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Adalbert Wollrab
Organische Chemie Eine Einführung für Lehramtsund Nebenfachstudenten 4. Auflage
Springer-Lehrbuch
Adalbert Wollrab
Organische Chemie Eine Einführung für Lehramts- und Nebenfachstudenten 4. Auflage
Prof. Adalbert Wollrab Pohlheim, Deutschland
ISSN 0937-7433 ISBN 978-3-642-45143-0 DOI 10.1007/978-3-642-45144-7
ISBN 978-3-642-45144-7 (eBook)
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Spektrum © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1999, 2002, 2009, 2014 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Planung und Lektorat: Rainer Münz, Sabine Bartels Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Springer Spektrum ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media www.springer-spektrum.de
Vorwort zur vierten Auflage Die vierte Auflage setzt mich in die angenehme Lage, das Buch „Organische Chemie“ up to date zu bringen, neuere Reaktionen, die Bedeutung erlangt haben, einzubringen und das Buch weiter auszugestalten. Dazu gehört eine Erweiterung des Kapitels „Die Molekülorbitaltheorie“ um ein Unterkapitel „Pericyclische Reaktionen“ und ein zusätzlicher Anhang „Namensreaktionen“ mit Kurzbeschreibungen der Namensreaktionen und Seitenhinweisen auf die Stellen des Buches, die die entsprechende Reaktion eingehend behandeln. Für die Durchsicht des Manuskripts und für wertvolle kollegiale Hinweise danke ich Herrn Prof. Dr. Georg Wittke, Universität Koblenz-Landau. Mein Dank gilt auch Herrn Dr. Rainer Münz, dem Cheflektor Chemie im Springer-Verlag und Frau Sabine Bartels, Projektmanagerin im Programmbereich Naturwissenschaften im Springer-Verlag für die angenehme Zusammenarbeit. Pohlheim, August 2013
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Vorwort zur dritten Auflage Die dritte Auflage des Buches Organische Chemie erlaubt mir, einem von Studenten geäußerten Wunsch nachzukommen und das Buch mit Übungsaufgaben und deren Lösungen zu ergänzen. Auch das Unterkapitel Molekülorbitaltheorie habe ich etwas erweitert. Für die Durchsicht dieses Kapitels und wertvolle kollegiale Hinweise möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Peter R. Schreiner, Justus-Liebig-Universität, Gießen, bedanken. Besonderen Dank schulde ich Frau Dr. Marion Hertel vom Springer Verlag für ihre kompetente Arbeit als Lektorin und für ihre konstruktiven Vorschläge. Sowohl ihr, als auch Frau Birgit Münch und Herrn Patrick Waltemate danke ich für die angenehme Zusammenarbeit bei dieser dritten Auflage des Buches. Pohlheim, im Mai 2009
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Vorwort zur zweiten Auflage Das zunächst im Verlag Vieweg erschienene Buch „Organische Chemie“ wurde vom Springer-Verlag übernommen, und deshalb erscheint die zweite Auflage in einem neuen Habitus. Die Neuauflage gibt mir die willkommene Gelegenheit, Druckfehler zu korrigieren. Den Lesern und Kollegen danke ich für nützliche Hinweise und Anregungen. Ebenso möchte ich mich bei Frau Dr. Marion Hertel für die gedeihliche Zusammenarbeit bedanken. Pohlheim, im Juni 2002
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Vorwort zur ersten Auflage
Vorwort zur ersten Auflage Das Lehr- und Lernbuch „Organische Chemie“ ist vor allem ein Angebot an Studierende des Lehramts Chemie und Chemielehrer sowie eine Grundlage für Studierende der Lebensmittelchemie und Pharmazie, der Biologie und Medizin. Langjährige fachliche und didaktische Erfahrungen mit Vorlesungen und Seminaren, mit Staatsexamensarbeiten und Prüfungen haben die Konzeption bestimmt, und Anregungen von Studierenden wurden berücksichtigt. Das Lehr- und Lernbuch ist sowohl eine wichtige Ergänzung für Vorlesungen, Seminare und Praktika, in denen die Organische Chemie – wegen des verfügbaren Lehrdeputats – im allgemeinen nur exemplarisch behandelt wird, es ist aber auch zur Vorbereitung auf Prüfungen geeignet. Verständnis und Kenntnisse werden lerngerecht vorbereitet und die Lernprozesse durch übersichtliche Abbildungen unterstützt Stoffklassen werden – ähnlich wie in der Fachsystematik – als Gliederungsprinzip gewählt. Dieses strukturelle Konzept mit funktionellen Gruppen als Erkennungsmerkmalen und reaktiven Zentren hat sich bewährt, um eine strukturelle Übersicht zu vermitteln, Themen wie Erdöl und Waschmittel, die für den Chemieunterricht wichtig sind, werden in geschlossener Form behandelt. Biochemische und bioorganische Aspekte werden besonders berücksichtigt, um der bevorzugten Fächerkombination Chemie/Biologie im Lehramt gerecht zu werden. In den verschiedenen Kapiteln wird der Rückgriff auf Vorkenntnisse weitgehend vermieden. Bezüge und Vernetzungen werden durch konkrete Querverweise hergestellt, um das Verständnis zu vertiefen und Vergleiche zu ermöglichen sowie Lernsequenzen zu verdeutlichen und das Prinzip des Spiralen Curriculums umzusetzen. Jede Stoffklasse zeigt charakteristische Reaktionen, daher erscheint es sinnvoll, die organisch-chemischen Reaktionen im Rahmen der entsprechenden Stoffgruppe zu behandeln. Dies hat den Vorteil, daß bei den Reaktionen auf konkrete Beispiele zurückgegriffen werden kann, die in logischem Verbund mit dem zu erlernenden Stoffgebiet stehen. Farbstoffe und Kunststoffe sind deshalb mit den Stoffklassen in Beziehung gesetzt und nicht separat aufgeführt. Großtechnische Synthesen werden berücksichtigt und in einigen Kapiteln auch von den im Labor üblichen Synthesen getrennt abgehandelt. Reaktionsmechanismen sind den spezifischen Reaktionen zugeordnet und werden gründlich und einsichtig diskutiert. Die einzelnen Reaktionsschritte werden detailliert formuliert und ausführlich kommentiert, um das Verständnis zu erleichtern und Zusammenhänge zu erkennen. Durch Wiederholungen wird eine Kenntnisstabilisierung ermöglicht. Abbildungen werden übersichtlich und wahrnehmungsaktiv präsentiert, um den Lernprozeß und die Informationsspeicherung zu erleichtern. Die räumliche Anordnung der funktionellen Gruppen und des Molekülgerüstes stimmt in Edukten und Produkten überein: Strukturelle Änderungen sind deshalb unmittelbar erkennbar. Durch ,,Reaktionspfeile“ werden die funktionellen Änderungen bzw. die Umgruppierungen von Bindungen operativ unterstützt. Abweichend von üblichen Darstellungen werden homolytische Spaltungen durch reguläre Pfeile symbolisiert. Die integrierten Abbildungen erfüllen die Funktion von Mind Maps und sind wichtige Lernhilfen. Bei der Nomenklatur werden die verschiedenen Benennungen bewußt berücksichtigt. Trivialnamen – wie Essigsäure und Zitronensäure – und rationelle Namen – wie Alkohole und Aldehyde – werden verwendet, da diese Bezeichnungen in der Praxis üblich und den Ler-
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nenden gebräuchlich sind. Auch später in ihrem Unterricht, der von der Erfahrungswelt der Schüler ausgehen soll, werden Lehrer diese Trivialnamen verwenden. Die systematischen Namen werden gleichfalls eingeführt und beispielhaft darlegt, um den Rückgriff auf die Chemieliteratur und Chemikalienverzeichnisse zu ermöglichen. Theoretische Konzepte (u. a. Mesomerie) werden im allgemeinen in den entsprechenden Stoffklassen integriert behandelt, um den direkten Bezug und die praktische Bedeutung aufzuzeigen. Die optische Ismomerie wird wegen der allgemeinen und übergreifenden Bedeutung separat vorgestellt. Bei der Konzeption der „Organische Chemie“ wurden Bedürfnisse der Studierenden in den verschiedenen Bereichen ebenso berücksichtigt wie fachliche Anforderungen an eine qualifizierte Übersicht der Organischen Chemie, um die Querschnittfunktion mit Fächern aufzuzeigen, die als Life Sciences bezeichnet werden. An dieser Stelle möchte ich allen jenen danken, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Vor allem schulde ich Herrn Prof. Dr. Günther Meier, Universität Gießen, Dank für das Durchlesen des Manuskripts und für die vielen wertvollen kollegialen Ratschläge und Hinweise und Herrn Prof. Dr. Georg Wittke, Universität Koblenz-Landau, für das Korrekturlesen und die freundlichen Ratschläge. Herrn Prof. Dr. Heinz Schmidkunz, Universität Dortmund, danke ich, daß er mich zum Schreiben dieses Buches ermunterte. Besonderen Dank schulde ich Frau Dr. Angelika Schulz, Verlag Vieweg, für ihre kompetente Arbeit als Lektorin, für ihre konstruktiven Vorschläge, ihre Ratschläge und das Verständnis, das sie dieser Arbeit entgegenbrachte. Schon alleine die Umsetzung des ursprünglich mit dem Atari geschriebenen Manuskripts warf große Probleme auf, die mit ihrer Hilfe bravourös gemeistert wurden. Frau Heidi Zimmermann, Universität Dortmund, hat gekonnt und mit Sorgfalt die mit dem Stad-Programm gezeichneten Abbildungen überzeichnet und alle Formeln neu geschrieben, eine riesige Arbeit, für die ich ihr Dank schulde, wie auch Herrn Prof. Richard P. Kreher, Universität Dortmund, für die Anregungen und die angebrachten Korrekturen bei den Graphiken. Dank gebührt auch dem Verlag Vieweg, der die Veröffentlichung des Buches ermöglichte. Den größten Dank allerdings schulde ich meiner Frau, die es klaglos hingenommen hat, daß ich die vielen Stunden am Computer saß, mich ihr nicht widmen konnte und die mir vieles, das ich hätte in dieser Zeit tun müssen, abgenommen hat. Pohlheim, im Juni 1999
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Inhaltsverzeichnis
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Einführung ...................................................................................................................... 1 1.1 Das Kohlenstoffatom unter die Lupe genommen ................................................... 1 1.2 Die funktionellen Gruppen organischer Verbindungen .......................................... 5 1.3 Die wellenmechanische Beschreibung der Elektronen im Kohlenstoffatom ........ 10 1.3.1 Die Wellennatur des Elektrons ............................................................... 10 1.3.2 Quantenzahl und Energieniveau ............................................................. 11 1.3.3 Orbitale und kovalente Bindungen ......................................................... 13 1.3.4 Hybridorbitale ......................................................................................... 17 1.3.5 Bindungslängen und Bindungsenergien der Kohlenstoff-KohlenstoffEinfach-, Doppel- und Dreifachbindung ................................................. 27 1.3.6 Die räumliche Anordnung der Hybridorbitale ........................................ 29 1.4 Die polare kovalente Bindung und der induktive Effekt ...................................... 30 1.5 Modellvorstellungen und Gegenstandsmodelle in der Organischen Chemie ....... 32 1.6 Die chemischen Formeln ...................................................................................... 34 1.7 Die Nomenklatur organischer Verbindungen ....................................................... 39 1.7.1 Die Nomenklatur der n-Alkane ............................................................... 39 1.7.2 Die Benennung verzweigter Alkane ....................................................... 40 1.7.3 Die Benennung von Verbindungen mit funktionellen Gruppen.............. 43 1.7.4 Kriterien für die Wahl der Hauptkette .................................................... 46 Übungsaufgaben ............................................................................................................. 48 Lösungen ........................................................................................................................ 51 Alkane ............................................................................................................................ 54 2.1 Benennung der Alkane ......................................................................................... 54 2.2 Homologe Reihen der Alkane .............................................................................. 54 2.3 Kettenisomere ....................................................................................................... 55 2.4 Konformationen des Ethans und Butans............................................................... 55 2.4.1 Konformation des Ethans ........................................................................ 55 2.4.2 Konformationen des Butans .................................................................... 58 2.5 Physikalische Eigenschaften der Alkane .............................................................. 59 2.6 Vorkommen der Alkane ....................................................................................... 62 2.7 Synthese der Alkane ............................................................................................. 63 2.7.1 Darstellung der Alkane durch katalytische Hydrierung .......................... 64 2.7.2 Alkane aus Alkylhalogeniden ................................................................. 65 2.7.3 Alkane aus Alkalisalzen der Carbonsäuren ............................................. 66 2.8 Reaktionsgleichung und Reaktionsmechanismus ................................................. 67 2.9 Reaktionen der Alkane ......................................................................................... 68 2.9.1 Chlorierung und Bromierung der Alkane ............................................... 69 2.9.2 Einführung der Sulfonylchlorid- und Sulfogruppe in Alkane ................. 74 2.9.3 Die Oxidation von Alkanen mit Sauerstoff ............................................. 76
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Inhaltsverzeichnis 2.10 Methoden zur Trennung verzweigter und unverzweigter Alkane ........................ 80 2.10.1 Trennung mit Molekularsieb 0,5 nm....................................................... 80 2.10.2 Einschlußverbindungen mit Harnstoff .................................................... 80 Übungsaufgaben ............................................................................................................. 81 Lösungen ........................................................................................................................ 82 Alkene ............................................................................................................................ 84 3.1 Nomenklatur ......................................................................................................... 84 3.2 Bedeutung der Alkene .......................................................................................... 85 3.3 Die σ- und π-Bindung .......................................................................................... 85 3.4 Die Struktur der Alkene ....................................................................................... 85 3.5 Die cis-trans-Isomerie in Alkenen ........................................................................ 85 3.5.1 Die Z/E-Nomenklatur ............................................................................. 86 3.5.2 Die cis-trans-Isomerisierung ................................................................... 88 3.6 Darstellung der Alkene......................................................................................... 89 3.6.1 Eliminierungsreaktionen zur Darstellung der Alkene ............................. 90 3.6.2 Die Reaktionsmechanismen E1 und E2 .................................................. 94 3.6.3 Die Saytzew- und die Hofmann-Regel ................................................... 98 3.6.4 Darstellung der Alkene mit Organometallverbindungen ...................... 100 3.7 Reaktionen der Alkene ....................................................................................... 102 3.7.1 Die Mechanismen von Additionsreaktionen ......................................... 102 3.7.2 Die Markownikow-Regel ..................................................................... 107 3.7.3 Wagner-Meerwein-Umlagerungen ....................................................... 109 3.7.4 Elektrophile Additionsreaktionen ......................................................... 110 3.7.5 Cycloadditionen .................................................................................... 116 3.7.6 Radikalische Additionen ....................................................................... 126 3.7.7 Additionsreaktionen in Gegenwart von Metallkatalysatoren ................ 134 3.7.8 Polymerisationsreaktionen .................................................................... 136 3.7.9 Die Reaktionsmechanismen der Polymerisationsreaktionen ................ 137 3.8 Diene und Polyene ............................................................................................. 141 3.9 Die Mesomerie ................................................................................................... 143 3.9.1 Mesomere Effekte ................................................................................. 144 3.10 Reaktionen der Diene ......................................................................................... 146 3.10.1 Die Addition von Brom an Butadien .................................................... 146 3.10.2 Kinetisch und thermodynamisch gesteuerte Reaktionen ...................... 147 3.10.3 Polymerisationsreaktionen des Butadiens ............................................. 148 3.10.4 Die Diels-Alder-Reaktion ..................................................................... 148 3.10.5 Die Cope-Umlagerung .......................................................................... 149 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 150 Lösungen ...................................................................................................................... 152 Alkine........................................................................................................................... 156 4.1 Nomenklatur der Alkine ..................................................................................... 156 4.2 Die Dreifachbindung und die Struktur der Alkine ............................................. 156 4.3 Das Acetylen ...................................................................................................... 157 4.3.1 Die großtechnische Herstellung des Acetylens ..................................... 157
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Darstellung der Alkine ....................................................................................... 158 4.4.1 Darstellung von Ethin aus Calziumcarbid............................................. 158 4.4.2 Die Dehalogenierung von Tetrahalogenalkanen ................................... 158 4.4.3 Dehydrohalogenierung vicinaler oder geminaler Dihalogenalkane ...... 158 4.4.4 Die Alkylierung von Natriumacetylid ................................................... 159 4.5 Reaktionen der Alkine ........................................................................................ 159 4.5.1 Saure Eigenschaften der Alkine ............................................................ 161 4.5.2 Reaktionen mit Alkinylanionen als Nukleophil .................................... 162 4.5.3 Die Oligomerisierung der Alkine .......................................................... 164 4.5.4 Oxidationsreaktionen ............................................................................ 165 4.5.5 Reduktion der Alkine ............................................................................ 166 4.5.6 Additionen an Alkine ............................................................................ 167 4.5.7 Nucleophile Additionen an die Dreifachbindung der Alkine ................ 170 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 172 Lösungen ...................................................................................................................... 173 Alicyclische Verbindungen ........................................................................................ 176 5.1 Nomenklatur ....................................................................................................... 176 5.2 Physikalische Eigenschaften der Cycloalkane.................................................... 177 5.3 Der Cyclopropan- und Cyclobutanring .............................................................. 178 5.4 Der Cyclopentanring .......................................................................................... 180 5.5 Der Cyclohexanring ........................................................................................... 180 5.6 Die cis-trans-Isomerie von Substituenten in Ringverbindungen ........................ 186 5.7 Polycyclische Alkane ......................................................................................... 187 5.8 Synthese der Cycloalkane................................................................................... 189 5.8.1 Synthese des Cyclopropans................................................................... 189 5.8.2 Die Synthese mehrgliedriger alicyclischer Verbindungen .................... 191 5.9 Reaktionen der Cycloalkane ............................................................................... 192 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 193 Lösungen ...................................................................................................................... 194 Aromatische Verbindungen ....................................................................................... 196 6.1 Benzol und seine Derivate .................................................................................. 196 6.2 Die Valenzbindungstheorie ................................................................................ 197 6.3 Die Molekülorbitaltheorie .................................................................................. 201 6.3.1 Pericyclische Reaktionen ...................................................................... 210 6.4 Nomenklatur der Benzolderivate ........................................................................ 220 6.5 Gewinnung und Verwendung von Benzol.......................................................... 222 6.6 Reaktionen des Benzols ...................................................................................... 223 6.6.1 Die elektrophile aromatische Substitution (SE) ..................................... 223 6.6.2 Die Zweitsubstitution ............................................................................ 235 6.6.3 Kern- und Seitenkettenhalogenierung ................................................... 247 6.6.4 Nukleophile aromatische Substitutionen............................................... 247 6.6.5 Die radikalische Addition am Benzol ................................................... 249 6.6.6 Birch-Reduktion an Aromaten .............................................................. 250 6.7 Kriterien der Aromatizität .................................................................................. 251
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Überblick über aromatische Verbindungen ........................................................ 253 6.8.1 Benzoide Aromaten .............................................................................. 253 6.8.2 Nichtbenzoide Aromaten ...................................................................... 253 6.8.3 Heterocyclische Aromaten .................................................................... 255 6.8.4 Polycyclische nichtkondensierte Aromaten .......................................... 260 6.8.5 Kondensierte polycyclische Aromaten ................................................. 261 6.8.6 Polychlorierte aromatische Verbindungen ............................................ 266 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 269 Lösungen ...................................................................................................................... 270 Erdöl ............................................................................................................................ 273 7.1 Entstehung des Erdöls ........................................................................................ 273 7.2 Erdölvorkommen ................................................................................................ 273 7.3 Inhaltsstoffe des Erdöls ...................................................................................... 274 7.4 Destillationsfraktionen des Erdöls ...................................................................... 275 7.5 Kennzahlen von Kraftstoffen ............................................................................. 278 7.5.1 Die Octanzahl ....................................................................................... 278 7.5.2 Die Cetanzahl........................................................................................ 279 7.6 Das Cracken ....................................................................................................... 280 7.6.1 Thermisches Cracken ............................................................................ 280 7.6.2 Katalytisches Cracken........................................................................... 284 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 289 Lösungen ...................................................................................................................... 290 Optische Isomerie ....................................................................................................... 292 8.1 Das Licht als elektromagnetische Welle ............................................................ 292 8.1.1 Natürliches und linear polarisiertes Licht ............................................. 293 8.2 Die optische Aktivität......................................................................................... 295 8.2.1 Die spezifische Drehung ....................................................................... 296 8.3 Die Chiralität ...................................................................................................... 298 8.3.1 Chirale und achirale Moleküle .............................................................. 299 8.4 Enantiomere ....................................................................................................... 305 8.4.1 Racemische Gemische .......................................................................... 305 8.5 Das asymmetrische Kohlenstoffatom ................................................................. 307 8.5.1 Absolute und relative Konfiguration..................................................... 308 8.6 Nomenklatur chiraler Verbindungen .................................................................. 311 8.6.1 Die D/L-Nomenklatur ............................................................................ 311 8.6.2 Die R/S-Nomenklatur ............................................................................ 314 8.7 Diastereomere..................................................................................................... 318 8.7.1 Meso-Verbindungen ............................................................................. 320 8.7.2 Optische Isomerie in alicyclischen Verbindungen ................................ 321 8.8 Optisch aktive Verbindungen ohne asymmetrische Kohlenstoffatome .............. 323 8.8.1 Axiale Chiralität.................................................................................... 323 8.8.2 Planare Chiralität .................................................................................. 325 8.8.3 Helicität ................................................................................................ 325 8.9 Bildung asymmetrischer C-Atome bei chemischen Reaktionen ........................ 326 8.9.1 Reaktionen mit prochiralen Verbindungen ........................................... 326
Inhaltsverzeichnis 8.9.2 8.9.3
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Die asymmetrische Synthese ................................................................ 328 Räumliche Auswirkungen bei Reaktionen am asymmetrischen C-Atom................................................................. 330 8.10 Trennung von Enantiomeren aus racemischen Gemischen ................................ 331 8.11 Die Chiralität in lebenden Organismen .............................................................. 334 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 338 Lösungen ...................................................................................................................... 340 9 Halogenalkane............................................................................................................. 345 9.1 Nomenklatur ....................................................................................................... 345 9.2 Eigenschaften und Bedeutung der Halogenalkane ............................................. 345 9.3 Darstellung der Halogenalkane .......................................................................... 346 9.3.1 Halogenierung von Alkanen ................................................................. 346 9.3.2 Halogenalkane aus Alkoholen .............................................................. 346 9.3.3 Halogenderivate aus Alkenen ............................................................... 347 9.3.4 Die Gewinnung von Fluoralkanen ........................................................ 347 9.4 Reaktionen der Halogenalkane ........................................................................... 349 9.4.1 Hydrogenolyse von Halogenalkanen .................................................... 349 9.4.2 Reaktion mit Metallen........................................................................... 350 9.4.3 Eliminierungsreaktionen ....................................................................... 350 9.4.4 Die Arbuzow-Michaelis-Reaktion ........................................................ 351 9.4.5 Nucleophile Substitutionsreaktionen .................................................... 351 9.5 Die aliphatische nucleophile Substitution (SN-Reaktion) ................................... 353 9.6 Reaktionsmechanismen der aliphatischen nucleophilen Substitution ................ 357 9.6.1 SN1-Mechanismus ................................................................................. 358 9.6.2 Der SN2-Mechanismus .......................................................................... 362 9.6.3 Faktoren, die eine nucleophile Substitution beeinflussen ..................... 364 9.6.4 Die nucleophile Substitution und die Eliminierung als Konkurrenzreaktionen ..................................................................... 367 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 368 Lösungen ...................................................................................................................... 369 10 Alkohole ....................................................................................................................... 373 10.1 Nomenklatur der Alkohole ................................................................................. 373 10.2 Einteilung der Alkohole ..................................................................................... 374 10.3 Struktur der Alkohole ......................................................................................... 375 10.4 Physikalische Eigenschaften der Alkohole ......................................................... 375 10.5 Physiologische Eigenschaften ............................................................................ 377 10.5.1 Physiologische Eigenschaften des Methanols ....................................... 377 10.5.2 Physiologische Eigenschaften des Ethanols.......................................... 377 10.6 Synthese der Alkohole........................................................................................ 380 10.6.1 Großtechnische Synthese der Alkohole ................................................ 380 10.6.2 Darstellung der Alkohole im Labor ...................................................... 387 10.7 Reaktionen der Alkohole .................................................................................... 396 10.7.1 Schwach saure Eigenschaften der Alkohole ......................................... 396 10.7.2 Alkohole als Basen und Nucleophile .................................................... 396 10.7.3 Basizität und Nucleophilie .................................................................... 397
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10.7.4 Umsetzung von Alkoholen zu Alkylhalogeniden ................................. 400 10.7.5 Die Dehydratisierung ............................................................................ 404 10.7.6 Veresterung von Alkoholen .................................................................. 405 10.7.7 Oxidation von Alkoholen...................................................................... 411 10.7.8 Die reduktive Desoxidierung von Alkoholen ....................................... 419 10.7.9 Die Mitsunobu-Reaktion....................................................................... 420 10.8 Alkoholische Getränke ....................................................................................... 422 10.8.1 Bier ....................................................................................................... 422 10.8.2 Weine .................................................................................................... 430 10.8.3 Alkoholdestillate ................................................................................... 432 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 433 Lösungen ...................................................................................................................... 434 11 Phenole ........................................................................................................................ 438 11.1 Nomenklatur der Phenole ................................................................................... 438 11.2 Eigenschaften der Phenole ................................................................................. 440 11.3 Verwendung ....................................................................................................... 440 11.4 Verfahren zur Phenolherstellung ........................................................................ 441 11.5 Reaktionen der Phenole ...................................................................................... 443 11.5.1 Nachweis, Esterbildung und Acidität der Phenole ................................ 444 11.5.2 Elektrophile Substitutionen am Phenol ................................................. 445 11.5.3 Die Oxidation von Phenolen ................................................................. 450 11.6 Phenolische Verbindungen in der Natur............................................................. 452 11.6.1 Pflanzenfarbstoffe ................................................................................. 452 11.6.2 Gerbstoffe ............................................................................................. 454 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 456 Lösungen ...................................................................................................................... 457 12 Ether ............................................................................................................................ 459 12.1 Nomenklatur der Ether ....................................................................................... 459 12.2 Struktur und physikalische Eigenschaften .......................................................... 460 12.3 Synthese der Ether .............................................................................................. 461 12.3.1 Synthese von Methyl-tert-butylether .................................................... 461 12.3.2 Dehydratisierung von Alkoholen .......................................................... 461 12.3.3 Die Williamson-Synthese ..................................................................... 463 12.3.4 Methylierung von Phenolen mit Diazomethan ..................................... 463 12.4 Reaktionen der Ether .......................................................................................... 463 12.4.1 Die Etherspaltung mit Säuren ............................................................... 464 12.4.2 Die Autoxidation der Ether ................................................................... 465 12.4.3 Die Claisen-Umlagerung ...................................................................... 467 12.5 Cyclische Ether .................................................................................................. 467 12.5.1 Nomenklatur der cyclischen Ether ........................................................ 467 12.5.2 Eigenschaften cyclischer Ether ............................................................. 469 12.5.3 Epoxide ................................................................................................. 469 12.5.4 Cyclische Ether mit fünf- und sechsgliedrigem Ring ........................... 473 12.5.5 Kronenether .......................................................................................... 473
Inhaltsverzeichnis
XV
Übungsaufgaben ........................................................................................................... 476 Lösungen ...................................................................................................................... 477 13 Aldehyde und Ketone ................................................................................................. 479 13.1 Nomenklatur der Aldehyde und Ketone ............................................................. 479 13.2 Struktur und physikalische Eigenschaften .......................................................... 481 13.3 Synthese der Aldehyde und Ketone.................................................................... 483 13.3.1 Wichtige Aldehyde und Ketone und ihre großtechnische Synthese ..... 483 13.3.2 Die Synthese aliphatischer Aldehyde.................................................... 488 13.3.3 Synthese aromatischer Aldehyde .......................................................... 489 13.3.4 Die Synthese aliphatischer Ketone........................................................ 497 13.3.5 Synthese von Arylketonen .................................................................... 500 13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone ................................................................ 501 13.4.1 Addition von C-Nucleophilen an Aldehyde und Ketone ...................... 504 13.4.2 Die Addition von O-Nucleophilen an Aldehyde und Ketone ............... 512 13.4.3 Die Addition von N-Nucleophilen an Aldehyde und Ketone ............... 515 13.4.4 Die Addition von S-Nucleophilen an Aldehyde und Ketone ................ 523 13.4.5 Additionsreaktionen an α,β-ungesättigten Carbonylverbindungen ....... 525 13.4.6 Oligomere und Polymere der Aldehyde ................................................ 528 13.4.7 Die C–H-Acidität von Aldehyden und Ketonen ................................... 530 13.4.8 Reduktion von Carbonylverbindungen ................................................. 541 13.4.9 Die Oxidation von Aldehyden .............................................................. 544 13.4.10 Die Oxidation von Ketonen .................................................................. 548 13.4.11 Disproportionierung von Aldehyden..................................................... 551 13.4.12 Nachweisreaktionen .............................................................................. 552 13.5 Vorkommen von Aldehyden und Ketonen in der Natur ..................................... 553 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 555 Lösungen ...................................................................................................................... 558 14 Chinone........................................................................................................................ 565 14.1 Darstellung der Chinone ..................................................................................... 566 14.2 Reaktionen der Chinone ..................................................................................... 566 14.2.1 Die Reduktion von Chinonen ................................................................ 566 14.2.2 Elektrophile Addition............................................................................ 568 14.2.3 Nucleophile Addition ............................................................................ 568 14.2.4 Die Diels-Alder-Reaktion ..................................................................... 570 14.2.5 Bildung von Charge-Transfer-Komplexen ........................................... 570 14.3 Vorkommen der Chinone in der Natur ............................................................... 572 14.3.1 Pilzfarbstoffe ......................................................................................... 572 14.3.2 Der Elektronentransport in der Atmungskette ...................................... 572 14.3.3 Derivate des Naphthochinons ............................................................... 575 14.3.4 Alizarin, ein Derivat des Anthrachinons ............................................... 576 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 577 Lösungen ...................................................................................................................... 578
XVI
Inhaltsverzeichnis
15 Carbonsäuren ............................................................................................................. 581 15.1 Nomenklatur der Carbonsäuren .......................................................................... 581 15.1.1 Trivialnamen für aliphatische, gesättigte Monocarbonsäuren .............. 583 15.2 Physikalische Eigenschaften .............................................................................. 584 15.3 Synthese der Carbonsäuren ................................................................................ 585 15.3.1 Großtechnische Synthese der Ameisensäure und Essigsäure ............... 585 15.3.2 Carbonsäuresynthesen im Labor ........................................................... 589 15.4 Reaktionen der Carbonsäuren............................................................................. 595 15.4.1 Die sauren Eigenschaften der Carbonsäuren......................................... 597 15.4.2 Additions-Eliminierungs-Reaktionen ................................................... 599 15.4.3 Bildung von Säureanhydriden durch Dehydratisierung ........................ 605 15.4.4 Reaktionen am α-ständigen C-Atom .................................................... 606 15.4.5 Decarboxylierungsreaktionen ............................................................... 608 15.4.6 Die Reduktion und die Oxidation von Carbonsäuren ........................... 612 15.4.7 Carbonsäureabbau mit Barbier-Wieland-Reaktion ............................... 613 15.5 Ungesättigte Monocarbonsäuren ........................................................................ 614 15.5.1 Wichtige einfach ungesättigte aliphatische Monocarbonsäuren ........... 614 15.5.2 Mehrfach ungesättigte aliphatische Monocarbonsäuren ....................... 617 15.5.3 Aromatische Monocarbonsäuren .......................................................... 618 15.6 Dicarbonsäuren................................................................................................... 620 15.6.1 Aliphatische Dicarbonsäuren ................................................................ 620 15.6.2 Aromatische Dicarbonsäuren ................................................................ 626 15.7 Substitutionsderivate der Carbonsäuren ............................................................. 630 15.7.1 Hydroxycarbonsäuren ........................................................................... 630 15.7.2 Oxocarbonsäuren .................................................................................. 636 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 643 Lösungen ...................................................................................................................... 646 16 Seifen und synthetische Waschmittel ........................................................................ 654 16.1 Verfahren zur Seifenherstellung ......................................................................... 654 16.2 Eigenschaften der Seifen in wäßriger Lösung .................................................... 655 16.2.1 Lösen von Seife in Wasser.................................................................... 655 16.2.2 Grenzflächenspannung des Wassers ..................................................... 656 16.2.3 Tensidwirkung der Seife ....................................................................... 656 16.2.4 Der Waschprozeß .................................................................................. 656 16.2.5 Nachteilige Eigenschaften der Seifen ................................................... 657 16.3 Synthetische Waschmittel .................................................................................. 657 16.3.1 Anionische Tenside............................................................................... 657 16.3.2 Kationische Tenside.............................................................................. 658 16.3.3 Amphotere Tenside (Amphotenside) .................................................... 658 16.3.4 Nichtionische Tenside (Niotenside) ...................................................... 659 16.4 Zusammensetzung moderner Waschmittel ......................................................... 659 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 663 Lösungen ...................................................................................................................... 664
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XVII
17 Funktionelle Derivate der Carbonsäuren ................................................................. 666 17.1 Carbonsäurehalogenide (Alkanoylhalogenide)................................................... 666 17.1.1 Nomenklatur ......................................................................................... 666 17.1.2 Darstellung der Carbonsäurechloride.................................................... 667 17.1.3 Reaktionen der Carbonsäurechloride .................................................... 667 17.2 Carbonsäureanhydride ........................................................................................ 672 17.2.1 Nomenklatur ......................................................................................... 672 17.2.2 Darstellung der Carbonsäureanhydride ................................................. 672 17.2.3 Reaktionen der Carbonsäureanhydride ................................................. 673 17.3 Carbonsäureester ................................................................................................ 676 17.3.1 Nomenklatur ......................................................................................... 676 17.3.2 Bedeutung und Eigenschaften der Carbonsäureester ............................ 677 17.3.3 Synthese der Carbonsäurester ............................................................... 678 17.3.4 Reaktionen der Carbonsäureester.......................................................... 681 17.3.5 Reaktionen der Carbonsäureester als C-Säuren .................................... 685 17.3.6 Die Reduktion von Carbonsäureestern.................................................. 689 17.4 Carbonsäureamide .............................................................................................. 691 17.4.1 Nomenklatur der Carbonsäureamide..................................................... 692 17.4.2 Großtechnische Herstellung des N,N-Dimethylformamids .................. 693 17.4.3 Die Darstellung der Carbonsäureamide im Labor................................. 694 17.4.4 Reaktionen der Carbonsäureamide und Carbonsäureimide .................. 697 17.5 Nitrile ................................................................................................................. 700 17.5.1 Nomenklatur der Nitrile ........................................................................ 700 17.5.2 Synthese der Nitrile............................................................................... 701 17.5.3 Reaktionen der Nitrile ........................................................................... 703 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 708 Lösungen ...................................................................................................................... 709 18 Derivate der Kohlensäure .......................................................................................... 713 18.1 Kohlensäureester, Chloride und Amide der Kohlensäure................................... 713 18.1.1 Phosgen ................................................................................................. 713 18.1.2 Chlorameisensäureester ........................................................................ 713 18.1.3 Kohlensäurediester ................................................................................ 714 18.1.4 Urethane ................................................................................................ 714 18.2 Harnstoff und seine Derivate .............................................................................. 716 18.2.1 Harnstoff ............................................................................................... 716 18.2.2 N-Methyl-N-nitrosoharnstoff ................................................................ 717 18.2.3 Semicarbazid ......................................................................................... 717 18.2.4 Guanidin................................................................................................ 718 18.2.5 Thioharnstoff ........................................................................................ 718 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 719 Lösungen ...................................................................................................................... 720 19 Lipide ........................................................................................................................... 722 19.1 Die chemische Zusammensetzung der Fette und Öle ......................................... 722 19.2 Einteilung der Fette und Öle............................................................................... 725
XVIII
Inhaltsverzeichnis
19.3 Eigenschaften der Fette und Öle......................................................................... 726 19.4 Vorkommen und Gewinnung von Fetten und Ölen ............................................ 727 19.4.1 Vorkommen .......................................................................................... 727 19.4.2 Gewinnung pflanzlicher Fette ............................................................... 728 19.4.3 Gewinnung tierischer Fette .................................................................. 728 19.5 Fettähnliche Biomoleküle................................................................................... 728 19.5.1 Phospholipide (Phosphatide) ................................................................ 728 19.5.2 Glycolipide ........................................................................................... 731 19.5.3 Sterole (Sterine) .................................................................................... 731 19.5.4 Lipoproteine.......................................................................................... 734 19.5.5 Lipovitamine ......................................................................................... 736 19.6 Chemische Reaktionen von Fetten und Ölen ..................................................... 739 19.6.1 Die hydrolytische Spaltung von Fetten und Ölen ................................. 739 19.6.2 Die Umesterung .................................................................................... 740 19.6.3 Die Hydrierung ..................................................................................... 742 19.6.4 Die Autoxidation ungesättigter Triglyceride ........................................ 743 19.6.5 Polymerisationsreaktionen .................................................................... 747 19.7 Fette und Öle als Nahrungsmittel ....................................................................... 747 19.7.1 Verdauung und Resorption von Fetten ................................................. 748 19.7.2 Abbau der Fettsäuren ............................................................................ 749 19.7.3 Mitochondrien, die „Kraftstationen“ der Zelle ..................................... 752 19.7.4 Der Transport durch die Mitochondrienmembran ................................ 755 19.7.5 Die β-Oxidation der Carbonsäuren ....................................................... 755 19.7.6 Abbau des Glycerins ............................................................................. 756 19.8 Wachse ............................................................................................................... 756 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 758 Lösungen ...................................................................................................................... 759 20 Alicyclische Verbindungen in der Natur .................................................................. 762 20.1 Terpene............................................................................................................... 763 20.1.1 Monoterpene ......................................................................................... 765 20.1.2 Sesquiterpene ........................................................................................ 766 20.1.3 Diterpene............................................................................................... 767 20.1.4 Triterpene.............................................................................................. 768 20.1.5 Tetraterpene .......................................................................................... 768 20.2 Steroide .............................................................................................................. 769 20.2.1 Biosynthese des Cholesterols................................................................ 772 20.2.2 Sterole (Sterine) .................................................................................... 774 20.2.3 Steroid-Vitamine................................................................................... 775 20.2.4 Gallensäuren ......................................................................................... 776 20.2.5 Steroidhormone..................................................................................... 777 20.2.6 Steroidglycoside ................................................................................... 780 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 783 Lösungen ...................................................................................................................... 784 21 Kohlenhydrate ............................................................................................................ 787 21.1 Bedeutung und Einteilung der Kohlenhydrate ................................................... 788
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XIX
21.1.1 Bedeutung der Kohlenhydrate .............................................................. 788 21.1.2 Einteilung der Kohlenhydrate ............................................................... 788 21.2 Monosaccharide.................................................................................................. 788 21.2.1 Einteilung der Monosaccharide ............................................................ 788 21.2.2 Die Fischer-Projektion .......................................................................... 789 21.2.3 D- und L-Zucker .................................................................................... 790 21.3 Aldosen............................................................................................................... 792 21.3.1 Verlängerung der Kohlenstoffkette von Aldosen.................................. 792 21.3.2 Wichtige Aldopentosen ......................................................................... 794 21.3.3 Wichtige Aldohexosen .......................................................................... 794 21.3.4 Cyclische Strukturen der Monosaccharide............................................ 795 21.4 Ketosen ............................................................................................................... 806 21.4.1 D(–)-Fructose ........................................................................................ 807 21.5 Derivate der Monosaccharide ............................................................................. 808 21.5.1 Desoxyzucker........................................................................................ 808 21.5.2 Aminozucker ......................................................................................... 809 21.5.3 L-(+)-Ascorbinsäure (Vitamin C).......................................................... 810 21.6 Reaktionen der Monosaccharide ........................................................................ 812 21.6.1 Reaktionen der Zucker als α-Hydroxycarbonylverbindungen .............. 812 21.6.2 Reaktionen mit Säuren und starken Basen ............................................ 815 21.6.3 Einführung von Schutzgruppen ............................................................ 816 21.6.4 Oxidationsreaktionen der Zucker .......................................................... 817 21.6.5 Reduktion der Monosaccharide ............................................................ 821 21.6.6 Abbau der Monosaccharide .................................................................. 822 21.6.7 Ester und Ether der Monosaccharide .................................................... 823 21.6.8 Ether- und Glycosidbildung .................................................................. 830 21.6.9 Glycoside, Nucleoside und Nucleotide ................................................. 832 21.6.10 In der Natur vorkommende Glycoside .................................................. 835 21.6.11 Nucleoside ............................................................................................ 836 21.6.12 Nucleotide ............................................................................................. 837 21.7 Disaccharide ....................................................................................................... 838 21.7.1 Reduzierende und nichtreduzierende Zucker ........................................ 838 21.7.2 Benennung der Disaccharide ................................................................ 840 21.7.3 Reduzierende Disaccharide ................................................................... 840 21.7.4 Nichtreduzierende Disaccharide ........................................................... 842 21.8 Polysaccharide .................................................................................................... 846 21.8.1 Homoglycane ........................................................................................ 846 21.8.2 Heteroglycane ....................................................................................... 856 21.8.3 Glycokonjugate ..................................................................................... 858 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 859 Lösungen ...................................................................................................................... 861 22 Amine........................................................................................................................... 869 22.1 Struktur der Amine ............................................................................................. 869 22.2 Nomenklatur der Amine ..................................................................................... 870 22.3 Eigenschaften, Vorkommen und Bedeutung der Amine .................................... 872
XX
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22.4 Großtechnische Synthese der Amine.................................................................. 874 22.4.1 Synthese der Methylamine.................................................................... 874 22.4.2 Synthese der Diamine ........................................................................... 874 22.4.3 Synthese des Anilins ............................................................................. 875 22.5 Darstellung der Amine im Labor........................................................................ 875 22.5.1 Amine durch Reduktion von Stickstoffverbindungen........................... 875 22.5.2 Darstellung der Amine durch Alkylierung............................................ 879 22.5.3 Amine durch reduktive Aminierung ..................................................... 883 22.5.4 Aminsynthesen mit Umlagerungen....................................................... 885 22.6 Reaktionen der Amine ........................................................................................ 888 22.6.1 Acidobasische Eigenschaften der Amine .............................................. 889 22.6.2 Oxidation der Amine mit Peroxysäuren................................................ 890 22.6.3 Die Alkylierung und Acylierung der Amine ......................................... 891 22.6.4 Eliminierungsreaktionen ....................................................................... 894 22.6.5 Nachweisreaktionen .............................................................................. 895 22.6.6 N-Nitrosierung aliphatischer Amine ..................................................... 897 22.6.7 N-Nitrosierung aromatischer Amine ..................................................... 902 22.7 Reaktionen aromatischer Diazoniumsalze.......................................................... 903 22.7.1 Substitutionsreaktionen aromatischer Diazoniumsalze ......................... 903 22.7.2 Kupplungsreaktionen ............................................................................ 906 22.7.3 Geometrische Isomere der Azoverbindungen ....................................... 910 22.7.4 Azofarbstoffe und ihre Bedeutung ........................................................ 910 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 911 Lösungen ...................................................................................................................... 913 23 Aminosäuren ............................................................................................................... 916 23.1 Nomenklatur der Aminosäuren .......................................................................... 916 23.2 Aminosäuren in der Natur .................................................................................. 920 23.3 Struktur der Aminosäuren .................................................................................. 920 23.4 Darstellung der Aminosäuren ............................................................................. 921 23.4.1 Umsetzung von α-Halogencarbonsäuren mit Ammoniak..................... 922 23.4.2 Darstellung von Aminosäuren mit Hilfe der Malonestersynthese ........ 922 23.4.3 Die Strecker-Synthese........................................................................... 923 23.4.4 Die Erlenmeyersche Azlactonsynthese ................................................. 924 23.5 Reaktionen der Aminosäuren ............................................................................. 925 23.5.1 Säure-Basen-Eigenschaften der Aminosäuren ...................................... 925 23.5.2 Veresterung und Acylierung der Aminosäuren..................................... 928 23.5.3 Methylierung der Aminogruppe in Aminosäuren ................................. 929 23.5.4 Die N-Nitrosierung von Aminosäuren und Aminosäureestern ............. 929 23.5.5 Cyclisierung von Aminosäuren............................................................. 931 23.5.6 Kupfer-Komplexe der Aminosäuren ..................................................... 932 23.5.7 Die Oxidation von Cystein zu Cystin ................................................... 932 23.5.8 Farbreaktion mit Ninhydrin .................................................................. 932 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 934 Lösungen ...................................................................................................................... 936
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XXI
24 Peptide und Proteine .................................................................................................. 940 24.1 Nomenklatur ....................................................................................................... 941 24.2 Bedeutung der Peptide und Proteine .................................................................. 942 24.3 Peptide ................................................................................................................ 943 24.3.1 Peptidhormone ...................................................................................... 943 24.3.2 Neuropeptide ......................................................................................... 946 24.3.3 Antibiotika auf Peptidbasis ................................................................... 947 24.3.4 Zoo- und Phytotoxine auf Peptidbasis .................................................. 949 24.4 Analyse der Peptide und Proteine ....................................................................... 949 24.4.1 Ermittlung der Aminosäure-Anteile im Protein .................................... 949 24.4.2 Bestimmung der Aminosäuresequenz ................................................... 950 24.5 Peptidsynthese .................................................................................................... 954 24.5.1 Schutzgruppen in der Peptidsynthese.................................................... 955 24.5.2 Die Aktivierung der Carboxygruppe..................................................... 958 24.5.3 Verlängerung der Peptidkette................................................................ 960 24.5.4 Festphasen-Peptidsynthese.................................................................... 961 24.6 Proteinstrukturen ................................................................................................ 964 24.6.1 Die Primärstruktur ................................................................................ 964 24.6.2 Die Sekundärstruktur ............................................................................ 965 24.6.3 Die Tertiärstruktur ................................................................................ 968 24.6.4 Die Quartärstruktur ............................................................................... 970 24.6.5 Die Denaturierung ................................................................................. 975 24.7 Klassifizierung der Proteine ............................................................................... 976 24.7.1 Fibrilläre Proteine ................................................................................. 976 24.7.2 Globuläre Proteine ................................................................................ 984 24.7.3 Konjugierte Proteine ............................................................................. 986 24.8 Proteine in der Ernährung ................................................................................... 989 24.8.1 Der Stoffwechsel der Proteine .............................................................. 989 24.8.2 Die Verdauung der Proteine.................................................................. 989 24.8.3 Proteasen und Peptidasen ...................................................................... 990 Übungsaufgaben ........................................................................................................... 995 Lösungen ...................................................................................................................... 996 25 Stickstoffhaltige Heterocyclen ................................................................................... 999 25.1 Nomenklatur stickstoffhaltiger Heterocyclen ..................................................... 999 25.2 Fünfringe mit Stickstoff als Heteroatom .......................................................... 1001 25.2.1 Pyrrol und seine Derivate.................................................................... 1001 25.2.2 Indol .................................................................................................... 1004 25.3 Sechsringe mit Stickstoff als Heteroatom......................................................... 1006 25.3.1 Pyridin und seine Derivate .................................................................. 1006 25.3.2 Stickstoffanaloga des Naphthalins ...................................................... 1011 25.3.3 Heterocyclen mit 2 Stickstoffatomen im Sechsring ............................ 1013 25.4 Siebenringe mit Stickstoff als Heteroatom ....................................................... 1014 25.5 Naturstoffe mit fünfgliedrigen Stickstoff-Heterocyclen ................................... 1015 25.5.1 Heterocyclen mit 1 Stickstoffatom im Fünfring ................................. 1015 25.5.2 Heterocyclen mit 2 Heteroatomen im Fünfring .................................. 1029
XXII
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25.6 Naturstoffe mit sechsgliedrigen Stickstoff-Heterocyclen ................................. 1033 25.6.1 Heterocyclen mit einem Stickstoffatom im Sechsring ........................ 1033 25.6.2 Heterocyclen mit 2 Stickstoffatomen im Sechsring ............................ 1035 25.7 Bicyclische Heteroverbindungen...................................................................... 1037 25.7.1 Purinderivate ....................................................................................... 1037 25.7.2 Pterine ................................................................................................. 1039 25.7.3 Flavine ................................................................................................ 1041 Übungsaufgaben ......................................................................................................... 1044 Lösungen .................................................................................................................... 1045 26 Alkaloide ................................................................................................................... 1047 26.1 Alkaloide mit Pyrrolidin- und Indolstruktur ..................................................... 1047 26.1.1 Alkaloide mit Pyrrolidinstruktur ......................................................... 1047 26.1.2 Alkaloide mit Indolstruktur................................................................. 1047 26.2 Tropan-Alkaloide ............................................................................................. 1049 26.2.1 Tropin-Alkaloide ................................................................................ 1050 26.2.2 Pseudotropin-Alkaloide ...................................................................... 1051 26.3 Alkaloide mit Pyridin- und Piperidinstruktur ................................................... 1052 26.3.1 Pyridin-Alkaloide ............................................................................... 1052 26.3.2 Piperidin-Alkaloide............................................................................. 1053 26.4 Alkaloide mit Chinolin-Struktur....................................................................... 1054 26.5 Morphin- und Isochinolin-Alkaloide ................................................................ 1055 26.5.1 Opium, die Hauptquelle für Morphin- und Isochinolin-Alkaloide ..... 1055 26.5.2 Morphin-Alkaloide ............................................................................. 1055 26.5.3 Alkaloide mit Isochinolin-Struktur ..................................................... 1057 26.5.4 Berberin-Alkaloide ............................................................................. 1058 26.5.5 Curare-Alkaloide ................................................................................ 1058 Übungsaufgaben ......................................................................................................... 1059 Lösungen .................................................................................................................... 1060 27 Nucleinsäuren ........................................................................................................... 1063 27.1 Die Desoxyribonucleinsäure ............................................................................ 1064 27.1.1 Strukturen der Desoxyribonucleinsäure .............................................. 1067 27.2 Ribonucleinsäuren ............................................................................................ 1077 27.2.1 Die ribosomale RNA (r-RNA) ............................................................ 1078 27.2.2 Die Boten- oder Messenger-RNA (m-RNA) ...................................... 1079 27.2.3 Die Transfer-RNA (t-RNA) ................................................................ 1079 27.3 Die Biosynthese der Ribonucleinsäuren und der Proteine................................ 1081 27.3.1 Die Biosynthese der Ribonucleinsäuren ............................................. 1082 27.3.2 Die Biosynthese der Proteine .............................................................. 1083 Übungsaufgaben ......................................................................................................... 1091 Lösungen .................................................................................................................... 1092 Namensreaktionen ............................................................................................................ 1095 Sachwortverzeichnis......................................................................................................... 1105
1 Einführung Wozu denn Organische Chemie lernen? Die Organische Chemie ist die Chemie der Kohlenstoffverbindungen. Die Bezeichnung „organisch“ ist auf Berzelius (1806) zurückzuführen, der diese Verbindungen so benannte, weil sie aus pflanzlichen und tierischen Organismen isoliert wurden. Es ist tatsächlich so, daß alles Leben mit Kohlenstoffverbindungen und deren Umwandlungen verbunden ist. Die Organische Chemie bildet deshalb die Grundlage zum Verstehen von Prozessen in der lebenden Natur. Desweiteren sind es organische Stoffe, die die Grundlage unserer Ernährung bilden (Eiweiße, Zucker, Fette und Vitamine). Ohne Kohlenstoffverbindungen wäre auch unser modernes Leben nicht denkbar: Wir sind umgeben von organischen Stoffen (Kunststoffe, Farbstoffe, Waschmittel, Putzmittel, Kosmetika, Verpackungsmaterial, Kraftstoffe, Klebstoffe, Arzneimittel usw.) und verwenden sie im Haushalt und im Betrieb. Unsere Umwelt, und die in der modernen Industriegesellschaft auftretenden Umweltprobleme, verstehen wir nicht ohne Grundlagenkenntnisse der Organischen Chemie. Diese Kenntnisse braucht man auch für das Verstehen anderer Wissenschaften, z. B. der Biologie, Medizin, Pharmazie, Toxikologie und Ernährungswissenschaften. Die keineswegs erschöpfende Aufzählung macht die Bedeutung der Organischen Chemie ein wenig deutlich. Möglicherweise geben Ihnen diese Erwägungen auch einen Anreiz, sich mit ihr eingehender zu befassen.
1.1 Das Kohlenstoffatom unter die Lupe genommen Die Überschrift ist natürlich nicht so wörtlich zu nehmen, wie dies in Bild 1.1 dargestellt wird, vielmehr ist sie so aufzufassen, daß wir uns mit dem Kohlenstoffatom etwas näher auseinandersetzen wollen.
C Bild 1.1 Das Kohlenstoffatom „unter die Lupe genommen“
A. Wollrab, Organische Chemie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-45144-7_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
1
2
1 Einführung
e
-
e
-
K-Schale
e e
-
6p
+
-
e
-
e
L-Schale Atomkern
-
Bild 1.2 Schalenmodell des Kohlenstoffatoms
Schalen
Perioden
Das Kohlenstoffatom hat im Kern außer den Neutronen, für die wir uns in diesem Zusammenhang weiter nicht interessieren, noch 6 Protonen mit insgesamt 6 positiven Ladungen. In der Atomhülle befinden sich 6 Elektronen mit insgesamt 6 negativen Ladungen, so daß das Kohlenstoffatom nach außen hin elektroneutral ist. Legen wir unseren Überlegungen zunächst das Schalenmodell1 zugrunde, so befinden sich auf der dem Kern nächstliegenden Schale, der K-Schale, 2 Elektronen und auf der L-Schale, die gleichzeitig die Außenschale des Kohlenstoffatoms ist, 4 Elektronen. Die Elektronen in der Außenschale sind an Bindungen beteiligt und deshalb bezeichnet man sie als Valenzelektronen. Die Frage ist nun, welcher Art diese Kohlenstoffbindungen sind, ob Ionenbindungen oder kovalente Bindungen. Die Bildung einer Ionenbindung erfolgt durch eine Elektronenabgabe bei einem Atom und einer Elektronenaufnahme bei einem anderen Atom. Das Atom, das ein Elektron spendet, wird zum positiven Ion (Kation), während das andere Atom durch den Elektronenempfang in ein negatives Ion (Anion) umgewandelt wird. Beide Ionen sind durch die AnzieHauptgruppen I
II
III
IV
V
VI
VII
1
2
H 1
2
K
He 2
1
Ordnungszahl Elementsymbol Elektronenkonfiguration
3
4
5
6
7
8
9
10
Ordnungszahl Elementsymbol
Li
Be
B
C
N
O
F
Ne
K
2
2
2
2
2
2
2
2
L
1
2
3
4
5
6
7
8
Bild 1.3
1
VIII
Elektronenkonfiguration
Die Elektronenverteilung auf der K- und L-Schale für Elemente der ersten zwei Perioden des Periodensystems der Elemente.
Bei Atomen, deren Elektronenhülle aus mehreren Elektronen besteht, benutzt man zur Charakterisierung der Elektronenstruktur das Schalenmodell. Man geht davon aus, daß sich die Elektronen in einem wahrscheinlichen Aufenthaltsraum in größerem oder kleinerem Abstand vom Kern bewegen und spricht dann von Elektronenschalen, die bestimmten Energieniveaus von Energiezuständen entsprechen (Modelle siehe auch Abschnitt 1.5)
1.1 Das Kohlenstoffatom unter die Lupe genommen e-
-
e
3p+
-
e
+
-
e
Li
Bild 1.4
ee-
9p+
ee-
+
e-
-
e
F
3
ee-
e-
-
e
3p+
e+
-
e Li
+
ee-
9p+
ee-
+
e-
-
e
ee-
F
Reaktion von Lithium und Fluor zum Lithiumfluorid (e– = Elektron, p+ = Proton)
hungskraft ungleichnamiger Ladungen gebunden. Durch die Elektronenabgabe auf der einen und die Elektronenaufnahme auf der anderen Seite erreichen beide Bindungspartner die stabile Elektronenkonfiguration des im Periodensystem nächstgelegenen Edelgases. So wird z. B. Li durch die Abgabe eines Elektrons zum Li+-Kation, das die Elektronenkonfiguration des Heliums besitzt (2 Elektronen auf der K-Schale), und Fluor, das ein Elektron aufnimmt, wird zum Fluoridion F– mit der Elektronenkonfiguration des Neons (2 Elektronen auf der K-Schale und 8 auf der L-Schale). Das Kohlenstoffatom müßte, um die Elektronenkonfiguration des He oder Ne zu erreichen, entweder 4 Elektronen abgeben oder 4 Elektronen aufnehmen. Spielen wir dies gedanklich einmal durch. Bei der Abgabe eines Elektrons wird der Kohlenstoff zunächst zum Kation C+. Da die Elektronen ja negative Ladungsträger sind, wurde damit auch die negative Ladung auf der L-Schale um eine Elementarladung verringert. Die Abstoßungskräfte der gleichnamigen Ladungen auf dieser Schale sind damit insgesamt kleiner geworden, die Elektronen werden näher zum Kern verschoben und dadurch stärker an diesen gebunden. Die Abgabe eines weiteren Elektrons ist infolge seiner stärkeren Bindung an den Kern mit viel größerem Energieaufwand verbunden, und dieser vergrößert sich bei jeder weiteren Elektronenabgabe. Die Abgabe aller 4 Valenzelektronen des Kohlenstoffatoms ist also mit einem großen Energieaufwand verbunden, und deshalb kann man die Bildung eines C4+-Kations nicht erwarten. Durch Aufnahme eines Elektrons wird aus dem Kohlenstoffatom zunächst das Anion C–. Der negative Ladungsüberschuß am C– macht sich bei Annäherung eines weiteren Elektrons, das ja ebenfalls negative Ladung trägt, durch abstoßende Kräfte bemerkbar, so daß die Elektronenaufnahme des zweiten Elektrons schon mit einem größeren Energieaufwand verbunden ist. Mit Vergrößerung der negativen Ladung im C2–- und C3–-Anion ist jede weitere Elektronenaufnahme mit einem größeren Energieaufwand verbunden. Deshalb darf man auch die Bildung eines C4–-Anions nicht annehmen. Die kovalente Bindung (auch Atombindung genannt) wird auf die Weise gebildet, daß jedes der beiden an der Bindung beteiligten Atome ein Elektron für die Bindung zur Verfügung stellen. Sie teilen sich gemeinsam das Elektronenpaar, und damit erreicht jeder Bindungspartner die stabile Elektronenkonfiguration des Edelgases. Da das Kohlenstoffatom die stabile Elektronenkonfiguration eines Edelgases nicht durch Ausbildung einer Ionenbindung erreichen kann, zeigt es eine extreme Neigung zur kovalenten Bindung. Im Molekül des Methans z. B. bindet das Kohlenstoffatom kovalent vier Wasserstoffatome, womit es die Elektronenkonfiguration des Neons mit einem Elektronenoktett auf der
4
1 Einführung
H
H
Lewis-Formel des Methans
: :
H:C:H
H
H
H:C
H
Bild 1.5
: :
: :
H:C:H
H
:H
Elektronenoktett auf der Außenschale des Kohlenstoffatoms
Elektronendublett auf der K-Schale des Wasserstoffatoms
Lewis-Formel des Methans
Außenschale erreicht, während die 4 Wasserstoffatome mit je 2 Elektronen die stabile Elektronenkonfiguration des Heliums besitzen. Zur Veranschaulichung des Methanmoleküls wird zunächst die Schreibweise von Lewis benutzt, wobei die Elektronen der Außenschale durch einen Punkt symbolisiert werden. In der Regel schreibt man diese Konstitutionsformeln noch einfacher, indem man ein Elektronenpaar nicht durch zwei Punkte, sondern durch einen Strich symbolisiert und dies sowohl bei der kovalenten Bindung als auch bei den nicht an einer Bindung beteiligten freien Elektronenpaaren auf der Außenschale der Atome. Die kovalente Bindung bindet nicht nur Atome verschiedener Elemente miteinander. Es können auch gleiche Atome kovalent gebunden sein, wie dies z. B. beim Wasserstoffmolekül H–H oder beim Chlormolekül Cl–Cl der Fall ist. Die Kohlenstoffatome können sich sogar zu langen Ketten untereinander binden, die unverzweigt
z. B.
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H H
C
H H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
oder verzweigt
z. B.
H
H
H
sind. Kohlenwasserstoffe mit einer offenen Kohlenstoffkette, deren Kohlenstoffatome ausschließlich mit Einfachbindungen verknüpft sind, nennt man Alkane. Bei beiden vorangehenden Formeln handelt es sich also um Alkane. Kohlenstoffatome können auch ringförmig verknüpft sein (bei Cycloalkanen),
1.2 Die funktionellen Gruppen organischer Verbindungen H H H H H
C C
5
H C
C
H
C C
H H H H
Cyclohexan
H
und sie können ebenfalls mit einer Doppel- (bei Alkenen) oder Dreifachbindung (bei Alkinen) untereinander gebunden sein: H
z. B.
H C
C
H
H
H
Ethen
C
C
H
Ethin
Die in den Beispielen gebrachten Formeln zeigen die Verknüpfung der Atome untereinander. Man bezeichnet solche Formeln als Konstitutionsformeln.
1.2 Die funktionellen Gruppen organischer Verbindungen Die vielfachen Bindungsmöglichkeiten der Kohlenstoffatome untereinander (unverzweigte, verzweigte Ketten, Ringe, Einfach-, Doppel- und Dreifachbindungen) lassen ahnen, daß alleine schon bei den Kohlenwasserstoffen, welche sich nur aus Kohlenstoff und Wasserstoff zusammensetzen, eine sehr große Anzahl von Verbindungen denkbar ist. Wenn man sich nun vorstellt, daß die Kohlenstoffatome nicht nur Wasserstoffatome, sondern auch andere Atome zu binden vermögen, so kann man ermessen, welch eine ungeheure Anzahl von organischen Verbindungen es gibt. Kohlenstoff und Wasserstoff unterscheiden sich in ihrer Elektronegativität wenig, und die kovalente C-H-Bindung ist deshalb nicht polarisiert. Sauerstoff, Stickstoff und Halogene hingegen sind elektronegativer als Kohlenstoff. Der elektronegativere Partner zieht die Bindungselektronen näher an sich, so daß die C–O-, C–N- und C–ClBindungen polarisiert sind. Man kann sich vorstellen, daß infolge der unsymmetrischen Verteilung der Elektronendichte der Kohlenstoff in diesem Falle eine winzige positive Teilladung δ+ besitzt, während das Sauerstoff-, das Stickstoff- oder das Chloratom eine winzige negative Teilladung δ– aufweisen. Die Stellen im Molekül mit polarisierter Bindung bilden einen Angriffspunkt für verschiedene Reagenzien, und so bedingt ein im Molekül der organischen Verbindung befindliches elektronegatives Atom oder eine elektronegative Gruppe die Reaktivität dieser Verbindung. Diese Atome bzw. Gruppen von Atomen prägen das chemische Verhalten organischer Verbindungen, sie haben bei deren chemischen Umsetzungen eine Schlüsselfunktion. Man bezeichnet sie als funktionelle Gruppen. Die funktionellen Gruppen ermöglichen eine Zuordnung organischer Verbindungen zu bestimmten Stoffklassen. Die Einordnung organischer Verbindungen in Stoffklassen gewährt ein überschaubares Ordnungssystem, was bei der ungeheuren Anzahl dieser Verbindungen sicher wichtig ist. In Tabelle 1.1 erfolgt eine Auflistung der wichtigsten funktionellen Gruppen mit den ihnen entsprechenden Stoffklassen und deren Formeln. Das Symbol R in der allgemeinen Formel steht
6
1 Einführung
für einen beliebigen Alkylrest. Diesen in der Formelschreibung vielfach benutzten Rest erhält man aus der Formel des Alkans (siehe Kap. 2) durch Wegnahme eines Wasserstoffes. Tabelle 1.1
Übersicht über die Stoffklassen organischer Verbindungen
Stoffklasse
Konstitutionsformel
charakteristisches Strukturelement oder funktionelle Gruppe
A) Kohlenwasserstoffe Alkane (Paraffine, Grenzkohlenwasserstoffe)
R
H
H
C
C
H
H
H
Alkene (Olefine)
C
C
C
C
Einfachbindung
R C
C
R
Alkine (Acetylene)
R
R
Doppelbindung
H C
C
C
R
Dreifachbindung
C
CH2
Cycloalkane
Ringstruktur
H2C (CH2)n
Aromaten
aromatischer Ring
B) Sauerstoffhaltige Verbindungen Alkohole Alkanole
R
CH2
O
O
Phenole
Ether
R
O
Aldehyde Alkanale
R
C
R
H
O
H
Hydroxygruppe
O
H
Hydroxygruppe am aromatischen Ring
H
C
H
O R
C
Die Gruppe –O–R wird als Alkoxygruppe bezeichnet
Formylgruppe O
C R
C
H C
O
Ketone Alkanone
O
O
Ketogruppe oder Carbonylgruppe
1.2 Die funktionellen Gruppen organischer Verbindungen
7
Tabelle 1.1 Fortsetzung
Übersicht über die Stoffklassen organischer Verbindungen
Stoffklasse
Konstitutionsformel R
O
R
O
R
charakteristisches Strukturelement oder funktionelle Gruppe
C H
Acetale, Ketale
Acetal R
O
R
O
R
Acetalgruppierung
C R
Ketal Carbonsäuren Alkansäuren
O
O R
O
O
H
O
Säureanhydride
R
C
C
C
C
O O
O R
Carbonyloxycarbonylgruppe
O
O
Ester
H
O
O R
Carboxygruppe
C
C
C
O
R'
C
O
R'
Alkoxycarbonylgruppe
Estergruppierung H
Lactone
R
C
Estergruppierung im Ring
(CH2)n C
O
O
C) Halogenverbindungen Halogenalkane (Alkylhalogenide)
R
Halogencarbonsäuren
X = Halogen = –F, –Cl, –Br, –I
X
Halogen –X und auch Carboxygruppe –COOH im Molekül
H R
C
(CH2)n
COOH
X
Säurehalogenide Alkanoylhalogenide Acylhalogenide
O
O R
C
C X
X
Halogenocarbonylgruppe
8
1 Einführung
Tabelle 1.1 Fortsetzung
Übersicht über die Stoffklassen organischer Verbindungen
Stoffklasse
Konstitutionsformel
charakteristisches Strukturelement oder funktionelle Gruppe
D) Stickstoffverbindungen Amine
R
NH2
sekundäre Amine
R
NH
R
N
tertiäre Amine
Aminogruppe
NH2
R R
R
quartäre Ammoniumsalze
R
N(CH3)3
Säureamide
R
C
Cl
O
O C NH2
NH2
Aminocarbonylgruppe (Carbamoylgruppe)
H
Aminosäuren
R
C
Aminogruppe –NH2 und Carboxygruppe –COOH im Molekül
COOH
NH2
Nitroalkane
R
CH2
NO2
Nitrosoalkane
R
CH2
N
NO2 O
N
Nitrogruppe O
Nitrosogruppe
H C
NH
Aldimin Aldimine, Ketimine
C
R R
NH
Iminogruppe
C NH
Ketimin Diazoniumverbindungen
Ar
N
N
Azoverbindungen
Ar
N
N
Nitrile, Cyanide
R
C
Isonitrile
R
N
N
N
Diazoniumgruppe
N
N
Azogruppe Ar = Arylgruppe
N
C
N
Nitril-, Cyanogruppe
C
N
C
Isonitrilgruppe
Ar
1.2 Die funktionellen Gruppen organischer Verbindungen
9
Tabelle 1.1 Fortsetzung
Übersicht über die Stoffklassen organischer Verbindungen
Stoffklasse
Konstitutionsformel
charakteristisches Strukturelement oder funktionelle Gruppe
E) Schwefelverbindungen Mercaptane (Thiole)
R
S
H
Disulfide
R
S
S
Thioether
R
S
R
Thioaldehyde
R
C
R
S
H
Mercaptogruppe (Thiolgruppe)
S
S
Disulfidbrücke
C
S
C R
Sulfone
R
Thioformylgruppe
S
S R
(Die Gruppe R–S– ist die Alkylthiogruppe)
H
H
Thioketone (Thione)
C
R
C
Alkylthionogruppe
C S
SO2
S
R
O
Sulfonylgruppe
S O
Sulfonsäuren
R
SO3H
O S
Sulfogruppe
OH
O O
O
Sulfonsäureester
Alkylsulfonylchlorid
R
R
S
O
S
O
R
O
SO2Cl
O
O S O
Cl
R
Alkylsulfogruppe
Sulfonylchloridgruppe
10
1 Einführung
1.3 Die wellenmechanische Beschreibung der Elektronen im Kohlenstoffatom 1.3.1 Die Wellennatur des Elektrons Ähnlich dem Welle-Teilchen-Dualismus beim Licht kann man auch den Elektronen sowohl Teilchen- als auch Wellencharakter zusprechen. Elektronen mit hoher kinetischer Energie können nach der Beziehung von de Broglie λ=
h m⋅ v
λ = Wellenlänge, h = Plancksche Konstante, m = Masse und v = Geschwindigkeit als Wellen sehr kurzer Wellenlänge betrachtet werden. Schon 1927 gelang es, die Wellennatur des Elektrons durch Beugung von Elektronenstrahlen am Kristallgitter zu beweisen. Die Wellen- oder Quantentheorie greift diesen Wellencharakter auf und betrachtet das Elektron im Atom als stehende räumliche Welle. Diese räumliche Welle kann vereinfacht mit der stehenden Welle einer schwingenden Saite verglichen werden, die bei gegebener Saitenlänge Grund- und Oberschwingungen mit bestimmter Wellenlänge und einem bestimmten Energiegehalt aufweist. Die Welle können wir als räumlich sich fortpflanzende Schwingungen betrachten. Gehen wir von einer Gleichgewichtslage der Schwingung aus, bei der die Auslenkung = 0 ist, so wird die Auslenkung bei Fortpflanzung der Welle größer, bis sie einen Maximalwert, die Amplitude, erreicht, worauf sie wieder kleiner wird und nach Überschreiten der Gleich-
+ -
Knoten
λ3 2
+
+
-
Energie
+
λ2 2
+ -
+ λ1 2 Saitenlänge1
Bild 1.6
Stehende Welle einer schwingenden Saite
λ3 1=3. 2
λ2 1=2. 2 Gleichgewichtslage λ1 1=1. 2
1.3 Die wellenmechanische Beschreibung der Elektronen im Kohlenstoffatom
11
gewichtslage (Auslenkung = 0 ) in die entgegengesetzte Phase übergeht. Die Stelle der Welle, an der keine Auslenkung zu verzeichnen ist, bezeichnet man als Knoten. Mit zunehmender Anzahl der Knoten ist die Welle energiereicher. Den Teil der Wellenbewegung, der über dem Knoten (Auslenkung = 0) liegt, bezeichnet man willkürlich als positiv, und man spricht von der positiven Phase der Wellenbewegung (siehe „+“ in Bild 1.6), während man den darunterliegenden Teil der Wellenbewegung als negative Wellenphase mit negativem Zeichen auffaßt.2 Zwei Wellen können sich überlagern, woraus eine neue Welle resultiert. Schwingen beide Wellen in der gleichen Phase (das gleiche Vorzeichen der Phase), vergrößert sich die Auslenkung der Schwingungen, im anderen Falle werden die Schwingungen kleiner oder sind im Extremfall gleich Null, d. h. beide Wellen löschen sich im Extremfall aus.
1.3.2 Quantenzahl und Energieniveau Aufschluß über mögliche Energiezustände der Elektronen im Atom gibt die Auswertung von Spektren. Die Hauptenergieniveaus (Schalen im Schalenmodell) bezeichnet man mit den Buchstaben K, L, M, N usw., wobei die K-Schale mit dem niedrigsten Energieniveau dem Atomkern am nächsten ist, und die Schalen in der Reihenfolge L, M, N usw. vom Atomkern weiter entfernt sind. Das Hauptenergieniveau ist definiert durch die Hauptquantenzahl n, eine natürliche Zahl z. B. 1 = K-Schale, 2 = L-Schale, 3 = M-Schale usw. Elektronen auf der gleichen Schale können im Energiegehalt etwas differieren, so daß man noch Unterniveaus (Unterschalen) unterscheidet und den Elektronen einen s-, p-, d- und f-Zustand zuordnet. Diese Bezeichnungen stammen von Namen bestimmter Spektrallinienserien (s = sharp, p = principal, d = diffuse und f = fundamental). Die Unterniveaus werden durch die Nebenquantenzahlen l charakterisiert, die in Abhängigkeit von der Hauptquantenzahl die Werte 0, 1, 2 ... bis (n–1) annehmen können. Der Wert l = 0 entspricht dem sZustand, l = 1 dem p-Zustand, l = 2 dem d-Zustand und l = 3 dem f-Zustand. Die magnetische Quantenzahl m bestimmt das Verhalten des Elektrons im Magnetfeld und kann die Werte von –l, –(l–1), ... 0 ... l–1, l annehmen. Jeder magnetischen Quantenzahl m kann man zwei Spinquantenzahlen s zuordnen, die den Drehsinn des Elektrons um seine Achse beschreiben und die Werte –1/2 bzw. +1/2 haben. Beachtet man das Paulische Ausschlußprinzip, das besagt, daß die Elektronen in jedem Atom sich mindestens in einer Quantenzahl unterscheiden müssen, so kann man in den Energieniveaus die aus Tabelle 1.2 ersichtliche Verteilung der Elektronen annehmen. Die K-Schale kann mit maximal 2 s-Elektronen, die L-Schale mit 2 s-und 6 p-Elektronen, die M-Schale mit 2 s-, 6 p- und 10 d-Elektronen besetzt werden. Wie das Energieniveauschema zeigt, steigt das Energieniveau von der K- zur L- und zur M-Schale. Das Füllen der Schalen mit Elektronen erfolgt auf die Weise, daß zunächst die energieärmste K-Schale, dann die L-Schale und darauffolgend die M-Schale besetzt werden. In der L-Schale wird zunächst das s-Niveau, dann erst das p-Niveau mit Elektronen besetzt. Der Kohlenstoff mit insgesamt 6 Elektronen hat im Grundzustand seine K-Schale mit zwei s-Elektronen und die L-
2
Das + und – der Wellenphasen haben nichts mit einer positiven oder negativen Ladung zu tun!
12
1 Einführung
Tabelle 1.2
Verteilung der Elektronen in den Energieniveaus (für n = 1, 2 und 3).
Hauptquantenzahl n
Hauptenergieniveau (Schale)
1 2
3
Nebenquantenzahl l
Unterenergieniveau
K
0
s
L
0
s
1
p
M
(0, 1, 2 ... n–1)
Spinquantenzahl
Maximale Anzahl der Elektronen
–1/2, +1/2
2
0
–1/2, +1/2
2
–1 0 +1
–1/2, +1/2 –1/2, +1/2 –1/2, +1/2
6
Magnetquantenzahl m (–l
...0... + l) 0
insges. 8
0
s
0
–1/2, +1/2
2
1
p
–1 0 +1
–1/2, +1/2 –1/2, +1/2 –1/2, +1/2
6
2
d
–2 –1 0 +1 +2
–1/2, +1/2 –1/2, +1/2 –1/2, +1/2 –1/2, +1/2 –1/2, +1/2
10 insges. 18
-
-
M-Schale n = 3 (18 e )
3d (10 e ) 3p (6 e- ) -
Energie
3s (2 e ) -
-
L-Schale n = 2 (8 e )
2p (6 e ) -
2s (2 e )
-
K-Schale n = 1 (2 e )
Bild 1.7
-
1s (2 e )
Energieniveauschema der K-, L- und M-Schale (e– = Symbol für Elektron)
Schale mit zwei s- und zwei p-Elektronen besetzt. Die Besetzung der Schalen mit Elektronen kann man auf vereinfachte Weise so angeben, daß man zuerst die Hauptquantenzahl nennt, dann das Unterenergieniveau, worauf man die Anzahl der Elektronen, die sich in dem Unterenergieniveau befinden, als Hochzahl anfügt. Die Elektronenkonfiguration des Kohlenstoffatoms würde man also angeben mit:
1.3 Die wellenmechanische Beschreibung der Elektronen im Kohlenstoffatom
13
1s2 2s2 2p2 Anzahl Elektronen Unterenergienivau (Unterschale) Hauptquantenzahl
1.3.3 Orbitale und kovalente Bindungen 1.3.3.1 s- und p-Orbitale Prof. Debye in Zürich beauftragte eines Tages seinen Assistenten mit der Aufgabe, die Arbeiten von de Broglie im Seminar mit Studenten zu besprechen. Der Assistent verwies auf seine unzureichenden didaktischen Fähigkeiten, und es bedurfte der ganzen Autorität Debyes, den Assistenten doch noch dazu zu bewegen, das Seminar zu leiten. Der Assistent, nach dem Verlauf des Seminars befragt, zeigte dem Professor seine Gleichungen, mit denen er das Thema den Studenten verständlich machen wollte. Nach Erblicken der Gleichungen rief Debye angeblich aus: „Mensch, Sie haben doch die fundamentalen quantenmechanischen Gleichungen formuliert!“. Der Assistent hieß E. Schrödinger. Die Schrödinger-Gleichung beschreibt, analog den Wellen einer schwingenden Saite, das Elektron im Atom als stehende räumliche Welle, sie lautet: ΔΨ +
8π 2 m h2
(E − V )Ψ = 0
Der Laplacesche Differenzialoperator Δ ist eine Rechenvorschrift für die zweite Ableitung einer Funktion nach Ortskoordinaten, π ist die Ludolphsche Zahl (3,14....), m die Masse des Elektrons, h die Plancksche Konstante, E die Gesamtenergie und V die potentielle Energie des Elektrons. Ψ wird als Wellenfunktion bezeichnet. Ψ2dv ist das Maß für die Wahrscheinlichkeit, das Elektron in einem Volumenelement dv anzutreffen, so daß Ψ2 den zeitlichen Durchschnitt der Ladungsverteilung angibt, wobei man die stehende Welle als negativ geladene Ladungswolke betrachtet. Aufgrund der Randbedingungen, die sich aus der physikalischen Realität des Atoms ergeben, hat die Wellengleichung nur für bestimmte Energien des Systems eine Lösung, woraus sich zwingend die Quantelung3 der Energieniveaus ergibt. Die Wellenfunktionen Ψ, welche zu solchen reellen Lösungsmöglichkeiten führen, bezeichnet man als Eigenfunktionen oder auch als Atomorbitale. In übertragenem Sinne gebraucht man den Ausdruck Atomorbital auch für den Raum, in dem sich ein Elektron oder ein Elektronenpaar mit größter Wahrscheinlichkeit befindet. In der graphischen Darstellung erscheinen Atomorbitale als kugel- oder lappenförmige Gebilde. Die Atomorbitale unterscheiden sich durch ihr Energieniveau. Es werden zunächst die Orbitale mit niedrigstem Energieniveau besetzt, wobei ein Orbital höchstens von zwei Elektronen besetzt werden kann und beide Elektronen sich in ihrem Spin unterscheiden müssen. 3
Unter „Quantelung“ versteht man das Vorliegen diskreter, durch Quantenzahlen beschreibbarer Energieniveaus. Änderungen in Energiezuständen können nicht kontinuierlich, sondern nur in quantenmäßigen Sprüngen erfolgen.
14
1 Einführung
1s-Orbital 2s-Orbital
Kern kugelsymmetrische Knotenfläche Schnitt durch 1sEinschnitt und 2s-Orbital 1s- und 2s-Orbital
Bild 1.8
Das 1s-Orbital entspricht der Wellenfunktion mit der niedrigsten Energie. Es läßt sich graphisch als diffuse kugelsymmetrische Elektronenwolke abbilden, in deren Mitte der Atomkern liegt. Das 1s-Orbital hat keine Knotenebene. Das nächsthöhere Energieniveau hat eine reelle Lösung der Wellengleichung, die dem 2s-Orbital entspricht. Dieses kann man ebenfalls kugelsymmetrisch abbilden, es hat jedoch eine weitere Ausdehnung als das 1s-Orbital. Zwischen dem 1s- und dem 2s-Orbital befindet sich eine kugelsymmetrische Knotenfläche, auf der die Aufenthaltswahrscheinlichkeit eines Elektrons gleich Null ist. Wie bei der klassischen Welle ist das Vorzeichen auf beiden Seiten der Knotenebene entgegengesetzt.
Knotenebene
z
+ x
Pz-Orbital
y
Bild 1.9
Atomkern
Das pz-Orbital
1.3 Die wellenmechanische Beschreibung der Elektronen im Kohlenstoffatom
z
z
z
x
x
(a)
x y
y
y
15
(b)
(c)
Bild 1.10 Orientierung der px- (a), py- (b) und pz-Orbitale (c) im kartesischen Koordinatensystem
Für das nächsthöhere Niveau ergeben sich drei energetisch äquivalente Lösungen, das 2px-, 2py- und 2pz-Orbital, die im Gegensatz zu den s-Orbitalen räumlich gerichtet sind und eine Hantelform besitzen, oder noch eher die Form zweier aufeinanderliegenden Brotlaibe, mit einer durch den Atomkern verlaufenden Knotenebene. Bild 1.9 zeigt das 2pz-Orbital. Man stelle sich vor, die Symmetrieachse des Orbitals wäre identisch mit der z-Achse eines kartesischen Koordinatensystems und der Atomkern läge im Ursprung der Koordinaten. Die Knotenebene des 2pz-Orbitals liegt dann in der Ebene der x- und y-Achse. Die beiden über und unter der Knotenebene liegenden Orbitallappen befinden sich in entgegengesetzter Phase. Dies wird durch die Zeichen + und – verdeutlicht. Die räumliche Anordnung der px-, py- und pz-Orbitale im kartesischen Koordinatensystem stelle man sich so vor, daß die p-Orbitale räumlich so orientiert werden können, daß ihre Symmetrieachsen jeweils mit den Achsen des kartesischen Koordinatensystems identisch sind (siehe Bild 1.10). Die px-, py- und pz-Orbitale stehen im Atom senkrecht zueinander, so daß der Atomkern im Symmetriezentrum der Orbitale liegt.
z
pz-Orbital
py-Orbital
x y
px-Orbital
Bild 1.11 Räumliche Anordnung der px-, py- und pz-Orbitale im Atom
16
1 Einführung
1.3.3.2 Die σ- und π-Bindung Die Kovalenzbindung ist am einfachsten am Beispiel der Entstehung eines Wasserstoffmoleküls zu erklären: 2 Wasserstoffatome, deren s-Orbitale mit je einem Elektron besetzt sind, nähern sich einander. Während im isolierten Wasserstoffatom nur die elektrostatische Anziehungskraft zwischen Elektron und Proton besteht, wird bei starker Näherung zweier Wasserstoffatome auch die Anziehungskraft des Kerns des anderen Atoms auf das Elektron wirksam. Schließlich dringen die negativen Ladungswolken der beiden einfach besetzten s-Orbitale ineinander ein, sie „überlappen“. Die beiden mit je einem Elektron besetzten Atomorbitale verschmelzen zum doppelt besetzten σ-Molekülorbital. Die negative Ladungsdichte zwischen den Kernen ist besonders groß und bewirkt den Zusammenhalt der beiden positiv geladenen Kerne im Wasserstoffmolekül. In diesem haben beide Kerne einen Gleichgewichtsabstand, bei dem sich alle anziehenden (zwischen Atomkernen und Elektronen) und abstoßenden Kräfte (zwischen beiden Protonen und zwischen Elektronen) im Gleichgewicht befinden. Mit diesem Abstand erreicht das aus zwei Wasserstoffatomen bestehende System ein Energieminimum. Die Bindung zwischen beiden Kernen wird als σBindung bezeichnet, der Abstand beider Kerne voneinander als Bindungslänge. Zu einer σ-Bindung führt nicht nur die Überlappung zweier s-Orbitale(z. B. im H2-Molekül), sondern auch die Überlappung eines 1s- mit einem 2p-Orbital (z. B. im HF-Molekül) oder zweier 2p-Orbitale entlang der Kernverbindungsachse (z. B. beim F2-Molekül). Überlappen zwei 2p-Orbitale senkrecht auf der Kernverbindungsachse, so wird eine π-Bindung gebildet (z. B. im Ethen). Durch In-Phase-Überlappung (beide Phasenzeichen gleich) wird ein bindendes Molekülorbital gebildet, die Außer-Phase-Überlappung (ungleiche Phasenzeichen der Orbitallappen) läßt ein antibindendes Molekülorbital entstehen. Im bindenden Molekülorbital ist die Wellenfunktion im Bereich zwischen den Atomkernen verstärkt, und die Aufenthaltswahrscheinlichkeit der Bindungselektronen zwischen den Kernen ist groß. Beim antibindenden Molekülorbital hingegen erfolgt eine Schwächung oder Auslöschung
Potentielle Energie
E0 = Summe der potentiellen Energie zweier isolierter Wasserstoffatome r0 = Bindungslänge D = Bindungsenergie
E0 D r0 Kernabstand
Bild 1.12 Die potentielle Energie als Funktion des Kernabstandes, wenn sich zwei H-Atome einander nähern
1.3 Die wellenmechanische Beschreibung der Elektronen im Kohlenstoffatom
+
+ s
s
-
+
+ s
p
+
+
-
+
-
-
p
+
+
-
-
p
p
-
+
p
+
17
-
+ -
σ-Bindungen
π-Bindung
Bild 1.13 Überlappung von s- und p-Orbitalen zu bindenden Molekülorbitalen (• = Kern- oder Atomrumpf)
der Wellenfunktion zwischen den Kernen. Bei der Bildung einer kovalenten Bindung bleibt das antibindende Molekülorbital meistens unbesetzt. Für Molekülorbitale gilt ebenso wie für Atomorbitale, daß sie nur von maximal 2 Elektronen besetzt sein können, wobei diese entgegengesetzten Spin haben müssen.
1.3.4 Hybridorbitale Im Grundzustand des Kohlenstoffatoms ist das 1s-Orbital mit 2 Elektronen und das 2s-Orbital ebenfalls mit 2 Elektronen besetzt. Verbleiben also noch 2 Elektronen für die Besetzung der p-Orbitale. Hierbei gilt die Hundsche Regel, wonach energetisch gleichwertige Orbitale zunächst alle einfach mit Elektronen zu besetzen sind und erst dann eine Doppelbesetzung dieser Orbitale erfolgen kann. Demnach werden beim Kohlenstoff im Grundzustand zwei 2pOrbitale einfach besetzt, das weitere 2p-Orbital bleibt unbesetzt. Die Besetzung der Orbitale des Kohlenstoffs im Grundzustand zeigt das Schema in Bild 1.14, wobei die einzelnen Kästchen die Orbitale, die Pfeile die Elektronen und die Pfeilrichtungen ihren Spin veranschaulichen sollen. Für Bindungen mit Wasserstoff stehen also beim Kohlenstoffatom im Grundzustand nur die beiden einfach besetzten p-Orbitale zur Verfügung, da sein 2s-Orbital schon doppelt besetzt ist. Die beiden einfach besetzten p-Orbitale des C-Atoms könnten mit sOrbitalen zweier Wasserstoffatome überlappen, die ebenfalls mit einem Elektron besetzt sind, und zwei jeweils doppelt mit Elektronen besetzte σ-Molekülorbitale bilden. Demnach sollte also bei der Reaktion des Kohlenstoffs mit Wasserstoff die Verbindung CH2 entstehen. Eine solche Verbindung wäre sehr energiereich und damit unstabil; der Kohlenstoff wäre in dieser Verbindung zweibindig und hätte anstelle des Oktetts nur ein Elektronensextett auf seiner Außenschale: C
H H
18
1 Einführung
2p
Ε
2s
1s
Bild 1.14 Besetzung der Atomorbitale des Kohlenstoffs im Grundzustand
Eine solche Verbindung, das Carben, ist zwar als enorm reaktionsfähiges Partikel bekannt, das nur sehr kurze Zeit existieren kann, aber seine Bindungsverhältnisse entsprechen nicht dem Kohlenstoffatom im Grundzustand. Außerdem wissen wir, daß der Kohlenstoff in seinen stabilen Verbindungen in der Regel vierbindig ist. Die entsprechenden Bindungsverhältnisse des vierbindigen Kohlenstoffs in organischen Verbindungen erklärt man im wellenmechanischen Modell mit der Hybridisierung der s- und p-Orbitale. Quantenmechanisch kann man die Hybridorbitale durch Kombination der die ursprünglichen Orbitale beschreibenden Eigenfunktionen ableiten. Es handelt sich hier also um eine mathematische Umformung der 2s- und 2p-Orbitale in energetisch gleichwertige Orbitale, die Hybridorbitale. Sie stellen ein Orbitalsystem vor, das ein besseres Verständnis der Bindungsverhältnisse kovalenter Bindungen in organischen Verbindungen ermöglicht, das den realen Gegebenheiten besser entspricht. An der Hybridisierung der Atomorbitale des Kohlenstoffs ist jeweils das 2s-Orbital beteiligt und ein, zwei oder drei 2p-Orbitale. Die Anzahl der Hybridorbitale entspricht der Anzahl der ursprünglichen Orbitale. Die Hybridisierung des 2s- und eines 2p-Orbitals ergibt zwei sp-Hybridorbitale, des 2s- und zweier 2p-Orbitale ergibt drei sp2-Hybridorbitale und des 2s- und aller drei 2p-Orbitale ergibt vier sp3-Hybridorbitale. Die hochgestellte Zahl gibt an, wieviel p-Orbitale an der Hybridisierung beteiligt sind. 1.3.4.1 sp3-Hybridorbitale Nach der von Pauling eingeführten Vorstellung beeinflussen sich Atomorbitale gegenseitig so, daß es zu einem Energieausgleich (Hybridisierung) kommt, der zu energetisch gleichen Hybridorbitalen führt. Quantenmechanisch kann man sich die neuen hybriden Orbital-Eigenfunktionen durch Kombination der die ursprünglichen Orbitale beschreibenden Eigenfunktionen Ψ entstanden denken. Die Hybridisierung des 2s-Orbitals mit den drei 2p-Orbitalen ergibt vier äquivalente sp3-Hybridorbitale. Durch die Mischung eines 2s-Orbitals mit drei 2p-Orbitalen erfolgt bei der Hybridisierung eine Umformung der Orbitallappen. Das sp3-Hybridorbital hat die Form einer Keule.
1.3 Die wellenmechanische Beschreibung der Elektronen im Kohlenstoffatom
x
-
z
z
z
+ +
x
+
+
-
x -
+
y
y
y s
19
px
py
+
+
pz
-
+ +
-
+
vier sp3-Orbitale
Hybridisierung Bild 1.15 Die Hybridisierung eines s- und dreier p-Orbitale ergibt vier sp3-Hybridorbitale
Der größere Orbitallappen wird als Vorderlappen, der kleinere als Hinterlappen bezeichnet. Das Plus- und das Minuszeichen kennzeichnen die Phase des Orbitallappens, sie dürfen nicht mit einer elektrischen Ladung verwechselt werden! Es sei noch darauf hingewiesen, daß auch sp2- und sp-Hybridorbitale eine Keulenform haben. Die sp3-Hybridisierung hat eine veränderte räumliche Ausrichtung der Orbitale zur Folge, wie in Bild 1.17 veranschaulicht wird. Die Symmetrieachsen der sp3-Hybridorbitale weisen in die Ecken eines gedachten Tetraeders und schließen einen Winkel von 109°28' ein. Die Elektronenverteilung im Kohlenstoffatom mit vier sp3-Hybridorbitalen wird in Bild 1.18 aufgezeigt. Das Kohlenstoffatom besitzt insgesamt sechs Elektronen. Zwei Elektronen besetzen das 1s-Orbital, so daß noch vier Elektronen zur Besetzung der vier sp3-Orbitale verbleiben. Nach der Hundschen Regel erfolgt die Besetzung der vier gleichwertigen sp3Orbitale mit je einem Elektron. Die Hundsche Regel besagt, daß bei gleichwertigen Orbitalen diese zunächst einfach besetzt werden. Erst nachdem alle gleichwertigen Orbitale einfach besetzt sind, kann eine Doppelbesetzung erfolgen. Die vier einfach besetzten sp3-Hybridorbitale des C-Atoms können mit den einfach besetzten s-Orbitalen des Wasserstoffes überlappen und vier äquivalente C–H-σ-Bindungen ausbilden. Dies entspricht der Bindungsrealität im Methan.
Hinterlappen (back lobe) +
-
Vorderlappen
Bild 1.16 Das sp3-Hybridorbital
Kern Knotenebene
20
1 Einführung
Kern 109°28‘
109°28‘
109°28‘
= Symmetrieachse der sp3-Orbitale Bild 1.17
Räumliche Anordnung der vier sp3-Hybridorbitale
Das Zustandekommen einer C–C-σ-Bindung kann man sich so vorstellen, daß das sp3Hybridorbital eines C-Atoms mit dem eines anderen C-Atoms überlappt. Geht man von der Vorstellung aus, daß sich auch Sauerstoff- und Stickstoffatome im sp3-Zustand befinden können und daß ihre sp3-Hybridorbitale mit den sp3-Hybridorbitalen des Kohlenstoffs überlappen und σ-Bindungen bilden können, so kann man damit auch das Zustandekommen der C–O- und C–N-σ-Bindungen erklären.
Ε
2 (sp3)4
1s2
Bild 1.18 Elektronenverteilung im sp3-hybridisierten C-Atom
1.3 Die wellenmechanische Beschreibung der Elektronen im Kohlenstoffatom
21
H
s-Orbital
σ-Orbital
sp3-Orbital C
H
C
H
H H
H
H
H Das Methan-Molekül mit tetraedischer Anordnung der σ-Orbitale
Überlappung der sp3-Orbitale des sp3-hybridisierten C-Atoms mit den s-Orbitalen des Wasserstoffatoms
Bild 1.19 Räumliche Anordnung der σ-Orbitale im Methanmolekül
In Bild 1.20 ist die Besetzung der Orbitale mit Elektronen durch Punkte veranschaulicht. Man geht von der Annahme aus, daß das Sauerstoffatom und das Stickstoffatom bei Vorliegen einer C–O- bzw. C–N-σ-Bindung ebenfalls sp3-hybridisiert sind. In den nichtbindenden Orbitalen des Sauerstoffes und Stickstoffes sind in der Abbildung die freien Elektronenpaare durch zwei Punkte veranschaulicht. Die mit einem Elektron besetzten Orbitale können noch mit einem anderen Orbital, das ebenfalls mit einem Elektron besetzt ist, überlappen.
C
C
H
= mit einem Elektron, = mit zwei Elektronen besetzt
C-H-σ-Bindung
Überlappung
C
H
C
C
C
C-C-σ-Bindung
C
O
C
O
C-O-σ-Bindung
C
N
C
N
C-N-σ-Bindung
Bild 1.20 Bildung von σ-Bindungen durch Überlappung mit sp3-Hybridorbitalen
22
1 Einführung
1.3.4.2 sp2-Hybridorbitale Trigonale Atom-Hybridorbitale haben für den Kohlenstoff ebenfalls Bedeutung. Mit ihrer Hilfe kann man die Bindungsverhältnisse in Alkenen und in Carbeniumionen erklären. Bei der trigonalen- oder sp2-Hybridisierung wird das pz-Orbital unverändert gelassen, und es werden ein 2s-, das 2px- und das 2py-Orbital umgeformt. Man erhält durch diese mathematische Operation drei gleichwertige, keulenförmige sp2-Hybridorbitale. Alle drei sp2-Hybridorbitale (schraffiert gezeichnet) liegen in einer Ebene (in Bild 1.22 ist es die xy-Ebene ), ihre Symmetrieachsen schließen einen Winkel von 120° ein. Die Symmetrieachse des nach der sp2-Hybridisierung verbliebenen 2pz-Orbitals steht senkrecht zu dieser Ebene, wobei sich ein Orbitallappen des p-Orbitals über, der andere unter der Ebene befindet. Bei der Überlegung, wie die Orbitale im sp2-hybridisierten Kohlenstoff mit Elektronen besetzt sind, geht man von der Vierbindigkeit des Kohlenstoffatoms aus. Dies setzt voraus, daß die drei sp2-Orbitale und das p-Orbital jeweils einfach besetzt sind, wie dies Bild 1.23 zeigt. Doppelt gebundene Kohlenstoffatome in Alkenen sind sp2-hybridisiert, wobei die Doppelbindung aus einer σ- und einer π-Bindung besteht. Nach der MO-Theorie (siehe Abschnitt 6.3) geht man von der Vorstellung aus, daß zwei sp2-Hybridorbitale (von jedem sp2-hybridisierten C-Atom ein sp2-Hybridorbital, siehe Bild 1.24) zu einem σ-Orbital und zwei zueinander parallel stehende p-Orbitale (von jedem sp2-hybridisierten C-Atom ein p-Orbital) zu einem π-Orbital überlappen. Das σ-Molekülorbital befindet sich auf der C–C-Verbindungsachse, ein Orbitallappen des π-Orbitals liegt über, der andere unter dem σ-Orbital. In Bild 1.24 sind das σ-Orbital und die sp2-Hybridorbitale schraffiert gekennzeichnet.
z
z x
-
+
+
+
-
+ y
y s
+
x
px
z
xy-Ebene
+
py
y
-
+
120°
drei sp2-Hybridorbitale
Hybridisierung = Symmetrieachse der sp2-Hybridorbitale
Bild 1.21 Umformung der Orbitale bei der sp2-Hybridisierung
x
1.3 Die wellenmechanische Beschreibung der Elektronen im Kohlenstoffatom
z
120°
+ -
+
+
- 120°
23
+
+
+ +
x
-
120°
y sp2-hybridisiertes Kohlenstoffatom
sp2-Hybridorbitale ohne p-Orbital von oben gesehen
Bild 1.22 sp2–hybridisiertes C-Atom
Die vier verbleibenden sp2-Orbitale der beiden sp2-hybridisierten C-Atome liegen alle in einer Ebene, die gleichzeitig auch die Knotenebene des π-Orbitals darstellt (siehe Bild 1.24). Diese Ebene, in der sich auch die beiden sp2-hybridisierten C-Atome und die C–C-σ-Bindung befinden, steht senkrecht auf der π-Orbitalebene (siehe Bild 1.25), die mitten durch die beiden π-Orbitallappen geht. Die vier sp2-Hybridorbitale können mit je einem s-Orbital eines Wasserstoffatoms zu vier C–H-σ-Bindungen überlappen. Die vier Wasserstoffatome und die beiden Kohlenstoffatome liegen somit in einer Ebene (siehe Bild 1.25), was der realen räumlichen Anordnung der Atome im Ethen entspricht. Ethen hat die Summenformel C2H4. Die räumliche Anordnung der Atome kann in der Konstitutionsformel ausgedrückt werden. Da diese in der Papierebene geschrieben wird, muß man die dreidimensionale räumli-
2pz 2 (sp2)3
Ε
1s2 sp2-hybridisiertes Kohlenstoffatom
Bild 1.23 Elektronenbesetzung der Orbitale des sp2-hybridisierten C-Atoms
24
1 Einführung
+
π-Orbital
σ-Orbital
Anmerkung: Die Hinterlappen der sp2-Orbitale und des σ-Orbitals wurden nicht eingezeichnet
Bild 1.24 σ- und π-Molekülorbitale in der C=C-Doppelbindung
che Anordnung der Bindungen durch eine entsprechende Symbolik veranschaulichen. Bindungen, die sich hinter der Papierebene befinden würden, werden gestrichelt, Bindungen die vor die Papierebene gehen würden, werden mit einem starken Strich oder einem Keilstrich gekennzeichnet. Denkt man sich die Ebene des π-Orbitals in die Papierebene versetzt, so wird die Konstitutionsformel des Ethens so aussehen: unter Papierebene H
H C
C
H
H
über Papierebene
Geht man jedoch von der Vorstellung aus, daß die π-Orbitalebene senkrecht zur Papierebene steht, so liegen alle Atome des Ethens und auch die π-Bindungen in der Papierebene, und in diesem Falle können die Bindungen mit einem einfachen Strich gezeichnet werden: H
H C
C
H
H π-Orbitalebene
H
C
C
Ebene senkrecht zur π-Orbitalebene H
H
Überlappung der sp2-Orbitale mit den s-Orbitalen der Wasserstoffatome
H
H C
H
C
H
H
Das Ethenmolekül, alle H- und C-Atome liegen in einer Ebene
Anmerkung: Die Hinterlappen der sp2-Orbitale und der σ−Orbitale wurden nicht eingezeichnet.
Bild 1.25 Räumliche Anordnung der C- und H-Atome im Ethen
1.3 Die wellenmechanische Beschreibung der Elektronen im Kohlenstoffatom
25
Während die nur mit einer σ-Bindung untereinander gebundenen Kohlenstoffatome um diese Bindung frei drehbar sind, ist die Drehbarkeit der doppelt gebundenen C-Atome um ihre Achse nicht mehr gegeben, da sie durch die π-Bindung fixiert sind. Eine Drehung der C-Atome um die C=C-Doppelbindung würde die Überlappung im π-Orbital lösen und damit die π-Bindung spalten, wozu erhebliche Energie notwendig ist. 1.3.4.3 sp-Hybridorbitale An der sp-Hybridisierung des Kohlenstoffatoms sind ein 2s- und ein 2p-Orbital beteiligt. Daraus resultieren zwei sp-Hybridorbitale. Im sp-hybridisierten C-Atom befinden sich außerdem noch zwei 2p-Orbitale. Zum Verständnis der Bindungsverhältnisse und der räumlichen Anordnung der Atome in Alkinen kann ein Modell zweier sp-hybridisierter Kohlenstoffatome herangezogen werden, wobei man von der Vorstellung ausgeht, daß jeweils ein sp-Hybridorbital und zwei p-Orbitale des einen Kohlenstoffatoms mit einem sp-Hybridorbital und zwei p-Orbitalen des anderen Kohlenstoffatoms zu einem σ- und zwei π-Orbitalen überlappen. Die zwei an den dreifach gebundenen C-Atomen verbleibenden sp-Atomorbitale überlappen mit Atomorbitalen anderer Atome, z. B. mit dem s-Orbital des Wasserstoffs. Bei der sp-Hybridisierung erfolgt eine Umformung des 2s- und des 2p-Orbitals zu zwei gleichwertigen sp-Orbitalen. Die räumliche Ausrichtung beider Orbitale ist aus Bild 1.26 ersichtlich. Im kartesischen Koordinatensystem orientiert, liegen sie beide auf der x-Achse einander gegenüber. Nach der sp-Hybridisierung verbleiben auf der L-Schale des C-Atoms außer den zwei spOrbitalen noch zwei p-Orbitale, welche aufeinander senkrecht stehen und mit je einem Elektron besetzt sind. Das sp-hybridisierte C-Atom kann man im kartesischen Koordinatensystem so orientieren, daß die Symmetrieachsen der beiden sp-Hybridorbitale auf der x-Achse und die Symmetrieachsen des 2py-Orbitals und des 2pz-Orbitals auf der y-Achse und der z-Achse liegen. In Bild 1.27 ist der hintere Orbitallappen des hantelförmigen py-Orbitals verdeckt. Der Vierbindigkeit des Kohlenstoffs entsprechend, sind sowohl die sp-Orbitale als auch die 2p-Orbitale mit je einem Elektron besetzt. Das sp-hybridisierte C-Atom hat die Elektronenkonfiguration 1s2 2(sp)2 2py 2 pz.
z +
-
+
+ sp
2s
+
2px
-
y
-
+ sp
zwei sp-Hybridorbitale
sp-Hybridisierung
Bild 1.26 Umformung der Orbitale bei der sp-Hybridisierung
x
26
1 Einführung
z py pz
x
y sp-Orbitale in Seitenansicht
Bild 1.27 sp-hybridisiertes C-Atom
Man kann sich vorstellen, daß in zwei sp-hybridisierten C-Atomen eine Überlappung zweier sp-Orbitale zu einem σ-Orbital und die Überlappung zweier px-Orbitale und zweier py-Orbitale zu zwei π-Orbitalen führt, wobei die π-Orbitale zueinander senkrecht stehen. Die verbleibenden zwei sp-Orbitale, die noch mit Atomorbitalen anderer Atome überlappen können, liegen ebenso wie die Kerne der sp-hybridisierten Kohlenstoffatome auf der x-Achse. In Bild 1.29 sind das σ-Orbital und ebenso der hintere Lappen des auf der y-Achse liegenden π-Orbitals verdeckt. Überlappen nun noch die s-Orbitale zweier Wasserstoffatome mit den zwei verbleibenden sp-Orbitalen der untereinander dreifach gebundenen Kohlenstoffatome, so resultiert daraus die Verbindung H
C
C
H
das Ethin. Im Ethin liegen die beiden H- und die beiden C-Atome auf einer Achse.
2py
2pz
2 (sp)2
Ε
1s2 sp-hybridisiertes Kohlenstoffatom
Bild 1.28 Elektronenbesetzung der Orbitale des sp-hybridisierten C-Atoms
1.3 Die wellenmechanische Beschreibung der Elektronen im Kohlenstoffatom seitlich gesehen:
z +
π-Orbital in xz-Ebene
x y
sp-Hybrid
27
sp-Hybrid
= sp-Orbitale
Vorderlappen des π-Orbitals in xy-Ebene
Von seitlich vorne gesehen: (sp-Orbitale werden nur mit Symmetrieachse angedeutet)
C-Atom sp-hybridisiert
C-Atom sp-hybridisiert Symmetrieachse des sp-Orbitals Andeutung der Überlappung
Bild 1.29 Orbitale der C-C-Dreifachbindung
1.3.5 Bindungslängen und Bindungsenergien der KohlenstoffKohlenstoff-Einfach-, Doppel- und Dreifachbindung Bei der Bindungslänge geht es um einen Gleichgewichtsabstand zweier Atomkerne, der einem Minimum der potentiellen Energie beider Atome bei einem Gleichgewicht der Anziehungs- und Abstoßungskräfte entspricht. Die Bindungslänge ist um so kürzer, je größer die Anziehungskräfte sind. Nach der Coulomb-Gleichung F =
Q− ⋅Q+
4 π ε r2
(F = Kraft, Q = Ladung, ε = dielektrische Konstante, r = Entfernung der Ladungen)
nimmt die Anziehungskraft ungleichnamiger Ladungen mit der Ladungsgröße zu. Die größere Elektronendichte zwischen den Atomrümpfen der C-Atome bei einer Doppel- und Dreifachbindung läßt deshalb auf eine kürzere Bindungslänge schließen. Weiter ist noch zu berücksichtigen, daß die σ-Bindungen in Abhängigkeit von der Hybridisierung der an der Bindung beteiligten C-Atome unterschiedlichen Charakter haben. Die sp3-, sp2- und sp-Hybridorbitale haben alle die in Bild 1.16 dargestellte Keulenform, sie unterscheiden sich jedoch in der Relation ihrer s- und p-Anteile. Bei der sp3-Hybridisierung ist der p-Anteil am größten (75 % p : 25 % s), beim sp2-Orbital ist er kleiner
28
1 Einführung
(66,66 % p : 33,33 % s), und am kleinsten ist er im sp-Orbital (50 % p : 50 % s). Coulson berechnete, daß das Überlappungsintegral (siehe Bild 1.30) am größten bei zwei spHybridorbitalen ist, dann folgen die sp2- und schließlich die sp3-Orbitale. Das Überlappungsintegral ist das Maß für die Überlappung der bindenden Orbitale. Ist die Überlappung bindender Orbitale größer, so liegt auch eine größere Elektronendichte zwischen den Kernen vor. Es ist zu erwarten, daß mit zunehmender Überlappung der Hybridorbitale die Anziehungskräfte auf die Atomkerne zunehmen und die Bindungen als Folge davon kürzer sein müssen. Die Bindungsdissoziationsenergie charakterisiert die Festigkeit der Bindung. Eine ebenso große Energie muß aufgewendet werden, um die entsprechende Bindung zu spalten. Die Bindungsenergie der C=C-Doppelbindung hat keinesfalls den doppelten Wert der C–C-Einfachbindung. Dies ist damit zu erklären, daß der Überlappungsgrad der p-Orbitale geringer als der der Hybridorbitale ist.
0,8
Überlappungsintegral
0,7 0,6 0,5 sp3 0,4
sp sp2
0,3
20
60 80 40 100 % prozentualer s-Charakter
Bild 1.30 Überlappungsintegral von Hybrid-Atomorbitalen in Abhängigkeit vom ihrem s-Anteil (nach: C.A. Coulson, Die chemische Bindung, Hirzel Verlag, Stuttgart, 1969) Tabelle 1.3
Bindungslängen und Bindungsdissoziationsenergien
Bindungsart
Bindungslänge in pm
Bindungsdissoziationsenergie in kJ mol–1
C
H
(Ethan)
109
410
C
C
(Ethan)
154
347
C
C
(Ethen)
135
620
C
C
(Ethin)
120
810
1.3 Die wellenmechanische Beschreibung der Elektronen im Kohlenstoffatom
29
1.3.6 Die räumliche Anordnung der Hybridorbitale Mit Ausnahme der kugelsymmetrischen s-Orbitale haben alle atomaren Elektronenzustände bestimmte räumliche Vorzugsrichtungen, aus denen unmittelbar auch die räumliche Festlegung der Bindungsrichtungen kovalenter Bindungen folgt. Bei der räumlichen Ausrichtung von Hybridorbitalen kann man davon ausgehen, daß Elektronen aufgrund der Abstoßung gleichnamiger Ladungen sich in wahrscheinlichen Aufenthaltsräumen bewegen, die voneinander möglichst weit entfernt sind. Daraus ergeben sich automatisch die räumlichen Ausrichtungen der Orbitale. Bild 1.31 zeigt die räumliche Ausrichtung der Hybridorbitale, wobei zur besseren Überschaubarkeit nur die Symmetrieachsen der Hybridorbitale eingezeichnet wurden. Im sp3-hybridisierten C-Atom liegen insgesamt 4 sp3-Orbitale vor. Setzt man voraus, daß sich die 4 Elektronenwolken gegenseitig abstoßen und einen möglichst großen räumlichen Abstand voneinander gewinnen wollen, so ergibt sich daraus die tetraedrische Anordnung der sp3-Orbitale. Die Symmetrieachsen schließen einen Winkel von 109°28' ein. Im sp2-hybridisierten Kohlenstoffatom sind 3 sp2-Hybridorbitale vorhanden. Diese sind dann am weitesten voneinander entfernt, wenn ihre Symmetrieachsen einen Winkel von 120° einschließen. Im sp-hybridisierten Kohlenstoffatom liegen 2 sp-Orbitale vor, die in linearer Anordnung am weitesten voneinander entfernt sind.
Ebene, in der die sp2-Orbitale liegen
z
109°28‘
120°
109°28‘ 109°28‘
y
180°
120°
tetraedrisch
trigonal
linear
sp3-Orbitale
sp2-Orbitale
sp-Orbitale
räumliche Anordnung der Hybridorbitale Bild 1.31 Räumliche Anordnung der sp3-, sp2- und sp-Hybridorbitale (der besseren Übersicht halber wurden nur die Symmetrieachsen der Hybridorbitale eingezeichnet)
30
1 Einführung
1.4 Die polare kovalente Bindung und der induktive Effekt Die Fähigkeit eines Atoms, in der Bindungssituation die gemeinsamen Elektronen an sich zu ziehen, wird durch den Wert der Elektronegativität charakterisiert. Diese Werte bilden eine Skala, in der dem Fluor, das die höchste Elektronegativität besitzt, willkürlich der Wert 4 und Li der Wert 1 zugeordnet wurde. Die gebräuchlichste Elektronegativitätsskala stammt von Pauling. Sie basiert auf experimentell abgeleiteten Werten der Bindungsenergie. Im Periodensystem der Elemente nimmt die Elektronegativität der Elemente in den Perioden von links nach rechts und in den Gruppen von unten nach oben zu. In der kovalenten Bindung, die zwei gleiche Atome, z. B. zwei Kohlenstoffatome oder zwei Atome mit geringen Negativitätsunterschieden bindet, z. B. ein Kohlenstoff- mit einem Wasserstoffatom, darf man eine symmetrische Verteilung der Elektronendichte zwischen beiden Bindungspartnern annehmen. Bei Partnern mit unterschiedlicher Elektronegativität hingegen ist in der σBindung die Elektronendichte zwischen beiden Partnern ungleichmäßig verteilt, sie ist bei dem elektronegativeren Partner größer. Durch diese ungleiche Ladungsverteilung liegt eine polare kovalente Bindung vor. Ist X ein elektronegativeres Atom als das Kohlenstoffatom, so kann man die Polarität der C–X-Bindung auf die Weise symbolisieren, daß man zu dem elektronegativeren Partner ein δ– und zu dem anderen Bindungspartner ein δ+ schreibt, das Symbol für eine negative bzw. positive Teilladung: δ+ C
X
δ-
Die Polarität der C–X-σ-Bindung beeinflußt auch die am nächsten liegenden σ-Bindungen, denn das C-Atom mit positiver Teilladung zieht nun seinerseits die Elektronen der benachbarten σ-Bindungen an. Die dadurch hervorgerufene Polarität ist aber schon geringer als die der C–X-σ-Bindung. Bei der weiter entlegenen σ-Bindung wirkt sich diese polarisierende Wirkung noch weniger aus. Diese, durch die Polarität einer σ-Bindung induzierte Polarisierung auf die in nächster Nähe befindlichen σ-Bindungen, bezeichnet man als induktiven Effekt. Ist X ein Substituent, der infolge seiner Elektronegativität die Bindungselektronen anzieht, so spricht man vom –I-Effekt (minus I-Effekt): Hauptgruppen I 1
II
III
IV
VI
V
VII
VIII 2
H 2,2
3
Li
4
1,0 11
Na 0,9
He
Be
5
1,5 12
Mg 1,2
B
6
2,0 13
Al 1,5
C
7
3,0
2,5 14
Si 1,8
N
8
15
P 2,1
O
9
S 2,5
17
Cl 3,0
Ne -
4,0
3,5 16
F
10
18
Ar -
Bild 1.32 Die Elektronegativität nach Pauling für Elemente der drei ersten Perioden des Periodensystems der Elemente
1.4 Die polare kovalente Bindung und der induktive Effekt
δ+
C
C
H
σ-Orbital
31
δX
σ-Orbital
unpolare σ-Bindung
polare σ-Bindung
Bild 1.33 Polare und unpolare σ-Bindung
C
C
X
–I-Effekt z. B. für X = Cl, Br, NO2 usw.
Ist X jedoch ein Substituent, der die Elektronen von sich wegschiebt, so liegt ein +I-Effekt vor:
C
C
X
+ I-Effekt z. B. für X = O–.
Substituenten mit positiver Ladung, z. B. –+NH3 üben einen starken –I-Effekt aus, während bei Substituenten mit negativer Ladung z. B. –O– ein starker +I-Effekt wirksam ist (die negative Ladung schiebt die Bindungselektronen weg). Sie haben nun mit der Bindungstheorie einen ersten Einblick in die Organische Chemie bekommen. Falls Sie dieses Kapitel als schwierig empfunden haben, so kann ich Sie trösten, es ist eine etwas schwierigere Passage gewesen, denn der Lehrstoff ist relativ abstrakt und erfordert auch räumliches Vorstellungsvermögen. Wenn Sie es trotzdem geschafft haben, darf ich Ihnen gratulieren. Falls nicht, werfen Sie die Flinte nicht ins Korn, bedenken Sie, daß aller Anfang schwer ist, und studieren Sie dieses Kapitel nochmals durch. Die Organische Chemie ist kein Buch mit sieben Siegeln, man muß sich nur beim Lesen schwierigerer Partien konzentrieren und zum Text auch die entsprechenden Bilder ansehen.
CH E
MIE
Bild 1.34 Erste Einblicke in die Organische Chemie
32
1 Einführung
1.5 Modellvorstellungen und Gegenstandsmodelle in der Organischen Chemie Die realen Gegebenheiten sind zumeist sehr komplex, sie können aber vereinfacht dargestellt werden. Eine Photographie ist z. B. eine solche Vereinfachung. Sie stellt die dreidimensionale Person auf dem zweidimensionalen Bild dar. Einiges allerdings kann dieses Photo nicht vermitteln, z. B. den Klang der Stimme, und außerdem sieht man die Person auf dem Photo gewöhnlich nur von vorne oder seitlich. Trotzdem ist es möglich, auf Grund der Gesichtszüge, der Gestalt und der Farben zu erkennen, welche Person photographiert wurde. Es ist sogar möglich, mit dem Paßphoto und den Angaben im Paß eine Person zu identifizieren. Daraus erkennt man, daß eine solche Vereinfachung sehr nützlich sein kann. Allerdings sind die Aussagen und die Schlußfolgerungen, die aus der vereinfachten Wiedergabe der realen Gegebenheit gezogen werden können, begrenzt. Modelle sind dadurch charakterisiert, daß sie die Wirklichkeit vereinfacht wiedergeben, so daß man bestimmte komplexe Zusammenhänge besser übersehen und verstehen kann. Das Modell ist nicht als Selbstzweck gedacht, sondern es muß einen nutzbringenden Effekt haben. Es kann z. B. zu einem besseren Verständnis komplexer Vorgänge oder Gegebenheiten beitragen. Die dem Modell innewohnenden Vereinfachungen bringen es jedoch mit sich, daß der Gültigkeitsbereich des Modells für Aussagen und Schlußfolgerungen begrenzt ist. Es ist deshalb notwendig, die Realität und das Modell auseinanderzuhalten. Theoretische Denkmodelle Theoretische Denkmodelle erwachsen aus Überlegungen, Vorstellungen und Theorien. Sie sind ein Hilfsmittel, um bestimmte Zusammenhänge besser zu begreifen und gegebenenfalls auch Voraussagen treffen zu können. Im vorhergehenden Kapitel wurde ein Denkmodell eingebracht: das wellenmechanische Modell. Dieses läßt die eine Seite der Realität, nämlich den korpuskularen Charakter des Elektrons, außer acht und basiert nur auf dem Wellencharakter des Elektrons. Aus der wellenmechanischen Betrachtung ergab sich die Schrödinger-Gleichung und aus dieser wieder ein mathematisches Modell, das Orbitalmodell. Dieses ermöglicht ein besseres Verständnis der Bindungsverhältnisse organischer Verbindungen und der räumlichen Anordnung der Atome in den Molekülen. Trotz der Vereinfachungen, die bei diesen Modellvorstellungen vorliegen, bedarf es zum Verständnis doch eines gewissen Abstraktionsvermögens und insbesondere eines räumlichen Vorstellungsvermögens. Deshalb ist es wichtig, diese theoretischen Denkmodelle durch gegenständliche Modelle zu unterstützen. Gegenständliche Modelle Gegenständliche Modelle sind aus bestimmten Materialien hergestellte didaktische Hilfsmittel. Ein allen bekanntes gegenständliches Modell ist die Modelleisenbahn. Sie entspricht in wesentlichen äußeren Merkmalen dem Modellobjekt, nämlich der realen Eisenbahn, auch in den Proportionen, kann sich aber in vielen anderen Dingen ( z. B. dem Antrieb ) vom Original durchaus unterscheiden. Die Modelleisenbahn ist auch viel kleiner als das Modellobjekt. Bei den Atom- und Molekülmodellen ist es umgekehrt, die Modelle haben weit größere Dimensionen als die Modellobjekte.
1.5 Modellvorstellungen und Gegenstandsmodelle in der Organischen Chemie
Kalottenmodell
33
Kugel-Stift-Modell
Bild 1.35 Gegenständliche Modelle
Zu den gegenständlichen Modellen, die in der Organischen Chemie eingesetzt werden, gehören die Orbitallappenmodelle, die zur Veranschaulichung räumlicher Vorstellungen bei σ- und π-Bindungen, ebenso wie für Vorstellungen über Elektronenwolken delokalisierter π-Elektronen, z. B. beim Benzol, dienen. Am meisten benutzt man in der Organischen Chemie Molekülmodelle, die in ganzen Sätzen in Molekülbaukästen geliefert werden. Sie zeigen die räumliche Anordnung der Atome im Molekül. Die Molekülmodelle lassen sich im wesentlichen in zwei Gruppen gliedern: Es gibt raumfüllende Modelle, z. B. Kalottenmodelle, und Gerüstmodelle, deren Vertreter z. B. das Kugel-Stift-Modell ist (siehe Bild 1.35). Die raumfüllenden Modelle geben prinzipiell Auskunft über die Gestalt eines Moleküls. In Kalottenmodellen z. B. haben die die Atome veranschaulichenden Kugeln je nach Atomart verschiedene Radien, so daß die Verhältnisse dieser Radien untereinander den Verhältnissen der Atomradien unterschiedlicher Atome entsprechen. Auch der Durchdringung der Atomhüllen ist Rechnung getragen. Kalottenmodelle entsprechen den räumlichen Gegebenheiten von Molekülen weit besser als Gerüstmodelle. Sie sind aber zu kompakt, um Bindungswinkel und Bindungslängen gut demonstrieren zu können. Dazu benutzt man gewöhnlich Gerüstmodelle. In den Gerüstmodellen sind die Kugeln gewöhnlich gleich groß, bis auf die das Wasserstoffatom veranschaulichenden, etwas kleineren weißen Kugeln. Die Kugeln für Kohlenstoff sind schwarz, für Sauerstoff rot, für Stickstoff blau und die für Schwefel gelb. In manchen Gerüstmodellen sind die Atome lediglich als farbige Zentren angedeutet. Sie haben den Bindungswinkeln entsprechende Bohrungen, in die Metallfedern, Metall-, Kunststoff- oder Holzstifte passen. In anderen Gerüstmodellen, z. B. an Prentice-Hall-Modellen (auch als Framework Molecular Models bezeichnet), sind an einem kleinen farbigen Kügelchen feste kleine Kunststoffstifte angebracht, auf die Kunststoffhalme aufgesteckt werden können, die die Kügelchen untereinander verbinden. In Dreiding-Modellen werden Metallstäbchen direkt in Hohlstäbchen eingeschoben. So ist z. B. jedes sp3-Kohlenstoffatom aus vier Metallstäbchen zusammengesetzt (2 hohl und 2 massiv), wobei diese untereinander einen Winkel von 109°28' einschließen. Durch Ineinanderschieben des massiven in das hohle Stäbchen kann aus zwei Methangerüsten das Ethangerüst dargestellt werden (siehe Bild 1.36).
34
1 Einführung
Prentice-Hall-Modell
Dreiding-Modell Bild 1.36 Prentice-Hall- und Dreiding-Modell
1.6 Die chemischen Formeln Die chemische Formel ist eine Kurzschreibweise mit Elementsymbolen, die über die chemische Zusammensetzung einer Verbindung, gegebenenfalls auch über die Struktur eines Moleküls Aufschluß gibt. Sie gibt außerdem für jedes Element die Anzahl der das Molekül aufbauenden Atome an. Mit Hilfe chemischer Formeln kann man chemische Gleichungen formulieren, wobei die chemischen Formeln die Verbindungen angeben, die an der Reaktion beteiligt sind. Die Reaktanten (auch Edukte genannt, sie sind die Ausgangsstoffe, die miteinander reagieren sollen ) schreibt man auf die linke Seite, die Reaktionsprodukte auf die rechte Seite der chemischen Gleichung. An Stelle des Gleichheitszeichens schreibt man gewöhnlich einen Pfeil, bei der Umkehrbarkeit von Reaktionen einen Doppelpfeil. Die Summenformel Die Summenformel (Bruttoformel) gibt die am Aufbau des Moleküls beteiligten Elemente an. Bei organischen Summenformeln werden die Elemente in der Folge C, H, N, O usw. genannt. Die tiefgestellte kleine Zahl rechts neben dem Elementsymbol bedeutet die Anzahl der im Molekül befindlichen Atome des jeweiligen Elements. Summenformeln sind z. B. CH4 für Methan, CH4O für Methanol, C2H4O2 für Essigsäure und CH5N für Methylamin. Die allgemeine Formel Die allgemeine Formel ist für eine bestimmte Verbindungsklasse charakteristisch, z. B. ist die Formel CnH2n+2 die allgemeine Formel für Alkane. Setzt man in diese Formel für n eine natürliche Zahl ein, erhält man die Formel eines Alkans. Setzt man z. B. für n = 1 ein, bekommt man CH4, n =2: C2H6, n = 3: C3H8 usw. Die allgemeine Formel läßt jedoch nicht immer eine eindeutige Zuordnung zu einer Verbindungsklasse zu, z. B. trifft die allgemeine Formel CnH2n sowohl für Alkene als auch für Cycloalkane zu. Die allgemeine Formel für
1.6 Die chemischen Formeln
35
einen Alkylrest ist CnH2n+1. In verkürzten Konstitutionsformeln steht gewöhnlich für den Alkylrest das Symbol R (= Rest). Will man andeuten, daß es sich bei mehreren Alkylresten um unterschiedliche Alkylreste handelt, so kann dies durch die Schreibweise R, R', R'' oder R1, R2, R3 ausgedrückt werden. Die Konstitutionsformeln Die Konstitutionsformeln bringen die wechselseitige Verkettung der Atome in den Molekülen und ihre räumliche Anordnung zum Ausdruck. Die kovalente Bindung wird durch einen Strich dargestellt, bei der verkürzten Schreibweise von Konstitutionsformeln manchmal auch durch einen Punkt. Die Doppelbindung wird durch zwei und die Dreifachbindung durch drei parallele Striche ausgedrückt. Die Konstitutionsformel z. B. der Essigsäure kann folgendermaßen geschrieben werden: H H
C
O C
H
O
H
Hierbei sei bemerkt, daß die mit einem Strich in dieser Konstitutionsformel symbolisierten freien (nichtbindende) Elektronenpaare nicht immer geschrieben werden. Häufig werden wegen der besseren Übersichtlichkeit und aus Zeit- und Arbeitsersparnis auch Kurzstrukturformeln verwendet. Hierbei werden in bestimmten Gruppen, z. B. der Methyl- CH3, Methylen- CH2, Nitro- NO2, Hydroxygruppe OH u. s. w., die einzelnen Atome dieser Gruppen nicht durch Valenzstriche miteinander verbunden. Einige Beispiele seien in Tabelle 1.4 angeführt. Es gibt Verbindungen, die die gleiche Summenformel, aber eine unterschiedliche Konstitutionsformel haben. Diese Verbindungen bezeichnet man als Isomere. Sie unterscheiden Tabelle 1.4
Verbindung Hexan
Ethin
Ethanol
Palmitinsäure
Konstitutionsformel
H
H
H
H
Kurzstrukturformel
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H
H
C
C
H
H
H
C
C
H
H
CH3–CH2–CH2–CH2–CH2–CH3 oder CH3 (CH2)4 CH3
H
HC
O
CH
CH3–CH2–OH oder CH3CH2OH
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
O
CH3 (CH2)14 COOH
C O
H
36
1 Einführung
sich in ihren physikalischen oder chemischen Eigenschaften. Zu ihnen gehören z. B. die beiden Konstitutionsisomere Ethanol und Dimethylether. Diese haben die gleiche Summenformel C2H6O, unterscheiden sich aber darin, in welcher Folge die Atome untereinander verknüpft sind. H
H
H
C
C
H
H
H O
H
H
C H
Ethanol
und
H O
C
H
H
Dimethylether
Es ist schwierig, die räumlichen Strukturen auf die zweidimensionale Papierfläche so zu schreiben, daß die räumlichen Gegebenheiten klar erkennbar sind. Man greift deshalb zu einer Symbolik und zeichnet die Bindungen, die sich in Wirklichkeit unter der Schreibfläche befinden würden, gestrichelt, die, die über die Fläche weisen würden, in Keilform oder mit einem starken Valenzstrich. Die Konstitutionsformel des Hexans z. B., in der alle C-Atome auf einer Geraden gezeichnet sind, H
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H
H
H
vermittelt den Eindruck, als ob die Bindungswinkel zwischen zwei C–C-σ-Bindungen 180° betragen würden. In Wirklichkeit sind es, wie wir wissen, 109°28'. Um dies einigermaßen richtig wiedergeben zu können, müßten wir das Kohlenstoffgerüst des Hexans als Zickzacklinie zeichnen, wobei die C–H-σ-Bindungen, wie Bild 1.37 zeigt, einmal unter und das andere Mal über die Papierebene weisen würden, so daß die C–H-σ-Bindungen gestrichelt bzw. als Keil geschrieben werden müßten: H H
C
C H
H H
H
C
C H
H H
H
C
C H
H H
H
Diese Schreibweise ist etwas umständlich und zeitraubend. Man vereinfacht sie deshalb so, daß man das dreidimensionale Molekül auf die zweidimensionale Papierebene projeziert, wie dies in Bild 1.38 mit einem Molekülmodel veranschaulicht wird. Dem projezierten Schattenbild entspricht die einfache Schreibweise der Formel. In dieser Hinsicht hat sie auch ihre Berechtigung. Die weitestgehende Vereinfachung von Konstitutionsformeln wird mit Skelettformeln erreicht. Die unverzweigte Kohlenstoffkette wird mit einer Zickzacklinie von Strichen dargestellt, wobei weder die Symbole C noch H geschrieben werden. Am Ende jedes Strichs hat man sich ein C-Atom vorzustellen. Ausgehend von der Vierbindigkeit des Kohlenstoffs werden in diesen Formeln die C–H-Bindungen und das Symbol H für Wasserstoff weggelassen. Diese verkürzte Schreibweise wird öfter auch bei Cycloalkanen (Kohlenstoffe untereinander zu einem Ring verknüpft) benutzt, wobei man sich vorstellen muß, daß sich in jeder Ecke der Formel ein vierbindiges Kohlenstoffatom befindet. Bei Formeln, in denen zwei oder mehrere Ringe miteinander verknüpft sind, wird an den sie verknüpfenden
1.6 Die chemischen Formeln
37
Kugel-Stift-Modell
Kalottenmodell Bild 1.37 Molekülmodelle des Hexans
C-Atomen die C–H-Bindung und das H geschrieben, damit die räumliche Anordnung der Atome an den Verknüpfungsstellen ersichtlich ist. Die Schreibweise mit Strichen ohne die Symbole C und H ist besonders bei den Aromaten die Regel.
Bild 1.38
Projektion des Molekülmodells als Schattenbild
38
1 Einführung
Tabelle 1.5
Verbindung Hexan
Konstitutionsformel
H
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H
H
2-Methylpropan
Hexansäure
H
H H H
H
H
H
C
H
C
C
C
H
H
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H
H
H
C C
O
H
C
H
H H
H
H
H
C
C
C
H
H
C H
H
H
H C
H
C H H C H
C
H
H
H
Cholesterol C
H O C H
C
C C H H H
H
C H H
C
C
H
H H
H C H C C
C H
H H
H
H
H
Benzol
H
H H H H
C
H C H CH3 C C C H C
H
H H
H
H
H
C
H
H
COOH
C
H
H
Cyclopentan
O
H C
Butadien
trans-Dekalin
Skelettformel
H CH3 C
C
C
C
H H H H
CH3
CH3 C H C
CH2 H
CH2
CH2
CH CH3
CH3
H
H
CH3
H H
O H
H H
H
1.7 Die Nomenklatur organischer Verbindungen
39
1.7 Die Nomenklatur organischer Verbindungen Die Benennung organischer Verbindungen geschah in den Anfängen der Chemie ohne Beachtung irgendwelcher Regeln. Man benannte die Stoffe danach, woraus sie isoliert wurden, z. B. Ameisensäure (aus Ameisen), Essigsäure (aus Essig), Capronsäure (capra = die Ziege, da die Capronsäure in Ziegenmilch vorkommt), Vanillin (aus der Vanille), oder nach ihren Eigenschaften, z. B. Glycerin (nach dem griechischen glykys = süß), Pikrinsäure (pikros = bitter), auch nach anderen Kriterien oder mehr oder weniger willkürlich. Diese Namen, die sich nicht nach vorgegebenen Regeln richten, bezeichnet man als Trivialnamen. Einige haben nur noch historische Bedeutung, viele haben sich aber eingebürgert und werden neben der systematischen Nomenklatur benutzt. Die systematische Nomenklatur richtet sich bei der Namensgebung von Verbindungen nach exakten, vorgegebenen Regeln. Sie wurde erstmalig auf einem chemischen Kongreß in Genf 1892 eingeführt, und man bezeichnet sie deshalb manchmal auch als Genfer Nomenklatur. Die Regeln mußten im Laufe der Jahre angepaßt und verbessert werden. Damit befaßt sich eine internationale Kommission der IUPAC (International Union of Pure and Applied Chemistry), weshalb man diese Regeln zur Benennung organischer Verbindungen auch als IUPAC-Regeln bezeichnet.
1.7.1 Die Nomenklatur der n-Alkane Alkane haben die Endung -an. Die geradkettigen (unverzweigten) Alkane, die man auch als n-Alkane (n = normal) bezeichnet, bilden die Basis für die Benennung organischer Verbindungen nach der systematischen Nomenklatur (lat. nomenclatio = Benennung). Sie sollten sich deshalb die in der Übersicht nachfolgend angeführten Namen der n-Alkane merken. Mit Ausnahme der ersten vier Alkane besteht der Wortstamm des Alkans aus einer Zahl lateinischen oder griechischen Ursprungs, die der Anzahl der Kohlenstoffatome in der Kohlenstoffkette entspricht. Die n-Alkane werden wie in Tabelle 1.6 dargestellt benannt. Tabelle 1.6 n-Alkane
Summenformel
Name des Alkans
Summenformel
Name des Alkans
Summen- Name des Alformel kans
CH4
Methan
C11H24
Undecan
C21H44
Heneicosan
C2H6
Ethan
C12H26
Dodecan
C22H46
Docosan
C3H8
Propan
C13H28
Tridecan
C23H48
Tricosan
C4H10
Butan
C14H30
Tetradecan
C24H50
Tetracosan
C5H12
Pentan
C15H32
Pentadecan
:
:
C6H14
Hexan
C16H34
Hexadecan
C30H62
Triacontan
C7H16
Heptan
C17H36
Heptadecan
:
:
C40H82
Tetracontan
C8H18
Octan
C18H38
Octadecan
C9H20
Nonan
C19H40
Nonadecan
C10H22
Decan
C20H42
Eicosan
40
1 Einführung
Acyclische Verbindungen (Verbindungen mit offener Kohlenstoffkette) werden in der systematischen Nomenklatur als Derivate (Abkömmlinge) der n-Alkane aufgefaßt, wobei man sich vorstellt, daß im n-Alkan die Wasserstoffe durch entsprechende Atome oder Gruppen ersetzt worden sind, z. B. wird bei Nitromethan formal ein Wasserstoffatom im Methan durch die Nitrogruppe ersetzt. H H
H
C
H
H
H
NO2
Methan
C
NO2
H
Nitrogruppe
Nitromethan
1.7.2 Die Benennung verzweigter Alkane Bei Benennung verzweigter Alkane verfährt man so, als ob in einem n-Alkan, dessen Kohlenstoffkette der Hauptkette entspricht, ein Wasserstoffatom durch einen Alkylrest ersetzt worden wäre. Hat man ein verzweigtes Alkan zu benennen, geht man folgendermaßen vor: Man ermittelt die längste durchgehende Kohlenstoffkette, die dann als Hauptkette betrachtet wird und numeriert sie durch. Die Durchnumerierung beginnt an dem Kettenende das der Seitenkette am nächsten liegt: H H
1
C H
CH3 H
H 2
3
C H
4
C H
C
H 5
H
H 6
C H
C
H 7
C
H
H
H
Nach Durchnumerierung der Hauptkette stellt man die Stellungsziffer der Seitenkette fest, benennt die Seitenkette als Alkylrest und nennt zuletzt die Hauptkette mit der Endung -an, wobei die Benennung der Hauptkette einem n-Alkan mit gleicher Anzahl der Kohlenstoffatome entspricht. Der Name des Alkylrestes leitet sich vom Namen des n-Alkans ab, das die gleiche Anzahl der C-Atome hat, anstelle der Endung -an steht jedoch die Endung -yl. Die Reihenfolge der Bennenung ist also folgende: 1.
Die Nummer, die die Stellung der Seitenkette bezeichnet, worauf ein Bindestrich folgt, im vorliegenden Beispiel 3-,
2.
Benennung der Seitenkette als Alkylrest mit der Endung -yl, im Beispiel 3-Methyl,
3.
Benennung der Hauptkette, entsprechend einem Alkan mit gleicher Anzahl der Kohlenstoffatome, im vorliegendem Beispiel 3-Methylheptan. H
H
1
C H
CH3 H
H 2
C H
3
C H
4
C H
H 5
C H
3-Methylheptan
H 6
C H
H 7
C H
H
Hauptkette
1.7 Die Nomenklatur organischer Verbindungen
41
Hat die Verbindung mehrere Seitenketten, so numeriert man die Hauptkette so durch, daß die Stellungen der Seitenketten mit einer möglichst niedrigen Zahl angegeben werden und nennt die Seitenketten in alphabetischer Reihenfolge. Liegen in der Verbindung gleiche Seitenketten vor, so faßt man diese bei der Benennung zusammen, wobei man vor die als Alkylreste bezeichneten Seitenketten die durch Kommas abgetrennte Stellungsziffern und ein Präfix anführt, das die Anzahl der gleichen Seitenketten angibt: di- steht für zwei, tri- für drei, tetra- für vier, penta- für fünf gleiche Seitenketten. Zuletzt wird die Hauptkette mit der Endung -an benannt. Zum Beispiel wird die Verbindung mit der Konstitutionsformel H H
1
C H
CH3 H 2
C
3
H
C H
CH3 H 4
C
5
C
CH3 H
H 6
C H
H 7
C
H
H 8
C
H
H
H
CH3 H
8
C
C
H
H
Hauptkette richtig durchnumeriert
CH3 H 5
6
7
C
H
H 3
4
C
C
C
CH3 H
H
H
H
2
1
C
H
C
H
H
H
Hauptkette falsch durchnumeriert
als 2,4,4-Trimethyloctan bezeichnet (und z. B. nicht als 5,5,7-Trimethyloctan). Die Verbindung mit der Konstitutionsformel H2C H H
1
C H
CH3 H 2
C H
3
C H
CH3 H 4
C
5
C
CH2 H
CH3
CH2 H 6
C
7
C
H
H
H 8
C
H 9
H
C
H
H
CH3
wird als 4-Ethyl-2,4-dimethyl-6-propylnonan bezeichnet. Die Vorsilben di-, tri- usw. werden bei der alphabetischen Reihung der Seitenketten nicht berücksichtigt. Sind eine Seitenkette von einem und eine zweite Seitenkette vom anderen Kettenende gleichweit entfernt, so zählt man die Hauptkette von dem Kettenende durch, von dem her die in der alphabetischen Reihenfolge erstgenannte Seitenkette die niedrigste Zahl erhält. Z. B. wird die Verbindung mit der Konstitutionsformel CH3 CH3 H H
1
C H
H 2
C H
H 3
C H
CH2
CH2 H 4
C H
CH3
5
C H
CH2 H 6
C H
CH2
CH3
7
C H
H 8
C H
(Hauptkette richtig durchnumeriert)
H 9
C H
H
H
H
9
C H
H 8
C H
H
CH2 H
7
6
H
H
C
C
5
C H
CH2 H 4
C H
3
C H
H 2
C H
H 1
C
H
H
(Hauptkette falsch durchnumeriert)
als 4-Ethyl-6-propylnonan bezeichnet (und nicht als 6-Ethyl-4-propylnonan). Liegen Verbindungen vor, deren Seitenketten verzweigt sind, so numeriert man zunächst die Hauptkette durch und verfährt im weiteren so, daß man 1.
die Nummer des Kohlenstoffatoms der Hauptkette angibt, an das die Seitenkette geknüpft ist, und einen Bindestrich schreibt, im vorliegenden Beispiel: 5-
42
1 Einführung
2.
nach einer runden Klammer die Zahl des Kohlenstoffatoms angibt, an dem sich die Verzweigung in der Seitenkette befindet, und nach einem Bindestrich, im Beispiel: 5-(1-
3.
den Namen des Alkylrestes in der Verzweigung der Seitenkette nennt, im Beispiel: 5-(1Methyl
4.
die in der Seitenkette befindliche durchnumerierte Kohlenstoffkette ebenfalls als Alkylrest anführt und die Klammer schließt. Im vorliegenden Beispiel 5-(1-Methylethyl)
5.
Zuletzt wird der Name der Hauptkette genannt. Im vorliegenden Beispiel: 5-(1-Methylethyl)nonan 2'
CH3
H3C H
H
9
H
8
C
C
H
H 7
H
C H
H
1'CH
6
5
C H
C H
H 4
C H
H
H
H
2
3
C
1
C
H
C
H
H
H
Eine Kombination der IUPAC-Nomenklatur mit Trivialnamen ist ebenfalls gebräuchlich. Man könnte z. B. die oben angeführte Verbindung auch als 5-Isopropylnonan bezeichnen, indem man die Seitenkette mit ihrem Trivialnamen benennt. Trivialnamen für Seitenketten vereinfachen die Benennung verzweigter Verbindungen und werden deshalb in der Nomenklatur oft benutzt. Nachstehend einige Trivialnamen von Alkylresten: CH3 H3C
C
CH3 H3C
H
Isobutyl
CH3 C CH3
tert.-Butyl
H3C
CH2
H
Isopropyl
H3C
C
H3C
CH3
C
C
H
H
sek.-Butyl
CH3 H
H
C
C
C
H
H
H
Isopentyl
H
CH3 H H3C
C
C
CH3 H
Neopentyl
Die Vorsilben di-, tri-, sek.-, tert.-, usw. werden bei der alphabetischen Reihung der Seitenketten nicht beachtet, wohl aber die Vorsilben iso- und neo-. Befinden sich im Molekül gleiche, komplexe Seitenketten, so wird ihre Anzahl nicht mit den Silben di-, tri- usw. angegeben, sondern mit der Vorsilbe (Präfix): bis (= 2×), tris (= 3×), tetrakis (= 4×), pentakis (= 5×) usw. Kommen in einem verzweigten Alkan mehrere gleichlange Ketten als Hauptketten in Frage, so hat diejenige Priorität, die a)
die meisten Seitenketten hat,
b) deren Seitenketten die niedrigste Stellungsziffer haben und c)
deren Seitenketten die größte Anzahl von Kohlenstoffatomen aufweisen.
