschaft als fortgeschrittene Industriegesellschaft bloß zu weit „vorgeprescht“ und müsse jetzt erst einmal einen Gang zurückschalten, um den anderen, weniger entwickelten Ländern auch eine Chance zu geben. Allmählich wird jedoch deutlich, dass wir es längst mit einer ganz anderen Entwicklung zu tun haben. Es geht schon lange nicht mehr um eine an alten Orientierungsmustern ausgerichtete national-gesellschaftliche Modernisierung, sondern um eine weitgehend neuartige Entwicklung, die sich lange unter dem Vorzeichen der „Individualisierung“ angebahnt hat, heute jedoch im Rahmen der Globalisierung demonstrativ in den Vordergrund tritt: Indem man auf sich selbst zurückgeworfen wird, wird der globale Horizont mit der Vielzahl seiner Milieudiskurse zum neuen Bezugshorizont. Wir haben es in der beginnenden Postmoderne fraglos mit einem erheblichen Individualisierungsdruck zu tun, der der urbanen Gesellschaft eine neue transnationale Dimension verleiht, die von entsprechend breit differenziert und umfassend ausgerichteten politischen, ökonomischen und kulturellen Praktiken begleitet wird. Man kann diese urbane Globalgesellschaft vielleicht noch genauer als eine metropolitane, d.h. als eine um die großen städtischen Zentren herum gruppierte und von dort bis in die entferntesten Regionen prägende Gesellschaft beschreiben. Sie ist, was mir typisch für den Übergang scheint, binär zentriert: gleichermaßen auf lokale urbane Realität und globale Weite fokussiert. b)
Zum zunehmenden Mobilisierungsdruck
Und zusätzlich – wenn auch nicht zufällig – tritt im Kontext von lokaler Urbanität und Globalität noch ein weiterer Impuls hinzu, ein immer ausgeprägterer Mobilisierungsdruck. Vor allem zwei Prozesse geraten in den Vordergrund, eine 77
verstärkte praktische Mobilität einerseits und eine von den neuen Medien gestützte informationelle Mobilität andererseits. Vor diesem Hintergrund gerät das urbane Zusammenleben zu einer zwar keineswegs neuen, aber doch allmählich unübersehbaren zentralen Herausforderung: Wie lässt sich das Zusammenleben noch organisieren, wenn keine Gelegenheit bzw. Zeit mehr bleibt, sich mit den entsprechenden überkommenen Orientierungen vertraut zu machen, sondern man sich ad hoc individuell geeignete Orientierungen beschaffen und oft genug dann auch noch selbst zusammenbasteln muss? Der Mobilisierungsdruck zwingt zur Globalisierung des Orientierungshorizonts, zu einer eher unfreiwilligen Ausdehnung des Orientierungsvermögens und zu immer neuen Kompromissen zwischen Lokalität und Globalität. Sind die Menschen davon nicht überfordert? Driften sie, wie das Richard Sennet (Sennet, Richter 2008) immer wieder beschreibt, dann letztlich nicht immer weiter auseinander und wird das Alltagsleben nicht allmählich problematisch? Und was bedeutet es, wenn Mobilität in den unterschiedlichsten Formen praktisch immer massiver zunimmt und die neuen Medien auch noch die Kommunikation grenzenlos ausweiten? So dramatisch jedoch der Mobilisierungsdruck auf den ersten Blick aussieht, in biographischen Analysen beispielsweise stellen sich die Dinge längst nicht so dramatisch dar. Es geht nicht um etwas wirklich Neues, sondern um die Verstärkung eines sich seit langem anbahnenden Trends, der sich nicht überall gleich intensiv, oft ungleichzeitig, mal den einen, mal den anderen mehr betreffend vollzieht. Mal sind die Einwanderer, mal sind die Einheimischen stärker betroffen. Der Mobilisierungsdruck bringt Bewegung in eine sich nach wie vor gemächlich beschleunigende Gesellschaft. Vordergründig betrachtet ist klar, dass es sich dabei zunächst um eine ganz alltägliche und längst wohlvertraute Herausforderung handelt, weil wir diesen Weg seit langem fraglos gehen. Wir befinden uns längst im Übergang zur Postmoderne. Die hier markierten Prozesse sind keineswegs so plötzlich aufgetreten, wie das mancher meinen mag. Wer die aktuellen Debatten verfolgt, bekommt zwar den Eindruck, als ob man vor allem in Deutschland erst reichlich spät begriffen hat, dass sich die Gesellschaft längst erheblich gewandelt hat. Man scheint beinahe überrascht vom Auftreten und den Auswirkungen einer neuen praktischen „Mobilität“ (einer forcierten Migration) und den Effekten medialer „Mobilität“ (den neuen Medien) und sieht sich mit einem Individualisierungsschub konfrontiert, den man als beinahe völlig neue und unbekannte Herausforderung empfindet. Bezieht man den gesellschaftsgeschichtlichen Hintergrund mit ein, wird auch deutlich, dass sich die markierten Prozesse letztlich alle schon seit der Industrialisierung angebahnt haben und die heutige Urbanisierung und deren zunehmende Globalisierung Teil der Wirkungsgeschichte jener Entwicklung sind. 78
Da hat sich eine Entwicklung über Generationen hinweg im Alltag schrittweise mal deutlicher, mal weniger deutlich manifestiert. Letztlich blieb in der Regel eben doch genug Zeit, sich mit Hilfe der praktischen Vernunft neu zu arrangieren. Vielleicht wird dieser Vorgang erst jetzt bewusst, weil sich die Voraussetzung für die Entwicklung, nämlich die Industrialisierung, verlagert hat. Die aktuelle Entindustrialisierung rückt die Industrialisierung und ihre Folgen in einer fast paradoxen Weise ins Blickfeld. c)
Neue Herausforderungen
Die hohe Individualisierung einerseits und die massive Mobilität und informationelle Globalisierung andererseits sind insoweit etwas, was wenig überraschen kann. Sie basieren auf längst vertrauten Vorgängen, die sich heute allenfalls wechselseitig verstärkend mehr ins Blickfeld rücken. Die Herausforderungen sind im Prinzip alt, was nicht bedeutet, dass der Umgang mit ihnen immer geglückt ist. Überraschend ist eher, wie wenig man bislang die in diesem Kontext erworbenen Kompetenzen und Umgangsweisen würdigt. Denn das ist ja eine Voraussetzung dafür, die verbliebenen und auch die neu aufbrechenden Verwerfungen und Herausforderungen einzukreisen und effektiv zu bearbeiten. Es liegt nahe zu vermuten, dass man, wenn man diese Entwicklung auch lange vernachlässigt hat, sie nicht mehr ignorieren kann und man sich wenn nicht überrumpelt, so doch zumindest provoziert fühlt. Ein wenig überpointiert spricht Ulrich Beck vom Zwang zur Aufklärung (Beck 2007:94ff). Aber bewirkt das automatisch ein Mehr an Einsicht? Überall, wo öffentlich politisiert wird, in den Medien, auf den Plätzen, in den Fußballstadien, in den Bezirksparlamenten, schwankt die Debatte noch immer zwischen der Anerkennung der eigenen alltäglichen Erfahrung mit urbaner Vielfalt und einer öffentlich geübten Skandalisierung des Allochthonen. Alles, was mit Kriminalität, Gewalt, Sexismus oder Patriarchat zu tun hat, wird nach wie vor zumeist dem Anderen zugeschrieben, wobei sehr schnell der „Rest der Welt“ zu einer einzigen vormodernen Ethnizität, Religion, Kultur, zu einem einzigen vormodernen Lebensstil „geschrumpft“ wird, obwohl andere Länder in vielen Bereichen der Gesellschaft (Wachstum, Bildung, Wissenschaft, sprachliche Vielfalt) durchaus erfolgreicher sind. Die über Jahrzehnte hinweg betriebene Skandalisierung der Migration, wie sie beispielsweise über 10 Jahre von der CDU in Hessen mit Roland Koch als Regierungschef betrieben wurde, ist dafür ein besonders plastisches Beispiel. Dabei hat man sich vorzugsweise der Kombination von Jugend- und „Ausländer“Kriminalität bedient, um den „Ausländer“-Jugendlichen per se zum Kriminellen zu stempeln. Ironischer Weise ist ausgerechnet die Jugendkriminalität der auto79
chthonen Bevölkerung in dieser Zeit – also der Regierungszeit Roland Kochs – um 35 % gestiegen, während die der nichtdeutschen Jugendlichen gleichzeitig gesunken ist. Solche normativen Debatten zeigen nicht viel an Einsicht. Sie orientierten sich vielmehr an den überholten nationalen Erzählungen, die zu populistischen Wahlkampferzählungen herunter gebrochen, aber auch sonst bei jeder sich bietenden Gelegenheit vorgetragen werden, beispielsweise anlässlich eines Moscheebaus oder auch nur eines Verkehrsunfalles, wenn das „Fremde“ zum Sündenbock gemacht wird. Tatsächlich sind diese Erzählungen häufig „unterkomplex“ ausgerichtet und folgen familialen bzw. dörflichen Gesellschaftsbildern und Vorstellungen. Es wird immer noch ein Gleichklang von religiösen, herkunftsmäßigen, sprachlichen und hierarchischen Vorstellungen unterstellt. Man rechnet mit Übereinstimmung im sozialen, kulturellen, religiösen, ja physischen Erscheinungsbild. Zugehörigkeiten werden auf der Grundlage von „immer-schon-hiergewesen“ definiert. Und sie ignorieren lebenspraktische Erfahrungen im Umgang mit urbanen, seit langem schon mobilitätsbestimmten Situationen. Sie sehen in den Migranten allenfalls niedere, zu Dienstbarkeit verpflichtete Eindringlinge. Sie reservieren zivilgesellschaftliche Standards für die Alteingesessenen. Die bisherigen Überlegungen zusammengenommen bedeutet das, dass die Frage nach den Wegen in eine postmoderne Gesellschaft zwar alltagspraktisch zu einem guten Teil bearbeitet ist, aber theoretisch und zumal politisch noch nicht verstanden, angemessen interpretiert, geschweige denn bewältigt ist – ja noch mehr, dass der Anschluss an die praktische Entwicklung politisch verpasst wurde und man sich weniger praktisch als vielmehr politisch, d.h. vom Politikversagen provoziert fühlt. Die öffentlichen Debatten sind zumal in Deutschland ganz eindeutig weit (mehr als vierzig Jahre) hinter der praktischen Entwicklung zurückgeblieben, und man ist augenblicklich immer noch darum bemüht, die Jahre der Verleugnung von Migration irgendwie aufzuarbeiten. Erst sehr allmählich werden solche Arbeiten wie die von Klaus J. Bade oder die Bemühungen des Zentrums für Türkeistudien im politischen Diskurs registriert. Und es ist schon erstaunlich, welche Umwege der politische Diskurs hier einschlägt, um so etwas wie Anschluss an die Wirklichkeit zu gewinnen. Tatsächlich knüpft man noch einmal an die „gute alte Zeit“ an, als die Generation Gastarbeiter ins Land kam, so als ob in der Zwischenzeit nichts geschehen sei und man diskutiert erst einmal wieder in aller Ruhe „Deutsch als Zweitsprache“, auch wenn es längst eher darum geht, die Reste überkommener Migrantensprachen zu retten. Wir haben es in diesem Fall demnach weniger mit einer alltagspraktischen als vielmehr mit einer politischen Frage zu tun, nämlich der Anerkennung der Leistungen der praktischen Vernunft und der theoretischen Vertiefung der durch die praktische Vernunft bereitgestellten Kompetenzen. Die praktische Vernunft 80
ist sehr viel fortgeschrittener, in ihrer praktischen Leistungsfähigkeit sehr viel weiter als die politische Vernunft (vgl. Sahlins 1994:299).39 Folglich geht es vor allem um gesellschaftspolitische Verständigung – eben darum, wie man diesen Weg nicht nur irgendwie pragmatisch effektiv, sondern auch politisch gezielt und zivilgesellschaftlich qualifiziert gehen kann, wenn man entsprechende „Spielregeln“ weiter ausarbeitet, erfolgreich praktiziert und ggf. auch im Blick auf die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen kritisch bearbeitet. Es käme also darauf an, die theoretische Vernunft im Dienst des Alltags zu mobilisieren und den politischen Diskurs entsprechend einzubeziehen. Das aber setzt voraus, dass man die Leistungen der praktischen Vernunft zunächst einmal würdigt. 2.1.5
Wie die europäische Stadt auf Mobilität reagiert
Ich will an dieser Stelle die ganze Aufmerksamkeit auf die Frage lenken, wie die europäische Stadt auf Mobilität strukturell reagiert. Dazu muss man sich der europäischen Stadt noch etwas genauer zuwenden. Es kommt darauf an, sich die urbane Praxis klar zu machen, also wie urbane Arrangements arbeiten bzw. wie Mobilität und die in diesem Zusammenhang zunehmende Diversität von der Stadt als einem lebenden System verarbeitet wird. a)
Warum es um strukturelle „Akkommodation“40 geht
Es ist lehrreich, zunächst einen Blick auf Ludger Pries (Pries 1998, 2008) zu werfen. Er befasst sich auch mit der Überlegung, wie es eine moderne Gesell39 Mit dem Begriff folge ich wie schon erwähnt der kognitiven Anthropologie (Sahlins 1994:300), die sich gut mit den im Folgenden erläuterten Überlegungen von Piaget verknüpfen lässt. Der von der rational-choice-theory auch in der Migrationsforschung verwendete Vernunftbegriff ist anders ausgerichtet. Er hebt auf eine kalkulierende, Vor- und Nachteile abwägende Rationalität ab. Hier ist dagegen eine lebenspraktische Vernunft gemeint. Hier geht es einfach darum, den Dauerablauf des Alltags auf der Basis von praktischen Erfahrungen und nicht methodisch geleiteten Erwägungen zu sichern (Schmidt 2003). 40 Ich benutze den Begriff hier im Sinn der kognitiven Theorie von Jean Piaget z.B. bei Nucci 2000. Im Sinne Piagets müßte man hier von struktureller „Assimilation und Akkommodation“ sprechen, nämlich der Fähigkeit eines lebenden Systems, sich immer wieder auf seine Umwelt adaptiv einzustellen. Ursprünglich war damit die Entfernungseinstellung des Auges auf einen Gegenstand gemeint. Das lebende System wird sich entsprechend einstellen und sich „akkommodieren“. Ich werde von struktureller Akkommodation sprechen, um die Anpassung der Strukturen an bzw. auf Diversität auszudrücken. Hier handelt also nicht die Person, sondern das System. Es geht dann auch nicht um die Assimilation des Einzelnen an den Alltag, sondern die Assimilation und Akkommodation des urbanen Alltags auf den Einzelnen. Auch den Begriff der Akkommodation übernehme ich also von Jean Piaget (Hatwell, Yvette 2003) und übertrage ihn nur auf komplexe lebende Systeme.
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schaft schafft, mit einer zunehmenden und unterdessen oft schon transnationalen Mobilität umzugehen. Auf den ersten Blick stellt er also durchaus vergleichbare Fragen, wenn er die Möglichkeiten einer Inkorporation von Migranten heute diskutiert. Aber seine Überlegungen führen in eine Sackgasse: Das Problem ist, dass auch er, obwohl er die aktuellen Entwicklungen sorgfältig registriert, weiter an einer binären Sicht der Dinge (Standorttreue und Mobilität) und an deren normativer Zuordnung (Standorttreue als Normalsituation) festhält und sie sogar essentialistisch deutet: Bei zunehmender Mobilität nimmt zwar zunächst einmal die Standorttreue ab. Aber damit wird automatisch die Überlebensfähigkeit der Gesellschaft in Frage gestellt. Nun sei aber der Migrant schon aus Eigeninteresse daran interessiert, sich wieder zentral zu verankern. Deshalb entstehen alsbald neue Formen von Standorttreue. Im Fall des Falles schafft sich der Migrant dann eben einen transnationalen Raum, der dann als ein notgedrungen dezentral verankertes funktionales Äquivalent betrachtet wird. Wenn man allerdings von dem hier inhärenten methodologischen Nationalismus Abstand nimmt und konstruktivistisch argumentiert, dann sehen die Dinge anders aus, weil das, was bislang zu einer bedrohlichem Ausnahme stilisiert wurde, jetzt zu einer ganz gewöhnlichen und allgegenwärtigen Normalsituation wird. Man muss einfach nur realisieren, dass Menschen schon immer virtuell agieren, also alle notwendigen Orientierungsmuster und Deutungsschemata entlang einer Bezugsgruppe bzw. dem, was für jedermann gilt, entwerfen. Wenn das so ist, dann geht es auch bei „transnationalen Migranten“ und ihren virtuellen Räumen nur um eine weitere Variation eines ohnehin stets virtuellen Raumes. Menschen leben schon immer in einem imaginierten und damit mehr oder weniger virtuellen Raum, der sich entsprechend der Bezugsgruppe in einem begrenzt lokalen oder auch in einem globalen Milieu („Möglichkeitsraum” Kesselring 2006:353) verankern lässt. Wenn wir also beobachten, dass oft große Teile der Bevölkerung einer Region mehr oder weniger mobil sind, dann stellt das weniger für die Organisation eines Orientierungsraumes eine wirkliche Herausforderung dar, wenn Netzwerke über Kontinente hinweg genauso wie räumlich nahe verknüpfen, als vielmehr für die verschiedenen nach wie vor lokal-gesellschaftlich verankerten Systeme, die mit einer zunehmenden Fluktuation und schwindender Bodenständigkeit zurecht kommen müssen. So betrachtet stellt sich also eher die Frage, wie es die lokalen Systeme schaffen sich auf eine zunehmende Mobilität und damit verbundene wachsende Diversität einzustellen. Und hier hilft Jean Piaget weiter. Er interpretiert lebende Systeme als Systeme, die einer strukturellen Logik folgend Umweltveränderungen aufnehmen und sich auf diese dann einstellen. Überträgt man dieses Konzept auf die Stadtgesellschaft, so bedeutet das, dass die Stadt als lebendes System Diversität als eine Umwelteigenschaft aufgreift und sich intern darauf strukturell 82
einstellt. Nach einem solchen Verständnis geht es nicht darum, dass sich der Einzelne, um vom System akzeptiert zu werden, anpassen, einfügen, integrieren und schließlich assimilieren muss, sondern er wird respektiert. Es ist das System, das handeln muss, dass die Diversität „lesen“ und zur Kenntnis nehmen muss und sich dann unter Respektierung des Einzelnen neu einzustellen hat. Bei Piaget handelt das System, um die Diversität zu assimilieren und sich anschließend zu akkommodieren – so lange bis das System mit seinen Regelmechanismen wieder voll funktionsfähig ist. Das Ergebnis ist also eine Neueinstellung des Systems, eben eine strukturelle Akkommodation. Hinzu kommt, dass mit dem Begriff der Inkorporation wie selbstverständlich an Institutionen, Staaten usw. gedacht wird. Damit wächst die Gefahr eines methodologischen Nationalismus und man verfehlt die Leistungen des Alltags mit seinen lebenden Systemen. Richtet man den Blick auf den Alltag, so erfasst man die sozialen Prozesse, die den Kern der strukturellen Akkommodation leisten, die alltäglichen sozialen Systeme. Aus gouvernementaler Perspektive wären das informelle Strukturen. Was hier geschieht, kann dann sogar zum Vorbild für offizielle Systeme und Strukturen wie das Bildungssystem, den Markt oder die Politik werden. Ausgerechnet diese beispielhaften informellen Strukturen werden bei Pries ignoriert. Zunächst einmal sollte man also versuchen, zwischen dem unterscheiden zu lernen, was im Alltag längst abgearbeitet („assimiliert“) ist und damit zum festen Handlungsrepertoire und einem entsprechenden Wissensbestand gehört, was sich vielleicht auch „unbemerkt“ und „unreflektiert“, gewohnheitsmäßig eingespielt hat und zu struktureller „Akkommodation“ geführt hat und dem, was demgegenüber noch neu ist. Als Beobachter wird einem freilich zunächst manches zu Bewusstsein kommen, von dem man bei genauerer Nachfrage feststellen wird, dass es längst in den Erfahrungsfundus des Alltags eingegangen ist. Gelegentlich ist es freilich auch umgekehrt. Man findet Dinge vertraut, die für die Menschen vor Ort noch neu sind. Jedenfalls, wenn man diese Dinge geprüft hat, dann kann man sich auf das konzentrieren, was im Alltag noch nicht eingearbeitet wurde, was noch als neu empfunden wird. Und man hat dann durchaus die Chance, sich ganz gezielt mit diesen Phänomenen zu befassen. Vor diesem Hintergrund lässt sich durchaus überlegen, inwieweit in der Postmoderne wirklich besondere und ggf. zusätzliche Aspekte hinzukommen und inwieweit man sich nicht trotz allem auf Erfahrungen stützen kann. Wie weit ist denn nun der Übergang in die Postmoderne praktisch fortgeschritten? Was ist dabei längst bewältigt und was ist tatsächlich neu?
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b)
Zur Leistungsfähigkeit der Stadt als ein lebendes System
Die Leistungsfähigkeit der Stadt als ein lebendes System bzw. die Leistungsfähigkeit der praktischen Vernunft im alltäglichen Arrangement kann ein empirischer Blick in den urbanen Alltag belegen: Ob Köln, Toronto oder Sydney, seit Jahrzehnten gilt, dass 1/3 der Bevölkerung nicht im eigenen Land geboren ist. Und noch mehr Menschen haben eine Migrationsgeschichte, sind also allochthon. Dies wiederum gilt besonders bei den Jugendlichen. Nimmt man diese extrem knappe Beobachtung zum Ausgangspunkt, so zeichnet sich seit langem eine beträchtliche teils nur regionen-, teils auch länderüberschreitende Mobilität ab. Sie ist für den hier skizzierten Übergang in vielerlei Hinsicht ein wichtiger Indikator. Hinter dieser Entwicklung verbergen sich tatsächlich eine ganze Fülle von Prozessen. Augenfällig ist, dass von dieser Mobilität alle fortgeschrittenen Industriegesellschaften trotz unterschiedlichster Mobilitätspolitiken gleichermaßen betroffen sind. Mobilität folgt also sozio-ökonomischen Imperativen, während ausgerechnet politische Maßnahmen relativ folgenlos erscheinen. Nicht ganz so leicht zu erkennen ist, dass sich nationale und transnationale Formen der Mobilität kaum überzeugend trennen lassen. D.h. die moderne Mobilität ist sehr viel komplexer und sehr viel weniger strukturiert, als man das auf den ersten Blick, wenn man nur auf Grenzen achtet, erkennen kann, wie oben schon gezeigt wurde. Eine wichtige Folgerung ist hier, dass der Alltag längst von einer hoch komplexen Mobilität durchdrungen scheint. Es gibt nicht nur Menschen, die sequenziell und solche die seriell mobil sind41. Es gibt auch solche, die mal das eine, mal das andere sind und die sich zugleich mal als sehr immobil und mal als hochmobil betrachten. Die Menschen erscheinen zwangsläufig hoch individualisiert und virtualisert. Das wiederum bedeutet einerseits, dass sich das Alltagsleben insgesamt erheblich „diversifiziert“ haben muss, einfach weil Menschen mit so unterschiedlichen Biographien und Lebensverläufen automatisch sozio-kulturell unterschiedlich auftreten werden (Apitzsch 2001). Und es bedeutet anderseits, dass man sich stärker an virtuellen Welten orientiert, die die Lebensstile und Biographien letztlich speisen. Mit anderen Worten, die Individualisierung der Bevölkerung, die Diversifizierung des Alltags und die Virtualisierung der Orientierungen vollziehen sich schon länger und sind damit schon seit Jahrzehnten zu so etwas wie einem „Normalzustand“ geworden. Was man im Blick auf die Bevölkerung konstatieren und folgern kann, gilt analog auch für die „mediale Mobilität“. Sie hat sich offenkundig mehr oder weniger parallel zur praktischen Mobilität ausdifferen41
Vgl. Teil 1.2
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ziert. Beide Entwicklungen mögen unterschiedliche Ursachen haben, dürften sich aber seit vielen Jahren koordiniert vollziehen und scheinen sich heute sogar wechselseitig noch einmal zu verstärken, was häufig übersehen wird, weil in der Regel immer nur die eine der beiden Seiten betrachtet wird. Jedenfalls kann man sagen, weder die praktische noch die mediale Mobilität sowie die damit verknüpfte Individualisierung einerseits und die Ausdifferenzierung virtueller Welten anderseits stellen tatsächlich in ihrem Zusammenspiel völlig neuartige Herausforderungen dar, sondern sind offenbar längst dabei sich zu veralltäglichen und sind teilweise auch schon länger ein fester Bestandteil der alltäglichen Routine, ja sind seit dem Übergang in die Postmoderne zu einer zentralen Eigenschaft des Alltags avanciert. Mit anderen Worten, die Menschen bleiben trotz aller Individualisierung, Diversifizierung und Virtualisierung anschlussfähig. c)
Zu den Orten der Akkommodation auf Diversität
Sicherlich kann man eine derartige alltägliche Routine im Umgang mit Diversität nicht in allen Bereichen der metropolitanen Gesellschaften beobachten, weniger, weil dem Beobachter der Zugang verwehrt ist als vielmehr, weil diese Reaktionsweisen tatsächlich an manchen Orten weniger ausgeprägt sind. Man wird sie vorzugsweise dort beobachten können, wo die Diversifizierung des Alltags aus welchen Gründen auch immer gelebt und oft schon aus pragmatischen Gründen auch zugelassen wird, in jedem Fall weit „unterhalb“ der politischen Debatten. Aber auch in diesem Kontext sind Einschränkungen zu machen. Man wird sie weniger beobachten, wo eine gewisse Segmentierung oder eine mehr oder weniger vollständige Segregation herrschen. Und überhaupt nicht sind solche Reaktionsweisen zu erwarten, wo ganz gezielt sozio-kulturelle Inseln eingerichtet werden (gated cities, gated communities), wo eine extreme Binnenhomogenität herrschten. Und sie ist auch nicht zu erwarten, wo eine einseitig ausgerichtete Stadterneuerung („City als Erlebniszone“) voneinander getrennte sozio-kulturelle Sphären bzw. Cluster provoziert. Allerdings stellt sich bei genauerer Betrachtung dann doch heraus, dass selbst in solchen Bereichen des urbanen Lebens die Individualisierung und Diversifizierung fortschreitet, und selbst unter dem Deckmantel einer ausdrücklich gewünschten Binnenhomogenität soziale, kulturelle oder genderspezifische Diversität Einzug hält. Hinzu kommt, dass man sich ja in der Regel auch nicht vollständig auf solche „rein“ gehaltenen Quartiere oder Cluster beschränken kann, sondern sich immer auch in anderen Milieus bewegen muss. Auf der anderen Seite finden sich aber auch viele Quartiere, die schon lange extrem diversifiziert sind und längst Diversität strukturell assimiliert haben und sich zumindest informell darauf erfolgreich eingestellt haben. Sie 85
finden sich besonders ausgeprägt in überkommenen zentrumsnahen oder direkt zentralen Zonen der Stadtgesellschaft. Die Entwicklung geht trotz aller Bemühungen um Binnenhomogenität Richtung Diversität. Häufig wird sie sogar explizit angestrebt, weil sich gezeigt hat, wie viel erfolgreicher ein diversifizierter Alltag ist. Dies gilt selbst in traditionell homogen ausgerichteten Wohnbereichen, wie z.B. die Entstehung von Mehrgenerationenhäusern belegt. Anders herum betrachtet: Besonders typisch sind hier jedenfalls schon immer die alten urbanen Zentren und hier insbesondere die gewachsenen Handels-, Hafen- und Bahnhofsquartiere. Im folgenden Abschnitt (2.2.2) wird dazu ein Kölner Beispiel genauer dargestellt. Neben diesen urbanen Zentren, die wegen ihrer Funktion eine besondere Funktions- und Bevölkerungsvielfalt aufweisen, gibt es noch einen weiteren Quartiertyp, der in vielerlei Hinsicht vergleichbare Eigenschaften aufweist, nämlich die im 19. Jahrhundert entstandenen Neustädte. Dazu zählt der oben bereits zitierte Kölner Stadtteil Ehrenfeld. Im folgenden Abschnitt wird allerdings nicht mehr auf Ehrenfeld, sondern auf einen anderen Stadtteil und hier auf ein spezifisches Quartier, nämlich die Keupstraße in Mülheim Bezug genommen (2.2.3).42 In anderen Städten sieht es durchaus ähnlich aus. Man könnte genauso auch Berlin-Prenzlauer Berg (Lanz 2007) oder Berlin-Kreuzberg (Adam 2005) anführen, in Frankfurt den Gallus (Römhild, Bergmann, 2003), in Tübingen das sanierte Franzosenviertel (Feldkeller 2001, Steffen 2004:74f.), in Bern das Nordquartier (Stienen 2006) oder in Wien das Nordbahnviertel (Klein, Glaser 2006). Auch global gibt es viele Beispiele. Man denke etwa an Städte wie Toronto (Ipsen 2005). Yildiz und Mattausch haben eine ganze Reihe von Beispielen dazu gesammelt und vorgestellt (Yildiz, Mattausch 2009). Dies alles sind Belege dafür, dass sich im Lauf der Jahrhunderte überall „zwangsweise“, d.h. aus Gründen praktischer Vernunft solide Formen eines Diversitäts-Arrangements entwickelt haben, die am besten vor dem Hintergrund einer „sozialen Grammatik urbanen Zusammenlebens“ interpretiert werden können. Auf diese Quartiere gehe ich zum Teil noch einmal genauer ein. d)
Wenn aus informeller Akkommodation strukturelle Akkommodation wird
Wie im Detail noch zu zeigen sein wird, bilden urbane Quartiere häufig zunächst informelle und je nachdem erst sehr viel später formelle Systeme aus. Die Notwendigkeit, das Zusammenleben zu organisieren und Handel und Gewerbe zu ordnen, lassen lokale Traditionen entstehen, die sich allmählich zu Gewohnheits42
Ehrenfeld und die Keupstraße werden uns später noch einmal beschäftigen, wo es um die Auswirkungen „nationaler Erzählungen“ geht (Teil 3).
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rechten verfestigen und am Ende den Charakter ungeschriebener Gesetze annehmen. Im Grunde handelt es sich um nichts anderes als verstetigte Erwartungen. Auch wenn die damit hervorgebrachten Strukturen noch informeller Art sein mögen, sie ermöglichen bereits, wie das schon Georg Simmel beschrieben hat, Situationen formal zu handhaben. Der einzelne lernt, sich wohlwollend, aber klar distanziert-zurückhaltend zu verhalten. Es ist letztlich ein Gebot der praktischen Vernunft, dass man voneinander Abstand hält und so jeder jedem fremd begegnen kann. Man bemüht sich einerseits um Effektivität, andererseits aber um Distanz und verhält sich dort gegenüber persönlichen Eigenschaften weitgehend distanziert. Und im Konfliktfall erwartet man, dass ein seinerseits längst gewohnheitsmäßig verstetigtes und austariertes, also informelles „Diversitätsmanagement“ greift. Heinrich Böll hat so eine Situation am Beispiel eines Kölner Quartiers plastisch und überzeugend dokumentiert und sehr treffend mit nur wenigen Sätzen beschrieben (Chargesheimer, Böll 1998). „(...) Jahrhunderte lang oft wohnen ganze Sippen in Straßen wie dieser, verbergen ihren Reichtum, verbergen ihre Armut, pflegen ihre Kranken, ihre Krüppel in immer derselben Wohnung. Fremde werden aufgenommen, mögen sie Stanislaus, John oder Luigi heißen, Jan oder Sven; es gibt nur eine einzige Münze für Haben und für Soll: Treue und die Anerkennung der Gesetze, die niederzuschreiben unmöglich wäre, deren Größe und Härte in ihrer Ungeschriebenheit besteht(...)“
Auf informeller Ebene werden formale Strukturen etabliert, die zum Vorbild für formale Systeme in der Stadtgesellschaft werden. Im Grunde beschreibt er hier die Leistungsfähigkeit des informellen Sektors einer durch Mobilität und Diversität geprägten Gesellschaft. Vielfalt und Mobilität sind im informellen Sektor solcher Quartiere und Lokalgesellschaften fast immer strukturell akkommodiert. Nur die offizielle Politik wollte und will es bis heute nicht wahr haben. Unterdessen beginnt man allerdings umzudenken. Ein besonders plastisches tatsächlich kommunalpolitisch gewolltes Beispiel findet sich bei Andreas Feldkeller (Feldkeller 2001). In solchen Quartieren ist überall eine ausgeprägte Routine, die Routine eines distanzierten Umgangs ausgebildet, hinter deren „Schleier“ man tatsächlich bis heute hoch different leben kann. „Unterhalb“, „jenseits“ der Routine kann man im kleinen Kreis der Familie oder der Freunde oder des Milieus, seiner Community oder der „Diaspora“ seinen besonderen Lebensstil ausbilden und pflegen. Hier im persönlichen Rahmen entwickelt sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl („soziale Identität“), das aber dementsprechend nicht mehr territorial, 87
sondern kognitiv, also im Bewusstsein des Einzelnen erzeugt, hier kommunikativ bis medial gefüllt, in kleinen Wir-Gruppen unter Familienangehörigen, im Kreis von Bekanntschaften usw. ausgehandelt und ggf. sogar mitgenommen und transnational praktiziert werden kann. Im Ergebnis begnügt man sich damit, den Anschluss an andere Segmente von Gesellschaft formal zu sichern. Jedes individuell relevante Zusammenleben wird aus den formalen Bereichen herausgehalten und in dem kleinen Kreis der Wir-Gruppe konzentriert. Damit erfährt dieser Sektor eine individuelle Aufwertung, die angesichts der zunehmenden Individualisierung nicht einfach auszufüllen ist. Aber das ist noch nicht alles. Wir wissen, dass eine solche gesellschaftliche Konstruktion zwar praktisch einleuchten mag, aber auch gewollt, bedacht und theoretisch gepflegt werden muss. Auch hier gibt es bereits seit langem Erfahrungen: Gerade im Übergang zur Postmoderne sind schon heute mehr Menschen denn je jenseits formaler Verpflichtungen und des privaten Lebenszusammenhanges gesellschaftlich engagiert. Wir leben tatsächlich im Zeitalter gesellschaftlicher Partizipation. Dies gilt nicht nur für das Ehrenamt, es gilt vor allem für die vielfältigen Initiativen und Bewegungen, die unterhalb bzw. jenseits der Politik politisch aktiv werden. Die einen sprechen von einer irregulären Integrationspolitik (Stienen 2006:455), die anderen von verkannter Integration (Manniz 2006:107ff). Ausgereift ist diese Tendenz noch nicht. Aber eine Zivilgesellschaft braucht noch mehr Engagement und vor allem auch eine entsprechend praktisch fundierte, also von unten nach oben transportierte politische Vernunft, die sich nicht irgendeinem ordnungspolizeilichen Integrationsregime, sondern einem wohl verstandenen Diversitätsmanagement verpflichtet sieht. Zu Recht verweist Häusermann auf die Stadt als politisches Ensemble und skizziert eine „New Urban Governance“ (Häußermann 2006:124), nach der gezielt die gesamte Bevölkerung als aktive Subjekte einbezogen wird. Man sollte sich klar darüber sein, dass diese Orte eines erfolgreichen Arrangements nicht die ganze Wahrheit darstellen. In den am Reißbrett entstanden Städten sieht es oft anders aus. In solchen aus rein technokratisch-kommerziellen Motiven hervorgebrachten Quartieren hat die praktische Vernunft kaum eine Chance. In diesen politisch erzeugten, segregierten und funktional verarmten Quartieren (zu denken ist hier vor allem an die überall in Europa verbreiteten Plattenbausiedlungen, Banlieus, Vorstädte usw.) bedarf es extremer Anstrengungen, die selbst dann, wenn man sich dazu bereit findet, scheitern, weil man sich über die fehlerhaften Weichenstellungen in der Regel nicht klar ist.
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2.1.6 Zu den „grammatischen Bedingungen“ urbanen Zusammenlebens und zur strukturellen "Akkommodation" von Diversität Die Orte eines erfolgreichen Arrangements – die seit langer Zeit von sozialer, kultureller, ökonomischer, religiöser, praktischer wie technischer Diversität geprägten und bis heute immer wieder transformierten, gewissermaßen intrinsisch zur Postmoderne konvertierten Quartiere – sie lehren, wie man in einer individualisierten Gesellschaft mit Mobilität erfolgreich umgehen kann. Mobilität wird von der Stadt bzw. dem Quartier als einem lebenden System strukturell assimiliert und das System selbst akkommodiert sich – hinter dem Rücken dieser formalen Inklusion erhält der Einzelne Spielraum dafür, seinen individuellen Lebensstil zu entwickeln und ihn sozial tragfähig auszugestalten. Das lenkt allemal die Aufmerksamkeit auf die „soziale Grammatik urbanen Zusammenlebens“ und – aus gesellschaftlichen Gründen43 – hier zu allererst auf die formalen Systeme des urbanen Alltags. a)
Zu systemischen Arrangements und zur strukturellen Einstellung auf Diversität44
Der eben markierte distanzierte Umgang miteinander ist, was wenig erstaunen dürfte, nicht nur in den genannten Quartieren, d.h. lebenden sozialen Systemen, sondern analog auch in global agierenden Betrieben mit ihren komplexen ökonomischen Systemen zu beobachten. Dass man das nicht nur in Stadtquartieren, sondern auch in Betrieben findet, hat nicht nur mit deren firmeninterner Mobilität und den spezifischen Rekrutierungsformen zu tun, sondern vor allem auch mit der systemischen Ausrichtungsweise der Produktion. Es ist für solche Betriebe einfach existenznotwendig, einer nach außen praktizierten Globalität we43 Mit der Ausbildung der formalen Strukturen wurde in der Stadtgesellschaft die Umstellung des Zusammenlebens von Verwandtschafts- bzw. Ständesystemen auf nicht nur partiell, sondern umfassend formalisierte Mitgliedschaften möglich. Zugehörig ist seitdem, wer durch Geburt, Zuzug oder andere Regeln in den Genuss des Geltungsbereiches der Stadtgesellschaft kommt. Wenn, wie das in modernen Zivilgesellschaften der Fall ist, die Mitgliedschaft auf Bürgerrechten basiert, ist damit eine erhebliche Formalisierung der Mitgliedschaft erreicht. Aber erst wenn die Mitgliedschaft auf Menschenrechten basieren würde, wäre diese Entwicklung tatsächlich abgeschlossen. Die Folge dieser Entwicklung ist schon heute, dass die individuelle Vielfalt in konstitutiver Hinsicht nicht mehr von Belang ist. Das war denn auch schon die These bei der bereits zitierten Ehrenfeldstudie (Bukow 201). In der weiteren Argumentation wird allerdings die formale Struktur nicht noch einmal auf kommunaler Ebene (im Kontext eines Stadtteils) sondern an auf dem Niveau einer betrieblichen Organisation und vergleichbaren Verwaltungs- und Bildungsinstitutionen, konkreten lebenden Systemen erläutert, weil die Dinge hier deutlich überschaubarer sind. 44 Vgl. dazu die Anmerkung 38.
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nigstens annähernd auch intern gerecht zu werden, sie also auch intern abzubilden. Allmählich ist den Firmen auch deutlich geworden, dass dazu mehr als eine pragmatische Haltung gehört. Die Abbildung der externen gesellschaftlichen Bedingungen in interner Praxis bedarf nicht nur einer pragmatischen Bereitschaft, sondern auch einer reflexiven Orientierung. Erst in diesem Augenblick, wo deutlich wird, dass Pragmatik noch nicht alles ist, treten die mit jeder Neuorientierung verknüpften Schwierigkeiten ins Blickfeld. Dementsprechend werden hierzulande in solchen Betrieben Diversity-Konzepte formuliert, die freilich aus systematischer Perspektive zumeist noch sehr unzureichend erscheinen, weil sie bis heute zu stark vereinfachend arbeiten, also der globalisierten Weltgesellschaft noch nicht ausreichend Rechnung tragen. Am weitesten entwickelt sind hier global agierende Firmen wie SAP aus Walldorf bei Heidelberg. Besonders schwach ausgeprägt ist die Entwicklung in Tendenzbetrieben wie den Kirchen oder Gewerkschaften. Diversität spiegelt sich dort gezielt negativ, weil sie sich ihr, insoweit sie für die Ausrichtung der Einrichtung relevant ist, explizit verweigern. In der evangelischen Diakonie kann niemand eine leitende Funktion ausüben, wenn er katholisch ist (und vice versa); sie wird auch einen deutschen Türken nur einstellen, wenn er zugleich evangelisch ist. Ob man also auf die Betriebe, die ja längst ein lebendes System eigener Provenienz darstellen, oder auf kleinräumige Situationen blickt, wie sie sich vorzugsweise in gemischten Stadtquartieren finden lassen, man entdeckt immer wieder: weder die Betriebe noch die Quartiere sind bei ihrer Gründung auf moderne Diversität hin angelegt gewesen. Vielmehr hat sich diese Entwicklung zu formalen Systemen und Strategien der Inklusion von Diversität eher ungeplant in Reaktion auf Krisen und Konflikte eingespielt – Dank praktischer Vernunft. Bei den Betrieben waren und sind es rein wirtschaftliche Überlegungen, da man auf ein hohes Maß an formaler Neutralität gegenüber der Unterschiedlichkeit, hier vor allem der Kundschaft, angewiesen ist. In den Quartieren war und ist es der Zwang, sich mit einer zunehmenden Mobilität arrangieren zu müssen. Man könnte hier analog auf das Bildungssystem oder lokale Versorgungs- und Infrastruktursysteme bzw. kommunale Verwaltungen eingehen. Sie alle haben formale Strukturen entwickelt und sind längst in der Lage, sich auf den Übergang in die Postmoderne einzustellen. Sowohl die Quartiere als auch die Betriebe und die Behörden und die Infrastruktureinrichtungen sind dort besonders fortgeschritten, wo sie sich ausdrücklich der modernen Mobilität stellen, weil sie entweder direkt durch Mobilität verändert werden oder sich einsichtsvoll der zunehmenden Vielfalt institutionell, personell, kulturell, religiös oder thematisch öffnen. Klar ist auch, dass die praktische Vernunft natürlich nicht ausreicht. Es bedarf in lebenden Systemen auch bewusster Arrangements. Wiederum kann der Moscheebau ein Beispiel dafür 90
sein, wie eine kommunale Verwaltung auf eine zunehmende Diversität vor Ort reagiert. Man vergleiche nur Baugeschichten von Lauingen, Duisburg-Marxloh und Köln-Ehrenfeld.45 Die Verwaltungen haben sich je nach der politischen Stimmung jeweils sehr unterschiedlich verhalten, obwohl es eigentlich immer um das gleiche Anliegen ging. Am schwersten fällt es der praktischen Vernunft offensichtlich, im öffentlichen Sektor und hier nicht nur in den Verwaltungen und Dienstleistungseinrichtungen, sondern auch in dem Bildungssektor Fuß zu fassen. Dies liegt nicht nur an einer in mancherlei Hinsicht ja auch vorteilhaften „natürlichen“ Trägheit von Bürokratie, sondern vor allem auch an ihrer überkommenen nationalstaatlichen Ausrichtung und an ihrer spezifischen „Leitkultur“, die überall dort, wo Verwaltung und Dienstleistungen wie im Bildungssektor oder im politischen System an die Öffentlichkeit treten, besonders schwer wiegt und auch folgenreich ist. Der gesamte öffentliche Sektor ist, wie oben ausgeführt, seit je eben nicht einfach ein Abbild praktizierter gesellschaftlicher Wirklichkeit, sondern auch das keineswegs formal-rationale Resultat nationalstaatlicher Selbstbilder, des oben markierten Kulturprogramms und von dort gezielt abgeleiteter gouvernementaler Maßnahmen (Bukow 2007:215f). Hier wird erst allmählich und unter vielen Mühen der endgültige und unumkehrbare Untergang des Nationalstaats und die gleichzeitig wiederentdeckte und heute sogar noch anwachsende Verschiedenheit der Bevölkerung in den Blick genommen. Ausgerechnet hier scheint man oft noch der Auffassung zu sein, die Bevölkerung habe sich eben einzufügen, natürlich nicht die gesamte Bevölkerung, sondern nur die Teile der Bevölkerung, die vom gouvernemental verordneten Leitbild abweichen. Betrachtet man die Reaktionen auf den gesellschaftlichen Umbruch im formalen Bereich, so erkennt man schnell, dass dort, wo solche formalen Systeme tatsächlich wie formale lebende Systeme agieren, die Schwierigkeiten, Probleme und Verwerfungen deutlich geringer sind. Wo man gelernt hat, sich den wandelnden Bedingungen anzupassen und daraus auch intern die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, gerät die Diversität schnell zu einer Ressource und führt zu produktiven Irritationen. Selbst wenn es noch an der Abstimmung im Detail fehlt, die Richtung ist klar, und verstärkte Mobilität und Diversität wirken eher mobilisierend und motivierend. 45 Die Islamische Kulturstätte in der kleinen oberschwäbischen Stadt Lauingen wurde am 25. August 1993 von Beginn an unter aktiver Mitwirkung der Kommune und der katholischen Kirchengemeinde begründet und am 02. März 1996 eingeweiht. Die Duisburger Merkez-Moschee der „TürkischIslamischen Union der Anstalt für Religion (DI.TI.B) wurde 2004 begonnen, mit Unterstützung der EU, des Landes NRW und der Stadt im Herbst 2008 erfolgreich beendet. Die enge Zusammenarbeit, die dann zu dem „Wunder von Marxloh“ führte, war hier freilich vorausgegangenen Konflikten geschuldet, aus denen man ganz offensichtlich gelernt hatte. Ganz anders verläuft der Bau in Köln, wo das Bauvorhaben von massiven Konflikten begleitet wird.
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Die verschiedenen lebenden Systeme tun sich offenbar unterschiedlich schwer mit der Formalisierung ihrer Aktivitäten. Der öffentliche Sektor46scheint besonders schwerfällig zu sein, was zum guten Teil einer gouvernementalen Realität geschuldet ist, der eine effektive situationsadäquate Steuerung fehlt. In diesem Fall ist also letztlich eine neue Politik gefragt. Die Politik ist wenig willig, den aktuellen Wandel als einen realen Wandel, d.h. als eine gesellschaftliche „Tatsache“ zu akzeptieren (Bukow, Behrens 2008). Geht es um die „Migrantinnen und Migranten in Deutschland“ bzw. darum, Integration in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft praktisch zu denken, so verlangt das, sich generell und ganz bewusst der medialen wie praktischen Mobilität sowie der Individualisierung und Virtualisierung der Orientierung zu stellen, sie als gewandelte Realität zu akzeptieren, formale Bereiche entsprechend wirklich „formal“ zu begreifen und Verschiedenheit entsprechend, eben formal, anzuerkennen, als formale Ressource zu integrieren. Verständigung selbst zielt dann darauf, solche formalen Bereiche intern wie extern auf Heterogenität auszurichten, d.h. das Andere extern und den Anderen intern anzuerkennen, also einfach fair mit Heterogenität umzugehen. Dem stehen aber die oben vorgestellten nationalen Erzählungen deutlich entgegen. Die öffentlichen Debatten wirken hier offenbar kontraproduktiv. b)
Zu lebensweltlichen Arrangements und zur sozialen Integration
Im Kontext des privaten Zusammenlebens kann man eine mehrstufige Reaktion auf den Wandel beobachten. Das liegt daran, dass sich die Individualisierung in Wellen vollzogen hat und erst heute wirklich endgültig zum Ausdruck kommt. Dies hat auch mit der aktuellen Entwicklung zu tun, bei der die Mobilität sowohl in praktischer als auch in medialer Hinsicht eine neue Qualität erreicht hat und sich dabei praktische wie mediale Mobilität auch noch wechselseitig verstärken. Wie schon betont haben sich die Formen des Zusammenlebens nicht erst heute, sondern bereits in den letzten hundert Jahren nachhaltig gewandelt, man braucht nur darauf zu verweisen, dass sich seitdem die Formen der Familie oder privater Netzwerke völlig verändert haben und allenthalben neue „Formate“ entstanden sind. Man kann zum Beispiel davon ausgehen, dass heute in den Städten bereits die Hälfte aller Haushalte Einpersonenhaushalte sind. Wenn man dann noch in Rechnung stellt, dass viele einfach so zusammen wohnen, dann 46 Es ist spannend, wie schwer sich viele Kommunen tun, um nach immerhin 40 Jahren Einwanderung in die Bundesrepublik endlich ein Programm zur Gleichstellung der Allochthonen und ihrer Nachkommen zu erstellen. Städte wie Stuttgart haben vor 11 Jahren ein „Integrationsprogramm“ entwickelt. Städte wie Köln wissen bis heuet noch nicht, was zu tun ist.
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bleiben nicht viele reguläre Familien übrig. Das erzwingt auch ganz andere Umgangsweisen untereinander und hinsichtlich der Kinder. Insgesamt ist die Bedeutung der Sozialisation und Erziehung in diesen Formen des Zusammenlebens zurückgegangen und der wechselseitige Austausch auf gleicher Augenhöhe in den Vordergrund getreten, was Nützlichkeitserwägungen wichtiger macht, die Bedeutung von Netzwerken unterstreicht und die Verweildauer des Einzelnen in bestimmten Sozialformen verkürzt, das Alltagsleben folglich fragiler, ja prekär erscheinen lässt. Damit wird einerseits der Individualisierung verstärkt Rechnung getragen, ihr andererseits aber auch zusätzlich Schub verliehen. In jedem Fall haben viele Orientierungen an Verpflichtung eingebüßt, weil sich die Menschen emanzipieren und weil sie ein verändertes Macht-, Geschlechter- und Zivilverständnis haben. In den letzten fünfzig Jahren haben sich dann die kulturellen und religiösen Orientierungen weiter diversifiziert und man kann sagen, modisch verflüssigt. Zugleich sind neue virtuelle Möglichkeiten der Orientierung entstanden, die dann von immer neuen Modeströmungen, hybriden kulturellen Mustern, einer Vielzahl großer wie kleiner „Spontan-Erzählungen“ angereichert und weiter diversifiziert werden. Dies alles wird nicht mehr face-to-face, sondern durch eine hochdifferenzierte Informationsindustrie sowie durch die neuen Internet-Informationsmedien vermittelt. Auf diese Weise sind neue Netzwerke mit virtuellen Bezugsgruppen samt entsprechenden „Gründungslegenden“ entstanden, die längst so etwas wie eine virtuelle Realität darstellen – eine Realität elektronischer Provenienz, in der man sich mit seinen individuellen Wirklichkeitsbildern tatsächlich heimisch fühlen kann. Manche haben es sogar schon bis zu einer virtuellen Positionierung im „Second Life“ gebracht, wo es dem Einzelnen schließlich ermöglicht wird, sich unabhängig von Herkunft und lokalen Gegebenheiten individuell auf virtueller Ebene zu arrangieren und ein eigenes Verständnis von dem, was man selbst möchte, zu entwerfen. Hier hat sich ein noch unabsehbarer Wandel vollzogen, der quer die Köpfe hindurch, durch Familien und quer durch Kollegien kulturelle Gemeinsamkeiten wie Abgrenzungen hervorbringt. Möglich ist das eben nur, weil man sich höchst individuell arrangieren kann und keinen Rückhalt mehr in lokalen Gegebenheiten suchen muss. Diese Entwicklung scheint im urbanen Zusammenhang weit fortgeschritten und wirkt auch auf eher traditionelle Kreise so attraktiv, dass dies wohl zukünftig zum gesellschaftlichen Standard avancieren dürfte. Heute beobachten wir längst eine global ausgestattete biographische Ausrichtung; zunehmend mehr Menschen lernen sich an ihrer eigenen Biographie auszurichten und auf das, was früher Bezugsgruppen darstellten, nämlich die Berufsgruppe, die Schicht und Klasse, zu verzichten, die damit zu statistischen Größen „schrumpfen“. Aber auch alte biographische Orientierungsmuster, Kar93
riere- und Entwicklungsmuster gerinnen zu bloßen Accessoires des Einzelnen. Neue, global bezogene biographische Entwürfe sind gefragt. Ratgeber werden Mode, die bei der individuellen Platzierung in der Gesellschaft unterstützen. Aber die Karten werden nur neu gemischt, es gibt weiter Gewinner und Verlierer: War früher ein Verlierer, wer aus unteren Schichten stammte, so ist heute ein Verlierer, wer aufgrund ungenügender individueller Ressourcen wie Arbeitsund/oder Ausbildungslosigkeit um seinen Platz in der Gesellschaft fürchten muss. Heute hat der schnell verloren und muss auf jede berufliche, ökonomische, soziale und kulturelle Zukunftsorientierung verzichten, der keine individuellen Ressourcen aufzuweisen hat. Dies macht einmal mehr deutlich, dass sich mit dem Übergang in die Postmoderne die Risiken keineswegs vermindert haben, sondern nur anders verteilt sind und durchaus weitere Risiken generieren, also die Entwicklung keineswegs nur zum Vorteil des Einzelnen gerät. Gerade hier reicht eine pragmatische Einstellung nicht aus, weil Kompetenzen und Ressourcen gefordert sind, die allerdings weniger neu entwickelt als vielmehr besser gepflegt und breiter zugänglich gemacht werden müssen. Individualisierung und Mobilität funktionieren eben nur, wenn sie von einem erheblichen sozial- und kulturpolitischen Aufwand, insbesondere von Bildung begleitet werden. Sonst droht die Prekarisierung. Geht es um die Migrantinnen und Migranten bzw. um die Beteiligung an einer zunehmend individualisierten Gesellschaft, so verlangt das, die individualisierten Formen des Zusammenlebens und ihre Folgen als eine gemeinsame Herausforderung zu begreifen, die fair ausgehandelt werden muss. Die betreffenden neuen biographisch zentrierten Formen der gesellschaftlichen Platzierung müssen verstanden und gegen Desorientierung und Resignation gestärkt werden, Vorhaben im beruflichen, urbanen wie kulturellen Alltag müssen ernst genommen, also auch direkt und zielorientiert unterstützt werden. Und es bedeutet für den Einzelnen, differente Kompetenzen zu entwickeln und als eigenständige Ressourcen zu fördern und Unrechts-, Ausgrenzungs-, Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen als gemeinsame Herausforderung zu kritisieren, anzugehen und zu überwinden. c)
Zum politischen Diskurs und zur diskursiven Einstellung auf Diversität
Dank der über die Jahrhunderte erworbenen Kompetenzen mit einem mobilitätsbasierten urbanen Zusammenleben haben die verschiedenen Bevölkerungsgruppen auch die Fähigkeit entwickelt, mit dieser Mobilität diskursiv umzugehen. In den bisherigen Überlegungen zur sozialen Grammatik des urbanen Zusammenlebens wurde bereits implizit die korrektiv-interventive Bedeutung des politi94
schen Diskurses deutlich. Im Grunde geht es ja heute um die vor allem unter dem Stichwort Zivilgesellschaft diskutierte deliberative Dimension der Gesellschaft, die hier zugleich als die dritte Dimension innerhalb einer Grammatik des Zusammenlebens interpretiert wird. Klar ist außerdem, dass die Herausforderungen, die sich angesichts des Übergangs in die Postmoderne stellen, gerade für eine erfolgreiche systemische Inklusion und die soziale Integration des Einzelnen erheblich gestiegen sind und deshalb von der Zivilgesellschaft mehr denn je erwartet wird. Auch in diesem Zusammenhang ist der Hinweis auf Ulrich Beck wichtig, weil er ja von der Risikogesellschaft her kommend auch auf die Bedeutung dieser Dimension stößt und sie dann in seinen Arbeiten auch immer wieder diskutiert. Ob es Fragen des Zusammenlebens oder ökologische Fragestellungen sind, in jedem Fall muss die Gesellschaft ein erhebliches Reflexionspotential bereitstellen, wie Ulrich Beck das formuliert, „doppelt reflexiv“ werden. Allerdings, nach den kritischen Bemerkungen zu dem immer noch leitenden national imprägnierten „Kulturprogramm“ – wie das im Kontext eines Plädoyers für eine Neupositionierung der gesellschaftpolitischen Diskussion oben ausgeführt wurde – wird man hier zunächst einmal skeptisch sein. Es sieht so aus, als ob die offizielle politische Vernunft nicht so recht Schritt zu halten vermag. Ganz im Sinn von William Fielding Ogburn (1969) kann man hier von einem „cultural lag“ ausgehen47. Was also im Alltag gelingt, was auf informeller Ebene zum Normalfall geworden ist, das ist noch lange nicht in der Öffentlichkeit und im politischen Diskurs angekommen. In den politischen Debatten hat man offenbar den Übergang in die Postmoderne verpasst.48 Sicherlich ist das Alltagsarrangement unter den Bedingungen der Postmoderne komplizierter und anspruchsvoller geworden. Wenn nach dem, was oben notiert wurde, die europäische Stadt insoweit durchaus ein Erfolgsmodell darstellt, dann sieht es offensichtlich anders aus, wenn die politische Vernunft gefragt ist. Die größten Probleme treten danach nicht im Alltagsleben selbst, sondern im Umfeld der öffentlichen Debatten und im politischen Diskurs auf. Die Umstellung auf die Postmoderne lässt sich nicht nach überkommenen Bildern organisieren, zumal nicht solchen Bildern, die auch schon in der Vergangenheit problematisch waren. Die praktische Vernunft stößt hier bislang an Grenzen. Viele politische Experten sehen sich schlicht überfordert und weichen diskursiv nach rechts aus, entwickeln rechtsextreme Aktivitäten. Ohne ihren Platz zu verlassen adaptieren sie rechtes Gedankengut und platzieren es damit automatisch in der Mitte der gesellschaftlichen Selbstinter47 Ogburn hat in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts an der Columbia University (1919–27) die Theorie des cultural lag formuliert “to describe delays in adjustment to invention”. 48 Der Begriff des cultural lag arbeitet mit der Vorstellung einer Phasenverschiebung und unterstellt damit, dass die Deutung zwar richtig sei, nur zu spät komme. Ich möchte jedoch bezweifeln, dass jenes “Kulturprogramm” die Gesellschaft überhaupt jemals korrekt gedeutet hat.
