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German Pages 1422 [1477] Year 2009
Rhetorik und Stilistik Rhetoric and Stylistics HSK 31.2
≥
Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschat Handbooks o Linguistics and Communication Science Manuels de linguistique et des sciences de communication Mitbegründet von Gerold Ungeheuer () Mitherausgegeben 19852001 von Hugo Steger
Herausgegeben von / Edited by / Edite´s par Herbert Ernst Wiegand Band 31.2
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Rhetorik und Stilistik Rhetoric and Stylistics Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung An International Handbook o Historical and Systematic Research Herausgegeben von / edited by Ulla Fix, Andreas Gardt, Joachim Knape 2. Halbband / Volume 2
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. 앪 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Rhetorik und Stilistik: ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung ⫽ Rhetoric and stylistics: an international handbook of historical and systematic research / edited by Ulla Fix, Andreas Gardt, Joachim Knape. ⬍2⬎ v. ; cm. ⫺ (Handbooks of linguistics and communication science ; v. 31) Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-013710-1 (hardcover : v. 1 : acid-free paper) ISBN 978-3-11-017857-9 (hardcover : v. 2 : acid-free paper) 1. Rhetoric. 2. Language and languages ⫺ Style. I. Fix, Ulla. II. Gardt, Andreas, 1954⫺ III. Knape, Joachim. IV. Title: Rhetoric and stylistics. V. Series: Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ; Bd. 31 P301.R4728 2008 808⫺dc22 200845662
ISBN 978-3-11-017857-9 ISSN 1861-5090 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ” Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin, Germany. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: META-Systems GmbH, Wustermark Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen
Inhaltsverzeichnis / Contents
Band 2/ Volume 2 VI.
Dimensionen der Kategorie Stil Dimensions o the Category o Style
67. 68.
Angelika Linke, Stil und Kultur / Style and culture . . . . . . . . . . . . Christian Meyer, Rhetoric and culture in Non-European societies / Rhetorik und Kultur in außereuropäischen Gesellschaften . . . . . . . . . . Hans Jürgen Heringer, Stil und Moral / Style and ethics . . . . . . . . . Winfried Nöth, Stil als Zeichen / Style as sign . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Gardt, Stil und Bedeutung / Style and meaning . . . . . . . . . Wilhelm Köller, Stil und Grammatik / Style and grammar . . . . . . . . Ulrich Breuer, Stil und Individuum (Individualstil) / Style and the individual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Dittmar, Stil und Sozialität (Gruppe, Geschlecht, Alter) / Style and sociality (group, sex, age) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang G. Müller, Epochenstil/Zeitstil / epoch style/period style . . . Burghard Weiss, Stile wissenschaftlichen Denkens / Styles of scientific thinking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69. 70. 71. 72. 73. 74. 75. 76.
1131 1144 1158 1178 1196 1210 1230 1245 1271 1285
VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik Central Categories and Issues o Rhetoric and Stylistics 77. 78. 79.
80. 81. 82.
Ulla Fix, Muster und Abweichung in Rhetorik und Stilistik / Pattern and deviation in rhetoric and stylistics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Hoffmann, Situation als Kategorie von Rhetorik und Stilistik / Situation as a category of rhetoric and stylistics . . . . . . . . . . . . . . Barbara Sandig, Handlung (Intention, Botschaft, Rezeption) als Kategorie der Stilistik / Action (intention, message, reception) as a stylistic category . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulf Abraham, Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthaftigkeit / Style as an an integral category (gestalt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hanspeter Ortner, Fehlformen rhetorisch-stilistischen Handelns / Misuse of rhetorical/stylistic categories . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingo H. Warnke, Stilwandel und Sprachwandel / Style change and language change . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1300 1316
1335 1348 1367 1381
vi
Inhaltsverzeichnis / Contents
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik Text Composition within the Framework o Classical Rhetoric 83.
84.
85.
86. 87. 88. 89. 90. 91.
Manfred Kraus, Exercises for text composition (exercitationes, progymnasmata) / Übungen zur Textgestaltung (exercitationes, progymnasmata) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicola Kaminski, Regulative und Normen der Textgestaltung (imitatio vs. aemulatio) / Regulations and norms of text composition (imitatio vs. aemulatio) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schirren, Kriterien der Textgestaltung (virtutes elocutionis: latinitas, perspicuitas, ornatus, aptum) / Criteria of text composition (virtutes elocutionis: latinitas, perspicuitas, ornatus, aptum) . . . . . . . . . . Thomas Schirren, Niveau der Textgestaltung (Dreistillehre/genera dicendi) / Composition standards (system of three styles/genera dicendi) Thomas Schirren, Topik im Rahmen der klassischen Rhetorik / Topics in classical rhetoric . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schirren, Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik / Figures in classical rhetoric . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schirren, Tropen im Rahmen der klassischen Rhetorik / Tropes in classical rhetoric . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gregor Staab, Satzlehre im Rahmen der klassischen Rhetorik / Sentence composition in classical rhetoric . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schirren, Textaufbau und Redeteilschemata (partes orationis) / Text structure and the parts of the speech (partes orationis) . . . . . . .
IX.
Textgestaltung im Rahmen der Stilistik Text Composition within the Framework o Stylistics
92.
Michael Hoffmann, Mikro- und makrostilistische Einheiten im Überblick / Micro- and macrostylistic elements: An overview . . . . . . . . . Bernd Spillner, Stilistische Phänomene der Schreibung und Lautung / Stylistic aspects of spelling and articulation . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Handler, Stilistische Phänomene der Wortbildung / Stylistic aspects of word formation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Dieter Ludwig, Stilistische Phänomene der Lexik / Stylistic aspects of the lexicon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Werner Eroms, Stilistische Phänomene der Syntax / Stylistic aspects of syntax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Heinemann, Stilistische Phänomene auf der Ebene des Textes / Stylistic aspects of the text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Wengeler, Stilistische und rhetorische Phänomene auf der Ebene des Diskurses / Stylistic and rhetorical aspects of written discourse . . . Inken Keim, Gesprächstyp und Stil / Conversation type and style . . .
93. 94. 95. 96. 97. 98. 99.
1396
1406
1417 1425 1444 1459 1485 1498 1515
1529 1545 1563 1575 1594 1610 1630 1648
Inhaltsverzeichnis / Contents 100.
Norbert Dittmar, Varietäten und Stil / Varieties and style . . . . . . . .
101.
Norbert Richard Wolf, Historische Textsorten und Stil / Historical varieties and style . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ines-Andrea Busch-Lauer, Fach- und gruppensprachliche Varietäten und Stil / Subject- and group-specific varieties and style . . . . . . . . .
102. 103. 104.
vii 1669 1691 1706
Ines-Andrea Busch-Lauer, Funktionale Varietäten und Stil / Functional varieties and style . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1722
Bernd Spillner, Verfahren stilistischer Textanalyse / Methods of stylistic text analysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1739
X.
Die Rolle von Rhetorik und Stilistik in anderen Wissenschaten in der Gegenwart The Current Role o Rhetoric and Stylistics in other Disciplines
105.
John H. Smith, Rhetoric and stylistics in philosophy / Rhetorik und Stilistik in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1783
106.
Albrecht Grözinger, Rhetorik und Stilistik in der Theologie / Rhetoric and stylistics in theology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1798
Katharina Gräfin von Schlieffen, Rhetorik und Stilistik in der Rechtswissenschaft / Rhetoric and stylistics in jurisprudence . . . . . . . . . . .
1811
Hubert Knoblauch, Rhetorik und Stilistik in der Soziologie / Rhetoric and stylistics in sociology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1833
Wolfgang Bergsdorf, Rhetorik und Stilistik in der Politologie / Rhetoric and stylistics in political science . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1842
110.
Norbert Groeben, Stilistik und Rhetorik in der Psychologie / Rhetoric and stylistics in psychology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1856
111.
Christian Meyer, Rhetoric and stylistics in social/cultural anthropology / Rhetorik und Stilistik in der Ethnologie . . . . . . . . . . . . . . .
1871
Julia Schmid, Rhetorik und Stilistik in der Literaturwissenschaft / Rhetoric and stylistics in literary studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1885
113.
Christina Gansel, Rhetorik und Stilistik in Text- und Gesprächslinguistik / Rhetoric and stylistics in linguistics of text and conversation . . .
1907
114.
Martin Papenbrock, Der Stilbegriff in der Kunstwissenschaft / The concept of style in fine art studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1921
115.
Hartmut Krones, Rhetorik und Stilistik in der Musikwissenschaft / Rhetoric and stylistics in musicology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1932
116.
Jürg Niederhauser, Rhetorik und Stilistik in den Naturwissenschaften / Rhetoric and stylistics in the natural sciences . . . . . . . . . . . . . . . .
1949
Hans J. Vermeer, Rhetorik und Stilistik in der Translationswissenschaft / Rhetoric and stylistics in translation studies . . . . . . . . . . . .
1965
107. 108. 109.
112.
117.
viii
Inhaltsverzeichnis / Contents
XI.
Rhetorik und Stilistik in internationaler Perspektive International Perspectives o Rhetoric and Stylistics
118.
Harald Haarmann, Die stilistische Charakterisierung von Einzelsprachen: Möglichkeiten und Probleme / The stylistic characterization of individual languages: Approaches and problems . . . . . . . . . . . . . . Helga Kotthoff, Rhetorik und Stilistik in interkultureller Kommunikation / Rhetoric and stylistics in intercultural communication . . . . . . . Eli Hinkel, Contrastive rhetoric / Kontrastive Rhetorik . . . . . . . . . Barbara Mittler/Asa-Bettina Wuthenow, Rhetoric and stylistics in East Asia / Rhetorik und Stilistik in Ostasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Renate Würsch, Rhetorik und Stilistik im arabischen Raum / Rhetoric and stylistics in the Arab region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Otto Dill, Rhetorik und Stilistik in Lateinamerika / Rhetoric and stylistics in Latin America . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119. 120. 121. 122. 123.
1979 1998 2014 2027 2040 2053
XII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung I: zeitgenössische Lebens- und Diskursbereiche im Spiegel ihrer Äußerungen und Texte Applied Rhetoric and Stylistics I: Social Spheres and Discourse Areas as Relected in Spoken and Written Language 124.
125. 126. 127. 128.
129.
130.
131.
Roman Luckscheiter, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Erzählliteratur der Gegenwart / Rhetorical/stylistic characteristics of contemporary narrative literature . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dieter Burdorf, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Lyrik der Gegenwart / Rhetorical/stylistic characteristics of contemporary poetry . . Jörg Wesche, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften des Dramas der Gegenwart / Rhetorical/stylistic characteristics of contemporary drama . . Josef Klein, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache der Politik / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of politics . . . . Markus Nussbaumer, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Rechtswesens / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christiane Hohenstein/Jochen Rehbein, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache der Verwaltung / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of administration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nina Janich, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Werbung und Public Relations / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of advertising and public relations . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schröder, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Journalismus in den Printmedien / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of journalism in the print media . . . . . . . . . . . . . . .
2068 2082 2100 2112
2132
2151
2167
2182
Inhaltsverzeichnis / Contents 132.
133.
134. 135.
136.
137.
138.
Werner Holly, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Hörfunk und Fernsehen / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of broadcasting and television . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Storrer, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Internets / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of the internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hanspeter Ortner, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Bildungssprache / Rhetorical/stylistic characteristics of ‘good German’ . . . . . . Klaus-Dieter Baumann, Sprache in Naturwissenschaften und Technik / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of the natural sciences and technology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingwer Paul, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Religion und Kirche / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of religion and the church . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Georg-Maria Meyer, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Militärs / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of the military . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Simmler, Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache des Sports / Rhetorical/stylistic characteristics of the language of sports . . . .
ix
2197
2211 2227
2241
2257
2274 2289
XIII. Rhetorik und Stilistik in der Anwendung II: didaktische Aspekte Applied Rhetoric and Stylistics II: Didactic Aspects 139. 140. 141. 142. 143.
144. 145. 146.
Albert Bremerich-Vos, Rhetorische Ratgeber für Beruf und Alltag / Rhetorical manuals for professional and everyday settings . . . . . . . . . . . Albrecht Greule/Katja Kessel, Praxisbezogene Stillehren / Hands-on handbooks of style . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Neuland, Rhetorik und Stilistik in der Sprachdidaktik / Rhetoric and stylistics in language didactics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Bothe, Kreatives Schreiben / Creative writing . . . . . . . . . . . . Eva-Maria Jakobs, Die Schlüsselqualifikationen Reden und Schreiben in der universitären Ausbildung / Speaking and writing as key qualifications in university education . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Fiehler, Kommunikationstraining / Communication training . . Stefanie Mitschele/Rainer Baber, Das professionelle Verfassen von Reden / Professional speech writing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Gutenberg, Speech communication studies and speech communication training / Sprechwissenschaft und Sprecherziehung . . . . . .
Indices .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2320 2334 2350 2364
2377 2387 2403 2418 2433
x
Inhaltsverzeichnis / Contents
Band 1/ Volume 1 I. 1. 2. 3. 4.
5.
6.
7.
8.
9.
10. 11. 12.
13.
14.
Theoriegeschichte der Rhetorik und Stilistik History o the Theory o Rhetoric and Stylistics Thomas Schirren, Rhetorik und Stilistik der griechischen Antike / Rhetoric and stylistics in ancient Greece . . . . . . . . . . . . . . . . . . Øivind Andersen, Rhetoric and stylistics in ancient Rome / Rhetorik und Stilistik der römischen Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Knape, Rhetorik und Stilistik des Mittelalters / Rhetoric and stylistics in the Middle Ages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Knape, Rhetorik und Stilistik der deutschsprachigen Länder in Humanismus, Renaissance und Reformation im europäischen Kontext / Rhetoric and stylistics of the German-speaking countries in Humanism, the Renaissance, and the Reformation in a European context . . . . . . Sylvia Heudecker/Jörg Wesche, Rhetorik und Stilistik der deutschsprachigen Länder in der Zeit des Barock / Rhetoric and stylistics of the German-speaking countries in the Baroque . . . . . . . . . . . . . . . . . Dietmar Till, Rhetorik und Stilistik der deutschsprachigen Länder in der Zeit der Aufklärung / Rhetoric and stylistics of the German-speaking countries in the Enlightenment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helmut Schanze, Rhetorik und Stilistik der deutschsprachigen Länder von der Romantik bis zum Ende des 19. Jahrhunderts / Rhetoric and stylistics of the German-speaking countries from Romanticism until the end of the 19 th century . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Kopperschmidt, Rhetorik der deutschsprachigen Länder vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart / Rhetoric of the Germanspeaking countries from the beginning of the 20 th century until the present . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Püschel, Stilistik der deutschsprachigen Länder vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart / Stylistics of the German-speaking countries from the beginning of the 20 th century until the present . . . Ekkehard Eggs, Rhetorik und Stilistik der Neuzeit in Frankreich / Rhetoric and stylistics in modern France . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Kapp, Rhetorik und Stilistik der Neuzeit in Italien / Rhetoric and stylistics in modern Italy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vicent Salvador, Rhetoric and stylistics in Spain and Portugal in the 20 th and 21st centuries / Rhetorik und Stilistik in Spanien und Portugal im 20. und 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Craig Hamilton, Rhetoric and stylistics in Anglo-Saxon countries in the 20 th and 21st centuries / Rhetorik und Stilistik in angelsächsischen Ländern im 20. und 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Renate Lachmann, Rhetorik und Stilistik der Neuzeit in den slawischen Ländern / Rhetoric and stylistics in the modern Slavic countries . . . .
1 25 55
73
97
112
131
146
165 179 206
226
245 263
Inhaltsverzeichnis / Contents
II.
Praxisgeschichte der Rhetorik und Stilistik History o the Practice o Rhetoric and Stylistics
15.
Stanley E. Porter, Applied rhetoric and stylistics in ancient Greece / Rhetorische und stilistische Praxis der griechischen Antike . . . . . . . . Manfred Landfester, Rhetorische und stilistische Praxis der römischen Antike / Applied rhetoric and stylistics in ancient Rome . . . . . . . . . Frank Bezner, Rhetorische und stilistische Praxis des lateinischen Mittelalters / Applied rhetoric and stylistics in the Latin Middle Ages . . . Gert Hübner, Rhetorische und stilistische Praxis des deutschen Mittelalters / Applied rhetoric and stylistics in the German Middle Ages . . . Jörg Robert, Rhetorische und stilistische Praxis des Lateinischen in den deutschsprachigen Ländern in Humanismus, Renaissance und Reformation / Applied Latin rhetoric and stylistics of the German-speaking countries in Humanism, the Renaissance, and the Reformation . . . . . Joachim Knape/Stefanie Luppold, Rhetorische und stilistische Praxis des Deutschen in den deutschsprachigen Ländern in Humanismus, Renaissance und Reformation / Applied German rhetoric and stylistics in Humanism, Renaissance, and the Reformation . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Ohlendorf, Rhetorische und stilistische Praxis der deutschsprachigen Länder in der Zeit des Barock / Applied rhetoric and stylistics of the German-speaking countries in the Baroque . . . . . . . . . . . . . Urs Meyer, Rhetorische und stilistische Praxis der deutschsprachigen Länder in der Zeit der Aufklärung / Applied rhetoric and stylistics of the German-speaking countries in the Enlightenment . . . . . . . . . . . Peter Ernst, Rhetorische und stilistische Praxis der deutschsprachigen Länder von der Romantik bis zum Ende des 19. Jahrhunderts / Applied rhetoric and stylistics of the German-speaking countries from Romanticism until the end of the 19 th century . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dagny Guhr/Joachim Knape, Rhetorische Praxis in Deutschland vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart / Applied rhetoric of the German-speaking countries from the beginning of the 20 th century until the present . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marie-He´le`ne Pe´rennec, Rhetorische und stilistische Praxis der Neuzeit in Frankreich / Applied rhetoric and stylistics in modern France . . . . Ludwig Fesenmeier, Rhetorische und stilistische Praxis der Neuzeit in Italien / Applied rhetoric and stylistics in modern Italy . . . . . . . . . . Vicent Salvador, Applied rhetoric and stylistics in Spain and Portugal in the 20 th and 21st centuries / Rhetorische und stilistische Praxis in Spanien und Portugal im 20. und 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . Craig Hamilton, Applied rhetoric and stylistics in Anglo-Saxon countries in the 20 th and 21st centuries / Rhetorische und stilistische Praxis in angelsächsischen Ländern im 20. und 21. Jahrhundert . . . . . . . . . Konstantin A. Bogdanov, Rhetorische und stilistische Praxis der Neuzeit in Russland / Applied rhetoric and stylistics in modern Russia . . .
16. 17. 18. 19.
20.
21.
22.
23.
24.
25. 26. 27.
28.
29.
xi
284 307 326 348
370
385
413
429
444
463 488 507
532
550 569
xii
Inhaltsverzeichnis / Contents
III.
Systematische Bereiche der klassischen Rhetoriktheorie The System o Classical Rhetorical Theory
30. 31.
Fabian Klotz, Der Orator / The orator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schirren, Redeabsicht und Wirkungsmodi (docere, delectare, movere) / Speech intention and modes of effect (docere, delectare, movere) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schirren, Funktionalgattungen der Rede (genera causarum) / Functional types of speech (genera causarum) . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schirren, Redesachverhaltsfeststellung (Statuslehre) / The identification of the case (status) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schirren, Rhetorik des Textes: Produktionsstadien der Rede / Rhetoric of the text: The stages of speech production . . . . . . . . . . . Michael Hoppmann, Rhetorik des Verstandes (Beweis- und Argumentationslehre) / Rhetoric of reason: The system of proof and argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dietmar Till, Rhetorik des Affekts (pathos) / Rhetoric of affect (pathos) Thomas Schirren, Rhetorik des Körpers (actio I) / Rhetoric of the body (actio I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhart Meyer-Kalkus, Rhetorik der Stimme (actio II: pronuntiatio) / Rhetoric of the voice (actio II: pronuntiatio) . . . . . . . . . . . . . . . .
32. 33. 34. 35.
36. 37. 38.
IV.
Theoriebereiche und Forschungselder moderner Rhetorik Theoretical Fields and Areas o Research in Modern Rhetoric
39.
James Price Dillard/Lori B. Miraldi, Persuasion: Research areas and approaches / Persuasion: Forschungsfelder und -ansätze . . . . . . . . . Manfred Kienpointner, Argumentationstheorie / Theory of argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richard Graff, Topics/Topoi / Topik/Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Ge´vaudan, Tropen und Figuren / Tropes and figures . . . . . . . . Wolf-Andreas Liebert, Metaphernforschung / Metaphor research . . . . Reinhard Fiehler, Emotionale Kommunikation / Emotional communication . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursula Hirschfeld/Baldur Neuber/Eberhard Stock, Sprach- und Sprechwirkungsforschung / Language- and speech-effect research . . . . . . . . Judee K. Burgoon/Sean Humpherys/Kevin Moffitt, Nonverbal communication: Research areas and approaches / Nonverbale Kommunikation: Forschungsfelder und -ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . John S. Seiter/Robert H. Gass, Compliance-gaining research: A canonical review / Streben nach Zustimmung: Forschungsfelder und -ansätze
40. 41. 42. 43. 44. 45. 46.
47.
587
598 602 610 620
630 646 669 679
689 702 717 728 743 757 772
787 812
Inhaltsverzeichnis / Contents 48.
49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57.
58.
Michael Hoppmann, Pragmatische Aspekte der Kommunikation: Höflichkeit und Ritualisierung / Pragmatic aspects of communication: Politeness and ritualization . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Bonfadelli, Medienwirkungsforschung / Media effects research . Sally A. Jackson, Message effects research / Rhetorische Wirkungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter L. Oesterreich, Anthropologische Rhetorik / Anthropological rhetoric . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lily Tonger-Erk, Rhetorik und Gender Studies / Rhetoric and gender studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Knape, Rhetorik der Künste / Rhetoric and the arts . . . . . . James Jasinski, Rhetorical criticism in the USA / Rhetorical Criticism in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreea Deciu Ritivoi/Richard Graff, Rhetoric and modern literary theory / Rhetorik und neuere Literaturtheorie . . . . . . . . . . . . . . . Ronald Walter Greene, Rhetoric in cultural studies / Rhetorik in den Cultural Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katie Böhme, Das Bild der Rhetorik in Enzyklopädien und in modernen rhetorischen Nachschlagewerken / The concept of rhetoric in encyclopaedias and modern rhetorical works of reference . . . . . . . . . . . Philipp Erchinger, Das Bild der Rhetorik in der rhetorikkritischen Tradition / Criticizing rhetoric: Traditions and arguments . . . . . . . . . .
V.
Theoriebereiche und Forschungselder moderner Stilistik Theoretical Fields and Areas o Research in Modern Stylistics
59.
Jirˇi Kraus, Structuralist conceptions of style / Strukturalistische Stilauffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Püschel, Kommunikativ-pragmatische Stilauffassungen / Communicative-pragmatic conceptions of style . . . . . . . . . . . . . . . . . Margret Selting, Interactional stylistics and style as a contextualization cue / Handlungsstilistik und Stil als Kontextualisierungssignal . . . . . Johannes Schwitalla, Gesprächsstile / Conversational styles . . . . . . . Johannes Anderegg, Literaturwissenschaftliche Stilauffassungen / Concepts of style in literary studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursula Christmann, Rhetorisch-stilistische Aspekte moderner Verstehens- und Verständlichkeitsforschung / Rhetorical and stylistic aspects of modern research on text processing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Sandig, Stil als kognitives Phänomen / Style as a cognitive phenomenon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lawrence A. Hosman, Style and persuasion / Stil und Persuasion . . .
60. 61. 62. 63. 64.