1.7 Die Nomenklatur organischer Verbindungen
43
1.7.3 Die Benennung von Verbindungen mit funktionellen Gruppen Bezüglich der Nomenklatur unterscheidet man funktionelle Gruppen, die als Präfix (lat. Vorsilbe), und solche, die sowohl als Präfix als auch als Suffix (nachgestellte Silbe) benannt werden können. Wird die funktionelle Gruppe als Präfix benannt, so heißt dies, daß ihr Name vor der Bezeichnung der Hauptkette steht. Die funktionellen Gruppen und die Seitenketten werden in alphabetischer Reihenfolge genannt. Die Ziffer, die angibt, an welcher Stelle die funktionelle Gruppe an die Kohlenstoffkette gebunden ist, wird, durch einen Bindestrich getrennt, vor dem Namen der Gruppe geschrieben. Die Hauptkette wird so gewählt, daß möglichst viele funktionelle Gruppen und Seitenketten an diese gebunden sind. Die durchgehende Numerierung der Hauptkette beginnt an dem Kettenende, welches einer funktionellen Gruppe bzw. einer Seitenkette am nächsten liegt. Funktionelle Gruppen, die nur als Präfix benannt werden dürfen Die wichtigsten nur als Präfixe zu benennenden funktionellen Gruppen sind: –Br
Brom-
–N2
Diazo-
–Cl
Chlor-
–N3
Azido-
–F
Fluor-
–NO
Nitroso-
–I
Iod-
–NO2
Nitro-
–OR
Alkyloxyoder Alkoxy-
–SR
Alkylthio-
z. B. wird die Verbindung CH3 H H
8
C H
H 7
C H
H 6
C
CH2 H 5
H
C Br
Br 3
4
C
C
H
H
NO2
2
1
C
H
Cl
C
H
H
als 3,5-Dibrom-2-chlor-5-ethyl-1-nitrooctan bezeichnet. Funktionelle Gruppen, die als Präfix oder Suffix benannt werden können Wichtige funktionellen Gruppen, die sowohl als Präfix, als auch als Suffix benannt werden können, sind nachfolgend tabellarisch aufgelistet. Solche, die ein C-Atom besitzen, werden nachher gesondert behandelt. Verbindungsklasse
Gruppe
Präfix
Amine
–NH2
Amino-
-amin
Alkohole
–OH
Hydroxy-
-ol
Oxo-
-on
Ketone
C
O
Suffix
Imine
=NH
Imino-
-imin
Thiole
–SH
Mercapto-
-thiol
Sulfonsäuren
–SO3H
Sulfo-
-sulfonsäure
44
1 Einführung
Das Suffix wird nach dem Namen der Hauptkette angeführt. Die Stellungsziffer (eine Zahl, die die Stellung der Substituenten nach Durchzählen der Hauptkette angibt) der mit dem Suffix bezeichneten funktionellen Gruppe sollte möglichst niedrig sein und steht, durch einen Bindestrich abgetrennt, vor dem Namen der Hauptkette. Es folgt die Benennung der Hauptkette und das Suffix. Die Stellungsziffer des als Suffix bezeichneten Substituenten kann auch vor dem Suffix stehen. Z. B. werden die mit den Konstitutionsformeln gezeigten Verbindungen folgendermaßen benannt: H H
1
C H
H
OH H 2
C
3
H
C
H
H
H
4
C
C
H
H
2-Propanol oder Propan-2-ol
H 2
3
C
H
H
H
H
1
C
SO3H
O
1
H
2
C
H
H
Butansulfonsäure (Die 1- wird nicht geschrieben, wenn der Name eindeutig ist)
H 3
C H
H 4
C
C
H
H
H
2-Butanon oder Butan-2-on
Funktionelle Gruppen, die ein Kohlenstoffatom besitzen und als Präfix oder Suffix benannt werden können Eine Reihe von funktionellen Gruppen besitzen ein C-Atom, mit dem sie an die Kohlenstoffkette gebunden sind. Dieses C-Atom kann man entweder als zur Kohlenstoffkette gehörig oder nicht gehörig ansehen. Deshalb gibt es zwei Möglichkeiten, diese funktionellen Gruppen als Suffix zu bezeichnen. Zählt man z. B. das C-Atom der Carboxygruppe bei einer Carbonsäure in der Hauptkette mit, so schreibt man hinter die Bezeichnung der Hauptkette als Suffix das Wort „-säure“. Betrachtet man das C-Atom der Carboxygruppe aber als nicht zur Hauptkette gehörig, so steht als Suffix das Wort „-carbonsäure“. Die Verbindung H
H
H
H
H
C
C
C
C
H
H
H
H
O C OH
kann man als Pentansäure oder Butancarbonsäure bezeichnen.
Hierzu einige Beispiele: H H
4
C
H
H
H
C
1
C
H
H
O
2
3
O
C
C
H
H
H
O H C H
O
1
H
C
H
C
H
H
O
3
2
C
H
O C
C
6
C H
H 5
C H
1
C H
H
OH C 2
C H
H 3
C H
H
O C
1
C H
O
Propan-1,2,3-tricarbonsäure
H 4
C H
H 3
C H
H 2
C
O 1
H
C O
H
O 2
C
O 3
C
C H
H
H
1,2,3 -Propantricarbaldehyd oder Propan-1,2,3-tricarbaldehyd
Butanal
O
H
Methylhexanoat H
H 4
C
H
H
H
3
C H
H 2
C
1
C
H
H
Butan-2,3-dion
Propannitril
N
H
1.7 Die Nomenklatur organischer Verbindungen
45
Funktionelle Gruppen, die als Präfix oder Suffix genannt werden können und ein CAtom haben, das in die Hauptkette einbezogen oder nicht einbezogen werden kann
Tabelle 1.7
Verbindungsklasse
funktionelle Gruppe
Präfix
Suffix mit Einbeziehung des C-Atoms der funktionellen Gruppe in die Hauptkette
Suffix mit Nichteinbeziehung des C-Atoms der funktionellen Gruppe in die Hauptkette
Carboxy-
-säure
-carbonsäure
Haloformyl-
-oylhalid
-carbonylhalid
Carbamoyl-
-amid
-carboxyamid
R- ... oxycarbonyl
R- ... (o)at
R- ... carboxylat
Cyan-
-nitril
-carbonitril
Formyl-
-al
-carbaldehyd
O
Carbonsäuren
C OH
O
Säurehalide
C
X = F, Cl, Br, I
X O
Amide
C NH2 O
Ester
C OR
Nitrile
C
N
O
Aldehyde Alkanale
C H
Doppel- und Dreifachbindungen werden nur als Suffix genannt. Bei einer Doppelbindung wird bei Benennung der Hauptkette die Endsilbe -an ersetzt durch die Silbe -en, bei einer Dreifachbindung durch die Endung -in. Die Zahl, die die Stellung der Mehrfachbindung angibt, wird entweder vor den Namen der Hauptkette oder vor das Suffix gestellt. Es ist darauf zu achten, daß Doppel- bzw. Dreifachbindungen Bestandteil der Hauptkette sind. Zum Beispiel wird H2C H3C
H 2
C C1
H3
3
C
CH2
CH3
CH2 H 4
C H
5
C
6
C
7
C
H
8
CH3
als 4-Butyl-2-methyloct-2-en-6-in bezeichnet.
Hierarchie der Hauptgruppen Befinden sich in der Verbindung mehrere funktionelle Gruppen, die mit Suffix benannt werden können, so darf, außer dem Suffix für die Doppel- oder Dreifachbindung, nur eine einzige funktionelle Gruppe mit Suffix genannt werden. Diese bezeichnet man als Hauptgruppe. Bei der Wahl der Hauptgruppe ist eine bestimmte Hierarchie der funktionellen Gruppen zu beachten. Die folgende Aufstellung zeigt die Reihenfolge nach abnehmender Priorität:
46 1. 2. 3. 4. 5. 6.
1 Einführung Säuren, Säurederivate in der Reihenfolge Anhydride, Ester, Acylhalide, Amide und Imide, Nitrile, Isocyanide, Aldehyde, Ketone, Alkohole und Phenole, Amine, Imine usw.
Mit der Durchnumerierung der Hauptkette beginnt man am Suffix-Ende. Die mit den nachfolgenden Konstitutionsformeln dargestellten Verbindungen werden z. B. wie folgt benannt: H H H
H 5
C
4
C
O 3
C
O
2
C H
1
H H
O
C O
H
2-Hydroxy-3-oxo-pent-4-ensäure oder 2-Hydroxy-3-oxo-4-pentensäure
4
C
O 3
C
H
O 2
C
1
O
C O
H
H
C
C
H
H
H
Ethyl-2,3-dioxo-butanoat
1.7.4 Kriterien für die Wahl der Hauptkette Die Hauptkette ist für die Benennung und Bezifferung der Verbindung maßgebend. Gibt es mehrere Möglichkeiten für die Wahl der Hauptkette, sind folgende Kriterien, geordnet nach abnehmender Priorität, entscheidend: 1. größte Anzahl der der Hauptgruppe entsprechenden funktionellen Gruppen in der Hauptkette, 2. größte Anzahl der Mehrfachbindungen in der Hauptkette (Doppel- und Dreifachbindungen werden gemeinsam gezählt), 3. längste Kohlenstoffkette, 4. maximale Anzahl von Doppelbindungen in der Hauptkette, 5. maximale Anzahl von Präfixen der Gruppen, die sowohl als Präfix als auch als Suffix benannt werden können, 6. maximale Anzahl der Substituenten, die nur als Präfix benannt werden können. Bei sonst gleichen, in den Punkten 1 bis 6 vorher genannten Kriterien, ist die Hauptkette diejenige, in der (nach abnehmender Priorität geordnet) a) die Hauptgruppen, b) die Mehrfachbindungen, c) die Doppelbindungen, d) die Präfixe der Substituenten, die sowohl als Präfix als auch als Suffix benannt werden können, e) die Präfixe der Substituenten, die nur als Präfixe benannt werden können, bei der Durchnumerierung der Kohlenstoffkette die niedrigste Ziffer bekommen.
1.7 Die Nomenklatur organischer Verbindungen
47
Beispiele: 11
HO
9
10
CH2
C
8
C
CH
7
CH 6
5'
HO
CH2
3'
4'
CH
1'
2'
CH
C
5
CH
4
CH
CH
3
CH
2
CH
1
CH2
OH
C
6-(5-Hydroxy-3-penten-1-inyl)-2,4,7-undecatrien-9-in-1,11-diol und nicht 6-(5-Hydroxy-3-pentin-1-enyl)-2,4,9-undecatrien-7-in-1,11-diol
Bei der Wahl der Hauptkette wurde das Kriterium c) beachtet (Doppelbindungen haben Priorität vor Dreifachbindungen und müssen beim Durchzählen der Hauptkette eine möglichst niedrige Zahl haben). Die cis/trans-Isomerie wurde in dieser Formel nicht berücksichtigt, da sie erst im Kapitel über Alkene behandelt wird. 1
HOOC
2
3
CH2
4
CH2
CH
5
CH2
6
2'
1'
CH2
7
CH2
COOH
3'
4'
CH
CH2
CH2
C
N
Cl
4-(3-Chlor-4-cyanobutyl)-heptan-1,7-disäure
Bei der Wahl der Hauptkette wurde darauf geachtet, daß die Hauptgruppen Bestandteil der Hauptkette sind. OH Cl HO
7
CH2
2'
CH2
6
CH
1'
CH
5
CH
4
CH2
3
CH
2
CH
1
CH2
OH
NO2
7-Chlor-5-(2-hydroxy-1-nitroethyl)-hept-2-en-1,6-diol
Bei der Wahl der Hauptkette wurde darauf geachtet, daß die Hauptgruppen die niedrigsten Zahlen bekommen, und die Doppelbindung Bestandteil der Hauptkette ist.
48
1 Einführung
Übungsaufgaben ? 1.1 In welcher Hauptgruppe des Periodensystems befindet sich der Kohlenstoff?
? 1.2 Welchen Stoffklassen entsprechen die unten angeführten Konstitutionsformeln? H C
O
CH2
R H 2C
C
R
(CH2)n
H
a)
R
b)
R O
O
f)
R
g)
C
O
H
d)
e)
R
O
C
R
CH2
c)
H R
H
O
R
O
R
O R
C H
R
h)
C O
i)
H
j)
O R
H
C R
O R
C
O
C O
R
O
C
k)
(CH2)n
O
C
R'
R
O
l)
m)
X = Cl, Br,I
X
n) O
O R
R
C R
X
o)
R
S
t)
NH2
R
R
S
r)
S
u)
NH2
N(CH3)3Cl
p)
H
C
R
R
SO2
v)
s)
R
R
SO3H
w)
Übungsaufgaben
49
? 1.3 Benennen Sie die unten stehenden funktionellen Gruppen O
O
H
a)
g)
l)
C
O
R'
O
H
N
d)
C
O
e)
N
NH
i)
S
m)
H
NH2
NH2
O
c)
h)
N
C
C
b)
NO2
C
O
H O
C
N
j)
f)
N
N
k)
O
O
S
S
O
O
n)
OH
o)
? 1.4 Erklären Sie was man unter einem induktivem Effekt versteht, welche Auswirkungen er hat und was der +I-Effekt und der –I-Effekt ist.
? 1.5 Was versteht man bei Benennung organischer Verbindungen unter dem Begriff Hauptkette?
? 1.6 Definieren Sie was in der chemischen Nomenklatur der Ausdruck Hauptgruppe bedeutet.
? 1.7 Welcher Suffix steht bei Anwendung der IUPAC-Nomenklatur im Namen folgender Stoffklassen: a) Alkohol b) Aldehyd c) Keton d) Carbonsäure e) Amin f) Nitril
50
1 Einführung
? 1.8 Benennen Sie folgende Verbindungen: CH3
CH3
H3C
H 3C
CH3
H 3C
H 3C
CH3
a)
b)
c) OH
H2 C H 3C
O
OH
CH3
H 3C
CN
CH3 CH3
H 3C
d)
OH
e)
f) Cl
H 3C
OH
H3 C
OH O
O
g)
O
h) N
i)
O
CH
CH3
j)
k)
? 1.9
Wie sind die sp3-, sp2- und sp-Orbitale des Kohlenstoffs räumlich ausgerichtet?
? 1.10 Welche Bindungslängen haben die C-H-Bindung und die C-C-Bindung im Ethan, die Doppelbindung im Ethen und die Dreifachbindung im Ethin?
Lösungen
51
Lösungen ! 1.1 Kohlenstoff ist ein Element der 4. Hauptgruppe des Periodensystems der Elemente
! 1.2 Die Konstitutionsformeln entsprechen jeweils der unten angeführten Stoffklasse O H C
H 2C
C
R
H
R
(CH2)n
a) Alken
c) Aromat
c) Cycloalkan
H R R
O
H
CH2
R
C
f) Ether
R
g) Aldehyd
C
O
H
e) Phenol
d) Alkohol
R
O
O
R
CH2
O
R
O
R
O R
C H
R
h) Keton
C O
i) Acetal
H
j) Carbonsäure, Alkansäure
O R
H
C R
O R
O
C O
R
k) Säureanhydrid
C
C O
O
R'
(CH2)n C R
O
l) Ester
m) Lacton
X = Cl, Br,I
X
n) Halogenalkan O
O R
R
C R
X
o) Säurehalogenid
R
S
H
t) Thiol, Mercaptan
NH2
R
p) primäres Amin
R
S
S
u) Disulfid
R
R
NH2
N(CH3)3Cl
r) quartäres Ammoniumsalz
SO2
v) Sulfon
R
C
s) Säureamid
R
SO3H
w) Sulfonsäure
52
1 Einführung
! 1.3 Die Namen der Funktionellen Gruppen: a) Carboxygruppe, b) Alkoxycarbonylgruppe, c) Hydroxygruppe d) Formylgruppe, e) Aminogruppe, f) Aminocarbonylgruppe oder Carbamoylgruppe, g) Nitrogruppe, h) Nitrosogruppe, i) Iminogruppe, j) Diazoniumgruppe, k) Azogruppe, l) Nitril- oder Cyanidgruppe, m) Thiol- oder Mercaptogruppe, n) Sulfonylgruppe, o) Sulfogruppe
! 1.4 Bei Bindungspartnern mit unterschiedlicher Elektronegativität ist in der σ-Bindung die Elektronendichte zwischen beiden Partnern ungleich verteilt, sie ist beim elektronegativeren Partner größer. Die Polarität dieser σ-Bindung beinflußt auch die benachbarten σ-Bindungen, man bezeichnet dies als Induktiven Effekt. Zieht der den Effekt auslösende Substituent infolge seiner Elektronegativität die Elektronen der Bindung an, so spricht man vom –I-Effekt, schiebt er hingegen die Elektronen von sich weg, so liegt ein +I-Effekt vor.
! 1.5 Die Hauptkette ist für die Benennung und Bezifferung der chemischen Verbindung maßgebend. Der Name der Hauptkette wird vom Namen des n-Alkans mit gleicher Anzahl der Kohlenstoffatome abgeleitet. Bei den Alkanen ist die Hauptkette die längste Kohlenstoffkette. Bei Verzweigten Alkanen beginnt man mit der Durchnummerierung der Hauptkette an dem Kettenende wo die Verzweigung am nächsten ist. Bei Vorliegen von funktionellen Gruppen, Doppel- oder Dreifachbindungen in der Verbindung muß man bei der Wahl der Hauptkette bestimmte Kriterien berücksichtigen. (siehe Kap. 1.7.4 )
! 1.6 Befinden sich in der Verbindung mehrere funktionelle Gruppen, die am Namensende der Verbindung mit einer Endsilbe (Suffix) bezeichnet werden könnten, darf nur eine einzige funktionelle Gruppe mit Suffix benannt werden. Diese wird als Hauptgruppe bezeichnet. Die Wahl der Hauptgruppe erfolgt nach einem Prioritätsprinzip in der absteigenden Folge: Carboxygruppe, funktionelle Gruppen der Säurederivate, Nitrilgruppe, Formyl- und Ketogruppe, Hydroxygruppe, Aminogruppe und Iminogruppe.
! 1.7 Der Suffix im Namen der Verbindungen der entsprechenden Stoffklassen lautet: a) -ol, b) -al, c) -on, d) -säure, e) -amin, f) -nitril
! 1.8 a) 3,4-Dimethylhexan b) 5-(1'-Methylethyl)decan c) Butanol d) Diethylether e) 5-Ethyl-3-methylhex-5-enol f) 3-Hydroxyhexannitril g) Octansäure h) 6-Chlor-3-oxooctansäure i) 1-Methylcyclopenta-1,3-dien j) Ethylbenzol k) Nitrosobenzol
Lösungen
53
! 1.9
Im sp3-hybridisierten Kohlenstoff sind die sp3-Orbitale tetraedrisch angeordnet und ihre Symmetrieachsen schließen einen Winkel von 109°28' ein. Die sp2-Orbitale liegen in einer Ebene, die senkrecht zur Achse des p-Orbitals steht, und ihre Symmetrieachsen schließen einen Winkel von 120° ein. Die Symmetrieachsen der sp-Orbitale liegen auf einer Geraden. Diese Gerade steht senkrecht auf der Symmetrieachse der beiden p-Orbitale, die auch wiederum senkrecht zu einander stehen (siehe Kap. 1.3.6 und Abbildung 1.31).
! 1.10 Die C-H-Bindung im Ethan hat die Bindungslänge 109 pm, die C-C-Einfachbindung 154 pm. Die Bindungslänge der Doppelbindung im Ethen Beträgt 135 pm und die Bindungslänge der Dreifachbindung im Ethin 120 pm.
2 Alkane Alkane, auch Paraffine genannt, sind Kohlenwasserstoffe mit offener Kohlenstoffkette, deren Kohlenstoffatome untereinander nur mit Einfachbindungen (σ-Bindungen) verknüpft sind. Sie haben die allgemeine Formel CnH2n+2. Es gibt unverzweigte Alkane, die als n-Alkane (n = normal) bezeichnet werden, und verzweigte Alkane.
2.1 Benennung der Alkane Die systematische Benennung der Alkane wurde bereits im Abschnitt 1.7.1 und 1.7.2 eingehend dargelegt. Für bestimmte Alkane werden auch häufig Trivialnamen verwendet: CH3 H3C
C
CH3 CH3
H3C
H
Isobutan
C
CH3 CH2
CH3
H3C
H
C
CH3 CH3
H3C
CH3
Isopentan
Neopentan
C
CH3 CH2
CH3
C
CH3
H
Isooctan
Im allgemeinen kann man 2-Methylalkane als Isoalkane bezeichnen, wobei man das Kohlenstoffatom der Seitenkette mitrechnet und nach der Vorsilbe iso- den Namen des n-Alkans nennt, das die gleiche Anzahl von C-Atomen hat. Die Vorsilbe iso- wird aber auch für andere Verbindungen benutzt, wie das Beispiel des Isooctans zeigt, bei dem es sich um das 2,2,4-Trimethylpentan handelt.
2.2 Homologe Reihen der Alkane Eine homologe Reihe liegt dann vor, wenn die Glieder dieser Reihe, die Homologen (griech. homos = dasselbe), der gleichen allgemeinen Formel entsprechen, die gleichen Strukturmerkmale aufweisen und die benachbarten Glieder sich nur durch die Gruppe -CH2 unterscheiden. Die Strukturmerkmale der homologen Reihe der n-Alkane sind: eine unverzweigte Kohlenstoffkette und die Verknüpfung der Kohlenstoffatome mit Einfachbindungen. Schreibt man für die Methylgruppen in den verkürzten Strukturformeln der n-Alkane nicht, wie üblich, -CH3, sondern -CH2–H, so ist ersichtlich, daß sich die benachbarten Glieder dieser Reihe nur durch das Inkrement -CH2 (lat. incrementum = Zuwachs) unterscheiden: H– CH H– CH H– CH H– CH
2– H
2 – CH 2 – H
2 – CH 2 – CH 2 – H
2 – CH 2 – CH 2 – CH 2 – H
Methan Ethan Propan Butan
usw.
A. Wollrab, Organische Chemie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-45144-7_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
54
2.4 Konformationen des Ethans und Butans
55
Auch bei den verzweigte Alkanen gibt es homologe Reihen. Eine solche homologe Reihe wäre z.B. die homologe Reihe der 2-Methylalkane. Sie entspricht der allgemeinen Formel CnH2n+2 und ihr Strukturmerkmal ist eine offene Kette mit einer Methylverzweigung am zweiten Kohlenstoffatom der Hauptkette, wobei die Kohlenstoffatome nur mit Einfachbindungen verknüpft sind. Eine weitere Homologenreihe bilden z.B. die 3-Methylalkane, die alle eine Methylverzweigung am dritten Kohlenstoffatom der Hauptkette aufweisen. R
CH
CH3
R
CH
CH3
CH2
CH3
CH3
2-Methylalkan
3-Methylalkan
Man kann ermessen, daß es bei den verzweigten Alkanen viele homologe Reihen geben kann.
2.3 Kettenisomere Als isomere Verbindungen werden solche angesehen, die die gleichen Atome in gleicher Anzahl aufweisen, sich jedoch in der Anordnung der Atome im Molekül unterscheiden. Sie haben die gleichen Summenformeln, jedoch unterschiedliche Strukturformeln. Die Verbindungen CH3 H3C
CH2
CH2
CH2
CH3
H3C
C
CH3 CH2
CH3
H
n-Pentan
Isopentan
H3C
C
CH3
CH3
Neopentan
haben alle die gleiche Summenformel, nämlich C5H12, sie unterscheiden sich aber in ihrer Struktur: sie besitzen andere Seitenketten und ein anderes Kohlenstoffskelett. Man bezeichnet sie deshalb als Skelett- oder Kettenisomere und ordnet sie den Konstitutionsisomeren zu (siehe auch Abschnitt 1.6 „Die Strukturformel“). In den Konstitutionsisomeren haben die Verbindungen die gleiche Summenformel, ihre Atome sind jedoch untereinander unterschiedlich verknüpft.
2.4 Konformationen des Ethans und Butans 2.4.1 Konformation des Ethans In den Alkanen sind die Kohlenstoffatome um die C–C-σ-Bindung frei drehbar. Im Ethan können deshalb durch Drehung (Torsion) um die C–C-Bindung die an das eine C-Atom gebundenen drei Wasserstoffatome zu den drei am anderen C-Atom gebundenen Wasserstoffatomen verschiedene räumliche Stellungen einnehmen. Räumliche Anordnungen von Atomen oder Gruppen im Molekül, die durch einfache Drehung der Kohlenstoffatome um die C–C-σ-Bindung zustande kommen, bezeichnet man als Konformationen.
56
2 Alkane
Bei der Rotation eines C-Atoms um die C–C-Bindung wird im Ethan eine Konformation erreicht, in der die an beide C-Atome gebundenen Wasserstoffatome in nächster Nähe zueinander stehen. Betrachtet man das in Bild 2.1 gezeichnete Molekülmodell, erkennt man, daß bei Ausrichtung der C–C-Einfachbindung in Blickrichtung die drei rückwärtigen Wasserstoffatome von den vorderen verdeckt sind, also genau hintereinander stehen. Diese Konformation wird als ekliptisch (engl. eclipsed = verdeckt) oder auch als Deckungsform bezeichnet. Bei weiterer Drehung des C-Atoms um einen Torsionswinkel von 60° nimmt das Ethanmolekül eine Konformation ein, in der die Wasserstoffatome voneinander am weitesten entfernt sind und die Wasserstoffatome am rückwärtigen C-Atom zu jenen, die sich am vorderen C-Atom befinden, auf Lücke stehen. Sie wird als gestaffelt bezeichnet (englisch: full staggered, von to stagger = gestaffelt, versetzt anordnen). Zwischen diesen beiden Extremkonformationen des Ethans kann das Molekül durch Drehen um die C–C-Einfachbindung unendlich viele Zwischenkonformationen durchlaufen, die man als schiefe Konformationen oder skew-Konformationen zusammenfaßt. Die durch Drehung um die C–C-Einfachbindung bei verschiedenen Torsionswinkeln (Drehwinkeln) erhaltenen Konformationsisomere werden als Konformere oder Rotamere bezeichnet. Für die Veranschaulichung der räumlichen Anordnung bedient man sich der SägebockProjektion (Sägebock, englisch: sawhorse) oder der Newman-Projektion. In der Sägebock-Projektion wird die C–C-Bindung schräg nach hinten abgebildet. Das Symbol C für die beiden mit dieser Bindung miteinander verknüpften C-Atome wird nicht geschrieben. Bei der Newman-Projektion stellt man sich vor, daß die C–C-Bindung in Blickrichtung orientiert wird, wobei das rückwärtige Kohlenstoffatom in Deckung ist, so daß zur Darstellung der Kohlenstoffatome nur ein Kreis gezeichnet wird. Die Bindungen des vorderen Kohlenstoffatoms werden so eingezeichnet, daß sie auch im Inneren des Kreises sichtbar sind, die Bindungen am rückwärtigen Kohlenstoffatom sind nur außerhalb des Kreises sichtbar. Konformation
Modellansicht
Sägebockprojektion
Newman-Projektion
H H H
H
H
H
H
H
H
H
gestaffelt
H H
H H
H
ekliptisch
HH
H
H H
H
H
H H
Bild 2.1
Die ekliptische und gestaffelte Konformation des Ethans in der Sägebock-Projektion und der Newman-Projektion
2.4 Konformationen des Ethans und Butans
57
Die Wasserstoffatome im Ethan stoßen sich gegenseitig ab. Dies ist auf nichtbindende intramolekulare Wechselwirkungen zurückzuführen. Nichtbindend heißt in diesem Falle, daß die Wechselwirkungen nicht über die Bindungen vermittelt werden, und intramolekular heißt, daß die Wechselwirkungen innerhalb des Moleküls wirksam sind. In der ekliptischen Konformation, in der die an den beiden Kohlenstoffatomen des Ethans gebundenen Wasserstoffatome in Deckung sind, befinden sie sich zueinander in der kürzesten Entfernung. In dieser Konformation machen sich die abstoßende Kräfte besonders bemerkbar, und im Molekül tritt durch sie eine Spannung auf, die als Pitzer-Spannung bezeichnet wird. Die potentielle Energie des Systems ist deshalb am größten in der ekliptischen Konformation, sie nimmt bei einer weiteren Drehung um die C–C-σ-Bindung ab, bis sie mit der gestaffelten Form ein Energieminimum erreicht. Bei einer Drehung von der gestaffelten über die unendlich vielen Anordnungen skew zur ekliptischen Konformation muß ein bestimmter Energiebetrag aufgewendet werden, die Rotationsenergie. Diese beträgt beim Ethan 12,6 kJ/mol. Die Methylgruppen im Ethan können frei um die C–C-Bindung rotieren, da die Rotationsenergie bei Zimmertemperatur durch Übertragung von kinetischer Energie beim Zusammenstoß von Molekülen aufgebracht wird. Die Rotameren des Ethans lassen sich bei Zimmertemperatur deshalb nicht isolieren. Die Unterschiede in den potentiellen Energien der Rotamere des Ethans lassen sich graphisch in einem Energiediagramm veranschaulichen, wobei die potentielle Energie auf der einen und der Torsionswinkel auf der anderen Achse aufgetragen werden. Die gestaffelte Konformation ist von allen Konformationen des Ethans am energieärmsten, so daß bei Zimmertemperatur die meisten Ethanmoleküle in dieser Konformation vorliegen.
ekliptisch H HH
H
H
HH
H
H
H
HH
H
H
H
H
H
0°
60° 120° Torsionswinkel [°]
H
H
H
H H
gestaffelt 180°
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
Energie [kJ/mol]
12,6 kJ/mol
gestaffelt
Bild 2.2
H
H
H HH
H
ekliptisch
H
H
ekliptisch
ekliptisch
gestaffelt 240°
300°
360°
Unterschiede der potentiellen Energie der Konformere des Ethans
H
58
2 Alkane
2.4.2 Konformationen des Butans Betrachtet man das Molekülmodell des Butanmoleküls so, daß die C–C-Bindung des 2. und 3. Kohlenstoffatoms in Blickrichtung liegt und dreht dann eines dieser beiden Kohlenstoffatome um die mittlere C–C-σ-Bindung, so kann man viele Konformationen erkennen. Befinden sich die beiden Methylgruppen des Butanmoleküls in Deckung, ist die Konformation synperiplanar. Da die Methylgruppen sich untereinander stärker abstoßen als die Wasserstoffatome, ist dies die energiereichste Konformation des Butans. Bei weiterer Drehung im Uhrzeigersinn nehmen die abstoßenden Kräfte etwas ab und erreichen bei einem Torsionswinkel von 60° ein Zwischenminimum an potentieller Energie mit der synclinalen Konformation. Beim weiteren Drehen des Kohlenstoffatoms um die C–C-σ-Bindung nehmen die Abstoßungskräfte wieder zu. Nach einer Drehung um 120° befindet sich das Butanmolekül in der anticlinalen Konformation, wobei sich die Methylgruppen mit Wasserstoffatomen in Deckung befinden und ein Zwischenmaximum an potentieller Energie erreicht wird. Bei weiterer Drehung nimmt die Abstoßungskraft wieder ab, bis das Butanmolekül schließlich in der antiperiplanaren Konformation die von allen Konformationen des Butans niedrigste potentielle Energie erreicht. In dieser Konformation sind die beiden Methylgruppen am weitesten voneinander entfernt, so daß die abstoßenden Kräfte sich am wenigsten auswirken können, die Pitzer-Spannung also am geringsten ist. Die Unterschiede der potentiellen Energie in Abhängigkeit von der Konformation des Butanmoleküls zeigt Bild 2.3. Bei Zimmertemperatur überwiegt im Butan zu etwa 80 % die antiperiplanare Struktur, das synclinale Konformere ist das zweithäufigste Konformere. synperiplanar
H3C H
H
H
Energie [kJ/mol]
H
H
H3 H3C C
CH3
H
H
synperiplanar
H
CH3
H3C H
H
H
H
18,0 kJ/mol
10,4 kJ/mol
H3C H3C
H
H 14,2 kJ/mol
3,8 kJ/mol
H
H
0°
60° 120° Torsionswinkel [°] Konformere des Butans
H
CH3
H
antiperiplanar 180°
H
H
H H
H3C
H
H
CH3
H
H3C
synclinal
Bild 2.3
anticlinal
H
CH3
H3C H H
anticlinal
synclinal 240°
300°
360°
2.5 Physikalische Eigenschaften der Alkane
59
2.5 Physikalische Eigenschaften der Alkane In den Alkanen sind sowohl die C–H- als auch die C–C-σ-Bindungen unpolar. Darum gibt es in den Alkanmolekülen keine Dipole, so daß ihr Zusammenhalt im Kristall oder in der Flüssigkeit nur durch Dispersionskräfte (London-Kräfte) gegeben ist. Dispersionskräfte sind schwache Anziehungskräfte, die im wesentlichen aus dem Wechsel der relativen Kern- und Elektronenkonfigurationen resultieren. Im weiteren diene das Bohrsche Atommodell dazu, zu erläutern, wie diese Dispersionskräfte zustandekommen. Das Atommodell geht von der Vorstellung aus, daß die Elektronen sich mit hoher Geschwindigkeit auf einer Kreisbahn um den im Zentrum befindlichen positiven Atomkern bewegen. Die Ladungsverteilung im Atom ist im Mittel symmetrisch, wobei beide Ladungen ihren Schwerpunkt im Zentrum haben. Bei einer Abweichung des Atomkerns von der Mittellage oder einem kurzzeitigen Ausscheren der Elektronen von der gegebenen Kreisbahn fallen die Ladungsschwerpunkte nicht mehr zusammen. Die Ladungsverteilung ist unsymmetrisch, wodurch im Atom ein momentaner Dipol entsteht. Durch Anziehung mit dem positiven Dipolende oder Abstoßung mit dem negativen Dipolende wird auch bei den Elektronen des Nachbaratoms eine Abweichung von der Flugbahn verursacht, so daß auch bei diesem vorübergehend ein Dipol vorliegt. Dies führt zu einer schwachen Wechselwirkung zwischen beiden Atomen, ihre Dipole ziehen sich mit den ungleichnamigen Ladungen gegenseitig an. Diese als Dispersionskräfte bezeichneten schwachen Anziehungskräfte haben nur eine geringe Reichweite, denn die Anziehungskraft F zwischen dem kurzzeitigen Dipol und dem induzierten (angeregten) Dipol ist umgekehrt proportional zu der sechsten Potenz ihres Abstandes r: F ~ 1 / r6 Deshalb sind sie nur zwischen direkt benachbarten Atomen oder Molekülen wirksam. Je mehr Atome sich im Molekül befinden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß im gegebenen Moment ein kurzzeitiger Dipol entsteht, der beim Nachbaratom einen Dipol induziert. Die Anziehungskraft beträgt pro Methyleneinheit (CH2–) etwa 4 bis 6 kJ/mol. Die Zunahme der molaren Masse und damit auch der Dispersionskräfte führt zu höheren Schmelz- und Siedetemperaturen und zu höheren Dichten der Alkane. Die ersten vier Homologen der n-Alkane vom Methan (CH4) bis Butan (C4H10) sind bei Zimmertemperatur (20°C) gasförmig, n-Pentan (C5H12) bis n-Hexadecan (C16H34) sind flüssig, und die weiteren n-Alkane sind fest. -
e
e
+
δ-
-
+ δ+
symmetrische unsymmetrische Ladungsverteilung
Bild 2.4 Kurzzeitiger Dipol als Folge einer Bewegung des Atomkerns oder eines Ausscherens des Elektrons aus seiner Bahn
2 Alkane
340 320 300 280 260 240 220 200 180 160 140 120 100 80 60 40 20 0 -20 -40 -60 -80 -100 -120 -140 -160 -180
Siedetemperaturen bei 1013 mbar
343 330
317 303
280 268 251 230 216 196 174 151
Dichte bei 20 °C
126
-42
0,80
0,777 0,776 0,768 98 0,756 0,774 0,776 0,763 0,75 0,740 69 0,748 0,718 0,730 28 36,4 0,70 0,703 36 18 0,684 32 5,9 10 22 0,660 -0,5 0,65 -5,5 -9,6 Schmelz-25,6 -29,7
temperaturen
-56,8
-53,5
0,557
-89
-95,3
-90,6
0,60 0,55
-129,8
-138 -164 -183 -182
-187,7
Dichte [g/ml]
Temperatur [°C]
60
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Anzahl der Kohlenstoffatome Bild 2.5
Zunahme der Dichte, der Schmelz- und Siedetemperaturen mit der Kettenlänge der n-Alkane
Dichte-Werte der Alkane. Je länger die Kohlenstoffkette ist, desto stärker sind die zwischen den Molekülen der Alkane wirksamen Dispersionskräfte. Mit Zunahme der Anziehungskräfte werden die Moleküle dichter zusammengefügt. Liegt bei den n-Alkanen eine längere Kohlenstoffkette vor, nimmt die Dichte zu, bis ein bestimmter Limitwert erreicht wird, wo eine dichtere Packung infolge der Abstoßungskräfte der Elektronenhüllen nicht mehr möglich ist. Die Werte für die Dichte einiger n-Alkane sind aus Bild 2.5 zu ersehen.
2.5 Physikalische Eigenschaften der Alkane
Bild 2.6
61
Kristallgitter des n-Hexans
Schmelztemperaturen der Alkane. Die Alkane sind nichtionische Verbindungen, deren Atome durch kovalente Bindungen verknüpft sind. Die Kristalle setzen sich aus Molekülen zusammen, die alleine durch Dispersionskräfte im Kristallverband zusammengehalten werden. Die Moleküle der n-Alkane sind im Kristall dicht gepackt. Die langgestreckten Kohlenstoffketten kann man sich nebeneinander geschlichtet (ähnlich den Sardinen in der Sardinenbüchse) vorstellen, wie dies in Bild 2.6 veranschaulicht wird. Die Moleküle haben in dieser dichten Packung nur eine beschränkte Bewegungsmöglichkeit. Beim Zuführen von Wärme nimmt die Eigenbewegung der Moleküle zu, die Bewegungsenergie überwindet die schwachen Dispersionskräfte, und das Kristallgitter fällt zusammen, der Kristall schmilzt. Da die Alkanmoleküle im Kristall nur durch schwache Dispersionskräfte zusammengehalten werden, sind die Schmelztemperaturen – verglichen mit ionischen Verbindungen – relativ niedrig. Die Dispersionskräfte sind mit Zunahme der Kettenlänge der Kohlenstoffkette stärker, so daß die höheren Homologen der n-Alkane auch eine höhere Schmelztemperatur aufweisen. Schmelz- und Siedetemperaturen sowie Dichten sind Stoffkonstanten, man kann Reinstoffe mit ihrer Hilfe identifizieren. Bei den Schmelztemperaturen der n-Alkane kann man feststellen, daß ihre Zunahme mit steigendem Molekulargewicht nicht in regelmäßigen Intervallen erfolgt. Die Packungsvoraussetzungen im Kristall sind für gerade und ungerade n-Alkanketten unterschiedlich, so daß die Schmelztemperaturen mit wachsender Kohlenstoffkette alternieren. Die Packungsvoraussetzungen im Kristall sind auch für verzweigte Alkane schlechter als für n-Alkane. Deshalb weisen verzweigte Alkane eine niedrigere Schmelztemperatur auf. Symmetrische, verzweigte Alkane bilden jedoch leicht regelmäßige Kristallgitter aus und haben deshalb relativ hohe Schmelztemperaturen. Die Siedetemperaturen der Alkane. In den flüssigen Alkanen sind die Moleküle nicht so systematisch angeordnet wie im festen Zustand, und ihre Bewegungsfreiheit ist größer. Jedes Alkanmolekül ist jedoch noch von anderen umgeben und die Moleküle ziehen sich gegenseitig mit Dispersionskräften an. Mit Zunahme der Temperatur nimmt auch die Eigenbewegung der Moleküle zu. Bei genügend hoher Temperatur reicht die thermische Bewegung
62
2 Alkane
der Moleküle aus, die zwischenmolekularen Kräfte, die sie in der Flüssigkeit zusammenhalten, zu überwinden, und sie gehen im gesamten Flüssigkeitsvolumen in die Gasphase über, die Flüssigkeit siedet. Die Zunahme der molaren Masse der Alkane und die sich damit stärker auswirkenden Dispersionskräfte erfordern beim Übergang von der flüssigen Phase in die Gasphase mehr Energie, was mit einem Anstieg der Siedetemperaturen verbunden ist. Die verzweigten Alkane haben, verglichen mit den n-Alkanen mit gleicher Anzahl der C-Atome, niedrigere Siedetemperaturen. Die Löslichkeit in Alkanen. Ionische Verbindungen können in Alkanen nicht gelöst werden. Dies ist verständlich, wenn man bedenkt, daß die starken Kräfte, die den Zusammenhalt im Ionengitter bedingen, um vieles größer sind, als die zwischen Alkanmolekülen und Ionen wirkenden zwischenmolekularen Kräfte. Die Ionen können also von den Alkanen nicht aus dem Kristallgitter herausgelöst werden. In Feststoffen mit unpolaren oder nur mäßig polaren Substanzen sind die Kräfte, die die Moleküle zusammenhalten, von gleicher Größenordnung wie die Kräfte, die zwischen den im Feststoff befindlichen Molekülen und den Alkanmolekülen in der Flüssigkeit wirksam sind. Unpolare oder nur mäßig polare Substanzen können deshalb mit Alkanen als Lösungsmittel aus ihrem Kristallverband herausgelöst werden. Auch bei den Alkanen gilt die Faustregel „similia similibus solvuntur“, d. h. Gleiches löst Gleiches. In flüssigen Alkanen lassen sich z. B. feste Alkane, Fette oder Wachse gut lösen. Die hydrophoben Eigenschaften der Alkane. Hydrophob bedeutet wasserabweisend. Schüttelt man flüssige Alkane mit Wasser, trennen sich beide Flüssigkeiten sofort wieder, und es liegen zwei flüssige Phasen mit einer gut sichtbaren Phasengrenze vor. Die Alkane bilden, infolge ihrer kleineren Dichte, die obere Phase. Zwischen den Wassermolekülen treten auf Grund des vorhandenen Dipols starke Anziehungskräfte auf, und sie sind durch Wasserstoffbrücken untereinander verbunden. Dies bewirkt, daß die Alkanmoleküle, die nur mit schwachen Dispersionskräften wirken, nicht in die wäßrige Phase eindringen können. Ein Tropfen Wasser wird nach Auftreffen auf eine Alkanunterlage nicht zerfließen, da die den Zusammenhalt der Wassermoleküle bewirkenden Kräfte weit größer sind als die Kräfte, die zwischen den Alkan- und Wassermolekülen auftreten.
2.6 Vorkommen der Alkane Methan kommt als Hauptkomponente im Erdgas vor. Daneben ist in diesem noch Ethan und auch etwas Propan und Butan enthalten (durchschnittlich in Volumenprozenten: 86,3% Methan, 9,6% Ethan, 3% Propan und 1,1% Butan). Methan entsteht auch bei Fäulnisprozessen im Schlamm von Teichen oder in Sümpfen und wird daher auch als „Sumpfgas“ bezeichnet. In Steinkohlengruben kann es als „Grubengas“ mit Luft vermischt durch Funkenschlag oder durch eine offene Flamme eine Explosion („schlagende Wetter“) auslösen. Bei der Bioaufbereitung pflanzlicher Abfälle entsteht durch Einwirkung von Mikroorganismen ebenfalls Methan. Im Erdöl sind Alkane in großen Mengen enthalten, wobei n-Alkane bei weitem überwiegen. Die n-Alkane stellen ein komplexes Gemisch dar, vom Methan bis zu Alkanen mit sehr langen Kohlenstoffketten (z.B. C40).
Prozentualer Gewichtsanteil
2.7 Synthese der Alkane
63
80 % 70 60 50 40 30 20 10 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
Anzahl der C-Atome im n- Alkan Bild 2.7
Zusammensetzung der n-Alkane im Kutikularwachs der Conference-Butterbirne
Im Montanwachs, einem aus bituminöser Braunkohle erhaltenen Extrakt, befinden sich n-Alkane von C21–C31, wobei die n-Alkane mit ungerader Anzahl der C-Atome überwiegen (im böhmischen Montanwachs: C27 – 14 %, C29 – 39 % und C31 – 27,5 %). Im Cuticularwachs an der Oberfläche von Blättern, Blüten und Früchten sind ebenfalls (bis zu 40%) Alkane enthalten (C16–C33). Das Wachs verhindert einen zu großen Wasserverlust der Pflanze durch Abgabe von Wasserdampf (Transpiration). Im Alkananteil des Cuticularwachses sind hauptsächlich n-Alkane vertreten. Verzweigte Alkane kommen darin nur in Spuren vor. Die n-Alkane mit ungerader Anzahl der C-Atome überwiegen gegenüber den geradzahligen Homologen beträchtlich. Man kann dies durch die Biosynthese der Alkane in der Pflanze erklären, wobei man annimmt, daß die n-Alkane durch Decarboxylierung (Abspaltung von CO2) geradzahliger höherer Carbonsäuren entstehen.
2.7 Synthese der Alkane Von einer Synthese spricht man, wenn man die gewünschte Verbindung durch eine chemische Reaktion aus einer anderen Verbindung herstellt. Dies kann im Laboratorium in Milligramm- oder Grammengen geschehen. Im Gegensatz dazu werden Stoffe in der chemischen Industrie in Tonnenmengen produziert, wobei technische, ökonomische, ökologische und andere Gesichtspunkte beachtet werden müssen. Im technischen Maßstab werden Alkane keineswegs synthetisch gewonnen, sie liegen in Erdölfraktionen in Form von Gemischen vor und werden, da eine Isolierung individueller Alkane für die industrielle Verwertung
64
2 Alkane
nicht notwendig ist, nach einer groben Fraktionierung durch die fraktionierte Destillation und nach einer Raffination (Reinigungs- und Veredelungsprozeß) der weiteren Verarbeitung zugeführt, z.B. für die Synthese langkettiger Sulfonsäuren, deren Salze als Textilhilfsmittel und Waschmittel Verwendung finden.
2.7.1 Darstellung der Alkane durch katalytische Hydrierung Mit Hilfe von Platin- oder Palladiumkatalysatoren sowie mit Raney-Nickel kann eine Anlagerung von Wasserstoff an Mehrfachbindungen erfolgen. Dieser Vorgang wird als katalytische Hydrierung bezeichnet. Alkene und Alkine werden bei der katalytischen Hydrierung zu Alkanen umgesetzt. R
H C
+
C
H
H2
R'
Alken
Pt
R
H
H
C
C
H
H
R'
Alkan
Der Palladium-Katalysator kommt gewöhnlich feinverteilt auf Aktivkohle zum Einsatz. Für die Hydrierung mit einem Platinkatalysator verwendet man im Labor in der Regel Platinoxid nach Adams, das aus Hexachloroplatinsäure (H2PtCl6) durch Verschmelzen mit NaNO2 erhalten wird. In Gegenwart von Wasserstoff wird es zu feinverteiltem Pt reduziert. Raney-Nickel wird aus einer Aluminium-Nickel-Legierung gewonnen, die man, fein zermahlen, mit konz. Natronlauge reagieren läßt, worauf man das Natriumaluminat herauswäscht. Der in feingekörnter Form zurückbleibende Nickel besitzt die für eine katalytische Wirksamkeit erforderliche große Oberfläche. Raney-Nickel ist pyrophor (entzündet sich an der Luft) und wird deshalb unter Wasser aufbewahrt. Die Hydrierung mit Raney-Nickel benötigt gewöhnlich schwachen Überdruck (3–7 bar) und gegebenenfalls auch eine höhere Temperatur, während sie mit Pt- oder Pd-Katalysator schon bei normalem Druck und Zimmertemperatur erfolgt. 2.7.1.1 Kohlehydrierung Großtechnisch kann man Kohlenwasserstoffe mit einem hohen Alkananteil durch Hydrierung mit Hilfe des Bergius- oder des Fischer-Tropsch-Verfahrens aus Braunkohle gewinnen. Im 2. Weltkrieg wurde in Deutschland der Benzinbedarf durch Produktion aus Kohle in riesigen Hydrierwerken nach diesen Verfahren gedeckt. Heute gewinnt man das Benzin aus Erdöl, weil es, auch bei inzwischen gestiegenen Erdölpreisen, immer noch billiger ist. Beim Bergius-Verfahren wird die Kohle in Öl fein zerrieben und mit 2% Eisenkatalysator versetzt. In einem Anmaischbehälter wird die Kohle dann mit Anreibeöl, einem Gemisch aus Mittel- und Schweröl (im Verhältnis 2 : 3), versetzt und mit Wasserstoff unter Druck (300 bar) auf 380°C und später im Reaktor auf 425 °C erhitzt. Bei der Fischer-Tropsch-Synthese wird die Kohle nicht direkt hydriert, vielmehr wird durch wechselnde Einwirkung von Wasserdampf und Luft auf glühende Kohle diese zunächst in Synthesegas umgewandelt, das H2 und CO enthält. Das Gasgemisch H2/CO wird im Verhältnis 2 : 1 mit heißem Reaktionsgas vorgewärmt, in den Reaktor geleitet, wo bei 220 °C in Gegenwart eines alkalisierten Eisen-
2.7 Synthese der Alkane
65
katalysators unter einem Druck von 25 bar die Hydrierung erfolgt, aus der Kohlenwasserstoffe resultieren. In der Alkanfraktion befinden sich etwa 91% n-Alkane. Prozentual verteilen sich die Produkte wie folgt: 6% Flüssiggas, 33% Benzin, 17% Schweröl, 10% Mittelparaffin, 18% Hartparaffin und 4% Alkohole. Mit Hilfe dieses Verfahrens wird auch heute noch in Südafrika Benzin aus Kohle gewonnen. Die beiden genannten Verfahren dürften künftig, bei knapper werdender Erdölversorgung, wieder Bedeutung erlangen.
2.7.2 Alkane aus Alkylhalogeniden Als Alkylhalogenide oder Halogenalkane werden acyclische Verbindungen mit der allgemeinen Formel R–X bezeichnet, wobei X für Fluor, Chlor, Brom oder Iod steht. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß Fluoralkane wegen ihrer Reaktionsträgheit in diesem Falle nicht als Edukte (Ausgangssubstanzen für die Reaktion) dienen. Die Reaktionsträgheit der Fluoralkane ist auf die Bindungsstärke der C–F-Bindung zurückzuführen. Die σ-Bindung zwischen C-Atom und Halogenatom kommt durch Überlappung des sp3-Orbitals des C-Atoms und des p-Orbitals des Halogenatoms zustande. Die Größe des p-Orbitals nimmt vom F zum I zu, die Elektronenwolke ist diffuser, die Überlappung mit dem sp3-Orbital geringer und die C–XBindung daher schwächer. 2.7.2.1 Die Wurtz-Synthese Man läßt Alkylbromide oder Alkyliodide mit metallischem Natrium reagieren, wobei eine Kopplung zweier Alkylreste stattfindet: 2 R − X + 2 Na → R − R + 2 NaX
Die Reaktion verläuft über eine metallorganische Zwischenstufe: R − X + 2 Na → R − Na + NaX R − Na + X − R → R − R + NaX
X = Br oder I
Die Wurtz-Fittig-Synthese dient zur Darstellung von aromatisch-aliphatischen Verbindungen, wobei man ein Arylhalogenid (als Aryl bezeichnet man im allgemeinen einen aromatischen Rest, Abkürzung Ar) und ein Alkylhalogenid mit Natrium reagieren läßt: Ar − X + X − R + 2 Na → Ar − R + 2 NaX
2.7.2.2 Alkane aus Grignardverbindungen Als Grignardverbindungen werden Verbindungen vom Typ RMgX bezeichnet. Man stellt sie her, indem man zu in Ether befindlichen Magnesiumspänen langsam unter Rückfluß ein Alkylhalogenid zutropfen läßt. Ether
R − X + Mg ⎯⎯⎯ ⎯→ R − Mg − X
X = Cl, Br oder I
Der wasserfreie Ether dient als Lösungsmittel. Er bildet mit der Grignardverbindung einen Komplex (ein Etherat). Hierbei wird dem Mg von den Sauerstoffatomen zweier Ether-
66
2 Alkane
moleküle je ein freies Elektronenpaar für eine koordinativ kovalente Bindung zur Verfügung gestellt. Das Mg füllt auf diese Weise sein Elektronenoktett auf: H5C2
C2H5 O
R
Mg
X
+
2
H5C2
O
C2H5
R
Mg
X
O H5C2
C2H5
Die Grignardverbindungen können sehr vielseitig für Synthesen eingesetzt werden. Durch Reaktionen mit Verbindungen, die Protonen abspalten können, z.B. mit Alkoholen, Wasser oder Säuren, entstehen aus den in Ether gelösten Grignardverbindungen entsprechende Alkane: R − Mg − X + H − O − R' ⎯⎯⎯ ⎯→ R − H + Mg (OR' ) X Ether
Die Reaktion ist exotherm, und es ist wegen des niedrigen Siedepunktes des Ethers angezeigt, z.B. Wasser nicht direkt zuzutropfen, sondern es mit Ether zu schütteln und die mit Wasser gesättigte Etherphase zuzugeben. Die Reaktion von Grignard-Reagens wird nach Zerewitinow zur Bestimmung H-aktiver organischer Verbindungen herangezogen. Man setzt Methylmagnesiumbromid ein und das sich entwickelnde Methan wird gasvolumetrisch gemessen. 2.7.2.3 Reduktion von Alkylhalogeniden Die Reduktion von Alkylhalogeniden kann durch Einwirkung von Zink und Mineralsäuren erfolgen, R − X + Zn + 2 HCl → R − H + HX + ZnCl2
oder mit Hilfe von komplexen Metallhydriden, z.B. mit Lithiumaluminiumhydrid (LiAlH4). 4 R − X + LiAlH4 → 4 R − H + LiX + AlX3
X = Cl, Br oder I
2.7.3 Alkane aus Alkalisalzen der Carbonsäuren Anmerkung: Alkalisalze der Carbonsäuren haben die allgemeine Formel O R
C O
Me
mit Me = Li, Na, K
2.7.3.1 Die Alkalischmelze Bei starkem Erhitzen eines Gemisches, bestehend aus dem Alkalisalz einer Carbonsäure und fein zerriebenem Ätznatron oder Ätzkali, wird ein Alkan gebildet:
2.8 Reaktionsgleichung und Reaktionsmechanismus O R
+
C
Δ
NaO H
R
67
H
+ Na2CO3
Na
O
Das Symbol Δ über dem Reaktionspfeil bedeutet starkes Erhitzen. 2.7.3.2 Die Kolbe-Elektrolyse Eine konzentrierte wäßrige oder methanolische Lösung der Alkalisalze der Carbonsäuren wird bei hohen Stromdichten elektrolysiert, wobei an der Anode ein Alkan entsteht. Na
2 RCOO
+ 2 H2O
Elektrolyse
R
R + 2 CO2
+
Anode
2 NaOH + H2 Kathode
Reaktionsmechanismus: Die Reaktion verläuft radikalisch. Zunächst wandert das Carboxylation RCOO– zur Anode und gibt dort ein Elektron ab. Das entstandene Carboxylradikal decarboxyliert, und die dabei gebildeten Alkylradikale rekombinieren. Anode O
O R
R
C
+
C
e
O
O
Carboxylradikal O R
+
R
C
O
C
O
O
Alkylradikal Erläuterungen der Symbole:
R
+
R
R
R
e
= Elektron = ungepaartes Elektron des Radikals = Elektronenpaar der kovalenten Bindung = homöopolare Spaltung der kovalenten Bindung
2.8 Reaktionsgleichung und Reaktionsmechanismus Bei der Reaktionsgleichung (abgekürzt RG) stehen links vom Reaktionspfeil die miteinander reagierenden Ausgangsstoffe, die als Edukte oder Reaktanten bezeichnet werden, und rechts davon die Produkte, das sind die Stoffe, die bei der Reaktion gebildet werden. AB
+ Edukte
CD
AC
+
BD
Produkte
68
2 Alkane
Zum Unterschied von der Reaktionsgleichung, die global nur die Edukte und die aus der Gesamtreaktion resultierenden Produkte nennt, werden im Reaktionsmechanismus (abgekürzt RM) die einzelnen Teilschritte der Reaktion aufgeführt. Der Reaktionsmechanismus zeigt, wie die Umbildung der Edukte über verschiedene Intermediärstufen (Zwischenstufen) zu Endprodukten erfolgt. Dieser Reaktionsweg wird gekennzeichnet durch mehr oder weniger stabile Zwischenprodukte, die gegebenenfalls auch isolierbar sind, oder dadurch, daß instabile Übergangszustände durchlaufen werden. Der Reaktionsmechanismus ermöglicht ein tieferes Verständnis des Reaktionsablaufes.
2.9 Reaktionen der Alkane In Alkanen sind sowohl die C–H- als auch die C–C-σ-Bindungen unpolar. Die Alkanmoleküle bieten Ladungsträgern keine Angriffsstellen, so daß Alkane auch nicht mit Verbindungen reagieren, die für den Reaktionsablauf einen Ionenmechanismus voraussetzen, z.B. mit Säuren oder Laugen. Sie überstehen deshalb unverändert eine Behandlung mit konz. Schwefelsäure, Salpetersäure, konz. Natronlauge und lassen sich auch mit Kaliumdichromat oder Kaliumpermanganat bei mäßig hohen Temperaturen nicht oxidieren. Alkane werden deshalb mit dem Etikett „reaktionsträge“ versehen. Die im Handel und in der Technik noch gebräuchliche Bezeichnung Paraffin für Alkane ist auf ihre Reaktionsträgheit gegenüber solchen Reagenzien zurückzuführen. Der Name Paraffin stammt vom lateinischen parum affinis, das mit „wenig verwandt“ übersetzt werden kann, womit man zum Ausdruck bringen will, daß diese Stoffgruppe sich mit anderen Stoffen nicht umsetzt. Die Reaktionsträgheit der Alkane bezieht sich aber nur auf Reaktionen, die nach einem Ionenmechanismus erfolgen. Es wäre um die chemische Industrie schlecht bestellt, wenn die Alkane so inert wären und sich nicht chemisch umsetzen ließen. Schließlich bildet Erdöl, das einen hohen Alkananteil enthält, heute die Rohstoffbasis für die industrielle Erzeugung der meisten organisch-chemischen Produkte. Auch unsere Alltagserfahrung lehrt uns, daß Alkane nicht inert sind und mit dem Sauerstoff der Luft reagieren: eine brennende Paraffinkerze gibt darüber Aufschluß; und wer wollte es schließlich bezweifeln, daß Heizöl oder Benzin, die beide einen hohen Alkananteil aufweisen, brennen? Die Alkane sind also chemisch reaktiv, aber diese Reaktivität bezieht sich auf Reaktionen, die nach einem Radikalmechanismus ablaufen. Diese Reaktionen werden eingeleitet durch die homöopolare Spaltung einer Bindung. Von den zwei Elektronen der Bindung behält bei der Spaltung jeder Bindungspartner ein Elektron: X
Y
X
+
Y
Die Produkte dieser Spaltung, die ein ungepaartes Elektron aufweisen (durch einen Punkt veranschaulicht), werden als Radikale bezeichnet. Einen Hinweis auf radikalische Reaktionen geben die Reaktionsbedingungen: z.B. ein erforderliches Erhitzen des Reaktionsgemisches auf höhere Temperaturen, Bestrahlen des Reaktionsgemisches mit energiereichem Licht oder die Gegenwart von Verbindungen, die leicht in Radikale zerfallen (z.B. Dialkylperoxide R–O–O–R).
2.9 Reaktionen der Alkane
69
2.9.1 Chlorierung und Bromierung der Alkane 2.9.1.1 Die Chlorierung des Methans Chlor und Methan reagieren bei Erhitzen oder durch Bestrahlung mit UV-Licht, wobei die Wasserstoffatome im Methan durch Chloratome ersetzt werden. Hierbei entsteht ein Produktgemisch von Methylchlorid (CH3Cl), Methylenchlorid (CH2Cl2), Chloroform (CHCl3) und Tetrachlorkohlenstoff (CCl4): CH4 + Cl2 → CH3Cl + HCl
Monochlormethan (Methylchlorid ) CH3Cl + Cl2 → CH2Cl2 + HCl
Dichlormethan (Methylenchlorid) CH2Cl2 + Cl2 → CHCl3 + HCl
Trichlormethan (Chloroform ) CHCl3 + Cl2 → CCl4 + HCl
Tetrachlormethan (Tetrachlorkohlenstoff ) Die Chlorierung des Methans ist eine exotherme Reaktion. Liegen die beiden Reaktionspartner in bestimmten Konzentrationsverhältnissen vor, kann die Reaktion explosionsartig verlaufen. Großtechnisch wird die Chlorierung des Methans in flüssiger Phase mit Quecksilbertauchlampen durchgeführt; in der Gasphase erfolgt sie bei 400–450°C und schwach erhöhtem Druck. Der prozentuale Anteil der vier Produkte kann durch die Wahl der Reaktionsbedingungen (molares Verhältnis der Edukte, Reaktionsdauer) variiert werden. Die Reaktionsprodukte sind aus dem Reaktionsgemisch leicht zu isolieren, da sie sehr unterschiedliche Siedetemperaturen haben (CH3Cl –23,7°C, CH2Cl2 40°C, CHCl3 61°C und CCl4 76,7°C). Methylchlorid findet vielfach Anwendung in der organischen Synthese (zur Methylierung von Alkoholen, Phenolen und Cellulose, Herstellung von Fluorchloralkanen usw.), Methylenchlorid, Chloroform und vor allem Tetrachlorkohlenstoff finden breite Anwendung als Lösungsmittel, wobei allerdings bei dieser Anwendung wegen ihrer Toxizität Schutzmaßnahmen zu beachten sind. Sie verursachen Blutschädigungen durch Einwirken auf die Leber mit Prothrombinmangel, der Blutgerinnungsstörungen als Folge hat. Für den Gebrauch der chlorierten Methane als Lösungsmittel ist es von Vorteil, daß diese nicht brennbar sind. Man verwendete früher Tetrachlormethan sogar als Füllung in Löschgeräten. Davon ist man jedoch abgekommen, da die chlorierten Methane in der offenen Flamme mit dem Sauerstoff der Luft zu Phosgen umgesetzt werden. Phosgen wurde im 1. Weltkrieg als Kampfgas eingesetzt. Cl C
O
Cl Phosgen
70
2 Alkane
2.9.1.2 Der Mechanismus der radikalischen Substitution (SR) Bei der Chlorierung des Methans werden in diesem Wasserstoffatome durch Chlor ersetzt. Man spricht deshalb von einer Substitutionsreaktion. Sie erfolgt nach einem radikalischen Reaktionsmechanismus, der als radikalische Substitution bezeichnet und mit dem Symbol SR abgekürzt wird. Die SR-Reaktionen verlaufen alle nach einem Schema, das drei Stufen der Reaktionsabfolge unterscheidet: 1. die Startreaktion (Initiation), wobei eine Verbindung in Radikale aufgespalten wird, welche die Reaktion einleiten. 2. Bei der Kettenfortpflanzung (Kettenpropagation) reagiert das eingebrachte Radikal mit dem Reaktionspartner, in aufeinanderfolgenden Teilreaktionen entsteht das Produkt unter Rückbildung des Radikals. Dieses kann wieder auf gleiche Weise mit dem Edukt reagieren, so daß ein cyclischer Ablauf vorliegt. Diese Reaktionscyclen können sich bis zur Kettenabbruch-Reaktion viele Male wiederholen (100 bis 1000 Cyclen). 3. Durch die Kettenabbruchreaktionen (Termination) wird die Kettenfortpflanzung abgebrochen. Die freien Radikale werden hierbei sozusagen „aus dem Verkehr gezogen“, indem sich zwei Radikale binden (Rekombination von Radikalen) oder eine Disproportionierung zweier Alkylradikale erfolgt, wobei ein Alkan und ein Alken entstehen. Disproportionierung:
R
H
H
R
C
C
H
H
C
C
H
H
H H
H C
C
R H
R
H
H
C
C
H
H
H
H
Bei der Rekombination zweier Radikale bringen beide ihr ungepaartes Elektron für eine σ-Bindung ein. Rekombination: R
+
R
R
R
Schließlich kann auch ein Radikal mit einem Molekül reagieren, wobei ein neues Radikal entsteht, das für die weitere Reaktionsfolge der Kettenfortpflanzung zu unreaktiv ist. Ein solches – als „Radikalfänger“ bezeichnetes – Molekül kann z.B. molekularer Sauerstoff sein, nach dessen Reaktion mit Radikalen die weniger reaktiven Peroxy-Radikale entstehen.
2.9 Reaktionen der Alkane
71
2.9.1.3 Reaktionsmechanismus der Chlorierung des Methans 1. Startreaktion. Die Chlorierung des Methans wird eingeleitet durch eine photolytische (durch Strahlungsenergie herbeigeführte) oder thermische (durch Erhitzen bewirkte) Spaltung des Chlormoleküls Cl2 in zwei Chloratome 2 Cl·, welche ein einsames Elektron besitzen und somit Radikalcharakter haben. Cl
hν
Cl
+
Cl
Cl
Anmerkung: hν über dem Reaktionspfeil bedeutet Lichteinwirkung. 2. Kettenfortpflanzung. Die Kettenfortpflanzung beginnt mit der Reaktion des Chloratoms mit dem Methan, wobei über einen Übergangszustand H3C…H…Cl das Methylradikal H3C· gebildet wird. Dieses reagiert mit einem Chlormolekül, und es entsteht das Reaktionsprodukt CH3Cl und ein Chloratom. Das Chloratom kann mit einem Methanmolekül reagieren, so daß sich der ganze Vorgang wiederholt. H H
H
C
+
H
Cl
H
H
C
H
Cl
H
C
+
Cl
Cl
H
H
H
H
H
C
Cl
H
Cl
H Übergangszustand
HCl
+
C
H
Übergangszustand
H H
H
C
Cl
+
Cl
H
3. Kettenabbruchreaktionen. Der Abbruch der Kettenfortpflanzung erfolgt durch Rekombination Vereinigung bzw. Wiedervereinigung) von Radikalen, wobei sich zwei Radikale binden, indem jedes sein ungepaartes Elektron für die neue σ-Βindung einbringt. H H
C
H +
Cl
H
C
H
Cl
H H
Cl
+
Cl
Cl
Cl
oder
H
C H
H +
C H
H
H
H
H
C
C
H
H
H
Der erste Schritt der Kettenfortpflanzung verläuft über einen instabilen energiereichen Übergangszustand (siehe Bild 2.8). In diesem Zustand ist die C–H-Bindung gelockert, aber noch nicht gespalten, die H–Cl-Bindung noch nicht vollständig geknüpft. Bei Interaktion des Chloratoms mit dem Wasserstoffatom des Methans weiten sich die Bindungswinkel zwischen den C–H-Bindungen der restlichen Wasserstoffatome auf. Drei Elektronen (zwei Bindungselektronen aus der C–H-Bindung und das ungepaarte Elektron aus dem Chlor-
72
2 Alkane
atom) sind über die drei Bindungszentren C–H–Cl delokalisiert, das heißt der wahrscheinliche Aufenthalt der Elektronen erstreckt sich im Übergangszustand über alle drei Zentren. Aus diesem Übergangszustand heraus bilden sich Chlorwasserstoff und das Methylradikal mit einem sp2-hybridisierten C-Atom. Die drei Wasserstoffatome des Methylradikals liegen in einer Ebene, und das p-Orbital des Kohlenstoffatoms ist mit einem Elektron besetzt. Die Symmetrieachse des p-Orbitals steht senkrecht zur Ebene, in der die drei Wasserstoffatome liegen. Auch bei der Reaktion des Methylradikals mit Chlor erfolgt die Umwandlung in Methylchlorid und ein Chloratom über einen Übergangszustand mit delokalisierten Elektronen. 2.9.1.4 Die Halogenierung höherer Alkane Höhere Alkane sind bei der Halogenierung reaktiver als Methan. Bei den höheren Alkanen kann – insbesondere bei der Bromierung – eine Selektivität der Halogenierung beobachtet werden. Die relative Reaktivität der Halogene. Für die Startreaktion ist bei der Chlorierung zur Spaltung des Chlormoleküls eine Bestrahlung mit UV-Licht notwendig. Da die Br–Br-Bindung schwächer als die Cl–Cl-Bindung ist, kann die Startreaktion bei der Bromierung schon durch Bestrahlung mit einer Glühlampe ausgelöst werden, wenn man das Reaktionsgemisch aus nächster Nähe bestrahlt. Fluor reagiert mit Alkanen schon im Dunkel so heftig, daß nicht nur perfluorierte Produkte gebildet werden, sondern auch eine Fragmentierung (Spalten in Bruchstücke) der Moleküle eintreten kann. Die direkte Fluorierung wird deshalb nur in Ausnahmefällen und dann unter Kühlung und Verdünnung mit Stickstoff durchgeführt. Die Reaktivität nimmt vom Fluor über Chlor und Brom zum Iod hin ab. Eine direkte Iodierung der Alkane ist nicht zu erreichen. Die Selektivität der Halogenierung. Die Selektivität der Halogenierung ist so zu verstehen, daß die Reaktion bevorzugt an bestimmten Stellen des Alkanmoleküls erfolgt. In der Tat wird die C–H-Bindung an tertiären Kohlenstoffatomen bevorzugt gespalten. Dann folgen die C–H-Bindungen am sekundären und schließlich am primären Kohlenstoffatom. R R
H
C
H
R
R
C
H
Cl
Methan e oder Bild 2.8
Chloratom
H
H
primäres Kohlenstoffatom -
3e H
C H
sp3
-
C H
H
H H
R
sekundäres p-Orbital
C
H
R
tertiäres
H
H
H Cl
sp3 Übergangszustand
p-Orbital
C sp2
H
+
H
Cl
H
Methylradikal
= Elektron Übergangszustand bei der Reaktion des Methans mit dem Chloratom
Chlorwasserstoff
2.9 Reaktionen der Alkane
73
Man kann dies auch so formulieren, daß die Methingruppe >CH– bevorzugt vor der Methylengruppe –CH2– und diese wiederum vor der Methylgruppe –CH3 reagiert. Diese Selektivität ist besonders beim Brom ausgeprägt, weniger beim Chlor, und Fluor reagiert fast unselektiv. Die Unselektivität des Fluors ist mit seiner hohen Reaktivität zu erklären, bei der praktisch jede C–H-Bindung angegriffen wird. Reaktivität und Selektivität stehen also zueinander in umgekehrtem Verhältnis. Die Selektivität der Halogenierung ist mit der unterschiedlichen Stabilität der Radikale zu erklären, die bei der Halogenierung zunächst entstehen. Es werden bevorzugt die Produkte gebildet, die stabiler und energieärmer sind, wobei das tertiäre Alkylradikal stabiler als das sekundäre und dieses wiederum stabiler als das primäre ist: R R
C
H
stabiler als
R
H
stabiler als
C
R
R
tertiäres
sekundäres
R
C H
primäres Alkylradikal
Die unterschiedliche Stabilität der Alkylradikale ist mit der Hyperkonjugation zu erklären. Dieses Phänomen soll zunächst am Beispiel des Ethylradikals erläutert werden. Die im Ethylradikal befindlichen C-Atome sind um ihre σ-Bindung frei drehbar, wobei Konformere existieren, in denen die C–H-σ-Bindung des sp3-hybridisierten Kohlenstoffatoms und das p-Orbital des benachbarten sp2-hybridisierten Kohlenstoffatoms in Deckung sind. In dieser Konformation befinden sich beide Orbitale in unmittelbarer räumlicher Nähe, so daß es zwischen beiden zu einer Überlappung kommen kann (in Bild 2.9 wird sie durch eine gestrichelte Linie zwischen beiden Orbitalen symbolisiert), die eine Delokalisierung des im σ-Orbital befindlichen Elektronenpaares ermöglicht. Unter dem Begriff Delokalisierung des Elektronenpaares versteht man in diesem Fall, daß der wahrscheinliche Aufenthaltsraum der Elektronen nicht nur auf das σ-Orbital der C–H-Bindung beschränkt ist, sondern sich auch auf das einfach besetzte p-Orbital ausweitet. Diese als Hyperkonjugation bezeichnete Wechselwirkung stabilisiert das Radikal. Im Falle, daß noch weitere Alkylreste an das sp3-hybridisierte C-Atom gebunden sind, wie z.B. beim tert-Butylradikal (H3C)3C·, können sich auch diese an der Hyperkonjugation beteiligen, wodurch der stabilisierende Effekt verstärkt wird.
H H C
C H
H
H sp2
sp3
Bild 2.9 Die Hyperkonjugation im Ethylradikal (das p-Orbital des sp2-hybridisierten C-Atoms ist nur mit einem Elektron besetzt.)
74
2 Alkane
2.9.2 Einführung der Sulfonylchlorid- und Sulfogruppe in Alkane 2.9.2.1 Die Sulfochlorierung Die Sulfochlorierung erfolgt bei der Einwirkung von Schwefeldioxid und Chlor auf Alkane unter energiereicher Bestrahlung, wobei Alkansulfonylchloride, die auch als Alkansulfochloride bezeichnet werden, entstehen. R
H +
SO2
+
Cl2
hν
R
Alkan
SO2
Cl +
HCl
Alkansulfonylchlorid
1. Startreaktion. Die Reaktion wird durch eine Spaltung des Chlormoleküls gestartet. Cl
Cl
hν
+
Cl
Cl
2. Kettenfortpflanzung. Die Chloratome reagieren mit Alkanen unter Bildung von Alkylradikalen. Die Umsetzung mit SO2 führt zu Alkansulfonylradikalen, die bei der Reaktion mit Cl2 Alkansulfonylchloride bilden, wobei ein Chloratom freigesetzt wird. R
+
H
Cl
R
H
Cl
R
+
H
Cl
Übergangszustand
+
R
R
R
SO2
SO2 +
SO2
Alkansulfonylradikal Cl
Cl
R
SO2
Cl
+
Cl
Alkansulfonylchlorid
3. Kettenabbruchreaktionen. Der Kettenabbruch erfolgt durch Rekombination von Radikalen. R
SO2 +
Cl
R
SO2
Cl
R
SO2 +
R
R
SO2
R
Sulfon R
+
Cl
R
Cl
Die Chlorierung der Alkane tritt bei der Sulfochlorierung als Nebenreaktion auf. Die Alkansulfonylchloride werden weiterverarbeitet zu Wasch- und Netzmitteln.
2.9 Reaktionen der Alkane
75
2.9.2.2 Die Sulfoxidation Die Sulfoxidation erfolgt durch Einwirken von Schwefeldioxid und Sauerstoff auf höhere Alkane in Gegenwart von Radikalbildnern, z.B. Chlor oder Persäuren, oder unter Bestrahlung mit UV-Licht, wobei Alkansulfonsäuren gebildet werden. R
H
SO2
+
+
1
/2 O2
hν, Starter Cl2
R
Alkan
SO3H
Alkansulfonsäure
Die Alkansulfonsäuren (auch als Alkylsulfonsäuren bezeichnet) sind starke Säuren, deren Salze als Waschmittel Verwendung finden. Die Alkansulfonsäuresalze haben gegenüber den herkömmlichen Seifen den Vorteil, daß ihre Calciumsalze in Wasser gut löslich sind und sie außerdem in Lösung eine neutrale Reaktion zeigen. Die Sulfoxidation läuft in folgenden Reaktionsschritten ab: 1. Startreaktion. Die Reaktion wird mit Hilfe eines Radikalbildners gestartet, z.B. Chlor, das in Chloratome gespalten wird. Das Chloratom spaltet die C–H-Bindung eines Alkans, und es entsteht ein Alkylradikal. Cl
R
Cl
H
+
hν
Cl
Cl
R
+
Cl
H
Cl
R
+ H
Cl
2. Kettenfortpflanzung. Das Alkylradikal bildet mit SO2 ein Alkansulfonylradikal. Am weiteren Teilschritt der Reaktion ist molekularer Sauerstoff beteiligt. Er ist paramagnetisch, was auf die Anwesenheit zweier ungepaarter Elektronen mit parallelem Spin im Sauerstoffmolekül hinweist. Es ist also verständlich, daß der Sauerstoff sich wie ein Diradikal verhält. Die diradikalische Struktur ·O–O· erklärt die besondere Affinität des Sauerstoffes zu Radikalen. Der Sauerstoff reagiert mit dem Alkansulfonylradikal, wobei das Alkanperoxosulfonylradikal gebildet wird. Dieses Radikal greift ein Alkan an, und die Alkanperoxosulfonsäure entsteht. Sie zerfällt in ein Hydroxyradikal und das Alkansulfonradikal. Das letztere reagiert mit einem Alkan, und es entsteht das Reaktionsprodukt, die Alkansulfonsäure (siehe nächste Seite). 3. Kettenabbruchreaktionen. Die Kettenabbruchreaktionen erfolgen durch Rekombination (Vereinigung, Zusammenschluß) zweier Radikale. R
+
R
R
+
O
+
O
H
O
R
R
H
R
O
H
H
H
O
O
H
76
2 Alkane Kettenfortpflanzung (Erläuterung siehe vorhergehende Seite): R
+
R
SO2
SO2
Alkansulfonylradikal O R
S
O +
O
O
R
O
SO2
SO2
O
+
O
H
R
R
O
O
SO2
O
H
+
R
H
O
+
O
O
H +
R
SO2
O
+
O
OH
+ R
H
Alkansulfonradikal
H
Alkansulfonradikal
SO2
Alkanperoxosulfonsäure
Alkanperoxosulfonsäure
R
O
Alkanperoxosulfonylradikal
Alkanperoxosulfonylradikal
R
O
O
Alkansulfonylradikal R
S
R
R
SO2
Alkansulfonsäure H
R
H2O
+
R
2.9.3 Die Oxidation von Alkanen mit Sauerstoff 2.9.3.1 Die Autoxidation Organische Stoffe können mit Luftsauerstoff auch ohne Katalysatoren sehr langsam oxidieren. Diesen Vorgang bezeichnet man als Autoxidation (Selbstoxidation). Für n-Alkane ist diese Oxidation kaum meßbar, verzweigte Kohlenwasserstoffe jedoch, insbesondere solche mit tertiärem Kohlenstoffatom, sind der Selbstoxidation zugänglicher. In Gegenwart von Schwermetallspuren oder Bromwasserstoff und bei höherer Temperatur reagieren Kohlenwasserstoffe, die ein tertiäres Kohlenstoffatom im Molekül haben, mit dem Sauerstoff der Luft sehr bereitwillig, wobei reaktive, instabile Hydroperoxide entstehen. Bei der Reaktion von Isobutan mit Luftsauerstoff entsteht tert-Butylhydroperoxid:
2.9 Reaktionen der Alkane
77
1. Startreaktion CH3 H3C
C
CH3 +
H
O
H3C
O
CH3
H
+
C
O
O
CH3
Isobutan (2-Methylpropan)
tert-Butylradikal
2. Kettenfortpflanzung CH3 H3C
CH3 +
C
O
O
H3C
CH3
tert-Butylperoxyradikal
O
+
O
H
C
H3C
CH3
O
C
O
tert-Butylperoxyradikal
O
O
+
H
tert-Butylhydroperoxid
C
CH3 CH3
H
O
O
H
C
+
CH3
CH3
3. Kettenabbruchreaktionen CH3
CH3 H3C
C
+
O
O
H
H3C
H3C
C CH3
C
O
O
CH3
CH3
CH3
CH3 +
C CH3
CH3 CH3 CH3
+
H3C
C
C
CH3 CH3
C CH3
CH3 H
H
CH3
CH3
CH3
CH3
CH3
CH3
CH3 C
O
CH3
tert-Butylradikal
H3C
O
C
CH3
H
CH3
CH3
78
2 Alkane
Nach dem gleichen Reaktionsmechanismus erfolgt die Reaktion des Cumols, wobei Cumolhydroperoxid entsteht. CH3
CH3 C
H
+
O2
CH3
Cumol
C
O
O
H
CH3
Cumolhydroperoxid
Cumol und Cumolhydroperoxid sind wichtige Zwischenprodukte bei der großtechnischen Synthese des Phenols und Acetons aus Benzol und Propen (siehe Abschnitt 11.4c).
2.9.3.2 Die partielle Oxidation der Alkane Bei der partiellen (teilweisen) Oxidation der Alkane können je nach Reaktionsbedingungen verschiedene Produkte entstehen. a) die Acetylensynthese. Durch partielle Oxidation können Methan, Flüssiggas oder Leichtbenzin mit Sauerstoff zu Acetylen H–C≡C–H umgesetzt werden. Im von der BASF entwickelten großtechnischen Verfahren werden Methan und Sauerstoff getrennt auf 500–600°C vorerhitzt, dann gemischt und in einem speziellen Brenner zur Reaktion gebracht, wobei das Mischungsverhältnis CH4/O2 2 : 1 beträgt, so daß nur eine unvollständige Oxidation erfolgen kann. Nach einer Verweilzeit von nur einigen Millisekunden im Brenner wird das Reaktionsgas mit Wasser oder Öl abgeschreckt, um Rußbildung zu verhindern. Neben der partiellen Oxidation 2 CH4 + 3 2 O2 → H − C ≡ C − H + 3 H2O
erfolgt auch eine Dehydrodimerisierung (Abspaltung von Wasserstoff und Zusammentreten zweier Spaltprodukte), die ebenfalls zum Acetylen führt: 2 CH4 → H − C ≡ C − H + 3 H2
b) Partielle Oxidation von Alkanen zu sekundären Alkoholen. Durch Einleiten von Luft in ein auf 140–180°C erhitztes Gemisch höherer Alkane erfolgt eine partielle Oxidation, woraus ein komplexes Gemisch von Alkoholen, Ketonen, Estern und Säuren resultiert. Die Reaktion verläuft über Alkylhydroperoxide als Zwischenprodukte, wobei die O–O–H-Gruppen statistisch über die Paraffinkette verteilt sind. Es gibt eine Modifikation dieser Reaktion (die Bashkirov-Oxidation), bei der man 0,1 Gew.-% KMnO4 und 4–5 Gew.-% Borsäure zu den Alkanen gibt, wobei Borsäureester gebildet werden, die weitere Folgeoxidationen verhindern (siehe Abschnitt 10.7.6.4). Nach der Esterverseifung liegen die Oxidationsprodukte in folgendem Mengenverhältnis vor: 70 % sekundäre Alkohole, 20 % Ketone und 10 % Carbonsäuren. Die Alkohole werden zu Tensiden weiterverarbeitet (Stoffe, welche die Oberflächenspannung des Wassers herabsetzen, siehe Abschnitt 16.2).
2.9 Reaktionen der Alkane
R
CH2
R'
+
1
/2 O2
79 1. H3BO3 140-180°C, 2. Esterhydrolyse
R
CH
R'
OH
2.9.3.3 Die Verbrennung von Alkanen Bei der Verbrennung von Alkanen werden diese mit dem Sauerstoff der Luft zu Kohlenstoffdioxid und Wasser umgesetzt: CnH2n + 2 + ( 3n 2 + 1 2) O 2 → n CO2 + (n + 1) H2O
Zum Starten der Reaktion müssen die Alkane zunächst auf die Zündungstemperatur erhitzt werden. Bei dieser Temperatur ist die kinetische Energie der Moleküle so hoch, daß Bindungen gespalten werden, und Radikale entstehen, die komplizierte Folgereaktionen auslösen, die schließlich zu den Reaktionsprodukten Kohlenstoffdioxid und Wasser führen. Bei der Reaktion wird so viel Wärme freigesetzt, daß sie – einmal in Gang gesetzt – von alleine weiter abläuft. Reaktionen, bei deren Ablauf Wärme frei wird, bezeichnet man als exotherme Reaktionen, während solche, die Wärme verbrauchen, endotherme Reaktionen sind. Die bei normalem Druck freiwerdende Reaktionswärme, in diesem Falle die Verbrennungswärme, wird Reaktionsenthalpie genannt und mit dem Symbol ΔH gekennzeichnet. Die Reaktionswärme wird gewöhnlich in kJ/mol angegeben. Bei exothermen Reaktionen gibt das System Energie ab, so daß vor den entsprechenden Betrag ein negatives Vorzeichen gesetzt wird. Endotherme Reaktionen erkennt man an einem positiven Vorzeichen. Gewöhnlich wird die Reaktionsenthalpie rechts neben die Reaktionsgleichung geschrieben, z.B.: CH4 + 2 O 2 → CO2 + 2 H2O
ΔH = –892 kJ/mol.
Die Verbrennung von fossilen Rohstoffen (Erdöl, Erdgas und Kohle) dient vornehmlich Heizzwecken und der Energieversorgung. Heizöl, eine Fraktion des Erdöls, wird für Heizzwecke verbraucht, Benzin und Dieselöl, ebenfalls Fraktionen des Erdöls, werden als Treibstoffe für Autos benutzt. Bei den Treibstoffen wird die bei der Verbrennung der Kohlenwasserstoffe freigesetzte Energie zum Teil in mechanische Energie, die der Fortbewegung der Fahrzeuge dient, umgesetzt. Die ungeheuren Kohlenstoffdioxidmengen, die bei der Verbrennung von fossilen Rohstoffen oder deren Produkten anfallen, stellen ein gewaltiges Umweltproblem dar. Die Anreicherung von Kohlenstoffdioxid in der Atmosphäre führt dazu, daß infolge einer geringeren Wärmeableitung der sog. Treibhauseffekt entsteht, das heißt, daß die durchschnittliche Temperatur auf der Erde ansteigt. Diese klimatischen Veränderungen können verheerende Folgen haben. Die Reserven an fossilen Rohstoffen sind begrenzt. Es ist schon jetzt abzusehen, daß sie im Laufe des nächsten Jahrhunderts aufgebraucht sein werden. Das, was auf der Erde in Jahrmillionen entstanden ist, wird in wenigen Generationen verbraucht. Die fossilen Rohstoffe bilden heute die Grundlage für die organisch chemische Industrie. Es ist die Frage, woraus man die für unsere Bedürfnisse notwendigen Stoffe (Kunststoffe, Arzneimittel, Farbstoffe usw.) dann herstellen will, wenn man die fossilen Rohstoffe verbrannt hat.
80
2 Alkane
2.10 Methoden zur Trennung verzweigter und unverzweigter Alkane Zur Trennung der n-Alkane von verzweigten Alkanen kann man ein Molekularsieb 0,5 nm benutzen oder sich der Einschlußverbindungen mit Harnstoff bedienen. Beide Methoden können auch zur Trennung anderer acyclischer (nicht ringförmiger) Verbindungen mit unverzweigten und verzweigten Ketten genutzt werden (z.B. Alkohole, Carbonsäuren und Ester).
2.10.1 Trennung mit Molekularsieb 0,5 nm Das Molekularsieb 0,5 nm ist ein Na-Ca-Al-Silikat mit Poren, deren Durchmesser mit 0,5 nm genau definiert ist. Molekularsiebe kommen in Form kleiner Perlen in den Handel. Sie müssen vor Gebrauch durch Erhitzen auf 350°C aktiviert werden, wobei das in den Poren aufgenommene Wasser ausgeheizt wird. Bei kleinen Mengen genügt es, das Molekularsieb einige Minuten im Reagenzglas zu erhitzen. Man gibt es dann direkt in das flüssige Alkangemisch oder das mit Benzol oder Toluol verdünnte Alkangemisch. Die n-Alkane können in die Poren des Molekularsiebs gelangen, während verzweigte Paraffine, wie dies schematisch in Bild 2.10 dargestellt ist, infolge der Verzweigung einen größeren Porendurchmesser benötigen würden und deshalb in das Molekularsieb nicht eindringen können. Mit Hilfe des Molekularsiebs kann man Gemische von n-Alkanen und verzweigten Alkanen trennen oder wenigstens aufkonzentrieren.
2.10.2 Einschlußverbindungen mit Harnstoff Versetzt man eine gesättigte methanolische Harnstofflösung mit einem flüssigen Alkangemisch bestehend aus n-Alkanen und verzweigten Alkanen, scheiden sich sofort hexagonale Kristalle ab. In diesen sind die n-Alkane eingeschlossen, währenddessen die verzweigten Alkane in der Mutterlauge bleiben. Man filtriert ab, wonach sich die verzweigten Paraffine im Filtrat befinden und die Einschlußverbindungen (auch Klathrate genannt) als Rückstand auf dem Filter verbleiben. Durch Erhitzen in Wasser werden die Einschlußverbindungen zerlegt, die n-Alkane schwimmen oben auf der wäßrigen Phase. Nicht nur n-Alkane können mit Harnstoff Einschlußverbindungen bilden, auch unverzweigte Alkohole, Ether, Aldehyde, Ketone und Carbonsäuren. Diese Verbindungen bilden sozusagen den Kristallisationskeim, der zur spontanen Bildung der hexagonalen Harnstoffstruktur führt, in deren Kanälen die Gastmoleküle eingelagert werden.
Molekularsieb 0,5 nm
Bild 2.10 Schema zur Erläuterung der Funktion des Molekularsiebes
Übungsaufgaben
81
Übungsaufgaben ? 2.1 Zeichnen Sie die Konformation des Ethans gestaffelt (staggered form) sowohl in Sägebockprojektion als auch in Newman-Projektion.
? 2.2 Zeichnen Sie in Sägebockprojektion das Butan in a) synperiplanarer und b) antiperiplanarer Konformation auf.
? 2.3 Benennen Sie das Produkt, das entsteht, wenn man Ethylbromid mit metallischem Natrium reagieren läßt. Wie heißt die Synthese?
? 2.4 Was versteht man unter einer Grignard Verbindung und wie reagiert diese mit Alkohol oder Wasser?
? 2.5 Auf welche Weise kann man ein Halogenalkan zum entsprechenden Kohlenwasserstoff reduzieren?
? 2.6 Ausgehend von Propansäure sollen Sie Butan synthetisieren. Schlagen Sie eine Synthese vor!
? 2.7 Welche Reaktionen sind für Alkane charakteristisch?
? 2.8 Nach welchem Schema verläuft die Reaktion bei der radikalischen Substitution? (siehe Kap. 2.9.1.2)
? 2.9 Welches Wasserstoffatom wird bei der Bromierung von Alkanen bevorzugt substituiert: das am primären, sekundären oder tertiären Kohlenstoffatom? Geben Sie eine Reihung an und begründen Sie die Selektivität.
? 2.10 Auf welche Weise kann man n-Alkane von verzweigten Alkanen trennen?
82
2 Alkane
Lösungen ! 2.1 Die Sägebock- und Newman-Projektion des Ethans in Staffelform: Staffelform des Ethans H
H
H H
H H
H
H
H
H H
H
in Sägebock-Projektion
in Newman-Projektion
! 2.2 Konformation des Butans CH3 H3C H
H
H
H 3C H
H H
a) synperiplanar
CH3 H
H
b) antiperiplanar
! 2.3 Das Produkt ist Butan. Die Reaktion verläuft über eine metallorganische Zwischenstufe, in diesem Fall über Ethylnatrium. Die Reaktion wird als Wurtz-Synthese bezeichnet (siehe Kapitel 2.7.2.1).
! 2.4 Grignardverbindungen sind Verbindungen mit der chemischen Formel R-Mg-X, wobei X für Cl, Br oder I steht. Sie reagieren mit Verbindungen, die Protonen abspalten können, z.B. mit Wasser oder Alkoholen, wobei aus R-Mg-X das Produkt R-H gebildet wird (siehe Kapitel 2.7.2.2). Grignardverbindungen sind ein vielseitiges Reagens für Synthesen, denn sie reagieren mit einer ganzen Reihe von Verbindungen: mit Aldehyden und Ketonen (Kapitel 10.6.2.8), mit Chinonen (Kapitel 14.2.3), mit Estern (Kapitel 17.3.6.2) und mit Nitrilen (Kap. 13.3.4.3).
! 2.5 Man läßt das Halogenalkan, das zum Kohlenwasserstoff reduziert werden soll, mit Zn in einer Mineralsäure oder in Ether mit LiAlH4 reagieren.
Lösungen
83
! 2.6 Für die Synthese des Butans aus Propansäure bietet sich die Kolbe-Elektrolyse an. In wäßriger oder methanolischer Lösung des Natriumpropionats wird bei der Elektrolyse im Anodenraum unter Decarboxylierung Butan gebildet (siehe Kap. 2.7.3.2): 2 CH3CH2COO-
CH3CH2CH2CH3 + 2CO2 + 2e-
! 2.7 Reaktionen, die über einen Radikalmechanismus ablaufen, sind für Alkane charakteristisch. Die Reaktionsträgheit von Alkanen gegenüber polaren Reagenzien erklärt sich daraus, daß es im Molekül des Alkans keine polaren kovalenten Bindungen gibt, die einen Angriffspunkt für ein polares Reagens bieten.
! 2.8 Bei radikalischen Substitutionen unterscheidet man 3 Phasen: 1.) Die Startreaktion, welche die Reaktion einleitet. 2.) Die Kettenfortpflanzung (Kettenpropagation) bei der das Produkt unter gleichzeitiger Rückbildung eines Radikals entsteht. Das Radikal reagiert wiederum mit dem Edukt, so daß viele Reaktionscyclen hintereinander erfolgen können. 3.) Die Kettenabbruchreaktion (Termination) durch welche die Kettenfortpflanzung abgebrochen wird.
! 2.9 Bei der Bromierung von Alkanen reagiert die Methingruppe =CH- bevorzugt vor der Methylengruppe –CH2- und diese wiederum vor der Methylgruppe –CH3. Die Erklärung liegt in der Hyperkonjugation, welche die Ursache dafür ist, daß ein tertiäres Alkylradikal stabiler ist als ein sekundäres und dies wiederum stabiler als das primäre (siehe Kap. 2.9.1.4).
! 2.10 Man kann eine Trennung verzweigter von unverzweigten Alkanen mit Hilfe eines Molekularsiebes mit 0,5 nm Porendurchmesser erreichen oder durch Einschlußverbindungen mit Harnstoff. In die Poren des Molekularsiebs 0,5 nm kann ein unverzweigtes Alkan eindringen, ein verzweigtes Alkan wird durch die Verzweigung daran gehindert. In einer methanolischen Harnstofflösung bilden n-Alkane mit dem Harnstoff eine Einschlußverbindung, die sich aus der Lösung abscheidet, die verzweigten Alkane bleiben in der Lösung und können abfiltriert werden, während die Einschlußverbindung als Rückstand auf dem Filter verbleibt. Beim Erwärmen mit Wasser löst sich der Harnstoff in Wasser und das in Wasser nicht lösliche n-Alkan schwimmt im Wasser obenauf (siehe Kap. 2.10).
3 Alkene Die Alkene, auch Olefine genannt, sind offenkettige (acyclische) Kohlenwasserstoffe mit einer Kohlenstoff-Kohlenstoff-Doppelbindung. Sie haben die allgemeine Formel CnH2n.
3.1 Nomenklatur Die Nomenklatur der Alkene wird von den Namen der n-Alkane (siehe Abschnitt 1.7.1) abgeleitet, wobei aber an die Stelle der Endung -an die Endsilbe -en tritt. Die Stellung der Doppelbindung wird mit einer Zahl angegeben, die vor der Stammsilbe oder vor der Endsilbe -en steht (siehe auch Abschnitt 1.7.3). Die Stammsilbe wird abgeleitet vom Namen des entsprechenden Alkans (siehe Abschnitt 1.7.1), wobei die Endung -an weggelassen wird, z.B. heißt die Stammsilbe des Propans Prop, des Butans But usw. Zur Nomenklatur der Alkene seien einige Beispiele gebracht: H3C
C
C
H3C
CH2
H3C
H C
CH2
CH3
2-Methyl-2-penten
H3C
CH3
Cl C
C CH2
CH3
3-Ethyl-2-methyl-2-penten
H3C
CH2
CH2
CH3
CH2
CH2
C CH3
3-Chlor-4-ethyl-3-hepten
Verbindungen mit zwei, drei oder mehreren Doppelbindungen werden nach Anzahl dieser Doppelbindungen als Diene, Triene oder Polyene bezeichnet. Die Stellung der Doppelbindungen in der Kohlenstoffkette wird mit Zahlen gekennzeichnet, die mit einem Komma getrennt sind, z.B. wird die Verbindung CH3 H2C
C
CH
CH2
2-Methyl-1,3-butadien1 genannt. Der Anzahl der Doppelbindungen entsprechend wird die Silbe di-, tri- bzw. tetra- genannt, die vor der Endung -en steht. Alicyclische Verbindungen (siehe Kap. 5) mit einer C=C-Doppelbindung im Kohlenstoffring werden als Cycloalkene bezeichnet. Kohlenwasserstoffe mit Mehrfachbindungen werden auch als „ungesättigt“ bezeichnet, weil sie nicht – wie die Alkane – die maximale Anzahl von Wasserstoffatomen im Molekül enthalten und weitere Atome bzw. Atomgruppen zu binden vermögen.
1
Sie ist auch unter dem Trivialnamen „Isopren“ bekannt.
A. Wollrab, Organische Chemie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-45144-7_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
84
3.5 Die cis-trans-Isomerie in Alkenen
85
3.2 Bedeutung der Alkene Das Ethen H2C=CH2, auch Ethylen genannt, und das Propen H2C=CH–CH3 gehören heute mengenmäßig zu den wichtigsten Grundstoffen der chemischen Industrie. Ethen ist die Ausgangsbasis für etwa 30% aller Petrochemikalien (= Produkte, deren Rohstoffbasis das Erdöl ist). Beide Olefine werden durch thermische Spaltung aus Erdölfraktionen erzeugt (siehe Abschnitt 7.6.1.2) und stehen in großer Menge zur Verfügung. Alkene sind auch in der Natur vorzufinden, z.B. langkettige Alkene im Bienen- und Rosenwachs. Ethen spielt beim Reifeprozeß von Früchten eine Rolle.
3.3 Die σ- und π-Bindung Die Doppelbindung besteht aus einer σ- und einer π-Bindung. Beide Bindungen weisen qualitative Unterschiede auf. Das π-Elektronenpaar ist beweglicher als die σ-Elektronen. Dies wirkt sich durch eine größere Polarisierbarkeit der π-Bindung aus. Man kann sich das Zustandekommen der πBindung durch Überlappung der p-Orbitale zweier sp2-hybridisierter Kohlenstoffatome vorstellen. Elektronen im p-Orbital haben ein höheres Energieniveau als die Elektronen im soder sp2-Hybridorbital. Die aus der Überlappung der p-Orbitale resultierende π-Bindung ist energiereicher als eine σ-Bindung. Der Überlappungsgrad der p-Atomorbitale ist geringer als der der sp2-Hybridorbitale (siehe Abschnitt 1.3.5). Das erklärt, daß die π-Bindung schwächer (um 63 kJ/mol) als eine C-C-σ-Bindung ist. Durch den Übergang der π-Bindung in eine σBindung wird bei der chemischen Reaktion das energiereiche Alken in ein energieärmeres Alkanderivat umgewandelt. Bei der Addition an die Doppelbindung wird deshalb Energie frei, es handelt sich um eine exotherme Reaktion.
3.4 Die Struktur der Alkene Im Ethenmolekül befinden sich sowohl die beiden sp2-hybridisierten Kohlenstoffatome als auch die vier Wasserstoffatome in einer Ebene (siehe Abschnitt 1.3.4.2). Die C-H-σ-Bindungen schließen einen Bindungswinkel von 116,6° ein (siehe Bild 3.1).
3.5 Die cis-trans-Isomerie in Alkenen Beide doppelt gebundenen Kohlenstoffatome sind durch die π-Bindung fixiert, so daß sie um die Doppelbindung nicht drehbar sind. Eine Drehung der beiden C-Atome um die Doppelbindung ist nur unter Aufspaltung der π-Bindung möglich. Da die π-Bindung die freie Drehbarkeit um die C=C-Doppelbindung verhindert, können dann, wenn jedes der doppelt gebundenen C-Atome ungleiche Substituenten trägt, zwei Isomere vorkommen, das cis- und das trans-Isomer. Beide unterscheiden sich in ihren Eigenschaften.
86
3 Alkene
Ebene, in der sich die zwei C-Atome und die vier H-Atome des Ethans befinden
π-Orbitallappen über der Ebene
H
H
H
H
π-Orbitallappen unter der Ebene beide C-Atome und vier H-Atome liegen in einer Ebene, das π-Orbital steht senkrecht zu dieser Ebene. Die σ-Orbitale sind nur als Striche eingezeichnet.
Bild 3.1 Räumliche Struktur des Ethens
Die Bezeichnung cis- bzw. trans- richtet sich danach, in welcher Stellung zueinander zwei Substituenten stehen, die sich je an einem der beiden doppelt gebundenen C-Atome befinden. Stehen die beiden Substituenten auf der gleichen Seite zur Doppelbindung, wird die Verbindung als cis-Isomer bezeichnet, stehen sie auf entgegengesetzten Seiten, handelt es sich um das trans-Isomer. Die cis-trans-Isomerie, auch geometrische Isomerie genannt, kann am Beispiel des cis-2Butens und des trans-2-Butens erläutert werden. Die cis-Konfiguration ist die, in der die beiden Methylgruppen einander am nächsten sind, also von der π-Bindung aus gesehen auf der gleichen Seite stehen, während sie in der trans-Konfiguration einander diametral gegenüberstehen und voneinander weiter entfernt sind. Die Formel für cis- oder trans-Isomere ist bequem zu schreiben, wenn man sich vorstellt, daß die Atome bzw. Atomgruppen alle in Papierebene liegen: H
H C
H
C
CH3 C
CH3 H3C cis-2-Buten
C
H3C H trans-2-Buten
3.5.1 Die Z/E-Nomenklatur Im vorhergehenden Beispiel des cis- und trans-2-Butens haben wir uns nach der Stellung der Methylgruppen orientiert. Standen sich die Methylgruppen näher, betrachtete man sie als cisständig, standen sie weit voneinander entfernt, bezeichnete man sie als trans-ständig. Mit der cis-trans-Nomenklatur kann man in diesem Falle die beiden Isomere eindeutig beschreiben. Versuchen wir die Benennung mit der cis-trans-Nomenklatur nun beim 1-Brom-1-chlor2-iodethen, das ebenfalls zwei geometrische Isomere besitzt: Cl C Br
I
Cl
H
Br
C
H C
C
I
3.5 Die cis-trans-Isomerie in Alkenen
H3C
CH3 cis-2-Buten
CH3
H
H
H
Bild 3.2
87
H3C
H trans-2-Buten
Die beiden Isomere des 2-Butens
Die beiden Substituenten Cl und I sind in der unten angeführten Formel zueinander cisständig, Br und I haben hingegen trans-Konfiguration (unter Konfiguration versteht man die räumliche Anordnung der Atome oder Atomgruppen im Molekül). Je nachdem, auf welches Substituentenpaar wir uns beziehen, können wir die gleiche Verbindung als cis- oder transIsomer bezeichnen. Mit der cis-trans-Nomenklatur kann man also in diesem Fall die Verbindung nicht eindeutig benennen. Aus diesem Grunde bedient man sich der Z/ENomenklatur, die auch in solchen Fällen eine eindeutige Zuordnung gewährleistet. Man benutzt hierbei die Sequenzregel von Cahn, Ingold und Prelog. Nach dieser haben diejenigen Atome die höhere Priorität, die die höhere Ordnungszahl im Periodensystem der Elemente aufweisen (eingehender werden die Sequenzregeln im Abschnitt 8.6.2 behandelt). Man betrachtet hierbei zunächst die Atome, die direkt an die sp2-hybridisierten C-Atome (das sind die beiden C-Atome mit der Doppelbindung) gebunden sind. Man stellt fest, welches dieser Atome an dem einen C-Atom und welches am anderen C-Atom die höhere Priorität hat. Sind die beiden Atome mit der höheren Priorität auf der gleichen Seite (von der Doppelbindung aus gesehen), liegt die Z-Konfiguration vor (Z = zusammen), stehen sich beide Atome mit der höheren Priorität diametral gegenüber, so handelt es sich um die EKonfiguration (E = entgegen). I
Cl C Br
C H
E-Konfiguration
In der vorliegenden Formel bindet das eine C-Atom die beiden Substituenten Cl und Br. Chlor hat die Ordnungszahl 17 und Brom die Ordnungszahl 35 (nachzulesen im Periodensystem der Elemente). Von beiden Atomen hat Brom die höhere Ordnungszahl. Das andere CAtom bindet die Substituenten Wasserstoff und Iod. Wasserstoff hat die Ordnungszahl 1 und Iod die Ordnungszahl 53. Iod hat also von beiden Atomen die höhere Ordnungszahl. Die beiden Atome mit der höheren Ordnungszahl Br und I stehen einander diametral gegenüber, die Verbindung hat also die E-Konfiguration und wird als (E)-1-Brom-1-chlor-2-iodethen bezeichnet.
88
3 Alkene
3.5.2 Die cis-trans-Isomerisierung Die cis-trans-Isomerisierung, bei der die cis- in die trans-Form übergeht und umgekehrt, ist nur unter Spaltung der π-Bindung möglich. Diese Spaltung kann man durch Zuführen von Energie herbeiführen, indem man das Alken auf 400–500°C erhitzt oder es einer intensiven kurzwelligen Strahlung aussetzt. In dem Maße, wie sich die Überlappung der p-Orbitale löst, kann schon die Rotation der sp2-hybridisierten C-Atome um die verbliebene σ-Bindung einsetzen. Auf dem Wege von einem geometrischen Isomer zum anderen wird unter Zuführen von Energie ein Übergangszustand erreicht, der einem Energiemaximum entspricht, in dem die p-Atomorbitale beider sp2-hybridisierten C-Atome senkrecht zueinander stehen. Nach einer Drehung von insgesamt 180° können die p-Orbitale wieder voll überlappen, so daß die Doppelbindung erneuert wird, dann aber das jeweils andere geometrische Isomer vorliegt. Die cis-trans-Isomerisierung kann man auch mit NO2 erreichen. Dieses hat ein ungepaartes Elektron und besitzt somit radikalischen Charakter. Es entkoppelt die π-Elektronen der Doppelbindung, wobei zeitweise eine C–N-σ-Bindung entsteht und eine freie Drehbarkeit um die C–C-σ-Bindung möglich ist. Spaltet sich das NO2 wieder ab, so wird die C=C-Doppelbindung erneuert, wobei sowohl cis- als auch trans-Isomere im Gemisch vorliegen. Das trans-Isomer ist die stabilere Verbindung und deshalb im Gemisch auch stärker vertreten. NO2 H C R
NO2
H C
H
R cis-Alken
C
H H
C
R
C
C
R
H
C R
R C H
Übergangszustand E
H
C
C
R
H R
H C
cis-Alken
C
R
Bild 3.3
Energieprofil der cis-trans-Isomerisierung
R H
trans-Alken Reaktionskoordinate
R C
R H Abspaltung von ·NO2
R R Rotation um σ-Bindung
H
NO2
NO2
C
H trans-Alken
3.6 Darstellung der Alkene
89
Es ist bei dieser Reaktion jedoch notwendig, das NO2 auf das Alken nur kurzzeitig einwirken zu lassen, da sonst Produkte von Konkurrenzreaktionen überwiegen (Addition von NO2 an die C=C-Doppelbindung). Die cis-trans-Isomerie spielt beim Sehvorgang eine gewichtige Rolle. In den Stäbchenzellen der Netzhaut befindet sich das Rhodopsin, das aus der Eiweißkomponente Opsin und einem ungesättigten Aldehyd, dem 11-(Z)-Retinal, besteht. Das letztere hat in 11-Stellung eine Doppelbindung mit Z-Konfiguration. Fällt nun Licht des sichtbaren Wellenbereiches auf diese Verbindung, geht die Z- in die E-Konfiguration über, und es erfolgt außerdem eine Dissoziation des Rhodopsin-Komplexes. Die Veränderungen führen zu einer Nervenerregung. Diese wird an das Gehirn weitergeleitet und ruft dort eine Lichtempfindung hervor. H 7
1 6
2
9
8
10
5
3
1
11 12
hν
13
15 C
6
2
8
9
11
10
12
13
15
14
C
O
5
3 4
14
4
7
O
H
11-(Z)-Retinal
11-(E)-Retinal
3.6 Darstellung der Alkene Alkene fallen in großen Mengen beim Cracken von Erdölfraktionen an. Ethen wird großtechnisch durch Steamcracken (siehe Abschnitt 7.6.1.2) aus Naphtha (siehe Abschnitt 7.4) gewonnen. Die Darstellung der Alkene im Labor erfolgt hauptsächlich mit Hilfe von Eliminierungsreaktionen. Sie können auch durch partielle Hydrierung von Alkinen dargestellt werden. Bei partieller Hydrierung von Alkinen werden (Z)-Alkene gebildet. Für die Hydrierung verwendet man den Lindlar-Katalysator, einen inaktivierten Palladium-Katalysator. Der Einsatz dieses Katalysators für die Hydrierung ist notwendig, damit das entstandene Alken nicht weiter in das entsprechende Alkan umgesetzt wird.
N
Chinolin
Den Lindlar-Katalysator erhält man durch Reduktion von PdCl2 auf Calciumcarbonatoder Bariumsulfatpulver und Inaktivierung des Katalysators mit Chinolin.
R
C
C
R
+ H2
Lindlar-Katalysator
R
R C
H
C H
90
3 Alkene
3.6.1 Eliminierungsreaktionen zur Darstellung der Alkene Bei der Eliminierung wird ein Teil des Moleküls abgespalten. Bei der Abspaltung von Substituenten, die an benachbarte C-Atome gebunden waren (β-Eliminierung), wird eine Mehrfachbindung gebildet. Aus einem Alkanderivat entsteht auf diese Weise das energiereichere Alken. Um eine Eliminierung zu erreichen, muß Energie zugeführt werden, die Reaktion ist also endotherm. 3.6.1.1 Die Dehydrohalogenierung Als Dehydrohalogenierung wird die Abspaltung eines Halogenwasserstoffes HX aus Halogenalkanen (siehe Abschnitt 9.1) bezeichnet. Sie erfolgt durch Erhitzen des Halogenalkans mit Alkalihydroxiden in Alkohol oder mit Alkalialkoholaten (z.B. NaOR) in Alkohol oder Dimethylsulfoxid (CH3)2S=O als Lösungsmittel. R
H
H
C
C
H
R
+ NaOH
X
H C
H
H
+
C
+
NaX
H2O
H X = Cl, Br, I
3.6.1.2 Die Dehalogenierung Bei der Dehalogenierung wird aus einem 1,2-Dihalogenalkan durch Erhitzen mit Zinkstaub in Alkohol als Lösungsmittel das Halogen abgespalten und als ZnX2 gebunden.
X
R
H
C
C
H
H
+
X
Zn
R
Alkohol
H C
H
+
C
ZnX2
H
3.6.1.3 Die Dehydratisierung Von einer Dehydratisierung spricht man bei Abspaltung von Wasser aus dem Molekül. Die Dehydratisierung von Alkoholen erfolgt gewöhnlich durch Erhitzen in Gegenwart von Säuren. Sie gelingt am leichtesten bei tertiären Alkoholen, weniger leicht bei sekundären Alkoholen, und bei primären Alkoholen sind relativ hohe Temperaturen (170–200°C) und starke Säuren (Schwefelsäure, Phosphorsäure) notwendig. Die Hydroxygruppe –OH ist eine schlechte Abgangsgruppe. Nach Zugabe der Säure wird der Sauerstoff der Hydroxygruppe protoniert. Durch die entstandene Hydroxoniumgruppe – + OH2 wird die C–O-Bindung stärker polarisiert, so daß ihre heteropolare Spaltung sehr begünstigt wird.
R'
H
R
C
C
H
R
H O
H
R'
H
R
C
C
H
R
H O H
Erhitzen
R'
R C
H
+
C R
H2O
3.6 Darstellung der Alkene
91
Aus einem sekundären Alkohol können bei der Dehydratisierung zwei isomere Alkene entstehen, die sich durch Stellung der Doppelbindung unterscheiden, z.B. können aus Butan2-ol das 1-Buten und das 2-Buten entstehen. OH H3C
CH
CH2
H
CH3
H3C
CH
CH
H2C
CH
CH2
CH3 CH3
Hauptprodukt Nebenprodukt
Das Hauptprodukt entsteht gemäß der Saytzev-Regel, die besagt, daß die Bildung der Doppelbindung zu dem C-Atom hin erfolgt, das die wenigsten H-Atome bindet. Man kann die Regel auch so formulieren, daß bevorzugt das Alken mit der größten Anzahl von Alkylgruppen an den doppelt gebundenen C-Atomen entsteht. Die Regel gilt auch für Dehydrohalogenierungen. Die Dehydratisierung von Alkoholen gelingt ebenfalls durch Überleiten von Alkoholdämpfen über erhitztes feinkörniges Aluminiumoxid. 3.6.1.4 Dehydrierung Die Dehydrierung ist eine Abspaltung von Wasserstoff aus dem Molekül. Sie gelingt bei einem Alkan nur bei hohen Temperaturen (über 400°C) und mit Platin als Katalysator. Die Reaktion in umgekehrter Richtung, nämlich die Hydrierung des Alkens mit Pt als Katalysator, erfolgt schon bei Zimmertemperatur.
R
H
H
C
C
H
H
H
Pt,
400 °C
Pt, Zimmertemp.
R
H C
H
+
C
H2
H
3.6.1.5 Hofmann-Eliminierung der Tetraalkylammoniumhydroxide Tetraalkylammoniumhydroxide haben die allgemeine Formel R1
R2 OH
N 3
R
R
4
Man kann sie sich als Derivate des Ammoniumhydroxids NH4OH vorstellen, in dem die an den Stickstoff gebundenen Wasserstoffatome formal durch Alkylreste ersetzt wurden. Erhitzt man Trimethylalkylammoniumhydroxid, entsteht Trimethylamin, Wasser und ein Alken. Ist die Alkylgruppe mit einem sekundären oder tertiären C-Atom an den Stickstoff gebunden, können isomere Alkene als Reaktionsprodukte entstehen. Als Hauptprodukt wird das Alken gebildet, das der Hofmann-Regel entspricht. Sie besagt, daß das Alken entsteht, das an den doppelt gebundenen C-Atomen die kleinste Anzahl von Alkylresten trägt.
92
3 Alkene H3C
CH3
H3C
N H3C
CH2
H2C
O
H
H
C
Δ
CH3
CH
CH2
+
C
H
H
(CH3)3N
+
H2O
H
3.6.1.6 Esterpyrolyse Bei der Pyrolyse (griech. pyr = Feuer) werden Moleküle durch Erhitzen in kleinere Moleküle gespalten. Erhitzt man einen Carbonsäureester auf 350–400°C, so entsteht ein Alken und eine Carbonsäure. Man kann die Esterpyrolyse durch Erhitzen des Esters in flüssiger Phase herbeiführen oder auch die Esterdämpfe über ein elektrisch beheiztes Dampfphasenrohr leiten. Die Esterpyrolyse erfolgt nach dem Ei-Mechanismus (E = elimination, i = internal), wobei das Molekül durch gleichzeitiges Auflösen bestehender Bindungen und die Bildung neuer Bindungen (konzertierter Mechanismus) gespalten wird. Nach Durchschreiten eines Energiemaximums mit einem ringförmigen Sechs-Zentren-Übergangszustand (sechs Atome sind einbezogen) entstehen ein Alken und eine Carbonsäure. H3C
R
H C
O
H3C C H
Δ
C
O
H3C
R
H3C C H
R'
Ester
R H3C
H O
C O
C
C
H3C
R'
H C
+ O
H
Übergangszustand
Alken
O C
R'
Carbonsäure
3.6.1.7 Pyrolyse von Xanthogenaten (Tschugajev-Reaktion) Alkohole reagieren mit Schwefelkohlenstoff CS2 in Natronlauge, wobei das Natrium-Oalkyldithiocarbonat entsteht. R
+
R(CH2)2OH
CS2
+
NaOH
CH2
S
H2C
+
C
H2O
O S Na Natrium-O-alkyldithiocarbonat
Alkohol
Das Natrium-O-alkyldithiocarbonat kann mit Methyliodid zu Methyl-O-alkyldithiocarbonat (Methyl-O-alkylxanthogenat) umgesetzt werden. R
CH2 H2C
O
R
S C
+ S
Na
CH3I
CH2 H2C
O
S C
+ S
CH3
NaI
3.6 Darstellung der Alkene
93
Das Methyl-O-alkyldithiocarbonat kann schon bei einer Temperatur von 170–200°C durch Pyrolyse gespalten werden, wobei als Endprodukte das entsprechende Alken, das Methylmercaptan und das Kohlenoxidsulfid entstehen. Als Zwischenprodukt wird bei dieser Reaktion das Methyldithiocarbonat CH3S–(CO)–SH gebildet, das jedoch sogleich zu Methylmercaptan CH3SH und Kohlenoxidsulfid COS zerfällt. S-Methyldithiocarbonat H R H
R
H C
S
C
H2C
C
C
O
S
CH3
H
S
H
+
O
C
S
CH3
H
COS
+
HS
CH3
Die Spaltung des Methyl-O-alkyldithiocarbonats erfolgt wie bei der Esterpyrolyse nach dem Ei-Mechanismus über einen Sechs-Zentren-Übergangszustand. Der Nachteil dieser Reaktion ist die Bildung des übelriechenden Methylmercaptans. 3.6.1.8 Peterson-Olefinierung Die Peterson-Olefinierung ist eine Methode, mit der aus einem β-Hydroxyalkylsilan mit hoher E/Z-Selektivität Alkene synthetisiert werden können. Der erste Schritt ist die Reaktion des mit der Trimethylsilyl-Gruppe substituierten Grignard-Reagens und einer Carbonylverbindung zur Erstellung eines entsprechend substituierten β-Hydroxyalkylsilans. Man läßt z. B. das Trimethylsilyl-Grignard-Reagens mit einem Keton reagieren und erhält, je nachdem von welcher Seite das Reagens an die Carbonylgruppe herantritt, zwei β-HydroxysilanStereoisomere, die man voneinander trennen kann.
Nach der Trennung der beiden Stereoisomere erfolgt eine Eliminierungsreaktion, die Trimethylsilylgruppe und die Hydroxygruppe werden eliminiert. Bei Zugabe einer Base erfolgt eine syn-Eliminierung, bei Zugabe einer Säure eine anti-Eliminierung.
94
3 Alkene
3.6.2 Die Reaktionsmechanismen E1 und E2 Die beiden Reaktionsmechanismen spielen bei der β-Eliminierung, die auch als 1,2-Eliminierung bezeichnet werden kann, eine Rolle. Nach ihnen erfolgen sowohl die Dehydrohalogenierung von Alkylhalogeniden als auch die Dehydratisierung von Alkoholen. Die funktionelle Gruppe im Molekül, die bei diesen Reaktionsmechanismen abgespalten wird, befindet sich am C-Atom, das in diesem Falle als α-ständig angesehen wird. Sie wird allgemein als Abgangsgruppe bezeichnet. Das Wasserstoffatom, dessen Proton bei diesen Reaktionsmechanismen ebenfalls abgespalten wird, befindet sich am benachbarten β-Kohlenstoffatom.
R
H
L
CH
CH2
β
α
Abgangsgruppe (das Symbol für die Abgangsgruppe ist der Buchstabe L, der Anfangsbuchstabe des englischen Ausdrucks leaving group)
In der Bezeichnung E1 bzw. E2 bedeutet E die Abkürzung des Wortes Eliminierung, die Ziffer 1 bzw. 2 besagt, daß es sich um eine monomolekulare (unimolekulare) bzw. um eine bimolekulare Reaktion handelt. Monomolekular heißt, daß an dem langsamsten und damit geschwindigkeitsbestimmenden Teilschritt der Reaktion nur ein Molekül – im Falle der E1Reaktion nur das zu eliminierende Substrat – beteiligt ist, während sich bei der bimolekularen E2-Reaktion an diesem Schritt zwei Molekülarten beteiligen, nämlich das Substrat und eine im Reaktionsgemisch befindliche Base. Die Abgangsgruppe L ist entweder ein elektronegatives Atom (z.B. Br oder Cl) oder eine Atomgruppe mit starkem –I-Effekt. Wichtig für beide Reaktionen, sowohl für die E1- als auch für die E2-Reaktion, ist es, daß infolge der Elektronegativität der Abgangsgruppe eine polare C–L-Bindung vorliegt, die eine heteropolare Spaltung begünstigt. Bei der Spaltung verbleiben beide Bindungselektronen der C–LBindung bei der Abgangsgruppe L. Im allgemeinen kann man sagen, daß Verbindungen mit einer Abgangsgruppe am tertiären C-Atom in der Regel nach dem E1-Mechanismus und solche mit der Abgangsgruppe am primären C-Atom nach dem E2-Mechanismus reagieren. Befindet sich die Abgangsgruppe am sekundären C-Atom, kann die Eliminierung nach dem E1- oder E2-Mechanismus erfolgen; welcher von beiden überwiegt, hängt von der Art der Substituenten und den Reaktionsbedingungen ab. Beide Mechanismen, E1 und E2, können auch nebeneinander ablaufen.
3.6 Darstellung der Alkene
95
3.6.2.1 Der E1-Mechanismus Der Reaktionsmechanismus E1 besteht aus zwei Teilschritten. Im ersten Schritt wird die Abgangsgruppe abgespalten, und es entsteht ein Carbeniumion. Im Carbeniumion liegt ein dreibindiges Kohlenstoffatom mit einer positiven Ladung vor. Dieses ist sp2-hybridisiert, mit einem unbesetzten p-Orbital. Im zweiten Schritt wird von dem am β-ständigen C-Atom gebundenen Wasserstoffatom ein Proton abgespalten. Dabei übernimmt ein Teilchen mit basischen Eigenschaften, sehr oft ein Lösungsmittelmolekül, die Rolle des Protonenakzeptors. Gleichzeitig mit Abgang des Protons wird die C=C-Doppelbindung gebildet. H R
R
CH3
C
C
H
CH3
H
CH3
C
C
H
CH3
L
langsam
schnell
R
H
CH3
C
C
H
CH3
C
C
R H
+
L
+
H
L = Abgangsgruppe
CH3 CH3
Die Abspaltung der Abgangsgruppe ist der langsamste Teilschritt der Reaktion, und da an diesem Schritt nur das Substratmolekül, im vorliegenden Beispiel die Verbindung R–CH2–C(CH3)2L, beteiligt ist, bezeichnet man diesen Reaktionsmechanismus als monomolekular. Die Kinetik der E1-Reaktion. Betrachten wir zunächst kurz die Kinetik der E1-Reaktion. Die Kinetik befaßt sich im allgemeinen mit der Untersuchung von Reaktionsgeschwindigkeiten, Reaktionsabläufen und deren Kontrollmöglichkeiten. Außer von der Reaktionstemperatur hängt die Reaktionsgeschwindigkeit von der Konzentration der reagierenden Substanzen ab. Man kann die Reaktionsgeschwindigkeit definieren als Konzentrationsänderungen der Edukte bzw. Produkte pro Zeiteinheit. Setzt sich eine Reaktion aus mehreren hintereinander folgenden Einzelreaktionen zusammen, so ist es die am langsamsten ablaufende Teilreaktion, die geschwindigkeitsbestimmend für die Gesamtreaktion ist. Im Falle der E1-Reaktion ist die langsamste Teilreaktion die im ersten Reaktionsschritt erfolgende Abspaltung der Abgangsgruppe unter Bildung eines Carbeniumions. An diesem geschwindigkeitsbestimmenden Schritt ist nur eine Molekülart, nämlich das Substratmolekül (das Molekül, an dem die Reaktion erfolgt) beteiligt. Die Reaktionsgeschwindigkeit v hängt nur von der Konzentration des Substratmoleküls ab und entspricht demgemäß in der Regel einer Reaktion erster Ordnung, für die in diesem Falle gilt: v = k · [Substrat] Das Symbol k steht für eine Konstante, die für die entsprechende Meßtemperatur gültig ist. Voraussetzungen, die einen E1-Mechanismus begünstigen. Die E1-Reaktion erfolgt vornehmlich bei Verbindungen mit einem C-Atom, das gleichzeitig mit der Abgangsgruppe noch drei Alkylreste bindet (z.B. tertiäre Alkylhalogenide oder Alkohole). In diesem Falle wird im ersten Teilschritt der Reaktion ein Carbeniumion gebildet, dessen positiver sp2-hybridisierter Kohlenstoff drei Alkylgruppen trägt. Das Carbeniumion kann durch die Hyper-
96
3 Alkene
konjugation, zu der alle drei Alkylgruppen beitragen, stabilisiert werden (siehe „Hyperkonjugation“ in Abschnitt 3.7.2.1). Im ersten Reaktionsschritt des E1-Mechanismus wird das die Abgangsgruppe L tragende sp3-hybridisierte C-Atom nach deren Abspaltung zum sp2–hybridisierten einfach positiv geladenen Kohlenstoff, C
es wird ein Carbeniumion gebildet: R
R R R
C
L
R
C
+
R
L
sp2
sp3
Damit erfolgt eine Aufweitung des Bindungswinkels der Bindungen dieses C-Atoms von 109°28' auf 120°. Die Substituenten R sind damit voneinander etwas weiter entfernt. Deshalb zeigen besonders Verbindungen mit sperrigen, viel Raum beanspruchenden Substituenten eine Neigung zum E1-Mechanismus. Polare Lösungsmittel können das bei der E1-Reaktion im ersten Reaktionsschritt gebildete Ion solvatisieren. Die Moleküle des Lösungsmittels umgeben mit dem positiven Teil ihres Dipols die negative Abgangsgruppe und unterstützen so ihre räumliche Trennung vom positiv geladenen Carbeniumion. 3.6.2.2 Der E2-Mechanismus Bei der E2-Reaktion ist im geschwindigkeitsbestimmenden Schritt außer dem Substratmolekül auch das Molekül einer Base beteiligt, es geht also um eine bimolekulare Eliminierung. Das abgespaltene Proton wird von der Base B gebunden und gleichzeitig (synchron) erfolgt der Austritt der Abgangsgruppe. Bei dieser Reaktion werden simultan (gemeinsam, gleichzeitig) alte Bindungen gespalten und neue geknüpft. Die Reaktion erfolgt nach einem einstufigen, synchronen Mechanismus über einen Übergangszustand, in dem alte Bindungen noch nicht vollständig gelöst und die Bildung neuer Bindungen noch nicht ganz vollzogen ist. B
H H R
C
C
Substrat
H H L
B
H H R
C
C
H H L
Übergangszustand
B
H
H
+
H C
+
C
R
L
H
Alken
B = Base; L = Abgangsgruppe (leaving group)
Die Dehydrohalogenierung von Alkylhalogeniden wird in alkalischem Medium vollzogen, so daß als Base die OH–-Ionen fungieren. Die Dehydratisierung von Alkoholen ge-
3.6 Darstellung der Alkene
97
schieht in saurem Medium, gewöhnlich bei Zugabe von Schwefelsäure. In dieser Reaktion sind HSO4–-Ionen und die Alkoholmoleküle die Teilchen mit basischen Eigenschaften. Die HSO4–-Ionen sind die schwächeren Basen. Der Alkohol kann mit einem der freien Elektronenpaare seines Sauerstoffatoms das bei der Eliminierung abgehende Proton binden: R R
H
O
H R
H
C
C
R
H H O
O
H
H H R
H
C
C
O
H
O
H H
H H
H
+ R
H
H C
+ H2O
C H
H R
+ H
O H
Günstige räumliche Voraussetzungen für die E2-Reaktion. Optimal für die E2-Eliminierung ist eine antiperiplanare Anordnung des β-ständigen Wasserstoffatoms und der Abgangsgruppe L (siehe Abschnitt 2.4.2). Das β-ständige H-Atom, die Abgangsgruppe und die an sie gebundenen C-Atome befinden sich in dieser Konformation in einer Ebene. In der antiperiplanaren Konformation kann eine Wechselwirkung zwischen den σ-Orbitalen der C–H- und der C–L-Bindung erfolgen, welche das „Hinüberfließen“ der Elektronen aus dem σ-Orbital in das sich aufbauende π-Orbital erleichtert. Die antiperiplanare Anordnung des Wasserstoffs und der Abgangsgruppe ist auch deshalb von Vorteil, weil in dieser Konformation die σOrbitale der C–H- und C–L-Bindung zueinander parallel stehen. Dies begünstigt eine Überlappung der sich bildenden p-Orbitale zum π-Orbital, die eine parallele Anordnung beider pOrbitale voraussetzt. Die synperiplanare Anordnung von H und L ist für die E-Reaktion weniger günstig, da der Neigungswinkel der σ-Orbitale das Überlappen der sich bildenden p-Orbitale erschwert.
L H
H
H
H C
C
C
H
C H
H H
L
antiperiplanar Bild 3.4
H
H
synperiplanar
H und L in antiperiplanarer und synperiplanarer Konformation
98
3 Alkene
3.6.3 Die Saytzew- und die Hofmann-Regel Im Falle, daß keine endständige Abgangsgruppe vorliegt, könnte die Doppelbindung zum einen oder anderen C-Atom hin ausgebildet werden. Die Eliminierungsreaktion erfolgt aber entweder nach der Saytzew- oder nach der Hofmann-Regel (siehe auch Abschnitte 3.6.1.3 und 3.6.1.5) in eine Richtung: L R
CH2
CH
R
CH
CH
CH3
+ H
L Saytzew-Produkt
R
CH2
CH
CH2
+ H
L
CH3
Hofmann-Produkt
Die Saytzew-Regel. Die Dehydratisierung und die Dehydrohalogenierung verlaufen nach der Saytzew-Regel. Die Ausrichtung der Doppelbindung erfolgt bevorzugt zu dem C-Atom hin, das mehr Alkylreste gebunden hat. Man erklärt dies damit, daß die sich bildende Doppelbindung durch Hyperkonjugation mit Alkylresten (siehe Abschnitt 3.7.2.1) stabilisiert ist. Bei der Eliminierung nach der Saytzew-Regel wird das thermodynamisch stabilere Produkt gebildet. Die Hofmann-Regel. Diese Regel gilt z.B. für die Pyrolyse von Tetraalkylammoniumhydroxiden (siehe Abschnitt 3.6.1.5), die Esterpyrolyse (siehe Abschnitt 3.6.1.6) und die Pyrolyse von Xanthogenaten (siehe Abschnitt 3.6.1.7). Die Doppelbindung geht in diesem Falle in Richtung zu dem C-Atom, das die wenigsten Alkylreste hat. Hughes und Ingold nahmen an, daß die Orientierung der Doppelbindung nach der Hofmann-Regel auf die unterschiedliche Acidität der Wasserstoffe zurückzuführen ist, die sich in den β-Stellungen zur Abgangsgruppe befinden. Die Base bindet bevorzugt den Wasserstoff, der mehr acid ist. Die elektronenschiebende Wirkung der Alkylreste vermindert die Acidität, so daß der Wasserstoff in der CH3-Gruppe acider als in der CH2- oder der CH-Gruppe ist und die Abspaltung des Protons deshalb bevorzugt aus der Methylgruppe erfolgt.
R
weniger acid
H
L
H
C
C
C
H
H
H
H B
L
= NR3
mehr acid
Die Hofmann-Orientierung der Doppelbindung hat außerdem, besonders bei Eliminierungsreaktionen mit raumbeanspruchenden Gruppen, z.B. der Gruppe +N(CH3)3 in einer quartären Ammoniumbase, räumliche Ursachen. Man nimmt an, daß die Hofmann-Eliminierung kinetisch kontrolliert ist und die Reaktion nach dem E2-Mechanismus erfolgt. Hierbei ist es vorteilhaft, wenn sich die Abgangsgruppe und der zu eliminierende Wasserstoff in einer Konformation befinden, die eine anti-Eliminierung ermöglicht. Dies setzt eine antiperiplanare Anordnung (siehe Abschnitt 2.4.2 und Bild 3.4) der Abgangsgruppe L und eines β-ständigen Wasserstoffatoms voraus.
3.6 Darstellung der Alkene
99
Am Beispiel der Hofmann-Eliminierung des Isobutyltrimethylammoniumhydroxids wird in Bild 3.5 gezeigt, daß eine 1,2-Eliminierung günstiger als eine 2,3-Eliminierung ist. HO 4
H3 C
N(CH3)3
3
CH2
2
CH
1
CH3
H3C
Δ
CH2
CH
CH2 +
N(CH3)3 + H2O
1,2-Eliminierung
+ N(CH3)3 + H2O
2,3-Eliminierung
Hauptprodukt
Isobutyltrimethylammoniumhydroxid
H3C
CH
CH
CH3
Bei der 2,3-Eliminierung sind zwei Konformationen mit antiperiplanarer Konformation der Abgangsgruppe und eines β-ständigen Wasserstoffatoms denkbar. Bei diesen Konformationen befinden sich aber die sperrige Abgangsgruppe und eine Methylgruppe in nächster Nachbarschaft, so daß diese Konformation infolge der Abstoßungskräfte beider Gruppen als energiereich angesehen werden muß. Die für die Ausbildung des Übergangszustands benötigte Aktivierungsenergie ist demgemäß relativ groß. Bei der 1,2-Eliminierung kann das Molekül eine günstige Konformation einnehmen, in der die Ethylgruppe und die sperrige Abgangsgruppe voneinander relativ weit entfernt sind. Die kinetisch gesteuerte Reaktion läuft bevorzugt als 1,2-Eliminierung ab, da zur Ausbildung des Übergangszustandes eine relativ geringere Aktivierungsenergie benötigt wird (siehe Bild 3.5).
ungünstige Konformationen bei 2,3-Eliminierung: L = + N(CH3)3
4
H3C
L
H
2
L 1
2
3
1
4
H
H3C C CH2 CH3 α β β
4 CH
3
L
1
CH3
H H
H
H H
1
H
4
L 2C
H H3C 1 Bild 3.5
L 2
CH3
H
H
günstige Konformation bei 1,2-Eliminierung:
3
C
CH3 L H
2C
H H H3C 1
3
C
H 4 CH3
H
H
3
4
CH2 CH3
H
Antiperiplanare Konformationen von L und H bei der 1,2- und der 2,3-Eliminierungsreaktion von Isobutyltrimethylammoniumhydroxid
100
3 Alkene
3.6.4 Darstellung der Alkene mit Organometallverbindungen 3.6.4.1 Tebbe-Methylenierung Carbonylverbindungen werden mit Tebbe-Reagens in terminale Alkene überführt. An die Stelle des Carbonylsauerstoffes der Carbonylverbindung tritt eine Methylengruppe.
Auf diese Weise reagieren mit Tebbe-Reagens Aldehyde zu Alkenen, Ketone zu 2Alkylalkenen, Ester zu Enolethern und Amide zu Enaminen. Das Tebbe-Reagens ist ein Titanaluminium-Komplex, den man aus Dicyclopentadienyltitandichlorid und Trimethylaluminium herstellen kann, wobei HCl abgespalten wird. Gibt man zum Tebbe-Reagens Pyridin als Base hinzu, so wird das reaktive Dicyclopentadienyl(methylen)titan gebildet.
Dicyclopentadienyl(methylen)titan reagiert mit der Carbonylverbindung vermutlich über einen viergliedrigen Ring zum terminalen Alken.
3.6.4.2 Olefinmetathese Der Name Metathese leitet sich vom Griechischen ab: meta bedeutet Austausch und these bedeutet Stellung. Bei der Olefinmetathese erfolgt eine Umalkylidenierung zweier Doppel-
3.6 Darstellung der Alkene
101
bindungen mit Hilfe eines homogenen carbenoiden Ruthenium- oder Molybdänkatalysators des Grubbs- oder Schrock-Typs:
Man unterscheidet einige Typen der Olefinmetathese. Zu diesen gehören: Die Kreuzmetathese, die auch acyclische Diolefin-Metathese genannt wird. Bei dieser erfolgt eine Umalkylidenierung zweier substituierter Alkene unter Ethenausschluß. Diese Reaktion wird auch unter der Abkürzung ADMET angeführt, die sich von der englischen Bezeichnung acyclic diolefin metathesis ableitet.
Die Ringschluß-Metathese führt zu einem Ringschluß α,ω-terminaler Diolefine unter Freisetzung von Ethylen und Bildung cyclischer Olefine. Die für die Reaktion verwendete Abkürzung RCM entstammt der englischen Bezeichnung ring closing metathesis.
Die ringöffnende Metathese-Polymerisation erfolgt vor allem bei Cycloolefinen mit Ringspannung. Unter Freisetzung von Ethen wird ein Polymer gebildet. Die für diese Reaktion verwendete Abkürzung ROMP ist auf die englische Bezeichnung ring opening metathesis polymerisation zurückzuführen.
Der von Yves Chauvin für die Olefin-Metathese vorgeschlagene Reaktionsmechanismus wird in dem nachfolgenden Schema veranschaulicht.
102
3 Alkene
Die Reaktion wird ausgelöst vom carbenoiden Metallkatalysator M=CH2 und verläuft über Metallacyclobutane:
3.7 Reaktionen der Alkene Alkene sind sehr reaktionsfreudig. In der Regel sind es die Doppelbindungen, an denen die Reaktionen erfolgen. Es gibt eine ganze Reihe von Additionsreaktionen an die C=C-Doppelbindung, zu welchen elektrophile Additionen, radikalische Additionen, Cycloadditionen und die katalytische Hydrierung zählen. Weiter sind es Polymerisationsreaktionen der Alkene, die für die Produktion von Kunststoffen eine wichtige Rolle spielen. Die Reaktionsvielfalt der Alkene erklärt die Schlüsselrolle des Ethens für die großtechnische Herstellung vieler Produkte. Im Laufe all dieser an der Doppelbindung erfolgenden Reaktionen werden die energiereichen Alkene zu energieärmeren Alkanderivaten umgesetzt, wobei Energie freigesetzt wird. Diese Reaktionen sind also alle exotherm, sie erfolgen in vielen Fällen schon bei Zimmertemperatur.
3.7.1 Die Mechanismen von Additionsreaktionen Die für Alkene charakteristische Reaktion ist die Additionsreaktion. Unter Auflösung der π-Bindung wird der Addend addiert, und es entsteht das Addukt:
C
C
Alken
+
X
Addend
Y
X
C
Addukt
C
Y
3.7 Reaktionen der Alkene
103
Je nach der Natur der zu addierenden Verbindung und den Reaktionsbedingungen können Additionen nach verschiedenen Reaktionsmechanismen erfolgen. Zu diesen zählen die elektrophile Addition (AE), die radikalische Addition (AR) und synchrone Cycloadditionen (Reaktionsverlauf über einen cyclischen Übergangszustand oder ein cyclisches Zwischenprodukt oder zu einem cyclischen Endprodukt). 3.7.1.1 Elektrophile Additionsreaktionen (AE-Reaktionen) Die C=C-Doppelbindung stellt eine relativ diffuse Region hoher Elektronendichte und somit auch negativer Ladungsdichte dar. Diese hohe negative Ladungsdichte erklärt die leichte Angreifbarkeit der Doppelbindung durch ein Elektrophil. Dies kann ein Kation, z.B. +NO2 oder H+ sein, es kann sich aber auch um ein durch die π-Elektronen der Doppelbindung leicht zu polarisierendes Molekül handeln, z.B. ein Brommolekül. Die elektrophile Additionsreaktion ist dadurch charakterisiert, daß im ersten Schritt die Addition des elektrophilen Teilchens an die C=C-Doppelbindung stattfindet, und dann im zweiten Schritt die Addition des Anions erfolgt.
H
C
C
H
H H
elektrisches Feld um Elektronen der Doppelbindung
Bild 3.6 Hohe negative Ladungsdichte der Doppelbindung
a) AE-Reaktionen, die über die Bildung eines Carbeniumions erfolgen Die über ein Carbeniumion verlaufenden elektrophilen Additionsreaktionen finden bei der Addition von Säuren (z.B. Schwefelsäure oder HBr) statt. Im ersten Reaktionsschritt kommt es zu einer schwachen Wechselwirkung zwischen dem Elektrophil und der π-Bindung; es wird ein loser π-Komplex gebildet. Dieser wird durch einen von der Doppelbindung auf das Elektrophil weisenden Pfeil symbolisiert, um die Donorfunktion (Donor = Elektronenspender) des Alkens aufzuzeigen. H C
C
+
H
X
C
C
+
X
π-Komplex Aus dem π-Komplex entsteht im nächsten Reaktionsschritt ein Carbeniumion: Das π-Elektronenpaar bindet das elektrophile Teilchen, in diesem Fall das H+, wobei unter Auflösung der π-Bindung eine C-H-σ-Bindung entsteht. Das vorher sp2-hybridisierte C-Atom ist nunmehr sp3-hybridisiert. Das im sp2-Zustand verbleibende C-Atom hat durch Auflösung der π-Bindung ein Elektron eingebüßt und ist deshalb positiv geladen. Im sp2-hybridisierten, positiv geladenen Kohlenstoffion
104
3 Alkene C
ist das p-Orbital nicht mit Elektronen besetzt. Das C+ hat in seiner Außenschale nur ein Elektronensextett und ist bestrebt, sie mit zwei weiteren Elektronen zum Oktett aufzufüllen. Es reagiert deshalb im zweiten Reaktionsschritt mit dem Anion unter Bildung einer σ-Bindung, womit die Addition abgeschlossen ist. H H C
C
C
sp2 sp2
C
sp3 sp2
π−Komplex
Carbeniumion
H
H C
C
X C
X
C
b) AE-Reaktionen, die über die Bildung eines überbrückten Kations erfolgen Nach diesem Mechanismus reagieren Alkene vornehmlich mit Molekülen, die leicht polarisierbar sind, z.B. mit Halogenen. Bei Näherung des polarisierbaren Moleküls X–Y induziert das elektrische Feld um die Doppelbindung in diesem einen Dipol, und es entsteht der π-Komplex. Aus diesem heraus bildet sich ein überbrücktes Kation und Y– wird abgespalten. Das Alken fungiert hierbei als Nukleophil, das sich in der Verbindung X–Y mit seinem π-Elektronenpaar an das X mit der positiven Teilladung bindet und dessen Bindungspartner, das Y, substituiert. Im überbrückten Kation befindet sich die positive Ladung nicht allein am X, sie ist auch auf die beiden überbrückten C-Atome verteilt. Das Anion Y– kann im weiteren Reaktionsschritt von der der Brücke gegenüberliegenden Seite eines der beiden überbrückten C-Atome, die eine positive Teilladung aufweisen, angreifen und bildet mit seinem freien Elektronenpaar eine σ-Bindung. Die Liganden X und Y stehen unmittelbar nach der Reaktion einander diametral gegenüber, deshalb spricht man vom anti- oder trans-Mechanismus dieser Reaktion. Erfolgt die Addition nicht an ein cyclisches Alken, so sind die beiden die Liganden X und Y tragenden C-Atome frei um die C–C-σ-Bindung drehbar. Y δX δ+ C
C
+
X
Y
C
C
π-Komplex
X C
C
+
überbrücktes Kation
Y
3.7 Reaktionen der Alkene
105
X
X X
X C
C
C
oder
C
C
Y
Y
C
C
C
Y
Y
Erfolgt die Addition an ein Cycloalken, z.B. das Cyclohexen, so ist die freie Drehbarkeit um die Einfachbindung eingeschränkt, und es werden trans-Produkte gebildet.