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pretation (Butterwegge 2002:101). Spätestens dies ist aber auch ein Hinweis darauf, dass eigentlich mehr politische Verantwortung bzw. eine kritische theoretische Vernunft gefragt ist. In dieser Situation leistet sich die politische Debatte regelrecht „Retrospektiven“: Statt sich der aktuellen Entwicklung zuzuwenden und hier neue Wege für ein gerechtes und faires Zusammenleben auszuloten, beschäftigt man sich mit der Beschwörung nationalstaatlicher Ideologeme. Oben wurde schon daran erinnert, dass man sich trotz vieler Jahrhunderte Erfahrung mit Einwanderung und Fremdheit, Mobilität und zunehmender Globalisierung den „Luxus“ leistete, über mehrere Generationen hinweg die Fremdheit des Allochthonen zu zelebrieren. Und selbst dort, wo man Zuwanderung als Phänomen zumindest akzeptiert (erstmals im Zuwanderungsgesetz von 2007) kann von einer reflexiven politischen Vernunft kaum die Rede sein. Freilich muss man in Rechnung stellen, dass diese „retrospektive“ bzw. nostalgische Ausrichtung keineswegs bloß aus Überforderung geschehen ist, sondern mitunter auch absichtsvoll und gezielt gemeint ist, dient sie doch auch dazu, die Zuwanderung bevölkerungspolitisch zu kontrollieren und in Richtung Unterschichtung weiterhin dienstbar zu machen. Tatsächlich hat man damit so etwas wie eine „Dritte Welt“ in Europa inszeniert, wie erst neuerdings wieder Untersuchungen über Menschen ohne Papiere im Blick auf einzelne Städte (Bommes, Wilmes 2007), Regionen (Alt, Fodor 2001; PICUM 2005; Pater 2004) bzw. einzelne Tätigkeitsprofile (Lutz 2007) bestätigen können. Die politischen Debatten entsprechen damit in gewisser Weise tatsächlich der Nachfrage nach politischer Vernunft. Was freilich geboten wird, korrespondiert weder mit den Alltagserfahrungen noch mit den Herausforderungen einer postmodernen Übergangsgesellschaft, die von einer zunehmenden Individualisierung und Mobilisierung geprägt ist. Den aktuellen Debatten fehlt einfach die Bereitschaft, nicht nur sich den Herausforderungen der Postmoderne und den Auswirkungen einer globalisierten Weltgesellschaft zu stellen, sondern auch, sich den praktischen Erfordernissen des Alltags zu stellen (Mannitz.2004:299). Die aktuelle politische Ausrichtung agiert also nicht gänzlich ohne Logik und entfaltet unter gewissen Voraussetzungen nicht nur im politischen Zusammenhang durchaus wirkungsvolle Effekte. Man kann – wie schon zitiert – offenbar eine solche Politik dazu nutzen, um bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Allochthonen zum Problem zu stilisieren und damit populistische Gewinne zu machen und einen Sündenbock für alles Schlechte dieser Welt zu haben. Das Resultat ist aus praktischer Sicht im Übrigen nicht nur paradox, sondern in der Tat kontraproduktiv. Und das wird allmählich in seinem ganzen Umfang erkannt: Erstens sind es eine nachhaltige Ethnisierung, eine aggressive Positionierung, nationalistische Ausbrüche, nachlassende Bindungen und zunehmende Passivität, die massive Probleme bereiten. Zweitens gibt es, was erst jetzt wirk96
lich klar wird, sekundäre Effekte, die darin bestehen, dass man sich auf beiden Seiten neu einstellt. Aus der Fremdethnisierung wird Selbstethnisierung, aus einer aggressiven Positionierung des Anderen wird eine aggressive Selbstpositionierung usw., indem man den Anderen in eine Sackgasse manövriert hat, begibt man sich auch selbst hinein. Und dem ist nun nur sehr schwer zu entkommen, obgleich es längst allen klar ist, wie kontraproduktiv eine solche Strategie ist. Die Befunde bleiben mehr als paradox. Einerseits fürchten viele Menschen eine „Überfremdung“ ihres Quartiers, andererseits sind sie selbst Teil der Diversifizierung des Quartiers, wenn sie auch zugezogen sind, global orientiert sind, selbst die lokale Diversität leben. 2.1.7 Zu den Chancen für eine politische Vernunft im Zeitalter des Übergangs, der Transmoderne Es geht demnach nicht darum, ausgerechnet den Allochthonen in seiner Situation besonders tief zu verstehen, sondern Verständnis für seine spezielle Situation zu zeigen, seine Chancen bei uns zu verbessern, um seine Gleichstellung zu erreichen. Es geht überhaupt nicht um ein tieferes Verstehen von ausgewählten Gesellschaftsmitgliedern, sondern es geht darum, die soziale Integration in der Lebenswelt, im bevorzugten Milieu und die strukturelle Akkommodation bzw. – systemtheoretisch formuliert – die systemische Inklusion in alle für das Leben wichtigen formalen Systeme von der Bildung bis zur Arbeit und Infrastruktur angemessen zu praktizieren. Angesichts einer zunehmend individualisierten und mobilisierten Postmoderne ist in dieser Hinsicht mit einem wachsenden Diskussions-, Beratungs- und Steuerungsbedarf zu rechnen. Und es sind entsprechende Folgerungen zu ziehen. Eine „Ausländer“-fixierte Integrationsdebatte jedenfalls geht abgesehen von ihrer überholten nationalistischen Fundierung zwangsläufig in die falsche Richtung weil sie erstens ein wirklich Fremdes im Gegensatz zu einem wirklich Eigenen unterstellt und weil sie damit zweitens das Eigene über das Fremde erhebt. Es kommt stattdessen darauf an, die sich ausbreitende (hybride) Diversität und die damit verbundenen neuen (virtuellen) Repräsentationsformen von gesellschaftlicher Wirklichkeit zu realisieren und in ihrer Relevanz für das Zusammenleben neu zu durchdenken. Wenn hier von einem Mehr an „Steuerungsbedarf“ und einem Mehr an „Durchdenken“ gesprochen wird, so soll damit darauf hingewiesen werden, dass es offenkundig der Entwicklung bzw. Modifizierung entsprechender Mechanismen formaler Inklusion und individueller Gleichberechtigung bedarf. Zur Debatte steht eine Zivilgesellschaft, in der die Spielregeln formaler Zusammenarbeit nicht von wem auch immer erlassen, werden, sondern unter breiter Beteiligung 97
ausgehandelt werden. Gefragt sind erweiterte individuelle Spielräume zur Ausarbeitung persönlicher Lebensstile und Beziehungen sowie einer neu sensibilisierten und respektorientierten politischen Kultur. Die praktische Vernunft, wie sie sich über Jahrhunderte in den sich modernisierenden Stadtgesellschaften ausgebreitet hat und heute weltweit in den urbanen Zentren weiter entfaltet, ist hier nicht das erste Mal erkennbar, aber das erste Mal wirklich. Es bedarf „mehr denn je“ einer wirklich diskursiven, zivilgesellschaftlichen fundierten Reflexion. Die praktischen Erfahrungen belegen, dass wir – um das Bild einmal konstruktiv zu benutzen – tatsächlich alle im gleichen Boot sitzen, ob jemand nun mit eher aktuellem oder eher historischem Mobilitätshintergrund, ob einsprachig oder mehrsprachig ausgerichtet, ob mit einer ausgesprochen traditionellen kulturellen Orientierung oder mit einer „hybriden“ Mischung von kulturellen Moden ausgestattet. Es ist so, wie dies Georg Simmel, einer der klassischen Soziologen, schon vor mehr als hundert Jahren feststellte: In der Stadtgesellschaft haben sich formale Systeme entwickelt, die das Zusammenleben ordnen, ohne dass man sich deshalb persönlich kennen und verstehen muss – im Gegenteil, die Distanz macht das Zusammenleben überhaupt erst möglich. Simmel führt dies prototypisch an der Geldwirtschaft aus, ähnlich wie das sechzig Jahre später prototypisch Niklas Luhmann am Rechtssystem demonstriert. Simmel identifiziert das die Gesellschaft formal zusammen haltende System als ein geldwirtschaftsbasiertes Zusammenspiel. Er bezieht aber auch von Fall zu Fall weitere formale Strukturen mit ein, so beschreibt er die Auswirkungen der Geldwirtschaft auf die Gesamtgesellschaft und macht beispielsweise darauf aufmerksam, dass in der Armutspflege (wir würden heute sagen, im „sozialen System“) alle formal gleiche Rechte haben und dass der Arme nicht mehr per Gnade, sondern per Recht in die Gesellschaft eingebunden ist. Er notiert in seinem Essay über Armut (Simmel 2008:10): „Es ist deshalb eine durchaus einseitige Auffassung, wenn man die Armenpflege als eine Organisation der besitzenden Klassen zur Verwirklichung des mit dem Besitze verbundenen sittlichen Pflichtgefühls bezeichnet hat. Sie ist vielmehr ein Teil der Organisation des Ganzen, dem der Arme ebenso zugehört wie die besitzenden Klassen: so sehr die technischen und materiellen Bestimmtheiten seiner sozialen Position ihn als bloßes Objekt oder Durchgangspunkt eines über ihn hinwegreichenden Gesamtlebens hinstellen, so ist dies im letzten Grunde überhaupt die Rolle jedes einzelnen konkreten Mitgliedes der Gesellschaft (...). Die eigentümliche Ausschließung, die der Arme seitens der ihn unterstützenden Gemeinschaft erfährt, ist das Bezeichnende für die Rolle, die er innerhalb der Gesellschaft, als ein besonders situiertes Glied derselben spielt; indem er technisch ein bloßes Objekt der Gesellschaft ist, ist er im weiteren soziologischen Sinne ein Subjekt, das einerseits wie alle anderen die Realität derselben bildet, andererseits, wie alle anderen, jenseits der überpersönlichen abstrakten Einheit derselben steht.“
98
Simmel betont, jeder sei jedem fremd – und das sei gar nicht schlecht so, ist es doch die Voraussetzung dafür, im individuellen Lebenszusammenhang das zu organisieren, was in formalen Situationen nicht mehr zulässig ist. Er hat freilich hier noch nicht die moderne systemtheoretische Begrifflichkeit gekannt, beschreibt jedoch die Zusammenhänge schon weitgehend analog. Man hat später in der Diskussion vor allem der sich gewissermaßen unterhalb der Systeme ausbreitenden Vielfalt viel Beachtung geschenkt, dabei aber weitgehend ignoriert, dass diese neue Vielfalt nur vor dem Hintergrund jener formalen Systeme mit ihren neuartigen Inklusionsmechanismen möglich wurde. Er selbst sieht diesen Zusammenhang, überschätzt aber die Bereitschaft der Menschen, ihre Identität in den individuellen Lebenszusammenhang zu verlagern und sich im formalen Zusammenhang gesellschaftlicher Institutionen und Systeme wohlwollend und fair, aber distanziert und mit Respekt, gewissermaßen neutral, einzurichten. Hier war er vielleicht der Zeit voraus. Er hat nicht bedacht, wie schwer es den Menschen fällt, diese neuen Formen eines gesellschaftlichen Arrangements nicht nur für sich individuell zu nutzen, sondern auch beim Anderen gelassen hinzunehmen und die mit ihr gebotenen neuen Möglichkeiten gesamtgesellschaftlich zu nutzen, wenn das bedeutet, dem Anderen nur noch auf gleicher Augenhöhe und nicht mehr von oben herab zu begegnen. Es wird sehr viel Toleranz und Distanz erforderlich, Respekt vor der Unterschiedlichkeit des Anderen. Dieses stellt bis heute eine beträchtliche Herausforderung dar. Selbst wenn man gelernt hat, privat, d.h. für sich selbst zunehmend auf Individualisierung zu setzen, im Blick auf den Anderen ist man da zwangsläufig sehr viel zurückhaltender. Ein wichtiger Punkt ist dabei nämlich, dass, wenn jeder jedem fremd ist und wenn jeder jeden mit Respekt zu behandeln hat, dann ist jeder jedem damit auch formal gleich gestellt. Es ist eben nicht so einfach, sich auf die postmoderne Situation einzulassen. Am leichtesten fällt es einem „naturgemäß“, das persönliche Empfinden auf den privaten Lebensstil zu verlagern. Dem Anderen das gleiche zuzugestehen, fällt sehr viel schwerer. Und doch funktioniert die postmoderne Individualisierung nur auf der Basis von Reziprozität, was wiederum verlangt, den urbanen Alltag formal, fair und mit Abstand zu handhaben. Tatsache ist, dass in vielen Situationen eine fair gestaltete, formale Gleichheit, einander wohlwollend distanziert und auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, immer noch als eine Bedrohung empfunden wird. Und dies trifft umso mehr im globalen Kontext zu. Denn jetzt gilt noch viel mehr, dass man einander in zunehmender individueller Differenz formal immer gleicher zu werden „droht“. Wir wissen heute, dass diese Entwicklung zu formaler Gleichheit manche Menschen mit einem ausgeprägten Selbstbezug überfordert. Viele wollen schlicht keine Gerechtigkeit und produzieren deshalb am laufenden Band neue 99
Rationalisierungen, um dieser Gerechtigkeit zu entkommen. Dabei scheuen sie auch nicht vor „schludrigen Abstraktionen und nebulösen Geschichten“ – später wird noch von „einschlägigen” sozialen Mythen die Rede sein – zurück (Sen 2007:70f). Von so etwas wie einer „Transmoderne“ sind wir noch weit entfernt. Simmels Überlegungen verweisen aber nicht nur auf eine neue Situation, sie belegen zugleich auch, dass die Situation so neu nicht sein kann, wenn er sie schon vor hundert Jahren analysiert hat. Genauer betrachtet haben wir es nicht mit gänzlich neuen Herausforderungen zu tun. Sicherlich wird es in einer zunehmend umfassenderen globalgesellschaftlichen Realität mit ihrer gesteigerten praktischen wie medialen „Mobilität“ nicht einfacher. Haben wir nicht längst eine Fülle von praktischen Fertigkeiten und gesellschaftspolitischen Konzepten zu Hand, die wir nützen können? Hier ist tatsächlich mehr und nicht weniger politische Vernunft gefragt. So zeigt sich, neben dem Vertrauen in die praktische Vernunft kommt es eben auch auf politische Einsicht, auf die Entwicklung einer theoretischen, hier „politischen Vernunft” an, die unterstützt, was sich praktisch angebahnt hat, die ein besseres Verständnis von der globalgesellschaftlichen Situation insgesamt und von dem Übergang der Moderne in die Postmoderne generell vermitteln kann. Die durch verstärkte Mobilität veränderten Bedingungen des Zusammenlebens müssen begreiflich gemacht werden und entsprechende theoretische bzw. politische Folgerungen müssen formuliert werden, ein entsprechendes Wissen zur Verfügung gestellt werden. Damit haben wir allerdings nicht nur eine Aufgabe für die politische Vernunft, sondern gleich auch die Aufgaben für eine engagierte kritische Forschung definiert, für eine Tradition, in der zum Beispiel das Zentrum für Türkeistudien und andere mit der globalen Mobilität befasste Forschungszentren stehen. Es geht also nicht darum, einen Fremden zu stilisieren, ihn auszugrenzen bzw. ihm allenfalls eine zweite Sozialisation zuzugestehen und ihm eine entsprechende Akkommodation abzufordern, wie man das im Mittelalter nicht nur vom Heiden, sondern von jedem „Falschgläubigen“ verlangt hat. Es geht nicht mehr um die Bekehrung zu den sogenannten westlichen Werten mit neuem Namen, neuer Identität und neuem Glauben (Esser 2006), sondern um das Denken in den Kategorien einer globalen Zivilgesellschaft und um globale Gerechtigkeit als Fairness, wie das bereits John Rawls eingefordert hat (Rawls 2007). Sinnvoll ist es dann, das Wissen um urbanes Zusammenleben, was neuerdings wenig plastisch mit „best practise“ bezeichnet wird, zu intensivieren, zu aktualisieren, wissenschaftlich aufzuarbeiten und in die politischen Debatten zurückzuspielen.
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2.2 Auf dem Weg von informeller zu struktureller Akkommodation: Zwei Beispiele Wie geht man lebenspraktisch mit „Fremdheit“ um, und wann wird dieser Umgang zum Thema, und zu welchen Einschätzungen kommt es dann überhaupt? Dazu ein knapper Blick auf zwei im vorliegenden Zusammenhang besonders interessante Kölner Quartiere, die in der bisherigen Diskussion schon eine gewisse Rolle gespielt haben und verwendet werden, um den Weg von informeller zu struktureller Akkommodation genauer darstellen zu können. Später wird das eine der beiden Quartiere noch einmal aufgegriffen. Man könnte aber genauso gut z.B. ein Frankfurter oder ein Berliner Quartier nehmen. Oben wurden eine ganze Reihe von Beispielen erwähnt, die ebenfalls gut dokumentiert sind und bei einer Re-Interpretation genauso aussagekräftig wären. Einleitend erläutere ich erst einmal „gelebte Diversität“, wie sie sich im urbanen Kontext darstellt. 2.2.1 Gelebte Diversität Was gelebte Diversität meint, kann man sich gut an einem allen vertrauten Prozess, nämlich dem Umzug in eine, für einen persönlich unbekannte, Stadt klar machen. Wenn man nämlich in eine neue Stadt zieht – und das dürfte jeder schon erlebt haben –, kommt man als Fremder an einen fremden Ort und ist automatisch für jeden fremd. Als erstes überlegt man, in welches Quartier man ziehen kann und sucht nach einem Ort, der einen anspricht. Und als zweites sucht man sich eine Wohnung, die einem geeignet erscheint, um sich in ihr häuslich niederlassen zu können. Im Hintergrund spielen dabei natürlich auch ökonomische und strukturelle Überlegungen eine Rolle. Die Wohnung muss den vorhandenen finanziellen Ressourcen entsprechen, und sie muss günstig gelegen sein. Die Wohnung muss nicht nur in sich stimmig sein, sondern auch der Kontext, das Quartier und die Möglichkeiten, die das Quartier für den Alltag für einen selbst und ggf. die Familienmitglieder bietet. Hat man sich entschieden und die Wohnung angemietet, so geht es darum, innerhalb der neuen vier Wände das Fremde mit dem Eigenen zu verschmelzen. Die Wohnung wird von Grund auf renoviert, und die fremden Wände, der fremde Raum werden individualisiert. Die Wand wird tapeziert, gestrichen, der Raum wird möbliert, private Räume werden von halböffentlichen Räumen getrennt und entsprechend organisiert. Drittens macht man sich mit der direkten Umgebung vertraut und fügt sich in die „Hausgemeinschaft“ und die Straßenzeile ein. Man schaut sich nach einem Bäcker um, erkundigt sich nach dem Weg zur Arbeit, zur Post oder was man auch immer benötigt. Am Ende entwickelt man seinen Alltagsrhythmus: Aufstehen, Arbeiten, Einkau101
fen – einen Rhythmus, der sich an den öffentlichen Rhythmus des Quartiers mit seinen Ressourcen strukturell anschmiegt. So fügt sich am Ende aus Beton und Teer, aus Fassaden und Schaufenstern, aus Gesichtern und Bildern, aus Erzählungen und Berichten, Erlebnissen und Ereignissen die Umgebung zu einem individuellen Quartier zusammen, einem unverwechselbaren Quartier, das einem zu eigen geworden ist, obwohl es sich eigentlich durch den Zuzug einer Person oder einer einzigen Familie kaum verändert hat. Im Verlauf dieser Positionierung wird aus erlebter Diversität gelebte Diversität, indem man seine Individualität vor dem Hintergrund des Vorgefunden als etwas Neues, Anderes, eben Individuelles platziert und damit vorhandene Vielfalt weiter vervielfältigt. Wichtig ist dabei, dass die vorgefundene Heterogenität und die „Fremdheit“ letztlich unangetastet bleiben. Wenn man sich in das Quartier eingelebt hat, bedeutet das also dreierlei:
Es bedeutet, seinen Kreis an Verwandten und Bekannten zu pflegen und sich kognitiv im Quartier (durch Beobachtungen, durch Deutungen, durch Erzählungen) neu zu arrangieren, sich also sozial zu integrieren. Es geht aber auch darum, den Anschluss an die lokalen und urbanen Möglichkeiten (als Studierende/r oder ArbeitnehmerIn, als KundIn und PatientIn, als AutofahrerIn oder ÖPNV-NutzerIn usw.) zu gewinnen, also sich strukturell anzukoppeln. Und schließlich bestätigt man die gültige gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit, indem man einen weiteren Mosaikstein von konstruierter Wirklichkeit hinzufügt, das heißt, man nimmt teil, stimmt zu, akzeptiert die Diversität der Wirklichkeit. Die praktische Vernunft nötigt einen zu einem unausgesprochenen „Ja“, zur Beteiligung an der alltagspolitischen Wirklichkeit.
Das Leben in der metropolitanen Gesellschaft verläuft in dieser Weise einfach wie selbstverständlich und weitgehend fraglos. Man kann hier vom Dauerablauf des Alltags „auf dem Niveau hoher Diversität“ sprechen. Auf der anderen Seite gibt es immer wieder Augenblicke, Ereignisse oder besondere Situationen, in denen diese Routine fraglich wird oder fraglich gemacht wird. In diesem Augenblick entwickeln sich Gespräche, Rechtfertigungen, Nachfragen, besondere Deutungen. Da ist es natürlich wichtig, dass man dann etwas über das Zusammenleben, über das Quartier, über den Alltag insgesamt weiß, damit man in solchen Augenblicken mit der Situation auch angemessen umgehen kann. Es sind mitunter heikle Augenblicke – Zeitpunkte, zu denen es darauf ankommt, die richtige Linie einzuschlagen, das richtige Wissen zu verwenden, den richtigen Blick zu entwickeln. Doch was heißt hier richtig? Bei 102
solchen Gelegenheiten wird aus der unausgesprochenen Beteiligung eine diskursive Beteiligung – etwas formaler ausgedrückt eine “reflexive” Ebene. Auch auf dieser Ebene bewegt man sich natürlich in einem entsprechenden Kontext und nicht im luftleeren Raum. Die reflexive Ebene stellt so etwas wie eine spezielle Diskursgemeinschaft dar. Abbildung 1: Teilraum Eigelstein/Weidengasse
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Genauer betrachtet kann man an dieser Stelle, je nach der „Diskursgemeinschaft“, sehr unterschiedlich gelagerte reflexive Ebenen unterscheiden:
Die Ebene quartierbezogener Traditionen, Mythen, Erzählungen am Stammtisch. Eine Ebene mit lokalen Wochenblättern, Anzeigenblättern, Kirchenzeitung, Werbebroschüren. Eine Ebene geprägt durch Tageszeitungen, Bürgerfunk, öffentliche Diskussionen im Rahmen der kommunalen Politik, Kulturveranstaltungen usw. Schließlich gibt es überregionale Zeitungen, Funk und Fernsehen.
Damit sind zumindest einige typische reflexive Ebenen benannt – Ebenen, auf denen Aspekte des Alltags thematisiert, also beobachtet, summiert, kommentiert, diskutiert und als Plattform für die Meinungsbildung zur Verfügung gestellt werden – eben mehr oder weniger „abstrakte“, mehr oder weniger lokal verankerte Diskursgemeinschaften. Das eigentliche Problem ist, ob die Fraglosigkeit des alltäglichen Umgangs mit der Fremdheit auch in solchen Augenblicken weiter durchgehalten und wie damit ggf. auf der reflexiven Ebene umgegangen wird. Die Vermutung ist ja nicht fern, dass man nicht weiter auf die Besonderheiten des modernen Alltags Rücksicht nimmt und die Fülle der im Umgang mit dem Fremden entwickelten Kompetenzen schlicht ignoriert, sie also auf der reflexiven Ebene nicht wirklich wahrnimmt und deshalb bei gegebenem Anlass auch nicht konstruktiv nutzen kann. 2.2.2 Die Weidengasse und das Eigelsteinviertel Bei der Weidengasse handelt es sich um ein seit dem frühen Mittelalter existierendes Stadtquartier, das über Jahrhunderte in Ufernähe gewachsen ist. Dieses Altstadtviertel wurde Jahrhunderte lang von einer extrem heterogenen Bevölkerung von Hafenarbeitern, Kleinbürgern, Handwerkern bis zu Kaufleuten bewohnt und zugleich auch gewerblich genutzt. Im 19. Jh. ging die Bedeutung der einfachen Hafenanlagen zurück und das Viertel avancierte zum neuen Bahnhofsviertel. In dieser Situation verblieb das Quartier bis zum Zweiten Weltkrieg. Im Krieg weitgehend zerstört erholte sich das einst prosperierende Wohn-, Gewerbe- und Handelsareal nur sehr mühsam. Das hat auch mit dem nach dem Krieg schnell greifenden Strukturwandel der Innenstädte zu tun. Die alten Quartiere
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werden monostrukturell reorganisiert, in diesem Fall auf Dienstleistungen hin zentriert.49 Abbildung 2: Die Weidengasse in den 90-ern
Kaum konsolidiert wird das Quartier in den 60ern durch eine brutale Straßenbaumaßnahme zu einem großen Teil erneut zerstört. Durch den Bau der Nord-SüdFahrt wird es erneut dem Verfall ausgeliefert. Erst brechen die mühsam erneuerten Arbeitsplätze weg, dann ziehen die Menschen selbst weg, und das verbliebene Gewerbe verfällt. Wie in anderen urbanen Quartieren auch entdecken schließlich die Gastarbeiter in den 70ern das abgewirtschaftete Quartier. Billiger Wohnraum und die Nähe zum Bahnhof werden als Chance wahrgenommen. In die vernachlässigten Gebäude ziehen „Gastarbeiter“. Heute leben dort:50 49
Vgl. Chargesheimer 1998. In diesem Band wird das Alltagsleben in der Weidengasse in den 50-er Jahren dokumentiert. 50 Einwohner mit Migrationshintergrund am 31.12.2007: Die Abgrenzung der Einwohner mit Migrationshintergrund wird durch eine Kombination verschiedener Merkmale aus dem Einwohnermeldeverfahren ermittelt. Die Angaben zum Umfang und zur Struktur sind, im Gegensatz zu den übrigen dargestellten Einwohnerzahlen, als Schätzwerte zu interpretieren. Sie geben aber Hinweise auf Größenordnungen. Die Zahl der Einwohner mit Migrationshintergrund bildet sich aus nichtdeutschen und deutschen Einwohnern. Die Gruppe der Deutschen setzt sich zusammen aus: Eingebürgerten (Geburtsort Ausland, oder Einbürgerungsurkunde) Aussiedler-Innen (Herkunft ehemalige deutsche Ostgebiete),
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Einwohner insgesamt davon mit Migrationshintergrund
1.711 (100,0 %) 759 ( 44,4%)
Die Ironie der Geschichte will es, dass das Quartier, kaum dass es sich nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und der brutalen Zerschneidung zu erholen begonnen hat, schon wieder in Schwierigkeiten gerät, dieses Mal wegen der ersten Ölkrise. Erneut bekommen die Einwohner Probleme, jetzt als „Generation Gastarbeiter“. Diese Generation der Allochthonen wird in der um sich greifenden Wirtschaftskrise als Arbeitsplatzpuffer benutzt – die Leiharbeit gab es ja noch nicht – und wird fast komplett arbeitslos. Um der zunehmenden Arbeitslosigkeit irgendwie zu entkommen bauen die Allochthonen ein Wohn- und Geschäftsviertel auf (Bukow 1993). Von 130 Geschäften in der Altstadt-Nord werden heute ca. 9 % durch türkische Einwanderer und 5 % durch andere Allochthone betrieben.51 In der Weidengasse sind es entsprechend mehr. Was sich hier prozentual vielleicht noch nicht so deutlich ausprägt, ist wirtschaftlich für das Quartier die Rettung. Es kommen neue Kunden, es entstehen neue Arbeitsplätze, und es strömt vor allem Kapital ins Quartier. Und auch die Stadt Köln begleitet diesen Prozess ganz gezielt. Sie fördert die Sanierung der Häuser, fördert neue Betriebe und macht sich für die Quartierentwicklung stark, wohl auch in der nicht ganz falschen Einschätzung, dass sie am Niedergang des Quartiers nicht unbeteiligt war. Die Einwanderung brachte einen Innovationsschub, der dem alten und einst hoch differenzierten Quartier mit seinen urbanen Erfahrungen zu einer neuen, ertragreichen Existenz verhalf. Dank der Pioniertätigkeit der Allochthonen ist das Quartier wieder das geworden, was es über Jahrhunderte war, ein sehr differenziertes und stark gewerblich orientiertes Gebiet, in dem unterschiedliche und vor allem auch „fremde“ Menschen heimisch werden ohne ihren Lebensstil aufzugeben. Ihre Diversität setzen sie als Ressource ein, um dem Quartier auf die Sprünge zu helfen. Am Beispiel Eigelstein wird deutlich, wie erfolgreich die Aufstiegsorientierung der von zunehmender Arbeitslosigkeit bedrohten Einwanderer mit der urbanen Kompetenz der aus Jahrhunderten resultierenden multikulturellen Erfahrungen der Alteingesessenen korrespondieren kann.52 Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Optionspflicht (nach §4 Staatsangehörigkeitsrecht besteht die Pflicht, sich bis zum vollendeten 23. Lebensjahr zu entscheiden, ob die mit der Geburt erhaltene deutsche Staatsbürgerschaft beibehalten oder die elterliche Staatsbürgerschaft angenommen wird.), Kindern und Jugendlichen mit familiärem Migrationshintergrund (unter 18 Jahre, alle Elternteile im Haushalt haben Migrationshintergrund). 51 Diese Zahlen beziehen sich auf die gesamte Altstadt-Nord und stellen eine Schätzung dar. In dem oben markierten Quartier dürfte die Mehrheit der Geschäftsbesitzer Migrationshintergrund haben. 52 Man sollte nicht vergessen, dass die Einwanderer in diesem Fall aus einem Land kommen, das selbst schon immer multikulturell ist und das seit Jahrtausenden von Stadtkultur geprägt ist. Die
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Dieses selbstverständliche Miteinander lässt sich durch verschiedene Quellen belegen. Die Grundmelodie einer solchen Einschätzung findet sich bereits vor der letzten Einwanderung durch die Generation Gastarbeiter in einem Statement von Heinrich Böll. Ich habe es oben bereits zitiert, um ein informelles „Diversitätsmanagement“ zu belegen. Das Zitat illustriert aber nicht nur das Diversitätsmanagement, sondern informiert auch über die Ausgangslage im Quartier. Böll notiert in seiner Arbeit, mit der die Lebensqualität des Eigelsteinquartiers dokumentieren will, um es vor der Zerstörung durch ein Straßenprojekt, den Bau der Nord-Südfahrt, zu bewahren, nicht nur, wie kompetent man miteinander umgeht, sondern auch, um welche Menschen es sich handelt. Es spricht wie oben schon zitiert davon, dass Fremde aufgenommen werden müssen, „mögen sie Stanislaus, John oder Luigi heißen, Jan oder Sven“. Und er betont, dass das schon immer so ist: „Jahrhunderte lang oft wohnen ganze Sippen in Straßen wie dieser“. Hier wird etwas von den urbanen Kompetenzen deutlich, die das Quartier wie selbstverständlich erfolgreich über Jahrhunderte entwickelt und zusammen gehalten haben. Ohne das Beispiel jetzt im Einzelnen zu deuten (vgl. Bukow 2002) wird sofort erkennbar, dass es hier gelungen ist, das „Fremde“ fraglos zu akzeptieren und es zur Grundlage des Quartierslebens zu machen, indem man es so einordnet, dass es für das urbane Zusammenleben konstitutiv belanglos wird. Erinnern wir noch ergänzend an das Zeugnis einer alteingesessenen Kioskbesitzerin, die in einem eindrucksvollen Bildband über die Weidengasse porträtiert wird: „(...) Nie wäre es ihr vor Jahren, als im Zuge der Sanierung der erste große Exodus aus der Weidengasse begann, in den Sinn gekommen, ihr angestammtes Viertel zu verlassen. Wenn über 67 Jahre hinweg die Koordinaten Dagobertstraße und Ritterstraße, Machabäerstraße und Gereonswall geheißen haben, davon fünfundsechzigeinhalb hinter Ladentheken, über die im Wesentlichen Zigaretten gegangen sind (...), dann ist dieses übersichtliche Karree ganz eindeutig identisch mit Heimat. Aber auch wenn die resolute Kioskbesitzerin in der Nummer 47 zum resistenten Rest deutschen Kleingewerbes zählt, nennt sie ihre Nachbarn mit großer Selbstverständlichkeit "unsere kölschen Türken". Und so sind im Drehständer vorn im Laden Hürriyet und Milliyet in friedlicher Koexistenz vereint mit Landser-Heftchen und Groschenromanen. Längst zählt der Kellner vom türkischen Bistro gegenüber zu ihren Stammkunden(...)“ (Biskup 2001:82)
Das Zitat belegt noch einmal vierzig Jahre später – jetzt geht es nicht mehr um die alten Einwanderer, sondern um die „Generation Gastarbeiter“ – den hier nur Allochthonen kommen also in kein unbekanntes Terrain, allenfalls in ein ökonomisch fortgeschrittenes. Das lässt sich auch bildlich gut belegen (vgl. Schroeder, Schönig 2008:49ff).
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knapp skizzierten Umgang miteinander. Es demonstriert die historisch entstandene und allen Anfechtungen gewachsene lebenspraktische Qualität des Quartierlebens. Die Differenzen werden genutzt und zum Beispiel als Ressource für das Erwerbslebens integriert. Und man steht auch auf Nachfrage dazu. Es ist die gleiche Situation wie die, die Heinrich Böll gut vierzig Jahre vorher vor Augen hatte; in diesen Einschätzungen gibt es keine besonderen Diskrepanzen zwischen der Alltagspraxis und einer entsprechenden reflexiven Deutung der Situation. Abschließend noch ein weiteres Zitat, das die Lernfähigkeit der politische Ebene demonstriert. Es stammt aus der Einleitung zu dem bereits erwähnten Buch über das Eigelstein-Quartier: „(...) Die Weidengasse ist kein multikulturelles Biotop, sondern eine Straße, in der Gegensätze miteinander leben und sich nicht voneinander abschotten. Sie ist ein Stück liberal-toleranter Kultur Kölns und unseres Landes. Ich freue mich, dass das vorliegende Buch der Weidengasse ein Denkmal setzt, und ich hoffe, dass es neugierig macht auf die Weidengasse und auf ganz Köln(...).“ (Biskup 2001:7)
Dieses Zitat erscheint auf den ersten Blick durchaus repräsentativ, weil es aus der offiziellen Einleitung des genannten Bildbandes über das Viertel stammt. Aber wenn man genau hinschaut, sieht man, dass es keineswegs irgendeinen öffentlichen Mainstream wiedergibt, sondern sich in einer sehr spezifischen Weise davon abhebt und dabei sehr präzise auf die Straße eingeht. Es betont die Existenz der Gegensätze und unterstreicht die Möglichkeit des Zusammenlebens in der Differenz und illustriert damit noch einmal sehr pointiert die oben formulierte Ausgangsthese. Die Botschaft ist weniger, dass wir es mit einem Erfolgsmodell zu tun haben, als vielmehr, dass die Ausnahme die Regel bestätigt. Die Weidengasse ist dabei die Ausnahme. 2.2.3 Zwischen Keupstraße und Bergisch-Gladbacher Straße Die Keupstraße liegt in einem vergleichsweise neuen Quartier in Köln-Mülheim, das im Rahmen der rheinischen Industrialisierung entstanden ist. Ursprünglich handelte es sich um ein Arbeiterquartier. Es wurde im späten 19. Jahrhundert jenseits der damals neuen Eisenbahnstrecke Köln-Düsseldorf im Rahmen eines Ansiedlungsprojektes für Metallwarenindustrie gebaut und nach dem ersten Weltkrieg mit Mülheim zusammen nach Köln eingemeindet. Hundert Jahre lang lebten in diesem Quartier die Arbeiter der hier ansässigen Kabelfabrik Felten & Guilleaume (1874 bis 1960). Wie damals bei allen diesen speziell im Rahmen der Industrialisierung errichteten Quartieren üblich wurde die Bewohnerschaft
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nicht vor Ort rekrutiert, sondern quer durch Europa angeworben. Nur die Betriebsleitung kam in der Regel aus der Region. Erst mit der Zeit konsolidierte sich die Arbeiterschaft, um dann in Zeiten der Wirtschaftskrise zu verarmen und in Zeiten des Wiederaufbaus zu prosperieren. Im Verlauf der Zeit ging das Bewusstsein für den eigenen Migrationshintergrund vollständig verloren. Nur die Namen der Einwohnerschaft erinnerten noch daran. In den 60-er Jahren beginnt eine neue Zuwanderung im Rahmen der Anwerbung. Im Jahr 1970 wohnen im Quartier allerdings erst 18,5 % „Ausländer“ (bei 3.438 Einwohnern) und davon haben nur wenige türkischen Migrationshintergrund. Zehn Jahre später sind es 45%, wovon bereits 30 % türkischen Migrationshintergrund haben. Im Jahr 1999 sind es 58%, wobei 45% türkischen Migrationshintergrund haben. Heute leben in dem oben markierten Quartier, das mit dem, auf das sich die ersten Zahlen bezogen, nicht völlig deckungsgleich ist:53 Einwohner insgesamt davon mit Migrationshintergrund
2.172 (100%) 1.543 ( 71%)
Um die Bevölkerungsentwicklung zu verstehen, muss man einen Blick auf die Gesamtstruktur werfen. Es handelte sich hier von Anfang an um ein Arbeiterquartier mit eng parzellierter Straßenbebauung, mit sehr hoher Wohndichte, das ganz gezielt für ungelernte Arbeiter errichtet wurde. Damit die Arbeiter zu Niedriglöhnen und ohne soziale Absicherung im Krankheits- oder Invaliditätsfall eingestellt werden konnten, hat man die Häuser mit Geschäften ausgestattet. So entstand zugleich eine proletarische Einkaufsstraße mit zahlreichen Kneipen, vielen kleinen bescheidenen Läden des alltäglichen Bedarfs sowie eine ausgeprägte Straßenkultur mit Straßenhandel. Im Verlauf der Geschichte war das Quartier je nach dem, wie es Felten & Guilleaume grade ging, mal besser und mal schlechter dran. Dabei haben sich die Geschäfte jeweils bewährt, sie haben sich nicht nur gehalten, sondern in Krisenzeiten immer wieder auch für das Überleben der Einwohnerschaft gesorgt.
53
Vgl. Fußnote 50
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Abbildung 3: Teilraum „Keupstr./Berg. Gladbacher Str.“
Die enge Verknüpfung von Bevölkerungsentwicklung, Situation im Quartier und Felten & Guilleaume führt zu einem ständigen gemeinsamen „Auf und Ab“, stabilisiert letztlich nur durch die Geschäftswelt. Dramatisch wird diese „Schicksalsgemeinschaft“ in dem Augenblick, als mit der allgemeinen Entindustrialisierung Felten & Guilleaume auf gibt. Gerade erst hatten sich die „Gastarbeiter“ im Quartier nieder gelassen: Erst kamen die Spanier, dann die Griechen und schließlich Türken, die dann ihre Familienangehörigen nachholten. Nun kommt es zu einem Zerfall des Quartiers, der zunächst von niemandem aufgehalten werden kann, weil er ja ausgerechnet die „Gastarbeiter“ trifft, die selbst gerade arbeitslos geworden sind (zu den Zahlen siehe oben). Die Bausubstanz verkommt, und die Straße verfällt.
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Abbildung 4: Ein Blick in die Keupstraße 2001
Erstaunlicher Weise erholt sich die Straße erneut. Und wieder spielen die Geschäfte dabei eine wichtige Rolle. Heute wohnen und arbeiten hier Kinder und Enkel der Gastarbeitergeneration. Ähnlich wie im ersten Beispiel wurde die Gastarbeitergeneration zwar arbeitslos, hat sich dann aber auf ihre Ressourcen besonnen und die Dinge selbst in die Hand genommen. Im Rahmen der Sanierung von Mülheim-Nord hat sie sich an der Beseitigung der Bauschäden, Baulücken und Mindernutzung, an der Schaffung von Freiflächen, Grünraum und Spielflächen für Kinder beteiligt. So wurden die Strukturschwächen des Quartiers in einer koordinierten Aktion schrittweise überwunden, und die Sozial- und Altersstruktur unterscheidet sich nicht mehr von der anderer Quartiere. Mit der einsetzenden Eigentumsbildung und Verbesserung der Erwerbsstruktur macht das Quartier einen Wandel zu einem gastronomischen Anziehungspunkt durch. Im Verlauf dieses Prozesses ist schließlich eine durch Modernisierung und Aufstieg geprägte Straße entstanden, ein attraktives ökonomisches Milieu mit postmodernem Ambiente, eine Erfolgsgeschichte.
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Und wie sehen das die Menschen vor Ort? Hier ein Auszug aus einem im Rahmen eines ersten Forschungsprojektes durchgeführten Interview mit Achim (34 Jahre alt)54. „Dat is schon eine Familie hier, wie die Jungs hier zusammenhalten. Wir kennen uns mittlerweile über die Jahre hinweg und verstehen uns eigentlich ganz gut. Mit den türkischen Kollegen gehen wir zeitweise Fußballspielen. Wir warn auch letztes Jahr in München. So mit vier Türken, vier Deutschen sind wir nach München gefahren zum Länderspiel. Da war die Brüderschaft ganz anders. Dat war auch in München selber, als wir dahin gefahren sind, und die Türken, wir ham zusammen gefeiert, ohne dat es da irgendwie Ärger gab, oder dat war wie ne Familie (...).“
Dieses Bild, das in dem Interview vermittelt wird, spiegelt wie oben die Sichtweise der autochthonen Bevölkerung. Weitere Interviews belegen, dass die Allochthonen sich ganz ähnlich sehen: als Solidargemeinschaft, die zusammen hält, sich allerdings auch gegenüber einer rechten Bürgerinitiative und oft gegenüber der Stadt Köln verteidigen muss. Es handelt sich also bei der oben zitierten Einschätzung um eine Sichtweise, die gewissermaßen auf Augenhöhe formuliert wird. Auch viele andere Bewohner des Quartiers schätzen die Situation vergleichbar ein. Abbildung 5: Die Keupstraße 2001
54 Die Interviews wurden bereits Jahr 2001 im Rahmen unserer ersten Forschungsarbeit über die Straße durchgeführt. Die Studie unten enthält neue Daten. Die Situation hat sich seitdem weiter konsolidiert.
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Wie im ersten Beispiel gibt es auch hier offizielle Verlautbarungen zum Quartier. Allerdings fallen diese Einschätzungen völlig anders aus. Ein Beispiel neben vielen ist folgende aus dem Bezirksrat des Stadtteiles stammende Stellungnahme zur Keupstraße55: „Die CDU fragt beschwörend, „welche Gefahren für die kulturelle Identität der deutschen Bevölkerung dadurch entstehen, dass sich die Zahl der ausländischen Bevölkerung zwischen 1991 und 1999 um 27 Prozent erhöht hat und nun 16,6 Prozent der Gesamtbevölkerung beträgt.“ Es mache vielen Angst, „dass sich Viertel, in denen augenscheinlich kaum noch Deutsche wohnen, ausdehnen und dort eigene Gesetze zu herrschen scheinen (...)“, die SPD fragt dagegen, ob „Haider in den Köpfen der Mülheimer CDU Station gemacht“ habe.“ (Yildiz 2006:47)
Dass die Situation hier von der lokalen Politik völlig anders eingeschätzt wird als oben, obwohl die Vorgeschichte der Straße durchaus vergleichbar ist, hat vor allem damit zu tun, dass das Quartier, um das es hier geht, traditionell zweifach diskriminiert wird, nämlich als rechtsrheinisches Quartier und in Mühlheim selbst als proletarisches Viertel, heute speziell auch als sozialer bzw. kultureller Brennpunkt. Die heutige Bewohnerschaft hat die Diskriminierung also nur geerbt, was übrigens auch sonst oft zu beobachten ist (Adam 2005:80ff). Eigentlich hat sich wenig geändert. Allerdings wird die Diskriminierung immer wieder einmal anders eingekleidet. Um die Tradition der Diskriminierung etwas transparenter zu machen, sollte man einmal einen Blick auf das alte Wolfstraßenlied werfen. In diesem Lied der Bewohner der Straße (die Keupstraße hieß hier jenseits der Bahn früher Wolfstraße) spiegelt sich das proletarische Milieu der damaligen Zeit gut wieder. Zugleich bietet es eine Antwort auf die damals schon gängige Polemik und die Vernachlässigung durch die Stadt:
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Zitiert nach Florian Haarmann, Bezirksvertretung Köln-Mülheim (in Rathaus Ratlos “Mülheimer CDU auf Haider-Kurs” (2006/9 www.gruenekoeln.de).
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Auszug aus dem Lied von der Wolfstraße (aus dem Jahr 1886 – Melodie 56 nach: Dort wo der alte Rhein...) Freund, wenn Du gehst von Mülheims Herz nach Osten, Wohl über die Gleis’ der Eisenbahn; Wo der Verkehr die Schienen nie lässt rosten, So kommst du ins gelobte Ländchen an. Hier ist es gut, Herrscht froher Mut, Ist Glück im Übermaß, In der gesegneten Wolfstraß
Von Pflaster ist hier keine Spur zu finden; Auch Bürgersteige sind ganz unbekannt. Du wandelst zwar nicht unter Ulm und Linden, Und dennoch liebt ein jeder Straß’ und Land Weil Eintracht grüßt, Ein Band umschließt Der Menschen große Zahl; Man zankt sich nicht mal bei der Wahl...
War es am Anfang das proletarische Straßenleben, das angefeindet wurde, so ist es heute ein „orientalisch-türkisches“ Straßenleben, das kritisiert wird. Damals wie heute ging bzw. geht es vordergründig gegen die alltagskulturellen Inszenierungen, in Wahrheit aber gegen die sich darin manifestierende Vitalität der Menschen. Es ging damals gegen den sich schon im Lied ausdrückenden und geht heute gegen den sich in vielen Gesprächen immer wieder artikulierenden Überlebenswillen der Straße. Im Kern zielt die Polemik auf den ökonomischen Erfolg der „niederen“ Bewohnerschaft. Die Proletarier bzw. die Allochthonen sollen sich mit dem ihnen zugewiesenen Platz bescheiden. Interessanter Weise sind es denn auch alteingesessene Kaufleute, die bis zuletzt gegen die Allochthonen polemisierten und denen es übrigens auch immer wieder gelungen ist, die Politik für ihre Zwecke zu funktionalisieren und damit die Spaltung der Stadt voranzutreiben (Bremer1999:11f). Natürlich widerspricht der Erfolg der Menschen dem Bild eines Brennpunktes und tatsächlich konkurriert die Straße erfolgreich mit einer benachbarten bürgerlichen Einkaufsstraße. So ist die Keupstraße schließlich zu einem Erfolgsmodell geworden, ein Beispiel dafür, wie sich Ethnizität und Raum zu einem Erfolgsmodell verknüpfen lassen (Pott 2002:405ff) – eine Sichtweise, der sich auch die Politik heute nicht mehr gänzlich verschließen kann. So werden von dem Integrationsminister der Landesregierung NRW (Armin Laschet, Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen) neuerdings solche Quartiere als „Best PracticeModelle“ durchaus gelobt. 56
Der Text ist dokumentiert in Hoffmanns 1913:7f. Diesen Texthinweis verdanke ich Michael Schroeder, der wesentlich zur ersten Studie über die Keupstraße beigetragen hatte.
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2.2.4 Von informeller zu struktureller Akkommodation auf Diversität Beide Beispiele belegen, wie sich sehr unterschiedliche Menschen in ihrem Quartier schrittweise arrangieren und stabile Formen des Zusammenlebens entwickeln. Auf den ersten Blick erscheint die Weidengasse als ein Quartier, das dazu Jahrhunderte gebraucht hat und in aller Ruhe an einer Grammatik des urbanen Zusammenlebens arbeiten konnte, während die Keupstraße diese Leistung aus dem Stand heraus erbringen musste. Genauer betrachtet lässt sich das so nicht halten. Denn tatsächlich muss sich nicht nur jede Generation, sondern muss sich jeder neu Hinzuziehende mit den Anderen einigen. Es ist also kein einmal abgeschlossener Prozess, sondern zumal bei der in solchen Quartieren erkennbar hohen Fluktuation der Bevölkerung eine Daueraufgabe. Wann immer jemand kommt – und es kommt eben immer mal wieder jemand – muss man sich aufs Neue arrangieren und das Stadtquartier gewissermaßen neu erfinden. Das bedeutet einerseits, dass das Wissen über urbanes Zusammenleben im Prinzip präsent und anerkannt sein muss, sich auf formale Beteiligung beschränken kann, dahinter die unterschiedlichen persönlichen Lebensstile anzuerkennen hat und im Fall des Falls die Dinge klären muss. Es bedeutet aber auch, dass dieses Wissen über die Moralitäten des Zusammenlebens immer wieder neu aktualisiert werden muss. Genau dies lässt sich in den beiden Quartieren erkennen und mit dem Begriff einer „sozialen Grammatik“ durchaus plastisch einfangen. Tatsächlich scheinen sich die Quartiere erheblich in der Zusammensetzung der Bewohnerschaft zu unterscheiden: einerseits eine überkommene Funktionsund Bevölkerungsmischung und anderseits eine rein „türkische“ Straße. Auch hier muss man noch einmal genauer hinschauen. Denn in beiden Fällen haben wir es ganz wesentlich mit der „Generation Gastarbeiter“ zu tun. Zwar scheinen in der Keupstraße „türkische“ Kölner zu überwiegen, währen die Weidengasse eher gemischt auftritt, aber wenn an einer Stelle die „türkischen“ Kölner überwiegen, heißt das noch lange nicht, dass die Bevölkerung deshalb homogener wäre. Die aus der Türkei angeworbene Generation stammt aus einer schon seit Jahrhunderten multikulturellen Gesellschaft und wurde einst nicht nach Homogenitäts-, sondern nach Gesundheitsmaßstäben angeworben. Dass die Gastarbeitergeneration mit Abstand betrachtet relativ homogen erscheint, liegt denn auch nicht an ihrer inneren Struktur, sondern an der Art ihrer strukturellen Einbettung, an ihrer Unterschichtung und an ihrer reziproken Ethnisierung. Die Implikationen dieses Phänomens werden im dritten Teil noch einmal aufgegriffen. Wichtig bleibt hier zunächst, dass die strukturelle Akkommodation auf Vielfalt „bottom up“, d.h. zunächst von unten aus, gewissermaßen graswurzelmäßig im informellen Sektor geschieht. Damit fügt sich die Gastarbeitergeneration in die lokalen Traditionen einfach nur ein. Sie erfindet ihre Grammatik ur115
banen Zusammenlebens im Kontext lokaler Überlieferungen. Das ist das eigentlich Spannendste an diesen Beispielen. Dass es dauert, bis die informelle Struktur schließlich durch die offiziellen Strukturen übernommen wird, das steht auf einem anderen Blatt. Und dass dieser Prozess der Anerkennung bis zum heutigen Zeitpunkt andauert, spricht nicht gegen die Bevölkerung, sondern gegen die Stadtverwaltung und die autochthone Bürgerschaft. 2.3 Welche Bedeutung Mobilität im globalen Kontext gewinnt Bei der Diskussion von Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität benötigt man zwangsläufig auch Informationen und Einschätzungen, die über den Rahmen des urbanen Lebens hinausgehen. Die europäische Stadt und die sie einbettenden lokalen Gesellschaften erweisen sich schon lange und wie selbstverständlich als Teil eines größeren Ganzen. Schon aus diesem Grund ist es wichtig, die bisherige Diskussion noch einmal aus einer anderen Perspektive heraus anzugehen und zu fragen, welche Bedeutung Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität unter dem Horizont der Weltgesellschaft gewinnt. Auf den ersten Blick mag man zu keinen neuen Folgerungen kommen, allerdings nur so lange, wie man Weltgesellschaft nur als die Summe von Städten bzw. lokalen Gesellschaften definiert. Aber wenn man genauer überlegt, ergeben sich einige gänzlich neue Gesichtspunkte. In der bisherigen Diskussion ging es darum, deutlich zu machen, wie Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität in der Stadtgesellschaft eingearbeitet, genauer wie sie im Rahmen der Grammatik urbanen Zusammenlebens mit all ihren Implikationen „assimiliert“ werden und wie sich die Stadt auf dieser Basis „akkommodiert“, d.h. immer wieder neu aufstellt. Die von Jean Piaget entlehnte, oben schon vorgestellte Begrifflichkeit ist auch auf dieser Ebene sehr hilfreich, weil sie deutlich machen kann, wie ein „lebendes System“ im größeren Rahmen, wie die Stadt unter einem Welthorizont agiert. Damit stellt sich aber die Frage, was es mit diesem Verweisungshorizont auf sich hat. Wenn man dabei davon ausgeht, dass dieser Verweisungshorizont mehr ist als die Summe ihrer Teile, mehr als die Summe der einzelnen urbanen Zentren oder lokalen Gesellschaften, dann ist es schwierig, hier von Weltgesellschaft zu sprechen. Der Begriff Weltgesellschaft ist eher irreführend (Stichweh 2005), weil wir es mit einem letzten Verweisungshorizont zu tun haben. Der Begriff „Weltgesellschaft“ unterstellt ein globales lebendes System. Zwar haben wir es mit einer besonders komplexen Gemengelage zu tun; aber es fehlt etwas Entscheidendes, eine System-Umweltrelation. Sie existiert nicht. Anders als andere Systeme wäre die Weltgesellschaft dann ein System, das nach außen 116
prinzipiell hermetisch abgeschlossen und nach innen ebenso regelmäßig unabgeschlossen, offen, vorzustellen wäre. Die Vielfalt der Möglichkeiten, die bei lebenden Systemen außerhalb liegen und kontingent gehalten werden, liegen im Fall der Weltgesellschaft innerhalb. Aus diesem Grund ist es auch schwierig, für unsere Fragestellung auf die Weltgesellschaftstheorie von Ulrich Beck zu rekurrieren, auch wenn es einzelne Punkte gibt, die aufgegriffen werden können Auf dem Weg zu einer globalgesellschaftlichen Perspektive bleibt es also bei dem Begriff „Verweisungshorizont“, hier im Sinn eines „letzten“ Verweisungshorizonts oder einer „globalen digitalen Assemblage“ (Sassen 2008:673). Die gesamte soziale, kulturelle ökonomische und politische Dynamik spielt sich intern ab und muss intern verarbeitet werden. Allenfalls ökologische Komponenten und stoffliche Ressourcen können die Rolle externer Variablen übernehmen. Deshalb liegt eine Modellierung als dynamisches Netzwerk näher. Und dafür gibt es seit langem bewährte und historisch verifizierte Modelle, die nach der Zentrum-Peripherie-Logik konzipiert sind. Sie scheinen nach wie vor gut geeignet – gut geeignet auch dafür, um die Rolle der Mobilität zu bestimmen, wenn man die moderne Netzwerkdynamik mit einbezieht (Castells 2008), ohne dabei ihre innere Dynamik zu ignorieren.
Hilfreicher als das Modell von Ulrich Beck sind unter dieser Perspektive dynamische Konzepte. Immanuel Wallerstein57 hat dazu schon sehr früh Vorschläge gemacht. Entscheidend war, dass er einander zugeordnete dynamische Pole identifizierte, die unter einem historisch gewachsenen globalen Horizont interagieren, genauer variable Strukturen durch spezifische Formate von Macht schaffen. In einer Hinsicht sind allerdings die Zentrum-Peripherie-Konzepte unterkomplex. Sie sind eindimensional ausgelegt, d.h. berücksichtigen nur eine Machtachse. Seit den Studien von Roland Robertson zur Entwicklung globaler Netzwerke (Möbius 2006) ist klar, dass man von mehreren globalen Achsen oder besser Netzwerken bzw. Ebenen (Pries 2003:400) ausgehen muss, die miteinander in einem bestimmten Verhältnis stehen. Vor diesem immer wieder übersehenen Befund liegt es nahe, sich in die Diskussionen über die Multitude und die Governance (vor allem Hardt, Negri 2005) einzuschalten, weil sie genau jene Dynamik berücksichtigen und reinterpretieren.
Beide Diskussionsstränge verlaufen, was die vorliegende Fragestellung betrifft, sehr ähnlich. Sie gehören hier eng zusammen und versprechen einen interessanten Beitrag zu einer weiteren Modellierung der Bedeutung von Mobilität bzw. 57
Immanuel Wallerstein hat seine Weltsystemtheorie historisch fundiert entwickelt und in drei großen Bänden dokumentiert. Hier wird auf seine Grundidee rekurriert (Wallerstein 2004 ibs Bd.1)
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migrationsspezifischer Mobilität – nicht bloß, weil sie den Blick weltgesellschaftlich ausweiten, sondern vor allem auch, weil hier Mobilität und Migration, die Frage nach dem gesellschaftlichen Arrangement und auch die Frage nach dem reflexiven Umgang mit diesem Arrangement diskutiert werden und sogar nach besonderen Herausforderungen oder Verwerfungen gesucht wird. Damit habe ich aber der weiteren Diskussion schon vorausgegriffen. Ich gehe zunächst noch einmal einen Schritt zurück, um einigen Einwänden besser begegenen zu können. Ist es überhaupt angebracht, in dieser Richtung weiter zu diskutieren? Hatten wir nicht grade erst die großen Theorien aufgegeben? Und reicht es nicht aus, sich ganz praktisch zu fragen, wie man sich unter einem globalen Horizont, wie man sich im globalisierten Alltag positioniert und dann auch, wie man unter diesem Horizont auf mögliche Verwerfungen zu reagieren versucht? Offenbar lässt sich all das nur angemessen rekonstruieren, wenn man die globalgesellschaftliche Mobilität in ihrer besonderen globalen Einbettung mit in Rechnung stellt. Zu vermuten ist, dass Mobilität aus globalgesellschaftlicher Perspektive anders als in der Stadtgesellschaft modelliert und dass zum Beispiel zivilgesellschaftliche Elemente auch anders eingeordnet werden müssen. Interessanter Weise kann man speziell zu dem letzten Punkt wiederum doch einiges von Ulrich Beck aufgreifen, hier besonders seine Überlegungen zu „Einsicht schaffenden Diskursen“(Beck 2007:211). Aber gehen wir schrittweise vor: 2.3.1 Weshalb im Zeitalter des postmodernen Theoriezerfalls dennoch eine Weltgesellschaftstheorie nützlich ist Aus theoretischen wie aus praktischen Gründen reicht der überkommene lokalgesellschaftliche Orientierungsrahmen also nicht mehr aus. Und das gilt nicht nur, wenn es um professionelle, also theoretisch anspruchsvolle Fragestellungen geht. Das gilt bereits dann, wenn es um ganz triviale Alltagsfragen geht, weil die zur Verfügung stehenden Orientierungsmuster weitgehend traditionell geprägt sind und damit mancherlei Deutungsmuster tradieren, die längst nicht mehr passen, häufig sogar äußerst problematisch sind und mehr schaden als nützen. Die Modellierung der Mobilität in einer postmodernen Weltgesellschaft gelingt freilich nicht in einem Schritt. Gesucht sind erst einmal Bausteine, die so formuliert werden, dass sie bei der Bearbeitung zentraler sozialer, ökonomischer, kultureller, religiöser oder politischer Fragestellungen hilfreich sind. Zunächst müssen sie die tradierten und wie „selbstverständlich zuhandenen“ (Schütz 2004) Orientierungen, seien sie praktischer oder theoretischer Natur, die heute offenbar nicht mehr weiter helfen, ersetzen. Sodann sollen sie der globalgesellschaftlichen Lage angemessene theoretisch fundierte Orientierungen ermöglichen. Und 118
schließlich wäre es auch nicht falsch, wenn sie den Weg zu einem praktisch brauchbaren Wissen ebnen. In gewisser Weise wiederholen sich die bereits diskutierten Probleme auf einer neuen Ebene. Nähert man sich der skizzierten Thematik, so gerät man allerdings auch in durchaus vergleichbare Problemlagen. a)
Passt das Vorhaben überhaupt noch in die Zeit?
Wie kann man Bausteine zur Modellierung einer Gesellschaft suchen, die gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass die großen Theorien und Deutungen zusammengebrochen sind? Vom Zeitalter der Postmoderne wird nicht zufällig gesprochen. Mit dem Begriff soll das Ende der großen Theorien und einheitlichen Entwürfe, hier insbesondere das Ende des Projektes der Moderne, markiert werden. In den Details mögen die Sozialwissenschaftler noch uneins sein, aber im Kern kann sich niemand mehr dieser Einsicht verschließen. Doch was folgt daraus? Bedeutet es, dass es fortan sinnlos ist, überhaupt noch nach einem größeren Referenzrahmen für Theorie und Praxis zu suchen? Verstrickt man sich dann nicht automatisch in die besonders auch dem Konstruktivismus vorgeworfene Paradoxie, über etwas reden zu wollen, dessen Existenz man zugleich leugnet? Genau besehen sollten solche Zweifel eher als Schreibtischprobleme behandelt werden, weil der Alltag nicht darauf Rücksicht nimmt, dass wir über den Alltag nichts mehr sicher wissen können. Was unter dieser Perspektive aus der postmodernen Erfahrung folgt, ist nicht, alle theoretischen Bemühungen einfach einzustellen, sondern sie grundsätzlich in Klammern zu setzen. Theoretische Bemühungen bleiben natürlich wichtig, nur kann man sie nicht mehr absolut setzen. Um es ethnomethodologisch zu formulieren: Es geht eben nur noch um Wissen über den Alltag im Alltag. Schaut man noch einmal genauer hin, so sieht man: Das Ende der großen Theorien meint den Zerfall normativ aufgeladener Theorien wie der nationalen Erzählungen. Was wir seit Jahren erleben, ist genau dieser Theoriezerfall. Entsprechend beschränkt man sich heute meist auf Theorieskizzen und zugleich auf „überschaubare“ Reichweiten, setzt also statt auf große Theorien nur noch auf Perspektiven. Das Problem ist freilich, dass die uns verfügbaren Theorien „überschaubarer“ Reichweite oft auch nicht besonders hilfreich sind. Meist unterscheiden sie sich nämlich nicht hinreichend von den alten Ansätzen, weil sie immer noch mit dem gleichen Wahrheitsanspruch auftreten, den sie nur ein wenig vorsichtiger vortragen, wenn sie ihren Ansatz zwar nicht mehr gleich beim Weltgeist suchen, sondern bei niedrigeren Instanzen anknüpfen, aber dennoch auf eine normative Sicht nicht wirklich verzichten.