65. 66.
xiii
826 837 855 869 880 894 928 944 959
971 991
1010 1023 1038 1054 1076
1092 1106 1119
VI. Dimensionen der Kategorie Stil 67. Stil und Kultur 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Einführung Kultur Stil Stil und Kultur: kulturelle Stile Sprachliche Stile als kulturelle Stile Literatur (in Auswahl)
Abstract The present article is meant to contribute to a broader theoretical discussion of the relation between style and culture. Both style and culture are complex theoretical concepts with a long-standing history of definition (chapter 1: Introduction). The concept of culture is discussed as a comprehensive concept which nevertheless has to be thought of as both plural and flexible (chapter 2: Culture). I propose a praxeological understanding of culture that highlights the corporeal foundation as well as the materiality of cultural practices. From this perspective, culture must be conceived as a category of both content and form. Style, in contrast, is a category of form. According to the concept presented in this article, style is a significant and typical form, an effect not necessarily intended, a phenomenon creating difference and identity, a result of selection and of the experience of contrast (chapter 3: Style). For integrating culture and style into the concept of cultural style, the aspect of form is considered to be constitutive (chapter 4: Cultural Styles): Only where isomorphic elements of form across varying material bases can be recognized as analog and, in turn, as style (Hahn 1986), phenomena that differ with respect to their content can nevertheless be attributed to the same whole and can be seen as coherent. From the article’s perspective, cultural styles include collective linguistic styles, which can be found both on the level of the single language (Humboldt) and on the level of the language usage of groups, larger social formations, or in historical epochs (chapter 5: Linguistic Styles as Cultural Styles). Although one can lately discern an ongoing scholarly sensitization for the suitability of the concept style inspired by the interest in the linguistic construction of society and culture, linguistics still lacks a general theoretical framework and an established set of methodological instruments for the exploration of phenomena of collective style.
1. Einührung Stil und Kultur sind theoretische Großbegriffe. Jeder Versuch, sie im Kontext einer Fragestellung näher zu bestimmen, findet immer schon vor dem Hintergrund unterschiedlichster Definitionstraditionen sowie der zugehörigen kritischen Infragestellungen statt.
1132
VI. Dimensionen der Kategorie Stil Darauf kann im Folgenden nur minimal eingegangen werden (Kroeber/Kluckhohn) haben bereits 1952 und damit vor der neuerlichen Karriere des Kulturkonzeptes in den Wissenschaften über 150 Definitionen von Kultur zusammengestellt und deren weites Spektrum eindrücklich aufgezeigt). Aus der In-Bezug-Setzung von Stil und Kultur im Titel dieses Artikels ergibt sich allerdings bereits ein Vorverständnis der beiden Konzepte, welches den gegenseitigen Bezug als sinnvoll erachtet, auch wenn er nicht näher spezifiziert wird. Es werden deshalb zunächst relevante Aspekte beider Konzepte getrennt skizziert, jedoch bereits mit Blick auf den beabsichtigten Bezug zueinander. Zu diesem Bezug selbst gibt es wenig theoretische Vorarbeit, obwohl z. B. in Studien zur interkulturellen Kommunikation wie auch in den traditionellen kunst- und literaturhistorischen Zusammenhängen die beiden Konzepte praktisch und produktiv als interdependent behandelt werden. Die folgenden Ausführungen sind zumindest in Teilen als Ansatz zu einer allgemeineren theoretischen Klärung zu lesen. Dass zunächst auf Kultur eingegangen wird, signalisiert eine erste Setzung.
2. Kultur Fritz Hermanns (1999) fasst Kultur unter die von ihm sogenannten Totalitätsbegriffe, deren Definitionen meist Listen von subsumierten Phänomenen enthalten und durch Formulierungen wie ist die Menge von … oder ist alles, was … eingeleitet werden. Tatsächlich gilt dies in auffallender Weise für die in der Kulturforschung der letzten 150 Jahre theorieprägenden Definitionen von Kultur. So etwa bei Edward Burnett Tylor (1871, 1): „Culture […] is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society“, bei Franz Boas (1963 [1911], 149): „Culture may be defined as the totality of the mental and physical reactions and activities that characterizes the behavior of the individuals composing a social group“ oder bei Ward Goodenough (1964 [1957], 36): „A society’s culture consists of whatever it is one has to know or believe in order to operate in a manner acceptable to its members“. Die zitierten Definitionen, die alle aus primär ethnologischen Kontexten stammen, präsentieren Kultur nicht als ein auf das Individuum, sondern auf soziale Gruppierungen bezogenes Konzept. Kultur wird definiert als Produkt und formatives Moment von Gesellschaft und als Medium der Integration des Einzelnen in ein Kollektiv. Im Gegensatz zu einem Alltagsverständnis von Kultur, das häufig normativ geprägt ist, sich in erster Linie auf die schönen Künste bezieht und oft stark objektorientierten Charakter hat, ist das Kulturverständnis gegenwärtiger cultural studies bzw. der Kulturwissenschaften, für das u. a. die oben zitierten Definitionen prägend waren, explizit nicht-normativ, nicht-objektorientiert sowie auf die gesamte Lebenswelt des Menschen bezogen. Als kulturgeprägt und kulturkonstitutiv erscheinen nicht nur künstlerische und sonstige Artefakte, sondern ebenso Verhaltensformen und Handlungen, Wissen, Einstellungen, Emotionen, Werte etc. Clifford Geertz schließlich abstrahiert in seiner berühmten Definition über all die genannten vielfältigen Phänomene und Ausprägungen von Kultur, indem er sie unter den Begriff des „Bedeutungsgewebes“ zusammenfasst: „Believing, with Max Weber, that man is an animal suspended in webs of significance he himself has spun, I take culture to be those webs […]“ (Geertz 1973, 5). Kultur zeigt sich dieser Definition zufolge in
67. Stil und Kultur allen symbolischen, d. h. zeichenhaften Handlungen des Menschen sowie in den daraus resultierenden Produkten. Im Plural von webs kommt zudem ein plurales Verständnis von Kultur zum Ausdruck: Kulturen können unterschiedliche webs of significance umfassen und integrieren und auch das Individuum kann diesem Verständnis zufolge in mehrere Bedeutungsnetze, in mehrere verschiedene (Sub-)Kulturen gleichzeitig ,versponnen‘ sein. Kultur ist bei Geertz nicht monolithisch gedacht, sondern als plurales, bewegliches Konstrukt. Das semiotische Kulturverständnis von Clifford Geertz garantierte im Übrigen dessen Anschlussfähigkeit an das wissenschaftstheoretische und methodische Selbstverständnis der Geistes- und Kulturwissenschaften, zumal Geertz den expliziten methodischen Schluss zog, dass die Kulturanalyse kein experimentelles und nach Gesetzen suchendes Wissensfeld sei, sondern ein „interpretive one in search of meaning“ (Geertz 1973, 5). Damit, und noch deutlicher in der von Geertz selbst vorgenommenen metaphorisierenden Bestimmung von Kultur als „ensemble of texts“ (Geertz 1973, 452), wird Kultur als lesbar erklärt. Neben und zum Teil auch gegen eine solche „textualistische“ Theorie von Kultur (Reckwitz 2004, 42) stellt sich in allerjüngster Zeit eine soziologisch (v. a. durch Bourdieu) inspirierte, handlungs- bzw. praxisorientierte Neubestimmung des Kulturellen. Unter Bezug auf das in der Ethnomethodologie Harold Garfinkels entwickelte und u. a. von Judith Butler popularisierte Konzept des doing culture wird Kultur in der Repetitivität und Routiniertheit gesellschaftlichen Handelns verortet, d. h. in Habitualisierungen, die sich „durch häufiges und regelmäßiges Miteinandertun“ (Hörning/Reuter 2004, 12) ausbilden. Die Dialogizität (vgl. auch Markova´ 2003) des hier dem Kulturkonzept zugrunde gelegten Handlungskonzepts, die im Ausdruck Miteinandertun explizit gemacht wird, unterscheidet dieses Signifikant von Handlungskonzepten, wie sie etwa die linguistische Pragmatik ⫺ exemplarisch die Sprechakttheorie ⫺ prägen und die Handeln in erster Linie als zwar auf andere gerichtete, aber konzeptuell monologistische Aktivität singulärer Akteure konzipieren. Darüber hinaus wird in der Konzeption von doing culture die Leiblichkeit bzw. Inkorporiertheit sowie die in Artefakten sedimentierte Materialität von sozialen und kulturellen Praktiken in den Vordergrund gerückt. Beides ⫺ Körperbindung und Materialbezug ⫺ wird als Voraussetzung für die Stabilisierung von Praktiken jenseits von bewusstem Wissen sowie für ihre Wahrnehmbarkeit und ⫺ als Folge davon ⫺ für ihre kollektive Adaptatierbarkeit durch andere jenseits bewusster Lernprozesse gesehen (Reckwitz 2004). Die mit dem Fokus auf Routinisierung und Habitualisierung notwendig verbundene Formorientierung dieser praxeologischen Kulturkonzeption ist für die Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Stil unmittelbar relevant. Ohne Versuch, die präsentierten Kulturkonzepte zu einem geschlossenen Konzept zu homogenisieren, werde ich die bisher in den Vordergrund gerückten unterschiedlichen Aspekte mit Blick auf ihren Bezug zu Stil in Abschnitt 4 wieder aufgreifen. In der Zusammenschau und Auswertung der vorgestellten Konzepte möchte ich aber die folgenden Punkte als im gegebenen Zusammenhang besonders relevant festhalten: ⫺ Kultur wird sowohl in Inhalts- wie in Formkategorien lokalisiert. Letzteres setzt voraus, dass Formen semiotischer Sinn zugeschrieben werden kann, dass Form interpretierbar ist. ⫺ Kultur wird zudem als Ganzheit, als complex whole verstanden, die Analyse von Kultur beinhaltet folglich notwendig die Aufdeckung von Zusammenhängen und Bezügen.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil ⫺ Das Verständnis von Kultur als Ganzheit ist mit einem pluralen Verständnis von Kultur zusammenzudenken: Wir leben in Kulturen. Kulturen können sich überlagern und überschneiden, widersprüchliche wie integrative Komplexe bilden. Die Rede von Subkulturen, die innerhalb wie außerhalb wissenschaftlicher Zusammenhänge üblich geworden ist, gibt diesem Verständnis Ausdruck. ⫺ Kultur dient ⫺ im Sinne der „kulturellen Kommunikation“ Edmund Leachs (Leach 1978) ⫺ der Selbstverständigung von Gesellschaften bzw. gesellschaftlichen Gruppierungen. Sie ist ein Medium kollektiver Identitätsbildung und eben dadurch auch Integrationsmoment des Einzelnen in eine Gruppe. Was nicht heißt, dass Kultur hier und im Folgenden als primär an ethnisch oder sozial definierte Gruppen gebunden verstanden wird (vgl. hierzu jedoch die Beiträge 111, 119 und 120). Kultur ist ein gruppenbildendes bzw. kollektive Identitäten konstituierendes Formativ eigenständiger Wirksamkeit, das mit sozialen, ethnischen, ökonomischen oder politischen Faktoren kovariieren kann, aber nicht muss. Der formative Effekt von Kultur erstreckt sich deshalb auch auf solche ,Identitäten‘, die in erster Linie historisch bestimmt sind, d. h. auf historische Epochen.
3. Stil Die Perspektive auf Kultur gibt für das Verständnis von Stil eine klare Vorgabe: Stil ist in diesem Kontext nicht auf Individuen (Individualstil), sondern auf Kollektive (Kollektivstil, Gruppenstil) bezogen. Die nachfolgend aufgelisteten Aspekte des Konzepts Stil (das zunächst disziplinübergreifend verstanden wird und nicht schon auf Sprache bzw. Kommunikation bezogen ist) sollen das hier angesetzte Verständnis von Stil soweit als möglich klären. Die Reihenfolge (a)⫺(f) bildet allerdings weder eine inhaltlich stringente Abfolge noch eine theoretische Gewichtung ab. Die einzelnen Aspekte sind interdependent, sie bilden ineinandergreifende Facetten eines als Formkategorie verstandenen Stilkonzepts. Es ist dieser Aspekt der Form, über den Kultur und Stil verknüpft sind. (a) Stil als signifikante Form Der Gegensatz zwischen einer aristotelisch-dualistischen Auffassung von Stil (Stil als decorum, als ,Einkleidung‘ von Inhalten und Bedeutungen, die als getrennt von Stil zu betrachten sind) und einer platonisch-ganzheitlichen Auffassung des Zusammenwirkens von Stil und Bedeutung (Stil als Bedeutungskonstituente, als Medium einer Bedeutung, als Mit-Bedeutendes) ist fundierendes Element jeglicher Auseinandersetzung mit dem Stilbegriff. Die im dualistischen Konzept implizierte ,Ablösbarkeit‘ der Form vom Inhalt lässt sich jedoch nicht auf nicht-semantische Ausdrucksmedien übertragen (so etwa nicht auf Musik oder abstrakte Malerei, vgl. Meyer 1979, 8) und würde auch im sprachlichen Kontext eine auf referentielle Funktionen reduzierte Vorstellung von Sprache bedingen. Im Folgenden wird Stil deshalb als Mit-Bedeutendes verstanden, gleichzeitig jedoch als Formkategorie betrachtet, allerdings als solche sekundärer Ordnung: als eine Form von Form ⫺ der Begriff des Musters erfasst dies recht gut ⫺, die sich nicht auf Zweckfunktionalität reduzieren lässt und deshalb auch signifikant ist (vgl. hierzu auch Alois Hahns Formulierung von Stil als „expressivem Überhang“, Hahn 1986, 603).
67. Stil und Kultur (b) Stil als typische Form Stil als signifikante Form ist an das Phänomen der Typik gebunden. Stilelemente sind immer schon types, sind wiederkehrende und wiedererkannte Ausprägungen eines Musters, das seinerseits als Projektion aus der Zusammenschau der konkret vorkommenden Formen konstituiert wird. Erst wenn die Form eines Portals, eines Gedichts, einer Zinnkanne als Ausprägung eines bestimmten Formtypus (wieder)erkannt wird und entsprechend zuordenbar ist ⫺ als barockes Portal, barockes Gedicht, barocke Zinnkanne ⫺, sprechen wir von Stil. (c) Stil als Intention oder Effekt? Vor allem mit Blick auf Individualstile wird Stil häufig als Produktionskategorie, als Ergebnis einer handlungsleitenden Intention verstanden (prototypisch in der Rede vom ,Stilwillen‘ eines Künstlers). Mit Blick auf Kollektivstile erscheint Stil dagegen als nicht intentional begründbarer (invisible-hand-)Effekt, als erst aus der Beobachterperspektive erfolgende retrospektive Zuschreibungskategorie (vgl. auch Linke 2003, Abschnitte 4.2 und 4.3). (d) Stil als Differenz- und Identitätsphänomen Stil erscheint einerseits als das Andere, d. h. als Abweichung und damit als Differenzphänomen, andererseits als Dasselbe, als in verschiedenen Gegenständen und Phänomenen Wiedererkennbares und damit als Identitäts- bzw. Kohärenzphänomen. Unter beiden Perspektiven (nach ,außen‘ wie nach ,innen‘) ist Stil ein Medium der Gruppenbzw. Kollektivkonstitution. (e) Stil als Wahl Das Konzept Stil ist ⫺ aus der Produzentenperspektive, vgl. (c) ⫺ an die Möglichkeit von (Aus)Wahl gebunden. Stil wird deshalb am ehesten dort vermutet, wo nicht Sachzwänge bzw. Zweckfunktionalität bestimmte Formen vorgeben. Hierzu gehört prototypisch das Feld der Künste. (f) Stil als Kontrasterfahrung Aus der Beobachter- bzw. Rezipientenperspektive ist Stil an das Analogon von Wahl auf Beobachterseite, d. h. an die Möglichkeit der „Kontrasterfahrung“ (Hahn 1986, 603) gebunden: Eine Form als Ausprägung eines Stils zu erkennen setzt die Kenntnis (bzw. zumindest die Vorstellung) möglicher anderer Formen voraus. Wo die Möglichkeit zu Kontrasterfahrung fehlt, werden Formen als natürlich bzw. als Normalform und folglich auch nicht als signifikant wahrgenommen. Abschließend sei der Vollständigkeit halber noch vermerkt, dass Stil im gegebenen Kontext, ebenso wie Kultur, nicht-normativ verstanden wird. In alltagssprachlichen Stilkonzepten ist dies (wie auch beim Alltagskonzept Kultur) dagegen oft der Fall, was verbale Prägungen wie guter Stil vs. schlechter Stil oder auch absolute und wertende Formulierungen wie stillos bzw. das hat keinen Stil zeigen.
4. Stil und Kultur: kulturelle Stile Aus den knappen Skizzen zu den Konzepten Kultur und Stil lässt sich nun mindestens zum Teil ableiten, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen bzw. was das eine mit dem anderen zu tun hat:
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Wie gezeigt, wird in vielen Kulturdefinitionen eine Liste von Inhaltskategorien zum complex whole der Kultur zusammengefasst ⫺ so rezent auch in einem Handbuchartikel von Ansgar Nünning, in dem Kultur definiert wird als „der vom Menschen erzeugte Gesamtkomplex von kollektiven Sinnkonstruktionen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen […], der sich in Symbolsystemen materialisiert“ (Nünning 2001, 355). In den Vokabeln „Denkformen“ und „Empfindungsweisen“ deutet sich auch hier ein Formbezug als konstitutives Moment dieser Definition an, ebenso wie in den in Kulturdefinitionen wiederkehrenden Ausdrücken wie Gewohnheiten (habits) oder Gebrauch (custom). Tatsächlich ist der Formbezug und damit der Stilbezug für das Konzept Kultur in doppelter Hinsicht konstitutiv: Einerseits können Formen und Ausdrucksmuster die als kulturkonstitutiv verstandenen Domänen von Gesellschaften ⫺ Wissen, Glaube, Kunst, Recht etc. ⫺ in wahrnehmbarer Weise als sowohl in sich selbst als auch untereinander kohärent markieren. Denn erst, wo isomorphe Formelemente auftreten, die auch über unterschiedliche Materialisierungsgrundlagen hinweg als dieselben erkennbar sind, lassen sich auch inhaltlich unterschiedliche Phänomene einem Gesamt zuordnen. Diese Vorstellung eines Gesamteindrucks, der mit dem Konzept von Kultur verbunden ist, wäre damit an Stil als Formkategorie zu binden. Andererseits signalisiert Stil die Zusammengehörigkeit der durch ihn ausgezeichneten Phänomene (und damit auch ihrer Trägergruppe) nicht nur formell (sozusagen auf ornamentaler Ebene), sondern er impliziert ⫺ als signifikante Form ⫺ auch einen gemeinsamen Bedeutungsaspekt oder Bedeutungshorizont, der die Zusammengehörigkeit qualitativ begründet. Stil (als Kollektivstil) wäre also insofern ein notwendiges Moment von Kultur, als gerade in der nicht als intentional verstehbaren Hervorbringung gemeinsamer Ausdrucksmuster durch eine Gesellschaft der Effekt eines gleichartig-gemeinschaftlichen Welt- und Selbstverstandes zu sehen ist. Kollektivstile sind also immer ⫺ unabhängig von der Beschaffenheit ihres Trägermediums, unabhängig von ihrer jeweiligen medialen (materialen oder praxeologischen) Verankerung ⫺ als kulturelle Stile zu lesen. Ihre Analyse ist eine Form von Kulturanalyse. Wenn Erwin Panofsky in Auseinandersetzung mit dem Problem des Stils in der bildenden Kunst formale Übereinstimmungen bei verschiedenen Künstlern einer Epoche als Ausdruck der „gleichen Verhaltungsweise der Seele“ charakterisiert (Panofsky 1980, 25), so bezieht sich diese Formulierung wohl auf eben diese kulturelle Bedeutsamkeit von Kollektivstil verstanden als signifikante Form. Panofsky macht seine Leser allerdings auch umgehend darauf aufmerksam, dass ein solcher Form-Verweis auf eine gleiche Verhaltensweise der Seele (als Beispiel nennt Panofsky die „malerische“ und „tiefenmäßige“ Optik der Malerei des 17. Jahrhunderts) noch keine Erklärung ist, sondern im Gegenteil der Erklärung bedarf, und dass ein solches Unternehmen wiederum eine „zeitpsychologische Einsicht, und zugleich eine so große innere Unbeteiligtheit“ des Analytikers erfordere, dass keine unmittelbaren und eindeutigen Erkenntnisse zu erwarten seien. Die „unendlich fruchtbare Frage“ danach aber wenigstens zu stellen, sei bereits wissenschaftlich lohnend (Panofsky 1980, 25 f.). In einer ähnlich pessimistisch-optimistischen Mischung äußert sich A. L. Kroeber über das kulturelle Moment von Stil und im Speziellen über die Ausdeutung stilistischen Wandels (Kroeber 1963). Ganz offensichtlich korreliere Stilwandel mit umfassenderem kulturellem Wandel und sei insofern auch ein interessanter Indikator, ohne dass jedoch spezifische Formveränderungen ohne weiteres mit spezifischen kulturellen oder sozialen Veränderungen in Verbindung gebracht werden könnten. So kann Kroeber in einer zeitli-
67. Stil und Kultur chen Längsschnitt-Untersuchung zum Stilwandel in der weiblichen Bekleidung von 1788 bis 1934 zeigen, dass sowohl zwischen 1788 und 1832 als auch wieder zwischen 1907 und 1932 die meisten Veränderungen in Rocklänge, Taillenweite und Dekolletierung beobachtbar sind. Diese bewegten Phasen im weiblichen Modestil korrelieren auffällig mit den Grenzphasen der inzwischen als langes 19. Jahrhundert bezeichneten Epoche und markieren diese als historische Perioden kultureller ,Unruhe‘, die eine lange, kulturell eher ,ruhige‘ Phase einschließen. Stil als Ausdrucks- und Formkategorie wird also in sehr unterschiedlichen Materialisierungen und Erscheinungsformen fassbar: als Linienführung des Pinsels, als „flächenhafte“ oder „tiefenmäßige“ Ausformung eines Gemäldes (Panofsky 1980, 20), aber auch im Kontrast von raschem Formwandel gegenüber Formkonstanz (dieses letzte Beispiel verdeutlicht nochmals das hier angelegte Verständnis von Stil als Form von Form, wie es auch im Begriff des Musters zum Ausdruck kommt). Das Ausdrucksmoment und damit auch die konkrete sinnliche Wahrnehmbarkeit von Stil ⫺ sei dies in den flüchtigen Formen von Handlungen (in Tanzformen, Hygienepraktiken, Intonationsmustern) oder in den statischeren von Objekten (in Gemälden, Raumstrukturen von Gebäuden, in Texten) ⫺ ist schließlich auch Voraussetzung für seine Wirksamkeit in der kulturellen Selbstverständigung von Gesellschaften bzw. Gruppierungen. An dieser Stelle scheint sich nun ein Widerspruch aufzutun, sobald man eine Verlagerung des Kulturellen in die kognitive Sphäre vornimmt, wie sie in besonders dezidierter Form von Ward Goodenough postuliert wird, der Kultur gerade nicht als „material phenomenon“ bestimmt und präzisierend erläutert: „it does not consist of things, peoples, behavior, or emotions. It is rather an organization of these things. It is the form of things that people have in mind, their models for perceiving, reacting and otherwise interpreting them“ (Goodenough (1964) [1957], 36; Hervorhebung A. L.). Zwar findet sich auch hier wieder der Verweis auf Formen, Modelle und Muster, er ist jedoch bezogen auf Wahrnehmungs- und Interpretationshandlungen, d. h. auf geistige Prozesse, die der direkten Beobachtung entzogen sind. Genau hier greift nun die Argumentation praxeologischer Kulturtheorien, indem sie als konstitutives Moment geistiger Formen bzw. mentaler Modelle die Ausdrucksgestalt von Handlungen, Körpern oder Artefakten ortet (Reckwitz 2004). So verstanden fungiert Praxis als Scharnier, als Transportriemen zwischen dem individuellen Subjekt (und seinem Geist) als Träger-Akteur von Kultur einerseits und der kulturellen Gemeinschaft andererseits. Diese Objektivationen mentaler Modelle in den Formen des Stils sind es auch, welche die dem Kulturellen zugesprochene Selbstverständigungsfunktion für die sich durch sie formierende Gesellschaft oder Gruppe erst ermöglichen. Ludwik Flecks auf wissenschaftliche „Denkkollektive“ bezogenes Konzept des „Denkstils“, das er an entsprechenden Merkmalen wissenschaftlicher Texte und wissenschaftlicher Darstellungen festmacht, selbst aber als „intellektuelle Stimmung“, als eine „Bereitschaft für gerichtetes Wahrnehmen“ charakterisiert, die der direkten Beobachtung entzogen ist, lässt sich wohl ebenfalls hierher stellen (Fleck 1980, 187). Stil als signifikante Form von Handlungen wie von Artefakten wäre also das Medium, in dem die kulturspezifischen mentalen Modelle von Wahrnehmung, Erfahrung, Deutung und Wissen ihre materiale Resonanz haben und ihren zeichenhaften Ausdruck finden. Letzteres allerdings nicht in einem semantischen, sondern in einem semiotischen Verständnis. Kulturelle Stile sind zwar deutbar, aber nicht in einem zeichensystematischen Sinn ,lesbar‘, wie sie die Formel von Kultur als Text (Bachmann-Medick 1996) in Analogie zum Umgang mit arbiträren und konventionellen Zeichensystemen wie dem
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil der Sprache fälschlicherweise nahelegt. Nicht zuletzt für die identitätsbildende und selbstvergewissernde Funktion von Kultur ist der indexikalisch auf ein ,Gleiches‘ verweisende Charakter kulturellen Stils bereits ausschlaggebend, auch wenn ein Verständnis dieses ,Gleichen‘ im Einzelfall nur in Annäherungen oder im Modus unklarer Ahnung möglich ist. Die Bindung von Stil als Formkategorie an das Moment der Wiedererkennung und damit an Wiederholung lässt kulturelle Stile zudem als Mittel zur Stabilisierung von Kultur erscheinen, eröffnet aber durch die im Moment der Wiederholung angelegte Wahrscheinlichkeit von Variation ebenso die Möglichkeit zur Veränderung. Wir können also dann von kulturellen Stilen sprechen, wenn sich Handlungen oder Artefakte durch wiederkehrende und ,gleiche‘ Formen auszeichnen, die aufgrund möglicher Kontrasterfahrung als signifikante Ausdrucksmuster, als Formen von Formen erkennbar sind und sich sowohl kohärenz- als auch differenzbildend auf eine gesellschaftliche Gruppe oder eine historische Epoche beziehen lassen. Dass man für das 19. Jahrhundert (und mit Blick auf Deutschland) trotz manifester Unterschiede in den wirtschaftlichen Verhältnissen der Trägergruppen mit einer gewissen Berechtigung von einer bürgerlichen Kultur bzw. von „Bürgerlichkeit als Kultur“ (Bausinger 1987, 121; Hervorhebung im Original) sprechen kann, hat seinen Grund nicht zuletzt darin, dass sich in den Formen der Geselligkeit, im Körperverhalten, in den Tischsitten, in den Formen des Konsums etc. Muster erkennen lassen, die über die unterschiedlichen bürgerlichen Gruppierungen hinweg als kulturelle Stile identitätsstiftend waren (Linke 1996). Wie bereits unter 3(e) vermerkt, führt die Bindung von Stil an Wahl zudem dazu, dass vor allem solche Handlungsbereiche und Artefakte in positivem Sinn unter Stilverdacht stehen, für deren Ausformung wenig Sachzwänge und geringe Zweckfunktionalität anzusetzen sind. Dies gilt prototypisch für den gesamten Bereich der Kunst (der deshalb auch modellbildend für die Vorstellung von kulturellem Stil ist), aber auch für alle anderen Lebens- bzw. Handlungsbereiche, die viel Raum für freie Formbildung geben. Hierzu gehören etwa die Formen der Freizeitgestaltung, die Moden des Körperschmucks, die Praktiken sportlicher Betätigung, die Gestaltung von Festlichkeiten, die bereits erwähnten Geselligkeits- und Tischsitten etc. Mit anderen Worten: Indem gesellschaftliche Gruppierungen sich, wie immer unbewusst, weitgehend ,zweckfreie‘ Handlungsbereiche schaffen, die als Biotope freier Formbildung fungieren, schaffen sie (sich) gleichzeitig besonders günstige Voraussetzungen für die Ausbildung kultureller Stile (für „Stilisierungen“; Hinnenkamp/Selting 1989), deren einzige Funktion der Verweis auf und die Selbstvergewisserung über kollektive „Verhaltungsformen der Seele“ bzw. über intellektuelle und emotionale Strukturen und Dispositive ist.