Y
X
Y
X +
C
C
C
π-Komplex Bild 3.7
C
Überbrücktes Kation
Reaktionsschritt vom π-Komplex zum überbrückten Kation
X
X
und Y
Y
X
Y
X
Y
Das eine trans-Produkt ist das genaue Spiegelbild des anderen. X H H Y
und
X H H Y
Verbindungen, die sich in ihrer Struktur auf diese Weise unterscheiden, bezeichnet man als Antipoden oder Enantiomere. Liegen beide Enantiomere im Gemisch in gleicher Menge vor, bezeichnet man dieses als racemisches Gemisch. Um ein solches handelt es sich im vorliegenden Falle, denn beide Enantiomere entstehen im Verhältnis 1 : 1. Auch bei dem über ein Brückenion verlaufenden Reaktionsmechanismus erfolgt an unsymmetrische Alkene die Addition unsymmetrischer Addenden nach der MarkownikowRegel (siehe Abschnitt 3.7.2). Dies weist darauf hin, daß die beiden überbrückten C-Atome
106
3 Alkene
für den Angriff eines Anions nicht gleichwertig sind. Man geht von der Annahme aus, daß sich bei unsymmetrischen Alkenen ein unsymmetrisches überbrücktes Ion bildet, so daß das Anion sich nur an ein ganz bestimmtes C-Atom der Brücke anlagert. Das unsymmetrisch überbrückte Kation ist auf einen Zustand zurückzuführen, der sich zwischen einem symmetrischen überbrückten Kation und einem Carbeniumion befindet. δ+ X H3C H3C
δ+
C
C
H3C H3C
H H
X C
C
H H
Y
Y
3.7.1.2 Cycloadditionen Cycloadditionsreaktionen erfolgen synchron (gleichzeitig, zeitgleich) über einen cyclischen Übergangszustand (z.B. die Hydroborierung oder die trans-Hydroxylierung mit Peroxybenzoesäure), wobei gleichzeitig alte Bindungen abgebaut und neue gebildet werden. A R'
B R''
C
R
C
R' H
A
B
C
C
A R''
R' R
R H cyclischer Übergangszustand
B C
C
R'' H
Erfolgt die Anlagerung des Addenden ohne dessen Aufspaltung und unter Bildung einer σ-Bindung an den vorher doppelt gebundenen C-Atomen, so kann durch die Addition ein cyclisches Zwischenprodukt oder ein cyclisches Produkt gebildet werden (z.B. die Bildung des Molozonids bei der Ozonisierung und die Reaktion der Alkene mit Osmiumtetroxid oder Kaliumpermanganat). Ozon + Alken
O H R
O
O R'
C
C H
O
O H
O C
R
C H
R'
Primärozonid (Molozonid)
Cycloadditionen können schon bei Zimmertemperatur erfolgen. Die für die Spaltung einer Bindung benötigte Energie wird bei der gleichzeitigen Bildung einer neuen Bindung wieder in das System eingebracht, so daß die Energiebilanz der Reaktion ausgeglichen ist. 3.7.1.3 Radikalische Additionen (AR) Die radikalische Addition wird ausgelöst durch Zerfall von Peroxiden (z.B. radikalische Addition von HBr) oder Bestrahlung mit UV-Licht. Die Reaktion setzt die homolytische (homöopolare) Spaltung der σ-Bindung des Addenden X–Y voraus, wobei das Radikal X· freigesetzt wird. Ein typisches Merkmal ist der kettenartige Verlauf der AR-Reaktion. Durch die Wechselwirkung mit dem Radikal X· wird die π-Bindung des Alkens homöopolar
3.7 Reaktionen der Alkene
107
gespalten. Es entsteht ein Alkylradikal, das mit dem Addenden X–Y unter Bildung des Addukts reagiert, wobei gleichzeitig das Radikal X· entsteht, so daß ein weiterer Cyclus der Kettenreaktion beginnen kann. Kettenreaktion: +
X
X
C
C
X
C
+
C
Y
C
C
X
X
C
C
Y
+
X
An welches der beiden doppelt gebundenen C-Atome das Radikal X· angelagert wird, hängt davon ab, welches der beiden C-Atome räumlich zugänglicher ist, und ebenfalls davon, welches der beiden Alkylradikale, die bei diesem Reaktionsschritt entstehen können, stabiler ist (siehe Abschnitt Hyperkonjugation auf Abschnitt 3.7.2.1). Die räumlichen Aspekte spielen in diesem Falle die wichtigere Rolle.
3.7.2 Die Markownikow-Regel Erfolgt die elektrophile Addition einer Verbindung HX an ein unsymmetrisches Alken, so könnte man sich vorstellen, daß man über zwei unterschiedliche Carbeniumionen als Zwischenprodukte zwei Addukte erhält:
C H3C
H C
CH3 H
H
H3C H3C
C
H
+
X
H3C
H
C
C
X
H
H
MarkownikowProdukt
H
anti-MarkownikowProdukt
C
H3C
CH3
H H
X
H3C
C H
CH3 H
H
+
C H
X
H3C
C
C
H
X
Man erhält jedoch bei Addition der Säure HX an unsymmetrische Alkene ausschließlich oder mit hoher Ausbeute nur ein Addukt, nämlich das Markownikow-Produkt. Markownikow stellte (1870) auf Grund seiner Beobachtungen die Regel auf, daß bei Additionen von Halogenwasserstoffen an unsymmetrische Olefine das Halogen an dem an Wasserstoff ärmeren Kohlenstoff angelagert wird. Erfolgt die Addition von HX an ein unsymmetrisches Alken nach der Markownikow-Regel, bezeichnet man das Addukt als Markownikow-Produkt, im anderen Falle spricht man vom anti-Markownikow-Produkt (z.B. bei der Addition von HBr nach dem Radikal-Mechanismus).
108
3 Alkene
3.7.2.1 Die Regioselektivität der Addition von Säuren an unsymmetrische Alkene Die Addition von HX an unsymmetrische Alkene nach der Markownikow-Regel kann als regioselektiv bezeichnet werden. Von einer Regioselektivität spricht man dann, wenn im Molekül von zwei oder mehreren ähnlichen Regionen vom Agens bevorzugt eine angegriffen wird.2 Die Regioselektivität der Addition von Säuren an unsymmetrische Alkene ist damit zu erklären, daß im ersten Reaktionsschritt bei der Anlagerung von H+ an die Doppelbindung bevorzugt das Carbeniumion entsteht, das stabiler ist. Ein tertiäres Carbeniumion ist stabiler als ein sekundäres Carbeniumion und dieses ist wiederum stabiler als ein primäres Carbeniumion. H
H3C C
C
stabiler als
H
H
H
H3C C
stabiler als
H
C
H sekundäres Carbeniumion
H tertiäres Carbeniumion
C
C
H H primäres Carbeniumion
H
H3C
H3C
H
Die unterschiedliche Stabilität tertiärer, sekundärer und primärer Carbeniumionen ist auf die Hyperkonjugation zurückzuführen. Der an das positive C-Atom gebundene Alkylrest ist um die C–C-σ-Bindung frei drehbar. Das Molekül kann eine Konformation einnehmen, in der das unbesetzte p-Orbital des sp2-hybridisierten positiv geladenen Kohlenstoffatoms R3C+ in unmittelbare Nähe zu dem σ-Orbital der C–H-Bindung der benachbarten Alkylgruppe gelangt. Beide Orbitale können überlappen (in Bild 3.8 durch eine gestrichelte Linie veranschaulicht), und dies ermöglicht eine Delokalisierung des im σ-Orbital befindlichen Elektrounbesetztes p-Orbital H H
H
H +
C
C
C
H
H +
C
H
H
H
sp3
primäres Carbeniumion Bild 3.8
H
C H
H
H sp2
H H
H sp2
sp3
sekundäres Carbeniumion
H
C
+
C
C H
C H
H sp2
sp3
tertiäres Carbeniumion
Hyperkonjugation beim Ethyl-, Isopropyl- und tert.-Butylcarbeniumion
nenpaares, so daß sich die Aufenthaltswahrscheinlichkeit dieser Elektronen auch auf das pOrbital ausweitet. Diese als Hyperkonjugation bezeichnete Wechselwirkung stabilisiert das 2
regiospezifisch = es wird ausschließlich nur eine Region angegriffen.
3.7 Reaktionen der Alkene
109
Carbeniumion. Je mehr Alkylreste sich an der Hyperkonjugation beteiligen können, um so stabiler ist das Carbeniumion. Im primären Carbeniumion ist nur ein Alkylrest, im sekundären Carbeniumion sind es zwei und im tertiären Carbeniumion sogar drei Alkylreste, die sich an der Hyperkonjugation beteiligen können.
3.7.3 Wagner-Meerwein-Umlagerungen Die Wagner-Meerwein-Umlagerungen finden an Carbeniumionen statt. Sie können z.B. bei der E1-Reaktion, der AE-Reaktion oder einer SN1-Reaktion auftreten, also überall dort, wo Carbeniumionen als Zwischenprodukte vorkommen. Durch Umlagerung einer Alkylgruppe oder durch eine Hydrid-Verschiebung entsteht ein stabileres Carbeniumion. In der Regel erfolgt die Umlagerung so, daß ein Carbeniumion entsteht, das mehr Alkylgruppen am C+ gebunden hat. Dieses kann durch Hyperkonjugation besser stabilisiert werden. Die weiteren Folgereaktionen finden an dem durch Umlagerung gebildeten Carbeniumion statt. 3.7.3.1 Die Hydrid-Verschiebung Die Hydrid-Verschiebung kann in einem Carbeniumion erfolgen, das durch die Umlagerung in ein stabileres Carbeniumion umgewandelt wird. Die Reaktion verläuft über einen cyclischen Übergangszustand mit einer Drei-Zentren/Zwei-Elektronen-Bindung. H H3C
H
H
C
C
R
H3C
CH3 H
C
C
R
H3C
CH3 H
R
C
CH3 H
2 Elektronen
unbesetztes p-Orbital
C
unbesetztes p-Orbital
H H C H3C H3C
+
R
C H
C
H3C H3C
+
C
H3C R H
H +
C
C R
H3C H
Übergangszustand
Bild 3.9
Hydrid-Verschiebung im Carbeniumion
3.7.3.2 Die Umlagerung von Alkylgruppen Im Carbeniumion kann, ähnlich der Hydridverschiebung, eine anionoide Umlagerung einer Alkylgruppe stattfinden, wenn auf diese Weise ein stabileres Carbeniumion entsteht. Die
110
3 Alkene
Alkylgruppe wandert hierbei als Anion unter Mitnahme des Bindungselektronenpaares. Die Umlagerung erfolgt über einen cyclischen Übergangszustand. CH3
CH3 H3C
C
C
R
H3C
CH3 H
C
CH3
C
R
H3C
C
CH3 H
C
R
CH3 H
cyclischer Übergangszustand
3.7.4 Elektrophile Additionsreaktionen 3.7.4.1 Die Addition von Halogenwasserstoffen an Alkene Die Neigung des Halogenwasserstoffes HX in H+ und X– zu dissoziieren, nimmt in der Reihe HCl < HBr < HI zu. Dem entspricht auch die Additionsfähigkeit der Halogenwasserstoffe an die Doppelbindung, da stärker dissoziierte Säuren leichter addiert werden. Ethen reagiert nicht mit konz. Salzsäure, dafür aber mit Bromwasserstoff- und Iodwasserstoffsäure. Die Addition eines Halogenwasserstoffes erfolgt nach folgendem Reaktionsmechanismus: H C
+ H
C
C
X
H C
X
C
π−Komplex
H C
C
X
Carbeniumion
C
X
Halogenalkan
3.7.4.2 Die Addition von H2SO4 an Alkene Alkene reagieren mit konz. H2SO4, wobei das Monoalkylsulfat entsteht: H C
C
+ H
O
SO3H
C
H C
+
O
SO3H
C
C
C
C
O
O
SO3H
SO3H
Monoalkylsulfat Die Reaktion ist umkehrbar, bei höherer Temperatur erfolgt eine Eliminierung, wobei das Monoalkylsulfat in das Alken und Schwefelsäure gespalten wird:
C
C
+
H2SO4
0 - 15 °C 170 °C
H
H
H
C
C
H
H
OSO3H
3.7 Reaktionen der Alkene
111
Die Addition von Schwefelsäure kann benutzt werden, um aus einem flüssigen AlkanAlken-Gemisch die Alkene zu entfernen. Alkane reagieren mit Schwefelsäure bei Zimmertemperatur nicht, die Alkene werden in das Monoalkylsulfat umgewandelt. Mit Wasser ausgeschüttelt, geht das polare Monoalkylsulfat in die wäßrige Phase und kann mit dieser abgetrennt werden. Das Dialkylsulfat kann bei der Addition von H2SO4 an Alkene ebenfalls entstehen: H C
C
C
C
O
S
+ H
C
O O
C
H
H C
H
C
O
SO2
O
C
C
O O
SO3H
Monoalkylsulfat
Dialkylsulfat
Monoalkylsulfate und Dialkylsulfate können auch durch Veresterung der entsprechenden Alkohole mit Schwefelsäure gebildet werden. Es handelt sich bei diesen Verbindungen also um Ester. In ihnen ist das Schwefelatom nicht direkt an das C-Atom gebunden, wie dies z.B. bei den Sulfonsäuren der Fall ist, sondern es liegt eine C–O–S-Verknüpfung vor. Wie andere Ester können auch Alkylsulfate hydrolysiert werden, wobei als Reaktionsprodukt ein Alkohol erhalten wird:
C
C
O
SO3H
+
H2O
C
C
OH
+
H2SO4
3.7.4.3 Die saure Hydratisierung Wasser selbst läßt sich an Alkene nicht addieren, seine Acidität ist zu gering. Die Addition gelingt jedoch in Gegenwart starker Säuren: H C
C
+ H
C
H
C
H
C
C H
O H
C
H
H
C O
C
C
H C
H
C
+
H
O
H
Bei dieser Addition ist das Proton (bzw. das Oxoniumion H3O+) das Elektrophil, das Wasser hingegen das Nukleophil.
112
3 Alkene
3.7.4.4 Addition von Salpetersäure Aus den nachfolgenden Reaktionen ist ersichtlich, daß in konz. HNO3 auch H2O, NO3– und NO2+ anwesend sind: H H
NO3
O
NO2
H
H
NO3
O
NO2
+
H2O
NO2 +
NO3
Die Addition an das Alken beginnt mit dem Angriff des starken Elektrophils NO2+: NO2 C
C
+
NO2
C
NO2 C
C
C
Das Nitrocarbeniumion kann sowohl mit Wasser als auch mit dem Nitration reagieren. Nach der Anlagerung von Wasser erfolgt die Deprotonierung des Oxoniumions: NO2 C
NO2
H
+
C
O
C H
NO2
H C
C
O
C
O
H
+
H
H
Der entstehende Nitroalkohol reagiert sogleich mit der Salpetersäure unter Esterbildung: NO2 C
NO2 C
O
H
+ HO
NO2
C
C
O
NO2
+
H2O
Bei der Addition des Nitrations an das Nitrocarbeniumion entsteht das gleiche Endprodukt wie nach der Anlagerung des Wassers und nachfolgender Veresterung des Nitroalkohols. NO2 C
NO2 C
+
O
NO2
C
C
O
Salpetersäureester NO2 des Nitroalkohols
3.7.4.5 Die Hydrocarbonylierung Die Hydrocarbonylierung von Alkenen mit CO und Wasser erfolgt unter saurer Katalyse mit Mineralsäuren (bevorzugt wird H3PO4/BF3) bei 20–80°C und 20–100 bar. Der technische Prozeß ist zweistufig, in der zweiten Stufe erfolgt die Zugabe von Wasser. Der erste Reaktionsschritt ist die Anlagerung des Protons an das Alken, es folgt die Reaktion des nucleophilen Carbonyls mit dem Carbeniumion,
3.7 Reaktionen der Alkene
113 H
C
+ H
C
C
H C
C
H
H C
C
+
C
C
C
O
H C
C
O
C
C
C
O
worauf eine Anlagerung von Wasser erfolgt. Eine Carbonsäure ist das Endprodukt dieser Reaktion, die auch als Hydrocarboxylierung bezeichnet wird: H
C
C
C
H
O
O
H
C
C H
C O
O
H
C
C
C
O
+
O
H
H
H
H
Carbonsäure
Anstelle von Wasser können bei dieser Reaktion als nucleophiles Reagens auch Alkohole angelagert werden, so daß Ester entstehen, H
C
C
R
C
O
O
H
H
C
C R
C
O
O
H
H
C
C R
C
O
+
O
H
Ester
oder Amine, so daß Säureamide gebildet werden. H
C
C
C
O
H
C
C
C
O
H
C
C
N R
N R
H
H
H
R
H
C
O
N
+
H
H
Säureamid
Die Hydrocarboxylierung erfolgt mit hoher Ausbeute, wenn Nickel- oder Kobalttetracarbonyl als Katalysator wirksam sind. Die Addition an höhere Alkene erfolgt nach der Markownikow-Regel. R H
R
H C
+ H
C H
C H
CH3
H2O, CO, Co(CO)4, 80 °C, Druck
R
COOH
+
C H
H
CH3
Bei dem als Zwischenprodukt der Synthese gebildeten Carbeniumion tritt häufig eine Wagner-Meerwein-Umlagerung durch Hydridverschiebung (siehe Abschnitt 3.7.3.1) auf, so daß Gemische isomerer, verzweigter Carbonsäuren entstehen können.
114
3 Alkene
3.7.4.6 Addition der Halogene an ein Alken Die Addition von Brom dient als Nachweisreaktion für das Vorhandensein einer C=C-Doppelbindung oder einer Dreifachbindung. Man schüttelt die zu untersuchende Substanz oder eine Lösung derselben mit Bromwasser. Sind ungesättigte Verbindungen zugegen, tritt eine Entfärbung ein, die darauf zurückzuführen ist, daß das Brom an die Doppel- bzw. Dreifachbindung addiert wird, und das Reaktionsprodukt farblos ist. Der Reaktionsverlauf ist folgender: Nähert sich das Brommolekül der Doppelbindung, so induziert (inducere = einführen) die relativ hohe negative Ladungsdichte im Brommolekül eine Polarisierung, und es bildet sich ein π-Komplex. δ Br
Br
C
+ Br δ
Br
C
C
C
π-Komplex
Die Polarisierung des Brommoleküls schreitet weiter bis zu seiner heteropolaren Spaltung. Nach dieser Spaltung liegt ein Bromoniumion (ganz allgemein ein Halogenonium-Ion) nebst einem Bromidion vor. Im nächsten Reaktionsschritt nähert sich das Bromidion von der entgegengesetzten Seite einem der überbrückten C-Atome und wird an dieses gebunden, indem es eines der freien Elektronenpaare für diese Bindung zur Verfügung stellt. -
Br
δ
+ Br δ
C
Br
C
C
Br
Br
+
C
Br
C
+
C
C Br
Br
π-Komplex
Bromonium-Ion
C
1,2-Dibromalkan
Die Fähigkeit überbrückte Halogenonium-Ionen zu bilden, steigt in der Reihe Chlor < Brom < Iod. Beim Chlor ist diese Neigung nur schwach ausgeprägt. So erfolgt z.B. bei der Addition von Chlor an cis-Stilben teilweise eine syn-Addition (beide Teile des Addenden lagern sich an die Doppelbindung von der gleichen Seite her an), was darauf hinweist, daß in diesem speziellen Fall ein anderer Additionsmechanismus – als der über ein Brückenion – vorliegt. H
H C
C
cis-Stilben
Cl
+
Cl2
H
H C
C
Cl
1,2-Dichlor-1,2-diphenylethan
3.7 Reaktionen der Alkene
115
Die Addition von Fluor bei tiefer Temperatur verläuft ausschließlich über einen syn-Mechanismus. Man nimmt in diesem Falle eine Addition über Vierzentren-Übergangszustände an:
Ganz allgemein kann man sagen, daß Halogene leichter addiert werden als Halogenwasserstoffe. Die Reaktionsbereitschaft der Halogene zur Addition an Alkene nimmt ganz im Gegensatz zu den Halogenwasserstoffen mit steigendem Molekulargewicht ab: F2 > Cl2 > Br2 > I2 Die Bromaddition führt man gewöhnlich so durch, daß man Brom zunächst in CHCl3 oder CCl4 löst und die Lösung zu dem im gleichen Lösungsmittel gelösten Alken unter Kühlen des Reaktionsgemisches solange zutropfen läßt, bis sich das Reaktionsgemisch nicht mehr entfärbt. Die Reaktion mit Chlor erfolgt durch Einleiten von Chlorgas in das Alken bzw. dessen Lösung. Die Addition von Iod an Alkene erfolgt langsam, und die entstandenen vicinalen Diiodalkane (vicinus = der Nachbar) spalten das Iod leicht wieder ab:
I C
C
+
I2
C
C
I Die leichte Abspaltbarkeit des Iods aus vicinalen Diiodalkanen kann dazu benutzt werden, um vicinale Dibromide oder Dichloride auf schonende Weise in das entsprechende Alken umzuwandeln. Man gibt zur Acetonlösung des vicinalen Dibromalkans NaI und erhitzt unter Reflux (Methode nach Finkelstein). Als Reflux bezeichnet man ein Erhitzen unter dem Rückflußkühler, wobei das Kondensat in den Reaktionskolben zurückfließt. Beide Bromatome werden durch Iod ersetzt. Das entstandene Diiodderivat spaltet Iod unter Bildung eines Alkens ab. Br C Br
C
+ 2 NaI
Aceton
I C
C
+ 2 NaBr
C
C
+
2 NaBr + I2
I
3.7.4.7 Addition der unterchlorigen Säure Bei der Addition von unterchloriger Säure an Alkene werden Chlorhydrine erhalten. Die anti-Stellung der OH-Gruppe und des Chlors weisen auf den Reaktionsmechanismus über ein Brückenion hin. Bei der heteropolaren Spaltung der unterchlorigen Säure ist Chlor die positive, die OH-Gruppe die negative Komponente.
116
3 Alkene -
O δ
H
+
Cl δ C
+
C
Cl
O
C
H
Cl C
C
Cl C
O
+
C
H
C O
H
Chlorhydrin (vic-Chloralkanol)
Im alkalischen Medium entstehen aus den Chlorhydrinen leicht Epoxide: Cl C
C
C
O
H
OH
Na
+
C
Na
+
Cl
H2O
O
Epoxid (Oxiran)
In verdünnten Säuren erfolgt die Ringöffnung eines Epoxids unter Bildung eines Glykols. Als Glykole bezeichnet man vicinale Diole (zweiwertige Alkohole, deren OH-Gruppen an benachbarte C-Atome gebunden sind). Befindet sich das Epoxid an einem Kohlenstoffring, so führt die Epoxidspaltung zu einem trans-Glykol. H
H
H
H O
O C
H
C
C
C
H O
O C
C
C
O
O
O
H
H
+
H
C
O H
H
H
Glykol
3.7.5 Cycloadditionen Cycloadditionen sind Reaktionen, bei welchen sich zwei oder mehrere Moleküle unter Umwandlung von π- zu σ-Bindungen zu einem Ring vereinen. 3.7.5.1 Die Hydroborierung Das für die Hydroborierung benötigte Diboran B2H6 entsteht bei der Umsetzung von BCl3 mit Lithiumaluminiumhydrid in Ether, Ether
4 BCl3 + 3 LiAlH4 ⎯⎯⎯ ⎯→ 2 B2H6 + 3 LiAlCl4
oder beim Eintropfen des Bortrifluorid-Etherats BF3 · O(C2H5)2 in eine Lösung von Natriumborhydrid in Diethylenglykoldimethylether (H3COCH2CH2OCH2CH2OCH3).
3.7 Reaktionen der Alkene
117
4 BF3 + 3 NaBH4 ⎯ ⎯→ 2 B2H6 + 3 NaBF4
Bei der Hydroborierung setzt man die Aufspaltung des Diborans B2H6 in 2 BH3 voraus. Boran BH3 wird an die Doppelbindung addiert, wobei sich –BH2 regioselektiv (siehe Abschnitt 3.7.2.1) an das mit mehr Wasserstoffatomen substituierte sp2-hybridisierte C-Atom anlagert. Experimentelle Ergebnisse (syn-Anlagerung, festgestellte Substituenten-Einflüsse) lassen einen Vierzentren-Mechanismus wahrscheinlich erscheinen. BH3
R
C
C
H
BH2
C
C
H
R
R
H
H
R
H
R
H
BH2
C
C H
R
H
Monoalkylboran
Bei dieser Reaktion spielen vor allem die räumlichen Verhältnisse eine Rolle. Die =CH2Gruppierung ist für das Bor besser zugänglich. Auf der Stufe des Monoalkylborans bleibt die Reaktion nicht stehen. Die –BH2-Gruppe kann sich noch an ein weiteres Alkenmolekül und der aus dieser weiteren Addition resultierende –BH-Rest schließlich an ein drittes Alkenmolekül addieren: R R
R R
C
R
H
CH2
H H
BH
C
CH2
R H
CH2 BH
H R
R
C
C
R
CH2
R
R
CH2
C H
BH
C
CH2
R
Dialkylboran R
R R
C
CH2
H
C
R C
B
H R
H H
R
C
CH2 C
H
R
H
C
B
H R
CH2
C
H
H
R
R C
R
R
CH2
H
H
B
H R
CH2
C
CH2
H
R
C
C
H
H
R
R
R
R
C
Trialkylboran Bei der Hydrolyse des Trialkylborans mit Essigsäure erhält man das entsprechende Alkan: R
H C
R
B
CH2 3
+
3 H2O
CH3COOH
R 3
H C
R
CH3
+
H3BO3
118
3 Alkene
Wird Trialkylboran oxidativ hydrolysiert, so entsteht ein Alkohol. Für die Reaktion wird gewöhnlich Wasserstoffperoxid in alkalischem Medium verwendet: H
R
H
C
H2O2 / NaOH
B
CH2
R
R
3
+
CH2OH
C
Na3BO3
R
3
Bei der oxidativen Hydrolyse eines Triborans R3B mit Wasserstoffperoxid im alkalischen Medium wird im ersten Reaktionsschritt das Wasserstoffperoxid-Anion an das Boratom gebunden, worauf sich das Zwischenprodukt unter Freisetzung des Hydroxydions umlagert. Der entstandene Monoester R2BOR reagiert auf gleiche Weise weiter, wobei der Borsäureester (RO)3B entsteht, der im alkalischen Medium zum entsprechenden Alkohol und BO33– verseift wird.
R
R
R
R O
B
O
H
R
O
B
O
R
+
OR
- 2 OH
R
3 OH
B(OR)3
2 HOO
B
O
R
- OH
R
R
B
R
H
3 ROH
+
BO33-
Diese Reaktion ist insofern wichtig, als man, ausgehend vom Alken durch Hydroborierung und nachfolgende oxidative Hydrolyse des Trialkylborans, ein anti-MarkownikowProdukt erhält: R 3
R
H C
+
C
R
BH3
H C
R
H
CH2
H2O2 / NaOH
B
3 R
3
H
H
C
C
R
H
OH + Na3BO3
anti-Markownikow-Produkt
Ausgehend vom gleichen Alken würde man mit der sauren Hydratisierung oder Addition von H2SO4 und nachfolgender Hydrolyse des Esters stets nur ein Markownikow-Produkt erhalten. R
H C
R
C H
H
/ H2O
R
R
H
C
C
H
H HO Markownikow-Produkt
3.7 Reaktionen der Alkene
119
3.7.5.2 Die Ozonisierung Es ist bekannt, daß beim Durchschlagen eines elektrischen Funkens oder bei Bestrahlung mit kurzwelligem Licht (< 250 nm) Sauerstoff in Ozon umgewandelt wird. Das erklärt auch den Ozongehalt der Luft (10–6–10–5 Vol.% ) und die noch höhere Ozonkonzentration in den einer intensiven kurzwelligen Strahlung ausgesetzten Luftschichten in etwa 25–40 km Höhe. Ozon ist eine metastabile hochreaktive Verbindung mit starkem Oxidationsvermögen. Auch organische Verbindungen können mit Ozon reagieren. Die Reaktion des Ozons mit einem Alken, die zur Ozonidbildung führt, wird als Ozonisierung bezeichnet: O C
C
+ O3
in CCl4, -20 °C
C
C O
O
Ozonid Das für die Reaktion nötige Ozon wird in einem Siemensschen Ozonisator hergestellt. Dieser besteht aus zwei koaxialen Glasrohren. Das engere Rohr wird an der Innenwand, das weitere Rohr an der Außenwand mit Wasser gekühlt. Durch den Ringraum zwischen den Rohren strömt Sauerstoff oder trockene Luft durch. Durch Anlegen einer Spannung von 3000 und mehr Volt erfolgen in diesem Raum dunkle Entladungen, die eine Ozonbildung zur Folge haben. Der aus dem Ozonisator kommende Gasstrom kann bis zu 15 % Ozon enthalten. Dieser Gasstrom wird durch eine Lösung der Alkene in Tetrachlorkohlenstoff oder Ethylacetat geleitet. Das Reaktionsgefäß wird von außen mit Eis in Salzlösung oder mit Trockeneis in Aceton gekühlt. Der Gasstrom wird weiter durch eine Waschflasche mit KILösung geführt. Das Ausscheiden von Iod kündigt das Ende der Reaktion an. In geringen Konzentrationen kann Ozon zur Luftverbesserung und Trinkwasserentkeimung verwendet werden. In stärkerer Konzentration wirkt Ozon jedoch verätzend auf die Atmungsorgane. Vor dem Einatmen des bei der Ozonisierung in hoher Konzentration vorliegenden ozonreichen Gasgemisches sei dringend gewarnt! Als Verbindungsstücke können nur PVC- oder Siliconschläuche verwendet werden, Gummischläuche werden von Ozon angegriffen und sind nach kurzer Zeit unbrauchbar. Die Struktur des Ozons kann mit den nachfolgenden mesomeren, polaren Grenzformeln beschrieben werden.3 O O
O
O O
O O
O O
O
O O
Der erste Reaktionsschritt bei der Ozonisierung führt zum instabilen Molozonid. Das Molozonid zerfällt synchron in eine Carbonylverbindung und ein Carbonyloxid. Die Spaltstücke orientieren sich mit ungleichnamigen Ladungen zueinander und vereinigen sich durch 3 Mesomere Grenzformeln unterscheiden sich nur durch die unterschiedliche Anordnung der πElektronen bzw. p-Elektronenpaare und Lokalisierung von Ladungen.
120
3 Alkene
eine 1,3-dipolare [3+2]-Cycloaddition zum Ozonid. Die Reaktion wird deshalb „1,3-dipolar“ genannt, weil die Ladungen sich beim Carbonyloxid C
O
O
in Stellung 1 und 3 befinden. [3+2]-Cycloaddition bedeutet, daß die eine Komponente mit 2 und die andere mit 3 Atomen am Aufbau des Ringes beteiligt ist. C
O
C
O
O
C
O
δ+ C
O
C
δO
C
O C
O
O
O
Molozonid (Primärozonid)
C O
Keton und Carbonyloxid
O
Ozonid
Ozonide sind relativ beständig, es empfiehlt sich aber, sie in Lösung zu halten, da sie sich, besonders die als Nebenprodukt erhaltenen polymeren Ozonide, bei vollständigem Abdestillieren des Lösungsmittels explosionsartig zersetzen können. Ozonide lassen sich leicht hydrolysieren. Die Spaltung des Olefins mit Ozon wird als Ozonolyse bezeichnet. O
R R
C
R'
C O
R +
R'
O
H2O
R
R' C
O
O
+
C
H2O2
+
R'
Trägt das Ozonid an jedem der beiden Brückenkohlenstoffatomen 2 Alkylreste, so erhält man als Produkt der Hydrolyse zwei Ketone und Wasserstoffperoxid. Die Ozonolyse von Verbindungen des Typs O
R
C
C
H
O
O
R' H
führt zu Aldehyden, die aber zum Teil durch das bei der Reaktion anfallende Wasserstoffperoxid zu Carbonsäuren weiteroxidiert werden. Man führt deshalb, um eindeutige Produkte zu erhalten, die Ozonolyse reduktiv oder oxidativ durch. Die reduktive Ozonolyse erfolgt durch katalytische Hydrierung mit Pd auf Calciumcarbonat, die Reaktionsprodukte sind Aldehyde: R
R' C
H
C H
O3
O
R H
C
C O
O
R' H
Pd / H2
R H
C
O
+
R' O
C
H
+
H2O
Hat das im Fünfring des Ozonids befindliche Kohlenstoffatom einen Wasserstoff gebunden, führt die oxidative Hydrolyse des Ozonids zu einer Carbonsäure:
3.7 Reaktionen der Alkene R
R' C
H
O
R
O3
C
121
H
H
C
C O
O
R'
R
HCOOH / H2O2
H
HO
C
O
+
R' O
C
OH
Die Hydrolyseprodukte tetraalkylsubstituierter Ozonide vom Typ O
R R
C
C O
O
R' R'
sind Ketone R R
C
O
und
R' O
C
R'
Die Produkte der Ozonolyse geben eine genaue Information über die Stellung einer Doppelbindung des Alkens, das ozonisiert wurde. Die Ozonisierung wird deshalb oft zur Bestimmung der Lage der Doppelbindung bei der Strukturaufklärung von Stoffen herangezogen. 3.7.5.3 Die Dihydroxylierung Bei milden Reaktionsbedingungen können Alkene mit bestimmten Oxidationsmitteln in Glykole übergeführt werden. Die Dihydroxylierung, oft auch als Hydroxylierung bezeichnet, kann nach einem syn- oder anti-Mechanismus erfolgen. Erfolgt die Dihydroxylierung nach dem syn-Mechanismus, stehen die beiden Hydroxygruppen unmittelbar nach der Hydrolyse des cyclischen Zwischenprodukts, von der C–C-Bindung her gesehen, zunächst auf der gleichen Seite, was einer synperiplanaren Konformation der OH-Gruppen entspricht. Durch die freie Drehbarkeit um die C–C-Einfachbindung kann das Molekül im weiteren zeitlichen Verlauf natürlich andere Konformationen einnehmen. Beim Anti-Mechanismus stehen die Hydroxygruppen unmittelbar nach der Hydrolyse einander diametral gegenüber. Mit Cycloalkenen erhält man, bedingt durch die Einschränkung der freien Drehbarkeit um die C–CBindung durch den Ring, bei der Dihydroxylierung nach dem syn-Mechanismus ein cis- und nach dem anti-Mechanismus ein trans-Glykol. a) Die anti-Dihydroxylierung Als Oxidans dienen in diesem Falle gewöhnlich Peroxysäuren, R
C
O
O OH Peroxysäure
C
O O
OH
Peroxybenzoesäure
Hydroperoxide RCH2–O–OH oder Wasserstoffperoxid in Eisessig. Oft wird Peroxybenzoesäure (Reaktion nach Prileschajew), oder 98 %iges Wasserstoffperoxid verwendet. Eine Anlagerung des Sauerstoffatoms führt über einen cyclischen Übergangszustand zur Epoxidbildung.
122
R
3 Alkene
C
O
R
C
H
O
O
O C
R
O
C
C
H
O
H
Carbonsäure
O
O C
O
C
C
Epoxid
C
Im sauren Medium erfolgt leicht eine Aufspaltung des Epoxids, wobei ein Glykol gebildet wird: H
H
C
C
C
HO
HO
O
O
C
C
C
C
+
H2O
O H
+ H
OH
O H
C
H
H
Glykol
b) Die syn-Dihydroxylierung Mit OsO4 und MnO4– erfolgt eine [2+3]-Cycloaddition an das Alken (von der Cyclisierung betroffen sind 2 C-Atome des Alkens und 3 Atome des OsO4 bzw. MnO4–). Durch hydrolytische Spaltung des 5-Ringes gelangt man zum Glykol. Die Dihydroxylierung mit Osmiumtetroxid OsO4 wird nur zur Hydroxylierung von kleinen Mengen von Alkenen verwendet. Dies aus zwei guten Gründen: es ist teuer und seine Dämpfe sind sehr giftig. Die Umwandlung der Alkene in Glykole über ein OsO4-Addukt geschieht auf sehr schonende Weise, und es ist vor allem gewährleistet, daß keine Weiteroxidation erfolgt. Die Hydroxylierung über die Addition von Osmiumtetroxid ist deshalb für die Strukturaufklärung von einiger Bedeutung. Osmiumtetroxid bildet mit dem Alkan einen cyclischen Osmiumsäure-Ester, der als solcher auch isoliert werden kann. Er wird oxidativ hydrolysiert oder reduktiv gespalten.
Anmerkung: THF = Tetrahydrofuran
3.7 Reaktionen der Alkene
123
Bei der Reaktion cyclischer Alkene mit Osmiumtetroxid und nachfolgender Hydrolyse erhält man cis-Glykole.
+ OsO4
O H O H
O Os O
H2O2
OH H OH
+ OsO4
H
Bei der Dihydroxylierung eines Alkens kann die Näherung des Osmiumtetroxids von der einen oder der anderen Seite an das π-Orbital der Doppelbindung erfolgen und demgemäß erhält man mit einem substituierten Alken ein Gemisch zweier isomerer cis-Diole:
Bei der Sharpless-Dihydroxylierung erfolgt die Addition des Osmiumtetroxids durch Zugabe eines chiralen Liganden bevorzugt von einer Seite der Doppelbindung, die andere Seite wird durch Anlagerung des chiralen Liganden blockiert. Verwendet werden chirale Liganden auf Chinin-Basis (DHQ)2Phal (abgeleitet von Chinin) und (DHQD)2Phal (abgeleitet von Chinidin).
124
3 Alkene
Formeln der beiden chiralen Liganden:
Die Dihydroxylierung mit KMnO4 Die Hydroxylierung mit verdünnter wäßriger KMnO4-Lösung führt bei niedrigen Reaktionstemperaturen (0–5°C) über eine cis-Addition zum Glykol. Das cyclische Addukt kann nicht isoliert werden, es wird sogleich zum Glykol hydrolysiert. H
H C
C
R
R
O
H R
C
R O
O Mn
O O
Mn O
H C
2 H 2O
O
H R C HO
H C
R OH
O
OH +V Mn O OH
O
Bei den gegebenen Bedingungen kann eine Weiteroxidation eines Teils des Glykols erfolgen. Die Reaktion hat deshalb für die präparative Darstellung der Glykole kaum Bedeutung. Sie dient aber als typische Nachweisreaktion für ungesättigte Verbindungen. Sie erfolgt durch Schütteln des Alkens mit Baeyer-Reagens (KMnO4 in 10 %iger Na2CO3-Lösung ) bei Zimmertemperatur. Das Vorhandensein des Alkens oder eines Alkins ist am Verschwinden der violetten Färbung und Ausfällung des dunkelbraunen MnO2-Niederschlags erkennbar. Der braune Niederschlag ist darauf zurückzuführen, daß die zunächst entstandene Mangan(V)-Verbindung (das Hypomanganat) mit der vier- und sechswertigen Stufe des Mangans im Disproportionierungsgleichgewicht steht, +V 3
+VI 2
2 MnO4
MnO4
+
+IV 4
MnO4
und MnO44– mit Wasser zu Braunstein MnO2 umgesetzt wird. 4
MnO4
+
4 H 2O
Mn(OH)4 +
4 OH
MnO2 +
4 OH
+ 2 H2O
Das sechswertige Manganat, das bei der Disproportionierung entsteht, ist ein starkes Oxidationsmittel, das das Alken bzw. das Glykol ebenfalls oxidieren kann.
3.7 Reaktionen der Alkene
125
3.7.5.4 Die Epoxidierung Alkene reagieren mit Peroxysäuren oder 98%igem Wasserstoffperoxid in Eisessig über einen cyclischen Übergangszustand, wobei die Peroxysäure zur Carbonsäure reduziert und ein Epoxid gebildet wird. Mit Peroxybenzoesäure als Oxidans wird die Reaktion nach Prileschaew benannt.
Im Alken liegen die beiden sp2-hybridisierten Kohlenstoffatome und ebenso die an sie gebundenen Atome in einer Ebene, die senkrecht zur Ebene des π-Orbitals steht. Die Peroxysäure kann an das π-Orbital entweder von oberhalb oder unterhalb dieser Ebene herantreten. Demgemäß können bei der Reaktion zwei Enantiomere in gleichem Mengenverhältnis entstehen. Die Reaktion führt also zu einem Racemat.
Die Sharpless-Epoxidierung ist eine enantio- und diastereoselektive Reaktion für Alkene, die in Allylstellung eine Hydroxylgruppe aufweisen. Sie erfolgt mit tert.Butylhydroperoxid als Oxidans und mit Titantetraisopropylat sowie D- oder LWeinsäurediester. Je nachdem, welcher Weinsäurediester bei der Reaktion zugegen ist, wird ein Isomer des Epoxids bevorzugt dargestellt. Es handelt sich also bei dieser Reaktion um eine asymmetrische Oxidationsreaktion.
126
3 Alkene
3.7.5.5 Die Oxymercurierung Das Wort Mercurierung ist eine Bezeichnung für die Einführung von Quecksilber in organische Substanzen. Die Oxymercurierung, auch als Hofmann-Sand-Reaktion bekannt, ist ein Verfahren, um Alkene mit Hilfe von Quecksilber-(II)-acetat in Alkohole umzusetzen. Die Reaktion erfolgt zunächst mit Quecksilber-(II)-acetat und Wasser in einer wässrigen Tetrahydrofuranlösung, worauf das Zwischenprodukt mit Natriumborhydrid in Natronlauge in den Alkohol überführt wird. Der entstandene Alkohol ist ein Markownikow-Produkt (siehe 3.7.2).
Reaktionsmechanismus: Die Mercurierung des Alkens mit Quecksilber-(II)-acetat erfolgt über einen cyclischen Übergangszustand, wobei das höher substituierte C-Atom etwas stärker positiviert ist. An diesem erfolgt unter Auflösung des Ringes der nucleophile Angriff des Wassers. Das gebildete Oxoniumion spaltet ein Proton ab und es entsteht eine Quecksilberalkoholverbindung als Zwischenprodukt. Die Demercurierung des Zwischenprodukts im weiteren Schritt erfolgt durch Substitution des Quecksilbermonoacetats durch ein Hydridion, wobei der Alkohol entsteht.
3.7.6 Radikalische Additionen 3.7.6.1 Radikalische Addition des Bromwasserstoffes Bei der elektrophilen Addition von HBr an Propen entsteht 2-Brompropan CH3CHBrCH3 (Markownikow-Produkt) und als Nebenprodukt noch 1-Brompropan CH3CH2CH2Br. Wird die Reaktion in Gegenwart von Peroxiden durchgeführt, so wächst die Ausbeute des
3.7 Reaktionen der Alkene
127
1-Brompropans beträchtlich. Die Erklärung liegt darin, daß im Beisein von Peroxiden, die leicht in Radikale zerfallen, die radikalische Addition von HBr an das Alken ausgelöst wird, die zum anti-Markownikow-Produkt führt. Das Vorhandensein dieses Produkts als Nebenprodukt bei der elektrophilen Addition ist darauf zurückzuführen, daß neben der elektrophilen Addition auch, hervorgerufen durch O2 als Initiator, ein Teil des Bromwasserstoffs nach dem radikalischen Mechanismus addiert wird. Startreaktion: Zum Initiieren der radikalischen Addition kann z.B. Dibenzoylperoxid verwendet werden, das in Phenyl- und Benzoyloxyradikale zerfällt. O
O C6H5
C
O
O
O
C
C6H5
2 C6H5
C
O
Benzoyloxyradikal O C6H5
C
O
C6H5
+
CO2
Phenylradikal
Beide Radikale können mit Bromwasserstoff reagieren, wobei aus HBr ein Bromatom freigesetzt wird.
+
C6H5
H
Br
C6H6
O C6H5
C
+
Br
O O
+
H
Br
C6H5
C
O
H
+
Br
Benzoesäure Kettenfortpflanzung: Bei der Kettenfortpflanzung reagiert das Bromatom mit dem Alken unter Auflösung der Doppelbindung, wobei zunächst ein Radikal entsteht. Bei niedrigen Temperaturen dürfte, da bei cyclischen Olefinen mit DBr (D = Deuterium) eine bevorzugte anti-Addition festgestellt wurde, das Vorliegen des Radikals in einer überbrückten Form nicht auszuschließen sein. Bei höheren Temperaturen geht diese Stereospezifität der Addition jedoch verloren. Das nach Anlagerung des Bromatoms entstandene Radikal spaltet Bromwasserstoff homolytisch, wobei das Bromatom freigesetzt wird. Reagiert dieses nun mit Propen, wiederholt sich der ganze hier aufgezeigte Cyclus.
128
3 Alkene
Br H3C C
H
C
C
H
Br
H
C
H
Br
H3C H
C
C
H
Br
H3C
H
H
H3C H C
H H
Br C
H
+
Br
H
H
Kettenabbruchreaktionen: Die Kettenabbruchreaktionen erfolgen durch Rekombination des Bromatoms mit dem Radikal, Br
H3C C H
C
H3C H C
H H
Br
Br C
Br
H H
oder indem sich zwei Radikale miteinander verbinden (Rekombination)
2
H
Br
C
C
H
H
CH3 H
Br
H
CH3 Br
C
C
C
C
H
CH3 H
H
H
Die Anlagerung des Bromatoms bei der Kettenreaktion an das sp2-hybridisierte Kohlenstoffatom, das mehr H-Atome gebunden hat, ist zu erklären: 1.) mit den räumlichen Verhältnissen. Das mit Wasserstoff substituierte C-Atom ist für das Bromatom am zugänglichsten. 2.) damit, daß die Stabilität der Radikale in folgender Reihe wächst (zur Erklärung siehe den Absatz über die Hyperkonjugation im Abschnitt 2.9.1.4): H H
C
H R
H
C
R R
H
C
R R
H
C R
Durch Anlagerung des Bromatoms an das die Wasserstoffe tragende C-Atom wird ein stabileres Radikal gebildet als bei der Anlagerung an das andere sp2-hybridisierte Kohlenstoffatom:
3.7 Reaktionen der Alkene
129
Br H3C
C
C
H
H
H
stabiler als
H3C
Br
H
C
C
H
H
Die radikalische Addition erfolgt nur mit HBr, nicht mit anderen Halogenwasserstoffen. HI kann zwar leicht homolytisch gespalten werden, aber das Iodatom ist zu wenig reaktiv. Für die homolytische Spaltung von HCl bzw. HF ist relativ viel Energie notwendig. 3.7.6.2 Die radikalische Addition der Halogene Die radikalische Addition von Chlor und Brom erfolgt in der Gasphase oder in unpolaren Lösungsmitteln bei Bestrahlung mit kurzwelligem Licht. In polaren Lösungsmitteln und ohne Bestrahlung findet die elektrophile Addition statt. Startreaktion: Der Mechanismus der radikalische Addition von Halogenen wird am Beispiel der radikalischen Addition von Chlor gezeigt. Die Reaktion wird ausgelöst durch Spaltung des Chlormoleküls in Chloratome bei Bestrahlung mit kurzwelligem Licht. Cl
hν
Cl
2
Cl
Kettenfortpflanzung: Das Chloratom entkoppelt die Elektronen der π-Bindung und lagert sich an ein Kohlenstoffatom der Doppelbindung an. Das entstandene Radikal spaltet ein Chlormolekül und bindet ein Chloratom. Das andere Chloratom reagiert mit einem weiteren Alkenmolekül und ein neuer Cyclus der Kettenreaktion beginnt.
Cl Cl C
C
C
Cl C
C
Cl C Cl
C Cl
C
+
Cl
vicinales Dichloralkan
Cl
130
3 Alkene
Kettenabbruchreaktionen: Der Abbruch der Kettenreaktion erfolgt durch Anlagerung eines Chloratoms an das Radikal oder indem sich zwei Chloratome oder zwei Radikale miteinander verbinden (Rekombination). Cl
Cl
C
C
C
C Cl
Cl
oder Cl
2
Cl
C
C
C
Cl C
C
C
3.7.6.3 Die Addition von Stickstoffoxiden Stickstoffdioxid besitzt ein ungepaartes Elektron und kann deshalb leicht dimerisieren: O
2
N
O
O
O
O N
N O
Spektroskopisch wurde in der Gasphase ebenfalls das weniger stabile Isomer ONONO2 nachgewiesen. Dieses spaltet sich leicht in NO+ und NO3–: O O
N
O
N
O
O
N
O
O
+
N
O
N
O
Die radikalische Addition von Stickstoffdioxid führt zum Dinitroalkan, O C
+
C
2
O
N
N O
C
C
O
N
O
O
1,2-Dinitroalkan
während sich bei der polaren Addition β-Nitrosoalkylnitrat bildet: C
C
+
N
O
+
O
NO2
O
N
C
C
O
NO2
β-Nitrosoalkylnitrat
Distickstofftrioxid dissoziiert in Stickoxid NO und Stickstoffdioxid NO2 (Bei Zimmertemperatur und Normaldruck liegt in der Gasphase nur 10 % nichtdissoziiertes N2O3 vor.):
3.7 Reaktionen der Alkene O N
131
O
N
+
N
O
O
N
O
O
Die radikalische Addition von N2O3 an ein Alken führt zum Nitrosonitroalkan.
C
C
+
O
N
+ N
O
C
N
O
C
N
O O
O
Nitrosonitroalkan
Die polare Addition von N2O3 an ein Alken setzt die heteropolare Spaltung in NO+ und NO2– voraus, es entsteht β-Nitrosoalkylnitrit.
C
+
C
O
+
N
N
O
N
O
C
C
O
N
O
O
β-Nitrosoalkylnitrit 3.7.6.4 Die radikalische Addition der Thiole an Alkene Die radikalische Addition der Thiole wird mit Peroxiden initiiert. Die Reaktion läuft nach folgendem Schema ab: Startreaktion: R
O
O
R
S H
2
R
+
O
R
S
R
R
O
R
+
S
H
O
R
Kettenfortpflanzung: C
C
R
S
+
H
+
C
C
C
S
R
C
R
S
S
R
+
H
C
C
S
R
Thioether (Produkt)
132
3 Alkene
Kettenabbruchreaktionen: R
+
S
C
C
S
R
R
S
C
C
S
R
C
C
oder R
S
C
+
C
C
C
S
R
R
S
C
C
S
R
3.7.6.5 Radikalische Additionen mit C–C-Verknüpfungen a) Radikalische Additionen von Alkoholen an Alkene Alkohole reagieren mit Alkenen bei Bestrahlung oder Erhitzen mit Peroxiden ebenfalls nach dem Radikalmechanismus. Die der radikalischen Addition von Thiolen an Alkene analoge Reaktion mit Ether als Reaktionsprodukt erfolgt nur als Nebenreaktion. Dies ist damit zu erklären, daß die C–H-Bindung des Alkohols leichter homolytisch gespalten wird als die O–HBindung. Der nachstehend aufgezeigte Reaktionsmechanismus zeigt, daß die Addition in diesem Falle zu einem längerkettigen Alkohol führt. Startreaktion: R'
O
O
R'
R'
+
O
O
R'
H R'
O
+
H
H
C
R
O
H
R'
O
H
+
C
R
O
H
Kettenfortpflanzung: H
H C
C
C
+
C
R
C
C
OH
H R
C OH
OH
H H
C
C
R
C OH
H R
R
C OH
H + H
C
C
C OH
R
3.7 Reaktionen der Alkene
133
Kettenabbruchreaktionen: H
H R
+
C
C
C
H
C
R
R
OH
OH
C
C
C
C
+
C
C
R
H
C
OH
C OH
H
C
C
OH
H R
H
R
R
OH
C
H C
C
C
C
C
OH
R
OH
Erfolgt die Addition unter Einwirkung von kurzwelligem Licht, wird ein Photosensibilisator den Alkenen beigefügt. Photosensibilisatoren, z.B. Benzophenon (C6H5)2C=O, erleichtern die radikalische Addition unter Lichteinwirkung. b) Radikalische Additionen von Aldehyden, Ketonen, Carbonsäuren und Estern Bei Alkoholen und Aldehyden erfolgt die homolytische Spaltung der C–H-Bindung an dem Kohlenstoffatom, das ebenfalls den Sauerstoff bindet. Bei Ketonen, Carbonsäuren und Estern wird die C–H-Bindung an dem zur Carbonylgruppe α-ständigen Kohlenstoffatom gespalten.
C
C
+
H
C
R'
H
O Aldehyd
C
C
C
+
H
C
Keton
H C
CH3
H O Keton
H
C
C
C
+ H
C
C
CH3
H O Keton mit längerer Kohlenstoffkette
H C
R'
O
H C
C
H
C
C
H
O Ester
O
R'
H
C
C
C
C
O
R'
H O Ester mit längerer Kohlenstoffkette
134
3 Alkene
c) Radikalische Additionen von Alkylhalogeniden Beim Erhitzen von Alkylhalogeniden mit Peroxiden auf etwa 100°C werden diese homolytisch gespalten, so daß radikalische Additionen mit einem Alken erfolgen.
C
C
+
X
CX3
X
C
C
CX3
C
C
+
H
CX3
H
C
C
CX3
X = Cl, Br
Als Nebenreaktionen entstehen bei diesen Additionen Telomere:
n
C
+
C
X
CX3
X
C
C
CX3 n
Telomere sind Polymere mit relativ kurzer Kette. Die Bildung von Telomeren kann durch einen Überschuß des Addenden unterdrückt werden.
3.7.7 Additionsreaktionen in Gegenwart von Metallkatalysatoren 3.7.7.1 Die katalytische Hydrierung der Alkene Unter katalytischer Hydrierung versteht man die Addition von Wasserstoff an ungesättigte Verbindungen in Gegenwart eines Katalysators.
C
C
+
H2
Katalysator
H
H
C
C
H
H
Als Katalysator werden für katalytische Hydrierungen im Labor häufig Pt, Pd oder PtO2 nach Adams verwendet (siehe Abschnitt 2.7.1). Die Hydrierung mit diesen Katalysatoren erfolgt schon bei Normaldruck und Zimmertemperatur. Die katalytische Hydrierung kann mit flüssigen Alkenen ohne Lösungsmittel durchgeführt werden, häufig wird jedoch in einem polaren Lösungsmittel, z.B. Alkohol, Ethylacetat, Essigsäure oder Dioxan, hydriert. O
O
Dioxan
3.7 Reaktionen der Alkene
135
Die Katalyse findet an der Oberfläche des Katalysators statt. Der Katalysator ist um so wirksamer, je größer seine Oberfläche ist. Eine Möglichkeit der Oberflächenvergrößerung bietet das Aufbringen des Katalysators in feinverteiltem Zustand auf die Oberfläche einer Trägersubstanz. Als solche kann Aktivkohle, Aluminiumoxid, Silicagel, BaSO4 und CaCO3 dienen. Für die Hydrierung in technischem Maßstab verwendet man häufig Raney-Nickel, da dieses relativ billig ist. Die Hydrierung erfordert aber einen Druck von 3–7 bar und eventuell auch eine etwas höhere Temperatur. Für diese Hydrierungen ist also schon ein Autoklav notwendig. Für die Hochdruckhydrierung (200–350 bar und 150–200°C) werden z.B. Kupfer- und Zinkchromit oder Sulfide (Molybdän- und Wolframsulfid) benutzt. Diese katalysieren nicht nur die Addition von Wasserstoff an die Doppel- und Dreifachbindung. Ester werden in Gegenwart von Kupferchromit zu Alkoholen und mit Molybdän- und Wolframsulfid als Katalysator bis zu den entsprechenden Alkanen reduziert. Eisen- und Cobaltkatalysatoren werden ebenfalls in der Technik für Hydrierungen eingesetzt. Im Labor kann die katalytische Hydrierung mit Pt- oder Pd-Katalysatoren mit der in Bild 3.10 gezeigten Apparatur durchgeführt werden. Nachdem das Reaktionsgefäß mit dem Alken gefüllt und der Katalysator dazugegeben wurde, wird es mit der Apparatur verbunden. Bevor der Wasserstoff in die Apparatur eingelassen wird, muß diese evakuiert werden. Die Hähne an der Bürette werden geöffnet und Wasserstoff durch Senken der Nivellierbirne eingelassen, worauf der Hahn zur Vorratsflasche wieder geschlossen wird. Erst dann wird der Magnetrührer in Bewegung gesetzt. Die Hydrierung ist beendet, wenn der Wasserspiegel in der Bürette nicht mehr steigt. Bevor die Apparatur geöffnet wird, ist der Wasserstoff aus dieser durch Evakuieren zu entfernen. Würde dies nicht geschehen, könnte der Wasserstoff mit der in die Apparatur eindringenden Luft ein explosives Gasgemisch bilden, das durch den pyrophoren Katalysator leicht gezündet werden könnte.
Magnetrührer Reaktionsgefäß
Nivellierbirne
Glashähne zur Wasserstrahlpumpe
H2O H2 Bürette
Bild 3.10 Laborapparatur für die Hydrierung.
Vorratsgefäß
136
3 Alkene
Die heterogene Katalyse an Metallkatalysatoren geschieht durch Anlagerung des Wasserstoffes an die Oberfläche des Katalysators unter Spaltung der H–H-Bindung. Die Spaltung der starken H–H-Bindung in Wechselwirkung mit dem Katalysator ermöglicht es, die katalytische Hydrierung mit Pt- und Pd-Katalysatoren bei Zimmertemperatur durchzuführen. Die Wasserstoffatome können sich von der Oberfläche des Katalysators lösen und mit den sp2hybridisierten C-Atomen C–H-Bindungen ausbilden. Die katalytische Hydrierung ist eine syn-Addition, d.h. beide Wasserstoffatome werden von derselben Seite an die Doppelbindung addiert.
H
Platinoberfläche
H H
H
H
H C
C R H
H C
R R
H
C
R H
H
H
Bild 3.11 Schema zur katalytischen Hydrierung
3.7.7.2 Die Epoxidation des Ethylens mit Sauerstoff Die Epoxidation mit Luft oder Luftsauerstoff kann nur mit Ethen durchgeführt werden, andere Alkene reagieren auf diese Weise nicht. Die Reaktion erfolgt mit Silber als Katalysator bei 220–280°C unter erhöhtem Druck. H2C
CH2
+
1
/2 O2
H2C
CH2 O
Ethylenoxid (Weitere Angaben zu dieser Reaktion siehe im Abschnitt 10.6.1.6)
3.7.8 Polymerisationsreaktionen Der Zusammenschluß von vielen Molekülen einer Verbindung unter Bildung größerer Moleküle ohne Abspaltung eines Reaktionsprodukts wird als Polymerisation bezeichnet. Bei den Alkenen erfolgt dieser Zusammenschluß unter Auflösung von π-Bindungen mit gleichzeitiger Bildung von σ-Bindungen. Durch Polymerisation von Alkenen oder Alkenderivaten kann man Makromoleküle herstellen, die man als Polymere bezeichnet. Die Ausgangssubstanz dieser Reaktion wird Monomer genannt. Verwendet man für die Polymerisation meh-
3.7 Reaktionen der Alkene
137
rere Monomere, so spricht man von Copolymerisation. Durch Polymerisierung von Alkenen oder Alkenderivaten kann man wichtige Kunststoffe herstellen. Z.B. aus Ethen (auch Ethylen genannt) das Polyethylen, aus Propen (auch Propylen genannt) das Polypropylen, aus Vinylchlorid H2C=CHCl das Polyvinylchlorid (PVC), aus Vinylacetat H2C=CH–O–COCH3 das Polyvinylacetat, aus dem Methylester der Methacrylsäure H2C=C(CH3)COOCH3 das Plexiglas, aus Tetrafluorethylen F2C=CF2 das Polytetrafluorethylen (Teflon) und aus Styrol C6H5–CH=CH2 das Polystyrol. Die Bildung von Makromolekülen durch Polymerisation ist nicht nur auf Kunststoffe beschränkt. Aus Isopren H2C=C(CH3)–CH=CH2 wird im Kautschukbaum (Hevea brasiliensis) durch 1,4-Polymerisation (die Verknüpfung erfolgt am 1. und 4. C-Atom des Monomers) ein Polymer gebildet, in dem die verbliebenen Doppelbindungen Z-Konfiguration besitzen. CH3 n H2C
C
H3C CH
CH2
H C
CH2
C CH2
n
Das Polymer befindet sich in Emulsion im Latex, einer milchigen, weißen Flüssigkeit, die nach Anritzen der Stämme des Kautschukbaums ausfließt und aufgefangen wird. Der Latex wird an Ort und Stelle mit Essig- oder Ameisensäure zur Gerinnung gebracht. Das Gerinnungsprodukt (Koagulat) wird zwischen zwei sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit bewegenden Walzen ausgewalzt und dabei unter Wasserzusatz gereinigt, wodurch der Crepe-Kautschuk gewonnen wird. Dieser, in etwa 1 mm dicken „Fellen“ ausgewalzte, Kautschuk wird in Räucherkammern bei 50°C getrocknet (smoked sheet). Der auf diese Weise gewonnene Rohkautschuk wird mit 3–5 % Schwefel versetzt, geknetet und auf 130–140°C erhitzt. Der Rohkautschuk enthält im Makromolekül noch viele Doppelbindungen. Diese reagieren beim Erhitzen mit dem Schwefel, wobei eine Vernetzung durch Schwefelbrücken entsteht. Der Vorgang wird als Vulkanisation des Kautschuks bezeichnet (Vulcanus ist der röm. Gott des Feuers). Der Kautschuk wird durch die Vulkanisation zäher, elastischer und ist nichtklebrig.
3.7.9 Die Reaktionsmechanismen der Polymerisationsreaktionen Die Polymerisationsreaktionen können nach verschiedenen Reaktionsmechanismen erfolgen. Man unterscheidet die radikalische Polymerisation, die kationische Polymerisation, die anionische Polymerisation und die metallkatalysierte Polymerisation. 3.7.9.1 Die radikalische Polymerisation Startreaktion: Die radikalische Polymerisation (siehe auch radikalische Reaktionen in Abschnitt 2.9.1.2) wird in den meisten Fällen durch organische Peroxide, z.B. Dialkylperoxide, gestartet, die leicht in Radikale zerfallen. Diese reagieren mit einem Alkenmolekül, wobei unter Aufspaltung der π-Bindung ein Alkylradikal entsteht.
138 R
3 Alkene O
O
R
R
H R
+
O
H
O
C
R
C
H
O
H
O
R
H
H
C
C
H
H
Kettenfortpflanzung: Alkylradikale sind sehr reaktiv und reagieren mit weiteren Alkenmolekülen so, daß bei jedem dieser Reaktionsschritte ein neues Radikal mit einer jeweils längeren Kohlenstoffkette entsteht. Diese Reaktionsphase des Kettenwachstums wird als Kettenfortpflanzung oder Propagation bezeichnet.
R
O
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H n
H
R
O
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H n
H
Kettenabbruchreaktionen. Das Kettenwachstum wird durch Kettenabbruchreaktionen (auch als Termination bezeichnet) abgeschlossen. Sie können durch Rekombination zweier Alkylradikale bzw. eines Alkylradikals mit einem bei der Startreaktion entstandenen Radikal oder durch Disproportionierung erfolgen. Rekombination zweier Radikale: 2 R
O
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H n
H
R
O
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H n
H
H
H
H
H
H n
H
O
R
Disproportionierung:
R
R
O
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H n
H
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H m
H
O
R
O
Alken
R
Alkan
O
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H n
H
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H m
H
H
Die Hochdruckpolymerisation von Ethen (1000–2000 bar, 150–250°C) liefert ein Polyethylen mit vielen Kettenverzweigungen. Die Verzweigung kann entstehen, wenn ein Alkylradikal eine nicht am Kettenende befindliche C–H-Bindung eines anderen Alkylradikals oder eines schon gebildeten Polymers homolytisch spaltet, so daß ein sekundäres Radikal gebildet wird, das dann mit Ethenmolekülen weiterreagieren kann.
3.7 Reaktionen der Alkene
R
R
R
139
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H
H
H
H
R
R
H
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
C
C
C
H
H
CH2 H
H
H
H
H R
H
H
H C H
C
C
H
H
C H
H
Das im Hochdruck-Verfahren erzeugte Polyethylen hat eine niedrige Dichte von 0,92 g/cm3 (low density polyethylene = LDPE), es ist elastisch und biegsam und wird zur Herstellung von Folien, Filmen, Zahnrädern usw. verwendet. 3.7.9.2 Die kationische Polymerisation Nach diesem Reaktionsmechanismus erfolgen säurekatalysierte Polymerisationen. Durch Protonenanlagerung an die Doppelbindung des Alkens entsteht ein Carbeniumion, das dann seinerseits mit einem Alkenmolekül weiterreagieren kann, so daß ein Carbeniumion mit längerer Kohlenstoffkette gebildet wird. Diese Reaktion kann sich mit weiteren Alkenmolekülen fortsetzen, wobei eine Kettenverlängerung erfolgt, bis ein Zusammenstoß mit einem Anion oder die β-Eliminierung eines Protons diese Reaktion abschließt. Die kationische Polymerisation wird durch Methylgruppen am doppeltgebundenen Kohlenstoffatom begünstigt. Sie üben einen +I-Effekt aus (angedeutet durch die Pfeile), der die am Carbeniumion befindliche positive Ladung teilweise kompensiert. CH3
H C
H
H
H
C
H
CH3
H
CH3
H
CH3 H
CH3
C
C
C
C
C
H
CH3
H
CH3 H n
C
CH3
CH3
H C
C CH3
H
H3C
CH3 H
CH3 H
CH3
C
C
C
C
CH3 H
C
CH3 H n
CH3
140
3 Alkene
Abschluß der Polymerisation durch Alkenbildung aus einem Carbeniumion unter β-Eliminierung eines Protons:
H3C
CH3 H
CH3 H
C
C
C
C
CH3 H n
CH3 H
CH3 C
H3C
CH3
CH3 H
CH3
C
C
C
CH3 H
CH3 C
H
+
C CH3
CH3 H n
3.7.9.3 Die anionische Polymerisation Für die Ingangsetzung (Initiierung) der anionischen Polymerisation bedarf es starker Basen (z.B. Natriumamid in flüssigem Ammoniak, Amide, Alkoxide, Alkyllithiumverbindungen usw.). Für die Reaktion günstig sind Gruppen mit –I-Effekt bzw. –M-Effekt, z.B. die Nitrilgruppe –CN, die sich an einem der doppelt gebundenen C-Atome des Alkens befinden.
B
B
H
X
H
X
H
X
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H
H
n
H
X
H
X
H
X
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H n
H
B
+
B
H
H
X
H
X
H
X
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H n
H
H
X
H
X
H
X
C
C
C
C
C
C
H
H
H
H
H
H H n X = elektronegative Gruppe B = Base
3.7.9.4 Die metallkatalysierte Polymerisation Die wichtigste metallkatalysierte Polymerisation ist die mit Ziegler-Natta-Katalysatoren initiierte Polymerisation von Ethen zu Polyethylen und Propen zu Polypropylen, die schon bei niedrigen Temperaturen (etwa 100°C) und unterhalb 60 bar erfolgt. Der Katalysator besteht aus TiCl4 und Triethylaluminium auf MgCl2 als Trägersubstanz. Es wird angenommen, daß das Triethylaluminium als Alkylierungsmittel (Übertragung der Ethylgruppe auf Ti) und als Lewis-Säure auftritt (das an Ti gebundene Chlor ist der π-Elektronendonator). Cl Cl
CH2CH3
CH2CH3
+ Al(CH2CH3)3
Ti
Ti
Ti Cl Cl
Al(CH2CH3)2
Cl2Al(CH2CH3)2
Nach einer Komplexierung des Ethens mit dem Übergangsmetall Titan, das nun eine freie Koordinationsstelle aufweist, erfolgt über einen Vierzentren-Übergangszustand ein Einschub (Insertion) des Ethens zwischen Metall und den an das Metall gebundenen Alkylrest. Durch Wiederholung des Vorgangs kommt eine Kettenverlängerung zustande. Das vereinfachte Schema soll dies veranschaulichen:
3.8 Diene und Polyene
141 n mal wiederholter Einschub von
Ti H2C
H2C
Ti
C2H5
H2C
CH2
CH2
CH2
Ti
C2H5
CH2 CH2(H2C
CH2)nC2H5
Bei 200–300°C und 50 bar setzt mit Ethen eine Verdrängungsreaktion unter Freisetzung eines unverzweigten, langkettigen 1-Alkens ein. Ti
Ti H2C
CH2
HC
CH2
R
200-300 °C, 50 bar
H
H
CH2
CH2
C
CH3 R R=
CH2CH2 n CH2CH3
Als Katalysator besonders aktiv (1g Katalysator für 1 Tonne Kunststoff) sind Metallocene vom Typ (Aryl)2MeCl2 (Me = Titan, Zirconium oder Hafnium). Sie ermöglichen den Einsatz von Copolymeren. Das im Niederdruck-Verfahren mit Ziegler-Natta-Katalysatoren hergestellte Polyethylen hat fast unverzweigte lange Kohlenstoffketten und besitzt eine hohe Dichte (high density polyethylene = HDPE). Es ist relativ hart und dient zur Herstellung von Rohren, Behältern usw.
3.8 Diene und Polyene Befinden sich in einem Kohlenwasserstoff zwei, drei, vier bzw. fünf Doppelbindungen, so wird dieser als Dien, Trien, Tetraen bzw. Pentaen bezeichnet. Sind im Molekül viele Doppelbindungen anzutreffen, spricht man von einem Polyen. Verbindungen mit mehreren Doppelbindungen sind in der Natur häufig vorzufinden. Als Beispiel seien erwähnt das Squalen und die Carotine (s. Abschnitt 20.1.5) oder der Naturkautschuk (s. Abschnitt 3.7.8). Je nachdem, ob es sich um benachbarte Doppelbindungen handelt oder ob diese durch jeweils eine Einfachbindung oder durch mindestens zwei Einfachbindungen voneinander getrennt sind, unterscheidet man kumulierte, konjugierte und isolierte Doppelbindungen. Isolierte Doppelbindungen sind durch wenigstens zwei Einfachbindungen voneinander getrennt. Sie reagieren unabhängig voneinander wie einzelne Doppelbindungen. Kumulierte Doppelbindungen stehen in direkter Nachbarschaft zueinander. Verbindungen dieses Typs werden als Kumulene bezeichnet. Das einfachste Kumulen ist das Allen H2C=C=CH2. Im Allen ist das mittlere C-Atom sp-hybridisiert, während beide C-Atome am Kettenende sp2-hybridisiert sind. In zwei aufeinander senkrecht stehenden Ebenen liegen je zwei Wasserstoffatome. Die Kohlenstoffatome liegen auf einer Geraden, die von beiden Ebenen geschnitten wird. Die π-Orbitale liegen ebenfalls in einer der beiden Ebenen, sie stehen senkrecht aufeinander. Das Allen kann man aus 2,3-Dichlorpropen durch Dehalogenierung mit Zinkstaub in Ethanol/Wasser als Lösungsmittel darstellen.
142
3 Alkene
H2C
C
CH2
Cl
Cl
+
H2C
Zn
C
CH2
+
ZnCl2
Das Allen ist bis 400°C stabil, bei Gegenwart von Aktivkohle als Katalysator erfolgt jedoch bei 300°C eine Isomerisierung zu Methylacetylen. H2C
C
CH2
H3C
C
CH
C
C
C
C
C
C
C
C
kumulierte Doppelbindungen (lat. cumulare = anhäufen)
C
C
C
C
C
C
C
C
konjugierte Doppelbindungen (lat. conjugatio = Vereinigung)
C
C
C
C
C
C
C
C
isolierte Doppelbindungen
pz-Orbital py-Orbital horizontal
H H
C
vertikal
H H sp
2
sp
2
sp
Bild 3.12 Räumliche Anordnung der Atome im Allen
Konjugierte Doppelbindungen liegen vor, wenn sich zwischen zwei C=C-Doppelbindungen jeweils eine C–C-Einfachbindung befindet. Verbindungen mit konjugierten Doppelbindungen sind energieärmer und stabiler als solche mit der gleichen Anzahl von isolierten Doppelbindungen. Die zwischen den Doppelbindungen befindliche Einfachbindung ist etwas kürzer als normale C–C-Bindungen. Dies kann damit erklärt werden, daß die sp2-Hybridorbitale, die zur σ-Bindung überlappen, einen hohen s-Anteil aufweisen und kürzer als σ-Bindungen zwischen sp3-hybridisierten Kohlenstoffatomen sind. Man kann auch von der Vorstellung ausgehen, daß z.B. im Buta-1,3-dien die benachbarten p-Orbitale am C2 und C3 etwas überlappen können. Die konjugierten Doppelbindungen sind etwas länger als isolierte Doppelbindungen. Die Bindungsverhältnisse in konjugierten Systemen versucht man mit der Mesomerie zu erklären.
3.9 Die Mesomerie
143
3.9 Die Mesomerie Das einfachste konjugierte Dien ist das Buta-1,3-dien. Die Verteilung der π-Elektronen im Molekül entspricht nicht ganz der Formel H2C=CH–CH=CH2. Um die Elektronenverteilung im Molekül besser abschätzen zu können, schreibt man zunächst alle durch Verschieben der π-Elektronen denkbaren Formeln auf, auch solche, die von vornherein als energiereich eingeschätzt werden müssen, weil eine Ladungstrennung für die Formel vonnöten ist oder ungepaarte Elektronen vorliegen. Sicher ist der mit der Formel H2C=CH–CH=CH2 beschriebene Zustand wahrscheinlicher als die mit den anderen Formeln angedeuteten Zustände, denn man kann ihn als energieärmsten Zustand einschätzen. Die in Bild 3.13 aufgezeigten Grenzformeln weisen darauf hin, daß im Butadien auch zwischen dem C2 und dem C3 eine gewisse π-Elektronendichte zu erwarten ist. Die reale π-Elektronenverteilung im Molekül entspricht keiner der in Bild 3.13 aufgezeigten Formeln, auch wenn die Formel H2C=CH–CH=CH2 den tatsächlichen Zustand besser als die anderen Formeln beschreibt. Man bezeichnet diese Formeln als mesomere Grenzformeln. Mesomere Grenzformeln entsprechen nicht der Realität, sie sind für den Organiker nur ein Handwerkszeug, um die reale π- bzw. p-Elektronenverteilung im Molekül besser abschätzen zu können. Die tatsächliche Struktur des Moleküls wird + C C C C
C C C C
unbesetzt C
C C
C
C
C
C
+ C C C C
C C C C
C
C
C
C C
C
C
C
C unbesetzt
C C C C
C
C C C C
C
C C
C
C C
Bild 3.13 Grenzformeln des Butadiens
C
144
3 Alkene
als Resonanzhybrid bezeichnet. Man stellt sich die Beschreibung dieser Struktur so vor, daß die als energieärmer eingestuften – und deshalb wahrscheinlicheren – mesomeren Grenzformeln mehr zu berücksichtigen sind, daß aber auch die anderen Grenzformeln mit einer geringeren Wichtung in die Schätzung einzubeziehen sind. Als energiearm sind mesomere Grenzformeln ohne formale Ladung einzuschätzen. Radikalische oder gar diradikalische mesomere Grenzformeln sind als energiereich zu bewerten. Die diradikalische Formel des Butadiens kann deshalb bei der Abschätzung der Elektronenverteilung vernachlässigt werden. Mesomere Grenzformeln mit Ladungen sind ebenfalls als relativ energiereich anzusehen. Mesomere Grenzformeln mit Ladungen werden dann als etwas energieärmer eingestuft, wenn sie eine möglichst geringe Anzahl formaler Ladungen aufweisen, die Ladungen möglichst weit voneinander entfernt sind und die negative Ladung sich am elektronegativsten Atom befindet. Die Beschreibung einer wirklichen Struktur mit Hilfe von mesomeren Grenzformeln wird als Mesomerie bezeichnet. Das Resonanzhybrid des Butadiens kann man sich so vorstellen, daß zwischen C2 und C3 ein geringer partieller Doppelbindungscharakter vorliegt, daß aber zwischen C1 und C2 ebenso wie zwischen C3 und C4 die π-Elektronendichte am größten ist. Die Energiedifferenz zwischen dem Energieinhalt des Realmoleküls und dem berechneten Energieinhalt der energieärmsten mesomeren Grenzformel ist die Mesomerieenergie oder Resonanzenergie. Die Resonanzenergie ist um so größer, je größer die Zahl ähnlicher mesomerer Grenzformeln ist. Sie ist dann maximal, wenn das System durch strukturell völlig gleichartige mesomere Grenzformeln beschrieben werden kann (siehe Grenzformeln des Allylkations, Abschnitt 3.9.1.1). Die Resonanzenergie für Butadien beträgt zwischen 8–17 kJ/mol. Das Abschätzen der realen π-Elektronenverteilung in Molekülen oder Ionen auf Grund von mesomeren Grenzformeln ist nur für solche Verbindungen gerechtfertigt, bei denen man voraussetzen kann, daß alle Atome in dem an der Mesomerie beteiligten Bereich in einer Ebene liegen, so daß die darauf senkrecht stehenden p-Orbitale überlappen können. Schreibt man einige Grenzformeln nebeneinander, so verbindet man diese mit dem Mesomeriepfeil . Diesen darf man nicht mit einem Reaktionspfeil verwechseln, er zeigt lediglich an, daß es sich bei den nebeneinander stehenden Formeln um mesomere Grenzformeln handelt. Man kann, der besseren Übersicht halber, die nebeneinanderstehenden mesomeren Grenzformeln noch in eckige Klammern setzen.
3.9.1 Mesomere Effekte In mesomeren Grenzformeln können nicht nur π-Bindungen, sondern auch die nichtbindende p-Elekronenpaare (besser gesagt, die sie symbolisierenden Striche) verschoben werden. Funktionelle Gruppen werden auf diese Weise mit in den Mesomeriebereich der Formel einbezogen. Erfolgt das Verschieben der π-Bindungen in Richtung zur funktionellen Gruppe hin, spricht man vom –M-Effekt. In diesem Fall betrachtet man die betreffende Gruppe oder das Atom als einen π-Elektronenakzeptor, z.B. C
O
C
O
3.9 Die Mesomerie
145
Bei konjugierten Systemen erfolgt das Verschieben der π-Bindungen in den mesomeren Grenzformeln im gesamten Mesomeriebereich (Bereich konjugierter Doppelbindungen). O C
C
C
C
C
C
O
C
C
C
C
C
C
C
C
H
H
Werden in den mesomeren Grenzformeln im Mesomeriebereich p-Elektronen oder π-Bindungen (besser gesagt die sie symbolisierenden Striche) von der funktionellen Gruppe weggeschoben, so spricht man vom +M-Effekt. Man kann sich die funktionelle Gruppe als π-Elektronendonor vorstellen. C
C
C
C
C
C
Cl
C
C
C
C
C
C
Cl
Schematisch sei dies noch einmal zusammengefaßt: C
C
X
C
C
C
X
C
C
X
C
C
C
+ M-Effekt
X
- M-Effekt
Oftmals werden die Begriffe I-Effekt und M-Effekt verwechselt. Deshalb soll nochmals klargestellt werden: der I-Effekt (siehe Abschnitt 1.4) bezieht sich ausschließlich auf σ-Bindungen, während beim M-Effekt nur Verschiebungen von π-Bindungen und nichtbindenden p-Elektronenpaaren in mesomeren Grenzformeln betrachtet werden. 3.9.1.1 Die Reaktivität von Allyl- und Vinylverbindungen H2C=CH- wird als Vinylrest und H2C=CH–CH2- als Allylrest bezeichnet. Vinyl- und Allylverbindungen weisen beide in ihren Reaktionen starke Unterschiede auf. Während z.B. im Vinylchlorid H2C=CH–Cl das Chlor schlecht substituiert werden kann, ist dies beim Allylchlorid H2C=CH–CH2–Cl leicht durchzuführen. Die Unterschiede in der Reaktivität beider Verbindungen können mit Hilfe der Mesomerie erklärt werden. Die Grenzformeln des Vinylchlorids H2C
CH
Cl
H2C
CH
Cl
weisen auf einen partiellen Doppelbindungscharakter der C–Cl-Bindung hin. Somit ist es verständlich, daß Reaktionen, die die Spaltung dieser Bindung voraussetzen, schwer durchzuführen sind. Nicht nur die Substitution des Chlors ist in dieser Verbindung schwierig, auch die Dehydrohalogenierung läßt sich schlecht durchführen.
146
3 Alkene
In einer Verbindung mit einer Allylgruppierung vom Typ R–CH=CH–CH2Cl läßt sich die C–Cl-Bindung leicht spalten, denn hier liegt kein partieller Doppelbindungscharakter dieser Bindung vor, wie man es beim Vinylchlorid annehmen mußte. Die Substitution wird noch dadurch begünstigt, daß das Zwischenprodukt, das Allylkation, mesomeriestabilisiert ist. Mesomeriestabilisiert heißt, daß die Verbindung, in diesem Fall das Allylkation, als Resonanzhybrid einem relativ energiearmen und somit stabilen Zustand entspricht. R
R C
CH
Cl
CH2
R C
H
CH
C
CH2
H
CH
+
CH2
Cl
H
Allylkation Die Mesomerie des Allylkations erklärt auch das Entstehen zweier Reaktionsprodukte bei der alkalischen Hydrolyse eines Alkylallylchlorids. OH
R C R
R C
CH
CH2
C
H
CH
H CH
CH2
+
O
H
CH2
+ OH
H R
C
CH
CH2
H
3.10 Reaktionen der Diene 3.10.1 Die Addition von Brom an Butadien Läßt man Buta-1,3-dien mit Brom reagieren, erfolgt neben der 1,2-Addition des Broms auch die 1,4-Addition. H2C H2 C
CH
CH
CH2
+
Br2
CH
CH
Br H2C Br
CH2 Br
CH
CH
CH2
Br
Die zwei Reaktionsprodukte kann man damit erklären, daß als Zwischenprodukt ein Kation mit Allylgruppierung vorliegt. Br
Br H2C
CH
CH
CH2 +
Br2
H2C
CH
CH
CH2
H2C Br
CH
CH
CH2
3.10 Reaktionen der Diene
147
Da das mesomere Kation zwei reaktive Stellen hat, bezeichnet man es als ambident. Es hängt von den Reaktionsbedingungen ab, in welchem Mengenverhältnis beide Reaktionsprodukte im Reaktionsgemisch vorliegen. Führt man die Reaktion bei Zimmertemperatur und in unpolaren Lösungsmittel durch, überwiegt das 1,2-Addukt, nämlich das 3,4-Dibrom-1-buten (54 % Ausbeute), währenddessen bei Erwärmen auf 60 °C und längerer Reaktionszeit vorwiegend das 1,4-Addukt, das1,4-Dibrom-2-buten (90 % Ausbeute), entsteht.
3.10.2 Kinetisch und thermodynamisch gesteuerte Reaktionen Bild 3.14 zeigt das Energieprofil des letzten Reaktionsschrittes der Addition des Broms an Butadien. An das Brommethylallylkation lagert sich in diesem Reaktionsschritt das Bromidion an. Übergangszustand Übergangszustand
EA
EA H2C
E
Br
CH
CH
CH2
Br
Br
3,4-Dibrom-1-buten
+ CH
CH2 Br
-
+ H2C
H2 C
CH
CH
CH
CH2 Br
Brommethyl-Allyl-Kation EA = Aktivierungsenergie
H2C Br
CH
CH
CH2 Br
1,4-Dibrom-2-buten Reaktionskoordinate Bild 3.14 Energieprofil der Reaktion vom Brommethyl-Allyl-Kation zum 3,4-Dibrom-1-buten und zum 1,4-Dibrom-2-buten
Als Energieprofil wird ein Energiediagramm bezeichnet, bei dem man auf die y-Achse die Energie (E) aufträgt und auf die x-Achse die Reaktionskoordinate. Die Reaktionskoordinate (RK) bezieht sich auf Veränderungen im Molekül, z.B. Bindungslängen und Bindungswinkel, sie steht nicht in direkter Relation zum zeitlichen Ablauf der Reaktion. Das Energieprofil zeigt, daß die 1,2-Addition die geringere Aktivierungsenergie EA benötigt, weshalb sich dieses Reaktionsprodukt bei Zimmertemperatur schneller bilden kann. Da die Bildung dieses Produkts von der Reaktionsgeschwindigkeit abhängig ist, wird diese Reaktion als kinetisch gesteuert bezeichnet. Aus Bild 3.14 ist zu ersehen, daß das Produkt der 1,4-Addition von den beiden möglichen Produkten das energieärmere und somit das
148
3 Alkene
thermodynamisch stabilere ist. Vorausgesetzt, daß die Reaktionen umkehrbar sind, entsteht bei höherer Temperatur im längeren Zeitraum das thermodynamisch stabilere Produkt, die Reaktion ist dann thermodynamisch gesteuert.
3.10.3 Polymerisationsreaktionen des Butadiens Durch Polymerisation des Butadiens mit gepulvertem Natriummetall als Katalysator wurde das Buna (Abkürzung von Butadien Natrium), ein künstlicher Kautschuk, hergestellt. Die Gesamtproduktion des Buna in den Jahren 1937–1945 betrug bei der ehemaligen IG Farbenindustrie A.G. etwa 500 000 t. Das dafür notwendige Butadien wurde aus Acetylen (siehe Abschnitt 13.4.1.3) hergestellt. Heute wird das Butadien industriell aus dem in der Petrochemie anfallenden Buten durch thermische Dehydrierung bzw. durch katalytische Dehydrierung von Butan bei 600°C gewonnen. In USA und Rußland dient auch Ethanol als Ausgangsstoff für die Butadiensynthese. Der mit Natriummetall als Initiator gewonnene Buna-Kautschuk wird bei der Polymerisation 1,2-verknüpft und trans-1,4-verknüpft, wobei die 1,2-Verknüpfung im Molekül überwiegt. Das Produkt hat relativ ungünstige mechanische Eigenschaften. HC CH2
H
CH2
CH
1,2-Verknüpfung
H C
C
CH2
n
H
CH2 C
H
CH2
n
trans-1,4-Verknüpfung
C CH2
n
cis-1,4-Verknüpfung
Bei Verwendung von Alkyllithium als Polymerisationskatalysator kann man Butadien cis-1,4-verknüpfen und damit eine dem Naturkautschuk ähnliche Konfiguration erreichen (siehe Abschnitt 3.7.8). Heute verwendet man zur Herstellung von Synthesekautschuk hauptsächlich Copolymerisate. Polymerisiert man Butadien mit etwa 10 % Styrol C6H5–CH=CH2, so erhält man das SBR-Copolymerisat (styrene-butadien-rubber), einen Synthesekautschuk mit guten mechanischen Eigenschaften. Die Polymerisation erfolgt in Emulsion unter PerC N oxidkatalyse. Durch Copolymerisation von Butadien und Acrylnitril CH2 = CH erhält man den Nitrilkautschuk (Perbunan). Chloropren, auch Neopren genannt, ist ein Polymerisat aus 2-Chlorbutadien, das ölfest ist und eine hohe Alterungsbeständigkeit aufweist.
3.10.4 Die Diels-Alder-Reaktion Das Butadien kann mit einem durch elektronegative Substituenten aktivierten Alken reagieren, wobei ein cyclisches Produkt entsteht. H
H
C HC
X C
HC H
H
H
C
Δ
C
C
H H
H H
HC
C
H2C R
C H
C
H H
H
H X
C HC
R
X C
HC
C H
C H
H R H
X = Gruppe mit - I-Effekt
3.10 Reaktionen der Diene
149
Die Reaktion läuft in einem Schritt über einen cyclischen Übergangszustand, wobei simultan (lat. = gemeinsam, gleichzeitig) drei π-Bindungen gespalten und zwei σ- und eine π-Bindung neu gebildet werden. Von dieser konzertierten (= gleichzeitig, aufeinander abgestimmten) Spaltung alter bzw. Bildung neuer Bindungen sind die vier C-Atome des Diens und die zwei sp2-hybridisierten Kohlenstoffatome des Alkens betroffen, weshalb man von einer [4+2]-Cycloaddition spricht. Diese Cycloaddition erfolgt mit relativ hoher Ausbeute, wenn mit dem elektronenreichen Dien ein elektronenarmes Alken reagiert. Das Alken, in dieser Reaktion als Dienophil bezeichnet, wird durch Substituenten mit –I-Effekt (siehe Abschnitt 1.4), also elektronenziehenden Substituenten, die die Elektronendichte am Alken herabsetzen, aktiviert. Solche Substituenten sind z.B. die Nitrilgruppe -CN, die Carbonylgruppe -C=O, die Carboxygruppe -COOH und die Nitrogruppe -NO2. Die ursprüngliche Konfiguration der Substituenten am Dienophil bleibt bei der Ringbildung erhalten. Die im Dienophil cis-ständigen Substituenten X und R befinden sich auch nach der Cyclisierung wieder in cis-Stellung.
3.10.5 Die Cope-Umlagerung 1,5-Diene werden beim Erhitzen isomerisiert. Diese unter gleichzeitiger Auflösung und Neubildung von Bindungen erfolgende Isomerisierung wird als Cope-Umlagerung bezeichnet. Sie verläuft über einen cyclischen Übergangszustand. Solche Reaktionen, die mit Bindungswechsel von Doppel- und Einfachbindungen verbunden sind und über einen cyclischen Übergangszustand ablaufen, werden allgemein als pericyclische Reaktionen bezeichnet. R
R
R
Cope-Umlagerung
Eine der Cope-Reaktion ähnliche Umlagerung kann auch dann erfolgen, wenn anstelle des C-Atoms ein Heteroatom (hetero bedeutet anders, in diesem Fall ein anderes Atom als ein C-Atom, z.B. ein Sauerstoffatom) in der Dien-Gruppierung vorhanden ist. Ein Beispiel dafür ist die Umlagerung eines Allylvinylethers beim Erhitzen. Diese Reaktion wird als aliphatische Claisen-Umlagerung bezeichnet (Claisen-Umlagerung siehe Abschnitt 12.4.3). H
H H2C O
C
C H
CH2 CH2
Δ
H2C O
C
C H
CH2 CH2
Aliphatische Claisen-Umlagerung
3 Alkene
150
Übungsaufgaben ? 3.1 Benennen Sie folgende Verbindungen: H 3C
Cl C
H
H 3C
CH3 C
C Br
H
C
COOH C
H
C CH3
? 3.2 Was versteht man unter Dehalogenierung, Dehydrohalogenierung und Dehydratisierung?
? 3.3 Auf welche Weise kann man eine Dehydrohalogenierung eines Alkylhalogenids (Halogenalkans) durchführen?
? 3.4 Wie verfährt man bei der Dehydratisierung von Alkoholen?
? 3.5 Welches Hauptprodukt entsteht bei der Dehydratisierung von 3-Methylbutan-2-ol?
? 3.6 Welche Produkte entstehen bei der Pyrolyse von Dodecylethanoat? (Siehe Kap. 3.6.1.6)
? 3.7 Was versteht man unter einer monomolekularen und einer bimolekularen Eliminierungsreaktion?
? 3.8 Beschreiben Sie den Verlauf einer monomolekularen Eliminierungsreaktion (E1).
? 3.9 Beschreiben Sie den Reaktionsmechanismus einer bimolekularen Eliminierungsreaktion (E2).
? 3.10 Welche strukturellen Voraussetzungen des Substrats begünstigen einen E1-Mechanismus?
? 3.11 Beschreiben Sie den Reaktionsmechanismus der elektrophilen Addition einer Säure (HBr, oder Schwefelsäure) an ein Alken.
Übungsaufgaben
151
? 3.12 Wie unterscheiden sich die Reaktionsmechanismen bei der elektrophilen Addition von Brom und HBr an ein Alken?
? 3.13 Welche(s) Produkt(e) erhält man bei der elektrophilen Addition von Brom an Cyclopenten?
? 3.14 Welches Hauptprodukt entsteht bei der Addition von HBr an Propen? Begründen Sie die Regioselektivität bei der Addition von Säuren an unsymmetrische Alkene.
? 3.15 Was versteht man unter einer Cycloaddition?
? 3.16 Welches Endprodukt entsteht a) bei der Hydroborierung des Propens und der nachfolgenden oxidativen Hydrolyse mit H2O2 in alkalischem Medium? b) bei der Addition von Schwefelsäure am Propen und nachfolgender Hydrolyse des Esters?
? 3.17 In welcher räumlichen Anordnung befinden sich die Atome im Ethen?
? 3.18 Welche Produkte erhalten Sie: a) bei der Oxidation des Cyclohexens mit Wasserstoffperoxid in Essigsäure und b) bei der Reaktion des Cyclohexens mit Osmiumtetroxid nach Hydrolyse des Osmiumtetroxid-Addukts?
? 3.19 Beschreiben sie den Reaktionsablauf bei der radikalischen Polymerisierung des Ethens.
? 3.20 Was versteht man unter +M-Effekt und –M-Effekt?
? 3.21 Welches Produkt erhält man bei der Diels-Alder-Reaktion des Butadiens mit cis-1,2Dibromethen?
152
3 Alkene
Lösungen ! 3.1 a) (E)-1-Brom-1-chlorpropen b) (2Z,4E)-2,4-Dimethylhexa-2,4-diensäure
! 3.2 Bei der Dehalogenierung wird aus einer Dihalogenverbindung ein Halogenmolekül abgespalten. Unter Dehydrohalogenierung versteht man die Abspaltung eines Halogenwasserstoffes (HCl, HBr oder HI) aus einer Halogenverbindung und der Begriff Dehydratisierung bedeutet ein Abspalten von Wasser aus dem Molekül. Bei den angeführten Reaktionen wird aus einem Molekül ein Teil des Moleküls abgespalten, es handelt sich bei diesen Reaktionen um Eliminierungsreaktionen.
! 3.3 Die Dehydrohalogenierung eines Halogenalkans erfolgt unter Erhitzen mit Alkalihydroxiden in alkoholischer Lösung oder mit Alkalialkoholaten, z.B. NaOR in Alkohol oder Dimethylsulfoxid (CH3)2S=O als Lösungsmittel.
! 3.4 Die Dehydratisierung eines Alkohols erfolgt in der Regel durch Erhitzen in Gegenwart einer Mineralsäure. Durch die Zugabe einer Säure wird die Hydroxygruppe, die eine schlechte Abgangsgruppe ist, protoniert. Durch die Hydroxoniumgruppe H2O+- wird die C-O-Bindung stärker polarisiert, wodurch die Abspaltung begünstigt wird.
! 3.5 Bei der Dehydratisierung von 3-Methylbutan-2-ol entsteht, der Saytzew-Regel entsprechend, 2-Methylbut-2-en (Saytzew-Regel siehe Kap. 3.6.3).
! 3.6 Bei der Pyrolyse des Dodecylethanoats werden Dodecen und Essigsäure gebildet. Die Reaktion erfolgt nach einem Ei–Mechanismus über einen Ringförmigen Sechs-Zentren-Übergangszustand. (siehe Kap. 3.6.1.6).
! 3.7 In einer monomolekularen Reaktion ist an dem langsamsten und damit geschwindigkeitsbestimmenden Teilschritt der Reaktion nur ein Molekül beteiligt. Im Falle der E1-Reaktion ist es das zu eliminierende Substrat. Bei einer bimolekularen Reaktion sind an diesem geschwindigkeitsbestimmenden Schritt zwei Moleküle beteiligt. Bei der E2-Reaktion ist es das Substrat und eine Base.
! 3.8 Im ersten, die Reaktiongeschwindigkeit bestimmenden Teilschritt der monomolekularen Eliminierungsreaktion (E1), erfolgt die Abspaltung der Abgangsgruppe unter Bildung eines Carbeniumions. Im zweiten Schritt erfolgt die Abspaltung eines β-ständigen Protons unter Ausbildung einer Doppelbindung.
Lösungen
153
! 3.9 Die bimolekulare Eliminierungsreaktion (E2) erfolgt über einen Übergangszustand. An diesem die Reaktionsgeschwindigkeit bestimmenden Teilschritt der Reaktion sind das Substrat und eine Base beteiligt. Im weiteren Reaktionsschritt erfolgt die gleichzeitige Abspaltung der Abgangsgruppe und der protonierten Base unter Ausbildung einer Doppelbindung am Substrat. Optimal für die E2-Reaktion ist eine antiperiplanare Konformation der Abgangsgruppe und des am nebenständigen C-Atom gebundenen Wasserstoffes, die das „hinüberfließen“ der Elektronen aus dem σ-Orbital in das sich aufbauende π-Orbital erleichtert.
! 3.10 Die E1-Reaktion erfolgt bevorzugt mit solchen Verbindungen, bei denen die Abgangsgruppe an ein tertiäres Kohlenstoffatom gebunden ist, z.B. bei einem tertiären Alkohol oder einem tertiären Halogenalkan. Die Erklärung liegt darin, daß das im ersten Reaktionsschritt entstehende Carbeniumion durch Hyperkonjugation stabilisiert wird.
! 3.11 Bei der elektrophilen Additionsreaktion (AE-Reaktion) einer Säure (z.B. HBr oder H2SO4) an eine C=C-Doppelbindung treten das Proton und das π-Elektronenpaar der Doppelbindung in Wechselwirkung unter Bildung des π-Komplexes. Im geschwindigkeitsbestimmenden Teilschritt der Reaktion wird das elektrophile Teilchen H+ vom π-Elektronenpaar gebunden, wobei die Auflösung der π-Bindung erfolgt, eine C-H-σ-Bindung gebildet wird und ein Carbeniumion entsteht. Im nächsten Reaktionsschritt erfolgt die Reaktion des Carbeniumions mit dem Anion unter Bildung einer σ-Bindung, womit die Addition abgeschlossen ist.
! 3.12 Die Reaktion des Broms mit einem Alken erfolgt über ein überbrücktes Kation, über das Bromoniumion. Das bei der Reaktion freigesetzte Bromidion Br-- reagiert mit einem der beiden Brücken-C-Atome , die eine positive Teilladung aufweisen, von der Gegenseite der Brücke unter Ausbildung einer σ-Bindung. Die Reaktion verläuft also nach einem transMechanismus. Die Addition von HBr erfolgt über ein Carbeniumion als Zwischenprodukt. In diesem liegen die Liganden, die an den positiv geladenen, sp2-hybridisierten Kohlenstoff gebunden sind, in einer Ebene. Die Addition des Bromidions an das Carbeniumion kann von der Seite über oder unter dieser Ebene her erfolgen. Wird bei der Addition ein neues asymmetrisches Zentrum gebildet wird, so ist das Produkt ein racemisches Gemisch (siehe Kap. 8.9.1).
154
3 Alkene
! 3.13 Bei der Addition von Brom an Cyclopenten entstehen zwei enantiomere Produkte: das (1S,2S)-1,2-Dibrompentan und das (1R,2R)-1,2-Dibrompentan. In beiden Verbindungen befinden sich die Bromatome zueinander in trans-Stellung. Enantiomere sind zwei Verbindungen die zueinander im räumlichen Verhältnis wie Bild und Spiegelbild stehen. H
H
Cl
H
Br
H
H
H
H
H H
H
H
Br
(1S,2S)-Dibrompentan
H
Br
H
H
Br
H
(1R,2R)-Dibrompentan
! 3.14 Läßt man Propen mit HBr reagieren erhält man als Hauptprodukt 2-Brompropan. Die Addition erfolgte nach der Markownikow-Regel, die besagt, daß bei der Addition an ein unsymmetrisches Alken das Anion an das Wasserstoffärmere C-Atom angelagert wird. Diese Regioselektivität von Säuren an unsymmetrische Alkene ist damit zu erklären, daß bei Anlagerung des Protons H+ an das Alken bevorzugt das Carbeniumion entsteht, das stabiler ist. Ein tertiäres Carbeniumion ist stabiler als ein sekundäres und dieses wiederum stabiler als ein primäres. Die unterschiedliche Stabilität ist auf die Hyperkonjugation zurückzuführen.
! 3.15 Eine Cycloaddition ist eine Reaktion bei welcher zwei oder mehrere Moleküle bei einer Reaktion mit einer ungesättigten Verbindung sich unter Umwandlung von π- zu σ-Bindungen zu einem Ring vereinen. Zu diesen Reaktionen zählen: die Hydroborierung, die Ozonisierung und die Dihydroxylierung (siehe Kapitel 3.7.5).
! 3.16 a) bei der Umsetzung des Propens mit BH3 erhält man das Tripropylboran (CH3CH2CH2)B, welches mit H2O2 im alkalischen Medium zu 3 Äquivalenten Propanol und einem Äquivalent Borat umgesetzt wird Bei der Hydroborierung wird ein anti-MarkownikowProdukt gebildet (siehe Kapitel 3.7.5.1). b) Bei der Addition der Schwefelsäure an Propen erhält man als Produkt Isopropylsulfat (CH3)2CHOSO3H. Bei der Hydrolyse dieses Esters entsteht Isopropylalkohol. Die Addition erfolgt unter Bildung eines Markownikow-Produkts.
! 3.17 Alle Atome des Ethens befinden sich in einer Ebene.
Lösungen
155
! 3.18 Bei der Oxidation des Cyclohexens mit Wasserstoffperoxid in Essigsäure ist das Endprodukt ein trans-Diol (1R, 2R-Cyclohexan-1,2-diol und 1S, 2S-Cyclohexan-1,2-diol), während nach der Cycloaddition des Osmiumtetroxids an Cyclohexen und nachfolgender Hydrolyse des Osmiumtetroxid-Addukts das cis-Diol (cis-Cyclohexan-1,2-diol) entsteht (siehe Kap. 3.7.5.3 und 8.7.2).
! 3.19 Den Reaktionsmechanismus der radikalische Polymeriasation des Ethens kann man folgendermaßen beschreiben: Die Startreaktion beginnt mit der Bildung von Radikalen aus Peroxysäuren oder Dialkylperoxiden, die leicht in Radikale zerfallen. Diese Radikale reagieren mit dem Ethenmolekül unter Aufspaltung der π-Bindung wobei ein Alkylradikal entsteht. Die Kettenfortpflanzung erfolgt durch Reaktion des entstandenen Alkylradikals mit einem Ethenmolekül, wobei unter Kettenverlängerung wiederum ein Radikal entsteht, das mit einem weiteren Ethenmolekül reagiert, so dass die Kohlenstoffkette ständig um zwei Kohlenstoffatome bis zum Abbruch der Kettenfortpflanzung verlängert wird. Der Abbruch der Kettenfortpflanzung geschieht durch Rekombination zweier Radikale oder durch Disproportionierung (siehe Kap. 3.7.9).
! 3.20 Mesomere Effekte betreffen π-Bindungen und nichtbindende p-Elektronenpaare. In mesomeren Grenzformeln kann man durch Verschieben der die π-Bindungen bzw. freie Elektronenpaare veranschaulichenden Striche zu denkbaren fiktiven Strukturen gelangen, die nach entsprechender Wichtung eine Vorstellung über die tatsächliche Verteilung der Elektronendichte im Molekül ergeben. Werden in den mesomeren Grenzformeln im Mesomeriebereich p-Elektronenpaare oder π-Elektronen von der funktionellen Gruppe weggeschoben, so spricht man vom +M-Effekt, erfolgt dies aber in Richtung zur funktionellen Gruppe hin, so handelt es sich um einen –M-Effekt (siehe Kap. 3.9).
! 3.21 Bei der Diels-Alder-Reaktion des Butadiens mit cis-1,2-Dibromethen als Dienophil erhält man als Produkt das cis-4,5-Dibromcyclohexen. Die Diels-Alder-Reaktion verläuft stereospezifisch als syn-Addition, das heißt: waren die Substituenten im Dienophil in cis-Stellung, so werden sie sich nach der Reaktion im Ring ebenfalls in cis-Stelung befinden, waren sie hingegen im Dienophil in trans-Stellung werden sie auch im Reaktionsprodukt zueinander in trans-Stellung sein.
4 Alkine 4.1 Nomenklatur der Alkine Die Alkine, die auch als Acetylene bezeichnet werden, sind Kohlenwasserstoffe mit einer Dreifachbindung. Das einfachste Alkin, das Ethin, wird auch – hauptsächlich in der Technik – Acetylen genannt. Die Benennung der Alkine leitet sich nach der IUPAC-Nomenklatur von den Namen der entsprechenden Alkane mit gleicher Anzahl der Kohlenstoffatome ab, nur steht anstelle der Endung -an bei den Alkinen die Endsilbe -in. Die Stellung der Dreifachbindung in der Hauptkette wird durch eine Zahl ausgedrückt, die der Stammsilbe oder der Endsilbe -in vorangestellt wird (siehe auch Abschnitt 1.7.3). Die Stammsilbe für die Benennung der Hauptkette des Alkins ist identisch mit der des n-Alkans mit gleicher Anzahl der C-Atome. Man erhält sie indem man im Alkan die Endung -an wegläßt. Beispiele: H3C
CH2
C
C
CH
CH3
CH
CH3
C
C
H
CH3
2-Methyl-3-hexin
3-Cyclohexylbutin
4.2 Die Dreifachbindung und die Struktur der Alkine Die Dreifachbindung besteht aus einer σ- und zwei π-Bindungen. Das σ-Orbital, dessen Symmetrieachse mit der C–C-Verbindungsachse identisch ist, ist umgeben von zwei π-Orbitalen, die zueinander senkrecht stehen. Das einfachste Alkin ist das Acetylen H C C H . Im Acetylen befinden sich die beiden sp-hybridisierten C-Atome, ebenso wie die von ihnen gebundenen Wasserstoffatome, auf einer Geraden, wie dies in Bild 4.1 veranschaulicht wird (siehe auch Abschnitt 1.3.4.3). π-Orbitale im Ethin H H
H H
Seitenansicht
schräg von vorne
= Atomrumpf des Kohlenstoffes
Bild 4.1 Geometrie des Ethinmoleküls
A. Wollrab, Organische Chemie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-45144-7_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
156
4.3 Das Acetylen
157
4.3 Das Acetylen Das Acetylen (Ethin) gehört zu den wichtigen Ausgangsstoffen für verschiedene Synthesen. Es hatte in Deutschland bis zum Ende des zweiten Weltkrieges als Rohstoff für die chemische Industrie eine Schlüsselrolle. Die Gründe für den umfassenden Einsatz des Acetylens in der Industrie lagen zum einen in den vielfältigen synthetischen Möglichkeiten, die das Acetylen bietet, zum anderen darin, daß man für die großtechnische Acetylenherstellung auf heimische Rohstoffe zurückgreifen kann, nämlich auf Kalkstein und Kohle. Für die Produktion von Acetylen wird allerdings relativ viel Energie benötigt. Nach Kriegsende kam billiges Erdöl auf den Markt, und es erschien ökonomischer, als Ausgangsstoffe für die chemische Industrie anstelle des Acetylens die aus dem Erdöl beim Cracken in großer Menge anfallenden Rohstoffe Ethen und Propen einzusetzen. Das Acetylen könnte allerdings, mit knapper und teurer werdendem Erdöl, als industrielles Ausgangsmaterial wieder an Bedeutung gewinnen. Außer zu chemischen Synthesen wird Acetylen auch noch mit Sauerstoff zum autogenen Schweißen verwendet. Zur Vermeidung der Explosionsgefahr wird das Acetylen in Gasflaschen gehandelt, die mit Aceton getränktes Kieselgur enthalten. Das Acetylen wird in diesen Flaschen unter einem Druck von 15 bar in Aceton gelöst (Dissousgas).
4.3.1 Die großtechnische Herstellung des Acetylens a) Auf der Rohstoffbasis von Kalkstein und Kohle Bei Erhitzen von Kalkstein auf 900–1000°C (Kalkbrennen) entsteht Calciumoxid, auch gebrannter Kalk oder Branntkalk genannt. CaCO 3 ⎯⎯→ CaO + CO 2
Kohle wird durch trockene Destillation (Erhitzen unter Ausschluß der Luft) in Koks umgewandelt. In einem elektrischen Widerstandsofen (Carbidofen) wird Calciumoxid und Koks bei 2200°C in Calciumcarbid CaC2 umgewandelt. Calciumcarbid kristallisiert in einem ionischen NaCl-Gitter. Anstelle der Na+-Ionen muß man sich in diesem Gitter Ca2+-Ionen vorstellen und anstelle der Chlorid-Ionen Acetylid-Ionen (Ethinyl-Anionen). Das Calciumcarbid ist als Calciumsalz des Acetylens anzusehen. Bringt man Calciumcarbid in Wasser, so entsteht Acetylen. Das Wasser als relativ stärkere Säure verdrängt das Acetylen aus seinem Salz. Ca
2
C
C
+
2 H2O
H
C
C
H
+
Ca(OH)2
Acetylid-Ion
b) Aus Methan Heute wird Acetylen hauptsächlich aus Methan hergestellt. Im Lichtbogenverfahren wird das Methan im elektrischen Lichtbogen auf 1500°C erhitzt und die austretenden gasförmigen Produkte mit Flüssiggas (siehe Abschnitt 7.4) und mit Wasser abgeschreckt.
158
4 Alkine
2 CH4
1500 °C
H
C
C
+
H
3 H2
Das Abschrecken der Reaktionsprodukte ist notwendig, damit sich das schon gebildete Acetylen bei der hohen Temperatur nicht zersetzt. Das Acetylen wird mit selektiven Lösungsmitteln, z.B. Dimethylformamid, aus dem Gasgemisch herausgelöst. H
C
N(CH3)2
O
Dimethylformamid
Ein weiteres Verfahren zur Gewinnung von Acetylen aus Methan ist das Sachsse-Bartholomé-Verfahren. Man erhält bei der unvollständigen Verbrennung von Methan mit Sauerstoff und Abschrecken der Reaktionsprodukte mit Wasser etwa 9% Acetylen und Synthesegas (56 % H2 und 25 % CO). 2 CH4
+
3
1500 °C
/2 O2
H
C
C
+
H
3 H2O
4.4 Darstellung der Alkine 4.4.1 Darstellung von Ethin aus Calziumcarbid Tropft man Wasser auf Calziumcarbid entsteht Ethin (vgl. Abschnitt 4.3.1). CaC2 + H2O ⎯ ⎯→ H
C
C
H + CaO
4.4.2 Die Dehalogenierung von Tetrahalogenalkanen Sind die Bromatome im Tetrabromalkan an benachbarten C-Atomen gebunden, können sie mit Zinkstaub in Ethanol unter Reflux zum Alkin dehalogeniert werden.
R'
Br
Br
C
C
Br
Br
R''
+
2 Zn
R'
C
C
R''
+
2 ZnBr2
4.4.3 Dehydrohalogenierung vicinaler oder geminaler Dihalogenalkane Bei vicinalen Dihalogenalkanen (vicinus = der Nachbar) befinden sich die beiden Halogenatome an benachbarten C-Atomen, während in geminalen Dihalogeniden (lat. geminus = Zwilling) beide Halogenalkane an das gleiche C-Atom gebunden sind. Die Dehydrohalogenierung wird gewöhnlich mit Natriumamid NaNH2 in flüssigem Ammoniak durchgeführt. Das Zwischenprodukt ist ein Vinylhalogenid. Das Natriumamid ist eine starke Base, die für die Dehydrohalogenierung des Vinylhalogenids zum Alkin auch notwendig ist, denn es liegt eine Vinylgruppierung vor und diese erfordert für die Dehydrohalogenierung eine starke Base (siehe der Abschnitt 3.9.1.1).
4.5 Reaktionen der Alkine R
CH
CH
Br
Br
159
NaNH2 in fl. NH3 - HBr
R
R
CH
C
NaNH2 in fl. NH3 - HBr
R
R
C
C
R
Br
vicinales Dibromalkan
Vinylbromid
Alkin
Das für die Reaktion benötigte NaNH2 entsteht bei Einwirkung von metallischem Na auf flüssiges NH3. 2 Na
+
2 NH3
2 NaNH2
+
H2
Benutzt man zur Dehydrohalogenierung Natriumhydroxid in Ethanol bei höherer Temperatur, erfolgt eine Verschiebung der Dreifachbindung zur Mitte des Moleküls.
4.4.4 Die Alkylierung von Natriumacetylid Ist im Alkin am dreifach gebundenen C-Atom ein H-Atom gebunden, so bildet das Alkin mit Natriumamid in flüssigem Ammoniak ein Natriumsalz, das Natriumacetylid. Das AcetylidIon (Ethinyl-Anion) ist ein starkes Nukleophil und kann in einem Alkylhalogenid das Halogenatom ersetzen. Es entsteht auf diese Weise ein höheres Alkin. H
C
C
H
C
C
H
+
Na
CH2
fl. NH3
NH2
Br
H
H
C
C
C
+
CH2
R
Na
+
Na
C
Na
NH3
Br
R
Im Acetylen können auch beide Wasserstoffatome durch Na ersetzt werden, sodaß auf diesem Wege auch ein Dialkylacetylen synthetisiert werden kann. H
Na
C
C
H
C
C
+
Na
2 NaNH 2
+ 2R
fl. NH3
Br
Na
R
C
C
C
C
+ 2 NH3
Na
R
+
2 NaBr
4.5 Reaktionen der Alkine Die Alkine besitzen eine Dreifachbindung, und man darf deshalb annehmen, daß sie infolge der hohen Elektronendichte, ähnlich wie die Alkene, zu Additionsreaktionen befähigt sind. Erwartungsgemäß kann man Alkine katalytisch hydrieren, man kann sie mit Kaliumperman-
160
4 Alkine
ganatlösung oxidieren, es findet auch eine Hydroborierung statt und ebenso elektrophile Additionen. Man würde vermuten, daß Alkine infolge der großen Elektronendichte der Dreifachbindung eine besondere Neigung zu elektrophilen Additionen zeigen. In Wirklichkeit addieren sie jedoch elektrophile Reagenzien weniger leicht als Alkene. Erstaunlicher noch ist es, daß an Alkinen trotz der hohen Elektronendichte der Dreifachbindung nucleophile Additionsreaktionen erfolgen. Bei der nucleophilen Additionsreaktion findet im ersten Schritt die Anlagerung des Nukleophils an das Alkin statt, erst im zweiten Reaktionsschritt wird ein positives Teilchen addiert. Ein Nukleophil kann ein Anion, z.B. ein Cyanidion CN–, oder ein elektrisch neutrales Teilchen mit einem nichtbindenden Elektronenpaar sein, z.B. H2O. Man müßte eigentlich annehmen, daß negativ geladenene Nukleophile von der hohen negativen Ladungsdichte der Dreifachbindung abgestoßen werden, so daß die nucleophile Addition nicht stattfinden kann. Um zu klären, warum nucleophile Additionen an Alkinen doch erfolgen, bedarf es einer eingehenden Betrachtung der Bindungsverhältnisse und der Ladungsverteilung in der Dreifachbindung. Sie hilft uns auch zu verstehen, warum Alkine mit einem HAtom am sp-hybridisierten C-Atom relativ sauer sind. Die Bindungslänge der Kohlenstoff-Kohlenstoff-Dreifachbindung beträgt 120 pm und ist kürzer als die der Doppelbindung mit 135 pm. Eine Ursache dafür ist darin zu erblicken, daß die die C–C-σ-Bindung bildenden sp-Orbitale einen hohen s-Anteil (50% s- und 50% p-Anteil) haben. Das Überlappungsintegral (s. Bild 1.30) der sp-Hybridorbitale ist größer als das der sp2- und sp3-Orbitale. Da mit zunehmender Überlappung der Hybridorbitale die Elektronendichte zwischen den Kernen zunimmt, ist die Anziehungskraft zwischen negativen Elektronen und positiven Atomrümpfen größer und damit die Bindungslänge der Dreifachbindung kürzer. Hinzu kommt, daß die π-Elektronen von der relativ hohen positiven Ladung beider Atomrümpfe der sp-hybridisierten C-Atome auch stark angezogen werden und sich die Elektronendichte zwischen diesen C-Atomen damit zusätzlich erhöht. Die Konzentrierung der drei Bindungselektronenpaare in den Raum zwischen den beiden C-Atomen bringt es auch mit sich, daß die Kernladung der sp-hybridisierten C-Atome in bestimmten Richtungen weniger stark abgeschirmt ist als bei sp2-hybridisierten C-Atomen. Nucleophile Teilchen, die sich aus den von den Elektronen nicht abgeschirmten Raumrichtungen nähern, können deshalb mit der positiven Ladung der C-Atomrümpfe in Wechselwirkung treten, was die nucleophilen Additionen an Alkine erklärt. hohe negative Ladungsdichte
von negativer Ladung nicht abgeschirmte Richtungen der Umgebung der C-Atome
H
C
C
H
von negativer Ladung nicht abgeschirmte Richtungen der Umgebung der C-Atome
Die C–H-Bindung im Acetylen ist kürzer (105,7 pm) als im Ethen (107,9 pm) oder im Ethan (109,4 pm). Auch hier spielt wieder der hohe s-Anteil des mit dem s-Orbital des Wasserstoffatoms überlappenden sp-Hybridorbitals eine Rolle (mit zunehmenden s-Charakter ist der Überlappungsintegral größer und damit die Bindung kürzer, siehe Abschnitt 1.3.5). Die Bindungselektronen der C–H-σ-Bindung befinden sich nahe am sp-hybridisierten C-Atom
4.5 Reaktionen der Alkine
161
und werden von diesem stark angezogen. Hinzu kommt, daß die Bindungselektronenpaare der Dreifachbindung im Raum zwischen den beiden sp-hybridisierten C-Atomen konzentriert sind, so daß der Atomrupf des C-Atoms in Richtung zur C–H-σ-Bindung von diesen Elektronen nicht abgeschirmt ist. Die Anziehungskraft des positiv geladenen Atomrumpfes auf die Bindungselektronen der C–H-σ-Bindung kann deshalb verstärkt wirksam sein. Das sp-hybridisierte Kohlenstoffatom zeigt infolgedessen eine relativ höhere Elektronegativität im Vergleich mit sp2- und sp3-hybridisierten Kohlenstoffatomen. Daraus resultiert eine so hohe Bindungspolarität der C–H-σ-Bindung, daß die Dissoziation zum Acetylidion und Proton erfolgen kann. H
C
C
B
H
H
C
+ H
C
B
Die Dissoziation des Acetylenmoleküls wird auch dadurch begünstigt, daß das dabei entstehende Acetylidanion relativ stabil ist. Das sp-hybridisierte C-Atom hat im Vergleich zum sp2- und sp3-hybridisierten C-Atom eine größere Elektronegativität und bindet das freie Elektronenpaar des Carbanions stärker. Mit Zunahme des s-Anteils nimmt infolgedessen auch die Stabilität des Carbanions zu: H
H H3C
weniger stabil als
C
H2C
weniger stabil als
C
H
C
C
H
sp3-hybridisiert
sp2-hybridisiert
sp-hybridisiert
4.5.1 Saure Eigenschaften der Alkine Acetylen und monosubstituierte Acetylene haben schwach saure Eigenschaften, d.h. sie können ein Proton abspalten. H
C
C
B
H
H
C
C
+ H
B
Acetylen ist eine schwächere Säure als Wasser und eine stärkere Säure als flüssiges Ammoniak. 4.5.1.1 Darstellung von Acetyliden
Ein Alkin, das an einem der dreifachgebundenen C-Atome ein Wasserstoffatom bindet, kann als schwache Säure Salze bilden. Die Salze bezeichnet man als Acetylide (Acetylenide) oder auch als Carbide, z.B. Calciumcarbid. Das Natriumacetylid kann durch Reaktion des Alkins mit Natriumamid NaNH2 in flüssigem Ammoniak synthetisiert werden. H
C
C
H
+
Na NH2
flüss. NH3
H
C
C
Na
+
NH3
Natriumacetylid ist in Wasser nicht beständig. Das Wasser verdrängt als stärkere Säure das Acetylen aus seinen Salzen.
162
H
4 Alkine
C
C
+
Na
H2O
H
C
C
+
H
NaOH
Zum Unterschied von Acetyliden der Alkali- und Erdalkalimetalle, in welchen die Kohlenstoff-Metall-Bindung Ionencharakter hat, liegt bei Schwermetall-Acetyliden (Cu, Ag, Hg) in der Kohlenstoff-Metall-Bindung ein hoher kovalenter Anteil vor. Letztere sind deshalb auch in Wasser beständig. Man stellt sie her, indem man in die ammoniakalische Lösung des Schwermetallnitrats Acetylen einleitet. Die Cu-, Ag-, bzw. Hg-Acetylide fallen in der wäßrigen Lösung als Niederschlag aus. H
C
C
H
+ 2 [Ag(NH3)2]
NO3
CAg + 2 NH4NO3 + 2 NH3
AgC
Schwermetallacetylide sind in trockenem Zustand explosiv. Sie explodieren sowohl auf Druck als auch bei Erhitzen. 4.5.1.2 Reaktionen mit Grignard-Reagens
Das Grignard-Reagens kann mit all den Verbindungen reagieren, die saure Eigenschaften haben, z.B. H2O und CH3OH, wobei ein Alkan entsteht. Auch mit Alkinen, die am Kohlenstoffatom der Dreifachbindung ein Wasserstoffatom gebunden haben und ein Proton abspalten können, reagiert das Grignard-Reagens entsprechend. R
C
C
H
+
Alkin
R'
Mg
X
R
Grignard-Reagens
C
C
Mg
X
+
R'
Alkinyl-Grignard-Reagens
H
Alkan
4.5.2 Reaktionen mit Alkinylanionen als Nukleophil Nach Abspaltung des Protons entsteht aus dem Alkin ein Alkinylanion (Acetylidanion). R
C
C
R
H
C
+
C
H
Alkinylanion
Das Alkinylanion verfügt über ein freies Elektronenpaar. Es kann an einem positiven C-Atom oder einem C-Atom mit positiver Teilladung nucleophil angreifen und mit dem freien Elektronenpaar eine C–C-Verknüpfung herstellen. 4.5.2.1 Die Alkylierung von Alkinylanionen
Das nucleophile Alkinylanion kann in Alkylhalogeniden das Halogen ersetzen. R
C
C Na
CH2 R'
Br
R
C
C
CH2 R'
+
Na
Br
4.5 Reaktionen der Alkine
163
Man kann von einer Alkylierung sprechen, weil mit dieser Reaktion ein Alkylrest in das Alkin eingeführt wird. 4.5.2.2 Die Ethinylierung
Acetylen oder seine Monosubstitutionsprodukte reagieren bei 100°C und 15 bar mit Aldehyden oder Ketonen zu Alkinolen. Die Reaktion wird eingeleitet mit Kupferacetylid Cu2C2 als Katalysator. Das Zwischenprodukt wird mit zugeführtem Acetylen unter Regenerierung des Kupferacetylids zum Alkinol umgesetzt. Cu
O Cu
C
C
C
Cu
Cu
R
H
C
O C
H
C
C
Alkinol
H
C
C
C
H
H
R O
H
C
H
+
Cu
C
C
Cu
R
Acetylen kann mit Aldehyden oder Ketonen auch zum Alkindiol umgesetzt werden: R
H C
R Cu
C
C
Cu
O
H
R C
O
O Cu
H R
C
H
C
C
R C
H
H C
C H
C O
Cu
H C
C
C
O
+
R
Cu
C
C
Cu
O H
H
Alkindiol
4.5.2.3 Reaktionen von Alkinyl-Grignard-Reagens mit Carbonylverbindungen
Das Alkinyl-Grignard-Reagens wird an die Carbonylgruppe der Aldehyde bzw. Ketone addiert, wobei Alkinole entstehen. R CH3
H3C C O
C C MgX
CH3 H3C
C O
C
C
MgX
R
HX
CH3 H3C
C
C
O
H
C
R
+
MgX2
164
4 Alkine
4.5.3 Die Oligomerisierung der Alkine Von einer Oligomerisierung (griech. oligos = wenig, klein; griech. meros = Teil) spricht man dann, wenn sich nur einige gleiche Moleküle zusammenlagern (zum Unterschied zur Polymerisierung, bei der an der Reaktion viele Moleküle beteiligt sind). 4.5.3.1 Die Dimerisierung des Acetylens
In Gegenwart von Kupfer-(I)-chlorid und Ammoniumchlorid dimerisiert Acetylen zum Vinylacetylen. Es handelt sich hier um eine nucleophile Addition des Acetylidions an Acetylen. C
H H
C
C
C
H
H
CuCl, NH4Cl
H
C C
C
H
C
H
H
Vinylacetylen
An die Dreifachbindung des Vinylacetylens kann unter Katalyse von CuCl und NH4Cl Chlorwasserstoff addiert werden, wobei das Chloropren (2-Chlor-1,3-butadien) entsteht. Dieses ist das Monomer des Polychloroprens, eines synthetischen Kautschuks, der unter dem Handelsnamen Neopren bekannt ist. Cl H
C C
C
H
H
+
C
HCl
H
CuCl, NH4Cl
C H
H
H C
C
C H
H
Chloropren (2-Chlor-1,3-butadien)
4.5.3.2 Die Cyclotrimerisierung der Alkine
Leitet man Alkine durch erhitzte, mit Nickel- oder Cobaltkatalysatoren ausgekleidete Röhren, so erfolgt eine Cyclotrimerisierung, wobei aus Acetylen Benzol und aus höheren Alkinen alkylsubstituierte Benzolderivate entstehen. HC HC
CH
CH
CH
Δ,
Ni- und Co-Katalysator
Benzol
CH R
HC RC
CR
CH
CH
Δ,
Ni- und Co-Katalysator
1,3,5-Trialkylbenzol
CR R
R R
RC RC
CR
CR
CR
Δ,
Ni- und Co-Katalysator
R
R
Hexaalkylbenzol
CR R
R R
4.5 Reaktionen der Alkine
165
4.5.3.3 Die Cyclotetramerisierung der Alkine
Mit Nickelcyanid als Katalysator gelingt in Tetrahydrofuran als Lösungsmittel bei einem Überdruck von 15–20 bar die Tetramerisierung des Acetylens zu Cyclooctatetraen in relativ hoher Ausbeute. H HC
CH
H C
H C
C H
C H
HC
CH
H C
H
Ni(CN)2, 15-20 bar
70 °C
H
C
C
C
C
C C
H
H
C
H
H
Cyclooctatetraen
4.5.4 Oxidationsreaktionen Mit Kaliumpermanganat werden disubstituierte Acetylene zunächst zu 1,2-Diketonen oxidiert. Die Oxidation geht aber – insbesondere bei Erwärmen der Lösung – weiter, und es erfolgt eine Spaltung der Kette, wobei die entsprechenden Carbonsäuren entstehen.
R
C
C
R'
KMnO4
R
O
O
C
C
R'
KMnO4, 100 °C
R
COOH + HOOC
R'
Gleiche Oxidationsprodukte erhält man bei der Ozonisierung der Alkine und nachfolgender Hydrolyse. R
C
C
O3
R'
R
COOH
+
HOOC
R'
Die nach dem oxidativen Abbau erhaltenen Carbonsäuren geben Aufschluß darüber, an welcher Stelle im Alkin sich die Dreifachbindung befindet. 4.5.4.1 Die oxidative Kopplungsreaktion endständiger Alkine
Endständige Alkine werden in einer wäßrigen CuCl- und NH4Cl-Lösung in einer Sauerstoffatmosphäre oxidativ zum Diin gekoppelt. Diese Reaktion wird als Glaser-Reaktion bezeichnet. 2
R
C
C
H
+ 1 / 2 O2
CuCl und NH4Cl
R
C
C
C
C
R + H2O
166
4 Alkine
4.5.5 Reduktion der Alkine 4.5.5.1 Die katalytische Hydrierung von Alkinen
Die katalytische Hydrierung der Alkine mit Pt oder Pd als Katalysatoren führt im ersten Reaktionsschritt zum Alken, dieses wird aber bis zum Alkan weiterhydriert. R
C
C
R
H2 / Pt
R
R C
H2 / Pt
C
H
H
H
R
R
C
C
H
H
H
Setzt man jedoch bei der katalytischen Hydrierung den Lindlar-Katalysator ein (siehe Abschnitt 3.6), bleibt die Reaktion auf der Stufe des Alkens stehen. Bei disubstituierten Acetylenen erhält man bei der katalytischen Hydrierung mit Lindlar-Katalysator ausschließlich cis-Alkene. R
C
C
R
R
H2 / Lindlar-Katalysator
R C
C
H
H
cis-Alken
4.5.5.2 Die Reduktion von Alkinen mit metallischem Natrium in flüssigem NH3
Die Reduktion von Alkinen mit metallischem Natrium in flüssigem Ammoniak führt zum Alken. Disubstituierte Alkine ergeben bei diesen Reaktionsbedingungen ein trans-Alken. R
C
C
R
Na in flüss. Ammoniak
R
H C
C
H R trans-Alken
Mit Natrium in flüssigem Ammoniak erfolgt zunächst die Übertragung eines Elektrons vom Natrium an das π-System der Dreifachbindung, und es entsteht ein Radikal-Anion. R
C
C
R
R
C
C
R
+
C
Na
C
+
Na
R R Radikal-Anion
Das stark basische Radikalanion wird vom Ammoniak unter Bildung eines Alkenylradikals protoniert. H C R
NH2
H
+
C R
Na
C
C
R R Alkenylradikal
Na
NH2
4.5 Reaktionen der Alkine
167
Das Alkenylradikal mit den beiden Alkylresten in cis-Stellung isomerisiert in die stabilere trans-Form. H C R
R
Isomerisierung
C
H C
C
R
R
cis-Alkenylradikal
trans-Alkenylradikal
Die Reaktion wird schließlich mit einer zweiten Übertragung eines Elektrons und einer Protonierung abgeschlossen. R C
Na
R
H C
H C
Na R
H2N
H
Alkenyl-Anion R
R
Na
C
H C
R Na
C
H2 N
R
+
H C
H
C R
Bei der Protonierung tritt wiederum das NH3 als Protonenspender auf. Das entstandene transAlken wird bei diesen Reaktionsbedingungen nicht weiterreduziert.
4.5.6 Additionen an Alkine Reagenzien, die bereits bei der Addition an die C=C-Doppelbindung erwähnt wurden, können ebenso an die Dreifachbindung addiert werden, wobei auch der Reaktionsmechanismus dieser Reaktionen ähnlich ist. Zu diesen schon bei den Alkenen erwähnten Additionsreaktionen zählen die katalytische Reduktion, die Hydroborierung, die Hydrocarbonylierung und elektrophile Additionen, z.B. die Additionsreaktionen mit Br2 oder HBr. An Alkine können aber außerdem noch nucleophile Additionen erfolgen. Beispiele dafür sind die Hydratisierung und Vinylierungsreaktionen. 4.5.6.1 Die Hydroborierung
Die Hydroborierung der Alkine erfolgt ähnlich wie bei den Alkenen über einen cyclischen Übergangszustand (siehe Abschnitt 3.7.5.1), der einen syn-Mechanismus bedingt (Anlagerung von H und BH2 von der gleichen Seite an die Doppelbindung). Mit Boran führt die Reaktion zur Hydroborierung beider π-Bindungen. Will man ein Alkenylboran erhalten, so setzt man für die Reaktion ein Dialkylboran ein, z.B. Dicyclohexylboran (C6H11)2BH. Bei terminalen Alkinen wird das Bor an das endständige Kohlenstoffatom des Alkins addiert. Dialkylsubstituierte Acetylene reagieren mit Dialkylboranen auf folgende Weise: H R
C
B(C6H11)2 C
R
H
B(C6H11)2 C
R
C R
168
4 Alkine
Bei der Hydrolyse des entstandenen Produkts mit Essigsäure erhält man ein cis-Alken. H
H
B(C6H11)2 C
CH3COOH
C
R
H C
C
R
R
R
Erfolgt eine oxidative Hydrolyse (siehe Abschnitt 3.7.5.1), so entsteht zunächst das entsprechende Enol, das mit der Ketoform durch die Keto-Enol-Tautomerie in tautomerem Gleichgewicht steht. H
H
B(C6H11)2 C
H2O2 / OH
C
C R
R
R
H
OH C
H R
C
O C R
R
Enol
Keton
Unter Tautomerie (griech. tauto = das Gleiche; griech. meros = Teil) versteht man das Auftreten zweier verschiedener Verbindungen, wobei sich eine in die andere unter Verschiebung von Bindungen und simultaner Wanderung eines Protons umwandeln können und beide Isomere (Tautomere) miteinander im Gleichgewicht stehen. Die Isomere unterscheiden sich im vorliegenden Falle durch die Stellung des Wasserstoffatoms im Molekül (O–H und C–H) und die Lage einer Doppelbindung. Die basenkatalysierte Tautomerisierung vom Enol zum Keton erfolgt folgendermaßen: H
O C
H
H
C
R
O C
R
H
O H
O
H
O C
H R
R
H
O C
R
R
O C
R
C
H
C R
H
+
C R
H
O H
C R
H2O
C R
O C R
4.5.6.2 Die Hydrocarbonylierung
Ähnlich wie bei den Alkenen (siehe Abschnitt 3.7.4.5) kann auch bei den Alkinen die Hydrocarbonylierung erfolgen. Dies geschieht unter Druck und in Gegenwart von Verbindungen mit acidem H-Atom, z.B. Wasser oder Alkohol und mit Nickeltetracarbonyl Ni(CO)4 als Katalysator. Bei dieser Reaktion entsteht aus Acetylen, Kohlenstoffmonoxid und Wasser die Acrylsäure. Setzt man anstelle von Wasser Alkohole bei dieser Reaktion ein, erhält man die entsprechenden Acrylsäureester.
4.5 Reaktionen der Alkine H
C
C
H
+
169
CO
+
Ni(CO)4 Druck, Δ
H2O
H2C
CH
COOH
Acrylsäure
H
C
C
H
+
CO
+
Ni(CO)4 Druck, Δ
HOR
H2C
CH
COOR
Acrylsäureester
4.5.6.3 Die Halogenaddition an Alkine
Die elektrophile Halogenaddition an ein dialkylsubstituiertes Acetylen führt zum trans-Dibromalken. Liegt Brom in Überschuß vor, erfolgt eine Addition an das vicinale Dibromalken, es wird das Tetrabromalkan gebildet. R
Br R
C
C
Br2
R
C
Br2
C
R
R
Br
Br
Br
C
C
Br
Br
R
4.5.6.4 Die Addition von Halogenwasserstoffen an Alkine
Bei der elektrophilen Addition von Halogenwasserstoff an ein Alkin wird zunächst unter Bildung eines Alkenylkations ein Proton angelagert, worauf im zweiten Reaktionsschritt das Halogenidion X– addiert wird. Die Addition des Halogenwasserstoffes erfolgt nach der Markownikow-Regel. Das entstandene Halogenalken kann zum Dihalogenalkan weiterreagieren. X R
C
C
H
HX
H C
R
HX
C
R
H
X
H
C
C
X
H
H
X = Br, I
Bei der Addition an ein dialkylsubstituiertes Acetylen entsteht zunächst vornehmlich das (Z)-Halogenalken (Z/E-Nomenklatur siehe Abschnitt 3.5.1). R
H R
C
C
R
+
HX
C R
C X
(Z)-Halogenalken
Die weitere Addition von HX an das Halogenalken erfolgt nach der Markownikow-Regel.
170
4 Alkine
4.5.7 Nucleophile Additionen an die Dreifachbindung der Alkine 4.5.7.1 Die Hydratisierung
Bei mäßigem Erwärmen einer Quecksilber-(II)-Sulfatlösung in verd. Schwefelsäure erfolgt nach Einbringen des Alkins in die Lösung die nucleophile Addition von Wasser an die Dreifachbindung. Die reversible Komplexbildung mit dem Hg2+-Ion erleichtert den nucleophilen Angriff des Wassermoleküls. H O H
C
C
Hg2
H
H
C
Ethin
C
H
H
- Hg2
Hg2
H
H O C H
H
H
C
O
H C
C
H
H
H
Vinylalkohol (Ethenol)
Der Vinylalkohol steht durch die säurekatalysierte Keto-Enol-Tautomerie mit dem Acetaldehyd im chemischen Gleichgewicht. Acetaldehyd ist das Hauptprodukt. H
O
H
H C
O C
C
H
H
H
H
C
H
H
O
H
C
H
H
C
H
H
O
H
C
C
H
H
Vinylalkohol (Enol-Form)
H
H
Acetaldehyd (Keto-Form)
Bei der Hydratisierung von Ethin entsteht Acetaldehyd, bei allen anderen Alkinen entstehen Ketone,
R
C
C
H
+
H2O
H3O / Hg2
,100 °C
HO
O
H C
C
C
R
H
Enol
R
CH3
Keton
4.5.7.2 Die Addition von HCN an Acetylen
Cyanwasserstoff (Blausäure) kann in einer mit CuCl/NH4Cl-katalysierten nucleophilen Addition an Acetylen bei 80–90°C unter Bildung von Acrylnitril angelagert werden.
4.5 Reaktionen der Alkine
N
171
C
N
H
C
C
C
H
C
C
H
N
H
C
H C
H
C
H
Acrylnitril (Propennitril)
H
4.5.7.3 Die Vinylierung
Bei der Vinylierung entstehen aus Alkinen Vinylderivate. Die Vinylierung basiert auf der Umsetzung eines Alkins mit einem Nukleophil, z.B. mit einem Alkoholation R–O– oder einem Carbonsäureanion R–COO–. Im weiteren Reaktionsschritt wird an das Zwischenprodukt ein Proton angelagert. Auf diese Weise entsteht z.B. aus Ethanol und Acetylen bei Druck und 180°C mit Ethanolationen als Katalysator der Ethylvinylether. In dieser Reaktion dient im zweiten Reaktionsschritt Ethanol als Protonenspender. Durch Abspaltung des Protons aus Ethanol wird das Ethanolation wieder regeneriert. CH3CH2
O
O H
CH3CH2 C
C
O
H
C H
H
C
O
CH2CH3
CH3CH2
O
H C
C H
H
H
CH2CH3
Ethylvinylether
Ähnlich reagieren Carbonsäuren in Gegenwart ihrer Zinksalze bei einem Druck von 10–15 bar und einer Temperatur von 155°C mit Acetylen zum entsprechenden Vinylester. R
COOH
+
H
C
C
H
(R
COO
)2 Zn2
, 15 bar, 155 °C
R
H
COO C H
C H
Vinylester
172
4 Alkine
Übungsaufgaben ? 4.1 Wie reagiert Calciumcarbid mit Wasser? Schreiben Sie die Reaktionsgleichung auf.
? 4.2 Beschreiben Sie die Darstellung von Alkaliacetyliden, die Herstellung von Calciumacetylid und die Darstellung von Cu-, Ag- oder Hg-Acetyliden. Welche Unterschiede in den Eigenschaften kann man zwischen Alkali- und Schwermetallacetyliden feststellen?
? 4.3 Beschreiben Sie, wie man ausgehend von Ethin das But-2-in-1,4-diol und aus diesem Buta1,3-dien herstellen kann.
? 4.4 Propinyllithium läßt man mit Bromethan in Tetrahydrofuran als Lösungsmittel reagieren. Schreiben Sie die Reaktionsgleichung auf.
? 4.5 Welche Unterschiede zwischen Alkenen und Alkinen beobachtet man bei Additionsreaktionen?
? 4.6 Welches Produkt erhält man bei der nucleophilen Addition von Blausäure an Ethin?
? 4.7 Acetylen wird in Anwesenheit von HgSO4 unter Erwärmen in verdünnte Schwefelsäure eingeleitet. Schreiben Sie die Reaktionsgleichungen auf und benennen Sie das Endprodukt.
Lösungen
173
Lösungen ! 4.1 Bei der Reaktion des Calziumcarbids mit einem Äquivalent Wasser entsteht Acetylen (Ethin) und Calziumoxid, mit einem Überschuß an Wasser wird anstelle des Calziumoxids Calziumhydroxid (Kalkmilch) Ca(OH)2 gebildet. C
C
Ca2+ +
H2O
HC
CH + CaO
C
C
Ca2+ + 2 H2O
HC
CH + Ca(OH)2
! 4.2 Ist an dem sp-hybridisierten Kohlenstoff der Alkine ein Wasserstoffatom gebunden, so haben die Alkine saure Eigenschaften und können Salze bilden. Das Natrium-Salz der Alkine, das Natriumacetylid, ist in Wasser nicht beständig. Zu dessen Synthese läßt man Acetylen mit NaNH2 in Flüssigem Ammoniak reagieren. Calciumacetylid (Calciumcarbid) wird aus Calciumoxid und Koks im elektrischen Widerstandsofen bei 2200°C großtechnisch hergestellt. Zum Unterschied von Acetyliden der Alkali und Erdalkalimetalle, in welchen die Kohlenstoff-Metall-Bindung Ionencharakter hat, liegt bei SchwermetallAcetyliden (Cu,Ag,Hg) in der Kohlenstoff-Metall-Bindung ein hoher kovalenter Anteil vor. Man kann sie auch in wäßriger Lösung synthetisieren wobei sie als Niederschlag aus der Lösung ausfallen. Die Cu- Ag- bzw. Hg-Acetylide stellt man her, indem man die Alkine mit dem entsprechenden Schwermetallnitrat in ammoniakalischer Lösung reagieren läßt. Zu beachten ist, daß die Schwermetall-Acetylide in trockenem Zustand explosiv sind. Sie explodieren sowohl auf Druck als auch bei Erhitzen.