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Besonders plastisch wird das, wenn über Umweltfragen oder über Mobilität bzw. Migration diskutiert wird. Hier liegen schon aus forschungspragmatischen Gründen „Theorien überschaubarer Reichweite“ nahe. Aber dann zeigt sich schnell, dass solche niedriger ansetzenden Theorien zwar weniger anspruchsvoll auftreten mögen, aber aus der Not schnell eine Tugend machen. Und das geht dann so: Da Umweltfragen oder Mobilitätsthemen häufig zum Gegenstand staatlicher Maßnahmen werden, liegt es nahe, sie nicht einfach niedriger im Sinn von lokaler, sondern niedriger entsprechend dem gewählten Bezugsrahmen (Nationalgesellschaft) anzusetzen. Mit der Orientierung an einer Nationalgesellschaft eröffnet sich die Möglichkeit, diesen Kontext normierend zu nutzen. Die Breite und Tiefe einer Thematik wird perspektivisch auf nationalgesellschaftliche Fragestellungen, genauer auf für in einem staatlichen Steuerungskontext relevante Komponente reduziert und dann so abgebildet, dass die staatlichen Vorgaben zu zentralen, fraglos gegebenen Basisdaten avancieren. Tatsächlich wurden aber Themen wie Mobilität bzw. Migration oder Umweltfragen erst durch eine entsprechende Verrechtlichung in diesen Kontext gepresst, obwohl sie Phänomene sui generis darstellen, deren Entstehung und Verbreitung keineswegs in Nationalgesellschaften aufgeht. Der postmoderne Theoriezerfall hat also keineswegs zu mehr Offenheit geführt, sondern zu neuen Variationen eines alten Problems. Immer wieder begegnet uns der methodologische Nationalismus. Das heißt, man geht – zumal nach dem zweiten Weltkrieg – mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit davon aus, dass die Themen so zu behandeln seien, also ob die Grenzen des Staates mit den Grenzen einer Gesellschaft, und diese wiederum mit den Grenzen einer Problemlage identisch seien, dass also der Staat eine in jeder Hinsicht sinnstiftende bzw. sinnbegrenzende gesellschaftliche Einheit darstelle, letztlich Staaten, Gesellschaften und soziale, kulturelle oder ökonomische Herausforderungen miteinander verknüpft seien (Wimmer, Glick-Schiller 2002). Dieser Ansatz mag historisch vielleicht in solchen Fällen zumindest annäherungsweise berechtigt gewesen sein, so lange es relativ autarke Nationalstaaten gegeben hat und die Binneninteraktion innerhalb eines solchen Staates gegenüber einer zwischenstaatlichen Interaktion massiv dominiert hat. Aber spätestens nach dem Abschmelzen der Nationalstaaten und der Entstehung neuer supranationaler Konfigurationen wie der EU oder anderen wirtschaftlichen, politischen, militärischen oder kulturellen Zusammenschlüssen („Bündnisse“) ist dieser Ansatz nicht mehr adäquat und erscheint diese „Selektivität (scheinbar) erprobter Perspektiven“ (Mayntz 2002) mehr als fraglich. Wenn der Weltgeist, um noch einmal Hegel zu zitieren, bloß durch einen methodologischen Nationalismus ausgetauscht wird, dann ist es mit einer sinnadäquaten Einkreisung von spezifischen Problemen und Herausforderungen und auch mit darauf bezogenen Überlegungen und Einsich120
ten nicht weit her. So konzipierte „Einsicht schaffende Diskurse“ mögen zwar nicht mehr so groß angelegt sein wie z.B. eine marxistische Theorie oder eine neo-liberale Konzeption, sind aber nicht weniger problematisch, ja sogar noch problematischer, weil sie die Dinge nicht angemessen in den Blick nehmen. Aber das Problem geht, wie das Beispiel oben belegt, noch weiter. Der methodologische Nationalismus reduziert nicht nur die Phänomene, er provoziert auch falsche Reaktionen. Wenn es heute generell keine automatische Kongruenz zwischen Staat und Gesellschaft gibt, sondern nur noch von einer partiellen bzw. thematisch eingeschränkten Kongruenz gesprochen werden kann, die dann auch nur noch insoweit gilt, als sie eigens mit Aufwand hergestellt wird, dann erscheint die Mobilitätsthematik nur insoweit als eine Migrationsthematik als es dem Staat gelingt, sie in das Korsett eines staatlichen Regelwerks einzuzwängen, d.h. ihr durch Grenzkontrollen, durch Gesetzgebung, durch Bildungspolitik usw. Realität zu verleihen. Und das hat auf den verschiedensten Ebenen erhebliche Folgen. Wie man ibs. an den europäischen Grenzen beobachten kann, wird mit allen Mitteln versucht die „Migration“ zu stoppen, obwohl man in Wahrheit etwas ganz anderes tut, nämlich versucht, Mobilität in Migration zu transformieren, um der auf diese Weise umdefinierten Sachlage nunmehr rechtlich, nämlich normativ beikommen zu können. Aber tatsächlich hat man nicht Mobilität, sondern nur eine politisch definierte und rechtlich erzeugte „Migration“ reguliert, genauer gesagt, sie so lange verrechtlicht, normiert und etikettiert, bis man sie jetzt bei Bedarf kriminalisieren und damit der gouvernementalen Bewältigung überantworten kann. Empirisch betrachtet bleibt die Mobilität freilich bestehen und sucht sich notfalls nicht reglementierte Pfade. Wie hier bei der Mobilitätsthematik gilt im Blick auf die meisten Dimensionen gesellschaftlicher Wirklichkeit eine breite Inkongruenz zwischen Staat und Gesellschaft, was denn auch den Staat immer mehr zum Rückzug nötigt. Man kann natürlich den methodologischen Nationalismus „notfalls“ auf ganze Staatenbünde oder eine analog konzipierte Weltgesellschaft ausweiten. Aber selbst wenn heute Staaten zunehmend miteinander verschmelzen, so entstehen damit noch lange keine neuen Kongruenzen, weil sich das Verschmelzen nicht systematisch und nicht im Gleichklang mit dem Verschmelzen von Gesellschaften vollzieht. Vielmehr nehmen die Inkongruenzen eher noch weiter zu. Staaten einerseits und Gesellschaften anderseits entwickeln sich schon lange mehr oder weniger unabhängig voneinander und driften heute endgültig auseinander. Die Gesellschaften verdichten sich schrittweise, aber nie vollständig zu einer einzigen Weltgesellschaft; die Staaten schließen zwar einerseits zunehmend Bündnisse und bilden neue Zentren aus, verlieren aber anderseits gleichzeitig an Gestaltungshoheit. Diese „Weltgesellschaft“ gewinnt zwar an Bedeutung, die Staatenbündnisse werden gleichzeitig bedeutungsloser, aber sie ist nicht 121
einfach eine vergrößerte Gesellschaft, sondern stellt ein Gebilde sui generis dar, dass man erst einmal angemessen beobachten und dann auch erst einmal begreifen muss, bevor man wohlorientiert handeln kann. b)
Das Ende der großen Theorien ist zugleich die Geburtsstunde perspektivischen Beobachtens und Deutens
Nachdem der Versuch, große Theorien durch scheinbar erprobte Perspektiven mittlerer Reichweite zu substituieren, wenig erfolgreich verlaufen ist, dürfte auch der Versuch, den methodologischen Nationalismus auf Staatenbünde auszuweiten, wenig bringen. Alternativ sollte man versuchen, die Perspektive grundsätzlich zu wechseln und seine Beobachtungen, Beschreibungen und Modelle stets in Klammern setzen, also als etwas betrachten, was nicht Realität abbildet, sondern was als Teil von gesellschaftlicher Wirklichkeit diese mit bewirkt, also beobachtet, hervorbringt, konstruiert. Was man über den Alltag im Alltag hervorbringt, oder – etwas aktueller formuliert – was man im globalgesellschaftlichen Alltag über den globalgesellschaftlichen Alltag bewirkt, also beobachtet, hervorbringt, konstruiert, ist dann nicht von Schärfe, sondern von Unschärfen, nicht von einer Struktur, sondern von Prozessen, nicht von einem monolokalen Machtzentrum, sondern von polyzentrischen Netzen oder Machtdiskursen, nicht von einer klaren Abfolgelogik, sondern von einer multidimensionalen Möglichkeit, nicht von einem territorial gebundenen Orientierungsmuster, sondern von entgrenzten, translokal arbeitenden Kulturen bestimmt. Die hier notierten Beobachtungen sind im Grunde aus dem Konstruktivismus, aus den Interaktionstheorien, aus der Sozialisationsforschung längst vertraut. Aber sie sind sehr viel folgenreicher als zunächst bedacht. Solange man sie mit einer zunehmenden Undurchsichtigkeit von Gesellschaft verrechnet, es aber ansonsten bei der alten Orientierung, nämlich der an Nationalgesellschaften belässt, hat man die Entwicklungen noch nicht wirklich erfasst. Entscheidend ist, dass sich die kleinsten sinnhaft-sozialen Einheiten verändert haben. Wenn man bei seinen Beobachtungen immer wieder auf komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge stößt, die die Grenzen der überkommenen Nationalstaaten überschreiten, dann muss man seine Beobachtungen neu kontextualisieren, nämlich auf das Ganze beziehen. Hier ist es der Verdienst von Soziologen wie Ulrich Beck, dass er diese Situation am Beispiel von Umweltfragen, die sich eben auch jedem methodologischen Nationalismus entziehen, schon früh erkannt hat und deshalb eine Neukonzeptionalisierung unserer Beobachtungen forderte, nämlich die Orientierung an Weltgesellschaft. Es ist natürlich kein Zufall, dass er auf dieses Problem bei seinen Arbeiten über die Risikogesellschaft gestoßen ist, da 122
gesellschaftliche Risiken schon lange nicht mehr an Nationalstaatsgrenzen halt machen und deshalb früh den Blick auf größere Zusammenhänge gelenkt hatten, die zu sehen für ein adäquates Verständnis von Risiken fundamental ist. An diesem Punkt fangen die Schwierigkeiten erwartungsgemäß erst richtig an. Denn tatsächlich entsteht der Eindruck einer zunehmenden Undurchsichtigkeit von Gesellschaft nicht nur dadurch, dass man an den überkommenen Grenzen von Gesellschaft festhält und deshalb gewissermaßen die Übersicht. Der Eindruck hängt auch damit zusammen, dass bei dem Verschmelzen der Gesellschaften zu einer Weltgesellschaft nicht einfach Gesellschaft auf globalem Niveau neu konzipiert wird, weil sich ja der fundamentale System-Umwelt-Bezug auf dieser Ebene, wie oben einleitend schon angedeutet, nicht einfach wiederholen lässt. Aus der äußeren Umwelt der einzelnen Gesellschaft wird jetzt so etwas wie eine innere Umwelt, weil Weltgesellschaft per definitionem den letzten Verweisungshorizont darstellen soll. Und hinzu kommt, dass bereits die Beobachtung von gesellschaftlichen Prozessen, die schon auf der Ebene von Nationalstaaten nur schwer gelungen ist, in diesem Zusammenhang nicht gerade einfacher geworden sein dürfte. Im Gegenteil! Wie kann man Unschärfen, Prozesse, polyzentrische Netze und multidimensionale Wirklichkeiten überhaupt noch beobachten? Weltgesellschaft zu modellieren bleibt also eine wissenschaftliche Herausforderung ersten Ranges. Und das gilt weniger aus theoretischen als vielmehr aus ganz praktischen Gründen. Wer über Mobilität, über Migration, über Milieus oder Kulturen sprechen will, der muss sich an einem weltgesellschaftlichen Horizont orientieren, den er überhaupt nicht wirklich im Blick hat und auch niemals wird haben können. Mit anderen Worten, wir müssen uns sehr viel sorgfältiger mit Weltgesellschaft befassen, als das bislang geschehen ist, und müssen die paradoxen Rahmenbedingungen dabei im Blick behalten. Deshalb geht es um nicht weniger aber auch um nicht mehr als die Suche nach Bausteinen zur Modellierung einer postmodernen Weltgesellschaft und damit um neue Grundlagen eines kritisch verwertbaren Wissens. 2.3.2 Warum Ulrich Becks Weltgesellschaftstheorie zu kurz greift, aber dennoch für „Einsicht schaffende Diskurse“ weiter hilft Es gibt wie einleitend schon bemerkt eine ganze Reihe von Modellen, nach denen man sich dem Problem einer Weltgesellschaft zugewandt hat. Aber kein Modell hat sich also so exponiert und spannend erweisen wie das von Ulrich Beck. Das hat erkennbare Gründe. Seit seinen Arbeiten über die Risikogesellschaft geht er immer wieder den praktischen Herausforderungen der Gesellschaft 123
nach und analysiert die zunehmenden ökologischen, sozialen und kulturellen Risiken. Dabei zeigte sich schnell, dass die Nationalgesellschaften letztlich nicht mehr als Problemzurechnungshorizont genügen. Hier gibt es zwischen dem vorliegenden Anliegen, Mobilität bzw. migrationsspezifische Mobilität genauer in den Blick zu nehmen und Becks Anliegen, die diversen Herausforderungen problemadäquat zu analysieren, konvergierende Interessen. Beides ist heute nur noch unter einem globalen Horizont realisierbar. Und auch sein Motiv, die verloren gegangene Sicherheit wieder zu gewinnen, konvergiert mit dem, was im Kontext der Grammatik des urbanen Zusammenlebens zu Partizipation motivieren mag. Im Rahmen des urbanen Zusammenlebens ging es um einen regulativen Diskurs, sein Motiv ist „die Suche nach der verlorenen Sicherheit“ (Beck 2007). Allerdings hat sich Beck, als er in der Arbeit über die Risikogesellschaft dieses Problem bemerkte, von seiner grundsätzlichen Orientierung an dem, was für ihn die basalen Mechanismen einer Gesellschaft darstellen, nicht völlig verabschiedet. In mancherlei Hinsicht hat er dann doch wieder versucht, die aus der Risikogesellschaft wohlvertrauten Zurechnungen in die Analyse einer Weltgesellschaft zu übernehmen und teilweise sogar 1:1 zu übertragen. Das lässt sich bis in die Begrifflichkeiten hinein erkennen, allein schon wenn er von einer zweiten Moderne spricht. Einerseits modelliert Ulrich Beck Weltgesellschaft unter Anlehnung an das Gesellschaftsmodell der Kritischen Theorie. Er gewinnt damit nicht nur eindeutig Abstand vom methodologischen Nationalismus (Beck 207:296), sondern auch einen besonders erfolgversprechenden Zugang für die Frage, wie aus praktischer Vernunft Erkenntnis, Einsicht und politisches Bewusstsein erwachsen kann. Konkret geht es um die Lokalisierung von „Einsicht schaffenden Diskursen“. Anderseits bleibt er bei einer Theorie der (jetzt zweiten) Moderne stehen. Aus der Theorie der Moderne wird eine der Zweiten Moderne, aus der “Risikogesellschaft” leitet er direkt die „Kritische Theorie der Weltrisikogesellschaft“ ab. Im Grunde wechselt er nur den Maßstab, legt einen größeren Maßstab an, modelliert aber die Weltrisikogesellschaft weitgehend wie eine Nationalgesellschaft. Vergleicht man die genannten beiden Ansätze58, so ergibt sich ganz knapp formuliert: 58
Aus Politik bzw. aus der ins Subpolitische verlagerten Politik wird globale Politik bzw. eine ins Global-Subpolitische verlagerte, von multinationalen Konzernen gesteuerte Politik Aus Öffentlichkeit aus doppelter Reflexivität werden nun Weltöffentlichkeit und reflexive Modernisierung
Ich beziehe mich auf die beiden wichtigsten Texte von ihm, nämlich die „Risikogesellschaft“ und die „Weltrisikogesellschaft“, die schon vom Titel her parallel formuliert sind (beide zuletzt 2007) .
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Aus Krisen bzw. Risiken werden nun globale Krisen, Terrorismus und virtuelle Kriege Aus Gesellschaft bzw. Staat wird eine Meta-Gesellschaft bzw. Global Governance Aus dem methodologischen Nationalismus wird nun ein methodologischer Kosmopolitismus Aus der doppelten Reflexivität der Risikogesellschaft wird nun eine globale Reflexivität der Weltrisikogesellschaft.
So bestechend und wegen ihres analogen Argumentationsverfahrens auch gut nachvollziehbar diese Gedankenführung ist, so ist sie doch inkonsequent. Zwar lassen sich so manche Herausforderungen und Risiken tatsächlich auch in einem globalen Maßstab gut abbilden, weil man durch den neuen Maßstab auch staatenüberschreitende Aspekte erfassen kann, die man vorher nicht beschreiben konnte. Wenn man Globalgesellschaft als Summe mehrerer Staaten betrachtet, dann erhält man in der Tat die Möglichkeit, die Probleme mal als Aus- und mal als Einwirkungen differenzierter zu erfassen (Beck 2007:293). Und so faszinierend auch der Gedanke ist, die Erfahrungen mit der Zivilgesellschaft maßstabgetreu auf Globalgesellschaft zu übertragen, schon weil man dabei einen Referenzrahmen in die Hand bekommt, globale Bewegungen erstmalig transparent zu machen, aber ist das adäquat? Beck selbst zweifelt offenbar an seinem Verfahren. Er geht nämlich im Verlauf der Analyse von einer Bestandsaufnahme zu Forderungen nach einer kosmopolitischen Realpolitik über (Beck 2007:368). In der Diskussion notiert er denn auch, dass diese kosmopolitische Politik mehr als die Summe der lokalen Politiken sein sollte, weil es sonst (das Beispiel Klimapolitik) niemals zu einem Fortschritt in der Sache kommt. Was zunächst einmal die Herausforderungen und Risiken betrifft, so ist das Kernproblem, dass sich weder die Nationalgesellschaften noch entsprechende größere Zusammenschlüsse einer ihnen immanenten Logik verdanken, dass sie nicht auf einer quasi genetischen Programmierung basieren, die sich sowohl im Kleinen wie im Großen realisieren lässt. Die Gesellschaft steht keineswegs in einer „Entwicklungsabfolge“ z.B. von Familie, Sippe, Stammesgesellschaft, Volk, Nation oder was auch immer, sondern hat sich als Organisationshorizont in Reaktion auf komplexe soziale, ökonomische, politische, technologische und religiöse bzw. kulturelle Entwicklungen durch Ein- und Ausgrenzung etabliert. Die Moderne verdankt sich keiner intrinsischen Entwicklungslogik, sondern historisch bedingten, technologischen sowie ökonomischen Fertigkeiten und deren institutioneller Einbindung durch Ein- und Ausgrenzungen und bildet nur insofern und insoweit eine spezifische Gesellschaftsformation.
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Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass selbst dies eine nur sehr grobe Beobachtung darstellt. Man betrachte nur die Grenzziehungen! Selbst sie basieren tatsächlich weniger auf virtuellen Horizont- und Grenzziehungen entlang eines Staates als vielmehr auf ganz alltagspraktischen Ein- und Ausgrenzungsmechanismen, die sich zunächst in der europäischen Stadt als einem lebenden System an den äußeren wie inneren Systemgrenzen entwickelten. Zugleich waren und sind diese „Systemgrenzen“ extrem durchlässig, weil nur die unterschiedlichsten Vernetzungen im Rahmen eines mehr oder weniger komplexen überregionalen Horizontes Prosperität ermöglichen. Es wurde schon immer ein großer Aufwand betrieben, sich gewissermaßen unterhalb dieser Netzwerke durch Markierungen und Leitbilder, durch Gesetze und Grenzbestimmungen als lebendes System zu erhalten. Mit anderen Worten, in der europäischen Stadt genau wie in den europäischen Staaten wurden und werden Chancen und Risiken, Herausforderungen und Probleme, selbst wenn ihre globale Vernetzung gesehen wird, nur lokal bearbeitet und das in der Regel auch nur insoweit dies unvermeidbar ist, also durch eine massive Reduktion ihrer Komplexität. Wenn das nicht mehr trägt, dann kann man natürlich, wie das die EU versucht, einen umfassenderen Staat gründen, nur dass dieser größere Staat eben letztlich vor den gleichen Problemen steht und nur partiell und unterhalb globaler Vernetzungen wirksam werden kann. Die mühsame Bewältigung der durch globale Spekulationen im Rahmen ökonomischer Netzwerke produzierten Weltwirtschaftskrise von 2008/9 ist dafür ein lehrreiches Beispiel. Daraus kann man erkennen, lokale Gesellschaftsmodelle sind zur Modellierung von globalgesellschaftlichen Prozessen ungeeignet. Sie wären nicht nur unterkomplex, sondern müssten auch Strukturelemente und Relationen postulieren, die in der Realität keine Entsprechung haben.59 Es bedarf eines anderen Modells, das die globalen Vernetzungen rekonstruierbar macht. Hier interessiert allerdings besonders die Frage, wie man angesichts sich weltweit abspielender Mobilitätsprozesse dazu korrespondierende Einsichten gewinnen kann – und zwar solche Einsichten, die bei dem Umgang mit Mobilität bzw. der Akkommodation auf Diversität weiter helfen. Der hier erhoffte Referenzrahmen, die Weltrisikogesellschaftstheorie, erweist sich generell als problematisch. Bleibt zu prüfen, ob sie speziell für diese Fragestellung etwas ergibt. Bei den Überlegungen zu den „Einsicht schaffenden Diskursen“ werden die markierten Probleme erneut relevant, zum Teil schon deshalb, weil sie bereits auf der Ebene der Risikogesellschaft nicht eindeutig erfasst werden. Schon auf der Ebene der Nationalgesellschaft Deutschland erscheint die Rolle des Politi59 Ich habe oben in der Einleitung von 3.3 schon auf eine für lebende Systeme existentiell wichtige Relation hingewiesen, die es auf der Eben einer Weltgesellschaft nicht gibt: die System-UmweltRelation.
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schen aus gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive hoch differenziert. Einerseits wird nur ein Teil des Politischen überhaupt im politischen System eingefangen, weitere Bereiche des Politischen werden allenfalls im zivilgesellschaftlichen Kontext verhandelt und manche politisch relevanten Herausforderungen bleiben unbearbeitet oder finden nicht genügend Aufmerksamkeit, Solidarität und damit keine Unterstützung. Anderseits ist das politische System selbst auch alles andere als einheitlich. Vielmehr muss man selbst innerhalb des politischen Systems mit unterschiedlichen Realisierungsformen von Politik rechnen. Die kommunale Wirklichkeit ist eben etwas völlig anderes als eine zentrale Staatsebene. Und erst recht ist es dann fraglich, wenn man etwas 1:1 auf eine Weltgesellschaft überträgt. Welche alltägliche Wirklichkeit gerät so weit und so umfassend in den Blick, dass sie für eine Beobachtung und Beschreibung im Kontext von Weltgesellschaft taugt?60 Noch sehr viel schwieriger wird es, wenn man den Bedeutungswandel des Politischen, nämlich den Rückzug der Politik aus vielen wichtigen gesellschaftlichen Segmenten mit in Rechnung stellt. Selbst wenn man nicht gleich davon reden mag, dass die Kommunen bzw. die kommunalen Parlamente die Städte bzw. die weitere Stadtentwicklung den Investoren zur Beute vorwerfen, so ist der Wandel doch auf kommunaler Ebene eindeutig. Die Kommunen geben überkommene politische Handlungsspielräume auf. Doch ist der sich, z.B. auf der Ebene der Nationalgesellschaft, in dieser Hinsicht vollziehende Wandel ein anderer. Hier zieht sich die Politik nicht unbedingt zurück, sondern geht Bündnisse mit Verbänden, Konzernen und global players ein. Dabei entstehen neue polyzentrische Konglomerate, die als Orte einer ökonomisch dominierten Subpolitik beschrieben werden können. Blickt man nun auf Weltgesellschaft, so wird man sofort registrieren, dass es auf dieser Ebene überhaupt keine politischen Zentralinstanzen mehr gibt. Man mag das noch zur Zeit des kalten Krieges gedacht haben, doch rechnete man auch damals schon zumindest mit drei Zentren, dem Westen, dem Osten und dem „Nicht-Zentrum“ Dritte Welt. Seitdem haben sich die Verhältnisse bekanntlich weiter verkompliziert. Und das gilt letztlich auch für die Zivilgesellschaft, die sich auf der Nationalstaatsebene auch nur insoweit primär an der Gesellschaft als verbindlichem Format orientiert, als sie sich dem etablierten politischen System anschmiegt. Sobald sie das nicht tut, verliert sie den vertrauten Referenzrahmen. Auch hier ist es kaum vorstellbar, dass sich diese Situation auf globaler Ebene „verbessert“. Vielmehr ist zu erwar-
60 Wenn es schon nicht gelingt, ganz alltägliche Verwerfungen im lokalen politischen Umfeld eindeutig abzubilden, weil sich das politische System nur für partiell zuständig hält, und die Zivilgesellschaft hier auf eine eigene Öffentlichkeit angewiesen ist, dann kann man sich leicht vorstellen, dass – wenn man beobachten kann, wie sich bestimmte alltägliche Verwerfungen in einer globalen Öffentlichkeit wiederfinden –, hier ganz andere als die etablierten Mechanismen eine Rolle spielen müssen.
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ten, dass sich die Dinge auf globaler Ebene noch sehr viel eigenständiger darstellen, also eine eigene Logik entwickeln. Die These ist hier, dass sich weder gesellschaftliche Herausforderungen, Risiken und Verwerfungen auf globaler Ebene nach der Logik von Nationalgesellschaften darstellen lassen, noch dass das bei darauf bezogenen Einsicht schaffenden Diskursen gelingen dürfte. Die Unschärfen, die schon auf lokaler Ebene bestehen und bereits auf der Ebene von Nationalgesellschaften unübersehbar sind, dürften sich auf dieser globalen Ebene so weiter verstärken – so weit, dass mit ganz anderen Konfiguration zu rechnen ist und zwar gerade hinsichtlich der Bedingungen von „Einsicht schaffenden Diskursen“. 2.3.3 Wenn die überkommenen Strukturen der Gesellschaft durch globale Netzwerke substituiert werden Wenn man zugesteht, dass eine Globalgesellschaft nicht nach der Logik eines lebenden Systems modelliert werden kann – das mag noch bei dem Konzept einer Risikogesellschaft möglich gewesen sein, obwohl man da auch seine Zweifel haben mag, weil da ja noch mit den überkommenen Nationalgesellschaften gerechnet wurde, die sich als solche fortschreitend selbstreferenziell aufzulösen scheinen – so empfiehlt sich der Blick zurück auf lokalgesellschaftliche Figurationen. Der Weg von der Nationalgesellschaft zur Globalgesellschaft hat sich gewissermaßen als Bumerang erwiesen. Was kann man hier festhalten? Lokalgesellschaften haben sich bis dahin verfestigt, dass sie sich in Stadthallen und anderen Repräsentationsbauten quasi rematerialisieren, und der globalgesellschaftliche Horizont hat sich virtuell etabliert, absolut und aus heutiger Sicht unumkehrbar virtualisiert. Man könnte es so formulieren: Die überkommenen Strukturen von Gesellschaften verfestigen sich im kleinen Rahmen einer Stadtgesellschaft im Modus einer sozialen Grammatik und diffundieren global und regenerieren sich auf der Basis neuer Modalitäten. In diesem Prozess werden die sich verflüchtigenden basalen Strukturkomponenten, die in der sozialen Grammatik des urbanen Zusammenlebens noch mit „systemisches Arrangement“ und mit „politischer Diskurs“ gekennzeichnet wurden, durch spezielle globale Netzwerke ersetzt bzw. imitiert – durch Netzwerke, die sich unter einem globalen Horizont weltumspannend ausbreiten. Mit anderen Worten, unter globalgesellschaftlichem Horizont werden die Karten neu gemischt, wobei sich einerseits die Lokalgesellschaften radikalisieren und anderseits globale Netzwerke neu etablieren. Um das genauer in den Blick zu bekommen, was hier passiert ist, bzw. wie man diese virtuellen globalgesellschaftlichen Netzwerke genauer modellieren 128
kann, habe ich einleitend schon einen Weg skizziert und greife dementsprechend auf die Diskussion über Governance und Multitude zurück. Vor dem Hintergrund der Debatte über das Weltrisikogesellschaftsmodell von Ulrich Beck ist zu vermuten, dass diese beiden Diskussionen sich zwar vielleicht noch nicht unmittelbar als der „Stoff“ erweisen, aus dem sich die hier gesuchten globalen Netzwerke materiell entwickeln, aber doch die Dynamik oder Logik besser als bei anderen Modellierungsversuchen durchscheinen lassen, was die globalen Netzwerke hervorbringt und wie damit ein globalgesellschaftlicher Horizont beschreibbar wird. Wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten,
dass sich auf der einen Seite zunehmend Lokalgesellschaften, Städte, Metropolen usw. ausdifferenzieren, die eine in der Regel sehr klare Struktur entwickeln und für die die Bevölkerung gewissermaßen eine individualisierte „innere Umwelt“ darstellt, dass sich auf der anderen Seite Weltgesellschaft als globaler Horizont abzeichnet, in dem sich diverse globale Netzwerke (Castells 2008) ausdifferenzieren, für die allerdings die Lokalgesellschaften, bis zu Global Cities (Sassen 2007) nach wie vor so etwas wie eine „innere Umwelt“ darstellen und dass man hier durchaus treibende Kräfte ausmachen kann: die „Governance“ einerseits und die „Multitude“ anderseits, die, Lokales global vernetzend, unter einem globalgesellschaftlichen Horizont neue Wirklichkeit hervorbringen.
Unter diesen Bedingungen sollen jetzt die beiden Konzepte „Governance“ und „Multitude“ diskutiert und geprüft werden: Sind sie geeignet, die Dynamik der überkommenen Strukturen von Gesellschaften im Kontext von globalen Netzwerken zu substituieren? a)
Governance als die eine zentrale Ressource für globale Netzwerke
Der Ausgangspunkt für die weitere Diskussion ist die Überlegung, dass unter globalgesellschaftlichem Horizont eine neue Modellierung versucht werden muss, wobei sich einerseits Lokalgesellschaften neu positionieren und anderseits globale Netzwerke neu etablieren. Da sich jedoch globale Netze anders als Lokalgesellschaften nicht beobachten lassen, ist es naheliegend, gerade an die lokale Situation und die sich hier unter den Bedingungen der Postmoderne abzeich-
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nenden Veränderungen anzusetzen und sie zur argumentativen Verankerung zu nutzen, ohne sie freilich im größeren Zusammenhang einfach abzubilden. Um den Gewinn eines solchen Blicks deutlich zu machen genügt zunächst ein Verweis auf die von Harmut Häußermann sehr plastisch zusammen gestellten Überlegungen zur New Urban Governance (Häußermann 2006:125f). Er ist daran interessiert herauszuarbeiten, wie sich die urbane Dynamik von ihrer traditionellen Logik entfernt und so konstituiert, dass dabei Politik, Wirtschaft sowie private Interessen zu einer komplexen Gemengelage zusammen finden. In diesem Zusammenhang wandelt sich auch die Quartierentwicklung, wird dereguliert, wird entgrenzt und auf die Hervorbringung eines einzelnen, wohldefinierten gesellschaftlichen Elementes hin fokussiert. Soweit klingt dies einleuchtend und auch empirisch fundiert. Lokalgesellschaft wandelt sich unter den Bedingungen der Postmoderne zu Projekten und bildet damit genau das ab, was Postmoderne im Kern ausmacht, nämlich die Verabschiedung von größeren Mustern. Wichtig ist jedoch dabei zu sehen, und da ist Häußermann zu kritisieren, dass er zwei in meinen Augen entscheidende Punkte vernachlässigt. Erstens wird bei ihm in der Projektentwicklung alles gebündelt, was in einer Stadtgesellschaft ökonomisch, politisch sozial und kulturell von Bedeutung ist – alles, bis auf die Bevölkerung. Dass die Bevölkerung dabei letztlich außen vor bleibt, mag am Beginn des Umbaus der Stadtentwicklung in den 90er Jahren noch nicht so deutlich gewesen sein; heute ist es klar, sie wurde nachhaltig marginalisiert und spielt in der Regel keine Rolle mehr. Und zweitens bettet sich diese Projektentwicklung in neuartige Zusammenhänge ein, was dann erkennbar wird, wenn man einmal die ökonomischen Dimensionen der Maßnahmen differenzierter analysiert. Dann werden nämlich übergreifende bzw. überwölbende Cluster erkennbar, in die sich dieses vordergründig autonome Projekt im größeren Rahmen einer Region oder sogar global (etwa über Privat Partnership) eingliedert. Insofern meint die New Urban Governance eine „Governance without government”. Das mag man nicht gleich an jedem Projekt, das in der Stadt entwickelt wird, erkennen, weil in früheren Jahren oft noch partizipative Elemente mit eingefügt wurden. Aber unterdessen ist klar, dass Stadtentwicklung gerade deshalb in eine derartige Projektentwicklung transformiert wird (nämlich an Investoren übergeben), weil man damit Partizipation aushebeln kann. Was sich damit abzeichnet: Es entsteht etwas gänzlich Neues, was als Indiz dafür betrachtet werden kann, wie sich globale Vernetzungen unter diesen Bedingungen entfalten – als Indiz, weil die globalen Netze ja gegenüber der neuen Entwicklung in der Lokalgesellschaft anschlussfähig sein müssen, damit sie der oben beschriebenen Dynamik genügen können. Was entsteht, sind projektüberwölbende Cluster, die den Übergang von lokalen Projekten zu globalen Netzen herstellen. 130
„Lokale“ Wirtschaftscluster (Bündnisse zwischen Ökonomie, Politik und Wissenschaft mit ihren jeweiligen sub-politischen Implikationen und ihren Risiken) geraten zu einem überschaubaren Ausschnitt aus einem globalen politischökonomischen Verfügungsapparat. Dort, wo diese Cluster greifen, wandelt sich die Stadtgesellschaft und beginnt sich global zu vernetzen, also unter einem globalgesellschaftlichen Horizont neu zu etablieren. „Unter einem „regionalen Wirtschaftscluster wird hier (...) eine räumliche Konzentration von (vornehmlich kleinen und mittleren) Unternehmen einer Branche oder einer Wertschöpfungskette verstanden, die im Verbund nationale, europäische oder sogar globale Märkte beliefern. Die Besonderheit dieser regionalen Wirtschaftscluster liegt in der arbeitsteiligen Produktion spezialisierter und funktional differenzierter Klein-und Mittelunternehmen, die in unmittelbarer räumlicher Nähe (zumeist in einer Stadt oder in miteinander verbundenen Kommunen) so etwas wie eine regional arbeitsteilige Produktionseinheit bilden (Cluster), wobei sich die kleinen und mittleren Unternehmen des Clusters jeweils auf komplementäre Teilschritte der Produktion eines speziellen regionalen Produkts (beispielsweise hochwertige Bekleidung in Prato, Küchenmöbel in Ostwestfalen-Lippe, Messer- und Schneidewerkzeuge in Solingen, Verpackungsmaschinen in Bologna) spezialisieren.“ (Glasmann, Voelzkow 2006:223)
Was Projekte im Kleinen bilden, stellt sich dann im größeren Zusammenhang als Cluster und unter einem globalen Horizont als ökonomisch definierte Netzwerke dar. Um das, was hier anders ist, noch einmal deutlich zu machen: In der hier kritisierten Logik einer modernen Nationalgesellschaft müsste man hier von „transnationalen Räumen“ sprechen, also der Verknüpfung von lokalen nationalen Räumen zu transstaatlichen Räumen, wie das z.B. Thomas Feist (Feist 2000) versucht. Und man müsste einen eindeutig ökonomisch gefüllten transstaatlichen Raum unterstellen. Nach dem Ende der Moderne, im Zeitalter der beginnenden Postmoderne geht es jedoch „nur noch“ um Governance-Cluster, die einerseits ökonomisch dominiert werden und die anderseits sub-politisch ausgerichtet viele zentrale Aspekte des Sozialen, des Politischen, des Kulturellen usw. mit zu assimilieren versuchen und dabei zunehmend zu weltweit agierenden Netzwerken übergehen. Die Projekte auf lokaler Ebene wandeln sich beim Übergang zu größeren Zusammenhängen schrittweise zu Clustern, z.B. auf europäischer Ebenen und schließlich zu Vernetzungen im globalen Horizont. Dieser Wandlungsprozess hat sich historisch vollzogen und vollzieht sich auch aktuell immer wieder, so dass der Eindruck von Ungleichzeitigkeit entsteht. Tatsächlich ist mit allen „Aggregatzuständen“ gleichzeitig zu rechnen. Das macht die Governance sehr effektiv und brisant, aber auch unangreifbar und mächtig. Es ist wenig erstaunlich, dass
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sie bestrebt ist, alles mit einzubeziehen, was für ihren Erhalt effektiv erscheint. Michael Foucault hatte dazu zunächst den Begriff der Biopolitik eingeführt. Heute kann man genauso auf die neoliberale Theorie verweisen. Auch sie kommt in ihrem Selbstanspruch diesen Zusammenhängen durchaus nahe, stellt so etwas wie die aktuellste Selbstinterpretation dieser Governance dar. Dass diese Selbstinterpretation sich erst in den letzten 50 Jahren angebahnt hat, spricht für ihre postmoderne Ausrichtung. Sie begleitete den Übergang der Moderne zur Postmoderne, und wenn sie im Einzelfall sehr unterschiedlich ausfällt, ist dies auch sofort erklärbar, weil sie kein Projekt, sondern „nur“ eine Begleiterscheinung, eine Rechtfertigung ex ante darstellt. b)
Multitude als die andere zentrale Ressource für globale Netzwerke
Die zweite Ressource ist nicht weniger komplex und genauso schwierig zu identifizieren. Es geht jetzt um den „Gegenspieler“ zur Governance, um die Bevölkerung. Ansonsten kann man zunächst einmal auch hier an die lokale Situation anknüpfen und muss dann nur erneut die Aufmerksamkeit darauf richten, wie sich diese lokale Situation unter dem Eindruck der Postmoderne verändert hat und schließlich überlegen, wie sie sich im größeren Zusammenhang schrittweise neu darstellt. Wie oben ist auch jetzt mit einem schrittweisen Wandlungsprozess zu rechnen, der sich historisch angebahnt hat, sich aber zugleich auch immer wieder aktuell vollzieht, so dass der Eindruck von Ungleichzeitigkeit entsteht. Man sollte auch in diesem Fall mit allen „Aggregatzuständen“ gleichzeitig rechnen – also mit Menschen unterschiedlichster Mobilität, solchen, die standorttreu sind, genauso wie solchen, die ein modernes Nomadentum repräsentieren (1.2 e), allen Varianten einer „Existenzweise der Vielen als Viele“ unter einem globalen Horizont. Diese eigentlich sehr alte Begrifflichkeit der „Existenzweise der Vielen als Viele” wird von Paolo Virno (Virno 2005) eher im Sinn von Baruch de Spinoza (Bartuschat, Gebhardt 1994: XXVI) als im Sinn von Hardt und Negri (Hardt, Negri 2000) in die Diskussion gebracht. Dieser Rückgriff dient dazu, den Multitude-Begriff von Michael Hardt und Antonio Negri von seinem Aktionismus zu befreien61. Blicken wir zunächst wieder auf die sich wandelnde Lokalgesellschaft. Die „Existenzweise der Vielen als Viele“ hat sich hier zunehmend diversifiziert. 61 Die Begrifflichkeit bietet im vorliegenden Zusammenhang eine ganze Reihe von Anregungen und macht sie deshalb besonders geeignet für die Beschreibung der Basis und Ausrichtung entsprechender globaler sozialer Netzwerke. Sie ist allerdings trotz aller Kritik an Hardt und Negri wiederum auch nicht ohne einen vorsichtigen Rückgriff auf deren Multitude-Konzept verwendbar, weil es bei Spinoza ja noch darum ging, den Staat zu fundieren.
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Lange ging man in Stadtgesellschaften von einer im Prinzip homogenen Bevölkerung aus, die sich allenfalls intern nach Schichten bzw. Klassen ausdifferenzierte. Selbst in den aktuellen Milieustudien, selbst wenn sie Allochthone interpretieren (SINUS sociovision 2007), wird in der Regel noch jene alte Struktur zugrunde gelegt, wobei man nur Aufweichung von Schichten in Richtung Milieus konzediert. Erst allmählich wird deutlich, dass sich die Städte längst geändert haben, es zwar durchaus noch Schichten und Milieus gibt, diese sich aber längst global orientieren, weil einerseits die Mobilität erheblich zugenommen hat und heute kaum mehr als 1/3 der Bevölkerung langfristig standorttreu geblieben ist und zum anderen, weil sich die Bevölkerung nicht mehr bodenständig, sondern virtuell über die neuen Medien usw. orientiert (Bukow 2007:29ff ). Damit würden sich denn auch die neuen SINUS-Befunde schnell erklären lassen. Die Bevölkerung ist auf diese Weise nicht nur internationaler, sondern zugleich auch global geworden, also vielfältig bzw. divers. Ironischer Weise entsteht damit eine „internationale“ Ausrichtung der Menschen, geprägt nicht mehr wie zu Zeiten des frühen Kapitalismus durch die spezifischen Auswirkungen von Industriearbeit, sondern durch die spezifischen Botschaften der neuen Medien (Virno 2005:137). Geht man von der sich wandelnden Bevölkerungssituation in den Stadtgesellschaften aus und überlegt, was passiert, wenn dieser Wandel global Schule macht, dann wird schnell erkennbar, wie nützlich der „Multitude“-Begriff ist:
Er unterscheidet sich von jedem Volks- und Ethnizitätsbegriff: Dafür gibt es vor allem zwei Gründe. Der erste ist, dass man aus den eben angeführten Gründen (Mobilität, transnationale Orientierung, Globalisierung) der Bevölkerung keine ethnische Orientierung mehr unterstellen kann. Eine ethnische Orientierung verlangt nicht nur eine ausgeprägte Standortreue, sondern darüber hinaus auch eine weitgehend geschlossene Erfahrungswelt, wie sie schon seit dem Beginn der Neuzeit nicht mehr zu erwarten ist. Ironischer Weise wird über Ethnizität besonders oft spekuliert, wenn die Bedingungen für eine Ethnogenese besonders ungünstig sind. Ganz extrem wird diese Spekulation dort, wo man besonders wenig über die Hintergründe einer Gruppe weiß, nämlich bei Einwanderern, die oft genug en bloc zu einer Ethnie definiert werden. Der zweite Grund ist struktureller Art. Durch Mobilität und Migration geprägte Gesellschaften und das sind heute faktisch alle Gesellschaften, müssen ihren Zusammenhalt formal organisieren. Ethnische und überhaupt spezifische kulturelle Orientierungen sind für die Ordnung des Zusammenlebens unter den Bedingungen zunehmender Diversität völlig untauglich und wären kontraproduktiv. Sie sind längst konstitutiv belanglos (Sen 2007:47). 133
Der Begriff der Multitude berücksichtigt dies und geht davon aus, dass die Menschen durch gemeinsam erfahrene Mobilität im Zeitalter der Postmoderne geprägt sind. Das heißt aber keineswegs, dass sich diese Gemeinsamkeiten automatisch in einem gemeinsamen Willen nieder schlagen (Virno 2005:85). Es geht um Erfahrungsgemeinsamkeiten, nicht aber um Interessengemeinschaften und damit keinesfalls um eine soziale Bewegung, auch wenn dieser Idee etwas „Verführerisches“ anhaftet. Die Multitude ist jedoch eine „Kampfansage“ gegen abgehobene politische Körper und richtet sich gegen die Tradition des Souverän: Man kann den Begriff der Multitude nur dann adäquat konzeptionalisieren, wenn man ihn der Governance entgegen setzt und insoweit analog formuliert. Wenn man ihn im Sinn von „Governance without government“ beschreibt, dann kann man unter Multitude auch die Debatten über die Zivilgesellschaft mit berücksichtigen und Bevölkerung als Summe einer aktiven, dynamischen „Existenzweise der Vielen als Viele“ betrachten. Allerdings muss dieser Bezug kritisch gehandhabt werden, weil es hier auf die Rolle der Bevölkerung als eigenständiger Faktor ankommt und nicht, wie das bei Ulrich Beck z.B. zunehmend geschieht (Beck 2004:341), die Zivilgesellschaft mit dem Staat und der Verfassung verknüpft wird. Die Eigenständigkeit der Bevölkerung im Rahmen der Zivilgesellschaft ist seit langem gut zu beobachten. Ein unterdessen klassisches Beispiel ist der Gegengipfel von Seattle von 1999 und wird von den beiden Autoren zu Recht zitiert: „Das Speakeasy Internet Cafe an der Second Avenue in Seattle sollte eines der »convergence centers« bilden. In den wie immer grauen letzten Novembertagen 1999 trafen sich Aktivistengruppen im Speakeasy(...). Einige Aktivisten waren von außerhalb der Vereinigten Staaten angereist und viele stammten aus anderen Städten an der Westküste, aber der Großteil von ihnen kam aus Seattle. An den High Schools hatten die Lehrer mit ihren Schülern die globalen Probleme behandelt, die Studenten hatten sich mit dem Welthandel beschäftigt, kirchliche Gruppen und politische Aktivisten hatten Straßentheater geplant und Seminare über gewaltfreien Protest abgehalten, Anwälte hatten Beobachterteams und Rechtsbeistand im Falle von Verhaftungen organisiert: Seattle war bereit(...). Ein paar Häuserblocks vom Speakeasy entfernt hatten sich Delegierte und Staatsoberhäupter aus 135 Ländern zu einem Gipfeltreffen der Welthandelsorganisation (WTO) versammelt, um über Agrarsubventionen, Preisdumping und andere Handelsfragen zu diskutieren. In den folgenden Tagen aber gelang es den dramatischen Protesten nicht nur, den Abschluss des Treffens und eine gemeinsame abschließende Erklärung zu verhindern, sie stahlen den Staatspräsidenten, Premierministern und offiziellen Delegierten auch die Schlagzeilen. Im hellen Licht der weltweiten Medienaufmerksamkeit entlud sich auf den Straßen von Seattle eine Schlacht um die neue Weltordnung.” (Hard, Negri 2004:316)“
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Das von den beiden Autoren vorgestellte Konzept greift in vielen Punkten die Idee einer globalen Zivilgesellschaft auf, formuliert sie aber sehr viel adäquater im Sinn eines unscharfen, polyzentrischen, sich nur flüchtig lokal verankernden virtuellen Netzwerks. Es konstituiert kein verborgenes, sondern ein „öffentliches“, diskursives Kommunikationssystem, das unterdessen mit der Fortentwicklung der neuen Medien noch weiter „virtualisiert“ und „individualisiert“ erscheint. Auf diese Weise entwickelt sich ein strategischer Gegenpol zu den zuvor beschriebenen Clustern. Ironischer Weise nutzt man dieselben Medien, wie sie auch von den Clustern verwendet werden, die neuen Informations-, Kommunikations- und Repräsentationsmedien bis zum WAP2. Die Multitude existiert also durch Netzwerke, über die sich die Bevölkerung einen neuen Aggregatzustand aneignet und globale Vernetzungen etabliert, auch wenn sie nicht so „mächtig“ wie ihr Gegenpart sein mögen. Im Grunde entwickeln sich beide Seiten parallel zueinander. Die Globalisierung der formalen gouvernementalen sowie ökonomischen Strukturen bedingt die Ausweitung der Multitude und umgekehrt. Zu Recht verweist Holzer (2008:143) auf die eigentümlichen Integrationsformen, die sich unter einem globalgesellschaftlichen Horizont einstellen, die eben keine dichte und solidarische Konfiguration darstellen, selbst wenn einmal „Weltereignisse“ eintreten, die so etwas nahe legen mögen. c)
Einsicht schaffende Diskurse
Durchdenkt man diese beiden Seiten „Governance“ und „Multitude“, so stellt man schnell fest, dass weder die Governance noch die Multitude über eine reflexive oder – in der Sprache von Ulrich Beck – über eine doppelt reflexive Position verfügen. Sie sind ganz im Gegenteil intrinsischer Bestandteil der globalgesellschaftlichen Dynamik. Sie sind sogar Bestandteil der gleichen Dynamik, also Teil desselben Handlungs- und Problemfeldes. Die Konsequenzen aus diesem Befund sind nicht ganz einfach einzuschätzen. Deshalb ist es ganz wichtig, einerseits die Ausdifferenzierung von Lokalgesellschaften ernst zu nehmen und anderseits die Ausweitung des Bezugshorizontes der Lokalgesellschaft auf einen globalgesellschaftlichen Horizont möglichst eng an den Befunden zu rekonstruieren. Stets sind diese zwei Referenzen zu berücksichtigen. Und es ist zu bedenken, dass sich die urbane Stadtgesellschaft mit ihren formalen Systemen einerseits und der sich zunehmend verfestigende globalgesellschaftliche Horizont als letzter Verweisungshorizont anderseits ständig immer wieder verändern. Die eine Referenz erscheint zurzeit zunehmend komplexer, manifestierte Vielfalt, verdichtet zu Städten, eingebunden in Regionen und ganze Städtelandschaften. Die andere Referenz erscheint zunehmend 135
virtuell; der globalgesellschaftliche Horizont figuriert nur als letzter und umfassendster Bezug und zunehmend wie ein bloßes Kontingenzversprechen. Zwischen diesen beiden Referenzen etabliert sich das, was uns hier besonders interessieren muss: die polyzentrischen Netze oder Machtdiskurse. Sie werden weder durch identisch gehaltene Kulturen wie die lokalen Zentren noch durch virtuelle Orientierungsmuster austariert oder eingegrenzt, sondern agieren nach den Regeln formal-rationaler Technik, die durch die Medien, durch die Informations-, Kommunikations und Repräsentationsmedien wie selbstverständlich bereit gestellt wird und fundieren sowohl die Governance als auch die Multitude. Damit wird dreierlei deutlich:
Erstens: Man kann „Einsicht schaffende Diskurse“ nicht einfach der einen oder anderen Seite zuschlagen, sondern muss sich zunächst vergewissern, wie sie im Alltag aus dem Alltag heraus entstehen. Zweitens: man kann sie aber auch nicht einfach so lokalisieren wie sie innerhalb des Alltagslebens hervorgebracht werden, das ja in den Bahnen einer klar konturierten Stadtgesellschaft verläuft. Damit ist der klassische Weg für die Entstehung von kritischen Diskursen verbaut. Der Anknüpfungspunkt muss anders lokalisiert werden. Drittens: Es ist auch hier nicht mehr möglich, das klassische Modell einer Zivilgesellschaft einfach auf die Globalgesellschaft zu übertragen und von einer so ausgeweiteten globalen Zivilgesellschaft auszugehen. Der Diskurszusammenhang muss anders konzipiert werden.
Abbildung 6: Quelle für Einsicht schaffende Diskurse
Das bedeutet zunächst: Wenn der globalgesellschaftliche Horizont sich zwischen den markierten Referenzen entfunktionalisiert und dezentriert etabliert und wenn 136
er sich theoriefern und ziellos, aber dennoch nicht blind vernetzt, sondern machtvoll polarisiert, weder nicht chaotisch noch chaotisch, sondern dynamisch polyzentriert entwickelt, dann muss hier auch der Ort gesucht werden, wo die „Einsicht schaffenden Diskurse“ auf globaler Ebene neu entstehen. Nach wie vor kann man einiges aus der Alltagspraxis lernen: Wie wir aus der Ethnomethodologie62 und dem Konstruktivismus wissen, verdanken sich kritische Erfahrungen im Alltag einem reflexiven Umgang mit Spannungen, Risiken und Konflikten – einem reflexiven Umgang, der allerdings nicht „automatisch“ ausgelöst wird, sondern nur entsteht, wenn sich die Alltagsteilnehmer darauf verstehen, noch einmal genauer hinzuschauen, zurückzublicken und sich dabei entsprechender Diskursformate bedienen. Dieser von Edmund Husser unter dem Label „Epoché“ 1906 entwickelte Ansatz63, der sich auch an anderer Stelle bewährt hat (Bukow 1984), kann hier erneut fruchtbar gemacht werden, zielte er doch mit diesem Begriff weniger auf den Alltag, sondern auf eine mögliche „Einbruchstelle“ philosophischer Reflexion in Gesellschaft schlechthin – heute wird man weniger philosophisch, dafür aber praktischer betrachtet sagen müssen, zu einer Einbruchstelle für theoretische Vernunft. Damit spiele ich auf die Vorstellung einer temporären Fixierung bei Stuart Hall an. Die alltäglichen Probleme werden „angehalten“ und Deutungen aus dem Diskursstrom heraus werden vorgeschlagen und zur Disposition gestellt (Winter 2008). Abbildung 7: Modifiziertes Risikotheorem nach Hummel et al Variable 1: Bevölkerung
Kulturelle Rahmenbe dingungen
Risikoerfahrung
Natur belas tung
Variable 2: Ökosystem/Natur
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Vgl. dazu Turner 1974 und Garfinkel 2002 Vgl. oben Teil 1.1
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Hält man in diesem Sinn Ausschau, so sieht man: Was auf lokaler Ebene zu „Einsicht schaffenden Diskursen“ führt – nämlich, dass im Dauerlauf des Alltags immer wieder Störungen, Verwerfungen usw. eintreten, zu Irritationen und zu Stillstand führen, sie also den Alltag anhalten und damit das Motiv liefern den bisherigen Alltag zu transzendieren, das kann man auch auf der Ebene von Netzwerken in gewandelter Form erwarten. Man muss nur erneut genauer hinschauen. Unter globalgesellschaftlichem Horizont existieren zwar per definitionem keine konkreten Orte mehr, an denen Spannungen, Risiken oder Konflikte unmittelbar erfahrbar wären. Deshalb findet sich auch kein quasi automatisch aufbrechendes Motiv für kritische Nachfragen. Aber gleichwohl ist mit Verwerfungen usw. zu rechnen, nur eben mit netzwerkespezifischen Verwerfungen, die nur auf den ersten Blick unabwendbar, unzugänglich und unerreichbar erscheinen. Das bedeutet: Wenn sich im Kontext des Dauerablaufs der Netzwerkdynamik bipolare „Dynamiken“ einspielen – und zwar zwischen Weltwirtschaft/Governance (d.h. Netzwerk zwischen Ökonomie, Politik und Wissenschaft) einerseits und einer zunehmend global und informationell vernetzten Bevölkerung der Vielfalt anderseits (d.h. einer multitudinalen Vernetzung von Zivilgesellschaft), dann kann man daraus folgern, dass diese bipolaren „Dynamiken“ genauso wie der Dauerablauf des Alltags ins Stocken geraten, Krisen, Konflikte, Kriege und Hungersnöte hervorbringen können. Krisen im Dauerablauf der Netzwerkdynamik können, ähnlich wie im gestörten Dauerablauf des Alltags, zu einem erneuten Hinsehen und Nachfragen motivieren. Unter dem weltgesellschaftlichen Horizont avanciert die bipolare globale Dynamik von Governance und Multitude tatsächlich zu so etwas wie einer „generativen Grammatik“ (vgl. Virno 2005:17), die unter einem globalgesellschaftlichen Horizont als globale Grammatik durchaus mit der sozialen Grammatik urbanen Zusammenlebens korrespondiert, die bereits an anderer Stelle innerhalb der postmodernen Stadtgesellschaft identifiziert wurde. Entsprechend kann man sagen, dass Beobachtungen zweiter Ordnung und Einsichten auch hier analog aus Krisen und Risiken evoziert werden, die in diesem Fall nicht durch einen ins Stocken geratenen Alltagsablauf, sondern durch eine ins Stocken geratene globale Dynamik bewirkt werden und sich insofern allenfalls im Alltag abbilden. Entsprechend avanciert die globale Dynamik zu einer einzigartigen Ressource für Vernunft. Allerdings, selbst wenn die globale Dynamik als generative „Grammatik von Weltgesellschaft“ Orte der Hervorbringung praktischer Vernunft, Orte Einsicht schaffender Risikodiskurse („risk of culture“-Diskurs) generiert, gibt es hier so wenig wie im Alltag die Möglichkeit, Problemlösungen bzw. Antworten unmittelbar aus der krisen- oder problemgenerierenden Situation heraus abzulesen. Theoretische Vernunft ist gefragt, aber wie „vernünftig“ dann die Antwort ausfällt, lässt sich daraus nicht so ohne weiteres ableiten. Weltkrisen erzeugen 138
eben nicht einfach transnationale Einsichten und Gemeinsamkeiten, so wie Beck das hofft (Beck 2007:388) und noch viel weniger ist sicher, dass das, was dabei heraus kommt, den Maßstäben einer kritischen Vernunft standhält. Beck selbst registriert hier denn auch neben „vernünftigen“ Ansätzen neo-restaurative Tendenzen, die gestrige nationale Lösungen bevorzugen. Auch in dieser Hinsicht scheint es keine wirklichen Unterschiede zum Alltag zu geben, weil die reflektierenden Subjekte die Selben mit den Selben Interessen bleiben. Damit eine wirklich kritische Vernunft und nicht z.B. neo-feudaler Rassismus zum Zuge kommt, bedarf es schon besonderer, zusätzlicher Anstrengungen, mit denen zunächst einmal der cultural lag und die entsprechenden nationalen Erzählungen überwunden werden müssen. Und die gibt es nicht zum „Null-Tarif“. Die Multitude und die Governance tragen die Konflikte vor. Ausgetragen werden müssen sie durch spezielle Diskurse, die z.B. im Rahmen des Völkerrechts betrieben werden können. Hier verweisen Hardt und Negri zu Recht auf die Notwendigkeit einer „neuen Wissenschaft“ (Hard, Negri 2004:388). Aus der bipolaren Dynamik heraus bilden sich auf diese Weise unterschiedlichste Formate von Risikodiskursen aus. Hätte die Governance oder hätte die Multitude das letze Wort, es würde kein Konflikt gelöst. Jedenfalls kann man davon ausgehen, dass im Verlauf der Postmoderne Konstellationen, die zu kritischen Diskursen motivieren können, noch zunehmen werden. Das liegt nicht nur an der ungebändigten Dynamik der Netzwerke. Es liegt auch daran, dass die Bevölkerung nicht mehr länger durch nationale Identitätsversprechen zu beruhigen ist, sich vielmehr als globale Multitude sieht und die Postmoderne typischen existentiellen Problems im Kontext der Globale neu „lesen lernt“ und damit z.B. begreift, dass es endgültig unmöglich geworden ist, eine abschließende, „gelingende“ Identität zu entwickeln (Junge 2006:96). 2.3.4 Vom Nutzen eines neu modellierten globalgesellschaftlichen Horizonts Mobilität und Migration sind unter globaler Perspektive zweifach interessant, einmal zur Kennzeichnung der heutigen globalgesellschaftlichen Basis, der Multitude, einmal aber auch als ein unter den Bedingungen der im wesentlichen neoliberal eingestellten globalen Governance virulentes Konflikt-, Krisen- und Risikopotential. Der letzte Gedanke bildet die Basis für eine weitere Überlegungen, nämlich die Frage, wie die „Einsicht schaffenden Diskurse“ auf der Ebene der Weltgesellschaft auf diese Fragestellung reagieren bzw. welche Reaktionspotentiale erkennbar sind und sich eventuell systematisch weiter intensivieren lassen. Im vorliegenden Zusammenhang finden sich dazu kaum einschlägige Untersuchungen (Priest 2008). Aber sie finden sich in einem anderen Themenzusam139
menhang, wo tatsächlich schon mehrfach zu beobachten war, wie die Dynamik zwischen Governance und Multitude arbeitet. Was man häufiger findet, sind Beiträge zu ökologischen Risiken. Und sie sind insofern für die vorliegende Fragestellung bemerkenswert64 interessant, weil sie sich ebenfalls ähnlich der Mobilität bzw. der migrationsspezifischen Mobilität als intrinsische Herausforderungen unter einem globalgesellschaftlichen Horizont erweisen. Deshalb ist es durchaus sinnvoll, die Diskussion zunächst einmal in dieser Richtung fortzuführen und anschließend zu überlegen, ob und inwiefern sie für die vorliegenden Fragen ertragreich ist. a)
Von einer globalen Grammatik zum Weltrisikotheorem
Wie oben notiert wurden globale Risiken zunächst vor allem im ökologischen Kontext debattiert. Hier sind insbesondere die Arbeiten über das Tragfähigkeitskonzept bzw. Risikotheorem relevant. Einen frühen, freilich noch populationsbiologisch gemeinten Beitrag zu der systematischen Erfassung derartiger Risiken hat Paul Ehrlich geliefert. Sein Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass er von Beginn an jeden methodologischen Nationalismus vermeidet, allerdings in seiner ursprünglichen Fassung mit einer Fülle von anderen Problemen behaftet bleibt. Dennoch spielt dieses aus der Biologie stammende Tragfähigkeitskonzept in der Humanökologie eine gewichtige Rolle. Dies gilt insbesondere seit den Warnungen des Club of Rome, der schon 1972 ein Ende des Überflusses an Ressourcen ankündigte. Hier soll nun versucht werden, dass aus der Populationsbiologie abgeleitete Tragfähigkeitskonzept zu einem Risikotheorem fortzuentwickeln. Die bisherigen Ergebnisse zur globalen Risikodebatte legen das jedenfalls nahe. Allerdings sollte man dann die Kritik an dem Konzept, wie sie jüngst z.B. Jörg Tremmel aus sozialwissenschaftlicher bzw. ökologischer Sicht summiert hat (Tremmel 2005:103), mit in Rechnung stellen. Das Tragfähigkeitskonzept, später fortentwickelt zur PAT-Formel [„population X affluence X technical impact“ – d.h. Naturbelastung ist Funktion von Bevölkerung, Konsum und Technologie bzw. N = f (B, K, T)] folgt einem klaren Gedankenmuster, wie sich am einfachsten an der Argumentation des Club of Rome darstellen lässt:
64
Erneut: Oben wurde ja schon mehrfach auf Ulrich Beck Bezug genommen. Und er ging ja auch von ökologischen Fragestellungen aus.