5. Sprachliche Stile als kulturelle Stile Wo es um sprachliche Stile geht, werden ⫺ vor allem in literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen ⫺ häufig Individualstile (eines Werks, eines Autors) thematisiert. Unter dieser Perspektive, d. h. mit Blick auf die „Sphäre der Einzelheit“ (Trabant 1986, 169, in Anlehnung an Heyse 1856), ist sprachlicher Stil nicht auf Kultur beziehbar. Für sprachliche Kollektivstile jedoch gilt das, was oben bereits von Kollektivstilen im Allgemeinen gesagt wurde: Sprachliche Kollektivstile sind kulturelle Stile. Und insofern Sprache ein
67. Stil und Kultur historisch veränderliches Formsystem ist, dessen Elemente im Sprachgebrauch in zusätzliche Formbildungen eingehen, lassen sich kulturell signifikante Formen hier grundsätzlich auf zwei verschiedenen Ebenen festmachen: auf der Ebene der Einzelsprache mit ihren gegenüber anderen Sprachen als signifikant heraustretenden Formen einerseits und auf der Ebene der Sprache bzw. des Sprachgebrauchs von gesellschaftlichen Formationen oder historischen Epochen andererseits.
5.1. Sprache(n) als signiikante Form(en): der Totaleindruck Die kulturelle Deutung der Formseite von Einzelsprachen findet sich prominent bei Wilhelm von Humboldt im Kontext seiner allgemeinen Bestimmung von Sprache als Medium und Formativ von Kultur. Die spezifische Formgeprägtheit einer Einzelsprache wird von ihm dabei sowohl metaphorisch als Individualstil interpretiert (insofern er Sprachen als „geistige Individualitäten“ auffasst; Humboldt 1907, 151), gleichzeitig und notwendig verbunden damit aber auch als Kollektivstil der entsprechenden Sprachgemeinschaften, als „Bildungsmittel der Nationen“ (Humboldt 1905, 7). In seinen entsprechenden Überlegungen (Humboldt 1905) spricht Humboldt allerdings nicht vom Stil, sondern vom „Charakter“ von (Einzel)Sprachen, seine Verwendung dieses Terminus legt ein entsprechendes Verständnis im Sinne des hier angelegten Stilbegriffs aber nahe (vgl. auch Trabant 1986, 174). So ist auch der Charakter einer Sprache, der „Totaleindruck“ (Humboldt 1905, 1), den sie dem Betrachter vermittelt, bei Humboldt ein Formeffekt, der „auf dem gleichmäßigen, einzeln kaum bemerkbaren Eindruck der Beschaffenheit ihrer Elemente beruht“ (Humboldt 1905, 1; Hervorhebung A. L.). Der „Schlussstein der Sprachkunde“ ist entsprechend definiert als ihr „Vereinigungspunkt mit Wissenschaft und Kunst“ (Humboldt 1905, 13; Hervorhebung A. L.). Dieses Unternehmen ist allerdings kein einfaches. Denn obwohl ⫺ so Humboldt ⫺ der „Totaleindruck“ vom Charakter, vom Stil einer Sprache als solcher zwar leicht aufgefasst werden kann, verliert man sich beim Versuch, „den Ursachen desselben nachzuforschen“ rasch in einer „zahllosen Menge scheinbar unbedeutender Einzelheiten“ (Humboldt 1905, 1). Die Ursachen selbst jedoch sind als kulturelle zu verstehen, ihre Erforschung ist die Fruchtbarmachung von Sprachanalyse als Kulturanalyse.
5.2. Sprechstile, Sprachgebräuche und Kultur(en) Die Ergründung von sprachlichem Stil als kulturellem Stil ist auch dann kein einfaches Unterfangen, wenn man sich nicht auf die Größe der Einzelsprache bezieht, sondern Gruppen- oder Epochenstile im Visier hat. Denn die Interpretation der kulturellen Signifikanz von sprachlichem Stil zielt immer über Sprache hinaus, sie ist notwendig ein transdisziplinäres Unternehmen und mit entsprechenden Unsicherheiten belastet. Als Voraussetzung ist zwar die linguistische und sprachhistorische Analyse gefordert, d. h. die Ausdrucksmuster auf den unterschiedlichen Ebenen von Sprache und Sprachgebrauch müssen in ihrer Systematik erarbeitet sowie in ihrem historischen Bezug verortet werden. Der nächste Schritt, die Deutung der Muster, die Erschließung der mit ihnen korrelierenden kulturellen Bedeutungen, ist dann ein hermeneutischer Akt, der nicht nur von der
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Analyse der sprachlichen Daten ausgehen kann, sondern auf den Einbezug von umfassendem Zeit- und Weltwissen sowie auf Kenntnisse aus Nachbardisziplinen wie Geschichte, Soziologie, Sozialpsychologie etc. angewiesen ist. Es geht in der kulturellen Deutung sprachlicher Stile also immer um eine synthetisierende Zusammenschau, die auf den Einbezug isomorpher stilistischer Phänomene (Hahn 1986, 604) aus anderen Ausdrucksdomänen (Körperpraktiken, Fotografie, Gestaltung von Innenräumen etc.) angewiesen ist, wenn sie über den Status vorsichtiger Hypothesenbildung hinauskommen will. Die Unumgänglichkeit hermeneutischer Verfahren mag mit ein Grund dafür sein, dass Stilanalysen wie insgesamt die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Kultur nicht zum Kerngeschäft der Sprachwissenschaft gerechnet werden (Günthner/Linke 2006), sondern vor allem an die sogenannten Bindestrich-Linguistiken delegiert sind. Hierher gehören etwa die Anthropologische Linguistik, die Soziolinguistik, die Textlinguistik, die Gesprächsanalyse, aber auch die Sprachgebrauchs- bzw. Kommunikationsgeschichte. Die Beschäftigung mit den kulturell signifikanten Formen des Sprachgebrauchs ist entsprechend vielfältig, sie steht zudem auch in den genannten Disziplinen nicht unbedingt im Vordergrund und geschieht auch nicht immer unter dem Label Stil. Auch Termini wie Traditionen des Sprechens (Schlieben-Lange 1983), Sprachhandlungsroutinen oder Textmuster beziehen sich auf Formen und Typisierungen von Sprachgebrauch im Sinne des oben entwickelten Stilbegriffs (vgl. auch Feilke 1996). Die terminologischen Unterschiede verweisen aber gleichzeitig auf unterschiedliche Analyseperspektiven bzw. unterschiedliche methodische Voraussetzungen und verschiedene theoretische Einbettungen. Für den Umgang mit dem Phänomen des Kollektivstils fehlt in der Sprachwissenschaft also sowohl ein umfassenderer theoretischer Rahmen als auch ein ausgearbeitetes methodisches Instrumentarium. Andererseits lässt sich gerade in neuerer Zeit eine vermehrte Sensibilisierung auf die Tauglichkeit des Konzepts Stil im Kontext eines sozial- und kulturkonstruktivistischen Verständnisses von Sprache beobachten. Die intensivste Aufmerksamkeit erfahren Kollektivstile (und damit auch der Begriff des Stils selbst) derzeit im Rahmen der Variationslinguistik. Auslösendes Moment ist hier die Neuinterpretation von sprachlicher Variation und Typik nicht mehr nur als sprachsystematisches Korrelat sozialer Differenzierung von Gesellschaft und damit als indexikalischer Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppierung, sondern als ein mögliches Medium der aktiven Konstruktion sozialer bzw. kultureller Identität (ganz im Sinne des oben unter (1) referierten doing-Ansatzes). Sprachgebrauchsmuster werden entsprechend als semiotisch signifikant interpretiert. Grundlegend für diese Richtung sind u. a. die Arbeiten von Penelope Eckert, die mit Blick auf die phonologische Variation zwischen Sprechergruppen von symbolic work und von meaning of style spricht und diese mit Kollektivstilen im Bereich von Mode und Freizeitverhalten zusammendenkt (Eckert 2004, 2005; vgl. auch Auer 2007; Androutsopoulos 2003). Da hier die Zugehörigkeit von Sprechern und Sprecherinnen zu bestimmten sozialen Gruppierungen bzw. Schichten im Vordergrund steht, wird mit Blick auf Kollektivstile in diesem Feld meist von sozialen Stilen, allenfalls auch von subkulturellen Stilen gesprochen. Doch auch wenn hier das soziale Differenzierungspotenzial von Kollektivstilen im Vordergrund steht (Irvine 2001), ist deren grundlegende kulturelle Signifikanz und damit die Frage nach den in den beobachteten Formen semiotisch manifestierten Selbstund Weltdeutungen nicht aufgehoben, sondern einfach sozial gewendet (vgl. exemplarisch Keim 1995 und 2007). Auch im Kontext von kommunikationsgeschichtlich orientierten Untersuchungen wird nach der (sozio)kulturellen Signifikanz von Kollektivstilen gefragt. Hier kommen in ers-
67. Stil und Kultur ter Linie Stilbildungen bzw. Stilveränderungen auf der komplexeren Ebene der kommunikativen Praktiken in den Blick. Deren Formgeprägtheit lässt sich einerseits kommunikativ-funktional begründen, d. h. kommunikative Praktiken werden verstanden als „präformierte Verfahrensweisen, die gesellschaftlich zur Verfügung stehen, wenn bestimmte rekurrente Ziele oder Zwecke kommunikativ realisiert werden sollen“ (Fiehler u. a. 2004, 99). Es ist jedoch gerade die historische Perspektive, die es ermöglicht, die Formgeprägtheit kommunikativer Praktiken jenseits einer sachfunktionalen Passform auch als historisch gebundenen Stileffekt (als Form von Form) und mithin als kulturell signifikant zu erkennen. Dies gilt etwa besonders auffällig für Veränderungen in den Mustern und Routinen des Grüßens und Verabschiedens oder des sprachlichen Höflichkeitsverhaltens ⫺ Veränderungen in diesen Mustern sind als Medium und Indikator entsprechender kultureller Veränderungen zu verstehen (vgl. etwa Ehrismann 2000; Linke 1996, 2000; Scharloth 2007; Scharloth [in Vorbereitung]). Im Rahmen der Textlinguistik ist in neuerer Zeit vor allem die Kulturspezifik von Textsorten vermehrt thematisiert worden (Fix u. a. 2001, 2006). Auch Barbara Sandig verweist in ihrer Textstilistik des Deutschen (Sandig 2006) explizit darauf, dass „Textmusterstile kulturell geprägt“ und „Formen kulturrelevanten Kommunizierens“ sind (Sandig 2006, 481), die Fixierung von Kollektivstil im komplexen Formgefüge von Texten bzw. Textsorten bleibt aber unbestimmt. Auch in der Beschäftigung mit Sprech- und Gesprächsstilen (so der Titel eines von Margret Selting und Barbara Sandig herausgegebenen Sammelbandes; Selting/Sandig 1997) wird Stil sehr heterogen verwendet. Die Untersuchung von Kollektivstilen in der Interaktion eröffnet jedoch innovative Perspektiven für die Analyse des Zusammenhangs von Stil, Kultur und Dialogizität und damit auch auf die Prozesse von Stilbildungen im interaktiven Austausch. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die Analyse sprachlicher Kollektivstile in kulturanalytischer Absicht letztlich noch in ihren Anfängen steckt. Es zeigt sich aber, dass das in der Sprachwissenschaft bisher marginalisierte Konzept des (Kollektiv)Stils eine notwendige Scharnierfunktion darstellt, wenn es darum geht, Sprach(gebrauchs)analyse und Kulturanalyse zu verbinden. Eine Elaborierung dieses Konzepts ist nötig. Dazu gehört in erster Linie die Reflexion der unterschiedlichen linguistischen Theoretisierungen des Musterbegriffs ⫺ besonders produktiv dürfte es etwa sein, entsprechende Konzepte aus dem Kontext der Korpuslinguistik mit dem Konzept des Kollektivstils zusammenzudenken (vgl. etwa Stubbs 1997). Um schließlich aber vor allem das Innovationspotenzial hervorzuheben, das eine Untersuchung sprachlicher Kollektivstile gerade im Rahmen einer als Kulturgeschichte verstandenen Sprach- und Kommunikationsgeschichtsforschung mit sich bringt, sei abschließend noch auf einen weiteren, bisher noch nicht angesprochenen Aspekt im Verhältnis von sprachlichem Stil und kulturellem Stil aufmerksam gemacht.
5.3. Stilideale als kulturelle Selbstzuschreibungen Die Kategorie Stil ist nicht nur ein wissenschaftliches, sondern auch ein Alltagskonzept, sie steht nicht nur für Fremdzuweisungen, sondern ebenso für Selbstcharakterisierungen zur Verfügung und sie hat, wie bereits angesprochen, als Alltagskonzept eindeutig normative und wertende Aspekte. Wenn alltagssprachlich von Stilbewusstsein gesprochen
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil wird, so ist damit ein ganzes Konglomerat von Wissen und Einstellungen mit Bezug auf das Phänomen Stil angesprochen. Die Kenntnis bestimmter sprachlicher Kollektivstile, das Wissen um die kulturelle Deutung einzelner Stile wie auch das bewusste Verfügen über sprachlich-kommunikative Stilnormen und -ideale machen dieses Stilbewusstsein zu einem konstitutiven Teil von Sprachbewusstsein. Explizite Stilideale und stilistische ,Realität‘ verhalten sich allerdings nicht notwendigerweise „wie Norm und Erfüllung zueinander“ (Pfeiffer 1986, 704). Gerade deshalb erscheint aus kulturanalytischer Perspektive die Beschäftigung mit beidem ⫺ dem formulierten Stilideal einer gesellschaftlichen Gruppierung oder einer Epoche und ihren belegbaren Hervorbringungen ⫺ aufschlussreich. Brigitte Schlieben-Lange (1986) konkretisiert diese Überlegungen zu einem Forschungsprogramm, wenn sie die Analyse der stilistischen Selbstinterpretation von gesellschaftlichen Gruppen bzw. historischen Epochen fordert. Sie exemplifiziert die an solchen Analysen zu gewinnenden Einsichten mit einer skizzenhaften Untersuchung der Selbstinterpretation der französischen Revolutionsepoche als Epoche eines „style analytique“ (Schlieben-Lange 1986, 162). Gerade diese Selbstinterpretation deckt sich nun aber nicht ohne weiteres mit den gängigen sozial- und kulturgeschichtlichen Deutungen dieser Epoche ⫺ und gerade in diesem Widerspruch lässt sich das kulturanalytische Potenzial stiltheoretischer Auseinandersetzungen mit historischen Epochen erahnen und damit auch der mögliche Beitrag der Sprachwissenschaft zur Kulturgeschichte.
6. Literatur (in Auswahl) Androutsopoulos, Jannis (2003): Online-Gemeinschaften und Sprachvariation: Soziolinguistische Perspektiven auf Sprache im Internet. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 31/2, 173⫺197. Auer, Peter (ed.) (2007): Style and Social Identities: Alternative Approaches to Linguistic Heterogeneity. Berlin/New York. Bachmann-Medick, Doris (Hrsg.) (1996): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. Bausinger, Hermann (1987): Bürgerlichkeit und Kultur. In: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen, 121⫺142. Boas, Franz (1911): Introduction. In: Franz Boas (Hrsg.) (1963): Handbook of American Indian Languages. Washington DC. Eckert, Penelope (2004): The Meaning of Style. In: Wai-Fong Chiang et al. (eds.): Salsa 11. Texas Linguistics Forum 47. Eckert, Penelope (2005): Variation, Convention, and Social Meaning. Paper Presented at the Annual Meeting of the Linguistic Society of America. Oakland CA. Jan. 7, 2005 [http://www.stanford. edu/~eckert/EckertLSA2005.pdf (4. 8. 2007)]. Ehrismann, Otfried (2000): Heroische und höfische Kommunikation. Szenen aus der mittelhochdeutschen Epik. In: Gerd Fritz/Andreas H. Jucker (Hrsg.): Kommunikationsformen im Wandel der Zeit. Tübingen, 259⫺282. Feilke, Helmuth (1996): Sprache als soziale Gestalt. Frankfurt a. M. Fiehler, Reinhard u. a. (2004): Eigenschaften gesprochener Sprache. Tübingen. Fix, Ulla (2006): Was heißt Texte kulturell verstehen? Ein- und Zuordnungsprozesse beim Verstehen von Texten als kulturellen Entitäten. In: Hardarik Blühdorn u. a. (Hrsg.): Text ⫺ Verstehen. Grammatik und darüber hinaus. Jahrbuch 2005 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/New York, 254⫺276. Fix, Ulla u. a. (2001): Zur Kulturspezifik von Textsorten. Tübingen. Fleck, Ludwik (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt.