174
4 Alkine
! 4.3 Acetylen kann bei 100°C und 15 bar Druck und Kupferacetylid als Katalysator mit Formaldehyd zu But-2-in-1,4-diol umgesetzt werden. Dieses wird katalytisch hydriert und das 1,4Butandiol dehydratisiert, wobei 1,3-Butadien entsteht (Reppe-Verfahren). Anmerkung: durch Polymerisierung von Butadien, das man auf diese Weise gewonnen hat, hat man im 2. Weltkrieg eine kautschukartige Substanz, das Buna hergestellt. 100 °C, 15 bar Cu2C2
H H
C
H
C
+
O
H2 C
H
H 2C
C
CH2
C
H 2C OH
H2 C
H2 C
Katalysator + 2 H2
CH2
C
H2 C
H2C OH H
H2 C
C H
C H
CH2 OH
OH
OH
OH
C
H2 C
CH2 OH
CH2
+ 2 H 2O
OH
! 4.4 Läßt man Propinyllithium mit Bromethan in Tetrahydrofuran als Lösungsmittel reagieren, wird in einer SN-Reaktion das Brom durch den Propinylrest ersetzt (Alkylierung von Alkinen siehe Kap. 4.4.4, SN-Reaktionen siehe Kap. 9.5)
Anmerkung: THF = Tetrahydrofuran
! 4.5 Die elektrophile Addition erfolgt sowohl bei Alkenen als auch bei Alkinen, aber bei Alkinen langsamer. Zum Unterschied von den Alkenen können aber an Alkinen auch nucleophile Additionen stattfinden. Bei einer nucleophilen Addition ist es das nucleophile Teilchen, das zuerst im die Reaktion bestimmenden Schritt addiert wird.
Lösungen
175
! 4.6 Bei der nucleophilen Addition von Blausäure HCN an Ethin erhält man als Produkt Acrylnitril (Propennitril): C
H H
C
C
H
+
H
C
N
C H
N
C H
! 4.7 Bei Einleiten von Acetylen (Ethin) in verdünnte Schwefelsäure, in der sich Quecksilber-(II)Sulfat als Katalysator befindet, wird bei der Reaktion zunächst Vinylalkohol (Ethenol) gebildet. Dieser steht mit dem Acetaldehyd durch die säurekatalysierte Keto-Enol-Tautomerie im Reaktionsgleichgewicht, so daß Acetaldehyd (Ethanal) das Hauptprodukt der Reaktion ist. H
C
C
+
H 2O
H
H / Hg2
OH H2 C
C H
Keto-Enol-Tautomerie
O H3 C
C H
5 Alicyclische Verbindungen Cycloalkane (griech. Kyklos = der Ring) sind Kohlenwasserstoffe, in welchen die Kohlenstoffatome nur mit Einfachbindungen und ringförmig miteinander verknüpft sind. Cycloalkane sowie deren Derivate und auch Cycloalkene und Cycloalkine werden unter dem Begriff alicyclische Verbindungen zusammengefaßt (abgeleitet von aliphatisch und cyclisch). Alicyclische und ebenso aromatische Verbindungen (siehe Kapitel 6) gehören zu den Carbocyclen. Diese werden definiert als cyclische Verbindungen, deren Ring ausschließlich aus Kohlenstoffatomen aufgebaut ist. In Heterocyclen (siehe Abschnitt 12.5 und Kapitel 25) hingegen sind nicht nur Kohlenstoffatome Bestandteil des Ringes, sondern auch andere Atome, z.B. Sauerstoff-, Stickstoff- oder Schwefelatome, die man in diesem Zusammenhang als Heteroatome bezeichnet (griech. heteros = das Andere).
5.1 Nomenklatur Cycloalkane werden, der Anzahl der C-Atome im Ring entsprechend, nach den n-Alkanen benannt und mit dem Präfix „Cyclo-“ gekennzeichnet: H
H
H
H
C
C
H
H
C
C
H
H C
H
H C
C
H
Cyclopropan
H
H
H
Cyclobutan
H H
H
H
C
C
H H
C
C
H
C
H H
H H
H
Cyclopentan
H C
C
H H
C
C
C C
H H
H H H H
H
Cyclohexan
Die Formeln der Cycloalkane werden häufig in verkürzter Schreibweise dargestellt, bei der das ringförmige Kohlenstoffskelett als entsprechendes Vieleck gezeichnet wird, wobei man sich vorstellen muß, daß in jeder Ecke dieses Vielecks eine Methylengruppe steht. Für die Kohlenstoffatome im Ring werden das Symbol C, ebenso wie das Symbol H für die an sie gebundenen Wasserstoffatome und die entsprechenden C–H-Bindungen nicht geschrieben:
Cyclopropan
Cyclobutan
Cyclopentan
Cyclohexan
Bei alicyclischen Verbindungen werden die Seitenketten und funktionellen Gruppen voll ausgeschrieben, Seitenketten werden aber auch oft nur in Form von Strichen (siehe Abschnitt 1.6) geschrieben. A. Wollrab, Organische Chemie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-45144-7_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
176
5.2 Physikalische Eigenschaften der Cycloalkane
177
CH3
Cl OH
Methylcyclobutan
O
Cyclopentanol
Cyclopentanon
Chlorcyclohexan (Cyclohexylchlorid)
Cyclohexen
Befinden sich im Molekül zwei oder mehrere Substituenten, beginnt man die Durchnumerierung der Kohlenstoffatome des Ringes mit dem C-Atom, das die Hauptgruppe (funktionelle Gruppe der höchsten Priorität, siehe Abschnitt 1.7.3) trägt, und numeriert weiter in Richtung zum nächstgelegenen Substituenten, z.B.: O
4 H3C
Cl
3
HO
5 1
2
3
CH3 CH3
O
2 3-Methylcyclopentanon
2-Chlorcyclohexanon
1
3,3-Dimethylcyclohexanol
Liegt eine ringförmige Verbindung mit einer Seitenkette vor, und befindet sich in der letzteren die Hauptgruppe (siehe Abschnitt 1.7.3), so wird die offene Kette als Hauptkette betrachtet, der Ring als Substituent, z.B.: CH2
C
CH3
O
1-Cyclohexylpropan-2-on
5.2 Physikalische Eigenschaften der Cycloalkane Die Cycloalkane sind unpolare Verbindungen und haben deshalb ähnliche physikalische Eigenschaften wie die Alkane: sie sind hydrophob, mischen sich nicht mit Wasser und lösen nur unpolare oder schwach polare Stoffe. Ihre Schmelz- und Siedetemperaturen sind höher als die der n-Alkane mit gleicher Anzahl der C-Atome. Tabelle 5.1 Schmelz-, Siedetemperaturen und Dichten einiger Cycloalkane.
Name Cyclopropan Cyclobutan Cyclopentan Cyclohexan
Schmelztemperatur [°C] Siedetemperatur [°C] Dichte [g/mL] – 127 – 32,9 0,6880 – 80 11 0,7038 –94 49,5 0,7460 6,4 80,8 0,7781
178
5 Alicyclische Verbindungen
5.3 Der Cyclopropan- und Cyclobutanring Geht man von der Vorstellung aus, daß die σ-Bindungen gerade und nicht gekrümmt sind, so müßte der dreigliedrigen Ring des Cyclopropans einen Bindungswinkel von 60° haben, während für den viergliedrigen ebenen Ring des Cyclobutans ein Bindungswinkel von 90° anzunehmen wäre: H
C
C H
H
C
C 90°
C
C
H H
H
H
H
H C 60°
H
H
H
H H
Demgegenüber ist zu erwägen, daß der ideale Bindungswinkel zwischen drei sp3-hybridisierten Kohlenstoffatomen (im sp3-hybridisierten C-Atom sind die Orbitale in die Ecken eines fiktiven Tetraeders gerichtet) 109°28' beträgt. Die C–C-Verbindungslinie liegt hierbei auf der gleichen Geraden wie die Symmetrieachsen der überlappenden sp3-Orbitale, was ihre maximale Überlappung gewährleistet. Erfolgt die Überlappung der sp3-Orbitale seitlich der C–C-Verbindungslinie, so beträgt der Bindungswinkel zwischen den drei C-Atomen im Cyclopropan keineswegs 60°, sondern 104°, was dem idealen tetraedrischen Bindungswinkel von 109°28' schon näher kommt. Im Cyclobutan ist die Abweichung vom idealen Bindungswinkel noch kleiner. Die Überlappung im Cyclopropan und Cyclobutan ist hierbei allerdings etwas geringer als jene, die bei normalen C–C-σ-Bindungen vorliegt, z.B. bei den Alkanen, welche tetraedrische Bindungswinkel haben. Die seitlich von der C–C-Verbindungslinie erfolgte Überlappung zweier sp3-Orbitale führt zu einer C–C-σ-Bindung, die wegen ihrer etwas gekrümmten Form auch „Bananenbindung“ genannt wird. Sie ist, verglichen mit anderen C–C-σ-Bindungen, infolge der geringeren Überlappung schwächer und kann deshalb auch leichter gespalten werden.
C C
109°28'
C
= C-C-Verbindungslinie = Symmetrieachse der sp3-Orbitale
Bild 5.1 Überlappung der sp3-Orbitale bei einem Bindungswinkel von 109°28'
5.3 Der Cyclopropan- und Cyclobutanring
C
179
C
C
C
C
104° C
C
Überlappung der sp3-Orbitale a) im Cyclopropan
b) im Cyclobutan
= C-C-Verbindungslinie = Symmetrieachse der sp3-Orbitale Bild 5.2
„Bananenbindung“ im Cyclopropan- und Cyclobutanring
Die Abweichung vom tetraedrischen Bindungswinkel verursacht im Cyclopropan- und Cyclobutanring eine Winkelspannung. Diese durch die Abweichung vom tetraedrischen Bindungswinkel in Drei- und Vierringen verursachte Spannung wird auch als Baeyer-Spannung bezeichnet. Im Cyclopropanmolekül sind die Wasserstoffatome ekliptisch angeordnet, so daß (siehe Abschnitt 2.4.1) eine Pitzer-Spannung im Molekül besteht. Das Cyclobutanmolekül ist zur Verminderung der Pitzer-Spannung nicht planar, sondern um 26° aus der Ebene heraus gefaltet.
C C
26°
C C Kohlenstoffskelett des Cyclobutans Bild 5.3
Faltstruktur des Kohlenstoffskeletts im Cyclobutan
180
5 Alicyclische Verbindungen
5.4 Der Cyclopentanring In einem regelmäßigen Fünfeck betragen die Innenwinkel 108°. Zu einem Bindungswinkel von 109°28', dem idealen Bindungswinkel sp3-hybridisierter Kohlenstoffatome, ist der Unterschied klein. Demnach wäre im planaren Cyclopentanring nur eine geringe Winkel-Spannung vorhanden. Es wäre jedoch eine beträchtliche Pitzer-Spannung zu erwarten, da alle Wasserstoffatome bei dieser planaren Anordnung der Kohlenstoffatome im Cyclopentan ekliptisch zueinanderstehen. Die Pitzer-Spannung kann durch ein mäßiges Ausdrehen der Kohlenstoffatome aus der Ebene wesentlich verringert werden. Das Cyclopentan liegt deshalb als Briefumschlag-Konformer (envelope form) vor, wobei vier C-Atome in einer Ebene liegen und das fünfte sich außerhalb der Ebene befindet. Dieses Konformer ist nicht starr; in raschem Wechsel schert jeweils ein anderes C-Atom des Ringes aus der Ebene aus.
C C C C
C
Kohlenstoffskelett des Cyclopentans Bild 5.4
geöffneter Briefumschlag
Briefumschlag-Konformeres des Cyclopentans
5.5 Der Cyclohexanring In einem Cyclohexanring, in dem alle Kohlenstoffatome in einer Ebene liegen, würden die C–C-σ-Bindungen einen Bindungswinkel von 120° einschließen (siehe Bild 5.5). Der ideale Bindungswinkel für sp3-hybridisierte C-Atome (Tetraederwinkel von 109°28') müßte also beträchtlich aufgeweitet werden, was eine große Winkelspannung im Ring zur Folge hätte. In diesem Ring würden außerdem alle Wasserstoffatome ekliptisch zueinander stehen, so daß auch die Pitzer-Spannung recht groß wäre. Durch eine mäßige Drehung um die C–C-σ-Bindungen kann das Cyclohexan aus dieser energiereichen in eine stabile Konformation gelangen, in der keine Deformation des idealen Bindungswinkels notwendig ist und außerdem keine Pitzer-Spannung infolge ekliptischer Stellung der Wasserstoffatome besteht. Die an benachbarte C-Atome gebundenen Wasserstoffatome liegen in dieser neuen Konformation nur gestaffelt vor. Die spannungsfreie Konformation des Cyclohexans, in der vier C-Atome in einer Ebene, eines über und das sechste unter dieser Ebene liegen, wird als Sesselform (chair form) bezeichnet. Man braucht sich nur einen Fernsehsessel mit Rückenlehne und Fußstütze vorzustellen, um die Benennung dieses Konformers zu begreifen.
5.5 Der Cyclohexanring
181
120°
109°28‘
Sesselform
Ebener Sechsring
Bild 5.5
Vom ebenen Sechsring des Cyclohexans zur Sesselform
H H
H
H H H
H
Strukturformel
Drahtmodell = Kohlenstoffatom
= Wasserstoffatom
Sesselform des Cyclohexans
a
a
e
e a e
H
H
H
Bild 5.6
H
H
e
a
e
e
a
a e = äquatorial a = axial
Bild 5.7 Axiale und äquatoriale Substituenten
182
5 Alicyclische Verbindungen
Man stelle sich eine Achse vor, welche, wie in Bild 5.7 veranschaulicht, durch die Mitte eines in Sesselform vorliegenden Sechsringes führt. Vergleicht man nun die Achsenrichtung und die Orientierung der σ-Bindungen, mit welchen die Substituenten an die Kohlenstoffatome des Ringes gebunden sind, so kann man grundsätzlich zwei verschiedene Bindungsarten unterscheiden: axiale Bindungen, die mit der Achse parallel laufen und äquatoriale Bindungen, die von der Achse wegweisen. Entsprechend werden die an sie gebundenen Substituenten als äquatorial oder axial bezeichnet. Die Unterscheidung der Substituenten ist keineswegs nur formal: axiale und äquatoriale Substituenten können eine unterschiedliche Reaktivität aufweisen. Von der Sesselform, die einem Energieminimum des Cyclohexanmoleküls entspricht, kann dieses über die Halbsesselform zur Wannenform (englisch boat form) gelangen. Der Übergang von der Sessel- in die Wannenform ist dadurch gewährleistet, daß im Cyclohexanring eine beschränkte Drehbarkeit um die C–C- σ-Bindung gegeben ist. Soweit der Leser Zugang zu einem Molekülbaukasten hat, sollte er am Kugelstiftmodell des Cyclohexans die Umformung von der Sessel in die Wannenform eigenhändig vornehmen. Drückt man das unter der Ringebene befindliche Kohlenstoffatom (besser gesagt, die schwarze Kugel, die das Kohlenstoffatom im Modell veranschaulichen soll) nach oben, um zur Halbsesselform zu gelangen, verspürt man einen Widerstand. Dies ist verständlich, denn dazu bedarf es einer Winkelaufweitung, die eine ziemlich große Ringspannung zur Folge hat. Drückt man das Kohlenstoffatom weiter nach oben, so verspürt man nur einen geringen Widerstand, denn der Sechsring wird in die Wannenform gebracht, in der alle Kohlenstoffatome des Ringes wieder einen tetraedrischen Bindungswinkel haben. In dieser Konformation liegt keine Winkelspannung vor. Trotzdem ist die Wannenform energiereicher als die Sesselform. Die Wasserstoffatome an je zwei der vier in einer Ebene liegenden C-Atome des Sechsringes befinden sich bei der Wannenform in ekliptischer Stellung zueinander, so daß eine relativ hohe Pitzer-Spannung auftritt, während sie in der Sesselform gestaffelt vorliegen. Dies ist aus Bild 5.9 ersichtlich. Betrachtet man in einem Molekülmodell des Cyclohexans, wie in Bild 5.9 dargestellt, die beiden Kohlenstoffatome C2 und C3 und die Kohlenstoffatome C5 und C6 so, daß sich die C–C-Bindung in Blickrichtung befindet, so stellt man fest (siehe Newman-Projektionen in Bild 5.9), daß in der Sesselform (Bild 5.9 links) die an den beiden benachbarten C-Atomen gebundenen H-Atome gestaffelt und in der Wannenform (Bild 5.9 rechts) ekliptisch angeordnet sind.
Sesselform
Bild 5.8
Halbsesselform
Von der Sessel- zur Wannenform
Wannenform
5.5 Der Cyclohexanring
183
Sesselform
3
H
H
6
5
H
H
H
H
4
H
H H
4
H
H H 5
6
H
1 6
6
H
HH
1
H
H
Wasserstoffatome am C2 und C3 sowie C6 und C5 gestaffelt
HH
H
Bild 5.9
3
H
4 2
2
2
H H
H
H
H H
4
H H
H
H
1
H H
H
1
2
H
H
H
H H
Wannenform
Wasserstoffatome am C2 und C3 sowie C6 und C5 ekliptisch
Newman-Projektion der Sessel und Wannenform des Cyclohexans
Betrachtet man in Bild 5.9 in der Newman-Projektion die Konformationen der Kohlenstoffketten C1-C2-C3-C4 und C1-C6-C5-C4 des Cyclohexans, so stellt man außerdem fest, daß in der Sesselform eine synclinale, in der Wannenform aber eine energiereiche synperiplanare Konformation vorliegt (siehe den Abschnitt 2.4.2).
Flagpole
H
1
H
H 2
3
6
5
4
H
Bugspriet
Bild 5.10 Flagpole- und Bugspriet-Substituenten
184
5 Alicyclische Verbindungen
Die an beiden C-Atomen der Wannenspitze (C1 und C4) nach innen gerichteten Bindungen tragen Substituenten, die als Flagpole-Substituenten bezeichnet werden. Die beiden anderen an diese C-Atome geknüpften Substituenten werden Bugspriet-Substituenten genannt. Die Substituenten, die in der Wannenform des Sechsringes an die vier in einer Ebene liegenden C-Atome gebunden sind, haben keine besondere Bezeichnung. Die zwei Flagpole-Substituenten kommen so nahe zusammen, daß selbst zwischen Wasserstoffatomen schon eine Abstoßungsenergie von ca. 12,6 kJ/mol vorliegt. Die 1,4-Wechselwirkung (so genannt, weil die Wechselwirkung zwischen den am C1- und C4-Atom des Ringes gebundenen Substituenten erfolgt) bewirkt eine transannulare Spannung. Dies ist eine Ringspannung, die durch abstoßende Kräfte zwischen Substituenten hervorgerufen wird, die nicht an benachbarte, aber voneinander weiter entfernte C-Atome des Ringes gebunden sind. Durch eine seitliche Verschiebung der zwei C-Atome (C1 und C4), an welche die Flagpole-Substituenten gebunden sind, gelangt die Wannenform in die Twistform, womit die transannulare Spannung verringert wird. Die seitliche Verschiebung der Flagpole-Substituenten ist mit einer leichten Drehung der C-Atome um die C2/C3- und die C6/C5-Bindungen verbunden. Dadurch befinden sich die am C2 und C3 gebundenen Wasserstoffatome und ebenso die am C6 und C5 gebundenen Wasserstoffatome nicht mehr in der Deckungsform, und die Pitzer-Spannung wird damit etwas vermindert. Da die zwei Kohlenstoffatome der Wannenspitze sich in die eine oder andere seitliche Richtung verschieben können, existieren zwei verschiedene Twistformen. Diese lassen sich sehr leicht ineinander überführen, wobei die Wannenform einen Übergangszustand darstellt. Bei Zimmertemperatur können die Konformeren des Cyclohexans nicht isoliert werden, da durch Übertragung der kinetischen Energie beim Zusammenstoß der Moleküle die zwischen den Konformeren liegenden Energiebarrieren der Übergangszustände (Halbsessel- und Wannenform) überwunden werden können. Der Übergang von einer in die andere Konformation (Sesselform / Twistform) ist umkehrbar, allerdings ist die energieärmere, stabilere Sesselform bei Zimmertemperatur mit über 99 % im Konformerengemisch des Cyclohexans vertreten. Bild 5.12 zeigt die Änderungen der potentiellen Energie des Cyclohexans in Abhängigkeit von seiner jeweiligen Konformation. Der Begriff Konformations-Koordinate beinhaltet die Veränderungen von Bindungswinkeln und Abständen der Atome untereinander beim Übergang von einer zur anderen Konformation. In der Sesselform des Cyclohexans kommt es bei den axialen Substituenten infolge der räumlichen
1
4 6
1
2
4
3
4
1
3
2
2 5
Twistform
6
5
Wannenform
5
6
3 Twistform
Bild 5.11 Übergang von einer in die andere Twistform (nur mit Kohlenstoffskelett des Sechsringes veranschaulicht)
5.5 Der Cyclohexanring
185
Potentielle Energie Ep [kJ/mol]
Halbsesselform
Halbsesselform
Wannenform 6 kJ
Twistform
45 kJ
Twistform 23 kJ
Sesselform
Sesselform Konformations-Koordinate Übergang von der Sesselin die Twistform
Übergang von einer in die andere Twistform
Übergang von der Twistin die Sesselform
Bild 5.12 Energieprofil beim Übergang von der Sessel- in die Twistform und von einer Twistform in die andere
Nähe zu einer 1,3-Wechselwirkung, die besonders bei sperrigen Substituenten eine Spannung hervorrufen kann. Von einer 1,3-Wechselwirkung spricht man deshalb, weil diese zwischen den am ersten und dritten C-Atom gebundenen Substituenten erfolgt. Die 1,3Wechselwirkung findet zwischen den drei über der Ringebene und den drei unter der Ringebene befindlichen axialen Substituenten statt. In Bild 5.13 sind die axialen Substituenten mit dem Buchstaben a, die äquatorialen Substituenten mit e gekennzeichnet, und die Wechselwirkung zwischen den axialen Substituenten wird durch einen gestrichelten Doppelpfeil veranschaulicht. a a e
a e
e
e
e a
e a
a
Bild 5.13 1,3-Wechselwirkung zwischen den axialen Substituenten in der Sesselkonformation des Cyclohexans
186
5 Alicyclische Verbindungen
Wannenform Sesselform
Sesselform
Bild 5.14 Ringinversion des Methylcyclohexans
Das Cyclohexanmolekül kann durch Ringinversion von einer Sesselkonformation über die Wannenform in eine andere Sesselkonformation gelangen. Alle Substituenten, die vorher axial waren, befinden sich nach der Ringinversion in äquatorialer Stellung, und die Substituenten, die vorher äquatorial waren, sind dann an den Sechsring axial gebunden. Die 1,3Wechselwirkung in der Sesselkonformation tritt nur bei axialen, nicht aber bei äquatorialen Substituenten auf. Im monosubstituierten Cyclohexan wird deshalb die Konformation mit dem Substituenten in äquatorialer Stellung bevorzugt. Hat der Sechsring mehrere Substituenten, so wird gewöhnlich die Konformation der Sesselform bevorzugt, in der der sperrige Substituent die äquatoriale Stellung einnimmt. In Bild 5.14 wird die Ringinversion am Molekülmodell des Methylcyclohexans gezeigt. Das unterhalb der Ringebene befindliche Kohlenstoffatom des Sechsringes mit der Methylgruppe wird hierbei nach oben und das Kohlenstoffatom des Sechsringes, das über der Ringebene liegt, nach unten geklappt.
5.6 Die cis-trans-Isomerie von Substituenten in Ringverbindungen Die eingeschränkte Drehbarkeit der Kohlenstoffatome im Ring um die C–C-σ-Bindung bedingt die cis-trans-Isomerie von Verbindungen mit zwei, an unterschiedliche C-Atome des Ringes gebundenen, Substituenten. Ungeachtet der Konformationen, in der die cyclischen Verbindungen vorliegen, kann man sich den Ring in einer Ebene vorstellen. Man betrachtet die Bindungen, mit welchen beide Substituenten an den Ring geknüpft sind. Weisen diese in der Konstitutionsformel beide über bzw. unter die Ringebene, bezeichnet man dieses Isomer als cis-Isomer, weist eine Bindung über, die andere unter die Ringebene, so liegt ein transIsomer vor. Zum Beispiel: H3C
CH3
H H cis-1,3-Dimethylcyclopentan
H3C
H
CH3 H trans-1,3-Dimethylcyclopentan
5.7 Polycyclische Alkane
187
Br
Br Br
Br
Bromatome axial
Bromatome äquatorial
Bild 5.15 Zwei Konformere des trans-1,2-Dibromcyclohexans
In den Formeln cyclischer Verbindungen sollen verstärkte Striche im unteren Teil des Ringes andeuten, daß der Ring senkrecht zur Bildfläche steht, wobei er mit dem verstärkten Teil zum Betrachter hin orientiert ist. Die nach oben gezeichneten, am Ring gebundenen Substituenten befinden sich dann über dem Ring und die in der Formel unten stehenden Substituenten unter dem Ring. Beim disubstituierten oder mehrfach substituierten Cyclohexan liegt die Sesselform vor, in der möglichst viele Substituenten äquatorial stehen. Zum Beispiel ist im Br H H Br
trans-1,2-Dibromcyclohexan
das Konformer bevorzugt, in dem beide Bromatome äquatorial stehen (siehe Bild 5.15). Gibt es im Ring mehrere Substituenten, so ist es notwendig, das Präfix cis- bzw. trans- zu jedem Substituentenpaar zu schreiben, oder einen Substituenten zu bezeichnen, auf den sich die Stellung der anderen Substituenten im Ring beziehen soll.
5.7 Polycyclische Alkane In polycyclischen Alkanen sind mehrere Ringe miteinander verknüpft. Je nach Art der Ringverknüpfung unterscheidet man kondensierte und verbrückte Ringsysteme, und außerdem noch Spiroverbindungen, in welchen zwei Ringe untereinander nur mit einem Kohlenstoffatom verbunden sind.
kondensierte Ringe
verbrückte Ringe
Spiroverbindung
188
5 Alicyclische Verbindungen
Die Atome, welche die Ringe untereinander verbinden, werden als Brückenkopf-Atome bezeichnet. Sind zwei, drei, vier usw. Ringe miteinander verbunden, erhalten die Verbindungen mit kondensierten oder verbrückten Ringen das Präfix bicyclo-, tricyclo-, tetracyclousw. Dann führt man in eckigen Klammern in absteigender Zahlenfolge an, wieviel Kohlenstoffatome sich jeweils zwischen den Brückenatomen befinden. Sind beide Brückenatome direkt miteinander verbunden, wird eine Null in die eckige Klammer geschrieben. Man zählt dann alle Kohlenstoffatome in den Ringen zusammen und führt den Namen des n-Alkans mit der gleichen Kohlenstoffanzahl an. Spiroverbindungen erhalten das Präfix Spiro-. Brückenkopf-Atome
nullgliedrige Brücke
Bicyclo[4,4,0]decan, Bicyclo[2,2,2]octan Decahydronaphthalin oder Decalin
Spiro[5,4]decan
Ringe in kondensierten Ringsystemen können untereinander cis- oder trans-verknüpft sein. Die cis- oder trans-Verknüpfung erkennt man an den an beiden Brückenkopf-Kohlenstoffen gebundenen Wasserstoffatomen bzw. Substituenten. Zeigen beide dort gebundenen Substituenten über oder beide unter die miteinander verknüpften Ringe, liegt eine cis-Verknüpfung, im anderen Falle eine trans-Verknüpfung vor. H
H H
H
trans-Bicyclo[4,4,0]decan oder trans-Decalin
cis-Bicyclo[4,4,0]decan oder cis-Decalin
Die Formeln des Decalins können auch vereinfacht als miteinander verbundene Sechsecke geschrieben werden, indem man an den beiden Brückenkopf-Kohlenstoffen bei cisVerknüpfung die C–H-Bindung als normalen Strich schreibt, bei der trans-Verknüpfung die nach unten weisende Bindung gestrichelt, die andere, nach oben zeigende Bindung, mit starkem oder normalem Strich oder Keilstrich kennzeichnet. H
H
trans-Decalin
H
H
cis-Decalin
5.8 Synthese der Cycloalkane
189
5.8 Synthese der Cycloalkane 5.8.1 Synthese des Cyclopropans (a) Reaktion des Ethens mit einer Organozink-Verbindung (Simmons-Smith-Reaktion). Diiodmethan läßt man in wasserfreiem Ether auf aktiviertes Zink einwirken, wobei ein dem Grignard-Reagens ähnliches Organozink-Reagens entsteht, das mit Alkenen unter Bildung eines Dreirings reagiert. ZnI I
ZnI I
CH2
CH2
H
H C
H
C
H
H
C
ZnI2 CH2
C
H
H
H
H
C H
C H
H
Übergangszustand
Die punktierten Linien im Übergangszustand deuten an, daß die bisherigen Bindungen an dieser Stelle nur gelockert, aber nicht ganz gelöst und neue Bindungen an anderer Stelle im Entstehen begriffen sind. Die gestrichelten Bindungen weisen hinter die Bildebene, die in Keilform gezeichneten Bindungen vor die Bildebene. (b) Reaktion des Carbens mit Alkenen. Das Diazomethan spaltet bei Erhitzen (Δ) oder UVBestrahlung (hν) Stickstoff ab, und das freigesetzte sehr reaktive Carben wird mit dem Alken zum Cyclopropanderivat umgesetzt. N
N
Δ oder hν
CH2
N
N
+
Diazomethan
Carben
H
R'
R'
C CH2
C R
H
cis-Alken
CH2
H C C
R
CH2
H
cis-1,2-Dialkylcyclopropan
Das Carben ist eine sehr reaktive Verbindung mit einem zweibindigen C-Atom, dessen Außenschale nur mit einem Elektronensextett besetzt ist. Es kann in zwei Zustandsformen auftreten: im Grundzustand als Triplett-Carben und im angeregten Zustand als SingulettCarben (siehe Bild 5.16). Im Triplett-Carben sind zwei Orbitale mit je einem Elektron besetzt, es ist also ein Diradikal. Im Singulett-Carben ist das pz-Orbital des sp2-hybridisierten C-Atoms unbesetzt und ein sp2-Hybridorbital ist mit zwei Elektronen besetzt. Das SingulettCarben besitzt also ein freies Elektronenpaar und weist eine Elektronenlücke auf.
190
5 Alicyclische Verbindungen
Grundzustand H
einfach besetzte Orbitale
136°
H Triplett-Carben Angeregter Zustand unbesetztes Orbital
H
freies Elektronenpaar
103°
H sp2-hybridisiert Singulett-Carben Bild 5.16 Triplett- und Singulett-Carben
Bei der Spaltung des Diazomethans entsteht zuerst das Singulett-Carben, und dieses ist so reaktiv, daß es mit dem Alken reagiert, noch bevor es den energieärmeren Zustand des Triplett-Carbens erreichen kann. Die Addition mit dem Singulett-Carben erfolgt stereospezifisch, wie dies in der vorhergehenden Reaktionsgleichung angedeutet wird: Liegt ein cis-Alken vor, so sind die Alkylreste nach der Reaktion mit dem Carben auch am Cyclopropanring in cis-Stellung, erfolgt die Reaktion hingegen mit einem trans-Alken, so sind die Alkylreste auch im Cyclopropan trans angeordnet. Erfolgt die Reaktion in unter Druck stehender Inertgasatmosphäre, so erreicht das Carben den energieärmeren Zustand des Triplett-Carbens, noch bevor es mit dem Alken reagiert. Das Triplett-Carben reagiert langsamer mit dem Alken, wobei sowohl cis- als auch trans-Additionsprodukte entstehen. Die Addition des Triplett-Carbens ist also nicht stereospezifisch. Dies ist so zu erklären, daß als Zwischenprodukt zunächst ein Diradikal entsteht, das um die C–C-Bindung frei drehbar ist. Bei der Rekombination kann deshalb sowohl das cis- als auch das trans-Isomer des Dialkylcyclopropans entstehen.
H
H C
R
CH2
H
CH2 CH2
H C
C R
R
H
C
C
C
R
Rekombination
CH2 C H
cis-Isomer
H
trans-Isomer
R
R R
H
C R
5.8 Synthese der Cycloalkane
191
5.8.2 Die Synthese mehrgliedriger alicyclischer Verbindungen Für die Synthese mehrgliedriger Cycloalkane können spezielle Reaktionen herangezogen werden, in vielen Fällen aber auch Reaktionen, die bei der Synthese anderer Verbindungen ebenfalls Verwendung finden. Die Reaktanten sind häufig Verbindungen, die an jedem Kettenende eine funktionelle Gruppe haben. Die Reaktion verläuft so, daß eine intramolekulare C–C-Verknüpfung erfolgt, die zum Ringschluß führt. Eine intramolekulare Verknüpfung heißt, daß sie innerhalb eines Moleküls erfolgt, während eine intermolekulare Verknüpfung zwischen den Molekülen stattfindet. Beide, intramolekulare und intermolekulare Verknüpfungen, finden gleichzeitig als Konkurrenzreaktionen statt. Als Beispiel für eine solche Reaktion, die durch C–C-Verknüpfung zum Ringschluß führt, kann die intramolekulare Wurtz-Reaktion mit α,ω-Dihalogenalkanen dienen, wobei Zn anstelle von Na eingesetzt wird. α,ω bedeutet in diesem Fall, daß sich die Halogene am Kettenanfang und Kettenende befinden (nach dem griechischen Alphabet, in dem α der Anfangs- und ω der Endbuchstabe ist). Neben dem entsprechenden Cycloalkan, das durch Ringschluß gebildet wird, entstehen durch intermolekulare C–C-Verknüpfungen längerkettige α,ω-Dihalogenderivate. Intramolekulare Wurtz-Reaktion: (CH2)n + H2C Br
CH2(CH2)nCH2 + Zn
ZnBr2
CH2
Br Br
CH2(CH2)nCH2
CH2(CH2)nCH2
Br
und längerkettige α,ω-Dibromalkane durch intermolekulare Verknüpfung
Durch Anwendung des „Verdünnungsprinzips“ können die intermolekularen Reaktionen unterdrückt werden, wodurch die Ausbeute des Cycloalkans steigt. Durch Verdünnung mit einem Lösungsmittel wird die Konzentration der Edukte herabgesetzt. Dadurch vermindert sich die Wahrscheinlichkeit des Zusammenstoßes zweier Eduktmoleküle, es tritt mit größerer Häufigkeit der Fall ein, daß sich, ehe zwei Moleküle untereinander reagieren können (intermolekulare Reaktion), der Ringschluß (intramolekulare Reaktion) schon vollzogen hat. Weitere Möglichkeiten der Synthese alicyclischer Verbindungen bieten die intermolekulare Ringbildung mit der Diels-Alder-Reaktion (siehe Abschnitt 3.10.4), die DieckmannKondensation (siehe Abschnitt 17.3.5.2), die Malonestersynthese (siehe Abschnitt 17.3.5.5), die Acyloin-Kondensation (siehe Abschnitt 17.3.6.4) und die Thorpe-Ziegler-Reaktion (siehe Abschnitt 17.5.3.8).
192
5 Alicyclische Verbindungen
5.9 Reaktionen der Cycloalkane In Cycloalkanen liegen, ähnlich wie bei den Alkanen, unpolare C–C- und C–H-σ-Bindungen vor. Mit Ausnahme des Cyclopropans und Cyclobutans reagieren sie deshalb auch ähnlich wie Alkane. Der Cyclopentan-, Cyclohexanring und die Ringe höherer Cycloalkane sind stabil. Beim Cyclopropan und Cyclobutan machen sich die Ringspannung durch Deformierung des Bindungswinkels, die schwachen C–C-σ-Bindungen (siehe Bananenbindung), und beim Cyclopropan außerdem noch starke Pitzerspannungen, bemerkbar. Cyclobutan ist etwas stabiler als Cyclopropan. Bei Erhitzen auf 200°C wird der Cyclopropanring aufgespalten, wobei Propen entsteht. Cyclopropan reagiert mit verschiedenen Stoffen unter Aufspaltung des Ringes, es reagiert z.B. mit Schwefelsäure, mit HBr, mit Br unter Lichteinwirkung, und es kann auch katalytisch unter Ringaufspaltung hydriert werden. Beim Cyclobutan erfolgt die Ringaufspaltung mit Schwefelsäure oder HBr oder bei katalytischer Hydrierung erst bei höherer Temperatur. Beide, Cyclopropan und Cyclobutan, reagieren im Unterschied zu Ethen mit Kaliumpermanganatlösung oder Ozon bei Zimmertemperatur nicht. CH2 H2C
CH2
+
H3C
H2SO4
CH2
CH2
O
1-Propylhydrogensulfat CH2 H2C
CH2
+
H3C
HBr
CH2
CH2
Br
1-Propylbromid
CH2 H2C
200 °C
CH2
H
H3C
C
CH2 H
CH
CH2
Propen CH2 H2C
Ni / H2 80 °C
CH2
H3C
CH2
CH3
n-Propan
H2C
CH2
H2C
CH2
Ni / H2 180 °C
H3C
CH2 n-Butan
CH2
CH3
CH2
SO3H
Übungsaufgaben
193
Übungsaufgaben ? 5.1 Warum ist die Wannenform des Cyclohexans energiereicher als die Sesselform?
? 5.2 Was versteht man unter einer axialen und äquatorialen Bindung in der Sesselkonformation des Cyclohexans?
? 5.3 Welche Veränderungen erfolgen bezüglich axialer bzw. äquatorialer Bindung an axialen und äquatorialen Substituenten nach Ringinversion des Cyclohexanringes?
? 5.4 Worin liegt die Ursache der cis-trans-Isomerie zweier an einen Kohlenstoffring gebundener Substituenten?
? 5.5 Wie sind die beiden Bromatome in der Sesselform des cis-1,2-Dibromcyclohexans axial bzw. äquatorial gebunden?
? 5.6 In welcher cis- oder trans-Stellung zueinander stehen die an Brückenkohlenstoffatome gebundenen Wasserstoffatome im cis- bzw. im trans-Decalin?
194
5 Alicyclische Verbindungen
Lösungen ! 5.1 Die Wannenform des Cyclohexans ist um 29 kJ/Mol energiereicher als die Sesselform. Dies ist damit zu erklären, daß sich in der Wannenform acht Wasserstoffatome zueinander in Deckungsform (ecclipsed form) befinden, so daß eine Pitzer-Spannung vorliegt, während in der Sesselform die Wasserstoffatome in Staffelform angeordnet sind. In der Wannenform findet außerdem noch eine Abstoßung der nach innen stehenden (flagpole)Wasserstoffatome statt, die eine Abstoßungsenergie von 12,6 kJ/Mol aufweist.
! 5.2 Man stelle sich eine fiktive Gerade vor, die senkrecht auf den in Sesselform vorliegenden Cyclohexanring steht. Die Substituenten deren Bindung parallel zu dieser gedachten geraden steht bezeichnet man als axial, die anderen als äquatorial. a a
e
e a
e
a e
e
e
a
a e = äquatorial a = axial
Axiale und äquatoriale Substituenten am Cyclohexanring
! 5.3 Von einer Ringinversion spricht man, wenn eine Sesselform über die Wannenform in eine andere Sesselform übergeht. Nach der Ringinversion werden axiale zu äquatorialen Substituenten und äquatoriale wiederum zu axialen Substituenten. Bevorzugt wird die Sesselform, bei der insbesonders sperrige Substituenten eine Äquatoriale Stellung einnehmen.
! 5.4 Zwei an unterschiedliche C-Atome des Ringes gebundene Substituenten können zueinander cis- oder trans- stehen. Diese cis-trans-Isomerie wird bedingt durch die eingeschränkte Drehbarkeit um die C-C-σ-Bindungen im Ring.
! 5.5 Im cis-1,2-Dibromcyclohexan ist in der Sesselform das eine Bromatom axial, das andere äquatorial gebunden.
Lösungen
195
! 5.6 Die Wasserstoffatome an den beiden Brückenkohlenstoffen des trans-Decalins stehen zu einander in trans-Stellung, im cis-Decalin in cis-Stellung. H
H H
H trans-Decalin
cis-Decalin
6 Aromatische Verbindungen Als aromatisch werden cyclische Verbindungen bezeichnet, deren π-Elektronen über das ganze Ringsystem delokalisiert sind. Elektrophile Substitutionen sind die für sie charakteristischen Reaktionen. Der bekannteste Vertreter aromatischer Verbindungen ist das Benzol. Einige Benzolderivate sind von besonderer Bedeutung für die Herstellung von Kunst- und Farbstoffen. Die Bezeichnung „aromatisch“ wurde den benzolähnlichen Stoffen wegen des Geruchs gegeben, der bei bestimmten Benzolderivaten (z.B. bei dem im Bittermandelöl enthaltenen Benzaldehyd, dem Vanillin und dem im Waldmeister enthaltenen Cumarin) wahrnehmbar ist. H
C
O
H
C
O
OCH3
O
O
OH
Benzaldehyd
Vanillin
Cumarin
Verbindungen mit aromatischen Eigenschaften haben den Sammelnamen Arene, und der Rest nach Abspaltung eines Wasserstoffatoms wird als Arylrest bezeichnet (Abkürzung Ar).
6.1 Benzol und seine Derivate Das Benzol wurde schon 1825 von Faraday im Leuchtgas entdeckt. Es ist eine farblose, stark lichtbrechende Flüssigkeit mit charakteristischem Geruch, einer Schmelztemperatur von 5,5°C und einer Siedetemperatur von 80,1°C. Benzol gehört zu den cancerogenen (krebserregenden) Stoffen. Die Elementaranalyse (Bestimmung der relativen Anteile von C und H im Molekül) und die Molekulargewichtsbestimmung ergeben für Benzol die Formel C6H6. Bei der katalytischen Hydrierung wird Benzol zu Cyclohexan umgesetzt, was auf einen ungesättigten Sechsring hinweist. Schon 1865 wurde von Kekulé eine Konstitutionsformel dieser Verbindung in Form eines Sechsringes mit 3 Doppelbindungen vorgeschlagen (siehe nächste Seite). Sie würde einem Cyclohexatrien entsprechen. Diese Struktur steht aber in Widerspruch zu den Eigenschaften des Benzols, das sich, in Gegensatz zu den Alkenen, bei der Addition von Brom als ausgesprochen reaktionsträge erweist. Kekulé entwickelte, um dafür eine
A. Wollrab, Organische Chemie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-45144-7_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
196
6.2 Die Valenzbindungstheorie
197
H H
H
H
H H
Erklärung zu haben, eine für seine Zeit geniale Theorie. Er nahm an, daß die Doppelbindungen in rascher Folge ihre Positionen wechseln und so zwischen zwei Strukturen oszillieren, so daß sie nicht zwischen zwei bestimmten C-Atomen lokalisiert sind und demgemäß keine Additionsreaktionen stattfinden können.
und Kekulè-Strukturen
Heute erklärt man sich die Struktur des Benzols auf die Weise, daß die 6 π-Elektronen delokalisiert, also auf den gesamten 6-Ring verteilt sind. Diese Elektronenverteilung entspricht einem stabilen, energiearmen Zustand des Moleküls. Die theoretische Grundlage für diese Anschauung ist in der Valenzbindungstheorie (valence-bond-theory), abgekürzt VBTheorie bzw. in der Molekülorbitaltheorie (molecular-orbital-theory), abgekürzt MO-Theorie, zu suchen.
6.2 Die Valenzbindungstheorie Die Valenzbindungstheorie (auch Resonanztheorie genannt) wendet man besonders bei Verbindungen mit konjugierten Doppelbindungen an, um eine Vorstellung über die tatsächliche Verteilung der π-Elektronen im Molekül zu bekommen. Sie wurde bereits, ohne sie als solche zu bezeichnen, bei der Beschreibung der π-Elektronenverteilung des Butadiens unter dem Thema Mesomerie (siehe Abschnitt 3.9) und bei der Diskussion der Reaktivität von Allyl- und Vinylverbindungen (siehe Abschnitt 3.9.1.1) zu Hilfe genommen. Bei der Valenzbindungs-Theorie geht man von denkbaren Formeln aus, die sich lediglich in der Lokalisierung der π- und p-Elektronen voneinander unterscheiden. Man bezeichnet sie als mesomere Grenzformeln (aus dem griechischen mesos = zwischen und meros = Teil). Die mesomeren Grenzformeln schreibt man als Lewis-Formeln mit den klassischen Valenzstrichen, wobei man die π-Elektronenpaare zunächst als zwischen zwei bestimmten C-Atomen lokalisiert ansieht. Die einzelnen mesomeren Grenzformeln beschreiben bei konjugierten Systemen keineswegs die reale Elektronenverteilung, also nicht die tatsächliche Struktur des Moleküls. Sie dienen lediglich dazu, die π-Elektronenverteilung im Molekül abzuschätzen und das reale Molekül zu beschreiben. Das reale Molekül, das man als Resonanzhybrid be-
198
6 Aromatische Verbindungen
zeichnet, ist energieärmer und somit stabiler als jede der durch die mesomeren Grenzformeln dargestellten fiktiven Verbindungen. Sagt man, eine Verbindung sei mesomerie- oder resonanzstabilisiert, so bedeutet das, daß durch Delokalisation von π-Elektronen eine Stabilisierung erreicht wird. Die theoretische Grundlage der Valenz-Bindungstheorie basiert darauf, daß man die Ladungsdichteverteilung in einem Molekül aus den ψ-Funktionen der einzelnen Grenzformeln ermitteln kann. Die molekulare Wellenfunktion Ψ (Wellenfunktion des Resonanzhybrids) ergibt sich aus der Linearkombination der Wellenfunktionen der Grenzformeln ψ1, ψ2. ... ψn. Die einzelnen Wellenfunktionen ψi gehen mit einer Wichtung ein, die um so größer ist, je energieärmer die entsprechende Grenzstruktur einzuschätzen ist, so daß ψi noch mit einem entsprechenden Koeffizienten ci multipliziert wird: Ψ = c1ψ1 + c2 ψ 2 +…+ cn ψ n
In der Praxis verfährt man bei der Ermittlung der Elektronenverteilung des realen Moleküls (des Resonanzhybrids) nach der Valenzbindungstheorie so, daß man die einzelnen denkbaren mesomeren Grenzformeln als Valenzstrichformeln nach Lewis aufschreibt und abschätzt, welche der ihnen entsprechenden mesomeren Grenzstrukturen am energieärmsten sind (Kriterien dafür siehe Abschnitt 3.9), denn diese kommen der realen Elektronenverteilung im Molekül am nächsten. Die mesomeren Grenzformeln der energieärmsten Grenzstrukturen des Moleküls werden bei der Abschätzung der Elektronenverteilung im Resonanzhybrid mit größter Wichtung in Erwägung gezogen, während die als energiereich einzuschätzenden mesomeren Grenzstrukturen weniger Berücksichtigung finden. Eine gute Vorstellung über die reale Elektronenverteilung erhält man, wenn man die Grenzformeln vergleicht und feststellt, wo sich die Valenzstriche für die π- und p-Elektronen befinden. Dabei geht man davon aus, daß die Elektronendichte dort größer ist, wo sich die Valenzstriche in Grenzformeln der als relativ energiearm einzuschätzenden mesomeren Grenzstrukturen befinden. Das Benzol kann man mit zwei gleichwertigen mesomeren Grenzformeln (Kekulé-Formeln) beschreiben:
Bei dieser Schreibweise schreibt man die an die C-Atome gebundenen Wasserstoffatome nicht auf. Die beiden mesomeren Grenzformeln lassen darauf schließen, daß die π-Elektronen im Sechsring des Benzols gleichmäßig verteilt und demnach keine lokalisierten Doppelbindungen vorhanden sind. Man spricht in diesem Falle von einem delokalisierten π-Elektronensystem. Diese Annahme wird durch Röntgenstrahlbeugung bestätigt, mit Hilfe derer festgestellt wurde, daß das Benzolmolekül in einem ebenen gleichseitigen Sechseck angeordnet ist, in dem alle C–C- Bindungslängen gleich sind und alle Bindungswinkel 120° betragen. Die C–C-Bindungslänge im Benzol beträgt 139,7 pm, sie liegt somit zwischen der Bindungslänge einer C–C-Einfach- und einer C=C-Doppelbindung.
6.2 Die Valenzbindungstheorie
199
Bild 6.1 Elektronendichteverteilung im Benzol
Das nicht existierende Cyclohexa-1,3,5-trien müßte, wenn man lokalisierte π-Bindungen annimmt, abwechselnd längere C–C-Einfach- und kürzere C=C-Doppelbindungen aufweisen. Die Kekulé-Formel
kann man als Formel für das fiktive Cyclohexatrien betrachten. Häufig wird diese Formel aber auch als Symbol für das Benzol verwendet. Der Eindeutigkeit halber schreibt man das Benzol besser in der Form, daß man in den Sechsring einen Kreis einzeichnet:
Das Sechseck mit Kreis steht anstelle der Beschreibung des Resonanzhybrids durch die beiden mesomeren Grenzformeln (beide Kekulé-Formeln) und der Kreis symbolisiert das delokalisierte π-Elektronensystem. Diese Schreibweise wird nicht nur für das Benzol, sondern auch in anderen aromatischen Verbindungen verwendet. H
H C
C
C
H
120°
120°
H
C 109 pm
120°
C
C
139,7 pm
H
H
Bild 6.2 Geometrie des Benzolmoleküls
200
6 Aromatische Verbindungen
Wie schon erwähnt, ist das Resonanzhybrid energieärmer, als alle mit der mesomeren Grenzformel dargestellten fiktiven Verbindungen. Der Energieunterschied zwischen der Energie des Resonanzhybrids und der berechneten Energie der mit der mesomeren Grenzformel beschriebenen energieärmsten fiktiven Verbindung wird als Resonanzenergie oder Mesomerieenergie bezeichnet. Die Resonanzenergie ist dann besonders groß, wenn das Resonanzhybrid durch strukturell völlig gleichartige Grenzformeln beschrieben werden kann, wie dies beim Benzol durch die beiden Kekulé-Formeln der Fall ist. Quantitative Angaben über die Resonanzenergie des Benzols erbringen Messungen der Hydrierwärmen bei den katalytischen Hydrierungen des Benzols und des Cyclohexens. Die katalytische Hydrierung von Doppelbindungen ist eine exotherme Reaktion. Bei der Hydrierung des Cyclohexens
+
ΔH = –120 kJ/mol
H2
werden ΔH = –120 kJ/mol Hydrierwärme frei. Setzt man für das Cyclohexatrien, das der energieärmsten mesomeren Grenzformel entspricht, 3 lokalisierte Doppelbindungen voraus, so müßte man für diese fiktive Verbindung die dreifache Hydrierwärme des Cyclohexens annehmen, also ΔH = 3 · (–120 kJ/mol)= –360 kJ/mol. Die gemessene Hydrierwärme für das Benzol beträgt ΔH = –209 kJ/mol. Der Energieunterschied ΔHRes = 360 kJ/mol – 209 kJ/mol = 151 kJ/mol ist der Betrag für die Resonanzenergie des Benzols.
Cyclohexatrien
Potentielle Energie
Δ HRes = 151 kJ/mol
Δ H = -360 kJ/mol berechnet
Benzol
Δ H = -209 kJ/mol gemessen Cyclohexan
Bild 6.3
Schema zur Berechnung der Resonanzenergie des Benzols
Δ H = Hydrierwärme Δ HRes = Resonanzenergie
6.3 Die Molekülorbitaltheorie
201
Potentielle Energie
23 kJ/mol
Bild 6.4
Δ H = -232 kJ/mol
(anstelle von -240 kJ/mol)
Δ H = -120 kJ/mol
Δ H = -209 kJ/mol (anstelle von 3 x -120 kJ/mol = -360 kJ/mol)
Vergleich von Hydrierwärmen, die beim Hydrieren von Benzol, Cyclohexa-1,3-dien und Cyclohexen frei werden.
Das Symbol ΔH steht allgemein für die Reaktionsenthalpie. Dies ist die Wärmemenge, die ein System während der Reaktion mit seiner Umgebung austauscht. Ist die Reaktion exotherm, d.h. wird während der Reaktion Wärme an die Umgebung abgegeben, so steht vor der Energieangabe ein Minuszeichen, wogegen bei einer endothermen Reaktion (einer wärmeverbrauchenden Reaktion) ein Pluszeichen steht. Bei der Hydrierung von Cyclohexa-1,3-dien zu Cyclohexan wird etwas weniger Hydrierwärme frei als der doppelten Hydrierwärme des Cyclohexens entsprechen würde. Dies ist darauf zurückzuführen, daß das konjugierte Dien resonanzstabilisert ist. Die relativ niedrige Hydrierwärme, die bei der Addition von Wasserstoff am Benzol frei wird, ist darauf zurückzuführen, daß das Benzol infolge seines optimal delokalisierten π-Elektronensystems eine stabile, energiearme Verbindung darstellt. Die Hydrierwärme des Benzols ist deshalb sogar noch um 23 kJ/mol niedriger als die des Cyclohexa-1,3-diens. Da chemische Systeme im allgemeinen das Bestreben haben, vom energiereicheren in den energieärmeren Zustand überzugehen, ist es verständlich, daß Cyclohexa-1,3-dien leicht zum Benzol dehydriert werden kann.
6.3 Die Molekülorbitaltheorie Die Molekülorbitaltheorie basiert auf der Vorstellung, daß bei der Bildung kovalenter Bindungen aus Atomorbitalen Molekülorbitale entstehen. Der Bereich der Molekülorbitale muß sich nicht auf zwei Atome beschränken, er kann auch mehrere Atome einschließen. Die für die Berechnung der Molekülorbitale häufig angewendete Näherungsmethode, die LCAOMethode (linear combination of atomic orbitals), geht von der Annahme aus, daß die die
202
6 Aromatische Verbindungen
Molekülorbitale beschreibende Wellenfunktion Ψ durch lineare Kombination der an der Bindung beteiligten Atomorbitale ϕ1, ϕ2, ϕ3 … ϕn ermittelt werden kann: Ψ = c1ϕ1 + c2ϕ 2 +…+ cnϕ n ,
wobei c1, c2 ... cn Verteilungskoeffizienten darstellen. Zu den Voraussetzungen für Berechnungen nach der LCAO-Methode gehört, daß die Atomorbitale von vergleichbarer Energie sein müssen, zum größten Teil überlappen können und entlang der Bindungsachse gleiche Symmetrieeigenschaften aufweisen müssen. Aus den an den kovalenten Bindungen beteiligten Atomorbitalen resultieren gleichviele Molekülorbitale. Diese können sich in ihrem Energiegehalt unterscheiden. Je mehr Knotenebenen in einem Molekülorbital vorhanden sind, desto energiereicher ist es. Energiegleiche Molekülorbitale bezeichnet man als entartet. Es gibt die Bindung festigende bindende Molekülorbitale, die energieärmer als die sie konstituierenden Atomorbitale sind, und die Bindung lockernde antibindende Molekülorbitale, die energiereicher als diese Atomorbitale sind. Die bindenden und antibindenden Molekülorbitale weisen bezüglich der Bindungsachse eine Symmetrie auf. Molekülorbitale, die an einer Bindung nicht beteiligt sind, bezeichnet man als nichtbindende Molekülorbitale. Nichtbindende Molekülorbitale sind in der Regel mit freien, an einer Bindung nicht beteiligten Elektronenpaaren besetzt. Die Besetzung der bindenden und antibindenden Molekülorbitale mit Elektronen geschieht nach der Regel, daß ein Molekülorbital nur mit je 2 Elektronen besetzt werden kann, wobei sich diese in ihrer Spinquantenzahl unterscheiden müssen (PauliPrinzip) und zunächst das energieärmste Molekülorbital doppelt zu besetzen ist, bevor ein energiereicheres Orbital mit Elektronen besetzt werden kann. Bei der Besetzung energiegleicher (entarteter) Orbitale werden alle energiegleichen Orbitale zunächst einfach (mit parallelem Spin) und erst dann doppelt besetzt (Hundsche Regel). Als Beispiel, das diese Theorie etwas konkretisiert, soll die Bindung im Wasserstoffmolekül erörtert werden. Die s-Orbitale der beiden Wasserstoffatome ϕ1 und ϕ2 ergeben bei der Linearkombination ϕ1 + ϕ2 ein bindendes σ-Orbital, während ϕ1 – ϕ2 ein antibindendes σ*-Orbital erbringt. Das bindende σ-Orbital hat zwischen den Protonen (= Wasserstoffkerne) eine hohe Elektronendichte, die den Zusammenhalt beider Kerne im Wasserstoffmolekül bewirkt.
Bild 6.5
Die beiden Molekülorbitale der Wasserstoffbindung
6.3 Die Molekülorbitaltheorie
203
Das antibindende σ*-Orbital hat zwei Orbitallappen mit entgegengesetzter Phase. Die Phasen werden farblich mit hell und dunkel symbolisiert. Bei Überlagerung zweier Wellen mit entgegengesetzten Schwingungsphasen werden die Schwingungsamplituden kleiner, oder können sogar gleich null sein. Im σ*-Orbital ist die Elektronendichte zwischen den Kernen gering, sie ist in der zwischen den Kernen befindlichen Knotenebene sogar gleich Null. In den Molekularorbitalen des Wasserstoffmoleküls werden, da insgesamt 2 Elektronen zur Verfügung stehen (jedes der beiden Wasserstoffatome bringt ein Valenzelektron für die Bindung ein) nur das σ-Orbital besetzt, das energiereichere σ*-Orbital bleibt unbesetzt. Infolge der hohen Elektronendichte zwischen den Kernen im σ-Orbital ist die Wasserstoffbindung stark und das Wasserstoffmolekül stabil.
σ∗− Orbital pot. Energie
(Antibindend)
Bild 6.6
s-Orbital
s-Orbital
σ− Orbital (bindend) Energiediagramm zur Besetzung der Molekülorbitale des Wasserstoffmoleküls
Die Linear-Kombination der p-Orbitale im Ethen ergibt gleichfalls zwei Molekülorbitale, da sich die an der Bindungsbildung beteiligten zwei p-Orbitale auf zweierlei Weise miteinander kombinieren lassen. Die Überlappung zweier p-Atomorbitale in der Kombination ϕ1 + ϕ2 – mit den Orbitallappen beider Atome in gleicher Phase – führt zum π-Orbital, mit einem Orbitallappen über und dem anderen unter den beiden Atomkernen der Bindungspartner. Die Knotenebene geht zwischen den beiden Orbitallappen des π-Orbitals durch die beiden Atomkerne (siehe Bild 6.7). Im bindenden Molekülorbital halten sich die Elektronen bevorzugt zwischen den Atomkernen auf, so daß durch die Wechselwirkung zwischen negativen Elektronen und positiven Kernen der Zusammenhalt der Atome in Form einer πBindung gewährleistet wird.
Bild 6.7
Überlappung zweier p-Orbitale zum π-Orbital
204
6 Aromatische Verbindungen
In der Kombination φ1 – φ2 resultiert das antibindende π*-Orbital, das eine weitere Knotenebene besitzt, die senkrecht auf der C-C-σ-Bindung des Ethens steht. In dieser Knotenebene ist die Elektronendichte zwischen den Kohlenstoffkernen gleich null und die Abstoßungskräfte der positiv geladenen Kohlenstoffrümpfe machen sich stark bemerkbar.
Bild 6.8
Antibindendes π∗-Orbital
Das bindende π-Orbital ist energieärmer als das antibindende π*-Orbital. Deshalb wird im Ethen mit den zwei zur Verfügung stehenden π-Elektronen das π-Orbital besetzt, das π*-Orbital bleibt unbesetzt.
Bild 6.9
Lineare Kombination der p-Orbitale im Ethen und die Besetzung der aus ihr resultierende Molekülorbitale mit π-Elektronen
Im 1,3-Butadien gehen wir von der Vorstellung aus, daß vier p-Orbitale unter Bildung von vier Molekülorbitalen in Wechselwirkung treten. Jede dieser Wellenfunktionen der Molekülorbitale des 1,3-Butadiens entspricht einer Gleichung vom Typ: Ψ= c1φ1 + c2φ2 + c3φ3 + c4φ4. Jedes Molekülorbital hat eines der beiden Symmetrieelemente: entweder eine Symmetrieebene m, die das Molekülorbital in zwei spiegelbildliche Hälften teilt, oder eine zweizählige Symmetrieachse C2. Die zweizählige Symmetrieachse C2 bringt das Molekülorbital bei
6.3 Die Molekülorbitaltheorie
205
einer Umdrehung von 180° zur Identität. Veranschaulicht wird dies am Beispiel des ψ2-Molekülorbitals und des ψ3*-Molekülorbitals des s-cis-1,3-Butadiens in Abb. 6.10.
Symmetrieebene m
Zweizählige Symmetrieachse C 2
C2
Die Symmetrieebene teilt das ψ3∗-Molekülorbital des 1,3-Butadiens in zwei spiegelbildliche Hälften
Nach Drehung der zweizähligen Symmetrieachse um 180° erscheint das ψ2 -Molekülorbital des 1,3-Butadiens in identischer Form
Bild 6.10 Symmetrieebene im ψ3*-Molekülorbital des s-cis-1,3-Butadiens und die zweizählige Symmetrieachse C2 im ψ2-Molekülorbital des s-cis-Butadiens
Im energieärmsten Molekülorbital des 1,3-Butadiens, dem ψ1-Molekülorbital sind alle Koeffizienten c1, c2, c3 und c4 der Wellenfunktion positiv. Alle benachbarten Orbitale stehen zueinander in gleicher Phase und können überlappen, die Bindungskräfte erreichen ihren höchsten Wert. Allgemein gilt, je mehr Knotenebenen, desto höher das Energieniveau eines Molekülorbitals. Das Molekülorbital ψ2 im nächst höheren Energieniveau hat zwischen dem 2. und 3. C-Atom eine Knotenebene. Die Koeffizienten c1 und c2 haben ein positives und c3 und c4 ein negatives Vorzeichen. Im Molekülorbital ψ2 besteht zwischen den 1. und 2. C-Atom und dem 3. und 4. C-Atom eine bindende Wechselwirkung und eine antibindende Wechselwirkung zwischen dem 2. und 3. C-Atom. Im Molekülorbital ψ3* haben die Koeffizienten c1 und c4 ein positives und c2 und c3 ein negatives Vorzeichen. In diesem Molekülorbital liegen 2 Knotenebenen vor. Sie befinden sich zwischen dem 1. und 2. C-Atom und zwischen dem 3. und 4. C-Atom. Eine bindende Wechselwirkung besteht zwischen dem 2. und 3. C-Atom. Das ψ4*-Atomorbital hat drei Knotenebenen und ist im 1,3-Butadien das energiereichste Molekülorbital. Die Koeffizienten c1 und c3 haben ein positives, c2 und c4 ein negatives Vorzeichen. Es bestehen in diesem Molekülorbital keine bindenden Wechselwirkungen. Die Elektronendichte ist in den Molekülorbitalen nicht gleichmäßig verteilt. In Abb. 6.11 wird sie durch Größe der p-Orbitale veranschaulicht. Eine hohe Elektronendichte in der Mitte des Molekülorbitals ist bei ψ1 festzustellen, bei ψ2 ist sie höher an den Kettenenden. Bei einer geraden Anzahl n von Molekülorbitalen ist jeweils die Hälfte der Molekülorbitale n/2, bindend, die andere, energiereichere Hälfte antibindend.
206
6 Aromatische Verbindungen
Bild 6.11 Linearkombination der p-Orbitale im 1,3-Butadien und die Besetzung der Molekülorbitale mit π-Elektronen
Im konjugierten System des Butadiens liegen 4 π-Elektronen vor Das Molekülorbital ψ1, ebenso wie das Molekülorbital ψ2 werden doppelt besetzt. Bei der Besetzung von Orbitalen gilt die Regel, daβ zunächst das energieärmere Orbital doppelt besetzt wird, ehe die Besetzung des nächst energiereicheren Orbitals erfolgt. Bei Besetzung energiegleicher Orbitale werden diese erst einfach besetzt und erst, wenn alle einfach besetzt sind, erfolgt die Doppelbesetzung (Hundsche Regel). Das höchste mit Elektronen besetzte Orbital (engl. highest occupied molecular orbital, abgekürzt HOMO) und das niedrigste unbesetzte Orbital (engl.: lowest unoccupied molecular orbital) werden als Grenzorbitale bezeichnet. Sie spielen eine Rolle bei pericyclischen Reaktionen (siehe Kapitel 3.10.4 und 3.10.5). Im Allylsystem treten drei p-Orbitale miteinander in Wechselwirkung und bilden drei Molekülorbitale. Jede Wellenfunktion der Molekülorbitale dieses Systems entspricht der Gleichung ψ = c1φ1 + c2φ2 + c3φ3. Bei ungerader Anzahl der p-Orbitale gibt es (n–1)/2 bindende Molekülorbitale, ebenso viel antibindende Molekülorbitale und ein nichtbindendes Molekülorbital. Im bindenden Molekülorbital ψ1, das das energieärmste Orbitalmolekül des Allylsystems ist, haben alle 3 Koeffizienten c1, c2 und c3 ein positives Vorzeichen. Alle 3 p-Orbitale stehen in gleicher Phase zueinander und können überlappen, zwischen den C-Atomen besteht eine bindende Wechselwirkung. Im Molekülorbital ψ2, das als nichtbindend bezeichnet wird, liegt eine Knotenebene vor, die durch das 2. C-Atom hindurchgeht, so dass dort der Koeffizient gleich null ist. Die p-Orbitale am 1. und 3. C-Atom haben entgegen gesetzte Vorzeichen, sie sind aber voneinander
6.3 Die Molekülorbitaltheorie
207
entfernt, so dass sich Abstoβungskräfte nicht bemerkbar machen. Dieses Molekülorbital ist weder bindend, noch antibindend, es ist ein nicht-bindendes Molekülorbital (engl. non-bonding molecular orbital, abgekürzt NBMO). ψ2 hat das gleiche Energieniveau wie das p Orbital. Im antibindenden Molekülorbital ψ3* des Allylsystems ist der Koeffizient am 1. C-Atom positiv, am 2. C-Atom negativ und am 3. C-Atom positiv. Das Molekülorbital hat zwei Knotenebenen. Die eine befindet sich zwischen dem 1. und 2. C-Atom, die andere zwischen dem 2. und 3. C-Atom. Im Allylkation stehen nur zwei π-Elektronen für die Besetzung der Molekülorbitale zur Verfügung und es wird das ψ1-Molekülorbital besetzt. In diesem Fall ist das ψ1-Molekülorbital das HOMO und das Ψ2-Molekülorbital das LUMO. Im Allylradikal stehen zur Besetzung der Molekülorbitale drei Elektronen zur Verfügung. Das ψ1-Molekülorbital wird doppelt und das ψ2-Molekülorbital einfach besetzt. Das ψ2-Molekülorbital ist das SOMO und das ψ3*-Molekülorbital das LUMO. Mit der Bezeichnung SOMO (singly occupied molecular orbital) wird das einfach besetzte Molekülorbital benannt, das auch das Grenzorbital des Radikals ist. Im Allylanion sind die Molekülorbitale mit 4 Elektronen zu besetzen. Die Molekülorbitale ψ1 und ψ2 werden doppelt besetzt. Das ψ2-Molekülorbital ist das HOMO, das ψ3*-Orbital das LUMO.
Bild 6.12 Linearkombination der p-Orbitale des Allylsystems und die Besetzung der Molekülorbitale mit Elektronen.
Im Benzol sind alle C-Atome sp2-hybridisiert. Jedes C-Atom des 6-Ringes hat ein p-Orbital. Diese sechs p-Orbitale lassen sich unter Berücksichtigung der Symmetrie des Benzols (sechszählige Hauptachse des Moleküls) auf sechsfache Weise kombinieren, so daß sechs Molekülorbitale entstehen. In Bild 6.13 sind die die Molekülorbitale durch Überlappung bildenden p-Orbitale mit der entsprechenden Phasenkennzeichnung (dunkel bzw. hell) und den senkrecht auf den Sechsring stehenden Knotenebenen dargestellt. Mit zunehmender Anzahl der Knotenebenen ist das Molekülorbital energiereicher.
208
6 Aromatische Verbindungen
Mit π-Elektronen besetzt sind im Benzol nur die bindenden Molekülorbitale ψ1, ψ2 und ψ3. Die antibindenden Molekülorbitale sind unbesetzt.
Bild 6.13 Linearkombination der p-Orbitale im Benzol und Besetzung der Molekülorbitale mit πElektronen
Das energieärmste Molekülorbital des Benzols ist das Molekülorbital ψ1. Es entsteht durch Überlappung der p-Orbitallappen, die sich in Relation zueinander alle in gleicher Phase befinden, so daß sich das Molekülorbital über den ganzen Sechsring erstreckt. Es hat einen ringförmigen Orbitallappen über und einen mit entgegengesetzter Phase unter dem Sechsring. Die Knotenebene des Molekülorbitals geht durch die in einer Ebene liegenden CAtome des Sechsringes
Bild 6.14 Energieärmstes Molekülorbital des Benzols
Etwas energiereicher als das Molekülorbital ψ1 sind die beiden energiegleichen Orbitale ψ2 und ψ3. Beide Molekülorbitale haben außer der durch den ebenen Ring gehenden Knotenebene noch eine weitere, senkrecht auf dem Sechsring stehende Knotenebene.
6.3 Die Molekülorbitaltheorie
209
Beim Molekülorbital ψ2 überlappen nur je zwei und zwei in gleicher Phase befindliche p-Orbitale. Eine auf dem Benzolring senkrecht stehende Knotenebene geht durch zwei gegenüberliegende Kohlenstoffatome des Sechsringes. Senkrecht auf dem Sechsring stehende Knotenebene, durch 2 gegenüberliegende Kohlenstoffatome des Benmzolrings gehend
Das ψ2-Molekülorbital des Benzols Bild 6.15 ψ2-Molekülorbital des Benzols
Das bindende Molekülorbital ψ3 hat zwei π-Orbitale, welche durch Überlappen von je 3 in gleicher Phase befindlichen p-Orbitalen zustande kommen. Die senkrechte Knotenebene geht durch zwei gegenüberliegende C–C-Einfachbindungen.
C
C C
Senkrecht auf den Bezolring stehende Knotenebene, durch gegenüberliegende Bindungen gehend
C
Das ψ3 -Molekülorbital des Benzols
Bild 6.16 ψ3-Molekülorbital des Benzols
Die energiegleichen Molekülorbitale ψ2 und ψ3 sind die energiereichsten mit π-Elektronen besetzten Molekülorbitale des Benzols (HOMO). Die energiegleichen Molekülorbitale ψ4* und ψ5* sind die energieärmsten unbesetzten Molekülorbitale des Benzols (LUMO). Bei Zuführung von Energie können π-Elektronen von HOMO in einen energiereicheren Zustand nach LUMO angehoben werden. Je kleiner die Unterschiede in den Energieniveaus von HOMO und LUMO sind, um so leichter läßt sich das betreffende Molekül anregen. Eine Gesamtbetrachtung der mit π-Elektronen besetzten bindenden Molekülorbitale ψ1, ψ2 und ψ3 des Benzols ergibt, daß die π-Elektronen auf den ganzen Sechsring delokalisiert sind.
210
6 Aromatische Verbindungen
6.3.1 Pericyclische Reaktionen Als pericyclisch werden solche chemischen Reaktionen bezeichnet, die ohne Zwischenstufen über einen cyclischen Übergangszustand verlaufen, wobei eine gleichzeitige Umordnung mehrerer Elektronen erfolgt, die neue Bindungsverhältnisse zur Folge hat. Während dem gesamten Reaktionsverlauf bleibt eine bindende Wechselwirkung der Reaktanten bestehen. Der Verlauf der Reaktion entspricht dem Symmetrieerhalt der beteiligten Orbitale, was eine Vorhersage über Stereospezifität und Regioselektivität ermöglicht. Zu den pericyclischen Reaktionen zählen: elektrocyclische Reaktionen, Cycloadditionen und Cycloreversionen, cheletrope Reaktionen und sigmatrope Umlagerungen. 6.3.1.1 Elektrocyclische Reaktionen Unter dem Begriff elektrocyclische Reaktionen versteht man die Cyclisierung durch Bildung einer σ-Bindung an den Enden eines durchgehenden konjugierten π-Systems und auch die Umkehrung dieser Reaktion, die zu einer Ringöffnung führt. Die Reaktion kann sowohl thermisch (durch Erhitzen) als auch photochemisch (durch Bestrahlung) erfolgen. Der Verlauf der Reaktion wird bestimmt durch die Symmetrieeigenschaften des höchstbesetzten Molekülorbitals (HOMO), denn in ihm befinden sich die an der Reaktion beteiligten Bindungselektronen.
Thermische elektrocyclische Reaktionen Betrachten wir beispielsweise die thermische elektrocyclische Reaktion des trans,transHexa-2,4-diens: Das bei der Reaktion beteiligte konjugierte π-System ist das des Buta-1,3diens. Das Molekülorbital ψ2 des Buta-1,3-diens ist das HOMO, dessen Geometrie den weiteren räumlichen Verlauf der Reaktion bestimmt. Die endständigen p-Orbitale des ψ2Molekülorbitals des trans,trans-Hexa-2,4-diens müssen, damit die Orbitallappen gleicher Phase zur Bildung der neuen σ-Bindung überlappen können, beide eine gleichsinnige Drehung erfahren: entweder im Uhrzeigersinn oder gegen den Uhrzeigersinn. Diese Drehung beider C-Atome im gleichen Drehsinne wird als conrotatorisch bezeichnet. Die conrotatorische Drehung entspricht der Symmetrie einer zweizähligen Symmetrieachse und sie steht im Einklang mit der Symmetrie des ψ2-Molekülorbitals des trans,trans-Hexa-2,4-diens. Die conrotatorische Drehung ist auch in Übereinstimmung mit der von Woodward und Hoffmann aufgestellten Regel, daß die pericyclischen Reaktionen unter Erhalt der Orbitalsymmetrie verlaufen.
6.3 Die Molekülorbitaltheorie
211
Die conrotatorische Drehung der endständigen p-Orbitale bewirkt nicht nur das Entstehen einer neuen σ-Bindung, die den Ringschluß vollzieht, die Drehung wird auch auf die beiden Methylgruppen übertragen, so daß es zur Bildung des trans-3,4-Dimethylcyclobutens kommt.
Als Beispiel eines thermischen elektrocyclischen Ringschlusses einer Verbindung mit drei konjugierten Doppelbindungen kann das trans,cis,trans-2,4,6-Octatrien dienen. Die Symmetrie des 6-π-Elektronensystems ist im ψ3-Molekülorbital durch eine Symmetrieebene gegeben. Die Cyclisierung erfolgt demnach disrotatorisch, das heißt, die Drehung beider CAtome erfolgt im entgegengesetzten Drehsinn.
Die disrotatorische Drehung bringt die beiden Methylgruppen bei Ringschluß in cisStellung zueinander.
212
6 Aromatische Verbindungen
Photochemische elektrocyclische Reaktionen Nehmen wir nun wiederum das trans,trans-Hexa-2,4-dien als Beispiel, nur betrachten wir diesmal seine Cyclisierung bei der photochemischen elektrocyclischen Reaktion. Durch die Bestrahlung wird ein Elektron im konjugierten π-System des Buta-1,3-diens in das Molekülorbital ψ3 angehoben, das nun das höchstbesetzte Molekülorbital ist, Die Symmetrieeigenschaften dieses Molekülorbitals bestimmen dann den weiteren Verlauf der Reaktion. Die endständigen p-Orbitale müssen, damit die Orbitallappen gleicher Phase zur Bildung der σBindung überlappen können, eine Drehung im entgegengesetzten Drehsinn vollführen. Die Drehung im entgegengesetzten Drehsinn wird als disrotatorisch bezeichnet. Sie entspricht der Symmetrie des ψ3-Molekülorbitals, die durch eine Symmetrieebene gegeben ist. Dies steht auch mit der der Woodward-Hoffmann-Regel im Einklang, daß die Reaktion unter Erhaltung der Orbitalsymmetrie verlaufen muß.
Die disrotatorische Drehung der endständigen C-Atome bringt auch die beiden Methylgruppen bei Ringschluß zueinander in cis-Stellung.
Thermische elektrocyclische Ringschlüsse mit Beteiligung von 4n π-Elektronen verlaufen conrotatorisch und mit (4n + 2) π-Elektronen disrotatorisch. Bei photochemischen elektrocyclischen Reaktionen ist dies gerade umgekehrt der Fall.
6.3 Die Molekülorbitaltheorie
213
6.3.1.2 Cycloadditionen und Cycloreversionen Unter Cycloaddition versteht man eine Reaktion, bei der ein π-Elektronensystem der einen Verbindung mit dem π-Elektronensystem einer anderen Verbindung in Wechselwirkung tritt, wobei unter Umordnung der π-Elektronen und Ausbildung zweier σ-Bindungen eine cyclische Verbindung entsteht. Die Reaktion in umgekehrter Richtung, die zu den Edukten der Cycloaddition zurückführt, wird als Cycloreversion bezeichnet. Bei der Cycloaddition sind an der Ausbildung der σ-Bindung zwei π-Elektronen der einen Verbindung im HOMO beteiligt. Da die entstehende σ-Bindung mit nur zwei Elektronen besetzt werden kann, muß ein mit Elektronen unbesetztes Molekülorbital der anderen Verbindung an der Reaktion teilhaben. Die Energiedifferenz zwischen dem HOMO der einen Verbindung und dem mit Elektronen unbesetzten Molekülorbital der anderen Verbindung muß außerdem möglichst klein sein, so daß nur das LUMO in Frage kommt, das zum HOMO der anderen Verbindung einen möglichst kleinen Unterschied der Energieniveaus aufweist. An der Reaktion beteiligt sind also die Grenzorbitale: das LUMO der einen und das HOMO der anderen Verbindung. Die terminalen Orbitallappen im HOMO der einen und im LUMO der anderen miteinander reagierenden Verbindungen müssen in gleicher Phase sein („in phase“), um überlappen zu können. Die Diels-Alder-Reaktion Die bekannteste und wohl am meisten angewendete Cycloadditionsreaktion ist die DielsAlder-Reaktion. Sie spielt bei der Synthese von Naturstoffen z. B. von Steroiden mit der Möglichkeit einer Einführung von Sechsringen eine Rolle. Die Diels-Alder-Reaktion ist eine [4+2]-Cycloaddition. Dies bedeutet, daß sich an der Reaktion 4π-Elektronen des einen und 2π-Elektronen des anderen Reaktionspartners beteiligen. Ein einfaches Beispiel einer Diels-Alder-Reaktion ist die Reaktion des 1,3-Butadiens mit Ethen.
Faciale Selektivität In beiden Fällen kommt es zu einer Überlappung, wenn sich der Reaktionspartner aus einer Seite nähert. Diesen Vorgang bezeichnet man als suprafacial. Das Alken, das mit dem Dien
214
6 Aromatische Verbindungen
reagiert, bezeichnet man als Dienophil. Bei der Diels-Alder-Reaktion können die gleichnamigen Orbitallappen beider Molekülorbitale bei suprafacialer Näherung überlappen, ohne daß eine Drehung der p-Orbitale notwendig gewesen wäre. Die Folge ist eine faciale Selektivität. Stehen zwei Substituenten des Dienophils z. B. zueinander in trans-Stellung, werden sie auch nach Ringschluß wieder in trans-Stellung zueinander sein. Auch die relative Stellung der Substituenten an der Dienkomponente bleibt unverändert.
Wechselwirkung zwischen Grenzorbitalpaaren Bild 6.17 zeigt die Energieunterschiede zwischen zwei Grenzorbitalpaaren des 1,3Butadiens mit unterschiedlichen Dienophilen: mit einem Dienophil mit einem elektronenziehenden Substituenten, mit Ethen als Dienophil und mit einem Dienophil mit elektronenspendenden Substituenten. Ist die Elektronenlücke kleiner, ist für den Reaktionsablauf ein kleinerer Energieaufwand notwendig, die Reaktion erfolgt schneller. Es wird also die Wechselwirkung zwischen den Grenzorbitalpaaren mit der kleineren Energielücke ausschlaggebend sein. Bei der Reaktion des 1,3-Butadiens mit einem elektronenspendenden Substituenten sind es das HOMO des Dienophils und das LUMO des 1,3-Butadiens die den kleinsten Energieunterschied aufweisen und bei der Reaktion des 1,3-Butadiens mit dem Dienophil mit einem elektronenziehenden Substituenten ist für die Reaktion das HOMO des 1,3-Butadiens und das LUMO des Dienophils bestimmend. Eine Betrachtung von Bild 6.14 bietet auch die Erklärung dessen, warum die Reaktion des 1,3-Butadiens mit einem substituierten Dienophil besser und schneller verläuft als mit Ethen. Die DielsAlder-Reaktion erfolgt am schnellsten mit einem Dien mit elektronenspendem Substituenten und einem Dienophil mit elektronenziehendem Substituenten. Elektronenspendende Substituenten (ERG = electron releasing group) können Substituenten mit +I –Effekt oder π-Donoren sein, z.B. die Gruppen –OR, –SR oder –OSi(CH3)3, elektronenziehende Substituenten (EWG = electron withdrawing group) sind solche mit –I-Effekt oder π-Akzeptoren, z. B. –COOR, –NO2, oder –CN.
6.3 Die Molekülorbitaltheorie
215
Bild 6.17 – Energieunterschiede zwischen Grenzorbitalpaaren
exo/endo-Selektivität Bei der Diels-Alder-Reaktion des 1,3-Cyclopentadiens mit Maleinsäureanhydrid sind zwei mögliche Produkte denkbar. Das endo- und das exo-Produkt. Es entsteht bevorzugt das endoProdukt.
216
6 Aromatische Verbindungen
Die bevorzugte Bildung des endo-Produkts erklärt man damit, daß es bei der Näherung der beiden Moleküle nicht nur zu einer Wechselwirkung zwischen den endständigen pOrbitalen im HOMO des 1,3-Cyclopentadiens (1 und 4) und den p-Orbitalen im LUMO des Maleinsäureanhydrids in Stellung 2 und 3 kommt, sondern auch zu einer Wechselwirkung der beiden p-Orbitale der Carbonylkohlenstoffe im LUMO des Maleinsäureanhydrids (1 und 4) mit den p-Orbitalen 2 und 3 im HOMO des 1,3-Cyclopentadiens. Diese Wechselwirkungen bewirken eine endo-Orientierung.
Regioselektivität der Diels-Alder-Reaktion Die Diels-Alder-Reaktionen erfolgen regioselektiv. Hat das Dien am endständigen Kohlenstoffatom einen Substituenten –X gebunden und reagiert mit einem Dienophil, das einen Substituenten –Y bindet, so befinden sich –X in Stellung 3 und –Y in Stellung 4 des Cyclohexenringes. Nur wenn sowohl –X als auch –Y elektronenspendende Gruppen sind, erfolgt die Addition in Stellung 3 und 5.
Reagiert ein in Stellung 2 mit –X substituiertes Dien mit einem Dienophil mit Substituenten –Y, so befinden sich –X nach der Diels-Alder-Reaktion in Stellung 2 und –Y in Stellung 5 am Cyclohexenring des Reaktionsprodukts. Eine Ausnahme dieser Regel liegt dann vor, wenn sowohl –X als auch –Y elektronenspendende Substituenten sind, dann befinden sich – X in Stellung 2 und –Y in Stellung 4 am Cyclohexenring des Produkts.
6.3 Die Molekülorbitaltheorie
217
Regeln für die Cycloaddition Symmetrieerlaubt im Sinne der Woodward-Hoffmann-Regeln sind thermische Cycloadditionen in denen die Anzahl der π-Elektronen beider Komponenten der Summe [4nπ + 2π] entspricht, wenn bei suprafacialer Näherung beider Komponenten eine Überlappung beider Grenzorbitale erfolgen kann. Beispiele sind die thermische Addition des Butadiens an Hexatrien, eine [6πs + 4πs]-Cycloaddition (s = supra) und die Addition des Ethens an Octatetraen, eine [8πs + 2πs]-Cycloaddition:
6.3.1.3 Cheletrope Reaktionen Bei cheletropen Reationen werden zwei Atome der einen Verbindung an ein einziges Atom der anderen Verbindung geknüpft . Ein Beispiel für eine cheletrope Reaktion ist die Reaktion des Carbens im Singulett-Zustand mit einem Alken (siehe auch Abschnitt 5.8.1), wobei ein Cyclopropanring gebildet wird. Die Reaktion verläuft stereospezifisch, was auf eine konzertierte Reaktion hinweist: cis-Substituenten am Alken sind auch am Cyclopropanring cis-ständig und trans-Substituenten des Alkens befinden sich auch wieder im Cyclopropanring in trans-Stellung zueinenander.
218
6 Aromatische Verbindungen
Den Vorgang beschreiben Skell und Cholod folgendermaßen: Die Addition des SinglettCarbens erfolgt in einem einzigen Schritt. Das unbesetzte p-Orbital des Singlett-Carbens greift das Alken längs der σ-Achse unter Bildung eines Ladungstransfers an. Der Übergangszustand, der aus einem elektronenarmen Alken und einem elektronenreichen Carbenanteil besteht, ist polarisiert und schrumpft durch Verdrehung der CH2-Gruppe zusammen, wobei der Cyclopropanring entsteht.
6.3.1.4 Sigmatrope Umlagerungen Die sigmatrope Umlagerung ist eine Reaktion, in der eine konzertierte Reorganisation von Elektronen stattfindet, in deren Verlauf ein σ-gebundener Substituent, der sich am zum πElektronensystem benachbarten Kohlenstoffatom befindet, an das andere Ende des πElektronensystems wandert. Die Reaktion wird durch Angabe der Ordnung [i,j] gekennzeichnet, wobei i für die Anzahl der wandernden Atome und j für die Anzahl der Atome im π-System steht. Bleibt die wandernde Gruppe während des gesamten Prozesses der Wanderung auf derselben Seite des π-Systems, so bezeichnet man die Umlagerung als suprafacial, wechselt sie auf die andere Seite, so bezeichnet man den Verlauf als antarafacial. Man geht von der Vorstellung aus, daß die σ-Bindung des Substituenten homolytisch gespalten wird und daß der Übergangszustand durch Überlappung des HOMO der wandernden Gruppe mit dem HOMO des π-Systems zustande kommt. Ein einfaches Beispiel einer sigmatropen Umlagerung ist die [1,j]-Wasserstoffverschiebung:
Ist die wandernde Gruppe ein Alkylrest, so ist zu unterscheiden, ob im Übergangszustand nur ein p-Orbitallappen oder beide p-Obitallappen des Alkylrestes an der Wechselwirkung beteiligt sind. Ist nur ein p-Orbitallappen beteiligt, bleibt die ursprüngliche Konfiguration am Alkylrest erhalten (Retention), sind beide p-Orbitallappen involviert, erfolgt am Alkylrest eine Inversion.
6.3 Die Molekülorbitaltheorie
219
Für thermische sigmatrope Verschiebungen der Ordnung [1,j] gilt die Regel: Ist die Gesamtzahl der an der Verschiebung teilnehmenden Elektronen (die π-Elektronen und die zwei Elektronen der σ-Bindung) 4n, so sind die Verschiebungen suprafacial mit Inversion und antarafacial mit Retention und für (4n + 2) die Umlagerungen suprafacial mit Retention und antarafacial mit Inversion erlaubt. [3,3]-sigmatrope Umlagerungen Zu den [3,3]-sigmatropen Umlagerungen zählen so bedeutende Reaktionen wie die CopeUmlagerung, die aliphatische Claisen-Umlagerung, die Claisen-Umlagerung (siehe auch Abschnitt 3.10.5 und 12.4.3) und die Oxy-Cope-Umlagerung. R
R O
Cope Umlagerung am Beispiel des 3-Alkyl-1,5-hexadiens
HO
HO
Oxy-Cope-Umlagerung
O
O
Claisen-Umlagerung Claisen-Umlagerung des Allylphenylethers von Allylvinylether (aliphatische ClaisenUmlagerung) Keto-EnolTautomerie
O
O
Keto-EnolTautomerie
OH
220
6 Aromatische Verbindungen
Man kann bei der Cope-Umlagerung von der Vorstellung ausgehen, daß im Edukt und im Produkt der Cope-Umlagerung zwei Allylfragmente durch eine σ-Bindung verbunden sind. In einer konzertierten Reaktion wird bevorzugt ein sesselförmiger Übergangszustand erreicht, wobei die stereochemischen Verhältnisse erhalten bleiben. Der Übergangszustand wird im Formelbild als Wechselwirkung zweier Allylfragmente im HOMO = ψ2 dargestellt:
6.4 Nomenklatur der Benzolderivate Bei monosubstituierten Benzolderivaten wird zunächst der Substituent genannt und dann das Wort Benzol hinzugefügt, z.B. Br
NO2
Nitrobenzol
CH2CH2CH3
CH2CH3
Brombenzol
Ethylbenzol
Propylbenzol
Bei Vorliegen mehrerer Substituenten ist eine Stellungsisomerie möglich, und deshalb ist es notwendig, die Stellung der Substituenten im Benzolring anzugeben. Die Durchnumerierung des Benzolringes erfolgt so, daß die Substituenten die niedrigste Zahl erhalten. Die Substituenten werden in alphabetischer Reihenfolge genannt, z.B. Br
Cl
1 6
1
Cl 6 5
2
5
3 4
CH3CH2
NO2 2 3
4
CH2CH2CH3
NO2
1-Brom-2-chlor4-nitrobenzol
1-Chlor-5-ethyl-2nitro-3-propylbenzol
Vielfach wird für die Stellenangabe zweier Substituenten im Benzol anstelle von 1,2- die Bezeichnung ortho-, abgekürzt o-, für die Stellung 1,3 meta-, abgekürzt m-, und für die Stellung 1,4- para-, abgekürzt p-, angegeben, z.B.
6.4 Nomenklatur der Benzolderivate
221
O2N
Cl
CH3CH2
NO2
CH2CH2CH3
NO2
o-Chlornitrobenzol
m-Dinitrobenzol
p-Ethylpropylbenzol
Befinden sich am Benzolring drei Substituenten, kann anstelle der Stellenangabe 1,2,3die Bezeichnung vicinal, abgekürzt vic.-, anstelle von 1,2,4- asymmetrisch, abgekürzt asym.oder as.-, und anstelle von 1,3,5 das Präfix symmetrisch, abgekürzt sym.- stehen. CH3
CH3
CH3 CH3
CH3
CH3
H3C
CH3 CH3
vic.-Trimethylbenzol (Hemellitol)
as.-Trimethylbenzol (Pseudocumol)
sym.-Trimethylbenzol (Mesitylen)
Einige Benzolderivate haben Trivialnamen, z.B.: H3C CH3
CH3
CH3
CH3
CH3 CH
H3C
CH3 CH
CH3
CH3 CH3
Toluol HC
o-Xylol CH2
OH
m-Xylol
CH3
p-Xylol
Cumol
OH
OH
OH
p-Cymol NH2
CH3
CH3 CH3
Styrol
Phenol
o-Kresol
m-Kresol
p-Kresol
Anilin
222
6 Aromatische Verbindungen
Der Rest C6H5–, der oftmals als Ph- abgekürzt wird, heißt Phenylrest. Enthält das Benzolderivat eine komplizierte Seitenkette, so wird diese als Hauptkette angesehen, und der Phenylrest als Substituent angegeben. Die Verbindung wird in diesem Falle als Phenylalkan bezeichnet. Auch bei Verbindungen mit mehr als einem Benzolring im Molekül ist es vorteilhaft, das Alkan als Hauptkette zu betrachten. Einige Beispiele von Benennungen mit dem Phenylrest: CH3
CH3
CH3CHCHCHCH3
C
C
CH
H
2,4-Dimethyl3-phenylpentan
Triphenylmethan
Biphenyl
Phenylacetylen
Aromatische Restgruppen, die in der Nomenklatur häufiger Verwendung finden sind: CH2
CH
Benzyl-
H3C
Benzyliden- (Benzal-)
Tolyl-
Beispiele: CH2CH3 CH2
Cl
CHCl2
H3C
CHCHCH3 CH3
Benzylchlorid
Benzalchlorid
2-Methyl-3-p-tolylpentan
Es sei abschließend noch vermerkt, daß die bei uns als Benzol, Toluol, Styrol bezeichneten Verbindungen im Englischen die Endung -ene haben, also: benzene, toluene, styrene usw. Zum Teil wird in der deutschen Literatur, besonders in den neuen Bundesländern, in Anpassung an die angelsächsische Literatur und die IUPAC-Nomenklaturregelung bei Aromaten die Endung -en verwendet, z.B. Benzen, Toluen usw.
6.5 Gewinnung und Verwendung von Benzol Etwa die Hälfte des produzierten Benzols wird bei uns Motorkraftstoffen zugesetzt. Dieser Zusatz erhöht die Octanzahl des Kraftstoffes und somit seine Klopffestigkeit. Benzin kann bis zu 5% Benzol enthalten (beim Tanken Benzindämpfe nicht einatmen, Benzol ist gesundheitsschädigend!). Benzol findet auch als Extraktions- und Lösungsmittel Verwendung. Benzol ist in der industriellen Chemie die wichtigste Basis für die Erzeugung aromatischer Zwischenprodukte und cycloaliphatischer Verbindungen. Der Hauptverbrauch des
6.6 Reaktionen des Benzols
223
Benzols für synthetische Zwecke liegt bei der Synthese des Ethylbenzols (43–49 %), das als Zwischenprodukt für die Synthese des Styrols gebraucht wird, bei der Synthese des Cumols (17–21 %), das ein Zwischenprodukt für die Herstellung von Phenol und Aceton darstellt (Hock-Prozeß), und es wird zu Cyclohexan (18–25 %) katalytisch hydriert. Das Cyclohexan dient als Ausgangsmaterial (siehe Abschnitt 17.4.3.6) für die Herstellung von Polyamiden (Perlon, Dederon). Benzol ist im Kokereigas und dem bei der Koksgewinnung anfallenden Steinkohlenteer enthalten. Aus dem Kokereigas wird es durch Gaswäsche mit Anthracenöl (höhersiedende Kohlenwasserstoffe) gewonnen oder es wird an Aktivkohle adsorbiert. Mit Umstellung der Gasversorgung auf Erdgas ist allerdings die Gewinnung von Benzol aus Kokereigas stark zurückgegangen. Der Anteil der Kohle als Rohstoffquelle für Benzol ist inzwischen auf rund 10 % gesunken. Heute gewinnt man Benzol hauptsächlich aus dem bei der Erdölverarbeitung anfallenden Reformat- und Pyrolysebenzin. Neben Benzol kommen darin auch noch Toluol und Xylole vor. Das Reformatbenzin fällt beim Reformierprozeß an. Bei diesem Verfahren werden Benzinfraktionen mit unzureichender Octanzahl zu Motorbenzin mit entsprechend höherer Octanzahl umgesetzt. Es handelt sich um einen katalytischen Crackprozeß in Gegenwart von Wasserstoff (siehe Abschnitt 7.6.2.5), bei dem Isomerisierungen und Cyclisierungen eintreten und durch Dehydrierung von Cycloalkanen auch eine Umwandlung in Aromate erfolgt. Das Pyrolysebenzin, das einen hohen Benzolgehalt aufweist, stammt aus dem Steamcracken, wobei Naphtha kurzfristig auf 800–900°C erhitzt wird (siehe Abschnitt 7.6.1.2). Das Verfahren dient hauptsächlich der Erzeugung von Ethen. Spezielle Trennverfahren werden für die Nichtaromaten/Aromaten-Trennung eingesetzt, worauf eine Trennung der isolierten Aromatengemische erfolgt.
6.6 Reaktionen des Benzols Der Reaktionstypus, der die Aromaten charakterisiert, ist die elektrophile aromatische Substitution. Zu dieser zählen wichtige Reaktionen, z.B. die Nitrierung, die Sulfonierung, die Bromierung und die Friedel-Crafts-Reaktion. Die nucleophile aromatische Substitution ist bei Derivaten des Benzols ebenfalls möglich, sie erfordert jedoch drastische Reaktionsbedingungen oder die Aktivierung des Benzolkerns durch Substituenten mit –M-Effekt. Schließlich ist die radikalische Halogenierung des Benzols zu erwähnen, die bei Bestrahlung der Reaktanten erfolgt.
6.6.1 Die elektrophile aromatische Substitution (SE) Die elektrophile aromatische Substitution wird mit dem Symbol SE abgekürzt, wobei S für Substitution und E für elektrophil steht. SE-Reaktionen sind nicht nur für Benzol kennzeichnend, sondern auch für andere aromatische Verbindungen. Mit ihrer Hilfe kann man viele wichtige Derivate des Benzols synthetisieren. Die Anhäufung von 6 π-Elektronen und damit auch die relativ hohe negative Ladungsdichte im Benzol läßt vermuten, daß es ähnlich wie bei den Alkenen zu einer Wechselwirkung zwischen elektrophilen Teilchen und den delokalisierten π-Elektronen kommen kann.
224
6 Aromatische Verbindungen
Diese Wechselwirkung kann zu einem losen Komplex des Elektrophils mit dem Benzol führen. Solche Komplexe wurden in einigen Fällen experimentell nachgewiesen. Der Komplex wird als π-Komplex bezeichnet. Die Bildung des Komplexes, die den ersten Teilschritt der SE-Reaktion vorstellt, ist ein reversibler Prozeß. +
X
X
π-Komplex
Benzol
X
= Elektrophil
Der π-Komplex wird mit einem vom 6-Ring ausgehenden Pfeil veranschaulicht, der auf das Elektrophil weist. Damit will man ausdrücken, daß das Benzol als Elektronendonator (Elektronenspender) auftritt. Als Elektrophile können Kationen, z.B. NO2+, Verbindungen mit polaren kovalenten Bindungen oder auch leicht polarisierbare Moleküle, z.B. Br2, auftreten. Im nächsten Reaktionsschritt wird das Elektrophil mit einer σ-Bindung an einen Kohlenstoff des Ringes gebunden. Die beiden Bindungselektronen stammen aus dem π-Elektronensextett des vorher aromatischen Ringes. Im Zuge dieses Prozeßes erfolgt eine Umhybridisierung des sp2-hybridisierten Ring-Kohlenstoffatomes, an dem sich die C–X-σ-Bindung bildet, nach sp3. Der Reaktionsschritt ist mit einem hohen Aufwand an Aktivierungsenergie verbunden, denn das Benzol, das vorher in einem energiearmen aromatischen Zustand war, wird in das relativ energiereiche Phenonium-Ion (Cyclohexadienyl-Kation), den σ-Komplex, umgewandelt. Infolge der hohen Aktivierungsenergie ist dies der langsamste Teilschritt der Reaktion und damit auch geschwindigkeitsbestimmend für die gesamte Reaktion. X H
X π-Komplex
σ-Komplex
Die Ladungsverteilung der vier im Ring des σ-Komplexes verbliebenen π-Elektronen läßt sich durch die folgenden mesomeren Grenzformeln beschreiben: X H
X
X
H
H
X H
Resonanzhybrid
Grenzformeln
6.6 Reaktionen des Benzols
225
Den mesomeren Grenzformeln entsprechend verteilen sich die vier π- Elektronen auf die fünf sp2-hybridisierten Kohlenstoffatome des Ringes, wobei die Elektronendichte in den m-Stellungen zum Substituenten X etwas größer ist. Die positive Ladung befindet sich bevorzugt in o- und p-Stellung. Der Kreisausschnitt mit der positiven Ladung in der Mitte des Sechsringes soll den mit den vorher gezeigten Grenzformeln charakterisierten Sachverhalt symbolisieren. Die Lücke im Kreisausschnitt beim sp3-hybridisierten C-Atom des Sechsringes weist darauf hin, daß dieses Kohlenstoffatom,das mit vier σ-Bindungen bereits abgesättigt ist, an der Verteilung der π-Elektronen im Sechsring nicht partizipiert. Im letzten Reaktionsschritt erfolgt die Abspaltung des Protons, wodurch die zwei Valenzelektronen, die bisher die C–H-σ-Bindung bildeten, in den Sechsring einbezogen werden. Auf diese Weise wird der aromatische Zustand wieder hergestellt. Dieser Reaktionsschritt erfolgt schnell. X
X
H σ-Komplex
+
H
substituiertes Benzol
Den Reaktionsmechanismus der SE-Reaktion kann man wie folgt zusammenfassen: X X
+ X
Benzol
Elektrophil
H
π-Komplex
σ-Komplex
X + H
substituiertes Benzol
Zu der elektrophilen aromatischen Substitution ist noch anzumerken, daß die FriedelCrafts-Alkylierung und die Sulfonierung reversibel sind, nicht aber die Nitrierung. Für die letztgenannten Reaktion gilt also der Doppelpfeil im letzten Reaktionsschritt nicht. Die Dechlorierung, Debromierung und Deiodierung von Chlor-, Brom- und Iodbenzol zu Benzol in Gegenwart von Lewis-Säuren und Cl–-, Br–- bzw. I–-Anionen lassen vermuten, daß es sich auch bei der Chlorierung, Bromierung und Iodierung von Arenen im Prinzip um reversible Reaktionen handelt. Bild 6.18 beschreibt das Energieprofil einer elektrophilen aromatischen Substitution am Benzol. Für die Bildung des σ-Komplexes aus den Edukten bedarf es einer hohen Aktivierungsenergie. Dieser Reaktionsschritt ist der geschwindigkeitsbestimmende Schritt der SEReaktion. Die Mulden im Verlauf der Kurve des Energiediagramms weisen auf Zwischenprodukte hin, während die Maxima der Kurve Übergangszustände charakterisieren. Der Übergangszustand, der zum σ-Komplex führt, kann so beschrieben werden, daß die σ-Bindung mit dem Elektrophil noch nicht ganz zustande gekommen ist, die Aromatizität des Ringes jedoch schon nicht mehr gegeben ist.
226
6 Aromatische Verbindungen X X
H
+
Übergangszustand
+
H
Übergangszustand
X H
+
Epot
EA
σ-Komplex
EA = Aktivierungsenergie ΔH = Reaktionsenthalpie
+ X π-Komplex
ΔH
+ X+
X
+
H
+
Reaktionskoordinate Bild 6.18 Energiediagramm einer SE-Reaktion
6.6.1.1 Die Nitrierung Die Nitrierung des Benzols erfolgt durch das Nitronium-Ion +NO2. Dieses wird bei der Protonierung der Salpetersäure gebildet: O H
O
N
H
O
O
H
O
O N
H O
H
O H
+
N O
Die Salpetersäure vermag sich zwar auch selbst zu protonieren, O H
O H
O
N
H O O O
O
N
N O
H
O + H2O + NO3
O
NO3
N O
doch ist die Protonierung relativ schwach, so daß Nitrierungen alleine mit Salpetersäure nur bei Benzolderivaten durchgeführt werden, die Substituenten besitzen, die den Benzolkern
6.6 Reaktionen des Benzols
227
mit + I- bzw. +M-Effekt aktivieren. Die nitrierende Wirkung eines als Nitriersäure bezeichneten konz. Salpetersäure/konz.Schwefelsäure-Gemisches im Volumenverhältnis 5:7 ist weit stärker. HNO3
NO2
2 H2SO4
+
H3O
+
+
2 HSO4
Eine weitere Steigerung der Reaktivität kann man mit einem Gemisch von rauchender Salpetersäure und Oleum erreichen. Den Reaktionsmechanismus der Nitrierung kann man wie folgt zusammenfassen: O
O
Benzol
O
O
N
+ N
N
H
O
O
Nitroniumion
π-Komplex
N O
O
σ-Komplex
+ H
Nitrobenzol
Benzolderivate, die einen Substituenten mit +I-Effekt oder +M-Effekt besitzen, lassen sich besonders leicht nitrieren. In diesem Fall kann die Nitrierung bis zur Trinitroverbindung erfolgen. 2,4,6-Trinitrotoluol (TNT) wird durch Nitrierung von Toluol mit Nitriersäure hergestellt. CH3
CH3 O 2N
NO2
HNO3 / H2SO4, 120 °C
NO2 2,4,6-Trinitrotoluol
Toluol
TNT ist ein stoßunempfindlicher Explosivstoff, der mit Initialzündung zur Explosion gebracht wird. Die blaßgelbe kristalline Masse schmilzt bei 81°C, sie kann mit Wasserdampf geschmolzen und in Formen gegossen werden. O2N
N
N
NO2
N NO2
Hexogen (1,3,5-Trinitro-perhydro-1,3,5-triazin)
Mit Hexogen gemischt wird TNT zur Füllung von Granaten und Bomben verwendet. Bei der Explosion zerfällt TNT in CO2, CO, Wasserdampf und Stickstoff mit einer Detonationsgeschwindigkeit von 6900 m · s–1, wobei 4520 kJ/kg Energie frei werden. Die Wirkung anderer Sprengstoffe wird oft durch Vergleich mit der Sprengkraft von TNT gemessen.
228
6 Aromatische Verbindungen
Die Pikrinsäure ist das 2,4,6-Trinitrophenol. Sie wird nicht direkt durch Nitrierung von Phenol hergestellt, denn Phenol selbst wird durch Salpetersäure, die ja ein Oxidans ist, oxidiert. Man sulfoniert deshalb Phenol zuerst, wobei man die Phenol-2,4-disulfonsäure erhält. Die Sulfonierung ist eine reversible Reaktion, so daß durch Erhitzen dieses Produkts mit konz. Salpetersäure die beiden –SO3H-Gruppen durch Nitrogruppen ersetzt werden und dieses Produkt gleichzeitig noch weiter zur Pikrinsäure nitriert wird. OH
OH
OH SO3H
konz. H2SO4
konz. HNO3 / H2SO4
NO2
24 St. O °C, 1 St. 30-45 °C
100 °C
NO2
SO3H
Phenol
O2N
Phenoldisulfonsäure
Pikrinsäure
Pikrinsäure (griechisch pikros = bitter) kristallisiert in hellgelben Blättchen und hat eine Schmelztemperatur von 122°C. Seide, Wolle und Leder können mit Pikrinsäure leuchtend gelb gefärbt werden. Im Ersten Weltkrieg wurden Gemische mit Pikrinsäure als Füllung für Granaten verwendet. Als Initalzünder diente Knallquecksilber Hg(CNO)2. Die Pikrinsäure greift jedoch das Metall der Granaten an, wobei sich unberechenbar explodierende, stoßempfindliche Pikrate bilden. Deshalb wird heute anstelle der Pikrinsäure zur Füllung von Granaten TNT verwendet. 6.6.1.2 Die Sulfonierung Die Sulfonierung erfolgt gewöhnlich mit rauchender Schwefelsäure, die etwa 8% Schwefeltrioxid SO3 enthält. SO3 ist stark elektrophil und bei der Sulfonierung das eigentliche reaktive Teilchen. Auch bei der Sulfonierung mit konzentrierter Schwefelsäure sind SO3Moleküle das sulfonierende Agens: HSO4
2 H2SO4
SO3
+
+
H3O
Der Reaktionsmechanismus der Sulfonierung kann folgendermaßen beschrieben werden: O
+ O
Benzol
O
O
S
S
S
H
O
Schwefeltrioxid
O
π-Komplex
O O O
O
S O
H
O
σ-Komplex
Benzolsulfonsäure
Erfolgt die Sulfonierung mit rauchender Schwefelsäure bei niedriger Temperatur ( C=O > –CHO > –CH2OH. 2.) Man betrachtet jedes asymmetrische C-Atom so, daß die von ihm ausgehenden Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindungen schräg nach rückwärts weisen. Diese Bindungen stehen in der Fischer-Projektionsformel senkrecht. Die Bindung zum Wasserstoff ebenso wie die Bindung zum Substituenten (–OH- oder –NH2-Gruppe) gehen schräg nach vorne und werden in der Fischer-Projektion waagerecht gezeichnet.
O
O
H C
H
C
OH
HOCH2 Modell
H C
Konfigurationsformel
H
C
OH
HOCH2 Fischer-Projektionsformel
= Kohlenstoffatom = Sauerstoffatom
= nach rückwärts gerichtete Bindung
= Wasserstoffatom
= nach vorne gerichtete Bindung
Bild 8.24 Modell und Formeln des D-(+)-Glycerinaldehyds in verschiedener Schreibweise
312
8 Optische Isomerie
C-Atom mit höchster Oxidationszahl oben O
unteres asymmetrisches C-Atom
H C
=C
HO
* C
H
H
C*
OH
Substituent rechts
=O =H Modell
CH2OH
Fischer-Projektionsformel
Bild 8.25 Fischer-Projektionsformel der D-(–)-Threose
Aus der Fischer-Projektionsformel kann man ersehen, ob eine D- oder eine L-Verbindung vorliegt. Bei den α-Aminosäuren betrachtet man die am α-ständigen C-Atom (das C-Atom in Nachbarschaft zur Carboxygruppe) befindliche Aminogruppe. Steht sie in der Projektionsformel links, ist es eine L-Aminosäure, befindet sich die NH2-Gruppe rechts, ist es eine DAminosäure. In Hydroxysäuren und Zuckern legt man zunächst in der senkrecht orientierten Kette das zu unterst stehende asymmetrische C-Atom fest. Die an dieses C-Atom gebundene Hydroxygruppe bestimmt, ob die Verbindung eine D- oder L-Verbindung ist. Befindet sich in der Fischer-Projektionsformel die OH-Gruppe rechts vom asymmetrischen C-Atom, handelt es sich um eine D-Verbindung, steht sie links, so liegt eine L-Verbindung vor. Die D-Form und die L-Form chiraler Moleküle stehen in spiegelbildlicher Relation zueinander, es sind Enantiomere. In den Fischer-Projektionsformeln sind bei den enantiomeren D- und L-Verbindungen die an asymmetrischen C-Atomen (durch Sternchen markiert) befindlichen Substituenten und HAtome seitenvertauscht (siehe nächste Seite). Die Bezeichnung D- und L- bezieht sich lediglich auf die Konfiguration chiraler Moleküle, nicht aber auf ihren Drehsinn. Die Bezeichnung D (dextro = rechts) heißt also keineswegs, daß D-Enantiomere die Ebene des polarisierten Lichts auch nach rechts drehen müssen. Zwei Stoffe mit D-Konfiguration können, wie das Beispiel D-(+)-Glycerinaldehyd und D-(–)-Alanin zeigt, die Ebene des linear polarisierten Lichts in unterschiedlichem Drehsinn drehen. Ähnliche Beispiele lassen sich auch für Stoffe mit L-Konfiguration finden. Enantiomeren, z.B. die D-Threose und die L-Threose, stehen zueinander in einem räumlichen Verhältnis wie Objekt und dessen Spiegelbild, und deshalb gilt allgemein, daß die D-Verbindung und die L-Verbindung eines Enantiomerenpaares die Ebene des linear polarisierten Lichtes im entgegengesetzten Drehsinn drehen.
8.6 Nomenklatur chiraler Verbindungen H
O
H
O
C
HO
C
C* H
HO
313
C * OH
H
CH2OH L-(-)Glycerinaldehyd
NH2
D -(+)Glycerinaldehyd
L -(+)Alanin
D -(-)Alanin
O
O
H
C
OH
HO
C
H
O
H
HO
C
H
H
C
OH
CH2OH D -(-)Threose
OH HOCH2
D-(+)-Glycerinaldehyd
H2N
O
HO C
C
H
O
O
HO
C
OH
O C
H
C
H
H CH3
CH3
L-(+)-Alanin
NH2
D-(-)-Alanin
OH C
C H
*
CH3
L -(+)Threose
O
C
H
CH3
CH2OH
L-(-)-Glycerinaldehyd
H
C
CH2OH
C
HO H HOCH2
O C
*
H2N
H
H
HO
O C
OH
H
HO
= asymmetrisches C-Atom H
H
C
C O
HO
O
L-(+)-Weinsäure
OH HO
HO
D-(-)-Weinsäure
= schräg nach rückwärts gerichtete Bindungen = schräg nach vorne gerichtete Bindungen
Bild 8.26 Räumliche Darstellung einiger enantiomerer Verbindungen
314
8 Optische Isomerie
8.6.2 Die R/S-Nomenklatur Eine breit anwendbare Möglichkeit, chirale Moleküle eindeutig zu benennen, bietet – in Verbindung mit den von Cahn, Ingold und Prelog vorgeschlagenen Sequenzregeln – die R/SNomenklatur. 8.6.2.1 Sequenzregeln Will man das Molekül mit der R/S-Nomenklatur benennen, so ist es zunächst notwendig, nach den Sequenzregeln die Priorität der Liganden am asymmetrischen C-Atom festzustellen. Man verfährt dabei nach folgenden Punkten: 1.) Man betrachtet jedes im Molekül vorhandene asymmetrische C-Atom einzeln. Zunächst stellt man bei dem betrachteten asymmetrischen C-Atom fest, welche Atome direkt an das asymmetrische C-Atom gebunden sind. Diese Atome werden, entsprechend ihrer Ordnungszahl im Periodensystem der Elemente in einer Reihenfolge (Sequenz) geordnet, wobei Atome mit der höheren Ordnungszahl die höhere Priorität haben. Zum Beispiel Cl 4
H
3
3
C*
I
4
1
H
CH3 C* Cl
2
2 H2N
3 CH 3
Br 1
Br 2 1
2
3
4
C* H
4
Cl 1
= Priorität des Liganden
2.) Sind direkt an das asymmetrische C-Atom gleiche Atome gebunden, so stellt man bei jedem dieser Atome fest, welche weitere Atome sie direkt binden und geht zum nächsten Atom mit der höchsten Priorität die Atomketten Atom für Atom entlang, bis man einen Unterschied vorfindet. Nach der Regel, daß die höhere Ordnungszahl höhere Priorität bedeutet, kann man dann über die Priorität der Liganden entscheiden. 2 CH2CH2OH 4 H
Beispiel:
C* O
CH3 1
3 CH2CH2CH3
Reihenfolge: –OCH3 > –CH2CH2OH > –CH2CH2CH3 > –H Begründung: Das O der –OCH3-Gruppe ist direkt an das asymmetrische Kohlenstoffatom gebunden. O hat eine höhere Priorität als C und H, und deshalb hat die –OCH3-Gruppe die höchste Priorität. Geht man in den Gruppen –CH2CH2OH und –CH2CH2CH3 die Kohlenstoffkette entlang, so ist an das 2. C-Atom in dem einen Falle ein O, im anderen ein C gebunden. Da O die höhere Priorität vor C hat, gilt: –CH2CH2OH > –CH2CH2CH3.
8.6 Nomenklatur chiraler Verbindungen
315
3.) Doppelt- oder dreifach-gebundene Atome werden so betrachtet, als ob an das näher zum asymmetrischen C-Atom stehende doppelt/dreifach gebundene Atom 2 resp. 3 gleiche Atome des Bindungspartners mit Einfachbindungen geknüpft wären. An den Bindungspartner werden, damit dieser nach Auflösung der Doppel- bzw. Dreifachbindung wieder die gleiche Anzahl von Bindungen hat, zusätzlich bei einer Doppelbindung 1 C-Atom, bei einer Dreifachbindung zwei C-Atome gebunden. Formel
Äquivalent für die Sequenzbestimmung
CH
C
CH
C
CH
CH
C
C
C
C
C
C
C
C
Formel
C
O
C
H
Äquivalent für die Sequenzbestimmung C
N
O
O
C
N
C
C
N
N
C
O
2 C
Beispiel:
C * CH2OH 3
1 Cl
4 CH2CH3 O
Reihenfolge:
Cl
C
>
H
>
CH2OH
>
CH2CH3
Begründung: Cl hat eine höhere Ordnungszahl als C. Im C=O liegt eine Doppelbindung vor, man betrachtet deshalb die Carbonylgruppe so, als ob die Gruppierung –C–O–C vorliegen würde. Die Gruppierung –C–O–C kommt vor –C–O–H, woraus folgt: O C
H
>
CH2OH
2 2
Beispiel:
1 H2N
1
CH3
C* CH 4
CH3 C H3C CH3 3 CH3
Reihenfolge:
NH2 > Phenyl > tert-Butyl > Isopropyl
316
8 Optische Isomerie Begründung: Der Phenylrest wird so behandelt, als ob die Kekulé-Struktur vorliegen würde. Das direkt an das asymmetrische C-Atom geknüpfte C-Atom des Phenylrestes bindet formal ein C mit einer Einfach und ein C mit einer Doppelbindung. Geht man im Phenyl- und tert-Butylrest die Kohlenstoffkette entlang, so hat das zweite Kohlenstoffatom im Phenylrest ein C-Atom, im tert-Butylrest aber ein H-Atom gebunden. Also hat der Phenylrest die höhere Priorität. Vergleich: C H
C
C
1C
C 2 CH
C
entspricht: H
C
C
1C
H C H 2 C
und
H
C 2
H C
1C
C
C C
Phenylrest
tert-Butylrest
4.) Liegt bei einem Liganden eine Verzweigung vor, so muß man die Atomkette entlanggehen, in der das nächste Atom die höhere Priorität hat. Erst dann, wenn man in dieser Kette zur Kette des anderen Substituenten keinen Unterschied feststellen kann, kehrt man zur Verzweigung zurück und geht eine andere Atomkette entlang. Zum Beispiel: 4 CH2CH3 2 HO
C*
OCH3 1 CH3
HC 3 CH3
Reihenfolge: –OCH3 > –OH > Isopropyl > Ethyl Begründung: In der Methoxygruppe ist an das O ein C und in der Hydroxygruppe ein Wasserstoff gebunden. Da C die höhere Priorität vor H hat, folgt: –OCH3 > OH. Geht man die Atomkette in der Ethyl- und Isopropylgruppe entlang, findet man im ersten Durchgang in beiden Fällen die Folge –C–C–H. Kehrt man zur Verzweigung zurück, trifft man bei der Abzweigung in der Ethylgruppe auf ein H, in der Isopropylgruppe auf ein C. C hat höhere Priorität als H, deshalb: Isopropyl > Ethyl. H
Ethylgruppe:
1.
C H
C 2.
H
H
H
H
Isopropylgruppe:
C
1.
H
C 2. CH3 H
H
8.6 Nomenklatur chiraler Verbindungen
317
4 CH3
Beispiel:
C* C
1 Cl
2 HC H3C
H
O
CH2
C
CH3
3 O
CH2
CH2CH3 CH3 H
CH3
Reihenfolge: CH2CH3
O Cl
HC
> C2H5
O
C
CH3 H
CH
>
CH3
> C2H5
CH3
Begründung: Bei zwei Liganden liegt in der Atomkette mit der höheren Priorität (O vor C) die gleiche Folge vor: –C–O–C–C. An das O dieser Kette ist in beiden Fällen eine Ethylgruppe gebunden. Man kehrt deshalb zurück zur Verzweigung und geht die andere Kette entlang. Sowohl in der Ethylgruppe als auch der Isopropylgruppe liegt beim Entlanggehen der Kette zunächst die Gruppierung –C–C–H vor. Man muß also nochmals zurück zur Verzweigung und stellt in der weiteren Kette bei Isopropyl die Gruppierung –C–C– H, beim Ethyl –C–H fest. Deshalb hat die Gruppe mit dem Isopropylrest als Seitenkette die höhere Priorität. Reihenfolge häufiger Liganden nach absteigender Priorität: I >
N(CH3)2 C
SO3H >
Br > Cl > >
O H
>
NH2 H
H3C
>
C
CH(CH3)2 > C2H5 >
CF3 OH >
SCH3 > O
C
>
OCH3
CH2OH
CH3 >
SH > F > C
>
>
C
OCH3
O OH N
>
>
C
C6H5
> OH > O NH2 >
>
NO2 > C
O CH3
C(CH3)3
> >
H
8.6.2.2 Zuordnung zur R- oder S-Konfiguration
Nachdem man die Reihenfolge der Liganden festgelegt hat, wird das Molekül räumlich so ausgerichtet, daß bei Betrachtung des asymmetrischen C-Atoms die Gruppe oder das Atom mit der niedrigsten Priorität vom Betrachter aus gesehen rückwärts, hinter dem asymmetrischen C-Atom liegt. Die Bindungen der verbleibenden drei an das asymmetrische C-Atom gebundenen Liganden sind schräg nach vorne gerichtet. Beschreibt man, wenn man in abnehmender Prioritätenfolge von einem zum anderen Liganden geht, einen Bogen im Uhrzeigersinn, so hat das Molekül am asymmetrischen C-Atom die R-Konfiguration (R für lat.
318
8 Optische Isomerie
Sequenz entgegen dem Uhrzeigersinn = S
Sequenz im Uhrzeigersinn = R 12 9
1.
OH
3.
3
9
1.
6
C
HOH2C
12
H 2.
O
C H 2. O
3 6
C
H
C
H
(R)-(+)-Glycerinaldehyd oder 2-(R)-(+)-2,3-Dihydroxypropanal
OH
CH2OH
3.
(S)-(-)-Glycerinaldehyd oder 2-(S)-(-)-2,3-Dihydroxypropanal
1. 2. 3. = Priorität der funktionellen Gruppe
Bild 8.27 Bestimmung der R/S-Nomenklatur am Glycerinaldehyd
rectus = rechts). Geschieht dies entgegen dem Uhrzeigersinn, so liegt eine S-Konfiguration (S für lat. sinister = links) vor. Das Symbol R oder S wird in runden Klammern vor den Namen der Verbindung gesetzt. Noch vor der Klammer wird die Zahl angeführt, die die Stellung des asymmetrischen C-Atoms in der Hauptkette angibt.
8.7 Diastereomere Jedes asymmetrische Zentrum kann entweder R- oder S-Konfiguration besitzen. Bei Vorliegen zweier asymmetrischer Zentren im Molekül ergeben sich vier mögliche Kombinationen: RR, RS, SR und SS. Befinden sich im Molekül n asymmetrische Zentren, so gibt es 2n mögliche Kombinationen. Bei Molekülen mit mehreren asymmetrischen Kohlenstoffatomen können deshalb theoretisch höchstens 2n optische Isomere existieren. Die Verbindung CH2(OH)– C*H(OH)–C*H(OH)–CHO kann, da sie 2 asymmetrische Kohlenstoffatome hat, 22 = 4 optische Isomere bilden: H
O
H
C
O
H
O
H
C
C
H
* C OH
HO
C*
H
HO
H
C* OH
HO
C* H
H
O C
* H
C
H
C* OH
HO
* OH
C
C* H
CH2OH
CH2OH
CH2OH
CH2OH
D-(-)-Erythrose
L -(+)-Erythrose
D-(-)-Threose
L-(+)-Threose
Enantiomere
Enantiomere
8.7 Diastereomere Die
319
D-(–)-Erythrose
und die L-(+)-Erythrose ebenso wie die D-(–)-Threose und die sind Enantiomerenpaare, das heißt, die Strukturen der Moleküle jedes Paares stehen zueinander im Verhältnis wie Objekt und Spiegelbild. In der Fischer-Projektion ist zu erkennen, daß es sich bei diesen Paaren um Enantiomere handelt, da an allen asymmetrischen C-Atomen die Liganden vertauscht sind. Die Moleküle der D-(–)-Erythrose und der D-(–)-Threose z.B. stehen nicht in spiegelbildlichem Verhältnis zueinander (ein Molekül ist nicht das Spiegelbild des anderen). Solche optische Isomere, deren Molekülstrukturen nicht in spiegelbildlichem Verhältnis zueinander stehen, bezeichnet man als Diastereomere (griech. dia = jenseits). Man könnte dies auch so formulieren, daß optische Isomere, welche nicht Enantiomere sind, Diastereomere sein müssen. Diastereomerenpaare sind z.B.:
L-(+)-Threose
H
O
H
O
C
H
C
H
C* OH
H
H
C* OH
HO
O
H
C
C*
OH
C* H
O C
H
C*
OH
HO
H
C* OH
H
C*
H
C* OH
CH2OH
CH2OH
CH2OH
CH2OH
D -(-)-Erythrose
L -(+)-Threose
D -(-)-Erythrose
D -(-)-Threose
Diastereomere
Diastereomere H
O
H
O C
C HO
C*
H
H
HO
C* H
HO
C*
OH
C* H
CH2OH
CH2OH
L -(+)-Erythrose
L -(+)-Threose
Diastereomere
Man erkennt bei Betrachten der Fischer-Projektion der zuvor angeführten Verbindungspaare, daß es sich um Diastereomeren handeln muß, da die an den asymmetrischen C-Atomen gebundenen H-Atome und OH-Gruppen nicht an allen asymmetrischen C-Atomen bei der jeweils anderen Verbindung seitlich vertauscht sind. Diastereomere, die sich nur in der Konfiguration an einem einzigen asymmetrischen Kohlenstoffatom unterscheiden, bezeichnet man als Epimere. Die im vorangehenden Text er-
320
8 Optische Isomerie
wähnten diastereomeren Paare erfüllen diese Voraussetzung, es sind Epimere. Die Epimerie ist ein Sonderfall der Diastereomerie. Diastereomere unterscheiden sich in ihren spezifischen Drehwerten und auch in anderen physikalischen Eigenschaften, z.B. in der Schmelztemperatur, Siedetemperatur und ihrer Dichte. Auf Grund ihrer unterschiedlichen physikalischen Eigenschaften kann man sie voneinander trennen.
8.7.1 Meso-Verbindungen Die Weinsäure hat zwei asymmetrische Kohlenstoffatome. Sie hat aber nicht, der Formel 2n entsprechend, die Maximalzahl von vier optischen Isomeren, sondern man unterscheidet nur drei isomere Verbindungen der Weinsäuren: die D-(–)-Weinsäure und die L-(+)-Weinsäure, die ein Enantiomerenpaar sind, und die meso-Weinsäure (griech. mesos = Mitte). Die beiden Formeln in der Fischer-Projektion für die meso-Weinsäure COOH
COOH
H
C* OH
HO
C*
H
C* OH
HO
C* H
COOH
H
COOH
sind identisch, denn man kann durch eine Drehung der Formel auf der Papierebene um 180° eine Formel in die andere überführen. Man kann, wie dies in Bild 8.29 gezeigt wird, das Molekül der Meso-Weinsäure mit seinem Spiegelbild durch eine Drehung von 180° um eine durch die Molekülmitte durchgehende Achse zur Deckung bringen. Die meso-Weinsäure ist demnach achiral und somit optisch inaktiv. Die Erklärung dafür, daß die meso-Weinsäure trotz zweier asymmetrischer Zentren optisch inaktiv ist, liegt in der Symmetrie ihres Moleküls. Eine Symmetrieebene teilt das Molekül in zwei spiegelbildliche Hälften. Die Drehung der Polarisationsebene des linear polarisierten Lichts durch eine Hälfte wird durch die andere Molekülhälfte kompensiert. Verbindungen, die asymmetrische Zentren haben, aber infolge der Symmetrie ihres Moleküls optisch inaktiv sind, werden als meso-Verbindungen bezeichnet.
H
H
HO
H
C
H C
HO
O
D-(-)-Weinsäure
= schräg nach rückwärts gerichtete Bindungen
OH
C HO
O
L-(+)-Weinsäure
OH
H
O
HO
O C
HO
OH
H
OH C
HO
O
OH C
HO
O
meso-Weinsäure
Bild 8.28 Konfigurationen der Isomere der Weinsäure
= schräg nach vorne gerichtete Bindungen
8.7 Diastereomere
O
321
Sp
OH
e en leb e ieg
O
OH C
C OH
H
H
HO
Achse senkrecht zur Papierebene
180° HO
H
C O
C
HO
HO
H
HO
Spiegelbild
O
meso-Weinsäure Drehung 180° um eingezeichnete Achse
Bild 8.29 Die Meso-Weinsäure und ihr Spiegelbild sind deckungsgleich
O
OH C OH
H
Symmetrieebene senkrecht zur Papierebene
HO
C
HO
H O
meso-Weinsäure Bild 8.30 Die meso-Weinsäure besitzt eine Symmetrieebene
8.7.2 Optische Isomerie in alicyclischen Verbindungen Den Begriff alicyclisch verwendet man für cyclische Verbindungen, die ähnliche Bindungsverhältnisse und Eigenschaften wie die aliphatischen Verbindungen zeigen, die also keine Aromaten sind. Die Addition des Broms an Cyclohexen erfolgt nach dem anti-Mechanismus über ein Bromonium-Ion (siehe Abschnitt 3.7.4.6). Es entsteht ein racemisches Gemisch des trans1,2-Dibromcyclohexans. Das eine Enantiomere hat die (1S,2S)- und das andere die (1R,2R)Konfiguration.
322
8 Optische Isomerie H
H
H H
H H
Br
H
(R) Br
H
H
H H
H H
H
Br (S) *
* (R)
*
H
H
H
H
(S)
*
H
Br
H
Spiegelebene (1R,2R)-1,2-Dibromcyclohexan
(1S,2S)-1,2-Dibromcyclohexan
Das cis-1,2-Dibromcyclohexan ist eine meso-Verbindung. Sie hat zwar zwei asymmetrische Kohlenstoffatome, man kann jedoch durch die Mitte des Moleküls eine Symmetrieebene legen, die das Molekül in zwei spiegelbildliche Hälften aufteilt. Die Verbindung ist achiral und optisch inaktiv.
H
H
H Br
H Br
H
H
H
(S)
*
* H
(R)
H
H
Symmetrieebene
Das cis-1-Brom-2-chlorcyclohexan ist chiral, von dieser Verbindung können zwei Enantiomere vorliegen:
H
H
H H
H Cl
Br
H
H H
*
H
H Cl
H H
H
Br
* (R) (S)
H
(S) *
H
H
(R)
*
H
H
H H
Spiegelebene (1R,2S)-1-Brom-2chlorcyclohexan
(1S,2R)-1-Brom-2chlorcyclohexan
8.8 Optisch aktive Verbindungen ohne asymmetrische Kohlenstoffatome
323
Daneben existieren noch zwei enantiomere trans-Formen: H
H
H H
H Cl
H
H
H
*
H
H
*
* Br
Br
H
H
H Cl
H H
H
* H
H
Spiegelebene (1S,2S)-1-Brom-2-chlorcyclohexan
H H
(1R,2R)-1-Brom-2-chlorcyclohexan
Sowohl cis-1,4- als auch trans-1,4-disubstituierte Cycloalkane sind achiral, da man durch das 1. und 4. C-Atom eine Symmetrieebene legen kann: H
H
H H
H H
Br
Cl
Symmetrieebene
H
H H
H
H
H
H H
H H
Br
H
Symmetrieebene H
Cl H
H
Auch andere disubstitutierte Ringe mit gerader Anzahl der C-Atome, deren Substituenten an gegenüberliegende C-Atome des Rings gebunden sind, sind achiral.
8.8 Optisch aktive Verbindungen ohne asymmetrische Kohlenstoffatome Ist die Ursache der Chiralität von Molekülen das Vorhandensein eines asymmetrischen C-Atoms, oder auch mehrerer asymmetrischen C-Atome, so spricht man von einer zentralen Chiralität. In den meisten Fällen liegt bei optisch aktiven organischen Substanzen diese Chiralität vor. Es gibt aber auch Moleküle, deren Chiralität nicht auf ein asymmetrisches Kohlenstoffatom zurückzuführen ist. Dies ist der Fall bei axialer und planarer Chiralität, ebenso wie bei der Helizität.
8.8.1 Axiale Chiralität Als Beispiel axialer Chiralität kann die Chiralität von ungleich substituierten Allenen angeführt werden (Allen siehe Abschnitt 3.8). Die Chiralitätsachse geht durch die drei doppelt gebundenen C-Atome des Allenderivats. An zwei der doppelt gebundenen C-Atome befinden sich zwei ungleiche Substituenten, welche infolge der Geometrie des Moleküls (zwei direkt benachbarte, aufeinander senkrecht stehende π-Orbitale) auf zwei zueinander senk-
324
8 Optische Isomerie
Ebenen, in denen die Substituenten liegen
Enantiomere
keine Symmetrieebene
Cl
Cl Cl
= Kohlenstoffatom = Wasserstoffatom
ungleiche Substituenten
Objekt
Cl
Spiegelebene
Spiegelbild
Bild 8.31 Enantiomere des 1-Chlorbuta-1,2-diens
recht stehenden Ebenen liegen (siehe Bild 8.31). Legt man durch zwei an einem C-Atom gebundene Substituenten eine Ebene, so befinden sich die beiden anderen Substituenten links und rechts von der Ebene. Bei ungleichen Substituenten ist diese Ebene keine Symmetrieebene. Das Molekül ist achiral, denn die spiegelbildlichen Formen lassen sich nicht zur Deckung bringen, es sind Enantiomere. Zwei Enantiomere können auch dann vorliegen, wenn an dem einen C-Atom des Allens zwar unterschiedliche Substituenten gebunden sind, sie aber denen am anderen C-Atom gleichen, z.B. beim Penta-2,3-dien H3C–CH=C=CH–CH3. Eine axiale Chiralität kann auch bei mehrfach substituierten Spiranen vorliegen (Spiroverbindungen siehe Abschnitt 5.7). In Bild 8.32 wird ein entsprechendes Beispiel angeführt. Die Atropisomerie ist ebenfalls der axialen Chiralität zuzuordnen. Es handelt sich dabei um eine Enantiomerie, die Ihre Ursache in der Beschränkung der freien Drehbarkeit o-substituierter Biphenyle hat. Sperrige Substituenten in der o-Stellung verhindern die Drehung beider Benzolringe um die Einfachbindung. Die Sechsringe stehen, wie dies Bild 8.33 zeigt, senkrecht (bzw. verdrillt) aufeinander. Bei ungleichen o-Substituenten ist das Molekül chiral.
Sp
CH3
e en b ele ieg
CH3
CH3
H3C
Enantiomere einer Spiroverbindung Bild 8.32 Chirale Spiroverbindungen
8.8 Optisch aktive Verbindungen ohne asymmetrische Kohlenstoffatome
H 3C
325
CH3 CH H3C
O2N NO2 o-substituiertes Biphenyl Bild 8.33 Chirales Biphenylderivat
8.8.2 Planare Chiralität Eine planare Chiralität ist bei substituierten meta- und para-Cyclophanen gegeben. Die Benzolringe sind in eine Ringstruktur eingebaut, die die Drehbarkeit der Benzolringe verhindert, so daß bei Vorhandensein eines Substituenten am Benzolring das Molekül chiral ist.
H2C
CH2
H2C
CH2 Cl Chlorparacyclophan
Bild 8.34 Chirales para-Cyclophanderivat
8.8.3 Helicität Bei der Helicität geht es um eine Chiralität, die durch eine schraubenförmige Struktur gegeben ist. So wie Schrauben mit Links- oder Rechtsgewinde oder Wendeltreppen als chirale Gegenstände anzusehen sind (siehe Abschnitt 8.3), so sind auch Moleküle mit schraubenförmiger Struktur chiral. Die Enantiomere unterscheiden sich ebenso wie eine Rechtsschraube von einer Linksschraube. Die einer rechtsgängigen Schraube entsprechende Helix wird als (P)-Helix (P = plus), die linksgängige Helix als (M)-Helix (M = minus) bezeichnet. Eine schraubenförmige Anordnung liegt z.B. beim Hexahelicen vor.
326
8 Optische Isomerie
(P)-Hexahelicen
Spiegelebene
(M)-Hexahelicen
Bild 8.35 Enantiomere des Hexahelicens
8.9 Bildung asymmetrischer C-Atome bei chemischen Reaktionen In ein achirales Molekül kann unter bestimmten Voraussetzungen bei einer chemischen Reaktion Chiralität eingeführt werden. Liegt in einem Molekül schon ein Chiralitätszentrum vor, entstehen bei der Bildung eines weiteren Chiralitätszentrums Diastereomere.
8.9.1 Reaktionen mit prochiralen Verbindungen Als eine prochirale Verbindung wird eine achirale Verbindung bezeichnet, in deren Molekül bei einer chemischen Reaktion die Chiralität eingeführt werden kann. In der Regel geht es dabei um ein Molekül, das an einem seiner Kohlenstoffatome drei unterschiedliche Liganden gebunden hat, z.B. R1 H
C R2
H
O H
oder
C R
Wird in der Verbindung R1CH2R2 ein Wasserstoffatom substituiert oder erfolgt beim Aldehyd eine Addition an die Carbonylgruppe, so entsteht eine Verbindung mit einem asymmetrischen C-Atom. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß der neueingeführte Ligand nicht mit einem der Liganden, die schon an das betroffene C-Atom gebundenen sind, identisch ist. Sind die Reaktanden achiral und liegen keine chiralen Einflüsse vor (z.B. durch ein chirales
8.9 Bildung asymmetrischer C-Atome bei chemischen Reaktionen
327
O
= C-Atom = O-Atom
N
= N-Atom
N
H+
O
N
H+
N
= Cyanidanion = H-Atom = Proton
N O
50 % (2S)-2-Hydroxypropannitril
O
50 % (2R)-2-Hydroxypropannitril
Bild 8.36 Reaktion von Acetaldehyd mit Blausäure unter Bildung eines racemischen Gemisches
Lösungsmittel oder einen chiralen Katalysator), so entstehen bei der Reaktion mit einer prochiralen Verbindung racemische Gemische. So entsteht z.B. bei der nukleophilen Addition von Blausäure HCN an Acetaldehyd (siehe auch Abschnitt 13.4.1.1) ein racemisches Gemisch von (2S)-2-Hydroxypropannitril und (2R)-2-Hydroxypropannitril. In Bild 8.36 wird veranschaulicht, daß die Anlagerung des Cyanidanions an das Kohlenstoffatom der Carbonylgruppe von zwei Seiten erfolgen kann. Keine der Richtungen ist bevorzugt, so daß die Wahrscheinlichkeit, daß das eine oder das andere Produkt entsteht, gleich ist. Beide Enantiomere entstehen deshalb in gleichen Mengen. Als weiteres Beispiel zur Einführung der Chiralität in ein Molekül durch Bildung eines asymmetrischen C-Atoms wird die Bromierung das Butans erörtert. Bei der Bromierung des Butans erfolgt die Substitution bevorzugt an der Methylengruppe (siehe Abschnitt 2.9.1.4), wobei ein H durch Brom ersetzt wird. Das als Zwischenprodukt gebildete sekundäre Butylradikal muß man sich räumlich so vorstellen, daß die am radikalischen Zentrum befindlichen Liganden (–CH3, –C2H5 und –H) in einer Ebene liegen. Das nur mit einem Elektron besetzte p-Orbital steht senkrecht zu dieser Ebene. Die Wahrscheinlichkeit, daß das Brommolekül an das p-Orbital von der einen oder der entgegengesetzten Seite herantritt, ist gleich. Die beiden Enantiomere (2R)-2-Brombutan und (2S)-2-Brombutan werden deshalb im Mengenverhältnis 1:1 gebildet, es entsteht ein racemisches Gemisch. Zur bevorzugten Bildung eines Enantiomers kann es kommen, wenn der mit der prochiralen Verbindung reagierende Reaktionspartner zwar achiral ist, die Reaktion aber in chiralem Lösungsmittel, im Beisein eines chiralen Katalysators (z.B. einem Enzym) oder bei Bestrahlung mit zirkular polarisiertem Licht erfolgt.
328
8 Optische Isomerie
Br
hν
_ Br
Br
+
Br
CH3 H
C
CH3 H
+
Br
H
+
C
HBr
CH2CH3
CH2CH3 H3 C
Br2
* C Br + Br H H5C2
CH3 C HC HC 2 H
3
(2R)-2-Brombutan Br *C
CH3
+ Br
H C2H5 * = asymmetrisches C-Atom
(2S)-2-Brombutan
Bild 8.37 Bromierung des Butans
Erfolgt die Reaktion einer prochiralen Verbindung mit dem Enantiomer einer optisch aktiven Substanz, wobei ein neues Chiralitätszentrum gebildet wird, so kann eines der zwei bei der Reaktion entstandenen Diastereomere überwiegen. In diesem Falle macht sich der Einfluß des im Reaktanten schon vorhandenen Chiralitätszentrums bemerkbar, es erfolgt eine asymmetrische Synthese.
8.9.2 Die asymmetrische Synthese Wird ein neues asymmetrisches Zentrum in ein Molekül eingeführt, das schon ein oder mehrere chirale Zentren besitzt, so entstehen die beiden Epimere nicht im Verhältnis 1 : 1, ein Epimeres überwiegt im Reaktionsgemisch. Man spricht in diesem Falle von einer asymmetrischen Synthese. Die vorrangige Bildung des einen optischen Isomeren ist in der asymmetrischen Induktion begründet. Unter asymmetrischer Induktion versteht man, daß das schon vorhandene Chiralitätszentrum die Bildung des einen Epimeren begünstigt. Man erklärt das so, daß Zustände, die das Molekül auf dem Syntheseweg zu den beiden Epimeren zu durchlaufen hat, infolge der unterschiedlichen räumlichen Konfiguration unterschiedliche Aktivierungsenergien erfordern. Es entsteht deshalb bei kinetisch gesteuerten Reaktionen vorwiegend das Produkt, dessen Übergangszustand die geringere Aktivierungsenergie erfordert. Als Beispiel einer asymmetrischen Induktion wird die Reaktion des (2R)-2-Brompropanals mit Blausäure (HCN) erörtert. HCN ist eine sehr schwache Säure, die in H+ und das Cyanidion – CN dissoziiert. HCN kann an die C=O-Doppelbindung addiert werden. Es geht dabei um eine nukleophile Addition, das heißt, es wird zuerst das nucleophile Cyanidion an das Kohlenstoffatom der Carbonylgruppe addiert und im zweiten Schritt erfolgt die Anlagerung des Protons an den Sauerstoff, wobei eine OH-Gruppe gebildet wird.