140
„Bereits 1972 warnte der Club of Rome vor der Überfrachtung der Tragfähigkeit der Erde durch das rapide Bevölkerungswachstum, welches die nicht-erneuerbaren Ressourcen erschöpfe. Diese Studie des US-amerikanischen Ökonomen Dennis Meadows und seiner Mitarbeiter benutzte ein Computermodell, um Vorhersagen über Bevölkerungsentwicklung, Verfügbarkeit von Ressourcen, industrieller Produktion und Nahrungsmittelproduktion zu machen. Ohne eine Änderung der Verhaltensmuster prognostizierte die Studie etwa im Jahr 2025 einen katastrophalen Zusammenbruch der Menschheit, verursacht durch eine dramatische Abnahme der Ressourcen (v.a. Mineralien und Land). Wie man die Variablen auch veränderte, Bevölkerungswachstum und Produktion überschritten stets die langfristige Tragfähigkeit der Erde. Das einzige Szenario, in dem ein Zusammenbruch verhindert werden könnte, sah eine massive Reduzierung der Ressourcennutzung und der Umweltverschmutzung, die Nutzung der Sonnenenergie, die Verringerung der industriellen Produktion zugunsten des tertiären Sektors, Recycling und als Kern eine Stabilisierung der Bevölkerungsgröße auf dem Niveau von 1970 vor. (...) Eine verbesserte Computersimulation von Meadows und Mitarbeitern 1992 griff den Hauptkritikpunkt auf, dass die Grenzen des Wachstums zu sehr auf die Begrenztheit der Quellen abstellt, anstatt die Aufnahmefähigkeit der(...) (Systeme WDB) als maßgeblichen limitierenden Faktor zu erkennen.“ (Tremmel 2005:78f)
Das Tragfähigkeitskonzept wird wie gesagt trotz massiver Kritik zumindest in seiner verbesserten Version als PAT-Formel bis heute in der gesellschaftspolitischen Diskussion und in der Ökologie-Bewegung verwendet. Man erhofft sich von ihr eine vertiefte Einsicht in die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung und verspricht sich davon letztlich auch Verhaltensänderungen bei der Bevölkerung. Ein Beispiel für eine modifizierte Nutzung des Konzeptes finden sich in den Publikationen des Umweltbundesamtes zur Mobilitätsthematik. Verkürzt könnte man sagen: Wenn in Deutschland rund 82 Millionen Menschen eine Pkw-Flotte von rund 42,3 Millionen Pkw mit einem durchschnittlichen Kraftstoffverbrauch je Pkw von ca. 8,8 Liter Benzin auf 100 km besitzen, dann könne man sich ausrechnen, was passiert, wenn man einerseits die Umweltbelastungen des Straßenverkehrs zumindest stabil halten will, auf der anderen Seite aber beispielsweise der Kraftstoffverbrauch weiter steigt. Man kann daran aber aus einer kritischen Sicht unschwer erkennen, dass hier viele wichtige Variablen und Zusammenhänge unberücksichtigt bleiben. Der mit der PAT-Formel implizierte Problemrahmen entspricht offenkundig nicht wirklich der der Mobilitätsthematik innewohnenden („intrinsischen“) Logik – hier, weder was die im gesellschaftlichen Zusammenhang relevanten Variablen, noch was deren Zusammenhänge untereinander betrifft. Man setzt vielmehr darauf, zumindestens die wichtigsten Variablen abgebildet und ihre wechselseitigen Abhängigkeiten ausreichend erfasst zu haben. Man rechnet damit, die entscheidenden Seiten (Bevölkerung und Ressourcen) im Blick zu haben und unterstellt, dass zwischen ihnen eine tragfähige 141
Relation existiert. Im Fall des Falles werden noch zusätzliche Effekte, z.B. ein Nachhaltigkeitseffekt oder technologische Veränderungen (Modernisierung und Effizienzsteigerung), die Umorientierung der Bevölkerung (Umwelterziehung), ein verbesserter gesellschaftlicher Organisationsgrad, bzw. weitere Abhängigkeiten bis zu eventuell vorhandenen Rebound(Bumerang)-Effekten mit in Rechnung gestellt. Die Formel bleibt dennoch in vielerlei Hinsicht „beliebig“ und unkontrolliert reduktionistisch. Besonders problematisch ist das Beharren auf dem Bevölkerungsfaktor, so als ob die Masse schon das eigentliche Problem darstellt. Dies verführt nicht nur zu einer bio-politischen Argumentation, sondern ignoriert auch, dass in der Formel stillschweigend viele spezifische gesellschaftliche Zusammenhänge ignoriert werden, bloß weil sie noch weitgehend ungeklärt sind. Tragfähigkeitskonzept
Welt-Risikoformel
1
[P]
Bevölkerung
[M]
Multitude (die soziale wie politische Existenzweise der Vielen als Viele)
2
[K]
Konsumkultur
[D]
Diskursive Vernetzung (Vernetzte Interaktionsmedien und die ihr eingeschriebenen Diskurse von Wissen über Handlungsformate, Regeln bis zu “risk of culture” und zu doppelt reflexiven Weltbildern)
3
[T]
Technologie (Ökosystem/Natur)
[G]
Governance (Globalisierte Governance in der Form von Wirtschaftsclustern als Movens und Repräsentationsform von politisch-ökonomischen Herrschaftsapparaten)
4
[N]
Naturbelastung
[R]
Risikopotential
Die Hauptprobleme verbergen sich also in den in die Bestimmung der Variablen und ihre Relationierung stillschweigend eingegangenen Grundannahmen über die gesellschaftliche Wirklichkeit. Diese Grundannahmen werden in der Formel freilich nicht einfach „freihändig“ interpoliert, sondern nach wie vor bei Bedarf durch den Rekurs auf biologische Annahmen substituiert. Biologische Grundannahmen treten auf diese Weise immer wieder ersatzweise an die Stelle von bis heute ungeklärten gesellschaftlichen Grundannahmen, selbst wo ihre Relevanz erkannt wird (Hummel u.a. 2006:56f). Dass eine solche, auch aus anderen Zu142
sammenhängen durchaus vertraute Praxis, die übrigens schon von Aristoteles angewendet wurde, nicht einmal bei bevölkerungsspezifischen Fragestellungen, wie das immer noch versucht wird, funktioniert, liegt auf der Hand. Mit anderen Worten, die verwendete Reduktion erscheint unterkomplex und sachlich inadäquat. Es erübrigt sich, darüber zu spekulieren, welche Interessen und welche Sicht gesellschaftlicher Realität hier maßgebend waren. Bei den hier verfolgten Überlegungen geht es nun darum, die in der Formel angedeutete Problemdefinition adäquater als bislang auszurichten, also erstens die Gesamtdynamik gesellschaftstheoretisch präziser zu fundieren, zweitens die Variablen hinreichend komplex zu definieren, damit sie sinnhaft adäquat relationiert werden können, und drittens, und das ist hier entscheidend, die Variablen sinnhaft adäquat korrekt zu fokussieren. Die Forderung nach der sinnhaften Adäquanz ist schon von Max Weber an sozialwissenschaftliches Arbeiten gestellt worden65, ist also keineswegs neu. Dabei kann man nun durchaus unterschiedlichen Strategien folgen. Man kann sich eher auf die gesellschaftliche Mikroebene konzentrieren, hat dann aber nicht nur das Problem, angesichts der offenkundigen Komplexität ökologischer Fragestellungen die richtigen, nämlich aussagekräftigen Indikatoren zu finden, sondern auch, nur Aussagen von sehr begrenzter Reichweite treffen zu können. Umgekehrt kann man auch ganz gezielt auf der Makroebene ansetzen, um möglichst komplexe Zusammenhänge in den Blick nehmen zu können, hat dann allerdings nicht nur das Problem, eine angemessene komplexe Gesellschaftstheorie zu finden, sondern auch, nur eine relativ allgemeine, ja vage Auskunft zu erhalten. Die oben skizzierte Sichtweise von einem globalgesellschaftlichen Horizont, unter dem sich Risiken entwickeln, legt den zweiten Weg nahe. Die Unschärfen, die man auf diese Weise erkauft, sind auch gar nicht so unangebracht, korrespondieren sie doch mit den Bedingungen, mit denen eine postmoderne Gesellschaftstheorie ohnehin zu rechnen hat. Wendet man die Formel unter Berücksichtigung der verschiedenen Monita auf das an, was wir zuvor als globalgesellschaftlichen Kontext diskutiert hatten, transformiert man das Tragfähigkeitskonzept auf ein globalgesellschaftlich bedeutsames Format, so kommt man zu einem (Welt-)Risikotheorem : Das (Welt-)Risikotheorem wäre dann folgendermaßen zu formulieren: R = f (M-DD-G) Hierbei müssen alle drei Komponenten noch genauer präzisiert werden. Zunächst einmal ist nur wichtig festzuhalten, dass es bei der diskursiven Vernet65
Siehe oben Anmerkung 11
143
zung, hier mit “D” bezeichnet, letztlich um den „risk of culture“-Diskurs geht. Die mit „D“ angedeutete diskursive Vernetzung wird so verstanden, dass es entscheidend ist, den Diskurs in kritischen Situationen so lange voran zu treiben, bis die Risiken in den Mittelpunkt rücken, der Diskurs auf diese Weise – in der Sprache von Ulrich Beck – „doppelt reflexiv“ wird. Die Risiken „R“ resultieren dann aus der Summe dessen, was sich aus den jeweiligen Arrangements innerhalb der Multitude (wie geht man hier mit seinen eigenen wie mit den natürlichen Ressourcen um), innerhalb der Governance (wie treibt man die Produktivität technisch, ökonomisch und politisch voran) sowie zwischen Multitude und Governance (wie stellt man sich aufeinander ein, welche impliziten oder expliziten Abstimmungen symmetrischer oder auch asymmetrischer Struktur sind möglich?) ergibt, – genauer, aus dem Risikodiskurs (risk of culture-Diskurs), der die Intra-Konflikte von Multitude und Governance sowie die Inter-Konflikte zwischen beiden thematisiert und bearbeitet. b)
Vom Nutzen eines solchen Theorems
Vielleicht ist es interessant, die Relevanz dieses Theorems in mehreren Schritten zu erörtern, zunächst an einem Beispiel zunehmender Nahrungsmittelknappheit und ihren Folgen. Denn wenn sich im Kontext des Dauerablaufs der Netzwerkdynamik bipolare „Dynamiken“ einspielen – und zwar zwischen Weltwirtschaft/ Governance einerseits und einer zunehmend global und informationell vernetzten „Bevölkerung der Vielfalt“ anderseits – und wenn dann tatsächlich diese bipolaren „Dynamiken“ genauso wie der Dauerablauf des Alltags ins Stocken geraten, wenn zum Beispiel die Nahrungsmittel knapp werden, dann wäre das Theorem eine nützliche Kurzfassung dieser Konstellation. Es kann dann dazu motivieren, ganz besonders darauf zu achten, unter welchen Bedingungen und auf welche Weise derartige Verwerfungen, Spannungen oder Krisen im Dauerablauf der Netzwerkdynamik – ähnlich wie im gestörten Dauerablauf des Alltags – zu einer erneuten Hinwendung und zu bestimmten Folgerungen führen und inwiefern tatsächlich der ins Stocken geratene Dauerablauf des Alltags „reanimiert“ wird. Nun zunächst zum Beispiel selbst:
144
Mit den steigenden Ölpreisen suchen die Industriegesellschaften, genauer die Konzerne (globale Governance) zunehmend nach Möglichkeiten, die klassischen Erdölquellen zu substituieren. Dies hat bereits in den 90er Jahren zur Ausbeutung des kanadischen Ölschiefers und zur Erschließung neuer Ölquellen in den Naturschutzgebieten Alaskas geführt. Seit der Jahrtau-
sendwende versucht man nachwachsende Rohstoffe zu erschließen, was schon früh in Brasilien zur Ausweitung der Energiepflanzen Rohrzucker, Mais und Soja auf Kosten des Regenwaldes führte. Seit 2006 beginnt die Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen die Versorgung großer Bevölkerungsgruppen mit Grundnahrungsmitteln zu gefährden, weil die Agrarprodukte als nachwachsende Rohstoffe mehr Geld bringen als Grundnahrungsmittel. Erschwerend hinzu kommt, dass die gleichen Länder, die den nachwachsenden Rohstoff nachfragen (besonders Brasilien, die USA und die EU), mit ihrer Landwirtschaftspolitik die lokalen Kleinbauern und deren Nahrungsmittelproduktion weitgehend vernichtet haben, so dass kaum noch Ausweichmöglichkeiten bestehen. Die sich hier abzeichnenden Risiken sind nun aber keineswegs einfach ein Effekt einer wachsenden Weltbevölkerung und auch nicht einfach der Tatsache geschuldet, dass man heutigentags beispielsweise in China mehr Fleisch isst (wie das die Bunderegierung im April 2008 kolportiert), sondern resultiert aus einem komplementär-asymmetrischen Zusammenspiel einer auf vielerlei Weise energieverschwendenden Bevölkerung einerseits mit der globalisierten Governance anderseits. Es gibt danach eine unheilige Allianz zwischen ansonsten gänzlich anders und extrem heterogen ausgerichteten „Aktionspartnern“. So schreitet nicht nur die Vernichtung des Tropenwaldes, sondern auch die Unterversorgung all der Länder fort, die in den Sog dieser „Umwidmung“ der Nahrungsmittelproduktion zu Energiepflanzen geraten sind und die nicht mehr das erforderliche Kapital für den Import von Lebensmitteln aufbringen können.
Zu erwarten wäre nun, dass die beträchtlichen ökologischen wie die sozialen Effekte in diesem „Zusammenspiel“ Korrekturen hervorrufen, indem „ganz einfach“ die kartellartig agierende Governance genauso wie die Multitude nun punktuell zusammen spielen, um eine kritische Reflexion (risk of cultureDiskurs) zu organisieren. Nach dem oben entwickelten Vorschlag R = f (M-DDG) kommt es zunächst einmal auf folgende drei Dinge an:
die Absichten der governmentalen Cluster, die Lebensmittelproduktion zur Substituierung knapper und teurer werdenden Erdöls auszuweiten und zu nachwachsenden Rohstoffen umzuetikettieren, zur Diskussion zu stellen, und zumindest mit den Vorstellungen der Bevölkerung von Brasilien über die USA und Europa bis China (Multitude) von preiswerten Nahrungsmitteln und preiswerten Mobilitätsformen (einschließlich einem Interesse an einem eigenen Fahrzeug und ggf. auch an einem intensiven Ausbau des Flugverkehrs) zu konfrontieren, 145
und auf diese Weise eine diskursiv vernetzte zumindest provisorische Übereinkunft zwischen den beiden Polen der globalen Dynamik anzustreben.
Was freilich geschieht, ist, dass Wege gesucht und gefunden werden, um die auf beiden Seiten erkennbaren Verwerfungen vor dem Hintergrund eines global durchgesetzten „modernen“ Lebensstiles letztlich als hinnehmbar erscheinen zu lassen. Was geschieht, ist die Etablierung einer oberflächlich abgestimmten und nicht weiter durchdachten Übereinkunft auf der Basis eines asymmetrischkomplementären Zusammenspiels. Sie besteht darin, dass die eine Seite noch mobiler wird und die andere Seite diese zunehmende Mobilität z.B. in der Form illegaler Beschäftigung honoriert, eine Art von ideologisch ausgestalteter Rationalisierung eines asymmetrischen Verhältnisses. Das Risikopotential resultiert hier aus einer globalgesellschaftlichen Gemengelage, innerhalb der die lange Jahre betriebene EU-Subventionspolitik und die US-amerikanische Mobilitätspolitik nur einzelne Bausteine im globalen Spiel darstellen. Genauso spielt auch die Multitude eine Rolle, die auf die Bedingungen der Postmoderne eingestellt ist und zum Teil sicherlich auf die Bereitstellung von entsprechenden Ressourcen angewiesen sein mag. Es ist offenkundig, dass beide „Seiten“ den aktuellen Lebens- und Konsumstrategien, bei denen “nun einmal” ein exzessiver Umgang mit Energie ein fester Bestandteil ist, fraglos folgen. Der „risk of culture“-Diskurs führt hier erwartungsgemäß keineswegs automatisch zu einer tragfähigen oder gar nachhaltigen Lösung, sondern erzeugt nur eine neue Stufe im globalen Spiel zwischen Governance einerseits und Multitude anderseits. Dies ähnelt durchaus den Konstellationen auf lokaler Ebene, wo der cultural lag verhindert, dass man sich zügig auf neue Gemengelagen einstellt und im Sinn kollektiver theoretischer Vernunft aktiv wird und statt dessen ideologisch reagiert, Rationalisierungen anbietet und im Übrigen bestrebt ist, alles beim Alten zu lassen. Zwischen lokaler und globaler Risikoverarbeitung gibt es aber nicht nur eine strukturelle Entsprechung, es gibt auch eine inhaltliche Verbindung: Denn bricht man diese globalen Überlegungen herunter auf die metropolitane Stadtgesellschaft, so kann man auch beobachten, dass und wie sich diese spezifische globale Gemengelage in der Zunahme von Mobilität einerseits und einer entsprechenden Einstellung der formalen Systeme zumal des Marktes auf diese Mobilität anderseits im lokalen Rahmen abbildet. Komplementär gesetzte Interessen ermöglichen das urbane Zusammenleben immer wieder zu organisieren. Es ist zugleich zu beobachten, wie die jeweils eingespielte Komplementarität ebenfalls eine asymmetrisch-komplementäre Lösung darstellt, einfach weil sie völlig einseitig Kosten verursacht, etwa solche, wie sie Heinz Bude (Bude 146
2008:128f) unter dem Begriff „die Ausgeschlossenen“ oder Zygmunt Bauman mit der Formulierung „die Ausgegrenzten“ (Bauman 2006:90f) anspricht. c)
Was das für die Einschätzung von Mobilität im globalen Kontext beiträgt
Governance und Multitude, so wie sie zuvor skizziert wurden, gewinnen an spezifischer Relevanz erst jenseits der Stadtgesellschaft, erst dort avancieren sie zu „aktiven Partnern“. Erst dann tritt die Multitude den zu globalen Netzen avancierten Systemen (Governance) entgegen. In der Stadtgesellschaft mögen die beiden Netzwerke zwar verankert sein, aber das Feld, in dem sie verankert sind, weist eine spezifische Komplexität auf, die oben mit der Grammatik urbanen Zusammenlebens bezeichnet wurde. Mobilität wird hier als eine von vielen Merkmalen der Bevölkerung zum Gegenstand struktureller Akkommodation an der wiederum nicht nur politisch agierende Instanzen als vielmehr governmentale und andere formale Systeme beteiligt sind. Und zumindest auf der Alltagsebene verläuft dieser Prozess eher automatisch und permanent. Wie die Mobilität im urbanen Kontext nur eine von mehreren Eigenschaften einer Bevölkerung ist und damit keine soziale Einheit konstituiert, so ist es auch auf der Gegenseite. Und wie Mobilität im globalen Kontext zu dem entscheidenden Merkmal („Existenzweise der Vielen als Viele“) einer global agierenden Zivilgesellschaft aufsteigt und, wenn man so will, in einer globalen Zivilgesellschaft aufgeht, so avanciert das governmentale Element erst im Kontext der Globalgesellschaft zu einem alles andere dominierenden eigenständigen Netzwerk, zur Governance. Im Vergleich zwischen lokal und global werden die sich jeweils wandelnden Merkmale beispielsweise von Mobilität plastisch. Selbst wenn also die Frage, inwiefern die alltagspraktische Vernunft eine Chance bekommt, theoretisch fundiert und kritisch weiter zu entwickeln auf jeder Ebene zu stellen ist, so muss sie dennoch je nachdem, ob es sich um die Stadtgesellschaft oder um den globalgesellschaftlichen Horizont handelt, unterschiedlich diskutiert werden. Während deutlich wurde, dass die praktische Vernunft in der Alltagspraxis durchaus eine Chance hat, sieht das offenbar unter globalgesellschaftlichem Horizont durchaus anders aus. Es ist sicherlich weder die Multitude als „Existenzweise der Vielen als Viele“ noch die Governance als die Summe dezentrierter Cluster bzw. Kartelle, die der praktischen Vernunft eine Chance einräumt, weil es weder auf der einen noch auf der anderen „Seite“ ein gemeinsames Wollen gibt.66 Es ist der sich mit der Zeit abzeichnende „Zwang zur Erkenntnis“, 66
Dies gilt es gegen Hardt und Negri aber auch gegen die Arbeitsgruppe „Transit Migration“ (Andrijaševiƛ u.a. 2003:690) festzuhalten.
147
also, wenn man so will, eine negative Erfahrung, die darauf beruht, dass es so nicht weiter gehen kann. In der Formel wird deshalb das Risikopotential entsprechend als abhängige Variable definiert, in der möglicher Weise dem „Zwang zur Erkenntnis“ eine wichtige Rolle zukommt [DD]. Der Zwang zur Erkenntnis kann hier nur zum Tragen kommen, wenn er sich in „Einsicht schaffenden Diskursen“ zur Geltung bringt bzw. gebracht wird, wenn der Dauerablauf des globalen Alltags zum Beispiel im Extrem eine Weltwirtschaftskrise so nachhaltig ins Stocken gerät, dass die Dinge nachhaltig und dauerhaft „ins Trudeln“ geraten und die Chancen dafür bestehen, an bereits laufende kritische Diskurse Anschluss zu gewinnen. Es bleibt aber auch die Frage, ob wirklich kritische orientierte Diskursformate zur Hand sind, aus praktischer Vernunft heraus eine entsprechende theoretische Vernunft zu generieren. Das verweist auf die Relevanz einer globalen Zivilgesellschaft. Sie muss bereit stehen und Anschlüsse zu kritischem Wissen ermöglichen. Hier einfach auf eine „Risikorationalität“ (Beck 2007:354) zu sehen, klingt gut, geht aber, wie man an den verschiedensten Beispielen studieren kann, an der Sache vorbei. An dieser Stelle wäre es sinnvoll, noch einmal die europäische Mobilitätspolitik aufzugreifen. Hier zeigt sich, dass der Mobilitätsdruck zu einer echten Herausforderung geworden ist, der sowohl die Bevölkerung als auch die governmentale Seite betrifft. Die von der Europäischen Union eingeleiteten Maßnahmen, die verschiedenen Dialogprozesse z.B. in Budapest zielen denn auch darauf, die Spannungen ins Gespräch zu bringen zwischen den Regierungsinstanzen einerseits und den verschiedenen Bevölkerungsgruppen einschließlich zivilgesellschaftlichen Akteuren anderseits und zu einem Migrations- und Grenzregime zu kommen, das „Einsicht“ schaffen soll.67 Der Zwang zur Erkenntnis wird hier also aufgegriffen und umgesetzt. Spannend ist dabei, dass genau das passiert, was im letzten Abschnitt schon angedeutet wurde: es bildet sich eine „unheilige Allianz“. Es gibt keine Rationalität, die – auf Risiken geeicht – gleichsam naturwüchsig ausbricht, wenn entsprechende Probleme gesichtet werden. Zivilgesellschaftliche Formate, Diskursverfahren müssen richten, was aus sich selbst heraus intrinsisch ungerichtet ist. Der Diskurs befördert die praktische zur theoretischen Vernunft, wenn und nur wenn ein zivilgesellschaftlicher Hintergrund, wenn ein entsprechendes Potential an Wissen, Informationen und Kommunikationstechniken vorhanden ist, auf dass man zurückgreifen kann. Damit schließt sich der Kreis (vgl. 2.1.7), genauer gesagt, wir haben die Problematik theoretisch recht gut im Blick. Dennoch, es stellt sich die Frage, warum der Weg zu einer kriti67 Mit dem Regimebegriff wird das Verhältnis zwischen den Handlungen der MigrantInnen und den Agenturen der Kontrolle nicht binär gedacht, sondern als ein mehr oder weniger ungeordnetes Ensemble von Praktiken und Wissen-Macht-Komplexen (vgl. Karakayal, Tsianos:2007:13f).
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schen Vernunft gerade im Fall des Umgangs mit Mobilität so schwierig erscheint. Bei dieser letzten Frage ist es sicherlich gleichgültig, auf welcher Ebene man argumentiert. Hier bietet sich sogar die Ebene der Stadtgesellschaft besonders an, weil sie empirisch gut zugänglich ist, während das für globale Prozesse weit weniger gilt (Hess 2007).
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3 Von der Beharrlichkeit nationaler Erzählungen Im lokalen wie im globalen Zusammenhang ist schon deutlich geworden, dass auch zivilgesellschaftliche Komponenten wichtig sind, weil es notwendig ist, die gesellschaftliche Situation kritisch zu begleiten. Aber bislang ging es in dieser Hinsicht eher um eine reine Ortsbestimmung. Schauen wir uns nun noch einmal genauer an, wie es empirisch mit diesen Komponenten aussieht. Wenn man das Material empirisch prüft, wird es spannend, weil dann genau die Punkte ins Blickfeld rücken, die bereits im ersten Teil der Arbeit angesprochen wurden. Wann immer das urbane Zusammenleben in die Diskussion gerät, so hat sich gezeigt driften praktische und theoretische Vernunft sowohl in der metropolen Stadtgesellschaft als auch Governance und Multitude unter globalgesellschaftlichem Horizont auseinander. Empirisch klarer machen lässt sich das sicherlich leichter auf lokaler Ebene. Dazu werde ich erneut auf die lokale Situation in Köln zurückgreifen, die für derartige Fragestellungen durchaus typisch sein dürfte. Zentrale Punkte sind hier nach den obigen Überlegungen die Spannungen, die zwischen einer oft informellen Alltagsroutine einerseits und dem an nationalen Erzählungen orientierten „Kulturprogramm“ und den entsprechend ausgerichteten politischen Debatten anderseits sichtbar werden, jedenfalls dann, wenn ein Anlass gegeben ist, sich eigens mit dem Umgang mit Migration bzw. Mobilität zu befassen. Offenkundig gelingt es der Bevölkerung in der Regel, sich im Alltag mit der wachsenden Mobilität zu arrangieren, und zwar solange, wie sie die Mobilität und ihre Folgen als einen integralen Bestandteil des Dauerablaufs des Alltags gewohnheitsmäßig erlebt. Und auch die mit Mobilität fast zwangsläufig verknüpfte Zunahme an Diversität wird dementsprechend durchaus gelassen hingenommen. Gewohnheit, Routine und eine pragmatische Haltung sind hierfür nach allem, was wir bislang wissen (vgl. 2.2.2), verantwortlich. An dieser Stelle braucht nicht mehr betont zu werden, dass diese Einstellung weniger auf Einsicht oder Erkenntnissen beruht, als vielmehr auf praktischen Erfordernissen, auf der Notwendigkeit, sich arrangieren zu müssen. Nur im Einzelfall mag eine tiefere Einsicht eine Rolle spielen. Erst recht gibt es hier keinen Automatismus in der Form, dass Konflikte oder Verwerfungen zu „Einsicht schaffenden Diskursen“ nötigen. Es fehlt zunächst einmal ganz einfach an einem entsprechenden Bedarf. Eine solche Diskurse schaffende Motivation mag durch Bildung oder Erfahrung angestoßen werden, sie ist aber im Dauerablauf des Alltags alles andere als selbstverständlich. Dennoch gibt es immer wieder Situationen, wo die Routine nicht mehr durchzuhalten ist. Zumeist allerdings passiert das, weil ein entsprechender Bedarf provoziert wurde – provoziert, um Wahlen zu gewinnen, 151
Stimmung zu machen oder einfach auch nur, um nationale Erzählungen lebendig zu halten. Vor allem der Beharrlichkeit dieser nationalen Erzählungen verdanken wir die Dauerskandalisierung von Mobilität bzw. der allochthonen Bevölkerung. Genau das ist der Spannungsbogen, der nun noch einmal systematisch diskutiert werden soll. 3.1 Wenn das urbanen Zusammenleben in die Diskussion gerät Es geht nun um den Spannungsbogen von der alltäglichen Routine bis hin zu einer systematischen Reflexion der Mobilität, von der Praxis bis zu den sie deutenden Erzählungen, von der praktischen bis zur theoretischen Vernunft. Und es geht darum, in welcher Weise die Praxis hier thematisiert wird, affirmativ oder bewusst reflexiv und im Sinn einer zivilgesellschaftlichen Akkommodation auf Diversität. Was also geschieht, wenn aus welchen Gründen auch immer das urbane Zusammenleben in die Diskussion gerät? 3.1.1 Die Routine macht den Rückgriff auf Deutungen schwer Was in der Praxis zunächst sehr vorteilhaft erscheint, gerät schnell zum Nachteil, wenn – aus welchen Gründen auch immer – die Alltagspraxis aus sich heraus ins Stocken gerät oder – aus welchen Motiven heraus auch immer – von außen problematisiert wird. Dann hat man zunächst einmal kaum Argumente in der Hand; es hat einen gewissermaßen kalt erwischt. Selbst in Fällen, wo es offenkundig kritisch wird, scheint es schwierig zu sein, die Aufmerksamkeit auf das eventuell ins Stocken geratene Handeln zurück zu lenken. Unter diesen Bedingungen der Routine verhaftet zu sein, wirkt sich sehr schnell problematisch aus. Die Orientierung an der Routine macht es offenbar schwer, sich für Deutungen, Einschätzungen oder was sonst alles noch nützen mag, um den Alltagsablauf wiederherzustellen, zu öffnen. Die Routinehaftung scheint selbst dann noch zu wirken, wenn man selbst direkt involviert ist, also der Alltag beispielsweise im Zusammenhang mit der eigenen Mobilität ins Stocken geraten ist und es durchaus im wohlverstandenen Eigeninteresse liegen würde, „nützliche“ Formulierungen, Erklärungen, Deutungen oder was auch immer zu produzieren. Das Alltagshandeln ist anscheinend derart massiv gewohnheitsmäßig verankert, die Routinen scheinen so umfassend veralltäglicht zu sein, dass es fast schon Überwindungen kostet – selbst wenn man direkt involviert ist – mehr als üblich aktiv zu werden. In solchen Fällen fehlt es offenbar weniger an Motivation, als an Erfahrungen oder an entsprechenden Spezialkenntnissen über den Umgang mit Krisen, also an 152
Interventionskompetenz, Überzeugungskraft und Charisma, was dazu verhelfen würde, sich aktiv einzuschalten und eine geeignete Debatte „vom Zaum zu brechen“ und ggf. auch zivilgesellschaftliche Potentiale zu mobilisieren. Hat man sich erst einmal auf eine Auseinandersetzung, auf den Blick zurück eingelassen, dann sind verschiedene Wege zu beobachten. Oben wurde schon deutlich, dass in solchen Fällen sehr gerne die Dinge, die auf diese Weise in den Blick geraten, reduziert, rationalisiert bzw. ideologisch verklärt werden. Man sucht nach bequemen Lösungen. Dies ist der Auslöser dafür, zu ethnisieren, zu stigmatisieren, zu kriminalisieren oder auszugrenzen. Häufig kann man beobachten, dass autochthone Bevölkerungsgruppen, also Gruppen, die eigentlich selbst Opfer solcher Prozesse sind, gegenüber Dritten auf die gleichen Deutungsangebote und Debatten zurückgreifen, nur weil sie das dominierende Alltagsrepertoire darstellen. So greift zum Beispiel die Generation Gastarbeiter türkischer Herkunft durchaus auch selbst auf nationale Erzählungen, auf ethnische Zuschreibungen und auf religiöse Erwartungen zurück, obwohl diese Erzählungen, Zuschreibungen oder Erwartungen sich vom Typus her kaum von dem unterscheiden, was ihnen gegenüber in Anschlag gebracht wurde und wird und was aus ihnen genau das gemacht hat, was sie heute sind, nämlich eine untergeschichtete, ethnisierte und in die religiöse Ecke gedrängte Generation, deren Kinder und Enkel genau damit zu einer verlorenen, ewig gestrigen Generation gestempelt werden68. Die Routine verführt also dazu, im Fall des Falles auf routinenahe, nämlich einfache Deutungen, auf Ideologeme zurückzugreifen, was aber auch heißt, dass man sich den dort eingeschriebenen Regeln und Mustern unterwirft, selbst wenn man damit an dem Ast sägt, auf dem man gerade sitzt. Insofern beugt sich die Generation Gastarbeiter der hegemonialen Diskurskultur und damit auch der in ihr eingeschriebenen „symbolischen Macht“ im Sinne von Pierre Bourdieu (2005:220). Nach den bisherigen Überlegungen werden solche Deutungen nicht einfach top down implementiert und vermittels politischer Debatten „durchgedrückt“, sondern werden durchaus auch in der konkreten Situation innerhalb des Alltags als Deutung über den Alltag „freiwillig“, nämlich „gehorsamsbereit“ (Max Weber) als Teil einer Welt des „gesunden Menschenverstandes“ (Bourdieu 2005:221) adaptiert. 68 Eines von vielen Beispielen ist die jüngste Veröffentlichung des Erziehungswissenschaftalers Hans-Jürgen Wensierski, der der zweiten Generation der türkischen Jugendlichen eine Sexualmoral der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts unterstelle, dabei aber übersieht, dass man korrekt nur religiös orientierte muslimische Jugendliche mit religiös (!) orientierten christlichen Jugendlichen vergleichen darf (TAZ vom 21.12.2008). Man könnte genauso gut die Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerungsentwicklung vom 27.1.2009 heranziehen (Berlin-Institut 2009), wo der gleichen Gruppe eine mangelnde Bildungsbereitschaft attestiert wird, so als ob es eine türkische „Ethnizität“ gäbe. Ignoriert wird dabei, dass man korrekt nur schichtgleiche Jugendliche, welcher Herkunft auch immer, miteinander vergleichen kann. Diese Reihe lässt sich fast beliebig fortsetzen.
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Die Routine trägt aber nicht nur dazu bei, Deutungen zu mobilisieren, die sich letztlich gegen einen selbst richten können. Sie verführt auch dazu, sich in die Reihe derer einzuordnen, die die entsprechenden Deutungen und Ideologeme gegenüber Dritten einsetzen, also deren eingeschriebene Macht auch noch aktiv zu unterstützen. Auf diese Weise werden Bevölkerungsgruppen, die selbst zu Adressaten rassistischer Deutungen und Praktiken geworden sind, selbst zu rassistisch agierenden Bevölkerungsgruppen, dieses Mal gegenüber Dritten. Genauso werden oft genug soziale Mythen oder Behauptungen über „Ausländerkriminalität“ aufgegriffen, angenommen und dann gewissermaßen „ungebraucht“ weiter gereicht. Oder man macht sich den dominanten Diskurs, in dem alles „Schlechte dieser Welt“ summiert und an den Fremden adressiert wird, zu eigen und ordnet es gebündelt Dritten zu. Man kann dieses als eine Offensivstrategie interpretieren. Was aber in solchen Fällen passiert, wirkt sich ebenfalls kontraproduktiv aus, weil es die Deutungen verstärkt und das eben doch auch immer wieder auf einen selbst zurückschlagen kann. Und dennoch – diese Implikationen werden selten transparent, einfach weil man sich damit im hegemonialen Diskursfeld bewegt: Man bewegt sich ja auf dem Boden nationaler Erzählungen und des gültigen Kulturprogramms. Und insofern „reimt“ sich ja alles. Hinzu kommt, das Kulturprogramm wird aber auch deshalb kritik- und distanzlos adaptiert, weil es wie die Alltagsroutine selbst für einen wesentlichen Bestandteil der Ordnung des Alltags gehalten wird. Es gilt eben nicht nur, die Dinge so lange wie möglich in üblicher Weise fortzuführen, sondern auch, im Fall des Falls zunächst einmal auf die dominanten routinebegleitenden Erklärungen zu rekurrieren. Hinzukommt noch, dass dies noch einmal dadurch „erleichtert“ wird, dass man sich selbst in diesem Fall ja durchaus zu Recht als ein Opfer der Störung sieht, als jemanden, der die Probleme von außen „eingebrockt“ bekommen hat. Es mag auch sein, dass das Zusammenleben von außen kritisiert oder sogar skandalisiert wird. In solchen Fällen gibt es ja keine Notwendigkeit, selbstreflexiv tätig zu werden und nach entschuldigenden, erklärenden oder überbrückenden Argumenten zu suchen. Im Gegenteil, je mehr man sich im Recht fühlt, umso eher wird man gerade auch von sich selbst aus auf eine im Prinzip bewährte Traditionsorientierung verweisen. Und genau das scheint zu passieren, wenn man bislang glaubte, gut und erfolgreich zusammen gelebt zu haben, jetzt aber aus einer bestimmten Perspektive heraus Zweifel angemeldet und Zwist gesät wird. Offensichtlich verführt die Routine – man kann auch sagen ein wohl integriertes Zusammenleben – dazu, sich im Fall des Falles, in dem das Zusammenleben unter Rückgriff auf den dominierenden Diskurs aufgekündigt oder gar skandalisiert wird, noch einmal ganz betont auf das dominierende Alltagswissen zu rekurrieren, sich erst recht mit dem hegemonialen Diskurs zu identifizieren, so wie man das im Alltag sonst immer erfolgreich zu tun gelernt hat. Und wenn es 154
„gut geht“, gelingt es einem ja auch, sich unsichtbar zu machen und die Skandalisierung weiter zu reichen. 3.1.2
Wenn Auseinandersetzungen über das Zusammenleben provoziert werden
Damit ist die weitere Diskussion vorgezeichnet. Spätestens wenn eine Auseinandersetzung mit dem urbanen Zusammenleben provoziert wird, bricht sofort eine Diskrepanz zwischen der praktischen und theoretischen Vernunft auf und wird ein breiter Spannungsbogen sichtbar. Es ist auch noch mit einer besonderen Dynamik zwischen beiden Seiten zu rechnen, die möglicher Weise genau das erzeugt, was im letzten Abschnitt bereits als eine „unheilige Allianz“ (vgl. 2.3.4b) bezeichnet wurde. Die im Rahmen der urbanen Grammatik eingespielte praktische Vernunft fördert zwar eine erhebliche Routine im Umgang mit dem Anderen zu Tage, bedarf aber im Fall des Falles einschlägiger Wissensbestände, also vorgeblich nützlicher praktischer Erklärungen, Erzählungen, Erläuterungen, d.h. auch eines zivilgesellschaftlichen Engagements. Das belegt einerseits die hohe Identifikation des Einzelnen mit seinem Alltag, genauer die Bereitschaft, sich selbst als allochthone Bevölkerungsgruppe mit dem überkommenen autochthonen Alltag zu identifizieren, es belegt aber anderseits auch die Bedeutung von Kulturprogrammen. Mit anderen Worten, wenn die praktische und die theoretische Vernunft auseinander driften, geraten die Menschen in die Zwickmühle, wenn sie gewissermaßen den Bock zum Gärtner machen. Die Alternative, die oben bereits diskutiert wurde, wäre aus der Perspektive eines „Einsicht schaffenden Diskurses“ heraus, eine Korrektur des Kulturprogramms vorzunehmen, oder es ganz abzuschaffen, anstatt sich „nachholender“ Integration oder „Rucksackprogrammen“ oder was auch immer nationale Erzählungen zu bieten haben, zu verschreiben.69 Und tatsächlich lassen sich für die einzelnen Schritte innerhalb dieses offenbar breit angelegten Spannungsbogens viele Beispiele finden. Ich möchte zwei klassische Konflikt-Szenarien vorstellen, nämlich den Konflikt um den Bau einer Moschee und die Auseinandersetzungen um eine sogenannte Parallelgesellschaft. Beide Fälle spielen sich in einer bereits mehr oder weniger vertrauten 69
Der Rückgriff auf nationale Erzählungen ist die übliche, vor allem von der Politik geäußerte Reaktion, wenn man wieder einmal festgestellt hat, dass die untergeschichtete zweite Generation der „Generation Gastarbeiter“ genauso schlecht in der Schule ist wie Unterschichtkinder eben auch sonst. Vgl. dazu Anmerkung 68 und den Kommentar des MdB Dieter Wiefelspütz dazu in seiner Presseerklärung vom 28.1.2009.
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Szenerie ab. Im ersten Fall dreht es sich um die Diskussion über den Bau einer Moschee in Köln-Ehrenfeld, dem Stadtteil, der zwar bislang nur beiläufig einbezogen wurde, aber die empirische Grundlage für die Grammatik urbanen Zusammenlebens bildete. Im zweiten Fall geht es um die Debatten über die Keupstraße in Köln-Mühlheim.
Beide Male handelt es sich um Quartiere, für die eigentlich ein routiniertes Zusammenleben, wie wir aus eigenen Erhebungen vor diesen Konflikten wissen, typisch war und ist. Die Alltagspraxis verlief und verläuft in beiden Fällen bis zu einem bestimmten Punkt routiniert. Die Autochthonen und die Allochthonen haben einen Modus vivendi gefunden Beiden Beispielen ist gemeinsam, dass das Zusammenleben von außen problematisiert wird und dabei extrem polemisch argumentiert wird. Und in beiden Fällen geht es um eine lokale Problematik, die zugleich symptomatisch für die hiesigen Debatten überhaupt ist. Beim Moscheebau wie bei der Keupstraße werden deutschlandweit erörterte Themen abgehandelt, der Umgang mit der „Bedrohung durch den Islam“ und der mit „Parallelgesellschaften“.
Aber es gibt auch deutliche Unterschiede:
Ehrenfeld stellt ein im Großen und Ganzen gemischtes Quartier dar, so dass man dort allenfalls von „ethnic clusters“ sprechen kann, die sich relativ schwer diskreditieren lassen, weil sie so wenig griffig sind. Der hier relevante Teil der Keupstraße wird dagegen ganz überwiegend von der „Generation Gastarbeiter“ und ihren Kindern und Enkeln bewohnt. Es fällt deshalb sehr viel leichter, ihn zu diskreditieren. Die Debatten sind unterschiedlich breit entwickelt. In Ehrenfeld hat die Diskussion überhaupt erst mit dem Moscheeprojekt begonnen. Vorher gab es keine entsprechenden Debatten, während die Keupstraße schon seit je in der Diskussion ist, ganz besonders freilich seit der Ansiedlung der Generation Gastarbeiter.
Vor diesem Hintergrund dürften die beiden Beispiele durchaus interessant sein. Hinzu kommen noch zwei methodische Aspekte. Zum einen liegen bereits Informationen zu den Quartieren aus vorausgegangenen Studien vor (sie wurden oben zum Teil bereits dargestellt), so dass es möglich ist, zeitversetzt auf beide Stadtteile zurück zu greifen, so dass sich ggf. dynamische Entwicklungsprozesse
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besser erkennen lassen.70 Diese Entwicklungsprozesse sind nicht unwichtig, wie bereits ein kurzer Blick auf die Keupstraße zeigt. Ironischer Weise erweist sich nämlich dann die deutschlandweit als Parallelgesellschaft kolportierte Keupstraße als ein besonders schlechtes Beispiel und zwar nicht nur deshalb, weil niemandem verborgen bleiben kann, dass die „Generation Gastarbeiter“, selbst wenn sie wie in diesem Fall ganz überwiegend aus der Türkei kommt, natürlich aus einer hoch diversifizierten Gesellschaft kommt, sondern auch, weil es sich ganz einfach um eine ökonomische Inszenierung handelt, wie wir sie heute global unter den unterschiedlichsten Etiketten beobachten können.71 Zum anderen wird die Debatte um den Moscheebau im Kontext der Autochthonen rekonstruiert, während die Debatte um die Keupstraße im Kontext der Allochthonen dargestellt wird. Es wird also eine Perspektivenverschiebung vorgenommen – freilich ohne die Fragestellung zu verändern. 3.2 Gebetsstätte oder Islamischer Brückenkopf? Das Moscheeprojekt in Köln-Ehrenfeld Die Fragestellung ist deutlich: Wie reagieren die Alteingesessenen, wenn die Routinen des Alltags in Stocken geraten, zum Beispiel weil „von außen“ interveniert wird? Dazu soll noch einmal auf den Kölner Stadtteil zurückgegriffen werden, der uns vor Jahren dazu diente, die Grammatik des urbanen Zusammenlebens zu erarbeiten. In der Zwischenzeit hat es zwar keine wirklich neuen Entwicklungen, wohl aber doch ein neues Ereignis gegeben, das jetzt analysiert werden soll. Das, was oben gesagt wurde, nämlich dass anders als in vergleichbaren anderen Ländern das Thema Einwanderung im deutschsprachigen Raum nach wie vor extrem virulent ist, das gilt – wenig überraschend – auch für den Kölner Stadtteil Ehrenfeld. Das ist wie auch sonst weniger der Tatsache geschuldet, dass in diesem Stadtteil besonders viele Menschen eine sogenannte Migrationsgeschichte aufweisen, wobei es sich ja häufig um Menschen handelt, die schon lange, teilweise schon seit Generationen hier leben und sich des Migrationshin70 Was ich hier vorstelle, ist eine qualitative „Längsschnittstudie“. Ein solches Forschungsdesign soll die Untersuchung von sozialen und individuellen Wandlungsprozessen ermöglichen. Allerdings wird zwar am selben Ort nach Ablauf von ca. acht Jahren erneut empirisch geforscht und die Ergebnisse der einzelnen Untersuchungswellen werden auch miteinander verglichen, aber die Fragestellungen haben sich gewandelt oder wurden doch zumindest unterschiedlich pointiert formuliert. 71 Es geht also nicht um eine transkulturelle Praxis, sondern es geht schlicht um eine Inszenierung, für die man auch keineswegs spezifische Milieukenntnisse haben braucht. So kann die Dönerbude italienisch sprechendes Personal und der Pizzaservice türkisch sprechendes Personal haben, wobei noch nicht ausgemacht ist, welcher Herkunft der Besitzer ist (vgl. aber Putz 2009:63f).
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tergrundes selbst oft gar nicht bewusst sind, oft also länger als die sogenannten Einheimischen, die häufig kürzer vor Ort sind als die Allochthonen. Es ist vielmehr der Tatsache geschuldet, dass von bestimmten Kreisen immer einmal wieder die Integrationsfrage lanciert wird. Und der Moscheebau scheint ein guter Aufhänger dafür zu sein, obwohl man eigentlich schon auf den ersten Blick merken müsste, dass jemand, der ein Gotteshaus baut, sich ganz offensichtlich hier zu Hause fühlt72. Der Moscheebau hat sich in Deutschland in diesem Kontext „bewährt“ (Sommerfeld 2008:12). 3.2.1 Zu den generellen Rahmenbedingungen Was die Situation in Köln betrifft, so ergeben sich einige Besonderheiten, die mit lokalen Traditionen zu tun haben. Im Übrigen aber unterscheidet sich die Situation nicht von den Rahmenbedingungen, wie sie auch in anderen Städten zu finden sind. Auffallend für Köln ist, dass man in der Alltagspraxis, im Dauerablauf des Alltags betont bewusst mit Vielfalt umgeht. Sobald Vielfalt oder Fremdheit in den Blick gerät, ist ein Motto zur Hand, das die Routine des Alltags sofort wieder herzustellen vermag: „Jeder Jeck ist anders“, was im Kern meint, dass man sich wenig um die Besonderheiten, den persönlichen Lebensstil des Anderen zu scheren hat und dessen Besonderheiten wie selbstverständlich hinzunehmen hat. a)
Jeder Jeck ist anders
Das Motto weist zwei besondere Pointen auf. Zum einen unterstellt es nicht nur dem Anderen, sondern jedem, dass er anders ist, zielt also nicht auf eine einzelne Gruppe. Es klagt also kein Minderheiten- sondern ein Menschenrecht ein. Und zum anderen wird in der Formulierung auf die Rolle des Bürgers im Karneval angespielt, wo jeder ein Recht (also ein Gewohnheitsrecht, das sich einem informellen politischen Diskurs im Kontext des urbanen Zusammenleben verdankt)73 darauf hat, ganz besonders anders zu sein. Hier wird Differenz ganz
72 Mehmet Özay sagt am 26.10.2008 bei der Einweihung der neuen Moschee in Duisburg Marxloh: „Weil wir hier zu Hause sind und sein wollen, bauen wir eine richtige Moschee, denn wir leben nicht provisorisch.“ Die Moschee sei „kein Symbol der Ausgrenzung, sondern ein Symbol der menschlichen, religiösen und gesellschaftlichen Zuwendung.“ Es ist also kein „Wunder von Marxloh“, wie der Ministerpräsident von NRW formuliert, sondern der Normalfall. 73 Vgl. 2.1.4c
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gezielt in den normalen Alltag „eingeebnet“74. Dieses Motto wird damit zu einem Beleg für eine gelungene strukturelle Akkommodation auf Verschiedenheit und bekommt natürlich in einer hochmobilen Gesellschaft besondere Bedeutung.75 Gleichzeitig wird aber in Köln wie anderswo auch immer noch vom Ausländer gesprochen. Zumindest in den öffentlichen Debatten, in der Verwaltung usw. spielt dieser Begriff immer noch eine zentrale, um nicht zu sagen eine herausragende Rolle76. Und hinzu kommt, in der öffentlichen Diskussion wird nicht nur nach wie vor sehr häufig über den „Ausländer“ diskutiert, sondern es wird in der Regel auch recht polemisch agiert, oft werden die Ausländer problematisiert und häufig auch – und das eben nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern auch in einer Stadt wie Köln – direkt angegangen bzw. angefeindet77. Diese Beobachtungen stehen im deutlichen Gegensatz zum Alltagsleben, wo das Thema offenbar nicht nur abgehakt, sondern auch mit einem Motto bewehrt wurde. Dieser eigentümliche Zwang zur Thematisierung, zu einer noch dazu negativ ausgerichteten Thematisierung scheint so ausgeprägt, dass sich die entsprechenden Debatten längst verselbständigt haben, den gesellschaftlichen Diskurs bis heute vollständig und auf allen Ebenen durchdringen und sich sogar in den Köpfen der allochthonen Bevölkerung nieder geschlagen haben. Etwas vereinfacht könnte man sagen, die strukturelle Akkommodation ist in der Öffentlichkeit und in der Verwaltung noch nicht angekommen. Hier legt man mehr Wert auf den Gleichklang mit den politischen Debatten im Land bzw. den Debatten im Landes- und im Bundesparlament und sieht sich wohl als Teil jenes dominanten „Kulturprogramms“.
74 In verschiedenen Studien auch über Köln wurde deutlich, dass die postmoderne Vielfalt längst zu einer Ressource des sozialen Zusammenlebens und Quelle ökonomischer Erfolge geworden ist. Die Migration ist aus dieser Sicht auch in Deutschland eigentlich eine gesellschaftliche Erfolgsgeschichte. Städte wie München oder Stuttgart, die sogar noch eine höhere Mobilität als Köln aufweisen, haben das auch längst erkannt. 75 Städte wie Köln sind eigentlich das Produkt beständiger Migration. Sie sind als Handelsmetropolen herangewachsen und als Industriestandorte groß geworden. Beides wäre ohne massive Einwanderung niemals möglich gewesen und ist eigentlich trivial und wird auch so in der Praxis des Zusammenlebens hingenommen. 76 Vgl. Gerd Baumann 1999 77 In der Geschichte der Stadt waren die Auslöser für solche negativen Einlassungen unterschiedlich. Auffällig ist jedoch, dass es sich entweder um Vorgänge handelt, bei denen die Verwaltung involviert ist (Unterbringung von Flüchtlingen, interkulturelle Wochen, Wahlen zu dem Integrationsbeirat/früher Ausländerbeirat usw. oder Vorgänge, die von den Medien, hier dem Kölner Stadtanzeiger, angestoßen werden. In diesem Fall ging es z.B. um die Situation in den Kindergärten.
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Abbildung 8: Die geplante Moschee nach dem Entwurf des Architekten Paul Böhm (Foto: KStA)
Oben wurde schon angedeutet, dass sich oft selbst die allochthone Bevölkerung diesen Debatten nicht entziehen kann. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, als sich mit dieser beständigen negativen Thematisierung irgendwie zu arrangieren. Am naheliegendsten erscheint es hier, sich möglichst unsichtbar zu machen und einschlägigen Diskussionen, in denen sie in der Regel trotz deutscher Staatsangehörigkeit weiterhin als Ausländer angesprochen werden, irgendwie auszuweichen. Wenn sich die allochthone Bevölkerung alltagspraktisch eher selbstverständlich bewegt, dann müsste es ihr doch auch gelingen, sich relativ einfach als erfolgreich inkludierter Teil der Gesellschaft darzustellen. Tatsächlich sind viele Allochthone schon in der ersten Generation in die Gewerkschaften und in der zweiten Generation in eine Partei eingetreten. Aber so einfach ist dem „Ausländer“Etikett nicht zu begegnen. Die allochthone Bevölkerung gerät quasi automatisch in eine paradoxe Lage: Sie soll belegen, dass sie in der Gesellschaft angekommen ist, obwohl gerade die Instrumente, mit denen sie das ständig belegt, für ungültig erklärt wurden. Statt anzuerkennen, dass sie sich wie einst beabsichtigt, ganz unten angesiedelt hat, wird ihr nun genau das vorgeworfen. Sie wird als unterschichtete Gruppe mit der Gesamtheit der autochthonen Bevölkerung verglichen und kommt dann zwangsläufig schlecht weg.78 78
Die letzte bislang größte Einwanderergruppe, die Aussiedler aus den GUS-Staaten weisen ein ganz anderes Profil auf, weil sie vor allem aus der Mittelschicht stammen und deshalb in einem solchen
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b)
Eine paradoxe Situation
Wie kann man sich als dazugehörig darstellen, wenn einem genau dies explizit abgesprochen wird? In einer paradoxen Lage gibt es keine direkte Lösung. Was man auch immer tut oder unterlässt, es gibt ein Problem. Eine Strategie wäre hier sicherlich, offensiv vorzugehen und zu versuchen, sein gesellschaftliches Engagement zu intensivieren sowie ganz gezielt seine politische Teilhabe an der Gesellschaft einzufordern. Man kann die öffentliche Anerkennung für das längst praktizierte und akzeptierte Zusammenleben noch einmal ganz bewusst und deutlich einfordern. Die Frage ist natürlich, ob das wirklich erfolgreich ist. Auf jeden Fall wird das zurzeit mit der Diskussion über den Bau einer Moschee versucht. Eine andere Möglichkeit wäre sicherlich ein rein defensives Ausweichmanöver, sich also auf den Alltag zu beschränken und allen Debatten auszuweichen, sich zurückzuziehen und unsichtbar zu machen. Sowohl die Politisierung als auch die Individualisierung erscheinen wenig ertragreich. Aber was soll man angesichts der Erfahrung, dass man nicht nichts tun kann, anderes machen? Bei genauerer Betrachtung sieht man, dass es genau die Wege sind, die heute üblich sind, um Verwerfungen zu entkommen. Es gibt natürlich noch mehr Möglichkeiten. Eine dritte Möglichkeit wäre der Versuch, die Argumentation gewissermaßen „ungebraucht“ weiter zu reichen. Tatsächlich findet man diese Strategie, einfach den “schwarzen Peter” weiter zu reichen. Alle drei Auswege belegen in jeweils spezifischer Weise, wie fest die allochthone Bevölkerung im lokalen Alltag verankert ist, ob man nun ganz bewusst eine Moschee baut bzw. ein Mandat bei einer Partei übernimmt oder ob man sich ins Private zurückzieht bzw. einem landsmannschaftlichen orientierten Club gründet oder ob man Flüchtlinge oder Asylbewerber bzw. Menschen ohne Papiere angreift. In jedem Fall kann man sich als „wohl integriertes und ordnungsgemäß verhaltenes“ Gesellschaftsmitglied fühlen.79 Die Kölner Situation erscheint insoweit einerseits nicht besonders ungewöhnlich, weil es solche Konflikte fast überall gibt, andrerseits aber eben doch erstaunlich, wenn man bedenkt, wie souverän man sich in Köln ansonsten gibt. Man kann so noch deutlicher zwei unterschiedliche Realitätsebenen, eine von praktischer Vernunft und eine von theoretischen Diskursen geprägte Ebene, unterscheiden. Vergleich eher unauffällig wirken. Aber auch hier wird nicht korrekt erklärt, warum das so ist (Berlin-Institut 2009:35) 79 Diese Strategie, den „schwarzen Peter“ einfach weiter zu reichen, belegt nicht nur soziale Kompetenzen, sondern auch deren hohen Identifikationsgrad (“Identifikation mit dem Aggressor”), die sich auch bei vielen anderen Aspekten des Alltagslebens wie der Einstellung zur Heteronormativität, zur Kriminalität, zur Religion usw. konstatieren lässt. Man ist in der allochthonen Bevölkerung in all diesen Aspekten besonders konservativ.
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Auf der Ebene der praktischen Vernunft oder der konkreten Alltagserfahrungen orientiert man sich eher pragmatisch-konstruktiv, auf der theoretischen Ebene mitunter polemisch-destruktiv. Köln-spezifisch ist, dass die praktischen Erfahrungen eine argumentative Unterfütterung besitzen, die zwar nicht sehr elaboriert, dafür aber sozialtechnisch betrachtet effektiv ausfällt und an die lokalen Traditionen anknüpft. Der Verweis darauf, dass jeder Jeck anders sei, enthält eben eine starke, indikatorenreiche und legitimationsträchtige Aussage. Idealtypisch betrachtet provoziert diese paradoxe, negativ reziprok zueinander ausgerichtete Figuration (Praxis versus Theorie) nicht nur drei Ausweichmanöver, demonstrative Zugehörigkeit, Individualisierung und Weiterreichen, sondern bietet sich auch in sich variantenreich dar: Da gibt es den paradoxen Umgang der Autochthonen mit den Allochthonen. Es gibt den darauf reagierenden Umgang der arrivierten Allochthonen mit den Autochthonen. Und des gibt den Umgang der arrivierten Allochthonen mit jüngst eingewanderten weiteren allochthonen Bevölkerungsgruppen. Alle drei Reaktionen und alle drei Varianten der paradoxen Figuration lassen sich im Feld finden. Sie überlagern leicht das eigentlich eher unproblematische Zusammenleben. 3.2.2 Zum Verfahren der Skandalisierung Um zu verstehen, unter welchen Druck das Alltagsleben, das lange von einem souveränen Umgang miteinander geprägt ist, dennoch geraten kann und wie es in der Folge zu einem Jonglieren zwischen einem postmodernen Alltagsarrangement und dessen Problematisierung kommt, sei es im Fall der aktuellen Moscheediskussion, sei es am Beispiel der Keupstraße, reicht ein unreflektierter Blick auf die aktuellen Vorfälle nicht aus. Da es um Diskurse geht, liegt eine Diskursanalyse nahe. Dabei bietet es sich an, auf solche Analysen zurück zugreifen, die vergleichbare Phänomene untersucht haben und auf Spannungen zwischen praktischen Arrangements und diskursiver Theoretisierung geachtet haben, wie sie uns auch hier beschäftigen. Genau solche Analysen finden sich weit vor den Cultural Studies bereits in den Arbeiten von Roland Barthes80. Die Cultural Studies helfen später nur dabei, die situative Verknüpfung von Diskurs und Alltagsablauf („temporäre Fixierung“)81 genauer in den Blick zu nehmen.
80 Die Arbeiten von Roland Barthes erschienen schon in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts und wurden kaum rezipiert, obwohl sie m. E. einen entscheidenden Beitrag zur Diskussion über den Rassismus geleistet haben (Barthes 1981, 2008 Teil 2) 81 Vgl. oben die Diskussion über die “Einsicht schaffenden Diskurse” (Teil II,2 und hier 3c).