67. Stil und Kultur Geertz, Clifford (1973): Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture. In: The Interpretation of Cultures. Selected Essays by Clifford Geertz. New York, 3⫺32. Goodenough, Ward (1957): Cultural Anthropology and Linguistics. In: Dell H. Hymes (ed.) (1964): Language in Culture and Society. A Reader in Linguistics and Anthropology. New York. Günthner, Susanne/Angelika Linke (Hrsg.) (2006): Themenschwerpunkt Linguistik und Kulturanalyse. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 34/1 u. 2. Hahn, Alois (1986): Soziologische Relevanzen des Stilbegriffs. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig K. Pfeiffer (Hrsg.): Stil: Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M., 603⫺612. Hermanns, Fritz (1999): „Sprache“, „Kultur“ und „Identität“. Reflexionen über drei Totalitätsbegriffe. In: Andreas Gardt/Ulrike Haß-Zumkehr/Thorsten Roelcke (Hrsg.) (1999): Sprachgeschichte als Kulturgeschichte [Festschrift Oskar Reichmann]. Tübingen, 351⫺391. Heyse, Karl W. L. (1856): System der Sprachwissenschaft. Hrsg. von Heymann Steinthal. Berlin (Nachdruck Hildesheim/New York 1973). Hinnenkamp, Volker/Margret Selting (Hrsg.) (1989): Stil und Stilisierung. Arbeiten zur interpretativen Soziolinguistik. Tübingen. Hörning, Karl H./Julia Reuter (2004): Doing Culture: Kultur als Praxis. In: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hrsg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld, 9⫺18. Humboldt, Wilhelm von (1905): Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung. In: Wilhelm von Humboldts Werke. Bd. 4. Hrsg. v. Albert Leitzmann. Berlin, 1⫺34. Humboldt, Wilhelm von (1907): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechtes. In: Wilhelm von Humboldts Werke. Bd. 7. Hrsg. v. Albert Leitzmann. Berlin, 1⫺344. Irvine, Judith (2001): “Style” as distinctiveness: The Culture and Ideology of Linguistic Differentiation. In: Penelope Eckert/John R. Rickford (eds.): Style and Sociolinguistic Variation. Cambridge, 21⫺43. Keim, Inken (1995): Kommunikative Stilistik einer sozialen Welt „kleiner Leute“ in der Mannheimer Innenstadt. Berlin/New York. Keim, Inken (2007): Die „türkischen Powergirls“: Lebenswelt und kommunikativer Stil einer Migrantinnengruppe in Mannheim. Tübingen. Kroeber, Alfred Louis (1963): Style and Civilizations. Berkeley/Los Angeles. Kroeber, Alfred Louis/Clyde Kluckhohn (1952): Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions. New York. Leach, Edmund Ronald (1978): Kultur und Kommunikation: zur Logik symbolischer Zusammenhänge. Frankfurt a. M. Linke, Angelika (1996): Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart. Linke, Angelika (2000): Informalisierung? Ent-Distanzierung? Familiarisierung? Sprach(gebrauchs)wandel als Indikator soziokultureller Entwicklungen. In: Der Deutschunterricht 3, 66⫺77. Linke, Angelika (2003): Begriffsgeschichte ⫺ Diskursgeschichte ⫺ Sprachgebrauchsgeschichte. In: Carsten Dutt (Hrsg.): Herausforderungen der Begriffsgeschichte. Heidelberg, 39⫺49. Markova´, Ivana (2003): Dialogicality and Social Representations. The Dynamics of Mind. Cambridge. Meyer, Leonard B. (1979): Toward a Theory of Style. In: Berel Lang (ed.): The Concept of Style. Philadelphia, 3⫺44. Nünning, Ansgar (2001): Kulturwissenschaft. In: Ansgar Nünning: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart/Weimar. Panofsky, Erwin (1980): Das Problem des Stils in der bildenden Kunst. In: Erwin Panofsky: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Hrsg. v. Hariolf Oberer und Egon Verheyen. Berlin, 19⫺28.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Pfeiffer, Ludwig K. (1986): Produktive Labilität. Funktionen des Stilbegriffs. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig K. Pfeiffer (Hrsg.): Stil: Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M., 685⫺726. Reckwitz, Andreas (2004): Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler. In: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hrsg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld, 40⫺54. Sandig, Barbara (2006): Textstilistik des Deutschen. Berlin/New York. Scharloth, Joachim (2007): 1968 und die Unordnung in der Sprache. Kommunkationsstrukturelle und sozialstilistische Untersuchungen. In: Die (Un)Ordnung des Diskurses. Hrsg. v. Steffen Pappert. Leipzig, 11⫺36. Scharloth, Joachim (in Vorbereitung): 1968. Eine Kommunikationsgeschichte. 2009. Schlieben-Lange, Brigitte (1983): Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung. Stuttgart. Schlieben-Lange, Brigitte (1986): „Athe`nes e´loquente“/„Sparte silencieuse“. Die Dichotomie der Stile in der Französischen Revolution. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig K. Pfeiffer (Hrsg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M., 155⫺168. Selting, Margret/Barbara Sandig (Hrsg.) (1997): Sprech- und Gesprächsstile. Berlin/New York. Stubbs, Michael (1997): Eine Sprache idiomatisch sprechen: Computer, Korpora, Kommunikative Kompetenz und Kultur. In: Klaus J. Mattheier (Hrsg.): Norm und Variation. Frankfurt a. M., 151⫺167. Trabant, Jürgen (1986): Der Totaleindruck. Stil der Texte und Charakter der Sprachen. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig K. Pfeiffer (Hrsg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M., 169⫺188. Tylor, Edward Burnett (1871): Primitive Culture: Research into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Language, Art and Custom. London.
Angelika Linke, Zürich (Schweiz)
68. Rhetoric and culture in Non-European societies 1. 2. 3. 4.
European history Rhetoric and culture in comparative perspective Conclusion Selected bibliography
Abstract This contribution discusses the relationship between rhetoric and culture as it is conceptualized in Non-European cultures. First, a short outline of the history of rhetorical concepts in the occidental tradition is provided. Then, narrow and broad conceptions of rhetoric will be examined. Broad notions of rhetoric as defended in the Attic State, the Roman Republic, the Renaissance and the Baroque as well as in Post-Modernism and its predecessors are
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Pfeiffer, Ludwig K. (1986): Produktive Labilität. Funktionen des Stilbegriffs. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig K. Pfeiffer (Hrsg.): Stil: Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M., 685⫺726. Reckwitz, Andreas (2004): Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler. In: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hrsg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld, 40⫺54. Sandig, Barbara (2006): Textstilistik des Deutschen. Berlin/New York. Scharloth, Joachim (2007): 1968 und die Unordnung in der Sprache. Kommunkationsstrukturelle und sozialstilistische Untersuchungen. In: Die (Un)Ordnung des Diskurses. Hrsg. v. Steffen Pappert. Leipzig, 11⫺36. Scharloth, Joachim (in Vorbereitung): 1968. Eine Kommunikationsgeschichte. 2009. Schlieben-Lange, Brigitte (1983): Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung. Stuttgart. Schlieben-Lange, Brigitte (1986): „Athe`nes e´loquente“/„Sparte silencieuse“. Die Dichotomie der Stile in der Französischen Revolution. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig K. Pfeiffer (Hrsg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M., 155⫺168. Selting, Margret/Barbara Sandig (Hrsg.) (1997): Sprech- und Gesprächsstile. Berlin/New York. Stubbs, Michael (1997): Eine Sprache idiomatisch sprechen: Computer, Korpora, Kommunikative Kompetenz und Kultur. In: Klaus J. Mattheier (Hrsg.): Norm und Variation. Frankfurt a. M., 151⫺167. Trabant, Jürgen (1986): Der Totaleindruck. Stil der Texte und Charakter der Sprachen. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Ludwig K. Pfeiffer (Hrsg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M., 169⫺188. Tylor, Edward Burnett (1871): Primitive Culture: Research into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Language, Art and Custom. London.
Angelika Linke, Zürich (Schweiz)
68. Rhetoric and culture in Non-European societies 1. 2. 3. 4.
European history Rhetoric and culture in comparative perspective Conclusion Selected bibliography
Abstract This contribution discusses the relationship between rhetoric and culture as it is conceptualized in Non-European cultures. First, a short outline of the history of rhetorical concepts in the occidental tradition is provided. Then, narrow and broad conceptions of rhetoric will be examined. Broad notions of rhetoric as defended in the Attic State, the Roman Republic, the Renaissance and the Baroque as well as in Post-Modernism and its predecessors are
68. Rhetoric and culture in Non-European societies mainly grounded (1) in a democratic political organization based on debates and (2) in a profound scepticism concerning cosmological and ideological certainties. Subsequently, these findings are compared to Non-European notions of rhetoric as conceptualized among New-Caledonians, Native Americans, !Kung bushmen and peoples of the South Seas. This comparison reveals two further conditions, which favor a wide notion of rhetoric: (3) a certain degree of social interdependence (i. e. the fact that conflicts may not be resolved by fission) and (4) social prestige connected to skilful rhetoric (along with its main effect, social prominence) and, possibly, a number of available (i. e. not bequeathed) yet limited social positions talented, ambitious and eloquent individuals might qualify for.
1. European history The history of rhetorical theory is characterized by alternations between broad and narrow notions of the term rhetoric. Broad conceptions consider rhetoric as the most prominent human ability, comprehending thought, speech and action in all domains of existence. Such conceptions existed in the Attic state, the Roman Republic, throughout the Renaissance and the Baroque, as well as in the 19th and 20th centuries, especially in Postmodernism. In contrast, narrow conceptions reduce rhetoric to the art of elegant speech or writing, or even worse, regard it as manipulation. Such notions have been particularly forcibly defended in Hellenism, the Roman Empire, the high Middle Ages, during the Enlightenment and Modernity, especially in times when positivism and evolutionism were the dominating scientific paradigms. At large, it can be observed that there are two key factors influencing whether rhetoric in a society is prestigious or frowned upon, or whether the theoretical notions of rhetoric as defended by contemporary scholars are narrow or broad. The first is that rhetoric flourishes particularly well in a democratic political organization, where decisions are made by general consensus preceded by debates. People naturally value rhetoric when it helps them to defend their own interests in both political and legal affairs, and scholars who are familiar with rhetorical politics logically ascribe value to it. This holds true for Attic Athens and Republican Rome as well as for modern democracies. The second factor that stimulates broad and prestigious ideas of rhetoric is a profound scepticism concerning cosmological and ideological certainties. Rhetoric is an adequate theoretical model for those who do not take truth for granted, but rather believe that it emerges from dialogue and intersubjectivity. Thus, we can observe very broad notions of rhetoric in times of crisis, wars and plagues but also in periods of innovations and discoveries that had deep impact upon society. This is especially true for the Renaissance with all its social changes, discoveries, religious and secular wars and disastrous plagues, but also for the Attic state as well as for developments in the 19th and 20th centuries.
2. Rhetoric and culture in comparative perspective Starting from the above findings, in this chapter notions of rhetoric will be examined as they are conceived in other regions of the world. I draw on selected ethnographic information from selected societies. Major focus will be on descriptions of rhetorical practices.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
2.1. Rhetoric and culture among the New-Caledonians Speech among the New-Caledonians is called no as described by the missionary and anthropologist Maurice Leenhardt, who lived among them for 25 years. No in NewCaledonian understanding is not only used to designate verbal speech but also all forms of rhetorical action. The concept encompasses thinking, speaking and social action. “The word does not imply discourse but is simultaneously spontaneous act and considered act, activity and psychic behaviour, through which each being reveals or affirms himself” (Leenhardt 1979, 140). Right from the start of his report, Leenhardt provides us with an example of the concept word (in French parole ⫽ speech). It is an account of a village scandal: “A young outsider who committed adultery has been captured. He is accused. He remains silent. And it is learned that he himself is a ‘word’. An elder brother needed to seek revenge and delegated the younger brother to commit the act of vengeance. Because he is the executor of the fraternal command, they say he is ‘the word of his brother’. People passing at the road wonder at the excitement, the gatherings, the whispering in the village. They inquire and are told, with an air of mystery, ‘there is a word’” (Leenhardt 1979, 127 f.). Leenhardt (1979, 133) comments: “The word proceeds from the heart, for the heart is called ‘the basket of words.’ Everything belonging to man is eweke¨ [the Lifouan synonym of no, C. M.]: his eloquence, the object he shapes, what he creates, what he possesses of his own, the products of his labor, his remarks, his goods, his garden, his wife, his psychic wealth, and his sex organ. All this is word.” Person and authority are created by means of speech. Parts of the chief’s dignity are rhetorical competences as presented in his speech and addresses but also in his acts, especially when exchanging gifts. Social relations created, intensified and renewed through gift exchange are part of a man’s speech. “The chief presides over the circulation of gifts. Each exchange between clans takes on worth only by the definition the eldest son [chief, C. M.] gives it. His word situates the act and puts it into time. The act itself is not in the exchange but in the word it calls forth. The act is a word. On each occasion it is for the chief to pronounce the appropriate ritual words, as well as the discourse which makes the act stand out and gives it meaning” (Leenhardt 1979, 114). Objects that someone has received therefore count as speech, too, and the act of giving holds as speaking. Speech for the New-Caledonians is, according to Leenhardt (1979, 133), the “manifestation of the being”. The concept of speech even transcends the individual. “The word is the being’s essential power of manifestation” (Leenhardt 1979, 140) ⫺ and thus it is human culture. What Assmann (1992) has called the “cultural memory” is for the New-Caledonians likewise no. “Tradition, marriage, fame, or myth are all thoughts as well as acts of the ancestors or gods. They are the ‘enduring word’” (Leenhardt 1979, 135). The rhetorical notion of human society and culture inherent in the New-Caledonian concept of no is also visible in visual arts. Ancestors of chiefs are represented with exaggerated mouths and long tongues sticking out. Leenhardt (1979, 139) asks rhetorically: “Isn’t the tongue the muscle which brings forth the traditional virtues, virile decisions, and all manifestations of life the word contains in itself?” Speech, then, is the regime of life. Evil words or twisted words harm the equilibrium of the group. Straight words, in contrast, maintain the integrity of social life, create and
68. Rhetoric and culture in Non-European societies demonstrate vitality. “Caledonian chieftainship, whose authority rests entirely on the prestige of the word, strangely confirms these observations. The chief has the task of recalling in richly embellished discourse all the traditions, alliances, and memorable moments of the clan, all its engagements, all its honor” (Leenhardt 1979, 136). Speech in New-Caledonian society is free in all kin constellations where there is no taboo. One example: The term for brothers is kaaveai ⫺ those who speak together (Leenhardt 1979, 145). Averhono, in contrast, are those who may speak with one another using mockery. “The free word is always spicy, often comic and obscene” (Leenhardt 1979, 145). The Caledonian no thus contains a rhetorical theory of society: Attitudes, values and the historical identity of the community can only and must constantly be renewed through speech. All utterances and creations of man, and even his thinking are considered speech. Moreover, even the gods speak through man, if humans obey and realize the godly rules, they becomes the tongue of the gods (Leenhardt 1979, 143). Being convinced that man and his character are manifest in speech, the New-Caledonians have created a number of epithets for no. In order to characterize individuals, they speak of wise, deeply dangerous, straight-line, right-handed, twisted, misleading, appropriate, adequate, equal, and free words or words without backing. “The word is qualitative because the being, through it, is manifested only by its qualities, or, as there are no ‘qualities’ in the native language, we might better say by its states. The word manifests being in its diverse attributes. ‘Wise,’ ‘straight,’ ‘right’ as attributes of the word mean that a ‘being’ was in a state of wisdom, justice, rectitude at a given moment. The word fixes and consolidates these qualities or states by giving them form and objectifying them. The criterion of its quality is to be consistent with the being, that is, it should help the Canaque make real what he feels, contemplates, and undertakes at random. In this way, the word is creative” (Leenhardt 1979, 149). Humans are what and how they speak: this is the rhetorical anthropology of the New-Caledonians as described by Leenhardt. The concept of speech employed by the New-Caledonians (Canaques) thus encompasses all potential or factual utterance or creation of a being. The concept of rhetoric of the New-Caledonians (that, in fact, is a concept of culture) compared to the cultural history of rhetoric described above, seems to be exceptionally broad. Therefore, the next Chapter examines other ethnographic accounts, especially those who originate from the time when Europeans first got in contact with them.
2.2. Early depictions o rhetoric and culture among American Indians Probably the first extensive account from North American Indians was Jean Franc¸ois Lafitau’s (1681⫺1746) Customs of the North American Indians of 1724. After having lived among the Iroquois of the Northern Woodlands for five years, he wrote down his experiences and thoughts in a book that, today, is judged principally reliable by scholars of Native American ethnography (cf. Fenton 1998). Lafitau, in contrast to Leenhardt, focuses on the Iroquoian rhetorical competences in political matters: “The chiefs know how to gain ascendancy over their minds and take advantage of their facility in speaking and saying all that they wish. But it is principally in the public councils and solemn transactions that the orators appear brilliant. They alone speak in
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil them, their duty properly consisting in announcing all the business which has been discussed in the secret councils, in declaring the results of all deliberations and in bearing the news authoritatively in the name of the entire village and nation. This role is not easy to sustain. It demands a great capacity, the knowledge of councils, a complete knowledge of all their ancestors’ ways, wit, experience and eloquence. Not considered at all in the qualifications is whether they are of a ranking maternal household; their personal merits and talents are the only things considered. It is rare to find persons who fill this post worthily. Scarcely one or two in a village fulfil it even passably. Recourse must often be made to the people of other villages and nothing is neglected to attract outsiders capable of carrying on this work well who have gained some reputation in it. These orators’ discourses do not consist of long harangues, composed on the model of those of Demosthenes or Cicero. The Iroquois, like the Lacedaemonians wish a quick and concise discourse. Their style is, however, full of figures of speech and quite metaphorical; it is varied according to the different nature of the business. On certain occasions, it gets away from ordinary language and resembles our courtly style; on others, it is sustained by a keener action than that of our actors on the stage. They have, withal, a capacity for mimicry; they speak with gestures as much as with the voice and act out things so naturally as to make them seem to take place under their audience’s eyes. The orator has, near him, one or two persons to remind him of what he is to say, to refresh his memory on what decisions have been reached and to watch that he says things in the proper order. This is done, however, with courtesy and without interruptions. But he himself, during his discourse, is careful to ask the assembly, from time to time, if he has announced things well, in the way in which they should be heard and have been decided. Several of the Council respond to him by an etho of approbation. He takes advantage also of pauses to consult his assistants. After his report follows the niohen, the general cry of consent. It is done in this way. One of the Old Men cries; ‘niohen?’ All the others answer ‘nio’. This is done three times in each clan’s name. That is the kind of formula to ask whether everyone is satisfied but it is really done only as a form, for everyone always answers ‘yes’. It seems, however, set up in such a way as to give opportunity to those who would judge it a proper time to make remonstrance or protest. […] When the orators have wit and savoir faire they gain a great deal of credit and authority. The famous Garakontie´ who has served religion and the French Colony so well was only an orator at Onnontague [Onondaga]: and this man was so much respected by his people that he managed the Five Iroquois nations as he wished” (Lafitau 1974, 297 ff.). Lafitau emphasizes that the orators were selected according to their skills and not according to descendent hierarchy. Sometimes there were so few candidates in a village that the Iroquois had to request for good orators in their neighbour villages. All this shows the high reputation and great importance of rhetorical skills in the Iroquoian society. The Iroquois demanded that good orators acquired a detailed knowledge of Iroquoian history, of their laws and traditions as well as outstanding skills in expression. Sometimes the orators gained the highest political influence that Lafitau compares to that of the Lycian Nancrates (a demagogue who incited the Lycians who settled in SouthWestern Turkey to offer fruitless resistance to the Roman army under M. Brutus). The form of public speech of the Iroquois is described as short and lively, figurative and metaphorical, sometimes highly formalized and always accompanied by vivid mimics and gestures.
68. Rhetoric and culture in Non-European societies The political councils of the Iroquois were situations in which the orators could demonstrate their eloquence and abilities in speech. In the councils, information was received, discussed, judged, made public, and finally disseminated. The counsellors, just as classical rhetorical theory predicts, had to take consensual decisions under conditions of pressure for action. Lafitau (1974, 295) gives some examples of the subjects discussed in the councils: “receiving ambassadors, replying to them, declaring (chanting) war, mourning for the dead [Condolence Council], holding festivals, etc.” “The Senate has, certainly, none of the august majesty of that of the Roman Republic [in the days] immediately before [the time of] the Caesars but I believe that it is not at all inferior to that of Rome herself when she went to take the plough from the Serrans and Cincinnati to make them consuls and dictators. They are a troupe of dirty men seated on their backsides, hunched up like monkeys, with their knees up to their ears, or lying in different positions, either flat on their backs or with their stomachs in the air, who, all of them, pipes in their mouths, treat affairs of state with as much coolness and gravity as the Junta of Spain or the Council of the Sages [Council of the Ten] at Venice” (Lafitau 1974, 296). The participation at the Iroquoian councils was restricted: “Almost no one except the Ancients is present at these councils and has a deliberative voice in them. The chiefs and Agoı¨anders would be ashamed to open their mouths in them, if they did not have, joined to their dignity, the advantages of age” (Lafitau 1974, 296). Lafitau provides us with a description of the rhetorical forms of the political speeches of the Iroquois: “Each of the opposing sides first takes up the proposition in a few words and sets forth all the reasons which have been alleged pro and con by those who first expressed their opinion. He then states his own opinion and concludes with these words: ‘That is my thought on the subject of this, our Council.’ To this, all the members of the assembly answer hoo or etho, that is to say ‘that is good’ whether he has spoken well or badly” (Lafitau 1974, 296). Not only Father Lafitau, but other Jesuits as well noticed the outstanding rhetorical abilities of American Indians. They often mention in their letters that they felt reminded of their own rhetoric and homily lessons in the seminaries. As early as in 1633, Father Le Jeune wrote: “There is no place in the world where Rhetoric is more powerful than in Canada, and, nevertheless, it has no other garb than what nature has given it; it is entirely simple and without disguise; and yet it controls all these tribes, as the Captain is elected for his eloquence alone, and is obeyed in proportion to his use of it, for they have no other law than his word” (1633, 118). A short time later, in 1639, Montoya noticed the power to create community present in the rhetoric of the South American Guaranı´: “Many of them gain nobility through eloquence in speech […] thereby they bring people together and vassals” (quoted in Münzel 1986, 172). And Vimont (1645, 62) tells us about the Hurons in the North of Lake Ontario: “I would never have believed that, without instruction, nature could have supplied a most ready and vigorous eloquence, which I have admired in many Hurons; or more clear-sightedness in affairs, or a more discreet management in things to which they are accustomed.” These kinds of enthusiastic accounts have sometimes been challenged in Europe. But the Jesuits insisted on the truth of their descriptions: “In France, people have believed that their speeches and addresses, which we reported in our relations were fictitious; but
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil I can assert that most of these, when translated into another language, are much less powerful than in their own. They have often persuaded us in affairs of importance, and made us change the resolutions which, after mature deliberation we had taken for the weal of the country. I doubt not that they are capable of the sciences: they have a harmonious and excellent ear for music; but their music is different from, and in some degree more martial, than ours” (Bressani 1653, 260 f.). Rasles (1723, 162) even claimed that the eloquence of the Abenaki of the Northern Woodlands outdo the rhetorical compositions of Europeans: “I fully believe that, if I had written down what this Savage said to us, offhand and without preparation, you would readily acknowledge that the most able Europeans could scarcely, after much thought and study, compose an address that would be more forcible and better arranged.” We might remember that most of the Jesuits quoted above, particularly Lafitau, have more or less been contemporaries of Renaissance philosophers that highly valued rhetoric. In their time, rhetoric belonged to the common knowledge of all free citizens. Hence, at least the intellectuals of this time possessed a great sensibility for the social competence inherent in rhetorical (inter)action. Even after the Enlightenment, when Europeans discovered foreign regions, they continued to rhapsodize about the rhetorical faculties of natives.
2.3. Early descriptions o rhetoric and culture in the South Seas The history of discoveries in the Pacific provides us with many interesting examples of the culture of rhetoric. At the beginning of the 19th century, the Dutch counsel Jacques-Antoine Moerenhout (1797⫺1879) reminds us of the great importance rhetoric had in the contemporary Tahitian society: “Eloquence was as much esteemed by these islanders as by any other people in the world. They had their masters of rhetoric and their schools where the art of speaking was taught; and it seemed eloquence was so necessary to the chiefs that to lack it was to lack the ability to rule; even today when they speak of certain ancient chiefs, it is rarely that you hear: ‘That was a powerful man, a great warrior’; but, putting aside all he had done and only seeing in him the renowned orator, they say emphatically: ‘Ta’ata paraparau maitai! There was a man who spoke well!’” (Moerenhout 1837, I, 411). Forty years earlier, in 1799, missionary Rev. William Jefferson (d. 1806) had already noted: “This afternoon the natives held a public meeting near the British house when the peace between Otoo, Pomerre, & this district was again ratified and confirmed. As all public business is transacted between persons called Taaoraro or orators, the speakers for Otoo & Pomerre were seated on the ground, opposite to each other, about 15 yards asunder, each having a bunch of green leaves in his hand, (perhaps) as tokens of peace; and they harangued upon the subject of their meeting. The spectators kept at a proper distance. Otoo was present, but did not seem to take much notice of what was doing” (March, 19, 1799, LMS Archives; quoted in: Oliver 1974, 1031). And Moerenhout adds on: “These assemblies usually took place out of doors. The participating chiefs wore a special council-meeting garment (auhaana), a mat of fine quality which extended to the knees. The ra’atira, those proprietors of large estates, whom I have already mentioned, were seated there with their superiors; and knowing full well that the latter depended upon their assistance they did not hesitate their own opinions. Usually both the pros and the cons were discussed in such meetings with clarity, emotion and eloquence. And,
68. Rhetoric and culture in Non-European societies however bellicoce the general populace may have been, the counsel of the majority of inferior chiefs sometimes forced the arii to give up his martial enterprise” (Moerenhout 1837, II, 32 f.; quoted in: Oliver 1974, 384). For the London missionary William Ellis, the speeches of Tahitian orators were examples for the “most impassioned natural eloquence, bold and varied in its figures, and impressive in its effects. I never had an opportunity of attending one of their national councils when the question of war was debated, under all the imposing influence imparted by their mythology, whereby they imagined the contention between the gods of the rivals was as great as that sustained by the parties themselves. A number of the figures and expressions used on these occasions are familiar, but detached and translated they lose their force. From what I have beheld in their public speeches, in force of sentiment, beauty of metaphor, and effect of action, I can imagine that the impression of an eloquent harangue, delivered by an ardent warrior, armed perhaps for combate, and aided by the influence of highly excited feeling, could produce no ordinary effect; and I have repeatedly heard Mr. Nott [another missionary] declare (and no one can better appreciate native eloquence), he would at any time go thirty miles to listen to an address impassioned as those he has sometimes heard on these occasions” (Ellis 1829, II, 479 f.). Henry gives an account of the spatial organization in the council house representing the social organization: “When at last the council met, the speakers sat in a central group, the sovereign and counsellors sitting in a row at one end facing them and the chiefs and priests in a row to the right and to the left of the orators. The lower end and the two lines remained open for ingress and egress; but no one dared to cross the space between the sovereign and the orators, on pain of death. Outside of this official assembly sat an audience of the people, who had no voice in the meeting but felt a lively interest in what the orators said and were generally greatly impressed with their eloquence ⫺ the deliberations sometimes lasting over a day” (Henry 1928, 297; quoted in: Oliver 1977, 384). These enthusiastic accounts of the rhetoric of foreign peoples could be continued endlessly. But beginning with the second half of the 19th century, the enthusiasm stopped and opened up space for positivism and the emphasis on material, biological, evolutionary, and later on functionalistic considerations. The examples show that rhetoric has played a salient role in the life of these people. However, the concepts are less broad than that of the New-Caledonians’, but rather seem to correspond with a Ciceronian notion of rhetoric that emphasizes the role of rhetoric in political and civil affairs. Most notably, they focus on the rhetorical competences of prudent counsellors and emphasize their sovereign styles to take decisions in local politics. As the examples make believe, wide notions of rhetoric and an emphasis on the power of speech have largely been common among Non-European people. Nonetheless, if we look at people who have developed the least stratified political organization, we witness that broad notions as mentioned above are not ubiquitous.