8.9 Bildung asymmetrischer C-Atome bei chemischen Reaktionen
329
Hauptprodukt H
H
H+
H O
H
*
N
H
H
*
H
O
* Br
H H
Br H
N
N
= Cyanidgruppe H+
= Proton
-
= Kohlenstoffatom
N
H
H
= Cyanidanion = H-Atom
* = asymmetr. C-Atom
Bild 8.38 Reaktion des (2R)-2-Brompropanals mit HCN
Die Carbonylgruppe im (2R)-2-Brompropanal befindet sich in direkter Nachbarschaft zum vorhandenen Chiralitätszentrum, welches den räumlichen Ablauf der Additionsreaktion beeinflußt. Am Chiralitätszentrum sind, außer der Formylgruppe –CHO, nach ihrer Raumerfüllung geordnet, noch folgende Substituenten gebunden: –Br > –CH3 > –H. Das Molekül bevorzugt eine solche Konformation, in der der Sauerstoff der Carbonylfunktion möglichst weit von der größten, am benachbarten C-Atom befindlichen Gruppe, in dem Falle vom Bromatom, entfernt ist (siehe Bild 8.38). Der Angriff des Cyanidions erfolgt von der Seite her, wo sich am benachbarten asymmetrischen C-Atom der kleinste Substituent (in diesem Falle das H) befindet, weil die andere Seite durch den größeren Substituenten, die CH3Gruppe, abgeschirmt wird. Es entsteht vorwiegend das (2S, 3R)-3-Brom-2-hydroxy butannitril (siehe auch Bild 8.38): Hauptprodukt H C H
C
N
H
C*
OH
H
C* Br
O C* Br
+
CH3 (2R)-2-Brompropanal
HCN
CH3 (2S,3R)-3-Brom2-hydroxybutannitril
Nebenprodukt C HO +
H
N
* H
C
C* Br CH3
(2R,3R)-3-Brom2-hydroxybutannitril
Die Addition des Nukleophils an den chiralen Aldehyd im vorangegangenen Beispiel erfolgte nach der Cramschen Regel. Diese besagt, daß bei direkter Nachbarschaft der Carbonylgruppe zum schon vorhandenen Chiralitätszentrum a) das Molekül bevorzugt die Konformation einnimmt, in der der Sauerstoff der Carbonylruppe von der am asymmetrischen Kohlenstoffatom befindlichen größten Gruppe möglichst weit entfernt ist, und
330
8 Optische Isomerie
b) das Nukleophil bevorzugt von der Seite des kleinsten Substituenten angreift, so daß ein Epimeres als Hauptprodukt entsteht. Die vorher beschriebene Reaktion ist stereoselektiv, das heißt ein Stereoisomer wird bei der Reaktion bevorzugt gebildet. Stereoisomere sind Verbindungen mit gleicher Struktur, die sich aber durch die räumliche Anordnung der Atome im Molekül unterscheiden. Von Stereospezifität spricht man dann, wenn bei einer Reaktion von möglichen Stereoisomeren ausschließlich nur ein einziges Stereoisomer als Reaktionsprodukt gebildet wird. Stereospezifische Reaktionen erfolgen in der lebenden Natur häufig, z.B. werden im Organismus L-Aminosäuren synthetisiert. Auch die Biosynthese von Desoxyribonucleinsäuren, Ribonucleinsäuren und Eiweißen geschieht mit hoher Stereospezifität. Die beeindruckende Stereospezifität der Reaktionen in lebenden Organismen beweist ebenfalls die Biosynthese der Steroide. Im Cholesterol z.B. sind 8 chirale Zentren vorhanden. Theoretisch möglich wären bei nichtspezifischen Reaktionen 28 = 256 Stereoisomere. Die Biosynthese (siehe Abschnitt 20.2.1) ist so stereospezifisch, daß von den möglichen Stereoisomeren nur ein einziges gebildet wird. * *
* * * HO
*
*
* Cholesterol
8.9.3 Räumliche Auswirkungen bei Reaktionen am asymmetrischen C-Atom Eine Substitution am asymmetrischen C-Atom kann unter Retention, Inversion oder Racemisierung erfolgen. 8.9.3.1 Retention
Die Konfiguration am asymmetrischen C-Atom bleibt bei der Retention erhalten. Es erfolgt nur der Austausch eines Liganden, die räumliche Anordnung der Liganden am asymmetrischen C-Atom bleibt gleich. 8.9.3.2 Inversion
Bei der Inversion (lat. inversio = Umkehrung) tritt ein Konfigurationswechsel ein. Diese von Walden 1895 erstmals bei Substitutionen am asymmetrischen C-Atom beobachtete Konfigurations-Umkehr wird auch als Walden-Umkehr(ung) bezeichnet. Die Walden-Umkehr erfolgt z.B. beim SN2-Mechanismus (siehe Abschnitt 9.6.2.1), wobei die Liganden, welche nicht ausgetauscht werden, über einen Übergangszustand, bei dem sie in einer Ebene liegen, in die entgegengesetzte Konfiguration übergehen. Man vergleicht dies mit dem Umklappen eines Regenschirms beim Sturm.
8.10 Trennung von Enantiomeren aus racemischen Gemischen
a Y + X
C
a
a X + Y
c b
C
c b
331
Y + X
C
c b
Retention
a
a X + Y
Racemisierung
C
c b
+
50 %
c
C
Y
b
50 %
Wind a
a X
C b
c
X +
+ Y
Inversion
c
C
Y
b
Umklappen des Regenschirms im Wind
Bild 8.39 Retention, Inversion und Racemisierung
8.9.3.3 Racemisierung
Von einer Racemisierung spricht man, wenn eine optisch aktive Substanz reagiert und ein Racemat als Reaktionsprodukt entsteht. Eine Racemisierung tritt dann ein, wenn die Spaltung der Bindung direkt am asymmetrischen C-Atom unter Bildung eines Carbeniumions (positive Ladung an einem Kohlenstoff), eines Carbanions (negative Ladung und freies Elektronenpaar an einem Kohlenstoff) oder eines Radikals als Zwischenprodukt erfolgt.
8.10 Trennung von Enantiomeren aus racemischen Gemischen Die Trennung der Enantiomere aus racemischen Gemischen ist deshalb schwierig, weil Enantiomere gleiche physikalische und gegenüber achiralen Substanzen auch gleiche chemische Eigenschaften haben. 8.10.1.1 Mechanische Trennung enantiomerer Kristalle
Schon 1848 entdeckte Louis Pasteur, daß die Kristalle des Natrium-Ammonium-Salzes der Traubensäure zwei spiegelbildliche Formen haben. Er sortierte, mit Lupe und Pinzette versehen, die beiden spiegelbildlichen Kristalle und stellte fest, daß die Lösungen des einen Kristalls die Ebene des linear polarisierten Lichts im Uhrzeigersinn, die des anderen entgegen dem Uhrzeigersin drehten. Damit war eine, wenn auch sehr arbeitsaufwendige und langwierige Methode gefunden, Enantiomere zu trennen. Diese Methode ist aber nur sehr beschränkt anwendbar, denn es ist eher ein Sonderfall, daß aus racemischen Gemischen die Enantiomere in Form spiegelbildlicher Kristalle auskristallisieren.
332
8 Optische Isomerie
8.10.1.2 Trennung der Enantiomere über diastereomere Zwischenprodukte
Zum Unterschied von den Enantiomeren haben Diastereomere unterschiedliche physikalische Eigenschaften und lassen sich deshalb voneinander trennen. Man setzt ein racemisches Gemisch, das als solches nicht in die beiden Enantiomere aufgetrennt werden kann, mit einer optisch aktiven Hilfskomponente um, wobei man zwei Diastereomere erhält. Diese kann man auf Grund ihrer unterschiedlichen Eigenschaften, z.B. unterschiedlicher Löslichkeit, voneinander trennen. Nach der Trennung der Diastereomere kann man die beiden Verbindungen gesondert wieder in ihre Ausgangskomponenten spalten und jedes der beiden Enantiomere aus dem Reaktionsgemisch in reiner Form isolieren. Liegt ein racemisches Gemisch einer Säure vor, kann man dieses mit dem Enantiomer einer Base in ein Gemisch zweier diastereomerer Salze überführen, z.B. racemisches Gemisch der Säure (R)-Säure + (S)-Säure + 2 (R)-Base
(R,R)-Salz
+
(S,R)-Salz
Gemisch zweier diastereomerer Salze
Die diastereomeren Salze unterscheiden sich in ihren Eigenschaften, so daß man sie trennen kann. Nach der Trennung kann man die optisch aktive Säure mit einer stärkeren Säure, z.B. Salzsäure, aus ihrem Salz freisetzen:
(R,R) - Salz
+ HCl ⎯⎯→
(R) - Säure
+ (R) - Base HCl
(S,R) - Salz
+ HCl ⎯⎯→
(S) - Säure
+ (R) - Base HCl
Es sei noch darauf hingewiesen, daß man für die Trennung der enantiomeren Säuren aus dem racemischen Gemisch anstelle der (R)-Base natürlich auch eine (S)-Base einsetzen kann. Es ist nur wichtig, eine enantiomerenreine Base zu verwenden. Als enantiomerenrein ist eine solche Base anzusehen, die nur in der (R)- oder nur in der (S)-Form vorliegt, keinesfalls aber als Gemisch beider enantiomerer Formen. Als enantiomerenreine Basen zur Trennung racemischer Säuregemische werden oftmals die in der Natur vorkommenden Alkaloide Brucin, Strychnin, Chinin und Morphin verwendet (Alkaloide siehe Kapitel 26). Die aus der Brechnuß (Strychnos nux vomica) gewonnenen Alkaloide Brucin und Strychnin sind starke Gifte. Morphin wird aus Opium, dem eingetrockneten Milchsaft des Schlafmohns (Papaver somniferum) gewonnen. Es ist eine gefährliche Droge, deren Genuß zu physischer und psychischer Abhängigkeit führt. In der Medizin wird es, genau dosiert, als schmerzstillendes Mittel eingesetzt. Eine der gefährlichsten Drogen ist das Diacetylderivat des Morphins, das Heroin. Das aus der Rinde des Chinabaumes isolierte Chinin ist ein bekanntes Antimalariamittel. Es beseitigt einige akute Erscheinungen der Krankheit, tötet jedoch nicht den Erreger der Malaria.
8.10 Trennung von Enantiomeren aus racemischen Gemischen H2C
CH H
H H
R
N O
H3C H
H
HO
H
N O
H RO
N R
333
O
H
NCH3
RO
O
H
N
R=H Strychnin R = OCH3 Brucin
R=H Morphin R = COCH3 Heroin
Chinin
Racemische Gemische von Basen können mit einer enantiomerenreinen Säure zu den entsprechenden diastereomeren Salzen umgesetzt werden. Zur Umsetzung mit racemischen Gemischen von Basen werden häufig folgende optisch aktiven Säuren eingesetzt: die L-(+)Milchsäure, die D-(–)-Weinsäure, die L-(+)-Weinsäure und die D-(+)-Äpfelsäure. COOH
COOH HO
C
H
CH3
HO
C
H
H
C
OH
COOH L-(+)-Milchsäure
D-(–)-Weinsäure
COOH
COOH
H
C
OH
H
C
OH
HO
C
H
H
C
H
COOH L-(+)-Weinsäure
COOH D-(+)-Äpfelsäure
Racemische Alkohoholgemische lassen sich mit dem Enantiomer einer Säure verestern. Die erhaltenen Ester sind Diastereomere und können getrennt werden. Die getrennt vorliegenden Ester werden verseift und damit die optisch aktiven Alkohole freigesetzt. Die Trennung der Enantiomere über diastereomere Zwischenprodukte ist wegen ihrer breiten Anwendungsmöglichkeit die am häufigsten eingesetzte Methode zur Trennung von Enantiomeren aus Gemischen. 8.10.1.3 Trennungen von Enantiomeren mit Hilfe von Mikroorganismen
Enzyme bestimmter Bakterien oder Pilze zeigen eine unterschiedliche Reaktivität gegenüber ganz bestimmten D- und L-Enantiomeren. Der Pilz Penicillium glaucum metabolisiert z.B. aus einer racemischen Lösung von Ammoniumtartrat nur das L-(+)-Enantiomer, das D-(–)Enantiomer verbleibt in der Lösung. 8.10.1.4 Trennungen von Enantiomeren mit Hilfe der Chromatographie
Die chromatographische Trennung eines Stoffgemisches erfolgt in der Säulenchromatographie beim Durchgang dieses Stoffgemisches durch eine Trennsäule. Sie besteht aus einem trennaktiven feinkörnigen Material, das in ein Rohr gefüllt ist. Der Feststoff selbst, oder eine auf ihm verankerte Flüssigkeit, stellt die unbewegliche (stationäre) Phase dar, während ein Lösungsmittel, das durch die Säule strömt, die bewegliche (mobile) Phase bildet. Das Stoffgemisch wird mit dem Lösungsmittelstrom „mitgeschleppt“, und es erfolgt während des Durchgangs durch die Trennsäule eine vielfach wiederholte Stoffverteilung der Stoffe
334
8 Optische Isomerie
zwischen der unbeweglichen und beweglichen Phase. Die Verbindungen des Stoffgemisches, die hierbei länger von der stationären Phase festgehalten werden, wandern langsamer durch die Trennsäule, da sie in Strömungsrichtung des Lösungsmittels (= mobile Phase) von diesem nur dann fortbewegt werden, wenn sie sich in ihm befinden. Durch die unterschiedliche Wanderungsgeschwindigkeit der Komponenten des Stoffgemisches durch die Trennsäule erfolgt deren Auftrennung. Bei der Gaschromatographie ist dies ähnlich, nur ist in diesem Falle die mobile Phase ein Gas. Für die Trennung von Enantiomeren wird auf der festen Phase eine optisch aktive Substanz verankert. Tritt ein Enantiomer stärker als das andere in diastereomere Wechselwirkung mit der auf dem Feststoff befindlichen optisch aktiven Substanz, so wandert es langsamer durch die Trennsäule, und beide Enantiomere werden infolge ihrer unterschiedlichen Wanderungsgeschwindigkeit voneinander getrennt.
8.11 Die Chiralität in lebenden Organismen Die Chiralität spielt in der Natur eine gewichtige Rolle. Viele für den lebenden Organismus wichtigen Stoffe sind chiral, und lebenswichtige Makromoleküle werden aus chiralen Bausteinen aufgebaut. Dafür gibt es viele Beispiele: Die Desoxyribonucleinsäuren, welche in der Sequenz von Basenpaaren die für Vererbung und Biosynthese wichtigen Informationen gespeichert haben, haben eine chirale Struktur in der Form einer Doppelhelix (siehe Kapitel 27). Sowohl in den Desoxyribonucleinsäuren als auch in den Ribonukleinsäuren, die die Eiweißsynthese steuern, ist in den sie aufbauenden Einheiten der Stickstoff der Base an eine Zuckerkomponente gebunden, und zwar an ein asymmetrisches C-Atom mit R-Konfiguration. Die Biosynthese der Eiweiße erfolgt nur mit L-Aminosäuren. Die räumliche Struktur der Eiweiße spielt eine eminente Rolle für die Erfüllung ihrer Funktionen im Organismus. Eine der Sekundärstrukturen der Eiweiße ist die αHelix, eine chirale Struktur. Monosaccharide haben in der Regel eine D-Konfiguration und bilden die Bausteine für die in der Natur vorkommenden Di-, Tri- und Polysaccharide. Stärke und Cellulose z.B. werden aus D-Glucoseeinheiten aufgebaut. Stärke und Cellulose unterscheiden sich nur in der Art der Verknüpfung der Glucoseeinheiten miteinander. Die Glucoseeinheiten sind über eine Sauerstoffbrücke miteinander verbunden, wobei eines der an der Verknüpfung beteiligten asymmetrischen C-Atome bei der Stärke die R- und bei der Cellulose die S-Konfiguration aufweist. Eine große Rolle spielen räumliche Voraussetzungen auch bei den Enzymen. Dies sind Biokatalysatoren, wirksam für vielfältige Reaktionen, von der Hydratisierung von Kohlendioxid über Reduktionen und Oxidationen bis hin zur Replikation eines Chromosoms. Alle bisher untersuchten Enzyme gehören in die Stoffklasse der Eiweiße (siehe Abschnitt 24.7.3.1). Der Teil des Enzyms, der für die Wirkung direkt verantwortlich ist, bildet das aktive Zentrum. Dieses kann ein Teil des Eiweißmoleküls selbst sein oder eine Verbindung mit Nichtprotein-Charakter (Coenzym), welche in das Trägereiweiß (Apoenzym) eingebettet ist. Das Trägereiweiß bestimmt die Substratspezifität, d.h. die Wahl des Reaktionspartners, der eine stoffliche Umsetzung erfahren soll. Dies wird gewährleistet durch die räumliche Struktur des Trägereiweißes, in das das Molekül des Substrats passen muß, etwa wie der
335
Enzym
Enzym
Enzym
8.11 Die Chiralität in lebenden Organismen
Enzym-SubstratZwischenverbindung = Substrat
= aktives Zentrum
= Produkt
Bild 8.40 Schematische Darstellung einer enzymatischen Reaktion
Schlüssel zum Türschloß. Die Katalyse bei der Umsetzung geschieht durch das aktive Zentrum. Es wird eine kurzlebige Enzym-Substrat-Zwischenverbindung gebildet. Nach erfolgter Umsetzung löst sich das umgesetzte Substrat sehr schnell und gibt das aktive Zentrum wieder frei. Auf diese Weise können je aktives Zentrum 102–107 Substratmoleküle/min umgesetzt werden. Die Enzyme weisen eine optische Spezifität auf. Dies besagt, daß von zwei optischen Isomeren nur eines umgesetzt wird. Die optische Spezifität der Enzyme erklärt man mit dem Modell einer Dreipunktbindung des Substrats an das Enzym. Vertauscht man zwei Substituenten am aktiven C-Atom des Substrats, können Substrat und Bindungsstelle des Enzyms nicht mehr zur Deckung gebracht und das optische Enantiomere des Substrats nicht mehr gebunden werden. Die hohe optische Spezifität der Enzyme zeigt sich z.B. bei der Maltase, die nur α-glykosidische Bindungen hydrolysiert (siehe Abschnitt 21.7.3.1).
Substrat
Substrat
und bei Substrat vertauscht:
Enzym
Substrat und Enzym passen aufeinander Bild 8.41 Modell zur Dreipunktbindung
Enzym
Substrat und Enzym passen nicht aufeinander
336
8 Optische Isomerie
Die im lebenden Organismus erfolgenden Stoffumwandlungen würden ohne Enzyme mit unmeßbar kleiner Geschwindigkeit ablaufen. Die Enzyme bewirken eine Erhöhung der Reaktionsgeschwindigkeit, d.h. eine Senkung der Aktivierungsenergien, so daß die Reaktionen schon bei Körpertemperatur erfolgen können. Vielfach läuft eine Reaktion in Zwischenschritten ab, wobei mehrere Enzyme an der Gesamtreaktion beteiligt sind. Dadurch, daß das Zwischenprodukt der ersten Reaktion durch die nächste Reaktion fortlaufend verbraucht wird und seine Konzentration dadurch sehr niedrig ist, wird es ständig nachgebildet, es stellt sich ein sogenanntes „Fließgleichgewicht“ ein. Bei Verbrauch des Endprodukts wird dieses ständig nachgebildet, so daß es in konstanter Konzentration vorliegt. Auch energieverbrauchende (endergonische) Reaktionen, bei denen das Reaktionsprodukt nur in sehr geringer Menge gebildet wird, können auf diese Weise vollständig ablaufen. Enantiomere Verbindungen zeigen unterschiedliche physiologische Wirkungen. Dihydroxyphenylalanin (= Dopa) ist ein Medikament gegen die Parkinsonsche Krankheit, die sich durch Zittern, Schweißausbrüche, vermehrten Speichelfluß und Muskelsteife äußert. Das (S)Dopa ist das von beiden Enantiomeren wirksamere Präparat, das auch nicht die Toxizität des (R)-Dopa aufweist. NH2 C HOOC
NH2 H
H
CH2
OH
HO
OH
HO
(S)-Dopa
C COOH
H2C
(R)-Dopa
(R)-(–)-Adrenalin, das Hormon des Nebennierenmarks, wirkt stark blutdrucksteigernd und fördert den Glykogenabbau in Leber und Muskel. Es ist um ein Vielfaches wirksamer als (S)-(+)-Adrenalin. Das (–)-Ephedrin wird aus verschiedenen Ephedra-Arten gewonnen und hat (1R,2S)-Konfiguration. Es wird als Arzneimittel verwendet und hat spasmolytische und antiallergische Wirkung. (+)-Ephedrin ist als Arzneimittel unbrauchbar. Es hemmt sogar die Aktivität des (–)-Ephedrins. H2C H
C*
NHCH3 OH
O H
OH OH
(R)-(–)-Adrenalin
H3C
HO
*C 1 H
N
*C 2 H
H
N
O
O
CH3
(1R,2S)-(–)-Ephedrin
(S)-(–)-Thalidomid
* N
O
8.11 Die Chiralität in lebenden Organismen
337
Ein trauriges Beispiel für die unterschiedliche Wirksamkeit von Enantiomeren bietet das Thalidomid, das als Racemat unter dem Namen Contergan als Schlaf- und Beruhigungsmittel im Handel war, bis man 1961 feststellte, daß es bei Einnahme während der Schwangerschaft Mißbildungen an Gliedmaßen und Wirbelsäule des Embryos verursachte. Nach einer Racemattrennung ergab eine spätere Untersuchung der Enantiomere an Mäusen, daß zwar beide Enantiomere die Wirkung als Schlafmittel zeigen, aber nur das S-Enantiomer die negativen Folgen hat. Die Stoffumwandlungen, bei der die Zellen ihre Energie und Reduktionsäquivalente gewinnen und den Bau ihrer Makromoleküle und den Abbau von Stoffen durchführen, erfolgen in einem ganzen Netzwerk zusammenhängender chemischer Reaktionen. Diese komplexen Prozeße werden allgemein als Stoffwechsel bezeichnet. Bei diesen Stoffumwandlungen wird zwischen den Enantiomeren unterschieden. Z.B. hat nur D-(+)-Glucose im tierischen Stoffwechsel eine zentrale Stellung, nicht aber ihr Spiegelbild, die L-(–)-Glucose. Die D-(+)-Glucose wird durch Hefe zu Ethanol vergoren, die L-(–)-Glucose dagegen nicht. Unsere Geschmacks- und Geruchsrezeptoren vermitteln bei einigen Enantiomeren unterschiedliche Eindrücke, z.B. schmeckt D-(+)-Phenylalanin süß, während L-(–)-Phenylalanin bitter schmeckt. COOH
COOH C*
H
C* H
H2N
NH2
CH2
CH2
D-(+)-Phenylalanin
L-(–)-Phenylalanin
(R)-(–)-Carvon ist ein Geruchstoff der Krauseminze, während (S)-(+)-Carvon in den ätherischen Ölen des Kümmels zu finden ist und diesem den typischen Geruch verleiht. CH3
CH3 O
H3C
C
H CH2
(S)-(+)-Carvon im Kümmel
O
H3C
C
H CH2
(R)-(–)-Carvon in Krauseminze
338
8 Optische Isomerie
Übungsaufgaben ? 8.1 Was sind chirale Moleküle?
? 8.2 Definieren Sie den Begriff Symmetrieebene.
? 8.3 Was versteht man unter dem Begriff Symmetriezentrum?
? 8.4 Was ist eine Drehspiegelachse?
? 8.5 Auf welche Weise misst man den Drehwinkel α und wie berechnet man die spezifische Drehung [a]?
? 8.6 Was versteht man unter einem asymmetrischen Kohlenstoffatom?
? 8.7 Markieren Sie in den beiden chemische Formeln die asymmetrischen Kohlenstoffatome! Cl H
OH
CH3 OH O HO H
HO H H
H OH
? 8.8 Wie stellt man sich die räumliche Orientierung des Moleküls beim Schreiben der FischerProjektion vor?
? 8.9 Definieren Sie den Begriff D/L und geben Sie Beispiele der Anwendung der D/L-Nomenklatur.
? 8.10 Wie verfährt man bei Ermittlung der S- bzw. R-Konfiguration?
Übungsaufgaben
339
? 8.11 Die Verbindungen a), b) und c) sollen mit der R/S- und der IUPAC-Nomenklatur benannt werden. (Anmerkung: in Formel a) befinden sich der Wasserstoff, die Formylgruppe und das asymmetrische Kohlenstoffatom in einer Ebene, die Methylgruppe vor und das Chlor hinter dieser Ebene. Die chem. Formeln b) und c) sind in der Fischer-Projektion gezeichnet.). O
H
O
O
H
HO
H
H
OH
HO
H
H
OH
H C C
H
Cl CH3
a)
CH2OH
CH2OH
b)
c)
Die Verbindung c) ist die D-Erythrose. Benennen Sie die Verbindung b) in der D/L-Nomenklatur mit dem Trivialnamen.
? 8.12
Was sind Stereoisomere und welche Art der Stereoisomerie gibt es?
? 8.13
Was sind Enantiomere und wie unterscheiden sie sich voneinander?
? 8.14
Was sind Diastereomere?
? 8.15
Was kann Ursache der Chiralität sein?
? 8.16
Was versteht man unter dem Begriff prochirales Zentrum?
? 8.17
Beschreiben Sie die räumlichen Veränderungen im Molekül und deren Auswirkungen bei der Substitution eines an ein asymmetrisches Kohlenstoffatom gebundenen Liganden.
? 8.18
Auf welche Weise kann man ein enantionmeres Gemisch trennen?
340
8 Optische Isomerie
Lösungen ! 8.1 Moleküle, die mit ihrer spiegelbildlichen Darstellung, ähnlich wie linke und rechte Hand, nicht zur Deckung zu bringen sind, bezeichnet man als chiral (griech. Cheir = Hand). Sie haben weder eine Symmetrieebene noch ein Symmetriezentrum oder eine Drehspiegelachse. Chirale Moleküle sind optisch aktiv, beim Durchgang des polarisierten Lichtes durch eine Lösung einer chiralen Substanz erfolgt eine Drehung der Polarisationsebene. Moleküle achiraler Verbindungen sind symmetrisch, sie haben eines der drei genannten Symmetrieelemente (siehe Kapitel 8.3.1).
! 8.2 Eine Symmetrieebene ist eine fiktive (gedachte) Ebene, die man durch das Molekül durchlegen kann und die es in zwei spiegelbildliche Hälften teilt. Für alle Atome auf der einen Seite der Symmetrieebene findet man gegenüberliegend auf der anderen Seite in gleicher Entfernung ein äquivalentes Atom.
! 8.3 Ein Symmetriezentrum ist der Punkt eines Moleküls, über den man von allen Atomen des Moleküls eine gedachte Gerade zu einem anderen äquivalenten Atom ziehen kann, wobei das Symmetriezentrum die Strecke halbiert.
! 8.4 Eine Drehspiegelachse ist ein Symmetrieelement, das sich aus zwei aufeinanderfolgenden Symmetrieoperationen zusammensetzt: einer Drehung und einer Spiegelung. Ein Molekül hat eine Drehspiegelachse, wenn es nach Durchführung der beiden Symmetrieoperationen mit sich selbst wieder zur Deckung kommt (siehe Kapitel 8.3.1.3).
! 8.5 Die Drehung der Polarisationsebene beim Durchgang des polarisierten Lichtes durch die Lösung einer chiralen Substanz kann mit dem Polarimeter gemessen werden. Dieser besteht aus einer Lichtquelle, dem Polarisator, dem Probenrohr mit der zu messenden Lösung, dem Analysator, einer Kreisscheibe mit Gradeinteilung und einer Optik zur Beobachhtung der Helligkeit des durchgehenden polarisierten Lichts. Durch Drehung des Analysators und Helligkeitsabgleich kann an der Kreisscheibe der Drehwinkel α gemessen werden. Der Drehwinkel α ist abhängig von der Konzentration der Lösung und von der Länge des Probenrohrs. Außerdem muß berücksichtigt werden, daß die Messung auch geringfügig von der Temperatur und der Wellenlänge des Lichts abhängt. Will man vergleichbare Werte haben, muß man dies berücksichtigen. Dies geschieht mit Angabe der spezifischen Drehung [α]D20. Die spezifische Drehung wird nach folgender Formel berechnet: [α]D20 =
gemessener Winkel α [Grad ] Konzentration [g/mL ] . Länge des Probenrohrs [dm ]
Bei einer genauen Messung sollte auch noch das Lösungsmittel angegeben werden. Das tiefgestellte D in [α]D20 bedeutet die Wellenlänge der gelben Natriumlinie und die hochgestellte Zahl 20 die Temperatur, bei der gemessen wurde (siehe Kapitel 8.2.1).
Lösungen
341
! 8.6 Ein Kohlenstoffatom, das vier verschiedene Liganden bindet, wird als asymmetrisches Kohlenstoffatom bezeichnet. Liegt ein asymmetrisches C-Atom im Molekül vor, ist dieses chiral. Befinden sich im Molekül zwei oder mehreren asymmetrischen Kohlenstoffatome, ist das Molekül ebenfalls chiral und optisch aktiv. Ist im Molekül jedoch, auch bei Vorhandensein asymmetrischer Kohlenstoffatome eine Symmetrie vorhanden, wie z.B. bei der meso-Weinsäure, so ist die Verbindung optisch inaktiv.
! 8.7 Die Markierungen mit * zeigen in beiden Formeln die Stellen an, wo sich asymmetrische Kohlenstoffatome befinden. Cl H OH CH3
* *
OH O
* HO
* HO
* H
H
* *
H
H OH
! 8.8 Die Fischer-Projektion wendet man in der Regel bei Aminosäuren, Hydroxysäuren und bei Zuckern an, wobei in der Formel die räumliche Anordnung der Liganden an asymmetrischen Kohlenstoffatomen eindeutig zu ersehen ist. Man orientiert bei der Fischer-Projektion die Kohlenstoffkette des Moleküls senkrecht, wobei das C-Atom mit der höheren Oxidationszahl oben steht. Man geht dann die Kohlenstoffkette nach unten entlang und betrachtet jedes asymmetrische Kohlenstoffatom so, daß die beiden C-C-Bindungen am asymmetrischen Kohlenstoffatom vom Betrachter weg nach rückwärts weisen, wobei Wasserstoff, Stickstoffoder Sauerstoffatome schräg nach vorn zu stehen kommen und sich vom Betrachter aus links bzw. rechts befinden.
! 8.9 Die D/L Nomenklatur wird angewandt bei Naturstoffen, wobei man diese mit Trivialnamen benennt. Die D/L-Nomenklatur in Verbindung mit dem Trivialnamen bestimmt eindeutig die räumliche Anordnung der Liganden an asymmetrischen Kohlenstoffatomen. Welcher Reihe die Zucker oder Hydroxycarbonsäuren angehören, ob D- oder L-Reihe, entscheidet die –OHGruppe am letztständigen asymmetrischen Kohlenstoffatom, Steht sie in der FischerProjektion rechts, handelt es sich um eine D-Verbindung, links um eine L-Verbindung. Bei Aminosäuren ist die Aminogruppe in α-Stellung für die Zuordnung in D- oder L-Reihe zuständig. D- und L-Verbindungen, z.B. die D-Glucose und die L-Glucose, stehen zueinander in spiegelbildlichem Verhältnis, es handelt sich um Enantiomerenpaare.
342
8 Optische Isomerie
! 8.10 Die R/S-Nomenklatur bietet eine breit anwendbare Möglichkeit chirale Verbindungen zu benennen, wobei man die von Cahn, Ingold und Prelog vorgeschlagenen Sequenzregeln anwendet. Nach dieser Regel haben die an das asymmmetrische Kohlenstoffatom gebundenen Atome mit einer höheren Ordnungszahl die höhere Priorität. Sind zwei gleiche Atome an das asymmetrische Kohlenstoffatom gebunden, muß man in der Kette entlanggehen, bis man eine unterschiedliche Priorität feststellt. Man betrachtet jedes asymmetrische Kohlenstoffatom einzeln so, daß der Ligand mit der niedrigsten Priorität vom Betrachter aus rückwärts zu stehen kommt und die drei anderen Liganden sich vorne befinden. Man geht nun vom Liganden mit der höchsten Priorität zu dem mit nächst niedriger Priorität. Beschreibt man dabei einen Bogen im Uhrzeigersinn, so hat das chirale Zentrum eine R-Konfiguration, beschreibt man einen Bogen entgegen dem Uhrzeigersinn, so liegt eine S-Konfiguration vor.
! 8.11 Die drei unten angeführten Verbindungen werden wie folgt mit R/S-Nomenklatur benannt: O
H
O
O
H
HO
H
H
OH
HO
H
H
OH
H C C
H
Cl
CH2OH
CH3
a) (2S )-2-Chlorpropanal
b) (2S ,3S )-2,3,4Trihydroxybutanal
CH2OH
c) (2R ,3R )-2,3,4Trihydroxybutanal
Wie man das unter a) angeführte Molekül räumlich ausrichten muß, um festzustellen, ob eine R- oder S-Konfiguration am asymmetrischen Kohlenstoffatom vorliegt, zeigt diese Darstellung: O
H
O
H C C
Drehen des Moleküls um senkrechte Achse
Cl CH3
H C
H C
H3C
Cl
Man muß sich vorstellen, man würde das Molekül so drehen, daß das Wasserstoffatom, das in der Formel vordem links gestanden hat, sich nach der Drehung vom Beschauer her rückwärts befindet. Mit dieser Drehung des Moleküls kommt die in der Formel bisher rechtsstehende Methylgruppe links zu stehen und das rückwärts befindliche Chloratom wird nach vorne rechts gedreht. Wendet man nun die Sequenzregeln nach Cahn, Ingold und Prelog an und geht in dem so räumlich orientierten Molekül in einem Bogen vom Chlor zum Kohlenstoff der Formylgruppe und dann zum Kohlenstoff der Methylgruppe, so beschreibt man einen Bogen gegen den Uhrzeigersinn, es liegt also eine S-Konfiguration vor.
Lösungen
343
Die Verbindung c) ist die D-Erythrose. Wenn man diese Angabe hat, kann man auch den Namen der Verbindung b) ableiten: Die Hydroxylgruppe am letztständigen asymmetrische Kohlenstoffatom der Verbindung b) steht in der Fischer-Projektion links, es handelt sich also um einen Zucker der L-Reihe. Vergleicht man die räumliche Anordnung der Liganden an den beiden asymmetrischen Kohlenstoffatomen der Verbindungen b) und c) so stellt man fest, daß in beiden Verbindungen in der Fischer-Projektion die Liganden Wasserstoff und Hydroxylgruppe seitenverkehrt stehen. Die Verbindungen b) und c) stehen zueinander in spiegelbildlichem Verhältnis, es sind Enantiomere. Aus dieser Erwägung folgt, dass die Verbindung b) die L-Erythrose ist.
! 8.12 Stereoisomere sind Verbindungen gleicher Konstitution aber mit unterschiedlicher räumlicher Anordnung der Atome im Molekül. Man unterscheidet im wesentlichen drei Arten von Stereoisomerie: die optische Isomerie, die auf die Chiralität des Moleküls zurückzuführen ist, die cis-trans-Isomerie oder geometrische Isomerie, die bei cyclischen Verbindungen und Verbindungen mit Doppelbindungen auftritt und die Rotationsisomerie, die bei Verbindungen mit eingeschränkter Drehbarkeit um die C-C-Einfachbindung gegeben ist.
! 8.13 Enantiomere sind chirale Verbindungen, deren Moleküle in einem räumlichen Verhältnis wie Bild und Spiegelbild zueinander stehen. Durch Drehen und Wenden kann man beide enantiomeren Moleküle nicht zur Deckung bringen. Enantiomere bewirken eine Drehung der Ebene des polarisierten Lichts um den gleichen Betrag, jedoch in entgegengesetztem Drehsinn. Sie unterscheiden sich nicht in den skalaren Eigenschaften (z.B. Schmelzpunkt und Siedepunkt), auch nicht in chemischen Reaktionen mit achiralen Verbindungen, können sich aber in ihrer physiologischen Wirkung (pharmakologische oder toxikologische Wirkung) unterscheiden.
! 8.14 Optische Isomere, deren Molekülstrukturen nicht im spiegelbildlichem Verhältnis zueinander stehen, sind Diastereomere (griech. dia = jenseits). Diastereomere unterscheiden sich sowohl in ihrem spezifischen Drehwert, als auch in den physikalischen Eigenschaften.
! 8.15 Liegt die Ursache der Chiralität im Vorhandensein asymmetrischer Kohlenstoffatome, so spricht man von einer zentralen Chiralität. Es gibt aber optisch aktive Substanzen, deren Chiralität andere Ursachen hat. Zu diesen Substanzen gehören Verbindungen mit axialer Chiralität, z.B. das 1-Chlorbuta-1,2-dien, mehrfach substituierte Spirane, oder ortho-substituierte Biphenyle, deren Drehbarkeit durch sperrige ortho-Substituenten eingeschränkt ist. Eine planare Chiralität liegt bei meta- und para-substituierten Cyclophanen vor. Bei der Helicität geht es um eine Chiralität verursacht durch eine schraubenförmige Struktur. Um eine solche Struktur geht es bei der rechtsgängigen (P)-Helix und der linksgängigen MHelix. Eine solche schraubenförmige Struktur finden wir auch in der α-Helix von Proteinen (siehe Kap. 24.6.2.1) und der DNA-Helix (siehe Kap. 27.1.1.2).
344
8 Optische Isomerie
! 8.16 Bei bestimmten Reaktionen kann aus einer achiralen Verbindung eine chirale Substanz entstehen. Die Stelle des Moleküls an der diese Umwandlung geschieht wird als prochirales Zentrum bezeichnet. Dies kann ein Kohlenstoffatom sein, das drei verschiedene Liganden bindet und bei der Reaktion zum asymmetrischen Zentrum wird. Achirale Substanzen, bei denen dies erfolgt bezeichnet man als prochirale Verbindung. Liegen keine chiralen Einflüsse vor (chirales Lösungsmitel oder chiraler Katalysator) so entstehen bei der Reaktion mit einer prochiralen Verbindung racemische Gemische. Wird in einer schon chiralen Verbindung ein neues Chiralitätszentrum gebildet, kann das bereits vorhandene Chiralitätszentrum den Verlauf der Reaktion beeinflussen, besonders dann, wenn das neu zu bildende Chiralitätszentrum sich in Nachbarschaft zum bereits bestehenden befindet. In diesem Falle kann ein stereoisomeres Produkt überwiegen. Man spricht dann von einer asymmetrischen Synthese.
! 8.17 Bei einer chemischen Reaktion am asymmetrischen Kohlenstoffatom kann eine Retention, eine Inversion oder eine Racemisierung erfolgen. Bei der Retention behalten drei Liganden am asymmetrischen C-Atom die räumliche Anordnung bei und ein Ligand wird ausgetauscht. In diesem Falle liegt ein Konfigurationserhalt vor. Erfolgt die chemische Reaktion am asymmetrischen C-Atom auf die Weise, daß die Liganden, die nicht ausgetauscht werden, im Übergangszustand in einer Ebene liegen und in die entgegengesetzte Konfiguration übergehen (Walden-Umkehr) während der neue Ligand von der Gegenseite an das asymmetrische C-Atom herantritt, so spricht man von einer Inversion. Sie ist mit einer Konfigurationsumkehr verbunden. Eine Racemisierung erfolgt dann, wenn am asymmetrischen C-Atom sowohl das (S)- als auch das (R)-Produkt gebildet werden.
! 8.18 Ein Enantiomerengemisch kann man über diastereomere Zwischenprodukte, mit Hilfe von Mikroorganismen oder unter Benutzung optisch aktiver Trägermaterialien mit Hilfe chromatographischer Methoden trennen. Zur Trennung über ein Enantiomerengemisch läßt man z.B. ein racemisches Säuregemisch mit dem Enantiomer einer Base (die nur die S oder nur die R-Konfiguration hat) reagieren und erhält als Zwischenprodukt ein diastereomeres Gemisch, das man auf Grund seiner unterschiedlichen Eigenschaften trennen kann. Nach der Trennung wird das Säureenantiomer mit einer stärkeren Säure aus dem Salz freigesetzt. Auf diese Weise erhält man nach Aufarbeitung das reine Enantiomer der Säure. Es gibt auch Enantiomere, die aus racemischen Gemischen (Konglomeraten) in spiegelbildlicher Form auskristallisieren, und diese können, wie dies 1848 schon Louis Pasteur bewiesen hat, durch Handauslese voneinander getrennt werden (siehe Kapitel 8.10).
9 Halogenalkane Halogensubstituierte Alkane (substituiert mit F, Cl, Br oder I) werden allgemein als Halogenalkane oder Alkylhalogenide bezeichnet.
9.1 Nomenklatur Nach der IUPAC-Nomenklatur werden die Halogenalkane als Derivate des Alkans aufgefaßt. Zunächst werden die Stellung des Halogens in der Kette und der Name des Halogens angeführt. Danach wird der Name des Alkans mit der entsprechenden Anzahl der C-Atome genannt. Ist die Benennung des Halogenalkans auch ohne Stellenangabe des Halogens eindeutig, braucht diese nicht angeführt zu werden. Unterschiedliche Halogene werden in alphabetischer Reihenfolge genannt, z. B. H H
C
Br H
Br
Brommethan
H
C
I
Cl
Bromchloriodmethan
H
H
H
H
H
C
C
C
C
H
Cl
Cl
H
2,3-Dichlorbutan
H
H
H
H
H
H
C
C
C
C
Br
Cl
Br
H
H
1,3-Dibrom-2-chlorbutan
Halogenalkane werden auch allgemein als Alkylhalogenide bezeichnet. Gebraucht man diese ältere Nomenklatur, nennt man zuerst den Alkylrest, der die Endung -yl hat, worauf man den Namen des Halogens mit der Endung -id anfügt. Die Verbindung CH3CH2Br kann man demgemäß als Ethylbromid bezeichnen, CH3CHClCH3 als Isopropylchlorid. Man benutzt diese Nomenklatur hauptsächlich bei einfachen Halogenalkanen und dort, wo es vorteilhaft ist, den Alkylrest mit seinem Trivialnamen anzuführen. Einige Halogenalkane haben Trivialnamen, z.B. CH2Cl2 Methylenchlorid, CHCl3 Chloroform und CCl4 Tetrachlorkohlenstoff.
9.2 Eigenschaften und Bedeutung der Halogenalkane Halogenalkane sind relativ unpolar. Sie sind daher in Wasser nicht löslich, jedoch gut löslich in organischen Lösungsmitteln. Methylenchlorid, Chloroform und Tetrachlorkohlenstoff werden häufig als Lösungsmittel für organische Verbindungen benutzt. Tetrachlorkohlenstoff wurde früher oft als Fleckenputzmittel verwendet. Es hat gegenüber anderen organischen Lösungsmitteln den Vorteil, daß es nicht brennbar ist. Der Nachteil der Halogenalkane als Lösungsmittel ist die Giftigkeit ihrer Dämpfe. Sie verursachen gefährliche Blutschädigungen durch Einwirkung auf die Leber mit Prothrombinmangel und Gerinnungsstörungen. Durch Lichteinwirkung oder in der Flamme entsteht aus den genannten Lösungsmitteln im A. Wollrab, Organische Chemie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-45144-7_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
345
346
9 Halogenalkane
Beisein von Luft das giftige Phosgen COCl2 (im ersten Weltkrieg als Kampfgas benutzt). Zur Herabsetzung der Phosgenbildung durch Lichteinwirkung wird dem Chloroform 0,5 % Ethanol zugegeben. Alkylbromide und Alkyliodide zersetzen sich unter Lichteinfluß so, daß Brom bzw. Iod frei wird. Diese Halogenalkane sind deshalb in braunen Flaschen aufzubewahren. Wichtig sind die Halogenalkane als Alkylierungsmittel in organischen Synthesen. Mit Ausnahme der Fluoralkane, die infolge der geringen Polarisierbarkeit und der Stärke der C–F-Bindung wenig reaktionsfreudig sind, kann in Halogenalkanen das Halogenatom durch ein Nucleophil leicht ersetzt werden. Freone wurden als Treibgas für Sprays und als Kühlmittel in Kühlschränken benutzt. Sie müssen durch andere Stoffe ersetzt werden, da sie in der Ozonosphäre (in 20–30 km Höhe) die Ozonschicht zerstören, die als Schutzschild gegen zu starke UV-Einstrahlung wirkt. Halothan CF3CHBrCl wird als einzuatmendes Anästhetikum (Schmerzbekämpfungsmittel) verwendet.
9.3 Darstellung der Halogenalkane 9.3.1 Halogenierung von Alkanen Die Chlorierung von Methan hat Bedeutung für die Herstellung von Methylchlorid, Methylenchlorid, Chloroform und Tetrachlorkohlenstoff (siehe Abschnitt 2.9.1.1). Die einzelnen Produkte, die im Reaktionsgemisch nebeneinander vorliegen, lassen sich, da sie große Unterschiede in der Siedetemperatur aufweisen, gut voneinander trennen. Für die Darstellung von Halogenalkanen aus höheren Alkanen ist die Reaktion jedoch uninteressant, weil eine große Anzahl von Reaktionsprodukten entsteht und man die Komponenten voneinander nicht sauber trennen kann, da sich die Siedetemperaturen der Halogenalkane untereinander zu wenig unterscheiden.
9.3.2 Halogenalkane aus Alkoholen Chloralkane. Konzentrierte Salzsäure reagiert mit tertiären Alkoholen relativ gut, insbesondere in Gegenwart von ZnC12 (siehe Abschnitt 10.7.4.1), CH3 H3C
C
CH3 OH
+
HCl
H3C
CH3
C
Cl
+
H2O
CH3
sie reagiert langsam mit sekundären Alkoholen und nicht, oder nur sehr schlecht, mit primären Alkoholen. Aus primären Alkoholen stellt man deshalb Chloralkane durch Erhitzen mit PCl3 oder PCl5 her (siehe auch Abschnitt 10.7.4.1), 3 R
CH2
OH
+ PCl3
3 R
CH2
Cl + H3PO3
9.3 Darstellung der Halogenalkane
347
oder man läßt den Alkohol mit SOCl2 in Gegenwart von Pyridin reagieren: R
CH2
OH
SOCl2
+
Pyridin
R
CH2
Cl
+ SO2
+ HCl
Bromalkane. Bromalkane lassen sich aus Alkoholen (auch aus primären Alkoholen) durch Erhitzen mit 48%iger Bromwasserstoffsäure herstellen oder indem man ein Gemisch aus Alkohol, Schwefelsäure und KBr erhitzt. R
CH2
OH + H
R
Br
CH2
Br
+ H2O
Auch durch Erhitzen des Alkohols mit PBr3 kann man Bromalkane darstellen. Iodalkane. Die Darstellung von Iodalkanen gelingt durch Erhitzen eines Gemisches bestehend aus Alkohol, Iod und rotem Phosphor. Als eigentliches Reagens bei dieser Reaktion wirkt das aus Phosphor und Iod gebildete PI3. Die Darstellung der Iodalkane aus höheren Alkoholen erfordert erhöhten Druck.
9.3.3 Halogenderivate aus Alkenen Monohalogenderivate lassen sich durch Addition von HX (X = Cl, Br oder I) an Alkene synthetisieren (siehe Abschnitt 3.7.4.1), z. B. H3C
CH
CH2
+ H
Br
H3C
CH
CH3
Br
während bei der Addition von Cl2 oder Br2 an Alkene Dichlor- bzw. Dibromderivate entstehen (siehe Abschnitt 3.7.4.6), z.B. H3C
CH
CH2
+
Br2
H3C
CH
CH2
Br
Br
9.3.4 Die Gewinnung von Fluoralkanen Von den Fluoralkanen haben Fluorderivate des Methans die größte Bedeutung. Ihre Herstellung durch direkte Einwirkung von Fluor auf Methan läßt sich schlecht durchführen, da die Reaktion explosionsartig verläuft. Man verfährt deshalb so, daß man Chlorderivate des Methans mit wasserfreiem Fluorwasserstoff in Gegenwart von Katalysatoren fluoriert. Fluoralkane können auch durch Umsetzung von Chlor-, Brom- oder Iodalkanen mit Metallfluoriden dargestellt werden. Reaktion von Halogenalkanen mit Metallfluoriden (Swarts-Reaktion). Läßt man Chlor-, Brom- oder Iodalkane mit Quecksilber(I)fluorid, Silber- oder Kaliumfluorid reagieren, erfolgt der Austausch von Chlor, Brom oder Iod durch Fluor.
348 2 R
9 Halogenalkane X
+
Hg2F2
2 R
F
X = Cl, Br oder I
Hg2X2
+
Reaktion von Chloralkanen mit HF. Die Substiution von Chlor durch Fluor in Chlorderivaten des Methans durch deren Umsetzung mit HF spielt eine Rolle in technischen Verfahren zur Herstellung von Chlorfluormethanen. Die Herstellung der Chlorfluormethane kann in der Gasphase bei 150°C mit Aluminiumfluorid, Chromfluorid oder Chromoxyfluorid als Festbettkatalysator oder in der Flüssigphase unter Druck bei 100°C mit Antimonfluorid als Katalysator erfolgen. Durch Einwirkung von HF in Anwesenheit eines entsprechenden Katalysators wird in Chlorderivaten des Methans (z.B. CH2Cl2) das Chlor stufenweise durch Fluor ersetzt. CH2Cl2
+
HF
CH2ClF
+
HF
150 °C, AlF3 150 °C, AlF3
CH2ClF
+
HCl
CH2F2
+
HCl
Die Chlorfluormethanverbindungen werden im Handel als Freone (USA) oder Frigene (Europa) bezeichnet. Für die technische Kennzeichnung wird ein zweistelliger Zahlencode verwendet, wobei die erste Ziffer die um eins erhöhte Anzahl der Wasserstoffatome und die zweite Ziffer die Anzahl der Fluoratome im Molekül angeben. CCl4
HF/SbF5 - HCl
CCl3F
HF/SbF5 - HCl
Trichlorfluormethan (Frigen 11, Sdt. 23,7°C)
CHCl3
HF/SbF5 - HCl
CHCl2F Dichlorfluormethan (Frigen 21, Sdt. 9°C)
CCl2F2
HF/SbF5 - HCl
Dichlordifluormethan (Frigen 12, Sdt. –29,8°C)
HF/SbF5 - HCl
CClF3
Chlortrifluormethan (Frigen 13, Sdt. –81,1°C)
CHClF2 Chlordifluormethan (Frigen 22, Sdt. –40,8°C)
Anmerkung: die Abkürzung Sdt. bedeutet Siedetemperatur.
Die Frigene sind tief siedende, untoxische, nicht brennbare, sehr stabile Verbindungen, die in Kühlsystemen und als Treibgas in Spraydosen verwendet werden. Gelangen diese Verbindungen in die Stratosphäre, so erfolgt dort durch energiereiche Strahlung ein Zerfall dieser Verbindungen, wobei Chloratome entstehen, die den Abbau von Ozon katalysieren. Die Abnahme der Ozonkonzentration in der Stratosphäre kann für das Leben auf der Erde katastrophale Folgen haben. Man bemüht sich deshalb weltweit, die Frigene durch andere Stoffe zu ersetzen. In der Bundesrepublik Deutschland sind für den Handel Frigene als Treibmittel in Spraydosen oder als Kühlmittel in Kühlschränken und Klimaanlagen gesetzlich nicht mehr zugelassen. Von den Chlorfluormethanen hat das Chlordifluormethan die größte Bedeutung. Durch Pyrolyse dieser Substanz bei 250°C entsteht Tetrafluorethylen F2C=CF2.
9.4 Reaktionen der Halogenalkane H 2
F
250 °C
C Cl
F
349
F
F C
+
C
F
2 HCl
F
Tetrafluorethylen ist ein Gas, das bei Katalyse von Peroxiden unter Druck zu Polytetrafluorethylen (Teflon) polymerisiert. F n
F C
C
Katalysator, Druck
F
F
Tetrafluorethylen
F
F
C
C
F
F
n
Teflon
Teflon hat einen hohen Erweichungspunkt, der bei etwa 300°C liegt, es ist ein guter Isolator und es ist resistent gegen Chemikalien. Nur schmelzende Alkalimetalle und Fluor greifen es an. Teflonpulver sintert bei 360°C und bildet gut haftende Überzüge. Teflon wird zum Innenbezug von Pfannen und Töpfen verwendet, zum Oberflächenschutz von Metallen und für wasserabweisende Filme. Aus Teflon werden Rohre, Dichtungen und Hähne hergestellt. Weitere Synthesen von Halogenalkanen werden in Abschnitt 15.4.5.3b (aus Silbersalzen, die Hunsdiecker-Reaktion) und in Abschnitt 22.7.1.3 (aromatische Halogenderivate aus Diazoniumsalzen) behandelt.
9.4 Reaktionen der Halogenalkane Die nachfolgend beschriebenen Reaktionen können mit Iod-, Brom- oder Chloralkanen durchgeführt werden. Infolge ihrer Reaktionsträgheit reagieren Fluoralkane auf diese Weise nicht. In den weiteren Ausführungen steht X für Iod, Brom oder Chlor.
9.4.1 Hydrogenolyse von Halogenalkanen Unter Hydrogenolyse versteht man eine Hydrierung, die unter gleichzeitigem Bindungsbruch der C–X-Bindung erfolgt. Halogenalkane lassen sich durch Erhitzen mit Zink und Säure (Mineralsäure oder Essigsäure) R
Zn / CH3COOH
X
R
H
oder durch Erhitzen mit Lithiumaluminiumhydrid in Tetrahydrofuran 4 R
X
+
LiAlH4
Tetrahydrofuran
4
R
H
+
AlCl3
+ LiCl
zu Alkanen umsetzen (siehe Abschnitt 2.7.2.3). Iodalkane reagieren besser als Bromalkane und diese wiederum besser als Chloralkane. Fluoralkane reagieren nicht.
350
9 Halogenalkane
Iodalkane können auch bei Erhitzen mit konz. Iodwasserstoffsäure in Alkane umgesetzt werden. R
I
+
I
H
R
I2
+
H
9.4.2 Reaktion mit Metallen Wurtzsche Synthese. Mit metallischem Natrium oder Kalium reagieren Halogenalkane unter Verdoppelung der Kohlenstoffkette zu Alkanen (siehe Abschnitt 2.7.2.1). 2 R
+
X
2 Na
R
R
+
2 NaX
Darstellung von Alkyllithiumverbindungen. Läßt man die Halogenalkane mit in Diethylether oder Tetrahydrofuran (THF) suspendiertem Lithium reagieren, so entstehen die entsprechenden Alkyllithiumverbindungen. C4H9Br
+
2 Li
0 °C
C4H9Li
LiBr
+
Organische Verbindungen, welche ein Metallatom enthalten, werden allgemein als Organometallverbindungen bezeichnet. Grignard-Reagens. Die Apparatur zur Darstellung des Grignard-Reagens besteht aus einem Dreihalskolben mit aufgesetztem Rückflußkühler und Tropftrichter. Die Reaktion führt man unter trockener Stickstoffatmosphäre durch, oder man verhindert mit einem Chlorcalciumröhrchen den Zutritt von Luftfeuchtigkeit. Aus einem Tropftrichter läßt man langsam das mit wasserfreiem Ether verdünnte Halogenalkan zu Magnesiumspänen zutropfen, welche sich ebenfalls in wasserfreiem Ether (Diethylether oder Tetrahydrofuran) befinden. Bei der Reaktion entsteht ein Alkylmagnesiumhalogenid. Eine solche Verbindung wird allgemein als Grignard-Reagens bezeichnet (siehe auch Abschnitt 2.7.2.2). R
X
Mg
+
Diethylether
R
Mg
X
9.4.3 Eliminierungsreaktionen Erhitzt man ein Halogenalkan mit Alkalihydroxid in Alkohol, so wird HX aus dem Molekül abgespalten, und es entsteht ein Alken (siehe Abschnitt 3.6.1.1). Tertiäre Halogenalkane spalten HX leicht ab, primäre Halogenalkane hingegen geben schlechte Alkenausbeuten. CH3 (CH3)3C
X
+
NaOH
H3C
C
CH2
+
NaX
+
H2O
Ein Alken entsteht ebenfalls durch Erhitzen eines Dihalogenalkans mit Zinkpulver in Ethanol (siehe auch Abschnitt 3.6.1.2).
9.4 Reaktionen der Halogenalkane
R
H
H
C
C
X
H
+
Zn
351
Ethanol
H C R
X
C
H H
+
ZnX2
9.4.4 Die Arbuzow-Michaelis-Reaktion In der Arbuzow-Michaelis-Reaktion erfolgt mit einem Alkylhalogenid eine Alkylierung des Phosphors am Ester einer dreiwertigen organischen Phosphorverbindung. Der Alkylester einer dreiwertigen Phosphorverbindung reagiert mit dem Alkylhalogenid zunächst zum Phosphoniumsalz, der Alkylrest des Alkylhalogenids wird dabei an Phosphor gebunden. Im nächsten Reaktionsschritt bindet das Halogenidion in einer SN2-Reaktion an die Alkylgruppe des Esters, wobei ein Derivat des fünfwertigen Phosphors freigesetzt wird und der ursprünglich am Ester befindliche Alkylrest nunmehr Bestandteil des Alkylhalogenids ist.
Die Arbuzow-Michaelis-Reaktion findet Verwendung bei der Herstellung Phosphororganischer Verbindungen.
9.4.5 Nucleophile Substitutionsreaktionen Das Halogenatom ist im Vergleich zum Kohlenstoffatom elektronegativer, so daß die C–XBindung eine polare kovalente Bindung darstellt: H H
δ+ δC X
δ + = positive Teilladung δ-
= negative Teilladung
R
Die C–X-Bindung kann leicht gespalten werden und das Halogen durch eine andere funktionelle Gruppe, die in diesem Falle als Nucleophil bezeichnet wird, ersetzt werden. Für das Nucleophil wird im weiteren das Symbol Nu verwendet. Unter einem Nucleophil (lat. nucleus = Kern und griech. philos = liebend, also: Kernliebend) ist ein Anion oder eine elektroneutrale Verbindung zu verstehen, die ein freies Elektronenpaar besitzt, mit dem sie sich an das C+ eines Carbeniumions oder an ein Kohlen-
352
9 Halogenalkane
stoffatom mit positiver Teilladung binden kann. Das Halogenalkan ist in dieser Substitutionsreaktion als Reaktionspartner des Nucleophils der Elektronenakzeptor und wird ganz allgemein als Elektrophil bezeichnet. Einen Vorgang, bei dem eine elektronegative funktionelle Gruppe (im Falle des Halogenalkans das Halogen) durch ein Nucleophil ersetzt wird, nennt man nucleophile Substitution und verwendet dafür die Abkürzung SN (S für Substitution und N für nucleophil), z. B.: R
X
+
Nu
R
Nu
Nu = Nucleophil
X
+
Die Bezeichnung einer Reaktion richtet sich gewöhnlich nach dem angreifenden Reagens. Bei der nucleophilen Substitution ist das Nucleophil das angreifende Reagens, das eine funktionelle Gruppe ersetzt. Die Gruppe, die abgespalten wird, bezeichnet man als Abgangsgruppe. Die leichte Abspaltbarkeit der Halogene läßt diese als außerordentlich gute Abgangsgruppe erscheinen. Es gibt eine Vielfalt von Nucleophilen, die in Halogenalkanen das Halogenatom ersetzen können, und dies ist der Grund, warum Halogenalkane für viele Synthesen wichtig sind. Zur Übersicht sind einige bei nucleophilen Substitutionen öfter eingesetzte Nucleophile aufgezählt, wobei diese nach dem Atom des Nucleophils geordnet sind, daß sich direkt an das Elektrophil bindet. O O
O-Nucleophile
O
R
Alkoholat-Ion Halogenidionen als Nucleophile
Br
O
C
R2NH
tert. Amin sek. Amin
NH2
prim. Amin
C
Acetylid-Ion
R
N
Cyanid-Ion
H
Wasser
NH3
N3
C6H5NH2
Ammoniak
Azid-Ion
Anilin
O C
O
Fluorid-Ion
C-Nucleophile HC
H
F
Chlorid-Ion
R
CH3
Acetat-Ion
Cl
Bromid-Ion
R3N
C6H5
O
Hydroxid-Ion Phenolat-Ion
I Iodid-Ion
N-Nucleophile
H
O
C
O CH
C
O
R
Carbanion des Malonsäurediesters
O
S-Nucleophile
H
O
S
O
Hydrogensulfit-Ion (Bisulfit-Ion)
R
S
Mercaptid-Ion
H
S
Hydrogensulfid-Ion
S
2
Sulfid-Ion
9.5 Die aliphatische nucleophile Substitution (SN-Reaktion)
353
9.5 Die aliphatische nucleophile Substitution (SN-Reaktion) Bei der nucleophilen Substitution am gesättigten Kohlenstoffatom (sp3-hybridisiertes C-Atom) wird eine als Abgangsgruppe (benutztes Symbol L nach dem englischen leaving group) bezeichnete Gruppe durch ein Nucleophil (benutztes Symbol Nu) ersetzt. Für die nucleophile Substitution wird allgemein das Symbol SN als Abkürzung verwendet (S = Substitution und N = nucleophil). Voraussetzung für die SN-Reaktion ist die Elektronegativität der Abgangsgruppe, denn die Bindung des Kohlenstoffatoms zu dem Atom der Abgangsgruppe muß genügend polar sein, damit eine heteropolare Spaltung möglich ist. Indem die elektronegative Abgangsgruppe die Bindungselektronen näher zu sich zieht, hat das Kohlenstoffatom eine positive und das direkt an das Kohlenstoffatom gebundene Atom der Abgangsgruppe eine negative Partialladung. Die Abgangsgruppe löst sich vom Kohlenstoffatom und nimmt dabei die beiden Bindungselektronen mit. An ihre Stelle tritt das Nucleophil, das bei der SNReaktion sein freies Elektronenpaar für eine Bindung mit dem Kohlenstoffatom verwendet. δ+ δNu
+
R
Nu
L
R
+
L
Das angreifende Nucleophil kann elektroneutral oder ein Anion sein. Ist das angreifende Nucleophil neutral, entsteht ein Kation, handelt es sich bei ihm um ein Anion, wird eine elektroneutrale Verbindung gebildet. Entsteht bei der SN-Reaktion zunächst ein Kation, kann dieses ein Proton abspalten und die Verbindung dadurch elektroneutral werden. H
H +
Nu
C
H
Nucleophil (elektroneutral)
Nu
L
R Elektrophil
+ H
+
H
+
L
H C
Nu
L
R
Nucleophil (Anion)
H
R Kation
H Nu
C
C
L
R elektroneutrale Verbindung
Elektrophil
Falls das Nucleophil gleichzeitig das Lösungsmittel darstellt, bezeichnet man die Reaktion als Solvolyse. Die Abgangsgruppe kann elektroneutral sein oder eine positive Ladung tragen. Im ersten Fall erfolgt die Abspaltung der Abgangsgruppe als Anion, im zweiten Fall als elektroneutrale Verbindung, z.B.: H
H N
C
+ H
Nucleophil
C
Br
R Elektrophil
N
C
C
H
+
Br
R
Anion
354
9 Halogenalkane H +
Br
H Nucleophil
H
H C
Br
O
C
H
R
H +
H
O H
R
Elektrophil
elektroneutrale Verbindung
Bei der SN-Reaktion ist es wichtig, daß sich die Abgangsgruppe vom Kohlenstoffatom gut lösen kann. Deshalb hängt es auch von der Natur der Abgangsgruppe ab, wie leicht die Reaktion erfolgt. Gute Abgangsgruppen sind die konjugierten Basen starker Säuren (zu dem Begriff konjugierte Base siehe Abschnitt 10.7.3). Leicht abzuspaltende Gruppen sind z.B.: O O
O Br >
S
O
S
O
CH3 >
I
>
>
Br
Cl
O
p-Brombenzolsulfonylgruppe (Brosylgruppe)
p-Toluolsulfonylgruppe (Tosylgruppe)
Iod
Brom
Chlor
Gut abzuspaltende Gruppen sind außerdem solche, die eine positive Ladung tragen. Die positive Ladung der Abgangsgruppe verstärkt die Polarisierung der Bindung zwischen C-Atom und dem daran gebundenen Atom der Abgangsgruppe und unterstützt damit das Lösen der Abgangsgruppe, z.B.: R R
C R
R
H R
O H
C
R
H +
oder
O
R
C
H
R
R
R' R
O H
R
C
R' +
O H
R
Die –OH-Gruppe und die –OR-Guppe sind, ebenso wie die –NH2-Gruppe, schwer abspaltbar. Deshalb müssen diese Gruppen für SN-Reaktionen zunächst protoniert werden: H R
CH2
O + H
R
CH2
H
und
O
R
CH2
H
H
O + H R
gut abspaltbare Gruppe
R
CH2
O R
abspaltbare Gruppe
Auch nach Überführung des Alkohols in den Tosylester liegt mit der Tosylgruppe eine besser abzuspaltende Gruppe vor: O
O R
O
H + Cl
S O
p-Toluolsulfochlorid
CH3
R
O
S
CH3 + HCl
O
Tosylester (gut abspaltbare Gruppe)
9.5 Die aliphatische nucleophile Substitution (SN-Reaktion)
355
In den meisten Fällen erfolgt die SN-Reaktion mit Alkylhalogeniden. Diese lassen sich relativ leicht synthetisieren, und das Halogen kann aus dem Alkylhalogenid bei der SNReaktion leicht abgespalten werden. Nucleophile Substitutionsreaktionen an einem Alkyhalogenid R–X sind gleichzeitig auch Alkylierungsreaktionen. Man bringt bei dieser Reaktion in das Nucleophil einen Alkylrest R ein. R
X
+
Nu
R
Nu +
X = Cl, Br, I
X
Es erfolgt also die Alkylierung des Nucleophils Nu mit R. Ist das Nucleophil ein Carbanion, so erfolgt bei der nucleophilen Substitution eine C–C-Verknüpfung (siehe Tabelle 9.1). Tabelle 9.1 Synthetisch wichtige nucleophile Substitutionen
nucleophiles Atom
Nucleophil
Elektrophil
H
H
Halogen
+
F
H
Reaktionsprodukte
C
Br
SbF3, HF
F
R
H + H
C
Br
Aceton
I
R H
R'
+
O
H
C
R'
Br
O
R
Alkoholat-Ion
Ether H
R'
O H
+
H
H
O
R' H
R
C
+
Br
(s. Abschnitt 9.3.4)
+
Br
(s. Abschnitt 3.7.4.6)
H
R
+
Br
(s. Abschnitt 12.3.3)
H
H C
C
R Alkyliodid H
Iodid-Ion Sauerstoff
H
R Alkylfluorid H
Fluorid-Ion
I
C
O
C
H
R
H H
+ H2O
R'
O
C
H
R + H3O
Alkohol
prot. Alkohol
Ether (s. Abschnitt 12.3.2) H
H H
O
+ H
Hydroxid-Ion
C R
Br
H
O
C
R Alkohol
H
+
Br
(s. Abschnitt 10.6.2.1)
356
9 Halogenalkane
O R'
C
O
H +
O
H
C
R'
Br
O
N
+
C
H
C
N
Br
C
C
R
C
Elektrophil
+
C
H
Br
C
H
RO H + H
C RO
C
H
Br
R
H
N
H
H
H
C
H
+
Br
H
C
C
H
+
Br
R O
Alkylmalonsäurediester (s. Abschnitt 15.3.2.5)
H +
Br
O
RO
H
+
R (s. Abschnitt 4.4.4)
C
C
O
Carbanion des Malonsäurediesters Stickstoff
C
R
O
C
C
Alkin
C
H
Reaktionsprodukte
Acetylid-Ion RO
Br
H C
H
+
R (s. Abschnitt 17.5.2.2)
Nitril
H H
H
H
Cyanid-Ion
Nucleophil
C
R (s. Abschnitt 17.3.3.3)
Ester H
Kohlenstoff in Carbanionen
Kohlenstoff in Carbanionen
C
R
Carboxylat-Ion
nucleophiles Atom
H
Br
H
R
H
N
C
H
R
H
+
Br
NH3
H
H
N
C
H
R
H
+ NH4Br
Ammoniak
prim. Amin (s. Abschnitt 22.5.2)
R' H
N H
R'
H +
H
C R
Br
H
H
N
C
H
R
H
+
Br
NH3
R'
H
N
C
H
R
H
+ NH4Br
9.6 Reaktionsmechanismen der aliphatischen nucleophilen Substitution
357
prim. Amin
sek. Amin
R'' H
R'' H
H +
N
H
R'
C
H
Br
R
N
C
R'
R
H
+
R'' H
NH3
Br
N
C
R'
R
H
+ NH4Br
sek. Amin Schwefel
nucleophiles Atom Schwefel
tert. Amin H
H +
S
H
C
H
H
Br
H
+
Br
R Hydrogensulfid-Ion
R Mercaptan (Alkylthiol)
Nucleophil
Reaktionsprodukte
Elektrophil
H
H +
S
R'
H
C
R'
Br
R H
S
2
+ 2R
C
S
C
R
Br
C H
H Sulfid-Ion
S
C
+
Triphenylphosphin
H
Br
R +
2 Br
H C
R
+
H Thioether
H (C6H5)3P
H
R Thioether H H
Mercaptid-Ion
Phosphor
C
S
Br
(C6H5)3P
C
H
Br
R Alkyltriphenylphosphoniumbromid (s. Abschnitt 13.4.1.6)
9.6 Reaktionsmechanismen der aliphatischen nucleophilen Substitution Nucleophile Substitutionen (lat. substituere = ersetzen) am gesättigten C-Atom erfolgen in den meisten Fällen nach dem Reaktionsmechanismus der monomolekularen nucleophilen Substitution (SN1) oder der bimolekularen nucleophilen Substitution (SN2). Nach der SN1Reaktion reagieren bevorzugt Verbindungen, die die Abgangsgruppe an ein tertiäres Kohlenstoffatom gebunden haben, z.B. tertiäre Alkohole und tertiäre Alkylhalogenide. Die SN2Reaktion betrifft vornehmlich Verbindungen mit der Abgangsgruppe an einem primären Kohlenstoffatom, z.B. primäre Alkohole und primäre Alkylhalogenide. Verbindungen, in
358
9 Halogenalkane
welchen die Abgangsgruppe am sekundären Kohlenstoffatom gebunden ist, können – je nach Reaktionsbedingungen – nach dem SN1- oder dem SN2-Reaktionsmechanismus reagieren. SN1-und SN2-Reaktionen sind Konkurrenzreaktionen, die auch nebeneinander ablaufen können. Eine nucleophile Substitution kann auch nach dem SNi-Mechanismus erfolgen, der jedoch relativ selten ist und bei der Reaktion von Alkoholen mit Thionylchlorid im Abschnitt 10.7.4.1 beschrieben wird.
9.6.1 SN1-Mechanismus Die SN1-Reaktion läuft in zwei aufeinanderfolgenden Reaktionsschritten ab. Im ersten langsamen Schritt erfolgt die Abspaltung der Abgangsgruppe L, wobei ein Carbeniumion entsteht, und im zweiten schnellen Schritt bindet sich das Nucleophil Nu: oder Nu:– an den positiven Kohlenstoff des Carbeniumions. R1
R1 R2
R2
C
langsam
L
R2
C
R3
R3
R1
R1
C
+
Nu
schnell
R3
R2
C
+
L
Nu
R3
Bild 9.1 zeigt das Reaktionsprofil einer SN1-Reaktion. Über einen Übergangszustand, bei welchem die C–L-σ-Bindung gelockert ist, wird nach Loslösen der Abgangsgruppe das Carbeniumion als Zwischenprodukt gebildet. Die Produktbildung erfolgt über einen weiteren Übergangszustand, bei dem die σ-Bindung mit dem Nucleophil noch nicht vollständig ausgebildet ist (durch Punkte symbolisiert).
9.6.1.1 Kinetik der SN1-Reaktion
Der langsamste Teilschritt der Reaktion ist der geschwindigkeitsbestimmende Schritt für den Gesamtablauf der Reaktion. Zur Erläuterung diene ein Beispiel aus dem täglichen Leben: Dreht man bei der Wasserleitung den Wasserhahn auf, so bestimmt der freigelegte Spalt unter der Dichtung die pro Zeiteinheit durchfließende Wassermenge. Der kleine Spalt stellt die größte Verengung in der Wasserleitung und somit auch das größte Hindernis dar, das die Durchflußgeschwindigkeit des Wassers in der Wasserleitung bestimmt. Ähnlich verhält es sich mit dem langsamsten Teilschritt der Reaktion. Er ist der Engpaß, der die Reaktionsgeschwindigkeit der Gesamtreaktion bestimmt.
9.6 Reaktionsmechanismen der aliphatischen nucleophilen Substitution
R2
R1 δ+ C
δ− L + Nu
2
R
3
359
R1 δ− δ+ C Nu + L 3
R
R
Übergangszustand
Übergangszustand
Energie
R1 R2
C
+ Nu
+ L
3
R
R1 R2
C
R1
Carbeniumion 2
R
L + Nu
C
Nu + L
3
3
R
R
Reaktionskoordinate Bild 9.1
Energieprofil einer SN1-Reaktion
Der langsamste geschwindigkeitsbestimmende Teilschritt der SN1-Reaktion besteht im Loslösen der Abgangsgruppe unter Bildung eines Carbeniumions. An dieser Teilreaktion ist nur das Molekül des Substrats beteiligt (als Substrat wird die Verbindung bezeichnet, an der die Umsetzung erfolgt). Man bezeichnet diese Reaktion deshalb als monomolekular. Im Regelfall gehorchen SN1-Reaktionen einer Kinetik 1. Ordnung, das heißt, die Reaktionsgeschwindigkeit ist im Idealfall nur von der Konzentration des Substrats abhängig und wird nicht von der Konzentration des Nucleophils bestimmt. Reaktionsgeschwindigkeit = k · [ Substrat] Diese einfache Beziehung zwischen der Molekularität des geschwindigkeitsbestimmenden Prozeßes und der kinetischen Charakteristik der Reaktion ist aber nicht immer gegeben, sie kann durch verschiedene Faktoren kompliziert werden. 9.6.1.2 Der sterische Verlauf der SN1-Reaktion
Den räumlichen Ablauf dieser Reaktion muß man sich so vorstellen, daß im Verlauf des Loslösens der Abgangsgruppe L der Bindungswinkel zwischen den drei restlichen am Kohlenstoff gebundenen Liganden aufgeweitet wird, bis schließlich nach Abgang dieser Gruppe das Kohlenstoffatom und seine Liganden in einer Ebene liegen. Das Nucleophil kann sich nun dem positiven Kohlenstoff von beiden Seiten der Ebene nähern. Die Wahrscheinlichkeit, daß dies von der einen oder der anderen Seite erfolgt, ist gleich. Bei optisch aktiven Verbindungen erfolgt deshalb bei der SN1-Reaktion am asymmetrischen CAtom eine Racemisierung.
360
9 Halogenalkane
unbesetztes p-Orbital R1
R1 L
C
R2
sp3-hybridisiert
R3
R1 C
+
R2
C
+
+ L
R2
sp2-hybridisiert
R3 Carbenium-Ion R1 Nu
C R2 3 R +
R3
R1 Nu
Nu Bild 9.2
C
R2
R3
Der räumliche Verlauf der SN1-Reaktion
Das C-Atom, das die Abgangsgruppe trägt, ist sp3-hybridisiert. Nach Loslösen der Abgangsgruppe ist es sp2-hybridisiert und hat eine positive Ladung. Die an den positiven Kohlenstoff gebundenen Liganden liegen in einer Ebene, das unbesetzte p-Orbital des sp2hybridisierten Kohlenstoffs steht senkrecht zu dieser Ebene, mit einem Orbitallappen vor und dem anderen hinter der Ebene. Im zweiten Teilschritt der SN1-Reaktion kann sich das Nucleophil mit seinem freien Elektronenpaar dem p-Orbital des Carbeniumions von der einen oder der anderen Seite nähern. Das Orbital der Nucleophils mit dem freien Elektronenpaar überlappt mit dem p-Orbital des sp2-hybridisierten Kohlenstoffs, der mit Ausbildung der σ-Bindung wieder in den sp3-Hybridzustand versetzt wird. Neben der Racemisierung tritt bei SN1-Reaktionen vielfach auch eine Inversion auf (siehe Abschnitt 8.9.3.2). Man erklärt dies durch die Bildung von Ionenpaaren. Beim Lösen der Abgangsgruppe L bilden die entstehenden beiden Ionen, das Carbeniumion und L:– zunächst ein Kontakt-Ionenpaar, wobei sich beide Ionen zueinander in engem Kontakt befinden und von einer gemeinsamen Solvathülle (Lösungsmittelmoleküle) umgeben sind. Zwischen beide Ionen schieben sich einige Lösungsmittelmoleküle ein (in der nachfolgenden Darstellung durch || symbolisiert), die beiden Ionen ziehen sich aber immer noch elektrostatisch an, sie bilden ein externes Ionenpaar. Die Ionen entfernen sich schließlich immer weiter voneinander und stehen, jedes von einer Solvathülle umgeben, miteinander nicht mehr in Wechselwirkung. Reaktivere Carbeniumionen reagieren mit dem Nucleophil schon, bevor die abgetrennte Abgangsgruppe L: – sich weit genug entfernen konnte (bei Vorliegen eines externen Ionenpaares). Da die Abgangsgruppe den Zugang zum Carbeniumion abschirmt, greift das Nucleophil von der Rückseite an, was eine Inversion der Konfiguration zur Folge hat.
9.6 Reaktionsmechanismen der aliphatischen nucleophilen Substitution
C
C
L + Nu R
R3
Substrat
R1
R1 L
Nu
2
2
R
Nu
R1
R1
361
C
L
Nu
C
2
R
R3
Kontaktionenpaar
R3
externes Ionenpaar
R3
+ L R2
Produkt
9.6.1.3 Strukturelle Voraussetzung des Substrats für den SN1-Mechanismus
Nach dem SN1-Mechanismus reagieren vor allem Verbindungen, die die Abgangsgruppe an ein tertiäres C-Atom (C-Atom mit 3 Alkylresten) gebunden haben. Die Neigung zu SN1Reaktionen bei diesen Verbindungen ist mit der relativen Stabilität des im ersten Reaktionsschritt entstehenden Carbeniumions zu erklären. Entsteht ein relativ stabiles Carbeniumion, so erfolgt die Dissoziation des Substrats in Ionen besonders leicht Die Stabilität des Carbeniumions nimmt in der Reihe primär < sekundär < tertiär zu. Begründen kann man die relative Stabilität tertiärer Carbeniumionen mit der Hyperkonjugation. Die relative Stabilität tertiärer Carbeniumionen durch Hyperkonjugation soll am Beispiel des tertiären Butylkations erklärt werden. Die CH3-Gruppen sind im tert-Butylkation um die C– C-σ-Bindung frei drehbar und können in eine Konformation gelangen, in der das C–H-σOrbital und das unbesetzte p-Orbital des sp2-hybridisierten C-Atoms parallel in nächster Nähe zueinander stehen und überlappen können. Durch Wechselwirkung des C–H-σOrbitals einer Methylgruppe mit dem unbesetzten p-Orbital des sp2-hybridisierten Kohlenstoffs kann eine Delokalisierung des bindenden Elektronenpaares der C–H-σ-Bindung auf beide Orbitale erfolgen. Dieses Phänomen bezeichnet man als Hyperkonjugation. Auf diese Weise erfolgt ein Elektronenschub der Methylgruppe zum C+ hin, an das sie gebunden ist. Im tertiären Butylkation können sich alle drei Methylgruppen an der Hyperkonjugation beteiligen. Diese elektronenschiebende Wirkung der Methylgruppen zum Nachbaratom hin kompensiert teilweise die positive Ladung am sp2-hybridisierten Kohlenstoff und stabilisiert damit das tertiäre Carbeniumion. unbesetztes p-Orbital
H
H CH2
H2 C
+
C
H CH2
Überlappung
Bild 9.3
Hyperkonjugation des tertiären Butylkations
Die Neigung tertiärer Verbindungen zum SN1-Mechanismus ist auch räumlich (sterisch) bedingt. Beim Loslösen der Abgangsgruppe erfolgt ein Übergang des sp3-hybridisierten Kohlenstoffatoms, dem Reaktionszentrum, zum sp2-Hybridzustand im Carbeniumion. Dieser Übergang ist mit einer Aufweitung des Bindungswinkels von 109°28′ auf 120° verbunden. Die sich gegenseitig abstoßenden Alkylgruppen gewinnen mehr Raum, die sterische Span-
362
9 Halogenalkane
nung wird dadurch vermindert. Deshalb neigen besonders Verbindungen mit sperrigen Substituenten am Reaktionszentrum zum SNl-Mechanismus.
9.6.2 Der SN2-Mechanismus Nucleophile Substitutionen nach dem SN2-Mechanismus erfolgen bevorzugt mit Verbindungen, die die Abgangsgruppe an ein primäres C-Atom gebunden haben, z.B. primäre Alkylhalogenide oder primäre Alkohole. Auch Reaktionen mit sekundären Alkylhalogeniden und
R1
R1 109°28‘
R2
C
120° +
L
C 120°
+ L
R2
109°28‘
R3
R3 Carbeniumion Bild 9.4 Aufweitung des Bindungswinkels bei SN1-Reaktionen
H C
Nu H
L R
Energie
EA
Übergangszustand
EA = Aktivierungsenergie
H Nu
+
H R
C
L
H Nu
+
C R
Reaktionskoordinate Bild 9.5
Energieprofil einer SN2-Reaktion
H
L
9.6 Reaktionsmechanismen der aliphatischen nucleophilen Substitution
363
Alkoholen erfolgen vielfach nach dem SN2-Mechanismus. Die Reaktionsbedingungen sind ausschlaggebend dafür, ob die Reaktion am sekundären C-Atom des Substrats nach dem SN2-oder SNl-Mechanismus erfolgt. SN1-Reaktionen laufen eher bei geringer Konzentration des Nucleophils, schwachen Nucleophilen und hoher Lösungsmittelpolarität ab, während SN2-Reaktionen eine hohe Konzentration des Nucleophils, starke Nucleophile und Lösungsmittel niedriger Polarität erfordern. Die SN2-Reaktion erfolgt über einen Übergangszustand, aus dem heraus das Reaktionsprodukt gebildet wird. H
H Nu
+
C
H
L
δ-
Nu
R
H
δ-
C
L R
H Nu
C
H R
+
L
Übergangszustand Im Übergangszustand ist das Nucleophil noch nicht vollständig an das C-Atom des Substrats gebunden und die Abgangsgruppe L hat sich noch nicht vollständig gelöst (im Bild 9.5 durch eine punktierte Gerade symbolisiert). 9.6.2.1 Kinetik und sterischer Verlauf
Am Zustandekommen des bimolekularen Übergangszustandes sind sowohl das Nucleophil als auch das Substrat beteiligt. Da an diesem geschwindigkeitsbestimmenden Schritt der Reaktion beide Reaktanden beteiligt sind, wird diese Reaktion als bimolekulare nucleophile Substitution bezeichnet. SN2-Reaktionen gehorchen in der Regel einer Kinetik 2. Ordnung. Die Reaktionsgeschwindigkeit ist direkt proportional dem Produkt der Substratkonzentration und der Konzentration des Nucleophils: Reaktionsgeschwindigkeit = k · [Substrat] · [Nucleophil] Das die Abgangsgruppe bindende Kohlenstoffatom ist sp3-hybridisiert. Das Nucleophil greift diesen Kohlenstoff von der Rückseite an. Es erfolgt eine Umhybridisierung des Kohlenstoffatoms, welches im Übergangszustand sp2-hybridisiert ist. Im Übergangszustand befinden sich das Nucleophil, die Abgangsgruppe und das sp2-hybridisierte C-Atom auf einer Geraden. Die drei Liganden und das sp2-hybridisierte C-Atom liegen in einer Ebene, die zu dieser Geraden senkrecht steht. Beim Loslösen der Abgangsgruppe geht das sp2-hybridisierte C-Atom wieder in den tetraedrischen sp3-Zustand über. Der Angriff des Nucleophils erfolgt von der entgegengesetzten Seite zur Abgangsgruppe. Die SN2-Reaktion verläuft unter Inversion der Konfiguration. Diese Inversion wird manchmal auch als Walden-Umkehr bezeichnet. Die Reaktion ist stereospezifisch, denn das Substrat wird räumlich definiert umgewandelt. Ist das Substrat eine optisch aktive Substanz, wie dies bei der in Bild 9.6 gezeigten Verbindung der Fall ist, so ist das Produkt nach der SN2Reaktion auch wieder optisch aktiv, es tritt keine Racemisierung ein.
364
9 Halogenalkane
9.6.3 Faktoren, die eine nucleophile Substitution beeinflussen 9.6.3.1 Struktur des Substratmoleküls
Primäre Halogenalkane und Alkohole reagieren nach dem SN2-Mechanismus, während bei tertiären Verbindungen die SNl-Reaktion bevorzugt abläuft. Die Erklärung für den bevorzugten SN2-Mechanismus an primären Halogenalkanen, Alkoholen und anderen primären Verbindungen liegt darin, daß am Kohlenstoffatom mit der positiven Teilladung die der Abgangsgruppe L gegenüberliegende Seite dem sich nähernden Nucleophil leicht zugänglich ist.
_
Nu
H
H
+
C Cl sp3 R1 2 R
δNu
C R1
sp2 Cl
δ-
R2
H Nu C sp3 R1 2 R
Cl
Übergangszustand Bild 9.6
Sterischer Verlauf der SN2-Reaktion R
Nu
R C
L
Nu
H
H von der Rückseite gut zugänglich
C
R
L
R
von der Rückseite schlecht zugänglich
Bei sekundären Halogenalkanen oder Alkoholen können sperrige Substituenten den Zutritt des Nucleophils von der der Abgangsgruppe gegenüberliegenden Seite räumlich abschirmen (sterische Hinderung). Die SN2-Reaktion kann dann entweder nicht oder nur schlecht erfolgen, und es findet ausschließlich oder überwiegend die SN1-Reaktion statt. CH3
H3C
Der Zutritt des Nucleophils von der der Abgangsgruppe gegenüberliegenden Seite wird durch die sperrigen Gruppen (CH3)3C– ver- Nu hindert:
C H3C H3C H
C
C H3C
CH3
L
9.6 Reaktionsmechanismen der aliphatischen nucleophilen Substitution
365
Am Sechsring befindliche äquatoriale Substituenten sind nach dem SN2-Mechanismus schlecht substituierbar, da die der Abgangsgruppe gegenüberliegende Seite nur schwer zugänglich ist: H H
H Nu
H
H H
H
H
H L H H
9.6.3.2 Die Natur der Abgangsgruppe
Bei SN-Reaktionen hängt die Reaktivität des Substrats von der Natur der Abgangsgruppe L ab. Die Polarität der σ-Bindung zwischen dem C-Atom und dem zur Abgangsgruppe gehörenden Atom ist Voraussetzung für die Abspaltung der Abgangsgruppe. Die Leichtigkeit, mit der sich die Abgangsgruppe lösen kann, hat Einfluß auf die Reaktionsgeschwindigkeit. Die polaren Effekte der Abgangsgruppe wirken sich aber gleichermaßen auf den SN1- wie auf den SN2-Mechanismus aus, so daß das Verhältnis SN1/SN2 beim Übergang zu einer anderen Abgangsgruppe nur wenig beeinflußt wird. 9.6.3.3 Die Stärke des Nucleophils
Bei SN1-Reaktionen greift das Nucleophil erst im zweiten schnellen Reaktionsschritt an. Das im ersten Reaktionsschritt gebildete reaktive Carbeniumion reagiert auch mit schwächeren Nucleophilen gut. Anders liegen die Verhältnisse bei der SN2-Reaktion. Die Reaktionsgeschwindigkeit hängt in diesem Fall wesentlich von der Reaktivität des Nucleophils ab. Starke Nucleophile wirken deshalb in Richtung einer bimolekularen nucleophilen Substitution.
R1 R2
R1 δ+ C
δL
C R2
R3 δ+
+
R3 δ+
H
H O
δ-
Bild 9.7
=
δ+
δ+ δ-
Solvatisierung im ersten Teilschritt der SN1-Reaktion
L
366
9 Halogenalkane
9.6.3.4 Polarität des Lösungsmittels
Die Moleküle des polaren Lösungsmittels umgeben ein geladenes Teilchen so, daß sie sich mit dem ungleichnamigen Pol ihres Dipols zum geladenen Teilchen hin orientieren. Ein solches Umgeben eines Teilchens mit Molekülen des Lösungsmittels bezeichnet man als Solvatisierung. Das Ausmaß der Solvatisierung nimmt mit steigender spezifischer Ladung der zu solvatisierenden Partikel zu, bei kleiner oder zerstreuter Ladung ist die Solvatisierung schwächer. Die Solvatisierung des polaren Löungsmittels wirkt sich deshalb besonders stark beim SN1Mechanismus aus, bei dem mit dem Loslösen der Abgangsgruppe Ionen entstehen. Die Lösungsmittelmoleküle, welche das Carbeniumion und die negative Abgangsgruppe umgeben, schirmen die beiden Ionen gegeneinander ab, so daß sie sich besser voneinander lösen können. Beim SN2-Mechanismus ist im Übergangszustand die Ladung auf den ganzen Komplex verteilt, also zerstreut, so daß die Solvatisierung nur schwach ist. Die die heteropolare Spaltung unterstützende Solvatisierung wirkt sich hauptsächlich beim SN1-Mechanismus aus. Polare Lösungsmittel bewirken deshalb bevorzugt einen Reaktionsablauf nach dem SN1-Mechanismus. Je nachdem, ob die polaren Lösungsmittel Wasserstoffbrücken ausbilden können oder nicht, unterscheidet man dipolare protische und dipolare aprotische Lösungsmittel. Dipolare protische Lösungsmittel können Wasserstoffbrücken ausbilden. Zu ihnen zählen z.B. Wasser, Methanol, Ethanol und Formamid (HCONH2). Dipolare aprotische Lösungsmittel haben kein H am O oder N gebunden und können daher keine Wasserstoffbrücken bilden. Zu diesen Lösungsmitteln gehören z.B. Aceton CH3COCH3, Acetonitril CH3CN oder Dimethylformamid HCON(CH3)2. Bimolekulare Substitutionen zwischen einem neutralen Substrat und anionischen Nucleophilen erfolgen in dipolaren aprotischen Lösungsmitteln um fünf bis sieben Zehnerpotenzen schneller als in dipolaren protischen. Man kann dies so erklären, daß das Nucleophil in dipolaren protischen Lösungsmitteln durch Ausbildung von Wasserstoffbrücken stärker solvatisiert wird als in aprotischen Lösungsmitteln. Das Nucleophil wird durch die Solvatisierung mit dem protischen Lösungsmittel stark abgeschirmt, wodurch seine Nucleophilie herabgesetzt wird. Die Reaktionsgeschwindigkeit der SN2-Reaktion ist in hohem Maße von der Stärke des Nucleophils abhängig. Je stärker das Nucleophil, desto schneller und leichter erfolgt die Substitution. Für SN2-Reaktionen werden deshalb häufig dipolare aprotische Lösungsmittel verwendet. Für SN1-Reaktionen, bei welchen die Stärke des Nucleophils keine so wesentliche Rolle spielt, jedoch die Solvatisierung des Carbeniumions und der Abgangsgruppe wichtig ist, werden vorteilhaft dipolare protische Lösungsmittel eingesetzt. 9.6.3.5 Einfluß von Lewis-Säuren
Mit der Abgangsgruppe L können starke Lewis-Säuren, z.B. BF3, AlCl3 oder ZnCl2, Komplexe bilden, wobei die Bindung C–L stärker polarisiert und dadurch gelockert wird, so daß in der SN1-Reaktion das Loslösen der Abgangsgruppe erleichtert wird.
C
L
C
AlCl3 2
2
R
R1
R1
R1
R3
R
L
AlCl3
R3
+
C 2
R
R3
L
AlCl3
9.6 Reaktionsmechanismen der aliphatischen nucleophilen Substitution
367
9.6.4 Die nucleophile Substitution und die Eliminierung als Konkurrenzreaktionen Verbindungen, die die Abgangsgruppe an ein tertiäres Kohlenstoffatom gebunden haben, reagieren nach dem SN1- oder E1-Mechanismus. Im ersten Reaktionsschritt ist der Reaktionsmechanismus bei der SN1- und E1-Reaktion (siehe Abschnitt 3.6.2.1) vollkommen gleich, es entsteht ein Carbeniumion. Dieses kann nach dem E1-Mechanismus ein Proton abspalten, wobei ein Alken entsteht, oder es kann mit dem Nucleophil nach dem SN1Mechanismus reagieren und es entsteht das Substitutionsprodukt. Die Produkte der E1- und SN1-Reaktion werden nebeneinander gebildet. CH3
E1 CH3 H3C
C CH3
CH3 L
H3C
C CH3
+
L
H3C
Nu
C
CH2 + H
Nu + L
CH3 SN1
H3C
C
Nu
+
L
CH3
In welchem Mengenverhälnis beide Reaktionsprodukte entstehen, hängt von den Reaktionsbedingungen ab. Ist das Nucleophil Nu gleichzeitig eine starke Base, entsteht überwiegend das Eliminierungsprodukt, nämlich das Alken. Dieses wird auch bevorzugt bei höheren Reaktionstemperaturen gebildet. Polare Lösungsmittel hingegen begünstigen die SN1-Reaktion. Verbindungen mit der Abgangsgruppe am primären Kohlenstoffatom reagieren bevorzugt nach dem SN2-Mechanismus, so daß das Substitutionsprodukt in hoher Ausbeute erhalten wird. Nur dann, wenn die SN2-Reaktion infolge der Sperrigkeit des Nucleophils oder der Sperrigkeit des am primären C-Atom gebundenen Alkylrestes langsam verläuft, entstehen in größerer Menge Eliminierungsprodukte. Auch bei erhöhter Reaktionstemperatur steigt die Ausbeute an Eliminierungsprodukten.
368
9 Halogenalkane
Übungsaufgaben ? 9.1 Auf welche Weise kann man ausgehend von Tetrachlormethan Chlorfluormethane darstellen?
? 9.2 Wie stellt man Tetrafluorethylen und Polyfluorethylen (Teflon) her?
? 9.3 Welches Produkt erhält man, wenn man ein Halogenalkan mit Zn in Mineralsäure erhitzt?
? 9.4. Wie reagiert ein Bromalkan a) Mit Natrium und b) mit einer Ethersuspension von Lithium?
? 9.5 Auf welche Weise kann man ein Grignard-Reagens darstellen?
? 9.6 Auf welche Weise erfolgt eine nucleophile Substitution (SN-Reaktion) am Halogenalkan?
? 9.7 Beschreiben sie den Reaktionsablauf beim SN1-Mechanismus.
? 9.8 Welche Faktoren begünstigen eine SN1-Reaktion?
? 9.9 Beschreiben Sie den Reaktionsablauf beim SN2-Mechanismus.
? 9.10 Welche Faktoren begünstigen eine SN2-Reaktion?
? 9.11 Welche Reaktionsbedingungen begünstigen die nucleophile Substitution und welche die Eliminierung?
Lösungen
369
Lösungen ! 9.1 Chlorfluormethane kann man im Festbettverfahren herstellen, indem man Tetrachlormethan und HF in der Gasphase bei 150°C reagieren lässt, wobei man AlF3, Chromfluorid oder Chromylfluorid als Kontaktsubstanz einsetzt. Die Herstellung von Chlorfluormethanen kann man auch in der Flüssigphase durchführen wenn man Tetrachlormethan mit SbF5 als Katalysator bei 100°C und unter Druck reagieren lässt, wobei das Chlor stufenweise durch Fluor ersetzt wird: HF/SbF5
CCI4
HF/SbF5
CCI3F
- HCl
HF/SbF5
CCI2F2
- HCl
- HCl
CCIF3
! 9.2 Tetrafluorethylen stellt man durch Pyrolyse von Chlordifluormethan bei 250°C her: H 2
F C
Cl
F
250°C
F C
F
+
C
F
2 HCl
F
Unter Druck und in Anwesenheit von Peroxiden als Starter der radikalischen Polymerisation polymerisiert Tetrafluorethylen zu Polytetrafluorethylen (Teflon). F n
F C
C
Kataysator, Druck
F
F
F
F
C
C
F
F
n
! 9.3 Erhitzt man ein Halogenalkan mit Zn in einer Mineralsäure oder Essigsäure, so erfolgt eine Hydrogenolyse des Halogenalkans, das Reaktionsprodukt ist das entsprechende Alkan. 2 R-X
2 R-H
+ Zn + 2 CH3COOH
– 2+ + (CH3COO )2 Zn
X = Cl,Br,I
! 9.4 a) Bromaalkane und Iodalkane reagieren mit Natrium unter Verdoppelung der Anzahl der Kohlenstoffatome zum entsprechenden Alkan (siehe Kapitel 2.7.2.1 Wurtzsche Synthese): X
R + 2 Na
R
R
+
2 NaX
X = Br, I
b) Um Alkyllithiumverbindungen herzustellen lässt man das Halogenalkan mit Lithium, das in Tetrahydrofuran suspendiert ist, reagieren (siehe Kapitel 9.4.2): RX + 2 Li
RLi + LiX
370
9 Halogenalkane
! 9.5 Ein Grignard-Reagens kann man auf folgende Weise darstellen: In einen Dreihalskolben, der mit Ether überschichtete Magnesiumspäne enthält, lässt man bei aufgesetztem Rückflußkühler bei Zimmertemperatur aus einem Tropftrichtert das mit Diethylether verdünnte Halogenalkan langsam zutropfen. Es ist notwendig bei dieser Reaktion die Luftfeuchtigkeit auszuschließen. Deshalb erfolgt die Reaktion in Stickstoffatomosphäre, oder man verhindert den Zutritt der Luftfeuchtigkeit durch Aufsetzen eines Chlorcalziumröhrchens auf die Apparatur. Bei der Reaktion wird das Alkylmagnesiumhalogenid R-Mg-X (X= Cl,Br oder I) gebildet, das man allgemein als Grignard-Reagens bezeichnet. RX + Mg
(CH3CH2)2O
RMgX
Es wird angenommen, daß im Grignard–Reagens in Etherlösung zwischen Alkylmagnesiumhalogenid, Dialkylmagnesium und Magnesiumhalogenid ein lösungsmittelabhängiges Gleichgewicht vorliegt (Schlenck-Gleichgewicht). 2 RMgX
R2Mg + MgX2
! 9.6 Bei der nucleophilen Substitution (SN-Reaktion) am Halogenalkan wird das Halogenatom durch ein nucleophiles Teilchen (Abgekürzt Nu = Nucleophil) ersetzt. Ein nucleophiles Teilchen kann ein Anion oder eine elektroneutrale Verbindung mit einem freien Elektronenpaar sein. H
H R
C H
X
+ Nu
R
C
Nu
+
X
H
! 9.7 Die Abkürzung SN bedeutet nucleophile Substitution und die Zahl 1 in SN1 steht für monomolekular. Monomolekular bedeutet, dass in der langsamsten und damit geschwindigkeitsbestimmenden Teilreaktion nur eine Molekülart, nämlich die des Substrates beteiligt ist (als Substrat wird die Verbindung bezeichnet, an der der Austausch des Substituenten erfolgt). Der erste und geschwindigkeitsbestimmende Schritt der Reaktion ist das Loslösen der Abgangsgruppe und Bildung des Carbeniumions als Zwischenprodukt. Im weiteren Teilschritt der Reaktion bindet sich das Nucleophil an das Carbeniumion, womit die Reaktion abgeschlossen ist. Die Abgangsgruppe wird oft mit L symbolisiert ( nach dem engl. leaving group), Sie wird bei chemischen Reaktionen auch als Nucleofug (lat. fuga = die Flucht) bezeichnet.
Lösungen
371 R1
R1 langsam
R2
R2
C
R2
L
C
R3
R3
R1
R1 +
C R3
:Nu
schnell
R2
C
+ :L
Nu
R3
Der räumliche Ablauf der SN1-Reaktion kann folgendermaßen beschrieben werden: Bei Loslösen der Abgangsgruppe erfolgt eine Aufweitung des Bindungswinkels zwischen den drei restlichen am Kohlenstoff gebundenen Liganden, so dass diese im entstandenen Carbeniumion in einer Ebene liegen. Das Nucleophil kann sich nun an das C+ von der Vorder- oder der Rückseite dieser Ebene nähern und eine Bindung herstellen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Nucleophil von der einen oder der anderen Seite nähert ist gleich. Erfolgt die SN1-Reaktion an einem prochiralen Zentrum so erhält man ein Racemat. Näherung des Nucleophils an das Carbeniumion von der einen oder der anderen Seite
R1 C R2 R3
Nu
! 9.8 Entscheidend für die SN1-Reaktion sind die Strukturellen Voraussetzungen: Nucleophile Substitutionen an tertiären Halogenalkanen oder tertiären Alkoholen verlaufen nach dem SN1-Reaktionsmechanismus. Erklärt werden kann dies mit der Stabilisierung des Carbeniumions durch Hyperkonjugation. Ein weiterer Grund liegt auch darin, dass der für den konkurrierenden SN2-Mechanismus notwendige Zugang von der Gegenseite der Abgangsgruppe in den tertiären Verbindungen durch sperrige Substituenten verwehrt werden kann. Primäre Alkohole oder Halogenalkane zeigen keine Neigung nach dem SN1-Mechanismus zu reagieren. Bei sekundären Alkoholen und sekundären Halogenalkanen hängt es von den Reaktionsbedingungen ab, ob die Reaktion nach dem SN1- oder SN2-Mechanismus erfolgt. Die SN1-Reaktion wird durch polare Lösungsmittel begünstigt. Beim Loslösen der Abgangsgruppe schirmen die Lösungsmittelmoleküle durch Solvatisieren das Carbeniumion und die negativ geladene Abgangsgruppe voneinander ab und erleichtern dadurch diesen Abgang. Lewis-Säuren können das Loslösen der Abgangsgruppe durch ein stärkeres Polarisieren der Bindung zwischen Kohlenstoff und Abgangsgruppe erleichtern.
372
9 Halogenalkane
! 9.9 Der erste geschwindigkeitsbestimmende Reaktionsschritt der bimolekularen nucleophilen Substitution (SN2), erfolgt über einen Übergangszustand. Das Nucleophil nähert sich dem CAtom, das die Abgangsgruppe bindet von der Gegenseite zur Abgangsgruppe, wobei sich der Bindungswinkel der drei weiteren am C-Atom gebundenen Liganden aufweitet. Im Übergangszustand liegen das Nucleophil, das C-Atom und die Abgangsgruppe (L = leaving group) auf einer Geraden und die drei weiteren Liganden R1, R2 und R3 befinden sich auf einer Ebene, die zu dieser Geraden senkrecht steht. Im weiteren Teilschritt der Reaktion erfolgt die Abspaltung der Abgangsgruppe. Der ganze Vorgang hat eine Inversion der Konfiguration zur Folge (Walden-Umkehr). R1
R1 Nu
+
R2 R3
C
L
Nu
δ−
C
R1 δ−
R2 R3
L
Nu
C
+
L
R2 R3
! 9.10 Nucleophile Substitutionen nach dem SN2-Mechanismus erfolgen bevorzugt mit Verbindungen, deren Abgangsgruppe an ein primäres Kohlenstoffatom gebunden ist, z.B. primäre Alkohole oder primäre Halogenalkane. Substitutionen nach dem SN2-Mechanismus erfordern eine hohe Konzentration des Nucleophils, starke Nucleophile und Lösungsmittel niedriger Polarität. Bevorzugt werden dipolar aprotische Lösungsmittel (siehe Kapitel 9.6.3) verwendet.
! 9.11 Die nucleophile Substitution und die Eliminierung sind Konkurenzreaktionen. Der erste Reaktionsschritt bei SN1 und E1 ist sogar identisch und führt zum gleichen Zwischenprodukt, dem Carbeniumion. Von diesem ausgehend, kann im weiteren Reaktionsverlauf eine Eliminierung oder eine Substitution eintreten. Erfolgt die Reaktion bei höheren Temperaturen und ist das Nucleophil gleichzeitig eine starke Base, entsteht vornehmlich das Eliminierungsprodukt. Polare Lösungsmittel begünstigen die SN1-Reaktion. Verbindungen mit der Abgangsgruppe am primären Kohlenstoffatom reagieren bevorzugt nach dem SN2-mechanismus und führen zum Substitutionsprodukt. Nur bei höheren Temperaturen und der Sperrigkeit des Nucleophils oder des Alkylrests am primären Kohlenstoffatom entstehen in größerer Mende Eliminierungsprodukte.
10 Alkohole Aliphatische oder alicyclische Verbindungen mit einer Hydroxygruppe –OH als funktioneller Gruppe werden als Alkohole bezeichnet. Anmerkung: Aliphatische Verbindungen sind organische Verbindungen mit offener Kohlenstoffkette. In alicyclischen Verbindungen sind die Kohlenstoffatome ringförmig verknüpft, und die Verbindung zeigt keine aromatischen Eigenschaften. H
OH C
H2C
CH3CH2CH2CH2OH
H2C
aliphatischer Alkohol
CH2
CH2
CH2
alicyclischer Alkohol
10.1 Nomenklatur der Alkohole Nach der IUPAC-Regel haben Verbindungen mit der Hydroxygruppe als Hauptgruppe die Endung -ol, ansonsten das Präfix Hydroxy- (siehe Abschnitt 1.7.3). Alkohole mit 2, 3 oder 4 Hydroxygruppen werden mit der Endung di-, tri- bzw. tetraol bezeichnet. H H3C
CH
CH
CH2
H2C
CH
CH2
H2C
Br
OH
OH
HO
OH
OH
H2C
3-Brombutan-1,2-diol
Propan-1,2,3-triol
H
OH C
CH2
CH2
H2C
CH2
H2C
Cyclohexanol
OH C
OH
C CH2
H
Cyclopentan-1,2-diol
Es ist auch gebräuchlich, Alkohole auf die Art zu benennen, daß man zunächst den Alkylrest nennt und die Endung -alkohol hinzufügt, z.B.: H
H3C
OH
H3C
CH2
OH
H3C
CH OH
Methylalkohol
Ethylalkohol
Isopropylalkohol
CH3
OH C
H2C H2C
CH2
CH2 CH2
Cyclohexylalkohol
Neben der systematischen Nomenklatur werden für einige Alkohole noch Trivialnamen (Namen, die sich eingebürgert haben) gebraucht:
A. Wollrab, Organische Chemie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-45144-7_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
373
374 H3C
10 Alkohole CH
H3C
CH3
CH2
CH2
CH2
OH
H3C
CH2
CH
CH3
OH
OH
2-Propanol Isopropylalkohol
n-Butanol
sek.-Butanol
CH3 H3C
C
CH3 H3C
CH3
CH
OH
CH2OH
Isobutanol Isobutylalkohol
tert.-Butanol CH3 H3C
C
CH2OH CH3
H3C
(CH2)3
CH2OH
H 3C
CH2OH
Neopentylalkohol CH3(CH2)14CH2OH
Cetylalkohol (Cetanol)
CH
CH2
CH2OH
CH3
n-Amylalkohol H2C
CH
CH2OH
Allylalkohol
Isoamylalkohol HC
C
CH2OH
Benzylalkohol
H2C
CH2
H2C
CH
CH2
HO
OH
HO
OH
OH
Propargylalkohol
Ethylenglykol
Glycerin (Glycerol)
10.2 Einteilung der Alkohole Man kann die Alkohole in primäre, sekundäre und tertiäre Alkohole einteilen. In primären Alkoholen bindet das C-Atom, das die OH-Gruppe trägt, einen einzigen Alkylrest, beim sekundären Alkohol sind es zwei und beim tertiären Alkohol drei Alkylreste. R R
CH2OH R
primärer Alkohol
OH
R
OH C
C H
sekundärer Alkohol
R
R
tertiärer Alkohol
Diese Aufteilung ist keineswegs nur formal. Primäre, sekundäre und tertiäre Alkohole unterscheiden sich in ihrer Reaktivität. Die Anzahl der Hydroxygruppen bestimmt die Wertigkeit der Alkohole. Man unterscheidet, je nachdem ob eine, zwei oder drei Hydroxygruppen im Molekül vorliegen, ein-, zwei und dreiwertige Alkohole.
10.4 Physikalische Eigenschaften der Alkohole
375
H H3C
CH2
OH
H2C
CH2
H2C
CH
CH2
HO
OH
HO
OH
OH
OH
OH
H OH
H H
H
OH H
Ethylalkohol (einwertiger Alkohol)
Ethylenglykol (zweiwertiger Alkohol)
OH
Glycerin (dreiwertiger Alkohol)
OH
myo-Inosit (sechswertiger Alkohol)
Befinden sich die Hydroxygruppen an verschiedenen C-Atomen, ist die Verbindung stabil. Sind zwei oder drei Hydroxygruppen an das gleiche C-Atom gebunden, erfolgt leicht eine Abspaltung von Wasser (Erlenmeyer-Regel): H
H R
C
OH OH
R
+
C
OH
OH H2O
O
und
R
C
OH OH
R
+
C
H2O
O
10.3 Struktur der Alkohole Alkohole kann man formal als Derivate des Wassers betrachten, dessen eines Wasserstoffatom durch einen Alkylrest ersetzt ist. Ähnlich wie die H–O–H-Bindungen im Wasser sind auch die C–O–H-Bindungen im Alkohol gewinkelt, das Sauerstoffatom ist sp3-hybridisiert. Infolge der höheren Elektronegativität des Sauerstoffatoms ist die Ladungsverteilung im Alkoholmolekül unsymmetrisch, und es weist, dem Wasser ähnlich, ein Dipolmoment auf (siehe Bild 10.1).
10.4 Physikalische Eigenschaften der Alkohole Ist ein Wasserstoffatom an F, N, oder O gebunden, so ist diese Bindung stark polar. Die extreme Elektronegativität dieser drei Elemente bewirkt bei der F–H, N–H oder O–HBindung eine hohe Konzentration negativer Ladung am F, N oder O und eine relativ große positive Teilladung am Wasserstoffatom. Dieses Wasserstoffatom tritt in Wechselwirkung mit freien Elektronenpaaren, die sich am F, N oder O eines anderen Moleküls befinden. Diese Wechselwirkung führt zu einer relativ schwachen Bindung, die man als Wasserstoffbrückenbindung bezeichnet. Ihre Bindungsstärke von 20–40 kJ/mol ist viel geringer als die einer kovalenten Bindung (die Bindungstärke der OH-Bindung im Methanol beträgt z.B. 435 kJ/mol). Die Wasserstoffbrückenbildung kann auch zwischen verschiedenen Teilen ein und desselben Moleküls erfolgen, wenn dafür günstige räumliche Voraussetzungen vorliegen. Wasserstoffbrückenbindungen werden gewöhnlich gestrichelt oder punktiert in eine Formel eingezeichnet. Sie spielen in der lebenden Natur eine gewichtige Rolle, z.B. sind sie an der
376
10 Alkohole
δ+
H
O
δ-
Dipolmoment 6 · 10-30 Cm
δ+
H
104,5°
O
Wasser
δ+
H3C
O
δ-
108,9°
H3C Dipolmoment 5,7 · 10-30 Cm
δ+
H
108,9°
H
O sp3-hybridisiert, tetraedrische Struktur, C-O-Bindung vor und OH-Bindung hinter der Zeichenebene, die beiden sp3-Orbitale mit freien Elektronenpaaren in Zeichenebene
Methanol Bindungslängen: OH-Bindung 96 pm OC-Bindung 143 pm Cm = Coulumbmeter
Bild 10.1 Die Molekülstruktur eines Alkohols
Fixierung des Raumgefüges der Eiweißstränge beteiligt und sind auch das Bindeglied zwischen den Purinbasen und ihren komplementären Pyrimidinbasen in den Ribonucleinsäuren und den Desoxyribonucleinsäuren. Die relativ hohen Siedetemperaturen (siehe Tabelle 10.1) der Alkohole sind auf Wasserstoffbrücken zurückzuführen. Die durch intermolekulare Wasserstoffbrücken miteinander verbundenen Alkohole bilden Assoziate. Für die Freisetzung der Alkoholmoleküle aus der flüssigen Phase in die Dampfphase ist, da Wasserstoffbrückenbindungen gespalten werden müssen, zusätzliche Energie notwendig. H R
R
R
O
O H
H O
R
H
R H
96 pm Bindungslänge
Alkohol flüssig
H
207 pm
O
O R
H
R
O
O H
H
R O
O
H O
R
Alkoholdampf
R
Die Polarität der OH-Bindung und die Fähigkeit der Alkohole, Wasserstoffbrücken zu bilden, erklären auch die unbegrenzte Mischbarkeit niedriger Alkohole (Methanol, Ethanol, Propanol, Isopropanol, Ethylenglykol, Glycerin) mit Wasser. Sie bilden mit den Wassermolekülen Assoziate über Wasserstoffbrücken. Mit zunehmender Kettenlänge der Alkohole wird der unpolare Anteil der hydrophoben (wasserabstoßenden) Kohlenstoffkette größer, wodurch die Löslichkeit in Wasser herabgesetzt wird. Während Propanol mit Wasser noch unbegrenzt mischbar ist, lösen sich bei 20°C in 100 mL Wasser nur 7,9 g 1-Butanol, 2,7 g 1-Pentanol und 0,6 g 1-Hexanol. Ethylenglykol wird wegen seiner hohen Siede- und niedrigen Schmelztemperatur (siehe Tabelle 10.1) und der guten Wasserlöslichkeit als Frostschutzmittel verwendet. Infolge der Polarität der Alkoholmoleküle lösen sich Alkohole gut in polaren organischen Lösungsmitteln, z.B. in Aceton oder Ether.
10.5 Physiologische Eigenschaften Tabelle 10.1 Alkohol Methanol
377
Schmelz- und Siedetemperaturen einiger Alkohole Schmelztemperatur °C –97
Siedetemperatur °C
Dichte g/mL
64,5
0,793
Ethanol
–115
78,3
0,789
1-Propanol
–126
97
0,804
Isopropanol
–86
82,5
0,789
Allylalkohol
–129
97
0,855
–90
118
1-Butanol sek-Butylalkohol tert-Butylalkohol Isobutylalkohol
–114 25,5 –108
0,810
99,5
0,806
83
0,789
108
0,802
1-Pentanol
–78,5
138
0,817
Cyclopentanol
–19
140
0,949
1-Hexanol
–52
156,5
0,919
Cyclohexanol
24
161,5
0,962
Ethylenglykol
–11,5
198
1,113
Benzylalkohol
–15
205
1,046
10.5 Physiologische Eigenschaften 10.5.1 Physiologische Eigenschaften des Methanols Methanol wird im Körper zu Formaldehyd H2C=O und dieses dann zu Ameisensäure HCOOH oxidiert. Letztere verursacht eine pH-Senkung des Blutes, wodurch der Sauerstofftransport herabgesetzt wird. Methanol ist giftig, seine Einnahme verursacht eine Schädigung des Zentralnervensystems, insbesondere der Sehnerven und kann deshalb zu einer Erblindung führen. Als Symptome einer Methylalkoholvergiftung treten Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Übelkeit und Bewußtlosigkeit auf. Die tödliche Dosis liegt bei 30 bis 100 mL. Auch das Einatmen der Methanoldämpfe und die Aufnahme von Methanol über die Haut ist gesundheitsgefährdend.
10.5.2 Physiologische Eigenschaften des Ethanols Ethanol ist nach Auffassung der Weltgesundheitsorganisation die Rauschdroge Nummer 1. In der Umgangssprache wird Ethanol gewöhnlich als Alkohol bezeichnet. Die Gefahren, die mit dem Genuß von Alkohol verbunden sind, werden in der Regel unterschätzt. Schon der einmalige Genuß von größeren Alkoholmengen kann gravierende Folgen haben. Ein hoher Prozentsatz von Verkehrstoten ist auf Unfälle zurückzuführen, die alkoholisierten Kraftfah-
378
10 Alkohole
Bild 10.2 Übermäßiger Alkoholkonsum führt zur Sucht
rer verursacht haben. Das Gesetz belangt deshalb Kraftfahrer, die in trunkenem Zustand fahren. In der Bundesrepublik Deutschland kann ab etwa 0,3 ‰ Alkohol im Blut eine Verurteilung wegen alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit erfolgen, wenn beispielsweise alkoholtypische Ausfälle (z.B. Fahrfehler) vorliegen. Ab 0,5 ‰ Blutalkoholkonzentration liegt eine Ordnungswidrigkeit vor. Diese führt zu einer empfindlichen Geldbuße und einem Fahrverbot. Ab 1,1 ‰ wird der Grenzwert der absoluten Fahruntüchtigkeit erreicht. Wird eine Blutalkoholkonzentration von 1,6 ‰ und darüber erreicht, so ist eine medizinisch psychologische Untersuchung (MPU) unausweichlich. Besonders gefährlich ist der Alkohol auch deshalb, weil ständiger Alkoholkonsum zur Sucht führen kann, der Mensch wird zum Alkoholiker. Die Zahl der behandlungsbedürftigen Alkoholiker in der Bundesrepublik Deutschland wird auf 2,5 Millionen geschätzt, die Zahl der Toten infolge von Alkoholmißbrauch auf 60.000 Menschen jährlich. Beim chronischen Alkoholiker verfallen seine sozialen Beziehungen und oft kommt er auch mit dem Strafgesetz in Konflikt. Übermäßiger Alkoholkonsum bringt über viele Menschen Siechtum, Leid und Elend. Alkoholiker schaden nicht nur sich selbst, sondern auch den Menschen, die ihnen nahestehen. Menschen, die ihre Sorgen in Alkohol ertränken, entfernen damit keineswegs die Ursachen Ihrer Sorgen. Alkohol löst keine Probleme, im Gegenteil, er schafft nur noch weitere. 10.5.2.1 Alkoholvergiftungen nach einmaligem Genuß Der Mensch kann bei Genuß kleinerer Mengen Alkohol in eine gehobene Stimmung versetzt werden, die gegebenenfalls mit einer Enthemmung einhergeht. Das Reaktionsvermögen wird deutlich herabgesetzt. Erste Gehstörungen treten bei 0,3 ‰ Alkohol im Blut auf. Blindzielbewegungen (z.B. mit dem Finger bei geschlossenen Augen auf die Nasenspitze treffen) sind bei 0,5 ‰ gestört. Die Grenze für koordinierte Reaktionen liegt bei 1,4 ‰ Alkohol im Blut. Bei etwa 2 ‰ tritt eine Bewußtseinstrübung auf. Der Tod tritt meist bei 3,5–4,5 ‰ Alkohol im Blut ein. Die Blutalkoholkonzentration (BAK) kann mit Hilfe der Widmark-Formel geschätzt werden, die aber nur als grobe Faustregel verstanden werden darf: BAK 0 00 =
getrunkene Alkoholmenge in Gramm Körpergewicht in kg ⋅ r
10.5 Physiologische Eigenschaften Tabelle 10.2
379
Alkoholgehalt im Blut und seine Auswirkungen
‰ Alkoholgehalt im Blut
Auswirkungen
0,5–0,9
Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit
1,5
Fahruntüchtigkeit
2,5
Bewußtlosigkeit
3,5–4,5
Tod
Der Reduktionsfaktor r schwankt innerhalb gewisser Grenzen. Für Männer mit normaler Konstitution ist der r-Wert mit ca. 0,7 und für hagere Männer mit etwa 0,8 zu veranschlagen. Die meisten Frauen und Personen mit relativ hohem Fettgewebsanteil haben einen r-Wert von 0,55 bis 0,6. Pro Stunde sinkt die Blutalkoholkonzentration durch Abbau im Körper um etwa 0,15 ‰. Ethanol wird in einer Reaktion, die durch das Enzym Alkohol-Dehydrogenase katalysiert wird, durch NAD+ (Nicotinsäureamid-adenin-dinucleotid) zu Acetaldehyd oxidiert, das in die aktive Form der Essigsäure umgewandelt wird. Diese wird im Stoffwechsel weiter umgesetzt. Die neurophysiologische Wirkung des Ethanols ist auf das Abbauprodukt Acetaldehyd zurückzuführen, das mit biogenen Aminen (Dopamin, Adrenalin, Noradrenalin) reagiert und sie ihrer Funktion als Neurotransmitter entzieht. Alkoholische Getränke sind um so schädlicher, je mehr Alkohol sie enthalten. Durch die alkoholische Gärung werden zucker- bzw. stärkehaltige Naturstoffe vergoren, wobei ein Alkoholgehalt von 19–20 % nicht überschritten wird. Alkoholische Getränke mit höherem Prozentsatz werden durch Destillation von Gärprodukten erzeugt. 0,5 Liter Bier enthalten 20 g bis 25 g Alkohol, 1 Liter Wein 70 g bis 100 g Alkohol, ein Gläschen Schnaps (0,02 Liter) etwa 5 g bis 7 g Alkohol. 10.5.2.2 Auswirkungen des Alkohols bei ständigem Alkoholkonsum Beeinträchtigung des Reaktionsvermögens
Hirn- und Nervenzellen sterben ab, bleibende Hirnschäden Herzschäden
Fettleber, Hepatitis, Leberzirrhose
chronische Magenschleimhautentzündung Alkohol macht impotent
Entzündungen der Bauchspeicheldrüse Muskelschädigungen, Muskelschwund
Zittern der Hände (Tremor) Gicht Nervenentzündung und Zerfall des Nervensystems
Bild 10.3 Krankheitserscheinungen nach ständigem übermäßigem Alkoholgenuß
380
10 Alkohole
Ständiger übermäßiger Ethanolgenuß führt zu Herz-, Leber, Nierenschäden und Nervenstörungen. In der Endphase tritt das Delirium tremens auf, das mit Halluzinationserscheinungen und oftmals mit einem Verfolgungswahn verbunden ist. Fuselöle. Fuselöle entstehen in geringen Mengen bei der alkoholischen Gärung. Zu ihnen zählen Propanol, Butanol und Amylalkohole. Sie haben eine stärkere Rauschwirkung und sind stärker giftig als Ethanol.
10.6 Synthese der Alkohole 10.6.1 Großtechnische Synthese der Alkohole Zu den in großen Mengen produzierten niederen Alkoholen gehören Methanol, Ethanol, Isopropanol und Butanole. 10.6.1.1 Methanol Verwendung. Methanol kann zu Formaldehyd umgesetzt werden, der zu Kunststoffharzen weiterverarbeitet wird. Es dient auch zur Herstellung von Methylestern z.B. das für die Kunstfasererzeugung wichtige Dimethylterephthalat. Es ist für die Produktion von Methylmethacrylat (siehe Abschnitt 15.5.1.2) und von Methylamin notwendig. Außerdem ist es ein ausgezeichnetes polares Lösungsmittel. Methanol hat den Vorzug, daß es aus relativ billigen Rohstoffen, nämlich Kohlenstoffmonoxid und Wasserstoff synthetisiert werden kann. Es ist einer der wirtschaftlichsten Syntheserohstoffe. Mit einer Weltjahresproduktion von etwa 10 Millionen Tonnen steht Methanol an der Spitze der niederen Alkohole. Methanol könnte als Vergaserkraftstoff verwendet werden, wobei allerdings konstruktive Veränderungen am Vergaser und eine Tankvergrößerung notwendig wären, denn es hat nur etwa die Hälfte des Energieinhalts des Benzins. Durch Zugabe von Methanol zum Kraftstoffgemisch kann die Octanzahl erhöht werden. Im bleifreien Normalbenzin sind etwa drei Volumenprozent Methanol enthalten. Die Anhebung der Octanzahl kann auch durch Zugabe von Methyl-tert-butylether zum Kraftstoffgemisch erfolgen, der aus Methanol und dem beim Cracken aus Erdölfraktionen erzeugten Isobuten gewonnen wird: CH3
H3C H3C
OH
C
+
CH2
Kat.
H3C
H3C
O
C
CH3
CH3 Methyl-tert-butylether (MTBE)
Synthese. Beide für die Synthese des Methanols erforderlichen Gase CO und H2 sind im Synthesegas enthalten, das durch Einwirkung von Wasserdampf auf glühenden Koks erhalten wird: C
+
H2O
CO
+
H2
10.6 Synthese der Alkohole
381
Die Methanolsynthese kann im BASF-Hochdruckverfahren bei 320–380°C und 340 bar in Gegenwart eines ZnO/Cr2O3-Katalysators (ZnO zu Cr2O3 im Verhältnis 7 : 3) erfolgen. CO
+
2 H2
380 °C, 340 bar, ZnO / Cr2O3
ΔH = –92 kJ/mol
CH3OH
Als Nebenprodukte entstehen bei dieser Reaktion Dimethylether, Methylformiat und höhere Alkohole, die durch Destillation abgetrennt werden. Die Methanolsynthese wird auch im Niederdruckverfahren bei 100 bar und 240–260°C durchgeführt, wobei ein CuO-ZnOAl2O3-Katalysator verwendet wird. 10.6.1.2 Ethanol Verwendung. Ethanol wird als Lösungsmittel und zur Herstellung von Riechstoffen und pharmazeutischen Präparaten verwendet. Durch Oxidation kann es in Acetaldehyd und dieser wiederum in Essigsäure überführt werden. Ein Teil der Ethanolproduktion wird zu Ethylacetat verestert. Ethylacetat ist ein wichtiges Lösungsmittel, das vor allem in der Lackindustrie Verwendung findet. Herstellung. Durch die alkoholische Gärung vergärbarer Zucker entsteht durch Katalyse der in Hefe enthaltenen Enzyme Ethanol. Die Umsetzung der Glucose (siehe Abschnitt 21.6.7.6) erfolgt nach der Bruttogleichung: Hefe
C6H12O6
2 C2H5OH
+
2 CO2
Auch die Stärke in stärkehaltigen Rohstoffen (Weizen, Roggen, Gerste, Mais und Kartoffeln) läßt sich enzymatisch in vergärbare Zucker abbauen. Großtechnisch wird Ethanol aus Ethen synthetisiert. Hierbei kommen zwei Verfahren in Frage: a)
die Synthese über Ethyl- bzw. Diethylsulfate. Ethenhaltige Gase (35–95 % Ethen) werden in Absorptionstürmen bei 55–80°C und 10–35 bar mit Schwefelsäure umgesetzt, wobei Monoethylsulfat (Schwefelsäureethylester) entsteht (siehe Abschnitt 3.7.4.2), das zum Teil noch mit Ethen weiter zu Diethylsulfat reagieren kann. H2C
CH3CH2
CH2 O
+
SO2
H2SO4 +
OH
CH3CH2 H2C
CH2
O
CH3CH2
SO3H Monoethylsulfat O
SO2
O
CH2
CH3
Diethylsulfat
Beide Ester werden anschließend mit überhitztem Wasserdampf bzw. mit verdünnter Schwefelsäure in säurefesten Türmen bei 70–100°C hydrolysiert. CH3CH2 CH3CH2
O
SO2
O
O
SO3H CH2CH3
verd. H2SO4
CH3CH2
OH und verd. H2SO4
382
10 Alkohole
b) saure Hydratisierung von Ethen. Bei 300°C und 70 bar wird Wasserdampf und Ethen (0,6 H2O : 1 C2H4) über Phosphorsäure geleitet, die auf Silicagel als Trägermaterial verankert ist (Reaktionsmechanismus siehe Abschnitt 3.7.4.3). H2C
CH2
+
H2O
H
CH3CH2OH
Technischer Alkohol wird mit Benzol, Aceton oder Pyridin vergällt. 10.6.1.3 Isopropanol Verwendung. Isopropanol wird als Lösungsmittel und Extraktionsmittel verwendet. Es wird als Zusatz zu Benzin zum Schutz gegen Vergaservereisung zugegeben. Das als Lösungsmittel und zu Synthesen verwendete Aceton wird auch durch Oxidation von Isopropanol hergestellt. Synthese des Isopropanols. Isopropanol wird, ähnlich wie das Ethanol, im zweistufigen Schwefelsäureverfahren hergestellt, wobei zunächst eine Addition der Schwefelsäure an Propen erfolgt. Nach Verdünnen der im Prozeß anfallenden Schwefelsäure mit Wasserdampf oder Wasser auf 40 % wird das Isopropylsulfat zu Isopropanol hydrolysiert. CH3CH
CH2 + H2SO4
CH3CHCH3
verd. H2SO4
OSO3H
CH3CHCH3 + H2SO4 OH
Ein weiteres Verfahren zur Herstellung des Isopropanols aus Propen ist die katalytische Hydratisierung. Diese hat zwei Varianten: a) Die Gasphasen-Hydratisierung mit Katalysatoren auf Silicagel. Propen wird in der Gasphase mit Wasserdampf über saure Katalysatoren geleitet, wobei zunächst eine Protonierung des Propens und dann die Anlagerung von Wasser erfolgt (siehe Abschnitt 3.7.4.3). Im Hochdruckverfahren, das bei 270°C und 250 bar erfolgt, wird als Katalysator WO3/ZnO, welcher an der Oberfläche von Silicagel aufgebracht ist, verwendet. Silicagel ist wegen seiner großen Oberfläche als Trägermaterial geeignet. CH3CH
CH2 + H2O
270 °C, 250 bar, WO3 / ZnO
CH3CHCH3 OH
Anmerkung: Silicagel kann aus Wasserglas, einer wäßrigen Lösung von Na2SiO3, durch Zugeben von Mineralsäure erhalten werden, wobei zunächst die unstabile Säure H2SiO3 freigesetzt wird. Diese kondensiert spontan unter Wasserausschluß zum Silicagel (= Kieselgel). Im Mitteldruckverfahren wird als Katalysator Phosphorsäure, die auf Silicagel als Trägermaterial verankert ist, verwendet. Bei diesem Verfahren erfolgt die Hydratisierung des Propens bei 180–260°C und 25–65 bar. Der Nachteil der Gasphasen-Hydratisierung ist die geringe Isopropanol-Ausbeute bei einem Durchlauf, so daß das nicht umgesetzte Propen rückgeführt und erneut in den Reaktor eingeleitet werden muß.
10.6 Synthese der Alkohole
383
b) Die Direkthydratisierung im Rieselphasen-Verfahren. Wasser wird als flüssige Phase zusammen mit Propen im Molverhältnis etwa 15 : 1 in den Reaktor geleitet, der mit einem festen Ionenaustauscher vom Sulfonsäuretyp gefüllt ist. Beim Herabrieseln über den sauren Ionenaustauscher erfolgt bei 130–160 °C und 80–100 bar durch sauer katalysierte Hydratisierung die Umwandlung des Propens zu Isopropanol. H SO3 H
H2C
H3C
CH
Ionenaustauscher
H3C
CH3
CH3
SO3H
O
CH
H
H
H
O C
H
H
H3C
CH3
O C
H
CH3
+ H Isopropanol (2-Propanol)
Propen
10.6.1.4 Butylalkohole Verwendung. Butylalkohole, insbesondere sek- und tert-Butanol, werden als solche oder in Form ihrer Ester als Lösungsmittel verwendet. tert-Butanol wird als Antiklopfmittel zu Treibstoffen zugesetzt. sek-Butanol wird zu Methylethylketon oxidiert. Methylethylketon ist ein ausgezeichnetes Lösungsmittel für Lacke und Harze. Synthese der Butylalkohole. n-Butanol kann durch Aldolkondensation von Acetaldehyd (s. Abschnitt 13.4.7.2) und nachfolgender Hydrierung des Crotonaldehyds synthetisiert werden. H 2 CH3C
OH
H CH3CH
O
CH2
C O
OH
Acetaldehyd
H
H - H2O
Acetaldol
CH3CH
CH
C
Kat. / H2
CH3CH2CH2CH2OH
O
Crotonaldehyd
n-Butanol
Eine weitere Synthese des n-Butanols geht vom Propen aus, das durch ReppeHydrocarbonylierung ein Isomerengemisch von n-Butanol und Isobutanol ergibt.
H3C
CH
CH2
110 °C, 15 bar Katalysator - 2 CO2
+ 3 CO + 2 H2O
H3C
CH
CH3
+
H3C
CH2
CH2
CH2OH
CH2OH
Isobutanol
n-Butanol
Als Katalysator dient in diesem Falle ein Eisencarbonylwasserstoff-Amin-Komplex, der aus Eisencarbonyl, Wasser und einem tertiären Amin gebildet wird. R 3 Fe(CO)5
+ R
N
+ 2 H2O
H2Fe3(CO)11 NR3 + 2 CO2 + 2 CO + H2
R
Dieser Komplex übernimmt die Funktion der Hydrierung und der CO-Addition.
384
10 Alkohole
sek-Butanol wird aus 1-Buten oder 2-Buten und tert-Butanol aus 2-Methylpropen synthetisiert, wobei in allen Fällen Schwefelsäure an das entsprechende Alken addiert und das Produkt dann hydrolysiert wird. CH3CH2CH
CH2
30 °C, 80%ige H2SO4
verd. H2SO4
CH3CH2CHCH3
CH3CH2CHCH3
OSO3H
OH
1-Buten
sek-Butanol
CH3 H3C
C
CH3
CH3 CH2
0 °C, 60%ige H2SO4
H3C
C
CH3
verd. H2SO4
H3C
C
CH3
OH
OSO3H
2-Methylpropen
tert-Butanol
10.6.1.5 Höhere Alkohole Höhere Alkohole, zu denen man Alkohole mit einer Kohlenstoffkette von 6–18 Kohlenstoffatomen zählt, werden zur Herstellung von biologisch abbaubaren Alkylsulfaten und Ethersulfaten im Waschmittelsektor verwendet. Alkylsulfate finden auch Verwendung bei der Flotation in der Funktion eines Sammlers. Durch die Flotation erreicht man eine Trennung der Erze vom tauben (nicht erzhaltigen) Gestein. Sie erfolgt in der Flotationszelle, in der Erz und taubes Gestein in Form von winzigen Feststoffpartikeln (0,1 mm) in Wasser aufgeschlämmt sind. Vom Boden der Flotationszelle steigen Luftbläschen auf. Die Trennung der Erze vom tauben Gestein erfolgt nach dem Prinzip, daß sich der Sammler selektiv an bestimmte Bestandteile des Feststoffgemenges anheftet. Alkylsulfate werden z.B. an oxidische Erze, an Baryt und Sylvin adsorbiert. Es erfolgt eine Hydrophobierung der Feststoffpartikel durch den Sammler, der sich mit der polaren funktionellen Gruppe (im Falle der Alkylsulfate
funktionelle Gruppe Na + H3C
CH2 CH2 CH2 O
SO3
Na +
-
-
CH2 CH2 CH2 CH2 -
Feststoffpartikel
O 3S
Na O
Luftbläschen CH2 CH2 CH2 CH3
O
O 3S
+
CH2 CH2 CH2 CH2 CH2
H 2C
H2C
CH2 H2C
CH2 H 2C
hydrophobe Kohlenstoffkette
Bild 10.4 Flotation
CH3
10.6 Synthese der Alkohole
385
ist es die Gruppe –OSO3–) an die Oberfläche der Feststoffpartikel anlagert, während die hydrophobe Kette des Alkylrestes in das umgebende Wasser zeigt; die Feststoffpartikel sind also von einer hydrophoben Hülle umgeben. Aufsteigende Luftbläschen binden sich an die hydrophobe Kette des Sammlers und nehmen auf ihrem Wege nach oben die Feststoffpartikel mit. a) Höhere Alkohole aus Fetten und Ölen Fette und Öle bestehen hauptsächlich aus Triglyceriden. Dies sind Ester des Glycerins mit Fettsäuren (n-Carbonsäuren). Die in Fetten und Ölen veresterten Carbonsäuren haben eine Kettenlänge von 6 bis 20 Kohlenstoffatomen. Höhere Alkohole können aus Fetten und Ölen durch Umesterung mit Methanol und anschließende Reduktion der Methylester gewonnen werden. Die Umesterung der Triglyceride erfolgt durch Erhitzen mit einem Überschuß an Methanol unter saurer Katalyse, wobei Glycerin freigesetzt wird. Die Reduktion der entstandenen Methylester zu entsprechenden Alkoholen erfolgt durch katalytische Hydrierung bei 250–350°C und etwa 200 bar an einem Cu-Cr-Oxid-Katalysator.) Umesterung der Triglyceride: O R1
R
2
C
O O O
CH2
O
CH
R
C
+
3 CH3OH
H
1
C O O
R2
+
C O
O R3
CH3
C R3
CH2
CH2
HO
CH
HO
CH2
CH3
O O
HO
C O
CH3
Methylester
Glycerin
Reduktion der Methylester: H
O R
+
C O
2 H2
250-350 °C, 200 bar, CuO/Cr2O3
CH3
R
C
OH
+ CH3OH
H
Auch aus Fettsäuren, welche aus Alkanen durch katalytische Oxidation entstehen, können nach der Umsetzung in Methylester und nachfolgender katalytischer Hydrierung höhere Alkohole gewonnen werden. b) höhere Alkohole aus Alkenen durch Hydroformylierung Höhere Alkohole lassen sich aus höheren Alkenen über die Oxosynthese (siehe Abschnitt 13.3.1.5) und nachfolgende Hydrierung der Aldehyde herstellen. Die auf diese Weise synthetisierten Alkohole sind um ein C-Atom reicher als die Alkene, aus denen sie entstanden sind.
386
10 Alkohole R
R
CH
140-180 °C, 250-300 bar Co-Katalysator
CH2
+ CO + H2
R
CHCH3 H C O
+
H
CH2CH2C
R
CH2OH
115 °C, 3 bar Ni-Katalysator
+
CHCH3
R O
CH2CH2CH2OH
c) Höhere Alkohole aus n-Alkanen durch Oxidation Höhere sekundäre Alkohole werden durch Oxidation von n-Alkanen aus Kerosin-Fraktionen (siehe Abschnitt 7.4) hergestellt. Die Alkane werden bei 140–180°C in Gegenwart von 0,1 Gew.-% KMnO4 und 4–5 Gew.-% Borsäure mit Luft bis zu einem Umsatz von 25 % zu sekundären Alkoholen oxidiert. Als Zwischenprodukt entstehen Alkylhydroperoxide, die mit Borsäure thermo- und oxidationsstabile Borsäureester bilden, so daß eine Weiteroxidation des Zwischenprodukts zu Aldehyden und Carbonsäuren erschwert wird. In den Oxidationsprodukten sind enthalten: 70 % sekundäre Alkohole, etwa 20 % Ketone und etwa 10 % Carbonsäuren. 180 °C, R
CH2
CH3
+ O2
KMnO4
R
CH
H3BO3
CH3
- 1/2O2
OOH
R
CH
CH3
H
/H2O
R
CH
+ H3BO3
CH3
OH
OBO2H2
d) Produktion höherer Alkohole mit Hilfe der Alfol-Synthese Als Rohstoff für diese Synthese dient Ethen. Dieses läßt man bei 120°C und 100–140 bar über Triethylaluminium strömen, und es erfolgt eine Polymerisierung durch Einschub von Etheneinheiten zwischen Metall und Alkylrest. CH3CH 2
CH3CH 2
n H2C
CH2CH3
CH3CH2
CH2
CH2CH3
Al
Al H2C
CH2CH2
CH2
CH3CH2
C2H5(CH2CH2)y
(CH2CH2)xC2H5 Al (CH2CH2)zC2H5
10.6 Synthese der Alkohole
387
Das Reaktionsprodukt wird bei 50–100°C mit trockener Luft zum Aluminiumalkoxid oxidiert, welches mit verdünnter Schwefelsäure zu langkettigen unverzweigten primären Alkoholen hydrolysiert wird. R1 R2
+
Al R
3
R2
/2 O2
O
O
R1
O
3
Al
3
R
verd. H2SO4
HO
R1
HO
R2 + 1/2 Al2(SO4)3
HO
R3
10.6.1.6 Ethylenglykol Bei der großtechnischen Synthese von Ethylenglykol geht man vom Ethen aus, das bei 250°C unter Druck in Gegenwart eines Silberkatalysators mit Sauerstoff zu Ethylenoxid umgesetzt wird. Der Sauerstoff wird bei dieser Reaktion zunächst molekular am Silber adsorbiert und reagiert dann in dieser aktivierten Form mit Ethylen. Das Silber ist in feinverteilter Form auf einer Trägersubstanz aufgetragen. 1,2-Dichlorethan wird als Inhibitor zugegeben, der eine Weiteroxidation zu CO2 und Wasser unterbinden soll. H2C
CH2
+
1
Ag
/2 O2
H2C
CH2 O
Ethylenoxid Das Ethylenoxid reagiert unter Zugabe einer Säure als Katalysator in einem Überschuß von Wasser bei 50–70°C zu Ethylenglykol. Die Glykol-Lösung wird auf Verdampfern aufkonzentriert und im Vakuum destilliert. H
H2C
CH2 O
H
H2C
CH2 O
H
H
O
OH
O H
H2C OH
CH2
H2C
CH2 + H
OH
H
10.6.2 Darstellung der Alkohole im Labor Von einer Darstellung von Substanzen sprechen wir dann, wenn die Substanz nur in Grammbzw. Milligrammengen synthetisiert wird. Hierbei spielen, im Gegensatz zur großtechnischen Synthese von Verbindungen, die ökonomischen Gesichtspunkte keine so große Rolle, man kann gegebenenfalls auch teure Reagenzien verwenden. 10.6.2.1 Alkohole aus Alkylhalogeniden Alkylhalogenide reagieren mit Alkalilauge, wobei das Halogen durch die Hydroxygruppe –OH ersetzt wird. Das Ersetzen einer Gruppe durch eine andere bezeichnet man als Substitution. In der vorliegenden Reaktion handelt es sich um eine nukleophile Substitution (Nukleophil siehe Abschnitt 9.4.4).
388
10 Alkohole
R
+
X
NaOH
R
+
OH
R = Cl, Br oder I
NaX
Neben der Substitutionsreaktion erfolgt noch als Nebenreaktion eine Eliminierung von HX, also eine Dehydrohalogenierung, wobei aus dem Alkylhalogenid ein Alken entsteht (siehe Dehydrohalogenierung, Abschnitt 3.6.1.1). Erhöht man die Temperatur, so wird die Dehydrohalogenierung begünstigt. Die Dehydrohalogenierung erfolgt nicht, wenn man feuchtes Silberoxid als Reagens verwendet. Bei dieser Reaktion erfolgt der Austausch von –X für –OH bei chiralen Verbindungen unter Retention (= unter Wahrung der Konfiguration, siehe Abschnitt 8.9.3.1). R
CH2
+ AgOH
X
R
CH2
+
OH
AgX
10.6.2.2 Alkohole aus Alkenen Alkene reagieren mit konzentrierter Schwefelsäure bei 0–15°C, wobei die entsprechenden Monoalkylsulfate (Alkylhydrogensulfate) entstehen. Die Addition der Schwefelsäure erfolgt nach der Markownikow-Regel (siehe Abschnitt 3.7.2). H
R C
+
C
H
0-15 °C
H2SO4
H
170 °C
H
H
R
C
C
H
OSO3H
H
Die Monoalkylsulfate kann man durch Erhitzen mit Wasser oder verdünnter Schwefelsäure hydrolytisch spalten, wobei die entsprechenden sekundären Alkohole gebildet werden.