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a)
Semiotische Systeme
Als Roland Barthes sich vor gut fünfzig Jahren das erste Mal ausführlich mit dem modernen Alltagsleben befasste, stieß er schnell auf die hier knapp skizzierte Problematik, auf Spannungen zwischen dem praktischen Alltagsleben einerseits und dessen öffentlicher Thematisierung anderseits. Und er konzentrierte sich auf die öffentlichen Diskurse, die sich zwar durchaus modern und auf der Höhe der Zeit geben, ihm aber dennoch fraglich erscheinen. All die Werbespots, Illustriertencovers, kulturellen Inszenierungen, Film-Moden und Theaterstile, Essgewohnheiten und andere öffentlich gefeierten Repräsentanten des französischen Alltagslebens wirken auf ihn eigentümlich positionell und hegemonial. Zugleich erscheinen sie ihm oft genug ähnlich strukturiert und letztlich nichts anderes als Varianten oder Bestandteile eines durchaus fraglichen, modernen semiotischen Systems von Öffentlichkeit, das damit unter anderem die Normalität der Nationalkultur eines Landes (hier Frankreichs) definiert (Barthes 2008: 85ff.). Dieses semiotische System stellt für ihn den Stoff dar, aus dem letztlich die Alltagsdeutungen produziert und zugewiesen werden. Es zeichnet auf, was in der Gesellschaft heute als modern zu gelten scheint – oder besser – zu gelten hat. Er bezeichnet dieses semiotische System als ein System von Mythen, Mythen des Alltags. Zwei Punkte scheinen ihn daran besonders zu faszinieren, zum einen der „technische“ Aufbau dieser Mythen, weil sie alle strukturell analog aufgebaut erscheinen und sich damit als feste Bestandteile eines komplexen semiotischen Systems erweisen, und zum anderen die „Magie“ dieser Mythen, also die besondere Wucht, mit der diese Mythen im Alltag Geltung und Raum greifen und Zustimmung erheischen, weil sie nicht nur Erfahrungen, sondern auch Zweifel an dem Umgang mit Erfahrungen suspendieren und symbolisch Macht sichern (Bourdieu 2005:221). b)
Soziale Mythen
Soziale Mythen gab es nicht nur im Frankreich der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Sie sind auch bei uns gang und gäbe. So kann man, um ein eher unverfängliches Beispiel zu nehmen, das grüne Ampelmännchen anführen, das noch aus der DDR-Zeit stammt und in manchen ostdeutschen Gemeinden und auch im ehemaligen Ostberlin bis heute verwendet wird82. Der grüne Fußgänger dient zunächst einmal ganz trivial als Bild, das signalisiert, dass, wenn es auf82
Man könnte genauso auch auf den Rechtsabbiegerpfeil verweisen, der eine ähnliche Geschichte hat.
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leuchtet, die Überquerung der Straße gestattet ist. Die Form des Ampelmännchens als einem grünen Signal fügt sich mit dem Inhalt des Ampelmännchens, nämlich einem kräftig ausschreitenden Mann, zu einer Bedeutung zusammen, zu der Botschaft: „Du kannst nun die Straße legal überqueren.“ Das Signal bedeutet allerdings nicht automatisch, dass eine Überquerung jetzt ungefährlich ist. Es gestattet lediglich, es legalisiert eine Handlung – mehr nicht. Denn nicht, wer angefahren wird, sondern wer bei rot die Straße überquert, wird ggf. sanktioniert. Damit ist auch deutlich, wer sich an das Signal hält, hält sich nicht nur an das konkrete Gebot, sondern fügt sich in eine gesellschaftliche Ordnung ein und wird damit zum Teil eines semiotischen Systems, zu einem legitimen Bürger dieser geordneten bürgerlichen Welt. Das Beispiel zeigt aber noch mehr: Besonders spannend wird dieses semiotische System z.B., wenn man es aus seinem traditionellen Ampel-Umfeld herauslöst und scheinbar kontextwidrig an anderer Stelle implementiert. Und genau das ist hier zu beobachten. Dann geht es nicht mehr um irgendein Ampelmännchen, sondern um ein Ampelmännchen, das längst zu einem Symbol für die untergegangene DDR geronnen ist, also die Zugehörigkeit zu einem „anderen“ System signalisiert und den Nutzer scheinbar selbstverständlich zum Zeugen eines besonderen Kontextes macht und damit in eine spezifische Wirkungsgeschichte einbindet. Spätestens in diesem Augenblick wird aus dem semiotischen System ein brisanter Mythos, der sich durch den Nutzer hindurch manifestiert und durch ihn hindurch identifiziert und wirkungsmächtig erleben lässt (jedenfalls solange die Straßenüberquerung tatsächlich gelingt). Wer sich dieser Zumutung entziehen will, der müsste schon bei rot die Straße überqueren, trifft dort jedoch dann auf das rote Ampelmännchen, das einem nicht weniger nostalgisch aufgeladen entgegentritt. Das semiotische System bannt gewissermaßen den Beobachter. Die ursprüngliche Beobachtung wird zu einer Form, in die ein neuer Inhalt gegossen wird. Beides zusammen gewinnt eine neue Bedeutung im nun fertigen semiotischen System und wird zum Botschafter einer längst versunkenen realsozialistischen DDR. Wie der Betrachter des Spiegel-Titels „Das Boot ist voll“ von der Titelbotschaft gebannt wird, so wird der Fußgänger bei dem DDR-Ampelmännchen zum Teil eines spezifischen semiotischen Systems bzw. einer besonderen, speziellen Nostalgie-Diskursgemeinschaft. In der Differenz zu anderen Bildern bzw. zu anderen Signalanlagen wird die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Diskursgemeinschaft real, ob man sich darüber nun ärgert oder ob man sich einfach einfügt. Im Falle des Spiegel-Titels wird man von einer komplexen, bevölkerungspolitisch aufgeladenen und rassistisch ausgestalteten Gesellschaftstheorie in den Bann gezogen, im Fall des DDR-Männchens wird man zum Be-
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standteil einer DDR-Nostalgie, eines Mythos mit der Botschaft „Wie war die Welt doch so vertraut und ordentlich.“83 Zwei Dinge werden damit klar: Erstens wird ein solcher Mythos schnell zu einem Leuchtturm, in dessen Glanz eine Botschaft einen ganz neuen Schein erhält. Zweitens unterwirft man sich dem Mythos, weil er einen aller Zweifel entledigt und gestattet, in der Alltagspraxis fortzufahren, und einen noch dazu in der Überzeugung bestärkt, auf der richtigen Seite zu stehen. Nicht mehr und nicht weniger leistet die Lektüre eines Nachrichtenmagazins oder das Überqueren der mit einer nostalgisch anmutenden Ampelanlage ausgestatteten Kreuzung. Mit anderen Worten, das „natürliche Gesellschaftsmitglied“ wird ungefragt und unbemerkt in einen Mythos eingefügt. Man wird zum Akteur in einem semiotischen System und damit zum Mitglied in einer Diskursgemeinschaft, die für eine ganz bestimmte Botschaft steht. Man wird auf triviale Weise positionell vereinnahmt. Damit erscheint das Positionelle selbst trivial, wie selbstverständlich, ganz normal, völlig legitim und schlichtweg unhinterfragbar eindeutig. Auf dem Rücken der „trägen Gewalt der Sozialordnung“ (Schütz 1990:145) hat sich ein neues Ordnungselement eingeschlichen und ist zum Bestandteil einer sozial konstitutiven Sozialordnung geronnen. Die letzten Bemerkungen machen bereits deutlich, dass dieser kleine Ausflug zu den Arbeiten von Roland Barthes (Barthes 1981; 2009) aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts und dessen Rezeption von Pierre Bourdieu sehr hilfreich ist. Er bewährt sich auch an hiesigen Fällen und scheint auch ertragreich, wenn es um die Mobilität und ihre Folgen geht. Das Spiegelbeispiel verweist darauf. Die an Alltagsmaterial durchgeführte Analyse von Barthes ist einfach erhellend – und das ganz besonders, wenn man sich die aktuellen Diskurse über Parallelgesellschaften, über den Islam, über den „Ausländer“ oder was auch immer sich als „bedrohlich“ am Horizont der Gesellschaft abzuzeichnen vermag, anschaut. Von hier aus erschließt sich sehr schnell auch der Kölner Diskurs und vor allem, wie man sich mit Alltagsmythen zu retten versucht. 3.2.3 Der lokale Diskurs Als aktueller Anknüpfungspunkt für die weitere Diskussion soll ein Statement von Ralph Giordano dienen, denn es bildet so etwas wie das Zentrum der aktuellen Debatte. Kaum ein Satz ist für die aktuelle Debatte über „Wir und den Ande83 Unterdessen gibt es in vielen Städten, so auch in Köln DDR-Nostalgie-Geschäfte, die mit dem Ampelmännchen als Logo solche Nostalgie-Gemeinschaften anziehen und pflegen. Die angebotenen Produkte wirken wie die Accessoires eines Kinderkaufladens: niedlich, klein, vergilbt und eben von gestern. Der zum Logo geronnene Mythos wirkt.
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ren“ so plastisch wie dieser Satz. Er hat ihn vor einiger Zeit in einer wirklich unnachahmlichen Polemik formulierte84. a)
Formulierung eines Mythos
Was Ralf Giordano in der Debatte formuliert und mehrfach variiert, ist unmittelbar „einleuchtend“, er ist zumindest für den beteiligten Zuhörer sofort in seiner ganzen Breite und Tiefe verstehbar. „Hier leben Muslime, die kein Deutsch können, vor allem Frauen.“ Ralf Giordano – ein bundesweit bekannter und literarisch geübter Schriftsteller – platziert seine Aussage mit diesem Satz gleich in mehrere Kontexte. Jedermann vertraut ist der zeitgenössische Kontext, der am einfachsten durch den Verweis auf die Debatte um den „Kampf der Kulturen“ beschrieben werden kann. Speziell in Deutschland geht es außerdem um die Debatte, die zurzeit unter dem Stichwort „Integration“ geführt wird und die einerseits generell um Parallelgesellschaften kreist und anderseits ganz speziell den Islamdiskurs aufnimmt. In Köln bettet er sich ganz konkret in die aktuelle Diskussion um die Errichtung einer neuen Moschee in Köln-Ehrenfeld ein, bezieht sich aber zugleich auch auf die schon länger anhaltende Diskussion über die Keupstraße in Köln-Mülheim und andere sogenannte Kölner Parallelgesellschaften.85 Für den, der die aktuelle Diskussion in Köln um Einwanderung, Kopftücher, Parallelgesellschaften usw. nicht weiter verfolgt hat, soll hier noch einmal der Satz in seinem konkret formulierten Kontext ausgeführt werden. Er ist in einer Talkrunde mit dem Sprecher von DITIB (der Bauherr der Kölner Zentralmoschee) gefallen, wo es um die besagte Moschee ging: Alboga: Giordano: Giordano:
„Was meinen Sie mit Parallelgesellschaft? Es gibt keine Parallelgesellschaft in Deutschland.“ „Hier leben Muslime, die kein Deutsch können, vor allem Frauen (...)“ „Es gibt eine Kultur hier, die nicht akzeptabel ist, aber mitten unter uns ist. Es ist durch die Zeitungen der Fall gegangen, wo ein Bruder seine Schwester vergewaltigt hat. Die Schwester wird im Auftrag des Vaters von dem anderen Bruder getötet, um die Ehre der Familie zu retten. Was passiert hier in einer Parallelgesellschaft, in der so etwas möglich ist und nicht vereinzelt ist? (...)“
84 „Streit im Turm“: Internetauftritt mit Chefredakteur Franz Sommerfeld. Er moderierte das Streitgespräch zwischen Ralph Giordano und Bekir Alboga Anfang Juli 2007. 85 Vgl. dazu die verschiedenen Studien von uns (Bukow, Yildiz 2001).
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Giordano:
„Auf dem Wege hierher musste ich einen Anblick ertragen, der meine Ästhetik beschädigt hat – eine von oben bis unten verhüllte Frau, ein menschlicher Pinguin.“
Der Schriftsteller Ralf Giordano skizziert hier in dem zitierten Satz ein Bild, das genauso gedrängt und verdichtet konzipiert ist, wie die Bilder, die bei Roland Barthes (Barthes 2008) als Mythen beschrieben werden. Nimmt man den Satz „Hier leben Muslime, die kein Deutsch können, vor allem Frauen“ einfach als eine Mitteilung, erscheint er genauso trivial wie ein Grün-Signal an der Kreuzung. Selbstverständlich gibt es in Deutschland nach fünfzig Jahren europäischer Migration Moslems und selbstverständlich kann die erste Einwanderergeneration (die Generation Gastarbeiter) wie in vergleichbaren Fällen schlecht die Sprache des Einwanderungslandes und noch trivialer ist der Sachverhalt, dass es darunter auch Frauen gibt. Er ist alles gewissermaßen „super-trivial“, weil Giordano uns mitteilt, dass eingewanderte Menschen als Familien mit ihrer familialen Religion mitten unter uns leben. Insoweit bewegt man sich auf der Ebene des Fußgängers, der auf das grüne Lichtsignal wartet, um die Straße überqueren zu können. Es ist diese kaum noch zu unterbietende Trivialität, die – im Kontext einer hitzigen Diskussion über die Errichtung einer Moschee formuliert – zu einer kaum noch zu überbietenden Provokation gerät. Damit gewinnt der eigentlich triviale Inhalt in Form einer öffentlichen Kundgabe eine geradezu explosive Aussagekraft. Zwei Dinge sind bei der Adaption der eigentlich trivialen Aussage in das semiotische System des Mythos (bei der Form und Inhalt der Aussage samt ihrem trivialen Sinn auf der Ebene des Mythos zur durch einen neuen Inhalt angereicherten Form mit einem polemischen Sinn avancieren, womit eine vollständig neue Bedeutung geschaffen wird) geschehen:
Der Sinn der ursprünglichen Aussage, der eigentlich für sich selbst „vernünftig erschien“, wird „parasitär“ deformiert; er wird enteignet. Der Inhalt wird aus seiner Form gelöst und damit seiner vertrauten Bedeutung entkleidet. Was den Inhalt betrifft: Von der „Trivialität“ des Beobachteten bleibt nichts übrig, womit nicht nur das Alltägliche einer Einwanderungsrealität beseitigt, sondern auch generell die jeder Alltäglichkeit von Einwanderung vorausgegangene Veralltäglichung des Einwanderungsprozesses selbst negiert wird. Was die Form betrifft: Was als Form übrig bleibt, das sind jeglichem Inhalt entkleidete Laute, denen aber weiterhin die Qualität einer „Trivialität“ wie ein Label anhaftet. Der Mythos greift den Sinn also parasitär auf, nimmt ihn als Form auf und gießt einen neuen Inhalt hinein. Und so wird vorgegangen: Der Islam avan167
ciert nun für das christliche Abendland zur Inkarnation des Feindes, den man daran erkennen kann, dass er sich außerhalb der deutschen Sprachgemeinschaft bewegt, und was insbesondere dadurch belegt wird, dass er sich, zumal in der Gestalt des Weiblichen, auch noch dem männlichen Zugriff entzieht. Über den Mythos wird der Anschluss an nationale Erzählungen mit einer spezifischen orientalistischen Polemik hergestellt. Roland Barthes hat eine ganze Reihe vergleichbarer Mythen analysiert und sie immer wieder als Deformationen bezeichnet. Besonders berühmt wurde seine Analyse eines Zeitschriftencovers, wo abgebildet ist, wie ein französischer Neger-Soldat „seine“ Trikolore grüßt (Barthes 2008:102ff.). Er macht immer wieder deutlich, wie die Postmoderne deformiert und zurück in einen ethnisch aufgeladenen Kulturalismus gezwungen wird. Die von Giordano vorgetragenen Sätze verbergen scheinbar nichts, sie leugnen auch nichts direkt, denn es gibt ja die Allochthonen, es gibt ja den Islam und es gibt ja Frauen. Vielleicht gab es auch den erwähnten Vorfall. Aber sie deformieren die Alltagsbeobachtung. Seine Sätze zerstören den alltagspraktischen Sinn von Einwanderung, Islam und von Frau-Sein, überlagern ihn und setzen an deren Stelle eine Polemik, die in ihrer unglaublichen Bösartigkeit Ihresgleichen sucht86. Sie stehlen der Alltagsbeobachtung ihren praktischen Sinn, geben das Besondere für das Allgemeine aus, rücken Beobachtungen in einen neuen Kontext, machen sie für eine Kriegserklärung dienstbar und motivieren auf diese Weise den Zuhörer zu einer polemischen Sicht der Dinge. „Der vorherrschende politische Glaube ist eine besondere Sicht, die der Herrschenden nämlich, die sich als universelle Sicht darstellt und durchsetzt. Es ist die Sicht derer, die direkt oder indirekt den Staat beherrschen und die ihre Sicht nach dem Sieg über konkurrierende Sichtweisen vermittels des Staates zur universellen Sicht erhoben haben. Was sich heute als selbstverständlich, unverrückbar, ein für alle mal feststehend, über jede Diskussion erhaben ausgibt, ist es nicht immer gewesen und hat sich erst nach und nach durchgesetzt“ (Bourdieu 2005:223).
Allerdings haben wir es hier nicht mit jemandem zu tun, der den Staat beherrscht, sondern mit jemandem, der die Hegemonie erst noch anstrebt. Deshalb versucht Giordano seine Aussage noch einmal besonderen Nachdruck zu verleihen. Die Situation gibt ihm tatsächlich auch den entsprechenden Spielraum da86 Nur wenige haben sich wirklich distanziert, so immerhin der Integrationsminister Armin Laschet, obwohl er einer durchaus konservativen Regierung angehört: Als „bedauerlich“ wertet Laschet die Rolle des jüdischen Schriftstellers Ralph Giordano in der Kölner Debatte. Der angesehene Intellektuelle heize die Diskussion an, indem er sich dem Islam gegenüber „fundamentalistisch“ äußere, „fast rechts“. (29.10.2008 WAZ).
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für, seinen Satz „abzusichern“, auszuweiten und sogar – jedes eventuelle Missverständnis ausräumend – sorgfältig bedacht und gezielt zu kontextualisieren. Er bekommt die Chance, seine Botschaft noch einmal breit und jedes Missverständnis ausschließend darzubieten. Geschickt rückt er seinen Satz nicht nur ausdrücklich in den Parallelgesellschaftsdiskurs, sondern untermalt ihn noch mit weiteren kulturalistischen Elementen, die dem Zuhörer vermitteln sollen, dass die „fremde“ islamische Familie tatsächlich absolut zurückgeblieben, roh und primitiv ist und unsere moderne Gesellschaft damit bedroht. In ihr herrsche noch Mord und Totschlag. Sie könne noch nicht einmal ihre Sexualität kontrollieren. Dort vergewaltige noch der Bruder seine Schwester und der Vater könne sich nicht anders helfen, als ein weiteres Familienmitglied zum Mord am Opfer aufzurufen. Hier wird Angst vor dem Fremden geschürt, Panik beschworen und Entsetzen verbreitet. Dies alles soll den Zuhörer mit Abscheu erfüllen: „So sind sie, die islamischen Familien!“ Die Botschaft ist klar. Diese „Wirklichkeit“ muss mit aller Macht verhindert werden. Hier wird uns eine spezifische Version des „Projektes der Moderne“ vorgeführt. Es geht hier nicht mehr länger bloß um einen unreflektierten Modernitätsglauben, sondern auch um eine nationalistische Verengung87. In dieser Version kennt man offenbar den Anderen meist nur als Negation seiner Selbst. Ralph Giordano hat vielleicht gar nicht gleich bemerkt, wie sehr er in dieser Tradition steht und was vermutlich noch bedenklicher ist, er bemerkt wohl auch nicht, dass es nicht nur die gleiche, sondern die selbe Tradition ist, die eben auch den Antisemitismus des Mittelalters zum wissenschaftlichen Rassismus beschleunigt hat und heute im zeitgenössischen Kulturrassismus modernisiert und (meist) neu adressiert im hegemonialen Diskurs der bürgerlichen Gesellschaft durchbricht. Hier steht er jedoch nur als Beispiel, um die lokale Debatte aufzuzeigen. Der mythische Diskurs zielt auf die Bevölkerung, genauer gesagt, er zielt auf eine Bevölkerung, die aus den verschiedensten Gründen die Dinge heute nicht mehr, vielleicht auch lange schon nicht mehr, so sieht oder die ganze Angelegenheit längst für belanglos hält. Er agiert mit der Spannung zwischen dem Alltag, in dem Mobilität aus der Sicht der autochthonen wie der allochthonen Bevölkerung längst zu einer trivialen Tatsache geronnen ist – schon weil sich die Gruppen und die mit den Gruppen verbundenen Alltagsvorstellungen längst unentrinnbar vermischt, verwoben und neu ausdifferenziert haben – und denjenigen, die sich des skizzierten semiotischen Systems bedienend einen Mythos aufbauen, um ihrer Vorstellung von Gesellschaft Raum zu schaffen und zur Realität zu verhelfen. Der Mythos avanciert hier zur scheinbar ordnenden Kraft.
87
Auf diesen Aspekt komme ich später im Teil 3.4.4 zurück (Vgl. Beck 2005:5).
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b)
„Ordnung muss sein“
Die bisher vorgestellte Dekonstruktion des semiotischen Systems, das hier eingesetzt wird, um den Moscheebau bzw. die postmoderne Gemengelage in den Kölner Stadtquartieren darzustellen, bildet nur den ersten Schritt. Es stellt sich nämlich sehr schnell die Frage nach der ordnenden Kraft dieses Systems. Roland Barthes selbst (Barthes 1988:32f) hat darauf letztlich keine Antwort gefunden, wohl auch, weil er die dahinter verborgene soziale Dynamik als Sprachwissenschaftler nicht mit einbezogen hat. Hier weist Bourdieu (op. cit.) den Weg. Die ordnende Kraft des Mythos hat, wie wir heute aus der Diskussion über den modernen Rassismus wissen, sehr viel mit Machtverteilung oder etwas plakativ formuliert, mit dem Kampf um Ressourcen und damit mit Standortnationalismus zu tun (Butterwegge, Lösch, Ptak 2007). Der Grund, weshalb diese ordnende Kraft nicht so einfach zu entschlüsseln ist, liegt in ihrer einerseits apokryphen und andererseits völlig trivialen Vorgehensweise. Die Verfahrensweise, die hier unter Rückgriff auf Roland Barthes rekonstruiert wurde, ist auf den ersten Blick nur schwer zu erfassen und zu entschlüsseln. Insofern handelt es sich um eine durchaus apokryphe Verfahrensweise. Zugleich ist die darüber transportierte Botschaft jedoch auch absolut trivial. Sie zielt ganz einfach auf die Neuordnung des Alltags im Sinne eines wohlvertrauten Musters, das am einfachsten und klarsten mit dem neuen, durch die Rechten geprägten Begriff einer „national befreiten Zone“ gekennzeichnet wird. Genau genommen zielt der Mythos natürlich nur scheinbar auf eine „Ordnung“ bzw. „Neuordnung“, sondern eher auf ein „Aufräumen“, weil ja an etwas angeknüpft werden soll, was schon Abbildung 9: Bruegels Dorfplatz immer Programm war und dem ja nur durch einen Reinigungsprozess Geltung verschafft werden soll, dem eigenen Standort. Das Ziel des Mythos ist die Herstellung einer ganz speziellen Ordnung durch Beseitigung all dessen, was dieser Ordnung im Wege steht. Deshalb formuliert Giordano seine Sätze auch so martialisch. Er möchte die Zuhörer mit diesem Mythos zur Entscheidung zwingen. Er möchte damit Platz dafür gewinnen, dass alles, was abgelehnt wird, abgeräumt werden kann, 170
dem Aufräumen im Sinne von Reinigung zum Opfer fallen kann. Die „Ordnung“ des Mythos definiert damit auch ganz Abbildung 10: Wie der klassische wesentlich das, was abgelehnt wird, zu Rassismus aufräumt Schmutz erklärt wird und folglich beseitigt werden muss. Um die Kraft dieses auf „Aufräumen“ bzw. auf „Reinigung“ abhebenden Mythos ein wenig plastischer zu machen, kann ein Blick auf die Arbeiten des Schweizer Künstlers Ursus Wehrli nützlich sein. Er hat das Aufräumen im Kontext der Kunst beschrieben, die ja bekanntlich eine wichtige Rolle innerhalb des Projektes der Moderne gespielt hat. Er beschreibt mit seinem Konzept vor allem, wie der triviale Alltag in seinem Kontext aufgelöst und durch einen Mythos reorganisiert, eben „aufgeräumt“ werden kann. Sein Vorteil gegenüber einem Sozialwissenschaftler ist, dass er die Techniken, die Verfahrensweise der Dekontextualisierung eines Alltags, direkt plastisch vollziehen kann. Ursus Wehrli88 hat zum Abbildung 11: Wie der Milieurassismus Beispiel ein Bild von Bruegel aufräumt bearbeitet und dann nach zwei unterschiedlichen Verfahrensweisen aufgeräumt. Dies ist genau die Verfahrensweise, nach der man seit dem Beginn der Moderne in solchen Fällen vorgegangen ist. In diesem Projekt wurde einerseits ein neues Bild der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit angestrebt, in der die reine Rationalität den Ton angibt, die Rationalität, die die Moderne technologisch und kapitalistisch realisiert hat. Und zugleich wurde alles andere diskreditiert, abgestempelt und verdrängt. Da – wie gezeigt – die durchgesetzte Rationalität sich zwar, wie wir heute sehen, universa88 Der Künstler liefert selbst keine eindeutige Interpretation seines Werkes. Seine Intention ist jedoch eindeutig und dürfte auch im vorliegenden Zusammenhang angemessen berücksichtigt worden sein (Wehrli 2004).
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listisch gab aber partikularistisch agierte, war das Ergebnis, dass Positionen lediglich gegeneinander ausgespielt wurden und werden. Diese Situation findet sich auch im Kölner Diskurs. Wehrli stellt nun nicht das Räumverfahren selbst, sondern das Ergebnis vor. Er bearbeitet Bruegel sogar in zwei Varianten:
In der ersten Variante (Variante A) bietet er ein Bild, in dem nach der Methode des klassischen Rassismus aufgeräumt wurde. Es wird eine neue Ordnung eingeführt und alles andere wird abgeräumt. In der zweiten Variante (Variante B) bleiben die Menschen zwar vor Ort, sie werden aber neu aufgestellt bzw. neu platziert – und zwar so, dass der überkommene Sinnzusammenhang zwar weiter zu erahnen ist, aber keine weitere Gültigkeit besitzt.
In jedem Fall wird der alte Sinnzusammenhang zerstört und durch einen neuen ersetzt. Man kann dabei durchaus die Zeitdiagnose von Zygmunt Bauman einbeziehen. Er nimmt in seiner jüngsten Arbeit unter dem Label „Verworfenes Leben“ (Bauman 2005:90ff) Bezug auf die amerikanischen Ghettos und spricht von einer radikalen Ausgrenzung. Und er meint, es handele sich um eine typische Vorgehensweise in der (Post-)Moderne. Die beiden Bilder scheinen eindeutig. Die Variante A verweist auf das nationalsozialistische Programm zur Zeit des Faschismus, während die Variant B quasi in Anlehnung an Bauman auf die aktuelle Situation abzielt, in der eine neue Ordnung durchgesetzt werden soll, die genauso „sinnlos“ dekontextualisiert wie die Variante A, aber eben die Dinge nicht vernichtet, sondern gezielt transformiert. So zeigen die Bilder zwei Schritte in der Entwicklung des Rassismus. Der klassische Rassismus wird modernisiert und durch einen kulturell inszenierten Rassismus89, man könnte sagen, durch einen Milieurassismus ersetzt. Prüft man aus dieser bildlichen Perspektive heraus die Ehrenfelder Debatten, so ist unverkennbar, dass zu den Statements der rechtsradikalen „pro-Köln“Bewegung die erste Variante passt, weil in der Moscheediskussion oder in ihren Kampagnen gegen die Keupstraße für die Ausweisung der Zuwanderer plädiert wird und der „Mehrheitsgesellschaft“ das Land gesäubert und entleert zurückgeben wollen90. Die Variante B passt eher zu den Aufräum-Statements des etablierten Bürgertums. Auf den Versammlungen oder in den Leserbriefen wird häufig dafür plädiert, das Bild des Stadtteils zu bewahren. Die Moschee dürfe nicht den 89
Vgl. Bukow in Hamburger:2008:175f Obwohl sich “pro-Köln” in Aufrufen etwa zu einem Kongress am 20.9.2008 in Köln noch vorsichtig äußern, wird doch klar, was sie meinen. Sie sehen Deutschland “islamisch unterwandert” und fordern die Mehrheit der “Patrioten” auf, klare Verhältnisse zu schaffen und insbesondere die “Parallelgesellschaften” zu beseitigen.
90
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christlichen Kirchen Konkurrenz machen. Die Parkplätze müssen für den Bürger erhalten bleiben. Man habe nichts gegen die Einwanderer, aber sie müssten dort bleiben, wo sie hingehören. Dies zielt auf eine nachhaltige und dauerhafte Unterschichtung der Einwanderer im Kontext der Öffentlichkeit, der Wirtschaft, der Bildung, der kulturellen Praxis usw. Dahinter steht die Vorstellung, die Einwanderung drohe gewissermaßen aus dem Ruder zu laufen und müsse deshalb zur Ordnung gerufen und ggf. neu geordnet werden. Der „Ausländer“ muss daran erinnert werden, dass er dauerhaft auf die Gnade der Herrschenden angewiesen und zu deren Diensten verurteilt sei. In der Auseinandersetzung mit der Rechten scheint manchen Bürgern dies bereits modern und fortschrittlich. Es gibt offenbar wenig Bedenken bei der Formulierung dieses modernisierten Rassismus, Milieurassismus. Aber hier spricht nicht nur das konservative Bürgertum. Auch manche Partei- und Kirchenvertreter neigen offenbar zu einer Position im Umfeld eines modernisierten, geläuterten Rassismus. Erstaunlicher Weise dient hier z.B. auch der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland (Nikolaus Schneider) mit Argumenten, wenn er das Moscheebauvorhaben in Ehrenfeld kritisiert: Schneider:
„Diese Architektur ist schon sehr triumphierend angelegt. Man könnte sie sich auch anders vorstellen.“ Stadtanzeiger: „Kleiner?“ Schneider: „Zurückgenommener, nicht so imperial. Sondern vielmehr in einer Gestalt, die mehr den integrierenden, dienenden Charakter von Re91 ligion zum Ausdruck bringt.“
Das Problem ist natürlich nicht, dass die Moschee mit ihren beiden Minaretten den Kölner Dom oder den nebenan befindlichen Sender der Telekom (beide über 150 Meter) zu überragen droht, sondern dass sie mit ihre beiden Minaretten, die in Wahrheit noch nicht einmal so hoch werden sollen wie die lokale evangelische Gemeindekirche, einen neuen Anspruch erhebt, also die bisherigen Relationen verschiebt. Es geht eindeutig nicht um eine absolute, sondern eine relative Höhe. Man befürchtet, dass sich die Proportionen zwischen den Religionen verändern könnten. Schneider sieht eine bislang praktizierte komplementärasymmetrische Integration, d.h. die sozialstrukturell geordnete Unterschichtung der zugewanderten Moslems, in Gefahr. Er sieht ganz wörtlich den „dienenden Charakter“92 des Islam schwinden. 91 Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Nikolaus Schneider: „Die Architektur ist triumphierend angelegt" in: Kölner Stadtanzeiger vom 31.08.07 92 Diese komplementär-asymmetrische Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens (Watzlawick, Beavin, Jackson 2007:69), die ich an anderer Stelle am Fall der Moscheediskussion beschrieben
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Allerdings beteiligen sich nicht alle Bewohner – soweit sie überhaupt zur Thematik Stellung nehmen – an diesem Kampf um den Erhalt der gewohnten Asymmetrie. Der für das Bauvorhaben verantwortliche Architekt, der zahlreiche christliche Kirchen im Kölner Raum gebaut hat, sagt ganz gezielt und bewusst, dass die Islamgemeinde mit dieser Moschee endlich in der Stadt angekommen sei (Böhm 2008:153). Und der CDU-Oberbürgermeister stellt auf der Sitzung des Kreisverbandes, auf dem ein Beschluss gegen die Moschee gefasst werden soll, fest, diese Moschee werde entweder mit oder ohne CDU gebaut und verlässt anschließend die Sitzung93. Schon früher hat er in einer ähnlichen Situation gegenüber der Keupstraße eine pragmatische Wende vollzogen und festgestellt, dass es sich hier letztlich um ein Erfolgsmodell handele. Und es ist dann auch der Oberbürgermeister, der schließlich für den Durchbruch sorgt, so dass der Bau jetzt beginnen kann. Die Kraft der von Ralf Giordano und anderen noch einmal inszenierten Mythen der Ordnung des Alltags sind im Nachhinein betrachtet eben doch nur von begrenzter Reichweite gewesen. Den Schlussstrich unter diese Aktionen bildet schließlich die Aktion „Köln stellt sich quer“94. Diese zivilgesellschaftliche Aktion wird durch eine weitere Provokation von pro-Köln hervorgerufen. Pro-Köln hatte zu einer bundesweiten Aktion gegen den Moscheebau aufgerufen, woraufhin sich ein breites Bündnis von Kneipen, Kirchen, DGB, antifaschistischen Gruppen, Parteien, Schülerinitiativen und zahlreichen zivilgesellschaftlichen Initiativen unter dem Motto „Köln stellt sich quer“ bildet. Der am 20.9. 2009 geplante so genannte „Anti-Islamisierungskongress“ der rechtsextremen Bürgerbewegung pro Köln scheitert an diesem Bündnis. Damit
habe, erweist sich sowohl in einfachen sozialen Situationen als auch in komplexen modernen Zivilgesellschaften nicht nur als unfair, sondern zumindest langfristig auch als labil, prekär und damit als explosiv. Und dies gilt dann nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere Länder, die analog verfahren, wie die Revolte in den französischen Vororten von 2005 belegt. 93 OB Schramma (CDU) sagte, dass er bei seiner Meinung bleibe. „Ich sehe nach allem, was ich mit der DITIB besprochen habe, jetzt keinen Grund, von meiner Vorlage Abstand zu nehmen.“ Er könne „langsam nicht mehr nachvollziehen“, warum seine Partei (die CDU) so viel über äußere Fragen wie die Höhe der Minarette spreche. Er wisse nicht, ob das „eine aufrichtige Positionierung“ sei. Wahrscheinlich sei, dass einige „diese Diskussion vorschieben, weil sie gar keine Moschee wollen“. Das könne man dann aber auch offen sagen. „Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Moschee kommt – entweder mit uns oder gegen uns.“ (...) Er habe immer noch die Hoffnung, dass auch die CDU-Fraktion der Änderung des Bebauungsplans noch zustimme. „Es wäre bedauerlich, wenn wir am Ende divergierend abstimmen müssten.“ (Zitiert nach Kölner Stadtanzeiger vom 10.9.2007). Und so ist es tatsächlich gekommen: Am 27.8.2008 gibt die Politik „grünes Licht“ für den Neubau der Deutschland-Zentrale der Türkisch-Islamischen Union, kurz Ditib. „Die Änderung des Bebauungsplans ermöglicht dem Verein, die von ihm gewünschten Höhen für Kuppel und Minarette zu realisieren. Die schlanken Minarette werden 55 Meter, die Kuppel 36,5 Meter hoch. Die Mantelbebauung hat eine Höhe von 17,4 Meter.“ (KstA vom 28.8.2008) 94 Vgl. die Informationen unter http://www.youtube.com/watch?v=OLuPIZCtnY4
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klären sich endlich die Fronten, der Moscheebau kann starten und es wird deutlich, was eine Zivilgesellschaft unter Umständen bewirken kann. Das Beispiel belegt freilich auch, wie begrenzt widerstandsfähig die praktische Vernunft ist, bzw. wie lange es selbst in so einer offensichtlich bislang unproblematischen Situation braucht, dass sich kritische Einsichten durchsetzen und ein zivilgesellschaftliches Engagement entsteht. Wenn, aus welchen Gründen auch immer eine spezielle Debatte erforderlich wird, sehen sich die Menschen zunächst einmal überfordert. Die einen tauchen erst einmal ab, die anderen greifen, wenn soziale Mythen zur Hand sind, erst einmal ohne viel zu zögern zu. Dies gilt besonders dann, wenn sie einem nur zu vertrauten Wissensbestand, hier einem Pool an nationalen Erzählungen entnommen werden können. Und wenn dann auch noch Politiker oder Vertreter der Kirchen ganz offensichtlich das gleiche tun, dann bedarf es schon besonderer Anstrengungen, um hier eine kritische Distanz zu entwickeln. Woran es mangelt, ist ganz offensichtlich ein schnell verfügbares Potential an angemessenem Wissen, das in solchen Fällen nur noch aktiviert werden musste. Das verweist erneut auf einen „cultural lag“. Dennoch hatte „pro-Köln“ letztlich keine Chance gehabt, wohl auch deshalb, weil sich „pro-Köln“ aufgrund einer gewissen Resonanz in der Öffentlichkeit zunehmend offener rechter Parolen bediente, damit schließlich für klare Fronten sorgte und auf diese Weise erstmals eindeutige Angriffspunkte für eine engagierte Zivilgesellschaft bot. 3.3 „Ethnic Theme Park“ oder „Parallelgesellschaft“? Noch einmal zur Keupstraße Die Beharrlichkeit nationaler Erzählungen wird besonders dann sichtbar, wenn das Zusammenleben unter den Alteingesessenen in die Diskussion gerät. Die Entwicklung im Kölner Moscheenstreit war sicherlich dennoch für jemanden, der Köln kennt, überraschend. Beruhigend ist freilich, dass man sich zum Schluss doch mit großer Mehrheit zu einer fairen und zivilgesellschaftlich überzeugenden Lösung durchgerungen hat. Aber bei einer genaueren Betrachtung wird deutlich, dass es selbst dort an einer nachhaltigen argumentative Unterfütterung fehlt, wo das Zusammenleben gut funktioniert. Die Bundesrepublik Deutschland hat hier politisch versagt. Nationale Erzählungen sind nach wie vor präsent. Auch im Fall der Keupstraße in Köln-Mühlheim geht es wie oben noch einmal betont um eine im Kern erfolgreiche Entwicklung, die allerdings anders als in der Weidengasse oder in Ehrenfeld schon sehr früh problematisiert und häufig skandalisiert wurde. Dabei wird allerdings die Perspektive verschoben. Hier geht es nicht mehr um die Debatten unter den Alteingesessenen, sondern 175
schwerpunktmäßig um die Reaktionen unter den Allochthonen, wenn auch die Rahmenbedingungen mit bedacht werden müssen. Die Fragestellung bleibt jedoch letztlich die gleiche. 3.3.1 Zu den veränderten Rahmenbedingungen Das Zusammenleben war hier schon lange, um nicht zu sagen immer ein Thema. Deutlicher noch als in Ehrenfeld ist hier die Beharrlichkeit nationaler Erzählungen zu besichtigen. Einer der Gründe könnte sein, dass hier zumindest die jüngste Einwanderung sehr schnell sichtbar wird und es nicht erst eines Moscheeprojektes bedarf, um die Situation ins Blickfeld zu rücken und den Vorwurf einer Parallelgesellschaft auf sich zu ziehen. Zwar handelt es sich trotz aller „Sichtbarkeit“ auch hier bloß um ein pseudoethnisches Milieu, also keine ethnische Kolonie95 und allenfalls um unterschiedliche cultural cluster. Was sichtbar wird, ist allerdings nichts Ethnisches, sondern etwas orientalisch Inszeniertes, was dann als typisch Türkisches identifiziert wird. Die Keupstraße pflegt mit ihren Geschäften ein Flair, das in der lokalen Öffentlichkeit etwas ironisch mit “KleinIstanbul” bezeichnet wird. Die Straße lässt sich insofern leicht durch die Inszenierung einer Differenzlinie ein- und ausgrenzen, die zunächst von der autochthonen Bevölkerung durchaus kunstvoll und mit viel Engagement errichtet wurde und auf die die allochthone Bevölkerung dann entsprechend kunstvoll und mit viel Engagement reagiert. Wir haben die Keupstraße dennoch im Jahr 2000 als ein zwar diskreditiertes, aber empirisch betrachtet gleichwohl erfolgreiches Modell urbanen Zusammenlebens beschrieben. Schon zu dieser Zeit gab es also negative Zuschreibungen und Einschätzungen, aber sie erscheinen noch nicht wie aus einem Guss und wurden bis dato auch nur von einzelnen Gruppierungen vertreten. Hier hat sich auf beiden Seiten viel geändert.
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Der Charakter der Straße hat sich weiter konsolidiert. Man kann die Straße infolgedessen auch empirisch besser beschreiben, zumal jetzt auch Forschungen zu analogen Stadtteilen vorliegen. Sie bietet heute das Bild eines „Ethnic Theme Park“ (Krase 2004). Geändert hat sich seitdem aber auch die Thematisierung der Straße. Man sprach früher allenfalls von einem „Ausländer“-Brennpunkt, heute reden
Ethnische Kolonien, wie sie in Deutschland vor allem die Hugenotten gebildet haben, haben mit diesen modernen Beispielen nichts gemeinsam. Es gibt hier heute weder eine geschlossene Ethnie noch ein eigenes Bildungs- und Gerichtswesen, noch spezielle Privilegien usw. Dies bedenken Forscher wie Rauf Ceylan (2006 Teil 3) nicht.
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viele von einer besonders typischen Parallelgesellschaft. Einige sprechen nach wie vor zögernd von einem Erfolgsmodell und verweisen auf gewisse Integrationserfolge, was sogar das Fernsehen zu einer Serie über die Straße veranlasst hat. Die Entwicklung der Straße und ihre wissenschaftliche Einschätzung einerseits und die öffentlichen Debatten über die Straße anderseits haben sich also noch weiter von einander entfernt, wobei sich freilich die öffentlichen Debatten ein wenig polarisiert haben, wenn auch bislang die Einschätzung „Parallelgesellschaft“ nach wie vor überwiegt. Was ist passiert, dass ein ganzes Quartier derart in die Diskussion gerät? Man muss einfach noch einmal genauer hinschauen. Es geht einerseits um eine konsolidierte Entwicklung zu einem „Ethnic Theme Park“, wie das Jerome Krase (Ray, Krase 2007) erst neuerdings wieder so plastisch formuliert hat, und anderseits um einen rassistisch imprägnierten Diskurs, der sich längst in entsprechende nationale Erzählungen eingefügt hat und von dort her eine beträchtliche Wucht entfaltet. Es geht einerseits um eine metropolitane, diversifizierte alltägliche Gemengelage mit einem besonderen lokalen Profil und anderseits um ein gefühltes „Wir und die Anderen“, um vermutete, unterstellte, „kunstvoll“ konstruierte Wir und Andere, also nicht um reale Milieus oder fest gefügte Bilder, wo Autochthone und Allochthone klar identifizierbar und in ihrer Relation sofort erkennbar sind, sondern um die Variante eines unterdessen ubiquitären Bildes von einer Parallelgesellschaft. Im Blick auf die weiteren Überlegungen erscheinen nunmehr zwei Dinge besonders wichtig:
Auch wenn die Keupstraße in dieser facettenreichen paradoxen Figuration zunächst ein spezifisch kölsches Problem darstellt, so ist sie doch längst zu einem bundesweit bekannten Beispiel für eine besonders breit aufgestellte, aussagekräftige und typischen Parallelgesellschaft arriviert. Und sie wird in diesem Zusammenhang in Verbindung mit einer ganzen Reihe von Parallelgesellschaften in Duisburg, Essen, Dortmund oder in Berlin gebracht. Überall finden sich offenbar vergleichbare Quartiere, die entsprechende Debatten auf sich ziehen. Und auch wenn die jeweiligen Quartiere in unterschiedlichen Facetten auftreten, also keineswegs bloß als scheinbar geschlossene Wohn- oder Einkaufsstraßen oder „Ausländerquartiere“ auftreten, werden sie einheitlich eingeschätzt. Die Unterschiedlichkeit bewirkt nur die Unterschiedlichkeit der Aufhänger. Die Alteingesessenen bestimmen das Bild und sorgen für größtmögliche Einheitlichkeit. Sie bringen die Basisdefinitionen hervor und 177
schreiben sie zu. Sie sind es, die einerseits in ihrer pragmatischen Alltagspraxis den „Ausländer“ in die Sozialstruktur einfügen und damit gewissermaßen einebnen, und die andererseits den „Ausländer“ immer wieder beschwören, Moscheebauten debattieren, Kopftuchträgerinnen skandalisieren oder sich ganz allgemein über den Islam und ganz generell über die mangelhafte Integration der „Ausländer“ auslassen.96 Es geht also nicht um irgendwelche spezifischen, besonders isolierten oder gar abgeschirmten Einwandererkolonien oder fest gefügte Hochhaus-Ghettos, sondern um sehr unterschiedliche Erscheinungen, die nur „gefühlte“ Gemeinsamkeiten aufweisen. Hier wird debattiert, was alltagspraktisch kaum in den Blick gerät, theoretisch jedoch gerne unter dem Label „Ausländer“ bzw. „Zuwanderer“ verhandelt wird und was auf dieser Ebene als fremd empfunden und zu Indikatoren fremder Gemeinschaften bzw. Milieus stilisiert wird. Und es geht außerdem auch nicht darum, die angesprochenen Paradoxien gewissermaßen miteinander zu verrechnen, sondern es geht um den Umgang mit dem Anderen, wie er sich aus der hegemonialen Perspektive der Alteingesessenen heraus entfaltet, Kreise zieht und bis zu den jüngsten Mitgliedern der Gesellschaft der allochthonen Bevölkerung hinein Unrechtserfahrungen hinterlässt. Damit lässt sich das folgende Vorhaben zugleich weiter eingrenzen und entsprechend ausrichten: Es ist sinnvoll, sich zunächst auf die dominante ParadoxieFacette zu konzentrieren und hier – nachdem die Alltagspraktiken bereits in verschiedenen lokalen Studien und Untersuchungen umfassend bearbeitet wurden – vor allem danach zu fragen, wie der Umgang mit dem Anderen im öffentlichen Diskurs, d.h. theoretisch gefasst wird. Und an nichts lässt sich das deutlicher machen als an der Diskussion über die so genannten Parallelgesellschaften. Es sollte aber auch geprüft werden, welche Spuren diese Umgangsweise bei den betreffenden Menschen hinterlässt und welche Folgen das für das urbane Zusammenleben insgesamt hat. Dazu soll in diesem Zusammenhang eigens erhobenes Material aus dem Umfeld der Keupstraße vorgestellt werden, da durch einen Rückgriff auf biographische Interviews deutlich gemacht werden kann, wie sich die paradoxe Konstellation auf die allochthone Bevölkerung auswirkt und inwieweit sie sich in ihr letztlich widerspiegelt.
96
Selbst wissenschaftliche Veröffentlichungen wie die neue Arbeit des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung (op cit) spricht längst völlig unbefangen von Parallelgesellschaften, die bereits drohen, wenn türkische Familien zusammen ziehen, eine eigene Religion pflegen, Migrantenkinder nicht genügend “gemischt” werden, die jungen Männer Familiennachzug betreiben oder gar eine eigene Community bilden (Berlin-Institut 2009:4, 8, 28, 92 u.ö.).
178
3.3.2 Ein typisches Beispiel: „Ethnic Theme Park“ Keupstraße Das eigentliche Paradebeispiel für die Kölner Diskussion ist nicht die lange geführte Diskussion über die Integration in Köln-Ehrenfeld, in der es ja noch dazu im Kern „bloß“ um religiöse Integration geht. Das Paradebeispiel ist die Kölner Keupstraße, wobei man sehen muss, dass diese Straße allein schon in Köln für weitere „Fälle“ wie die Weidengasse, das Kalker Eck, Porz oder Chorweiler steht. Die Keupstraße zeichnet sich freilich vor den anderen Orten dadurch aus, dass sie besonders kompakt erscheint und zuletzt sogar mit „Klein-Istanbul“ beschrieben wurde. Man begreift die Keupstraße nunmehr gewissermaßen „idealtypisch“ für die Situation. Dementsprechend zieht gerade diese Straße seit vielen Jahren die Aufmerksamkeit auf sich. Wir haben dies in anderen Studien und Beiträgen bereits ausführlicher beschrieben. Zu verweisen ist in diesem Kontext ganz besonders auf eine Dokumentation, die im Auftrag des Landes NRW über die Straße erstellt wurde, die einschlägige Diskussion im Bezirksparlament von Köln-Mülheim in den vergangenen Jahren und das Nagelbombenattentat von 2004, das bis heute nicht aufgeklärt wurde. An dieser Stelle sollen nur einige wenige Elemente ergänzend benannt werden, die für die weitere Diskussion wichtig sind. Eine Annäherung an die Keupstraße erscheint auf den ersten Blick nach den bisherigen Überlegungen recht einfach. Einerseits haben wir es seit je mit einer eher proletarischen Einkaufsstraße zu tun, die sich über die Jahrzehnte entwickelt hat und sich eigentlich nur insofern immer mal wieder verändert hat, als sie das Auf und Ab der lokalen Industrie spiegelt. Man hat sich stets gegenüber der Straße – und die Straßenbewohner haben sich stets gegenüber den umgebenden Stadtteilen – zum beiderseitigen Nutzen arrangiert. Andererseits wurde die Straße von Beginn an angefeindet und immer mal wieder bedroht. In der Öffentlichkeit hat man bereits am Ende des 19. Jahrhunderts die dortige „prollige“ Kultur kritisiert, woraufhin sich die Bewohner ihrerseits entsprechend durch Protestlieder und andere Praktiken gewehrt haben. Halten wir fest:
Die heutige Situation des Quartiers entstand aus einer Krise und ergab sich in diesem Fall aus einer die ganze Region erfassenden Entindustrialisierung. Genau betrachtet trat die Entindustrialisierung ausgerechnet zu einem Zeitpunkt ein, als sich gerade angeworbene „Gastarbeiter“ in der Region niederließen. Sie gerieten mitten in den Prozess der Entindustrialisierung. Trotz dieser, vor allem für die Allochthonen düsteren Ausgangsituation, hat sich der Stadtteil nicht nur gehalten, sondern vor allem auch wegen seiner kleinräumigen Gliederung und hohen ökonomischen, sozialen, kulturellen und 179
politischen Durchmischung, wie sie für viele alte europäische Stadtquartiere typisch ist, weiter entwickelt und allmählich auf die neuen Bedingungen einer Dienstleistungsgesellschaft eingestellt. Kleine selbständige Unternehmer, das Handwerk usw. haben dem Quartier alsbald neuen Schub verliehen und machen es längst wieder attraktiv. Vor allem ökonomische Aktivitäten bis hin zu Ausbildungsinitiativen usw. sind zu registrieren. Es entstehen Räume für die unterschiedlichsten Milieus, die den Einwohnern kleinräumige Netze für soziale Integration im Sinn eines Zusammenlebens bieten. Schon die problematische Ausgangslage und dann im Anschluss daran vor allem Konflikte, die zum Teil mit der Sanierung, zum Teil mit der öffentlichen Diskussion und zum Teil direkt mit gouvernementalen Maßnahmen, zum Teil mit parteipolitischen Aktivitäten zu tun haben, lassen eine kleinräumige Zivilgesellschaft entstehen, die sich in der Folge als durchaus stabil erweist und die Menschen zusammenführt.97
Das bedeutet: Heute stellt die Keupstrasse einen „Ethnic Theme Park“ dar und ist damit typisch für entsprechende Erscheinungen nicht nur in Deutschland und hier in Berlin, Hamburg, dem Ruhrgebiet, Frankfurt und München, sondern weltweit in allen metropolitanen Gesellschaften. Besonders ausgeprägte Beispiele finden sich vielfach in den USA, genauso wie in Kanada oder Australien, also mindestens in allen „weiß“ dominierten globalisierten Gesellschaften. Auch wenn sich die Produkte, die von Fall zu Fall angeboten werden, einander meist zum Verwechseln ähnlich sehen, wohl auch aus denselben Quellen stammen, die Rahmenthematik ist jeweils unterschiedlich. Oft sind es auch italienische, deutsche, dänische, spanische, griechische, chinesische und sogar japanische Rahmenthemen, die installiert werden. Aber auch in einer anderen Hinsicht funktionieren die „Ethnic Theme Parks“ global analog. Sie erfüllen oft auch eine soziale Funktion. Sehr häufig loben die Bewohner der Straße das Zusammenleben. Sie zielen damit aber meist nicht auf ein homogenes Milieu ab – eine bestimmte religiöse oder ethnische Zugehörigkeit spielt schon deshalb keine große Rolle, weil in dieser Hinsicht keine Einheitlichkeit besteht – sondern auf eine heterogene Interessengemeinschaft. Sie haben sie in der Regel gerade auch die Unterschiedlichkeit der Menschen und deren Familiensinn im Blick.98 Diese Beobachtungen gelten selbst für die scheinbar so homogene Keupstraße. Wer hier über den Islam oder die türkische Herkunft lamentiert und beidem eine spezifische Bindungskraft, die Stiftung einer eigenen, Abgrenzung generierenden Identität zuschreibt, der übersieht wegen seines vom methodologischen Nationalismus geprägten Blicks die große Diversität der Straße. Genau 97 98
Vgl. Bukow et al 2001:427ff Vgl. Paolo Virno konzipiert genau in diesem Sinn die „Grammatik der Multitude“ (Teil 3.3b).
180
besehen gibt es unter der allochthonen Bevölkerung wie unter der autochthonen Bevölkerung auch Sekten und spezifische Landsmannschaften. Freilich kann unter einem entsprechenden Druck, was unterschiedlich ist, zusammen rücken. Genau so entstehen spezifische „Mentalitäten”, bildet sich das, was man als „Migrantenkonservatismus” bezeichnet und unter entsprechenden Bedingungen weltweit beobachten kann. Die Keupstraßenbewohnerschaft ist übrigens seit je heterogen geprägt. Im Unterschied zu früher rekrutiert sie sich aber nicht mehr aus Eifelern, Belgiern, Polen und Ruthenen, sondern aus der heute aktuellen Migrantenpopulation, zunächst den Griechen und Spaniern und dann den Türken. Nur russische Einwanderer sind noch nicht aufgetreten, wohl weil sie in der Regel eine andere soziale Schicht repräsentieren und sich folglich nicht auf solche einfachen lokalen Bedingungen einlassen würden. Was hingegen zu beobachten ist, ist eine deutliche Veralltäglichung. Einerseits ist diese Veralltäglichung (Max Weber)99 von Mobilität bzw. migrationsspezifischer Mobilität weit fortgeschritten und im Prinzip längst ein trivialer Vorgang. Im Ruhrgebiet, das ja fast ausschließlich durch Zuwanderung besiedelt wurde, dauerte die Veralltäglichung (Weber 2006) von der ersten Einwanderung ab gerechnet noch fast einhundert Jahre. Sie dauerte, bis man sich nach knapp hundert Jahren nicht mehr so recht daran erinnerte, einst eingewandert zu sein, selbst wenn manche Relikte wie Essgewohnheiten und Freizeitkulturen bis heute erhalten geblieben sind. All die Spezifika sind einfach zum festen Alltagsbestand geronnen, d.h. die Einwanderung hat letztlich einen Umbau des Alltags bewirkt, bei dem sich Autochthones und Allochthones gemischt und eine neue Wirklichkeit hervor gebracht hat. Angesichts solcher Veralltäglichungsprozesse könnte man auch beim Thema Keupstraße erwarten, dass die Veralltäglichung nach vierzig Jahren türkischer Einwanderung allmählich fortgeschritten ist. Angesichts der Beschleunigung des heutigen gesellschaftlichen Wandels ist sogar damit zu rechnen, dass dieser Prozess noch viel schneller vonstatten geht, gerade da von der Kölner Bevölkerung längst – ähnlich wie z.B. im einwanderungsgewohnten Vancouver – ca. 1/4 der Bevölkerung nicht aus dem Land selbst stammen. In Köln sind es fast 250.000 Menschen, die einen Migrationshintergrund aufweisen, also allochthon sind. Unter den Kindern und Jugendlichen dürften es bereits einer bzw. eine von dreien sein.100 Für die Keupstraße gilt das erst recht. 99 Max Weber hat diesen Begriff geprägt und im Kontext der politischen Soziologie für die Verstetigung der charismatischen Herrschaft entwickelt (Vgl. Wirtschaft und Gesellschaft § 11 S.142ff „Mit der Veralltäglichung mündet also der charismatische Herrschafts-Verband weitgehend in die Formen der Alltagsherrschaft ein“ – einst eine patrimoniale, dann eine ständische bzw. heute bürokratische Herrschaft). 100 Die Frage ist natürlich, ob man die Enkel der Generation Gastarbeiter überhaupt noch eigens zählen soll. Aber auch dann, wenn man sich nur auf die erste und zweite Generation beschränkt, werden demnächst 50% der SchülerInnen in Köln allochthon sein (vgl. Anmerkung 50).
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Andererseits ist es schon auffällig, wenn man, sobald es um die Menschen geht, deren Vorfahren einst eingewandert sind und die oft schon in der dritten Generation in den Stadtquartieren wohnen und sich dort längst arrangiert haben, immer noch mit der Gastarbeitergeneration identifiziert. Man spricht in den Nachbarquartieren immer noch vom „Ausländer“, vom „Ausländischen Deutschen“, von den „Türken“ und jetzt pointiert auch vom „Türkenghetto“ oder von der Kölner „Parallelgesellschaft“ und bei den entsprechend gelegenen Schulen von „Türkenschulen“. Schon semantisch wird der Allochthone zum frischen Einwanderer „degradiert“ und es werden ihm allenfalls erste Gehversuche in Sachen „Integration“ zugebilligt, der eine „nachholende Integration“ folgen müsse. Auf diese Weise lassen sich sehr einfach fundamentale Differenzen heraufführen und wirksam inszenieren. Man hat tatsächlich den Eindruck, als sollte im Kölner Diskurs jede Veralltäglichung von Einwanderung aufgehalten und der Status dieser Menschen auf Dauer als Menschen minderer Rechte und minderen Status festgeschrieben werden, als würde man eine Parallelgesellschaft geradezu herbeisehnen. 3.3.3 Zwei Biographien101 Die oben skizzierte paradoxe Situation prägt die Menschen im „Ethnic Theme Park Keupstraße“ sicherlich ganz besonders – zumal wenn sie dort als Geschäftsleute eine „prominente“ Rolle spielen. Jedenfalls lässt sich das gut an den beiden hier ausgewählten Biographien belegen. „G.“ betreibt ein Computer- bzw. Elektrogeschäft und „M.“ arbeitet dort als Angestellter. Beide dürften für die Straße ziemlich typisch sein, wie andere Interviews belegen. Es handelt sich hier um zwei Gruppengespräche, auch wenn jeweils eine Biographie im Mittelpunkt stand. Das ist wichtig zu berücksichtigen, weil sich beide Gesprächspartner immer wieder wechselseitig einmischten und die Aussagen infolgedessen wechselseitig reflektiert wurden. Bei der Widergabe der in deutsch geführten Gespräche wird eine behutsame Anpassung des Soziolekts, der in einem deutlich restringierten code geführten Gespräche an die Schriftsprache vorgenommen. Der starre und begrenzte Gebrauch von Adjektiven und Adverbien hat weniger mit geringen Deutschkenntnissen als vielmehr mit der spezifischen sozial Einbettung
101
Beide Gespräche finden im Büro des Geschäftes in lockerer und kollegialer Atmosphäre statt. Es sind neben den beiden Gesprächspartnern zwei Interviewerinnen und die Kontaktperson, die das Gespräch vermittelte, und sich gelegentlich auch einschaltet, dabei. Die Gespräche werden weitgehend von Elli Jonus am 22.02.2006 geführt. Die Gesprächssequenzen werden thematisch sortiert und nicht analog zum Gesprächsverlauf wieder gegeben.