2.4. Contemporary rhetoric and culture among the !Kung Lorna Marshall has extensively described the “habits of talking” among the !Kung of South Africa (1961, 231). “The !Kung are the most loquacious people I know,” she says
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil (1961, 232), and Lee (1979, 372) confirms, that “they may be among the most talkative people in the world.” But the !Kung do not cultivate public speech, they rather talk extensively among themselves, most often at the evening when they sit around the campfire: “Conversation in a !Kung werf is a constant sound like the sound of a brook, and as low and lapping, except for shrieks of laughter. People cluster together in little groups during the day, talking, perhaps making artifacts at the same time. At night families talk late by their fires, or visit at other family fires with their children between their knees or in their arms if the wind is cold” (Marshall 1961, 232). Even though they intimately live together, they always have enough topics to converse on. They like to speak repetitiously and in detailed ways about food (“the subject they talk about most often”), gift exchange, visiting friends or relatives, or hunting. “[The men] converse musingly, as though enjoying a sort of day-dream together, about past hunts, telling over and over where game was found and who killed it. They wonder where the game is at present and say what fat bucks they hope to kill” (1961, 232). Talk is highly dialogical and informal (1961, 233). Allegations are not uttered directly but rather in a sort of trance-like, soliloquizing chant uttered in the presence of the addressee. Reproaches, thus, are not made directly, and Marshall (1961, 235) says that for the auditors it is like participating in one’s dreams. This habit leads to the fact that the !Kung are well-informed about the emotional state of those who live with them, and this is, according to Marshall, what prevents conflicts. This kind of speech leads to the avoidance of social disharmony (1961, 246). Lee (1979, 372) attests that conflicts are raised only indirectly. Community, in general, is organized through talk. Even though talk is the basic human instrument to shape community, rhetoric as public, monologizing speech is not well received. On the contrary, all ambition to position oneself into the centre of the group is repudiated, particularly if the person in question has achieved prestige, e. g. through hunting skills. In particular, the !Kung very strongly reject all attempts of or even possibilities for individuals to acquire prominence. When men return from a successful hunt, the others will do everything to prevent the hunter from building up an arrogant self-image. As /Xai/xai, one of Richard Lee’s informants puts it: “When a young man kills much meat, he comes to think of himself as a chief or a big man, and he thinks of the rest of us as his servants or inferiors. We can’t accept this. We refuse one who boasts, for someday his pride will make him kill somebody. So we always speak of his meat as worthless. In this way we cool his heart and make him gentle” (Lee 2003, 52). Thus, we can see, that in the egalitarian society of the !Kung (Lee 1979, 343 f.), rhetoric is only tolerated when it is dialogical, harmonious, and when it reinforces the egalitarian ethos of the group.
2.5. Contemporary rhetoric and culture among the Xavante The above description also holds true for the Xavante of Central Brazil as described by Laura Graham (1995). Political decisions among the Xavante are taken in the village council (wara˜) that Graham describes as an extremely polyphonic event. It is constituted by a number of speaking voices that overlap and displace the individual from any power to influence. “In the wara˜ many people talk at the same time; there are no podiums, no
68. Rhetoric and culture in Non-European societies spotlights, and no public announcement systems. Moreover, men avoid looking at whoever is addressing the group; most lie on their backs staring up at the sky” (Graham 1995, 152). The village council is opened by one of the local leading figures with words that can be agreed on by most of those who are present (the men). With the length of his speech, an increasing number of comments is chipped in. “Their increasingly frequent comments obscure the initiator’s voice, and as others become involved he sits down. His voice is absorbed in the voices of multiple speakers. This blending of voices signifies the fact that as an individual, he has no special power or authority to sway the decisionmaking process. He is a facilitator who begins discussions in which all men may participate” (Graham 1995, 151). Though the wara˜ serves as a forum for politics, it can not be compared to the Roman forum or the Athenan agora: “In the wara˜, then, the locus of political action resides in emergent social interaction, not in a single agent as in the idealized model of Western democratic tradition. The discursive interaction between senior males in the wara˜ blurs the boundary between voice and individual subjectivity, fuses individual perspectives, and erases the boundaries between an orator’s speech and the speech of others” (Graham 1995, 166). Concerning formal features of the council talk, Graham speaks of a continuum between speaking and chanting. Through the many comments that the main speaker works into his speech in a rhythmic way, and through the special lexical choices, parallel schemes and intonational patterns, the wara˜ speech gets a chant-like character. “When orating, a man remains very much in tune with other wara˜ participants’ responses and regularly incorporates the comments of those around him, often word for word, into his speech. A skilled speaker who is paying close attention to others’ remarks may be able to integrate them while still maintaining the rhythm of his delivery” (Graham 1995, 154). There is only a slight difference between speaker and listeners, since most of the audience actively participate in the council discourse. This also means that at any moment of the council, there are multiple speakers engaged in the talk. “In this way, multiple speakers become collaborators, or co-performers, in the evolution of the discourse itself” (Graham 1995, 158). The result is a constant murmuring that is sometimes amplified by the habit of the speakers to cover their mouths while speaking or commenting. Neither voices nor utterances can be clearly distinguished (Graham 1995, 157). In this way, the Xavante take decisions in their council. “Xavante decision making takes place as multiple speakers simultaneously state and restate their positions until consensus is reached” (Graham 1995, 159). “In the wara˜, the physical and acoustic features of performance effectively dissociate individual speakers from their utterances. […] A speaker thus represents discourse as an extra-individual production to promote cohesiveness among the members of a faction. […] Simultaneously, the organization of speech blends the voices of members of opposed factions to counteract the centrifugal forces of factionalism, reinforcing egalitarian relations among senior males and holding the community together” (Graham 1995, 166). In the council, the individual identity of the speaker is played down and his responsibility to act as a representative for his group is emphasized (Graham 1995, 151 f.). If someone rises to raise a subject, and begins to speak in a louder voice, the comments of others immediately obscure his speech. Though he might acquire prominence in standing upright, he reduces the degree of imposition created by his outstanding position in staring at the horizon and not at the audience that sits or lies on the ground around him (Graham 1995, 152).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Intentionality and meaning, among the Xavante, are created and interpreted as intersubjective and contextual achievements. The speakers, as Graham (1995, 165) tells us, do not take responsibility for the speeches they deliver in the wara˜. On the contrary, they play down their roles in it. In general, they do not speak about the speeches that they or other participants make in the council; since it would be considered pretentious to say that one surveys and fully understands what is going on in the wara˜ (Graham 1995, 165). Through the patterns of performance, the multivocality of utterances, the anonymization of voices, the discourse as a whole is dissociated from individual intentions. “The organization of speech in the men’s council counteracts the centrifugal forces of Xavante factionalism, forces that constantly threaten to rend a village. […] Xavante harness their expressive resources to create a balance between factions and to counterbalance the omnipresent tendency toward fission” (Graham 1995, 149). Among the Xavante there is a constant tension between individualism and social pressure. But the formal speech situation minimizes the focus on the individual. Speakers speak only if they have support of their groups. “Speaking itself demonstrates both a man’s confidence and the support of his political faction” (Graham 1995, 150). But the fact that one speaks at all contributes to the individual prestige of the orator, since eloquence is a sign of prestige and authority (Graham 1995, 149). If an ambitious individual wants to become one of the village leaders, he must speak in the council in order to gain prominence. But while speaking in the wara˜, he is subject to its speech patterns. “Those who are more adept are more fully socialized and, being more adept, tend to speak more frequently, opening possibilities to acquire still greater eloquence and greater prestige. Consequently, by controlling the discursive resources of wara˜ debate, those who are more fully socialized actively define and reproduce relations of domination” (Graham 1995, 150). To become a leader, one must be recognized as somebody who advocates the interests of the community as a whole. Only if one has proven this quality, one might come back to follow one’s individual interests. The polyphonic procedure of the wara˜, then, can be interpreted as an egalitarian securing mechanism against ambitions for power of individual people. Being exposed to the speech patterns in the wara˜, individuals can express their ideas and interests only under the major influence of the group. Thus, the meaning of an utterance is not a copy of its author’s intentions, but rather a result of an intensive interaction between speaker, listeners and context (Graham 1995, 141).
2.6. Rhetoric and culture among the Kwakiutl and the Ojibwa In contrast to both the !Kung and the Xavante, the Kwakiutl, hunter-gatherers of the North American west coast, developed traditions of great oratory. They composed and admired great speeches. The Kwakiutl, renowned through Benedict (1934) for their “hyperbolic character”, do not omit boasting speeches as a possibility of skilful expression: “Kwakiutl nobles made self-glorifying speeches and tried to outdo each other in the giving and even destruction of property, and so Benedict chose the Northwest Coast as one of her examples of cultures dominated by a single idea, portraying the Kwakiutl as paranoid megalomaniacs” (Suttles/Jonaitis 1990, 86). Benedict herself affirms: “The object of all Kwakiutl enterprise was to show one-self superior to one’s rival. This will to superiority they exhibited in the most uninhibited fashion. It found expression in uncen-
68. Rhetoric and culture in Non-European societies sored self-glorification and ridicule of all comers” (1989, 190). For Benedict, the longing of the chiefs for superiority is a basic feature of Kwakiutl culture. One example of boasting speeches of Kwakiutl chiefs is the Feast Song of the Chief of the Ha?nalenaˆ-Kwakiutl: “I am the great chief who makes people ashamed. I am the great chief who makes people ashamed. / Our chief brings shame to the faces. / Our chief brings jealousy to the faces. Our chief makes people cover their faces / by what he is doing in this world // all the time, from the beginning to the end of the year, giving again and again oil feasts / to all the tribes, a¯waˆ, a¯waˆ! I am the great chief who vanquishes, ha, ha! I am the great chief who vanquishes, / for this true chief tried to go around the world giving feasts, to raise the rank of this prince. Oh, go on // as you have done before! Only at those who continue to turn around in this world, / working hard, losing their tails (like salmon) I sneer, at the chiefs under / the true chief. Have mercy on them! Put oil on their / dry heads with brittle hair, those who do not comb their hair! I sneer / at the chiefs under the true, real chief, ya waˆ! I am // the great chief who makes people ashamed” (Boas 1921, 1291). Glorifying oneself and flouting the others accompanies each other. Part of this rhetoric is the expression of emotions, particularly of anger, as one way to heighten one’s status. Another group whose members liked to hold boasting speeches were the Ojibwa of central Canda. The traveller Johann Georg Kohl (1808⫺1878) extensively described their boasting speeches in 1855. In rituals that marked the passage from war to peace periods, returned warriors got the opportunity to recount their deeds. Kohl writes: “Another, with a long rattlesnake’s skin round his head, and leaning on his lance, told his story objectively, just as a picture would be described. ‘Once we Ojibbeways set out against the Sioux. We were one hundred. One of ours, a courageous man, a man of the right stamp, impatient for distinction, separated from the others, and crept onward into the enemy’s country. The man discovered a party of the foe, two men, two women, and three children. He crept round them like a wolf, he crawled up to them like a snake, he fell upon them like lightning, cut down the two men, and scalped them. The screaming women and children he seized by the arm, and threw them as prisoners to his friends, who had hastened up at his war yell; and this lightning, this snake, this wolf, this man, my friends, that was ⫺ I. I have spoken!’” (Kohl 1860, 22). Kohl continues: “Each warrior has the right to make himself as big as he can, and no one takes it upon him to interrupt or contradict him. If the narrator, however, is guilty of any deception as regards facts, and the deception is of consequence, any man may get up and contradict him. But this is a rare case, and becomes a very serious matter, for any man convicted of falsehood at the solemnity of a war-dance is ruined for life. A liar can hardly ever regain the confidence of his countrymen. ‘Oui, oui, monsieur,’ [Yes, yes, Sir] an excellent old Canadian Voyageur said to me on this subject, ‘ils sont tous comme c¸a. Etre trop modeste, de se croire faible, ce n’est pas leur faible coˆte´. Chacun d’eux se croit fort et bon. Chacun pense et dit, ‘C’est moi qui ai le plus d’esprit. Je suis le plus courageux de tous.’ [They are all like that. Being too humble, judging themselves weak isn’t their weakness. Everybody among them believes himself to be strong and good. Everybody thinks and says: ‘I am the one with the best understanding. I am the bravest of all’]. Walk through the whole camp, from hut to hut, and every one will say so to you. Yes, if you visit the poorest and last of them ⫺ even if he should be a cripple ⫺ if he can still speak, he will assert that he is ‘sans peur et sans reproche,’ [fearless and blameless] and that he knows no one in camp he will allow superior to himself” (Kohl 1860, 22).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil In Kohl’s account the will for individual independence and social equality of the Ojibwa is expressed. At the same time, the speeches provide an opportunity for the warriors to acquire social prominence in presenting oneself as someone with extraordinary abilities. Many young men are “impatient for distinction”.
3. Conclusion In European history, two factors that favour broad notions of rhetoric could be identified: (1) a democratic political organization; and (2) scepticism towards totalitarian conceptions of truth. Notions of rhetoric and culture as they have been reported from Non-European societies could be detected mainly through a close look at practices of rhetoric, and at the prestigious place rhetoric occupies in these societies. Both factors mentioned above seem to be influential for notions of rhetoric and culture in Non-European societies as well. Yet, it seems that the factor of a democratic political tradition has to be specified. Evidently, a political organization, where debates are to be held in order to make decisions, seems to constitute an important prerogative for wide notions of rhetoric and culture. If there are no necessary debates about decisions that affect the community, rhetoric remains an empty art. But this is only true when two further conditions are fulfilled: (a) when there are political positions to be filled so that ambitious individuals compete for them, and (b) when the respective society in regard to its inner coherence is to a certain degree interdependent and conflicts cannot be solved by fission. Both is not the case, as we have seen, among the !Kung leading to a social rejection of the prominence individuals gain through rhetoric and eloquence. Overly egalitarian societies also do not favour wide notions of rhetoric when they do not have a system of political representation. Totalitarian notions of truth seem to be generally rare in Non-European societies if they are not organized into complex chiefdoms or “primitive states”. Hence, two further conditions seem to be important for a wide conception of rhetoric in Non-European societies. (1) A certain degree of interdependence among the people living together. If they are too loosely integrated, they tend to resolve conflicts not by rhetoric but by fission. In groups, where there is only loose social integration, as it is the case among the !Kung, there is a ban on rhetoric and the accompanying social prominence of speakers. Only by speaking, orators acquire social prominence that is not always desired. (2) Rhetorical competences must bring about social prestige. Rhetorical practices, then, might more concretely aim at qualifying for social positions. Hence, there must be a number of prominent social positions to be filled by achievement rather than by ascription. Furthermore, they have to be more limited in number than the number of members of the group as a whole. That means, social positions must be available
68. Rhetoric and culture in Non-European societies for whoever might want to outdo others in deeds and, particularly, in the account of such deeds. Together with the conditions mentioned above, we can identify four salient factors accounting for broad conceptions of rhetoric and culture: (1) (2) (3) (4)
a relativist notion of truth; a democratic civil organization; a certain degree of social interdependence; social prestige connected to skilful rhetoric, and, possibly, a number of available yet limited social positions for which eloquent individuals might qualify.
Reversely, five factors affect the existence of narrow notions and practices of rhetoric: (1) (2) (3) (4) (4a) (4b) (5)
a totalitarian conception of truth; an absolutist civic organization; no or an overly strong social interdependence; a disapproval of rhetoric because of its power to create individual prominence or the danger of subversion accompanied by it; no social positions available or a bigger number than of members of the societies.
4. Selected bibliography Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München. Benedict, Ruth [1934] (1989): Patterns of culture. Boston. Boas, Franz (1921): Ethnology of the Kwakiutl. Washington. Bressani, Francesco G. [1653] (1898): Breve Relatione d’alcune Missioni de PP. Della Compagnia di Gies nella Nuoua Francia. In: Reuben Thwaites (ed.): The Jesuit Relations and Allied Documents. Travels and Explorations of the Jesuit Missionaries in New France 1610⫺1791. Vol. 38. Cleveland, 203⫺88. Ellis, William (1829): Polynesian Researches. 2 vls. London. Fenton, William Nelson (1998): The Great Law and the Longhouse: a political history of the Iroquois Confederacy. Norman. Graham, Laura (1995): Performing dreams: discourses of immortality among the Xavante of Central Brazil. Austin. Henry, Teuira (1928): Ancient Tahiti. Honolulu. Kohl, Johann Georg (1860): Kitchi-Gami: wanderings round Lake Superior. London. Lafitau, Joseph Franc¸ois (1974/1977): Customs of the American Indians compared with the customs of primitive times: in two volumes. Toronto. Le Ieune, Paul [1633] (1898): Relation de ce qui s’est passe´ en La Nouvelle France, en l’anne´e 1633. In: Reuben Thwaites (ed.): The Jesuit Relations and Allied Documents. Travels and Explorations of the Jesuit Missionaries in New France 1610⫺1791. Vol. 5. Cleveland, 77⫺268. Lee, Richard (1979): The !Kung San: men, women, and work in a foraging society. Cambridge. Lee, Richard (2003): The Dobe Ju’hoansi, 3rd ed. Fort Worth. Leenhardt, Maurice (1979): Do Kamo: person and myth in the Melanesian world. Chicago. Marshall, Lorna (1961): Sharing, Talking, and Giving: Relief of Social Tensions among the !Kung Bushmen. In: Africa 31, 231⫺49.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Moerenhout, Jacques Antoine (1837): Voyages aux ˆıles du Grand Oce´an, contenant des documents nouveaux sur la ge´ographie physique et politique, la langue, la litte´rature, la religion, les mœurs, les usages et les coutumes de leurs habitant; et des conside´rations ge´ne´rales sur leur commerce, leur histoire et leur gouvernement, depuis les temps les plus recule´s jusqu’a` nos jours. 2 vls. Paris. Münzel, Mark (1986): Indianische Oralkultur der Gegenwart. In: Birgit Scharlau/Mark Münzel: Qellqay. Mündliche Kultur und Schrifttradition bei Indianern Lateinamerikas. Frankfurt, 157⫺258. Oliver, Douglas (1974): Ancient Tahitian Society. 3 vls. Honolulu. Rasles, Se´bastien [1723] (1898): Lettre a` Monsieur Son Fre`re. In: Reuben Thwaites (ed.): The Jesuit Relations and Allied Documents. Travels and Explorations of the Jesuit Missionaries in New France 1610⫺1791. Vol. 67. Cleveland, 132⫺229. Suttles, Wayne/A. Jonaitis (1990): History of Research in Ethnology. In: Wayne Suttles (ed.): Handbook of North American Indians. William Sturtevant. Vol. 7. Northwest Coast. Washington, 73⫺87. Vimont, Barthelemy [1645] (1898): Relation de ce qui s’est passe´ en la Novvelle France, e´s anne´es 1644 & 1645. In: Reuben Thwaites (ed.): The Jesuit Relations and Allied Documents. Travels and Explorations of the Jesuit Missionaries in New France 1610⫺1791. Vol. 27. Cleveland, 123⫺306.
Christian Meyer, Bielefeld (Deutschland)
69. Stil und Moral 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Le style c’est … Matter and manner: Das Wie und das Was Sprachkritik und Stilkritik Kommunikative Ethik Stilisierung Literatur (in Auswahl)
Abstract Starting with Buffon’s “Le style c’est l’homme meˆme” [der Stil ist der Mensch selbst] (Discours prononce´ a` l’Acade´mie Franc¸aise le 25 aouˆt 1753, cf. Pickford 1978, 23), there is a long tradition postulating the existence of a deep connection between style and morals. To establish a foundation for this connection, we first must relinquish the distinction between matter and manner and demonstrate that style is, indeed, a part of meaning. A second step is to scan so-called language criticism and filter out those aspects which are more or less associated with problems of morals. Our paramount aim is to develop and establish morals of communication based on Gricean maxims. Here, in a variety of disguises lies the central issue. We conclude by showing that style is not inherent in texts but constructed within communication. Hence, the communicating partners are responsible for the construction of style and moral conduct.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Moerenhout, Jacques Antoine (1837): Voyages aux ˆıles du Grand Oce´an, contenant des documents nouveaux sur la ge´ographie physique et politique, la langue, la litte´rature, la religion, les mœurs, les usages et les coutumes de leurs habitant; et des conside´rations ge´ne´rales sur leur commerce, leur histoire et leur gouvernement, depuis les temps les plus recule´s jusqu’a` nos jours. 2 vls. Paris. Münzel, Mark (1986): Indianische Oralkultur der Gegenwart. In: Birgit Scharlau/Mark Münzel: Qellqay. Mündliche Kultur und Schrifttradition bei Indianern Lateinamerikas. Frankfurt, 157⫺258. Oliver, Douglas (1974): Ancient Tahitian Society. 3 vls. Honolulu. Rasles, Se´bastien [1723] (1898): Lettre a` Monsieur Son Fre`re. In: Reuben Thwaites (ed.): The Jesuit Relations and Allied Documents. Travels and Explorations of the Jesuit Missionaries in New France 1610⫺1791. Vol. 67. Cleveland, 132⫺229. Suttles, Wayne/A. Jonaitis (1990): History of Research in Ethnology. In: Wayne Suttles (ed.): Handbook of North American Indians. William Sturtevant. Vol. 7. Northwest Coast. Washington, 73⫺87. Vimont, Barthelemy [1645] (1898): Relation de ce qui s’est passe´ en la Novvelle France, e´s anne´es 1644 & 1645. In: Reuben Thwaites (ed.): The Jesuit Relations and Allied Documents. Travels and Explorations of the Jesuit Missionaries in New France 1610⫺1791. Vol. 27. Cleveland, 123⫺306.