H
H
R
C
C
H
OSO3H
H
+
H2O
H
H
R
C
C
H
OH
H
+
H2SO4
Die Hydroborierung (siehe Abschnitt 3.7.5.1) bietet eine Möglichkeit, um vom 1-Alken zum primären Alkohol zu gelangen. Durch Einwirkung von Diboran auf das 1-Alken erhält man das Trialkylboran. Dieses wird durch oxidative alkalische Hydrolyse gespalten, wobei der primäre Alkohol und Na3BO3 entstehen. 6 R (R
CH2
CH CH2)3
CH2 B
+ (BH3)2 H2O2/NaOH
2 (R 3
R
CH2
CH2 CH2
CH2)3 OH
B
+
Na3BO3
10.6.2.3 Hydrolyse von Estern Ester können mit verdünnten Mineralsäuren zum Alkohol und der Carbonsäure hydrolysiert werden. Die Verseifung der Ester mit Alkalihydroxiden führt zum Alkohol und dem Salz der Carbonsäure.
10.6 Synthese der Alkohole
389
Hydrolyse von Estern mit Säuren: O
O R
C
+
OR'
H
H2O
R
Ester
C
+
OH
HO
Carbonsäure
R'
Alkohol
Verseifen von Estern: O
O R
C
+
OR'
Ester
+
NaOH
R
Base
Salz der Carbonsäure
C
O
Na
HO
R'
Alkohol
10.6.2.4 Reduktion von Carbonylverbindungen mit Metallen
Mit Eisen in Essigsäure oder mit Zinkstaub in Natronlauge werden Aldehyde bzw. Ketone zu Alkoholen reduziert. Bei dieser Reduktion entstehen aber Nebenprodukte. Zum Beispiel tritt vor allem mit Ketonen eine Dimerisierung zu zweiwertigen Alkoholen vom Pinakol-Typ ein. Mit Ethanol als Lösungsmittel wird die Dimerisierung unterdrückt. Man benutzt zur Reduktion deshalb häufig Ethanol als Protonenspender mit Na als Reduktionsmittel. R
C
O
2 Na,2 CH3CH2OH
R
- 2 CH3CH2ONa
H
CH2
OH
Das Elektron wird vom Na, das zum Natriumkation Na+ wird, auf die Carbonylverbindung übertragen. Diese nimmt zunächst ein Elektron auf, und es entsteht das als Ketyl bezeichnete Radikalanion, das dann protoniert wird. Das Produkt nimmt noch ein Elektron auf und bindet mit dem freien Elektronenpaar am Kohlenstoff unter Bildung des Alkohols ein weiteres Proton. R C
O
e
R C
O
R
R
R
H
O
C2H5
-
O
C2H5
C R
O
H
Ketyl
H
O
C2H5
R
-
O
C2H5
R
R
O
H
e
H C
R
C
e
oder
= Elektron
OH
10.6.2.5 Die Pinakol-Reaktion
Läßt man Aceton mit Mg-Spänen oder Magnesiumamalgam in Benzol reagieren, so wird das Mg zu Mg2+ oxidiert, wobei die Elektronen im Ein-Elektronen-Übertragungsschritt auf das Keton übertragen werden und eine C–C-Kopplung der entstandenen beiden Radikale erfolgt. Aus dem auf diese Weise gebildeten Magnesiumpinakolat kann durch Zugabe einer Säure der zweiwertige Alkohol Pinakol freigesetzt werden.
390
10 Alkohole
R
R C
O
R
C
Benzol
Mg
R
O
R
Mg
2
R C
O
R
C
O
C
O
R
Keton R
R R R
C
O Mg
C
2
O
2 H
R R
C
O
H
+
Mg
2
H
R
R
Magnesiumpinakolat
Pinakol
Anmerkung: Das Wort „Pinakol“ leitet sich vom griech. Wort pinako her. Dies hat die Bedeutung tafelförmig und bezieht sich auf die Kristallform des Pinakolhydrats C6H12(OH)2 · 6 H2O (Pinakol selbst ist flüssig, bildet aber mit Wasser das Hexahydrat, das bei 45°C schmilzt).
10.6.2.6 Reduktion von Estern mit Natrium (Bouveault-Blanc-Reaktion)
Die Ester werden mit metallischem Natrium und Ethanol oder Butanol unter dem Rückfluß erhitzt, wobei aus dem Ester zwei Alkohole entstehen. O R'
CH2
C
OR
Na/CH3CH2OH
R'
CH2
CH2
OH
+
HO
R
Anstelle der Reduktion nach Bouveault-Blanc wird heute die Reduktion von Estern vornehmlich mit LiAlH4 durchgeführt. 10.6.2.7 Die Reduktion von Aldehyden, Ketonen, Estern und Carbonsäuren mit LiAlH4
Aldehyde, Ketone, Ester und Carbonsäuren sind Carbonylverbindungen. Sie besitzen eine C=O-Gruppierung, die als Carbonylfunktion bezeichnet wird. In dieser ist der Sauerstoff der elektronegativere Bindungspartner, so daß die Bindungselektronen zum Sauerstoff hin verschoben sind und die Doppelbindung stark polarisiert ist: R
X C δ+
O δ-
X = H, R, OR oder OH
Lithiumaluminiumhydrid (Lithiumalanat) Li+[AlH4]– ist ein komplexes Hydrid, das in hoher Reinheit ein weißes, mikrokristallines Pulver ist, gewöhnlich aber als graues Pulver in gut verschlossenen Dosen in den Handel kommt. Die Dose sollte in Inertatmosphäre geöffnet werden. Li+[AlH4]– zersetzt sich erst bei einer Temperatur von 125°C und ist in Diethylether
10.6 Synthese der Alkohole
391
und auch anderen Ethern etwas löslich. Meist wird Diethylether, in dem es sich relativ gut löst, als Lösungsmittel verwendet. Li+[AlH4]– reagiert mit Verbindungen, die eine C=O-Gruppierung haben, schon bei Zimmertemperatur, wobei das Hydridion H– sich mit seinem Elektronenpaar an den positivierten Kohlenstoff bindet, während sich der Sauerstoff der Carbonylverbindung an das Aluminiumatom anlagert. Nach dieser Umsetzung wird vorsichtig feuchter Ether zugegeben, um das überschüssige Li+[AlH4]– umzusetzen. Es ist notwendig, Wasser nur sehr vorsichtig zuzugeben, weil das im Reaktionsgemisch im Überschuß vorhandene Lithiumaluminiumhydrid mit Verbindungen, die Protonen abspalten können (Säuren, Wasser, Alkohole) stark exotherm reagiert. Gewöhnlich gibt man dann, um die Alkohole aus dem LiAl-Komplex freizusetzen, verdünnte Salzsäure zu. LiCl und AlCl3 sind in Wasser gut löslich, was die weitere Aufarbeitung des Reaktionsgemisches erleichtert. a) Reaktionen von Aldehyden mit Lithiumaluminiumhydrid. H
H
Li
AlH3
C
H
Ether
O
R
R
C
O
Li
AlH3
H +
–
Der Komplex Li [RCH2OAlH3] kann drei weitere Hydridionen abgeben, welche von drei Aldehydmolekülen auf die Carbonylgruppe übertragen werden, so daß die Gesamtreaktion folgendermaßen formuliert werden kann: H 4 R
C
+
AlH4
Li
Ether
(R
CH2
O)4Al
Li
O
Aldehyd
Mit verdünnter Salzsäure wird der Alkohol aus dem komplexen Alkoholat (Alkoholate siehe Abschnitt 10.7.1) freigesetzt: CH2
(R
O)4Al
+ 4 HCl
Li
4R
CH2
OH + AlCl3 + LiCl
primärer Alkohol
b) Reaktionen von Ketonen mit Lithiumaluminiumhydrid. R 4
C
O
+
AlH4
Li
Ether
(
R Li
CH
O)4Al
OH
+ AlCl3 + LiCl
R
R
Keton (
R
R CH R
O)4Al
Li
+ 4 HCl
4
CH
R sekundärer Alkohol
392 c)
10 Alkohole Ester reagieren mit Lithiumaluminiumhydrid zu Alkoholaten, die mit Wasser oder verdünnten Säuren zu primären Alkoholen umgesetzt werden. O
4R
OR' + 2 Li
C
Ether
AlH4
(R
CH2
Li
O)4Al
+ (R'O)4 Al
Li
Lithiumaluminiumtetraalkanolat
Ester
(R
CH2
O)4
+
Li
OH + 4 RCH2 primärer Alkohol
(R'O)4 Al
+
4 R'OH
+
Li
+
2 AlCl3
8 HCl 2 LiCl
d) Carbonsäuren reagieren ebenfalls mit Lithiumaluminiumhydrid, wobei man über Alkoholate zu primären Alkoholen gelangen kann. Carbonsäuren sind schwache Säuren und spalten Protonen ab. Diese reagieren mit den Hydridionen des Lithiumaluminiumhydrids, wobei H2 gebildet wird. Erst dann reagiert das Anion [AlH4]– mit der Carbonylgruppe und reduziert den Säurerest RCOO– zur Alkoxygruppe RCH2O–. Die Gesamtreaktion kann folgendermaßen formuliert werden: 4 RCOOH + 3 Li
(R
AlH4
CH2
O)4Al
4R
CH2
Li
+ 2 LiAlO2 + 4 H2
Carbonsäure (R
CH2
O)4Al
Li
+ 4 HCl
OH + AlCl3 +
LiCl
primärer Alkohol
Anstelle des Lithiumaluminiumhydrids kann für die Reduktion von Aldehyden, Ketonen und Säurechloriden (R–COCl) auch das Natriumborhydrid NaBH4 verwendet werden. Carbonsäuren und deren Ester reduziert es aber nicht. Die Reduktion mit NaBH4 kann auch in wäßriger Lösung erfolgen. 10.6.2.8 Addition von Grignard-Reagens an Carbonylverbindungen
Grignard-Reagenzien (siehe Abschnitt 2.7.2.2 und 9.4.2) sind in der Synthese sehr vielseitig verwendbar. Gewöhnlich wird für das Grignard-Reagens die Formel RMgX angegeben, obwohl in Lösungen der Grignard-Verbindung folgendes Gleichgewicht angenommen werden muß: 2R
Mg
X
R
Mg
R
+ MgX2
X = Cl, Br oder I
Für die im weiteren zu besprechenden Reaktionen spielt dies aber keine wesentliche Rolle, da beide Verbindungen, das Alkylmagnesiumhalogenid RMgX und das Dialkylmagnesium R2Mg bei der Reaktion mit Carbonylverbindungen zwar unterschiedliche Zwischenprodukte ergeben,
10.6 Synthese der Alkohole
393 R
R' C
+
O
R
Mg
X
R'
C
H
O
Mg
X und
O
Mg
R
H R
R' C
+
O
R
Mg
R
R'
C
H
H
welche aber nach ihrer Hydrolyse zu dem gleichen Alkohol führen. In der Bindung C–Mg im Grignard-Reagens ist der Kohlenstoff der elektronegativere Bindungspartner, so daß die stark polare Bindung heteropolar gespalten wird. Es wird angenommen, daß die Reaktion des Grignard-Reagens mit Carbonylverbindungen über einen cyclischen, viergliedrigen Übergangszustand erfolgt: R'
R
Mg
C
O
X
R'
R
Mg
C
O
X
R R'
H
H
C
O
Mg
X
H
viergliedriger Übergangszustand
In der Literatur findet man aber auch Hinweise, daß bei der Reaktion ein sechsgliedriger Übergangszustand vorliegen könnte, wobei sich an der Reaktion mit der Carbonylverbindung zwei Moleküle des Grignard-Reagens beteiligen. X
X R
O R'
O
X
C
R'
Mg
Mg R
C
R
O
Mg R
R
H
X
Mg
Mg
R' X
H sechsgliedriger Übergangszustand
C
+
R
Mg X
H
a) Mit Formaldehyd und Grignard-Reagens entsteht das Alkoxymagnesiumhalogenid, das nach der Hydrolyse mit Wasser oder Säure einen primären Alkohol bildet. H
R C
Mg O
H
Formaldehyd
X
R
Ether
H
C
R O
Mg
X
H
Alkoxymagnesiumhalogenid
HX
H
C
O
H
+ MgX2
H
primärer Alkohol
Magnesiumhalogenid
b) Alle anderen Aldehyde reagieren mit Grignard-Reagens zu einem Produkt, nach dessen Hydrolyse man einen sekundären Alkohol erhält.
394 R'
10 Alkohole
R
Mg
C
X
R
Ether
O
R'
C
H
R O
Mg
X
HX
H
R'
C
+ MgX2
H
O
H sekundärer Alkohol
Aldehyd
c) Läßt man Grignard-Reagens mit Ketonen reagieren, so erhält man nach Hydrolyse des Produkts einen tertiären Alkohol. R'
R
Mg
C
X
R
Ether
O
R'
C
R''
R O
Mg
X
HX
R''
R'
C
O
+ MgX2
H
R'' tertiärer Alkohol
Keton
d) Mit Ameisensäureester und Grignard-Reagens erhält man nach Hydrolyse des Reaktionsprodukts einen sekundären Alkohol, während das Reaktionsprodukt mit allen anderen Carbonsäureestern ein tertiärer Alkohol ist. Wahrscheinlich entsteht bei der Reaktion der Carbonsäureester mit Grignard-Reagens als Zwischenprodukt ein Keton (mit dem Ameisensäureester ein Aldehyd), das mit einem zweiten Äquivalent Grignard-Reagens weiterreagiert: R' R''
R
Mg
C
O
X
R
Ether
R'
O
C
O
Mg
X
Ether
R C
R''
R'
O
MgX
O
O
R''
Ester R
R
Mg
C
X
O
R
R
Ether
R
C
R'
O
Mg
X
HX
R
C
O
H
+ MgX2
R' tertiärer Alkohol
R'
Bei der Reaktion von Carbonylverbindungen mit Grignard-Reagens kann eine Nebenreaktion erfolgen, bei der ein Alkoxymagnesiumhalogenid und ein Alken entstehen. Man nimmt an, daß die Reaktion über einen cyclischen Übergangszustand verläuft:
R
H
C
C H
R
MgX O
C
C
C
H
H
C
C
MgX O
H R
C H
O
MgX
C
10.6 Synthese der Alkohole
395
10.6.2.9 Die Dihydroxylierung von Alkenen
Die Dihydroxylierung von Alkenen (Reaktionsmechanismen siehe Abschnitt 3.7.5.3) führt zu Glykolen. a) Die anti-Dihydroxylierung
Mit Peroxysäuren, gewöhnlich wird Peroxybenzoesäure verwendet (siehe Abschnitt 3.7.5.3a, 15.4.6.2 und 17.1.3.1c), erfolgt die Dihydroxylierung nach einem anti-Mechanismus. Nach der Hydroxylierung von cyclischen Alkenen mit Peroxysäuren befinden sich die beiden OHGruppen in trans-Stellung zueinander. O
H
OH
C O OH
H H
+
OH
OH OH H
b) Die syn-Dihydroxylierung
Die Dihydroxylierung mit Osmiumtetroxid: Mit Osmiumtetroxid OsO4 und mit Kaliumpermanganat erfolgt eine syn-Dihydroxylierung von Alkenen (siehe Abschnitt 3.7.5.3). Mit OsO4 wird zunächst ein cyclischer Osmiumsäureester erhalten, der als solcher auch isoliert werden kann. Er kann in alkalischer Lösung hydrolysiert werden. Ausgehend vom Cyclohexen gelangt man auf diese Weise zum cis-Glykol.
+ OsO4
Cyclohexen
O O Os H H2O / OH O O H
Osmiumsäureester
OH H OH
+
H2OsO4
H
cis-Cyclohexan-1,2-diol
Der hohe Preis des Osmiumtetroxids schränkt seine Anwendung zur präparativen Darstellung der cis-Glykole ein, doch hat sich die Reaktion von OsO4 mit ungesättigten Verbindungen bei Strukturaufklärungen vielfach bewährt. Die Dihydroxylierung mit Kaliumpermanganat: Die Hydroxylierung mit Kaliumpermanganat führt über einen syn-Mechanismus ebenfalls zum Glykol (siehe Abschnitt 3.7.5.3). Als Zwischenprodukt entsteht ein Manganester, der aber nicht isoliert werden kann und zum Glykol hydrolysiert wird. Mit Kaliumpermanganat wird das Glykol leicht weiteroxidiert, so daß diese Reaktion zur präparativen Darstellung von Glykolen nicht geeignet ist.
396
10 Alkohole
10.7 Reaktionen der Alkohole 10.7.1 Schwach saure Eigenschaften der Alkohole Die OH-Bindung in der Hydroxygruppe des Alkohols ist stark polar. Das Sauerstoffatom als elektronegativerer Bindungspartner zieht die Elektronen an sich und ermöglicht dadurch, ähnlich wie dies beim Wassermolekül der Fall ist, eine Abspaltung des Protons. R
O
H
R
O
H
+
Im Vergleich mit Wasser ist der Alkohol eine schwächere Säure, da der Alkylrest eine elektronenschiebende Wirkung zeigt, die Elektronendichte am Sauerstoff des Alkohols dadurch etwas erhöht und die Polarität der O–H-Bindung, die zur Abspaltung des Protons führt, herabgesetzt wird. Entsprechend seinen sauren Eigenschaften kann in Alkoholen der Wasserstoff durch ein Metall ersetzt werden, und es entstehen salzähnliche Verbindungen, die als Alkoholate bezeichnet werden. Z.B. bilden Alkohole mit Alkali- und Erdalkalimetallen die entsprechenden Alkoholate, wobei Wasserstoff frei wird. 2 R
O
H
Alkohol
+
2 Na
2 R
metallisches Natrium
O
+
Na
Natriumalkoholat
H2
Wasserstoff
Stärkere Säuren können schwächere Säuren aus ihren Salzen freisetzen. Wasser ist in diesem Falle die stärkere Säure, und es setzt aus den Alkoholaten die Alkohole frei. Alkoholate sind deshalb in Wasser nicht beständig. R
O
Na
+
H2O
R
O
+
H
Na
OH
10.7.2 Alkohole als Basen und Nucleophile Verbindungen mit einem freien Elektronenpaar können sowohl als Base als auch als Nucleophil auftreten. Als Base wird eine Verbindung bezeichnet, die mit einem freien Elektronenpaar ein Proton binden kann, z.B.: H
H O
H
O
H
R
H
oder R
Base
R
O
O R
Base
H
10.7 Reaktionen der Alkohole
397
Ein Nukleophil kann ein Molekül oder ein Anion sein, das das Bestreben hat, sich mit dem freien Elektronenpaar an ein Elektrophil (siehe Abschnitt 9.4.4) zu binden: an ein Carbeniumion R3C+ oder an ein C-Atom, das eine positive Teilladung besitzt, z.B.: R Cl
R
C
Cl
R
C
R
Nucleophil
H R
oder
H
O
R
Cl
C H
Elektrophil
δ+
Nucleophil
δ−
H H
O
C
H
+
Cl
H
H
Elektrophil
Der Alkohol hat am Sauerstoffatom der Hydroxygruppe freie Elektronenpaare, und er tritt in beiden Funktionen auf, sowohl als Base als auch als Nucleophil. Als schwache Base kann der Alkohol ein Proton binden, und es entsteht ein OxoniumIon, z.B.: R
H
O
Alkohol
H
Cl
R
+
O
Cl
H Oxonium-Ion
H
Bei der Etherbildung in saurem Medium tritt ein nichtprotoniertes Alkoholmolekül als Nucleophil auf. Es reagiert mit einem Oxonium-Ion, das nach obiger Reaktion im sauren Medium aus dem Alkohol gebildet wurde und elektrophile Eigenschaften hat. Durch die positive Ladung am Sauerstoff des Oxonium-Ions ist die C–O-Bindung stark polarisiert, die Elektronen der Bindung sind zum Sauerstoffatom hin verschoben und das C-Atom trägt eine positive Teilladung. Das (nichtprotonierte) Alkoholmolekül stellt als Nucleophil mit dem am Sauerstoff befindlichen freien Elektronenpaar eine Bindung mit dem Kohlenstoff der Oxonium-Verbindung her, der durch den –I-Effekt der Hydroxoniumgruppe eine positive Teilladung trägt, wobei sich gleichzeitig die OH2+-Gruppe, die eine gute Abgangsgruppe bildet, löst. Aus dem Zwischenprodukt wird ein Proton abgespalten, und es entsteht ein Ether. R' R
O H
H C
O
H H H Alkohol Oxonium-Ion (Nuceophil) (Elektrophil)
H
, 130 °C - H2O
R' R
O H
C H
H
R' R
O
C H
H
+ H
Ether
10.7.3 Basizität und Nucleophilie Nach der Brönstedtschen Auffassung (1923) ist eine Säure eine Substanz, die aus ihrem Molekül ein Proton abspaltet, eine Base hingegen eine Verbindung, die ein Proton zu binden vermag. Die Säure spaltet in wäßriger Lösung ein Proton ab, und dieses wird von einem Wassermolekül gebunden. Die Reaktionsprodukte sind ein Säurerest und ein Hydronium-Ion H3O+. Wasser kann man in diesem Fall als Base betrachten, die das von der Säure abgespaltene Proton aufnimmt. Das entstandene Hydronium-Ion hingegen ist als Säure zu betrachten, denn es kann ein Proton abspalten.
398
10 Alkohole H
H
+
O H Wasser (Base)
H
Cl
O
H
+
H Hydronium-Ion (konjugierte Säure)
Chlorwasserstoff (Säure)
Cl
Chloridion (konjugierte Base)
konjugiertes Säure/Basenpaar konjugiertes Säure/Basenpaar
Bei einer Säure-Base-Reaktion kann man zu der Base eine konjugierte Säure, und zu der Säure eine ihr entsprechende konjugierte Base, auf der anderen Seite der Gleichung finden. H2O ist im obigen Beispiel die Base und H3O+ die ihr entsprechende konjugierte Säure. Der Säure HCl entspricht die konjugierte Base Cl–. In einem Überschuß an Wasser ist HCl vollständig dissoziiert, HCl ist eine starke Säure. Die konjugierte Base Cl– muß demnach eine schwache konjugierte Base sein, denn wäre sie sehr reaktiv, würde sie mit dem HydroniumIon bereitwillig reagieren, wobei wiederum Chlorwasserstoff, also die nichtdissoziierte Säure, entstehen würde. Diese müßte dann in relativ hoher Konzentration vorliegen, was dem Begriff einer starken Säure mit hohem Dissoziationsgrad widerspricht. Allgemein kann man sagen, daß starke Säuren schwache konjugierte Basen, schwache Säuren hingegen starke konjugierte Basen haben. Diese Zusammenhänge bieten ein nützliches Hilfsmittel, um die Basizität von Verbindungen abschätzen zu können. Man darf z.B. annehmen, daß die durch die Abspaltung eines Protons aus Alkoholen entstandenen Alkoholationen relativ starke Basen darstellen, denn Alkohole sind schwächer sauer als Wasser, und ihre konjugierten Basen, nämlich Alkoholate R–O–, müssen demnach starke Basen sein. Eine erweiterte Säure-Base-Theorie ist die von Lewis (1938). Er brachte den sauren und basischen Charakter von Substanzen mit ihrer Elektronenstruktur in Zusammenhang. Säuren sind Substanzen, die als Akzeptoren von Elektronenpaaren auftreten und Basen sind Verbindungen, die ein Elektronenpaar für eine Bindung zur Verfügung stellen können, also Donoren (sie werden auch als Donatoren bezeichnet) eines Elektronenpaares sind (siehe auch die Halogenierung des Benzols, Abschnitt 6.6.1.3). Diese Definition schließt die Brönstedtsche Säure-Basen-Theorie (Wechselwirkung zwischen Elektronenpaar einer Base und einem Proton) als Spezialfall mit ein. Bei dieser Auslegung des Säure/Base-Begriffs kann man z.B. einen Alkohol, der ein Elektronenpaar-Donator sein kann, als Lewis-Base betrachten. Ein Carbeniumion, oder eine Verbindung mit positiver Teilladung am C-Atom, welche beide als Akzeptoren eines Elektronenpaares auftreten können, kann man als Lewis-Säure bezeichnen. Allgemein könnte man Nucleophile als Lewis-Basen und Elektrophile als Lewis-Säuren betrachten und erwarten, daß Nucleophilie und Basenstärke miteinander korrespondieren. Die folgenden Verbindungen haben tatsächlich in Bezug auf ihre Reaktivität als Nucleophil und ihre Basenstärke die gleiche Reihung: O CH3CH2
O
>
H
O
>
O
> H3C
>
C
H2O
O
Ethanolat-Ion
Hydroxid-Ion
Phenolation
Acetation
Wasser
10.7 Reaktionen der Alkohole
399
Diese Parallelität zwischen Basizität und Nucleophilie kann man besonders bei Verbindungen feststellen, die das gleiche nucleophile Atom z.B. O, S oder N haben. In der vorher angeführten Reihe sind es z.B. Verbindungen, in denen der Sauerstoff die nucleophile bzw. basische Funktion ausübt. In vielen Fällen muß man aber feststellen, daß Basizität und Nucleophilie einander nicht entsprechen. Ein Beispiel dafür ist das ambidente Sulfit-Ion. Unter dem Begriff „ambident“ ist zu verstehen, daß sich zwei einander konkurrierende unterschiedliche Zentren im Molekül befinden. Das Sulfit-Ion hat freie Elektronenpaare sowohl am Sauerstoff- als auch am Schwefelatom. Bei der Reaktion des Sulfit-Ions mit einem Proton wird dieses am Sauerstoff unter Bildung eines Hydrogensulfits gebunden, während bei der Reaktion mit Methyliodid der Schwefel ein freies Elektronenpaar für eine S–C-Bindung zur Verfügung stellt, wobei das Methylsulfonat-Ion entsteht.
O O
S
O O
H
O
Sulfit-Ion + Proton Base
O O
S O
O
H
und
Hydrogensulfit-Ion
Säure
H
δ+ C
I
δ−
HH
Sulfition + Methyliodid Nucleophil
S
O O
S O
H
+
C H
I
H
Methylsulfonat-Ion + Iodidion
Elektrophil
Im Sulfit-Ion ist das Sauerstoffatom das stärker basische Atom, während der Schwefel stärker nucleophil ist. Diese Unterschiede sind damit zu erklären, daß bei dem Angriff des Nucleophils auf das Kohlenstoffatom mit der positiven Teilladung auch die Polarisierbarkeit der Elektronenhülle des Nucleophils eine Rolle spielt. Die Außenelektronen des Schwefels sind stärker polarisierbar als die des Sauerstoffs und deshalb für eine Wechselwirkung mit dem C-Atom des Elektrophils, das eine positive Teilladung besitzt, besser geeignet. Pearson unterscheidet entsprechend der Polarisierbarkeit ihrer Außenelektronen harte und weiche Lewis-Säuren und Lewis-Basen. Harte Basen reagieren bevorzugt mit harten Säuren, während weiche Basen wiederum mit weichen Säuren reagieren. Harte Lewis-Säuren haben einen kleinen Ionenradius und wenig Elektronen in den Außenorbitalen des Zentralatoms. Das Proton H+ ist als harte Lewis-Säure aufzufassen, das bevorzugt mit harten Lewis-Basen reagiert. Mit zunehmender positiver Ladung am Kohlen-
400
10 Alkohole
stoffatom nimmt die Härte der Lewis-Säure zu, so daß man Carbeniumionen R3C+ zu den harten Lewis-Säuren zählt. Zu den harten Lewis-Basen gehören z.B. H2O, –OH, F–, CO32–, PO43–, SO42–, CH3COO–, ROH, RO–, Cl–, NH3 und RNH2. Es sind Verbindungen mit einem Atom, dessen Elektronenhülle stark an den Kern gebunden und nicht polarisierbar ist. Weiche Lewis-Säuren sind elektrophile Verbindungen, die auf Grund einer polaren kovalenten Bindung δ+C–Xδ– oder δ+C=O δ– am Kohlenstoffatom eine positive Teilladung aufweisen und bevorzugt mit weichen Lewis-Basen reagieren. Als weiche Lewis-Basen sind Nucleophile zu verstehen, deren Elektronenhülle leicht polarisierbar ist, z.B. die Verbindungen R2S, RSH, RS–, HSO3–, R3P, –CN, I–, R– und H–. Zu den weichen Basen, die zugleich starke Nucleophile sind, gehören Carbanionen, z.B. das Cyanidion und das Acetylidion. I– ist eine weiche Base. Mit abnehmender Deformabilität ihrer Elektronenhülle nimmt die Basenhärte der Halogenidionen über Br– und Cl– zum F– zu, und ihre Nucleophilie wird schwächer. Die unvollkommene Korrelation der Basizität und Nucleophilie ist aus Sicht der bei basischen und nucleophilen Reaktionen entstehenden Bindungen zu verstehen. Bei einem Säure/Base-Gleichgewicht entsteht die Bindung durch Überlappen des Orbitals der Base mit dem kleinen, kompakten 1s-Orbital des Wasserstoffs, während bei einem nucleophilen Angriff auf das C-Atom eines Elektrophils das Orbital mit dem freien Elektronenpaar des Nucleophils im Übergangszustand mit dem größeren und diffuseren Orbital des elektrophilen Kohlenstoffs überlappt. Die Polarisierbarkeit der Elektronenhülle ermöglicht eine bessere Überlappung. Elemente der dritten und vierten Periode mit relativ diffusen freien Elektronenpaaren, die leichter polarisierbar sind, können mit dem Orbital des elektrophilen Kohlenstoffs besser überlappen und sind deshalb nucleophiler als Elemente der zweiten Periode mit vergleichbarer Basizität. Bei Bestimmung der Nucleophilie einiger Nucleophile in wässrigem Medium erhielt Swain und Scott (1953) folgende Reihung: S2O32– (Thiosulfation) > SO32– (Sulfition) > I– > SCN– (Thiocyanation ) > C6H5NH2 > HO– > N3– > Br– > Cl– > CH3COO– > H2O
10.7.4 Umsetzung von Alkoholen zu Alkylhalogeniden 10.7.4.1 Umsetzung zu Alkylchloriden Reaktionen der Alkohole mit Salzsäure. Alkohole reagieren mit Salzsäure zu Alkylchloriden: R
OH
+
H
Cl
R
Cl
+
H2O
Das Chlorid-Ion ist ein relativ schwaches Nucleophil. Primäre Alkohole reagieren deshalb mit konz. Salzsäure, auch in Gegenwart von ZnCl2 als Lewis-Säure, sehr schlecht. Etwas schneller reagieren sekundäre Alkohole und am besten tertiäre Alkohole.
10.7 Reaktionen der Alkohole
401
R1 2
R
C
O
+
H
H Cl
R
2
R3
R1
H
C
O
+
H
Cl
R3 R1
R1 ZnCl2
R2
- H2O
R2
+ Cl
C
C
Cl
R3
R3
Auf Grund der unterschiedlichen Reaktionsgeschwindigkeiten kann man diese nach Lukas benannte Reaktion dazu benutzen, primäre, sekundäre und tertiäre Alkohole zu unterscheiden. Tertiäre Alkohole reagieren, erkenntlich an der Trübung der Lösung, sofort und sekundäre Alkohole erst nach einigen Minuten. Primäre Alkohole reagieren bei Zimmertemperatur nicht. Reaktionen der Alkohole mit PCl3 und PCl5. Die Reaktion von Alkoholen mit Phosphortrichlorid PCl3 zu entsprechenden Alkylhalogeniden erfolgt durch Erhitzen des Reaktionsgemisches und kann wie folgt formuliert werden: 3R
CH2
OH
+
PCl3
3R
CH2
Cl
+
H3PO3
Zunächst wird bei dieser Reaktion der protonierte Dichlorphosphitester gebildet. H R
Cl
C
O
H
H
+
P
H Cl
R
Cl
Phosphortrichlorid
C
O
H
H
PCl2
+
Cl
prot. Dichlorphosphitester +
Die protonierte Dichlorphosphitgruppe – OHPCl2 ist eine gute Abgangsgruppe, so daß sie durch die in der Reaktion gebildeten Chloridionen leicht ersetzt werden kann. Cl Cl
+
O
CH2 R
H
Cl CH2
Cl
P Cl
+
HO
P Cl
R
Dichlorphosphit
Das Dichlorphosphit kann mit dem Alkohol auf folgende Weise weiterreagieren: Cl
Cl CH2 R
O H
+ P OH
Cl
CH2
Cl R
O
P
H
OH
Cl Cl
CH2 +
O
R
H
P OH
402
10 Alkohole OH
OH CH2
+ P
O
R
H
Cl
CH2
Cl R
OH
O
P
H
OH
OH Cl
CH2 +
O
R
H
P OH
phosphorige Säure
Bei der Reaktion von Alkoholen mit Phosphorpentachlorid PCl5 entsteht zunächst das Alkylchlorid und Phosphoroxychlorid POCl3: R
OH +
CH2
PCl5
R
Cl +
CH2
+
HCl
POCl3
Phosphoroxychlorid kann mit Alkohol nach der folgenden Reaktionsgleichung weiterreagieren: 3R
OH + POCl3
CH2
3R
Cl + H3PO4
CH2
Phosphoroxychlorid
Phosphorsäure
Reaktion mit Thionylchlorid. Für die Reaktion der Alkohole mit Thionylchlorid SOCl2 gilt folgende Reaktionsgleichung: R
CH2
+
OH
SOCl2
Pyridin
R
CH2
Cl
+
SO2 +
HCl
Das in die Reaktion eingebrachte Pyridin ist eine Base, die den bei der Reaktion freiwerdenden Chlorwasserstoff zu binden vermag, wobei Pyridinhydrochlorid entsteht. Cl N
Cl
H
N
Pyridin
H
Pyridinhydrochlorid (Pyridiniumchlorid)
Mit Thionylchlorid reagieren Alkohole in Gegenwart von Pyridin zunächst zum Chlorsulfinsäureester. Cl
Cl R
CH2
O H
+
S
O
R
O
S
H
Cl
CH2
O
CH2
Cl
O
Thionylchlorid Cl R
CH2
O H
S Cl
R O
Cl S
H
O
Cl
Chlorsulfinsäureester
10.7 Reaktionen der Alkohole
403
Erfolgt die Reaktion in stark polaren Lösungsmittel mit Pyridin, so wird im weiteren Reaktionsschritt aus dem Chlorsulfinsäureester Cl– freigesetzt, welches dann als Nucleophil die Gruppe C5H5N+SO2 ersetzt: Cl CH2
O
S
Cl
N
R
O
R
CH2
+
CH2 + SO2 +
Cl
O
S
N
O
N
R
In unpolarem Lösungsmittel reagiert der Alkohol mit Thionylchlorid in einer SNi-Reaktion (i = intern) zunächst ebenfalls zum Chlorsulfinsäureester, worauf das sich vom Schwefel lösende Chlor als internes Nucleophil an das Kohlenstoffatom von der Seite herantritt, auf der die sich lösende C–O-Bindung liegt. Die SNi-Reaktion erfolgt unter Retention der Konfiguration am asymmetrischen Kohlenstoffatom (siehe Abschnitt 8.9.3.1): R1
R1
C R H
C
O
2
S
O
2
R
Cl
+
Cl
SO2
H
10.7.4.2 Umsetzung von Alkoholen zu Alkylbromiden Umsetzung mit HBr. Das Bromidion ist ein relativ starkes Nucleophil. Man kann deshalb mit konzentrierter Bromwasserstoffsäure (48 %ig) nicht nur tertiäre und sekundäre Alkohole, sondern auch primäre Alkohole unter Erhitzen des Reaktionsgemisches in Alkylbromide überführen. Br
H R
CH2
O
H
H
R Br
CH2
O
R H
Br
CH2 + H2O
Alkylbromid Die Umsetzung von primären Alkoholen zum Alkylbromid kann auch durch Erhitzen des Alkohols mit KBr und konz. Schwefelsäure erfolgen. Die Schwefelsäure setzt aus dem KBr den Bromwasserstoff frei, und sie bindet außerdem das bei der Reaktion gebildete Wasser. Umsetzung mit PBr3. Mit Phosphortribromid reagieren Alkohole beim Erhitzen nach dem schon bei Umsetzung des Phosphortrichlorids gezeigten Reaktionsmechanismus, wobei das Alkylbromid nach folgender Reaktionsgleichung gebildet wird:
404
10 Alkohole
3 R
CH2
+
OH
PBr3
3 R
+
Br
CH2
H3PO3
10.7.4.3 Umsetzung von Alkoholen zu Alkyliodiden
Die Umsetzung von Alkoholen zu Alkyliodiden erfolgt durch Erhitzen des Alkohols mit Iod und rotem Phosphor. Aus dem Iod und dem roten Phosphor wird dabei das Phosphortriiodid PI3 gebildet, welches mit dem Alkohol reagiert:
3 R
2 P
+
3 I2
OH
+
PI3
CH2
2 PI3 3 R
+ H3PO3
I
CH2
Die Reaktion von Iodwasserstoffsäure mit Alkoholen ist für die Darstellung von Alkyliodiden ungeeignet, da die bei der Reaktion entstandenen Alkyliodide vom Iodwasserstoff HI zum Alkan reduziert werden. R
+
I
CH2
HI
R
CH3
+
I2
10.7.5 Die Dehydratisierung Bei der Dehydratisierung geht es um eine Abspaltung von Wasser aus dem Alkoholmolekül.
R
CH
CH2
OH
H
R
CH
+
CH2
H2O
H
Sie gelingt am leichtesten bei tertiären Alkoholen und ist am schwierigsten mit primären Alkoholen durchzuführen (siehe Abschnitt 3.6.1.3). Primäre Alkohole dehydratisieren nur bei Gegenwart starker Säuren und bei relativ hohen Reaktionstemperaturen (170–200°C). Die Dehydratisierung kann nach dem Eliminierungsmechanismus E1 oder E2 erfolgen (siehe Abschnitt 3.6.2). Die –OH-Gruppe ist eine schlechte Abgangsgruppe, welche für die Dehydratisierung erst durch Protonierung in die leichter abspaltbare Gruppe –+OH2 umgesetzt werden muß. Tertiäre Alkohole reagieren nach dem Reaktionsmechanismus E1:
R2
H
R1
C
C
H
R
3
H O
H
R2
H
R1
H
C
C
O
H
3
R
H
- H2O
R1
H R2
C H
R2
C
H C
3
R
H
R1 C R3
10.7 Reaktionen der Alkohole
405
Primäre Alkohole reagieren nach dem Reaktionsmechanismus E2, wobei nichtprotonierte Alkoholmoleküle die Funktion einer Base ausüben (siehe Abschnitt 10.7.3). R R
CH2
CH2 O
H
H
+
H
C H
H
O
C O
R
Alkohol als Base
C
H
H
H
H H
H
C O
R
H
H
H
protonierter Alkohol als Substrat
E2-Übergangszustand
R
R
CH2
CH2 O
O
H
C
+
C
R
H
H
H
H
+
+ H
H2O
H
Alken
10.7.6 Veresterung von Alkoholen Alkohole reagieren sowohl mit anorganischen als auch mit organischen Säuren, wobei unter Abspaltung von Wasser ein Ester entsteht. H R
R
CH2
CH2
O
O
O
+
H
+
H
R
O
CH2
O
H
O
O
H
O
R1 C
H
H
R
O
CH2
+
Säure
+ H2O O R1
O
+ H2O
C
O
Alkohol
O S
S
O
Ester
+
Wasser
Wird ein primärer Alkohol, der verestert werden soll, mit dem 18O-Isotop markiert, so stellt man fest, daß bei der Veresterung mit anorganischen Säuren das 18O in dem bei der Reaktion gebildeten Wasser zu finden ist, während es bei der Veresterung dieses Alkohols mit einer Carbonsäure in den Ester eingebaut wird:
406
R
10 Alkohole
CH2
18 O
H
+
H
O
R
O
CH2
O
S
R
CH2
18 O
H
+ H218O
O S
H
O
O
+ H
O
R1
H
R
H
O
CH2
18 O
O
R1
C
C
O
O
+ H2 O
Die Reaktionen laufen nach unterschiedlichen Reaktionsmechanismen ab, was die Unterschiede im Verbleib des Isotops 18O zum einen im Ester und zum anderen im Wassermolekül erklärt (vergleichen Sie den bei der Veresterung mit Schwefelsäure in Abschnitt 10.7.6.1 angeführten Reaktionsmechanismus mit dem im Abschnitt 15.4.2.1 aufgezeigten Reaktionsmechanismus der Veresterung primärer Alkohole mit Carbonsäuren). 10.7.6.1 Veresterung mit Schwefelsäure
Läßt man einen primären Alkohol mit einem Überschuß an konz. Schwefelsäure bei 0°C reagieren, erhält man das entsprechende Alkylhydrogensulfat (Schwefelsäuremonoalkylester, Monoalkylsulfat). Mit Methanol entsteht z.B. das Methylhydrogensulfat: 0 °C
OH + H2SO4
H3C
H3C
O
SO3H
+ H2O
Die Natriumsalze von Monoalkylsulfaten mit 10 bis 18 Kohlenstoffatomen in der Kette werden als Tenside verwendet. Sie werden durch Umsetzung der Alkohole mit Chlorsulfonsäure und anschließender Neutralisation erhalten. Cl R
O
H
+
O S
HO
O
- HCl
Chlorsulfonsäure
R
O
SO3H
NaOH
Monoalkylsulfat (Alkylhydrogensulfat)
R
O
SO3 Na
Natriummonoalkylsulfat
Methylhydrogensulfat zerfällt beim Erhitzen im Vakuum zu Dimethylsulfat und Schwefelsäure. Das Dimethylsulfat kann aus dem Reaktionsgemisch im Vakuum abdestilliert werden. 2 CH3O
SO3H
Methylhydrogensulfat
Erhitzen im Vakuum
(CH3O)2SO2
+
H2SO4
Dimethylsulfat
Technisch wird Dimethylsulfat aus Dimethylether und Schwefeltrioxid hergestellt.
10.7 Reaktionen der Alkohole +
(CH3)2O
407 (CH3O)2SO2
SO3
Das Dimethylsulfat (Schwefelsäuredimethylester) ist eine farblose, mit Wasser nicht mischbare, giftige Flüssigkeit, die eingeatmet Verätzungen der Atmungsorgane hervorruft, und auch in die Haut eindringen kann. Man schützt sich mit einer Gasmaske, benetzte Hautstellen reibt man mit verd. Salmiakgeist ein. In der Synthese wird Dimethylsulfat als Methylierungsmittel verwendet, z.B. bei der Methylierung von Aminoverbindungen. Die zu methylierende Verbindung wird in schwach soda-alkalischer Lösung mit Dimethylsulfat vermischt und durch weiteren Sodazusatz dauernd alkalisch gehalten. Bei der Veresterung primärer Alkohole mit Schwefelsäure wird der Alkohol zunächst protoniert, worauf das Hydrogensulfation HSO4– als Nucleophil die Hydroxoniumgruppe H2O+ ersetzt (SN2 -Mechanismus): R O
H
O
+
S O
O
O
R
H
H
C
H
R
S
O O
H
H
O O
H
H
C
O
C
S H
H
O
O O
H O
H + H O 2
H
Bei 0°C erhält man das Monoalkylhydrogensulfat als Hauptprodukt. Mit zunehmender Reaktionstemperatur entstehen Dialkylether (siehe Abschnitt 10.7.2) und Alkene (siehe Abschnitt 3.6.1.3) als weitere Produkte. Läßt man z.B. Ethanol mit konz. Schwefelsäure reagieren, erhält man bei 140°C Diethylether und bei 170°C Ethen als Hauptprodukte. 10.7.6.2 Veresterung mit Salpetersäure
Salpetersäureester (Alkylnitrate) entstehen durch Einwirkung von konz. Salpetersäure auf Alkohole in der Kälte. R
CH2
O
H
+
HNO3
R
Salpetersäure
CH2
O
NO2
+ H2O
Alkylnitrat
Der Alkohol wird zum Teil in einer Nebenreaktion oxidiert, wobei die Salpetersäure zu salpetriger Säure reduziert wird. Diese kann eine explosionsartige Weiteroxidation katalysieren. Um dies zu verhindern, setzt man Harnstoff zu, der sich mit der salpetrigen Säure umsetzt: NH2 O
+
C
2 HNO2
H
3 H2O
+ 2 N2
+ CO2
NH2
Harnstoff
salpetrige Säure
Das Nitroglycerin (Glycerintrinitrat, 1,2,3-Propantrioltrinitrat) wird auf die Weise synthetisiert, daß man Glycerin sukzessive in kleinen Mengen in eine Mischsäure, bestehend aus konz. Salpetersäure und konz. Schwefelsäure (1 : 1 w/w), die 5–7% Schwefeltrioxid enthält, zugibt, und darauf achtet, daß die Reaktionstemperatur 25°C nicht überschreitet.
408
10 Alkohole
CH2
CH
CH2
OH
OH
OH
+ 3 HNO3
H2SO4, SO3, bis 25 °C
CH2
CH
CH2 + 3 H2O
ONO2 ONO2 ONO2
Glycerin
Glycerintrinitrat 1
Das Glycerintrinitrat , das in der Regel als Nitroglycerin bezeichnet wird, ist eine ölige, geruchlose schwach gelbliche Flüssigkeit. Es ist hochexplosiv, explodiert beim Erhitzen, bei Erschütterung, Schlag oder Stoß unter Bildung gasförmiger Produkte: 2 CH2
CH
CH2
6 CO2 + 5 H2O + 3 N2 + 1/2 O2
ONO2 ONO2 ONO2
Die Bezeichnung Nitroglycerin, welche sich eingebürgert hat und durchweg verwendet wird, ist irreführend und eigentlich falsch, denn in einer Nitroverbindung ist der Stickstoff direkt an das Kohlenstoffatom gebunden, während es im vorliegenden Fall über ein Sauerstoffatom an den Kohlenstoff gebunden ist. Es handelt sich also um ein Trinitrat, um einen Ester, keineswegs um eine Nitroverbindung. Das Gleiche gilt für die Benennung der Nitrocellulose (siehe Abschnitt 21.8.1.4), bei der es sich ebenfalls um einen Ester und keineswegs um eine Nitroverbindung handelt. Wegen der gefährlichen Handhabung des Nitroglycerins wird dieses nur in Spezialfällen rein eingesetzt. 75 % Nitroglycerin, 24,5 % ausgeglühter Kieselgur (eine Diatomeenerde) mit 0,5 % Soda können zu einem handhabungssicheren Sprengstoff vermengt werden, der als Dynamit bezeichnet wird. Kieselgur ist ein poröser Feststoff, der das Nitroglycerin aufsaugt. Er dient nur als volumen- und gewichtsvergrößernder Ballast. Die Nitrocellulose wird auf die Weise hergestellt, daß die Hydroxygruppen der Cellulose mit Salpetersäure verestert werden. Dazu wird die Cellulose für einige Minuten in Nitriersäure belassen, bestehend aus 1 Teil konz. Salpetersäure und 2–3 Teilen konz. Schwefelsäure. Dann wird das Reaktionsprodukt mit sodahaltigem Wasser ausgekocht. Bei Herstellung kleiner Mengen genügt es, die Nitrocellulose zum Entfernen der Säuren in fließendem Wasser gut auszuwaschen und sie dann zu trocknen. Die Nitrocellulose, die auch als „Schießbaumwolle“ bezeichnet wird, bildet eine weiße, faserige Masse, die beim Entzünden augenblicklich ohne Rauchentwicklung verbrennt. Man kann sie in Ethanol/Ether (1 : 2 v/v) lösen und bekommt ein gelatineartiges, verformbares Produkt, das zu Plättchen geschnitten als rauchschwaches Schießpulver in Patronen von Handfeuerwaffen gefüllt wird. 10.7.6.3 Ester der Phosphorsäure
Alkohole reagieren mit Phosphorpentoxid P2O5, wobei Monoalkyl-, Dialkyl- und Trialkylphosphate entstehen, z.B.:
1
Glycerintrinitrat wirkt auch gefäßerweiternd und findet in 1%iger ethanolischer Lösung als Medikament bei angina pectoris Verwendung. Bei angina pectoris handelt es sich um eine Verengung der Herzkranzgefäße, die eine ungenügende Sauerstoffzufuhr des Herzmuskels zur Folge hat. Infolge mangelnder Durchblutung kann ein Herzinfarkt eintreten.
10.7 Reaktionen der Alkohole
409 C2H5O
3 C2H5O
C2H5O
O
H + P2O5
P
P
+
C2H5O OH Diethylphosphat
HO OH Monoethylphosphat
C2H5O 3 C2H5O
H
+ P2O5
H3PO4
O
O P
+
C2H5O OC2H5 Triethylphosphat
Zu den Phosphorsäureestern zählen wichtige Naturstoffe. Dazu gehören z.B. Phosphorsäureester des Glycerins, die Phosphatide. Sie sind in die Gruppe der Lipide, zu denen Fette und fettähnliche Verbindungen gehören, einzureihen. In den Phosphatiden ist das Glycerin mit zwei längerkettigen Carbonsäuren (Fettsäuren) und mit Phosphorsäure verestert. Die Phosphorsäure ist außerdem noch mit einem weiteren Alkohol verestert. Handelt es sich bei diesem Alkohol um Ethanolamin, heißt das Phosphatid Kefalin, ist die Phosphorsäure mit Cholin verestert, heißt die Verbindung Lecithin. hydrophobe Ketten O 1
C
O
CH2
R1
C
O
CH
R
O
H2C
HO
CH2CH2
NH2 = Ethanolamin
HO
CH2CH2
N(CH3)3HO
= Cholin
Das Phosphatid mit dem Rest O O
X
P
O
O
X
=
CH2CH2
NH3 ist das Kefalin
Das Phosphatid mit dem Rest X
=
CH2CH2
N(CH3)3 ist das Lecithin
Phosphatid hydrophile Gruppe
Phosphatide sind wichtige Komponenten biologischer Membranen. Die Phosphatidmoleküle, die diese Membran bilden, orientieren sich so zueinander, daß die langen hydrophilen aliphatischen Ketten der Fettsäurekomponenten R1 und R2 im Molekül des Phosphoglyceridesters parallel angeordnet sind und der mit Ethanolamin oder Cholin veresterte Phosphorsäurerest sich als hydrophile Gruppe zur wäßrigen Phase hin orientiert. Indem sich die so gebildete Schicht mit ihren Kettenenden an die Kettenenden einer anderen Schicht ankoppelt, entsteht eine Phosphatid-Doppelschicht, die die Grenzschicht zwischen zwei wäßrigen Lösungen bilden kann (siehe Bild 10.5). Einige Phosphorsäure- und Thiophosphorsäureester sind wirksame Insektizide. Ihre Wirkung beruht auf der Phosphorylierung und Hemmung des Enzyms Acetylcholinesterase. Zu den wirksamsten Insektiziden gehören das E 605 (Folidol, Parathion) und das Systox. Sie sind auch für Warmblüter toxisch.
410
10 Alkohole
Wasser
hydrophobe Kohlenstoffkette
hydrophile Gruppe
Wasser Bild 10.5 Phosphatid-Doppelschicht
CH2CH3
O S
P
O
CH2CH3
S
NO2
O
CH2CH3
O P
O O
E 605 (Diethyl-p-nitrophenylthiophosphat)
CH2CH3 CH2CH2
S
CH2CH3
Systox (Diethyl-2- (ethylmercapto)-ethylthiophosphat)
10.7.6.4 Borsäureester
Borsäureester entstehen bei der Reaktion von Alkoholen mit Borsäure oder Bortrioxid, mit einem Tropfen konz. Schwefelsäure als Katalysator. 6 R
OH
+
B2 O 3
H
2 B(O
R)3
+
3 H2O
Bei Erhitzen von B2O3 mit Methanol bildet sich der flüchtige Borsäuretrimethylester, der mit grüner Flamme brennt. Borsäure reagiert mit cyclischen cis-1,2-Glykolen, wobei ein Komplex entsteht, der den elektrischen Strom besser leitet als Borsäure selbst. Man benutzt diese Reaktion deshalb z.B. um festzustellen, ob bei Zuckern, die in Ringform vorliegen, benachbarte Hydroxygruppen zueinander in cis- oder trans-Stellung sind. Die Reaktion der Borsäure mit cyclischen cis-1,2-Glykolen erfolgt mit 2 Molekülen des Diols, wobei sich an der Veresterung 3 OH-Gruppen beteiligen. Der entstandene Ester stellt eine Lewis-Säure dar. Bor tritt als Akzeptor eines Elektronenpaares auf, wobei der Sauerstoff der OH-Gruppe ein Elektronenpaar zur Verfügung stellt und ein Proton abgespalten wird.
10.7 Reaktionen der Alkohole
411
H OH H O OH + H B OH
H O H B
H O H
O H
O
H HO H - 3 H2O
HO
HO
H H O O H B H O
+H
O
10.7.7 Oxidation von Alkoholen Primäre und sekundäre Alkohole können mit einem Oxidationsmittel, z.B. mit Chromsäure, Dichromat/Schwefelsäure, Salpetersäure, Kaliumpermanganat oder Braunstein, oxidiert werden. Primäre Alkohole werden zunächst zum Aldehyd oxidiert. Der Aldehyd ist aber selbst leicht oxidierbar, so daß die Oxidation weiter bis zur Carbonsäure erfolgt.
R
CH2
OH
O
Oxidationsmittel
R
C
Oxidationsmittel
H Aldehyd
prim. Alkohol
O R
C
OH Carbonsäure
Ist der bei der Oxidation eines primären Alkohols gebildete Aldehyd flüchtig, so kann man ihn isolieren, indem man ihn laufend aus dem Reaktionsgemisch abdestilliert (Ausbeute bis 60 % Aldehyd ). Die Weiteroxidation zur Carbonsäure wird zum Teil unterbunden, wenn man für die Oxidation des primären Alkohols als Oxidationsmittel einen Chromtrioxid-(Pyridin)2-Komplex in wasserfreiem Lösungsmittel oder tert-Butylchromat oder Braunstein in Petrolether oder CCl4 benutzt. Sekundäre Alkohole werden zu den entsprechenden Ketonen oxidiert. R1
OH C
R2
H
sek. Alkohol
Oxidationsmittel
R1 C
O
2
R
Keton
Ketone sind gegen Oxidationsmittel bei milden Reaktionsbedingungen beständig. Für manche Oxidationsreaktionen verwendet man sogar Aceton H3C–CO–CH3 als Lösungsmittel. Tertiäre Alkohole sind bei milden Reaktionsbedingungen gegen Oxidationsmittel beständig. Bei drastischen Reaktionsbedingungen (höhere Reaktionstemperatur, starkes Oxidationsmittel) erfolgt die Oxidation unter Aufspaltung der Kohlenstoffkette.
412
10 Alkohole
Ein häufig benutztes Oxidationsmittel für die Oxidation primärer oder sekundärer Alkohole ist Natrium- oder Kaliumdichromat in saurer wäßriger Lösung. Bei dieser Oxidation greift der Alkohol als Nucleophil die Chromsäure an, und es wird der Chromsäureester gebildet. H H R1
O O
2
R
R
O
O
OH
OH
H
Cr
C
Cr
C R
OH
O
1
R2
H O
R1
O
OH
H
1
OH
O
OH
Cr
C R2
H
H O
Cr
C O
H
R2
OH
H
O
+ H2O + H
O
Chromsäureester
Im nächsten Reaktionsschritt bindet ein Wassermolekül mit einem freien Elektronenpaar des Sauerstoffs ein Proton des Esters, wobei H3O+, HCrO3– und eine Carbonylverbindung entstehen. Das Chrom wird hierbei um zwei Oxidationsstufen reduziert, der sekundäre Alkohol zum Keton oxidiert. R1
O C
2
R
H
OH VI Cr O
C
O
+
2
O
R
O
H
O
O H
H
OH IV Cr O
R1
H
H
In der Literatur findet man auch Hinweise darüber, daß das Proton im zweiten Reaktionsschritt möglicherweise über einen cyclischen Mechanismus auf das Sauerstoffatom der Säurekomponente übertragen wird: R1
O C
2
R
H
OH VI Cr O
OH IV Cr O
R1 C
O
+
2
O
R
H
O
Die vierwertige Chromverbindung ist ein starkes Oxidans, das mit noch nicht umgesetztem Alkohol reagieren kann und dabei zum dreiwertigen Chromoxid Cr2O3 reduziert wird. Eine Disproportionierung der Cr(IV)-Verbindung in eine Cr(III)- und eine Cr(VI)-Verbindung ist ebenfalls möglich.
10.7 Reaktionen der Alkohole
413
10.7.7.1 Beispiel zur Aufstellung einer Redoxgleichung
Als Oxidation ist der Vorgang zu bezeichnen, bei dem eine Verbindung Elektronen abgibt, während bei einer Reduktion eine Verbindung Elektronen aufnimmt. Jede Oxidation eines Stoffes ist von der Reduktion eines anderen Stoffes begleitet. Eine Verbindung gibt Elektronen ab, und eine andere nimmt sie auf. Man bezeichnet Reaktionen dieses Typs als Redoxreaktionen. In der anorganischen Chemie geht man, um das Aufstellen einer Redoxgleichung zu erleichtern, häufig von Teilgleichungen (Halbgleichungen) aus. Gesondert wird in einer Teilgleichung der Oxidationsvorgang und in der anderen der Reduktionsvorgang festgehalten. Da es sich um Gleichungen handelt, muß gewährleistet sein, daß zunächst im linken und rechten Teil der Gleichung die gleiche Anzahl der Elektronen gegeben ist (man zieht die Elektronenbilanz), dann die Ladungen korrespondieren (man zieht die Ladungsbilanz) und schließlich auch die Anzahl der Atomäquivalente links und rechts der Gleichung gleich ist (man zieht die Stoffbilanz). Am Ende fügt man die links vom Reaktionspfeil stehenden Teile der Teilgleichungen und ebenso die rechts stehenden Teile zusammen und erhält die Redoxgleichung. Auf gleiche Weise kann man bei der Aufstellung von Redoxreaktionen mit organischen Stoffen verfahren. In der organischen Chemie stellt man bei dem von der Oxidation bzw. der Reduktion betroffenen C-Atom die Oxidationszahl vor und nach der Reaktion fest und ermittelt die Anzahl der bei der Redox-Reaktion abgegebenen oder aufgenommenen Elektronen. Die Oxidationszahl ist eine formale Zahl, die das Aufstellen von Redoxgleichungen erleichtert. Bei Ermittlung der Oxidationszahl verfährt man so, daß man die zwei Bindungselektronen vollständig dem elektronegativeren Partner zuordnet. Bei gleichen Bindungspartnern, z.B. bei der C–C-Bindung, ordnet man jedem der Partner ein Elektron zu. Als Beispiel wird im Ethanol die Ermittlung der Oxidationszahl des C-Atoms erläutert, das die OH-Gruppe trägt. Im Ethanol liegen an der C–C-Bindung gleiche Atome als Bindungspartner vor. Jedem C-Atom wird ein Elektron der Bindung zugeordnet. Bei den C–H-Bindungen ist der Kohlenstoff der elektronegativere Bindungspartner. Ihm ordnet man deshalb beide Elektronen der C–H-Bindung zu. Bei der C–O-Bindung ist der Sauerstoff der elektronegativere Bindungspartner. Diesem werden deshalb beide Bindungselektronen zugeordnet: H +I
H H3C
C H
O
H
H3C
C -I
-II +I OH
+I+(-II) = -I
H +I
Das Sauerstoffatom behält das Elektron, das es in die C–O-Bindung eingebracht hat, und erhält formal zusätzlich noch ein weiteres Elektron, so daß die gesamte Hydroxygruppe nun ein Elektron mehr hat und damit den formalen Überschuß einer negativen Ladung aufweist. Das elektroneutrale Kohlenstoffatom hat 4 Elektronen in seiner Außenschale. Nach Zuordnung der Elektronen zum jeweils elektronegativeren Partner hat das die Hydroxygruppe tragende C-Atom formal 5 Elektronen. Formal hat es also ein Elektron mehr und damit eine negative Ladung auf der Außenschale. Ihm wird deshalb die Oxidationszahl –1 zugesprochen.
414
10 Alkohole
Weitere Beispiele der Ermittlung der Oxidationszahl eines C-Atoms: H3C
+I H
0 C
H3C
O -I
H3C H
Oxidationszahl 0 Isopropanol
+II C
-II O
H3C
Oxidationszahl +2 Aceton
H3C
+I C
-II O
H3C
+III C
-I O
H +I
Oxidationszahl+1 Acetaldehyd
H
-II O
Oxidationszahl +3 Essigsäure
Man stellt zunächst fest, an welchen Atomen bei der Reaktion eine Veränderung eintritt. An diesen Atomen stellt man die Oxidationszahl fest. Dann stellt man gesondert für den Oxidations- und den Reduktionsvorgang Teilgleichungen auf. Man geht dabei schrittweise vor, indem man a) ermittelt, wieviel Elektronen beim Oxidationsvorgang abgegeben und beim Reduktionsvorgang aufgenommen werden. Die Anzahl der Elektronen wird für beide Teilgleichungen in Übereinstimmung gebracht. Damit zieht man die Elektronenbilanz. b) Die Ladungen müssen auf beiden Seiten der Teilgleichungen ausgeglichen sein, wofür man auf eine Seite der Gleichung bei Bedarf H+ einsetzt, wenn die Reaktion in saurem Medium stattfindet, oder OH–, wenn die Reaktion im basischen Medium erfolgt. Damit zieht man die Ladungsbilanz. c) Links und rechts vom Reaktionspfeil muß die gleiche Anzahl der entsprechenden Atomäquivalente stehen. Berücksichtigt man dies, so zieht man die Stoffbilanz. d) Zuletzt faßt man die vom Reaktionspfeil links stehenden Teile der Halbgleichungen und die rechts vom Reaktionspfeil stehenden Teile zusammen und erhält so die vollständige Redoxgleichung. Das Aufstellen der Redoxgleichung soll anhand eines Beispiels aufgezeigt werden, wobei Isopropanol mit Dichromat zu Aceton oxidiert wird. a) Aufstellen der Elektronenbilanz: H3C 0 OH C
H3C
H3C
H3C
H -2e
Oxidationsvorgang
+II C O
+VI 2 Cr2O7 2 (+VI) = +XII
2 Cr
3
2 (+III) = +VI +6e
Reduktionsvorgang
10.7 Reaktionen der Alkohole
415
Halbgleichungen des Elektronentransfers: H3C
OH
H3C
H
H2C
C H3C
C
+VI 2 Cr2O7
+
6e
+ 2e
O
2 Cr
3
Der Oxidations- und Reduktionsvorgang sind gekoppelt. Es können von der einen Verbindung nur gerade so viele Elektronen aufgenommen werden, wie die andere Substanz Elektronen abgegeben hat. Um eine zahlenmäßige Gleichheit der abgegebenen und aufgenommenen Elektronen sicherzustellen, muß die obere Halbgleichung mit 3 multipliziert werden (für die Reduktion von Cr2O72- zum 2 Cr3+ sind 6 Elektronen notwendig, die aus der Oxidation des Isopropanols zum Aceton erhalten werden). H3C 3
H3C
OH 3
C H3C
O
+ 6e
H3C
H
2 Cr2O7
C
+ 6e
2 Cr
3
b) Aufstellen der Ladungsbilanz: In der oberen Halbgleichung müssen auf der rechten Seite 6 negative Ladungen (6 Elektronen) durch 6 positive Ladungen in Form von 6 H+ ausgeglichen werden. In der unteren Halbgleichung stehen auf der linken Seite der Gleichung 8 negative Ladungen (6 e– und Cr2O72–) und auf der rechten Seite 6 positive Ladungen (2 Cr3+). Zum Ausgleich müssen links 14 positive Ladungen eingesetzt werden, also 14 H+. H3C 3
H3C
OH 3
C H3C
2 Cr2O7
C
O
+ 6e
+
6H
H3C
H
+ 6e
+
14 H
2 Cr
3
c ) Aufstellen der Stoffbilanz: In der vorhergehenden oberen Halbgleichung stimmt die Stoffbilanz. Im rechten Teil der unteren Gleichung fehlen 14 H und 7 O. Deshalb setzen wir dort 7 H2O ein.
416
10 Alkohole H3C
H3C
OH
3
3
C H3C
C
2 Cr2O7
O
+ 6e
+
6H
+
7 H2O
H3C
H
+ 6e
+
2 Cr
14 H
3
d ) Zusammenfassen der beiden linken und der beiden rechten Seiten der Halbgleichungen: In der zusammengefaßten Gleichung separiert man gleiche Ausdrücke auf eine Seite der Gleichung (14 H+ auf der linken und 6 H+ auf der rechten Seite der Gleichung gibt 14 H+ – 6 H+ = 8 H+ auf der linken Seite der Gleichung) bzw. man kürzt, wenn gleiche Ausdrücke in gleicher Anzahl auf beiden Seiten der Gleichung stehen (6e– auf der linken, gegen 6e– auf der rechten Seite der Gleichung). H3C 3
OH C
H3C
+
2
Cr2O7
H3C
+ 8H
3
C
O
+
2 Cr
3
+ 7 H2O
H3C
H
Bei Verwendung von Natriumdichromat in Gegenwart von Schwefelsäure lautet die vollständige Reaktionsgleichung: H3C
OH
H3C
H3C
+ Na2Cr2O7 + 4 H2SO4
C
3
H
C
3
O + Cr2(SO4)3 + Na2SO4 + 7 H2O
H3C
10.7.7.2 Die Alcotest-Probe
Die Alcotest-Probe dient als Vorprobe, mit der bei Verkehrskontrollen und nach Unfällen bei Kraftfahrern durch Untersuchung der Atemluft vorab festgestellt werden soll, ob die Konzentration des Alkohols im Blut einen als rechtserheblich angesehenen Grenzbereich überschreitet oder nicht. Der Alkoholgehalt in der Atemluft läßt Rückschlüsse auf die Alkoholkonzentration im Blut zu, weil der im Blut enthaltene Alkohol aus den Lungenkapillaren in die Lungenbläschen gelangt und es dort zu einem Verteilungsgleichgewicht des Alkohols zwischen Blut und Alveolarluft (Alveolarluft = Luft in den Lungenbläschen) kommt. In dem zum Test benutzten Alcotest-Röhrchen befindet sich zwischen zwei Glaswattepfropfen gekörntes, mit Dichromatschwefelsäure getränktes Silicagel. Beim Test wird über das Alcotest-Röhrchen Atemluft in einen Kunststoffbeutel geblasen. Das Fassungsvermögen des Kunststoffbeutels bedingt das Volumen der eingeblasenen Luft. Enthält die Atemluft Alkoholdämpfe, werden diese durch das Dichromat im Alcotest-Röhrchen über Acetaldehyd bis zur Essigsäure oxidiert. Gleichzeitig wird das sechswertige gelbe Chrom zum grünen dreiwertigen Chrom reduziert: 3 C2H5OH + 2 K2Cr2O7 + 8 H2SO4
(gelb)
3 CH3COOH + 2 Cr2(SO4)3 + 2 K2SO4 + 11 H2O
(grün)
10.7 Reaktionen der Alkohole
417
Kunststoffbeutel Mundstück
Alkoteströhrchen
Markierung Dichromatschwefelsäure Bild 10.6 Das Alcotest-Röhrchen
Liegen in der ausgeatmeten Luft Alkoholdämpfe vor, so verfärbt sich also die Reaktionszone des Alcotest-Röhrchens in Strömungsrichtung von gelb nach grün. Überschreitet die grün verfärbte Zone die Meßmarke des Alcotest-Röhrchens, deutet dies auf eine Blutalkoholkonzentration hin, die über der gesetzlich zugelassenen Norm liegt, und die untersuchte Person muß sich einer Blutentnahme unterziehen. Mit einer genaueren Methode (z.B. dem Head-Space-Verfahren der Gaschromatographie) wird dann der genaue Alkoholgehalt im Blut bestimmt. 10.7.7.3 Die oxidative Spaltung von Glykolen
Der Name „Glykol“ ist eine Sammelbezeichnung für zweiwertige Alkohole. Liegen benachbarte (lat.= vicinale) Hydroxygruppen vor, so erfolgt mit Periodsäure HIO4 oder mit Bleitetraacetat Pb(OOC–CH3)4 eine Oxidation unter Bildung von Carbonylverbindungen als Oxidationsprodukte. Cis-Diole lassen sich bereitwilliger oxidieren als trans-Diole, so daß man für beide Oxidationsreaktionen einen Reaktionsmechanismus annimmt, der über ein cyclisches Zwischenprodukt verläuft. Beide Reaktionen wurden zur Konstitutionsaufklärung mehrwertiger Alkohole oder Zucker herangezogen. Die Oxidation mit Periodsäure ist eingehend untersucht worden, sie erfolgt über die Bildung eines cyclischen Diesters der Periodsäure: R1 R2
C
OH
R3
C
OH
H
R1
R1
+ HIO4
- H2O
R2
C
O
R3
C
O
H
O
I
O O
H
R2
C
O
R3
C
O
+ HIO3
H
Die Oxidation mit Bleitetraacetat (Criegee-Spaltung) erfolgt bei Raumtemperatur in Benzol oder verd. Eisessig nach folgender Reaktionsgleichung:
418
10 Alkohole O R1
1
C
O
R
CHOH
R2
CHOH
+ Pb(O
C
CH3)4
O H
verd. CH3COOH
H R2
C
+ Pb(O
C
CH3)2
+ 2 CH3COOH
O
10.7.7.4 Die Swern-Oxidation
Mit Dimethylsulfoxid (DMSO) und Oxalylchlorid werden bei tiefen Temperaturen primäre Alkohole zu Aldehyden und sekundäre Alkohole zu Ketonen oxidiert. Dimethylsulfoxid ist das Oxidationsmittel, das bei der Reaktion zu Dimethylsulfid reduziert wird. Die Reaktion erfolgt im basischen Medium.
Zunächst reagieren Dimethylsulfoxid und Oxalylchlorid zu einem Sulfoniumsalz als Zwischenprodukt, das mit dem Alkohol unter Abspaltung von HCl, Kohlenmonoxid und Kohlendioxid zum Dimethylalkoxysulfoniumchlorid umgesetzt wird. Dieses spaltet im basischen Medium HCl ab und es entstehen die Reaktionsprodukte Dimethylsulfid und ein Aldehyd.
10.7 Reaktionen der Alkohole
419
10.7.8 Die reduktive Desoxidierung von Alkoholen Die reduktive Desoxidierung von Alkoholen zum Alkan gelingt mit Hilfe der BartonMcCombie-Reaktion. Alkohole reagieren in Lauge mit Schwefelkohlenstoff zum NatriumO-alkyldithiocarbonat, das mit Methyliodid in O-Alkylmethyldithiocarbonat umgesetzt wird (siehe auch Abschnitt 3.6.1.7). Die als Ester gebundene Alkoholkomponente kann dann mit Tributylzinnhydrid bis zum Alkan reduziert werden. S R
CS2 NaOH OH - H2O
Alkohol
H3C
C R
O
S Na
Natrium-O-alkyldithiocarbonat
- NaI
AIBN Bu3SnH
S
I
C R
O
S
Methyl-O-alkyldithiocarbonat
Anmerkung: Dithiocarbonate können auch als Xanthogenate bezeichnet werden.
RH + COS + CH3SSnBu3
CH3
Alkan Kohlen- Methyltributyloxidsulfid zinnsulfid
AIBN = Azobisisobutyronitril Bu3SnH = Tributylzinnhydrid (Tributylstannan) Bu = CH3CH2CH2CH2-
Reaktionsmechanismus
Die Umsetzung des O-Alkylmethyldithiocarbonats (auch als O-Alkylmethylxanthogenat bezeichnet) zum Alkan erfolgt in einer radikalischen Reaktion mit Azobisisobutyronitril, das durch Zerfall in Radikale die Reaktion initiiert, und mit Tributylzinnhydrid, das ein Tributylzinnradikal bildet und auch als Überträger von atomarem Wasserstoff auftritt. 1.) Start der Radikalreaktion Sie wird ausgelöst durch den Zerfall des Azobisisobutyronitrils in Stickstoff und in Isobutyronitrilradikale. Diese reagieren mit Tributylzinnhydrid, wobei das Isobutyronitril (2Methylpropannitril) und das Tributylzinnradikal entstehen.
2.) Kettenreaktion Das Tributylzinnradikal ist ein Thiophil und deshalb erfolgt der Angriff dieses Radikals am doppelt gebundenen Schwefelatom des O-Alkylmethyldithiocarbonats. Im weiteren Schritt kommt es zu einer Radikalfragmentierung, wobei ein Alkylradikal entsteht und ein Zwischenprodukt gebildet wird, das zu Kohlenoxidsulfid und Tributylzinnmethylsulfid zerfällt.
420
10 Alkohole
Tributylzinnhydrid reagiert mit dem Alkylradikal, wobei das Alkan als Reaktionsprodukt gebildet wird. Außerdem entsteht das Tributylzinnradikal, das wieder in den weiteren Cyclus der Kettenreaktion eintritt.
10.7.9 Die Mitsunobu-Reaktion In der Mitsunobu-Reaktion wird in Gegenwart von Diethylazodicarboxylat (DEAD) und Triphenylphosphan in primären und sekundären Alkoholen die Hydroxylgruppe durch ein Nucleophil ersetzt. In dieser Reaktion reagieren die Alkohole mit Carbonsäuren zu Estern, mit Phenolen zu Ethern und mit Phthalimid zum N-Alkylphthalimid. Voraussetzung ist, dass die mit dem Alkohol reagierende Verbindung saure Eigenschaften aufweist, weil im Reaktionsverlauf ein Phosphonium-Zwischenprodukt protoniert werden muß. Phenole sind deshalb als Reaktionspartner des Alkohols zur Bildung eines Ethers geeignet, Alkohole nicht.
10.7 Reaktionen der Alkohole
421
Bei dieser Reaktion ist es besonders wichtig, dass in optisch aktiven sekundären Alkoholen die Hydroxygruppe des Alkohols unter Inversion durch das Nucleophil ersetzt wird. Die Reaktion findet Anwendung in der Naturstoffchemie. Reaktionsmechanismus
Triphenylphosphan reagiert mit Diethylazodicarboxylat zu einem Zwischenprodukt, das Alkohol deprotonieren kann, so dass ein Alkoholation gebildet wird.
Das Alkoholation reagiert mit der Hydrazophosphoniumverbindung und durch Zerfall des Zwischenprodukts entstehen das Alkyltriphenylphosphoxoniumion und das Diethylhydrazodicarboxylatanion. Letzteres deprotoniert die Carbonsäure zum Carbonsäureanion
Das Carbonsäureanion greift das Alkyltriphenylphosphoxoniumion in einer SN2-Reaktion von rückwärts an, so dass Triphenylphosphanoxid entsteht und unter Inversion der Ester gebildet wird.
422
10 Alkohole
10.8 Alkoholische Getränke In der Bundesrepublik Deutschland ist gesetzlich festgelegt, daß der Alkohol in alkoholischen Getränken nur durch alkoholische Gärung hergestellt werden darf. Die alkoholische Gärung ist ein Prozeß, bei dem Zucker unter Einwirkung von Hefe in Ethanol und Kohlendioxid umgesetzt wird (siehe Abschnitt 21.6.7.6).
C6H12O6
Hefe
2 C2H5OH
+
2 CO2
Der für den Gärungsprozeß notwendige Zucker kann auch aus stärkehaltigen Produkten gewonnen werden.
10.8.1 Bier Bier ist ein schwach alkoholisches Getränk, das aus stärkehaltigen Rohstoffen durch deren Spaltung in Zucker und nachfolgender alkoholischer Gärung hergestellt wird. Im Jahre 1516 wurde von Wilhelm IV., Herzog von Bayern, das Reinheitsgebot verordnet. Dieses besagt, daß Bier ausschließlich aus Malz, Hopfen, Hefe und Wasser zu brauen ist. Das Reinheitsgebot ist die älteste, noch heute in der Bundesrepublik Deutschland gültige Lebensmittelverordnung. Zur Bierbereitung wird in der Bundesrepublik ausschließlich Gerstenmalz, bei obergärigem Bier auch Weizenmalz verwendet. 10.8.1.1 Die Malzbereitung
„Hopfen und Malz, Gott erhalt's“ ist der fromme Spruch der Bierbrauer, denn beide, Hopfen und Malz, sind wichtige Rohstoffe für die Herstellung des Bieres. Malz wird vorzugsweise aus zweizeiliger, nickender Sommergerste (Hordeum distichum nutans) hergestellt. Die in der Gerste enthaltene Stärke ist als solche nicht vergärbar, sie muß zu vergärbarem Zucker abgebaut werden. Dies geschieht mit Hilfe von Enzymen, die bei der Malzbereitung beim Keimen des Gerstenkorns gebildet bzw. aktiviert werden. Der Abbau der Stärke erfolgt zum geringeren Teil schon während der Malzbereitung, hauptsächlich aber später beim Brauprozeß. Sortierung. Für die Malzbereitung wird die Gerste gereinigt und nach Größen sortiert. Körner unter 2 mm werden nicht vermälzt. Die Sortierung in Fraktionen ist nötig, weil kleine Körner schneller Wasser aufnehmen und ankeimen. Die Weiche. Zum Keimen muß die Gerste einen bestimmten Wassergehalt haben. Darum wird sie in „Weichstöcke“ gebracht. Dies sind Bottiche mit Wasserzu- und -ableitungen, einem konischen Auslauf und einer Einrichtung zur Druckbelüftung. Das Weichverfahren besteht aus mehrmaligem Wechsel zwischen Wasser- und Luftweiche. Das Keimgut wird bei der Wasserweiche im Wasser belassen. Für die Luftweiche tropft das Wasser ab und das Keimgut bleibt feucht an der Luft liegen. Vielfach wird anstelle der geschilderten
10.8 Alkoholische Getränke
423
klassischen Luft-Wasser-Weiche die Rieselweiche benutzt, wobei ein über dem Weichbottich rotierender Berieselungsarm das Weichgut aus feinen Düsen bespritzt. Nach 1½–2 Tagen, wenn der Wassergehalt des Gerstenkorns auf 45 % gestiegen ist, wird die Weiche beendet. Das Keimen der Gerste erfolgt bei 12–20°C im Keimkasten, der einen gelochten Boden hat, durch den Luft strömt. Das Keimgut wird mit spiralförmigen Wendern gelockert, gehoben und gewendet. Der Keimprozeß ist nach 7 bis 8 Tagen beendet, wenn der Wurzelkeim die ein- bis zweifache Länge und der Blattkeim 3/4 der Kornlänge erreicht hat. Das Produkt heißt Grünmalz. Beim Keimen der Gerste werden drei wichtige Enzymgruppen gebildet: Amylasen (Amylum = Stärke), die die Stärke zu Dextrinen und bis zur Maltose abbauen können, Proteinasen, die Eiweiße in lösliche Spaltstücke und teilweise sogar bis zu Aminosäuren spalten können, und schließlich Phosphatasen, die Phosphate aus Phosphorsäureestern freisetzen können. Der Eiweißabbau setzt bereits während des Mälzens ein, wobei 45 % des Gesamteiweißes zu löslichen Spaltstücken abgebaut werden. Der Abbau der Stärke erfolgt während des Keimens nur geringfügig. Amylasen werden durch Kochen zerstört, sie vertragen aber trockene Hitze besser und verlieren deshalb beim nachfolgenden Darren ihre Wirksamkeit nicht. Das Darren. Das Grünmalz wird in 0,6–1 m Schichtdicke auf einer Horde ausgebreitet. Die Horde besteht aus einem Drahtgeflecht oder einem Blech mit gelochtem oder geschlitztem Boden. Von unten bläst ein Druckventilator warme Luft durch das aufgeschichtete Grünmalz. Dieses wird bei 40°C zunächst auf 8 % Wassergehalt getrocknet, dann wird die Temperatur der durchströmenden Luft auf 85–95°C, bei Malz für dunkle Biere sogar auf 105°C erhöht. Aus dem Grünmalz entsteht auf diese Weise das Malz. Die Keime werden in der Entkeimungsmaschine entfernt. Etwa noch anhaftende Wurzelkeime und abstehende Spelzenteile werden mit Hilfe eines Bürstensystems entfernt („poliert“). Die Absenkung des Wassergehalts durch den Darrprozeß auf 3–5 % macht das Malz haltbar. Bei den höheren Temperaturen im Darrprozeß erfolgt durch Reaktion reduzierender Zucker mit niedermolekularem Eiweiß (Maillard-Reaktion) die Bildung von Melanoidinen (Dunkelstoffen), welche das Malzaroma bedingen. Die Maillard-Reaktion erfolgt übrigens auch bei der Krustenbildung beim Brotbacken. 10.8.1.2 Die Würzebereitung Das Schroten des Malzes. Beim Schroten werden die Malzkörner bei weitgehender Schonung der Spelzen (sie werden im Läuterprozeß noch gebraucht) zerkleinert. Das Schroten erfolgt in Schrotmühlen gewöhnlich mit drei Walzenpaaren. Das erste besorgt den Vorbruch. Auf einem Siebsatz werden Spelzen, Grieße und Mehl getrennt. Die Spelzen bleiben auf dem obersten Sieb liegen und laufen in das zweite Walzenpaar ein, wo sie von Mehlkörperteilen befreit werden. Der Grieß wird dem dritten Walzenpaar zugeführt und intensiv gemahlen. Die Schrotfraktionen werden zusammengefaßt und dem Maischprozeß zugeführt.
424
10 Alkohole Braugerste
Sortierzylinder
Rauch
Futtergerste
Silo
gekeimte Gerste Darre
Wasser Heißluft
Weiche Ventilator Luft
Wasser Ventil
Staub Entkeimung
Luft Kühler
zur Entstaubung Brauerei
Heizung
Malzkeime
Keimkasten
Wasser
Malz
Bild 10.7 Die Malzbereitung
a) Das Maischen
Im Maischprozeß werden Malzbestandteile in Wasser gelöst. Unlösliche Bestandteile werden durch Enzymwirkung in lösliche Spaltprodukte überführt. Die Malzstärke wird in diesem Prozeß durch Enzyme (α- und β-Amylase) in vergärbare Zucker gespalten. Der wichtigste Bestandteil des Malzes ist für den Brauprozeß die Stärke, die ein Makromolekül ist, das aus Glucoseeinheiten (α-glycosidisch verknüpft, siehe Abschnitt 21.3.4.1 und 21.8.1.1) aufgebaut ist. Die Stärke setzt sich zusammen aus der Amylose, deren Glucosebausteine eine unverzweigte Kette bilden, und dem Amylopektin, in dem die Glucosebausteine auch als Seitenketten angeordnet sind. Die Amylose wird im Wasser kolloidal gelöst, während das Amylopektin nur gallertartig aufquillt. Im Verlaufe des Maischprozeßes werden einige Enzyme wirksam. Bei etwa 50°C erreichen Proteasen und Phosphatasen das Optimum ihrer Wirksamkeit. Proteasen spalten Eiweiße und verhindern damit die Trübung des Bieres durch Ausflocken von höhermolekularen Eiweißen. Die Phosphatasen spalten Phosphorester, wodurch die Konzentration an Phosphaten in der Würze stark zunimmt. Dies beeinflußt den pH-Wert der Würze und ist für den später stattfindenden Gärungsprozeß wichtig, da bei der alkoholischen Gärung Phosphorylierungen eine bedeutsame Rolle spielen. Die für den Maischprozeß wichtigsten Enzyme sind die stärkespaltenden Enzyme, die Amylasen.
10.8 Alkoholische Getränke Dextrin
Maltose CH2OH O O
HO
CH2OH O O
425
CH2OH O O
β-Amylase
CH2OH O O
CH2OH O O
CH2OH O O
CH2OH O O
CH2OH O O
CH2OH O O
CH2OH O O
CH2OH O O
CH2OH O O
CH2OH O O
CH2OH O O
CH2OH O O
CH2OH CH2OH O O O CH2OH CH2OH O O O O
O CH2OH O O
CH2OH O O
CH2OH O O
α-Amylase
Bild 10.8 Die hydrolytische Spaltung des Amylopektins mit α- und β-Amylase
Die α-Amylase, auch Dextrinogen- oder Endo-Amylase genannt, wird erst während des Keimprozeßes gebildet. Sie spaltet das Stärkemolekül von innen her zu größeren Bruchstücken mit 6 bis 7 Glucoseeinheiten, die als Dextrine bezeichnet werden. Der optimale Wirkungsbereich der α-Amylase liegt bei 70–75°C. Sie wird erst bei über 80°C inaktiviert. Die β-Amylase, auch saccharogene Amylase genannt, ist bereits im ruhenden Gerstenkorn vorhanden und wird beim Keimen lediglich aktiviert. Sie spaltet das Stärkemolekül vom Kettenende her, wobei Maltose als Spaltstück entsteht, ein aus zwei Glucoseeinheiten bestehender vergärbarer Zucker. Die β-Amylase entfaltet ihre optimale Wirkung bei 60– 65°C, sie wird aber schon bei 70°C inaktiviert. Das Infusionsverfahren (siehe Bild 10.10) wird beim Brauen von Pils- und Exportbieren angewendet. Der Maischprozeß erfolgt in der Maischpfanne, die einen mit Heizdampf beheizbaren Mantel besitzt. Das Einmaischen erfolgt bei 53–59°C . Danach wird aufgeheizt und bei 60–65°C, einer Temperatur bei der die β-Amylase eine optimale Wirkung entfaltet, eine Rast eingelegt. Dann wird bis auf eine Temperatur von 70°C weiter aufgeheizt. Bei dieser Temperatur, bei der die α-Amylase optimal wirksam ist, wird wiederum eine Rast eingelegt, worauf die Maische noch weiter bis auf 74°C aufgeheizt wird. Nach erfolgtem Maischprozeß wird die Maische in den Läuterbottich abgepumpt. Das Verfahren mit Teilmaischen (siehe Bild 10.9). Ideal wäre ein Maischprozeß, bei dem die Malzstärke zunächst durch die α-Amylase in Dextrine aufgespalten würde, die dann von der β-Amylase von beiden Kettenenden her zur Maltose abgebaut werden könnten. Das Erwärmen der gesamten Maische auf 70°C, bei der die α-Amylase die optimale Wirksamkeit entfaltet, führt aber zur starken Schädigung der β-Amylase, so daß diese ihre Wirksamkeit verliert. Das Problem läßt sich lösen, indem man mit Teilmaischen arbeitet. Für das Brauen von Bockbieren, die eine intensivere Verzuckerung der Malzstärke erfordern, wendet man das aufwendigere, aber für die Verzuckerung wirksamere Verfahren mit Teilmaischen an. Zum Unterschied zum Infusionsverfahren, bei dem man nur die Maischpfanne einsetzt, wird für dieses Verfahren ein nicht beheizbarer Maischbottich und die mit Wasserdampf beheizbare Maischpfanne benutzt. Im Maischbottich erfolgt das Einmaischen bei 50°C. Aus ihm wird ein Teil der Maische in die Maischpfanne abgezogen. Die abgezogene Teilmaische wird auf 70–75°C erwärmt. Bei dieser Temperatur ist die α-Amylase optimal wirksam, wobei die Malzstärke in Dextrine gespalten wird. Danach wird die in der Maischpfanne befindliche Maische zur besseren Extraktion der Dextrine noch gekocht und die Kochmaische zu der im Maischbottich verbliebenen Maische, die intakte β-Amylase enthält, zurückgeführt. Die Maische im Maischbottich wird durch Rückführung der heißen Teilmaische auf die für die Wirksamkeit der β-Amylase optimale Temperatur von 60°C gebracht, so daß die Dextri-
426
10 Alkohole
Malz
Anschwänzwasser
Waage Walzenpaar
Schrotmühle
Siebsätze
Läuterbottich
Aufhack- und Austreibermaschine
Dunstkamin
Spelzen Malztreber (Viehfutter)
Wasser Maische
Läutergrant Maischbottich
Rücklauf
Hopfen Pumpe
Kochmaische
Würzpfanne
Maischpfanne Heizdampf Rührer
zur WürzeAufbereitung
Bild 10.9 Die Würzebereitung mit Teilmaischen
ne zu Maltose gespalten werden können. Das Abziehen einer Teilmaische kann wiederholt werden. Nach der Anzahl der aus dem Maischbottich in die Maischpfanne gezogenen Teilmaischen unterscheidet man Ein-, Zwei- und Dreimaischverfahren. b) Das Läutern
Nach dem Maischprozeß wird die Maische in den Läuterbottich gebracht, in dem ihr flüssiger Anteil (die Würze) vom festen Anteil (dem Treber) getrennt werden. Der Bottich hat einen geschlitzten Boden, der die Funktion eines Siebs hat. Auf ihn setzt sich der hauptsächlich aus Spelzen bestehende Malztreber ab, der als Filtermaterial wirkt. Soweit sich die Spelzen noch nicht genügend abgesetzt haben, ist die Würze trüb (Trübwürze) und wird von oben wieder in den Läuterbottich zurückgeleitet. Später läuft klare Würze, die Vorderwürze, durch den Läuterboden ab. Dieser hat mehrere Anstiche, durch die die Vorderwürze in den Läutergrant gelangt, wo sie vor dem Ableiten in die Würzepfanne gesammelt wird. Nachdem die gesamte Würze abfiltriert wurde, wird auf die Treberschicht heißes Wasser gespritzt (es wird „angeschwänzt“), damit keine Würze im Treber verbleibt. Während des Filterns verdichtet sich die Treberschicht und wird undurchlässig. Der Läuterbottich ist deshalb mit einer Aufhackmaschine ausgerüstet. Sie besteht aus 2 bis 4 Armen, die um eine mittlere Achse drehbar und mit senkrecht stehenden Messern verbunden sind. Sie hacken und lockern den Treberkuchen auf. Die Aufhackmesser können um 90° gedreht werden und schie-
10.8 Alkoholische Getränke
Malz
Waage
Walzenpaar Siebsätze
427
Würzpfanne
Hopfen
Schrotmühle Heizdampf
Dunstkamin
Anschwänzwasser
Kochmaische
Wasser
Rührer
Heizdampf
Plattenkühler
Rührer Aufhack- und Austreibermaschine
Kompressor
Whirlpool CO2 Bierfilter
zur Abfüllung
Maischpfanne
Lagertank
Kühlflüssigkeit
Läuterbottich Spelzen Malztreber
CO2Wäscher
Flotationsbecken Gärbottich
Läutergrant Pumpe
Luft Kühlflüssigkeit
Bild 10.10 Der Brauprozeß (mit Infusionsverfahren)
ben dann den ausgelaugten Treber der Austreberluke zu. Der Treber wird als Viehfutter verwendet. c) Das Würzekochen
In der Würzepfanne wird die Würze 1,5 bis 2 Stunden mit Hopfen (150–500 g/100 L) gekocht. Der Hopfen wird heute kaum mehr in Form von ganzen Hopfendolden zugegeben, sondern entweder zerkleinert und zu Pillen (pellets) gepreßt oder in Form von Hopfenextrakt. Die Inhaltsstoffe des Hopfens (Gerbstoffe, Bitterstoffe und Hopfenöle) gelangen beim Würzekochen in die Würze und die Hopfenbitterstoffe werden isomerisiert. Die Hopfenbitterstoffe Humulon, Cohumulon und Adhumulon, bzw. deren Isomerisierungsprodukte beim Würzekochen, verleihen dem Bier den bitteren Geschmack und tragen zur Haltbarkeit des Bieres bei. Die Hopfen- und Malzgerbstoffe koagulieren höhermolekulares Eiweiß. Durch das Kochen wird die Würze sterilisiert, noch intakte Enzyme zerstört und die durch das Anschwänzen verdünnte Würze wieder auf die erforderliche Konzentration eingeengt. Der Hopfen (Humulus lupulus L.) ist eine rechtswindende Schlingpflanze, männliche und weibliche Blüten befinden sich an verschiedenen Pflanzen. Angebaut werden nur weibliche Pflanzen. Hauptanbaugebiete sind das Saazer Land (Tschech. Republik) und die Hallertau (Autobahn Nürnberg-München). Die als Hopfendolde (Zapfen wäre richtiger) bezeichnete etwa 2,5 cm große weibliche Blüte ist zapfenähnlich. Unter den Hopfenblättern befindet sich das goldgelbe Hopfenmehl, auch Lupulin genannt, das Bitterstoffe, die Öle und einen Teil der Gerbstoffe enthält. Zu den Hopfenbitterstoffen gehören das Humulon und Lupulon (Das Lupulon selbst ist nicht bitter und unlöslich, für den Brauprozeß deshalb von geringer Bedeutung, nur die aus ihm bei der Lagerung durch Luftoxidation entstandenen β-Weichharze
428
10 Alkohole
sind bitter und löslich.). Die Bitterstoffe haben bakteriostatische Eigenschaften, sie wirken als Sedativum (Beruhigungsmittel) und als Diureticum (harntreibend). Die Hopfenöle sind geruchsintensiv und mehr oder weniger flüchtig. Ihr Hauptbestandteil ist das cyclische Sesquiterpen Humulen. Während des Würzekochens verflüchtigt sich ein Großteil der Hopfenöle, deshalb wird oftmals nachgehopft, das heißt gegen Ende des Kochens wird nochmals etwas Hopfen zugegeben. CH3
H3C
O
OH
H3C C
CH2
C
CH
CH3
O
CH3
OH R1
H3C
R2
CH2CH
C CH3
CH3
Humulen
Hopfenbitterstoffe Cohumulen: Humulon (α-Säure): Adhumulon: Lupulon (β-Säure):
1
R = –OH, R2 = –CH(CH3)2 R1 = –OH, R2 = –CH2CH(CH3)2 R1 = –OH, R2 = –CH(CH3)(C2H5) R1 = – CH2CH=C(CH3)2, R2 = –CH2CH(CH3)2
10.8.1.3 Die Nachbereitung der Würze Das Abtrennen des Hopfentrebers und des Heißtrubs. Erfolgte das Hopfen der Würze mit ganzen Hopfendolden, muß der Hopfentreber (ausgelaugter Hopfen) mit Hopfenseparatoren abgetrennt werden. Dies sind schräge Siebe, die den Hopfentreber zurückhalten, die Würze aber abtropfen lassen. In der Hopfenpresse wird die noch im Hopfentreber enthaltene Würze ausgepreßt. Die Hopfenseparatoren und die Hopfenpresse entfallen, wenn man den Hopfen bei der Würzebereitung, wie heute üblich, in Form von Pellets oder Hopfenextrakt zugegeben hat. In der Würze befindet sich der Heißtrub (auch Grobtrub genannt), das sind die beim Kochen der Würze durch Koagulation ausgeschiedenen Stoffe (hauptsächlich Eiweiße). Der Heißtrub wird im Wirbelbottich (Whirlpool) abgetrennt. Dies ist ein nach unten zu konisch verengter Bottich, in den die Würze tangential einfließt. Durch die Rotationsbewegung setzen sich der Heißtrub und die Rückstände aus den Hopfenpellets in der Mitte ab, und die Würze wird über Anstiche abgezogen. Das Würzekühlen und das Abtrennen des Kühltrubs. Die Würze wird in Plattenkühlern zunächst auf 20°C, dann auf die Anstelltemperatur von 5°C abgekühlt. Bei dieser Temperatur fällt der Kühltrub (bei der niedrigen Temperatur ausgeschiedenes Eiweiß) flockig aus. Er kann in einem Flotationsbecken abgetrennt werden, das einen fein gelöcherten Boden hat, durch den Luft hindurchgepreßt wird. Der Kühltrub wird von den nach oben steigenden Luftbläschen mitgerissen und bildet eine kompakte Schaumdecke. Beim Abpumpen der Würze verbleibt sie im Bottich. Infolge des Durchgangs der Luft durch die Würze wird diese mit Sauerstoff angereichert.
10.8 Alkoholische Getränke
429
10.8.1.4 Die Gärung, Lagerung und Bierabfüllung
Bei der Gärung werden Zucker durch die Enzyme der Hefe zu Alkohol und CO2 umgesetzt (siehe Abschnitt 10.8 und 21.6.7.6). Die Würze wird mit obergäriger oder untergäriger Hefe vergoren, je nachdem welche Biersorte gebraut wird. Untergärige Hefen, die gegen Ende der Gärung zu Boden sinken, werden für Pils und Export, obergärige Hefen, die während der Gärung nach oben steigen, werden z.B. zum Brauen von Alt, Kölsch, Berliner Weisse und Malzbier eingesetzt. Die Hauptgärung erfolgt im Gärbottich nach Zugabe der Brauhefe und dauert 7 bis 10 Tage. Mit untergäriger Hefe wird bei 5°C zur Gärung angestellt, die Temperatur steigt während der Gärung auf 7–9°C. Zur Vermeidung eines weiteren Temperaturanstiegs wird die Würze mit Kühlschlangen gekühlt. Der Gärprozeß mit obergäriger Hefe vollzieht sich bei 14–20°C. Die Nachgärung, die Lagerung und das Abfüllen des Bieres. Die Nachgärung schließt an die Hauptgärung an. Die Hefe aus der Hauptgärung wird abgezogen und durch eine kleine Portion neuer Hefe ersetzt. Bei einer Temperatur von 20°C erfolgt die Nachgärung. Bei der Nachgärung tritt eine Reifung und eine weitere Anreicherung des Bieres mit CO2 ein. Das Bier wird anschließend gefiltert und in Drucktanks gepumpt, die sich im Lagerkeller befinden, wo die weitere Reifung des Bieres erfolgt. Dort wird das Bier bei –2 bis +3°C 3–4 Wochen gelagert. Das Abfüllen in Fässer oder Flaschen geschieht so, daß in dem zu füllenden Gefäß vor dem Füllen der gleiche Druck erzeugt wird, unter dem auch das abzufüllende Bier steht. 10.8.1.5 Biersorten
Nach der Vergärung mit ober- bzw. untergäriger Hefe unterscheidet man ober- und untergärige Biere und nach der Stammwürze Einfach- (2–2,5 % Stammwürze), Schank- (7–8 %), Voll- (11–14 %) und Starkbiere (über 16 %). Der Alkoholgehalt des Bieres in % beträgt, grob geschätzt, etwa 1/3 des Stammwürzegehalts. Als Stammwürze werden die in der Bierwürze (vor der Gärung) befindlichen nicht flüchtigen Anteile bezeichnet (z.B. Dextrine, Maltose, Eiweiße und Hopfenbitterstoffe). Pils ist ein untergäriges, stark gehopftes, helles Vollbier (ca. 4,5 % Alkohol). Export ist ein helles oder dunkles untergäriges Vollbier, relativ schwach gehopft (ca. 5 % Alkohol). Bockbier ist ein unter- oder obergäriges, helles oder dunkles Starkbier (ca. 6 % Alkohol). Alt ist ein obergäriges, stark gehopftes dunkles Vollbier. Kölsch ist ein obergäriges, stark gehopftes helles Vollbier. Weizenbier ist ein helles obergäriges Voll- oder Starkbier, CO2-reich, weist manchmal durch Flaschengärung einen Hefebodensatz bzw. eine Trübung auf. Berliner Weisse ist ein CO2-reiches obergäriges helles Schankbier mit säuerlichem Geschmack durch zusätzliche Milchsäuregärung verursacht, es wird oft mit Himbeersaft genossen. Malzbier ist ein obergäriges dunkles Vollbier, schwach vergoren, es hat daher einen hohen Zuckergehalt und ist alkoholarm (1,5–2 % Alkohol). Oft wird es noch mit Couleur (durch Erhitzen gebräunter Zucker) angefärbt. Alkoholfreies Bier enthält unter 0,5 % Alkohol. Man kann es herstellen, indem man die Gärung abbricht, oder durch Fallstromvakuumdestillation, wobei das Bier als dünner Film an einer Platte herunterrieselt, und der Alkohol im Vakuum auf Grund seines im Vergleich zu Wasser niedrigeren Siedepunktes abdestilliert wird. Nach der Destillation wird CO2 unter Druck in das Bier eingeleitet. In einer Apparatur kann man mit der Fallstromvakuumdestillation etwa 20 hL/h Bier erzeugen. Eine weitere Methode ist die Umkehrosmose mit semipermeablen Membranen.
430
10 Alkohole
10.8.2 Weine Nach dem 1969 erlassenen Weingesetz ist Wein das aus dem Saft frischer Weintrauben hergestellte Getränk, das durch alkoholische Gärung mindestens 55 g Alkohol im Liter enthält und dessen Kohlensäuredruck bei 20°C 2,5 bar nicht übersteigt. Weißweine werden aus hellen Traubensorten z.B. aus Riesling, Silvaner, Müller-Thurgau (benannt nach Professor Müller aus Thurgau), Traminer und Morio-Muskat hergestellt. Zur Herstellung von Rotweinen werden rote bzw. blaue Traubensorten vergoren, z.B. der blaue Spätburgunder (Pinot noir), Trollinger und Bordeaux-Reben. Weine haben einen Alkoholgehalt von 6–12 %, bei südländischen Weinen ist der Alkoholgehalt höher z.B. Malaga 10–14 %, Samos 11–15 % und Sherry 12–19 %. Die Weinlese. Als Weinlese wird das Ernten der Weintrauben bezeichnet. Diese werden mit der Traubenschere vom Stock geschnitten, in Plastikwannen gesammelt und mit dem Traktor zur Kelter gebracht. Die Kelterung. Unter Kelterung versteht man das Zerquetschen und Auspressen der Weinbeeren. Das Wort Kelter kommt vom lateinischen calcare = treten, denn im Mittelalter wurden die Trauben mit den Füßen zerstampft. Heute erfolgt das Zerquetschen der Trauben in Traubenmühlen, wodurch die Zellen zerreißen, so daß der Saft leichter austreten kann. Die erhaltene Maische wird mit Horizontalspindelpressen ausgepreßt. Der abfließende süße Traubensaft wird als Most, die festen Preßrückstände als Treber oder Trester bezeichnet. Der Treber wird als Viehfutter verwendet. Im Unterschied zum Weißwein, bei dem der Treber vor dem Gärprozeß vom Most abgetrennt wird (um das Lösen von Gerbstoffen aus dem Treber zu verhindern), wird er im Rotwein zunächst im Most belassen, damit der rote Farbstoff der Schalen vom im Gärungsprozeß entstandenen Alkohol gelöst werden kann. Werden die Schalen der roten Trauben frühzeitig entfernt, entsteht der Rosé-Wein. Die Mostbehandlung. Mit Trubschleudern (Zentrifugen) oder mit Hilfe von Kieselgurfiltration wird der Most entschleimt und zur Haltbarkeitserhöhung geschwefelt. Dies geschieht entweder mit SO2 oder durch Zugabe von Kaliumpyrosulfit K2S2O5. Zur Entfernung unliebsamer Geruchs- und Geschmackstoffe kann der Most gegebenenfalls mit Aktivkohle behandelt werden. Die Weingärung. Die Gärung kann durch die an der Beerenoberfläche haftenden Hefen erfolgen. Es werden aber zumeist Reinhefen zugegeben, die hohe Alkoholausbeuten sichern, gegen SO2 unempfindlich sind und den Wein geschmacklich verbessern. Durch Zugabe relativ großer Ansätze edler Hefen zum Most werden schädliche Pilze und Hefen (z.B. Apiculatushefen und Kahnpilze) verdrängt. Die Gärtemperatur wird bei Weißwein auf 12–14°C, bei Rotwein auf 17–25°C gehalten. Die Hauptgärung läuft in 5–8 Tagen ab. Die Nachgärung erfolgt im Weinkeller in Fässern, wo er bei 9°C einige Wochen bis einige Monate gelagert wird. Bei der Lagerung entwickeln sich Aromastoffe (als „Bukett“ oder „Blume“ des Weines bekannt), die Hefe setzt sich und Weinstein wird abgeschieden. Weinstein ist das saure Kalisalz der L-Weinsäure, das Kalium-(L)-hydrogentartrat (L-Weinsäure siehe Abschnitt 8.7.1 und 15.7.1.6).
10.8 Alkoholische Getränke
431
Güteklassen der Weine
Seit 1971 muß in der Bundesrepublik Deutschland auf jeder Weinflasche die Güteklasse ausgewiesen sein. Grundsätzlich wird der Wein im Drei-Güteklassen-System eingestuft: Tafelwein, Qualitätswein und Qualitätswein mit Prädikat. Tafelwein ist ein leichter Wein, der gesetzlich festgelegte Mindestvoraussetzungen erfüllen muß. Qualitätswein hat eine amtliche Prüfnummer, er stammt aus einem bestimmten Anbaugebiet.
An Qualitätsweine mit Prädikat werden höchste Ansprüche gestellt, die Trauben dürfen nur aus einem eng begrenzten Bereich stammen. Folgende Prädikate werden vergeben: Kabinett
– die Weinlese darf nicht vor der Hauptlesezeit begonnen werden, er muß ein Ausgangsmostgewicht von 70 Grad Öchsle aufweisen. Die Öchslegrade beziehen sich auf die Dichte des Mosts und geben somit auch Aufschluß über seinen Zuckergehalt.
Spätlese
– die Trauben müssen voll reif sein, sie werden später als üblich geerntet, oft erst im November.
Auslese
– vollreife Trauben werden ausgelesen und gesondert gekeltert.
Beerenauslese
– es werden besonders gut gereifte und edelfaule Beeren gekeltert.
Trockenbeerenauslese – nur edelfaule, eingeschrumpfte Beeren werden verwendet. Eiswein
– wird aus gefrorenen Beeren hergestellt.
Im allgemeinen werden Weine mit wenig Restzucker als „trocken“ oder „halbtrocken“, solche mit höherem Zuckergehalt als „lieblich“ bezeichnet. Obst- und Beerenweine
Aus dem ausgepreßten Saft verschiedener Obstsorten oder Beeren (z.B. Äpfel, Birnen, Johannisbeeren, Himbeeren, Heidelbeeren) kann man Obst- und Beerenweine mit oder ohne Zusatz von Reinhefen und Wasser durch Vergärung des Mosts herstellen. Bei Obstweinen ist die günstigste Gärtemperatur 12–15°C, bei Beerenweinen, die mit Reinzuchthefe vergärt werden, 15–25°C. Es empfiehlt sich die Zugabe von Kaliumpyrosulfit (0,1 g/L) und für das Wachstum der Hefe einen kleinen Zusatz von Ammoniumphosphat. Zur Herstellung von Johannisbeerwein z.B. wird 1 L Saft nach Zugabe von 1,5 L Wasser und 330 g Zucker mit Portweinhefe vergoren. Sekt
Sekt (Schaumwein) wird aus Jungwein unter Zugabe von 24–26 g/L Zucker und Reinzuchthefe hergestellt. Die Gärung erfolgt bei 15–18°C, die Lagerung bei 8–10°C. Die Gärung kann mehrere Monate dauern, die Lagerung 3–5 Jahre. Der CO2-Druck steigt auf 4–5 bar. Nur Sekt aus dem Gebiet der Champagne darf als Champagner bezeichnet werden.
432
10 Alkohole
10.8.3 Alkoholdestillate Bei der alkoholischen Gärung erhält man Getränke mit höchstens 20 % Alkoholgehalt. Will man höher konzentrierte alkoholische Getränke herstellen, muß man die durch Vergärung erhaltenen alkoholhaltigen Flüssigkeiten noch destillieren. Der Vorlauf (etwa 10 % des Destillats) enthält Methanol und wird verworfen. Die höhersiedenden Fuselöle werden zum Destillationsende als Nachlauf abgetrennt. Weinbrand wird durch Destillation von Wein in mit Dampf beheizten Blasenapparaturen gewonnen. Billigere Weinbrandsorten werden 1–5 Jahre, Spitzenweinbrand wird 20 und mehr Jahre in Eichenfässern gelagert. Aus dem Eichenholz der Fässer werden Stoffe ausgelaugt, die zum Geschmack des Weinbrands beitragen (z.B. Flavanole, Gerbsäure, Vanillin). Das Eichenholz gewährt außerdem eine Transparenz für Luft, so daß auch Oxidationsprozeße bei der Lagerung stattfinden können. Nach der Lagerung wird der Weinbrand mit Wasser auf Trinkstärke verdünnt. Weinbrand muß mindestens 38 Vol% Alkohol haben. Nur Weinbrand aus der Region Cognac darf die Bezeichnung Cognac führen. Whisky ist ein Kornbranntwein aus Gerstenmalz und/oder ungemälztem Getreide. Guter Whisky soll mehrere Jahre in alten Eichenfässern lagern. Wodka ist ein Kornbranntwein, billige Sorten sind Kartoffelbranntweine. Gin, Genever, Steinhäger sind Branntweine, die durch Destillation von vergorenem Malz und Roggen unter Zusatz von Wacholderbeeren (zur Aromatisierung) hergestellt wurden. Calvados ist ein Apfelbranntwein. Sliwowitz ein Zwetschenbranntwein.
Als Obstler werden in Österreich Obstbranntweine bezeichnet. Rum ist das Destillat aus vergorener Zuckerrohrmelasse, vergorenem Zuckerrohrsirup oder vergorenem Zuckerrohrsaft. Liköre sind stark zuckerhaltige alkoholische Getränke mit 20–60 % Alkoholgehalt, die Fruchtsäfte, Gewürzeextrakte, Kräuterauszüge, Essenzen oder andere Aromastoffe enthalten. Zu den Likören zählen z.B. Früchte-, Beeren- und Kräuterliköre, Kaffee-, Schokoladen- und Eierlikör.
Übungsaufgaben
433
Übungsaufgaben ? 10.1 Schreiben Sie die Strukturformeln folgender Verbindungen auf: a) Isopropylalkohol b) sek.-Butanol c) tert.-Butanol d) Neopentylalkohol e) Benzylalkohol f) Allylalkohol g) Ethylenglykol h) Glycerin
? 10.2
Welcher von diesen Alkoholen ist ein primärer, ein sekundärer oder ein tertiärer Alkohol? CH3
CH2OH H 3C
CH3CHCH3 OH
a)
C
CH3
OH
b)
c)
? 10.3 Geben Sie die Wertigkeit folgender Alkohole an: a) Ethylalkohol b) Ethylenglykol c) Glycerin
? 10.4
Vervollständigen Sie die Reaktionsgleichung und benennen Sie das Produkt. H , 60°C CH3CH2OH + CH3CH2COOH
? 10.5 (2S)-2-Brom-2-phenylbutan wird in einer SN1-Reaktion mit verdünnter Natronlauge umgesetzt. Schreiben Sie die Reaktionsgleichung auf und zeichnen Sie die chemischen Formeln in der stereochemisch richtigen Form. Welche Konkurrenzreaktion zur SN1-Reaktion kann man erwarten?
? 10.6 Ethanol wird mit Schwefelsäure a) bei 0°C, b) bei 130°C und c) bei 180°C umgesetzt. Schreiben Sie die Reaktionsmechanismen bei jeder der drei chemischen Reaktionen auf.
? 10.7 Wie reagiert Natrium mit einem Alkohol?
? 10.8 Welche Produkte erhält man bei der Oxidation a) eines primären und b) eines sekundären Alkohols in saurer Lösung mit Kaliumdichromat?
? 10.9 Peroxybenzoesäure reagiert mit Cyclopenten und das Reaktionsgemisch wird danach unter Erwärmen mit einigen Tropfen Mineralsäure versetzt und erwärmt. Schreiben Sie die Reaktionsgleichungen dieser Reaktionen auf und benennen Sie die Endprodukte.
434
10 Alkohole
Lösungen ! 10.1 Nachfolgend die Strukturformeln und Namen der gefragten Alkohole: CH3 CH3CH2CHCH3
CH3CHCH3 OH
c) tert.-Butanol
CH2OH
CH3
CH2OH H 2C
CH2OH
d) Neopentylalkohol H 2C
CH3
OH
b) sek.-Butanol
CH3 C
C
OH
a) Isopropylalkohol
H 3C
H 3C
CH2
OH OH
g) Ethylenglykol
e) Benzylalkohol H 2C
H C
C
H
f) Allylalkohol
CH2
OH OH OH
h) Glycerin
! 10.2 Im primären Alkohol bindet das C-Atom, das die Hydroxygruppe trägt einen einzigen Alkylrest, im sekundären Alkohol sind es zwei und im tertiären Alkohol drei Alkylreste. Anstelle der Alkyl- können es auch Arylreste sein. CH3
CH2OH H 3C
CH3CHCH3 OH
a) sekundärer Alkohol
C
CH3
OH
b) primärer Alkohol
c) tertiärer Alkohol
! 10.3 Die Wertigkeit der Alkohole wird durch die Anzahl der Hydroxygruppen bestimmt. H 2C CH3CH2OH
a) einwertiger Alkohol
OH
CH2 OH
b) zweiwertiger Alkohol
H 2C OH
H C
CH2
OH
OH
c) dreiwertiger Alkohol
Lösungen
435
! 10.4 Es handelt sich bei der säurekatalysierten Reaktion des Alkohols mit der Carbonsäure um eine Veresterung. Ethanol reagiert mit der Propionsäure bei saurer Katalyse zum Ethylpropionat (Ethylpropanat): H , 60°C CH3CH2OH + CH3CH2COOH
CH3CH2COOCH2CH3 + H2O
Den Reaktionsmechanismus der säurekatalysierten Veresterung finden sie in Kapitel 15.4.2.1
! 10.5 Bei der Reaktion des (2S)-2-Brom-2-Phenylbutan mit verdünnter Natronlauge nach dem SN1-Reaktionsmechanismus entstehen zwei enantiomere Alkohole, das Produkt bildet ein Racemat: Br
CH3 CH2CH3
CH3 CH2CH3
2
CH2CH3
OH
CH3 OH +
+ 2 NaOH
(2S)-2-Phenylbutanol-2
2 NaBr
(2R)-2-Phenylbutanol-2
Die SN1-Reaktion steht außerdem mit der E1-Reaktion in Konkurrenz, so dass noch das entsprechende Eliminierungsprodukt, das 2-Phenylbuten-2, als Nebenprodukt erwartet werden kann, bei höherer Reaktionstemperatur kann es sogar das Hauptprodukt bilden.
! 10.6 a) Die Reaktion des Ethanols mit Schwefelsäure bei 0°C erfolgt nach einem SN2-Mechanismus. Der Alkohol wird zunächst protoniert, worauf das Hydrogensulfation als Nucleophil über einen Übergangszustand die Hydroxoniumgruppe ersetzt, das Reaktionsprodukt ist das Ethylhydrogensulfat: H H
H
CH3 O
C
H H
O
CH3
CH3
H
SO3H
C
H H
O
H
H
O
δ+
H
H
C
δ+
H O
H
H – H 2O H3CH2C
SO3H
SO3H O
SO3H
O
+H
CH2CH3
436
10 Alkohole
b) Die Reaktion des Ethanols mit Schwefelsäure bei 130°C erfolgt ebenfalls nach einem SN2-Mechanismus, nur dass bei dieser Reaktion ein nicht protoniertes Alkoholmolekül als Nucleophil die Hydroxoniumgruppe ersetzt, das Reaktionsprodukt ist der Diethylether: H H
O
C
H
H
CH3 H
CH3
O
CH2CH3
C
H
H
CH3
H O
O
δ+
C
H
H
O
CH2CH3
H H
H
– H2O
H
δ+
H
H 3C C
O
O
CH2CH3
H3CH2C
CH2CH3
+ H
H H
c) Die Reaktion des Ethanols bei 180°C erfolgt nach dem E2-Mechanismus, die Reaktionsprodukte sind Ethen, Schwefelsäure und Wasser: H
H H
O
H C
H
H C
C H
H
H
H
O-SO3H
+ H2O
O
H
H
H
C H
C H
O-SO3H
H
C
H H
+ H2SO4
! 10.7 Natrium reagiert mit Alkohol unter Freisetzung von Wasserstoff zum entsprechenden Alkoholat: 2 RCH2 OH + 2 Na
2 RCH2 O
Na + H2
! 10.8 Bei der Oxidation von primären Alkoholen mit Kaliumdichromat in saurer wässriger Lösung ist das Endprodukt die entsprechende Carbonsäure, bei der Oxidation von sekundären Alkoholen entsteht ein Keton und Tertiäre Alkohole sind bei milden Reaktionsbedingungen gegen Oxidationen weitgehend beständig.
Lösungen
437
! 10.9 Cyclopenten reagiert mit Perbenzoesäure unter Epoxidbildung: O
O C
C
+
O
OH
OH
+
OH
Im sauren Medium erfolgt eine Aufspaltung des Epoxids unter Bildung der entsprechenden trans-Glygole. Die Endprodukte sind das (1R), (2R)-Cyclopentandiol und das (1S), (2S)Cyclopentandiol. Diese Verbindungen stehen zueinander in enantiomerem Verhältnis. OH
2
O
H / H 2O
H H OH (1R,2R)-Cyclopentan-1,2-diol
H
+
OH OH H (1S,2S)-Cyclopentan-1,2-diol
11 Phenole Als Phenole bezeichnet man aromatische Hydroxyverbindungen, deren OH-Gruppen direkt an einen Kohlenstoff des aromatischen Ringes gebunden sind. Je nach Anzahl dieser an den aromatischen Ring gebundenen Hydroxygruppen unterscheidet man ein-, zwei- und dreiwertige Phenole.
11.1 Nomenklatur der Phenole Die Bezeichnung Phenol wird sowohl für das Hydroxybenzol, als auch als Sammelnamen für Verbindungen gebraucht, die eine Hydroxygruppe an den aromatischen Ring gebunden haben. Das Phenol selbst bildet die Stammsubstanz, von der die Namen verschiedener phenolischer Verbindungen abgeleitet werden: OH
OH
OH
OH Cl
Phenol
NO2
NO2 2,4-Dinitrophenol
N(CH3)2 p-Dimethylaminophenol
o-Chlorphenol
Bei phenolischen Säure- und Carbonylverbindungen wird die OH-Gruppe mit dem Präfix Hydroxy- bezeichnet.
HO
O
H
C
O SO3H
C
OH m-Hydroxybenzoesäure
HO OH p-Hydroxybenzaldehyd
OH
3,5-Dihydroxybenzolsulfonsäure
A. Wollrab, Organische Chemie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-45144-7_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
438
11.1 Nomenklatur der Phenole
439
Es gibt viele phenolische Verbindungen mit Trivialnamen. Einwertige Phenole: OH
OH
OH
OH
CH3
COOH
CH3 CH3
o-Kresol
m-Kresol
p-Kresol
OH O2N
Salicylsäure
OH OH
NO2
NO2
α-Naphthol
Pikrinsäure
β-Naphthol
Zweiwertige Phenole: OH
OH
OH
OH
OH
Brenzcatechin
OH Hydrochinon
Resorcin
Dreiwertige Phenole: OH
OH
OH
OH
OH
OH
Pyrogallol
HO
OH
HO
Phloroglucin
OH
OH OH Hydroxyhydrochinon
COOH Gallussäure
440
11 Phenole
11.2 Eigenschaften der Phenole Phenole sind kristalline Verbindungen mit charakteristischem Geruch. Sie können Wasserstoffbrücken ausbilden und haben deshalb im Vergleich mit anderen Aromaten relativ hohe Schmelz- und Siedetemperaturen (für Phenol Schmelztemp. 43°C und Siedetemp. 182°C). Die Wasserstoffbrückenbildung erklärt auch die Löslichkeit des Phenols in Wasser (bei Zimmertemperatur lösen sich 6,7 g Phenol in 100 mL Wasser). Die anderen Phenole sind aber in Wasser weit weniger löslich. Enthält ein Phenol in ortho-Stellung zur Hydroxygruppe eine OH-, NO2- oder Formylgruppe, können infolge der günstigen räumlichen Anordnung beider Gruppen intramolekulare Wasserstoffbrücken entstehen, es werden Chelate gebildet. Von Chelaten (griech. chele = Krebsschere) spricht man, wenn bei einer Verbindung mit einer N–H- oder O–H-Bindung mit Hilfe einer intramolekularen Wasserstoffbrücke oder bei einem Metallkation durch eine Komplexbindung (Wechselwirkung zwischen freiem Elektronenpaar eines Atoms und dem Metallkation) ein Ring gebildet wird, in dem das Wasserstoffatom mit der positiven Teilladung oder das Metallkation sozusagen „in die Zange genommen werden“. O
C H
δ-
H δ+ O Chelat des o-Hydroxybenzaldehyds
Orthosubstituierte Phenole, die solche Chelate bilden können, sind flüchtiger als die entsprechenden meta- und para-Derivate. Man erklärt dies damit, daß diese Phenole infolge der intramolekularen Wasserstoffbrückenbildung keine Assoziate mit Hilfe von intermolekularen Wasserstoffbrücken bilden. Phenole selbst sind farblos, sie werden aber leicht oxidiert und sind durch Spuren von Oxidationsprodukten gefärbt. Zum Beispiel färbt sich Phenol an der Luft rosa. Phenol und Kresole haben eine bakterizide Wirkung und können als Desinfektionsmittel eingesetzt werden, was jedoch dadurch beschränkt wird, daß Phenol ätzend auf Haut und Schleimhäute wirkt. Früher wurde Phenol unter der noch von Runge stammenden Bezeichnung „Carbolsäure“ in Krankenhäusern als Desinfektionsmittel verwendet. Phenol ist giftig. Nach Einnahme von kleinen Mengen Phenol treten Krämpfe auf, es kommt zu Temperatursturz und Bewußtlosigkeit, und es kann eine Nierenentzündung eintreten. Auch das Einatmen von Phenoldämpfen kann schon Vergiftungserscheinungen zur Folge haben (Ohrensausen, Schwindel, Erbrechen, Schlaflosigkeit).
11.3 Verwendung Phenol ist ein wichtiges technisches Ausgangsprodukt. Die größten Mengen Phenol werden zur Herstellung von Phenolharzen und für die Erzeugung von ε-Caprolactam gebraucht. ε-Caprolactam bildet den Ausgangsstoff zur Herstellung hochmolekularer Polyamidfasern
11.4 Verfahren zur Phenolherstellung
441
(siehe Abschnitt 17.4.3.6). Phenol dient außerdem als Ausgangsstoff zur Herstellung von Farbstoffen. Hydrochinon und Brenzcatechin werden in der Photographie zum Entwickeln von Filmen verwendet. β H2C γ H2C δ H2C
α CH2
O
C ε CH2
N
H
ε-Caprolactam
11.4 Verfahren zur Phenolherstellung Bei der technischen Synthese des Phenols geht man in jedem Fall vom Benzol aus. a)
Phenol-Synthese über das Chlorbenzol. Im Raschig-Hooker-Verfahren wird Benzol durch Oxychlorierung in Chlorbenzol umgewandelt (siehe Abschnitt 6.6.1.3), Cl
2
+ 2 HCl
+
1
/2 O2
240 °C, CuCl2/FeCl3
+ H2O
2
welches bei 425°C mit überhitzten Wasserdampf am SiO2-Kontakt zu Phenol hydrolysiert wird. Cl
OH
+ H2O (Dampf)
425 °C, SiO2
+ HCl
Chlorbenzol kann auch mit Hilfe des Dow-Verfahrens zu Phenol umgesetzt werden (siehe Abschnitt 6.6.4). b) Phenolsynthese über die Benzolsulfonsäure. Die Sulfonierung des Benzols erfolgt mit konz. Schwefelsäure oder Oleum bei 110–130°C. Das Reaktionsgemisch wird mit NaOH neutralisiert. SO3H
+ H2SO4
110-130 °C
SO3Na
NaOH
+ H2O
- H2O
Benzolsulfonsäure
Natriumbenzolsulfonat
Die Alkalischmelze des Natriumbenzolsulfonats (des Natriumsalzes der Benzolsulfonsäure) mit NaOH bei 320–340°C führt zum Natriumphenolat. Das Phenol wird aus dem Reaktionsgemisch mit SO2 freigesetzt.
442
11 Phenole SO3Na
+
ONa
Δ
2 NaOH
Natriumbenzolsulfonat
+
H2O
+
Na2SO3
Natriumphenolat
ONa
OH
+ H2O
+
SO2
+
NaHSO3
Phenol
c) Das Hock-Verfahren. Nach diesem Verfahren wird Cumolhydroperoxid zu Phenol und Aceton umgesetzt. Etwa 90 % des gesamten Synthese-Phenols wird nach dem Hock-Verfahren gewonnen. Man geht bei der Synthese vom Benzol aus, das nach Friedel-Crafts (siehe Abschnitt 13.3.1.3) mit dem aus dem Crackprozeß aus Erdölfraktionen stammenden Propen alkyliert wird. Im UOP-Verfahren (Pacol-Olex-Prozeß) wird Benzol in der Gasphase mit Bortrifluorid BF3 als Lewis-Säure und Promotor (Aktivator und Beschleuniger) und einem Phosphorsäure/Siliziumdioxid-Komplex als protonenliefern-den Katalysator mit Propen umgesetzt. Neuerdings wird Zeolith (Alkali- bzw. Erdalkali-Aluminiumsilikate mit Hohlräumen im Kristallgitter) als Katalysator eingesetzt. Es wird Cumol gebildet, das mit Sauerstoff und Mn- oder Cu-Salzen als Katalysator bei 120°C zum Cumolhydroperoxid oxidiert wird (über den Reaktionsmechanismus siehe Abschnitt 2.9.3.1) O H H3C
+ CH3
CH
CH2
C
BF3
H
O CH3
H3C
C
CH3
O2
Cumol
Cumolhydroperoxid
Die protonenkatalysierte Hock-Spaltung des Cumolhydroperoxids erfolgt mit 2 %iger Schwefelsäure bei 60 °C oder mit 40 %iger Schwefelsäure bei 50 °C. Cumolhydroperoxid wird in dem sauren Medium protoniert. Das protonierte Peroxid spaltet Wasser ab, und es entsteht eine Verbindung mit einem Elektronensextett am Sauerstoff. Es erfolgt eine Umlagerung, wobei sich die Phenylgruppe unter Mitnahme beider Bindungselektronen löst und an den Sauerstoff bindet. Nach der anionoiden Umlagerung liegt ein Carbeniumion vor, an das Wasser angelagert wird. Nach Deprotonierung der Gruppe H2O+– liegt ein Halbacetal vor (siehe Abschnitt 13.4.2.2). Dieses wird im sauren Medium zu Aceton und Phenol gespalten.
11.5 Reaktionen der Phenole CH3 H3C
CH3
H O
C
443
O
H
H3C
C
CH3
H O
O
H
H3C
CH3 O
C
H3C
O
C
- H2O
Cumolhydroperoxid
Oxoniumion mit Elektronensextett
CH3 H3C
C
CH3 O
H3C H
H O H
C
Carbeniumion
CH3
CH3 + H O
H3C
C
H3C
O
C
O
O
O
H
H
H
O
H
H O
CH3 H3C
C
+
O
H
O
CH3 -H
H3C
C
+
O
H
Aceton
Phenol
Das Hock-Verfahren hat den großen Vorteil, daß neben dem Phenol noch Aceton entsteht, das ebenfalls ein sehr nützliches Produkt ist (ausgezeichnetes Lösungsmittel, Ausgangsverbindung für Synthesen).
11.5 Reaktionen der Phenole Phenole können ebenso wie Alkohole Ester bilden. Phenole sind stärker sauer als Alkohole, Phenolate sind auch in Wasser beständig. Phenole können elektrophil substituiert werden, wobei die Hydroxygruppe in die o- und p-Stellung dirigiert. Sie können auch leicht oxidiert werden.
444
11 Phenole
11.5.1 Nachweis, Esterbildung und Acidität der Phenole 11.5.1.1 Nachweisreaktion mit FeCl3 Phenole reagieren, ebenso wie Enole, mit FeCl3 unter Bildung farbiger Komplexe. Auf diese Weise können Enole und Phenole von Alkoholen unterschieden werden, denn Alkohole bilden mit FeCl3 keine Komplexe. 11.5.1.2 Veresterung der Phenole Phenole reagieren mit Säureanhydriden oder Säurechloriden unter Esterbildung (siehe Abschnitt 17.3.3.2). H
δO
O
δ+C
X
H
O
O
C
O C
-H
R
R
O
X
O X
O
+ X
C R
R
Phenolester
X = Cl oder O
C
R
O
Bei Erhitzen der Phenolester mit AlCl3 oder anderen Lewis-Säuren (BF3, ZnCl2) in trockenem Nitrobenzol erfolgt die Fries-Reaktion. Der Ester wird durch Komplexierung mit der Lewis-Säure gespalten, es erfolgt ein elektrophiler Angriff des Acyl-Kations am aromatischen Ring in der o- bzw. p-Stellung, und man erhält die entsprechende Alkanoylphenole. AlCl3 O
C
R
AlCl3
AlCl3
AlCl3
AlCl3
O
O
O
O
+ C
O
R
O
AlCl3 O
O
H
O
R
C O
o-Acylphenol
R
AlCl3
O
und auch
H C
AlCl3
AlCl3
R
H C O
R
O
C O
p-Acylphenol
H
11.5 Reaktionen der Phenole
445
11.5.1.3 Die Acidität der Phenole Phenole sind stärker sauer als Alkohole. Während Alkohole nur mit unedlen Metallen (Alkalimetalle und Mg) Alkoholate bilden, entstehen Phenolate auch durch Einwirkung von Alkalilauge auf Phenole. O
H
O
+ NaOH
Na
+
H2O
Phenole sind im Gegensatz zu den Alkoholen stärker sauer als Wasser. Deshalb sind Phenolate in Wasser beständig, während Alkoholate mit Wasser zu Alkoholen und Basen umgesetzt werden. Stärkere Säuren verdrängen schwächere Säuren aus ihren Salzen. Phenole sind schwächer sauer als Carbonsäuren und Kohlensäure. Durch Zugabe von Carbonsäuren oder Einleiten von CO2 werden deshalb die Phenole aus den Phenolaten freigesetzt. Die Mesomerieenergie des Phenols ist etwas größer als die des Benzols, weil im Phenol zusätzlich ein freies Elektronenpaar des Sauerstoffes an der Mesomerie beteiligt ist: OH
OH
OH
OH
OH
Das Phenolat-Anion ist noch stärker mesomeriestabilisert als das Phenol, denn in den mesomeren Grenzformeln dieses Anions ist keine Ladungstrennung erforderlich: O
O
O
O
O
Die Acidität des Phenols ist damit zu erklären, daß das Phenolat-Anion stärker mesomeriestabilisiert ist als das Phenol selbst. Die für die Dissoziation des Phenols aufzubringende Dissoziationsenergie ist deshalb entsprechend niedrig.
11.5.2 Elektrophile Substitutionen am Phenol Die OH-Gruppe des Phenols hat einen +M-Effekt und erhöht darum die Elektronendichte im aromatischen Kern. Damit wirkt sie aktivierend auf SE-Reaktionen (siehe Abschnitt 6.6.2.1 über den aktivierenden und desaktivierenden Einfluß von Substituenten am Benzol). Bei der Halo-
446
11 Phenole
genierung ist deshalb keine Lewis-Säure notwendig. Die OH-Gruppe dirigiert in die p-und oStellungen (siehe Abschnitt 6.6.2.2 über die dirigierende Wirkung des Erstsubstituenten). 11.5.2.1 Die Halogenierung Bei niedriger Temperatur (0–5°C) in wenig polaren Lösungsmitteln (CHCl3, CCl4 und CS2) kann die SE-Reaktion mit Chlor und Brom auf eine Monohalogenierung begrenzt werden. Bei der Chlorierung entsteht das o- und p-Chlorphenol, die Bromierung führt hauptsächlich zum p-Bromphenol. Bei höherer Temperatur und ausreichender Menge des Chlors entsteht mit oder ohne Lösungsmittel das 2,4,6-Trichlorphenol. Die Bromierung ergibt unter diesen Reaktionsbedingungen das 2,4,6-Tribromphenol. Mit Bromwasser reagiert das Phenol zunächst ebenfalls zum 2,4,6-Tribromphenol, darauf folgt jedoch eine oxidative Bromierung, wobei das 2,4,4,6-Tetrabromcyclohexa-2,5-dien-1-on entsteht. Dieser Teilschritt der Reaktion ist verständlich, wenn man bedenkt, daß Halogene auch als Oxidationsmittel eingesetzt werden können und die Phenole relativ leicht zu oxidieren sind. Dieses Endprodukt der Bromierung kann mit Natriumhydrogensulfit als Reduktionsmittel zum 2,4,6-Tribromphenol reduziert werden. OH
OH Br
+ 3 Br2
O Br
Br
Br
Br2 - HBr
- 3 HBr
Br
Br
Phenol
OH
2,4,6-Tribromphenol
NaHSO3 Br H2O - NaBr - H2SO4
Br
Br
Br
2,4,4,6-Tetrabromcyclohexa-2,5-dien-1-on
2,4,6-Tribromphenol
11.5.2.2 Die Sulfonierung Bei Zimmertemperatur wird Phenol mit konz. Schwefelsäure hauptsächlich zu o-Phenolsulfonsäure umgesetzt (siehe Abschnitt 6.6.1.2). Erhöht man die Reaktionstemperatur auf 100°C, so steigt die Ausbeute an p-Phenolsulfonsäure. Nach längerer Reaktionsdauer führt die Sulfonierung bei 100°C zur Phenol-2,4-disulfonsäure. 11.5.2.3 Die Nitrierung Mit verdünnter Salpetersäure reagiert Phenol bei Zimmertemperatur zu o-und p-Nitrophenol. OH
OH
OH NO2
+ HO
Phenol
NO2
und
- H2O
o-Nitrophenol
NO2 p-Nitrophenol
11.5 Reaktionen der Phenole
447
Das o-Nitrophenol bildet mit Hilfe einer intramolekularen Wasserstoffbrücke einen Chelatring und ist deshalb flüchtiger als das p-Nitrophenol, das über eine intermolekulare Wasserstoffbrücke mit anderen Molekülen Assoziate bildet (siehe Abschnitt 11.2). o-Nitrophenol läßt sich deshalb vom p-Nitrophenol mit Hilfe der Wasserdampfdestillation leicht trennen. H O
O
N
O Chelatring des o-Nitrophenols
Die Salpetersäure ist ein starkes Oxidationsmittel. Es ist deshalb verständlich, daß bei den Reaktionsbedingungen einer energischen Nitrierung mit konzentrierter Salpetersäure vor allem eine Oxidation des Phenols erfolgt. Bei der Gewinnung der Pikrinsäure aus Phenol verfährt man deshalb so, daß man zunächst das Phenol mit konz. Schwefelsäure in die Phenol-2,4-disulfonsäure umwandelt, in welcher dann mit Salpetersäure die SO3H-Gruppen durch Nitrogruppen ersetzt werden, worauf das 2,4-Dinitrophenol mit der Salpetersäure weiter zur Pikrinsäure nitriert wird (siehe Abschnitt 6.6.1.2). OH
OH
OH SO3H
konz. H2SO4 100 °C
konz. HNO3 / H2SO4 24 h 0 °C, 1 h 30-45 °C
O2N
NO2
SO3H
NO2
Phenol-2,4-disulfonsäure
Pikrinsäure
11.5.2.4 Die Nitrosierung Die Nitrosierung des Phenols erfolgt mit Natriumnitrit NaNO2 in verdünnter Salzsäure oder verdünnter Schwefelsäure. Aus dem Natriumnitrit NaNO2 wird die schwächere salpetrige Säure HNO2 durch die stärkere Mineralsäure freigesetzt. HNO2 ist unbeständig und zerfällt im sauren Medium nach Protonierung in Wasser und das Nitrosyl-Kation +N=O. NaNO2
+
HCl
H
N
O
O
H
+
NaCl
H
O
N
HNO2
O
H2O +
N
O
H
Das Nitrosyl-Kation greift das Phenol vor allem in der p-Stellung, aber auch in der o-Stellung an. Das Verhältnis para zu ortho ist etwa 15 : 1.
448
11 Phenole H
H
H
H
O
O
O
+ N
O
+ H
O
H
N
O
N O
11.5.2.5 Die Carboxylierung des Phenolations (Kolbe-Synthese) Natriumphenolat reagiert mit Kohlenstoffdioxid bei 125°C und einem Überdruck von 5–10 bar zum Natriumsalicylat. Nach Ansäuern des Reaktionsgemisches erhält man die Salicylsäure. Die Reaktion wird als Kolbe-Synthese bezeichnet. O
O Na
Na
O H
O δ-
H O
+ C δ+
C
O δ-
O
O
H
Na C
Na
O OH
O O
C H2SO4
O
- NaHSO4
Natriumsalicylat
Salicylsäure
Die Acetylsalicylsäure (Aspirin) wird in der Medizin als fiebersenkendes Mittel und gegen Kopfschmerzen verwendet. O
OH C O
C
CH3
O
Aspirin
11.5.2.6 Phenol-Formaldehyd-Harze In verdünntem alkalischem Medium reagiert das Phenolation mit Formaldehyd zu PhenolFormaldehyd-Harzen. In der ersten Stufe der Reaktion erfolgt eine elektrophile Substitution
11.5 Reaktionen der Phenole
449
des Formaldehyds in die o- bzw. p-Stellung des Phenolations. Aus dem Zwischenprodukt wird in der Seitenkette die Hydroxygruppe abgespalten und das o-Chinomethan gebildet.
O
O
O
δO
H
C δ+
+ H
C
H
H
H
O
O
O H
H
O C
C H
H
H
+
O
H
o-Chinomethan
Das o-Chinomethan kann mit einem Phenolation weiterreagieren. O
O
H
H
O
C
C
H
H
O
O
H C
O
O H
H
O
C H
H -H
weitere Substitution in o- und p- Stellung
Das Zwischenprodukt reagiert weiter, wobei es in den o- und p-Stellungen mit weiteren Phenolationen über CH2-Brücken verknüpft wird. Es entsteht ein räumliches Polymer, das Phenol-Formaldehyd-Harz. Dieses wird für die Sperrholzfabrikation, für Laminate und Phenolgießharzmischungen verwendet. Auf der Basis von Phenolharzen entwickelte Leo Hendrik Baekeland 1905 den nach ihm benannten Phenoplast-Werkstoff Bakelit, den ersten industriell produzierten Kunststoff. Bakelit ist ein Duroplast, das heißt, es ist nicht durch Erhitzen verformbar.
450
11 Phenole
11.5.3 Die Oxidation von Phenolen Phenole können oxidiert werden. Besonders leicht lassen sich Hydrochinon und Brenzkatechin oxidieren, wobei p-Benzochinon, oft auch nur als p-Chinon bezeichnet, und o-Benzochinon (auch als o-Chinon bezeichnet) entstehen. H
H O Na2Cr2O7 H2SO4, 30 °C
O
O
O
O
O
H
Ag2O, Na2SO4
O
wasserfreier Ether
O H
Hydrochinon
p-Benzochinon
Brenzkatechin
o-Benzochinon
Dem p-Benzochinon entspricht eine p-chinoide und dem o-Benzochinon eine o-chinoide Struktur. Von einer solchen spricht man auch dann, wenn anstelle des doppelt gebundenen Sauerstoffes eine =NH-Gruppe oder eine =CH2-Gruppe vorliegen.
p-chinoide Struktur
o-chinoide Struktur
Pyrogallol reagiert in wäßriger Lösung sehr schnell mit dem Sauerstoff der Luft, wobei dunkle Reaktionsprodukte entstehen.
11.5.3.1 Der photographische Prozeß In der Schwarz-Weiß-Photographie befindet sich in der auf dem Film aufgezogenen feinen Gelatineschicht Silberbromid Ag+Br–. Beim Photographieren treffen Lichtquanten auf die Bromidionen Br– und spalten ein Elektron ab. Das Elektron wandert, bis es zu einem Empfindlichkeitskeim gelangt, der es aufnimmt und negativ geladen wird. Fehlordnungen im Kristall ermöglichen eine Bewegung der Ag+-Ionen im Kristall. Trifft ein Ag+-Ion auf einen negativ geladenen Empfindlichkeitskeim, nimmt es ein Elektron auf und wird damit zu metallischem Silber reduziert. Die Silberatome bilden Latentbildkeime für die photographische Entwicklung des Bildes. Die photographische Entwicklung des Bildes wird durchgeführt, um
11.5 Reaktionen der Phenole
451
das Bild sichtbar zu machen. Für die Filmentwicklung werden leichtoxidierbare organische Substanzen verwendet, welche Ag+ zu Ag reduzieren. Dies geschieht bevorzugt in unmittelbarer Nähe der Latentbildkeime, so daß an diesen Stellen das Bild durch das reduzierte Silber geschwärzt wird. Als Entwickler kann man Hydrochinonlösung in alkalischem Medium benutzen. Das Hydrochinon hat schwach saure Eigenschaften und reagiert demgemäß mit der Base, wobei das Hydrochinolat-Ion gebildet wird. H O
O
+
2
O
H
+
O
2 H2O
O H
Hydrochinon
Hydrochinolat-Ion
Das Hydrochinolat-Ion wird durch Abgabe zweier Elektronen zum p-Benzochinon oxidiert, wobei es zwei Ag+-Ionen zu metallischem Silber reduziert. Es ist anzunehmen, daß dieser Vorgang als Ein-Elektronen-Übertragung erfolgt. Das Hydrochinon gibt ein Elektron an das Ag+ ab, und es entsteht ein Radikalanion. Dieses gibt ein weiteres Elektron ab, wobei p-Benzochinon gebildet wird. e O
O
Ag
O
O
+ Ag
O
O
Hydrochinolat-Ion O
O
O
Radikalanion O
O
O
e
+ Ag Ag
O
O
O
O
p-Benzochinon
452
11 Phenole
Hat das Bild bei der Entwicklung seine optimale Schwärzung erreicht, so wird der Film mit 3 %iger Essigsäure gewaschen, wodurch die Redox-Reaktion gestoppt wird (Stoppbad). In der Gelatineschicht ist noch Ag+Br– enthalten. Das anwesende, nicht reduzierte Ag+ muß entfernt werden, sonst würde am Licht der ganze Film schwarz werden. Der Film kommt deshalb in das Fixierbad, das eine Thiosulfatlösung enthält. Dieses bildet mit Silberionen leicht lösliche Komplexe, welche aus der Gelschicht in das Fixierbad ausgewaschen werden. Nach dem Fixierprozeß wird der Film durch Lichteinwirkung nicht mehr geschwärzt. Man hat ein Negativ erhalten.