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der Gesprächspartner zu tun (Basil Bernstein), die grade in einer Verunsicherung auslösenden Interviewsituation sehr deutlich hervortritt. a)
Zum Geschäftsinhaber „G.“
„G“ besitzt ein Elektrogeschäft auf der Keupstraße. Das Geschäft läuft offensichtlich recht gut. Er hat ein umfassendes, zum Teil auch hochpreisiges Angebot und beschäftigt mehrere Mitarbeiter, die sich zum Teil noch in der Ausbildung befinden. G's Eltern kommen aus der Türkei. Er selbst ist in Deutschland geboren und besitzt schon lange die deutsche Staatsangehörigkeit. Er spricht mehrere Sprachen – neben dem Deutschen auch das Türkische und etwas Arabisch, obwohl seine Eltern von Hause aus türkisch sprechen. Aber die Herkunft der Eltern spielt in seinem Leben nur eine geringe Rolle. So betont er mehrfach, dass für ihn die Kontakte zu den alteingesessenen Kölner Geschäftsleuten nicht nur aus betrieblichen Gründen sehr wichtig sind. Neben diesen betrieblichen Kontakten pflegt er zum Beispiel auch politische Kontakte und unterstützt hier vor allem, die lokalen Sozialdemokraten z.B. wenn sie technisches Equipment benötigen. 1)
Die Keupstraße ist ein guter Betriebsstandort:
Das Geschäft, das er auf der Keupstraße betreibt, gewinnt seine Kunden aus dem ganzen Stadtteil Mühlheim. Die Straße an sich spielt also nur eine begrenzte Rolle für den Betrieb. Aber auch die eigene „Community“ ist nicht alles. Deutschsprachige Kunden sind selbstverständlich. Was betrieblich gilt, gilt offenbar noch mehr privat. Erst Recht im privaten Bereich stellt die Keupstraße keinen speziellen Bezugspunkt da. „G“. wohnt mit seiner Familie schon lange nicht mehr in der Keupstraße, sondern in einem Einfamilienhaus in einem der üblichen rechtsrheinischen vor allem vom Mittelstand geprägten Kölner Vororte. G.:
„(...) ich hab mehrmals ahm so 1998 haben wir schon damit angefangen in Dellbrück in Holweide (in) ein Einfamilienhaus oder Mehrfamilienhaus umzuziehen ich konnte meine Eltern nicht dazu überreden (...).“
Aber er hat Verständnis dafür, dass andere in der Straße wohnen bleiben. So hat sein Vater die Straße nach 30 Jahren nicht mehr verlassen wollen. Der Vater habe seine ganzen Kontakte hier und genieße die urbane Lage, wo man noch um Mitternacht ausgehen könne, z.B. wenn man Gäste bekommt. „G“ muss
183
zugeben, dass die Straße eben viel urbaner sei als zum Beispiel der Vorort, in dem er lebt. G.:
„(Der Vater meine): sie sagen okay ihr könnt gehen. Wir mieten uns eine Einzimmerwohnung. Hier ist uns egal wir bleiben hier, weil (...) wenn wir mitten in der Nacht Bekanntenbesuch kriegen oder Freunde uns besucht, um 2 Uhr Mitternacht (…) können wir sofort nebenan beim Türken Essen holen gehen, für den Besuch kaufen (...).“
Und er folgert: G.:
„(...) wo kann ich in Marienburg noch warme Gericht(e) kriegen oder Hahnenwald oder Dellbrück (...). (...) ich geh sofort ins Restaurant nebenan und sofort ist der Tisch gedeckt und wir sind bis morgens früh (...) bedient worden und das ist dieses ahm diese türkische Mentalität (...) man kann das hier auf der Straße ausleben.“
Das Leben im Vorort hat zwar seine Vorteile, bringt aber auch Probleme und macht deutlich, dass die Straße durchaus von Nutzen sein kann: G.:
„(...) ich würde gerne Gäste zu mir in die Wohnung holen. Aber wenn ich die um 2 Uhr Mitternacht nicht ernähren kann (...) kein Essen anbieten kann, was (...) dann (gegen) die türkische Mentalität (wäre) (...) und das ist der Vorteil. Das ist die gute Seite von der Straße.“
Wenn die Straße diskriminiert würde, sei das nicht der Realität, sondern einer schlechten Politik geschuldet. Dazu zitiert er erneut seinen Vater, der die Situation seit dreißig Jahren kennt und sich in der Straße ganz einfach wohl fühlt: G.:
2)
„(...) (Vater meine) das ist aber die schlechte Seite von Politik. Also jeder Türke, der hier auf der Straße lebt – ich schon seit 20 oder 30 Jahren hier – der (Vater) wird niemals (...) weggehen.“
Integration ist kein Problem, sondern wird zu einem Problem gemacht
Für ihn ist die Integration eigentlich kein Thema. Er verweist auf seine gutbürgerliche und leistungsorientierte Erziehung, die fast schon von innerweltlicher Askese geprägt ist, eine Einstellung, die bei Max Weber (Weber 2005) einst als Geist des Kapitalismus bezeichnet wurde.
184
G.:
„Der Vater war in Kaffehäusern und wir (...) mit ihm weil wir hatten ja nichts zu tun nach der Schule. (...) gehen mit ihm. Und der hat eines Tages gesehen – der Bruder von mir der hat vom Vater 5 DM bekommen das war ganz großes Geld damals 81 oder 82 (...) – der diese 5 DM in den Spielautomaten gesteckt (...) und der kam und ging noch mal und verlangte noch mal Geld. Mein Vater verfolgt den Bruder und der hat das sofort aufgegeben (...) der ging nicht mehr. Seitdem – also seit 23 Jahren – hat der (Vater) uns immer (gesagt) wir sollen niemals in Kaffeehäuser gehen, weil, wir kommen immer in Versuchung da rein – da rein (zu gehen) (...) Wie gesagt, das war auch eine gute Entscheidung vom Vater für unsere Zukunft für unsere jetzige Situation.“
Ansonsten betont er seine ökonomische, soziale und politisch Integration. Tatsächlich kann er auch auf eine enge Vernetzung mit den entsprechenden Systemen der Stadt verweisen. Wenn es Integrationsprobleme gibt, so werden sie nicht durch sein Verhalten, sondern durch die städtischen Einrichtungen, zumal durch das Bildungssystem und die Politik hervorgerufen. Vor allem die Schule hat sich für ihn als eine Integrationsbarriere erwiesen. Obgleich er hier zum Teil ziemlich deutliche Worte findet, möchte er nicht, dass sein Votum unangemessen pauschalisiert wird (das sagt er wohl auch, weil sich am Gespräch ein Mitarbeiter („M“) beteiligt, der anders als er selbst in der Schule deutlich unterstützt wurde): G.: Interv.: G.: M.: G.: M.: Interv.: G.:
„(...) man kann auch meine ganzen Erlebnisse nicht als pauschal sagen (...) ich wurde an der Realschule nicht angenommen.“ „Wieso du?“ „(...) das ist – du kannst nicht sagen es liegt an mir – nein es liegt nicht an mir – es liegt an dem System. Es ist ein Scheißsystem und das System. (...)“ „Nein“ „(wird laut) wieso wurde ich denn nicht auf der Realschule angenommen Angesichts der Intervention durch seinen Mitarbeiter präzisiert er diesen Vorwurf gegenüber dem Schulsystem.“ „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Lehrer geht und sagt, nur weil der ein Türke ist, darf der nicht ins Gymnasium gehen.“ „Ja das gibt es das gibt es heute noch.“ „Das versuche ich dir (das) schon seit 20 Jahren zu erklären, aber du bist ja päpstlicher als der Papst.“
Und er sucht nach einer anderen Erklärung, findet jedoch nur Erklärungen, die letztlich seine Vermutung noch bestätigen. Nicht die Allochthonen sind das Integrationsproblem, sondern die Alteingesessenen. Sie diskriminieren auf den 185
verschiedensten Ebenen, in der Öffentlichkeit, in der Schule und innerhalb der Verwaltungen. Als Beispiel nennt er die angebliche Ausbeutung des Sozialstaates durch Allochthone: G.:
„(...) die Türken rauben den Sozialstaat aus, das Sozialamt, das Arbeitsamt alles Mögliche (...) ich habe hier drei Mieter. Zwei davon sind Sozialhilfeempfänger. Die – eine (Deutsche) wohnt in 80m². Die ganze Miete, alles wird vom Vater Staat übernommen – und die hat keine Arbeit – die geht auch nicht (...) ich habe ein türkische Familie, Sozialhilfeempfänger. Die Miete wird bezahlt. Der Ehemann ist Epileptiker. Drei Kinder (...) die kleinste (ist) drei Jahre alt und hat einen Herzfehler von Anfang an; und diese Frau ist seit 20, 25 Jahren in Deutschland. Durch Familienproblem konnte sie kein deutsch lernen, kann aber ganz wenig. Und diese Frau, obwohl sie das Recht hat zu Hause zu bleiben wegen ihrem Mann, der Anfälle bekommt. Diese Frau muss wegen diesen Scheiß Ein-Euro-Job arbeiten gehen. Ich habe das mehrmals mit unserem Bezirksvertreter besprochen, dass ist ein Scheißsystem. Die Frau weiß ihre Rechte nicht. Jeder Sachbearbeiter, egal auf welchem Amt, (sie) müssen zweisprachig sein(...).“
„G.“ registriert dabei durchaus, dass sich viele Türken der eigenen Community zugehörig fühlen, die neben der von anderen existiert. Diese private Orientierung konfligiert für ihn aber nicht mit seiner Rolle als Staatsbürger und deutschem Gesellschaftsmitglied. In diesem Zusammenhang betont er ganz selbstverständlich seine deutsche Staatsangehörigkeit. Aber er sagt auch, dass die ganze Angelegenheit eher praktisch zu betrachten sei. Zur Aufrechterhaltung der türkischen Staatsbürgerschaft hätte er einerseits zum Militärdienst gehen und, um ihn zu verkürzen, noch zusätzlich 10 000 € zahlen müssen und anderseits hätte er sich dennoch an der Gesellschaft, in der er nun mal lebt, nicht beteiligen können. G.:
186
„Schwachsinn das war das erste(ens), und zweitens habe ich mir gedacht, okay, ich werd eh hier leben und solange diese (...) deutsche Politik uns (...) die Ausländer bei den kommunalen Ebenen keine ahm Recht zukommen lassen wie Wahlen oder gewählt zu werden – und dann hab ich gesagt: okay. Dann (...) nehmen wir halt dieses Papier. (...) das ist für mich reines Papier sonst gar nicht(...).“
3)
Muss eine wie selbstverständliche Identifikation mit der deutschen Gesellschaft den Milieurassismus mit einschließen?
Für „G.“ ist die Situation eindeutig. Er sieht sich automatisch und wie selbstverständlich als Mitglied der hiesigen Gesellschaft und verhält sich dementsprechend auch so wie alle anderen auch, also durch und durch konventionell. Dieses Bild ändert sich erst – dann aber nachhaltig, wenn er sich gesellschaftspolitischen Fragestellungen zuwendet, insbesondere Fragen der Zugehörigkeit und des Umgangs mit dem Staatsapparat. Auffällig ist, dass er sich hier ebenfalls um eine pragmatische Einstellung bemüht und von dort her einigermaßen irritiert ist, wenn auf dieser Ebene manches verquer läuft. Er reagiert damit auf die oben beschriebene paradoxe Konstellation, in der neben der pragmatischen Ebene eines selbstverständlichen urbanen Zusammenlebens eine diskursive Ebene der Ausgrenzung bzw. Diskriminierung existiert. Aber er stellt sich auf diese verquere Erfahrung auch ein und realisiert die „Aufkündigung“ jenes alltagspragmatischen Realismus auf diskursiver Ebene, greift aber den dort gepflegten Milieurassismus selbstverständlich in seiner Weise auf. Auch hierin erweist er sich also einerseits als „voll integriert“ anderseits aber auch als geschickt, und politisch durchaus kompetent, indem er die Dinge in seinem Interesse neu formuliert. So übernimmt er jene paradoxe Figuration, die ihn selbst offenbar immer wieder in Schwierigkeiten bringt, und adressiert sie lediglich neu und richtet sie an Dritte, hier zum Beispiel an die Bulgaren. Er fürchtet, dass die Bulgaren die Türken beim Eintritt in die EU „überholen“ und findet das nicht in Ordnung, weil die Türken schon lange warteten und eigentlich schon längst integriert seien102. G.:
102
„(...) in den nächsten fünf Jahren oder 2008, glaube ich, werden die (Bulgaren) in die EU aufgenommen. Und die haben für die bulgarischen Bürger Sonderrechte. Die können ohne Visum einfach mit Pass für drei Monate hier hin kommen (...) Entschuldigung, dass ich die Menschen so verachte so beschimpfe. Aber wenn ich den ganzen Abschaum hier sehe – total bulgarischer Abschaum (...) es ist zwar hart aber dann denkt jeder Deutsche (...) (das seien alles) Türken (...) (...) wir werden dann noch größere Probleme haben – die hier in Deutschland lebenden Türken – wir sind schon nach der (...) Wende nach dem Mauerfall (hintenangestellt worden) (...) Wir (wurden) schon in die Drittklassigkeit (...) verstoßen. Erst mal kamen die Deutschen; dann waren es die Italiener; dann (...) kamen die Türken und so jetzt nach der Wende (kamen) Deutsche, Ostdeutsche; dann kamen die Rus-
Kurz nach dem Interview, war es so weit. Bulgarien ist seit 2007 Mitglied der EU.
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sen-Deutsche (...) wir sind jetzt dabei uns wirklich integrieren zu lassen.“
Dies sieht auf den ersten Blick wie ein Rückgriff auf den klassischen Rassismus aus. Bei genauerer Analyse wird jedoch deutlich, dass er hier den aktuellen Milieurassismus rezipiert, weil er nämlich nicht nur an die Bulgaren, sondern auch an die Türken denkt, die im Rahmen einer EU-Mitgliedschaft plötzlich ebenfalls vor der Tür stehen würden. Auch wenn ihm diese Wendung des Gesprächs zunächst etwas peinlich zu sein scheint, so steht er doch dazu und versichert sich dabei durchaus bewusst und absichtsvoll der Unterstützung durch andere Mitglieder seiner „Community“. Interv.: G.:
Dritter: Dritter: G.:
„Ich mein es geht ja dann schon so Richtung (...) Aufnahme der Türkei in die EU ne“ „Woll`n wir (als türkische Community) nicht – also die größte Mehrheit der in Deutschland lebenden Türken (...) wollen das gar nicht, dass die Türkei in die EU aufgenommen wird. Ich genau so, weil (...) dann kommen (...).“ „(...) unsere ganzen Verwandten.“ Alle lachen „Da kommen die ganzen Verwandten und wer soll`se aufnehmen?“ „Ich sprech mal hier für die Keupstraße.“
Hier identifiziert sich „G.“ offensichtlich konsequent mit der deutschen Gesellschaft und der hier öffentlich gepflegten Einschätzung gegenüber anderen, auch wenn in diesem Fall ein Vorbehalt bleibt. Man spürt hier schon, dass das eigentlich nicht ganz in Ordnung ist: „alle lachen“. Auf jeden Fall spiegelt sich der Milieurassismus der Alteingesessenen hier auch bei dem eingewanderten Geschäftsmann. Die allochthone Bevölkerung ist eben Teil der Bevölkerung und kann sich der Vorstellung auch nicht entziehen, dass durch die weitere Öffnung der EU eine Gefährdung der eigenen Privilegien vorstellbar ist und wendet den ihr gegenüber gebrauchten Milieurassismus dann ihrerseits gegen Andere an, selbst wenn es sich um die „eigene“ Community handelt. So wird noch einmal überdeutlich, wie allgegenwärtig, stets „zuhanden“ und passförmig der Milieurassismus im Dienst eines privilegienorientierten Standortegoismus auftritt. Der alte Rassismus wirkt nicht nur erneut modernisiert, sondern erscheint auch als ein auf die Bedingungen der Postmoderne und die eigene Position ganz konkret und exakt abgestimmter moderner sozialer Mythos. Aber es wird auch deutlich, dass die paradoxe Botschaft dieses Milieurassismus-Mythos durchaus erkannt wird.
188
b)
Zum Kollegen „M.“
„M.“ hält sich zur Zeit des Interviews in dem Elektrofachgeschäft von „G.“ auf und arbeitet dort offensichtlich gelegentlich mit, obwohl er eigentlich ein eigenes Telefongeschäft betreibt. Er ist mit „G.“ wohl seit langem eng befreundet. Sie ergänzen sich im Gespräch immer wieder. Die Eltern von „M.“ stammen aus einer türkischen Grenzregion, wo man zu Hause arabisch spricht, auch wenn die Verkehrssprache dort erwartungsgemäß türkisch ist. Als die Familie auswandert, ist er 13 Jahre. Er ist auf der Keupstraße groß geworden und hat hier zunächst vier Monate die Hauptschule besucht, ist dann aber sehr schnell ins Gymnasium übergewechselt. Da man zu Hause weiter arabisch bzw. türkisch sprach, hat er erst durch die Schule Deutsch gelernt, wobei dann im Gymnasium noch Englisch und Französisch hinzugekommen sind. Die Eltern sind durchaus religiös orientiert – der Vater war und ist alevitischer (Laien-) Prediger103 – und legen einen sehr großen Wert auf die Bildung ihrer Kinder. Heute sind alle Geschwister wirtschaftlich tätig und haben in enger Kooperation eine Telefonladen-Kette aufgebaut. „M.“ besitzt wie „G.“ längst die deutsche Staatsangehörigkeit, ist selbst schon länger verheiratet und wohnt längst in einem Einfamilienhaus in einem „besseren“ Kölner Viertel, in einem der gehobenen Vororte und hat bereits eigene Kinder. 1)
Die Keupstraße ist ein guter Ausgangspunkt, um wirtschaftlich erfolgreich tätig zu werden
Da „M“ mit seinen Eltern 1986 gemeinsam nach Deutschland gekommen ist, hat er – anders als „G“ – noch die Heimat der Eltern gekannt. Dementsprechend kann er sich auch noch selbst an die Heimat der Eltern erinnern und interpretiert sie als arabisch geprägt. Interv.: M.: Interv.: M:
„Du bist also von der Hauptschule direkt auf`s Gymnasium gekommen (...).“ „Und als Musterschüler. Mein Bild hing da circa fünf Jahre lang (...).“ „Kannst du das näher beschreiben. (...) welche Entwicklung (...) du da gemacht hast?“ „Vorbereitungskurs (...) ich meine wir sind von Haus her sehr (...) wie soll ich den sagen auf Wissen.“
103
Diese Funktion wird bei den Aleviten häufig vom Vater auf den Sohn vererbt, basiert also primär nicht auf Ausbildung, sondern Abstammung und überliefertem Wissen.
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Interv.: M.: M.: Interv.: M.:
„Bildung?“ „(auf) Bildung ausgelegt. Also mein Vater ist ein Geistlicher, (...) Religionsvertreter sozusagen (...) ein Dede104. Bei den Aleviten nennt man die Dede (...).“ „Ja dann musse man sofort deutsch lernen, englisch lernen, französisch lernen (...) aufgewachsen also mit fünf Sprachen“ „Welche ist deine Familiensprache?“ „(...) Arabisch. Wir sind ja von Antakija. Und Antakija ist an der Grenze zu Syrien (…) eigentlich sind wir mit arabisch infiziert.“
Der Vater legt nicht nur großen Wert auf eine angemessene Erziehung, sondern auch auf schulische Bildung. Und er motiviert die Söhne alle zum Studium und hier wohl auch in einer bestimmten Richtung. Indirekt lässt sich das daraus erschließen, dass das gewählte Fach nicht ganz der eher pragmatischen Haltung von „M“ gerecht wird, der vor allem wirtschaftlich erfolgreich sein will. Die Erwartungen des Vaters gehen wohl über die des Sohnes hinaus, eine überschießende Bildungsaspiration. M.:
Interv. M:
„(...) Also mein Vater hat damals sehr (Betonung) großen Wert gelegt, dass wir alle studieren. Also die ganze Familie zumindest haben es versucht mit Abitur. Alle haben es geschafft. Aber mit dem Studium – nicht alle haben es geschafft. Ich hab 1 ½ Jahre – war ich an der Uni – hier auch bei euch an der Kölner Uni und dann (...)“ „Welchen Studiengang?“ „Biologie (...) Biogenetik war mein Ziel.“
Mit einem Kollegen namens Demir zusammen entwickelte er schon in der Schulzeit und dann erst recht während des Studiums kommerzielle Interessen. Beide beginnen so nebenbei mit Computerbauteilen und anderen elektronischen Geräten zu handeln. Was wohl aus finanziellen Überlegungen bzw. Notwendigkeit heraus begonnen wurde, das entwickelt sich schließlich zur Hauptbeschäftigung, so dass das Studium zum Schluss zur Nebensache wird. M.: M.:
104
„Ich war mit Demir zusammen in den gleichen Seminaren, ja auch Vorlesungen parallel. Haben wir (uns) – auch genauso wie die Geschichte hier mit dem Kollegen immer nebenbei mit Handel (...) (befasst).“ „(...) da hatte ich auch immer bei mir was, (was) ich auch den Lehrern verkauft habe, so Walkmans und kleine Fernseher – immer so Highlight.
Die im Interview gebrauchte Formulierung ist unklar: „Scheh“? Gemeint ist nicht direkt ein „Dede“, der berufen wird, sondern eine in manchen arabisch geprägten alevitischen Gruppen übliche erbliche Ältestenfunktion. „M“ hat Schwierigkeiten, die Stellung seines Vaters in der Religionsgemeinschaft genauer zu erklären
190
Das war mein Ziel. (...) ja – (...) irgendwie ist auch daraus das entstanden. In der Telekommunikation – also wir sind fast die harten Türken sozusagen, die (...) diese Dienstleistungen auch an den Markt gebracht haben, (sind wir) auch relativ erfolgreich. Am Anfang aber mangels background (waren wir nicht sehr erfolgreich). Aber wir haben uns (...) gefangen und das ganze läuft (...) gut. Eigentlich (sind wir) jetzt wieder (auf der) (...) Aufholspur (...).“
„M“ hat hier ein Problem. Er hat das Studium aufgegeben. Er möchte einerseits deutlich machen, dass er kontinuierlich bei der Sache geblieben ist – allerdings nicht beim Studium, sondern beim Geschäfte machen. Damit brockt er sich aber ein neues Problem ein. Das könnte man jetzt als „typisch türkisch“ missverstehen, was ihn dann doch diskreditieren würde. Deshalb wehrt er sich sofort gegen einen noch gar nicht erhobenen Vorwurf, der Abbruch basiere auf seiner Geschäftemacherei, und diese wiederum auf seiner Herkunft. Diese Deutung lehnt er ab. Er sei ganz im Gegenteil in ökonomischer Hinsicht eher unbedarft gewesen und habe sich die entsprechenden Kenntnisse erst beschaffen müssen. So habe er, nachdem er das Studium aufgegeben hatte, erst einmal viel Lehrgeld zahlen müssen. Damit hat er die Dinge sehr geschickt wieder ins Lot gebracht. Offenbar ist ihm diese Problematik nur zu bewusst. Er hält deshalb eine entsprechende Argumentationssequenz bereit. Interv.: M.:
„Das heißt, du hast mit deinem Studien aufgehört?“ „Ja abgebrochen – abgebrochenes Studium und dann voll auf das Geschäft konzentriert.“
Fast gegen den Willen des Vaters baut er zusammen mit seinen Geschwistern ein Netzt von Telefonläden auf. Er macht sich das nicht leicht und lässt sich sogar von seinem ehemaligen Universitätsdozenten dabei beraten. M.:
„Ja parallel also (...) ich hab zum Beispiel sehr sehr lange recherchiert bevor ich mein Studium abgebrochen hab: will ich Gewerbe weiter laufen oder also oder mein Studium weiter machen. Da hab ich immer mit meinem Prof zusammen gesessen (...) und mich auch richtig beraten lassen. Und die haben mir wirklich sehr gute (...) wegweisende (...) Empfehlungen gegeben, worauf ich mich dann auch entschieden habe.“
Auf diese Weise haben sie zeitweilig sieben Läden betrieben und darüber hinaus mit anderen Läden eine Einkaufsgemeinschaft gebildet. Dieser letzte Schritt war aber offenbar nur begrenzt erfolgreich. Er erwähnt ihn wohl nur, um zu belegen, dass er stets mit Alteingesessenen („deutschen“) Betrieben kooperiert habe und auch insofern voll integriert sei. 191
2)
Integration muss kein Problem sein, wird aber zu einem Problem, wenn die Bevölkerungsgruppen sich voneinander distanzieren
Auch für „M“ ist die Integration zumindest persönlich eigentlich kein Thema, es ist keine Sache, die ihn selbst betrifft. Er lobt seine Gymnasialzeit und verweist auf seine Freundschaft mit seinen Lehrern und später auch mit seinem Universitätsprofessor. Er betont, dass diese Freundschaften nichts mit Geschäftsbeziehungen zu tun hätten. In betrieblichem Zusammenhang komme man ohnehin gut miteinander aus. Das Integrationsgerede beginnt ihn zu nerven. Allerdings, bei anderen Leuten sieht er zumindest im privaten Bereich schon Schwierigkeiten aufkommen. Hier glaubt er, dass man sich mehr aufeinander zu bewegen müsse. M.:
Interv.: M.: Interv.: M.:
M.:
„No – Kein geschäftlicher Kontakt. Wir verstehen uns auch so (...) Meine besten Freunde waren deutsche. Also wir haben darauf auch sehr großen Wert gelegt, dass man wirklich bisschen (...) man verlangt immer Integration, Integration (...) Das gehört zu beiden Seiten (...) Die Türken müssen sich auch (...) dazu in diese Richtung bemühen (...) so auch die Deutschen. (Sie) müssen (...) die Voraussetzungen eigentlich dafür schaffen (...).“ „Und wie würdest du das Zusammenleben von euch hier auf der Keupstr. Beschreiben?“ „Parallelwelten.“ „Kannst du das beschreiben was du damit meinst“. „Ich denk mal (...) es liegt auf den Tisch (...) Leider – ich find`s wirklich leider – entsteht eine Türkenstraße (...) und die Deutschen (...) sagen oh – sie sehen diese Entwicklung – sagen tatsächlich sie bestätigen diese Entwicklung (...) statt dass man dann was dagegen tut (...).“ Es kommt ein Mitarbeiter ins Zimmer uns wird Tee gereicht und es wird auf türkisch gesprochen „So ist das bei türkischen Betrieben.“
„M“ hat sehr klare Vorstellungen von dem, was Integration impliziert. Er versteht unter Integration, sich als „deutscher Türke“ zu verhalten und so auch akzeptiert zu werden, also eine reziproke Anerkennung des jeweils Anderen und Beibehaltung von jeweiligen landsmannschaftlichen Besonderheiten. Das Problem der Keupstraße ist für ihn nicht, dass man hier einen „Ethnic Theme Park“ Keupstraße installiert hat, wo man sich als Kölner Türke eben wie in türkischen Betrieben so üblich verhält, sondern dass sich die Lebensverhältnisse der Bevölkerung entmischen. Und hier sieht er vor allem die Alteingesessenen im Wort. Für ihn gibt es also kein Integrations-, sondern allenfalls ein Desintegrationsproblem, das noch dazu von der alteingesessenen Bevölkerung angestoßen wird. Aber er glaubt, dass dieser Prozess zu stoppen sei. 192
Vorläufig sei alles nur halb so schlimm. Denn er betont immer wieder die gute Zusammenarbeit zwischen den Bevölkerungsgruppen. Um das zu demonstrieren verweist er auch auf eines seiner Geschäfte in der Frankfurter Straße.105 Dort wäre also eine gute Gelegenheit, ein „türkisches“ Geschäft zu diskriminieren, weil es da kaum „türkische“ Geschäfte gibt. Aber wenn es dort Probleme gab oder gibt, so hätten sie schlicht mit Konkurrenzfragen zu tun. Die Konkurrenz ist dort einfach sehr groß. Interv.: M: Interv: M.:
M.:
3)
„Du sagtest, ihr hättet auch einen Standort auf der Frankfurterstraße?“ „Ja mehrere Standorte.“ „Ja mehrere Standorte – wie schwierig oder einfach war es denn auf der Frankfurterstraße sich niederzulassen?“ „Schwierig ist es immer noch. Wir hatten – das Problem liegt einfach an dem Potential der Straße – also ich würde nicht sagen jetzt (...). weil man Türke ist oder weil man Deutscher ist, sondern (...) weil wir in einem Bereich tätig sind wo (es) viele Konkurrenten gibt, wo auf jeder Ecke jetzt mittlerweile (...). Produkte angeboten werden. Und (...) das sind halt die Schwierigkeiten die man mit der Sache hat. Aber insgesamt ist man zufrieden. Natürlich deswegen macht man da weiter, expandiert man auch.“ „(...) nein also mit Deutschen habe ich (…) zum Glück (lachen) nie Problem gehabt (...) im Gegenteil (...) zufrieden.“
Die Identifikation mit der deutschen Gesellschaft macht „M“ blind für viele Probleme
„M“ identifiziert sich vollständig mit der deutschen Gesellschaft und behauptet, dass er einen gänzlich anderen Lebensstil als sein Vater pflegt und zum Beispiel nicht die Gemeinschaft der Community auf der Keupstraße sucht, sondern in einem Vorort unter ganz gemischten Bedingungen für sich wohnt. M.:
„Aber das hat sich total geändert (...) also zum Beispiel unsere Einstellung ist total anders als die Einstellung von meinen Vater (...) total anders – 180 Grad Wende.“
105
Bei der Frankfurter Straße handelt es sich um die klassische Einkaufsstraße dieses Stadtteils, die heute von den üblichen global agierenden Ketten bestückt wird und nichts „Migrantenspezifisches“ aufweist, sondern das nicht nur von Köln längst vertraute Profil der überall gleichen Einkaufsstraße aufweist.
193
Die Identifikation mit Deutschland geht sehr weit. Er leugnet sogar seinem Freund gegenüber, dass es so etwas wie Rassismus in Deutschland gibt. Er nimmt Deutschland tatsächlich ausdrücklich in Schutz. Darüber streitet er offenbar mit seinem Freund „G“ schon seit 20 Jahren. Er führt seine positiven Erfahrungen an, „G“ wiederum verweist auf seine negativen Erfahrungen. Zusätzlich verweist er auch noch auf sein türkisches „Schwabentum“. Er habe eben für sein Haus alles zurück gelegt und schwer geschafft. Das wiederum belegt zwar seine hohe Identifikation, bestätigt aber indirekt die Kritik seines Freundes, weil es seine positiven Erfahrungen erheblich relativiert und auf eine „natürliche“ Affiliation verweist, der rassistisch nicht so recht zu begegnen sei. Interv.: M.: G.:
„Wie hast du das geschafft da zu sein wo du heute bist also deine berufliche Position?“ „Zielstrebig also ich habe mir ein Ziel vor Augen (...) schon seit Kleinem (...) und genau das wollte ich erreichen, um jeden Preis werde ich dieses Ziel erreichen.“ „Das können nur türkische-arabische Leute.“ Alle lachen
„M.“ demonstriert damit freilich noch etwas anderes, nämlich dass sich seine Integration auch auf seine theoretische Einstellung erstreckt. Er nimmt für sich in Anspruch, anders und kompetenter zu sein als viele andere Mitglieder seiner Community. Er habe sich voll integriert, sei erfolgreich und sogar mental „angekommen“. Der Verweis auf seine in dieser Hinsicht ideale Abkunft unterstütze das bloß noch. Mit anderen Worten, hier findet sich wieder die oben bei „G“ bereits notierte Abgrenzung gegenüber Dritten. Aber auch jetzt wird die Abgrenzung von einem Lachen begleitet. Das bedeutet eben auch, dass man sich durchaus bewusst ist, dass diese Argumentation nicht ganz korrekt bzw. echt ist, sondern irgendwie aufgesetzt erscheint. So wird auch deutlich, dass die paradoxe Botschaft jenes sozialen Mythos, dem Milieurassismus durchaus erkannt wird. Im Gespräch wird klar, dass sich die Botschaft des Mythos nicht wirklich reimt. Und es wird klar, dass das alle gemeinsam erkennen. So wird aus dem Interview ein durchaus kritischer Diskurs, ein „Einsicht schaffender Diskurs“. Bleibt die Frage, ob sich dieses Gespür, der Einsicht schaffende Diskurs auch im Blick auf die Einschätzung der Keupstraße, die für die Kölner ja die „Inkarnation“ einer Parallelgesellschaft zu sein scheint, Bahn bricht. Schauen wir uns noch einmal eine eben bereits zitierte Textpassage an:
194
Interv.: M.: Interv.: M.:
„Und wie würdest du das Zusammenleben von euch hier auf der Keupstraße beschreiben?“ „Parallelwelten.“ „Kannst du das beschreiben was du damit meinst?“ „Ich denk mal (...) es liegt auf den Tisch was ahm (...) hier ist die Richtung – leider ich find`s wirklich, leider entsteht eine Türkenstraße (...). Und die Deutschen (...) sagen,oh (...) sie sehen diese Entwicklung, sagen tatsächlich, sie bestätigen diese Entwicklung (...). Statt dass man dann was dagegen tut (...) ich mein zwar sind diese Studien – was Sie jetzt versuchen zu leisten – ich weiß nicht mit welchem Hintergrund das ganze gemacht wird (...) – aber ich hoffe dass das dazu beigetragen wird, dass das Ganze mit einander bisschen balanciert wird.“
Im Gespräch wird deutlich, wie schwer man sich auch als Betroffener dem Parallelgesellschaftsdiskurs entziehen kann. Wenn man erst einmal in diesen Diskurs eingestiegen ist, wird es schwierig. Der Parallelgesellschaftsdiskurs besteht eben nicht nur aus einem abgehobenen, freischwebenden Mythos, sondern enthält auch im Bild eingefügt Indikatoren, die Bezüge zur Wirklichkeit herstellen sollen und somit zur Absicherung seiner Gültigkeit dienen. Sie bilden Verweise, belegen, dass das, was im Bild gezeichnet wird, auch zutrifft. Diese dem Mythos eigene Technik der Selbstbestätigung stellt so etwas wie eine „self-fulfillingtheory“ Strategie dar – eine Strategie, die sich ihre empirische Validität selbst beschafft. Ihr ist nur schwer etwas entgegen zu setzen. Auch wenn es noch so nahe liegen mag, im Gespräch bestätigt sich nicht die Einschätzung „Parallelgesellschaft“. Erkennbar wird erst einmal eine gewisse Sprachlosigkeit angesichts einer solchermaßen paradoxen Situation, in der die praktische Vernunft und die gehandelte theoretische Deutung einfach nicht zusammen zu bringen sind. „M“ fordert zunächst noch ganz nah am Bild, dass die Gesellschaft hier endlich etwas tun müsse, die Dinge besser ausbalancieren müsse. Aber was soll „ausbalanciert“ werden, wo er doch ein fester Bestandteil dieser Gesellschaft ist? Ausbalanciert werden muss offensichtlich nicht die Praxis, die funktioniert, ausbalanciert werden muss die Einschätzung, muss die Öffentlichkeit. Und deshalb appelliert er ausdrücklich auch an die Wissenschaft. Er fordert sie auf, diesen „cultural lag“ aufzugreifen, zu thematisieren, also den Diskurs in Ordnung zu bringen. Die letzten Sätze im Interview sind deshalb weniger eine Feststellung als vielmehr ein Appell – und sie resultieren aus einer oben schon teilweise zitierten Sequenz, an der sich beide Gesprächspartner gleichermaßen beteiligten. Insofern gilt dieses nicht nur für „M“, sondern auch für „G“: M.:
„Man hat hier die besten Voraussetzungen auf dem ganzen Planeten.“
195
Die Botschaft, die hier im Gespräch formuliert wird, ist eindeutig: Die Bedingungen sind eigentlich optimal. Man muss sie nur würdigen und mit ihnen pfleglich umgehen. Aber es ist noch ein weiter Weg, bis die praktischen Erfahrungen in der Selbstinterpretation der Gesellschaft ankommen. Damit eröffnet sich eine ganz neue Dimension gesellschaftlicher Wirklichkeit. Im Grunde haben die beiden Gesprächspartner längst die Enge des lokalen kölschen Provinzialismus hinter sich gelassen und orientieren sich unter globalgesellschaftlichem Horizont neu. Deshalb können sie die lokalen Probleme auch mit einem durchaus distanzierten Blick reinterpretieren. Sie sind längst anders aufgestellt und folgen einem postmodernen Format globalgesellschaftlichen Zusammenlebens, wie wir es auch aus ganz anderen Untersuchungen kennen (Ong 2005). Damit wird deutlich, was auch schon Regina Römhild (Römhild 2007) konstatiert, nämlich eine neue Facette von Lebenswelt, zu der Mobilität und Kosmopolitismus reale Bestandteile darstellen. Einfacher formuliert: diese Bevölkerungsgruppe orientiert sich an dem, was man in einer solchen Situation tut, wobei das man nicht mehr auf eine lokale, sondern eine globale Bezugsgruppe verweist und nicht mehr konkret und unmittelbar durch den Nachbarn, sondern durch die eigene Diskursgemeinschaft präsentiert wird. Und genauso wichtig ist eine weitere Folgerung: Die Praktiken dieser Gruppe führen sowohl in Deutschland als auch global zu einem Aufweichen traditionell-kleinbürgerlicher Lebenswelten. Regina Römhild formuliert ein „kosmologisches Realitätskonzept“, in dem Migranten die Avantgarde eines Kosmopolitismus von unten darstellen. Hierbei sind nicht nur „Migranten“ im engeren Sinn gemeint, sondern sie denkt generell an migrationserfahrene mobil orientierte Bevölkerungsgruppen. Die fortschreitende Individualisierung und Mobilisierung scheint zurzeit unumkehrbar. Alle hier involvierten Bevölkerungsgruppen suchen längst nach geeigneten Formaten. Erfolgreich sind diese Bevölkerungsgruppen, wenn die Mobilität von der (Lokal-) Gesellschaft strukturell realisiert wird und man sich neu einstellt. Problematisch wird es, wenn die (Lokal-) Gesellschaft die strukturelle Umstellung auf Vielfalt teilweise oder ganz verweigert und stattdessen weiter auf nationale Erzählungen und damit individuelle Assimilation schwört bzw. die Verweigerung durch nationale Erzählungen „rationalisiert“. Die Diskussion über Parallelgesellschaften gewinnt ihre Logik genau aus diesem Konflikt zwischen längst globalgesellschaftlich orientierten individuellen Biographien einerseits und den oft unzulänglichen Versuchen der lokalen Gesellschaft, sich gegenüber sozio-kultureller Mobilität zu arrangieren. Ein Blick auf die hier ja nur ausschnittweise vorgestellten zwei Biographien belegt freilich auch, wie schnell aus einer strukturellen Verweigerung von Diversität individuelle Prob-
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lemlagen und persönliche Frustrationen entstehen können und wie schwer es ist, dem mit zivilgesellschaftlichen Argumenten zu begegnen. 3.4 Rassistische Kontextualisierungen und kein Ende Die Auseinandersetzungen um die Moschee bzw. um die Keupstraße zeigen, wie präsent die nationalen Erzählungen immer noch und überall in der Öffentlichkeit sind. Die nationalen Erzählungen schlagen sich in den lokalen Diskursen und in den konkreten Debatten in den Stadtquartieren nieder. Sie durchdringen die urbane Grammatik des Zusammenlebens und imprägnieren mitunter sogar den zivilgesellschaftlichen Kontext. Die nationalen Erzählungen durchdringen nicht nur die lokale Öffentlichkeit, sondern sensibilisieren auch die Bevölkerung für eine bestimmte Sicht des Alltagsablaufs und der Einschätzung des urbanen Zusammenlebens. Sie tragen dazu bei, Herausforderungen, Konflikte und Probleme zu postulieren106 und entsprechende Reaktionen zu entwickeln. Wenn irgendwo in Deutschland wieder einmal
der geringe Schulerfolg der Kinder und Enkel der unterschichteten „Generation Gastarbeiter“ kritisiert wird die Präsenz des Islam in einem christlich geprägten Land wie Deutschland skandalisiert wird, die Entstehung von Parallelgesellschaften gebrandmarkt wird,
dann findet das, wie gezeigt107, sogleich seinen Niederschlag in den lokalen Debatten. So werden alle konkreten praktischen Erfahrungen schnell in den bundesdeutschen Diskurszusammenhang „eingeebnet“. Das passiert sogar dann, wenn es ganz andere lokale Erfahrungen gibt, ja selbst wenn ein entgegengesetztes lokales Selbstverständnis existiert. So sind die Menschen in Köln durchaus stolz auf ihre Toleranz und zelebrieren sie sogar sehr gekonnt. Sie betonen, dass sie sich damit auf eine zweitausendjährige Wirkungsgeschichte des römischen Köln berufen können. Sogar das Stadtwappen spiegelt dieses Verständnis wie106
Diese Formulierung verwendet schon Beck-Gernsheim 2004:67. Zu dem ersten der folgenden Beispiele wird in dem vorliegenden Text nichts gesagt, obwohl es dazu ein gutes Beispiel gibt, nämlich das “Rucksack-Projekt”, das dazu konzipiert wurde, um den geringen Bildungserfolg speziell von Kindern mit türkischer Migrationsgeschichte über gezielte Elternbildungsarbeit zu verbessern. Dahinter steht die Vorstellung, dass man die entsprechenden Familien erst einmal an die Moderne heranführen müsse (Kopftuch ablegen, Deutsch lernen, hiesigen Lebensstil adaptieren, den Erziehungsstil modernisieren usw.), bevor die Kinder überhaupt erfolgreich in der Schule mitarbeiten können (Bukow, Behrens 2008).
107
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der. Es verweist auf orientalische und ungarische Erwerbungen108. Genauer besehen spielen die lokalen Erfahrungen eigentlich eine erhebliche lebenspraktische Rolle. Und dennoch bleiben die nationalen Debatten und die darin eingebetteten Erwählungen nicht ohne Resonanz. So gesehen ist das Echo, das Ralf Giordano mit seinen Auslassungen bewirkt, nicht ganz überraschend. Er rückt „nur“ eine lokale Gegebenheit, die er entsprechend zugerichtet und sprachlich geschickt reformuliert hat, in einen neuen, in den bundesdeutschen Diskurszusammenhang und schafft damit für Köln eine neue Plausibilität, die sich offenbar an den verschiedensten Orten und bei den verschiedensten Gelegenheiten erfolgreich durchgesetzt hat.109 Sobald in der Öffentlichkeit die Dinge national kontextualisiert werden, dann geht alles sehr schnell in diese Richtung. Nicht also das pragmatische, alltagspraktische Miteinander, sondern die mythosgeleitete und rassistisch eingefärbte Kontextualisierung eines eigentlich ganz anders ausgerichteten praktischen Miteinander gibt in der Debatte zunehmend den Ton an, verdrängt die praktische Vernunft und verhindert auch Einsicht schaffende Diskurse. Doch gehen wir schrittweise vor. 3.4.1 Die Bedingungen für ein erfolgreiches Miteinander sind eigentlich günstiger geworden Die Bedingungen für ein pragmatisches Miteinander, so hat sich an den vorgestellten Beispielen gezeigt, sind eigentlich günstiger als früher. Im Übergang zur Postmoderne, in der entwickelten metropolitanen Gesellschaft der Transmoderne mag dies strukturell sogar noch einmal einfacher geworden sein, weil mehr Mobilität erwartet und auch mehr Individualität zugestanden wird. Das lassen auch die angeführten Beispiele erkennen. Sie zeigen, dass es in Ehrenfeld nicht um ein zerfallendes Quartier und in der Keupstraße nicht um „parallelgesellschaftliche Biographien“ geht, sondern ganz im Gegenteil um Quartiere, in denen die Einwanderer so etwas wie Modernisierungspioniere darstellen und um Biographien von konventionell aufgewachsenen und längst sogar sehr erfolgreich etablierten und bewusst global orientierten Gesellschaftsmitgliedern. Bleiben wir beim letzten Beispiel: Beide Gesprächspartner sind wie selbstverständlich gänzlich und fugenlos in das komplexe Bildungs-, Ausbildungs- und Aktionssystem der Ge108
Das Stadtwappen verweist auf die Heiligen Drei Könige, deren Gebeine angeblich in Köln aufbewahrt werden und auf elftausend ungarische Jungfrauen, die der Überlieferung nach in Köln „gestrandet“ sind. 109 Es sei nur am Rande vermerkt, dass sich in diese Praxis der De- und Rekontextualisierung auch der ebenfalls im Stadtteil Köln-Ehrenfeld wohnende Schriftsteller Günter Wallraff eingereiht hat, der Ende September 2008 mehrfach öffentlich forderte, er würde dem Moscheebau nur zustimmen, wenn dort auch die “Satanischen Verse” von Salam Rushdi vorgetragen würden.
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sellschaft eingebunden, also systemisch inkludiert. Dies gilt sogar in mehrfacher Hinsicht. Sie haben sich im Rahmen des Bildungssystems qualifiziert und qualifizieren jetzt andere (weil sie Lehrlinge ausbilden). Sie sind als Geschäftsleute aktiv und haben selbst zahlreiche Angestellte. Sie haben gesellschaftliche Förderung erfahren und fördern jetzt andere. Mehr als dies ist in der Postmoderne überhaupt nicht vorstellbar und auch nicht praktikabel. Die Inklusion geht so weit, dass der eine der beiden Gesprächspartner („M“) in der Schule sogar als Demonstrationsobjekt für „gelungene Integration“ herhalten musste – und das auch noch Jahre, nachdem er die Schule längst gewechselt hat. Gemeint ist wohl, dass er trotz allerlei Schwierigkeiten seinen Weg in den Alltag gemacht hat und damit für manche Jugendliche, die es auf diesem Weg schwerer haben, einen „Leuchtturm“ darstellen sollt, wobei freilich ignoriert wird, dass „M.“ mit seinen hohen sprachlichen Kompetenzen und seiner intensiven familialen Unterstützung eigentlich keinen wirklichen Präzedenzfall abgibt. Der andere Gesprächspartner unterstützt eine lokale politische Partei und wird dort häufig auch im Rahmen von Veranstaltungen und Kampagnen aktiv. Hier sind sogar Freundschaften entstanden.110 Man geht nicht fehl in der Annahme zu vermuten, dass viele autochthone Menschen weniger „integriert“ sind. Nicht nur „prekarisierte“ Personen oder Randgruppenmitglieder, sondern auch viele durchaus typische durchschnittliche autochthone Gesellschaftsmitglieder dürften in jedem Fall zumeist sehr viel mehr an dem Rand der Gesellschaft leben und mehr exkludiert sein. Dies mag grade für Köln-Mülheim gelten, wo es deutlich mehr Menschen ohne Arbeit oder mit Ein-Euro-Jobs gibt als im Kölner Durchschnitt. Didier Lapeyronnie macht immer wieder darauf aufmerksam, dass viele Familien mit Migrationshintergrund im guten wie im schlechten vor ganz ähnlichen Problemen wie die entsprechende autochthone Bevölkerung stehen und dass dies besonders deutlich auch an der Familiendynamik abgelesen werden kann: Generationskonflikte, Emanzipation der Jugendlichen, Abwendung von den zu niederen Tätigkeiten bzw. zur Erfolglosigkeit verurteilten Eltern usw. (Lapeyronnie 2009:32, 36f). Vor diesem Hintergrund ist es auf den ersten Blick erstaunlich, beim zweiten Hinschauen jedoch sofort einleuchtend, wenn die beiden Interviewten, zwei wirklich klaren Fälle von systemischer Inklusion (Vgl. 2.1.6c), dennoch unter Druck geraten. Man könnte das damit begründen, dass im Zeitalter der Transmoderne zwar das urbane Zusammenleben einfacher geworden ist, allerdings zugleich auch die sozialen Unterschiede angewachsen sind, die Menschen also nicht nur kulturell, sondern eben auch sozial und damit ökonomisch betrachtet weiter auseinander driften. 110
Sabine Mannitz hat solche Fälle biographisch untersucht und kommt zu der Feststellung, dass die „Integration“ auch in der Schule oft sehr viel besser funktioniert als man das wahr haben will (2005; 2006:289)
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Soziale Diversität kann Neid provozieren. Damit wären neue Verwerfungen vorprogrammiert. Hier geht es jedoch nicht bloß um Neid oder Missgunst, hier geht es um jene paradoxe (sozial-)rassistische Kontextualisierung. Wichtig ist hier aber zunächst einmal festzuhalten, dass es, solange der Erfolg unsichtbar bleibt, erst einmal weniger Probleme gibt. Es geht deshalb nicht einfach um soziale Unterschiede an sich, sondern um deren Sichtbarkeit, die gegebenenfalls zum Anlass genommen wird. Wenn Differenzen allzu sichtbar werden, wenn sie das bisherige Arrangement fraglich werden lassen, dann werden sie schnell als Rollenverletzung interpretiert. In Köln-Ehrenfeld geht es nicht um den Islam an sich, sondern um dessen aus-den-Hinterhöfen- Hervortreten, also dessen Sichtbar-Werden und damit um das Einüben einer neuen Begegnungsweise auf Augenhöhe. In der Keupstraße geht es nicht um Erfolge an sich, sondern um ein offensichtlich erfolgreiches Gleichziehen, das Überflügeln der alteingesessenen Bevölkerung, die längst resigniert hatte und ihre Geschäfte schon länger aufgegeben hatte. Und dies widerspricht der seit Jahrzehnten in der Öffentlichkeit gepflegten Erwartung gegenüber dem Fremden, sich eben als Fremder demütig und dienstbar zu verhalten. Probleme gibt es, weil hier etwas sichtbar wird – und zwar nicht beiläufig, sondern eben ganz gezielt und als Teil eines lokalen Erfolgsmodells sichtbar wird. Indirekt kann man das auch daran ablesen, was ein guter, nämlich „integrierter Ausländer“ ist. Es muss unsichtbar werden, sich assimilieren und „angemessen“ einfügen. Wird Diversität sichtbar, ergeben sich für den öffentlichen Diskurs Andockpunkte und damit Interventionsmöglichkeiten, vor allem aber auch Ansatzpunkte für eine milieurassistische Kontextualisierung, bei der einerseits Neid und anderseits die Abwehr gegenüber einer Begegnung mit dem Anderen auf gleicher Augenhöhe beschworen werden. Was fehlt, ist eine angemessene, d.h. offensichtlich faire Beschreibung des erlebten und von allen tagtäglich praktizierten Alltags. Insbesondere fehlt ein Diskursrahmen für die Betroffenen selbst, er fehlt ihnen dafür, sich angemessen zu artikulieren und das auch öffentlich zu platzieren. Selbst diesen Geschäftsleuten fehlt es an Vorstellungs- und Deutungsvermögen, und deshalb auch die Sprache, um das, was sie leben und erleben, wirklich nachhaltig zu verbalisieren und angemessen zu formulieren, also Erfahrung in gesellschaftliche Orientierung zu übertragen geschweige denn in lokale Debatten zu implementieren. Es fehlt an einem wirkungsvollen Kompass. Es ist spannend, hier Paolo Virno (2005:24) zu zitieren. Er schreibt: „Heute nun stehen wir einer Transformation gegenüber, die sich so zusammenfassen lässt: Die »spezifischen Gesichtspunkte« der Rede und der Argumentation sind dabei zu verschwinden oder sich aufzulösen, und dabei werden die »Gemeinplätze«, die generischen, sprachlich-logischen Formen, die den Saum einer jeden Rede bilden, unmittelbar sichtbar. Das bedeutet, dass wir, um uns in 200
der Welt zurechtzufinden und uns vor ihren Gefahren zu schützen, nicht auf Denk-, Argumentations- und Redeweisen zählen können, die ihren Ort im einen oder anderen spezifischen Zusammenhang haben. Fanclub, religiöse Gemeinschaft, Parteisektion, Arbeitsplatz: Diese »Plätze« gibt es natürlich weiterhin, keiner davon ist jedoch so bestimmt oder so bestimmend, anzeigen zu können, »woher der Wind weht«, also Orientierung zu geben, ein verlässlicher Kompass zu sein, ein Ensemble spezifischer Gewohnheiten, Rede-und Denkweisen zu bieten. Überall und bei jeder Gelegenheit sprechen und denken wir auf dieselbe Art und Weise und stützen uns dabei auf logisch-sprachliche Fügungen, die gleichermaßen fundamental wie äußerst allgemein sind. Was dabei untergeht, ist eine ethisch-rhetorische Topographie.“ Tatsächlich haben wir es mit einem seit langem beobachteten Problem zu tun, das heute nur extrem brisant wird. Rolf Linder macht in seiner Würdigung von Georg Simmels Arbeit „Die Großstädte und das Geistesleben“ darauf aufmerksam, dass dort schon vor hundert Jahren ein neuer Trend markiert wurde, der heute im Übergang zur Postmoderne erst richtig deutlich wird, nämlich dass das Verständnis in der Moderne hinter praktischem zumal ökonomisch fundiertem Alltagsleben hinterher hinkt (Simmel 2006). Dieser bereits einleitend markierte cultural lag tritt im vorliegenden Zusammenhang noch einmal extrem deutlich hervor. Nach Simmel wäre dies eine Erscheinung, die für die sich vor einhundert Jahren endgültig etablierende industriegesellschaftliche Moderne typisch wurde. Dementsprechend könnte man diesen Mangel an einem sozial adäquaten Deutungs- und Beschreibungspotential als ein Phänomen deuten, das für die Moderne geradezu typisch ist und in der Postmoderne immer noch nachwirkt. Man hätte dann von einem aus der Moderne verbliebenen Desiderat auszugehen, also von einer ungleichzeitigen Entwicklung. Wir hätten es mit einer mehr oder weniger ausgeprägten und eigentlich überlebten moderne-typischen Tendenz zu tun. Wenn man allerdings konstatiert, dass dieses Desiderat in der Postmoderne sogar noch stärker hervortritt, so wie das schon die Arbeiten von Ulrich Beck nahelegen und wie das erneut auch durch die Analyse von Virno betont wird und was wir auch selbst schon mehrfach konstatiert haben (zuletzt in einem Beitrag zur Parallelgesellschaftsdiskussion) und was sich offenbar auch in den vorlegenden Befunden erneut bestätigt, dann hätten wir es unter Umständen sogar mit einem fast schon transmoderne- typischen Phänomen zu tun (Bukow 2007:27ff). Dabei geht es nicht darum, dass hier einfach ein Deutungsdesiderat mitgeschleppt wird, sondern dass aufgrund der aktuellen Machtsituation, in der bestimmte Bevölkerungsgruppen ihre Privilegien verteidigen, dieses Desiderat strategisch genützt wird. Man füllt sie mit nationalen Erzählung auf und bedient sich der dort bereitgehaltenen Mythen. 201
Pierre Bourdieu hat dieses Problem in seinen bereits zitierten Mediationen schon vor gut zehn Jahren kritisch angemerkt. Er distanziert sich dort von Jürgen Habermas mit seiner Erwartung „Kraft des besseren Arguments“ genauso wie von Apel u.a., die der Wissenschaft im Allgemeinen oder dem Diskurs im Besonderen Einsicht schaffende Fähigkeiten zutrauen (Bourdieu 2005:139f). Nach Bourdieu liegt das an dem auch in der Postmoderne immer noch nicht veränderten Umgang mit symbolischer Macht und der von der Wissenschaft wie der Politik synchron betriebenen Akkumulation von kulturellem Kapital. Das vorliegende Material legt – sowohl was die wissenschaftlichen Positionen betrifft, also auch, was die Menschen vor Ort betrifft – eine etwas moderatere Deutung nahe, nämlich die Existenz eines cultural lag, der von nationalen Erzählungen bzw. dem methodologischen Nationalismus nicht nur aufgefangen, sondern gewissermaßen unsichtbar gehalten und damit gepflegt und weiter fortgeschrieben wird. Es geht also um die Spannungen zwischen einer praktischen Vernunft111 und einer scholastischen Vernunft (Bourdieu), die zu diesem cultural lag beiträgt und Einsicht schaffende Diskurse behindert. Die Bedeutung dieses cultural lag ist an dieser Stelle erst richtig zu ermessen, wenn man berücksichtigt, dass damit dem Rassismus ein breiter Platz eingeräumt wird, sich erneut auszubreiten und entsprechend zu transformieren, um sich exakt platzieren zu können. Dieses Desiderat gibt dem oben beschriebenen spezifischen Mythos die Chance, sich einzigartig zu verbreiten rassistisch aufzuladen und in der Mitte der Gesellschaft Wirkung zu entfalten. Aber es ist nicht die Ursache, sondern nur das Mittel, das genutzt wird. Deshalb ist der Appell der beiden Gesprächspartner an die Wissenschaft zwar nicht falsch, aber auch nicht die Lösung. Die Wissensschaft kann eine faire Politik nicht ersetzen, allenfalls einklagen. 3.4.2 Milieurassistische Interventionen gefährden sehr schnell das Miteinander Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als verdanke sich der Milieurassismus der konkreten Auseinandersetzung in den Quartieren. Tatsächlich findet er sich aber landesweit. „Pro-Köln“, um bei dieser Gruppierung zu bleiben, verbucht an anderen Orten in Nordrhein-Westfahlen ähnliche Erfolge. Er verdankt sich also allenfalls indirekt einer konkreten Situation, weil sie ggf. Ansatzpunkte bietet. Es 111
In dieser Gegenüberstellung erscheint auch das Konzept der Praktischen Vernunft von Marshall Sahlins in einem anderen Licht (Sahlins 1994:291f). Es geht dann nicht mehr um primitive Einsichten, sondern um alltagspraktische Einsichten, die den Alltag bis heute und heute erst recht bestimmen, was sonst knowledge by acquaintance genannt wird und was wir oben in Rückgriff auf die Ethnomethodologie und Edmund Husserl eingeführt haben (vgl. Bourdieu 2005:105).
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sind zum Beispiel die Aktivitäten der extremen Rechten, die solche Ansatzpunkte aufgreifen, notfalls auch erst provozieren und dann ihre Vorstellungen in der Öffentlichkeit anbieten. Er kann aber auch als ein Produkt des Neoliberalismus betrachtet werden, wenn er auf Standortnationalismus setzt. Zweifellos fördert der Neoliberalismus mit seinen standortnationalistischen Parolen eine derartige Einstellung. Der Milieurassismus mag eine Strategie sein, die auch dem Neoliberalismus zu Eigen ist, wie das z.B. von Christoph Butterwegge (2008:5ff) betont wird. Was im Stadtteil an milieurassistischen Inszenierungen zu beobachten ist, lässt sich freilich nicht ausreichend durch die aktuellen Stimmungen und Debatten erklären. Die hier zu beobachtende Diskurspraxis ist nach allem, was wir wissen, sehr viel älter und wird deshalb auch nicht einfach verschwinden, wenn „pro-Köln“ sich endgültig zerstritten hat oder der Neoliberalismus wieder „out“ ist. In dieser postmodernisierten Version von Rassismus werden immer wieder andere Versatzstücke aus dem Repertoire nationalistischer wie kulturalistischer Provenienz einbezogen und, wie das Amartya Sen (Sen 2007:98ff) so plastisch formuliert, zu einer „Identitätsfalle“ stilisiert. Genau das führen Samuel P. Huntington (Huntington 2004:180ff) und Ralf Giordano und Günter Wallraff ganz konkret vor Ort vor. Die scheinbar bewährte rassistische Ordnung des Anderen greift einfach um sich, weil kaum jemand da ist, der bereits angemessene Deutungen für die postmoderne Situation entwickelt hat. Städte wie Stuttgart, München oder Toronto haben daraus gelernt und eine eigene Öffentlichkeit kreiert, die auf eine positive Indienstnahme von Diversität hinaus läuft. Die Situation scheint tatsächlich ambivalent: Man ist zumal in Deutschland immer noch damit beschäftigt, globalgesellschaftliche Mobilität zu leugnen, während in Wahrheit oft schon zwei Drittel der Bevölkerung einer Stadt von Mobilität und ein Drittel der Gesellschaft eines Landes auch von globaler Mobilität geprägt sind.112 Die in der Öffentlichkeit bereit gehaltenen nationalen Erzählungen werden aber nicht nur mobilisiert, weil sie sich in die Logik der neuen Rechten oder des Neoliberalismus einfügen lassen, sie versprechen auch einen beträchtlichen Nutzen. Der milieurassistisch aufgeladene Standortnationalismus erweist sich wohl auch vor allem deshalb so zäh, weil sich die Menschen zwar aus pragmatischen Gründen längst auf dem Weg zur Post- bzw. Transmoderne befinden, sie aber, was ihre gesellschaftliche Karriere, den beruflichen Erfolg, das Einkommen usw. betrifft, oft nicht so weit gekommen sind, wie sie das vielleicht erwartet haben. In dieser Situation sind ihnen die Regierungen genauso wie die subpolitischen Kräfte von Wirtschaft und Wissenschaft nicht nur eine sach-adäquate Antwort schuldig geblieben, sondern haben oft auch noch selbst den längst überholten, ja 112
Die aktuellen Einwanderungszahlen sagen hierzu wenig aus, weil sie nicht die kurzfristige Fluktuation abbilden, die grade in Deutschland extrem hoch ist.