Christian Meyer, Bielefeld (Deutschland)
69. Stil und Moral 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Le style c’est … Matter and manner: Das Wie und das Was Sprachkritik und Stilkritik Kommunikative Ethik Stilisierung Literatur (in Auswahl)
Abstract Starting with Buffon’s “Le style c’est l’homme meˆme” [der Stil ist der Mensch selbst] (Discours prononce´ a` l’Acade´mie Franc¸aise le 25 aouˆt 1753, cf. Pickford 1978, 23), there is a long tradition postulating the existence of a deep connection between style and morals. To establish a foundation for this connection, we first must relinquish the distinction between matter and manner and demonstrate that style is, indeed, a part of meaning. A second step is to scan so-called language criticism and filter out those aspects which are more or less associated with problems of morals. Our paramount aim is to develop and establish morals of communication based on Gricean maxims. Here, in a variety of disguises lies the central issue. We conclude by showing that style is not inherent in texts but constructed within communication. Hence, the communicating partners are responsible for the construction of style and moral conduct.
69. Stil und Moral
1. Le style cest Es gibt eine lange abendländische Tradition, einen engen Zusammenhang zu sehen zwischen Stil und Person, den Stil, den jemand schreibt, als Teil seiner Person zu verstehen. „Le style c’est l’homme meˆme.“ Dies ist die oft so zitierte Formulierung, die Buffon der Ansicht 1753 in seiner Antrittsrede vor der Acade´mie Franc¸aise gegeben hat: […] si les Ouvrages qui les contiennent ne roulent que sur de petits objets, s’ils sont e´crits sans gouˆt, sans noblesse & sans ge´nie, ils pe´riront, parce que les connoissances, les faits & les de´couvertes s’enle`vent aise´ment, se transportent, & gagnent meˆme a` eˆtre mises en oeuvre par des mains plus habiles. Ces choses sont hors de l’homme, le style est l’homme meˆme […] [… wenn die enthaltenen Werke nur mindere Gegenstände behandeln, wenn sie ohne Geschmack, Würde und Genie geschrieben sind, werden sie vergehen, weil die Erkenntnisse, Fakten und Entdeckungen sich verflüchtigen, sich übertragen und durch geschicktere Hände realisiert werden. Dies alles bleibt außerhalb, der Stil ist der Mensch selbst …] (Discours prononce´ a` l’Acade´mie Franc¸aise le 25 aouˆt 1753, cf. Pickford 1978, 23)
So kontextlos, wie der Ausspruch verwendet wird, lässt er allerdings Raum für Ausdeutungen und gestattet so den verschiedensten Ansätzen, ihn als Slogan oder Fahnenwort für sich zu reklamieren. Für Buffon ging es weniger um eine moralische Beurteilung als vielmehr ganz im Zuge der clarte´ um den Zusammenhang von klarem Denken und klarem Schreiben (der übrigens bis auf Horaz zurückgeht: „Scribendi recte sapere est et principium et fons“ [Gut schreiben können ist Anfang und Grund]; Horaz 1989, v. 309, cf. Beutin 1976, 18). Denn: […] bien e´crire, c’est tout a` la fois bien penser. [… gut schreiben heißt gut denken zugleich] (Pickford 1978, XV) To Buffon, as we have seen, a pervasive, absolute clarity was the dominant factor. The impact of a style was identical with the impact of the writer’s mind. Style was not a manner of arranging words, but a manner of thinking, a vision of things. (Fellows/Milliken 1972, 169)
Und es ging Buffon um das reflektierte Schreiben. Denn, so wird resümiert: „Spontaneity is always a vice“ (Fellows/Milliken 1972, 151). Die Idee, dass am Stil die Qualität des Denkens zu erkennen sei, ist hinwiederum alt. Wir finden sie schon bei Horaz und oft später, besonders pointiert ausgedrückt bei Schopenhauer: Der Stil ist die Physiognomie des Geistes. […] Fremden Stil nachahmen heißt eine Maske tragen. (Schopenhauer [1851] 1972, 281)
Dieser Gedanke findet sich also durchaus auch in kritischer Wende und später oft didaktisch gewendet, dass nämlich Stil nicht nur Ausdruck der Gedanken sei, sondern dass durch gutes Schreiben auch das Denken geschult werde. Den Stil verbessern ⫺ das heisst den Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter! (Nietzsche 1886, § 131)
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Während es in der Buffon-Tradition darum ging, preisend die großen Könner und Geister zu ehren, könnte eine andere Tradition eher kritisch orientiert sein. Diese Tradition ist verbunden mit dem „Sprich, dass ich dich sehe!“, das Sokrates jeweils zu Neuankömmlingen gesagt haben soll. Hier wäre dann eher ein ganzheitlicher Aspekt im Blickfeld, da es ja nicht nur um Stil ginge. Allerdings wurde Sokrates’ Spruch weitgehend trivialisiert und dient heute eher der Werbung für Sprecherziehung. Gewöhnlich wird Buffon als Beginn einer radikalen Auffassung vom Individualstil, dem idiotischen Stil gesehen. So sah man im frühen 19. Jahrhundert im Stil einen direkten Abdruck des Individuums, sein sprachliches Spiegelbild. Für Hegel ist der Stil „überhaupt die Eigenthümlichkeit des Subjekts, welche sich in seiner Ausdrucksweise, der Art seiner Wendungen u. s. f. vollständig zu erkennen giebt“ (Hegel 1964, 394). Selbstverständlich kann man unter den vielfältigen Buffon-Rezeptionen auch eine etablieren, die einen detaillierteren Zusammenhang des Stils mit einer Persönlichkeit herstellt. Eine solche Konzeption kann sich nicht begnügen mit rhetorisch orientierten Stilniveaus oder mit globalen Stilbeschreibungen wie emphatischer Stil, bürokratischer Stil, aggressiver Stil oder kooperativer Stil. Der Stil eines Menschen oder eines Textes ist eine detaillierte Ganzheit und kommunikativ wirksam: ,Style‘ refers to the meaningful deployment of language variation in written and spoken discourse, to the particular way that discourse is formed and structured and that is interpreted by recipients as socially and interactionally relevant. […] In contrast to other kinds of language variations, such as dialects, sociolects, registers etc., styles are not conceived of as uni-directionally determined by extralinguistic and/ or contextual factors but as meaningful choices made in order to achieve particular effects or to suggest particular interpretations. (Selting 1999, 1)
Mit einer solchen Auffassung wird Stil als intentionales und verantwortliches Handeln auch moralisch beurteilbar. Stil ist nicht mehr Privatsache, vielmehr kann ein Autor für seinen Stil verantwortlich gemacht werden. Zugleich kommt über den kommunikativen Effekt auch der Rezipient in den Blick. Nicht mehr der Sprecher allein erzeugt den Stil, der Rezipient gewinnt einen wesentlichen Part. Allerdings scheint der hier propagierte Stilbegriff doch etwas weit. Denn es gehört zur normalen Verwendung des Wortes Stil, dass damit etwas Typisches, vielleicht auch Wiederkehrendes gemeint ist. Stil basiert auf Distinktion und Betonung. Aus den unüberschaubar vielen Merkmalen der Rede eines Menschen oder auch nur einer Rede eines Menschen wird selektiv und ganzheitsorientiert etwas gemacht, was dann der Stil von X ist. Bestimmte Elemente werden hervorgehoben, dadurch treten andere in den Hintergrund. Da stellen sich vor allem zwei methodische Fragen: (1) Was wird selegiert und nach welchen Kriterien? (2) Wie kommt es zu der Ganzheit und ihrem ,Label‘? Selegiert wird nach dem Typischen. Was aber ist typisch für ein Individuum? Es sind in erster Linie Auffälligkeiten, die auf Frequenz basieren: infrequente oder überfrequente Wortverwendungen, neue Wortbildungen, syntaktische Strukturen usw. Dieses Kriterium mag intuitiv angewendet werden oder statistisch auf einer Datenbasis. Es scheint das
69. Stil und Moral einzig verlässliche Kriterium. Alle anderen sind bereits Deutungen. Mit der Deutung wird ein Stil zu einer Ganzheit, sozusagen ein passendes stringentes Bild, eine kohärente Konstruktion. Der persönliche Stil wird weitgehend als Sache des Individuums angesehen. Da er aber kommunikativ ist und in Kommunikation erzeugt wird, ist er öffentlich. Somit bleibt die Kreation des Stils auch Sache des Rezipienten und sogar des Analysierenden (Fiehler 1997, 348). Die Ganzheit ist immer ein Konstrukt. Und damit kommen auch die Konstrukteure in die moralische Verantwortung.
2. Matter and manner: Das Wie und das Was Stil betrifft die Art und Weise, wie etwas ausgeführt oder gesagt wird. Mit dieser Bestimmung ist eine schwer haltbare Trennung eingeführt: das Etwas und der Stil. So wäre ein Schwimmstil die mehr oder weniger festgelegte Art und Weise, wie jemand schwimmt, ein Lebensstil, wie man lebt, ein Schreibstil, wie man schreibt. Und das Etwas? Beim Schwimmstil sollte es wohl das Schwimmen sein. Dies aber ist nur ein Oberbegriff. Kraulschwimmen ist ein spezifisches Schwimmen. Doch Kraulen ist tatsächlich etwas anderes als Delphin. Es gibt hier kein gleiches Etwas. Eine Art mag schneller, schwieriger, kraftaufwendiger sein als die andere. Wenn ich kraule, schwimme ich zwar, aber ich tue etwas anderes, als wenn ich brustschwimme. Ein anderes Was. Stil basiert auf Alternativen, so eine gängige Ansicht, die schwer von der Hand zu weisen ist. Stilistische Eigenheiten wird man durch Darstellung alternativer Formulierungen sichtbar machen. Aber gewisse Folgerungen hieraus und Zuhilfenahmen sprachtheoretischer Grundsätze sind schwer haltbar: Der Stil eines Textes basiere darauf, dass man das Gleiche auf unterschiedliche Weise ausdrücken könne und der Autor eben diese oder jene Alternative gewählt habe. Dies bestimme seinen Stil. Stil ist demnach das Resultat der Auswahl aus synonymen Sprachmitteln (Enkvist 1973). Diese Räsonnements verstecken sich unterschiedlich. Sie kommen in anderer Formulierung auch in der Idee daher, sprachliche Formulierung sei das Kleid des Gedanken, die wohl zurückgeht auf Quintilian und in der Geschichte immer wieder aufgegriffen wird. So auch beim noch fundamentalistischen Wittgenstein, der meinte, „dass man nach der äußeren Form des Kleides nicht auf die Form des bekleideten Gedanken schließen kann“ (Wittgenstein 1969, 4.002). Und letztlich ist es schwer hinterfragbares Alltagswissen, dass man das Gleiche auf unterschiedliche Art und Weise sagen könne: schroff oder höflich, gewählt oder vulgär usw. Bally (1951) etwa setzt das Wie mit der expressiven oder affektiven Komponente einer Äußerung gleich: Die ,Ausdruckskraft‘ umfasst für den Stilforscher eine ganze Reihe von sprachlichen Merkmalen, die eins gemeinsam haben: Sie haben keinen direkten Einfluss auf die Bedeutung einer Äußerung, auf die eigentliche Information, die sie vermittelt. Alles, was über die bloße Verweisungs- und Mitteilungsfunktion der Sprache hinausgeht, gehört zum Bereich der Ausdruckskraft: Gefühlsbeiklang, Betonung, Rhythmus, Symmetrie, Wohlklang wie auch die Stilfärbung [the socalled ,evocative‘ elements], die an eine bestimmte Stilebene (gewählt, umgangssprachlich, ordinär usw.) oder an ein bestimmtes Milieu (historisch, ausländisch, provinziell, fachlich usw.) denken lässt. (Ullmann 1972, 114)
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Ähnliche Ansichten finden wir auch in sprachphilosophischen Arbeiten. So unterscheidet Alston in „what is said“ und „how it is said“ (Alston 1964, 48) und entsprechend verschiedene Aspekte der Bedeutung: die cognitive meaning und die emotive meaning, die vor allem mit der Haltung des Sprechers zu tun habe (Alston 1964, 47). Das wird allerdings schon lange mit Skepsis gesehen: […] the more we reflect on it the more doubtful it becomes how far we can talk about different ways of saying; is not each different way of saying in fact the saying of a different thing? (Hough 1969, 4)
Nach der heute weithin akzeptierten Gebrauchstheorie der Bedeutung sind solche scheidenden Annahmen schwer haltbar. A word has a meaning, more or less vague; but the meaning is only to be discovered by observing its use: the use comes first, and the meaning is distilled of it. (Russell 1986, 290) Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.
(Wittgenstein 1969, § 43)
Sprache und Kommunikation werden hier nicht mehr nach dem ontologisierenden Schlichtmodell vorgegebener Dinge und Gedanken gesehen, die sprachlich etikettiert werden und kommunikativ transportiert. Vielmehr wird von einer realitätskonstituierenden Potenz der Sprache ausgegangen, nach der wir die Welt kommunikativ strukturieren und so in gewissem Sinn erzeugen. Damit sind natürlich auch kritische Verfahren obsolet, die darauf abheben, irgendwelche sprachlichen Formulierungen stellten die Wirklichkeit nicht adäquat dar oder man selbst kenne die Wahrheit, der Kritisierte eben nicht. Synonyme Ausdrucksweisen gibt es nicht. Das ergibt sich nicht erst aus der Gebrauchstheorie. Schon Bloomfield meinte: „[…] there are no actual synonyms […] It is a welltried hypothesis of linguistics that formally different utterances always differ in meaning“ (Bloomfield 1933, 145). Und in der logischen Semantik wurde gezeigt, dass sich zwei beliebige Konzepte selbst in einer rein extensionalen Analyse in ihrer Bedeutung unterscheiden (Goodman 1949). Vorgängige Differenzierungen in Aspekte der Bedeutung sind schwer zu rechtfertigen. Eine Unterscheidung in eigentliche Information und der Rest ist nicht haltbar. Der Gebrauch eines Wortes umfasst alle Nuancen bis hin zu Wortspielen, Assoziationen, Emotionalem und metasprachlichen Verwendungen. „Style is a part of meaning“ (Hough 1969, 8). Eine andere verbreitete und stillschweigende Grundannahme vieler Stilistiken ist, Sprache sei ein Medium. So wird dann oft unterschieden nach der Logik der Sache einerseits und der Logik der Sprache andrerseits und öfter wird die Sachlogik auch als Beurteilungsmaßstab des Stils angeführt. Schlechter Stil sei Inadäquatheit von Sprache und Sache oder aber lasse die Sache schlecht erscheinen (Arntzen 1964, 100). Diese Ansicht ist zwar weit verbreitet, aber nach vielen Sprachtheorien so nicht haltbar (Rorty 1989; Bickes 1995). „[…] wenn davon ausgegangen wird, dass sich der Sachverhalt durch die Art und Weise, wie über ihn gesprochen wird, als bestimmter Sachverhalt konstituiert, dann ist es nicht nur eine ,stilistische Alternative‘, wie man über ihn spricht, sondern dann ist es eine Frage nach dem Sachverhalt selbst“ (Saße 1977, 108). Die Orientierung an der Sache würde der moralischen Beurteilung im Übrigen einiges von ihrer Brisanz nehmen.
69. Stil und Moral
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Für eine moralische Betrachtung taugt eher ein ganzheitlicher Ansatz, der wie Flaubert (1980, 31) den Stil als etwas Konstitutives ansieht: „Le style e´tant a` lui seul une manie`re absolue de voir les choses.“ [Der Stil ist in sich selbst eine absolute Weise, die Dinge zu sehen] So wird die Unterscheidung von Was und Wie obsolet: Stil umfasst gewisse charakteristische Züge sowohl dessen, was gesagt wird, als auch die Art, wie es gesagt wird. (Goodman 1984, 42)
Aber auch hier gilt wie schon in der ersten Definition: Zu sagen, Stil sei eine Sache des Sujets, ist […] ungenau und irreführend. Vielmehr zählen nur einige Merkmale des Gesagten zu den Aspekten des Stils; nur gewisse charakterisierende Unterschiede in dem, was gesagt wird, machen Unterschiede im Stil aus. (Goodman 1984, 42)
3. Sprachkritik und Stilkritik Eine Voraussetzung für die Betrachtung des Stils unter moralischem Gesichtspunkt ist der kritische Umgang mit sprachlichen Äußerungen. Sprachkritik pauschal gesehen hat eine lange Tradition. Sie ist verbunden mit Namen wie Leibniz, Schopenhauer, Jochmann, Nietzsche, Mauthner, Kraus und vielen anderen, die in eine Geschichte der Sprachkritik gehören (eine Auflistung von Kandidaten in Cherubim 1983, 180; eine historische Darstellung in Beutin 1976, Kap II; eine Dokumentation einschlägiger Texte in Dieckmann 1989). In dieser Tradition wurde lange nicht differenziert, ob man tatsächlich eine Sprache, ,die systematische Irreführung durch eine Sprache‘ kritisieren wollte (was im Grunde gar nicht geht) oder ob es um einzelne Äußerungen und um die äußernde Person gehen sollte. In diesem Sinn sind Typen der Sprachverführung, die Kainz in seiner wenig rezipierten Tafel zusammenstellt, auch ambivalent: Wortrealismus, unangemessene Zusammengriffe, Synonymik, Polysemie, Metaphorik, Idola fori, Leerformeln, Glossomorphien, Wortlösungen, Verführung durch Allusionen und Assoziationen, euphemistische Tendenzen, Maskierung von Un- und Widersinn (Kainz 1972, 20). Das Wort Sprache wird umgangsprachlich vage verwendet, so dass in theoretischer Betrachtung eine genauere Differenzierung nötig wird. Und so entpuppt sich, was unter einem Etikett gehandelt wird, als bunte Palette recht verschiedener Ansätze und Tätigkeiten. Genauere und
realisiert
potentiell funktional
individuell
sozial Abb. 69.1.
SPRACHVERWENDUNG SPRACHVERKEHR
institutionell
SPRACHKOMPETENZ SPRACHSYSTEM
deskriptiv
präskriptiv
SPRACHBRAUCH
SPRACHNORM
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil theoretisch begründete Unterscheidungen hat v. Polenz eingeführt (v. Polenz 1973; auch Beutin 1976, 14). ⫺ Kritik von Sprachverwendungen befasst sich mit sprachlichen Realisierungen von Individuen in bestimmten Situationen, etwa in Sprachlehre oder Stillehre. ⫺ Kritik des Sprachverkehrs befasst sich mit Sprachverwendungen einer bestimmten Gruppe, auch mit Jargon. ⫺ Kritik von Sprachkompetenzen befasst sich mit der Kompetenz, mit den Fähigkeiten einer Person. ⫺ Kritik des Sprachsystems wird zweigeteilt in Kritik der generellen sprachlichen Anlagen und Möglichkeiten des Menschen und der Kritik einer spezifischen Sprache. ⫺ Kritik des Sprachbrauchs soll sich mit dem sozusagen üblichen oder normalen Gebrauch des abstrakten Sprachsystems befassen. ⫺ Kritik von Sprachnormen behandelt präskriptive Phänomene, gesetzte Sprachnormen also, und unterzieht sie einer kritischen Analyse mit dem Ziel, ungerechtfertigte Sprachnormensetzung als solche zu erweisen.
Von Stilkritik sollten wir demnach nur sprechen, wenn es um den Bereich des Individuellen geht, also um Sprachverwendung und Sprachkompetenz. Stilkritik ist bezogen auf die etische Ebene, im Gegensatz zu einer Sprachkritik, die sich auf die emische Ebene bezieht. Außerdem geht es in diesem Zusammenhang nicht um jene Ansätze, die rein sprachimmanent kritisieren, nach irgendwelchen sprachlichen Normen oder mit dem Ziel einer Verbesserung der stilistischen Fähigkeiten. Als ein Muster für eine Kritik mit externer Zielsetzung kann die Sprachkritik oder besser Stilkritik von Karl Kraus gesehen werden, die beispielhaft in seinen Aufsätzen zur Sprachlehre festgehalten ist. Kraus hat seine Stilkritik stets unter moralischem Gesichtspunkt präsentiert. Er propagiert keine Ziele, seine Methode besteht vielmehr in der Vorführung der stilkritischen Tätigkeit, sozusagen exemplarisch als geistige Übung für andere. Sie wirkt damit eher aphoristisch und unsystematisch, bisweilen satirisch. Sein Fokus lag vor allem auf der Presse und hier besonders auf den Phrasen mit dem Ziel einer „Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes“ (Kraus in: Die Fackel Band 1, Heft 1, 2). In Phrasen erkennen wir besonders deutlich das Missverhältnis zwischen Sein und Schein. Die Entschleierung der Phrase sollte der medialen Verschleierung entgegenstehen. Hier ging Kraus weit: Wenn die Menschheit keine Phrasen hätte, brauchte sie keine Waffen.
(Kraus 1921, 227)
Selbstverständlich war Kraus überzeugt, dass es hier nicht um äußerliche sprachliche Angelegenheiten ging: „Sprechen und Denken sind eins“ (Kraus in: Die Fackel Band 9, Heft 136, 23). Ihm ging es um den Schwachsinn der Gedankenführung und um die Lumperei der Gesinnung. Stilistische Vorzüge sah er als Maßstab ethischer Werte. Kraus wird als Moralist angesehen und er war einer: Alle Vorzüge einer Sprache wurzeln in der Moral. Sie wird deutlich, wenn der Sprecher wahrhaftig sein will, klar, wenn er mit Wohlwollen und dem Wunsche spricht, verstanden zu werden, kraftvoll, wenn er ernst ist, anmutig, wenn er Sinn für Rhythmus und Ordnung besitzt. (Kraus 1921, 246)
69. Stil und Moral Der Kraus’sche Ansatz ist kritikwürdig in zweierlei Hinsicht: (1) Sprachliche Analyse und Stilkritik haben das Ziel zu ermitteln, sie suchen das Verräterische im Sprachgebrauch von Individuen, um etwas über sie herauszubekommen, was die Individuen vielleicht gar nicht sagen wollten. Der Ansatz ähnelt einem weit verbreiteten Schnüffel-Interesse an nonverbaler Kommunikation. Somit kann dieser Ansatz nicht als echt kommunikativ gelten. (2) Gesucht werden in diesem Ansatz sprachliche Schlampereien, Schludereien, Fehler und dergleichen. Unfähigkeit ist allerdings moralisch nicht verwerflich. So wird denn auch der Zusammenhang von Stil und Moral nur postuliert und nicht weiter begründet. Insofern wirken die Kraus’schen Moralurteile oft überzogen. Moralisch verantwortlich ist jemand nur, wenn er anders gekonnt hätte. Kommunikativ verantwortlich ist man nur für das, was man sagen wollte, und vielleicht noch für das, was man gesagt hat. Wenn zum Stil nur gehören soll, was willentlich und bewusst zum Ausdruck gebracht wird (Bally 1951, 19), so wären hierfür anwendbare Kriterien zu entwickeln. Für eine moralisch orientierte Stilkritik ist es unerlässlich, zu unterscheiden zwischen dem, was nur zum Ausdruck kommt, und dem, was sozusagen intentional zum Ausdruck gebracht wird (Keller 1977). Diese Unterscheidung muss jeder moralischen Beurteilung zugrunde gelegt werden. Denn nur, was intentional zum Ausdruck gebracht wird, unterliegt moralischem Urteil. Soll, was zum Ausdruck kommt, beurteilt werden, so muss man verlangen, dass Sprecher den entsprechenden Grad von Bewusstheit und Reflexion erfüllen. Das dürfte in beliebiger Tiefe eine unbillige Forderung sein. Wir alle folgen zum Beispiel Moden, ohne uns dessen so recht bewusst zu sein. Wir alle pflegen einen zeitbedingten Sprachgebrauch sozusagen als Default, auf dem wir unsere bewussten Stilisierungen aufbauen. Üblich ist in der Stilkritik die Kritik an der Verwendung bestimmter Wörter. So natürlich die puristische Inkriminierung sog. Fremdwörter, aber auch von Wörtern aus bestimmten Gruppensprachen oder Kritik an bestimmten Verwendungen solcher Wörter, die dann gern als unmenschlich oder böse gebrandmarkt werden. Die diversen Wörterbücher des Unmenschen oder Gutmensch-Unmenschen (Sternberger/Storz/Süskind 1970; Jogschies 1987) gerieren sich moralisch, sind aber letztlich selbst problematisch. Besonders wenn versucht wird, solche Wörter zu einer Art Schibboleth zu machen, an dem man gleich die Zugehörigkeit und die Unmenschlichkeit des Sprechers erkenne. Eine ergiebige Spielwiese sind Euphemismen wie freisetzen, Reichskristallnacht, Sonderbehandlung, Nachrüstung, Preisauftrieb, Nullwachstum, der Krieg bricht aus. Hier wird ein Zusammenhang mit Täuschung hergestellt, da wäre eine Art von moralischem Urteil wohl möglich. Allerdings sind solche Kritiker meist einer Fehlanalyse aufgesessen. Sie gehen offenbar von der essentialistischen These aus, etwas sei sozusagen so und nicht anders zu benennen, ein Sachverhalt so und nicht anders zu formulieren. Sie haben nicht gesehen, dass es sich um eine vielleicht berechtigte, jedenfalls erhellende Sicht der Dinge handelt und dass entscheidend immer das Verständnis des Kommunikationspartners ist. Sollte er der Täuschung tatsächlich aufsitzen, wäre Kritik, eher aber Aufklärung, angebracht. Für Aufgeklärte könnte man geltend machen, was Sternberger über das Reden der Nazis bemerkte:
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Diese verarmte Sprache der rasselnden Aktivität, der Sprache des Erfassens, Einsetzens, Betreuens und Durchführens, der totalen Behandlung und auch der Sonderbehandlung drückte in der Tat ganz haargenau das aus, was sie ausdrücken sollte. (Sternberger/Storz/Süskind 1970, 207).