11.6 Phenolische Verbindungen in der Natur 11.6.1 Pflanzenfarbstoffe Es gibt eine Reihe von phenolischen Pflanzenfarbstoffen in der Natur. Sie kommen in Glycosiden an Zucker gebunden oder auch in freier Form vor. Zu ihnen zählen die Flavonole, die Isoflavonole und die Anthocyane. Zum weiteren Verständnis sei kurz die Nomenklatur von ungesättigten heterocyclischen Sechsringen mit Sauerstoff als Heteroatom erwähnt. Ein heterocyclischer Sechsring mit Sauerstoff als Heteroatom und zwei Doppelbindungen wird als Pyran bezeichnet. Nach der Stellung der zwei im Sechsring befindlichen Doppelbindungen unterscheidet man das α- und γ-Pyran. Befindet sich an Stelle der CH2-Gruppe im Sechsring eine Ketogruppe C=O, wird die Verbindung als α- bzw. γ-Pyron bezeichnet. Die Oxoniumverbindung mit formal 3 Doppelbindungen im Sechsring ist das Pyrylium-Kation. Dieses hat aromatischen Charakter. In den Pflanzenfarbstoffen ist der γ-Pyronring und auch der Pyrylium-Ring an einen Benzolkern kondensiert. Diese Verbindungen werden als Chromon und Benzopyrylium bezeichnet.
O
O
C
C
C
O
O
O
γ-Pyran
γ-Pyron
PyryliumKation
H
O
CH2
O
C
α-Pyran α-Pyron
O
H
O
Chromon oder Benzopyron
O
Benzopyrylium
Das Grundskelett der Flavonole ist das 2-Phenylchromon (Flavon) und das der Isoflavonole das 3-Phenylchromon (Isoflavon). Die Anthocyane sind glycosidische (mit Zucker verbundene) Hydroxiderivate des 2-Phenylbenzopyrylium-Kations. Alle diese Verbindungen besitzen als Bestandteil von Pflanzenfarbstoffen 2 bis 7 Hydroxygruppen und haben phenolischen Charakter.
11.6 Phenolische Verbindungen in der Natur
453 3'
5 6
C4
5
8
O 1
6
3 2
7
2'
4'
C 4 3 1'
5'
O
O
1'
2'
6'
7
3'
8
4'
6'
5
O 1
4
6
2
3 2
7
O 1
8
1'
2'
3' 4'
6' 5'
5'
2-Phenylchromon (Flavon)
3-Phenylchromon (Isoflavon)
2-PhenylbenzopyryliumKation
Flavonole und Isoflavonole. Die Flavonole (lat. flavus = gelb) sind Hydroxiderivate des 2Phenylchromons und kommen als freie Hydroxyverbindungen, als Methylether und auch als Glycoside in der Natur vor. Die Flavonole besitzen 2 bis 6 Hydroxygruppen gewöhnlich in den Stellungen 3, 5, 7, 3', 4' und 5'. Die Zuckerreste sind meist in Stellung 3, 5 oder 7 an die Flavonole geknüpft. Es sind (zumeist) gelbe Pflanzenfarbstoffe, die in Blütenblättern (z.B. in Primula-Arten und der Kamille), in Hölzern und Rinden vorkommen. Kubanisches Gelbholz verwendet man z.B. zum Färben von Seide und Wolle. Das am häufigsten vorkommende Flavonol ist das Quercetin. Die Isoflavonole sind Hydroxiderivate des 3-Phenylchromons. Diese gelben Pflanzenfarbstoffe sind in der Natur nicht so verbreitet wie die Flavonole. Als Beispiel sei das Genistein, der gelbe Farbstoff des Färberginsters (Genista tinctoria), angeführt. 3' OH 5 6
O C4 3
8
5
OH
2
7 HO
OH
1'
O 1
6 2'
OH
4'
6' 5'
Quercetin
3'
C 4 3 1'
4'
OH
5' 6'
7 HO
2'
O
8
O 1
2
OH
Genistein
Anthocyane. Anthocyane (griech. anthos = Blüte, cyanos = blau) sind rote oder blaue in Blüten und Beeren enthaltene Pflanzenfarbstoffe. Es sind Glycoside, deren Aglykon (Nichtzuckeranteil) das mit Hydroxygruppen, gegebenenfalls auch Methoxygruppen, substituierte 2Phenylbenzopyrylium-Salz ist. Das Aglykon wird als Anthocyanidin bezeichnet. Die Hydroxygruppen können sich in den Stellungen 3, 5, 7, 3', 4' und 5' befinden. Es ist in jedem Fall eine Hydroxygruppe in Stellung 4' im Anthocyanidin enthalten, die Zuckerreste sind an die Stellungen 3 oder/und 5 geknüpft. Die Blütenblätter der Pelargonien und die Früchte der Erdbeeren enthalten als Anthocyanidin das Pelargonidin, in den Blütenblättern der Rose und der Kornblume, ebenso wie in den Früchten der Kirsche und der Pflaume ist das Cyanidin enthalten. Die Farbe der Anthocyanidine ist pH-abhängig. Im sauren Bereich sind sie rot, im basischen blau bzw. violett.
454
11 Phenole
O
O
+ H2O
H
O
H O
O
H
rot
blau
Übersicht der Anthocyanidine
Tabelle 11.1
Anthocyanidin
Substituenten im Anthocyanidin 3
5
7
3'
4'
5'
Pelargonidin
OH
OH
OH
Cyanidin
OH
OH
OH
–
OH
–
OH
OH
–
Peonidin
OH
OH
OH
Delfinidin
OH
OH
OH
OCH3
OH
–
OH
OH
OH
Malvidin
OH
OH
OH
Hirsutidin
OH
OH
OCH3
OCH3
OH
OCH3
OCH3
OH
OCH3 OH
OH 5
5
6
4 3
6 7 8
O 1
4
2
Benzopyrylium
8
5
OH
2
7 HO
3
1'
O 1
2'
HO
5'
OH
3
OH
2
7
3' 4'
6'
Pelargonidin
4
6
8
1'
O 1
2'
3'
OH
4'
6' 5'
OH
Cyanidin
11.6.2 Gerbstoffe Gerbstoffe, welche auch als Tannine (franz. tanner = gerben) bezeichnet werden, sind wasserlösliche, phenolische Verbindungen, mit deren Hilfe man im Gerbprozeß die leicht faulenden, in Wasser verquellenden, beim Trocknen erstarrenden Häute in nichtfaulendes, in Wasser nicht verquellendes, schmiegsames und zähes Leder verwandeln kann. Man nimmt an, daß beim Gerbprozeß die Tannine zwischen benachbarten Proteinfasern Brücken bilden. Tannine werden in der Textilindustrie als Beizmittel für Teerfarbstoffe und zur Tintenfabrikation verwendet. Fe(II)-Salze geben mit gallussäurehaltigen Tanninen schwarze Tinte. Tannine finden auch in der Medizin Anwendung als Mittel gegen Durchfall und als Blutstillungsmittel. Sie können aus Galläpfeln extrahiert werden. Dies sind durch parasitäre Insekten hervorgerufene Auswüchse von Pflanzengeweben, dadurch verursacht, daß das Insekt die Rinde oder das Blatt ansticht und seine Eier hineinlegt. Tannine kommen auch in verschiedenen Pflanzenteilen vor, z.B. in Ei-
11.6 Phenolische Verbindungen in der Natur
455
chenrinde, Roßkastanien, Tee, Hopfen usw. Sie verleihen z.B. dem Aufgußtee und dem Bier den herben, zusammenziehenden Geschmack. Die Gerbstoffe fällen Eiweißlösungen und bilden mit Eisen-(III)-chlorid dunkelblaue oder grüne Farbkomplexe (Nachweis von Phenolen). Man kennt nichthydrolysierbare (kondensierte) und hydrolysierbare Gerbstoffe. Beide Gruppen kann man mit Hilfe chemischer Reaktionen unterscheiden. Zum Unterschied von den hydrolysierbaren Gerbstoffen geben die nichthydrolysierbaren Gerbstoffe beim Erhitzen mit Formaldehyd in Salzsäure einen Niederschlag. Mit Bleiacetat Pb(OCOCH3)2 in Gegenwart von Essigsäure wird nur mit hydrolysierbaren Gerbstoffen ein Niederschlag gebildet. Kondensierte Gerbstoffe (Catechine) sind den Anthocyanen und Flavonolen chemisch sehr nahestehende Verbindungen. Die entsprechenden Catechine kann man durch Hydrierung von Anthocyanidinen erhalten. Die Anlagerung des Wasserstoffes erfolgt an den Doppelbindungen des heterocyclischen Sechsrings. Die Catechine sind Penta- und Hexahydroxyflavane. Als Beispiel sei das Teecatechin (3,5,7,3',4',5'-Hexahydroxyflavan) angeführt. 5 6
H
OH
H
4 C
3 2
7 8
O 1
H 1'
H
H C
H
OH H
2'
3'
H
HO
O
4'
6'
OH
H OH
5'
OH Flavan
Teecatechin
Hydrolysierbare Gerbstoffe geben als Produkte der Hydrolyse eine Phenolsäure, in der Regel die Gallussäure, und gegebenenfalls auch einen Zucker, z.B. Glucose. Häufig wird bei Estern der Gallussäure die Bezeichnung Depsid (griech. depsein = gerben) verwendet. Je nachdem, wie viel Einheiten der Gallussäure miteinander verestert sind, spricht man von Di-, Tri- oder Tetradepsiden. Ein Didepsid ist z.B. die m-Digallussäure. Vielfach ist die Gallussäure an Zucker gebunden. Im Zucker können alle Hydroxygruppen mit Gallussäure, m-Digallussäure oder auch Trigallussäure verestert sein. OH HO
OH
C
HO C
OH
O OH
Gallussäure
OH
CH2OX
OH
H
O O
C
OH
O OH
m-Digallussäure
O H OX
OX
H H
OX H
OX
Tannin mit Glucose als Zuckerkomponente
X = Gallussäure, Di- oder Trigallussäure
456
11 Phenole
Übungsaufgaben ? 11.1 Benennen Sie die folgenden Verbindungen mit Trivialnamen: OH OH
OH
OH OH
OH
OH a)
c)
b)
OH
OH
d)
OH
OH
CH3
HO
OH
e)
OH
f)
g)
? 11.2 Ergänzen Sie die angeführten Gleichungen: H
H 3C C H
C
+
H
Zeolith BF3
O2 / 120 °C Mn2+ als Katalysator
H , 60 °C
? 11.3 Auf welche Weise kann man Enole und Phenole von Alkoholen unterscheiden?
? 11.4 Wie verhalten sich Alkoholate und wie Phenolate in wässriger Lösung?
? 11.5 Welche Oxidationsprodukte erhält man aus Hydrochinon und aus Brenzcatechin?
? 11.6
Schreiben Sie die Formel des Flavons und des Phenylbenzopyrylium-Kations auf.
Lösungen
457
Lösungen ! 11.1 Die Trivialnamen der Verbindungen: a) Phenol, b) Brenzcatechin, c) Resorcin, d) Hydrochinon, e) Pyrogallol, f) Phloroglucin, g) o-Kresol
! 11.2 Benzol und Propen werden nach Friedel Crafts zu Cumol umgesetzt, und dieses wird mit Sauerstoff zu Cumolhydroperoxid oxidiert. Anschließend erfolgt in 2%iger Schwefelsäure bei 60°C die protonenkatalysierte Hock-Spaltung, wobei Aceton und Phenol entsteht (die Reaktionsmechanismen zu den einzelnen Reaktionen finden Sie in Kapitel 6.6.1.4b, Kapitel 2.9.3.1 und Kapitel 11.4c): OH H
H 3C C H
C
+
H
Zeolith BF3
H 3C
CH3 CH
H3C C
O H3C
C
CH3
H 3C
O
OH
+ O2 / 120 °C Mn2+ als Katalysator
H , 60 °C
! 11.3 Phenole und Enole bilden mit FeCl3 einen farbigen Komplex, dies ist jedoch bei Alkoholen nicht der Fall.
! 11.4 Phenolate sind in Wasser beständig, während Alkoholate in Wasser zu Alkoholen und der entsprechenden Base hydrolysiert werden. Die Erklärung liegt in der Mesomeriestabilisierung des Phenolations (siehe Kapitel 11.5.1.3).
! 11.5 Oxidiert man Hydrochinon, so erhält man p-Benzochinon, die Oxidation des Brenzcatechins führt zu o-Benzochinon (Reaktionsmechanismus siehe Kapitel 11.5.3.1).
458
11 Phenole
! 11.6 Flavon bildet das Grundskelett der Flavonole und das Phenylbenzopyrylium-Kation das Grundskelett der Anthocyane. Flavonole und Anthocyane sind Pflanzenfarbstoffe (siehe Kapitel 11.6.1). O
O
2-Phenylchromon (Flavon)
O
2-Phenylbenzopyrylium-Kation
12 Ether Ether sind Verbindungen vom Typ R–O–R', wobei R und R' ein aliphatischer, alicyclischer oder aromatischer Rest sein kann. Sind beide an den Sauerstoff gebundenen organischen Reste gleich (R = R'), handelt es sich um einen einfachen Ether, der auch als symmetrischer Ether bezeichnet wird. Bei ungleichen organischen Resten spricht man von einem gemischten oder unsymmetrischen Ether. Ist das Sauerstoffatom Bestandteil eines Ringes, so liegt ein cyclischer Ether vor.
12.1 Nomenklatur der Ether Nach den IUPAC-Regeln werden die Ether als Alkoxyalkane bezeichnet, wobei der größere Alkylrest als Hauptkette angesehen wird und der kleinere Alkylrest Bestandteil der Alkoxygruppe ist. OCH3
H H H3C
O
CH2CH3
CH3CH2CH2
C
O
H2C
CH2CH3
H2C
CH2CH3 Methoxyethan
C
C
CH2 CH2
H H Methoxycyclohexan
3-Ethoxyhexan OCH3
H3C
O
CH2
CH2
O
CH3
O
CHCH2CH3 CH2CH2CH3
1,2-Dimethoxyethan
Methoxybenzol
3-Phenoxyhexan
Oft bildet man den Namen des Ethers, indem man die an den Sauerstoff gebundenen Alkyl- bzw. Arylreste nennt und das Wort Ether hinzufügt. CH3
H3C CH3CH2
O
CH2CH3
H H3C
Diethylether
C
O
C
H
CH3CH2
O
CH3 Diisopropylether
Ethylphenylether
A. Wollrab, Organische Chemie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-45144-7_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
459
460
12 Ether
Einige Ether kann man mit Trivialnamen benennen, z.B. OCH3
HO
CH2CH2
O
CH2CH2
OCH2CH3
abgeleitet von:
OH O
Diethylenglykol
H3C
O
CH2CH2
Anisol
O
CH2CH2
O
Phenetol
CH3
abgeleitet von:
O Tetrahydrofuran
Diethylenglykoldimethylether = Diglyme
O
Tetrahydropyran
Pyran
O Furan
12.2 Struktur und physikalische Eigenschaften Ether kann man formal als Derivate des Wassers auffassen, in welchem die Wasserstoffatome durch einen organischen Rest ersetzt sind:
H
O
H
Wasser
R
O
R
Ether
Der C–O–C-Bindungswinkel beträgt im Ether etwa 110°. Da das Sauerstoffatom elektronegativer als das Kohlenstoffatom ist, liegt eine polare kovalente C–O-Bindung vor, mit einer negativen Teilladung am Sauerstoff- und einer positiven Teilladung am Kohlenstoffatom. Durch die ungleiche räumliche Ladungsverteilung hat das Ethermolekül, ähnlich wie dies beim Wasser der Fall ist, einen Dipol, der allerdings infolge des +I-Effekts beider Alkylreste, kleiner als beim Wasser und Alkohol ist. δδ+ R
O
δ-
110°
δ+ R'
Dipolmoment
Die Ethermoleküle können untereinander keine Wasserstoffbrücken bilden, da eine O–HBindung fehlt. Wegen der relativ geringen Dipolmomente sind die den Zusammenhalt der Ethermoleküle bewirkenden Kräfte schwach. Ether haben deshalb eine relativ niedrige Schmelz- und Siedetemperatur (siehe Tabelle 12.1). Die Löslichkeit der Ether in Wasser ist begrenzt, z.B. lösen sich bei Zimmertemperatur nur 7,5 g Diethylether in 100 mL Wasser, Die Löslichkeit höhermolekularer Ether ist gering. Ether bilden mit Wasser zwei flüssige Phasen. Oft wird Diethylether, der ein gutes Lösungsmittel ist, dazu benutzt, organische Verbindungen aus wäßriger Lösung zu extrahieren. Geschieht dies in einem Scheidetrichter durch Schütteln beider Phasen, wobei die in der wäßri-
12.3 Synthese der Ether Tabelle 12.1
461
Schmelz- und Siedetemperaturen einiger Ether
Bezeichnung des Ethers
Schmelztemperatur °C
Siedetemperatur °C –24
Bezeichnung des Ethers
Schmelztemperatur °C
Siedetemperatur °C
Tetrahydrofuran
–108
66
11
101
Dimethylether
–140
Diethylether
–116
34,6
1,4-Dioxan
Diisopropylether
– 60
69
Anisol
–37
154
Di-n-propylether
–122
91
Phenetol
– 33
172
Di-n-butylether
–95
142
27
259
Diphenylether
gen Phase gelösten organischen Stoffe in die Etherphase übergehen, bezeichnet man dies als Ausethern. Da die Siedetemperatur des Diethylethers niedrig ist, kann man den Ether durch Abdestillieren von der in ihm gelösten organischen Verbindung leicht abtrennen. Die Flüchtigkeit des Diethylethers im Verein mit seiner Brennbarkeit stellen ein Gefahrenmoment dar, ebenso seine Peroxidbildung (siehe Abschnitt 12.4.2).
12.3 Synthese der Ether 12.3.1 Synthese von Methyl-tert-butylether Zur Vermeidung umweltbelastender Bleizusätze und zur Herabsetzung des gesundheitsschädlichen Benzols wird dem Motorenbenzin Methyl-tert-butylether (MTBE), der eine hohe Octanzahl hat, zugesetzt. Das in der Crackanlage erhaltene Isobuten wird mit Methanol über zwei Festbettreaktoren geleitet, die mit saurem Ionenaustauscherharz gefüllt sind. Die Reaktion ist exotherm, und deshalb wird das Einsatzgemisch zunächst auf 45°C abgekühlt, bevor es in den zweiten Reaktor geleitet wird. Bei der Reaktion erfolgt zunächst eine Protonierung des Isobutens, worauf sich das Methanol nucleophil anlagert. CH3
CH2 C H3C
H CH3
C H3C
H O
CH3
H3C
H
C
O
H3C
CH3
CH3
CH3 CH3
-H
H3C
C
O
CH3
CH3
Im Labor können Ether durch Dehydratisierung von Alkoholen oder mit Hilfe der Williamson-Synthese dargestellt werden.
12.3.2 Dehydratisierung von Alkoholen Die Ethersynthese aus Alkoholen durch säurekatalysierte Dehydratisierung ist im allgemeinen auf symmetrische Ether beschränkt. Zum Beispiel kann der Diethylether, der ein gutes Lösungsmittel ist, auf diese Weise synthetisiert werden. Das Reaktionsgemisch, bestehend aus Ethylalkohol und Schwefelsäure, wird bei dieser Reaktion auf 130–140 °C erhitzt.
462
12 Ether H
2 H3C
H
C
H2SO4, 130°C
OH
H3C
H
C
H
O
C
H
+
CH3
H2O
H
Die Etherbildung erfolgt nach einem SN-Mechanismus, wobei die Hydroxygruppe eines Alkoholmoleküls zunächst protoniert wird. Anschließend erfolgt der nucleophile Angriff mit einem nichtprotonierten Alkoholmolekül. H H
R O
C
H
H H
H
R
O
C
H
H2O + H
C
H H
H
R
CH2R
O
R H2O + C H H
CH2R
O
H
CH2R + H
O
Die sauer katalysierte Ethersynthese der Alkohole mit Schwefelsäure kann auch in zwei aufeinanderfolgenden Reaktionen über das Alkylsulfat erfolgen. Der Alkohol wird zunächst bei Zimmertemperatur mit Schwefelsäure zum Alkylsulfat verestert und der Ester dann bei erhöhter Temperatur zum Ether umgesetzt. R
CH2
OH
R
CH2
O
+
HO
SO3H
+
SO3H HO
20 °C
R'
R
CH2
140 °C
R
O CH2
SO3H
+ H2O
O
+ H2SO4
R'
Die Umsetzung des Alkylsulfats mit dem Alkohol zum Ether erfolgt über eine nucleophile Substitution. Der Alkohol ist in diesem Fall das Nucleophil, das die –O–SO3H-Gruppe, die eine gute Abgangsgruppe ist, ersetzt. R'
R O + C H H H
O
SO3H
140 °C
R
R R'
O
+
C
H
O
SO3H
H
R'
O
C
H
+ H2SO4
H
H
Neben dem Ether kann bei der säurekatalysierten Dehydratisierung des Alkohols auch ein Alken als Nebenprodukt entstehen. Eine höhere Reaktionstemperatur begünstigt die Alkenbildung. Erhitzt man z.B. Ethanol mit Schwefelsäure auf 170–180 °C, entsteht Ethen als Hauptprodukt (siehe Abschnitt 3.6.1.3). H H
C H
H C H
OH
H2SO4, 180 °C
H
H C
H
+
C H
H2O
12.4 Reaktionen der Ether
463
Die technische Herstellung von Diethylether erfolgt durch Anlagerung von Schwefelsäure an Ethen (siehe Abschnitt 3.7.4.2), wobei das Mono- und Dialkylsulfat entstehen. Diese werden bei 100 °C zum Teil hydrolysiert, und das als Hydrolyseprodukt entstandene Ethanol reagiert bei höherer Temperatur mit dem Ethyl- bzw. Diethylsulfat (siehe obige Gleichungen) zum Diethylether.
12.3.3 Die Williamson-Synthese Die Williamson-Synthese dient vor allem der Herstellung unsymmetrischer Ether. Sie geht vom Alkoholat (siehe Abschnitt 10.7.1) oder Phenolat (siehe Abschnitt 11.5.1.3) aus, welche mit einem Alkylhalogenid umgesetzt werden. R
+
Na
O
R'
R
X
O
R'
+ Na
X = Cl, Br oder I
X
Es erfolgt eine nucleophile Substitution, wobei die Abgangsgruppe X durch das Alkoholat- bzw. das Phenolation ersetzt wird. R'
R' R
O +
C
H
R
X
O
C
H
+
X = Cl, Br oder I
X
H
H
Für die Synthese der Methylether wird oftmals anstelle eines Methylhalogenids Dimethylsulfat (siehe Abschnitt 10.7.6.1) verwendet.
12.3.4 Methylierung von Phenolen mit Diazomethan Phenole reagieren als saure Verbindungen (ähnlich wie Carbonsäuren, siehe Abschnitt 17.3.3.4) mit Diazomethan, wobei eine O-Methylierung der Phenole stattfindet, und die entsprechenden Methylether entstehen. Die Methylierung von Alkoholen mit Diazomethan gelingt nur in Gegenwart von Bortrifluorid BF3 als Katalysator. O
H
O
+ Phenol
CH2
N
+
N
Diazomethan
CH3 N
N
Phenolmethylether
12.4 Reaktionen der Ether Ether sind relativ reaktionsträge, sie sind gegen Basen, Oxidations- und Reduktionsmittel beständig. Mit dem Sauerstoff der Luft erfolgt jedoch bei Lichteinwirkung eine Autoxidation der Ether zu Hydroperoxiden. Unter drastischen Bedingungen können Ether mit Säuren gespalten werden.
464
12 Ether
Ether haben am Sauerstoffatom zwei freie Elektronenpaare und können deshalb von einer Säure protoniert werden, wobei ein Oxonium-Salz entsteht. R
R
+
O
I
H
I
+
H
O
R Oxoniumsalz
R
Mit Hilfe der freien Elektronenpaare können Ether als Elektronenpaar-Donatoren (LewisBasen) Grignardverbindungen (siehe Abschnitt 9.4.2) komplexieren. R'
R O
2
+
R
R'
R O
Mg
O
Mg
R
X
R R
X
Die Löslichkeit dieser Komplexe erleichtert zum einen die Synthese der Grignardverbindung, zum anderen erfolgen auch die Reaktionen der Grignardverbindungen mit anderen Reagenzien leichter. Deshalb wird die Synthese von Grignardverbindungen ebenso wie Reaktionen mit diesen Verbindungen grundsätzlich in Ether (Dimethylether oder Tetrahydrofuran) als Lösungsmittel ausgeführt. Vielfach verfährt man so, daß man in Ether als Lösungsmittel die Grignardverbindung synthetisiert und ohne weitere Aufarbeitung zu der Lösung das Reagens zugibt, das mit der Grignardverbindung reagieren soll.
12.4.1 Die Etherspaltung mit Säuren Ether reagieren mit verdünnten Säuren nicht. Erhitzt man aber Ether eine Stunde unter Rückfluß in einem Gemisch aus gleichen Volumenteilen 48 %iger Bromwasserstoffsäure und Eisessig, so tritt eine Spaltung des Ethers ein, und es entsteht ein Bromalkan. Desgleichen werden Ether mit konstant siedender Iodwasserstoffsäure gespalten, wenn man das Reaktionsgemisch 4–5 Stunden unter Rückfluß erhitzt. R
O
+ 2 H
R'
R
X
X +
R'
+ H2O
X
X = Br oder I
Bei dieser Reaktion wird der Ether zunächst protoniert, worauf mit dem Halogenidion als Nucleophil eine SN2-Reaktion am protonierten Ether erfolgt.
R
CH2
H
X
CH2
O
CH2
X
CH2
X
H O
CH2
R
R'
X = Br oder I
R'
H X
CH2 R
O
CH2
R'
R
+ HO
CH2
R'
12.4 Reaktionen der Ether
465
Der bei der Reaktion gebildete Alkohol wird protoniert und in einer SN2-Reaktion auch in das Alkylhalogenid umgesetzt. H R'
CH2
X O
H
R'
CH2
H
X
O
H
H X
CH2
O
H
X
+ H2O
CH2
R'
R'
Auf der Etherspaltung durch Säuren beruht der quantitative Nachweis von Methoxygruppen nach Zeisel. Der Ether wird mit Iodwasserstoffsäure erhitzt und das entweichende Methyliodid in alkoholischer Silbernitratlösung aufgefangen. Das abgeschiedene AgI wird gravimetrisch oder maßanalytisch bestimmt.
12.4.2 Die Autoxidation der Ether Nach längerer Zeit unterliegt der Ether unter Einfluß des Sonnenlichts durch den Luftsauerstoff einer Autoxidation, wobei er in ein Alkoxyalkylhydroperoxid umgewandelt wird. H R
C
H O
R'
+
hν
O2
H Ether (Alkoxyalkan)
R
C
O
R'
O O H Alkoxyalkylhydroperoxid
Diese Reaktion läuft nach einem Radikalmechanismus ab. Die direkt am Sauerstoff gebundene Methylengruppe des Ethers bildet den Angriffspunkt für den Sauerstoff, der biradikalischen Charakter hat. Dieser spaltet die C–H-Bindung, und es entsteht ein AlkoxyalkylRadikal (Startreaktion). Start: R
R O H
C
O H
+
O
O
R'
Ether
hν
H
C
+
H
O
O
R'
Sauerstoff
AlkoxyalkylRadikal
HydroperoxyRadikal
Das Alkoxyalkyl-Radikal reagiert mit dem Sauerstoff, und es wird ein Alkoxyalkylperoxy-Radikal gebildet. Dieses spaltet die C–H-Bindung eines Ethermoleküls, und es entstehen das Alkoxyalkylhydroperoxid und ein Alkoxyalkyl-Radikal. Das Alkoxyalkyl-Radikal kann wiederum mit Sauerstoff reagieren (Kettenreaktion).
466
12 Ether
Kettenreaktion: R
R O
H
O
+
C
O
H
O
R'
O
O
R'
Alkoxyalkyl-Radikal
Alkoxyalkylperoxy-Radikal R
R
R
R O
O
O H
C
C
O
O
+
H
C
H
H
C
O
O
+
H
C
R'
R'
R'
O H
R'
Alkoxyalkylhydroperoxid R
R O
O H
O
+
O
H
C
H
H
O
O
+
H
C
H
R'
R'
Abbruch der Kettenreaktion: R
R O
H
O
+
O
C
O H
H
O
O
R' R
H
C
R O
R'
O
O
+
C R'
H
R'
R O
C
R O
O H
H
C R'
O
O
C
H
R'
Dialkoxyalkylperoxid
Die bei der Autoxidation gebildeten Alkoxyalkylhydroperoxid-Moleküle kondensieren unter Abspaltung von Alkoholmolekülen zu Etherperoxiden.
12.5 Cyclische Ether
467 R'
R' R
O
C
O
O
H + nR
O
R'
C
O
O
H
+ R
O
H
H
C
O
O
H
H
Alkoxyalkylhydroperoxid
R'
R' R
O
C
O
O
C
R' O
O
H
H
C n
O
O
H
+ n+1 H
O
R
H
Etherperoxid
Die Etherperoxide sind hochexplosiv, so daß es beim Abdestillieren von Ethern, die längere Zeit am Licht gestanden haben, zu Explosionen kommen kann. Die Gegenwart von Etherperoxiden erkennt man beim Schütteln einer Probe mit essigsaurer Kaliumiodidlösung am Ausscheiden von Iod. Die Etherperoxide können durch Zugabe von Eisen(II)-Salzen reduziert und damit unschädlich gemacht werden.
12.4.3 Die Claisen-Umlagerung Mit Allylphenylethern erfolgt beim Erhitzen eine Umlagerung. Das Endprodukt der Reaktion ist das o-Allylphenol (vergl. mit Cope-Umlagerung Abschnitt 3.10.5). O
CH2
CH H2C Allylphenylether
O H CH2
CH2 CH
OH
CH2
CH2 CH
o-Allylphenol
12.5 Cyclische Ether Als cyclische Ether bezeichnet man organische Verbindungen, die ein Sauerstoffatom im Ring haben.
12.5.1 Nomenklatur der cyclischen Ether Die cyclischen Ether rechnet man zu den Heterocyclen. Als Heterocyclen werden alle jene organische Verbindungen bezeichnet, die im Ring außer dem Kohlenstoff noch ein oder auch mehrere Heteroatome (andere Atome als Kohlenstoff) haben. In den cyclischen Ethern ist
468
12 Ether
dieses Heteroatom der Sauerstoff. Das Durchnumerieren des Ringes erfolgt so, daß dem Heteroatom eine möglichst niedrige Zahl zugeordnet wird.. Befindet sich noch ein weiteres Heteroatom im Ring, wird in dessen Richtung weiter numeriert, damit auch dieses eine möglichst niedrige Zahl erhält (siehe auch Abschnitt 25.1). In der IUPAC-Nomeklatur wird die Ringgröße und der Sättigungsgrad bei Heterocyclen mit entsprechenden Endungen kenntlich gemacht (siehe Tabelle 12.2). Bei Verbindungen mit einem Sauerstoffatom im Heterocyclus wird der Endung die Silbe oxa-, bei einem Schwefelatom die Silbe thia- vorangestellt, bei zwei Sauerstoffatomen das Präfix dioxa-. Folgt ein Vokal, entfält in der Silbe das -a-. Tabelle 12.2
Der Ringgröße entsprechende Endungen für Heterocyclen1
Ringgröße
gesättigt
mit einem Maximum an Doppelbindungen im Ring
3-gliedrig
-iran
-iren
4-gliedrig
-etan
-etin
5-gliedrig
-olan
-ol
6-gliedrig
-an
-in
7-gliedrig
-epan
-epin
Beispiele zur Benennung sauerstoffhaltiger Heterocyclen nach IUPAC-Regeln: O H2C
O
H CH2
H3C
CH2
C
H3C CH2
2 C
H3C
Oxiran
2-Ethyloxiran
1 O
3 C
CH3
O4 H
O
Oxan 3-Methyloxan
O
2H-Oxin (α-Pyran)
H
O
CH2
Oxetan
O
O
Oxol (Furan)
Oxolan
H
CH3 O
CH2
H
2,2,3-Trimethyloxiran H
H2C
O
O1
3 2
O
O
O
O
4H-Oxin 1,4-Dioxan 1,4-Dioxin (γ-Pyran)
Dibenzo-1,4-dioxin
Oft werden auch bei sauerstoffhaltigen Heterocyclen Trivialnamen gebraucht. Oxiranverbindungen werden häufig als Epoxide und der Oxiranring als Epoxidring bezeichnet. Oxiran selbst kann auch als Ethylenoxid benannt werden. Folgende Trivialnamen werden des öfteren verwendet:
1
Anmerkung: Die Endungen gelten auch für Heterocyclen mit Schwefel. Ringe mit einem Stickstoffatom im Heterocyclus haben andere Endungen (siehe Abschnitt 25.1). Weitere Einzelheiten zur Nomenklatur von Heterocyclen sind ebenfalls in Abschnitt 25.1 zu finden.
12.5 Cyclische Ether O H2C
469
O CH2
H2C
CH
O
CH3 O
Ethylenoxid
Propylenoxid
O
Furan
C
COOH
O
O
H
Furfural
Brenzschleimsäure
Tetrahydrofuran
12.5.2 Eigenschaften cyclischer Ether Im allgemeinen gleichen cyclische Ether in ihren physikalischen und chemischen Eigenschaften den Ethern mit offener Kette. Eine Ausnahme bilden Epoxide, die infolge der Ringspannung im Epoxidring sehr reaktiv sind und deshalb eine Reihe von Synthesen ermöglichen. Eine besondere Eigenschaft haben die Kronenether. Sie besitzen die Fähigkeit, ihrer Größe entsprechend, bestimmte Ionen komplex zu binden.
12.5.3 Epoxide Synthese. Bei der technischen Herstellung des Ethylenoxids geht man vom Ethen aus, das bei 250°C unter Druck am Silber-Kontakt mit Sauerstoff umgesetzt wird (siehe auch Abschnitt 3.7.7.2). H2C
CH2
+
1
/2 O2
Ag, 250 °C, Druck
H2C
CH2 O
Epoxide kann man aus Alkenen mit Peroxysäuren (siehe Abschnitt 3.7.5.3) oder aus Chlorhydrin (siehe Abschnitt 3.7.4.7) durch Erhitzen mit Base herstellen. Z.B. wird bei der Herstellung von Ethylenoxid Ethylenchlorhydrin mit Kalilauge oder Calciumhydroxid erwärmt, wobei das bei der Reaktion entstandene Ethylenoxid (Siedetemp. 10,7°C) kontinuierlich abdestilliert wird.
H
Cl
H
C
C
H
H
O
H
H OH
Ethylenchlorhydrin
Cl
H
C
C
H
O
H + H2O
H
H
H
C
C
H +
Cl + H2O
O
Ethylenoxid
12.5.3.1 Reaktionen der Epoxide Der dreigliedrige Epoxidring läßt sich infolge der Ringspannung leicht spalten. Epoxide sind daher, im Gegensatz zu anderen Ethern, sehr reaktiv. Die Ringöffnung des Epoxids kann im sauren Medium erfolgen. Bei der Reaktion mit verdünnten Säuren entsteht ein vicinales Diol. Das Epoxid wird zunächst von der Säure pro-
470
12 Ether
toniert, worauf die Ringöffnung des protonierten Epoxids durch Wasser als Nucleophil erfolgt. H R
C
H R
C
H R
C
H
O
H R
C
H
H
O
H R
H H
O
O C
H R
H
C
H R
O
H
O C
H H + H R
C
O
H
Diol
Eine Ringöffnung des Epoxidringes kann ebenfalls im basischen Medium stattfinden, z.B. mit Basen, Alkoholaten, Phenolaten, Ammoniak und Aminen. Die Öffnung des Epoxidringes erfolgt in diesem Falle durch ein Nucleophil, z.B. durch HO–, R–O–, NH3 und NH2R. Der Angriff des Nucleophils erfolgt von der dem Sauerstoff im Epoxidring entgegengesetzten Seite, so daß die Ringöffnung mit einer Inversion am Reaktionszentrum verbunden ist. Die Reaktion ist regioselektiv, da der nucleophile Angriff bevorzugt an dem weniger substituierten Kohlenstoff des Epoxidringes erfolgt. Dieser ist für das Nucleophil räumlich zugänglicher. Reaktion des Ethylenoxids mit NH3: O H
C
C
H R
R H
N
O
H R H
H
C
N
C H
O
H R
H R
H
H
C
C
H
H R
N H
H
1,2-Aminoalkohol Reaktion des Ethylenoxids mit einem Alkohol in Gegenwart eines Alkoholats als Katalysator: O H
C
R R'
C
H R
H R'
R
O C
C
O
H R
H
O
R'
-
O
R'
H R R'
O C
C
O
H
H R
O
Reaktion des Ethylenoxids mit Basen: O H R H
C
C
H R
O
H R H
O
O C
C
H R
O H
H R
H H
O
O C
C
H R
H
+
O
H
12.5 Cyclische Ether
471
Das nach der Öffnung des Epoxidringes gebildete Anion kann gegebenenfalls mit einem noch nicht umgesetzten Epoxidmolekül reagieren.
O C
H
C
H R
H
R
R
H
H
H R
O C
C
C
C
H R
H R
O
H R H
O
H R O
O
C
C
O
C
C
H R
H R
O
Ausgehend vom Ethylenoxid kann man über diese Reaktionsschritte das Diethylenglykol HO–CH2–CH2–O–CH2–CH2–OH synthetisieren. Der Epoxidring kann auch mit Grignard-Reagens geöffnet werden. O C
H
C
R
H R
R'
O MgX
H R
C
C
R'
H H R
- MgX2
H
O
H R
X
C
C
H R
R'
MgX Alkohol
12.5.3.2 Epoxidharze Durch Aufspaltung des Epoxidringes im Epichlorhydrin durch zweiwertige Alkohole oder Phenole in Gegenwart von Alkalien bei etwa 100°C entstehen Epoxidharze. Als zweiwertiges Phenol wird gewöhnlich 2,2-(Bis-p-hydroxyphenyl)propan, das auch als Bisphenol A bezeichnet wird, verwendet. Das Bisphenol A kann durch Kondensation von Phenol mit Aceton hergestellt werden. Im alkalischen Medium wird das Bisphenol A in das entsprechende Phenolatdianion (= Bisphenolat A) umgewandelt. Dieses öffnet im Epichlorhydrin den Epoxidring unter Bildung des Bisphenol-A-Diglycidethers. O
O H2C
C
CH2
Cl H
CH3
O
C CH3
Epichlorhydrin
H2C
C
CH2
O
H
Cl
O
Anmerkung: Glycid =
H2C H
Epichlorhydrin
C
O
CH2
H
Bisphenolat A
O H2C
C
Cl H
O CH2 O
CH3 C CH3
O
H2C
C
CH2
O
H
Cl
H2C - 2 Cl
O C
CH2
H
O
CH3
CH2
C
C
O
H
CH3
Bisphenol-A-Diglycidether
CH2
472
12 Ether
Der Bisphenol-A-Diglycidether enthält zwei endständige Epoxidringe, die durch Bisphenolat-A-Ionen geöffnet werden können. Indem im Wechsel Bisphenolat-A-Ionen und Epichlorhydrin nach Anreihung an die Kette miteinander reagieren, entstehen lineare höhermolekulare Epoxidharze. O H2C
O C
CH2
CH3
CH2
C
H
O
C
O
H
O CH2
CH3
O
C
CH3
C
C
H
H
C
O
C
CH2
O
H
Cl
usw.
CH3
CH3
H
O H2C
C2H
CH3
H
O
O C
C
H
H
CH3 CH2
O
H
C
O
CH3
n
O
C
C
H
H
CH2 Cl
Epoxidharz
Flüssige Epoxidharze mit niedrigerer Molekularmasse werden für ZweikomponentenKleber verwendet und bilden die eine Komponente dieses Klebers. Die andere getrennt gelieferte Komponente ist ein Amin, das die Funktion des Härters hat. Man vermengt kurz vor der Anwendung beide Komponenten und bestreicht mit dem Gemenge die Klebstelle. Das Amin reagiert mit den Epoxidgruppen des Epoxidharzes und sorgt damit für die Vernetzung und Härtung des Klebers. Als Härter eignet sich z.B. das Diethylentriamin. O CH2
Epoxidharz
HC H O
H
O
C
C
H
H
CH2 +
N H
Epoxidharz
O
H2C CH2CH2
H
NH
CH2CH2
N
+ H2C
H
Diethylentriamin
H
O C
C
H
H
Epoxidharz
O CH2 HC
H
O
H
O
C
C
H
H
OH
H
CH2 CH2
N H
CH2CH2
N
CH2CH2
N H
räumlich vernetztes Epoxidharz
CH2
O
H
C
C
H
H
O
O
12.5 Cyclische Ether
473
12.5.4 Cyclische Ether mit fünf- und sechsgliedrigem Ring Tetrahydrofuran (Siedetemperatur 66°C), abgekürzt THF, ist ein Ether mit fünfgliedrigem Ring, der nicht nur in organischen Lösungsmitteln, sondern auch in Wasser löslich ist. Seine relativ hohe Basizität ist darauf zurückzuführen, daß durch Fixierung der beiden Bindungen des Sauerstoffes im Ring die freien Elektronenpaare am Sauerstoff besser zugänglich sind. Er ist deshalb für die Komplexierung von Grignard-Reagenzien gut geeignet. Die Ausgangsstoffe für die großtechnische Synthese des Tetrahydrofurans sind Acetylen und Formaldehyd. Die Ethinylierung (siehe Abschnitt 4.5.2.2) von Formaldehyd mit Acetylen erfolgt in der Rieselphase mit 10–30 %iger Formaldehydlösung bei 100°C und 5 bar in einem mit Kupferacetylid/Bi2O3-Katalysator gefüllten Turm. Als Reaktionsprodukt wird 2-Butin-1,4-diol erhalten, das in der Flüssigphase bei 100°C und 250 bar an einem RaneyNickel-Katalysator hydriert wird. Das 1,4-Butandiol wird mit Säure (H3PO4 oder H2SO4) versetzt und auf 120°C erhitzt, wobei durch intramolekulare Dehydratisierung Tetrahydrofuran entsteht. O HC
CH + 2 H
C
CuC2/Bi2O3 auf SiO2 100 °C, 5 bar
CH2C
HO
H
HO
CH2C
CCH2
OH
CCH2
OH
2-Butin-1,4-diol H2/Raney-Nickel 100 °C, 250 bar
OH
OH
CH2CH2CH2CH2
H3PO4
120 °C
O H2C H2C
2-Butin-1,4-diol
Butan-1,4-diol
CH2 + H2O CH2
Tetrahydrofuran
Ausgezeichnete Lösungsmittel, ähnlich wie Tetrahydrofuran ebenfalls sowohl in organischen Flüssigkeiten wie auch in Wasser löslich, sind Tetrahydropyran (Siedetemperatur 88°C) und 1,4-Dioxan (Siedetemperatur 101°C). Beide sind Ether mit einem sechsgliedrigen Ring. O
O Tetrahydropyran
O 1,4-Dioxan
12.5.5 Kronenether Kronenether sind cyclische Polyether, in deren Ring jeweils zwei Kohlenstoffatome mit einem Sauerstoffatom abwechseln. Ihren Namen verdanken sie der kronenähnlichen Struktur ihrer Moleküle im kristallinen Zustand. Die Benennung der Kronenether erfolgt auf die Weise, daß man in eckigen Klammern die Anzahl der den Ring bildenden Atome anführt, dahinter das Wort „Krone“ schreibt und nach einem Gedankenstrich die Anzahl der im Ring befindlichen Sauerstoffatome angibt.
474
12 Ether
Beispiele zur Nomenklatur der Kronenether: O O
O O
O
O
O
O
O
O
[12]Krone-4
[15]Krone-5
O
O
O
O O [18]Krone-6
Ion-Dipol-Wechselwirkung eines Kronenethers mit einem Kation: δ+ δ+ δ+
δO δO δ+
δ+
δ+ O δK δO
δ+ δO δO
δ+ δ+
δ+ δ+ δ+ K+-Komplex der [18]Krone-6
Der Kronenether kann als Wirtsmolekül ein Kation im inneren Hohlraum des Ringes aufnehmen und es aufgrund von Ion-Dipol-Wechselwirkungen binden. Voraussetzung dafür ist jedoch, daß das Kation nicht zu groß ist, damit es in den Ring hineinpaßt. Es darf aber auch nicht zu klein sein, damit es den Hohlraum gänzlich ausfüllen kann, denn nur dann ist eine starke Komplexierung des Kations gewährleistet. Das kleine Li+-Kation kann von der [12]Krone-4 gebunden werden. Das Na+-Kation kann von der [15]Krone-5 und das K+Kation von der [18]Krone-6 komplexiert werden. Bei der Komplexbildung wenden sich die Sauerstoffatome des Kronenethers, angezogen durch die positive Ladung des Kations, in das Innere des Ringes. Als Folge davon zeigen die CH2-Gruppen des Kronenethers nach außen, so daß das Kation von einer nach außen lipophil wirkenden Hülle umgeben ist (siehe Bild 12.1). Dies befähigt den Kronenether-Komplex sich in unpolaren Lösungsmitteln zu lösen. Man kann z.B. Kaliumpermanganat, dessen K+Ion im Kronenether komplexiert ist, im organischen Lösungsmittel lösen und Oxidationen durchführen. Das MnO4– ist im organischen Lösungsmittel nicht solvatisiert („nackt“) und dadurch besonders reaktiv. Für SN2-Reaktionen ist die Stärke des Nucleophils wichtig. Wird dieses durch eine Solvathülle abgeschirmt, verläuft die Reaktion sehr langsam. Die beiden Reaktanden müssen mit größerer Geschwindigkeit zusammenstoßen, damit die Reaktion überhaupt erfolgen kann. Komplexiert man das K+ im K+OH– oder K+F– mit [18]Krone-6 in CCl4 oder Benzol, erfolgt die Reaktion sehr schnell. Die durch keine Solvathülle abgeschirmten „nackten“ Anionen sind sehr reaktiv.
12.5 Cyclische Ether
475
K+
Kugel-Stab-Modell der [18]Krone-6
Kohlenstoff
Wasserstoff
Kugel-Stab-Modell des [18]Krone-6-Kalium-Komplexes Sauerstoff
Bild 12.1 Ein Kronenether und sein K+-Komplex
Noch stabiler als die Kronenether-Komplexe sind Komplexe mit Kryptanden. Dies sind cyclische Aminopolyether, die an den Stickstoffatomen durch eine Polyetherkette überbrückt sind, so daß sie einen „dreidimensionalen“ Hohlraum besitzen. Die Komplexe werden als Kryptate bezeichnet. O N
O O
O O
N
O
Kryptand
476
12 Ether
Übungsaufgaben ? 12.1 Beschreiben Sie den Reaktionsmechanismus der Reaktion des Natriumethanolats mit Chlorpropan. Wie wird die Reaktion eines Halogenalkans mit einem Alkoholat allgemein benannt?
? 12.2 Was geschieht mit Ether, wenn er in Gegenwart von Sauerstoff dem Einfluß des Sonnenlichts ausgesetzt ist? Formulieren Sie die Reaktionsgleichungen.
? 12.3 Erhitzt man Allylphenylether, so erfolgt eine Umlagerung. Formulieren Sie die Reaktionsgleichungen und vergleichen Sie diese Reaktion mit der aliphatischen Claisen-Umlagerung in Kapitel 3.10.5.
? 12.4 Benennen Sie nach der IUPAC-Regel für Heterocyclen (Suffix entspricht der Ringgröße) folgende Verbindungen: a) Ethylenoxid b) Tetrahydrofuran c) Furan und d)Tetrahydropyran
? 12.5 In saurem Medium erfolgt bei Epoxiden eine Ringöffnung des Epoxidringes und es entsteht ein Diol. Formulieren Sie den Reaktionmechanismus.
? 12.6
Was versteht man unter dem Begriff Kronenether und wie benennt man diese Verbindungen?
Lösungen
477
Lösungen ! 12.1 Bei der Reaktion handelt es sich um die Williamson-Synthese. Sie dient zur Herstellung unsymmetrischer Ether. Die Reaktion erfolgt nach dem SN2-Mechanismus, in diesem konkreten Falle wurde der Ethylpropylether synthetisiert: CH2CH3
H3CH2C
CH3CH2 O
C
Cl
CH3CH2
O
δ−
C
δ−
CH2CH3
Cl
CH3CH2 O
C
H H
H
H
+
Cl
H
H
! 12.2 Der Ether reagiert mit dem Sauerstoff radikalisch zum Alkoxyalkylhydroperoxid. Die Alkoxyalkylhydroperoxid-Moleküle kondensieren unter Abspaltung von Alkoholmolekülen zu Etherperoxiden (siehe Kap.12.4.2) H R
H
C
O
R'
hν
R
+ O2
H
C
O
R'
O
O
H
Alkoxyalkylhydroperoxid
R
O
R'
R'
R' C
O
O
H + R
O
C
O
O
R'
R-O-C-O-O-C-O-O-C-O-O-H
H
H
H
R'
n
H
H n-1 Etherperoxid + n ROH H
! 12.3 Beim Erhitzen von Allylphenylether erfolgt eine Umlagerung zum o-Allylphenol. Diese Umlagerung wird als Claisen-Umlagerung bezeichnet (siehe auch Kapitel 3.10.5 die CopeUmlagerung). O
O CH2 CH
H2 C
OH CH2
H CH2
CH
CH2 CH2
CH
478
12 Ether
! 12.4 Nach den IUPAC-Regeln werden die mit Trivialnamen angegebenen Heterocyclen folgendermaßen benannt: a) Oxiran b) Oxolan c) Oxol d) Oxan (siehe Kapitel 12.5.1)
! 12.5 Die Ringöffnung eines Epoxids in saurem Medium:
H R
C
C O
H R H
H R
C
C O
H R
O
H
H H R
H H
O
O C
C
H R
H H R
H
O
O C
C
H H + H R
H
! 12.6
Kronenether sind cyclische Polyether, in deren Ring jeweils zwei Kohlenstoffatome mit einem Sauerstoffatom abwechseln. Man benennt sie auf die Weise, dass man in eckigen Klammern die Anzahl der den Ring bildenden Atome anführt, dahinter das Wort Krone schreibt und nach einem Gedankenstrich die Anzahl der im Ring befindlichen Sauerstoffatome angibt (siehe Kapitel 12.5.5).
13 Aldehyde und Ketone Die Carbonylgruppe C=O ist für Aldehyde und Ketone die charakteristische Gruppe, die weitgehend das chemische Verhalten der beiden Stoffklassen bestimmt. Ketone haben die allgemeine Formel R1R2C=O, wobei R1 und R2 einen aliphatischen, alicyclischen oder aromatischen Rest darstellen. Aldehyde binden anstelle des einen organischen Restes ein Wasserstoffatom, sie haben die allgemeine Formel RHC=O. Der einfachste Aldehyd, der Formaldehyd, hat an die Carbonylgruppe zwei Wasserstoffatome gebunden. Ist die Carbonylgruppe Bestandteil eines Ringes, so liegt ein cyclisches Keton vor. O H
C H
Formaldehyd
O
O R
C
C
H
H
aliphatischer Aldehyd
aromatischer Aldehyd
O R
O
C
CH2
C R'
aliphatisches Keton
(CH2)n R
C
O
CH2
Alkylarylketon
cyclisches Keton
Die an zwei Kohlenstoffatome gebundene Carbonylgruppe ist für Ketone kennzeichnend. Oftmals wird die Carbonylgruppe bei Ketonen auch als Ketogruppe bezeichnet. Charakteristisch für Aldehyde1 ist die Formylgruppe, die manchmal auch Aldehydgruppe genannt wird.
Charakteristisch für Aldehyde:
C
O
H Formylgruppe
Charakteristisch für Ketone:
C C
O
C
13.1 Nomenklatur der Aldehyde und Ketone Nach der IUPAC-Nomenklatur wird der Name der Aldehyde vom entsprechenden Alkan abgeleitet, wobei man in der Kohlenstoffkette das Kohlenstoffatom der Formylgruppe mit zählt und die Endung -al hinzugefügt. Bei den Ketonen wird das Kohlenstoffatom der Carbonylfunktion ebenfalls mitgezählt und die Endung -on dem Namen des entsprechenden Alkans nachgestellt. 1
Der Name „Aldehyd“ entstand durch Abkürzung der Bezeichnung Alkoholdehydrogenatus (Aldehyde können durch Dehydrieren von Alkoholen dargestellt werden.). Darum heißt es auch der Aldehyd (von: der Alkohol dehydrogenatus) und nicht das Aldehyd. A. Wollrab, Organische Chemie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-45144-7_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
479
480
13 Aldehyde und Ketone O
H
O
O
O CH3CH2CH2CH
C H
C
CH3 H
CH3 2-Methylpentanal
Methanal
C
CH3 CH2
C CH3
C
CH3 4,4-Dimethyl-2-pentanon
Cyclohexanon
Man kann aus Zweckmäßigkeitsgründen einen Aldehyd auch so benennen, daß man die Formylgruppe als Substituenten betrachtet, das C-Atom der Formylgruppe nicht in die Hauptkette einbezieht und das Suffix -Carbaldehyd dem Namen der Hauptkette hinzufügt. Ist die Carbonyl- oder die Formylgruppe nicht die Hauptgruppe (siehe Abschnitt 1.7.3), wird die Formylgruppe mit dem Präfix Formyl- oder Methanoyl- angeführt. Die Formylgruppe wird in diesem Falle als nicht zur Hauptkette gehörig betrachtet und ihr C-Atom deshalb nicht mitgezählt. Die Carbonylgruppe in Ketonen wird mit dem Präfix Oxobezeichnet. Der Kohlenstoff der Carbonylgruppe wird dann als zu der Hauptkette gehörig betrachtet und mitgezählt. H
O
H
C H2 C H2C
CH
CH2
O C CH
H2C
CH2
H2C
O
COOH H3 C
C
CH2
CH2
H 2-Formylcyclopentancarbonsäure
Cyclopentancarbaldehyd
C
CH2
COOH
CH2
3-Oxohexansäure
Eine einfache, vielfach benutzte Methode der Benennung von Ketonen ist die, daß man die an die Ketogruppe bindenden Alkyl- bzw. Arylreste benennt und dann das Wort Keton hinzufügt. Cl
O C
O
H3C CH
C
O
H3C CH
CH3
C
Isopropylmethylketon
CH2
C
Br CH3
CH3
H3C
H3C
O
CH3 CH
Diisopropylketon
Benzylmethylketon
4-Brom-1-naphthyl1-chlor-2-naphthylketon
Aldehyde und Ketone werden oft mit Trivialnamen bezeichnet: Trivialnamen einiger Aldehyde: O H
C
H Formaldehyd
O
O H3C
C
H Acetaldehyd
H3C
CH2
C
O H3C
CH2
CH2
H
Propionaldehyd
C H
Butyraldehyd
13.2 Struktur und physikalische Eigenschaften O H3C
(CH2)3
C
O H2 C
C
O
H
H
Valeraldehyd
481 O C
H
H2 C
CH
C
O
CH
CH
H
CH
C H
OH OH
Glycerinaldehyd Glyceraldehyd
H
C
O
H O
O H3C
C
H
Glyoxal
H
O
H2C
C
H
Glykolaldehyd
O
O
C
O
H
C H CH3
Acrolein
Crotonaldehyd
Benzaldehyd
Salicylaldehyd
p-Tolualdehyd
Trivialnamen einiger Ketone: O H3C
C
Aceton
O CH3 H3C
C
Acetophenon
H3C
CH2
O
O
C
C
Propiophenon
Benzophenon
13.2 Struktur und physikalische Eigenschaften Die Doppelbindung der Carbonylgruppe besteht aus einer σ- und einer π-Bindung. Die π-Bindung der Carbonylgruppe ist gegeben durch Überlappung des p-Orbitals des sp2-hybridisierten Kohlenstoffatoms mit einem p-Orbital des Sauerstoffatoms. Die an die Carbonylgruppe gebundenen Atome liegen, ebenso wie das C- und O-Atom dieser Gruppe, in einer Ebene. Ein Orbitallappen der π-Bindung befindet sich über, der andere unter dieser Ebene. Der Bindungswinkel zweier σ-Bindungen am Carbonyl-Kohlenstoff beträgt etwa 120°. Der Sauerstoff ist stärker elektronegativ als der Kohlenstoff. Das Sauerstoffatom der Carbonylgruppe zieht deshalb vor allem die beweglichen π-Elektronen näher zu sich, so daß die Doppelbindung der Carbonylgruppe polar ist. Wendet man die Valenzbindungstheorie (siehe Abschnitt 6.2) an, so kann man diesen Zustand durch mesomere Grenzformeln ausdrücken, oder man kann das Resonanzhybrid mit der als energieärmer anzunehmenden mesomeren Grenzformel (die, bei der keine Ladungstrennung vorliegt) symbolisieren, wobei man zum Carbonylkohlenstoff ein δ+ und zum Sauerstoffatom ein δ– schreibt. δ+ symbolisiert in diesem Falle eine positive Teilladung am Kohlenstoffatom und δ– eine negative Teilladung am Sauerstoffatom.
482
13 Aldehyde und Ketone sp2-Orbitale mit freien Elektronenpaaren oberer Orbitallappen
+
R
π-Orbital
C
~120°
O
~120°
R' unterer Orbitallappen
Ebene, in der sich R, R', das C- und O-Atom der Carbonylgruppe und die sp2-Orbitale befinden
Bild 13.1 Bindungen der Carbonylgruppe und ihre räumliche Anordnung R'
R' C
O
C
R
O
oder
R' δ+ δC O R
R
Der Polarität der Carbonyl-Doppelbindung entsprechend weisen Carbonylverbindungen ein relativ hohes Dipolmoment auf (höher als Ether). R' δ+ δC O R
Dipolmoment
Infolge der Dipol-Dipol-Wechselwirkung zwischen den Aldehyden bzw. Ketonen haben diese eine höhere Schmelz- und Siedetemperatur als Alkane gleicher Molekülmasse. Die Aldehyd- bzw. Ketonmoleküle können keine Wasserstoffbrücken untereinander bilden, weshalb sie niedrigere Schmelz- und Siedetemperaturen als die entsprechenden Alkohole aufweisen. Aldehyde und Ketone mit gleicher Molekülmasse zeigen nur kleine Unterschiede in Schmelz- und Siedetemperaturen, da die Dipol-Dipol-Wechselwirkung zwischen den Molekülen bei beiden Stoffklassen etwa gleich ist. Tabelle 13.1 Name
Schmelz- und Siedetemperaturen einiger Aldehyde und Ketone Schmelztempe- Siedetemperatur [°C] ratur [°C]
Formaldehyd
– 92
Acetaldehyd
–21
Name
Benzaldehyd
Schmelztemperatur [°C]
Siedetemperatur [°C]
–26
178
–121
20
Vanillin
82
285
Propionaldehyd
–81
49
Aceton
–94
56
Acrolein
–88
52
2-Butanon
–86
80
Butyraldehyd
–99
76
Acetophenon
21
202
Valeraldehyd
91
103
Benzophenon
48
306
13.3 Synthese der Aldehyde und Ketone
483
Die niedermolekularen Aldehyde und Ketone (Formaldehyd, Acetaldehyd, Aceton und Methylethylketon) sind in Wasser sehr gut löslich. Ihre Löslichkeit ist auf die Bildung von Wasserstoffbrücken mit Wasser und auch auf Hydratbildung zurückzuführen (Aldehyde und Ketone können zwar untereinander keine Wasserstoffbrücken ausbilden, doch sie können es mit Wasser: R2C=O|…H–O–H ). Aldehyde bzw. Ketone mit sechs und mehr C-Atomen sind jedoch in Wasser praktisch unlöslich. Bei ihnen überwiegen die hydrophoben Eigenschaften der Kohlenstoffkette. Manche Aldehyde sind geruchsintensiv. Acrolein hat einen stechenden Geruch (wahrnehmbar beim Anbrennen von Fetten), Vanillin, Anisaldehyd und Zimtaldehyd riechen angenehm.
13.3 Synthese der Aldehyde und Ketone 13.3.1 Wichtige Aldehyde und Ketone und ihre großtechnische Synthese 13.3.1.1 Formaldehyd H C
O
H
Eigenschaften. Formaldehyd ist ein stechend riechendes farbloses Gas, das in Gegenwart geringer Verunreinigungen leicht polymerisiert. Es besteht der Verdacht, daß es krebserregend ist. In Wasser löst sich Formaldehyd unter Hydratbildung. In den Handel gelangt es in Form von 35–55 %igen wäßrigen Lösungen, welche als Formalin bezeichnet werden. Formaldehyd kann man ebenfalls aus dem im Handel erhältlichen Trioxan gewinnen, einer cyclischen trimeren Form des Formaldehyds, oder aus dem Paraformaldehyd H–(–OCH2–)n–OH einem festen linearen Polymeren des Formaldehyds. Beide Polymerisate können durch Erhitzen zu Formaldehyd depolymerisiert werden. Verwendung. Weltweit werden etwa 2 Millionen t Formaldehyd erzeugt, davon allein in der Bundesrepublik Deutschland 500.000 t. Formaldehyd wird hauptsächlich zur Produktion von Kunstharzen benötigt, welche durch Polykondensation des Formaldehyds mit Phenolen (siehe Abschnitt 11.5.2.6), mit Harnstoff H2NCONH2 oder mit Melamin entstehen (Melamin wird technisch durch Cyclisierung von Harnstoff unter CO2- und NH3-Abspaltung bei 400°C in Gegenwart von Al2O3 im Fließbettreaktor hergestellt). Formaldehyd wird außerdem als Desinfektionsmittel, als Konservierungs- und Härtungsmittel in Form von Formalin für anatomische Präparate und als Hilfsmittel in der Textil-, Leder-, Pelz- Papier- und Holzindustrie verwendet. NH2 N H2N
N N
NH2
Melamin
484
13 Aldehyde und Ketone
Synthese. Formaldehyd wird fast ausschließlich durch Dehydrierung und Oxydehydrierung des Methanols gewonnen, wobei Silber- oder Kupferkatalysatoren verwendet werden. Die Reaktion erfolgt bei Temperaturen im Bereich von 600–720°C. Die Methanoldämpfe werden mit einer unterstöchiometrischen Menge an Luft im Reaktor über eine nur wenige cm dicke, aus Silbernetzen bestehende, Schicht geleitet. Im Primärschritt erfolgt die endotherme Dehydrierung (Wasserstoffabspaltung bei Erhitzen) des Methanols. H H
Ag-Katalysator,
C
680-720 °C
OH
H C
O
+ H2
ΔH = + 84 kJ/mol
H
H
Der in dieser Reaktion freiwerdende Wasserstoff kann durch Zugabe von Luft verbrannt werden. Durch dosierte Luftzuführung erfolgt die Oxydehydrierung. Die Zugabe der entsprechenden Luftmenge kann so gesteuert werden, daß im Reaktor ohne Wärmezufuhr von außen die benötigte Reaktionstemperatur von 600–720°C aufrecht erhalten werden kann. H H
Ag-Katalysator,
C
OH
1
+ /2 O2
680-720 °C
H C
O + H2O
ΔH = - 159 kJ/mol
H
H
Nach kurzer Verweilzeit in der Katalysatorschicht werden die heißen Reaktionsgase schnell auf 150°C abgekühlt, um den thermischen Zerfall HCHO → CO + H2 zu verhindern. 13.3.1.2 Acetaldehyd O H3C
C H
Eigenschaften. Acetaldehyd ist eine niedrig siedende (20,2°C), stechend riechende Flüssigkeit, löslich in Wasser, Alkoholen und Ether. Verwendung. Es dient hauptsächlich zur Weiterverarbeitung zu Essigsäure, zur Produktion von Acetanhydrid, Acrolein, Acetaldol, Crotonaldehyd und Butadien. Synthese. Acetaldehyd wird hauptsächlich nach dem Wacker-Hoechst-Verfahren produziert. Ethen wird bei diesem Verfahren in die salzsaure wäßrige Lösung eines ZweikomponentenKatalysators, bestehend aus PdCl2 und CuCl2, eingeleitet. In dieser Lösung wird es bei 120– 130°C und 3 bar mit Sauerstoff partiell zu Acetaldehyd oxidiert. Die bei dieser exothermen Reaktion entstehende Reaktionswärme wird dazu verwendet, den Acetaldehyd aus dem Reaktionsgemisch abzudestillieren. Das Ethen wird im ersten Durchlauf nur zu 35–45 % umgesetzt. Das nicht umgesetzte Ethen wird wieder in den Reaktor zurückgeführt. H2C
CH2 + 1/2 O2
PdCl2/CuCl2/HCl-Lösung, 130 °C, 3 bar
O H3C
C H
13.3 Synthese der Aldehyde und Ketone
485
Die Reaktion ist mehrstufig. In der ersten Stufe erfolgt die schnellablaufende Oxidationsreaktion. O CH2 +
H2C
PdCl2 + H2O
H3C
+
C
Pd
+ 2 HCl
H
In den weiteren zwei Teilschritten erfolgt die langsamere Regenerationsphase, die für die Gesamtreaktion geschwindigkeitsbestimmend ist. Zuerst wird das Pd zu PdCl2 regeneriert und dann wird mit Sauerstoff CuCl zu CuCl2 oxidiert. + 2 CuCl2
Pd
2 CuCl
+ 2 HCl
PdCl2
+ 1/2 O2
+ 2 CuCl 2 CuCl2
+ H2O
13.3.1.3 Aceton H3C C
O
H3C
Eigenschaften. Aceton ist eine charakteristisch riechende, niedrig siedende Flüssigkeit (Sdp. 56,2°C), die mit Wasser, Alkoholen und Ether mischbar ist. Acetondämpfe wirken sich, über einen längeren Zeitraum eingeatmet, gesundheitsschädigend aus. Darum wird in Betrieben, in welchen Aceton als Lösungsmittel verwendet wird, in zeitlichen Abständen das Blutbild der Werksangehörigen kontrolliert, die diesen Dämpfen ausgesetzt sind. Bei Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) tritt Aceton im Harn als anomales Stoffwechselprodukt auf. Verwendung. Aceton ist ein ausgezeichnetes Lösungsmittel. Es ist die Ausgangssubstanz für viele Synthesen, z.B. für das Methylmethacrylat (siehe Abschnitt 15.5.1.2), das zur Herstellung von Polymethylmethacrylat (= Plexiglas) dient, und für die Produktion von Bisphenol A (siehe Abschnitt 12.5.3.2), das für die Herstellung von Epoxidharzen benötigt wird. Herstellungsverfahren. Hauptsächliche Herstellungsverfahren des Acetons sind die partielle Oxidation von Propen, die oxidative Dehydrierung von Isopropanol und die Synthese aus Benzol und Propen über Cumol und Cumolhydroperoxid, das durch die Hock-Spaltung zu Aceton und Phenol umgesetzt wird. a)
Aceton aus Cumol im Hock-Verfahren (siehe Abschnitt 11.4). Bei dieser Herstellung geht man vom Benzol und dem beim Steamcracken (siehe Abschnitt 7.6.1.2) in großen Mengen anfallenden Propen aus. Beide werden nach Friedel-Crafts (siehe Abschnitt 6.6.1.4) zum Cumol umgesetzt. Dieses wird mit Luftsauerstoff zum Cumolhydroperoxid oxidiert (siehe Abschnitt 2.9.3.1). Das Cumolhydroperoxid wird im saurem Medium zu Phenol und Aceton umgesetzt (siehe Abschnitt 11.4).
486
13 Aldehyde und Ketone O H
H3C C H
CH2
H3C
C
H
O CH3
H3C
C
OH
CH3
+
O AlCl3
O2
Cumol
H
+ H3C
Cumolhydroperoxid
C
Phenol
CH3
Aceton
b) Partielle Oxidation von Propen nach dem Wacker-Hoechst-Verfahren. Bei der Herstellung des Acetons nach diesem Verfahren geht man vom Propen aus, das in eine salzsaure wäßrige Lösung von PdCl2 und CuCl2 gleichzeitig mit Sauerstoff eingeleitet wird. Die partielle Oxidation erfolgt in dieser Lösung bei 3 bar und 130°C (siehe auch die Synthese des Aldehyds in Abschnitt 13.3.1.2). O
130 °C, 3 bar
H2C
c)
CH
CH3
+
1
/2 O2
PdCl2/CuCl2/HCl
H3C
C
CH3
Oxidative Dehydrierung von Isopropanol. In Gegenwart von Silber- oder Kupferkatalysatoren erfolgt (siehe die Synthese des Formaldehyds in Abschnitt 13.3.1.1) bei 400– 600°C mit Sauerstoff die oxidative Dehydrierung des Isopropanols zu Aceton. OH H3C
CH
O Ag, 400 °C
CH3
H3C
C
CH3
+
H2
Unter Zugabe von Sauerstoff erfolgt die Verbrennung des Wasserstoffs zu Wasser. Neben der Dehydrierung erfolgt mit dem zugeführten Sauerstoff bei den Reaktionsbedingungen auch die direkte Oxidation. O
OH H3C
CH
CH3
+
1
/2 O2
Ag, 400 °C
H3C
C
CH3
+
H2O
13.3.1.4 Ethylmethylketon H3C
CH2 C
O
H3C
Das Ethylmethylketon ist ein ausgezeichnetes Lösungsmittel (Siedepunkt 79,6°C). Es kann durch katalytische Dehydrierung des sek-Butylalkohols bei 300°C am Kupferkontakt oder nach dem Wacker-Hoechst-Verfahren durch Luftoxidation des 1-Butens in salzsaurer PdCl2/CuCl2 -Lösung hergestellt werden.
13.3 Synthese der Aldehyde und Ketone
487
13.3.1.5 Die Hydroformylierung (die Oxosynthese) Großtechnisch werden höhere Aldehyde mit Hilfe der Hydroformylierung hergestellt. Hierbei reagieren Alkene in Gegenwart eines Cobaltkatalysators mit einem Gemisch von H2 und CO in flüssiger Phase, bei 140–180°C und 250–300 bar, wobei isomere Aldehyde entstehen. Der Cobaltkatalysator wird entweder als Metall in Pulverform oder, in Verbindungen, als Cobalthydroxid oder Cobaltsalz in die Reaktion eingebracht. Rhodium, Ruthenium und Platin sind als Katalysator ebenfalls verwendbar, aber für die großtechnische Synthese zu teuer. H R
R
Katalysator, 150 °C, Druck
CH2 + CO + H2
CH
CH2
CH2
C O
R
CH
CH3
C H
O
Bei der Reaktion wird Dicobaltoctacarbonyl Co2(CO)8 gebildet, das in Wasserstoffatmosphäre mit Cobalttetracarbonylwasserstoff H–Co(CO)4 im Reaktionsgleichgewicht steht. H2
+
Co2(CO)8
2H
Co(CO)4
H–Co(CO)4 gibt CO ab, und es entsteht Cobalttricarbonylwasserstoff H–Co(CO)3. H
Co(CO)4
H
Co(CO)3
+
CO
Das Zentralatom Co hat im Cobalttricarbonylwasserstoff eine freie Koordinationsstelle, so daß es sich an ein Kohlenstoffatom des Alkens binden kann. In Wechselwirkung mit dem Alken entsteht zunächst ein π-Komplex. Unter Absättigung des Cobaltatoms mit CO wird ein Alkylcobalttetracarbonylkomplex gebildet. R
CH H
CH2 Co(CO)3
+
R
CO
CH
CH2
H Co(CO)4 Alkylcobalttetracarbonylkomplex
π-Komplex
Im Alkyltetracarbonylkomplex erfolgt die Insertion (Einschub) einer Carbonylgruppe zwischen den Kohlenstoff der CH2-Gruppe und Co unter Bildung eines Acylcobalttricarbonylkomplexes. R
CH2
CH2
Co(CO)4 Alkylcobalttetracarbonylkomplex
R
CH2
CH2
C
O
Co(CO)3 Acylcobalttricarbonylkomplex
Der Acylcobalttricarbonylkomplex wird mit Wasserstoff unter Rückbildung von H–Co(CO)3 reduktiv gespalten.
488 R
13 Aldehyde und Ketone CH2
CH2
C
O
R
Co(CO)3 Acylcobalttricarbonylkomplex
+ H2
CH2
CH2
C
O
+ H
H Aldehyd
Co(CO)3
Cobalttricarbonylwasserstoff
Aus der Hydroformylierung erhaltene höhere Aldehyde werden zum größten Teil zu Alkoholen hydriert (siehe Abschnitt 10.6.1.5b), und diese werden weiter zu Tensiden verarbeitet (siehe Abschnitt 16.3.1). Ein Teil der Aldehyde wird auch zu Carbonsäuren oxidiert.
13.3.2 Die Synthese aliphatischer Aldehyde 13.3.2.1 Oxidation primärer Alkohole
Die Oxidation primärer Alkohole führt zwar zunächst zu Aldehyden. Diese selbst, und insbesondere ihre Hydrate, werden aber leicht weiter zu Carbonsäuren oxidiert. Die Oxidation mit Chrom(VI)-Verbindungen in saurem Medium wird deshalb nur bei Alkoholen angewendet, die zu flüchtigen Aldehyden umgesetzt werden. Diese kann man aus dem Reaktionsgemisch kontinuierlich abdestillieren, so daß sie nicht weiterreagieren können. In nichtwäßrigen Lösungsmittel kann aber mit dem komplexen Bispyridinchrom(VI)-oxid, das aus 1 Mol Chromtrioxid und 2 Mol Pyridin gebildet wird, die Oxidation zum Aldehyd erfolgen, wobei dieser in guter Ausbeute erhalten wird. H R
C
O
CrO3(C5H5N)2, CHCl3, 25 °C, 1 h
OH
R
C H
H
13.3.2.2 Reduktive Spaltung von Ozoniden R
Ozonide vom Typ
O
O
C H
R'
können durch reduktive Spaltung mit Zn in Essigsäure
C O
H
oder durch katalytische Hydrierung mit Pd auf Calciumcarbonat zu Aldehyden umgesetzt werden. R
O
O
C H
R' C
O
Zn/CH3COOH
H
O R
O
+
C H
C
R'
+
H2O
H
13.3.2.3 Reduktion von Säurechloriden
Säurechloride können durch katalytische Hydrierung mit Palladium, das auf Bariumsulfat als Trägersubstanz aufgebracht und mit einer kleinen Menge eines schwefelhaltigen Kontaktgiftes (z.B. Thioharnstoff) versehen ist, zu Aldehyden reduziert werden (Rosenmund-Saizew-
13.3 Synthese der Aldehyde und Ketone
489
Reaktion). Die Desaktivierung des Katalysators ist notwendig, da sonst die entstandenen Aldehyde weiter zum Alkohol reduziert würden. O R
+
C
O
Pd/BaSO4
H2
R
Cl Säurechlorid
+
C
HCl
H
Aldehyd
13.3.2.4 Reduktion von Nitrilen
Nitrile können mit modifizierten Aluminiumhydrid-Verbindungen, z.B. mit Diisobutylaluminiumhydrid H3C H3C
CH
CH2 2AlH
oder mit Triethoxylithiumaluminiumhydrid LiAlH(OCH2CH3)3 zu Iminverbindungen reduziert werden, die bei der Aufarbeitung mit verd. Säure zu Aldehyden umgesetzt werden. R
C
N + LiAlH(OCH2CH3)3
Ether
H R
H /H2O
Li
C
H R
C
Al(OCH2CH3)3
N
O
Bei Reaktion des Lithiumaluminiumhydrids mit Nitrilen werden diese bis zum entsprechenden Amin reduziert.
13.3.3 Synthese aromatischer Aldehyde Die bereits angeführten Methoden zur Synthese aliphatischer Aldehyde können auch für die Darstellung aromatischer Aldehyde genutzt werden. Man verfügt aber außerdem noch über weitere spezielle Methoden für ihre Darstellung. 13.3.3.1 Oxidation der am aromatischen Kern gebundenen Methylgruppe a) Oxidation mit Chromtrioxid in Acetanhydrid
Wird die Oxidation von Toluol mit Chromtrioxid in Acetanhydrid durchgeführt, so wird das Diacetat des Benzaldehydhydrats gebildet, das gegenüber dem Oxidationsmittel beständig ist. Bei der Hydrolyse wird es zu Benzaldehyd und Essigsäure umgesetzt. O O H3C
C
CrO3, H3C
C
CH3
O O
O
C
CH3
C
CH3
O
CH O
C
O
Diacetat des Benzaldehydhydrats
H2O
H
+ 2 H3C
O C OH
Benzaldehyd
490
13 Aldehyde und Ketone
b) Die Étard-Reaktion
Arylmethan Ar–CH3 reagiert in Schwefelkohlenstoff bei 25–45°C mit zwei Äquivalenten Chromylchlorid (CrO2Cl2), wobei eine Komplexverbindung entsteht, die sich in Form von braunen Kristallen aus der Lösung abscheidet. Mit Wasser erfolgt die Hydrolyse des Komplexes, wobei der Aldehyd Ar –CHO, Chromsäure und CrCl3 gebildet werden. Der Aldehyd muß rasch durch Extraktion aus dem Reaktionsgemisch abgetrennt werden, damit er nicht durch die Chromsäure weiteroxidiert wird.
Ar
CH3 + 2 CrO2Cl2
CS2
OCrCl2OH Ar
CH OCrCl2OH
O
H2O - CrCl3, - H2CrO4 - HCl
Ar
C H
13.3.3.2 Aldehyde aus Arylmethylhalogeniden a) Hydrolyse von Benzalchlorid
Benzalchlorid kann durch Chlorierung von Toluol (siehe Abschnitt 6.6.3) dargestellt werden. Dieses wird zu Benzaldehyd hydrolysiert. O CHCl2
CH3
+
2 Cl2
150 °C, hν
C H2O
- 2 HCl
H
+ 2 HCl
b) Die Sommelet-Reaktion
Benzylhalogenide reagieren mit Hexamethylentetramin zu quartären Ammoniumsalzen, die bei saurer Hydrolyse zu Benzaldehyd umgesetzt werden. O CH2X
Benzylhalogenid
C
1.) (CH2)6N4 in CHCl3 2.) 50 %ige CH3COOH
H X = Cl, Br oder I
Benzaldehyd
Das bei der Umsetzung des Benzylhalogenids mit Hexamethylentetramin im ersten Reaktionsschritt gebildete quartäre Ammoniumsalz wird mit verdünnter Essigsäure hydrolysiert, wobei zunächst Benzylamin, Ammoniak und Formaldehyd entstehen.
13.3 Synthese der Aldehyde und Ketone
491 Cl
N
N
H
Cl CH2
N
N
N
H
6 H2O/ N
C
N
N
verd. Essigsäure
C
H
NH2
H
+ 3 NH3 + 6 HCHO + HCl
quartäres Ammoniumsalz
Benzylamin
Ammoniak und Formaldehyd reagieren zum Methylenimin H2C=NH (siehe Abschnitt 13.4.3.1), das im sauren Medium zu H2C=NH2+ protoniert wird. Diese Verbindung nimmt im weiteren Reaktionsschritt das Hydridion auf, das vom Benzylamin abgespalten wird. H H C
C NH2
H
H
H C
H
H
N
H C
H
NH2
+ H3C
N
H
H
H C
protoniertes Methylenimin
NH2
NH2
protoniertes Benzalimin
Methylamin
Das protonierte Benzalimin wird anschließend zum Benzaldehyd hydrolysiert. H C
NH2
H O
C H C
H NH2
protoniertes Benzalimin
H
H
H
O
NH2
C O
H
H NH2 H
+ NH4
C O
H
Benzaldehyd
An o-substituierten Benzylhalogeniden erfolgt die Sommelet-Reaktion aus sterischen Gründen nicht. c) Die Kröhnke-Reaktion
Das Arylmethylhalogenid Ar–CH2X wird im Reaktionsverlauf zum entsprechenden Aldehyd oxidiert, während das in die Reaktion eingebrachte p-Nitrosodimethylanilin zu p-Hydroxylaminodimethylanilin reduziert wird.
492
13 Aldehyde und Ketone 1.) Pyridin, 2.) OH
X Ar
CH2 + O
N(CH3)2
N
3.) H
/ H2O
OH
O C
Ar
+ H
N
N(CH3)2
H
p-Nitrosodimethylanilin
p-Hydroxylaminodimethylanilin
Die Reaktion umfaßt mehrere Reaktionsschritte. Das Arylmethylhalogenid Ar-CH2X wird zunächst mit Pyridin umgesetzt, wobei ein quartäres Pyridiniumsalz entsteht. Die positive Ladung am Stickstoff polarisiert die C–N-Bindung so stark, daß der Pyridiniumrest eine gute Abgangsgruppe darstellt. Die SN2-Reaktion mit p-Nitrosodimethylanilin als Nucleophil führt zu einem Zwischenprodukt, CH3
X N
N H2C
O
N
N
X
CH3
CH3
CH2
N + O
N
- X
Ar
N CH3
CH2
Ar
Ar
quartäres Pyridiniumsalz
das im alkalischen Medium ein Proton abspaltet. Es entsteht das Nitron, das bei saurer Hydrolyse zum Aldehyd Ar–CHO und p-Hydroxylaminodimethylanilin gespalten wird. CH3
CH3 O
N
H
C
N H
Ar
O
- H2O CH3
O
N
H
C Ar
H
N
H
H / H2O
HO
CH3
N
N
CH3
CH3
p-Hydroxyaminodimethylanilin
Nitron
H
+
O C Ar
aromatischer Aldehyd
13.3.3.3 Direkte Formylierung aromatischer Verbindungen a) Gattermann-Koch-Synthese
Man leitet mehrere Stunden ein Gemisch von trockenem Chlorwasserstoffgas und Kohlenstoffmonoxid in eine Suspension von wasserfreiem CuCl und AlCl3 im aromatischen Kohlenwasserstoff ein. Als Zwischenprodukt wird wahrscheinlich Formylchlorid gebildet, das mit AlCl3 komplexiert, worauf nach Art einer Friedel-Crafts-Reaktion (siehe Abschnitt 6.6.1.4) die elektrophile Substitution des aromatischen Kohlenwasserstoffs erfolgt. Die Ausbeuten sind mäßig, für die Formylierung von Benzol muß AlBr3 anstelle von AlCl3 verwendet werden. HCl + C
O H
Ar
H
+
Cl
C O
AlCl3 / CuCl
H Ar
+ HCl
C O
13.3 Synthese der Aldehyde und Ketone
493
b) Gattermann-Synthese
Leitet man Chlorwasserstoffgas in das Reaktionsgemisch eines aromatischen Kohlenwasserstoffes Ar–H und eines Alkalicyanids in Gegenwart von AlCl3 oder ZnCl2 ein, so wird Blausäure freigesetzt, und es entsteht ein Zwischenprodukt, das durch Hydrolyse zum Aldehyd umgesetzt wird.
Ar
+
H
2H
C
1.) HCl, AlCl3 oder ZnCl2 2.) H / H2O
N
O Ar
- 2 NH3, - HCOOH
C H
Die Reaktion verläuft in folgenden Reaktionsschritten: Chlorwasserstoff wird bei 40°C in den aromatischen Kohlenwasserstoff eingeleitet, in dem Natriumcyanid und Aluminiumchlorid suspendiert sind. Der Chlorwasserstoff setzt aus dem Natriumcyanid die Blausäure HCN frei, die mit HCl wahrscheinlich zunächst Formimidchlorid Cl–CH=NH bildet, das sich an ein weiteres Molekül HCN anlagert. Cl
+
HCl
H
C
C
N
Formimidchlorid
N
H
H H
Cl
Cl C
+
N
H
H
C
N
C C
H
N
N
H
H
Das Addukt Cl–CH=N–CH=NH bildet mit dem Aluminiumchlorid einen Komplex Cl–CH=N–CH=NH · AlCl3, der mit dem aromatischen Kohlenwasserstoff reagiert (SE-Reaktion). Die nachfolgende Hydrolyse ergibt in mäßiger Ausbeute den entsprechenden aromatischen Aldehyd. H Ar
+
H
Cl
C C
N
H
AlCl3
N
Ar
H
H C C
N
3 H2O
N H
+
N
N
HCl
H
H
H
Ar
C C
O Ar
+
C
2 NH3
+
HCOOH
H
H
c) Die Vilsmeier-Synthese
Die Vilsmeier-Synthese kann nur zur Formylierung reaktiver Aromaten, z.B. Anthracen, Phenole, Phenolether oder Arylamine, verwendet werden.
494
13 Aldehyde und Ketone
Sie erfolgt mit N-Methylformanilid als Formylierungsreagens in Gegenwart von Phosphorylchlorid POCl3. O H
Ar
+ H
Ar
+
C
H
H
CH3 N-Methylformanilid
Aromat
O
POCl3
N
C
N CH3 N-Methylanilin
aromatischer Aldehyd
Das N-Methylformanilid wird aus N-Methylanilin und Ameisensäure in siedendem Toluol hergestellt. Das bei der Reaktion gebildete Wasser wird laufend abdestilliert, um eine Gleichgewichtsverschiebung zum erwünschten Produkt, dem N-Methylformanilid, zu erreichen. O H
O
H
H
+
N
O
C
C
siedendes Toluol
H
N
+ H2O
CH3 N-Methylformanilid
CH3
Ameisensäure
N-Methylformanilid reagiert mit Phosphoroxidchlorid unter Bildung eines Esters, der eine positive Ladung am Kohlenstoff aufweist. –O–POCl2 ist eine gute Abgangsgruppe und wird durch das bei der Veresterung freigewordene Chloridion Cl– ersetzt.
Cl O
O N
N
C H
CH3
PCl2
C
CH3
O
H
O
Cl O N CH3 Ester
C H
PCl2 O
Cl N CH3 Carbeniumion
PCl2 O
C H
Das als Zwischenprodukt gebildete Carbeniumion wird in einer SE-Reaktion mit der aromatischen Verbindung umgesetzt. Das entstandene Iminium-Ion wird zum Aldehyd hydrolysiert.
13.3 Synthese der Aldehyde und Ketone
495
X
X
Cl C
N
H
CH3
Carbeniumion X
X
Cl
H Cl
X
C
N
H
CH3
-H
X
H C
N
C
N
H
CH3
- Cl
O
H /H2O
H
C H
+
H
N CH3
CH3
Aryliminium-Ion
Aldehyd
N-Methylanilinium-Ion
X = OH, NH2
d) Die Reimer-Tiemann-Formylierung
Die Formylierung von Phenolen durch die Reimer-Tiemann-Reaktion erfolgt mit Chloroform in alkalischer Lösung. Die Formylgruppe wird in ortho-Stellung zur Hydroxygruppe eingeführt. Nur wenn beide ortho-Stellungen bereits besetzt sind, erfolgt die Substitution in die para-Stellung. Auch Pyrrol und dessen Derivate können auf diese Weise formyliert werden. O
O
+ CHCl3
1.) HO 2.) Hydrolyse
O C
H
- H2O, - Cl
In alkalischem Medium wird Chloroform zu Dichlorcarben umgesetzt. Die drei Chloratome im Chloroform üben einen starken –I-Effekt aus, so daß die C–H-Bindung polarisiert ist und das Chloroform als schwache C-Säure angesehen werden kann. Nach Abspaltung des Protons aus dem Chloroform entsteht ein Carbanion. Dieses spaltet ein Chloridion ab, wobei das Dichlorcarben gebildet wird. Man spricht in diesem Falle von einer α-Eliminierung, da beide Atome, H und Cl, vom gleichen C-Atom abgespalten werden.
496
13 Aldehyde und Ketone Cl
Cl H
O
H
C
Cl
Cl
C
- H2O
Cl
Cl Carbanion
Cl Chloroform
C - Cl
Cl
Dichlorcarben
In der äußeren Schale des C-Atoms im Dichlorcarben befindet sich nur ein Elektronensextett. Es hat deshalb das Bestreben dieses auf ein Elektronenoktett aufzufüllen, was die Reaktivität des Dichlorcarbens erklärt. Es reagiert als Singulett-Carben (siehe Abschnitt 5.8.1), das ein unbesetztes p-Orbital und ein mit einem freien Elektronenpaar besetztes sp2-Orbital besitzt. Mit seinem unbesetzten p-Orbital kann es mit einem Elektronendonor reagieren. Es hat also die Eigenschaften eines Elektrophils. Gleichzeitig verfügt das Singulett-Carben über ein freies Elektronenpaar im sp2-Orbital, mit dem es ein Proton zu binden vermag. Es hat demnach auch basische Eigenschaften. Bei der Reimer-Tiemann-Reaktion erfolgt zunächst der elektrophile Angriff des Dichlorcarbens auf das Phenolat-Ion. Durch Protonenwanderung wird die –CHCl2-Gruppe gebildet, welche im alkalischen Medium zur Formylgruppe hydrolisiert wird. Z.B. entsteht nach der Reaktion des Phenolations mit Dichlorcarben, der alkalischen Hydrolyse des Zwischenprodukts und nach Ansäuern des Reaktionsgemisches der Salicylaldehyd. Reaktion des Phenolat-Anions mit Dichlorcarben: O
O
O H
CCl2
CCl2
CCl2
o-Dichlormethylphenolat
Hydrolyse: O
O
H C
H
O
Cl
Cl
H C Cl
- Cl
O - Cl
H
O
H
O
H C
, - H2O
Salicylaldehyd-Anion
Ansäuern: O
H
H
HO
C O
H
H C
Salicylaldehyd
O
O
13.3 Synthese der Aldehyde und Ketone
497
13.3.4 Die Synthese aliphatischer Ketone 13.3.4.1 Oxidation sekundärer Alkohole
Sekundäre Alkohole lassen sich mit Kaliumdichromat K2Cr2O7 in verdünnter Schwefelsäure (Reaktionsmechanismus siehe Abschnitt 10.7.7), mit CrO3 in Eisessig, in Dimethylformamid HCON(CH3)2 oder in Aceton, mit Kaliumpermanganat KMnO4 und mit anderen Oxidationsmitteln bei Zimmertemperatur oder unter mäßigem Erwärmen oxidieren. Die Ketone sind gegen Oxidationsmittel bei nicht allzu drastischen Reaktionsbedingungen weitgehend beständig. R1
O
H
C 2
R
K2Cr2O7 / verd. H2SO4, 25 °C
R1 C
O
2
H
R
13.3.4.2 Katalytische Dehydrierung sekundärer Alkohole
Die katalytische Dehydrierung (Abspaltung von Wasserstoff in Gegenwart eines Katalysators) bzw. oxidative Dehydrierung (Abspaltung von Wasserstoff und daneben ablaufende gleichzeitige Oxidation mit Luftsauerstoff, siehe Abschnitte 13.3.1.1 und 13.3.1.3c) sind wichtige Verfahren zur Herstellung von Aldehyden aus primären Alkoholen und von Ketonen aus sekundären Alkoholen. Der Kolben mit dem sekundären Alkohol wird 50°C über die Siedetemperatur des Alkohols erhitzt und in den Kolben ein mäßiger Luftstrom eingeleitet. Die Alkoholdämpfe werden mit dem Luftstrom durch ein auf 350–400°C aufgeheiztes Rohr geführt, das mit einem kombinierten Cu/Ag-Katalysator auf Bimsstein gefüllt ist. Die Dehydrierung ist ein endothermer Vorgang. Deshalb muß das Rohr mit dem Katalysator beheizt werden. Der bei der Dehydrierung entstandene Wasserstoff wird durch den eingeleiteten Luftsauerstoff verbrannt und der Katalysator dadurch aufgeheizt. Das Temperaturoptimum für die Wirkung des Katalysators liegt bei 400–450°C. Als Katalysatoren geeignet sind metallisches Kupfer, Silber, Kupferchromoxid und Zinkoxid. Katalytische Dehydrierung: R1
O
H
Cu / Ag-Katalysator, 400 °C
C 2
R
R1 C 2
H
O
+ H2
R
Oxidative Dehydrierung: R1
O
+
C 2
R
H
H
1
/2 O2
Cu / Ag-Katalysator, 400 °C - H2O
R1 C 2
R
O
498
13 Aldehyde und Ketone
13.3.4.3 Addition von Grignard-Verbindungen an Nitrile
Grignard-Verbindungen reagieren mit Nitrilen unter Bildung von Azomethinmagnesiumhalogeniden, deren saure Hydrolyse zum entsprechenden Keton führt. R1 R
2
C
N + R
1
MgX
C
N
MgX
2
H
R1
/ 2 H2O
C
- Mg(OH)X, - NH4
O
R2
R Azomethinmagnesiumhalogenid
Zunächst wird die Grignard-Verbindung an Nitrile addiert, wobei ein Azomethinmagnesiumhalogenid entsteht. Nach Zugabe einer verdünnden Säure wird zunächst das Ketimin gebildet, das im sauren Medium protoniert und zum entsprechenden Keton hydrolysiert wird. R1 Mg
R1 MgX
X 2
R2
C
R
N
C
H
Y - MgXY
N
Azomethinmagnesiumhalogenid
R
H C
R2
O
1
R
N
H C
H
R2
C
NH
R1
H
H
H R
C
N R2
H
H C
H
N
R2
H
Iminium-Ion X = Cl, Br oder I Y = OH, Cl, Br, I oder HSO4
H O
R1
N
R2
R2
1
H C
Ketimin
H 1
R1
H H
R1
H
R2
N
O
H
C
N
+ H
R1
H
R2
C
NH4 O
protoniertes Ketimin
13.3.4.4 Hydratisierung von Alkinen
Die Hydratisierung von Alkinen erfolgt bei mäßigem Erwärmen in verdünnter Schwefelsäure in Gegenwart von Quecksilber(II)-Ionen (RM siehe Abschnitt 4.5.7.1). Das zunächst entstandene Enol wird durch die sauer katalysierte Keto-Enol-Tautomerie in die entsprechende Carbonylverbindung umgewandelt. So erhält man aus Acetylen durch Anlagerung von Wasser Acetaldehyd, aus allen anderen Alkinen ein Keton. Die Addition des Wassers an unsymmetrische Alkine erfolgt nach der Markownikow-Regel (siehe Abschnitt 3.7.2).
R
C
CH
+ H2O
H3O
, Hg
2
,100 °C
HO
O
H C
C
C
R
H
Enol
R
CH3 Keton
13.3 Synthese der Aldehyde und Ketone
499
13.3.4.5 Reaktion von Carbonsäurechloriden mit Dialkylcadmium
Die Dialkylcadmiumverbindung kann durch Reaktion von Grignard-Reagens mit CdCl2 dargestellt werden. 2 R
+
MgCl
CdCl2
R
R + 2 MgCl2
Cd
Carbonsäurehalogenide reagieren mit Dialkylcadmium oder Diarylcadmium unter Bildung eines Ketons. Im Unterschied zum Grignard-Reagens reagiert Dialkylcadmium mit Ketonen nicht. O 2 R1
O
C
Cl
+ R
Cd
2 R1
R
C
+
R
CdCl2
13.3.4.6 Ketonbildung durch Pinakol-Umlagerung
Nach der Protonierung tetraalkylierter Diole vom Pinakol-Typ (siehe Abschnitt 10.6.2.5) wird unter Abspaltung von Wasser ein Carbeniumion gebildet. Es folgt die anionoide Umlagerung einer Alkylgruppe, die als Pinakol-Umlagerung bekannt ist. Nach Abspaltung eines Protons entsteht ein Keton. Aus Pinakol entsteht auf diese Weise Pinakolon:
HO
H3C
O
H + H
C
C
CH3
H3C
H3C HO
C H3C
CH3
OH2 C
CH3
- H2 O
H3C HO
CH3
C H3C
C
CH3
PinakolUmlagerung
CH3
Pinakol CH3 H
O
C
C H3 C
CH3 CH3
H
O
CH3
C H3C
C
CH3
O C
CH3 H3C
CH3
C
CH3 + H
CH3
Pinakolon
13.3.4.7 Pyrolyse von Calcium- oder Bariumsalzen der Carbonsäuren
Bei der trockenen Destillation von Calcium- oder Bariumsalzen der Carbonsäuren entstehen Ketone. O R
Ca2
C
O O
O
Erhitzen C O
R
R
C
R
+ CaCO3
500
13 Aldehyde und Ketone
Werden mit dieser Methode höhere Ketone synthetisiert, so werden die Ketone im Vakuum abdestilliert, damit die Pyrolyse auch in diesem Falle bei etwa 300°C erfolgen kann und ein Cracken der Reaktionsprodukte vermieden wird. Man kann die Synthese auch durch Überleiten der Carbonsäuredämpfe über erhitztes Thoriumoxid ThO2 oder Manganoxid MnO durchführen. Dabei entsteht das Salz der Carbonsäure, das sogleich in das Keton und das entsprechenden Carbonat zerfällt. Das Carbonat reagiert mit der weiter zuströmenden Carbonsäure, wobei wieder das Salz der Carbonsäure entsteht, worauf sich die Spaltung in das Keton und das Carbonat wiederholt. Die Pyrolyse der Barium- oder Calciumsalze von Disäuren eignet sich auch für die Synthese cyclischer Ketone. O H2C
CH2
C
O
H2C
CH2
C
O
Ca
2
300 °C
H2C
CH2
H2C
CH2
C
O
+
CaCO3
O Calciumsalz der Hexandisäure
Cyclopentanon
Höhermolekulare Fettsäuren können nach Krafft durch Pyrolyse ihrer Erdalkalisalze mit Calciumacetat zunächst in das entsprechende Methylketon umgesetzt werden, das dann durch Oxidation in das nächst niedrige Homologe der Fettsäure überführt wird.
13.3.5 Synthese von Arylketonen Für die Synthese von Arylketonen oder Alkylarylketonen lassen sich die vorgenannten Methoden für aliphatische Ketone auch anwenden, außerdem gibt es aber für ihre Synthese noch spezielle Darstellungsmethoden. 13.3.5.1 Die Friedel-Crafts-Reaktion mit Säurechloriden
Aromatische Kohlenwasserstoffe werden mit Säurechloriden durch elektrophile Acylierung zu Ketonen umgesetzt, wenn eine Aktivierung des Säurechlorids mit Lewis-Säuren, z.B. AlCl3, erfolgt (Reaktionsmechanismus siehe Abschnitt 6.6.1.4). O
O Ar
H +
X
C
R
AlCl3
Ar
C
R
+
HX
X = Cl, Br, I
Anstelle von Säurechloriden können auch Säureanhydride zur Acylierung der Aromaten eingesetzt werden.
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
501
13.3.5.2 Die Houben-Hoesch-Reaktion
Mehrwertige Phenole oder Phenolether reagieren mit Nitrilen und HCl in Gegenwart einer Lewis-Säure, z.B. AlCl3 oder ZnCl2, wobei zunächst wahrscheinlich das Ketiminiumchlorid entsteht, das zum Keton hydrolysiert wird. HO
OH
+ R
C
+ HCl
N
HO AlCl3
HO
OH H C R
N
OH
H2O - NH4Cl H
O C R
Cl
Ketiminiumchlorid
Keton
Es wird angenommen, daß das Nitril R–CN mit HCl protoniert wird und als elektrophiles Teilchen R–+C=NH in einer SE-Reaktion mit dem Phenol zum Ketiminium-Salz umgesetzt wird, das dann zum Keton hydrolysiert wird (RM der Hydrolyse siehe Abschnitt 13.3.4.3). R HO
C
N
OH R
+ HCl AlCl3
C
N
HO
OH
HO
OH
H
H Cl
C R
H2O
HO
OH
H - NH4Cl N Cl
H
C
N
R
Ketiminiumchlorid
O C
H Cl
R
Keton
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone Sowohl Aldehyde als auch Ketone haben im Molekül eine Carbonylgruppe, die ihre Reaktivität bedingt. Sie zeigen deshalb auch vielfach die gleichen Reaktionen. Das Sauerstoffatom der Carbonylgruppe bewirkt durch die im Vergleich zu Kohlenstoff höhere Elektronegativität eine Polarisierung der C=O-Doppelbindung. C
O
C
O
An das C-Atom der Carbonylgruppe, das eine positive Teilladung aufweist, kann die Addition eines Nucleophils erfolgen. Das Sauerstoffatom der Carbonylgruppe verfügt über freie Elektronenpaare, hat somit schwach basische Eigenschaften und kann ein Proton binden. Aldehyde und Ketone reagieren mit Grignard-Reagens, wobei über einen cyclischen Übergangszustand ein Zwischenprodukt gebildet wird, aus dem durch Hydrolyse ein Alkohol entsteht (siehe Abschnitt 10.6.2.8).
502
13 Aldehyde und Ketone
Die positive Teilladung am Kohlenstoffatom der Carbonylgruppe bewirkt einen –I-Effekt auf die in nächster Nähe befindlichen σ-Bindungen. Dies hat eine leichte Polarisation der C–H-Bindung der in direkter Nachbarschaft zur Carbonylgruppe befindlichen CH-, CH2oder CH3-Gruppe zur Folge, die zur Abspaltung eines Protons führen kann (CH-Acidität), wobei ein mesomeriestabilisiertes Ketocarbanion-Enolat-Ion gebildet wird.
C
δ+ δC O
OH
C
δ+ δC O
C
C
O
+ H2O
H
Ketocarbanion-Enolation
Reaktive Zentren der Aldehyde und Ketone schematisch dargestellt
Unterschiede in den Reaktionen der Aldehyde und Ketone
Zum Unterschied von den Ketonen haben die Aldehyde am C-Atom der Carbonylgruppe ein Wasserstoffatom gebunden. Dies bedingt die leichte Oxidierbarkeit der Aldehyde. Ketone dagegen sind Oxidationsmitteln gegenüber weitgehend beständig. Oftmals benutzt man sogar Aceton als Lösungsmittel bei Oxidationsreaktionen. Aldehyde, vor allem Formaldehyd und Acetaldehyd, bilden Oligomere bzw. Polymere, während Ketone auf diese Weise nicht reagieren. Bei Ketonen, an deren Carbonylgruppe sperrige Alkylreste gebunden sind, wird dem Nucleophil der Zutritt zum Kohlenstoffatom des Carbonyls räumlich verwehrt, so daß die nucleophile Addition an solche Ketone nicht stattfindet. In diesem Falle spricht man von einer sterischen Hinderung.
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
503
Zutritt des Nucleophils |Nu wird durch sperrige Gruppen behindert: CH3
H3C C
H3C
Nu
C
H3C
O
C CH3
H3C
Mechanismen der nucleophilen Addition an Carbonylverbindungen
Die Polarität der C=O-Doppelbindung und die damit verbundene positive Teilladung am Kohlenstoffatom der Carbonylgruppe ermöglichen bei Aldehyden und Ketonen nucleophile Additionsreaktionen. δ+ C
δO
OH
+
Nu
H
C Nu
Als nucleophil wird diese Addition deshalb bezeichnet, weil für diese Reaktion der Angriff eines Nucleophils NuH bzw. Nu– charakteristisch ist, der die Reaktion auch in der Regel einleitet. Mit undissoziiertem NuH als Nucleophil:
OH
δ+ δC O
Nu
C Nu
H
C
O
Nu
H
Mit Nu– als Nucleophil: H O δ+ δC O
C
O
OH
H
oder
C Nu
Nu
Nu
δ+ δC O Nu
H C
O
OH C Nu
Nu O
H
Die nucleophile Addition an die Carbonylgruppe kann auch mit basischer oder saurer Katalyse erfolgen. a) Die basenkatalysierte Addition. Im ersten Reaktionsschritt spaltet eine Base B aus dem undissoziierten Molekül Nu–H zunächst ein Proton ab, Nu
H +
B
Nu
+
H
B
B = Base
worauf sich das Nucleophil Nu– mit seinem Elektronenpaar an das C-Atom der Carbonylgruppe bindet. Der Sauerstoff des Zwischenprodukts mit der negativen Ladung
504
13 Aldehyde und Ketone
nimmt von der protonierten Base oder vom im Reaktionsgemisch befindlichen Wasser ein Proton auf. O C
H
C
O
O
B
+
C
B
Nu
Nu
Nu
H
b) Die säurekatalysierte Addition. Im sauren Medium wird der Sauerstoff der Carbonylgruppe protoniert. H C
H C
O
C
O
O
H
Carboxoniumion Die positive Teilladung des Carbonylkohlenstoffs wird dadurch wesentlich verstärkt, so daß nunmehr der Angriff des Nucleophils besser erfolgen kann. H C
O
Nu C
O
H
Nu
H
Nu
H
+ H
C
C OH
OH
Da zunächst ein Proton (also ein Elektrophil) an das Sauerstoffatom der Carbonylgruppe gebunden wird, könnte man meinen, eine elektrophile Addition an die Carbonylverbindung läge vor. Diese rein formelle Sichtweise ist aber irreführend, denn die typischen elektrophilen Reaktionen, die z.B. bei den Alkenen erfolgen, sind an der Carbonylgruppe nicht durchzuführen. Auch bei der säurekatalysierten Addition an die Carbonylgruppe ist der Angriff des Nucleophils das wesentliche Merkmal.
13.4.1 Addition von C-Nucleophilen an Aldehyde und Ketone Carbanionen reagieren als Nucleophile mit den Carbonylverbindungen. Die Carbanionen entstehen durch Abspaltung eines Protons aus Verbindungen, die eine polare C–H-Bindung haben und deshalb als schwache Säuren angesehen werden können. Man bezeichnet diese Verbindungen als C-Säuren. Die Reaktionen der C-Säuren mit Carbonylverbindungen sind für verschiedene Synthesen wichtig, da dabei Kohlenstoffatome miteinander verknüpft werden (C–C-Verknüpfung). Ein Beispiel dafür ist die Aldol-Reaktion (siehe Abschnitt 13.4.7.2). Die Addition von C-Nucleophilen an Aldehyde oder Ketone unter C–C-Verknüpfung erfolgt ebenfalls: bei der Reaktion mit Blausäure (Cyanhydrinbildung), der Addition von Acetylen (Ethinylierung), bei der Reaktion mit Malonsäurediester (KnoevenagelKondensation), der Reaktion mit Bernsteinsäurediester (Stobbe-Reaktion) und der Reaktion mit einem Phosphor-Ylid (Wittig-Reaktion).
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
505
13.4.1.1 Die Cyanhydrinbildung
Cyanhydrin ist ein Sammelbegriff für α-Hydroxynitrile. Gibt man zu einer wäßrigen Lösung des Natriumcyanids und eines Aldehyds oder Ketons unter Kühlung 35 %ige Schwefelsäure (im Abzugsschrank!) hinzu, so wird Cyanwasserstoff (Blausäure) freigesetzt und ein Cyanhydrin gebildet. Für diese Reaktion geeignet sind Aldehyde und solche Ketone, die keine sperrigen Reste an die Carbonylgruppe gebunden haben. Im ersten Reaktionsschritt greift das stark nucleophile Cyanidion CN– die Carbonylverbindung an, wobei eine C–C-Verknüpfung zustande kommt. Im zweiten Schritt wird H+ vom negativ geladenen Sauerstoff gebunden. H O
O C
C R
N
R
H
C
O C
H
N
R
H
C
C
N
H Cyanhydrin
Aldehyde, die am α-ständigen Kohlenstoffatom kein Wasserstoffatom gebunden haben, können Cyanhydrine bilden, die durch Hydrolyse der Nitrilgruppe in stark saurem Medium (siehe Abschnitt 15.3.2.4a) in α-Hydroxysäuren umgesetzt werden. α-ständiges C-Atom OH
O
+ H
C
C
N
C
H
OH C
N
H
H
Benzaldehyd
/2 H2O
C
- NH4
O C OH
H
Benzaldehydcyanhydrin
Mandelsäure
Bei Aldehyden, die am α-ständigen C-Atom ein Wasserstoffatom gebunden haben, kann nach der Addition von HCN im sauren Medium eine Dehydratisierung des Cyanhydrins zum α, β-ungesättigten Nitril erfolgen. Aus Aceton kann man über das Cyanhydrin als Zwischenprodukt das Methylmethacrylat synthetisieren. Aus diesem wird Plexiglas hergestellt (siehe Abschnitt 15.5.1.2). C
H3C C
N O
H3C
Aceton
H
H3C
OH C
H3C
C
N
Acetoncyanhydrin
H - H2O
H2C C
C
N
H3C
Methacrylnitril
H
/CH3OH
- NH4
O
H2C C
C
OCH3
H3C
Methylmethacrylat (Methacrylsäuremethylester)
13.4.1.2 Die Benzoinaddition
Läßt man Aromatische Aldehyde ohne Zugabe einer Säure mit Natriumcyanid in wäßrigalkoholischer Lösung reagieren, so erfolgt unter katalytischer Wirkung des Cyanidions die Bildung von Benzoinen. Cyanhydrin tritt in dieser Reaktion als Zwischenprodukt auf. Als Beispiel diene die Reaktion mit Benzaldehyd:
506
13 Aldehyde und Ketone
OH O
O 2
C
C
N
C
H
C
H Benzoin
Benzaldehyd
Bei der Benzoinaddition erfolgt zunächst die Addition des Cyanidions an die Carbonylgruppe des Benzaldehyds, wobei das Cyanhydrin entsteht. Dieses hat infolge des –I-Effekts der Hydroxy- und Nitrilgruppe die Eigenschaft einer C-Säure, die ein Proton in BenzylPosition abspaltet. Das hierbei entstandene Carbanion ist durch Mesomerie mit dem aromatischen Kern und der Cyanidgruppe mesomeriestabilisiert. Das Carbanion ist ein Nucleophil, das an die Carbonylgruppe eines Benzaldehydmoleküls addiert wird, so daß eine C–C-Verknüpfung stattfindet. O C6H5
H
O
C
H
+
C
C6H5 N
C
H
C
N
H O
O C6H5
H
C
H
C
N
O
H
- H2O
H
O
C6H5
C
N
C
Benzylposition
Cyanhydrin
Carbanion
O H
C
O
C6H5
C
N
C
C6H5
H
H
O
H
O
C6H5
C
C
N
C
H
C6H5
H O
H
O
O
H
C6H5
C
C
C6H5
N
C
H
Carbanion
Infolge des starken –I-Effekts der Cyanidgruppe erfolgt die Deprotonierung der zur Cyanidgruppe α-ständigen Hydroxygruppe. Im letzten Reaktionsschritt erfolgt die Abspaltung der Cyanidgruppe unter Bildung des Benzoins. H C6H5 N
O O α C C C
H
O
O
H
C6H5
C
C
C6H5
N
C
H
H C6H5
-H
C6H5
O
O
H
C
C
C6H5 +
C
N
H
Benzoin
Benzoin kann mit Salpetersäure zum Benzil oxidiert werden. Dieses lagert sich im alkalischen Medium durch Anionenwanderung der Phenylgruppe zum Benzilsäureanion um.
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
C6H5
O
O
C
C
O
C6H5
H
507
O
O
C
C
OH
C6H5
C6H5
Benzil
C6H5
O
O
C
C
H
O
OH O
H
H C6H5
C6H5
O
H O
O
C
C
C6H5
H
O H2O
Benzilsäureanion
13.4.1.3 Die Ethinylierung2
Acetylen und seine Monosubstitutionsprodukte werden unter Bildung eines Alkindiols bzw. Alkinols nucleophil an Aldehyde oder Ketone addiert. Als Kontaktsubstanz dient bei dieser Reaktion das auf einem Trägermaterial mit großer Oberfläche aufgetragene Kupferacetylid (siehe Abschnitt 4.5.2.2). OH
O
+
C R
H
C
C
R'
Kupferacetylid
R
H
C
C
C
R'
H Alkinol
Acetylen kann mit Formaldehyd und Kupferacetylid als Kontaktsubstanz zum 2-Butin1,4-diol umgesetzt werden.
2
+
C H
OH
OH
O
H
H
C
C
H
Kupferacetylid
H
C
C
C
C
H 2-Butin-1,4-diol
H
H
Früher wurde das nach obiger Reaktionsgleichung hergestellte 2-Butin-1,4-diol zur Synthese von Butadien verwendet, wobei es zunächst katalytisch hydriert und das Butan-1,4-diol dann dehydratisiert wurde. Heute gewinnt man Butadien fast ausschließlich aus beim Steamcracken (siehe Abschnitt 7.6.1.2) anfallenden C4-Crackschnitten.
2
Ethinylierung ist die von W. Reppe eingeführte Bezeichnung für die Addition von Acetylen bzw. monosubstituierten Alkinen an Aldehyde oder Ketone, die unter Erhalt der Dreifachbindung erfolgt. Kupferacetylid wird als Katalysator verwendet.
508
13 Aldehyde und Ketone
13.4.1.4 Die Knoevenagel-Kondensation
Als Knoevenagel-Kondensation bezeichnet man allgemein eine mit schwachen Basen katalysierte Kondensationsreaktion von Aldehyden bzw. Ketonen mit Verbindungen, die eine aktivierte Methylengruppe besitzen. Malonsäurediester reagieren mit Aldehyden oder Ketonen unter Katalyse schwacher Basen (z.B. Pyridin oder Diethylamin) zum Alkylidenmalonsäurediester. Nach Ansäuern wird der Diester hydrolysiert und es folgt eine Decarboxylierung. Als Endprodukt entsteht eine α,βungesättigte Carbonsäure. O R
C
H C
O
H
+
O OC2H5
Pyridin
C
H
C
- H2O
OC2H5
C
R C
C C
H
O
Aldehyd
OC2H5 OC2H5
H
R
/H2O
H
- 2 C2H5OH H - CO2
C
O
C
C OH
O
Malonsäurediester
α,β-ungesättigte Carbonsäure
Alkylidenmalonsäurediester
Im Malonsäurediester befinden sich in direkter Nachbarschaft zur Methylengruppe zwei Carbonylgruppen, die beide einen starken –I-Effekt ausüben und dadurch die C–H-Bindung polarisieren. Der Malonsäurediester ist eine C-Säure, die aus der Methylengruppe ein Proton abspaltet, das von der im Reaktionsgemisch anwesenden Base gebunden wird. Es entsteht das mesomeriestabilisierte Malonsäurediester-Anion. O O N
H
C
C
OC2H5
C
OC2H5
N
H +
OC2H5
CH
C H
O
O C
OC2H5
C
OC2H5
O
C
OC2H5
C
OC2H5
CH
CH C
OC2H5
O
O
O
Pyridin
Malonsäurediester
Malonsäurediester-Anion
Im weiteren erfolgt eine nucleophile Addition des Malonsäurediester-Anions an die Doppelbindung der Carbonylgruppe des Aldehyds bzw. des Ketons. O O R
C H
C
O
O OC2H5
CH
C
O
OC2H5
OC2H5 R
CH
CH C
C
OC2H5
O
C
OC2H5
O
Malonsäurediester-Anion
O
C O
OC2H5
C H
C
OC2H5
C
OC2H5
CH
O
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
509
Nach Protonierung des Addukts erfolgt eine Dehydratisierung. Sie wird durch Abspaltung eines Protons aus der Methingruppe eingeleitet. Das Proton wird von der Base gebunden. Die Abspaltung von H+ aus der Methingruppe kann deshalb leicht erfolgen, weil die C–H-Bindung durch den –I-Effekt benachbarter Carbonylgruppen polarisiert ist und ein mesomeriestabilisiertes Produkt entsteht. H
B
O
O R
C
C
OC2H5
C
OC2H5
O
CH
H
O
O
H R
C
C
H
O
R
OC2H5
C H
OC2H5
C
OC2H5
H
H
H
O
B
+
C
C
B OC2H5
C
C
H2O + B
O
O
B = Base, z.B. Pyridin
Nach Hydrolyse des Alkylidenmalonsäurediesters decarboxyliert die Alkylidenmalonsäure (siehe Abschnitt 15.4.5.2) und es entsteht eine α,β-ungesättigte Carbonsäure. O R
C C
O OC2H5
C
H
C
H /H2O - 2 HOC2H5
R
2 HOC2H5
H
OC2H5
C C
H
R
OH
C
C C
O
C
H
OH
+ CO2
C
OH
O
O
Alkylidenmalonsäurediester
α,β-ungesättige Carbonsäure
Alkylidenmalonsäure
13.4.1.5 Die Stobbe-Kondensation
Bernsteinsäurediester reagieren, bei basischer Katalyse mit Natriumethanolat, mit Aldehyden und Ketonen zum Na-Salz des Alkylidenbernsteinsäuremonoesters. R C
O
+ H2C
H
CH2
COOR'
C2H5O - R'O
COOR'
R
Na
, - C2H5OH
C H
Bernsteinsäurediester
C
CH2
COO
Na
COOR'
Na-Salz des Alkylidenbernsteinsäuremonoesters
In Wechselwirkung mit dem Ethanolat-Ion als Protonenakzeptor spaltet der Bernsteinsäurediester zunächst ein Proton ab. H C2H5
O
H
C
COOR'
C2H5
O
H+
COOR'
C
C OR'
Bernsteinsäurediester
O
CH2
H
C
C O
CH2
H CH2
C OR'
O
OR'
Bernsteinsäurediester-Anion
COOR'
510
13 Aldehyde und Ketone
Das Bernsteinsäurediester-Anion greift nucleophil die Carbonylgruppe des Aldehyds bzw. Ketons an. O R
CH2
H
C
H
COOR'
C H
COOR'
CH2
R
C
C
C
O
OR'
O
O
H
C
C
H
COOR'
CH2
COOR'
OR'
Bernsteinsäurediester-Anion
Addukt
Das Addukt cyclisiert unter Abspaltung der Alkoxygruppe zu einem γ-Lacton. O
O
R'
O
C
R
O
O
R'
C
O
CH2
C
C
H
R
H COOR' Addukt
+
C
O
CH2
C
C
H
COOR'
H
R
O γ C
α CH2 β C H
O
R'
H COOR' γ−Lacton
Im Lacton ist die C–H-Bindung durch die –COOR'-Gruppe aktiviert, es erfolgt eine Abspaltung des Protons, das vom Ethanolat-Ion gebunden wird. Dieser Reaktionsschritt geht einher mit der Ringspaltung, wobei das Salz des Alkylidenbernsteinsäuremonoesters gebildet wird.
R
O
O
C
C
O
CH2
C
C
H
COOR'
H
O
C2H5
Lacton
R
O
CH2
C
C
H
COOR'
+
H
O
C2 H5
Salz des Alkylidenbernsteinsäuremonosters
Anmerkung: Lactone sind cyclische Ester, γ gibt an, an welchem C-Atom das im Ring befindliche O-Atom gebunden ist. 13.4.1.6 Die Wittig-Reaktion
Triphenylphosphorylide reagieren mit Aldehyden und Ketonen im alkalischen Medium bei Zimmertemperatur oder unter gelindem mehrstündigen Erwärmen, wobei ein Alken und Triphenylphosphanoxid gebildet werden. In dieser Reaktion erfolgt unter milden Reaktionsbedingungen eine C–C-Verknüpfung und regiospezifisch3 wird eine Kohlenstoff-Kohlenstoff-Doppelbindung gebildet. 3
Die Reaktion erfolgt an bestimmter Stelle des Moleküls (lat. regio = Gegend, Gebiet).
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone R1 O + (C6H5)3P
C R
R3
R1
4
2
C
R3 C
2
R
Keton
511
R
+ (C6H5)3P
C R
Triphenylphosphorylid
O
4
Alken
Triphenylphosphanoxid
Zunächst erfolgt die nucleophile Addition des Triphenylphosphorylids an die Carbonylgruppe. Das zuerst entstandene Betain (als Betaine werden innere Salze bezeichnet, siehe Abschnitt 23.5.3) reagiert zum Oxaphosphetan (Verbindung mit viergliedrigem Ring mit Sauerstoff und Phosphor als Heteroatome). Aus diesem bilden sich, über einen viergliedrigen Übergangszustand, ein Alken und Triphenylphosphanoxid. Die Produktbildung kann mit der starken Neigung des Phosphors, Sauerstoff zu binden, erklärt werden.
R1
O
P(C6H5)3
C
C
R3
R1
R2 R4
O
P(C6H5)3
C
C
O R
C
R1
R2 R4
Ylid
1
R3
C
R
+
C
C
4
R3
O
P(C6H5)3
R
R
Übergangszustand
C
R3
2
R2 R4
C
Oxaphosphetan
R1
3
P(C6H5)3
R2 R4
Betain P(C6H5)3
O
Alken
Triphenylphosphanoxid
Das für die Reaktion benötigte Triphenylphosphorylid entsteht aus Triphenylphosphan und einem Alkylhalogenid. Durch eine SN-Reaktion des Triphenylphosphans mit dem Alkylhalogenid wird zunächst das Phosphoniumsalz gebildet. Dieses wird mit einer starken Base, z.B. Butyllithium, deprotoniert; es entsteht das Ylid. Die Bezeichnung Ylid deutet mit der Silbe -yl die Kovalenz der P–C-Bindung und mit der Endsilbe -id die Ionenbindung an.
(C6H5)3P
R
X
H
R
C
X
(C6H5)3P
H C R
Phosphoniumsalz
R
C4H9Li - C4H10 - LiX
R (C6H5)3P
C
R (C6H5)3P
R
C R
Ylid
Das Triphenylphosphan wird aus Chlorbenzol, Phosphor-(III)-chlorid und Natrium synthetisiert. Man kann diese Reaktion als modifizierte Wurtz-Fittig-Reaktion auffassen (siehe Abschnitt 2.7.2.1).
512
13 Aldehyde und Ketone
3
Cl
+
PCl3
+ 6 Na
P
+ 6 NaCl
Die Wittig-Reaktion ist in der Synthese vielseitig anwendbar, sie wurde z.B. für die Synthese des β-Carotins benutzt, und sie wird auch bei der großtechnischen Herstellung von Vitamin A eingesetzt.
13.4.2 Die Addition von O-Nucleophilen an Aldehyde und Ketone 13.4.2.1 Hydratbildung
Wasser wird nucleophil an die Doppelbindung der Carbonylgruppe addiert. Auf Grund der gerade noch ausreichenden Nucleophilie des Sauerstoffes im undissoziierten Wassermolekül und der relativ hohen Elektrophilie der Carbonylgruppe ist auch eine unkatalysierte Anlagerung des Wassers an die C=O-Doppelbindung möglich. Das Addukt wird als Hydrat bezeichnet. H
R
+
C H
Aldehyd
O
H
O
R
O H
C H
O
H R
O H
C
O
H
H
Aldehydhydrat
Die Reaktion des Wassers mit Aldehyden und Ketonen ist umkehrbar, die Carbonylverbindung und das Carbonylhydrat stehen im Reaktionsgleichgewicht. Formaldehyd ist in wäßrigen Lösungen fast vollständig und Acetaldehyd etwa zur Hälfte hydratisiert, während Aceton nur ganz wenig hydratisiert ist. Ketone werden deshalb so wenig hydratisiert, weil der +I-Effekt beider Alkylreste die positive Teilladung am Carbonylkohlenstoff vermindert, was den Angriff des schwachen Nucleophils Wasser erschwert. Die Einstellung des Reaktionsgleichgewichtes wird sowohl durch Säuren als auch durch Basen beschleunigt. Bei der säurekatalysierten Hydratisierung wird ein Proton vom Sauerstoffatom der Carbonylgruppe gebunden. Das Kohlenstoffatom hat dann eine positive Ladung, was den Angriff des Wassers als Nucleophil erleichtert.
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
513
H H
O R
O
C
R
O
H R
C
H
H
O
O
C
R
C
H
H
Aldehyd
H
H
H
O
H R
O H
H
C
O
H
Carboxoniumion
H
H
Aldehydhydrat
Bei der basenkatalysierten Hydratbildung ist das Hydroxid-Ion das nucleophile Agens. Das intermediäre Addukt reagiert mit Wasser unter Bildung des Hydrats und Freisetzung des Hydroxid-Ions. O
O R
H
C
O
H
R
O
O
C
H
H
H
O
H
R
H
C
O
H
+ O
H
H
Geminale Diole (zwei OH-Gruppen am gleichen C-Atom) sind nicht stabil und spalten leicht Wasser ab (Erlenmeyer-Regel). Dies gilt auch für Hydrate. Bei Eindampfen der wäßrigen Lösung von Hydraten werden die ursprünglichen Carbonylverbindungen rückgebildet. Eine Ausnahme bilden Hydrate, die am α-ständigen C-Atom elektronenanziehende Gruppen oder Atome haben. Der starke –I-Effekt stabilisiert das Hydrat, so daß man es isolieren kann. Beispiele dafür sind das Chloralhydrat und das Ninhydrin. O Cl Cl
Cl
O C
C
+ H2O
Cl
H
Cl
O
OH C
Cl
C
OH O + H2O
OH
OH
H O
Chloral
Chloralhydrat
O
Triketoindan
Ninhydrin
Chloralhydrat ist eine kristalline Substanz (Smp. 57°C) mit narkotischer Wirkung (Mißbrauch als „Knockout-Tropfen“). Ninhydrin wird in der Papier- und Dünnschichtchromatographie als Sprühreagens zum Nachweis von α-Aminosäuren verwendet. Wird Ninhydrin erhitzt, reagiert es mit α-Aminosäuren zu einem blauen Farbstoff (Reaktionsmechanismus siehe Abschnitt 23.5.8). O
O
O
OH 2
+ R OH
O CH
O
α-Aminosäure
C H
NH2
O
Ninhydrin
+ R
N
COOH
blauer Farbstoff
O
+ CO2 + 3 H2O + H
514
13 Aldehyde und Ketone
13.4.2.2 Die Halbacetal- und Acetalbildung
Aldehyde und Ketone reagieren mit Alkohol zum Halbacetal (Semiacetal), das unter Einfluß saurer Katalysatoren mit Alkohol weiter zum Vollacetal (auch einfach als Acetal bezeichnet) umgesetzt wird. Als sauren Katalysator kann man Chlorwasserstoffgas in das Reaktionsgemisch einführen oder man kann p-Toluolsulfonsäure zur Katalyse verwenden. H O R
+ H
C
O
H
R'
R
H
Aldehyd
R'
O
H
C
O
O
O
R', H
R'
R
C
H
Alkohol
R' + H2O
O
H
Halbacetal
(Voll)Acetal
Bei der Halbacetalbildung erfolgt eine nucleophile Addition des Alkohols an die Carbonylgruppe. Die Halbacetalbildung erfolgt in manchen Fällen, z.B. bei der Ringbildung der Zucker, auch ohne saure Katalyse. In der Regel wird jedoch die Reaktion sauer katalysiert. Die Protonierung am Sauerstoffatom der Carbonylgruppe ermöglicht einen besseren nucleophilen Angriff des Alkohols, der ein schwaches Nucleophil ist. Nach Anlagerung des Alkohols wird unter Abspaltung eines Protons das Halbacetal gebildet. H
H O R
C
H
O R
H -H
H
C
O R
H
Aldehyd
H
C
O
R'
- R'OH
H
H
O R
O
C
O
H
H
R'
R
C
O
R'
H +H Halbacetal
Carboxoniumion
Die Reaktion bleibt gewöhnlich nicht beim Halbacetal stehen. Im ersten Reaktionsschritt erfolgt im sauren Medium die Protonierung der OH-Gruppe. Danach wird in einer SNReaktion die +OH2-Gruppe, die eine gute Abgangsgruppe bildet, durch den als Nucleophil angreifenden Alkohol ersetzt. Bei der Deprotonierung des Oxoniumions entsteht das Acetal. H
H H R
O C
H
H
O O
R
R'
O
H
R'
R'
C H
R
C H
R'
H
O R
O
- H2O H2O
H
H
Halbacetal
C
O O
R'
R
C
O
H
Acetal
R'
O
R'
R'
- R'OH
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
515
Die Halbacetalbildung und die Acetalbildung sind umkehrbare Reaktionen. Im Reaktionsgleichgewicht liegt bei der Reaktion mit Aldehyden überwiegend die Halbacetal- bzw. Acetalform vor, bei Ketonen hingegen ist das Gleichgewicht stark nach links verschoben. Die Reaktionsprodukte der Ketone werden oft auch als Semiketale und Ketale bezeichnet. Durch Zugabe verdünnter Säure zum Acetal wird das Reaktionsgleichgewicht zur Rückbildung der Carbonylverbindung verschoben. Die Reaktion wird als Acetal-Hydrolyse bezeichnet. In basischem Medium sind Acetale aber beständig. Sie sind auch beständig gegen Oxidationsmittel. Soll in einer Verbindung eine funktionelle Gruppe oxidiert werden, aber nicht die ebenfalls in dieser Verbindung anwesende Formylgruppe, so kann man sie durch Überführen in das Acetal schützen. Nach erfolgter Oxidation in basischem Medium wird durch Ansäuern der Aldehyd wieder freigesetzt. Besonders cyclische Acetale können nützliche Schutzgruppen darstellen. Ein cyclisches Acetal erhält man, läßt man z.B. Ethylenglykol mit dem Aldehyd reagieren. HO
O R
+
C H
Aldehyd
HO
CH2
R
H
O
CH2
+ H2O
C
CH2
H
Ethylenglykol
O
CH2
cyclisches Acetal
13.4.3 Die Addition von N-Nucleophilen an Aldehyde und Ketone Mit stickstoffhaltigen Verbindungen, die ein freies Elektronenpaar am Stickstoff aufweisen, kann eine nucleophile Addition an Aldehyde und Ketone erfolgen. Das als Zwischenprodukt gebildete Hydroxyderivat läßt sich nur in Ausnahmefällen isolieren, es spaltet spontan Wasser ab. H O C
O
H2N
X
C
NH
X
C
N
H2O
X
X = H, R, OH, NH2 oder NHCONH2 Beispiele:
OH H C
O
NH2R primäres Amin
C
N
R
C Imin
NR
H2O
516
13 Aldehyde und Ketone
OH H C
NH2OH
O
C
N
C
OH
Hydroxylamin
N
OH
H2O
Oxim
OH H C
H2 N
O
NH2
C
N
C
NH2
Hydrazin
N
NH2
H2O
Hydrazon OH H
C
O
H2N
NHCONH2
C
N
C
NHCONH2
Semicarbazid
N
NHCONH2
H2O
Semicarbazon
Nach der Addition eines sekundären Amins an einen Aldehyd oder ein Keton ist beim Addukt am Stickstoff kein Wasserstoffatom mehr vorhanden. Die Abspaltung von Wasser kann deshalb nur so erfolgen, daß aus der nebenständigen C–H-Gruppierung ein Proton H+ abgespalten wird, so daß ein Enamin entsteht.
R'
CH2 C
R O
H
N
R' R
sekundäres Amin
H
OH
C
C
H
R R
R'
R
H
N
N C
C
R
Enamin
Tertiäre Amine reagieren mit Carbonylverbindungen nicht. Durch Protonierung der Carbonylgruppe im sauren Medium wird die Elektrophilie der Carbonylverbindung verstärkt. Andererseits kann, da Nucleophile auf Grund des Besitzes freier Elektronenpaare auch basische Eigenschaften haben, das Nucleophil ein Proton binden und seine Nucleophilie dadurch herabgesetzt werden. Die Wahl des pH-Wertes des Reaktionsmediums stellt also eine Kompromißlösung dar, welche einen optimalen Ablauf der Reaktion gewährleistet. Die Acidität des Reaktionsmediums richtet sich hauptsächlich nach dem zu addierenden Nucleophil. Stark nucleophile Reagenzien wie Ammoniak, primäre und sekundäre Amine oder Hydroxylamin können auch ohne Säure- oder Basenkatalyse reagieren. Die Additionen mit Aminen führt man jedoch gewöhnlich säurekatalysiert durch. Semicarbazide reagieren im gepufferten Medium (Essigsäure und Natriumacetat), und die Hydrazonbildung erfolgt in saurem Medium. Die Addition von Hydroxylamin wird in schwach saurem oder in basischem Medium durchgeführt.
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
517
Phenylhydrazone, Oxime und Semicarbazide bilden Kristalle mit einer scharfen Schmelztemperatur. Sie werden deshalb zur Identifizierung von Aldehyden und Ketonen herangezogen. Die Reaktionen, die zur Bildung dieser gut kristallisierenden Produkte führen, sind reversibel, so daß man aus den Reaktionsprodukten durch Erwärmen mit verdünnten Säuren die Carbonylverbindungen wieder zurückgewinnen kann. Auf diese Weise lassen sich Carbonylverbindungen aus Naturstoffgemischen relativ gut isolieren: Man trennt die gut kristallisierenden Addukte von den in der Mutterlauge verbliebenen anderen Stoffen des Gemisches und gewinnt durch Zugabe verdünnter Säuren und Erwärmen des Reaktionsgemisches die Carbonylverbindungen wieder zurück. 13.4.3.1 Addition des Ammoniaks
Die nucleophile Addition des Ammoniaks an die Carbonylverbindungen führt zunächst zum Aminol, das auch als Aldehydammoniak bezeichnet wird. Im weiteren Reaktionsschritt wird durch Wasserabspaltung das Imin gebildet. Die Reaktionen sind umkehrbar, das Reaktionsgleichgewicht liegt auf der Seite der Ausgangsstoffe. H
O
O
NH2 C
C
NH3
C
O
H
NH2
Aminol
NH C
+
H 2O
Imin
Chloralammoniak, das bei der Addition des Ammoniaks an Chloral entsteht, wird durch den –I-Effekt der Chloratome stabilisiert. O Cl3C
+
C
NH3
H
Chloral
Cl
Cl
OH
C
C
NH2
Cl H Chloralammoniak
Formaldehyd bildet ebenfalls ein Addukt mit Ammoniak, das aber dann noch weiterreagiert: Bei Eindampfen eines Gemisches von Formalin und konzentrierter Ammoniaklösung wird kristallines Hexamethylentetramin gewonnen, das auch als Urotropin bezeichnet wird. Es dient als Desinfiziens der Harnwege. O 6 H
+ 4 NH3
C
(CH2)6N4
+
6 H2O
H
Urotropin
Formaldehyd bildet mit Ammoniak zunächst Formaldehydammoniak. Dieses Zwischenprodukt wird zu Methylenimin dehydratisiert.
518
13 Aldehyde und Ketone H O
H
C
+
NH3
H
H
O
H
C
N
H
O H
H
H
NH
C
N
H
H
H
Formaldehydammoniak
H
C H
+ H2 O
Methylenimin
Methylenimin trimerisiert zu Hexahydro-1,3,5-triazin (Nomenklatur siehe Abschnitt 25.1). H
H
H
C H H H
H
N
N
C
C N
H H H
H
H H
N C
H C
N H
H N C
H H
Hexahydro-1,3,5-triazin
Das Hexahydro-1,3,5-triazin reagiert weiter mit Formaldehyd, und die als Zwischenprodukt entstandene Trihydroxymethylverbindung kondensiert unter Wasserabspaltung mit einem Ammoniakmolekül, wobei Hexamethylentetramin entsteht.
Hexahydro-1,3,5-triazin + Formaldehyd
Hexamethylentetramin
13.4.3.2 Addition von primären Aminen
Primäre Amine reagieren mit Carbonylverbindungen, wobei das substituierte Imin, das auch als Schiffsche Base bezeichnet wird, entsteht. Die Reaktionsprodukte der Amine mit Aldehyden kann man auch Aldimine, die der Ketone Ketimine nennen. Die Reaktion wird meist sauer katalysiert. Nach Protonierung am Sauerstoffatom erfolgt der nucleophile Angriff des Amins am Carboxoniumion, dem eine Deprotonierung am Stickstoff folgt. Bei der Reaktion wird das Halbaminal als Zwischenprodukt gebildet. Als Halbaminale werden die Stickstoffanaloga der Halbacetale (siehe Abschnitt 13.4.2.2) bezeichnet. Durch Wasserabspaltung entsteht aus dem Halbaminal das Imin.
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone H H
H O
O
C
C
C
H
R'
H
R'
N
H
H
H
O
R'
519
H R
R'
H
O
H
C
N
H
O H
R'
R
H O
R'
C
N
H Halbaminal
R
+H
R'
H R
Halbaminal H
O H
N
H
Carboxoniumion H
C
+ H
C
N
H
H - H2O R
R' C
H
R'
R
H
C
N
H
+ H N
R
Imin (Schiffsche Base)
Die Reaktionen, die zur Bildung des Imins führen, sind umkehrbar. Die Imine werden leicht zu den Ausgangssubstanzen hydrolysiert und sind im allgemeinen wenig beständig. Im Falle jedoch, daß bei den Reaktanden die Carbonylgruppe oder die Aminogruppe an einen aromatischen Kern gebunden sind, ist das bei der Reaktion gebildete Imin relativ stabil, z.B.:
N
O
+ H2N
C
+ H2O
C H
H
Benzylidenanilin
Die Erklärung für die Stabilität der Arylimine ist darin zu suchen, daß die Doppelbindung C=N in das konjugierte System des aromatischen Ringes einbezogen wird, womit eine zusätzliche Resonanzstabilisierung gegeben ist. In Analogie zur Keto-Enol-Tautomerie kann beim Imin eine Imin-Enamin-Tautomerie vorliegen. Allerdings liegt das Gleichgewicht meist vollständig auf der Seite des Imins.
R'
C
C
N
R
C R'
H
C
C N
R
R'
N
R
H
H
Imin
C
Enamin
13.4.3.3 Addition von sekundären Aminen
Die im sauren Medium durchgeführte Addition eines sekundären Amins an Aldehyde oder Ketone führt über das Halbaminal zum Enamin.
520
13 Aldehyde und Ketone
R'
CH2
OH
R
O
+ HN
C
Aldehyd
R'
CH2
C
R
H
R N
R'
CH
R
H
sek-Amin
R
- H2O
C
N R
H
Halbaminal
Enamin
Die Protonierung der Carbonylverbindung im sauren Medium erleichtert die Addition des sek-Amins. Das Addukt deprotoniert zum Halbaminal.
R'
H
H
H
O
O
C
C
C
CH2
H
R'
CH2
Aldehyd
H
R'
H
H
O
CH2
N
R
H
+ H
H O
H
CH2
C
N
R'
H
R
R
O R
CH2
C
N
R'
H
R
Carboxoniumion
R
Halbaminal
Die Hydroxygruppe des Halbaminals wird im sauren Medium protoniert, worauf Wasser abgespalten wird. Aus dem hierbei gebildeten Carbenium-Iminium-Ion kann, da an das Stickstoffatom kein Wasserstoffatom gebunden ist, im Gegensatz zur Addition des Ammoniaks und der primären Amine, kein Imin gebildet werden. Eine Stabilisierung des Moleküls erfolgt deshalb durch Bildung eines α,β-ungesättigten Amins, des Enamins, durch Deprotonierung der Methylengruppe, die sich in Nachbarschaft zum positiven Kohlenstoffatom befindet. Die Deprotonierung kann deshalb erfolgen, weil die benachbarte positive Teilladung die C–H-Bindung der Methylengruppe durch den –I-Effekt polarisiert und das Produkt der Deprotonierung mesomeriestabilisiert ist. H
H O
O
H
CH2
C
N
R'
H
R
H
R
CH2
C
N
R'
H
R
- H2O
R
Halbaminal
CH2 R'
C H
N
R' R
C H
Carbenium-Iminium-Ion
R
R
H
R
R C H
-H
R'
R
H
R'
N C
N
C H
N C
R H
C
R H
Enamin
Die durch Addition von sekundären Aminen an Carbonylverbindungen gebildeten Enamine haben am Stickstoff zwei Alkylreste, aber kein Wasserstoffatom gebunden, so daß eine für die Iminbildung notwendige H+-Abspaltung, die Voraussetzung für die Imin-EnaminTautomerie ist, nicht erfolgen kann. Am Stickstoff disubstituierte Enamine sind stabile Verbindungen, weil sie im Gegensatz zu anderen Enaminen in keinem tautomeren Gleichgewicht mit einem Imin stehen (vgl. vorhergehender Abschnitt). Sie haben nucleophile Eigenschaften und sind vielseitig für Synthesen einsetzbar (siehe Abschnitt 22.6.3.4).
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
521
13.4.3.4 Oximbildung
Hydroxylamin reagiert bei basischer Katalyse in wäßriger oder alkoholischer Lösung mit Carbonylverbindungen unter Oximbildung. OH C
+ NH2OH
O
C
H C
N
N
OH + H2O
OH
Hydroxylamin
Oxim
Gewöhnlich wird Hydroxylaminhydrochlorid eingesetzt, und das Hydroxylamin aus seinem Salz durch Zugabe von Natriumcarbonat oder Pyridin freigesetzt. H
Cl N
+
H
Cl
N
O
H
N
+
H
N
O
H
H
H Hydroxylaminhydrochlorid
Pyridin
H
Pyridinhydrochlorid
Hydroxylamin
Die Oximbildung erfolgt nach folgendem Reaktionsmechanismus: H O R
C
+
R
H N
R
OH
H H
O
H
C
N
R
H H2O
N
R
H
R
OH
H + B
R
H
C
N
R
H
OH
B B
OH N H
B =
OH C
OH
C R
R N
R
R
C
R C
OH
H O
R
O
N
und
N
H
N
+
H
B
H
B=
13.4.3.5 Hydrazonbildung
Hydrazin reagiert mit Aldehyden oder Ketonen zunächst zum entsprechenden Hydrazon. Dieses kann mit der Carbonylverbindung unter Bildung eines Azins weiterreagieren.