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gescheiterten Programmen einer gealterten Moderne das Wort geredet. Das Problem ist, dass ein „cultural lag“ die Menschen hilflos und damit anfällig für allerlei Heilsversprechen macht. In dieser Situation ist es auch für einen Oberbürgermeister nicht einfach, die richtigen Strategien zu finden, selbst wenn er spürt, was Sache ist und sich verpflichtet fühlt einzugreifen. So interveniert er in einer endlosen Debatte mit einem knappen Statement: „Die Moschee kommt, weil es an der Zeit ist“. Und er verlässt anschließend den Raum, weil er kein Interesse daran hat, dieses Statement in einer national aufgeladenen Atmosphäre zumal durch Parteifreunde zerpflücken zu lassen. Dass er gleichzeitig das Feld verlässt, unterstreicht die Endgültigkeit dieser Beobachtung. Es gibt noch einen weiteren Aspekt, den es zu berücksichtigen gilt. Der dank des cultural lag so leicht platzierbare Milieurassismus hat nicht nur deshalb so große Verbreitung gefunden, weil er scheinbar den Interessen der, ihre Privilegien verteidigenden bürgerlichen Mitte dient, sondern wohl auch, weil er dem gegenwärtigen Staatskonzept mit seinem Interesse an Gouvernementalisierung der Gesellschaft entgegen kommt. Die hier durch den Milieurassismus stabilisierte komplementär-asymmetrische Alltagsordnung findet ihre Entsprechung in der gouvernementalen Praxis, in der eben Einwanderung nach wie vor nur dann akzeptiert wird, wenn das Sozialgefüge des Landes nicht tangiert wird. Noch immer will man Einwanderung nur entweder illegal (dann ist die Unterschichtung gesichert) oder eben auf Zeit und unter strengen Bedarfsgesichtspunkten (die alte Gastarbeiterlogik dauert hier weiter an). Julia Reuter (Reuter 2003:203f stellt) stellt zurecht diese Tendenz zur Ordnung des Anderen als einem ewig Fremden in Zusammenhang mit dem aktuellen Staatsverständnis. Dem ist auch nach den letzten Diskussionen um das Bleiberecht nichts hinzuzufügen. Es gibt also eine ganze Reihe von Gründen, warum die in der Öffentlichkeit angebotenen nationalen Erzählungen im Konfliktfall abgerufen werden. Die Existenz eines cultral lag ist notwendig, aber nicht hinreichend. Es geht eben auch um jene mit den Mythen verknüpften „Heilsversprechungen“. Diese machen das eigentlich längst überholte Angebot immer wieder attraktiv. 3.4.3 Rassistische Kontextualisierungen bleiben nicht unwidersprochen Ist in absehbarer Zeit eine Aufkündigung der oppositionellen Differenzlinien, die der Stabilisierung einer komplementär-asymmetrischen Alltagsordnung dienen, zu erwarten? Man kann durchaus beobachten, wie engagierte Bevölkerungsgruppen die Dinge selbst in die Hand nehmen, ihr knowledge by acquaintance tatsächlich einbringen und gegen jede „Scholastik“ (Bourdieu) beharrlich für mehr
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Fairness eintreten. Die rassistischen Kontextualisierungen bleiben nicht unwidersprochen. Bei den Berichten oben wurde bisher nämlich ein Aspekt ausgeblendet, die Reaktion der Zivilgesellschaft nach den entscheidenden Kampagnen durch die rechtsradikalen Gruppierungen. Zu nennen sind hier
die Demonstrationen und Debatten in Köln-Ehrenfeld nach den Aktivitäten von „pro-Köln“, die Aktion „Wir stellen uns quer“113 genauso wie die Kampagnen nach dem Nagel-Bombenanschlag in der Keupstraße114.
Das zeigt, dass man letzten Endes von sehr unterschiedlichen Gruppierungen auszugehen hat. Es gibt keine durchgängige Tendenz, dem Druck der nationalen Erzählungen nachzugeben. Tatsächlich werden die Hetzparolen und die Polemik der Rechten von der Mehrheit nicht geteilt. Wenn man sich das politische Spektrum, also die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten genauer anschaut, so lassen sich ganz unterschiedliche Gruppierungen erkennen. Es gibt aktive Gruppierungen, die die lokalen Debatten führen und es gibt dazwischen diejenigen, die sich im Großen und Ganzen zurückhalten und eher zu den Zuschauern zu rechnen sind.
Einerseits gibt es die Rechtsradikalen und ihre Sympathisanten, die alle sich bietenden Gelegenheiten benutzen, um sich in Szene zu setzen, Flugblattaktionen und Bürgerbeteiligungsaktionen starten, Kampagnen organisieren usw. Anderseits gibt es engagierte Bürgerinitiativen und einzelne Multiplikatoren bis zu Gewerkschaftlern und Parteiaktivisten, die sich als praktizierende Zivilgesellschaft sehen und gegen diese rechten Aktivitäten angehen. Dazwischen finden sich einerseits solche Einwohner, die sich von rechten politischen Kampagnen zwar provoziert fühlen, ihnen gleichwohl aber teilweise zustimmen, weil sie selbst auch die Modernisierungsprozesse in den Quartieren und die zunehmende Beliebtheit der Keupstraße neidvoll zur
113
Pressemitteilung im Kölner Stadtanzeige vom 16.09.2008: “Ein breites Bündnis von Gewerkschaften, Parteien und Kirchen ruft unter dem Motto „Wir stellen uns quer – kein Rassismus in Köln“ für den 20.9.2008 zu Kundgebungen und Aktionen gegen den Aufmarsch von Rechtsextremisten und Neofaschisten in Köln auf. Anlass ist der rechtsextreme Kongress „Nein zur Islamisierung – Nein zur Kölner Großmoschee“ von der extrem rechten „Bürgerbewegung pro-Köln“. 114 Es geht um den Nagelbombenanschlag von 9.Juni 2004, der bis heute nicht aufgeklärt wurde, der aber eine deutlich rechtsextreme Handsschrift trägt und zu großen Solidaritätsveranstaltungen wie dem Straßenfest am 11. Juli 2004 geführt hat.
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Kenntnis nehmen und für ein Ärgernis halten. Sie fürchten, dass an ihrer Gesellschaftsordnung gerüttelt wird.115 Dazwischen finden sich sodann aber auch viele, die einfach aus pragmatischen Gründen die Dinge hinnehmen, wie sie nun einmal sind. Sie sind an Vorwürfen usw. gegenüber bestimmten Entwicklungen nicht interessiert oder ihnen sind negative Kampagnen schlicht gleichgültig. Entsprechend ignorieren sie die Diskussion über die Keupstraße genauso wie die über den Moscheebau. Dazwischen finden sich anderseits aber auch solche Leute, die positiv an den Inszenierungen der Quartiere interessiert sind, die dieses genau deshalb ausdrücklich thematisieren und im Fall der Keupstraße sogar gezielt aufsuchen. Diese Gruppe nutzt die Möglichkeiten der Globalisierung und genießt „Klein-Istanbul“, das hier nicht nur einfacher, sondern auch „echter“ zu haben ist als in der Türkei. Für sie sind die polemischen Debatten ein Ärgernis.
Es gibt also ein breites Bevölkerungssegment, das sich mehr oder weniger wohlwollend distanziert verhält und dafür ist, dass alles beim Alten bleibt. Und es gibt ein kleineres Bevölkerungssegment, das sich aktiv einschaltet. Trotz der intensiven Kampagnen von „pro-Köln“ und trotz der Bereitstellung breiter Diskussionsräume (woran der Kölner Stadtanzeiger schon aus Absatzgründen intensiv beteiligt ist) berührt die Sache letztlich nur wenige. Man hat Wichtigeres zu tun. Die meisten Kölner nehmen die Entwicklung entweder einfach gelassen hin und viele finden die Entwicklung der Bevölkerung und die Zunahme der Vielfalt ja durchaus auch in Ordnung. Diese wohlwollend distanzierte Zurückhaltung findet sich indirekt auch noch bei denjenigen wieder, die sich aktiv einschalten. Es ist schon auffallend, wie wenig man selbst in diesen Kreisen seiner eigenen praktischen Vernunft zutraut, wenn Debatten entstehen. Neben der diskutierten Tatsache, dass es immer schwierig ist, in einer derartigen Situation aktiv und selbstbewusst aufzutreten, ist sicherlich der entscheidende Grund, dass die öffentlichen Debatten hier eine ganz andere Melodie vorgeben und man ein Orientierungsproblem hat. Wenn man sich in den öffentlichen Debatten nicht immer wieder so negativ äußern würde116, würden sich die Gruppierungen anders darstellen können. Die zivilgesellschaftlichen Reaktionen wären generell – sowohl in Ehrenfeld als auch in Mühlheim – deutlich fundierter und würden auch von mehr Menschen 115
Interessanterweise gibt es in anderen Städten ganz ähnliche Tendenzen, wo in der Regel ebenfalls rechtsradikale Bewegungen den Sozialneid schüren und ihre Hand im Spiel haben (Steffen u.a. 2004:91). Diese Bewegungen stehen untereinander über rechte Netzwerke in Verbindung und nennen sich auch gleich. In Stuttgart ist es die „pro-Haslach“ Gruppe. In Köln nennen sie sich „pro-Köln“. 116 New York Times (NY July 6, 2007)
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aktiv mit getragen. Es war schon eigentümlich, wie hilflos sich viele Besucher bei den öffentlichen Anhörungen (in Zusammenhang mit der Moscheeleitplanung) und in Diskussionsrunden (in Zusammenhang mit den Debatten über die Keupstraße) fühlten und angesichts der provokativen Interventionen der proKöln-Sympathisanten nach Worten suchten, um das, was sie meinten, auch ausdrücken zu können. Hier fehlte ein einschlägiges öffentlich bereitgestelltes Wissen. Solange die Mobilität und ihre Folgen grade auch im wohlsituierten bürgerlichen Bewusstsein negativ besetzt bleiben, wird es im Rahmen der öffentlichen Debatten keine Fortschritte geben. Die New York Times spricht schlicht von einer öffentlichen Dämonisierung: „Celebrating, Not Hiding: Cologne is famous for its religious architecture, including Germany's most spectacular Gothic cathedral. But a six-year effort by leaders of the city's 120,000 Muslims to get a building permit for a grand new mosque has provoked an ugly backlash of ethnic and religious bigotry. Responsible civic leaders need to stand up and grant the needed approval. Legitimate debates are going on all over Europe about striking the right balance between assimilation and cultural diversity and especially about how to confront the danger of home-grown Islamist terrorism without limiting civil liberties or creating even deeper resentments. Cologne's argument isn't really about balance or security issues; it's about demonizing a religious minority and keeping it invisible. Germany has travelled down that terrible road before, and most Germans are determined not to go that way again. But far-right and racist parties in Germany, Austria and Belgium have been fanning local fears. Germany's vibrant postwar economy has been attracting foreign workers for decades. Some Germans prefer to pretend otherwise, or at least to keep unpopular minorities and their religion out of public view. Cologne already has nearly 30 mosques, but most are hidden away in back courtyards and factory buildings. The new mosque, designed by a German architect who also designs churches, would boldly step out of the shadows, with its minarets, dome and glass walls proudly affirming its identity (...).”
Die Gefahr besteht sogar, dass die bislang gelebten Erfahrungen und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten problematisiert werden und damit auch der Alltag selbst in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Aktivitäten von „pro-Köln“ zielen genau in diese Richtung. Zusammen mit dämonisierenden Mythen und der Warnung vor dem Verlust nationaler Privilegien werden auch Deutungsmuster angeboten, die dazu beitragen sollen, die zuvor beschworenen Gefahren und die reichhaltig geschürten Ängste in den Griff zu bekommen. „Man durchbricht eben nicht so leicht die spontan performative Logik einer Sprache, die (...) stets dazu beiträgt, namentlich über die zugleich kognitiven und politischen
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Konstruktionsleistungen von Klassifizierungen das, was sie sagt, auch zu tun (oder ins Leben zu rufen).“ (Bourdieu 2005:150)
Wichtig ist hier die Feststellung, dass insoweit noch gar keine besonderen Veränderungen in den Quartieren vorgelegen haben, dass man vielmehr bloß von einem stetigen, wenn auch nachhaltigen Wandel sprechen kann. Dass trotz der öffentlichen Dämonisierungen und dem Mangel an kritischem Wissen die Dinge schließlich ihren Lauf nahmen und alle Polemik vorerst wirkungslos blieb, das hat sicherlich auch damit zu tun, dass sich in den Quartieren letztlich nichts außer einem stetigen Wandel ereignet hat. Aber was ist, wenn tatsächlich schnelle Veränderungen stattfinden? Würde dann mehr Einsicht provoziert? Sobald Veränderungen in einem Quartier über das gewohnte Maß hinausgehen und eine besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, werden entsprechende Konstruktionen von Klassifizierungen erst recht „attraktiv“ erscheinen müssen. Das Bürgertum kann hier aus einer „kundigen“ Position heraus agieren. Die Aktionen von Ralf Giordano und Günter Wallraff sind in diesem Kontext in gewisser Weise symptomatisch. Beide sehen sich als Publizisten und durchaus „berufene“ Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft, Ralf Giordano als Sprecher einer Minderheit und Günter Wallraff als Enthüllungsjournalist. Beide weisen sich damit aus, dass sie aus einem breiten Fundus an besonders ausgewiesenem kritischem Wissen schöpfen. Sie zeigen sich besorgt über die Zukunft unseres Landes und fürchten, dass man sich am Ende mit all den Veränderungen nicht nur einverstanden erklärt, sondern sich eventuell auch noch mit der veränderten Situation identifiziert. Sie wollen keine „multikulturelle Gesellschaft“ und stehen für eine sehr deutsche bürgerliche Mitte. Tatsächlich stehen sie aber dem Weg in die Postmoderne mit ihren veränderten Lebensbedingungen im Grunde konzeptionslos gegenüber und sind deshalb bereit, sich der Mythen von gestern zu bedienen, wenn sie uns vor dem Islam und seinem ihrer Meinung nach bedrohlich antidemokratischen Umgang mit der Wirklichkeit warnen. Zugleich behaupten sie, in der Tradition der Moderne zu stehen: Geschichtspolitik als kulturelle Praxis. Von welcher Moderne lassen sie ihre aktuelle kulturelle Praxis bestimmen? 3.4.4 Warum die nationalen Erzählungen so unendlich zählebig sind Der Umgang mit dem Anderen ist, wie die beiden Fälle belegen, eigentümlich widersprüchlich angelegt. Eine entscheidende Rolle spielen dabei ganz offensichtlich die in der Öffentlichkeit tradierten nationalen Erzählungen mitsamt ihren verschiedenen Derivaten, den sozialen Mythen, die im Moscheenstreit ver-
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wendet wurden, den Identitätskonstruktionen, wie sie sich immer wieder in den Konflikten um die Keupstraße zeigen, und generell im Gebrauch des “Ausländer”-Begriffs, der längst zu einem festen Bestandteil der Alltagssprache geronnen ist. Man könnte auch auf den oben bereits diskutierten methodologischen Nationalismus verweisen, der im Grunde das wissenschaftliche Pedant zum „Ausländer“-Begriff der Alltagssprache darstellt. Die nationalen Erzählungen sind offenbar unendlich zählebig. Einige Gründe sind dafür schon angeführt worden. Es ist deshalb sinnvoll, noch einmal tiefer nachzugraben. Die entscheidenden Gründe haben mit der Entwicklung der Moderne insgesamt zu tun, genauer mit dem „Projekt der Moderne“117. Der Verdacht liegt nahe, dass solche Erzählungen aus reichlich sprudelnden und durchaus anerkannten Quellen gespeist werden. Es muss einfach eine reichliche Überlieferung zur Hand sein und sie muss auch für breite Kreise der Bevölkerung zur Hand und auch akzeptabel sein: Einleitend wurde schon auf einige zentrale Aspekte hingewiesen: Sinnfremder Reduktionismus, familistische Fehlinterpretationen, methodologischer Nationalismus, kulturalistischer Fehlschluss und jener Sesshaftigkeitsmythos. Man geht deshalb sicherlich nicht falsch in der Annahme, die Quellen für einen entsprechenden Wissensbestand im Zentrum der gesellschaftlichen Überlieferung zu suchen, nämlich im Umfeld der Aufklärung. Dafür spricht nicht nur der systematische Aufbau der nationalen Erzählungen, sondern vor allem auch die Tatsache, dass sie sich synchron mit der Aufklärung entwickelt und weltweit verbreitet haben, überall Wurzeln geschlagen haben und mit ihren feinen Verästelungen tief in die Stadtgesellschaften eingedrungen sind und häufig sogar im Rahmen der Auswanderung und Einwanderung nach Deutschland „reimportiert“ wurden.118 a)
Nachwirkungen der Moderne
Unter historischer Perspektive wird schnell erkennbar, dass die aktuellen Vorstellungen vom Umgang mit dem Anderen mehr als nur Spuren von dem durch die Aufklärung angestoßenen „Projekt der Moderne“ enthalten. Die für den Umgang mit dem Anderen relevanten Aspekte jenes Weltbildes sind offenbar 117
Der Begriff „Projekt der Moderne“ wurde zwar von Jürgen Habermas geprägt, wird hier aber in Anschluss an die skeptische Sicht von Martin Albrow bzw. Ulrich Beck rezipiert (Albrow 1998, Beck 2005). 118 Die beiden größten Einwanderergruppen in Deutschland, die aus der Türkei und den GUS-Staaten eingewanderten Bevölkerungsgruppen, bringen diesen Nationalismus mit “zurück”. Späte Nationalstaaten wie Deutschland oder eben die GUS-Staaten oder die Türkei haben sich offenbar besonders radikale nationale Erzählungen zugelegt (Sökefeld 2004:164), die von vielen Auswanderern nach Deutschland mitgebracht wurden.
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schrittweise zu wirkungsgeschichtlich effektiven nationalen Ordnungsmustern geronnen, die sich kulturell reduziert in nationalen Erzählungen verfestigt haben und zu einem selbstverständlichen Traditionsbestand geronnen sind. Und sie haben sich wie die Aufklärung selbst im Verlauf mehrerer Globalisierungswellen119 zusammen mit weiteren nationalstaatlichen Vorstellungen120 ausgebreitet. Die Aufklärung hat ihre Attraktivität vor allem dadurch gewonnen, dass sie versprochen hat, endlich „die volle Wahrheit“ über die Welt hervorzubringen. Insbesondere aber glaubte man wohl, nunmehr den Zugang zu einer sachadäquaten Beschreibung der Welt gefunden zu haben, zu einem empirisch orientierten Verständnis von Welt und damit auch den Weg zu einem rationalen Umgang mit der Welt. Schon Diderot’s Enzyklopädie121 zeugt von diesem Geist. Sie bot einerseits eine lexikalische Übersicht über alles irgendwie erreichbare Wissen über Alltag, Gesellschaft und Kultur und anderseits informierte sie über Techniken und Verfahren im Umgangs mit dem, was erfasst wurde, beispielsweise wie ein bestimmter Haustyp aussieht und wie man ein solches Haus „technisch wohldurchdacht“ erfolgreich errichten kann, oder wie eine bestimmte Landschaft geprägt ist, und wie man sie durch den Bau von „linear ausgerichteten“ Straßen erschließen kann122. Es ging um eine „rationale“ Durchdringung der Welt. Probleme sah man eigentlich nur noch bei der Vollendung dieses Projektes, denn dazu, und das war allen Beteiligten schnell klar, bedurfte es nicht nur einer Idee, sondern auch einer entsprechenden Macht, um diese Idee durch eine dementsprechend imprägnierte Politik zu installieren, über eine rational aufgestellte Wissenschaft auszubauen und schließlich auch eine in diesem Sinn installierte Bildung zu sichern. Interessant sind an diesem sich sehr schnell hegemonial ausbreitenden Paradigma für den vorliegenden Zusammenhang allerdings nicht diejenigen Implikationen, die die technologische und ökonomische Entwicklung (die Industrialisierung und das kapitalistische Gesellschaftskonzept) betreffen, auch nicht die erkenntnistheoretischen Erfolge dieses Projektes (etwa – wie das Horkheimer123 einst definierte – in der Form der modernen traditionellen Theorie). Alle diese 119
Die Globalisierung hat sich in mehreren Wellen abgespielt. Aus heutiger Sicht betrachtet kann man das erste Mal von Globalisierung zur Zeit des Kolonialismus sprechen. Vgl. dazu Ernst Gellner 1999 Teil 9 121 Von Denis Diderot (1713-1784) erschienen 1751 die beiden ersten Bände der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers („Enzyklopädie oder geordnetes Lexikon der Wissenschaften, Künste und Gewerbe). 122 Wer sich ein Luftbild des mittleren Westens der USA anschaut, der sieht sofort, wie der geschulte Methodist das verstanden und umgesetzt hat. 123 Horkheimer (2005) analysiert schon früh die Hauptmerkmale der für die Moderne so typischen traditionellen Theorie und grenzt sie gegen neue Ansätze der Kritischen Theorie ab. Diese programmatischen Texte sind bis heute wegweisend. 120
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Effekte des Projektes der Moderne sind, obwohl sie alle „siegreich“ waren, nicht gerade unproblematisch. Dennoch sollen sie hier nicht weiter interessieren, weil sie im vorliegenden Zusammenhang wenig relevant erscheinen. Hier geht es vor allem um die Wirkungsgeschichte des Paradigmas in gesellschaftlicher bzw. sozialer Hinsicht und dabei ganz konkret im Blick auf den Umgang mit dem Anderen, also in ihrer kulturellen Repräsentanz oder in ihrer kulturellen Reduktion – Reduktion nicht im Sinn von Einengung und Abschwächung, sondern ganz umgekehrt im Sinn von Konzentration und Verdichtung. Bei Ulrich Beck heißt es zusammenfassend: „Bezeichnenderweise beruhen selbst die raffiniertesten Theorien über die Conditio humana der Moderne auf der unreflektierten Annahme, dass nationale Formen der Inklusion und Exklusion überhaupt erst moderne Staaten und damit moderne Gesellschaften, Klassen(konflikte), Demokratie, soziale Sicherheit usw. ermöglichen. Nationalstaats-Prinzipien wurden auf diese Weise in fundamentale Annahmen der soziologischen und politikwissenschaftlichen Theorien eingewoben, so dass sie gänzlich aus dem Blick verschwanden. (...) Interessanterweise wurden diese nationenblinden Theorien der modernen Gesellschaften im Kontext sich rasch nationalisierender Gesellschaften und Staaten formuliert – manchmal, wie im Fall von Emile Durkheim und Max Weber, während oder nach nationalistischen Kriegen, die den Kurs, den das Projekt der Moderne angenommen hat, wesentlich geprägt haben.“ (Beck 2005:5f)
Blickt man auf die nationalen Erzählungen und betrachtet man sie als eine kulturelle Reduktion im Sinn von Konzentration und Verdichtung des Projektes der Moderne, dann sieht man sich mit hoch problematischen Effekten konfrontiert. Man kann sogar aus heutiger Sicht von einem nicht unerheblichen „Kollateralschaden“ sprechen. Was das Alltagsleben betrifft, so ging es ja zunächst eigentlich „nur noch“ darum, an die Stelle von Vorurteilen, von Aberglauben und ländlicher Rückständigkeit, also unreflektiertem, rituellem, traditionsgeleitetem Handeln, Vernunft und eine methodische, rational begründete bürgerliche Lebensführung zu etablieren. Wie wir aber heute wissen, war die sich in diesem Projekt erstmalig ankündigende Idee der Moderne nicht nur zu hoch gegriffen, sie war im Kern auch genauso positionell wie alle anderen bis dahin gehandelten und angeblich überwundenen Weltbilder, sie war ein Programm, das neue Formen von Herrschaft zu etablieren helfen sollte. Und genau deshalb sind die in dem Projekt der Moderne eingefügten nationalen Erzählungen bis heute attraktiv und werden nur zu gerne in der kulturellen oder öffentlichen Praxis reaktiviert. Sie bieten sich für eine starke Selbstinszenierung geradezu an.
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b)
Zur ständigen Selbstinszenierung als „Alteingesessener“
Für viele Alteingesessene sind die nationalen Erzählungen eine geeignete Quelle, aus der sie bis heute ihr bürgerliches Selbstbewusstsein und ihre gesellschaftliche Identität aufzufüllen versuchen (Kaschuba 2001:23). Einst ging es darum, sich endlich von feudaler staatlicher und christlich-kirchlicher (zumal katholischer) Bevormundung zu emanzipieren und ein neues materialistisches bzw. positivistisches bürgerliches Weltbild zusammen zu fügen, das man alsbald kapitalistisch fortentwickelte, gleichzeitig aber deutschnational überhöhte. Im Kern blieb es allerdings bei Erzählungen, die vor allem im Kolonialismus und besonders in den Kolonialkriegen, dann aber auch im Ersten und später im Zweiten Weltkrieg voll zum Tragen kamen. In der Alltagspraxis selbst folgte man diesen hohen Ansprüchen natürlich nicht, sondern regelte sich nach wie vor nach der Logik von Stadt und Land und innerhalb der urbanen Zentren nach der Logik sozialer Klassen. In einem kleinen Detail, nämlich dem Umgang mit der Religion, konnte denn auch Max Weber schon früh zeigen, dass man sich als Industrieller trotz gegenteiliger Bekundungen durchaus weiter in der (calvinistischmethodistischen) Wirkungsgeschichte des Christentums bewegte (Weber 2005). Und es ist nicht wirklich erstaunlich, wenn sich unter diesen Voraussetzungen statt einer angeblich alles überwölbenden, neuen, einzigartigem und vor allen aus innerer Erkenntnis geteilten rationalen Welt nur eine weitere Sichtweise neben anderen etabliert hat. Die aufklärerische Überheblichkeit führt faktisch nur zur Polarisierung zwischen überwölbenden kulturellen Erzählungen und den sie tradierenden Experten einerseits und dem Rest der Welt. Aber in kritischen Augenblicken wurde daraus alsbald ein ubiquitärer Deutungsschirm, der insbesondere in den Kriegen die gesamte einheimische Bevölkerung überspannte. So anspruchsvoll und elitär sich also die nationalen Erzählungen geben, wirksam werden sie immer nur in kritischen Augenblicken. Das hat nicht nur den Vorteil, dass sie nicht ständig kommuniziert werden müssen, sondern auch, dass sie als Kriseninterventionsinstrument immer zur Hand sind. Ansonsten unterscheiden sie sich von anderen Sichtweisen allenfalls in ihrem besonders radikalen, besonders ausgeprägten Geltungsanspruch, den sie bis heute ubiquitär zu Geltung zu bringen versuchten das genügt aber, um im entscheidenden Moment klarzustellen, wo das Volk ist. So hieß es bei den Demonstrationen zur Zeit der Wiedervereinigung: „wir sind das Volk“ und manche sich vernachlässigt fühlenden Männer setzten sich seitdem zumal in den neuen Bundesländern für „national befreite Zone“ ein. Mit anderen Worten, die überkommenen Weltsichten werden nicht etwa ad acta gelegt, sondern letztlich bloß selektiv in neue Projekte eingearbeitet und im Fall des Falles präsentiert.
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Die nationalen Erzählungen bilden bis heute so etwas wie ein besonderes Reservoir, aus dem man sich in der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft zu bedienen weiß. Sie bilden einen Pool an sozialen Mythen und eine Sammlung von nationalen Sprüchen, die stets abrufbar und implementierbar erscheinen. Erst bei Bedarf werden sie wirksam, entfalten aber dann die Kraft eines Dispositivs der Macht, in dem die Inländer zu Deutschen und der Rest der Welt zu „Ausländern“ gemacht wird, die je nach Herkunft und Bedarf als vor-modern, zurückgeblieben, unterentwickelt, primitiv oder ländlich bzw. proletarisch abqualifiziert werden. Mal bedient sich dieses Dispositiv der Figur des Standortnationalismus, mal der eines Kultur- bzw. Milieurassismus.124 Man kann bei der Durchsetzung dieses Dispositivs von einem beträchtlichen „Kollateralschaden“ ausgehen, werden hier doch teilweise direkt zerstörerische Auswirkungen in Kauf genommen, mitunter auch durchaus gezielt als Nebenfolge akzeptiert. Das gilt natürlich besonders dann, wenn es Minderheiten trifft, aber natürlich auch, wenn es um die autochthone Bevölkerung in den Kolonien oder dem europäischen Osten geht. Aber es gilt auch gegenüber den eigenen Minderheiten angefangen, bei der jüdischen Bevölkerung und endend bei den Sinti und Roma. Und es gilt sogar wechselweise untereinander. Man beklagt den Rassismus, unter dem man leidet, was einen aber nicht davon abhält, gegenüber Dritten selbst rassistisch zu handeln (Sökefeld 2004:165ff). c)
Zur permanenten Wiederholung der Abwertung des Anderen
Die Selbstinszenierung als Alteingesessener und die Einschätzung des anderen gehören eng zusammen. Und wenn es im Kontext der nationalen Erzählungen darum geht, sich selbst dabei zu qualifizieren, dann bedeutet das automatisch, den anderen zu disqualifizieren. Und wenn die nationalen Erzählungen aufgenommen werden, um das eigene gesellschaftliche Arrangement zu untermauern, dann bedeutet das nach dieser Logik zugleich, das gesellschaftliche Arrangement des anderen zu diskreditieren. Deswegen wird in den Beispielen immer wieder der Aspekt des Sozialrassismus betont. Etwas vereinfacht gesagt geht es nicht nur um die Privilegierung der eigenen Person, sondern eben um die des eigenen sozialen Ensembles, um das eigene Milieu mitsamt seinem Lebensstil und im Blick auf den Anderen und die Diskreditierung des gesamten „fremden“ Milieus. Damit zielt die Selbstinszenierung auf die Konstruktion einer mehr oder weniger geschlossenen, jedenfalls national aufgeladenen Identität, ein Vorhaben, das denn auch die deutsche Öffentlichkeit schon seit dem Ende der 70er Jahre des 124
Zur Entstehung des Rassismus im 19. Jh. in der Wissenschaft vgl. Mosse (2006)
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letzten Jahrhunderts beschäftigt hat. Dieser Prozess hat sogar Ähnlichkeiten mit einer Ethnogenese, insofern ein geschlossener kultureller Raum erzeugt werden soll. Und die Fremdinszenierung zielt analog auf die Erzeugung eines „fremden“ Raumes, auf die Sozigenese einer ethnischen Identität (Bukow, Llaryora 1998). Beide Projekte, die Selbst- wie die Fremdethnisierung erscheinen bei genauerer Betrachtung nicht nur unzeitgemäß, sondern auch eigentümlich deplatziert.
Zum einen leben wir in einer Zeit, in der die Modelle des Zusammenlebens, die auf die überkommenen nationalen Erzählungen von einst abgestimmt waren, längt nur noch eine marginale Rolle spielen. Im Übergang zur Postmoderne mit ihren neuen Formen industriegesellschaftlicher Urbanität entwickeln sich neue Versionen urbanen Zusammenlebens, formaler Systeme und Mitgliedschaftsregelungen. Und die aktuellen sozio-ökonomischen Verhältnisse machen neue Familienformen, neue Lebensstile und WirGruppen, ein neues sozio-kulturelles Handeln und Denken nicht nur möglich, sondern lassen sie sogar mitunter zwingend erscheinen. Zum anderen wirkt der Versuch einer Ethnisierung des Anderen schon dann einigermaßen eigentümlich, wenn man sich die modernen Kommunikationsflüsse und die „glokale“ Ausdifferenzierung der postmodernen kulturellen Dispositive vor Augen hält.
Die kulturalistisch reduzierte und auf nationale Erzählungen verengte Moderne schafft also keineswegs die Konservierung eines bürgerlichen Lebensstiles oder überkommener Vergesellschaftungsformen, sondern prämiert bzw. diskreditiert allenfalls einzelne im Kontext der Industrialisierung und Kapitalisierung der Gesellschaft verbliebene Arrangements und bewirkt letztlich das Gegenteil von dem, was beabsichtigt war. Statt einen Stil durchzusetzen und auf dem Rücken des Anderen für die eigene Bevölkerung verbindlich zu machen, wird bloß ein einzelner Stil selektiert und propagiert, was nicht Homogenität, sondern Diversität befördert. Ironischer Weise wiederholt sich hier das, was man schon beim Start des Projektes der Moderne beobachten konnte.125 Das Versprechen, die zerborstene Hegemonie des Eigenen wieder herzustellen (Reuter 2002:234), wird nicht nur nicht eingelöst, sondern verkehrt sich in sein Gegenteil. Es fehlt eben heute anders als früher an der Macht, seine Position hegemonial zu bekräftigen, auch wenn der moderne Sozialrassismus immer wieder Wirkungen zeigt. 125
In dieser Form der Differenzbestimmung spiegelt sich immer der Selbstanspruch einer Aufklärung wieder, die sich nicht nur gegen Aberglauben und Mittelalter abgrenzte, sondern mitunter auch aggressiv für ihre neuen Erkenntnisse kämpfte und dabei oft sehr schnell weniger „aufgeklärte Bevölkerungsgruppen“, ihre Sprachen, Sitten und Gewohnheiten kritisierte.
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Der national eingebettete Machtanspruch erscheint hier folglich eher aufgesetzt. Aber man muss ihm nach wie vor ein erhebliches „ideologenes“ Potential, also Kraft, Ideologie zu erzeugen, zubilligen. Es wirkt immer noch eigentümlich überzeugend, wenn zwischen den Bevölkerungsgruppen unterschieden wird, die als Inländer quasi von Natur aus die Leistungsträger der Moderne darstellen, und denjenigen, die als „Ausländer“ ebenso selbstverständlich Defizite in sozialer, sprachlicher, religiöser und/oder kultureller Hinsicht aufweisen. In den Diskussionen um die Moschee bzw. in den Gesprächen auf der Keupstraße werden diese Differenzbestimmungen immer wieder vorgetragen. Dabei werden dem Anderen ganz pauschal die sprachlichen, sozialen, religiösen und kulturellen Qualitäten abgesprochen, während man sie sich selbst zugute hält. Die Sprache wird als Mischsprache, als Halbsprachigkeit kritisiert, das Sozialverhalten ist machohaft und gewalttätig, die religiöse Orientierung fundamentalistisch und archaisch, die kulturellen Praktiken sind vormodern-patriarchalisch. Es sind die „zitierenden Wiederholungen“ (Butler 2007:205), die die nationalen Erzählungen immer wieder verfestigen. Möglich werden die ständigen zitierenden Wiederholungen nur, weil es die öffentlichen Debatten nicht nötig haben, sich an der fortgeschrittenen Praxis des Alltags zu messen. Der cultural lag schafft hier Freiräume auch für unzeitgemäße, ja längst überholte Konzepte. So kommt es zu dem von Ulrich Beck beschriebenen „sowohl – als auch“. (Beck, Lau 2004:45ff) In der Öffentlichkeit werden immer wieder rassistische Kontextualisierungen vorgenommen, obwohl die Bedingungen für ein erfolgreiches Miteinander eigentlich günstiger geworden sind. Milieurassistische Interventionen gefährden das Miteinander, obwohl ihnen massiv widersprochen wird. Nationale Erzählungen erscheinen unendlich zählebig, obwohl sie erkennbar unzeitgemäß sind, ja schon von Beginn an nicht gehalten haben, was sie versprachen. Die in der Öffentlichkeit gepflegten nationalen Erzählungen wirken also nicht nur verdrängend, sondern verführen auch zur Selbstgerechtigkeit (wie dies die amerikanische Zivilreligion126 belegt), macht erfahrungsblind (wie das die Ignoranz gegenüber indigenen Völkern zeigt), polemisch (wie das der von Samuel Huntington angezettelte Kampf der Kulturen illustriert [Huntington 2005]) und aggressiv (was mit der weltweit zunehmenden Zahl von Konflikten, Kriegen und Flüchtlingen zu belegen ist). Aus dieser Logik heraus erwachsen immer wieder Weltbildentwürfe, die eigentlich nur eine korrekte, d.h. rationale Position kennen, nämlich die eigene. Alle anderen Positionen werden als das bloße Negative der eigenen Sichtweise definiert. So erhalten sich die bekannten „Container-Begriffe“ wie der „Fremde“, der „Barbar“, der „Ausländer“ usw. So sind die Beschreibungen von Minderheiten 126
Zur Zivilreligion und ihrer Verknüpfung mit dem Fundamentalismus über den 11.September siehe u.a. Fischer 2005 und Riesebrodt 2001.
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seit der ersten Globalisierungswelle bis heute weltweit nahezu identisch geblieben127; sie sind so identisch, weil sie als Negativ eines identischen Positivs fungieren, nämlich der ursprünglich bürgerlich-elitären und heute westlich-elitären Sicht der Dinge. Was in der ersten Globalisierungswelle unter dem Vorzeichen des Kolonialismus begonnen wurde, das setzt sich bis heute über das Konzept der WASP128, in der zweiten Globalisierungswelle unter dem Vorzeichen der Westernisation fort. Und, was entscheidend ist, dieses Konzept wird von Beginn an kontinuierlich gouvernemental exekutiert.129 So wurden z.B. in Kanada, genauso wie in Australien, die jeweiligen Ureinwohner, die aus völlig unterschiedlichen Kontexten stammten, mit einer nahezu identischen Begründung in Reservate abgeschoben, rechtlos gemacht und gehalten und deren Kinder bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein bereits im Säuglingsalter weggenommen und einer staatlichen Erziehung unterworfen130. Auch hier war es erst der Übergang zur Postmoderne, der allmählich den Blick weitete und den westlichen Selbstanspruch erstmals zu relativieren begann. d)
Zum Beitrag der Experten
In den Debatten über den Moscheebau werden auch eine ganze Anzahl von Expertenrunden organisiert und für das Bauvorhaben selbst wird ein Beirat eingerichtet. Die Geschäftsleute in der Keupstraße fragen ebenfalls nach Experten, die sie unterstützen könnten. Die Rolle der Experten ist in diesem Zusammenhang durchaus zwiespältig. Nach den einführenden Überlegungen ist bereits klar, dass sowohl die Öffentlichkeit als auch die Wissenschaft sehr unterschiedlich argumentiert. Die Debatte um den Moscheebau zeigt, dass sich die Positionen der Experten nicht wesentlich von denen der Bevölkerung von Ehrenfeld unterscheiden. Und wenn man an die Parallelgesellschaftsdebatten denkt, dann bietet die deutschsprachige Wissenschaft ein eher unrühmliches Schauspiel. So war es ausgerechnet einer der führenden empirisch orientierten Pädagogen, nämlich Wilhelm Heitmeyer, der die Parallelgesellschaft als zugkräftiges Deutungsmuster in der wissenschaftlichen Diskussion etablierte und so pointiert in Szene setzte, 127
Es ist schon interessant zu konstatieren, dass in Kanada den Inuit, in Alaska den dortigen Ureinwohnern, dem nordamerikanischen Volk der Tlingit (North-American Native) und in Australien den Aborigines die gleichen Defekte zugeschrieben werden. Sie seien arbeitsscheu, hätten keinen Zeitund Eigentumsbegriff, seien sozial schwach und verfügten nur über eine doppelte Halbsprachigkeit, seien aber künstlerisch und sportlich begabt. 128 White Anglo-Saxon Protestant 129 Vgl. z.B. die Analyse von Kidd (Kidd 1997), die bei der Analyse der Auswirkungen dieses Konzepts am Beispiel Australiens exakt wie Foucault argumentiert. 130 Vgl. z.B. Rose 1998:4ff
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dass er alsbald auch in der gesamten politischen Öffentlichkeit Fuß fasste, die ihn dann wiederum beauftragte, an dieser Stelle vertieft zu arbeiten, was dann wiederum in entsprechenden Kreisen zur Verstärkung diesbezüglicher Vorstellungen beitrug131. Die durch die Debatte ausgelöste breite Diskreditierung von Einwanderern aus der Türkei mag Heitmeyer weder beabsichtigt noch vorausgesehen haben, weil er ja eher aufrütteln wollte. Was aber beabsichtigt war, das war, in die Öffentlichkeit vorzudringen, also den wissenschaftlichen Diskurs in der Öffentlichkeit zu verankern und beide Diskurse miteinander zu verschmelzen. Aus der Retrospektive betrachtet kann man allerdings erkennen, wie unheilvoll und folgenreich sich diese Liaison aus Wissenschaft und Öffentlichkeit entwickelt hat. In der Rolle der Experten verschmelzen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Man könnte im Anschluss an diese und ähnliche Beobachtung auch von einer Liaison sprechen (Vgl. Teil 1). Die Implikationen einer solchen Liaison lassen sich besonders gut an von Politik und Wissenschaft gemeinsam veranstalteten Tagungen wie beispielsweise dem Wissenschaftsforum NRW erkennen, das in der letzten Legislaturperiode in NRW mehrfach durchgeführt wurde132. Diese Foren bestanden jeweils in der öffentlichen Inszenierung eines wissenschaftlichen Diskurses über ein spezifisches Thema. Man kann ein solches Verfahren gut über die Metapher „Theateraufführung“ interpretieren. In dieser „Aufführung“ wird eine spezifische Thematik, die Thematik des Forums, hier ein Aspekt aus einem eigentlich alltäglichen Zusammenleben, auf die Bühne gebracht und in Szene gesetzt wird. Der wissenschaftliche Diskurs bestimmt die „Vorderbühne“, während sich die Thematik, über die gesprochen wird, auf der „Hinterbühne“ vollzieht (Goffman 2008:106f). Was passiert hier? Es ist klar, dass Vorderbühne nicht der Alltag selbst ist, sondern eben der Ort, an dem man über den Alltag (die Ereignisse auf der Hinterbühne) diskutiert, ihn deutet und für seine Interessen in Dienst nimmt, seine Sicht der Dinge in Sachen Zusammenleben bewirbt. Es ist deshalb auch kein 131
Fundamentalismusverdacht und unsere Kritik (Bukow, Ottersbach 1999) Ich beziehe mich hier auf eine eigene Studie zum Wissenschaftsforum NRW, das vom Landeszentrum für Zuwanderung LZZ-NRW getragen wurde (Bukow 2003). In diesem Forum diskutierten wissenschaftliche Experten mit politischen Akteuren bzw. Mitarbeiter aus dem wissenschaftlichen System mit Vertretern aus der Landesregierung, also dem politischen System, eine insgesamt dem politischen System geschuldete Aufführung, in der folglich auch die politischen Akteure den Ton angegeben haben. Das Thema waren praktische gesellschaftliche Erfordernisse, Fragen des Zusammenlebens, wobei natürlich von Anfang an die spezifische Zusammensetzung des Forums Auswirkungen auf die Diskussion hatte. Da einerseits dem Bühnenkonzept entsprechend die Praxis nur als Objekt auftrat, und da andererseits die Experten mit den politischen Akteuren den Diskurs gemeinsam in Szene setzten, konnte sich ein spezifisches Drehbuch zwischen diesen beiden Gruppen entwickeln. In Sachen Minderheitendiskurs erwiesen sich nämlich die politischen Akteure als die Wächter der ökonomischen Ressourcen, während sich die Experten als die Wächter des hier gesellschaftlich relevanten Wissens erwiesen.
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Problem, wenn es eine Diskrepanz zwischen individuellen Alltagserfahrungen (Hinterbühne) und den öffentlich vertretenen Positionen (Vorderbühne) gibt. Wer die Bühne betritt, dem geht es selbstverständlich darum, sich mit dem Thema am öffentlichen Diskurs zu beteiligen, sich also in aller Öffentlichkeit mit seiner Rolle zu platzieren. Natürlich verschwindet die Thematik hinter der Darstellung, weil sie ja zum Zweck der eigenen Platzierung heraufgeführt wird. Aber in dem Maß, in dem das Thema zur Aufführung kommt, entsteht die Gefahr, dass die Thematik in den Sog der Bühneninszenierung gerät und damit in eine spezifische Dynamik zwischen dem sich selbst positionierenden Darsteller und dem Publikum. Zugleich wird man ganz wesentlich vom Beifall der Anhängerschaft bzw. Zuhörerschaft abhängig. Populistische, stilistische, dramaturgische Mittel entscheiden schließlich am Ende über den Umgang mit dem Thema. Im Wechselspiel zwischen dem wohlinszenierten Diskurs auf der „Vorderbühne“ und der Zuhörerschaft bleibt das Thema, das „Zusammenleben auf der Hinterbühne des Alltags“ auf der Strecke. Eine solchermaßen wissenschaftlich ausgerichtete, politisch funktionalisierte öffentliche Inszenierung ist äußerst folgenreich. So wird auf der öffentlichen Bühne das, was wir tagtäglich erleben, leben und bewirken, diskursiv aufgegriffen, zur Inszenierung des eigenen gesellschaftlichen Ortes aufgebessert, reformuliert, in neue Deutungsmuster eingebettet, verallgemeinert und anschließend öffentlich kund getan. Der Alltag bietet den Diskursteilnehmern nichts als den Stoff, der bearbeitet, neu ausgestaltet und anschließend an den Alltag zurückgespielt wird. Dabei entsteht kein bloßes Spiegelbild dessen, was man im Alltag zuvor beobachtet hat, sondern ganz im Gegenteil etwas völlig Neues im Vergleich zu dem, was vorher praktisch gelebt wurde. Was zurückgespielt wird, erscheint diskursiv verflüssigt im Lichte der entsprechenden Fachdiskurse, gewissermaßen geadelt und öffentlich legitimiert. An die Stelle der individuellen Erfahrung werden zustimmungsheischende kollektive Behauptungen gerückt (Barthes 2008:85).Mit anderen Worten, die lebenspraktischen Erfahrungen bleiben auf der Strecke. Der Vorsprung eines diskursiven Bewusstseins wird verspielt (Giddens 2004:56f). Das Problem ist, dass anders als im englischsprachigen Diskurs die Alltagserfahrungen einfach verdrängt bzw. für etwas instrumentalisiert werden, was sie in ihr Gegenteil wendet. Dabei wird – ganz pauschal formuliert – ignoriert, dass Mitteleuropa schon immer eine Einwanderungsregion war und sich damit lebenspraktisch immer wieder arrangieren musste. Der Diskurs steht hier im Widerspruch zu den durch ihn thematisierten praktischen Erfahrungen (Bukow u.a. 2001:427ff). Es gibt sicherlich viele Gründe dafür, warum sich ein öffentlich aufgeführter Diskurs von der Alltagspraxis, aus der er sich ja letztlich speist, unterscheidet. Auf Grund seiner reflexiven Grundstruktur und seines Diskurs218
kontexts, in dem er sich ja eigenständig entfaltet, ist eine Distanz zur Praxis zu erwarten. Konkrete alltägliche Erfahrungen folgen denn auch einem lokalen und individuellen Erkenntnisinteresse, während ein in der Öffentlichkeit platzierter Diskurs dem Kontext entsprechend übergreifende Interessen mit zu berücksichtigen hat. Solche Diskurse müssten eigentlich reflexiv ausgelegt, rational orientiert und erfahrungsgesättigt verlaufen. Der diskursive Vorsprung des Diskurses wird – wie gesagt – verspielt, ja, noch mehr: Es ist schon erstaunlich, wie groß die Diskrepanz zwischen dem lebenspraktischen Miteinander und dem dieses Miteinander beschreibenden Migrationsdiskurs ist. Genauer besehen geht es hier darum, dass der in der Öffentlichkeit platzierte Diskurs weniger bloß übergreifenden, als vielmehr völlig anderen Interessen folgt (Schmidt 2000: 125ff). Erneut wird deutlich, dass politische und öffentliche Praxis mit der Entwicklung in der Alltagspraxis, wo sich die Einwanderung sukzessive vollzogen hat und wo der Wandel zur Normalität geworden ist und wo viele längst eine „wohlwollende Distanz“ zwischen den Bevölkerungsgruppen pflegen, nicht Schritt gehalten hat. So hat sich unter den gesellschaftlichen Akteuren und den einschlägigen Experten ein ganz anderer Diskurs gehalten, in dem bis heute die jeweils letzte Einwanderergruppe skandalisiert wird, wobei – wie gesagt – zu Hilfe kommt, dass sich diese Gruppen zunehmend durch eine besondere sprachliche und religiöse Distanz zur autochthonen Bevölkerung auszeichnen. Es gibt also wachsendes „Material“, um sie kollektiv zu fassen und als Fremde zu markieren. Zum Fremden gemacht, hat man keine Rechte mehr und ist quasi vogelfrei. Es ist im politischen Diskurs ausgemacht, dass in Deutschland ein massives Integrationsproblem besteht und dass dieses Problem durch die fremde Ethnizität und letztlich durch die fremde Religion, nämlich den Islam, provoziert wird. Der Islam wird in einem solchen Diskurs schrittweise zur Inkarnation des Fremden und damit zur Inkarnation von Integrationsbarrieren stilisiert (Kiesel u.a. 1999). Im Großen wie im Kleinen gibt es zwischen der Vorder- und der Hinterbühne eine meilenweite Differenz – man kann schon von einem negativ reziproken Verhältnis sprechen. Diese negative Reziprozität der Positionen ist nicht einfach zu verstehen. Mit dem Migrationsdiskurs betreten wir offenbar eine Bühne, die gewissermaßen im Zentrum der Gesellschaft und vor einer in einer besonderen Weise historisch gesättigten Szenerie installiert wird. Zu Recht notiert Wolfgang Kaschuba: „Die Wahrnehmung heutiger Migrationsprozesse erfolgt überwiegend nicht über lebensweltliche Primärerfahrung, (...) Sie ist medial formuliert, ist organisierter Bestandteil jenes Diskurses über Kultur, der die gesamte deutsche Nationalgeschichte so nachhaltig prägte“ (Kaschuba 1995:29).
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Der lokale Migrationsdiskurs hat sich tatsächlich vom Alltagsleben vollständig entfernt und sich eine besondere Bühne geschaffen, wo er seine überkommene nationale Sicht von der gesellschaftlichen Wirklichkeit vortragen, pflegen und verkünden kann. So kann dieser Diskurs mit seiner ihm eigenen Wucht, Dichte und Bedeutungsschwere scheinbar nur auf sich selbst bezogen, in sich selbst ruhend und abgekapselt erscheinen und doch seine Interessen mit aller Macht durchsetzen Dies versieht den Migrationsdiskurs mit einer besonderen Aura und macht ihn erfahrungsresistent und zugleich theoriefundiert. Den Alltagspragmatismus ernst zu nehmen, das fällt auch den Experten nicht leicht, weil er, wie mehrfach ausgeführt (Bukow 2007), oft genug ein Teil des Problems ist. Es macht es eben nicht besser, wenn man in der Forschung zwar die nationale Polemik kritisiert, weiterhin aber stillschweigend mit Nationalkulturen arbeitet, ob man sie nun, wie Hartmut Esser erst jüngst wieder in seinem Beitrag zur DIK133 vorgeführt hat, zu „ewigen“ Barrieren stilisiert oder, wie sich das bis in die jüngste Phase der interkulturellen Forschung hinein134 nachweisen lässt, zwar zu überwinden trachtet, aber bei der Auslegung des interkulturellen Verstehens dann doch wieder auf nationale Differenzen rekurriert und auf diese Weise letztlich scheitern muss (Bukow 2007). Die Liaison zwischen Wissenschaft und Politik wirkt sich hier wechselseitig verstärkend aus und erklärt zu einem guten Teil, warum sich die nationalen Erzählungen als so zäh erweisen. Erst allmählich spricht sich auch bei den Experten herum, dass das Projekt der Moderne zu Ende geht135 und wir uns nicht nur lebenspraktisch, sondern endlich auch im öffentlichen Diskurs, von der Politik bis zur Wissenschaft, dieser neuen Situation, in der globale Weisheiten mit ihren Zuordnungen und praktisch doch nur nationalen bzw. standortspezifischen Einsichten, obsolet werden, stellen müssen. Eigentlich kann man sich schon länger nicht mehr auf solche, in Wahrheit nur einzelnen Gruppen geschuldete, bloß vorgeblich dicht und universal angelegte und doch nur hegemoniale Diskurse stützen, so wie man sich das in der Moderne im Rahmen der „traditionellen Theorie“ noch vorstellte, sondern muss die Dinge im Detail, in concreto beobachten, beschreiben und deuten, ja tagtäglich neu erfinden. Die postmoderne Situation muss mit bedacht werden. In der Alltagspraxis hat man sich offenbar schon aus pragmatischen Gründen den sich wandelnden 133
Hartmut Esser: Wertekonsens oder die Integration offener Gesellschaften, vorgelegt für die von Innenminister Dr. Wolfgang Schäuble initiierte Deutsche Islamkonferenz DIK, diskutiert in der AG 1 am 7.3. 2007 in Berlin. 134 Kritik von Ingrid Gogolin und Marianne Krüger-Potratz (2006) 135 Anders als Ulrich Beck spricht Martin Albrow schon 1996 vom Niedergang des Projekts der Moderne. Für ihn ist auch die aktuelle Globalisierungswelle nur eine Übergangsphase (1998,:121ff)
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Bedingungen relativ schnell angepasst, zumal wo entsprechende Rahmenbedingungen, nämlich qualifizierte formale Systeme, vorhanden sind136. Auf diskursiver Ebene sieht das sehr viel komplizierter aus. Hier besteht das Problem ja nicht nur darin, dass es keine konzeptionelle Verlässlichkeit mehr gibt, man also gewissermaßen tagtäglich den Umgang neu entwerfen muss, sondern auch darin, dass neben dem eigenen Denken einerseits alte Ansprüche in ihrer überkommenen hegemonialen Ausstattung weiter erhoben werden und andererseits auch noch die lange korsettierten und diskriminierten Traditionen, so fragmentarisch und rudimentär sie unterdessen auch sein mögen, an die Oberfläche drängen und ebenfalls Rechte beanspruchen. Wir befinden uns deshalb in einer vor allem theoretisch zunehmend undurchsichtigen Gemengelage. Das hat aus konstruktivistischer Sicht den Vorteil, weniger bedrohlich zu sein und verweist zugleich auch darauf, dass es zu einer konstruktivistischen Sicht der Dinge letztlich keine Alternative mehr gibt. Es hat aber den Nachteil, dass es aus praktischen Erwägungen heraus immer wieder zur Hervorbringung neuer Konflikte kommt, auch solcher, die eigentlich – wie der ethnische Kulturalismus oder der Rassismus an sich – überholt sind. Zudem entstehen so auch neue Bündnisse, zum Beispiel zwischen den überkommenen bürgerlichen Lagern, die sehr standortegoistisch zentriert sind und neo-konservativen und rassistischen Bewegungen, die eher nationalistisch bzw. ethno-kulturalistisch agieren. Auf diese besondere, historisch gewachsene Gemengelage kommt es aber an. Sie gibt den Hintergrund dafür ab, dass wir uns heute keineswegs nur in Mitteleuropa137, aber hier ganz besonders schwer mit dem Übergang in die Postmoderne tun. Und sie lässt es auch verständlicher erscheinen, was wir bei uns in den Auseinandersetzungen zwischen dem Wir und dem Anderen speziell beobachten können und warum man so und nicht anders Mobilität und deren Implikationen bearbeitet, warum man z.B. bis heute vom „Ausländer“, ja im Fall des Falles sogar vom „deutschen Ausländer“ und das auch noch bei den Enkeln von Einwanderern, spricht. Und es wird deutlich, warum bei „ethnischen Clustern“138 sofort Parallelgesellschaften „gefühlt“ werden139.
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Wir haben dazu den Begriff einer „Grammatik urbanen Zusammenlebens“ formuliert und an einer breit angelegten Studie dokumentiert (Bukow et al. 2001). 137 Man braucht nur an die Huntington-Debatte zu erinnern (Ostendorf 2006:119), aber es gilt tendenziell für alle fortgeschrittenen Industriegesellschaften, wo der Übergang in die Postmoderne überall schwer fällt. 138 Spannend ist hier vor allem der Arbeitsbericht von Ipsen et al zu Toronto (2005:61f), weil er hier mehr beobachtet, als er begrifflich zu fassen vermag. 139 Ich habe versucht, das in unserer neuen Arbeit über die Parallelgesellschaft deutlich zu machen (Bukow 2007c:29ff)
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4 Zusammenfassende Überlegungen Am Ende der Studien zum Umgang mit Mobilität sollen noch einmal die wichtigsten Punkte resümiert, systematisch verknüpft und durch die Verknüpfung der verschiedenen empirischen Befunde abgerundet werden. Die systematische Verdichtung dient dann auch dazu, die vorliegenden Studien, die ja schwerpunktmäßig Lokalgesellschaft thematisieren, in einen größeren Zusammenhang einzuordnen und eine Verbindung zu Arbeiten über hier nur am Rande behandelte Themen wie Ethnisierung (Bukow, Llaryora 1998), Kriminalisierung (Bukow, Jünschke et al. 2003), Rassismus (Bukow 1993) und Kulturalismus (Bukow 2008) herzustellen. Auch praktische Hinweise sind angebracht, weil hier ein Konzept vertreten wird, das von der vor allem im politischen Umfeld geführten Integrationsdebatte beträchtlich abweichende praktische Implikationen aufweist. Der Ausgangspunkt für die vorgelegten Studien war die These, dass ein erfolgreiches urbanes Zusammenleben keine Frage des Grades der Integration oder Assimilation ist, sondern die Frage eines angemessenen Umgangs mit Mobilität, nämlich einer sorgfältigeren Einstellung auf Mobilität und Diversität. Assimilation mag bis heute für das Zusammenleben innerhalb traditioneller Familien, für den Stammtisch oder unter Umständen auch innerhalb traditionell ausgerichteter Stammesgesellschaften wichtig sein. Stadtgesellschaften basieren seit je auf Mobilität und Arbeitsteilung und damit auf unterschiedlichen Berufs- und Lebensverhältnissen. In Stadtgesellschaften hat man sich zwangsläufig darauf einstellen müssen und hat früh lernen müssen, damit erfolgreich umzugehen. Dazu hat nicht unwesentlich die Durchsetzung formal agierender Systeme beigetragen, deren wichtigste Fähigkeit offenbar darin besteht, den Alltag je nach der Situation immer wieder neu zu entwerfen (strukturelle Akkommodation). Auf diese Weise, so hat sich immer wieder gezeigt, können ausdifferenzierte Siedlungsformen mit ihren durch eine immer noch zunehmende soziale wie regionale Mobilität bestimmten Bevölkerungsgruppen nicht nur irgendwie, sondern sogar sehr erfolgreich überleben. Im Detail ist man bei der Entwicklung formaler Systeme und deren Ausbau zur Stadtgesellschaften sehr unterschiedlich und auch immer wieder anders vorgegangen, schon weil man sich nicht klar darüber war, welche Komponenten hier für die Entwicklung wirklich entscheidend sind. Was sich dann als europäische Stadt herauskristallisiert hat, war von dem Willen bestimmt, möglichst viele Bereiche des Alltagslebens pragmatisch zu ordnen, wobei neben dem sozialen Leben (Stand, Klasse, Milieu) vor allem der Markt (Handel und Gewerbe) und weitere Einrichtungen wie die Religion (als soziale, karitative, Bildung und Mo223
ral vermittelnde Dienstleistung) und die Verwaltung (der Rat und die Stadtpolizei) schnell Leitfunktionen übernahmen. Eine wichtige Erfahrung war, dass einerseits zwar das Zusammenleben in der Stadtgesellschaft zunehmend formal und zweckrational – soziologisch betrachtet nach dem Modell „lebender Systeme“ – geordnet werden konnte, dass anderseits aber im Verlauf der Entwicklung dem privaten Lebenszusammenhang,– prototypisch zunächst als Familie – genauso wie dem öffentlichen Bereich – prototypisch zunächst die bürgerliche Öffentlichkeit – jeweils ein besonderer Kontext zugestanden werden musste. Mag es auch im Detail unterschiedliche Wege gegeben haben, so hat sich jedenfalls insgesamt betrachtet so etwas wie eine „soziale Grammatik urbanen Zusammenlebens“ unter der Vorherrschaft von zunehmend formalen Systemen herausgebildet. 4.1 Zusammenleben ist eine Frage wohlverstandener Routine Um diesen hier noch einmal skizzierten Hintergrund zu verstehen, ist es entscheidend, sich über die innere Dynamik des Alltags klar zu werden – eine Dynamik, die zur Bewältigung von Mobilität, Diversität und weiteren Herausforderungen auf der einen Seite die Stadtgesellschaft hervorgebracht und gefestigt hat und auf der anderen Seite schrittweise in immer größeren Netzwerken unter einem zunehmend globalgesellschaftlichen Horizont aufgegangen ist. Nach allen Erfahrungen, die wir gesammelt haben, ist diese innere Dynamik das Produkt einer wohlverstandenen, nämlich aktiv und konstruktiv gehandhabten Routine „der Vielen als Viele“ (vgl. 2.3.3b), also einer Bevölkerung, die sich ihrer Unterschiedlichkeit zwangsläufig immer bewusster wird und diese allmählich gezielt in Rechnung zu stellen lernt. Folglich geht es hier zunächst noch einmal um die Leistungsfähigkeit dieser Routine bzw. um die ihr eigentümliche Dynamik, die Kraft praktischer Vernunft. Dann stellt sich die Frage, wie sie sich in die „soziale Grammatik urbanen Zusammenlebens“ einfügt, wo heute die entscheidenden Herausforderungen zu erkennen sind und wie die Chancen für „Einsicht schaffende Diskurse“ stehen.