Ein Fall des Sprich-dass-ich-dich-sehe. Dies gilt analog auch für die erklärten Kakophemismen der Political Correctness. Zum allgemeinen Problem werden solche Euphemismen und Kakophemismen erst, wenn sie ohne Weiteres übernommen, zwangsweise etabliert werden und so vielleicht langsam Realität konstituieren. Dies aber wird in der Regel nicht gezeigt, und zwar weder, was Realität ist, noch, wie Wörter sie bewirken sollten. Im Rahmen der Sprach- oder Stilkritik werden außer bestimmten Äußerungen oder der Verwendung bestimmter Wörter auch wiederkehrende sprachliche Verfahrensweisen kritisiert. Ein Exempel hierfür ist die Agensverschweigung. Dazu eine Darstellung von Beutin (1976, 110). Hier sehen wir, wie der Urheber einer Aktion ins Dunkel getaucht bleiben kann, in einer Zeitungsüberschrift mit Subjektschub: Erhöhen sich die Krankenhaussätze schon wieder? Das Verbum erhöhen trete transitiv auf und reflexiv. Wenn reflexiv, dann jedoch nur zur Bezeichnung der Aktivität eines Menschen. In der Ausblendung des Urhebers liege Methode, wie andere Formen erweisen: Sie sollen um rund 10 Prozent steigen. Erst später die Erwähnung des Verantwortlichen: Der Senat muss den Plänen der Gesundheitsbehörde noch seine Zustimmung geben. Aber selbst hier werde die Verantwortung vornehmlich noch den Plänen zuerkannt, während wiederum die für diese Verantwortlichen zurückgenommen im Genitiv erwähnt sind und der nächst der Gesundheitsbehörde Verantwortliche lediglich deren Plänen seine Zustimmung gebe. In der Tat sei es vor allem die Sprache der Politik, worin die fraglichen Manipulationen im Übermaß gedeihen. Aus Willy Brandts Regierungserklärung (1973): Subjektauslassung Im Zusammenhang mit dem Haushalt 1973 wird über manche Einzelheit unserer Politik im Innern zu sprechen sein.
Täterverschweigung Im Nahen Osten […] schleppt sich noch immer ein Konflikt fort.
Subjektschub Das Werk der europäischen Einigung kann sich nur durch freundschaftliche Verbundenheit der beteiligten Völker vollziehen.
Abstraktion Das Recht auf Geborgenheit und das Recht, frei atmen zu können, muss sich gegen die Maßlosigkeit der technischen Entwicklung behaupten. Die Regelung der staatlichen Beziehungen muss bei der Lösung der menschlichen Probleme helfen, die […]. (Brandt 1973)
69. Stil und Moral Weitere Exempel wären die overte Generalisierung, die zur Stereotypisierung führt, eine Metaphorik, die über ein gängiges metaphorisches Modell über Menschen wie Tiere spricht: Ratten und Schmeißfliegen. All dies ist nicht so glatt als moralisches Problem zu sehen. Diese Konzepte leiden daran, dass man ja davon ausgehen kann, dass die entsprechenden Verfahren in der Sprache vorgesehen sind, also wohl funktional sind. In der realen Kommunikation ist immer der Partner dabei und alles hängt davon ab, wie er die Äußerungen versteht und wertet. Wie weit er zum Komplizen wird, daran teilhat als Rezipient und dann als Sprecher, muss stets begründet werden. Ein Maßstab der Beurteilung, der Verurteilung gar kann erst im Ansatz der kommunikativen Ethik gegeben werden.
4. Kommunikative Ethik Ohne das Verhältnis von allgemeiner Moral und kommunikativer Moral näher zu behandeln, wird man davon ausgehen dürfen, dass sich aus den obersten moralischen Prinzipien auch solche für die Kommunikation ableiten lassen. So: Du darfst alles sagen, es sei denn … Man darf alles sagen, es sei denn …
Dieses Recht wurde formalisiert in der Meinungsfreiheit und die Pünktchen beschäftigen das Verfassungsgericht seit Bestehen der Bundesrepublik. Neben solchen Rechten sollte es aber auch Pflichten geben: Du musst es sagen, wenn …
Diese moralische Forderung wurde zum Beispiel als sog. Parzivalmaxime formuliert (Heringer 1989) und für die öffentliche Kommunikation ausbuchstabiert (Heringer 1990a). Eine frühe Fassung einer kommunikativen Ethik in verbis finden wir in Bülow 1972. Sie vertritt zusammengefasst die folgende Konzeption: Die kommunikationsgerechte Handhabung der sprachlichen Mittel und die Einübung kommunikativer Verhaltensweisen begründen eine kommunikative Ethik, deren Sinn es ist, die Fähigkeit des Menschen zur sinnvollen Rede verantwortungsbewusst und zweckgerichtet zu strukturieren. (Bülow 1972, 16) Die kommunikative Ethik sieht sich also vor einer doppelten Fragestellung. Sie fragt einmal nach bestimmten Werten, für deren Realisierung sie Maßstäbe entwickeln soll, und fragt darüber hinaus nach bestimmten Verhaltensnormen […], auf die die Realisierung dieser Werte angewiesen ist. Diese Verhaltensnormen nennt die traditionelle Ethik ,Tugenden‘. (Bülow 1972, 33) In diesem Sinne wird die kommunikative Ethik zur ,Tugendlehre‘ für den Umgang mit der Sprache. (Bülow 1972, 35)
Die moralische Verantwortung kommt dadurch zustande, „dass der Mensch in seiner Freiheit einfach seine Tugenden wählt und in diesem Sinn dann für seine Wahl verantwortlich ist“ (Bülow 1972, 36). Außerdem folgert Bülow die folgenden Grundsätze, die sich an die sprechenden Individuen richten (Bülow 1972, 42):
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Grundsatz 1: Es ist Pflicht jedes Kommunikationspartners, sich die sprachlichen und kommunikativen Mittel möglichst vollkommen anzueignen und die Wahrhaftigkeit ihres Einsatzes im Kommunikationsprozess zum Zwecke der eigenen Wahrhaftigkeit zu gewährleisten. Grundsatz 2: Der Einsatz sprachlicher und kommunikativer Mittel steht unter dem Gebot der Achtung des Kommunikationspartners, die als ein Grundrecht gegenseitiger Gewährleistung bedarf.
Hier haben wir es mit einer Form der Werteethik zu tun, die letztlich nicht moralisch begründbar ist. Denn schließlich gibt es keinen Maßstab dafür, welche Tugenden ein Individuum wählen soll. Gefordert wäre eine formale Moral, die sich aus der jeweiligen Tätigkeit selbst ergibt, die also diese Tätigkeit begründet. Der Allgemeinheitsgrad von Geboten bzw. Maximen, die das Prädikat ethisch verdienen, muss sich mehr oder weniger messen lassen an der Universalität, die für den Kantischen kategorischen Imperativ (,Handle so, dass die Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz wird.‘) in Anspruch genommen werden kann. (Wimmer 1990, 135)
Eine solche kommunikative Ethik wurde auf den sog. Griceschen Maximen gegründet. (Heringer 1990a; Wimmer 1990) Grice (1975) geht davon aus, dass Kommunikation ein kooperatives Unterfangen ist, bei dem es dem Sprecher darum geht, verstanden zu werden, und dem Partner darum, ihn zu verstehen. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, kommt keine Kommunikation zu Stande. Das Prinzip besagt nicht, dass die Kommunikationspartner über dieses Minimum hinaus kooperieren müssten. In Anlehnung an Kant formuliert Grice das Kooperationsprinzip in vier Maximen aus, die eigentlich keine Forderungen oder gar Normen sind, sondern für jeden einzelnen Kommunikationsteilnehmer gelten, insofern sie die Grundlage menschlicher Kommunikation bilden. Die Maximen greifen reziprok. Darum hat ein Sprecher kaum Chancen, die Maximen zu verletzen, weil der Partner davon ausgeht, dass er sich daran hält, und entsprechend seine Deutung ändert, so dass der Sprecher letztlich nicht oder nicht richtig verstanden würde und somit sich selbst schadet. ⫺ Maximen der Quantität: (1) Make your contribution as informative as is required (for the current purposes of the exchange). (2) Do not make your contribution more informative than is required. ⫺ Maximen der Qualität: Supermaxime: Try to make your contribution one that is true. (1) Do not say what you believe to be false. (2) Do not say that for which you lack adequate evidence. ⫺ Maxime der Relation: Supermaxime: Be relevant. Make your contribution relevant to the aims of the ongoing conversation. ⫺ Maximen der Art und Weise: Supermaxime: Be perspicuous. (1) Avoid obscurity of expression. (2) Avoid ambiguity. (3) Be brief (avoid unnecessary prolixity). (4) Be orderly.
69. Stil und Moral Zur Vertiefung wurden folgende Anschlussfragen formuliert (Wimmer 1990, 138): Informativität: ⫺ Worum geht es in der Kommunikation? ⫺ Was ist der Gegenstand eines Textes, eines Gesprächs? ⫺ Warum sagt oder schreibt jemand dies oder jenes? ⫺ Ist das, was geäußert wird, angemessen? ⫺ Welche Relevanz hat das Geäußerte? Usw. Verständlichkeit: ⫺ Ist eine Äußerung adressatenorientiert und -angemessen? ⫺ Ist die Sprache verständlich? ⫺ Sind die Äußerungsformen dem Verstehen förderlich? ⫺ Ist die Wortwahl angemessen? Usw. Wahrhaftigkeit: ⫺ Meint der Sprecher/Autor, was er sagt/schreibt? ⫺ Wie sind die Formen uneigentlichen Redens aufzufassen? ⫺ Gibt es Anzeichen dafür, dass der Sprecher es nicht ernst meint? ⫺ Stimmen Reden und Handeln überein? Usw.
Eine so begründete Moral würde sich nicht auf irgendwelche äußeren Werte stützen, sondern ganz im Sinne Kants ihre Begründung abstrakt aus dem Sinn des Handelns oder Kommunizierens gewinnen. Verstöße gegen die Maximen wären dann wahrhaft unmoralisch und würden das gesamte Unternehmen der Kommunikation in Frage stellen. Allerdings verhalten sich die Maximen in diesem Sinn unterschiedlich. Gegen die meisten Maximen kann aus erwähnten Gründen schwerlich verstoßen werden. Hingegen sind Verstöße gegen die Qualitätsmaxime frequent. Vor Zeiten schon wurde die Lüge als moralisch verwerflich markiert. Aber: „Das Lügen ist ein Sprachspiel, das gelernt sein will, wie jedes andere“ (Wittgenstein 1969, § 249) und so haben Menschen eine ganze Typologie von Lügen entwickelt (Heringer 1990b). Scheinbare Verstöße gegen die übrigen Maximen sind moralisch nur bedenklich, soweit sie gegen die Qualitätsmaxime verstoßen. Dunkles, vages und prolixes Sprechen ist nur problematisch, soweit es der Täuschung dient und den Rezipienten tatsächlich täuscht. Für die Zwecke der kommunikativen Ethik scheint eine Unterscheidung wichtig nach der Stärke in drei Arten der Lüge (Falkenberg 1982): (A) Starke und schwache Lüge Zentral ist die starke Lüge, in der A behauptet, dass p, und dabei glaubt, dass nicht p. Eine schwache Lüge hingegen liegt vor, wenn A weder glaubt, dass p, noch glaubt, dass nicht p. Man spricht hier auch von blinden Behauptungen. (B) Direkte und indirekte Lüge A sagt die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit. Er legt etwas nur nahe oder er implikatiert etwas (Grice 1975), lügt mit der Wahrheit. Das wäre eine indirekte Lüge. A lügt indirekt gdw (a) A behauptet, dass p, und implikatiert damit, dass q. (b) A glaubt, dass nicht q.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Für die indirekte Lüge ist also nicht mehr das ausschlaggebend, was im strengen Sinn behauptet wurde, sondern was nahe gelegt oder angedeutet wurde. (C) Harte und weiche Lüge Man kann auf der Seite der Glaubenseinstellungen eine Skala ansetzen, die von felsenfester Überzeugung bis zur vagen Vermutung reicht. Demnach könnte man sagen, dass A umso stärker gelogen hat, je stärker seine Glaubenseinstellung war, dass nicht p. Die Frage ist allerdings, wie die Stärke von Glaubenseinstellungen bestimmt werden kann. In diesem Zusammenhang kommen nun auch die anderen Maximen ins Spiel und können im moralischen Urteil greifen. So wird die phrasenhafte wie die vage Rede vordergründig ein Verstoß gegen die Maxime der Art und Weise sein. Allerdings ist Vagheit nichts unbedingt Schlechtes und einen Maßstab der perspicuity gibt es auch nicht. Ähnliches gilt für die agenslose und generalisierende Rede. Alles wird kommunikativ ausgetragen und der Partner wird ja wohl verstehen, was vage gesagt wird, und zwar als vage gesagt. Kritisierbar wird phrasenhafte oder vage Rede erst auf dem Hintergrund der Qualitätsmaxime, auf die letztlich jede moralische Kritik bezogen ist. Une chose des plus embarrassantes qui s’y trouve est d’e´viter le mensonge, et surtout quand on voudrait bien faire accroire une chose fausse. C’est a` quoi sert admirablement notre doctrine des e´quivoques, par laquelle il est permis d’user de termes ambigus en les faisant entendre en un autre sens qu’on ne les entend soi-meˆme […] ⫺ Comment, mon pe`re, et n’estce pas la` un mensonge, et meˆme un parjure? [Ganz schwierig ist es, die Lüge zu vermeiden, vor allem wenn man jemanden von Unwahrheiten überzeugen will. Dazu eignet sich wunderbar die Lehre der Zweideutigkeiten, nach der erlaubt ist, zweideutige Wörter zu verwenden und mit ihnen ein anderes Verständnis zu suggerieren als man sie selbst versteht. ⫺ Ja und, mein Vater, ist das keine Lüge, ein Meineid gar?] (Pascal 1965, 164)
Darum ist auch die öffentlich vertretene Forderung, die Politik müsse vage formulieren, um mehr Wähler zu erreichen und zu überzeugen (Bergsdorf 1985), ein moralischer Skandal. Die Maximen unterliegen nicht irgendwie strategischen Überlegungen. Ein häufig anzutreffendes fundamentales Missverständnis bezüglich des theoretischen Status der Grice’schen Maximen liegt darin, dass man ⫺ vereinfacht gesagt ⫺ meint, hier handele es sich um die Formulierung einiger Kommunikationsregeln, die aus der alltäglichen Gesprächserfahrung abgezogen sind und die mehr taktischen oder auch strategischen Sinn im Bezug auf bestimmte Kommunikationssituationen haben. (Wimmer 1990, 140) Man könnte auf die Idee kommen, dass die Grice’schen Maximen lediglich zu dem Ziel und Zweck gemacht sind, bestimmte Schwächen und Defekte in der alltäglichen Kommunikation anzusprechen und mit möglichen Ratschlägen zu behandeln. (Wimmer 1990, 141)
Ratschläge und Normen haben keinen Bestand. Sie sind selbst Opfer der moralischen Kritik. Dies gilt auch für die Forderungen der Political Correctness, die in die kommunikativen Rechte des Individuums eingreifen. Wie ich Indianer, Neger und Zigeuner bezeichne, wie ich über Frauen und Männer rede, ob ich Personenbezeichnungen generisch verwende oder mich als Meister der Movierung zeige, ist erst einmal meine Sache, was ich dadurch ausdrücke oder zu erkennen gebe, eine andere. Die Political Correctness
69. Stil und Moral würde von mir verlangen, dass ich eine Haltung zum Ausdruck bringen soll, die ich nicht habe. Sie würde mich zum Heucheln verführen oder auffordern. Eine stilkritisch orientierte Moral wird weder Vorschriften noch Ratschläge erteilen. Sie respektiert die Stileigenheiten einer Person, lässt insofern alles, wie es ist. Aber sie urteilt moralisch. Dazu wird es notwendig, in präziser Analyse die stilistischen Eigenheiten zu verfolgen und innere Unstimmigkeiten, Inkohärenzen und Inkonsistenzen zu erkennen. Ein Beispiel aus einer Polemik gegen die Studenten 1970, in der Inkohärenz entdeckt wurde: ,Erstaunlicherweise leben sie aber ohne jedes Geschichtsbewusstsein ⫺ zumindest ohne ein Geschichtsbewusstsein, in dem Begriffe wie Volk, Vaterland oder Nation nicht nur einen abstrakt-logischen, sondern auch einen emotionalen Wert haben, ohne den kein Volk existieren kann.‘ Das Adverb ,zumindest‘ indiziert eine Einschränkung, die den Hauptsatz als ganzen widerlegt, der jegliche Einschränkung geradezu verbot (,ohne jedes‘). Resultat: Selbstdementierung der Falschaussage ,ohne jedes Geschichtsbewusstsein‘; Einsicht, dass die Studenten nur ein bestimmtes gewünschtes nicht hatten. (Beutin 1976, 106)
Diffiziler scheint der folgende Ausschnitt aus einer Weihnachtsansprache eines Bundespräsidenten. Er soll Empathie zum Ausdruck bringen mit den Einsamen im Fest: Ein 43jähriger Mann ist schon lange arbeitslos. Er schreibt mir, er leide am meisten unter der Teilnahmslosigkeit, ja Gefühlskälte um ihn herum. Er verstecke sich vor anderen Menschen, weil sie sich von seinen Sorgen belästigt fühlten und ihre eigenen für viel wichtiger hielten. (Bulletin der Bundesregierung 177, 1565)
Der unpassende Konjunktiv mag auf stilistischer Unfähigkeit beruhen, die Journalistenlehre befolgt, man kann ihn aber auch als Indiz werten dafür, dass die Empathie nur ausgestellt wird. Heuchelei oder Unfähigkeit? Gegenstand des kritischen Urteils ist nicht die äußere Form einer Äußerung, sondern ihr Sinn. Der Sinn aber ist stets latent. Wenn man realisiert, dass in Kommunikation nicht nach dem Transportmodell Information vom Sprecher zum Hörer gelangt, sondern dass vielmehr der Sprecher nur Laute äußert und der Sinn beim Rezipienten entsteht, kommt auch der Rezipient in den Blick. Man erkennt, dass er eine gewisse Verantwortung für sein Verständnis hat. Insbesondere sollte er nach dem Kooperationsprinzip ein gutwilliges Verstehen erproben. Öffentliche Heuchelei wie im Fall Jenninger ist moralisch schwerlich zu akzeptieren (Bucher 1990; Heringer 1990a; v. Polenz 1989): Jenninger hatte im Bundestag die Gedenkrede zur Pogromnacht 1933 gehalten und sich dabei im eingefühlten Stil in die Täter versetzt. Im öffentlichen Sturm der Entrüstung wurde vorgegeben, man oder irgendwer könnte Jenninger so wie ein Dummkopf falsch verstehen oder hätte ihn so wie ein Dummkopf falsch verstanden, wenngleich offenkundig war, wie seine Rede zu verstehen war.
5. Stilisierung In älteren Stilistiken und Stiltheorien erscheint Stil zwar schon als etwas, das man als Individuum lernen und verbessern kann, aber im Großen und Ganzen doch eher wie etwas Vorfindliches. Stile existieren in Texten oder haften Texten irgendwie an. Sie sind
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil nichts, was bewusst gemacht wurde, nichts, wofür ein Autor verantwortlich ist und verantwortlich gemacht werden kann. Der kommunikative Stilisierungsansatz hingegen versteht sich dynamisch. Stil wird gemeinsam von den Kommunikationsteilnehmern geschaffen und in jeder Phase up to date gehalten. Es geht um „die Repräsentation, Induzierung, Inszenierung etc. sozial typisierter und interpretierter Sinnfiguren in der Interaktion“ (Selting/Hinnenkamp 1989, 9). Rather than simply applying pre-fabricated styles, speakers actively construct communicative styles as dynamic, flexible and alter(n)able linguistic structures […]. These styles are constructed and interpreted as contextualization cues in relation to contextual stylistic norms and expectations as well as to fit the recipient design for the particular recipient(s) and their reactions in the context of social interaction. (Selting 1999, 2)
Wesentlich für diesen Ansatz sind also: ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
Stil Stil Stil Stil
ist dynamisch. wird interaktiv hergestellt. wird konstituiert in Interaktion durch Produzent und Rezipient. basiert auf Deutungsschemata.
Sich stilisieren und stilisiert werden sind nicht nur in der medialen Welt und öffentlicher Darstellung relevant. In jedem alltäglichen Gespräch findet Stilisierung statt (Günthner 2002). Schulz von Thun geht davon aus, dass Menschen typischerweise unterschiedlich kommunizieren oder bei verschiedenen Anlässen, mit verschiedenen Partnern unterschiedlich kommunizieren. Er typisiert die Unterschiede und spricht von Kommunikationsstilen und kreiert deren acht (Schulz von Thun 2003): (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8)
Der Der Der Der Der Der Der Der
bedürftig-abhängige Stil helfende Stil selbst-lose Stil aggressiv-entwertende Stil sich beweisende Stil bestimmend-kontrollierende Stil sich distanzierende Stil mitteilungsfreudig-dramatisierende Stil.