522
13 Aldehyde und Ketone R
R C
O + H2N
NH2
O
- H2O R
H
C
N
C
R
H
NH2
R C
N
N
H
H
Hydrazin
+ H2O
C H
Hydrazon
Azin
Größere Bedeutung als das Hydrazin selbst haben für die Darstellung von Hydrazonen monosubstituierte Hydrazinderivate, da diese eine doppelte Kondensation ausschließen. Das Hydrochlorid des 2,4-Dinitrophenylhydrazins reagiert in saurer wäßrig-ethanolischen Lösung mit Aldehyden und Ketonen zum 2,4-Dinitrophenylhydrazon, das charakteristische gelbe schwerlösliche Kristalle bildet. Die Reaktion wird zum chemischen Nachweis von Aldehyden und Ketonen herangezogen. R
H C
+
O
H
H N
R
H
N
H C
N
+ H2O
N
H
H O2N
O2N
NO2
2,4-Dinitrophenylhydrazin
NO2
2,4-Dinitrophenylhydrazon
Die Reaktion erfolgt nach folgendem Reaktionsmechanismus: H
Verwendete Abkürzung: X =
N
O2N H H
O
C H
H R' X
H X
H
H
R'
H
O
H
C
N
H
O
H R' X
H N
C
+H X
H
H O
H N
R'
H H
O
N
C
C R'
H
H
R'
O
O
C R'
H
H
NO2
C H
H N X
- H2 O
R' C H
H
R'
X
H
N
H C
N
H N
O2N
NO2
2,4-Dinitrophenylhydrazon
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
523
13.4.3.6 Darstellung von Semicarbazonen
Semicarbazidhydrochlorid NH2NHCONH2 · HCl wird in Alkohol/Wasser gelöst, die Carbonylverbindung zugegeben und zum Abpuffern der Lösung eine Spatelspitze Natriumacetat zugefügt. Das Reaktionsgemisch wird eine Stunde auf dem Wasserbad erhitzt. Nach Abkühlen kristallisiert das Semicarbazon aus (Reaktionsgleichung siehe Abschnitt 13.4.3).
13.4.4 Die Addition von S-Nucleophilen an Aldehyde und Ketone 13.4.4.1 Bildung von Thioacetalen
Thiole (Mercaptane) reagieren auf gleiche Weise wie Alkohole mit Aldehyden und Ketonen. Mit Aldehyden entstehen Thioacetale und mit Ketonen Thioketale (Mercaptale). Die Thioketale werden oftmals auch als Thioacetale bezeichnet. R O +2 H
C
S
R'
- H2O
R
S
H
H
Aldehyd
Thiol
R'
R O
C
C S
R'
+ 2 H
S
R'
- H2O
Keton
Thiol
S
R'
S
R'
C R
R
Thioacetal
R
Thioketal
Thioacetale und Thioketale sind sehr beständige Verbindungen, sie lassen sich aber mit Quecksilber-(II)-chlorid in wäßrigem Acetonitril CH3CN leicht hydrolysieren. Für die Synthese sind cyclische Thioacetale wichtig, die bei der Reaktion von Aldehyden mit 1,2Ethandithiol oder 1,3-Propandithiol entstehen. H
R C
+
O
S
CH2 CH2
H
R
BF3 in Ether
H
CH2 H S 1,3-Propandithiol
Aldehyd
2 C
1 S
6 CH2
5 CH2
3 4 S CH2 2-Alkyl-1,3-dithian
Sechsgliedrige gesättigte Heterocyclen haben die Endung -an. Die Bezeichnung dithigibt an, daß zwei Schwefelatome im Heterocyclus sind. Durch Hydrogenolyse mit RaneyNickel erhält man aus 2-Alkyl-1,3-dithian das Alkan R–CH3. 2-Alkyl-1,3-dithian hat saure Eigenschaften, mit Butyllithium kann ein Proton abgespalten werden. Die Abspaltung des Protons kann deshalb erfolgen, weil der Schwefel durch die Polarisierbarkeit seiner Elektronenhülle eine benachbarte negative Ladung stabilisiert. Das hierbei gebildete Anion ist ein Nucleophil. Es kann z.B. mit einem Alkylhalogenid unter Bildung von 2,2-Dialkyl-1,3-dithian reagieren. H CH2
S
H2C
R C
CH2
S
H
CH3(CH2)2CH2Li - CH3(CH2)2CH3
CH2
S
H2C
R
S
C
'R
C CH2
H
Li
- LiX
X
CH2
S
H2C
R C
CH2
S
CH2 R'
2-Alkyl-1,3-dithian
X = Cl, Br oder I
2,2-Dialkyl-1,3-dithian
524
13 Aldehyde und Ketone
Das Reaktionsprodukt kann in saurem Medium gespalten werden, wobei ein Keton entsteht. CH2
S
H2C
R
H
C CH2
CH2
/ H2O
R
+
H2C
CH2
S
SH
CH2
O
C CH2
SH
R'
R' 2,2-Dialkyl-1,3-dithian
1,3-Propandithiol
Keton
Auf diese Weise kann man, vom Aldehyd ausgehend, über cyclische Thioacetale zu einem Keton gelangen. Die Reaktion des Aldehyds zum cyclischen Thioacetal hat sozusagen eine „Umpolung“ des Kohlenstoffatoms der Carbonylgruppe zur Folge. Das vorher elektrophile C-Atom bekommt durch Abspaltung des Protons aus dem cyclischen Thioacetal nucleophile Eigenschaften. 13.4.4.2 Die Bisulfit-Addition
Aldehyde und Ketone bilden nach Schütteln mit konzentrierter wäßriger Natriumhydrogensulfitlösung (nach älterer Nomenklatur Natriumbisulfit) das als Bisulfit-Addukt bezeichnete Natriumsalz der α-Hydroxysulfonsäuren, das in kristalliner Form ausgeschieden wird. Ketone mit sperrigen Gruppen reagieren nicht, ebensowenig wie Arylketone. O
H R
+
C
S
O
O
R
Na
H
O
C
S
O
Na
OH O
O H
α-Hydroxysulfonsäure
Bei der Bisulfit-Addition lagert sich das Hydrogensulfitanion als S-Nucleophil an die Carbonylgruppe an. Die positive Ladung am Schwefel polarisiert die O-H-Bindung der benachbarten Hydroxygruppe. Es erfolgt die Abspaltung des Protons, das vom Carbonylsauerstoff gebunden zur Bildung des Natriumsalzes der α-Hydroxysulfonsäure, des Bisulfitaddukts, führt.
H R
O S
C O
O
O H
Na
R
H
O
C
S
O
O
O
H
Na
R
H
O
C
S
O
O
O
Na
H
Das Bisulfit-Addukt ist in Wasser löslich und kristallisiert aus diesem aus. Aldehyde und Ketone können nach Bildung eines Bisulfitadduktes durch dessen Auskristallisieren aus wäßriger Lösung gereinigt werden, worauf durch Zugabe von Säuren wieder die Carbonylverbindung aus dem Bisulfitaddukt freigesetzt wird.
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
525
13.4.5 Additionsreaktionen an α,β-ungesättigten Carbonylverbindungen 13.4.5.1 Die α,β-ungesättigten Verbindungen Acrolein und Crotonaldehyd
Zu den α,β-ungesättigten Aldehyden zählen Acrolein H2C=CH–CHO und Crotonaldehyd H3C–CH=CH–CHO. Acrolein ist eine niedrig siedende Flüssigkeit (Siedepunkt 52°C), deren Dämpfe einen stechenden Geruch haben und die Schleimhäute reizen. Es entsteht beim Überhitzen von Fetten. Acrolein wird bei Erhitzen von Glycerin mit Kaliumhydrogensulfat als wasserabspaltendem Mittel gebildet. Die nach Eliminierung der OH-Gruppe am sekundären C-Atom gebildete Enol-Form geht durch Wanderung des Protons der Hydroxygruppe zum nebenstehenden C-Atom in die Keto-Form über (Keto-Enol-Tautomerie). Aus 3-Hydroxypropanal entsteht schließlich durch Dehydratisierung das Acrolein. H
H
H
C
OH
H
C
OH
H
C
OH
OH C
KHSO4 - H2O
H
H
C
H
C
H
KetoEnolTautomerie
OH
O C
KHSO4
H
C
H
H
C
OH
H
Glycerin
O C H
- H2O
C H
H
Propen-1,3-diol (Enol-Form)
H C
3-Hydroxypropanal (Keto-Form)
H
Acrolein
Crotonaldehyd kann als cis- oder trans-Isomer vorkommen. Es entsteht bei der basisch katalysierten Aldolkondensation des Acetaldehyds (siehe Abschnitt 13.4.7.2). H3C C
2
H3C
OH
O
- H2O
H
H C
C C
H
O
H trans-Crotonaldehyd ((E)-2-Butenal)
13.4.5.2 Die 1,4-Addition an α,β-ungesättigte Carbonylverbindungen
Sind die C=C- und die C=O-Bindung in Konjugation, so bilden die π-Elektronen beider Doppelbindungen ein durch Mesomerie stabilisiertes Resonanzhybrid, das durch folgende mesomere Grenzformeln charakterisiert ist.
C
C
C
O
C
C
C
O
C
C
C
O
526
13 Aldehyde und Ketone
Die Ladungsverteilung im Molekül erklärt, warum bei α,β-ungesättigten Aldehyden und Ketonen neben der 1,2-Addition auch eine 1,4-Addition erfolgt. Die 1,4-Addition ist sogar meist die bevorzugte Reaktion.
H CH3
H 3 C
4 C
O
2 C
H
O
1
H CH3
O
H
C
H C
O H
C
CH3
O
H
H
H
H
C
C
O
H
C H
H
Bei der 1,4-Addition entsteht zunächst ein Enol, das durch die Keto-Enol-Tautomerie mit der Keto-Form im tautomeren Gleichgewicht steht.
Enol-Form
CH3
O
H
H
C
C
H CH3
C
O
O
H
H
H
C
C
H
H
H
Keto-Form
C O
H
Andere elektronenanziehenden Gruppen mit einer Doppel- bzw. Dreifachbindung, z.B. –COOR, –CONR2, –CN, –NO2 und –SO2OR reagieren entsprechend, wenn sich in α,β-Stellung zu der Mehrfachbindung der funktionellen Gruppe eine C=C-Doppelbindung befindet. 13.4.5.3 Die Michael-Addition
Erfolgt die 1,4-Addition an α,β-ungesättigte Aldehyde oder Ketone mit einem C-Nucleophil, wobei eine C–C-Verknüpfung zustande kommt, so bezeichnet man die Reaktion als MichaelAddition. Ein Beispiel für eine Michael-Addition ist die nucleophile Addition des Malonsäurediethylesters an Acrolein. O C 2H 5
O
O
C
H
H
C C2H5
O
C
H
β C
H α C
O
Pyridin
C
H
H
C 2H 5
O
H
C
C
C
O
H
C C2H5
O
Acrolein
O
H H
C
OH C H
Malonsäurediethylester O C 2H 5
O
O
C C
C2H5
O
C O
H H
H
C
C
H
OH
Keto-EnolTautomerie
C 2H 5
H
H H
H
C
C
C
O
H
H
C C
C2H5
C
O O
O C H
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
527
13.4.5.4 Radikalreaktion von Alkylhalogeniden mit α,β-ungesättigten Carbonylverbindungen
Die Addition von Alkylradikalen an Olefine in Gegenwart von Organozinnhydriden wird als Giese-Reaktion bezeichnet. Eine solche Additionsreaktion findet auch bei der Radikalreaktion von Alkylhalogeniden mit α,β-ungesättigten Carbonylverbindungen statt. Alkylhalogenide und α,β-ungesättigte Carbonylverbindungen reagieren im Gemisch mit Tributylstannan (Tributylzinnhydrid) und Azobisisobutyronitril (AIBN), wobei der Alkylrest des Alkylhalogenids unter Auflösung der Doppelbindung an das β-ständige C-Atom der Carbonylverbindung angefügt wird. Reagieren können α,β-ungesättigte Aldehyde und Ketone, ebenso wie α,βungesättigte Carbonsäureester und α,β-ungesättigte Nitrile, wobei Aldehyde, Ketone, Carbonsäureester und Nitrile, vergrößert um den angefügten Alkylrest, die Reaktionsprodukte sind.
Alkyliodide reagieren am besten, Alkylbromide schlechter und Alkylchloride sind für die Reaktion ungeeignet. Reaktionsmechanismus
1.) Start der Radikalreaktion: Ausgelöst wird die Reaktion durch Zerfall des Azobisisobutyronitrils in Isobutyronitrilradikale und diese wiederum reagieren mit dem Tributylstannan, wobei Isobutyronitril und Tributylstannylradikale entstehen.
2.) Kettenreaktion: Alkyliodid wird mit dem Tributylstannylradikal zum Alkylradikal und Tributylzinniodid umgesetzt. Unter Aufspaltung der Doppelbindung wird der Alkylrest an das β-ständige CAtom der α,β-ungesättigten Carbonylverbindung gebunden, das ungepaarte Elektron des
528
13 Aldehyde und Ketone
entstandenen Radikals der Carbonylverbindung befindet sich dann am α-ständigen C-Atom. Dieses Radikal reagiert mit Tributylstannan und es entsteht eine um den Alkylrest vergrößerte Carbonylverbindung und ein Tributylstannylradikal, das einen weiteren Reaktionscyclus der Kettenreaktion einleiten kann.
13.4.6 Oligomere und Polymere der Aldehyde Zum Unterschied zu den Polymeren sind es bei den Oligomeren relativ wenige Moleküle, die sich durch Zusammenfügen zu einem größeren Molekül vereinigen. Formaldehyd und Acetaldehyd bilden cyclische Oligomere und der besonders reaktive Formaldehyd auch Polymere. Aldehyde bilden Oligomere, Ketone jedoch nicht. Bei den Ketonen wird die partielle positive Ladung am C-Atom der Carbonylgruppe teilweise durch den +I-Effekt der beiden an dieses C-Atom gebundenen Alkylreste herabgesetzt. Die Nucleophilie des Sauerstoffes im Ketonmolekül reicht deshalb nicht aus, sich an das Carbonyl-Kohlenstoffatom eines anderen Ketons zu binden. 13.4.6.1 Oligomere und Polymere des Formaldehyds
In saurer wäßriger Lösung erfolgt eine cyclische Trimerisierung des Formaldehyds. Es entsteht das 1,3,5-Trioxan, das auch als Trioxymethylen bezeichnet wird. H
H2C O
O
CH2
H2C O
H H H
O C
H C
O
O C
H H
1,3,5-Trioxan
Die Anlagerung eines Protons an den Sauerstoff des Formaldehyds vergrößert die positive Teilladung am C-Atom der Carbonylgruppe, so daß ein weiteres Formaldehydmolekül dieses elektrophile Zentrum als O-Nucleophil angreifen kann. In synchroner Reaktion erfolgt bei saurer Katalyse die cyclische Trimerisierung des Formaldehyds zu 1,3,5-Trioxan.
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone H
H C
H
+ H
O
C
H
O
H
C
H H
H O
O H
C
H H
H C
H
H
H C
O C
O C
O
H
O
O
H
H
H
C H
529
H
O
H
H
H C
C
C
O
H
H
O
+H H H
Bei Zugabe von Kalkmilch Ca(OH)2 zur wäßrigen Formaldehydlösung erfolgt eine anionoide Polymerisation, wobei ein lineares Produkt entsteht. H
H H
O
C
nC
O
H O
O
H
H
H
H
O
H
C
O
H
O
H
H
C
C
H
H O
C
H
C
H O
H H
O
H
H
O
H
O
C
- OH
H n
H
C
O
H H
O
H
C
O
H
C
O
H n H
+ O
C
O
H
H
H n
In Gegenwart eines Alkoholats oder eines tertiären Amins erfolgt die Polymerisierung des Formaldehyds zu harten hochmolekularen Polyoxymethylenen. Dies sind mehr oder weniger durchsichtige feste Kunststoffe, die sich auch zu Fäden verarbeiten lassen. Hochpolymeres Polyoxymethylen dient als Basis für Kunststoffe, welche unter der Bezeichnung „Delrin“ oder „Celcon“ im Handel sind. Auch beim Einengen einer wäßrigen Formaldehydlösung wird ein festes lineares Produkt gebildet, der Paraformaldehyd, den man als Polykondensationsprodukt des Formaldehydhydrats ansehen kann. H
H HO
C
O H + n HO
H
H H
O
O H + HO
C
H
C H
H O
C
H
H C
OH
+
H
Paraformaldehyd
C H n
O
H
+
C H
H
H O
(n-1) HO
(n+1) H2O
OH
530
13 Aldehyde und Ketone
Das Polymerengemisch ist in Wasser unlöslich. Erhitzt auf etwa 200°C depolymerisiert es. Auf diese Weise kann man gasförmigen wasserfreien Formaldehyd gewinnen. 13.4.6.2 Oligomere des Acetaldehyds
Gibt man zu Acetaldehyd bei Zimmertemperatur einige Tropfen konz. Schwefelsäure, erfolgt eine cyclische Trimerisierung des Acetaldehyds zu flüssigem Paraldehyd (2,4,6-Trimethyl1,3,5-trioxan , Nomenklatur s. Abschnitte 12.5.1 und 25.1). H3C
H
H3C
C
C
H3C
H2SO4, 20 °C
O
O H
H
CH3 C
H
H C
O C
CH3
C
O
H3C
O
O
Paraldehyd (Sdt. 124°C)
H
Paraldehyd ist, ähnlich wie Acetale, gegenüber Basen beständig. Erhitzt man aber Paraldehyd unter Zufügen einiger Tropfen Schwefelsäure, erfolgt eine Depolymerisierung. Acetaldehyd kann man aus dem Reaktionsgemisch abdestillieren. Versetzt man Acetaldehyd mit einigen Tropfen konz. Schwefelsäure, wobei man das Reaktionsgemisch unter 0°C kühlt, so erfolgt eine cyclische Tetramerisierung des Acetaldehyds zu Metaldehyd. H3C O 4 CH3C H
H C
H2SO4, unter 0 °C H H3C
O
H
O
C
C
O O
CH3
C
H3C
H
Metaldehyd
Metaldehyd ist fest und farblos, es depolymerisiert bei Erhitzen und wird als „Trocken-“ oder „Hartspiritus“ zum Anzünden von Holzkohle beim Grillen verwendet.
13.4.7 Die C–H-Acidität von Aldehyden und Ketonen Carbonylverbindungen üben auf Grund der Polarität der C–O-Doppelbindung, und der damit verbundenen positiven Teilladung am Kohlenstoff der Carbonylgruppe, auf die benachbarten Bindungen einen –I-Effekt aus. Die Elektronen der C–H-Bindungen der αständigen Me-thin-, Methylen- oder Methylgruppe werden dadurch näher zum α-C-Atom verlagert. Daraus resultiert eine Polarisierung der C–H-Bindung, die die Abspaltung eines Protons ermöglicht, wodurch ein durch Mesomerie stabilisiertes Ketocarbanion-Enolation entsteht. Carbanionen sind Verbindungen mit einer negativen Ladung und einem freien Elektronenpaar am Kohlenstoff.
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone α-ständige CH2-Gruppe R
H C
O
H
H
R
C
C
531
O
H
H
R
C
O C
+ H
C H
H
α-Wasserstoff Ketocarbanion-Enolation
Organische Verbindungen, die eine C–H-Bindung aufweisen, welche so polar ist, daß ein Proton abspaltbar ist, können als C-Säuren bezeichnet werden. Man spricht in diesem Falle von einer C–H-Acidität. Die Abspaltung eines Protons aus einer zur Carbonylgruppe α-ständigen CH-, CH2- oder CH3-Gruppe wird sowohl durch saure als auch durch basische Katalyse erleichtert.
C
C
C
Nichtkonjugiertes Carbanion Bild 13.2 sp3-Hybridisierung des Carbanion-Kohlenstoffes im nichtkonjugierten Carbanion
Die C–H-Acidität der Aldehyde und Ketone und die damit verbundene Bildung eines Carbanions ist die Voraussetzung für verschiedene Reaktionen. Zu diesen gehören die KetoEnol-Tautomerie, die Aldol-Reaktion, die sauer katalysierte Bromierung der Aldehyde und Ketone, die Haloformreaktion und die Mannich-Reaktion. Carbanionen entstehen bei bestimmten chemischen Reaktion als sehr reaktive Zwischenprodukte. In Carbanionen, die kein konjugiertes System mit π-Elektronen bilden, befinden sich die zwei nicht-bindenden Elektronen des negativ geladenen Kohlenstoffes (des Carbanion-Kohlenstoffes) in einem sp3-Orbital. Das sp3-Orbital mit den beiden nichtbindenden Elektronen schwingt in sehr schneller Folge über das C-Atom hinweg durch, so daß die drei an das C-Atom gebundenen Liganden mit diesem eine rasch invertierende Pyramide bilden. Bei Allyl-Carbanionen oder Carbanionen, die aus Carbonylverbindungen durch Abspaltung eines Protons aus einer α-ständigen C–H-Gruppierung entstehen, nimmt man jedoch an, daß der Carbanion-Kohlenstoff sp2-hybridisiert ist, so daß sein p-Orbital mit dem benachbarten π-System überlappen kann. Daraus resultiert ein Energiegewinn in Form von Resonanzenergie.
532
13 Aldehyde und Ketone
C C
O
H Carbanion mit C = O-Bindung in Konjugation Bild 13.3 sp2-Hybridisierung des Carbanion-Kohlenstoffes im konjugierten Carbanion
13.4.7.1 Die Keto-Enol-Tautomerie
Von einer Tautomerie spricht man dann, wenn zwei Strukturisomere in einem dynamischen Gleichgewicht stehen und sich nur in der Position einer beweglichen Gruppe und der Lage einer Doppelbindung unterscheiden, wie dies z.B. bei Acetaldehyd und Vinylalkohol der Fall ist. H H
C
H
O
O C
C H
C H
H
H Acetaldehyd (Keto-Form)
H
Vinylalkohol (Enol-Form)
Ein Sonderfall der Tautomerie ist die Prototropie, bei der durch Wanderung eines Protons ein Strukturisomeres in ein anderes übergeht. Bei Aldehyden und Ketonen liegen auf Grund dieser Prototropie beide Tautomere, die Keto- und die Enol-Form, nebeneinander in einem chemischen Gleichgewicht vor. H H R
C
H Keto-Form
O
H
C
O C
H
R
H
C
O C
H
R
Ketocarbanion-Enolation
O
H C
C H
H
C
R
H
Enol-Form
Die Einstellung des chemischen Gleichgewichts bei der Keto-Enol-Tautomerie wird sowohl durch saure als auch basische Katalyse beschleunigt. Bei der sauer katalysierten Keto-Enol-Tautomerie eines Aldehyds wird ein Proton vom Sauerstoffatom der Carbonylgruppe gebunden, wobei ein mesomeriestabilisiertes Carboxoniumion entsteht. Seine positive Ladung verstärkt den –I-Effekt, so daß die Abspaltung des Protons aus der zur Formylgruppe α-ständigen CH-, CH2- bzw. CH3-Gruppe unter Bildung der Enol-Form relativ leicht erfolgen kann.
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
H R
C
H
O
H
C H
H
R
O
C
-H
533
H
H
C
R H
H
Keto-Form
O
C
H
C
O C
H
H
H
H
-H
R
Carboxoniumion
H
C H
Enol-Form
Die Abspaltung des Protons kann auch durch eine Base unterstützt werden, die das Proton bindet. Die basenkatalysierte Keto-Enol-Tautomerisierung erfolgt über ein mesomeriestabilisiertes Ketocarbanion-Enolation. + H R
C
O
H
H
R
C
H
O C
O
O
H
C
C H
H
R
O
H
O
H
O
H
H C
C
C
R
H
H
H
Keto-Form
Ketocarbanion-Enolation
Enol-Form
Die O–H-Bindung dissoziiert, infolge der Elektronegativität des Sauerstoffes, leichter als die C–H-Bindung. Die Enol-Form wäre demnach im Vergleich mit der Keto-Form die stärkere Säure. Wandert das Proton des Enols zurück zum Carbanion-Kohlenstoff, wird es von diesem fester gebunden als vorher vom Sauerstoff. Bei der Keto-Enol-Tautomerie überwiegt deshalb in der Regel bei weitem die Keto-Form. Beim Aceton z.B. befinden sich nur 0,00025 % der Moleküle in der Enolform. Im Vergleich zu den Ketonen sind Aldehyde etwas stärker enolisiert. Besonders stark enolisiert sind β-Diketone. In diesen befindet sich die Methylengruppe in Nachbarschaft zweier Carbonylgruppen, die beide einen –I-Effekt ausüben und damit eine leichtere Abspaltung des Protons aus der Methylengruppe bewirken. Die Stabilität der Enol-Form ist damit begründet, daß sie durch eine Wasserstoffbrücke gefestigt ist und in ihr ein konjugiertes System von Doppelbindungen vorliegt. Ein Beispiel bietet Acetylaceton (Pentan-2,4-dion), das zu 80 % in der Enol-Form vorliegt. O
Acetylaceton 20 % Keto-Form H3C
βC H
O α C
C H
O CH3
H3C
C
H
C
O C
80 % Enolform CH3
H
Ein relativ hoher Anteil der Enolform ist auch bei β-Ketoaldehyden und β-Ketosäureestern zu finden. Zum Beispiel bildet die Enolform etwa 8 % des Acetessigsäureethylesters: CH3COCH2COOCH2CH3 (92 %) CH3C(OH)=CHCOOCH2CH3
(8 %)
534
13 Aldehyde und Ketone
In Gegenwart von Natriumethanolat als Base wird aus der zwischen den Carbonylgruppen befindlichen Methylengruppe des β-Diketons leicht ein Proton abgespalten. Das mesomeriestabiliserte Diketocarbanion-Ketoenolation ist ein starkes Nucleophil, das in Alkylhalogeniden das Halogen substituiert. In β-Diketonen kann mit dieser Reaktion das Wasserstoffatom der Methylengruppe (gegebenenfalls auch beide H-Atome) durch einen Alkylrest ersetzt werden. Bildung des Carbanions: CH3 O
C
CH3 - HOCH2CH3
H C
O
H
C
O
CH2CH3
O
C
CH3 O
H
C
CH3
C
O
C
H C
C
O
C
CH3
CH3
β−Diketon
O
H C
C O
CH3
CH3
Diketocarbanion-Ketoenolation
Nucleophile Substitution: CH3 O
C
H
O
C
C O
CH3
CH3 H
O
C
O
C
CH3
O CH3
O
H H
C CH3
C
H
C
C
C
CH3
C
H
+
C
I
O
CH2
C
R
I R
CH3
α-Alkyl-β-diketon
13.4.7.2 Die Aldolreaktion
Durch basische Katalyse mit Natronlauge bildet Acetaldehyd das Aldol (3-Hydroxybutanal).
O 2 H3C
C H
OH
15 %ige Natronlauge, 5 °C, 5 h
H3C
C H
O CH2
C H
Aldol ist nicht nur der Trivialname des 3-Hydroxybutanals, es ist auch die allgemeine Bezeichnung für β-Hydroxyaldehyde und β-Hydroxyketone. Bei der Aldolreaktion geht es um die Addition einer C–H-aciden Carbonylverbindung an die Carbonylgruppe eines Aldehyds oder Ketons. Unter basischer Katalyse wird zunächst vom Aldehyd oder dem Keton aus einer α-ständigen Methin-, Methylen- oder Methylgruppe ein Proton abgespalten, das vom Hydroxidion gebunden wird.
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone H R
C
O
H
H
R
O C
C
H O
535
O
H
C
C H
+ H2O
C H
R
H
Ketocarbanion-Enolation
Im weiteren Schritt erfolgt die nucleophile Addition des Ketocarbanion-Enolations an die Carbonylgruppe eines Aldehydmoleküls mit nachfolgender Protonierung des β-Ketoalkoholats unter Bildung des Aldols. H R
C
O
H
C H
H
O
C
R
C
C
R
H
Aldehyd
R
H
O C
H
Ketocarbanion-Enolation H
H
O
C
C
CH C
H
H
R
O
+ OH
H
H O R
H
β-Ketoalkoholat
H
O
C
C
CH
H
H
R
O C H
Aldol
Bei höherer Basenkonzentration und höherer Temperatur erfolgt eine Wasserabspaltung, weshalb die Reaktion oft auch als Aldolkondensation bezeichnet wird. Dabei entsteht ein α,β-ungesätigter Aldehyd. H H R
O
R
C
C
C
H
H
H
H
O C
R H
O
C
β C
H
H
R α C
O
+ OH
C
+ H2O
H
H
α,β-ungesättigter Aldehyd
Die Aldolreaktion kann mit allen Aldehyden erfolgen, die am α-C-Atom ein Wasserstoffatom gebunden haben. Ketone reagieren auf die gleiche Weise, nur langsamer, und im Reaktionsgleichgewicht ist die Konzentration der Ausgangssubstanzen weit höher als die des Aldols.
536
13 Aldehyde und Ketone
Das aus dem Aldehyd nach Abspaltung des Protons gebildete Ketocarbanion-Enolation kann durch zwei mesomere Grenzformeln symbolisiert werden: H C
O
H
H
R
C
C
R
O C H
Sie deuten an, daß im tatsächlich vorliegenden Resonanzhybrid eine erhöhte Elektronendichte sowohl am α-ständigen C–Atom als auch am O-Atom angenommen werden muß. Das Ketocarbanion-Enolation ist ambident, das heißt, es hat zwei einander konkurrierende Zentren, die im Prinzip beide für den nucleophilen Angriff auf das C-Atom der Carbonylgruppe des Aldehyds bzw. Ketons in Frage kämen. H
C-Nucleophiles Zentrum
C R
O
H
O
C
C
C
R
H
O-Nucleophiles Zentrum
H
ambidentes Anion
Die Reaktion verläuft aber eindeutig so, daß die nucleophile Addition an die Carbonylgruppe des Aldehyds oder Ketons mit dem C-Atom des Ketocarbanion-Enolations erfolgt. Die Erklärung ist zum einen thermodynamisch begründet, nämlich daß bei der C–CVerknüpfung ein stabileres Produkt als bei der C–O-Verknüpfung entsteht. Zum anderen darin, daß weiche Basen bevorzugt mit weichen Säuren reagieren (siehe Abschnitt 10.7.3). Der Aldehyd mit der positiven Teilladung am C-Atom der Carbonylgruppe ist als weiche Säure und ein Carbanion mit dem freien Elektronenpaar am Kohlenstoff als weiche Base zu betrachten. 13.4.7.3 Die sauer katalysierte Halogenierung
Aldehyde und Ketone werden bei saurer Katalyse mit Iod, Brom oder Chlor in α-Stellung halogeniert. O C H
C
O H
+ X2
H
C
C
H + HX
X = Cl, Br oder I
X
Bei der sauer katalysierten Halogenierung wird zunächst ein Proton vom Sauerstoff der Carbonylverbindung gebunden. Dadurch vergrößert sich die positive Teilladung am Carbonyl-Kohlenstoffatom, und der –I-Effekt bewirkt eine Abspaltung des Protons aus der αständigen Methyl-, Methylen- bzw. Methingruppe unter Bildung des Enols.
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone H R
C
H
O
H
C H
H
R
O
C
-H
537 H
H
C
R
C
H
H
O
H
C
H
H
H
-H
O
H C R
Carboxoniumion
H
C H
Enol
Das Enol polarisiert die X–X-Bindung des Halogens und bindet das X, das eine positive Teilladung aufweist. Aus dem entstandenen α-Halogencarboxoniumion als Zwischenprodukt erfolgt die Abspaltung eines Protons unter Bildung eines α-Halogenaldehyds (gegebenenfalls eines α-Halogenketons). H R
O
C
C
H
H R
H
O
C
H
H R
C X
H
C
O
R
C H
X
X
X
α-Halogencarboxoniumion
X = Cl, Br oder I
H
H
C
O C H
X
+ HX α-Halogenaldehyd
Die Reaktion bleibt beim monosubstituierten Halogenaldehyd bzw. Halogenketon stehen, soweit das Halogen nicht im Überschuß im Reaktionsgemisch vorhanden ist. Dies ist so zu erklären, daß nach erfolgter Erstsubstitution das Halogen einen –I-Effekt ausübt. Dadurch wird die Verfügbarkeit der freien Elektronenpaare am Sauerstoff der Carbonylgruppe für die Bindung eines Protons herabgesetzt. Der erste Schritt zur Enolbildung, die eine Voraussetzung für die sauer katalysierte Halogenierung ist, wird dadurch erschwert, so daß die Zweitsubstitution schon erheblich langsamer verläuft. 13.4.7.4 Die Haloform-Reaktion
In alkalischem Medium bilden Methylketone oder Acetaldehyd mit Halogenen ein allgemein als Haloform bezeichnetes Produkt. O H3C
C
R
+ 3 X2
OH - 3 HX
X3C
H + R
Haloform
COO
X = Cl, Br oder I
Carbonsäureanion
Bei Durchführung dieser Reaktion mit Iod (besser mit Lugolscher Lösung = Iod in wäßriger Kaliumiodid-Lösung) entsteht das in Wasser schlecht lösliche, gelbe Iodoform, das einen intensiven, charakteristischen Geruch hat. Die Reaktion dient als Nachweis für Methylketone und Acetaldehyd. In diesen Verbindungen befindet sich die Methylgruppe in direkter Nachbarschaft zur Carbonylgruppe. Auch Ethanol wird bei diesen Reaktionsbedingungen zu Iodoform umgesetzt. Das im Reaktionsgemisch gebildete Hypoiodit IO– I2 + 2 OH
I
+ IO
+
H2O
538
13 Aldehyde und Ketone
oxidiert Ethanol zu Acetaldehyd, mit dem natürlich dann die Iodoformreaktion erfolgt. Bei der Iodoformreaktion wird im ersten Reaktionsschritt im Methylketon ein Proton aus der Methylgruppe abgespalten, das vom Hydroxidion gebunden wird. Es entsteht das Ketocarbanion-Enolation des Methylketons. H H
O
H
R
C
O
H +
C
R
H
C
C O
H
O
H
R
H H
C
C
H
O
Ketocarbanion-Enolation des Methylketons
Das Ketocarbanion-Enolation polarisiert die I–I-Bindung und bindet das I mit der positiven Teilladung. R
H
I
I
+
C H
C
C O
H
R
H H
I
C
+ I
R
C
O
C O
H
Bei der basenkatalysierten Reaktion werden auch noch die weiteren Wasserstoffe der –CH2I-Gruppe durch Iod ersetzt. Hierbei ist jeder weitere Halogenierungsschritt schneller als der vorangegangene, da der –I-Effekt des Iodatoms die Abspaltung des Protons und damit die Bildung des Ketocarbanion-Enolations erleichtert.
H
I
C
R C
H H
- H2O O
H
R
H C
I
R C
C
C
I
O
I
I
H
I
O
C
+ I R C O
I
O
Ketocarbanion-Enolation H
O
+ I H
I
C
I
R C
- H2O O
I
R C
I
R
I C
C O
I
C O
I I
I
I
C
I
R C O
Triiodmethylalkylketon
Der vereinigte –I-Effekt (durch Pfeil veranschaulicht) aller drei Iodatome trägt zur starken Polarisierung der C–C-Bindung bei, so daß diese nach Anlagerung eines Hydroxidions an das C-Atom der Carbonylgruppe heteropolar gespalten wird.
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
I I
R
O
C δ+
C
H
I
O δ-
I
539
I
R
C
C
I
O
I O
I
H
O
C
+ R
C O
I
Triiodmethylalkylketon
H
Carbanion
Carbonsäure
Das Carbanion ist sehr reaktiv, es bindet ein Proton und es entsteht das Iodoform, während die Carbonsäure mit der Base ein Salz bildet, so daß ein Carbonsäureanion im Produktgemisch vorliegt: I
I I
C
+
O H
I
H
C
R
R H+
O
und
H
C
H + O
O
H
I
I
Carbanion
Iodoform
C
O
+ H2O
O
O
Carbonsäure
Carbonsäureanion
13.4.7.5 Die Mannich-Reaktion
Für die Mannich-Reaktion sind drei Komponenten erforderlich. In der Regel ist dies ein sekundäres Amin, das in Form seines Hydrochlorids eingesetzt wird, Formaldehyd und ein Keton oder ein Aldehyd als C–H-acide Verbindung. Die Reaktion wird auf die Weise durchgeführt, daß man das Reaktionsgemisch bestehend aus dem Hydrochlorid des sekundären Amins, einer 35%igen Formaldehydlösung und einem Überschuß der C–H-aciden Carbonylverbindung einige Stunden unter dem Rückflußkühler erhitzt. Als Reaktionsprodukt erhält man das Hydrochlorid einer β-Aminocarbonylverbindung.
R
O
H
O
C
CH2 + H
C
Keton als C–H-acide Verbindung
R1 H + H
Formaldehyd
O
N
H
R2
Cl
R
C
α CH2
β CH2
R1 N R2
Hydrochlorid des sekundären Amins
H + H2O Cl
Hydrochlorid der β-AminocarbonylVerbindung
Reaktionsmechanismus der Mannich-Reaktion
Das Hydrochlorid des sekundären Amins befindet sich mit dem freien sekundären Amin im chemischen Gleichgewicht: R1 N R2
H Cl H
R1 N R2
+ H
Cl
H
Formaldehyd wird protoniert, worauf das freie sekundäre Amin das Carboxoniumion des Formaldehyds als Nucleophil angreift. Es folgt eine Deprotonierung am Stickstoff und als
540
13 Aldehyde und Ketone
Zwischenprodukt entsteht das Halbaminal (Analogie zum Halbacetal), das nach Protonierung der Hydroxygruppe Wasser abspaltet und ein Carbenium-Iminium-Ion bildet (siehe auch Abschnitt 13.4.3.3). H O H
C H
H
O
C
C
H
H
R1 R2
N
H
H
H
H
H O
O
H
C
N
H
R2
H
H
Carboxoniumion des Formaldehyds
H
O
H
C
N
O
R1 R
H Halbaminal
N
C
H
2
R1
H
R1
C
N
H
R2
Halbaminal
H
H
H
+H
O
R1 - H O 2 R
H
R1
H
C
N
C
2
R1
H
H
R
2
N R2
H
Carbenium-Iminium-Ion
Die C–H-acide Carbonylverbindung unterliegt der Keto-Enol-Tautomerie. H
O R
C
OH H
CH2
R
C
CH2
Das Enol reagiert als Nucleophil mit dem Carbenium-Iminium-Ion, wobei als Endprodukt das Salz der Mannich-Base entsteht. O C
R
H
H
H H CH2 C H
Enol
H N
R
1
R2
R1
C
N
H
R2
C
R
H
H
C
C
N
H
H
R2
Carbenium-Iminium-Ion
1
R
R
O
H
H
C
C
C
N
H
H
R2
R1
R
O
H
H
C
C
C
N
H
H
R2
R1
Carboxoniumion O R
C
H
H
H
C
C
N
H
H
R2
Mannich-Base
R1
Cl
O
H
H
C
C
C
N
H
H
R2
Carboxoniumion H
H
R
O
R
O
H
H
H
Cl
C
C
C
N
R1
H
H
R2
Salz der Mannich-Base
R1
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
541
Bei der Mannich-Reaktion erfolgt eine C–C-Verknüpfung, wobei die C–H-acide Verbindung aminomethyliert wird. Außer Aldehyden und Ketonen können auch andere C–H-acide Verbindungen eingesetzt werden, z.B. aliphatische Nitroverbindungen, Blausäure und Acetylen. Einheitliche Produkte entstehen nur aus sekundären Aminen, denn Ammoniak und primäre Amine können mit den am Stickstoff noch verfügbaren H-Atomen weiterreagieren.
13.4.8 Reduktion von Carbonylverbindungen Sowohl Aldehyde als auch Ketone können leicht zu Alkoholen reduziert werden. Mit Hilfe der Clemmensen-Reaktion, der Kishner-Wolff-Reaktion und über Thioacetale gelingt auch die Überführung dieser Carbonylverbindungen in Kohlenwasserstoffe. 13.4.8.1 Reduktion zu Alkoholen a) Reduktion mit Natrium in Ethanol
Aldehyde bzw. Ketone können mit Na in Ethanol zu entsprechenden Alkoholen reduziert werden (siehe Abschnitt 10.6.2.4). OH
O R
Na, CH3CH2OH
C
R
- CH3CH2ONa
H
C
H
H
Bei der Reduktion von Ketonen können Pinakole als Nebenprodukte entstehen (Pinakolbildung siehe Abschnitt 10.6.2.5). b) Reduktion durch katalytische Hydrierung
Mit Platin-, Palladium- oder Nickelkatalysatoren kann auch die Doppelbindung der Aldehyde und Ketone hydriert werden, wobei aus Aldehyden primäre Alkohole und aus Ketonen sekundäre Alkohole gebildet werden. Bei Anwendung von Raney-Nickel als Katalysator ist ein leichter Überdruck erforderlich. OH
O R
+
C
H2
Pt
H
R
C
H
H
Bei der katalytischen Hydrierung von Verbindungen mit mehreren funktionellen Gruppen muß allerdings bedacht werden, daß auch andere Gruppen reduziert werden können (C–C-Doppel- und Dreifachbindungen, –CN und –NO2). c) Reduktion mit Metallhydriden
Mit Metallhydriden reagieren Aldehyde und Ketone zu entsprechenden Alkoholaten, die nach Zugabe von Wasser oder Säuren in Alkohole umgesetzt werden (siehe Abschnitt 10.6.2.7). Für die Reaktion verwendet man vielfach Lithiumaluminiumhydrid oder Natriumborhydrid.
542
13 Aldehyde und Ketone
Reaktionen von Aldehyden mit Lithiumaluminiumhydrid: H 4R
C
+ AlH4
Ether
Li
(R
CH2O)4Al
4 HCl
Li
4R
CH2
OH + AlCl3 + LiCl
O
primärer Alkohol
Reaktionen von Ketonen mit Lithiumaluminiumhydrid: R O + AlH4
C
4
Li
R
Ether
CHO 4Al
R
R
4 HCl
Li
R 4
OH + AlCl3 + LiCl
CH
R
sekundärer Alkohol
d) Die Meerwein-Ponndorf-Verley-Reaktion
Ketone werden mit Isopropylalkohol in Gegenwart von Aluminiumisopropylat zu sekundären Alkoholen umgesetzt. Die Reaktion erfolgt meist in Benzol oder Toluol als Lösungmittel. Sie ist umkehrbar. Das Gleichgewicht der Redoxreaktion läßt sich durch Abdestillieren des aus dem Isopropylalkohol gebildeten Acetons zugunsten des neugebildeten sekundären Alkohols verschieben. H3C
H C
R1
H3C C
+
O
2
H C
H3C
R
H3C
O
3
R1
Al
H
H3C
+
C OH R2 sek. Alkohol
OH
Keton
C
O
H3C
Für die Reduktion von Aldehyden ist diese Reaktion weniger geeignet, da mit dem Aluminiumisopropylat als starker Base auch die Aldol-Reaktion, gegebenenfalls die CannizzaroReaktion erfolgt. Die Reduktion der Ketone mit der Meerwein-Ponndorf-Verley-Reaktion hat den Vorteil, daß bei ungesättigten Ketonen die C–C-Doppel- oder C–C-Dreifachbindung nicht angegriffen wird. Die Reaktion hat sich bei der Reduktion der Ketogruppe empfindlicher Naturstoffe besonders bewährt. Man nimmt an, daß die Meerwein-Ponndorf-Verley-Reaktion über einen cyclischen Übergangszustand erfolgt, wobei eine Hydridübertragung stattfindet.
H3C
CH3
C O
C R1
R2
H3C
H
O
O
C
C
CH3 CH3
C
R1
R2
H3C
CH3
O
2
Al
O
H
H
H
O
O
C
C
CH3 CH3
CH3
O
2
Al
H
C
R1
R2
2
Al O C
H H3C
CH3
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
543
Meerwein selbst beschreibt den Reaktionsmechanismus folgendermaßen: „Der eigentliche Reduktionsvorgang besteht letzten Endes in einem Übergang zweier Molekülverbindungen ineinander unter gleichzeitiger Verschiebung eines Hydrid-Ions von dem α-Kohlenstoff der Alkoxy-Gruppe des Metallalkoholats an das Kohlenstoffatom der Carbonylgruppe des Aldehyds bzw. Ketons.“ Die Oppenauer-Verley-Reaktion stellt eine Umkehrung der Meerwein-Ponndorf-VerleyReaktion dar. Man läßt in Gegenwart von Aluminiumisopropylat einen sekundären Alkohol mit einem großen Überschuß an Aceton in Benzol oder Toluol als Lösungsmittel reagieren. Der sekundäre Alkohol wird zum Keton oxidiert. 13.4.8.2 Reduktion zu Kohlenwasserstoffen
Die Reduktion von Aldehyden und Ketonen zu Kohlenwasserstoffen kann direkt mit Hilfe der Clemmensen-Reaktion erfolgen oder indirekt über Oxime (Kishner-Wolff-Reaktion) oder über Mercaptale. a) Die Clemmensen-Reaktion
Mit Hilfe der Clemmensen-Reaktion können Ketone mit Zinkamalgam in konz. Salzsäure zu den entsprechenden Kohlenwasserstoffen reduziert werden. R1 C
O
R1
Zn / Hg, HCl, erhitzen
H C
R2
2
R
H
Die Clemmensen-Reaktion ist für die Reduktion von ungesättigten Ketonen nicht geeignet, da auch die C–C-Mehrfachbindungen reduziert werden. Auch für Aldehyde ist sie nicht zu empfehlen, da Nebenreaktionen erfolgen. b) Die Kishner-Wolff-Reaktion
Die Kishner-Wolff-Reaktion erfolgt mit der Carbonylverbindung und Hydrazin unter Zusatz von KOH, wobei zunächst das Hydrazon entsteht, mit dem die tautomere Azoverbindung im Gleichgewicht steht, aus der beim Erhitzen N2 freigesetzt und der Kohlenwasserstoff gebildet wird. R1 C 2
R
O
+ H2N
NH2
OH
R1 C 2
R
N
NH2
200 °C
R1
H
+ N2
C R2
H
Die Reaktion wurde früher im Druckrohr oder Autoklaven vorgenommen, heute wird sie gewöhnlich in der Modifikation nach Huang-Minlon durchgeführt, wobei man die Carbonylverbindung mit zerriebenen KOH-Plätzchen und Hydrazinhydrat in Di- oder Triethylenglycol unter Erhitzen auf 180°C reagieren läßt. Die Katalyse der starken Base ermöglicht eine Prototropie, so daß im ersten Reaktionsschritt im Gleichgewicht neben dem Hydrazon die tautomere Azoverbindung vorliegt.
544
13 Aldehyde und Ketone
R1
O
H C
N
H
R1 C
N
2
H2O
H
R
O
R1 N
N
2
C
N
1
R H
R
H
H
N
2
H
R
H
C
OH
N
N H
R2
Hydrazon
Azoverbindung
Die Azoverbindung wird deprotoniert, worauf die Abspaltung des Stickstoffmoleküls erfolgt. Das Carbanion setzt sich mit Wasser zum Kohlenwasserstoff um.
H 1
R
H
C R
N
O
H
N
H R1
C R2
2
H H
R N
N
+ H2O
Azoverbindung
- N2
+
O
1
O
1
H
R
H
H
C
C R2
R2
Carbanion
H
Kohlenwasserstoff
c) Reduktion von Carbonylverbindungen über Thioacetale
Thiole reagieren mit Carbonylverbindungen zu Thioacetalen (siehe Abschnitt 13.4.4.1), die mit Wasserstoff in Gegenwart von Raney-Nickel zum Kohlenwasserstoff hydriert werden können. R1 C R2
Keton
O +
HS HS
R1
CH2 CH2
- H2O
Ethandithiol
S
CH2
C R2
S
CH2
Thioacetal
Raney-Nickel / H2
R1
H
+
C R2
H
Kohlenwasserstoff
HS
CH2
HS
CH2
Ethandithiol
13.4.9 Die Oxidation von Aldehyden Aldehyde werden, im Gegensatz zu Ketonen, die gegenüber Oxidationsmitteln relativ beständig sind, schon mit schwachen Oxidationsmitteln zu Carbonsäuren oxidiert. Darauf beruhen Nachweisreaktionen (Tollenssche Probe und Fehlingreaktion), die der Feststellung dienen, ob es sich bei einer Carbonylverbindung um einen Aldehyd oder ein Keton handelt. Aldehyde unterliegen auch einer Autoxidation durch Luftsauerstoff. Bei den Oxidationen der Aldehyde erfolgt eine Spaltung der C–H-Bindung der Formylgruppe. 13.4.9.1 Die Tollenssche Probe
Im basischen Medium der Tollensschen Probe wird Ag+ durch einen Aldehyd zu metallischem Silber reduziert, das als Silberspiegel die Innenwand des Reaktionsgefäßes bedeckt. Der Aldehyd wird bei dem Redoxvorgang zur Carbonsäure oxidiert. Das für die Reaktion benötigte Tollens-Reagens wird auf die Weise hergestellt, daß zu einer Lösung von Silbernitrat einige Tropfen Ammoniakwasser gegeben werden. Zunächst entsteht ein brauner Niederschlag, der aber mit einigen weiteren Tropfen Ammoniakwasser wieder aufgelöst wird.
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
545
Es wird das Silberdiamin-Ion [Ag(NH3)2]+ gebildet. Der Lösung werden einige Tropfen Natronlauge zugegeben. Die Komplexbildung verhindert, daß im basischen Medium das schwerlösliche Ag2O gebildet wird. Die Reaktion des Aldehyds mit dem Silberdiaminnitrat erfolgt bei Zimmertemperatur oder bei mäßigem Erwärmen und braucht einige Zeit, bis sich der Silberspiegel abscheidet. Bei zu starkem Erhitzen fällt das Silber in Form eines dunklen Niederschlages aus. Die Reaktion erfolgt nach folgender Reaktionsgleichung: O R
O
+ 2 Ag(NH3)2
C
NO3 + 2 NaOH
R
H
+ 2 Ag + 2 NaNO3 + 3 NH3 + H2O
C O
NH4
Sie dient zum Nachweis, daß es sich bei der Carbonylverbindung um einen Aldehyd handelt, sie hat aber auch industrielle Bedeutung, denn sie wird zur Spiegelherstellung und auch zur Herstellung von silberbeschichteten Weihnachtskugeln eingesetzt. C–C-Mehrfachbindungen werden bei der Tollens-Reaktion nicht angegriffen. Man kann deshalb auf diese Weise ungesättigte Aldehyde zu ungesättigten Säuren oxidieren. 13.4.9.2 Die Fehlingsche Probe
Die Fehlingsche Probe dient zum Nachweis von Aldehyden. Sie besteht darin, daß der Aldehyd bei Erhitzen mit Fehling-Reagens zur Carbonsäure oxidiert und dabei gleichzeitig zweiwertiges Kupfer Cu2+ zu rotem Cu2O reduziert wird. Das Fehling-Reagens besteht aus zwei Lösungen, die gesondert aufbewahrt und erst unmittelbar vor der Probe zu gleichen Teilen miteinander vermischt werden. Fehling I ist eine Kupfersulfat-Lösung und Fehling II besteht aus verdünnter Natronlauge, die Kalium-Natriumtartrat (Seignette-Salz) enthält. Tartrate sind Salze der Weinsäure HOOC–CHOH–CHOH–COOH. Ohne das Tartrat würde nach Vermischen der Kupfersulfatlösung mit der Base das schwer lösliche Kupfer-(II)-hydroxid entstehen und aus der Lösung ausflocken. Die oxidierende Wirkung des zweiwertigen Kupfers könnte somit nicht eintreten. Das Kalium-Natriumtartrat bildet mit dem Cu2+-Ion einen Chelatkomplex, der auch in der Base beständig ist, und das Kupferion in Lösung hält. O Na
K
O
O
C
H
C
O
H
C
O
O
H Cu H
C O
C
O
O
C
H
O
C
H
C
O
H 2
H O
Cu
2
- Tartratkomplex
Na
K
546
13 Aldehyde und Ketone
Der Nachweis von Aldehyden mit Fehling-Reagens erfolgt nach folgender Reaktionsgleichung: O
O R
+ 2 Cu SO4 + 5 NaOH
C
R
+ Cu2O + 2 Na2SO4 + 3 H2O
C O
H
Na
Die Fehling-Probe wird auch in der Medizin angewandt, sie dient zum Nachweis von Zucker im Harn. 13.4.9.3 Oxidation mit Chromsäure
Soweit sich im Molekül außer der Formylgruppe nicht weitere funktionelle Gruppen befinden, die ebenfalls oxidiert werden könnten, kann der Aldehyd auch mit starken Oxidationsmitteln oxidiert werden. Die bei der Oxidation der Aldehyde erhaltenen Carbonsäuren sind gegen Oxidationsmittel sehr beständig. Man oxidiert Aldehyde zumeist mit Natriumdichromat in verd. Schwefelsäure, wobei die Chromsäure als Oxidans wirksam wird. O R
O
K2Cr2O7 / H
C
R
C O
H
H
Im sauren Medium erfolgt zunächst die Protonierung des Aldehyds:
O R
O
H R
C
H
O
C
R H
H
H
C H
Man nimmt an, daß die Reaktion über die Bildung eines Halbacetalesters der Chromsäure als Zwischenprodukt verläuft: H O R
C
H O
H
OH
OH Cr O
OH
R
C H
O O
Cr O
O
OH OH
R
C H
O
Cr O
+H OH
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
547
Über einen cyclischen Übergangszustand erfolgt die Spaltung in eine Chrom-(IV)-Verbindung und die Carbonsäure. Die Chrom-(IV)-Verbindung disproportioniert in wäßriger Lösung zur Chrom-(VI)- und Chrom-(III)-Verbindung.
H
O
O Cr
C R
H
O
HO
O
C O
O
R
H
Cr
+
O
OH
HO
13.4.9.4 Die Autoxidation von Aldehyden
Durch Spuren von Metallionen oder durch Lichteinfluß kann es bei Zimmertemperatur zu einer Autoxidation von Aldehyden mit Luftsauerstoff kommen, wobei Carbonsäuren entstehen. Läßt man z.B. einige Tropfen Benzaldehyd auf einem Uhrglas einige Stunden an der Luft stehen, werden Benzoesäurekristalle gebildet. O
+
C
1
O
hν
/2 O2
C
H
OH
Die Autoxidation von Aldehyden mit Luftsauerstoff zur Peroxycarbonsäure erfolgt nach einem Radikalmechanismus, wobei der Sauerstoff als Biradikal auftritt und die Reaktion startet, indem er den Wasserstoff der Formylgruppe bindet und ein Acylradikal entsteht. Das Acylradikal reagiert mit Sauerstoff zum Peroxycarbonsäureradikal, das mit einem Aldehydmolekül zur Peroxycarbonsäure umgesetzt wird. Hierbei entsteht wieder ein Acylradikal, das mit Sauerstoff reagieren kann. Start: O R
+
C
O
hν
O
H
O R
+
C
H
O
O
Peroxyradikal
Acylradikal
Kettenfortpflanzung: O
O R
C
O
O R
R
O
O
O
+ O
Peroxycarbonsäureradikal
C H
O
O
O
C O
C
R
R
+
C O
O
H
Peroxycarbonsäure
C
R
548
13 Aldehyde und Ketone
Die Peroxycarbonsäure wird an ein weiteres Aldehydmolekül addiert, und es entsteht als Zwischenprodukt der Peroxycarbonsäure-α-hydroxyalkylester. Dieser wird unter Umlagerung eines Hydridions gespalten, wobei zwei gleiche Carbonsäuremoleküle gebildet werden.
O R
O
O C
C
C R
Peroxycarbonsäure
O
R
H
R
C
O C H
R
O
Peroxycarbonsäureα-hydroxyalkylester
O
O O
O
C
O
H
C O
O C
Aldehyd
O R
O
O
R
H
O
H
H
H
R
+
C O
R
O
H
C H
O
R
H Peroxycarbonsäure-α-hydroxyalkylester
13.4.10 Die Oxidation von Ketonen Ketone sind im allgemeinen schwer oxidierbar. Es bedarf starker Oxidantien, um ihre Oxidation bewirken zu können. Mit Peroxycarbonsäuren werden Ketone zu Estern umgesetzt (Baeyer-Villiger-Oxidation). Bei diesen Oxidationen erfolgt eine Spaltung der C–C-Bindung. Die Oxidation der Ketone mit Selendioxid führt zu α-Dicarbonylverbindungen. 13.4.10.1 Oxidative Spaltung
Ketone lassen sich unter Aufspaltung der Kohlenstoffkette mit alkalischem Permanganat oder mit heißer Salpetersäure oxidieren. Die Kohlenstoffkette wird neben der Ketogruppe gespalten, wobei Carbonsäuren entstehen. Da die Kette zu beiden Seiten der Ketogruppe gespalten werden kann, entstehen bei unsymmetrischen Ketonen gleich vier Carbonsäuren, so daß die Reaktion in diesem Falle für präparative Zwecke uninteressant ist. O R
CH2
C
CH2
R'
heiße HNO3
R
+ R
COOH H2C
+
HOOC
CH2
COOH + HOOC
R' R'
Anders stellt sich dies bei cyclischen Ketonen dar. Die oxidative Spaltung führt in diesem Falle nur zu einem Produkt. Sie ist deshalb auch für präparative Zwecke nutzbar.
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone CH2
H2C
C
H2C
H2C
heiße HNO3
O
549 COOH COOH
H2C
CH2 Cyclopentanon
CH2 Glutarsäure
Man nimmt an, daß die Reaktion über die Enolform des Ketons erfolgt und die C=CDoppelbindung bei der Oxidation angegriffen wird. 13.4.10.2 Die Baeyer-Villiger-Oxidation
Die Oxidation erfolgt mit einer Peroxycarbonsäure, wobei aus dem Keton ein Ester gebildet wird. O H3C
C
O R + R'
C
O O
O
H
H3C
C
O O
R + R'
C
O
H
Zunächst erfolgt die nucleophile Addition der Peroxysäure an das Keton unter Bildung des Halbketalesters der Peroxycarbonsäure. O R'
C O
O
H
O C
CH3
R'
C
O R
Peroxycarbonsäure
O
H
O
O
C
O R'
O
C O
CH3
O
C
CH3
R
R
Keton
H
Halbketalester der Peroxycarbonsäure
Das Addukt (Halbketalester der Peroxycarbonsäure) wird in einer synchronen Reaktion, bei der ein organischer Rest zum Sauerstoff wandert, gespalten. Die Wanderungsneigung organischer Reste nimmt in der Reihenfolge Phenyl > tertiärer > sekundärer > primärer Alkylrest > Methylgruppe ab. Die Peroxycarbonsäure wird im Reaktionsverlauf zur Carbonsäure reduziert, während das Keton unter Umlagerung einer Alkylgruppe zum Carbonsäureester oxidiert wird.
O R'
H O
C O
O
O
C R
R' CH3
O
H
+
C O
C R
O
CH3
550
13 Aldehyde und Ketone
13.4.10.3 Oxidation mit Selendioxid (Riley-Oxidation)
Methyl- oder Methylengruppen in Nachbarschaft zu einer Ketogruppe oder Formylgruppe werden in geeignetem Lösungsmittel (Eisessig, Dioxan oder Wasser) mit Selendioxid zu αDiketonen bzw. zu α-Ketoaldehyden oxidiert. Als Nebenprodukt entstehen Carbonsäuren. O R'
CH2
C
O SeO2
R
R'
C
O C R
13.4.10.4 Faworski-Umlagerung
Die Faworski-Umlagerung erfolgt bei einer Reaktion von α-Halogenketonen mit starken Basen. Mit Alkalilauge werden Halogenketone zur Carbonsäure, mit Alkoholaten zu Estern und mit Aminen als Base zum n-Alkylsäureamid umgesetzt.
Die Faworski-Umlagerung kann auch zu einer Ringverengung eines Sechs- oder Vierringes führen: 2-Chlorcyclohexanon wird mit Lauge in das Salz der Cyclopentancarbonsäure und 2-Bromcyclobutanon in das Salz der Cyclopropansäure umgesetzt, durch Ansäuern der Carbonsäuresalze erhält man dann die entsprechenden cyclischen Carbonsäuren.
Reaktionsmechanismus
Die Methylengruppe in α-Stellung zur Carbonylgruppe wird durch die Base (das Alkoholation) deprotoniert und unter Eliminierung des Chloridanions wird ein Cyclopropanonring gebildet. Nach nucleophiler Addition der Base an den Carbonylkohlenstoff erfolgt die Umlagerung zum Ester.
13.4 Reaktionen der Aldehyde und Ketone
551
13.4.10.5 Die Willgerodt-Reaktion
Ein Alkylphenylketon wird bei der Willgerodt-Reaktion unter Druck im Autoklav bei 200 °C in wässriger Ammoniumpolysulfidlösung in die ω-Phenylcarbonsäure mit der gleichen Anzahl von Kohlenstoffatomen wie das Edukt umgesetzt. Vielfach erhält man bei dieser Reaktion erst das Thioamid oder Amid der ω-Phenylcarbonsäure, das dann mit Natronlauge zum Na-Salz der ω-Phenylcarbonsäure verseift wird. Die Reaktion erfolgt mit Alkylphenylketonen, deren Alkylkette auch verzweigt sein kann. Sie findet aber nicht bei solchen Alkylphenylketonen statt, die in ihrer Alkylkette einen quartären Kohlenstoff haben. Mit zunehmender Kettenlänge werden die Ausbeuten an ω-Phenylcarbonsäure kleiner.
Eine Variante der Willgerodt-Reaktion ist die Willgerodt-Kindler-Reaktion. Das Alkylphenylketon wird mit Schwefel und einem sekundären Amin bei milderen Reaktionsbedingungen in das Thioamid umgesetzt, das nachher mit Kalilauge verseift wird. Die Willgerodt-Kindler-Reaktion hat den Vorteil, daß sie drucklos erfolgen kann.
Der Reaktionsmechanismus der Willgerodt-Reaktion ist noch nicht vollends geklärt.
13.4.11 Disproportionierung von Aldehyden Unter Disproportionierung versteht man eine Reaktion, bei der eine Verbindung mit einer mittleren Oxidationszahl in zwei Produkte umgesetzt wird, eines mit höherer und eines mit niedrigerer Oxidationszahl.
552
13 Aldehyde und Ketone
13.4.11.1 Die Cannizzaro-Reaktion
Aldehyde, die keinen am α-ständigen C-Atom gebundenen Wasserstoff aufweisen, z.B. Benzaldehyd oder Formaldehyd, reagieren im stark basischen Medium so, daß eine Disproportionierung zum Alkohol und zum Salz der Carbonsäure eintritt. O
O
C
2H
OH
O
H
H
+
C
H
H
O
Formaldehyd
C
H
H
Ameisensäureanion
Methylalkohol
Zunächst greift das Hydroxidion als Nucleophil den Aldehyd an. Im weiteren Reaktionsschritt wird ein Hydridion auf ein weiteres Aldehydmolekül übertragen, das als Hydridakzeptor auftritt. Angriff des Hydroxidions:
O
O H
C
O
H
H
H
C
O
H
H
Übertragung des Hydridions:
O H
C
O
H
H
H C H
H
C
+ O
H
O
O O
H
C H
O
+ H
H H
C
O
H
C
O
H
H
13.4.12 Nachweisreaktionen Eine Nachweisreaktion für das Vorhandensein von Carbonylverbindungen ist die Reaktion mit 2,4-Dinitrophenylhydrazin zum gelben kristallinen 2,4-Dinitrophenylhydrazon (siehe Abschnitt 13.4.3.5). Das Vorliegen einer Carbonylverbindung kann man aber auch aus einem Infrarot-Spektrum ersehen. Zur Unterscheidung, ob ein Aldehyd oder Keton vorliegt, dienen weitere Reaktionen. Die Tollenssche Probe (Abschnitt 13.4.9.1) und die Fehlingsche Probe
13.5 Vorkommen von Aldehyden und Ketonen in der Natur
553
(Abschnitt 13.4.9.2) basieren darauf, daß Aldehyde mit Ag+ und Cu2+ in basischem Medium oxidierbar sind und Ketone nicht. Ein weiterer Nachweis darüber, daß ein Aldehyd vorliegt, kann mit fuchsinschwefeliger Säure, einer durch Einleiten von SO2 entfärbten wäßrigen Fuchsinlösung, erbracht werden. In Anwesenheit von Aldehyden tritt eine Rotfärbung ein.
13.5 Vorkommen von Aldehyden und Ketonen in der Natur Aldehyde und Ketone sind in der Natur weit verbreitet. Viele Ketone sind im Bereich der Terpenoide zu finden. Dazu gehören die im Pfefferminzöl vorkommenden cyclischen Monoterpene Menthon (siehe Abschnitt 20.1.1) und Carvon, die im Zitronenöl enthaltenen Monoterpene Citral-a, Citral-b und Citronellal und die bicyclischen Monoterpene L-(–)-Campher aus dem Mutterkrautöl und D-(+)-Campher aus dem Holz des Japanbaumes (siehe Abschnitt 20.1.1). O C
H H
O
O
C
C
H
O O O
O
Menthon
Carvon
Citral-a
Citral-b
Citronellal
L-(-)-Campher
D-(+)-Campher
Auch einige Steroide besitzen Ketogruppen. Zu ihnen gehören z.B. die Nebennierenrinden-Hormone Cortisol und Cortison (siehe Abschnitt 20.2.5.1) und die männlichen Keimdrüsenhormone Testosteron und Androstendion (siehe Abschnitt 20.2.5.2). H3C
HO 11 H3C H H
3
O
5
Cortisol
O 20 21 C CH2OH 17
OH
H
O 11 H3C H H
3
O
H3C
O 20 21 C CH2OH 17
H3C
OH
H
Cortison
H3C
O
H H3C
H3C
H H
H H
H
H
O
O
5
OH
Testosteron
Androstendion
Im Bereich der Alkaloide (siehe Kapitel 26) gibt es ebenfalls Verbindungen, die eine Ketogruppe im Molekül aufweisen. Dazu gehören die in der Rinde des Granatapfelbaumes (Punica granatum L.) enthaltenen Alkaloide Pseudopelletierin und Isopelletierin. Diese Alkaloide steigern die Reflexerregbarkeit und verzögern die Muskelerschlaffung. In hohen Dosen erfolgt eine Lähmung der motorischen Endplatten (Verbindungsstelle zwischen Nervenfaser und Muskelzelle). Therapeutisch werden sie als Anthelminthicum (Mittel gegen Wurmerkrankungen), besonders gegen Bandwürmer, angewendet.
554
13 Aldehyde und Ketone H3C N
O
Isopelletierin
Pseudopelletierin
HN
CH2
C
CH3
O
Aromatische Aldehyde kommen in der Natur ebenfalls vor, z.B. der im Zimt vorkommende Zimtaldehyd und das in der Vanilleschote enthaltene Vanillin. H H C
H C
C
O C
O
H
OCH3 OH
Zimtaldehyd
Vanillin
Auch Zucker zählen zu den Naturstoffen, in denen eine Keto- oder Formylgruppe vorzufinden ist. Monosaccharide (Einfachzucker) können als Verbindungen definiert werden, die eine Keto- oder Formylgruppe und Hydroxygruppen im Molekül enthalten.
Übungsaufgaben
555
Übungsaufgaben ? 13.1 Benennen Sie mit Trivialnamen die folgenden Verbindungen: O
O
O
C
C
C
O H
H
H 3C
a)
H 3C
H
b) O
C
H
CH3
c)
H
O C
H
d)
H
O C
C
OH O H 2C
C H
C H
e)
f)
g) O C
C
O
H 3C
h)
i)
? 13.2
Wie verläuft die Oxidation von Toluol mit Chromtrioxid in Acetanhydrid? Schreiben Sie die Reaktionsgleichungen auf.
? 13.3
Auf welche Weise reagieren Aromate mit Kohlenmonoxid und HCl bei der GattermannKoch-Synthese?
? 13.4
Wie reagieren Aromatische Kohlenwasserstoffe mit Carbonsäurechloriden in Gegenwart von Lewis-Säuren?
556
13 Aldehyde und Ketone
? 13.5 Wie reagiert Benzaldehyd a) in einer wässrigen Natriumcanidlösung unter Zugabe von 35%iger Schwefelsäure? b) mit Natriumcyanid in wässrig-alkoholischer Lösung ohne Zugabe einer Säure?
? 13.6 Beschreiben Sie a) den Reaktionsverlauf der Knoevenagel-Reaktion eines Aldehyds mit Malonsäurediethylester und Pyridin als basischen Katalysator und b) was erfolgt, wenn man das vorher erhaltene Produkt in saurem Medium hydrolysiert.
? 13.7 a) Ergänzen Sie die Reaktionsgleichungen: R H C
O + H
O
HO-R',H
R'
?
?
H
b) Erklären Sie den Reaktionsmechanismus der sauer katalysierten Reaktion eines Aldehyds mit einem Alkohol.
? 13.8
Welche Reaktionsprodukte erhält man bei der nukleophilen Addition an ein Aldehyd oder Keton a) mit einem primären Amin, b) mit Hydroxylamin, c) mit Hydrazin, d) mit Semicarbazid? Geben Sie sowohl die chemische Formel als auch den Namen des Reaktionsprodukts an.
? 13.9
Welche Reaktionsprodukte entstehen bei der nucleophilen Addition eines Thiols an Aldehyde bzw. Ketone?
? 13.10 Erläutern Sie die einzelnen Reaktionsschritte der sauer katalysierten Keto-Enol-Tautomerie eines Aldehyds.
? 13.11 Erläutern Sie die einzelnen Reaktionsschritte bei der Aldol-Reaktion.
? 13.12 Vervollständigen Sie die Reaktionsgleichung:
R
C
R1
O
O CH3 + H
C
H + H
N R2
Einige Stunden erhitzen
H Cl
Übungsaufgaben
557
? 13.13 Was erfolgt, wenn man zum Aldehyd in Diethylether Lithiumaluminiumhydrid gibt und zum Reaktionsprodukt nachher verdünnte Salzsäure hinzufügt?
? 13.14 Vervollständigen Sie die Reaktionsgleichungen: R1 C
O + H 2N
NH2
OH
200 °C
R2
? 13.15
Was geschieht, wenn man zu einem Aldehyd in ammoniakalischer Silbernitratlösung einige Tropfen Natronlauge hinzufügt und erwärmt? Schreiben Sie die Reaktionsgleichung auf.
? 13.16
Formulieren Sie die Reaktionsgleichung der Baeyer-Villiger-Reaktion eines Methylketons mit einer Peroxycarbonsäure.
? 13.17
Was geschieht, wenn man Benzaldehyd in starker Lauge erwärmt? Schreiben Sie die Reaktionsgleichung auf.
558
13 Aldehyde und Ketone
Lösungen ! 13.1 a) Formaldehyd b) Acetaldehyd c) Aceton d) Glyoxal e) Acrolein f) Benzyaldehyd g) Salicylaldehyd h) Acetophenon i) Benzophenon
! 13.2 Die Oxidation von Toluol mit Chromtrioxid in Acetanhydrid erfolgt über das Diacetat des Benzaldehydhydrats. Dieses wird zu Benzaldehyd und Essigsäure hydrolysiert: O O H 3C
C
CrO3 , H3C
C
CH3
O
C
CH3
C
CH3
O C
CH
O
O
O
H H2 O
+ 2 H 3C
O
Diacetat des Benzaldehydhydrats
Benzaldehyd
O C OH
! 13.3 Bei der Gattermann-Koch-Synthese wird ein Gemisch von trockenem HCl und CO durch eine Suspension von wasserfreien CuCl und Aluminiumchlorid des zu formylierenden aromatischen Kohlenwasserstoffs mehrere Stunden geleitet. Als Zwischenprodukt wird wahrscheinlich Formylchlorid gebildet, das in einer Friedel-Crafts-Reaktion mit dem Aromatischen Kohlenwasserstoff reagiert: HCl +
C
O H
Ar
H
Cl
+
H
AlCl3 / CuCl
C
Ar
+
C
HCl
O
O
! 13.4
Aromatische Kohlenwasserstoffe reagieren mit Carbonsäurechloriden in Gegenwart einer Lewis Säure nach Friedel-Crafts, wobei das entsprechende Keton entsteht (Reaktionsmechanismus siehe Abschnitt 6.6.1.4c): O
O Ar
H
+
X
C
R
AlCl3
Ar
C
R
+
HX
X = Cl, Br, I
Lösungen
559
! 13.5 a) bei der Zugabe der Säure wird Blausäure frei, die an die Doppelbindung der Carbonylgruppe des Benzaldehyds nucleophil addiert wird und es wird das Benzaldehydcyanhydrin gebildet: OH C
O + H
H C
N
C
H
C
N
H Benzaldehydcyanhydrin
b) Läßt man Benzaldehyd ohne Zugabe einer Säure mit Natriumcyanid in wässrig-alkoholischer Lösung reagieren, entsteht Benzoin (siehe Kapitel 13.4.1.2) O C
O
C
C
N
C
2
OH
H H Benzoin
Benzaldehyd
! 13.6
a) Bei der Knoevenagel-Reaktion wird der Malonsäuredieethylester deprotoniert und das Malonsäurediester-Anion nucleophil an die Carbonylgruppe des Aldehyds addiert. Nach Protonierung des Produkts erfolgt eine Abspaltung von Wasser unter Bildung des Alkylidenmalonsäurediesters.Die Wasserabspaltung erfolgt deshalb so leicht weil die beiden Carbonylgruppen des Diesters mit der neu entstandenen Doppelbindung in Konjugation stehen, also eine Mesomeriestabilisierung vorliegt. b) nach Ansäuren des Produkts erfolgt die Hydrolyse des Diesters und unter Decarboxylierung entsteht die entsprechende α,β-ungesättigte Carbonsäure (Reaktionsmechanismus siehe Kapitel 13.4.1.4). O
O R C H
C
H O
+ H
OC2H5
C C O
OC2H5
Pyridin – H2O
C
R C H
OC2H5
C C
OC2H5
H
/H2O
H
R
– 2 C2H5OH H – CO2
C
C
O C OH
O Alkylidenmalonsäurediester
α,β−ungesättigte Carbonsäure
560
13 Aldehyde und Ketone
! 13.7 a) Aldehyde reagieren im sauren Medium mit Alkoholen zunächst zum Halbacetal und dann weiter zum (Voll)acetal: H O
O R
C
R'
+ H
O
R'
O H
H
R
C
H
O
O
R', H
R'
R
H
C
O
R' + H2O
H
b) Im sauren Medium erfolgt zunächst die Protonierung des Aldehyds, wodurch die positive Ladung am Carbonylkohlenstoff des Aldehyds verstärkt und so die nucleophile Addition des relativ schwachen Nucleophils Alkohol ermöglicht wird. Es erfolgt die Deprotonierung des Addukts unter Bildung des Halbacetals: H
H O R
O
H
C
R
H
C
H -H
O R
H
O
O
R' R
C
H
H
O C
O
H
H
R'
R
C
O
H
+H
R'
- R'OH
H
Das Halbacetal wird im sauren Medium protoniert und die Hydroxonium-Gruppe in einer nucleophilen Substitution durch ein Alkoholmolekül ersetzt, worauf eine Deprotonierung unter Bildung des (Voll)Acetals erfolgt: H
H H
O
R
C
H
H
O O
R
R'
C
O
R'
Halbacetal
H
R'
C
C
O
R'
R' – R'OH
H R'
H
O R
O R
H2O
H
H
– H2O
O O
R'
R
H
C
O
R'
H Acetal
! 13.8 Die nucleophile Addition an einen Aldehyd oder ein Keton führt nach Abspaltung von Wasser: a) mit einem primären Amin zum Imin OH H C
O
+
NH2R
C
N
R
C Imin
NR
+
H 2O
Lösungen
561
b) mit Hydroxylamin zum Oxim OH H C
O
+
NH2OH
C
N
C
OH
N
OH
+
H2 O
Oxim
c) mit Hydrazin zum Hydrazon OH H C
+ H2 N
O
NH2
C
N
C
NH2
N
NH2 +
H 2O
Hydrazon
d) mit Semicarbazid zum Semicarbazon OH H O + H2 N
C
NHCONH2
C
N
C
NHCONH2
N
NHCONH2 + H2O
Semicarbazon
! 13.9
Thiole (Mercaptane) werden nucleophil an Aldehyde oder Ketone unter Bildung von Thioacetalen bzw. Thioketalen addiert: R C
O +2 H
S
R'
– H2O R
S
H
H
R'
R C
C S
R'
O + 2 H
S
R'
– H 2O R R
R
Thioacetal
S
R'
S
R'
C
Thioketal
! 13.10 Bei der sauer katalysierten Keto-Enol-Tautomerie wird die Keto-Form des Aldehyds protoniert. Anschließend wird vom Carboxoniumion ein Proton aus der zur protonierten Formylgruppe α-ständigen CH3-, CH2- bzw. CH-Gruppe abgespalten, wobei die Enol-Form gebildet wird: H R
C
O C
H Keto-Form
H
H H -H
R
C H
O C
H
H R
H Carboxoniumion
C H
O C H
H
H -H H
O C
R
C H
Enol-Form
H
562
13 Aldehyde und Ketone
! 13.11 Aldehyde stellen eine C-H-acide Verbindung dar. Unter basischer Katalyse wird vom Aldehyd aus einer α-ständigen Methin-, Methylen- oder Methylgruppe ein Proton abgespalten, das vom Hydroxid-Ion gebunden wird. Das auf diese Weise entstandene KetocarbanionEnolation wird nucleophil an den Kohlenstoff der Formylgruppe des Aldehyds addiert. Das β-Ketoalkoholat reagiert in wässriger Lösung indem es dem Wasser ein Proton entreißt und es entsteht das Aldol: H O R C C H H
H O C C R H
H C C R
O
+ H 2O
H
O H Ketocarbanion-Enolation
Aldehyd
H O R C C H H Aldehyd
O H C C R H
H C C R
O H
Ketocarbanion-Enolation
H O H O R C C C C H H R H
H
H O
β−Ketoalkoholat
H H O H O R C C C C H H R H Aldol
Bei Höherer Basenkonzentration und höherer Temperatur dehydratisiert Aldol, wobei ein α,β-ungesättigter Aldehyd entsteht. Die Reaktion erfolgt deshalb leicht, weil das α,β-ungesättigte Reaktionsprodukt durch Konjugation mit der Carbonylgruppe mesomeriestabilisert ist. H H R
C H
O C H
R C
H
O C
R H
H O
H
C H
β C H
R α C
O
+ OH
C H
+ H2 O
Lösungen
563
! 13.12 Bei einem Gemisch bestehend aus einem Keton als C-H-acider Verbindung, Formaldehyd und dem Hydrochlorid eines sekundären Amins, das einige Stunden unter dem Rückflußkühler erhitzt wird, erfolgt die Mannich Reaktion. Unter Wasserabspaltung wird das Hydrochlorid der β-Aminocarbonyl-Verbindung gebildet (Reaktionsmechanismus siehe Kapitel 13.4.7.5):
R
CH2 + H
C
Einige Stunden erhitzen
R1
O
H
O
C
H +
H
N
H
R2
Cl
O R
C
R1
β CH 2
α CH 2
N R2
H + H2O Cl
! 13.13
Der Aldehyd wird mit Lithiumaluminiumhydrid zum entsprechenden Lithiumaluminiumalkoholat-Komplex umgesetzt, aus dem nach Zugabe der Säure der primäre Alkohol freigesetzt wird. Auf diese Weisen kann man den Aldehyd zum primären Alkohol reduzieren: H 4R
C
+ AlH4
Li
Ether
(R
CH2O)4Al
Li
4 HCl
4R
CH2
OH + AlCl3 + LiCl
O
! 13.14
Die Carbonylverbindung wird mit Hydrazin unter Zusatz von Kaliumhydroxid in das Hydrazon umgewandelt und bei 200°C entsteht unter Abspaltung von Stickstoff der entsprechende Kohlenwasserstoff. Diese Reaktion wird als Kishner-Wolff-Reaktion bezeichnet (Reaktionsmechanismus siehe Abschnitt 13.4.8.2b). R1 C
O
+ H2N
NH2
R2
OH
R1 C
N
NH2
200 °C
+ N2
C R2
R2
H
R1
H
! 13.15
Versetzt man das Gemisch einer ammoniakalischen Silbernitratlösung und eines Aldehyds mit einigen Tropfen Natronlauge und erwärmt dieses, so erhält man das Salz der entsprechenden Carbonsäure und das Silberion wird zu metallischem Silber reduziert (die Silberspiegel-Probe als Schulversuch). Diese Redox-Reaktion wird als Tollenssche Probe bezeichnet: O R
+ 2 Ag(NH3)2
C H
O NO3 + 2 NaOH
R
+ 2 Ag + 2 NaNO3 + 3 NH3 + H2O
C O
NH4
564
13 Aldehyde und Ketone
! 13.16 Bei der Baeyer-Villiger-Reaktion wird aus dem Methylketon der entsprechende Ester gebildet (Reaktionsmechanismus siehe Kapitel 13.4.10.2): O H3C
C
O R + R'
C
O O
O
H
H3C
C
O O
R + R'
! 13.17
C
O
H
Aldehyde, die keinen am α-ständigen C-Atom gebundenen Wasserstoff aufweisen, reagieren in stark alkalischem Medium unter Disproportionierung zum Alkohol und dem Salz der Carbonsäure. Die Reaktion wird als Cannizzaro-Reaktion bezeichnet (Reaktionsmechanismus siehe Kapitel 13.4.11.1). Benzaldehyd disproportioniert in alkalischem Medium zu Benzylalkohol und Benzoatanion: H 2
C
H C
O
O
OH OH
H
+
C O
14 Chinone Chinone sind kristalline, gelb bis rot gefärbte Carbonylverbindungen, die eine chinoide Struktur aufweisen. Zwei Ketogruppen bilden mit Doppelbindungen in einem oder mehreren Sechsringen ein konjugiertes System. Grundsätzlich unterscheidet man eine o- und eine p-chinoide Struktur. O
O
O
O p-chinoide Struktur
o-chinoide Struktur
p-Benzochinon
o-Benzochinon
Zu den Chinonen zählen u. a. auch: O
O
1
1
8
O
2
2
1
7 6
3 O
4
O
2 3
4
5
O 1,4-Naphthochinon
1,2-Naphthochinon
O
8
9
1
7
2
6
3 10
5
4
2,6-Naphthochinon O
O
9
10
8
1 2
7 6
5
4
3
O
9,10-Anthrachinon
9,10-Phenanthrenchinon
A. Wollrab, Organische Chemie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-45144-7_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
565
566
14 Chinone
14.1 Darstellung der Chinone Die Oxidation des Hydrochinons mit Natriumdichromat in Schwefelsäure führt zum p-Benzochinon. Auch Phenol oder Anilin werden zu p-Benzochinon oxidiert. OH
O Na2Cr2O7, H2SO4, 30 °C
(gelb)
OH
O
Hydrochinon
p-Benzochinon
Brenzkatechin kann mit Silberoxid in Diethylether unter Beigabe von wasserfreiem Natriumsulfat zu o-Benzochinon oxidiert werden. Das o-Benzochinon ist wasserempfindlich. Deshalb ist die Gegenwart von Natriumsulfat im Reaktionsgemisch notwendig, um das bei der Reaktion gebildete Wasser zu binden. OH
O OH
O Ag2O, Na2SO4, Ether
Brenzkatechin
(rot) o-Benzochinon
Mit Chromsäure, Wasserstoffperoxid oder Luftsauerstoff in Gegenwart von Vanadiumpentoxid können Naphthalin zum 1,4-Naphthochinon, Anthracen zum 9,10-Anthrachinon und Phenanthren zu 9,10-Phenanthrenchinon oxidiert werden.
14.2 Reaktionen der Chinone Chinone können leicht reduziert werden. An die C–C-Doppelbindung der Chinone können elektrophile und an die Carbonyl-Doppelbindung nucleophile Additionsreaktionen erfolgen. Chinone sind dienophile Verbindungen, die eine Diels-Alder-Reaktion ermöglichen. Mit Hydrochinon bildet p-Benzochinon einen Ladungsübertragungskomplex (charge-transferKomplex).
14.2.1 Die Reduktion von Chinonen Die Reduktion von Chinonen geht leicht vonstatten, z.B. kann p-Benzochinon in saurem Medium mit Fe2+ zu Hydrochinon reduziert werden, wobei das Fe2+ zu Fe3+ oxidiert wird.
14.2 Reaktionen der Chinone
567
O
OH
+ 2 Fe 2
+ 2 Fe 3
+ 2H
O
OH
p-Benzochinon
Hydrochinon
Die Reduktion des Chinons findet in zwei aufeinanderfolgenden Ein-Elektron-Übertragungen statt. O
O
O
O e Fe
2
3 + Fe
O
O
O
O
Semichinon-Radikal-Anion
Das im ersten Elektron-Übertragungsschritt gebildete Radikal-Anion nimmt ein zweites Elektron auf, wobei das Hydrochinolat-Dianion entsteht, das unter Aufnahme von zwei Protonen Hydrochinon bildet. O
O
O
O e Fe
O
O
O
O
Semichinon-Radikal-Anion
Hydrochinolat-Dianion H
O
O
+ 2H
O
+ Fe 3
2
Hydrochinon
O H
568
14 Chinone
14.2.2 Elektrophile Addition An die C–C-Doppelbindung der Chinone kann eine elektrophile Addition erfolgen, z.B. wird in Essigsäure gelöstes Brom an p-Benzochinon elektrophil addiert. O
O
O Br
Br2 in CH3COOH
H Br H O
O
Br
Br
5,6-Dibromcyclohex-2-en-1,4-dion
Br2 in CH3COOH
H Br
H Br
H
H O
2,3,5,6-Tetrabromcyclohexan-1,4-dion
14.2.3 Nucleophile Addition In Chinonen befindet sich die C=C-Bindung in Konjugation zur C=O-Bindung. Man kann Chinone als α,β-ungesättigte Ketone auffassen und kann deshalb (siehe Abschnitt 13.4.5.2) bei der nucleophilen Addition erwarten, daß eine 1,4-Addition erfolgt:
Als Beispiel für eine 1,4-Addition an Chinone sei die nucleophile Addition von Methanol an p-Benzochinon in Gegenwart von ZnCl2 angeführt. Das ZnCl2 hat bei dieser Reaktion die Funktion einer Lewis-Säure. Der Sauerstoff der Carbonylgruppe bindet mit seinem freien Elektronenpaar die Lewis-Säure und erleichtert dadurch dem Methanol, das ein relativ schwaches Nucleophil darstellt, den nucleophilen Angriff. Die Keto-Enol-Tautomerie des Addukts im letzten Reaktionsschritt führt zum 2-Methoxyhydrochinon. Die Enolisierung erfolgt deshalb leicht, weil durch Abspaltung des Protons der Sechsring in den resonanzstabilisierten aromatischen Zustand gelangt.
14.2 Reaktionen der Chinone ZnCl2
569
ZnCl2
O
ZnCl2
O H
O
CH3
O
CH3
O
O
- ZnCl2
H
O
Keto-EnolTautomerie
H
O
O
H
H
O
CH3 O
H
O
CH3
O
O
H
p-Benzochinon
2-Methoxyhydrochinon
Das 2-Methoxyhydrochinon reagiert weiter. Es steht in einem Redox-Gleichgewicht mit dem noch im Reaktionsgemisch vorhandenen p-Benzochinon, wobei Hydrochinon und 2-Methoxy-p-benzochinon gebildet werden. H
H
O
O
O
O
+ O
+
CH3
O
O O
CH3 O
O
H
H
2-Methoxyhydrochinon
p-Benzochinon
2-Methoxy-p-benzochinon
Hydrochinon
Das 2-Methoxy-p-benzochinon addiert nochmals Methanol, worauf sich auf Grund der Keto-Enol-Tautomerie das 2,5-Dimethoxyhydrochinon bildet. Durch Ausbildung der EnolForm gelangt der Sechsring in den stabilen aromatischen Zustand. H3C
O
H
H
H3C
ZnCl2
+
H3C O
H
Keto-EnolTautomerie
O
O
O O
O O
CH3
O
CH3 O
O
O
H
CH3
H
2,5-Dimethoxyhydrochinon
Auch mit HCN, Aminen und Thiolen erfolgt eine 1,4-Addition, gefolgt von einer Enolisierung nach dem Schema: H O
+
Nu
H
1,4-Addition
O
Nu
H O
H
O
Keto-EnolTautomerie Nu
H O
O H
570
14 Chinone
Mit Grignard-Reagens hingegen erfolgt eine 1,2-Addition. Hierbei entsteht ein Addukt, in dem die chinoide Konjugation partiell erhalten ist. Die Hydrolyse des Addukts ergibt ein Chinol. O
R
+
OMgX
R
OH
H2O
RMgX
Chinol
O
O
O
Mit Hydroxylamin und Hydrazin reagieren Chinone zu Oximen und Hydrazonen.
14.2.4 Die Diels-Alder-Reaktion Im p-Benzochinon befindet sich die C=C-Bindung in Nachbarschaft zweier Carbonylgruppen, die die C=C-Bindung durch ihren –I-Effekt für die Reaktion mit einem Dien aktivieren, so daß das Chinon als Dienophil reagieren kann. Bei der Diels-Alder-Reaktion (siehe auch Abschnitt 3.10.4) des p-Benzochinons mit 1,3-Butadien erfolgt ein Ringschluß zum Tetrahydro-1,4-naphthochinon. Dieses kann leicht zum 1,4-Naphthochinon dehydriert werden. O H2C H2C
Diels-AlderReaktion
CH2
O
O
Oxidation
CH2 O
O Tetrahydro-1,4-naphthochinon
O 1,4-Naphthochinon
14.2.5 Bildung von Charge-Transfer-Komplexen Die C–O-Doppelbindung ist stark polarisiert, so daß im p-Benzochinon beide Kohlenstoffatome der Carbonylgruppen eine positive Teilladung haben. Infolge der Konjugation der Doppelbindungen wird sich, wie die mesomeren Grenzformeln vermuten lassen, der Elektronenmangel auf alle Kohlenstoffatome des Sechsringes verteilen.
14.2 Reaktionen der Chinone
571
O
O
O
O
O
O
O
O
Im Hydrochinon hingegen haben beide Hydroxygruppen einen +M-Effekt, der die Elektronendichte im aromatischen Sechsring erhöht. H
H
H
O
O
O
O
O
O
H
H
H
H
H O
O
Löst man p-Benzochinon und Hydrochinon in äquimolarem Verhältnis, erhält man eine dunkelgrüne Verbindung, das Chinhydron. δ+ O δ-
H O
δ-
δ-
δ-
δ-
+
δ+
δ+ δ+
δδ+ O
δ+
δ-
H
Hydrochinon
O
H
O
O
H
O
δ+ δ+
O δp-Benzochinon
Chinhydron
Das Chinhydron ist ein kristalliner Molekülkomplex, der als Ladungsübertragungskomplex oder auch als Charge-Transfer-Komplex bezeichnet wird. Ein solcher Komplex enthält eine Komponente mit hoher Elektronendichte, während die andere Komponente einen Elektronenmangel verzeichnet. Die Komponente mit hoher Elektronendichte tritt als Elektronendonor auf, die andere Komponente als Elektronenakzeptor (wird mit dem Pfeil symbolisiert). Darum werden diese Komplexe manchmal auch als Donor-Akzeptor-Komplexe bezeichnet. Im Chinhydron stehen beide Sechsringe zueinander parallel. Das Chinhydron ist in neutralem und saurem Medium beständig, es ist unbeständig in basischem Medium (pH > 9). Eine Chinhydronlösung kann im Bereich bis pH 9 für pH-Messungen als Standard-Vergleichselektrode benutzt werden.
572
14 Chinone
14.3 Vorkommen der Chinone in der Natur 14.3.1 Pilzfarbstoffe Im Schimmelpilz, Aspergillus fumigatus Fresenius, wurde das Fumigatin und in Penicillium spinulosum Thom das Spinulosin isoliert. Man nimmt an, daß die Verbindungen eine Funktion im Redox-System des Stoffwechsels der Pilze erfüllen. Im Pilz Polyporus nidulans Pers., der parasitär auf Eichen wächst, wurde die braunviolette Polyporsäure gefunden.
OH
H3C
O O
Fumigatin
O
O
O
CH3
HO
OH
H3C
O
HO
OH
CH3
O
Spinulosin
O
Polyporsäure
14.3.2 Der Elektronentransport in der Atmungskette Die Energiequelle der aeroben Zelle ist die Atmung. Der Vorgang spielt sich in den Mitochondrien, den „Kraftstationen der Zelle“, ab. In der Zelle werden Nährstoffe (Kohlenhydrate und Fettsäuren) enzymatisch oxidativ abgebaut, wobei als Endabbauprodukt CO2 und H2O anfallen. In der ersten Phase der biologischen Oxidation erfolgt die Dehydrierung des Substrats. Die dabei freiwerdenden Elektronen werden ebenso wie der Wasserstoff über eine Kette hintereinandergeschalteter Enzyme übertragen, die als Atmungskette bezeichnet wird. In der Endphase kommt es zur Oxidation unter Beteiligung des Atmungssauerstoffes, der die Elektronen aufnimmt und mit Protonen Wasser bildet. Das erste Glied der Atmungskette ist die oxidierte Form des Nicotinamid-Adenin-Dinucleotids NAD+ (siehe Abschnitt 25.6.1.1a), das in die reduzierte Form NADH gebracht wird (siehe Bild 14.1). Vom NADH erfolgt die Elektronenübertragung auf das Flavinmononukleotid FMN (siehe Abschnitt 25.7.3.2), von diesem auf das Ubichinon und dann auf weitere Verbindungen der Atmungskette (siehe Bild 14.2). Die Elektronen werden von einer Verbindung auf eine andere mit jeweils positiveren Redoxpotential E0' transportiert, bis sie schließlich auf molekularen Sauerstoff übertragen werden, der mit den vom Ubichinon freigesetzten Protonen Wasser bildet (siehe Bild 14.3). Die bei der Atmung freigesetzte Energie wird dazu benutzt, um Adenosindiphosphat (ADP) in Adenosintriphosphat (ATP) zu überführen (oxidative Phosphorylierung). Die Oxi-
14.3 Vorkommen der Chinone in der Natur
573
An Reduktion beteiligter Bereich H
H
H
R
O
R N
CH2
O
+ 2e
H
H
H
OH
O
O
OH
OH
NAD+
N
O
O O
CH2
O
H
C
C
HC
C
N
N
OH
NADH
Adenosin
R = Adenosindiphosphatrest
Adenosindiphosphatrest
Bild 14.1 Reduktion von NAD+ zu NADH
O
Flavinrest H3C
N
C
H3C
N
N
FMN
N C
H
C
H
H
C
OH
H
C
OH
H
C
OH
O
O
P
H2C
Ribitylrest
H
O
H
H3C
N
C
O
H3C
N
N
H
C
H H
H
C
OH
H
C
OH
H
C
OH
O
O
P
2H
+ 2e
H2C
O
N C
Flavinmononukleotid
reduzierte Form
An der Reduktion beteiligter Molekülbereich: H N
N 2H N
+ 2e N H
Bild 14.2 Reduktion von FMN zu FMNH2
H
O
FMNH2
O
O
N CH
Adenin
H
H Diphosphat- H gruppe OH OH Ribose
H
H
P
P
O
H
H
H
H
N
CH2
NH2
O
CONH2
CONH2
O
574
14 Chinone Substrat • H2
Substrat (oxidierte Form) NADH + H⊕
NAD+
- 0,3 0,0 0,1
NAD+
- 0,32V
FMN • H2
FMN
+ 0,10V
CoQ • ox
+ 0,12V
2 Cytochrom b Fe3⊕
E0(Volt) = Standard-Redoxpotential der Reaktion
- 0,12V
FMN CoQ • ox + 2 H⊕
CoQ • red
2 Cyt b Fe2⊕
2 Cyt b Fe3⊕
0,2 2 Cyt c Fe3⊕
+ 0,25V
2 Cyt a Fe3⊕
+ 0,29V 0,8
2 Cyt c Fe2⊕ 2 Cyt c Fe3⊕
+ 0,8V
2 Cyt a Fe2⊕
2 Cyt a Fe3⊕
O2
½ O2
E0/V
H2O
Energieübertragung: 3 ADP + 3 H3PO4
3 ATP
(Cyt = Cytochrom. Cytochrome siehe Abschnitt 25.5.1.2b)
Bild 14.3 Schema der Atmungskette
dationsenergie wird sozusagen in Form von ATP-Energie kurzfristig gespeichert. In einer durchschnittlichen Zelle wird ein ATP-Molekül innerhalb einer Minute nach seiner Entstehung verbraucht. Die freie Energie, die bei der Hydrolyse von ATP freigesetzt wird, dient zum Antrieb von Reaktionen, die Energie erfordern. Für die Muskelkontraktion, für Biosynthesen und zur Signalverstärkung wird die Energie aus der Umwandlung des energiereichen Adenosintriphosphats in das energieärmere Adenosindiphosphat bezogen (freie Standardenergie der Hydrolyse ΔG' = –30,5 kJ/Mol bzw. –7,3 kcal/Mol). NH2
NH2 O H
O
P
O O
O O H
O
P
N
P
O
O
CH2
HC N
C
O
H
H
OH
OH
O
Phosphat
C
N
O N
O
CH
P O
O O
P
O O
O
N
P
O
O
CH2
+ Adenosindiphosphat
Muskelkontraktion Biosynthesen Signalverstärkung Transportarbeit
HC N O
H
Energie aus Oxidationsreaktionen H
H O
C
C C
C
N
N CH
Adenin
H H
H
+ H2O OH
OH
Ribose Adenosin Wasser
+
Adenosintriphosphat
Ein Glied der Atmungskette ist das Coenzym Q (abgekürzt CoQ), dessen reduzierte Form durch Abgabe zweier Elektronen in die oxidierte Form übergeht. Das CoQ ist ein Chinonderivat mit einer langen, aus Isopreneinheiten bestehenden Kette. Die unpolare Kohlenwasserstoffkette erleichtert das Diffundieren des CoQ durch die Mitochondrienmembran. Die Anzahl der Isopreneinheiten ist speciesabhängig. Bei Säugetieren enthält die Kette mei-
14.3 Vorkommen der Chinone in der Natur
575
stens zehn Isopreneinheiten. In diesem Fall bezeichnet man das Coenzym als CoQ10. Das Coenzym Q wird manchmal auch Ubichinon genannt, weil es ubiquitär, d.h. weitverbreitet, vorkommt. CoQ ist der einzige Elektronenüberträger der Atmungskette, der nicht kovalent mit einem Protein verknüpft ist. Das Coenzym Q überträgt in der Atmungskette die Elektronen vom Flavinmononucleotid (FMN) auf das Cytochrom b. H O H3C
O
CH3
-2e
,- 2 H
2e
,2H
O H3C
O
CH3 CH3
CH3 H3C
(CH2
O
CH
C
CH2)n
H
H3C
(CH2
O
CH
C
CH2)n
H
O
O H
Reduzierte Form des CoQ
Oxidierte Form des CoQ
Eine ähnliche Funktion haben die Plastochinone beim Elektronentransport der in den Chloroplasten stattfindenden Photosynthese (siehe Abschnitt 25.5.1.3). Auch die Plastochinone haben eine isoprenoide Seitenkette. In der Regel besteht sie aus 9 Isopreneinheiten.
14.3.3 Derivate des Naphthochinons 14.3.3.1 Vitamin K1 und K2 Vitamine sind Wirkstoffe, die sich der Mensch in kleinen Mengen mit der Nahrung zuführen muß, weil sie für den Ablauf von Lebensfunktionen notwendig sind und der menschliche Organismus sie nicht synthetisieren kann. Die Vitamine der K-Gruppe (Abkürzung K von: Koagulationsvitamine) enthalten einen Naphthochinonring mit einer langen Seitenkette (s. auch Abschnitt 19.5.5.4). Vitamin K1 kommt in grünen Pflanzenteilen vor, während Vitamin K2 in Bakterien zu finden ist, wo es offenbar Bestandteil der Atmungskette ist und Ubichinon ersetzt. Für Säugetiere und Menschen hat die Vitamin-K-Gruppe Vitamincharakter, bei Vitamin-K-Mangel funktioniert der Mechanismus der Blutgerinnung (Koagulation) nicht mehr. O CH3 CH3
CH3 CH2
CH
C
O
CH2
CH2
CH2
CH
CH3 CH2 2 CH2
CH2
CH
CH3
Vitamin K1
O CH3 CH3 CH2 O
CH
C
CH3 CH2
CH2
Vitamin K2
CH
C
CH3 CH2 5 CH2
CH
C
CH3
576
14 Chinone
14.3.3.2 Weitere Naphthochinonderivate Schält man die grünen Schalen von Walnüssen, bekommt man nach einiger Zeit dunkelbraune Flecken auf den Händen. Diese rühren vom Juglon (5-Hydroxy-1,4-naphthochinon) her, das aus dem 1,4,5-Trihydroxynaphthalin durch Luftoxidation entstanden ist. Plumbagin (2Methyl-5-hydroxy-1,4-naphthochinon) kommt in den Sträuchern verschiedener PlumbagoArten vor. Aus dem in Ägypten wachsenden Henna-Strauch (Lawsonia inermis) gewinnt man durch Extraktion das Lawson (2-Hydroxy-1,4-naphthochinon), ein Farbstoff mit dem man Wolle und Seide orange färben kann. Lapachol ist ein gelber Farbstoff, der in den Fasern verschiedener Holzarten zu finden ist. OH
O
OH
O
O
O
OH
OH
CH3 CH3 O
O
Juglon
CH2CH
Plumbagin
O
O
Lawson
C CH3
Lapachol
14.3.4 Alizarin, ein Derivat des Anthrachinons Alizarin wird durch Extraktion aus der Krappwurzel gewonnen, in der es in der Ruberythrinsäure an Zucker (Glucose und Xylose) gebunden vorkommt. Alizarin ist ein Beizenfarbstoff, der auf der Cellulosefaser nicht direkt haftet, sondern erst nach Vorbehandlung mit einer als Beize bezeichneten Mittlersubstanz. Mit Aluminiumsalzen bildet es einen roten Aluminiumalizarinlack, bei dem das Aluminium an die Faser und das Farbstoffmolekül gebunden ist. Textilfaser O
O
O Al
OH OH
H
O
O
O
O Alizarin O
AluminiumAlizarinlack
Übungsaufgaben
577
Übungsaufgaben ? 14.1 Benennen Sie die folgenden Verbindungen: O
O
O
O
O
O O
O
a)
b)
c) O
O
d)
O
O
e)
f)
? 14.2 Vervollständigen Sie die Reaktionsgleichung: O + 2Fe2
+ 2H
O
? 14.3 Wie reagiert p-Benzochinon a) mit Brom in Essigsäure b) mit Blausäure c) mit Grignard-Reagens in Diethylether. Welche Verbindung erhält man nach Zugabe von Wasser zum Reaktionsprodukt?
? 14.4 Schreiben Sie die Formel des Chinhydrons auf und erklären Sie, was ein Charge-TransferKomplex ist.
578
14 Chinone
Lösungen ! 14.1 O
O
O
O
O
O O
O
a) p-Benzochinon
b) o-Benzochinon
c) 1,4-Naphthochinon
O
O
d) 1,6-Naphthochinon
O
O
e) 9,10-Anthrachinon
f ) 9,10-Phenanthrenchinon
! 14.2
Die Reduktion des p-Benzochinons mit Fe2+ zu Hydrochinon in saurem Medium findet in zwei aufeinanderfolgenden Ein-Elektron-Übertragungen statt, wobei Fe2+ zu Fe3+ oxidiert wird (Reaktionsmechanismus siehe Kapitel 14.2.1). OH
O
+ 2Fe2
O
+ 2Fe3
+ 2H
OH
Lösungen
579
! 14.3 Am p-Benzochinon können sowohl elektrophile als auch nukleophile Additionen erfolgen. Das p-Benzochinon reagiert a) mit Brom in Essigsäure in einer elektrophilen Addition an die C=C-Doppelbindung zunächst zum entsprechenden Dibromderivat und durch Addition an die weitere C=CDoppelbindung zum 2,3,5,6-Tetrabromcyclohexan-1,4-dion O
O
O Br
Br2 in CH3COOH
H Br
Br2 in CH3COOH
H Br
H Br
H
H O
Br
Br
O
H O
b) Mit HCN erfolgt am p-Benzochinon eine Michael-Adition (siehe Kapitel 13.4.5.3), also eine nucleophile 1,4-Addition wie an einem α,β-ungesättigten Keton, gefolgt von einer Enolisierung: OH
O
+ HCN
1,4-Addition
OH
CN
Keto-EnolTautomerie
H
H
CN
O
O
OH
c) Mit Grignard Reagens reagiert die Carbonylgruppe über einen cyclischen Übergangszustand (siehe Kapitel 10.6.2.8) und es erfolgt eine 1,2-Addition, nach Hydrolyse des Produkts entsteht ein Chinol: O
R
+
O
OMgX
R
OH
H2O
RMgX
O
O
580
14 Chinone
! 14.4 p-Benzochinon und Hydrochinon in äquimolarem Verhältnis gelöst, bilden einen kristallinen Ladungsübertragungskomplex, das Chinhydron. Ein Ladungsübertragungs-Komplex, der auch als Charge-Transfer-Komplex bezeichnet wird, enthält eine Komponente mit hoher Elektronendichte (in diesem Falle das Hydrochinon) und eine Komponente mit Elektronenmangel (das p-Benzochinon). Die Komponente mit hoher Elektronendichte tritt als Elektronendonor (mit Pfeil symbolisiert), die andere als Elektronenakzeptor auf. Im Chinhydron stehen beide Sechsringe parallel zu einander: O
H
O
O
H
O
15 Carbonsäuren Carbonsäuren sind organische Verbindungen, die eine Carboxygruppe –COOH als funktionelle Gruppe besitzen. Je nach Anzahl der Carboxygruppen spricht man von Mono-, Di- oder Tricarbonsäuren, z.B. H O R
O
C
O C
O
H
H
CH2
C O
H
H
Dicarbonsäure
O C
O
C
O
Monocarbonsäure
O
O
CH
C
O
O
H
Tricarbonsäure
Unverzweigte aliphatische Monocarbonsäuren sind – verestert mit Glycerin – ein Bestandteil von Fetten und Ölen. Aliphatische Monocarbonsäuren werden deshalb oft auch als Fettsäuren bezeichnet. (Das Wort „aliphatisch“, das man zur Bezeichnung von Verbindungen mit offener Kohlenstoffkette gebraucht, leitet sich vom griech. aliphos = Fett ab.)
15.1 Nomenklatur der Carbonsäuren Die Benennung der Carbonsäuren nach IUPAC-Regeln erfolgt so, daß man die Carboxygruppe in die Hauptkette einbezieht, das C-Atom der Carboxygruppe also mitzählt, und beim Durchnummerieren der Hauptkette mit dem C-Atom der Carboxygruppe beginnt. Man benennt die in der Carbonsäure noch vorhandenen Substituenten, bezeichnet die Hauptkette mit dem Namen des Kohlenwasserstoffs mit der entsprechenden Anzahl an Kohlenstoffatomen und fügt dann das Wort -säure hinzu. Im Falle, daß zwei Carboxygruppen im Molekül vorhanden sind, wird die Endung -disäure angefügt. Zum Beispiel:
H
H 3 C
H 2 C
H
H
H 1 4 3 COOH H3C C H
Propansäure
H3C 4
3 C
2 C
CH3
H 2 C
H3C 1 COOH H
1 COOH H3C 2,3-Dimethyl-2-butensäure
4 C
5 1 COOH HOOC
4 HOOC H
CH3
2-Methylbutansäure
5 H3C
CH2 Br 3 2 C C
3 C
2-Brom-3-ethylbutandisäure CH 2 CH
CH2 1 COOH
2-Vinyl-3-pentinsäure
H 4 C
H 3 C
Br 2 C
H
H
H
1 COOH
2-Brompentandisäure
HOOC
6
5 C
C4
3 C
2 C
H
1 H COOH 2-(E)-2-Hexen-4-indisäure
A. Wollrab, Organische Chemie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-45144-7_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
581
582
15 Carbonsäuren
Im Falle, daß eine Carboxygruppe nicht in die Hauptkette einzuordnen ist, wird beim Abzählen der C-Atome der Hauptkette das C-Atom der Carboxygruppe nicht mitgezählt. Es wird die Stellung der Carboxygruppe angegeben, die Hauptkette nach dem entsprechenden Kohlenwasserstoff benannt und die Endung -carbonsäure zugefügt, z.B.: COOH
HOOC 3'
HOOC 2 H2C
COOH 1 CH
5'
Cyclohexancarbonsäure
6'
2
7
4
COOH
3
6
5
6
1
8
3
2 1' 1
4'
COOH
1,1,2-Ethantricarbonsäure
2'
COOH
4-Biphenylcarbonsäure
COOH
4
5
1,3,8-Naphthalintricarbonsäure
Befindet sich die Carboxygruppe in einer Seitenkette, kann man sie als Substituent betrachten und mit Carboxy- benennen, z.B.: COOH
4 CH
5 H3C
3 CH2
1
CH2 CH2 COOH 1 2 CH CH COOH
2 3 CH2
COOH COOH 2-(Carboxyethyl)-1,1,4-pentantricarbonsäure
COOH
3-(Carboxymethyl)1-naphthalincarbonsäure
Entfernt man gedanklich aus der Formel der Carbonsäure R
C
O
die Hydroxygruppe,
OH
so erhält man die Restgruppe R
C
O
, die man allgemein als Alkanoyl- oder Acylgruppe
bezeichnet. Der Name der Acylgruppe leitet sich vom Namen der Carbonsäure ab, indem man anstelle des Suffixes -säure die Silbe -oyl verwendet, z.B.: OH
O H3C
CH2
C
Propanoyl-
H3C
CH2
CH
O C
C
O C
CH2
2-Hydroxybutanoyl-
Befindet sich im Molekül neben der Gruppe C
O CH2
CH2
C
Pentandioyl-
C
O
noch eine Carboxygruppe
O OH O
, so bezeichnet man die Carboxygruppe mit Carboxy- und die Gruppe
mit der Endung -oyl oder -carbonyl, z.B.:
15.1 Nomenklatur der Carbonsäuren O C H
5 CH2
4 CH2
3 CH2
583
2 CH2
O
1 C
O 5-Carboxypentanoyl-
Leitet man den Namen der Acylgruppe von einer Carbonsäure ab, deren Name die Endung -carbonsäure hat, so erhält die Gruppierung
O O
H 2C
O
die Bezeichnung Carbonyl-, z.B.:
O C
C
C
C
CH
CH2
C O
Cyclohexancarbonyl-
Der Säurerest R
1,2,3-Propantricarbonyl-
C
O O
leitet seinen Namen von der Bezeichnung der Carbonsäure
ab, wobei anstelle vom Suffix -säure die Endung -(o)at steht, z.B.:
H3C
CH2
CH2
Butanoat
C
O O
CH3 H3C
C
C
O
O H 2-Methylpropanoat
15.1.1 Trivialnamen für aliphatische, gesättigte Monocarbonsäuren Viele Carbonsäuren, besonders solche, die in der Natur vorkommen, haben Trivialnamen. Einige Trivialnamen leiten sich von der natürlichen Herkunft der Carbonsäuren ab. So ist z.B. die Ameisensäure in den Drüsensekreten der Ameisen, Essigsäure (verdünnt) im Speiseessig, Buttersäure in ranziger Butter und Capronsäure in Ziegenmilch (lat. Ziege = capra) zu finden. Die Laurinsäure ist in Lorbeerfrüchten (Lorbeerbaum = Laurus nobilis) enthalten. Die Myristinsäure kommt als Ester gebunden im Triglycerid der Muskatnuß (Muskatnuß = Myristica fragans) und Palmitinsäure im Palmöl vor. Der Name Stearinsäure leitet sich vom griech. stear = Fett, Talg ab. Die Korksäure wurde aus Kork isoliert. Die lat. Bezeichnung für die Ameise ist formica, daher die Bezeichnung Formiate für Salze der Ameisensäure. Der Name Acetat für die Salze der Essigsäure leitet sich vom lat. Acetum = Essig ab.
584
15 Carbonsäuren
Tabelle 15.1 Trivialnamen unverzweigter, gesättigter, aliphatischer Monocarbonsäuren
Anzahl der C-Atome
Formel
Trivialname
Benennung der Acylgruppe
Benennung des Säurerestes
C1
HCOOH
Ameisensäure
Formyl-
Formiat
C2
H3C–COOH
Essigsäure
Acetyl-
Acetat
C3
H3C–CH2–COOH
Propionsäure
Propionyl-
Propionat
C4
H3C–(CH2)2–COOH
Buttersäure
Butyryl-
Butyrat
C5
H3C–(CH2)3–COOH
Valeriansäure
Valeryl-
Valerat
C6
H3C–(CH2)4–COOH
Capronsäure
Capronoyl-
Capronat
C8
H3C–(CH2)6–COOH
Caprylsäure
Capryloyl-
Caprylat
C10
H3C–(CH2)8–COOH
Caprinsäure
Caprinoyl-
Caprinat
C12
H3C–(CH2)10–COOH
Laurinsäure
Lauroyl-
Laurat
C14
H3C–(CH2)12–COOH
Myristinsäure
Myristoyl-
Myristat
C16
H3C–(CH2)14–COOH
Palmitinsäure
Palmitoyl-
Palmitat
C18
H3C–(CH2)16–COOH
Stearinsäure
Stearoyl-
Stearat
15.2 Physikalische Eigenschaften Carbonsäuren gehören, durch die polare Carboxygruppe bedingt, zu den polaren organischen Verbindungen. In Fettsäuren mit der allgemeinen Formel CnH2n+1COOH nimmt die Polarität des Moleküls mit zunehmender Kettenlänge des Alkylrestes ab, da der Anteil des unpolaren Alkylrestes CnH2n+1 der Carboxygruppe gegenüber größer wird. Carbonsäuren können nicht nur mit Wasser oder Alkoholen, sondern auch untereinander Wasserstoffbrücken bilden. Die relativ hohen Siedetemperaturen der Carbonsäuren sind nicht nur auf ihre Polarität, sondern auch darauf zurückzuführen, daß die Carbonsäuremoleküle durch Wasserstoffbrücken bimolekulare Assoziate bilden. O R
H
O C
C O
H
R
O
Von der Ameisensäure bis zur Nonansäure sind die Fettsäuren flüssig, die höheren Fettsäuren sind bei Zimmertemperatur fest. Die Dicarbonsäuren sind, ebenso wie die aromatischen Carbonsäuren, bei Zimmertemperatur feste Stoffe. Die ungesättigten Monocarbonsäuren sind flüssig, die Elaidinsäure (siehe Abschnitt 15.5.1.3) jedoch ist bei Zimmertemperatur fest (Smt. 51°C). Die niederen Fettsäuren bis zur Buttersäure sind mit Wasser in jedem Verhältnis mischbar, bei den Fettsäuren mit höherem Molekulargewicht nimmt die Löslichkeit in Wasser ab. Carbonsäuren sind in der Regel in polaren organischen Lösungsmitteln gut löslich, höhere Fettsäuren auch in unpolaren Lösungsmitteln.
15.3 Synthese der Carbonsäuren
585
Tabelle 15.2 Schmelz- und Siedetemperaturen einiger Carbonsäuren
Name
Formel
Ameisensäure
HCOOH
Essigsäure
H3C–COOH
Propionsäure
H3C–CH2–COOH
–22
141
Buttersäure
H3C–(CH2)2–COOH
–6
164
Valeriansäure
H3C–(CH2)3–COOH
–34
178
Capronsäure
H3C–(CH2)4–COOH
–3
205
Caprylsäure
H3C–(CH2)6–COOH
16
239
Palmitinsäure
H3C–(CH2)14–COOH
63
26975
Stearinsäure
H3C–(CH2)16–COOH
70
28775
Oxalsäure
HOOC–COOH
Malonsäure Ölsäure
Schmelztempe- Siedetemperatur in °C ratur in °C 8,6 16,6
HOOC–CH2–COOH (CH2)7COOH
H3C(CH2)7 C
C
189,5
sublimiert
135,6
sublimiert
16
2237,5
–5
2307,5
122
250
H
H
Linolsäure
100,6 118
CH2
H3C(CH2)4 C
C
(CH2)7COOH C
C
HH
H
H
COOH
Benzoesäure COOH COOH
Phthalsäure
231
Bildung von Phthalanhydrid
Anmerkung: Die Hochzahl bei der Siedetemperatur einiger Carbonsäuren gibt den Druck in mbar an, bei dem die Siedetemperatur ermittelt wurde.
15.3 Synthese der Carbonsäuren 15.3.1 Großtechnische Synthese der Ameisensäure und Essigsäure 15.3.1.1 Ameisensäure HCOOH (Methansäure) Der Name Ameisensäure (Acidum Formicicum) rührt von ihrem Vorkommen in Drüsen der Ameisen (Formicidae) her. Die Ameisensäure wurde schon 1749 von Marggraf durch Destillation von Ameisen relativ rein dargestellt. Die Salze und Ester der Ameisensäure werden –
586
15 Carbonsäuren
abgeleitet vom lateinischen Namen der Ameisensäure – als Formiate bezeichnet. Auch in den Brennhaaren der Brennesseln ist Ameisensäure enthalten. Ameisensäure ist eine farblose, stechend riechende Flüssigkeit, die mit Wasser, Alkohol und Ether in jedem Verhältnis mischbar ist. Sie ist eine starke organische Säure. Auf der Haut wirkt unverdünnte Ameisensäure ätzend. Die Ameisensäure wird zur Unterstützung der Milchsäure-Gärung bei der Grünfuttersilage und zur pH-Einstellung in Bädern und Beizen in verschiedenen Industriezweigen verwendet. In begrenztem Umfange dient sie auch der Lebensmittelkonservierung, z.B. in Fruchtsäften. Die technische Herstellung der Ameisensäure erfolgt durch Umsetzung von gepulvertem Ätznatron mit Kohlenstoffmonoxid bei 8–30 bar und 115–150°C. Es entsteht das Natriumformiat, aus dem die Ameisensäure durch Ansäuern freigesetzt und dann abdestilliert wird.
CO + NaOH
O
8 bar, 130 °C
H
Na
C
verd. H2SO4
O H
+ NaHSO4
C O
O
H
Übergießt man Ameisensäure mit konz. Schwefelsäure, so entsteht durch Wasserentzug Kohlenstoffmonoxid. O H
C
konz. H2SO4
C
O
+
H2O
OH
Von den höheren Homologen unterscheidet sich Ameisensäure durch ihre reduzierende Wirkung, z.B. reduziert sie im sauren Medium Kaliumpermanganat: 5 CO2 + 8 H2O + 2 MnSO4 + K2SO4
5 HCOOH + 2 KMnO4 + 3 H2SO4
Die reduzierende Wirkung der Ameisensäure ist zu verstehen, wenn man ihre Strukturformel betrachtet. Sie enthält nicht nur die Carboxygruppe, sondern auch die Formylgruppe, so daß sie auch das Reduziervermögen der Aldehyde besitzt. O H
C
O H
OH
Carboxygruppe
C OH
Formylgruppe
15.3.1.2 Essigsäure H3CCOOH (Ethansäure) Essigsäure ist eine stechend riechende farblose Flüssigkeit, die mit Wasser, Ethanol, Diethylether, Tetrachlorkohlenstoff und Chloroform in jedem Verhältnis mischbar ist. Bei Zimmertemperatur ist sie flüssig, sie kommt aber bei etwas niedrigerer Temperatur (ihre Schmelztemperatur beträgt 16,6°C) in fester Form wie Eis aussehend vor und wird deshalb auch als
15.3 Synthese der Carbonsäuren
587
Eisessig bezeichnet. Unverdünnt wirkt sie auf die Haut stark ätzend. Die zur Zubereitung von Speisen verwendete stark verdünnte wässrige Lösung der Essigsäure wird als Essig bezeichnet. Tafelessig enthält 3,5 % Essigsäure und der durch Essigsäuregärung von Wein erhaltene Weinessig enthält etwa 5 % Essigsäure. Läßt man alkoholhaltige Getränke (z.B. Bier, Branntwein, Obstwein) längere Zeit in einem warmen Raum stehen, wird Ethanol durch Essigsäurebakterien (Bacterium aceti) zu Essigsäure umgesetzt. Der Speiseessig wird gewöhnlich aus dem aus Kartoffeln gewonnenen Kartoffelsprit (6–10 % Ethanol) im Schnellessigverfahren (Schützenbach, 1823) hergestellt. Man gießt den mit etwas fertigem Essig und Malzextrakt (zur zweckmäßigen Ernährung der Essigbakterien) vermischten Kartoffelsprit auf Rotbuchenholzhobelspäne, die sich locker aufgeschüttet in einem 2–4 m hohen und etwa 2 m breiten Behälter befinden. Die alkoholhaltige Flüssigkeit rieselt ganz langsam über die von unten belüfteten Buchenholzspäne, auf denen sich die Essigbakterien befinden. Beim Durchsickern der Flüssigkeit durch die Schicht der Buchenholzspäne wird Ethanol zu Essigsäure umgesetzt. Der so entstandenene Essig sammelt sich am Boden des Behälters und fließt durch ein gewinkeltes Röhrchen, den „Schwanenhals“, ab. Im Handel erhältlich ist auch „Essigessenz“. Dies ist eine konzentrierte wäßrige Lösung von Essigsäure mit einem Gehalt von 60–80 % Essigsäure. Unverdünnt ist sie ätzend. Mit der zwanzigfachen Menge Wasser verdünnt kann sie als Tafelessig verwendet werden. Großtechnisch wird die Essigsäure durch Flüssigphasenoxidation von n-Butan gewonnen. Dies kann bei 60–80 bar und 170–200°C mit Luft oder mit O2-angereicherter Luft ohne
Kartoffelsprit Luftlöcher Siebboden
Rotbuchenholzspäne
Winkelthermometer
Lattenrost Luft Essig
Bild 15.1 Schnellessigverfahren
Luft Schwanenhals
588
15 Carbonsäuren
Katalysator erfolgen (Hüls-Butan-Prozeß) oder bei 54 bar und 175°C mit Cobaltacetat als Katalysator (Celanese-n-Butan-LPO-Prozeß). Aus Buten kann Essigsäure ebenfalls oxidativ gewonnen werden. Essigsäure wird großtechnisch auch durch Oxidation von Acetaldehyd mit Luftsauerstoff gewonnen, und das entweder ohne Katalysatoren (Reaktionsmechanismus siehe Abschnitt 13.4.9.4) oder in Gegenwart von Cobalt- oder Manganacetat als Redox-Katalysatoren. Die Oxidation erfolgt mit Sauerstoff bei 50–70°C in Essigsäure als Lösungsmittel. O H3C
O
O2, 50-70 °C, Manganacetat als Katalysator
C
H3C
Essigsäure als Lösungsmittel
H
C O
H
Die Oxidation des Acetaldehyds mit Sauerstoff verläuft als Radikalreaktion. Der RedoxKatalysator dient bei diesem Prozeß zur Erzeugung von Acetyl-Radikalen, die die Oxidationsreaktion initiieren. Startreaktion: O H3C
O 3
+
C
H3C
Me
+ H
C
+
Me2
H
Me = Metall
Acetylradikal
Das Acetylradikal bindet den Sauerstoff und wird zum Peroxyessigsäureradikal. Dieses reagiert mit Acetaldehyd unter Freisetzung eines Acetylradikals und Bildung von Peroxyessigsäure. Kettenreaktion: O
O H3C
+
C
O
H3C
O
C O
Acetylradikal
Peroxyessigsäureradikal
O H3C
O
O
O
+
C
O
O
C
CH3
H
Acetaldehyd
H3C
O
+
C O
O
Peroxyessigsäure
C
CH3
H
Acetylradikal
Mit der in der Kettenreaktion gebildete Peroxyessigsäure erfolgt die Addition an die Carbonylfunktion des Acetaldehyds, wobei das α-Hydroxyethylperoxyacetat gebildet wird. Dieses zerfällt unter Umlagerung eines Hydridions in Essigsäure.
15.3 Synthese der Carbonsäuren O H3 C
H
C O
589
O
O C
O
CH3
H
H3C
C O
H
O
O
C
H3C
O
O
H3C
O
O
H3C
C
CH3
O
H
+
C
CH3
C H
O
O
C
O
α-Hydroxyethylperoxyacetat
Acetaldehyd
H
O
C
CH3
H
Peroxyessigsäure
H
O
C O
O
CH3
H
H α-Hydroxyethylperoxyacetat
Essigsäure
Das Metallkation erlangt die höhere Oxidationsstufe wieder, indem es der Peroxyessigsäure ein Elektron abgibt, wobei diese in ein Acetyloxyradikal und OH– zerfällt. O H3C
e
C O
O
Peroxyessigsäure
O Me2
+
H3C
H
+ Me3
C
+ OH
O
Acetyloxyradikal
e
= Elektron
Das Acetyloxyradikal spaltet die C–H-Bindung des Acetaldehyds und wird zu Essigsäure. Das bei diesem Reaktionsschritt aus dem Acetaldehyd entstandene Acetylradikal mündet in die Kettenreaktion ein. Das Hydroxid-Ion OH– bildet mit dem in der Startreaktion abgespaltenen Proton H+ Wasser. Essigsäure dient hauptsächlich zur Herstellung von Estern. Die größte Bedeutung hat das Vinylacetat, aus dem Polyvinylacetat hergestellt wird. An zweiter Stelle steht die Produktion des Celluloseacetats. Weiter wird Essigsäure zur Herstellung von Acetanhydrid, Acetanilid, Acetylchlorid, und Acetamid verwendet. Sie dient auch als polares Lösungsmittel.
15.3.2 Carbonsäuresynthesen im Labor 15.3.2.1 Oxidation primärer Alkohole und Oxidation von Aldehyden Primäre Alkohole werden zunächst zum entsprechenden Aldehyd (siehe Oxidationsreaktionen mit Alkoholen in Abschnitt 10.7.7), und dann weiter zur Carbonsäure oxidiert (siehe die Oxidation von Aldehyden in Abschnitt 13.4.9). Als Oxidationsmittel wird CrO3, Kaliumdichromat mit verdünnter Schwefelsäure, Kaliumpermanganat oder Salpetersäure benutzt. Die Reaktion erfordert nur ein mäßiges Erwärmen (25–70°C).
590
15 Carbonsäuren
CH3(CH2)14CH2OH
CrO3 in CH3COOH, 20 min bei 60 °C
CH3(CH2)14COOH
Cyclische Alkohole können in Gegenwart von Vanadinpentoxid bei Erhitzen mit 50%iger Salpetersäure unter oxidativer Ringspaltung zu Dicarbonsäuren umgesetzt werden.
CH2 C
H2C
CH2
CH2
CH2
OH
H2C
50 %ige HNO3, 60 °C H2C H V2O5 als Katalysator H2C
C CH2
CH2
O
CH2
50 %ige HNO3, 60 °C V2O5 als Katalysator
H2C
C
H2C
C
CH2
OH O OH O
15.3.2.2 Oxidative Spaltung von Alkenen und 1,2-Glykolen zu Carbonsäuren Alkene werden bei vorsichtiger Oxidation mit wäßriger KMnO4-Lösung zunächst zu Glykolen oxidiert (siehe Abschnitt 3.7.5.3b). Mit einem Überschuß an KMnO4 erfolgt eine oxidative Spaltung zu Carbonsäuren.
R
R' C
C
H
OH OH KMnO4
R
C
H
C
H
R'
KMnO4
O
O R
+
C OH
H
C
R'
HO
15.3.2.3 Carboxylierung von Grignard-Verbindungen Läßt man eine Lösung von Grignard-Reagens in Ether (Reaktionen mit Grignard-Reagens siehe Abschnitt 10.6.2.8) langsam auf Trockeneis (festes CO2) tropfen, erfolgt die Addition des Grignard-Reagens an Kohlendioxid. Das Trockeneis tritt in diesem Fall nicht nur als Reaktionspartner auf, es dient auch der Kühlung der exothermen Reaktion. Das Reaktionsprodukt kann mit einer Mineralsäure zur entsprechenden Carbonsäure hydrolysiert werden. R O
C
Mg O
Cl
Ether
R O
HCl
C O
Mg
Cl
R O
+
C O
MgCl2
H
Bei der Addition des Grignard-Reagens an CO2 wird die Kohlenstoffkette des Alkylrestes im Grignard-Reagens durch die C–C-Verknüpfung um ein Kohlenstoffatom verlängert.
15.3 Synthese der Carbonsäuren
591
15.3.2.4 Die Hydrolyse von Nitrilen a) sauer katalysierte Hydrolyse von Nitrilen Nitrile können durch längeres Kochen mit starken Säuren, z.B. konz. Salzsäure oder 50%iger Schwefelsäure, zur Carbonsäure hydrolysiert werden.
CH3(CH2)4
C
N
konz. H2SO4/CH3COOH/H2O 1:1:1 1 h Erhitzen unter Rückfluß
Hexannitril
CH3(CH2)4
COOH
Hexansäure (Capronsäure)
Die Hydrolyse der Nitrile mit Säuren zu Carbonsäuren vollzieht sich über das Säureamid als Zwischenprodukt. Erfolgt die Hydrolyse bei Zimmertemperatur, läßt sich dieses in manchen Fällen sogar isolieren. Zunächst erfolgt durch die Säure die Protonierung des Nitrils, dann die Anlagerung eines Wassermoleküls, das als Nucleophil auftritt. H
H
O R
C
N
H
R
C
N
H
R
C
N
H
H
H O
R
C
N
H
Nitril
Durch die positive Ladung am Sauerstoff des Oxoniumions –+OH2 wird die O–H-Bindung stark polarisiert, was zur Abspaltung eines Protons führt. Es folgt eine Protonierung des Iminols am Stickstoff, worauf unter Abspaltung eines Protons aus der OH-Gruppe schließlich das Säureamid gebildet wird. H O H
H -H
O R
C
H
N
H
R
C
H N
H
O R
C
N
H
H
R
H
C
C
H N H
O R
O
-H
H N H
Oxonium-Verbindung
Iminol
Säureamid
Bei Erhitzen des Reaktionsgemisches bleibt die Hydrolyse beim Säureamid nicht stehen, sondern geht weiter bis zur Carbonsäure. Nach der Protonierung des Carbonylsauerstoffes
592
15 Carbonsäuren
erfolgt eine nucleophile Addition von Wasser an das Carboxoniumion, worauf ein Proton aus der –+OH2-Gruppe abgespalten wird. H O R O R
C
H N
C
H N
H H
H
H O
H R
C
O H
C
H
O
H -H R
N
C
H
O
H Carboxoniumion
Säureamid
R
H N
H
H
O
H N H
O H
H
Das freie Elektronenpaar am Stickstoff des Dihydroxyamins bindet ein Proton, so daß der Stickstoff eine positive Ladung erhält. Diese verstärkt die Polarität der C–N-Bindung, was zu einer Abspaltung von NH3 führt. Im letzten Reaktionsschritt erfolgt eine Deprotonierung unter Bildung der Carbonsäure. H
H
O R
C
H N
O H
H
O
R
C
H N
- NH3
O R
H
O
H Dihydroxyamin
H
H
C O
-H
O R
C
H
O
H
H
Carbonsäure
b) basisch katalysierte Hydrolyse von Nitrilen Die basische Hydrolyse von Nitrilen erfordert konzentrierte starke Basen und – ebenso wie die saure Hydrolyse der Nitrile – ein längerzeitiges Erhitzen des Reaktionsgemisches, z.B.:
CH2
Benzylcyanid
C
25 %ige Natronlauge N 6 h Erhitzen unter Rückfluß
O CH2
C O
Na
Natriumsalz der Phenylessigsäure
Die basische Hydrolyse (auch als Verseifung bezeichnet) erfolgt über das Säureamid als Zwischenprodukt. Zuerst erfolgt ein nucleophiler Angriff des Hydroxidions an das C-Atom der Nitrilgruppe. Der Stickstoff mit der negativen Ladung nimmt vom Wasser ein Proton auf, und die Hydroxygruppe des Iminols wird durch ein Hydroxidion OH– deprotoniert. Der negativ geladene Stickstoff des Amidat-Ions entreißt einem Wassermolekül ein Proton, wobei das Carbonsäureamid entsteht.
15.3 Synthese der Carbonsäuren
593 N R
N R
C
R
N
O
H
C O
H
O
H
N R
C O
H
C
H
O
H
N
H
R
O
H
+ H2O
C O
H
Iminol N R
N
H R
C
H
H
C
O
H
H
N R
H
C
O
O
+
O
H
O
Amidat-Ion
Säureamid
Die Verseifung des Nitrils bleibt auf der Stufe des Säureamids nicht stehen, sie geht bei den drastischen Reaktionsbedingungen (starke Base, mehrstündiges Erhitzen) weiter bis zum Salz der Carbonsäure. Als erstes erfolgt der nucleophile Angriff eines Hydroxidions am CAtom der Carbonylgruppe. Das Amidion NH2– wird abgespalten, und es entsteht die Carbonsäure, die natürlich mit der Base sogleich das entsprechende Salz bildet. Das abgespaltene Amidion NH2– entreißt einem Wassermolekül ein Proton, wobei Ammoniak gebildet wird. O
O R
C N H
O
R
H
C
H
H O
H
N
R
O
O
+ H2O
C
H
O
H
H
N H
O
H R
H H
O
C
H
O
H
-N
H
+ H
O
N
H
H
Durch Ansäuern des Reaktionsgemisches mit einer Mineralsäure kann die Carbonsäure aus ihrem Salz freigesetzt werden. O
O R
+ H3O
C O
Na
Cl
R
+
C O
H2O
+
Na
Cl
H
Ausgehend von Alkoholen kann man, über die Zwischenprodukte Alkylhalogenid und Nitril, Carbonsäuren synthetisieren. Ein wesentlicher Gesichtspunkt für diese Synthese ist der Umstand, daß Alkohole relativ gut zugänglich sind. Bei dieser Synthese erfolgt zunächst
594
15 Carbonsäuren
die Umsetzung des Alkohols zum Alkylhalogenid (siehe Abschnitt 10.7.4), worauf die nucleophile Substitution des Halogens im Alkylhalogenid durch das Cyanidion (siehe Tabelle 9.1, Abschnitt 9.5) erfolgt. Schließlich wird das Alkylnitril zur entsprechenden Carbonsäure hydrolysiert. Die Kohlenstoffkette der Carbonsäure ist um ein C-Atom länger als die des Alkohols, von dem man bei dieser Reaktionsfolge ausgegangen ist. R
OH
PCl5
R
- POCl3, - HCl
C
Cl
N
R
- Cl
C
H
N
, Erhitzen H2O
R
COOH
15.3.2.5 Die Malonestersynthese Der Malonsäurediester (Dialkylpropandioat) reagiert mit Natriumethanolat zum Natriumsalz des Malonsäurediesters, das mit einem Halogenalkan zum 2-Alkylmalonsäurediester umgesetzt wird. Nach Hydrolyse des Diesters erfolgt eine Decarboxylierung, und man erhält eine Carbonsäure. COOR' H
C
H
COOR'
COOR' NaOR'' - HOR''
Na
C
COOR'
H
R X - NaX
H /H2O - 2 HOR' COOR' - CO2
R
C
COOR'
H
R
CH2
COOH
Im Malonsäurediester befindet sich die Methylengruppe –CH2– in Nachbarschaft zu zwei Carbonylgruppen. Beide Carbonylgruppen üben einen –I-Effekt aus. Dies führt zu einer Polarisierung der C–H-Bindung der Methylengruppe, so daß durch eine starke Base eine Deprotonierung erfolgen kann. Das Deprotonierungsprodukt, das Malonsäurediester-Anion, ist mesomeriestabilisiert. Der Malonsäurediester bildet z.B. mit Natriumethanolat unter Freiwerden von Ethanol das Natriumsalz des Malonsäurediesters. O
R O
C
R
O
H C
O
O
R
C
H
Na
C2H5
O
C
O
O R
Malonsäuredieester
C H
C
O R
O
O
R
C
C
- C2H5OH
O
O
R
O
C
O
C
H
C
C R
O
H Na
O
Natriumsalz des Malonsäurediesters
Das Carbanion, das nach Abspaltung des Protons aus dem Malonsäurediester entstanden ist, ist ein starkes Nucleophil. Es kann in einem Alkylhalogenid das Halogen ersetzen. O R
O
O H
C C
R
O
C
H C
H
X
R'
O Carbanion des Malonsäurediesters
-X
R
O
C
R
O
C
CH2
R'
C H
O 2-Alkylmalonsäurediester
X = Cl, Br oder I
15.4 Reaktionen der Carbonsäuren
595
Bei der Hydrolyse des 2-Alkylmalonsäurediesters entsteht die 2-Alkylmalonsäure, aus der unter Abspaltung von Kohlenstoffdioxid eine Carbonsäure entsteht. R'
CH2
COOR C
H
COOR
Salzsäure
R'
CH2
COOH C
- 2 ROH
H
Δ
R'
CH2
COOH
+ CO2
C
COOH
H
H
Die Alkylierung des Malonsäurediesters kann stufenweise über den 2-Alkylmalonsäurediester zum 2,2-Dialkylmalonsäurediester erfolgen. Bei der Hydrolyse des 2,2-Dialkylmalonsäurediesters wird CO2 abgespalten, und es entsteht eine verzweigte Carbonsäure. R'
COOR C
H
COOR
O
C2H5
- C2H5OH
2-Alkylmalonsäurediester
R'
COOR C COOR
R'' -X
Carbanion des 2-Alkylmalonsäurediesters
X
R'
COOR C
R''
COOR
H
/H2O
- 2 ROH
2,2-Dialkylmalonsäurediester
R'
COOH C
R''
H
+ CO2
verzweigte Carbonsäure
Der Malonsäurediester reagiert auch mit Aldehyden und Ketonen (siehe die Knoevenagel-Kondensation Abschnitt 13.4.1.4). Diese Reaktion dient zur Synthese von α,β-ungesättigten Carbonsäuren. 15.3.2.6 Darstellung aromatischer Carbonsäuren durch Oxidation der Seitenkette Der aromatische Ring ist gegenüber Oxidationsmitteln sehr beständig. Es wird deshalb bevorzugt die Seitenkette in aromatischen Verbindungen oxidiert. Benzoesäure kann z.B. aus Toluol durch Oxidation mit sodaalkalischer Kaliumpermanganatlösung oder mit schwefelsaurer Natriumdichromatlösung nach längerem Erhitzen des Reaktionsgemisches unter Rückfluß erhalten werden. Dialkylierte Aromaten kann man bei kräftiger Oxidation in aromatische Dicarbonsäuren überführen. CH3
COOH H2O/KMnO4 + Na2CO3, 3 h Erhitzen
15.4 Reaktionen der Carbonsäuren Die Reaktionen der Carbonsäuren sind mit der Reaktivität und den Eigenschaften der Carboxygruppe –COOH zu erklären. In dieser funktionellen Gruppe ist an das C-Atom der Carbonylgruppe eine Hydroxygruppe gebunden. Carbonsäuren können dissoziieren und haben somit saure Eigenschaften:
596
R
15 Carbonsäuren
COOH
R
+ H
COO
Der doppelt gebundene Sauerstoff der Carboxygruppe zeigt basische Eigenschaften, er kann ein Proton binden: O R
+ H
O
C
R O
H
O
C
H
R O
H
C
H
R O
O
H
O
H
C
H
Der Carbonylkohlenstoff der Carboxygruppe hat eine positive Teilladung und bietet damit eine Angriffsstelle für ein Nucleophil. Die OH-Gruppe, die Bestandteil der Carboxygruppe ist, kann (nach Protonierung) durch das Nucleophil ersetzt werden. Dies erfolgt in einer Additions-Eliminierungsreaktion, wobei zuerst das Nucleophil an die C=O-Doppelbindung addiert wird. Nach Protonierung der OH-Gruppe erfolgt im weiteren Reaktionsschritt die Eliminierung, z.B.: O
H H
N H
nucleophile Addition
C O
H R
H
H N H
O
H
O
C
N
C
R H
O H
Eliminierung R
H
+
C H2N
O H
O
R
O H
H
Da hier formal eine Substitution unter Bildung eines tetraedrischen Zwischenprodukts erfolgt, spricht man von einer SN2t-Reaktion. Die Carboxygruppe ist eine elektronegative Gruppe und übt einen –I-Effekt aus, so daß die C–H-Bindungen der in direkter Nachbarschaft zur Carboxygruppe befindlichen CH-, CH2- oder CH3-Gruppe polarisiert werden. Dies kann, begünstigt durch die Bildung eines mesomeriestabilisierten Produkts, zur Abspaltung von H+ aus diesen α-ständigen Gruppen führen. In diesem Falle reagiert die Carbonsäure als C-Säure. Der an das α-ständige C-Atom der Carbonsäure gebundene Wasserstoff kann durch ein Halogen ersetzt werden. Carbonsäuren können außerdem noch CO2 abspalten (decarboxylieren), und sie können reduziert werden. Gegenüber Oxidationsmitteln sind Carbonsäuren weitgehend beständig. Schematischer Überblick:
basische Eigenschaften ( H wird gebunden)
δH O δ+ α R C C
H
Abspaltung eines Protons ( Reaktionen am α-ständigen C-Atom)
O
H
saure Eigenschaften (Abspaltung von H
)
elektrophil, daher Angriffsstelle für ein nucleophiles Reagens
15.4 Reaktionen der Carbonsäuren
597
15.4.1 Die sauren Eigenschaften der Carbonsäuren Carbonsäuren sind stärker sauer als Alkohole und Phenole, obwohl das Proton in allen diesen Fällen aus einer Hydroxygruppe abgespalten wird. Eine der Ursachen für die größere Säurestärke der Carbonsäuren ist die positive Teilladung am Kohlenstoff der Carbonylgruppe, die zur Polarisierung der O–H-Bindung beiträgt und die Abspaltung des Protons erleichtert. Die entscheidende Ursache für den sauren Charakter der Carbonsäuren aber ist die Bildung resonanzstabilisierter Anionen bei der Deprotonierung.
O R
R O
O
O
C
R
C
H
O
O
C
R O
H
Carbonsäure
+ H
C O
Carbonsäureanion
Der Umstand, daß das Resonanzhybrid des Carboxylat-Anions durch zwei strukturell völlig gleichartige mesomere Grenzformeln beschrieben werden kann, weist darauf hin, daß im Carboxylat-Anion eine relativ hohe Resonanzenergie vorliegt. Die negative Ladung ist im Resonanzhybrid auf drei Atome verteilt, wodurch die Basizität des Carboxylat-Anions herabgesetzt wird. Die Protonierung, die die Voraussetzung für die Rückreaktion der Dissoziation ist, wird dadurch erschwert. O R
C
O Resonanzhybrid des Carboxylat-Ions
Elektronenziehende Gruppen am α-ständigen C-Atom erhöhen die Acidität. Zum Beispiel nimmt die Säurestärke mit der Anzahl der Chloratome am α-ständigen C-Atom der Carbonsäure zu. Säurestärke H H
C
H
O
< H
C
H
Essigsäure
O
H
C Cl
H
O