4.1.1 Zur Leistungsfähigkeit der praktischen Vernunft oder zur generativen Bedeutung einer wohlverstandenen Routine Die durch die wohlverstandene Routine einer zunehmend mobilen Bevölkerung, der „Vielen als Viele“ (Virno op. cit.) freigesetzte Dynamik hat sich langsam, aber nachhaltig entwickelt. Sie bestimmte bereits die traditionellen Stadtgesell224
schaften, die aus heutiger Sicht wenig komplex erscheinen und in denen sich über die Jahrzehnte nur wenig geändert haben mag. Sie gilt erst recht für moderne hochdifferenzierte Quartiere, in denen mitunter sogar mehrere Sprachen gesprochen werden und Menschen der verschiedensten Herkunft zusammenleben. Besonders typisch sind dafür die Hafen-, Bahnhofs- oder Marktquartiere, die unbestritten seit langem von einem beträchtlichen Wandel geprägt sind. Gerade die Quartiere, die ein erhebliches Wandlungspotential repräsentieren, sind hier bis heute wegweisend. Dies mag auf den ersten Blick irritieren. Auf den zweiten Blick wird es verständlich. Wenn hier noch einmal auf die Routine verwiesen wird, dann nicht deshalb, weil sich dahinter ein gewohnheitsmäßiges, traditionsgeleitetes Handeln verbirgt, wie das noch Max Weber vermutet hat (Weber 1981:9f). Es geht eben nicht um eine Tradition, in die man sich schrittweise einfügt und assimiliert. Das mag den Anschein haben, wenn man einen Einwanderungsprozess über mehrere Generationen verfolgt und aus der Rückschau konstatiert, wie sich die zweite und dann insbesondere die dritte Generation eingefügt haben und unsichtbar geworden sind. Hier wird demgegenüber auf die Routine im Sinn der Freisetzung eines generativen Potentials abgehoben. Wenn man nämlich als kritischen Beobachter zwei in einem deutlichen zeitlichen Abstand von zwei oder drei Generationen getätigte schnappschussartige Bestandsaufnahmen über die jeweilige gesellschaftliche Situation miteinander vergleicht, dann sehen die Dinge beträchtlich anders aus. Dann beobachtet man, wie eine gemeinsame Praxis dazu geführt hat, die „Karten immer wieder neu zu mischen“. Es entstehen nicht nur ganz neue Städte, sondern auch ganz neue Wirklichkeiten mit anderen Gewohnheiten und Lebensweisen, neue Arbeitsformen und sogar neue ökonomische Prinzipien. Hinter der Routine verbirgt sich kein Assimilationsprozess, keine Anpassung an eine ewig wiederkehrende Gewohnheit, sondern die Notwendigkeit, den Alltag viabel zu gestalten. Die Bevölkerung sieht sich im Interesse einer gemeinsamen Praxis dazu gezwungen, den Alltag immer wieder auf neue Veränderungen abzustimmen. Konstruktivistisch betrachtet steht dahinter zunächst einmal die Notwendigkeit zur Sicherung der Viabilität: „Die Routine basiert letztlich auf Viabilität und sichert sie zugleich. Allgemeiner formuliert: Die Notwendigkeit eines lebenden Systems, sich viabel zu verhalten, erzeugt eine entsprechende Routine (d.h. Brauchbarkeit, Nützlichkeit bzw. Passfähigkeit), die sie dann wiederum auch nachhaltig und dauerhaft sichert.“ (Glaserfeld 2005)
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Diese von von Glasersfeld entwickelte Überlegung stützt sich in der hier wichtigen Hinsicht denn auch auf die Ergebnisse von Jean Piaget (Piaget 1998). An dieser Stelle könnte man neben Jean Piaget aber auch auf John Dewey zurückgreifen. Beiden gemeinsam ist die These, dass aus der Praxis heraus Kooperationsformen und Einsichten entwickelt werden, die im Zusammenleben umgesetzt werden. Die Praxis nötigt geradezu dazu, sich auf den anderen und auf die lokalen Gegebenheiten einzustellen. Wenn man dabei auf feste Gewohnheiten zurückgreifen kann, mag das die Sache erleichtern, kann sie aber auch erschweren, weil man zu wenig flexibel ist. Im Prinzip hat sich an dieser Erkenntnis, die Anfang des letzten Jahrhunderts formuliert wurde, wenig geändert, wenn man sie intentional interpretiert und weder auf die Postulierung von Entwicklungsfahrplänen (das Modell der moralischen Entwicklung nach Lawrence Kohlberg) noch die einer alltagsdistanzierten Laborpädagogik (Hartmut von Hentig) reduziert. Wie die jeweilige Situation im Quartier, am Arbeitsplatz oder im Geschäft auch immer zusammengesetzt ist, es muss ein gangbarer Weg gefunden werden, damit der Alltag seinen Lauf nehmen kann. Diese Überlegung bekommt ihre besondere Brisanz dadurch, dass sich dahinter zugleich die Notwendigkeit zur Akkommodation auf Veränderungen verbirgt: Eine heterogene Situation verlangt dann zwangsläufig eine auf Heterogenität abgestimmte Gangart. Eine wohlverstandene Routine ist dann eine aktive Einstellung, die dazu dient, einen sich kontinuierlich verändernden Alltag zu bewältigen. Um die Überlegung, dass die den Alltag bestimmende praktische Vernunft auf nichts anderem als der Notwendigkeit zu einer viablen Bewältigung des Alltagsleben basiert, noch etwas plastischer heraus zu arbeiten, ist noch einmal ein vertiefender Rekurs auf Jean Piaget hilfreich, wo er sich mit der Entwicklung des Zeitbegriffs befasst (Piaget, Inhelder 2004). Piaget hat sich mehrfach mit dem Zeitbegriff beschäftigt und dabei zeigen können, dass eine Geschwindigkeit als solche nicht wahrgenommen wird, solange sie etwas Beständiges darstellt und sich in die Schemata der Erkenntnis bzw. des Erwarteten einfügt. Was besonders registriert wird, das ist die Änderung einer Geschwindigkeit, also eine Beschleunigung. Sie lässt aufmerksam werden, sie irritiert, weil sie den Erwartungshorizont fraglich erscheinen lässt und eine Neueinstellung der Wahrnehmungsschemata erfodert. Kinder entwickeln eine bewusste Vorstellung über das, was eine Geschwindigkeit ausmacht, deshalb von einer „Nicht-mehr-Beschleunigung“ her. Die Beschleunigung (das Besondere) wird von Kindern deshalb verwendet, um eine bestimmte Geschwindigkeit (das Allgemeine) zu markieren, zu interpretieren und damit sozial einzusetzen. Erst das Ungewöhnliche ermöglicht das Gewöhnliche vorstellungsmäßig zu erfassen. 226
Indirekt bedeutet das aber auch, dass durch die Beschleunigung einer Entwicklung die Entwicklung selbst als „Normal“- bzw. „Regelfall“ bewusst wird. Und noch etwas wird deutlich: Der ganze Ablauf gelingt nur, weil sich das Kind die Wirklichkeit aktiv aneignet. Hier werden die Vorstellungen über gesellschaftliche Wirklichkeit nicht einfach von den Eltern, den Geschwistern oder den Spielkameraden übernommen, sondern sie werden selbst aktiv erarbeitet. Die Routine und ihre soziale Übertragung ist also nicht das Produkt naiver Nachahmung, sondern wird aus der Beobachtung eines Besonderen mit Hilfe praktischer Vernunft abgeleitet und als Nicht-Besonderes verinnerlicht. Routine ist eine konstruktive Leistung des aktiv handelnden Subjekts, also praktische Vernunft. Dieser von Jean Piaget abgeleitete Befund gilt nach allem, was wir heute wissen, durchaus nicht nur für kognitive Systeme, sondern auch für andere lebende Systeme und ist von dort aus auf das Zusammenleben, auf urbane soziale Systeme durchaus übertragbar. Allerding ist diese Übertragung auf lebende Systeme nicht unproblematisch. Auch das lässt sich bereits beim Kind demonstrieren. Das Kind setzt nämlich den technischen Erkenntnisprozess auch sozial ein. Wer beobachtet, wie Kinder im Sand mit Autos spielen, wird schnell erkennen, dass es auch darauf ankommt, mit seinem Spielzeugauto das Spielzeugauto des Spielkameraden zu überholen, also schneller (!) und damit besser oder stärker zu sein. Die technische Erkenntnis wird 1:1 in eine soziale Strategie übersetzt. Beschleunigung, schneller sein, das stellt etwas Besonderes dar. Das Besondere wird auf der Basis „normaler“ Geschwindigkeit erzeugt. Analog wird in einer Gesellschaft etwas ganz anderes, etwas wirklich „Fremdes“ auf der Basis „ganz normaler‘“ Unterschiedlichkeiten inszeniert. In beiden Fällen vermittelt die Analogie den „sozialen Reim“, sie naturalisiert.140 Für die Routine ist es im Prinzip gleichgültig, ob sich ein Quartier kaum, langsam oder schnell wandelt, einfach strukturiert oder komplex ausdifferenziert erscheint, es kommt darauf an, ob die Prozesse samt ihren Veränderungen in den gewohnten Bahnen ablaufen, oder ob eine plötzliche, unerwartete Änderung eintritt. Im zweiten Fall, im Fall eines plötzlichen Wandels können Irritationen entstehen und zu einer Herausforderung werden – allerdings einer Herausforderung, die zugleich den steten Wandel eher zur Normalität erklärt. Der stetige Wandel oder eine schrittweise Komplexitätszunahme – beides erscheint insofern problemlos. Und solange beispielsweise die Globalisierung nur schrittweise zunimmt und die Bevölkerung „nur“ kontinuierlich mobiler und diverser wird, solange werden die Dinge eher gelassen hingenommen und entsprechend gelebt. 140
Diesen letzten Aspekt werde ich erst zum Schluss aufgreifen. Hier kommt es erst einmal nur auf die ersten beiden Punkte an.
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Die durch eine wohlverstandene Routine „der Vielen als Viele“ bewirkte Dynamik gilt denn auch gerade für moderne hochdifferenzierte Quartiere. Zwei Präzisierungen müssen allerdings vorgenommen werden. Erstens bleibt zu fragen, was geschieht, wenn sich ein Quartier unerwartet schnell wandelt? Auch das bedeutet offenbar noch lange nicht, dass mehr als vorübergehende Irritationen eintreten. Es braucht noch lange nicht zu Problemen zu kommen. Eine unerwartete Veränderung kann genauso gut bloß bedeuten, dass Neugier geweckt wird und auf diese Weise sogar zu einer Verfestigung, mitunter auch zu einer gewissen Neujustierung der gewohnten Alltagsarrangements beitragen. Neues mag anziehend wirken und zu einer besonderen Unternehmung motivieren. Die Bevölkerung, die in einem modernen mobilen Quartier lebt, wird dies solange kaum registrieren, wie sich der Wandel tendenziell „in Grenzen“ hält. Das gilt für die Veränderungen in der Bausubstanz eines Quartiers genauso wie für den Wandel von Ess- und Lebensgewohnheiten, den Kleidungsstil genauso wie für Konsumgewohnheiten usw. Das lässt sich nicht nur daran erkennen, dass kaum jemand in einem derartigen Quartier und in einer derartigen Situation in der Lage ist, den entsprechenden Wandel spontan zu beschreiben, selbst wenn er für einen Beobachter, der zu zwei unterschiedlichen Augenblicken den Stand der Entwicklung schnappschussartig erfasst hat und nun vergleicht, unbestreitbar wäre. Stetiger Wandel wird eben ignoriert, einfach weil man seine Implikationen gewohnt ist. Er wird sogar ignoriert, wenn man selbst an dem Wandel aktiven Anteil hat. Wenn jemand drei Jahre in einem Quartier wohnt, dann zählt er sich schon zu den Autochthonen und identifiziert sich mit den lokalen Gewohnheiten und Milieus, mit den örtlichen Festen (Straßenfest), Umzügen (Karneval) und sportlichen Großereignissen (Marathon, Fußball), wirkt zunächst einmal eher „überangepasst“. Aus dieser Perspektive ist nur neu und ggf. auch ungewohnt, wenn jemand zuzieht, also erst kurz im Quartier wohnt. Die Relation ist also jeweils wichtig, um zu verstehen, warum einmal ein Quartier verunsichert und einmal die Entwicklung des Quartiers gelassen hingenommen wird. Die oben zitierte Kioskbesitzerin in der Weidengasse hat sich auf den steten Wandel ihres Publikums eingestellt und findet das normal. Sie zeigt routinierte Gelassenheit. Als aber in der Keupstraße eine lange im Familienbesitz befindliche Apotheke mangels Publikum aufgegeben werden musste, klagten Gesprächspartner über die Entfremdung der Straße, obwohl das Geschäft äußerst geschickt an einen türkischen Einwanderer verkauft wurde. Hier wird eine Veränderung als massiver Einschnitt wahrgenommen, der die Routine übersteigt. Man muss sich neu orientieren und ist erst einmal verunsichert. Und die zweite Präzisierung: Es bleibt zu überlegen, was geschieht, wenn der Wandel nicht so sehr das Quartier als vielmehr den Einzelnen kennzeichnet. Schwieriger als ein Wandel des Quartiers, der vielleicht gerade nur einen Teilas228
pekt der Umgebung, einen Wandel der Geschäftestruktur betrifft, ist ein individueller Wandel einzuschätzen, weil er den Einzelnen in seinem gesamten Arrangement betreffen kann. Ob generell mobil oder nur aus einem gegebenen Anlass heraus für eine einzelne Phase mobil, wer aus welchen Gründen auch immer neu ins Quartier kommt, sieht sich zunächst einmal mit vollständig neuen Erfahrungen konfrontiert, schon weil er sich noch nicht auskennt. Aber auch er wird sich alsbald als Allochthoner in die autochthone Bevölkerung einreihen und wird sich nach wenigen Jahren im Quartier wie selbstverständlich bewegen. Und selbst diejenigen, die dauerhaft mobil sind, können in einem Quartier relativ problemlos teilhaben, wenn sie ausreichend Ressourcen zur Verfügung haben. Wer beispielsweise bei den Fordwerken als Spezialist beschäftigt ist und heute hier und morgen dort gefragt ist, der entwickelt notgedrungen eine entsprechende Routine im Umgang mit schnell wechselnden Situationen. Das Zusammenleben ist also tatsächlich in erster Linie eine Frage der Routine – einer Routine, die sich mit einem stetigen Wandel in einem Quartier durchaus verträgt. Die „Existenzweise der Vielen als Viele“ passt deshalb durchaus zu der Vorstellung einer wohlverstandenen Routine und vermag sogar zu einer verstetigenden Kraft zu avancieren, insoweit sie aufgrund der ihr eigentümlichen Diversität zu einem diversitätserfahrenen Umgang mit Mobilität und Diversität beitragen kann, ja eine generative Bedeutung für die Ordnung des gesamten Zusammenlebens entwickeln kann. Was damit deutlich wird ist, dass die praktische Vernunft, mithin die Einsicht in die Notwendigkeit eines viablen Alltag, gerade auch in einer mobilen Stadtgesellschaft eine wandelorientierte Routine hervorbringt, dass die „Vielen als Viele“ im Rahmen dieser Routine je nach Bedarf spezifische Praktiken entwickeln, die es im alltäglichen Arrangement ermöglichen, einerseits situationsrelevante Anliegen in den Mittelpunkt zu rücken und anderseits situationsfremde Belange als thematisch belanglos („konstitutiv belanglos“) auszublenden, dass sich derartige Praktiken zu Ordnungsmustern bzw. Drehbüchern verfestigt haben und schließlich die „Europäische Stadt“ hervorgebracht haben (wo dann formale Systeme als Teil einer sozialen Grammatik urbanen Zusammenlebens eine zentrale Rolle spielen), und dass die so etablierten wandel-orientierten Routinen wiederum Mobilität und der sie begleitenden Vielfalt eine wichtige Rolle bei der Aktivierung praktischer Vernunft einräumen.
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4.1.2 Wenn sich die praktische Routine mit Hilfe der sozialen Grammatik urbanen Zusammenlebens durchsetzt Was bedeutet es nun, wenn sich derartige Praktiken als Teil einer sozialen Grammatik urbanen Zusammenlebens verdichten? Tatsächlich vollziehen sich die bisher beschriebenen Prozesse nicht isoliert, sondern bedürfen, um den aktuellen Anforderungen gerecht zu werden, einerseits formaler Systeme, anderseits aber auch eines größeren Rahmens, indem diese formalen Systeme („lebende Systeme“) als Zurechnungsmechanismen neben weiteren Zurechnungsmechanismen (Lebenswelt und Öffentlichkeit) ihren Platz finden. Und es hat sich gezeigt, dass sich in diesem größeren Rahmen nicht nur spezifische Kontexte für die Zurechnung und Einordnung des urbanen Zusammenlebens ausgebildet haben, sondern es haben sich auch schrittweise bestimmte Kombinationen dieser Kontexte entwickelt und z.B. als europäische Stadt in einer typischen Kombinationen als dominante Form von Lokalgesellschaft durchgesetzt (vgl. 2.3). Die europäische Stadt stellt also nur eine der möglichen Versionen dar – allerdings eine Version, die heute zum dominierenden Typ avanciert ist. Wenn sich dieser Typ als besonders nützlich erwiesen hat und die sie bestimmende soziale Grammatik urbanen Zusammenlebens zu einem Erfolgsmodell geworden ist, so hat das vor allem damit zu tun, dass sich in dieser Kombination von System, Lebenswelt und Öffentlichkeit eine effektive, schrittweise ausdifferenzierte Komplementarität (also keineswegs automatisch eine echte Symmetrie) zwischen den formalen Systemen, der Lebenswelt und der Öffentlichkeit entwickeln konnte. In der empirischen Forschung wurden allerdings vor allem die formalen Strukturen herausgearbeitet, die der Inklusion einer komplexen Bevölkerung je nach deren funktionalen Erfordernissen dienen. Nur gelegentlich wird auch die Bedeutung der Öffentlichkeit, hier das bürgerschaftliche Engagement bzw. die zivilgesellschaftliche Partizipation141 gewürdigt. Daneben wird neuerdings vermehrt auf die zunehmende Diversität der Bevölkerung und ihrer Lebensstile hingewiesen142, die sich vor allem in einer immer undurchsichtigeren Alltagskultur widerspiegelt. Tatsächlich werden die hier benannten drei Kontexte häufig nur teilweise und nicht systematisch berücksichtigt und es wird zumal ignoriert, dass es sich dabei nicht um einzelne, eher zufällig nebeneinander arbeitende Installationen, sondern jeweils um symbolisch organisierte Prozesse, also um Zurechnungen handelt, die nur in ihrem Zusammenwirken Sinn machen. Sie garantieren die für ein erfolgreiches Handeln zunehmend gebotene Polykontextualität und machen sie für das Alltagsleben sinnhaft-sozial beobachtbar und erlebbar. Das bedeutet: 141 142
Vgl. 2.3.3 a “new urban governance” und 2.3.6 Vgl. 2.3.5 und 6
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Wenn die „Vielen als Viele“ unter dem Schirm einer sozialen Grammatik routiniert urbanes Zusammenleben organisieren, so vor allem deshalb, weil sie auf diese Weise polykontextuell agieren können, d.h. das, was für eine Handlung kontingent bzw. relevant ist, je nach den Situationserfordernissen auswählen und den Rest in einer Art praktischer Toleranz ausgeblendet lassen können. Die soziale Grammatik ermöglicht eine Kontextualisierung der Handlung. Durch eine formale Kontextualisierung werden andere Aspekte in den Vordergrund gestellt als durch eine lebensweltliche Kontextualisierung oder durch eine öffentliche bzw. zivilgesellschaftliche Einbindung der Handlung. Die besonderen Aspekte eines spezifischen Lebensstiles wären z.B. im formalen Kontext als Ware bzw. Mode interessant, im lebensweltlichen Kontext als Bindeglied für eine Wir-Gruppe bzw. als identitätsstiftendes Milieu und im zivilgesellschaftlichen Kontext als Ressource für Ideen bzw. als eine nicht mehr hinterfragbare „Letztbegründung“. Die soziale Grammatik urbanen Zusammenlebens generiert die Rahmenbedingungen und stellt die strategischen Instrumente für die gesellschaftliche Konstruktion einer hoch komplexen Wirklichkeit bereit und lässt sich folglich zu Recht als mobilitätsfundierte und diversitäts-kompatible Lokalgesellschaft interpretieren. Sie avanciert damit auch zu einer Konstruktion, die aktiv zur Entfaltung eines globalgesellschaftlichen Horizontes beitragen kann, weil sie die konstruktiven Leistungen der Gesellschaftsmitglieder in den Mittelpunkt rückt und damit eine gegenwarts-, situations-, augenblicksbezogene Orientierung weg von historischem und hin zu globalem Denken begünstigt. Die polykontextuell eingeordnete Alltagspraxis erscheint dabei zwar lokalgesellschaftlich generiert, aber eben nicht lokalgesellschaftlich beschränkt. Aus dem durch praktische Vernunft genährten Wunsch heraus, sich im Alltag viabel zu arrangieren, gibt es keine Gründe, ausgerechnet an nationalen Grenzen, die sich ja nur nationalen Erzählungen verdanken und nur noch in rechtlichen Zurechnungen steuernde Wirkung entfalten, halt zu machen. Nationalstaatliche Grenzen spielen in diesem Rahmen im Prinzip erst einmal kaum noch eine Rolle, weil sie keinen konsistenten Rahmen für ein komplexes gesellschaftliches Zusammenleben stiften, sondern nur partiell hinsichtlich spezifischer Systeme (Verwaltung, Recht, Sozialleistungen usw.) von einer gewissen, jedoch von internationalem Völkerrecht, von Menschenrechten usw. deutlich begrenzten Bedeutung sind. Spätestens an dieser Stelle stellt sich die Frage der Macht und der Durchsetzungsfähigkeit einer Zivilgesellschaft. Das verweist indirekt bereits auf einen Aspekt, der bislang meist ignoriert wird und dessen Brisanz erst in den letzten Jahren im Rahmen der aktuellen Interferenzdebatte erkannt worden ist:
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Wenn die soziale Grammatik erfolgreich arbeitet, entproblematisiert sie „beiläufig“ mit, was eigentlich nicht mit entproblematisiert werden sollte, nämlich die Folgen „schon immer“ bestehender Diskriminierung, Ausbeutung oder Gewalt; sie fördert die Gewöhnung an problematische sozialen, ökonomischen und kulturellen Differenzen, es sei denn, es gelingt im zivilgesellschaftlichen Kontext, diese ggf. unterschiedlich zugeteilten „Kapitalien“ zu „reproblematisieren“. Die urbane Grammatik ermöglicht ein Zusammenleben, das sehr vorteilhaft, in bestimmter Hinsicht freilich auch nachteilig sein kann. Denn sie normalisiert, „nivelliert“ und „neutralisiert“ nicht nur Diversität, sondern entproblematisiert damit zugleich auch Unrechtserfahrungen, Unterschichtung, Gewalt usw. Sie neutralisiert, ja naturalisiert143 eben auch „Abseitsstellung“ (Ottersbach, Zitzmann 2009) und „verworfenes Leben“ (Baumann 2005) bis zu struktureller Gewalt. Die von der urbanen Grammatik bereitgestellten Bedingungen schaffen nicht nur Routine sondern auch ungewollt Gleichgültigkeit. Sie leistet eben auch „negative Inklusion“: Oben am Beispiel von Köln-Ehrenfeld wurde auch klar, dass das urbane Zusammenleben in dem Quartier auch deshalb so gut funktioniert, weil es eine asymmetrische Komplementarität ermöglicht. Mit anderen Worten, die Soziale Grammatik fügt sich durchaus auch in die gerade gültigen Machverhältnisse ein und erweist sich damit nur als eine besonders basale Sozialtechnik. Darin unterscheidet sie sich nicht unbedingt von den üblichen Alltagsverfahren. Das Beispiel Ehrenfeld belegt aber auch, dass immer dann, wenn der Alltag ins Stocken gerät, diese negativen Aspekte durchaus ins Blickfeld rücken. Zur Moscheediskussion gehören eben nicht nur eine vom Sozialrassismus geprägte Debatte in den Versammlungen und den Medien, sondern eben auch die wohlwollend distanzierte Billigung des Moscheebaukonzeptes der bekannten Sakralarchitekten Paul und Gottfried Böhm und vor allem die anschließenden Aktionen unter dem Motto „Köln stellt sich quer“. Man kann zumindestens dann, wenn die Alltagsroutine stockt, auf die Kraft der praktischen Vernunft verweisen. Wenn die Routinen des Alltags stocken, dann wird es aufgrund der pragmatischen Fundierung des Alltags und der Notwendigkeit, Viabilität zu schaffen, erforderlich gemeinsam nach praktikablen Wegen zu suchen. Dies gilt im Großen genauso wie im Kleinen. Im Großen konnte man es an dem Stadtteil Ehrenfeld beobachten, wo sich eine urbane Öffentlichkeit quer stellt. Es gilt aber auch im Kleinen, wenn ein Dienstleistungssystem die interkulturelle Öffnung sucht oder eine Firma ein ausgefeiltes Diversity-Management einführt144. Insgesamt gesehen 143
Auf diesen Aspekt habe ich im vorigen Abschnitt im Piaget-Exkurs bereits hingewiesen. Die Motive sind nirgends uneigennützig, sondern von Viabilität bestimmt, nur dass in einem profitorientierten Betrieb die Viabilitäts-Bedingungen andere sind als in einer Wir-Gruppe.
144
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scheint es aber nicht so einfach zu sein, sich abzeichnende Verwerfungen gewissermaßen intrinsisch zu bewältigen. Es ist deshalb kein Zufall, sondern eine zwangsläufige Begleiterscheinung der sozialen Grammatik urbanen Zusammenlebens, wenn immer wieder ein neuer Bedarf an spezifischen Debatten entsteht – Debatten und Diskurse, die die Problematik formalisierter Systeme und individualisierter Lebensweisen beobachten, kommentieren und ggf. auch kritisieren müssten. Ganze Diskursgemeinschaften und die Bedeutung der Zivilgesellschaft insgesamt scheinen so erklärlich. Spätestens wenn man sich die empirische Wirklichkeit vergegenwärtigt, so sieht man sehr schnell, dass bei der Durchsetzung der praktischen Routine trotz der Unterstützung durch die soziale Grammatik urbanen Zusammenlebens mit erheblichen Schwierigkeiten zu rechnen ist: Schwierigkeiten treten weniger deshalb auf, weil die urbane Grammatik wie jede Grammatik eher vor-reflexiv, d.h. intuitiv und alltagspraktisch vollzogen wird, sondern eher deshalb, weil das Interesse an Viabilität ein Machtinteresse darstellt und sehr schnell zu gruppenspezifischen oder nationalen Interessenkollisionen führen kann. Deshalb stellt sich auch die Frage, inwieweit sich die praktische Routine, die sich mit Hilfe der sozialen Grammatik urbanen Zusammenlebens durchsetzt, gegenüber bestehenden Machtdiskursen legitimieren und ggf. auch durchsetzen kann. In der Moscheedebatte musste die Zivilgesellschaft erst an die soziale und religiöse Gleichstellung erinnern. Schließlich wurde eine Antirassismuskampagne gestartet, die zumindest die formale soziale und religiöse Gleichbehandlung aller Bewohner der Stadt thematisierte. Die Kaufleute an der Keupstraße mussten selbst auf ihre globale Ausrichtung verweisen, um sich gegenüber den Anfeindungen der lokalen, alteingesessenen Konkurrenz behaupten zu können. Wenn sich die soziale Grammatik urbanen Zusammenlebens ganz wesentlich einer erfolgreichen Bewältigung komplexer Bevölkerungsstrukturen verdankt, also auch der Bewältigung von Unterschiedlichkeit in zunächst religiöser und beruflicher sowie sprachlicher und kultureller Verschiedenheit und heute individueller Differenzierung in Lebensstile und Milieus, dann provoziert sie natürlich alle diejenigen Interessen, die auf Homogenität setzen, weil sie eine Veränderung eines einmal eingespielten Status quo fürchten. Die Alteingesessenen fühlen sich schnell an die Seite gedrängt und vom Abstieg bedroht, wenn andere erfolgreich an ihnen vorbeiziehen. In Deutschland hat man das lange Zeit durch Unterschichtung mit „Gastarbeitern“ und deren nachhaltige Proletarisierung „einzudämmen“ versucht. Heute benutzt man ethnisierende Distinktionsprozesse, die man genderspezifisch (Weber 2003:117f), religionsspezifisch oder durch kriminalisierungsspezifische Prozesse (Bukow, Jünschke u.a. 2003:15ff) arrondiert.
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Mit der Einführung einer zivilgesellschaftlichen Komponente in die soziale Grammatik urbanen Zusammenlebens ist es aber nicht wirklich getan. Damit ist die Problematik noch nicht gelöst, sondern zunächst einmal nur noch einmal unterstrichen. Der Grund ist ein doppelter. Zum einen hat sich ja längst herausgestellt, dass die Routine des Alltags so angelegt ist, dass Debatten eher vermieden und mögliche Ungleichheiten oft genug bloß entproblematisiert werden. Und zum anderen hat sich gezeigt, dass sie, wenn sie geführt werden, weitgehend nur positionell geführt werden, weil die erforderlichen Diskursgemeinschaften ja nicht künstlich von außen implementiert werden, sondern sich aus dem Alltag heraus, also aus speziellen Positionen heraus entwickeln müssen und fast zwangsläufig nach der Logik der überkommenen Machtstrukturen etabliert werden. Die europäische Stadt und damit die Lokalgesellschaften sind durch symbolisch organisierte Macht geprägt. So bedarf es zunächst einmal einer erheblichen Anstrengung, einschlägige Debatten überhaupt zu entwickeln und dann ist es eben noch ein weiter Weg, bis sie ihre positionelle Herkunft abzustreifen vermögen und im Sinn von Pierre Bourdieu Spielräume für Einsicht oder im Sinn von Michel Foucault Raum für zirkulären Diskurs schaffen. Was damit deutlich wird, ist - dass unter den Bedingungen einer sozialen Grammatik das urbane Zusammenleben polykontextuell ausgerichtet wird, d.h. für jede Handlung gegenwarts-, situations-, augenblicksspezifisch festgelegt werden kann, was an Themen kontingent und was an Eigenschaften relevant, womit das meiste als konstitutiv belanglos ausgeblendet bleiben kann, - dass damit ein Zusammenleben in komplexen Situationen möglich wird, allerdings auch problematische Distinktionen unbearbeitet bleiben bzw. sogar als Distinktionslinien verfestigt werden können, - und dass jede praktische Vernunft, wenn sie auf Viabilität ausgerichtet ist, sich schließlich als Teil eines gesellschaftlichen Machtdiskurses erweist, also einer entwickelten Zivilgesellschaft bedarf. 4.2 Warum kritische Debatten zur Sicherung des urbanen Zusammenlebens immer wichtiger werden
Es mag zwar sein, dass sich die praktische Vernunft innerhalb der Routine durchgesetzt hat und dass im Verlauf der Zeit auch eine passende soziale Grammatik urbanen Zusammenlebens entwickelt worden ist, aber ganz eindeutig bleibt das, was dabei an gesellschaftlicher Wirklichkeit konstruiert wird, hinter
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den Erfordernissen zurück. Offenbar sind grade im Übergang zur Postmoderne die bereits entwickelten Reflexionsmöglichkeiten angefangen bei der Öffentlichkeit und endend bei einer globalgesellschaftlich orientierten Zivilgesellschaft zunehmend gefragt. Oben (vgl. 2.1.7) war schon darauf hingewiesen worden, dass es angesichts zunehmender Mobilität dringend notwendig erscheint, die soziale Integration in der Lebenswelt, im bevorzugten Milieu und die strukturelle Akkommodation auf alle für das Leben wichtigen formalen Systemen von der Bildung bis zur Arbeit und Infrastruktur zu überprüfen und zu verbessern. Hier besteht ein zunehmender Diskussions-, Beratungs- und Steuerungsbedarf. 4.2.1 Zwischen positioneller Selbstbehauptung und kritischer Reflexion Es erscheint schon einigermaßen eigentümlich, dass ausgerechnet solche Stadtgesellschaften, die die soziale Grammatik in einer besonders geschickten Weise voran gebracht haben und durch und durch mit Mobilität imprägniert sind, Diskursgemeinschaften hervorgebracht haben, die daran interessiert sind, die fundamentale Bedeutung von Mobilität und die Erfahrungen im Umgang mit Diversität zu verdrängen und sich ganz auf die Fixierung eines jede Veränderung, Fortentwicklung und Mobilität still stellenden status quo zu konzentrieren – ich beziehe mich auf die Stadt Köln, in den anderen oben zitierten Städten dürfte es aber nicht viel anders aussehen. In dieser Geschichte spielt erwartungsgemäß die Gruppe der Alteingesessenen (ein notwendiges Merkmal) und hier insbesondere das lokale Establishment (ein notwendiges und hinreichendes Merkmal) die Hauptrolle. Das lokale Establishment errichtet eine effektive und durchsetzungsfähige Diskursgemeinschaft und sorgt für deren Pflege durch eine geeignete symbolische Organisation (Filz und Korruption). In den vorliegenden oben diskutierten Fällen in Köln ist diese Diskursgemeinschaft relativ leicht zu identifizieren. Es ist hier der offensichtlich unausrottbare kölsche Klüngel. Er bietet einen schlagenden Beweis (Rügemer 2006). Solche Diskursgemeinschaften okkupieren nicht nur das politische System, sondern auch die lokale Öffentlichkeit und manipulieren zusätzlich die zivilgesellschaftlichen Debatten. Das Dramatische an ihnen ist erstens, dass sie sehr erfolgreich und sogar mit einer erheblichen kriminellen Energie partielle Interessen „zwangsläufig“ als Allgemeininteresse verkaufen und sich zu diesem Zweck „notgedrungen“ einer Fülle von sozialen Mythen und nationalen Erzählungen bedienen. So können sie ein ansprechendes neo-restauratives „Argumentarium“ anbieten und in der Mitte der Gesellschaft platzieren. Das Dramatische an ihnen ist zweitens, dass damit zivilgesellschaftlichen Debatten und Interventionen, die sich globalgesellschaftlich legitimieren und von dort her sehr viel überzeugender 235
Allgemeininteressen vertreten könnten, frühzeitig das Wasser abgegraben wird. Und das Dramatische an ihnen ist drittens, dass sich in diesem Zusammenhang auch „Sub-Diskursgemeinschaften“ bilden, die dann zum Beispiel als „Integrationsbeiräte“ gewählt bzw. substituiert an die Seite des lokalen Establishment rücken und damit grade das mobile Potential einer Stadt still stellen: Die im Rahmen der sozialen Grammatik des urbanen Zusammenlebens geförderte Mobilität droht immer wieder an der positionellen Selbstbehauptung der Alteingesessenen zu scheitern. Die historische Spannung zwischen einer eher mobilen und einer eher standorttreuen Denk-, Orientierungs-, Handlungs- und Lebensweise bekommt in den lokalen Diskursen immer wieder neue Bedeutung, weil die die Hegemonie beanspruchenden lokalen Diskursgemeinschaften ihre vorgebliche Standorttreue benutzen um den lokalen Diskurs zu adoptieren. Es ist nur konsequent, wenn sich die so ausgerichtete Öffentlichkeit schon im Interesse einer Status-quoPflege quasi automatisch und wie selbstverständlich ausgerechnet nationaler Erzählungen und eines entsprechend dazu passenden methodologischen Nationalismus bedient. Diese Erzählungen bzw. Mythen halten alles bereit. Man braucht nichts neu zu konzipieren. Sie werden einfach aus dem Fundus überkommenen Wissens requiriert. Historisch verbrämt erwecken sie den Eindruck, überkommene Erfahrungen, also überliefertes Allgemeininteresse zu repräsentieren. In Wahrheit speisen sie sich zu einem guten Teil aus einem antirevolutionären deutsch-nationalen Reflex im Zeitalter der Französischen Revolution. Man läuft damit nicht Gefahr, sich einem von der Französischen Revolution infizierten Allgemeininteresse „ausliefern“ zu müssen. Das im vorliegenden Fall klassische Argument ist natürlich, um das oben erwähnte Beispiel noch einmal in Erinnerung zu rufen, die Zurechnung als „Deutscher“. Diese Zurechnung erscheint „allgemein“ genug, um private Interessen überzeugend kaschieren zu können und zugleich „lokal“ genug, um ausreichend Munition gegenüber einer „vorschnellen“ menschenrechtlichen Argumentation in der Hand zu haben. Das nationale Wissen (vgl. 3.4.4), auf das hier zurückgegriffen wird, stammt aus längst vergangenen Diskursgemeinschaften, für die nicht zuletzt Johann Gottfried von Herder typisch gewesen ist145. Es wurde vor allem im rechten Spektrum in den 145
Ironischer Weise war ja die Pointe jener nationalen Diskursgemeinschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert, eine über die lokalen Interessen hinausreichende nationale Gesellschaft (ein Volk mit einer spezifischen Kulturgeschichte) zu konzipieren, um entsprechend weiterreichende nationale Interessen verankern zu können. Und man bediente sich eines religiös-sprachlich ausgewiesenen hegemonialen feudalen bis bürgerlichen Milieus, das biographisch im sogenannten deutschen Osten, genauer in der dort gutsherrlich bis stadtbürgerlich herrschenden deutschsprachigen Oberschicht wurzelte, und hatte damit in diesem spezifischen Milieu persönlichen wie literarischen Erfolg. Der Rest, genauer die Mehrheit der konfessionell wie sprachlich diversen Bevölkerung Zentral- und Osteuropas, zählte natürlich nicht.
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60er Jahren des letzten Jahrhunderts wieder salonfähig gemacht und dann von den konservativen Volksparteien populistisch zur Rückeroberung der Stammtischwähler eingesetzt. Heute spielen die nationalen Erzählungen und der methodologische Nationalismus offensichtlich wieder eine große Rolle im Argumentationshaushalt der Bürgergesellschaft zumal deutscher Provenienz und haben sich in der Tat als äußerst zäh erwiesen. Allerdings ist die insoweit skizzierte Positionierung der Öffentlichkeit weder einheitlich noch geschlossen, selbst wenn immer wieder mehr oder weniger erfolgreich versucht wird, sogar neue Minderheiten in diesen hegemonialen Diskurs einzuordnen. Die Zivilgesellschaft geht nicht in ihr auf: Im Rahmen des Übergangs zu Postmoderne, in einer transmodernen Gesellschaft gewinnt die Zivilgesellschaft erheblich an Relevanz, weil nur sie in der Lage ist, überzeugend Allgemeininteressen zu formulieren und „Einsicht schaffende Diskurse“ zu etablieren. Das Hauptmanko der oben skizzierten sich lokal, tatsächlich dem Machterhalt verpflichteten Diskursgemeinschaften ist ihr historisch überholtes Selbstbehauptungsinteresse, das sie quasi automatisch zu den Feinden einer entwickelten globalgesellschaftlichen Wirklichkeit und zur Lobby ewig gestrigen Deutens macht. Sie kann den immer wieder beobachteten cultural lag nicht füllen, wenn sie derartige nationale Erzählungen reaktiviert. Die so implementierten Deutungsmuster stehen jeglicher gesellschaftlichen Veränderung nicht nur im Wege, sondern verhindern sie mit ihrer „klebrigen“ Mythologie. Eine angemessene Debatte darüber, wie eine Stadtgesellschaft ihre soziale Grammatik nutzen kann, um sich auf die allenthalben verstärkt auftretende informationelle sowie geographische Mobilität und die damit einhergehende zunehmende Diversifizierung der Gesellschaft im globalgesellschaftlich gerechtfertigten Allgemeininteresse besser einstellen zu können, ist in diesen Diskursgemeinschaften nicht fahrbar. Damit zeigt sich bereits indirekt, welches Potential eine zivilgesellschaftliche Debatte frei zu setzen vermag146. Vor diesem Hintergrund erhält die zivilgesellschaftliche Debatte ein klares Profil. Wenn sie tatsächlich alle diejenigen erfasst, die in die Lokalgesellschaft qua formaler Mitgliedschaft eingebunden sind, und wenn die Lokalgesellschaft sie in ihrem jeweiligen Lebensstil anerkennt, dann kann man mit einem breiten zivilgesellschaftlichen Potential rechnen. Dieses Potential kann, wie man dem Beispiel der Aktion „Köln stellt sich quer“, aber auch an anderen Untersuchun146
Ohne das jetzt weiter ausführen zu wollen, verweise ich hier noch einmal auf „Wir stellen uns quer“. Noch deutlicher wird dies freilich an der Kalker Revolte vom Januar 2008, wo wie unter einem Blitzlicht aufscheint, wie nötig eine Zivilgesellschaft ist, um Allgemeininteressen, nämlich die Anerkennung der Belange einer zur Minderheit gestempelten allochthonen Lokalbevölkerung gegen eine verharschte Stadtpolitik durchzusetzen.
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gen belegen kann, tatsächlich zu einer Ressource für „Einsicht schaffende Diskurs“ werden und damit zu einer nachhaltigen Akkommodation der urbanen Systeme auf die zunehmende Diversität eines globalgesellschaftlich imprägnierten Alltags beitragen – ein Schritt, den die Alltagsroutine der Bevölkerung durchaus nahe legen dürfte. Sie kann das aber vor allem deshalb, weil sie nicht dem lokalen Machtdiskurs und den Interessen einer partikularen standortfixierten Gruppierung verpflichtet ist, sondern sich sehr viel globaler orientieren kann und z.B. auf die europäische Antidiskriminierungsrichtlinie oder die Menschenrechte der ersten und zweiten Generation Bezug nehmen kann. Was damit deutlich wird ist, dass die zur Sicherung des urbanen Zusammenlebens zunehmend wichtig werdenden kritischen Debatten zwar durch die positionelle Selbstbehauptung von lokalen Diskursgemeinschaften behindert werden, sie aber durch eine umfassende Beteiligung aller Gesellschaftsmitglieder überwunden werden können, dass der Streit um die lokale Deutungsmacht letztlich die Entstehung von global orientierten und am Allgemeininteresse ausgerichteten Zivilgesellschaften nur fördern dürfte und damit zu einer nachhaltigen Akkommodation der Lokalgesellschaft auf Mobilität und Diversität beitragen dürfte.
4.2.2 Mobilisierung der praktischen Vernunft Es mag sein, dass die Alltagsroutine sehr stark durch die praktische Vernunft geprägt ist, und dass sich dazu schrittweise eine passende soziale Grammatik urbanen Zusammenlebens entwickelt hat. Aber wie sich erweist, sind dabei immer wieder neue Verwerfungen, Probleme und Konflikte aufgetreten, die bis heute nicht so einfach zu bewältigen sind. Und außerdem provozieren sie Machtdiskurse, die positionell verhaftet noch zusätzliche Probleme bescheren. Dennoch bahnt sich heute im Übergang zur Postmoderne, wie gezeigt, eine neue Entwicklung an, weil, wie Ulrich Beck das in seinen Arbeiten vielfach belegt hat, ganz neue Reflexionspotentiale gefragt sind. Und bedenkt man dabei auch noch, dass die europäische Stadt längst als das wichtigste Modell für Lokalgesellschaften dient, dann bekommt man einen Eindruck davon, welche Bedeutung in diesem Zusammenhang reflexiven Instanzen zukommen dürfte. Welche Reflexionspotentiale erscheinen von hier aus besonders wichtig? Die formalen Systeme müssen auf den verschiedenen Ebenen auf ihre Inklusionsfähigkeit, ihre Angepasstheit und ihre Mobilitätspassung hin überdacht werden und im globalen Kontext eingeschätzt werden. Der Maßstab dafür bleibt 238
freilich die Viabilität des Alltags. Man kann es auch noch etwas präziser mit der Begrifflichkeit von Paolo Virno (Virno 2005) definieren und auf die durch die „Existenzweise der Vielen als Viele“ bewirkte Dynamik verweisen, die angemessen, d.h. durch formale Systeme eingebunden sind, lebensweltlich anerkannt werden und im Rahmen von zivilgesellschaftlicher Beteiligung aktiv sein können. Die „Angemessenheit“ könnte dabei nach dem bemessen werden, was, um den amerikanischen Rechtsphilosophen John Rawls (2007) zu zitieren, mit „Gerechtigkeit als Fairness“ bezeichnet werden könnte. Theoretisch ist dies einleuchtend. Praktisch bedeutet das aber, sich der ganzen Komplexität der Fragestellung bewusst zu werden und an der richtigen Stelle nachzuhaken und angemessen, nämlich sinnhaft adäquat nachzufragen. Dies lässt sich vielleicht am einfachsten am Beispiel eines Lokalspieles, einer Fußballveranstaltung auf lokaler Ebene147 demonstrieren: 1.
2.
Die auf der Basis der „Existenzweise der Vielen als Viele“ unter dem Dach der urbanen Grammatik entwickelte Routine wirkt sich bereits dort aus, wo eine gute Mannschaft zusammen gestellt werden muss. Die Routine des Alltags führt dazu, dass für den Spielstart auf ein entsprechendes Drehbuch zurück gegriffen wird, das die Aufmerksamkeit thematisch zentriert und auf die sportlichen Fertigkeiten der potentiellen Mitspieler lenkt. Die Hautfarbe oder andere mögliche Aspekte bleiben in diesem Drehbuch aus diesem Grund ausgeblendet, weil es um Differenzen geht, die für die Vereinsmitgliedschaft im Allgemeinen und im Fall des Fußballspiels im Besonderen eigentlich konstitutiv belanglos sind. Was ist aber, wenn die hier aus pragmatischen Gründen ignorierten Distinktionen dennoch zur Distinktionslinie gemacht und im Blick auf das Spiel für bedeutsam erklärt werden?148 Damit gerät das Spiel in einen neuen Kontext. Es wird zum Gegenstand einer Aufführung. Der Sportplatz wird im klassi-
147
Es reicht ein Wettkampf auf Bezirksliga-Ebene aus. Ein Beispiel von vielen: Am 5. Oktober 2006 heißt es in Spiegel online: „Nach erneuten rassistischen Übergriffen im deutschen Fußball droht dem Oberligisten Hallescher FC eine harte Strafe. Im Punktspiel bei Sachsen Leipzig war vor allem der dunkelhäutige Adebowale Ogungbure mit Affenrufen beleidigt worden. Zudem wurde gegen zwei Personen aus dem Hallenser Fanblock, die den Hitlergruß gezeigt hatten, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.“ Ähnlich heißt es am 24. Februar 2006 in der Badischen Zeitung zum Thema “ Von Entgleisungen am Spielfeldrand: Während eines Kreisligaspiels fallen an der Seitenlinie bei einem Wortgefecht rassistische Sprüche: „Scheißkanake!“ – „Scheißtürke!“ – „Halt’s Maul!“ – Ersin Duman sagt, dass er das neulich alles zu hören bekommen hat. (... )Duman ist seit dieser Saison Trainer des FC Mesopotamien in der Kreisliga B, Staffel III. In der Mannschaft spielen vor allem Ausländer – Kurden, Italiener, Albaner – und ein paar Deutsche, "wir sind eine kosmopolitische Mannschaft. Multikulti sozusagen".”
148
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3.
4.
schen Sinn zur politischen Arena. Im Rahmen dieser öffentlichen Inszenierung spielen ganz andere Dinge eine Rolle. Hier wird schon auf der Ebene einer Bezirksliga „Lokalgesellschaft“ heraufgeführt und symbolisch präsentiert. Es werden Beschimpfungen und rassistische Gesänge angestimmt, Handgreiflichkeiten aufgeführt, nationalstaatlich orientierte Inszenierungen werden aufgeboten. Damit soll die konkrete Situation ins richtige Licht gerückt, der gewünschten Machtordnung das „erforderliche“ Gesicht und die entsprechende Durchschlagskraft verliehen werden. Im Rahmen der öffentlichen In-Szene-Setzung werden Differenzen heraufgeführt und an vorher belanglosen Aspekten festgemacht. Die zunächst noch bedeutungslose Abstufung einer Hautfarbe wird zum Indikator einer auf Unentrinnbarkeit stilisierten Differenzlinie, die nicht nur markiert, thematisiert und signiert, sondern gleichzeitig auch noch diskreditiert, ja stigmatisiert wird, um den Spieler als Spieler auszuschließen.
Wo anschließend in der Fußballöffentlichkeit solche Fälle aufgriffen werden und darüber debattiert wurde, ging es zunächst einmal nicht darum, warum der Rassismus in den Fußballstadien um sich greift, sondern es wird die Existenz eines Rassismus geleugnet, weil es ja nicht um Spiele zwischen Nationalmannschaften, sondern um die Bezirksliga geht. Da könne deshalb gar nichts gewesen sein. Man habe zumindest überhaupt nichts mitbekommen. Und wenn sich dann Zeugen finden, die die rassistischen Sprüche bezeugen können, und es sich nun ganz offensichtlich nicht mehr um im „Eifer nationaler Kämpfe durchgegangene rassistische Bemerkungen“ handelt, sondern es um Beispiele für klassischen Rassismus geht, dann wird erst einmal beiden Seiten Rassismus vorgeworfen.149 In etwas kritischeren Presse-Medien allerdings kann man sich angesichts der Vielzahl der Vorfälle der Rassismusdiagnose nicht mehr verschließen und berichtet in der Regel ziemlich konsterniert über solche Spiele. Aber auch in diesen Fällen wird nicht auf die oben skizzierte Struktur verwiesen, innerhalb der Differenzen heraufgeführt werden, um eine symbolische Machtordnung herzustellen und zur Wirklichkeit zu erklären und es wird auch nicht auf die zuhandenen nationalen Erzählungen verwiesen, in die der Rassismus „wirkungsvoll“ eingebettet erscheint. Vielmehr konzentriert man sich auf das Phänomen einer sich ausbreitenden rechten Gesinnung und sucht nach Erklärungen im individuellen und ggf. auch lebensgeschichtlichen Umfeld (Elternhaus), sucht nach individuell verankerten Defekten (niedrige Qualifikation, Arbeitslosigkeit), denen diese Gesin149
So ebenfalls in den zuvor belegten beiden Fällen von Halle und Baden, die geographisch betrachtet weit auseinander liegen und dennoch wenig unterschiedliche lokale Traditionen verkörpern.
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nung geschuldet sei. Das ist abgesehen von allem anderen nicht nur bequem, sondern es gefährdet auch nicht die nationale Inszenierung des Fußballspiels. Offenbar gibt es spätestens seit den Fußballweltmeisterschaften in Deutschland so etwas wie einen nationalen Konsens im Fußballsport. Der stillschweigend praktizierte „nationale Konsens“ ist hier der entscheidende Punkt. Ganz offensichtlich argumentiert man in diesen Fällen regelmäßig exakt innerhalb der Logik, die auch das Publikum in der Arena genauso wie den Zeitungsleser zu Hause bewegt: Man überlegt gemeinsam innerhalb der Installation einer deutschen Lokalgesellschaft, nur dass die Zeitung die vorliegende Form der Inszenierung kritisiert und an den Leser appelliert. Vertreter einer bürgerlichen Diskursgemeinschaft debattieren über die richtige Inszenierung. Man verübelt denen, die sich rassistisch gebärden die „Überinterpretation“ der Differenzlinie und deutet das naturalistisch als Erziehungs-, Bildungs- oder Anstandsdefizit. Der Zugang zu einem kritischen Diskurs bleibt auf diese Weise dennoch verstellt. Um die praktische Vernunft zu mobilisieren, müsste ein kritischer Diskus dekonstruktiv ansetzen: In einem kritischen Diskurs kommt es zunächst darauf an, die immer wieder aufgeführten nationalen Inszenierungen und sozialen Mythen als eine positionelle Selbstinszenierung zu dekonstruieren und die jeweils handlungsrelevanten Situationen aus einem wohlbedachten gemeinsamen Interesse heraus, aus gemeinsamer zivilgesellschaftlicher Perspektive heraus neu zu definieren. Praktisch bedeutet das zunächst, sich der Inszenierungen, sozialen Mythen usw. in ihrer Komplexität bewusst zu werden, ihre Verankerung im Alltagsleben zu identifizieren und entsprechend auf sinnhafte Adäquanz hin zu befragen. Das verlangt, um beim Beispiel zu bleiben, von der Zeitung oder dem Verein aber noch keine sozialwissenschaftliche Analyse. Wenn man sich darüber klar ist, dass im Stadion Lokalgesellschaft positionell aufgeführt und rituell untermalt wird (Verankerung im Alltagsleben), dann kann man, einfach indem man auf das Interesse aller hier Beteiligten Bezug nimmt und keinen farbigen Mitspieler ausklammert, ohne weiteres die Belanglosigkeit der Hautfärbung klar machen und gleichzeitig weitere künstlich heraufgeführte Merkmale innerhalb einer wohlverstanden Routine eines Fußballspiels dekonstruieren, und man kann plausibel machen, dass urbanes Zusammenleben auch generell nur dann gelingt, wenn man wohlwollend distanziert mit dem anderen umgeht. Der kritische Diskurs besteht in diesem Fall darin, die aufgeführte und rassistisch besetzte Differenzlinie und damit die Konstruktion einer rassistisch imprägnierten Wirklichkeit ins Blickfeld zu rücken. Die Plausibilität des Argumentes basiert hier auf einer ganz pragmatischen Sicht der Dinge, appelliert an eine situationsangemessene Effektivität des All241
tagshandelns und verweist auf eine wohlbedachte Qualifizierung lokalgesellschaftlichen Handelns im Sinn der Frage nach „Gerechtigkeit als Fairness“. Beide Aspekte des Handelns, deren effektive und faire Ausrichtung gehören letztlich zusammen, weil es ja sowohl darauf ankommt, eine möglichst erfolgversprechende Fußball-Gruppe zusammen zu stellen (was die Hautfarbe belanglos macht), also nur Kriterien zu berücksichtigen, die spielrelevant sind, als auch über Kriterien nachzudenken, die formal nicht spielrelevant sind, aber vielleicht aus sozialen oder anderen Gründen der Fairness halber mit in Betracht gezogen werden sollten. So wird man vielleicht eine Spielerin oder einen Spieler berücksichtigen, auch wenn er nicht oder noch nicht so gut ist, weil eben auch soziale oder genderspezifische Gründe positiv berücksichtigt werden sollten. Unter Umständen ist also eine positive Diskriminierung gefordert, weil nicht alle Differenzlinien aufgrund ihrer unterschiedlichen Distinktionsweise über einen Kamm geschoren werden dürfen, um dem Grundinteresse aller Beteiligten (im Sinn von John Rawls) bzw. einem zivilgesellschaftlich ausgehandelten Allgemeininteresse (im Sinn von Ulrich Beck) wirklich gerecht zu werden150. „Der Leitgedanke ist vielmehr, dass sich die ursprüngliche Übereinkunft auf die Gerechtigkeitsgrundsätze für die gesellschaftliche Grundstruktur bezieht. Es sind diejenigen Grundsätze, die freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden“ (Rawls 2009:28)
Beispiele belegen immer wieder, dass es darauf ankommt, die formalen Systeme, die als Teil der Grammatik des urbanen Zusammenlebens agieren, daraufhin zu prüfen, inwieweit sie in der Lage sind, sich auf Diversität einzustellen, d.h. im Fall des Fußballvereins wirklich die Mitspieler und Vereinsaktivisten ohne Rücksicht auf ihre Pigmentierung einzubeziehen. Genau das ist die Basis für zivilgesellschaftliche Aktivitäten. Wichtig ist eben nicht nur die konkrete Situation, sondern die zivilgesellschaftliche Debatte, die sich wiederum an die Öffentlichkeit richtet. Sie mag sich am konkreten Fall entzündet haben, aber sie steht hier insgesamt zur Disposition. Es geht darum, den cultural lag schrittweise argumentativ zu füllen und so nicht nur im Kontext einer lokalgesellschaftlich inszenierten politischen Arena, sondern generell für die Öffentlichkeit andere Argumente und Verweise zur Verfügung zu stellen. Im Fall der Moscheedebatte in Köln-Ehrenfeld hat sich gezeigt, dass kulturelle oder religiöse Differenzen in einem hoch mobilen Quartier strukturell keine Rolle spielen brauchen. Aber indirekt sind sie als Differenzlinien, dank der Art der Anwerbung der Generation Gastarbeiter wegen ihrer 150
Vgl. 2.3.1a)
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Unterschichtung mit einer sozial-strukturellen Zuweisung verknüpft worden und damit indirekt sehr wohl konstitutiv verankert und bestimmen dementsprechend bis heute bei der Platzierung des Einzelnen mit. Man kann jenen in einer säkularen Gesellschaft typischer Weise ignorierten kulturell-religiösen Hintergrund zwar politisch-korrekt ignorieren; aber das rächt sich offenbar spätestens dann, wenn autochthone Einwohner aufgehetzt werden und aufgefordert werden eine eigentlich problematische sozial-strukturelle Zuweisung zu verteidigen, indem man sie religiös auflädt und damit versucht, aus Unrecht Recht zu machen. Es ist natürlich auch der autochthonen Bevölkerung klar, dass sie in einer Einwanderungsgesellschaft leben und dass deshalb die autochthone Bevölkerung anerkannt werden müsste, wenn man da nicht die Kultur und die Religion der „Fremden“ mit ihrer Fremdheit ins Feld führen könnte. Die Aktivitäten von proKöln bestanden genau darin, in der Form einer „Geschäftsführung ohne Auftrag“ zunächst die Bevölkerung aufzuhetzen und dann sich der Verteidigung anzunehmen und dafür die Menschen religiös zu munitionieren. Als besonders „günstig“ erwies sich dabei immer wieder der global inszenierte Kampf der Kulturen, weil man auf diese Weise die Differenzlinie mit reichlich Phantasie als religiösethnische Grenze verkaufen kann. Das ist wiederum der entscheidende Schritt, um sich anschließend mit den zuhandenen nationalen Erzählungen einklinken zu können. Sie liefern den Kitt für diese sozialrassistische Konstruktion. An dieser Stelle wäre also eine positive Diskriminierung analog dem oben diskutierten Fußballspiel zu überlegen, damit das möglich wird, was Rawls fordert, nämlich die Basis für die Realisierung eines gemeinsamen Interesses zu schaffen. Der Sachverhalt besteht demnach aus zwei Seiten: Er verlangt einen neuen Blick auf das urbane Zusammenleben, bei dem nicht die Assimilation des Einzelnen an die Struktur der Gesellschaft, sondern die Akkommodation der Struktur auf den Einzelnen zum Ausgangspunkt genommen wird. Und er verlangt in Würdigung der situativen Vernunft dennoch genau hinzuschauen, weil mit der immer wieder aktualisierten Neutralisierung der Gesellschaft gegenüber individueller Differenz leicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Weil man im Großen und Ganzen ja im Quartier wohlwollend distanziert miteinander umzugehen gelernt hat, sieht man sich immer auch mit dem „Spezialfall“ konfrontiert, dass mit der Tolerierung von Diversität gleich jegliche Diversität hinter dem Schleier der Routine unsichtbar gemacht wird und man damit Unrecht und Diskriminierung mit in Kauf nimmt. Im konkreten Fall macht man sich damit auch noch leicht zum Spielball der rechten Szene. Allerdings scheitert die rechte Szene letztlich auch wiederum an der „Spezialität” des Falles. Weil man eben grundsätzlich distanziert miteinander umgeht, funktioniert das religiös-kulturelle Aufladen der sozial-strukturellen Differenzen auch wieder nicht richtig. Große Teile der Bevölkerung ignorieren einfach die rechten Aktivitäten. Und wenn 243
dann eine informelle soziale Grammatik auch nur ansatzweise von den offiziellen Repräsentanten der Gesellschaft unterstützt wird, dann stehen die Chancen für den Fortbestand eines qualifizierten Zusammenlebens nicht schlecht.
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Festzuhalten bleibt: dass gerade im Zeitalter des Übergangs zur Postmoderne eine zivilgesellschaftliche Debatte wichtig ist, um die Interessen der Vielen als Viele überhaupt zur Sprache zu bringen und entsprechend zu sichern, damit die Alltagsroutine wohlverstanden auf Mobilität und Diversität abgestimmt werden kann, dass in dieser Debatte die Interessen der Beteiligten gleichrangig und zugleich fair ausgehandelt werden müssen, weil es darum geht, einer zwar historisch entwickelten, aber heute globalgesellschaftlich ausgerichteten menschenrechtlichen Basis gegenüber gerecht entgegen zu treten und deshalb die Umstellung der Lokalgesellschaft auf wohlverstandene Routinen, d.h. die Akkommodation auf Mobilität und Vielfalt nur gelingen kann, wenn sie von einer sozial, ökonomisch wie ökologischglobalgesellschaftlich denkenden und handelnden Zivilgesellschaft begleitet wird, also die verschiedenen formalen Systeme der Stadtgesellschaft, die Infrastruktur, das soziale System, der Markt, die Bildung usw. hinreichend funktionieren, wenn die Rahmenbedingungen stimmen, dass schließlich aus einer Routine unter den Bedingungen von Diskriminierung oder Ausgrenzung keine wohlverstandene Routine entstehen kann, sondern nur, wie die Beispiele immer wieder belegen, Sozialrassismus, Ethnisierung oder Kulturalisierung.
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