Gemäß seiner Grundannahmen geht er davon aus, dass diese Kommunikationsstile neben dem Inhaltsaspekt (dem Was?) einer sog. Nachricht zum Ausdruck kommen. Allerdings scheint dieses Konzept überzogen, wie sich schnell zeigt, wenn man es auf x-beliebige Äußerungen anwenden will. Dann fällt es schwer, die verschiedenen Aspekte zu formulieren. Mindestens müsste in solcher Art Analysen unterschieden werden zwischen dem illokutionären Akt und dem kollokutionären Aspekt eines Sprechakts und eben dem, was zum Ausdruck gebracht wird, und dem, was zum Ausdruck kommt. Denn nicht alles, was erschlossen wird, muss auch gesagt sein (Keller 1977, 15). Kommunikativ ist nur, was gesagt wurde. Wir sprechen von Stilisieren ohne Komplement und meinen dann, dass eine Darstellung vereinfacht wird, zum Beispiel nur noch skizzenhaft oder mit wenigen Strichen, als geometrische Figuren. Die Stilisierung läuft nach dem Weglass-und-Betonungsschema. Man stilisiert sich selbst, indem man bestimmte Möglichkeiten hervorhebt und andere weglässt. Man wird stilisiert, indem bestimmte Möglichkeiten hervorgehoben und andere
69. Stil und Moral
Wir sprechen von Stilisieren mit einem Komplement als stilisieren zu oder stilisieren als. Die Stilisierung braucht sozusagen Modelle, zum Beispiel der tragische sportliche Held oder die verwirrte Psychopathin, der Nazi oder die Alleswisserin. Wir finden sie in einer kleinen Sammlung von Redeschnipseln, worin manche fehlenden Subjekte leicht zu ergänzen sind: das Kopftuch soll nicht zum Symbol des Islam stilisiert werden die DDR stilisierte sich als Staat des Antifaschismus dass Mexiko zum Hort des Bösen stilisiert wird Else Lasker-Schüler stilisierte sich gelegentlich als Mann Nietzsche stilisiert sich als Antichrist indem er sich selbst zum Märtyrer stilisiert den Täter zum Opfer stilisiert stilisieren sich rückblickend zu Opfern stilisieren ihn zum enfant terrible der Weltpolitik oder gar als Bösewicht schlechthin stilisiert sich medienwirksam als Kämpfer stilisiert sich als erfahrener Steuermann stilisierte ihn zu einem Mythos stilisierte sich als Dandy stilisierte den Kampf als inneres Erlebnis stilisierten ihn die Feuilletons zur Erlöserfigur stilisiert sich Hitlers einziger weiblicher Günstling noch heute als naive Unschuld wird die Wahl des Vize traditionell zum Großereignis stilisiert dass er das Scheitern seiner Regierung 1994 zum Staatsstreich stilisiert stilisierten ihren Krieg als Kreuzzug Abb. 69.2.
weggelassen werden. So hat Stilisierung viel mit Stereotypisierung zu tun. In der Rede über Stilisierungen werden ⫺ wie in der Rede über Stil ⫺ Bezeichnungen partieller Ganzheiten eine Rolle spielen: Jemand redet wie. Wer sich stilisiert oder stilisiert wird, stilisiert sich oder wird stilisiert als … So redet die Leiterin einer Katzenpension über die ihr anvertrauten Katzen wie eine Mutter über ihre Kinder. Oder Sie reden wie ein ,Computerspezialist‘ oder ein ,Börsenfreak‘, wie ein ,Sportsfreund‘ oder ,Verwaltungsheini‘. Solche Modelle mögen allgemein bekannte und so verstandene Typen sein oder bestimmte Personen: Märtyrer, Opfer, Freiheitskämpfer. Es mögen auch Stereotypen, Ereignisse, Rollen oder Konstellationen (,Hausdrache‘ und ,Hampelmann‘) sein. Sie sind in der Regel zu fassen als ein Konglomerat von Merkmalen. So heißt es in der praktischen Anwendung in der Wirtschaft: Bei der Stilisierung werden relevante und den eigenen Führungsstil prägende Merkmalseigenschaften verdichtet und in gesteigerter Form inszeniert, um Autorität, Professionalität, Originalität, Beliebtheit, Lebendigkeit usw. zu präsentieren und nach außen darzustellen. (Neubert 2005)
Die Benennungen sind zwar plakativ und globalisierend, die Kommunikationsstile bieten aber durchaus Ansatzpunkte für detailliertere Beschreibungen von Stilisierungen. Eine Voraussetzung wäre, dass nicht nur exemplarische Äußerungsbeispiele gegeben werden, sondern jeweils vollständige Kommunikationen beschrieben werden, die dann nicht mehr mit einem plakativen ,Label‘ belegt werden könnten. Denn letztlich muss jeder einzelne
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Text, jede einzelne Kommunikation untersucht und auf spezifische Details abgeklopft werden. Welche Eigenheiten dann kommunikativ relevant sind, muss in detaillierter Interpretation argumentativ gerechtfertigt werden. Ein gelungenes Beispiel der Analyse von Stilisierung liefert Holly mit dem veröffentlichten Neuen Notizbuch des Journalisten Johannes Gross (Holly 2001). Ausgehend von einem Label wie „gehobener Stil“ analysiert er akribisch den Text und die sprachliche Selbstdarstellung zum Zweck sozialer Positionierung und zeigt, wie Gross in indirektem Vorgehen Selbstdarstellung inszeniert. Die Stilisierung spielt sich zunächst auf der lexikalischen und syntaktischen Ebene ab, wo kaum eine Gelegenheit zum besonderen, zum ,markierten‘ Ausdruck ausgelassen wird. Die Liste der bildungssprachlichen und archaisierenden Wörter ist umfangreich und umfasst alle Wortklassen: Substantive wie Herzenshärtigkeit, Lebenssattheit, Schlechtigkeit, Erdkreis, Hinschied, Klugmeiereien, Degout, Gemeng, Honettetät; Verben wie anheben, einhertreten, stillestehn, ziemen, sich (im Gespräch) ausgeben; Partizipien wie beigewohnt, encadriert, auferbaut; Adjektive wie bös, generös, famos, vorfristig, fortwährend, anmutig, ungezogen, mancherlei, kirchgängerisch; Ortsadverbien wie hierzuland(e)/hierzuland’, anderwärts, manchenorts, allenthalben; Zeitadverbien wie zuweilen, allweil, vormals, vordem, jüngst, dermaleinst; das bevorzugte Satzadverb ist gewiss(lich), als Gradpartikel fungiert häufig vornehmlich, auch gottlob und gemach finden sich. Dazu werden im Kontrast, wenn auch nur selten, Jargonausdrücke und Umgangssprachliches wie Staatsknete oder abstauben gesetzt, lieber aber Elemente ,gehobener regionaler Umgangssprache‘ wie dusslig, Schnick-Schnack, Rotspon oder sich einen Deibel um etw. scheren. Natürlich fehlen auch klassische Marker von Bildungssprache wie gesuchte Fremdwörter (Faktion) nicht, oder Fremdsprachliches, das unübersetzt bleibt (Memorial Services are the cocktail parties for the oversixties. Kommentar dazu: And the obituaries their gossip columns. [564]), besonders immer wieder Lateinzitate (praesente medico [542]). Auch die üblichen morphologischen Archaismen (ward statt wurde, worinnen statt in dem) werden geboten, dazu syntaktische Archaismen wie afinite Relativsätze, kapriziöse Nominalisierungen mit Linkseinbettungen (nach endlich bewirkter Zahlung, bei einer brauchtümlichen Weinfestlichkeit), veraltete Präpositionsfügungen ( für altmodisch gegolten) und vorangestellte Genetivattribute (des Konfuzius Erinnerung). All dies gehört zum Repertoire eines konservativen bildungsprachlichen Stils. (Holly 2001, 431)
Dazu noch eine köstliche Kostprobe: Einen der wenigen schönen Sommertage hatte sich Dolf Sternberger ausgesucht, zu einem Frühstück unter Männern einzuladen; zwei Tage vor seinem Achtzigsten. Der edle Greis, wie immer von gravitätischer Anmut, endete sein Begrüßungswort mit der Bemerkung von Sir Thomas Browne im Urne Burial: The long habit of living indisposes us for dying. (Holly 2001, 436)
Einige systematische Punkte dieser Stilisierung sind: ⫺ Der gesellschaftliche Rang spiegelt sich allein schon in den Schauplätzen. ⫺ Die aktuelle Familie erscheint in mondäneren Zusammenhängen. ⫺ Die Entfaltung von Liberalität und Toleranz, hier besonders „in eroticis“ geübt, gehört zum großbürgerlichen Habitus. ⫺ Den erfolgreichen Weg zum prominenten Journalisten illustrieren zahlreiche Erwähnungen („name dropping“) von persönlicher Bekanntschaft mit Spitzen der Medienwelt, von ausgewählten Politikern, Unternehmern und Börsianern und Künstlern. Durch derartige Stilisierungen hebt Gross sich über den gewöhnlichen Journalismus hinaus in den Rang eines bedeutenden Publizisten.
69. Stil und Moral Zur Inszenierung von Bildung dient die Vorführung breitgefächerter Kenntnisse in philosophischen, theologischen, historischen, naturwissenschaftlich-medizinischen, politisch-wirtschaftlichen, literarischen, musikalischen und Dingen der Bildenden Künste: ⫺ Kommentare zu üblichen Goethe- und Schiller-Zitaten ⫺ Gross stilisiert sich in zahlreichen Anmerkungen zu Essen, Trinken, Kleidung und (kommunikativem) Verhalten als arbiter elegantiarum. ⫺ Distanzierungsarbeit wird nahezu permanent sichtbar in der Darstellung der anderen, der anderen Leute, der Mitmenschen. Mit der Hochwertung von Bildung korreliert die Häufigkeit des Verdikts Dummheit. Es wird viel über die Dummheit der anderen geredet. Ein Fall der Selbststilisierung über Fremdstilisierung. Stilisierung muss nicht bewusst sein. Dennoch ist sie Teil der Person. Auch die ,graue Maus‘, auch der Default ist Stilisierung, die man oft nicht erkennt oder erst später. So weit das Beispiel. Die Methode, die man in solchen Analysen befolgen kann, skizziert Selting (1999, 9) so: ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
Intuitiver Beginn: Welcher holistische Stil ist zu erwarten, zu erkennen? Strukturelle Analyse: Welche auffälligen sprachlichen Merkmale? Funktionale Analyse: Was wird bewirkt in der Interaktion? Bewährt sich die Deutung vor dem Hintergrund der Reaktionen der Beteiligten?
Die methodische Vorführung liefert uns eine mögliche Basis der Betrachtung unter Gesichtspunkten der kommunikativen Moral, wie sie in der Darstellung immer schon anklingen. Zum Schluss ein paar Fragen und Thesen: ⫺ Jeder darf sich stilisieren. Sei es als Held oder weibliches Opfer. So sehen wir, wer er ist. Dies gilt sogar für Selbststilisierung über Fremdstilisierung (die Dummheit der anderen). ⫺ Als was darf man stilisieren: sich oder andere? Eine Grenze ziehen natürlich Gesetze und Diskriminierungen; Verletzungen der Menschenrechte, Gewaltverherrlichung unterliegen der allgemeinen Moral (Frank 1996; Zimmermann 1996). Eine Heavy-MetalStilisierung etwa oder Gothic wird durchaus als problematisch gelten, sind hier doch Gewaltausstellung bis zu Gewaltverherrlichung nicht zu übersehen. ⫺ Auch gewaltträchtige Sprache stellt Gewalt aus und mag Gewalt erzeugen. Hier ist zwar eine haltbare Deutung die Voraussetzung moralischer Kritik. Aber scharf machender oder auch dramatisierender Journalismus hat vor dem moralischen Auge kaum Bestand. Die Grenze zieht auch hier die kommunikative Moral, setzen auch hier Lüge und Täuschung. Dies gilt insbesondere für Fremdstilisierungen, wie sie in den Medien gang und gäbe sind. Auch Journalisten, die wahrheitsgetreu berichten wollen, müssten sich fragen: ⫺ Woher weiß ich das? ⫺ Wieso ist das berichtenswert? ⫺ Wieso dies und nicht das? Möglicherweise kann man sogar fragen, ob man sich stilisieren lassen darf und als was. Nutznießer medialer Fremdstilisierung kommen genau so in die Verantwortung wie die Stilisierer. Der skeptische Rezipient ist aber immer gewappnet mit dem Slogan: Sprich, dass ich dich sehe!
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
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Hans Jürgen Heringer, Augsburg (Deutschland)
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
70. Stil als Zeichen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Stil, Zeichen, Semiotik Semiotische Stilistik Stilmittel als Zeichen Semantik des Stils Pragmatik des Stils Syntax des Stils Literatur (in Auswahl)
Abstract To interpret a message as a manifestation of a certain style means to interpret it as a sign of that style. Research into this field has its foundation in semiotics, the general study of signs. Semiotic stylistics extends the scope of study from verbal to nonverbal messages, to music, pictures, film, art, and culture in general. Furthermore, it also contributes answers to questions concerning the foundations of stylistics, such as: Does style have meaning? Is it mere form? Are meaning and form inseparable in the study of style? What is the nature of a sign that indicates a style? Is style a sign or rather a metasign? What is the relationship between the style of a message and its code? Is style a deviation from a code or does it constitute a code of itself? Structuralist semiotics has sought to localize style in the connotation which the meaning of a sign may convey in addition to its denotation, and it has developed models for the description of the system of tropes and figures in terms of semantic and phonetic features. In the framework of C. S. Peirce’s semiotics, style can be interpreted in different ways: (i) it is an index when taken as a sign of an individual author; (ii) it is an icon when it results from imitation; (iii) it is a symbol when it represents the conventions of an epoch. In its evolution, a specific style is, first, an index of originality and invention. Then, it degenerates by repetition and imitation to an icon. Finally, when the same style has become a convention and thus a norm, it is a symbolic sign. The three dimensions of semiotic study ⫺ semantics, pragmatics, and syntax ⫺ provide a framework for the characterization of various semiotic approaches to style.
1. Stil, Zeichen, Semiotik Stil als Zeichen zu betrachten, bedeutet, die Stilmerkmale in mündlicher und schriftlicher Sprache, in Musik, Bildern, Filmen, im Design der Gebrauchsgegenstände, in der Mode, in den gesellschaftlichen Umgangsformen und in allen anderen Bereichen der Kultur als Zeichen oder Zeichensystem zu interpretieren. Die Stilistik, die das Wesen des Stils und der Stile so zu ergründen sucht, hat ihre Fundierung in der Semiotik, der allgemeinen Wissenschaft von den Zeichen.
70. Stil als Zeichen Schon im alltäglichen Sprachgebrauch gibt es eine auffällige Parallele zwischen den Wörtern Zeichen und Stil. Ein Zeichen ist etwas, das für etwas steht ⫺ aliquid stat pro aliquo, lautete die Definition der scholastischen Semiotik. Auch das, was als Stil beschrieben wird, ist immer ein Stil von etwas. Ein feiner oder höflicher Stil ,zeugt‘ von guten Manieren, ein schlechter Stil ,verweist‘ auf mangelnde Bildung oder einen fehlenden Charakter, ein familiärer Stil ,bedeutet‘ enge soziale Bindungen, der klassische oder der romantische Stil ,sind Zeichen‘ kulturgeschichtlicher Epochen. Die Zeichenhaftigkeit des Stils steht allenfalls in Frage, wenn es um die so genannte Stillosigkeit geht: Bedeutet sie die Abwesenheit von Stil überhaupt, oder verweist sie auf das Fehlen von gutem Stil und ist somit auch Stil, nämlich ,schlechter Stil‘? Wenn aber selbst die Abwesenheit von Stil ein Zeichen von Stil ist, so kann es fehlenden Stil niemals geben. Stil gibt es vielmehr überall, wenn nichts ohne Stil sein kann. Dass Stillosigkeit auch Stil sein soll, ist ein Paradox, dass dem kommunikationswissenschaftlichen Paradox ähnelt, welches besagt: Man kann nicht nicht kommunizieren (vgl. Nöth 2000, 240⫺241).
1.1. Was ist ein Zeichen? In der modernen Semiotik gibt es zwei Modelle des Zeichens, die sich auch in der Stilistik in unterschiedlichen Analyseansätzen zeigen. Das eine Modell steht in der Tradition der strukturalen Linguistik und geht auf Ferdinand de Saussure (1857⫺1913) und Louis Hjelmslev (1899⫺1965) zurück, das andere steht in der Tradition der Allgemeinen Zeichentheorie von Charles Sanders Peirce (1839⫺1914).
1.1.1. Ausdruck, Inhalt, Form Saussures Modell des sprachlichen Zeichens ist ein dyadisches Modell. Der Begründer des Strukturalismus illustriert es am Beispiel des Wortes Baum. Die eine Seite dieses Sprachzeichens ist seine Lautung, also die artikulierbare und hörbare Folge den Konsonanten und Vokale [baum]. Saussure nennt diese Seite des Sprachzeichens den Signifikanten. Hjelmslev spricht von der Ausdrucksseite des Sprachzeichens. Die andere Seite des Sprachzeichens ist seine Bedeutung, womit Saussure die mit dem Wort verbundenen Vorstellungen und Ideen meint. Diese Seite des Sprachzeichens heißt bei Saussure das Signifikat. Hjelmslev nennt es die Inhaltsseite des Sprachzeichens. Das Signifikat des Wortes Baum ist etwa die Paraphrase: ,große Pflanze mit Blättern, Zweigen und hölzernem Stamm‘. Beide Seiten des Sprachzeichens sind in der Vorstellung der Sprecher so untrennbar miteinander verbunden wie die Vorder- und die Rückseite eines Blattes Papier: „Der Gedanke ist die Vorder- und der Laut die Rückseite. Man kann die Vorderseite nicht zerschneiden, ohne zugleich die Rückseite zu zerschneiden“, sagt Saussure (1916, 157). Dieser Gedanke der Untrennbarkeit zwischen der Ausdrucks- und der Inhaltsseite der Sprachzeichen ist von Relevanz für die Grundfrage der Stilistik, ob Stil eine Sache von Ausdruck, Form oder Inhalt sei (s. 1.2).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
1.1.2. Zeichen, Objekt, Interpretant Ein triadisches Zeichenmodell ist der Ausgangspunkt der Semiotik von Charles Sanders Peirce. Sehr vereinfacht charakterisiert Peirce ein Zeichen als eine „dreifache Verbindung zwischen dem Zeichen [etwa einem gesprochenen oder geschriebenen Wort], der bezeichneten Sache und der im Geist produzierten Kognition“ (CP 1.372). Ausführlicher und genauer heißt es an anderer Stelle: „Ein Zeichen oder Repräsentamen ist etwas, das für jemanden in gewisser Hinsicht oder Fähigkeit für etwas steht. Es wendet sich an jemanden, d. h., erzeugt im Geist dieser Person ein äquivalentes Zeichen oder vielleicht ein noch weiter entwickeltes Zeichen. Das Zeichen, welches es erzeugt, nenne ich den Interpretanten des ersten Zeichens. Das Zeichen steht für etwas, sein Objekt. Es steht für dieses Objekt nicht in jeder Hinsicht, sondern im Hinblick auf eine Art Idee“ (CP 2.308). Nach dem Kriterium der Relation zwischen Zeichen und Objekt differenziert Peirce ferner zwischen ikonischen, indexikalischen und symbolischen Zeichen. Ein Ikon hat gleiche oder ähnliche Eigenschaften wie das bezeichnete Objekt; es gibt eine Beziehung der Similarität. Ein Index verweist auf sein Objekt auf Grund einer zeitlichen, räumlichen oder kausalen Beziehung; es gibt eine Beziehung der Kontiguität. Ein Symbol bezeichnet sein Objekt auf Grund einer Gewohnheit, einer Konvention (s. 1.3.).
1.2. Stil: Ausdruck, Inhalt oder Form? Grundbegriffe der auf dem dyadischen Modell basierenden Zeichentheorie spielen in der Stilistik eine Rolle, wenn es darum geht, ob Stil eine Sache von Ausdruck, Inhalt oder Form der Zeichen sei.
1.2.1. Ausdruck/Inhalt, Figuren/Tropen Die Unterscheidung zwischen der Ausdrucks- und der Inhaltsseite der Sprachzeichen ist für die Stilistik relevant, die in der Tradition der antiken Rhetorik zwischen den Figuren und Tropen als den zwei fundamentalen Kategorien der Stilanalyse unterscheidet. Figuren (im engeren Sinn) sind Stilmittel, welche die Anordnung der Sprachzeichen auf der Ausdrucksebene der Sprache betreffen. Sie haben die Form von Wiederholungen, Umstellungen, Hinzufügungen oder Auslassungen von Lauten, Silben, Morphemen oder Wörtern, z. B. in Form von Alliteration, Reim, Anapher, Parallelismus, Geminatio, Anadiplose, Metathese oder Chiasmus. Tropen hingegen betreffen die Inhaltsseite der Sprache, denn hier wird nach Auffassung der antiken Rhetoriker ein im eigentlichen Sinn gebrauchtes Wort durch ein im uneigentlichen Sinn gebrauchtes Wort ersetzt, wie z. B. in der Metapher, der Metonymie (s. 3.1.), der Litotes oder dem Oxymoron.
1.2.2. Stil: Inhalt oder Form? Die Dichotomie von Ausdruck und Inhalt wird oft mit derjenigen von Form und Inhalt parallelisiert oder sogar gleich gesetzt. Wenn Form und Inhalt gegenübergestellt werden,
70. Stil als Zeichen gilt Form ja oft als ein Quasisynonym für Stil. Stil, so heißt es, sei nicht eine Frage des Inhalts, sondern eine Frage der Form (s. 2.1.), und das Formlose erweckt zugleich den Anschein des Stillosen. Das dyadische Modell, das die Semiotik zur Analyse der Dichotomie von Inhalt und Form der Zeichen zur Verfügung stellt, spricht gegen die Auffassung vom kategorischen Gegensatz zwischen Stil als Form einerseits und dem vom Stil nicht betroffenen Inhalt andererseits. Zwei ganz unterschiedliche Modelle, die diese Folgerung nahe legen, bieten Hjelmslevs strukturalistische Semiotik und Peirce’ pragmatische Semiotik (s. 1.2.3.). Form und Inhalt sind für Hjelmslev keine fundamentalen semiotischen Gegensätze. Die grundlegende Dichotomie ist vielmehr die Dichotomie von der Ausdrucks- und der Inhaltsseite der Zeichen. Form gibt es nach Hjelmslev nämlich sowohl auf der Ausdrucks- wie auf der Inhaltsseite der Zeichen, denn Form meint nach diesem Modell in etwa die Struktur der Zeichen. Es gibt eine Form der sprachlichen Ausdrucksseite, die aus den Strukturen der Phoneme und Grapheme besteht, und eine Form der Inhaltsseite, die aus den Strukturen der Bedeutung (der Seme und Sememe) der Wörter besteht. Wenn also Stil eine Frage der Form ist, so müssen Stilmerkmale nach diesem Modell sowohl auf der Ausdrucksseite als auch auf der Inhaltsseite der Sprachzeichen bestimmt werden. Eine solche Unterscheidung steht im Übrigen durchaus im Einklang mit derjenigen, welche das System der klassischen Rhetorik zwischen den Figuren und den Tropen getroffen hat (s. 1.2.1.).
1.2.3. Einheit von Inhalt und Form Mit ganz anderen Argumenten lässt sich aus der Semiotik von Charles Sanders Peirce das Argument von der Einheit von der Ausdrucksseite der Zeichen und den von ihnen repräsentierten Inhalten (Gedanken) ableiten: „Thought and expression are really one“, schreibt Peirce (CP 1.349) und wendet sich dabei gegen die Theorie vom Zeichen als einem bloßen Instrument zur Übermittlung von Inhalten, die es auch unabhängig von dem Zeichen und seiner Form geben könne. Da aber Inhalte, Gedanken oder Ideen untrennbar mit ihrer Form (oder Repräsentation) verbunden sind, kann der Inhalt des Zeichens nicht nur ein mentales Konzept sein, sondern er muss sich in der Repräsentation selbst wieder finden, in der Handschrift, in der Stimme und sogar in der gedruckten Form eines Textes. So folgert Peirce etwa: „It is much more true that the thoughts of a living writer are in any printed copy of his book than that they are in his brain“ (CP 7.364). Für das Thema des Stils bedeutet diese Unmöglichkeit der Trennung eines Inhalts von seiner Repräsentation in Form von Zeichen, dass ein und der gleiche Inhalt nicht alternativ in gutem oder auch schlechtem Stil zum Ausdruck gebracht werden kann, denn: „It is wrong to say that a good language is important to good thought, merely; for it is the essence of it“ (CP 2.220). Dieses Zitat aus Peirce’ Ethics of Terminology aus dem Jahr 1903 hat bei einem ganz anderen Denker, Friedrich Nietzsche, einen Vorläufer: „Den Stil verbessern ⫺ das heißt, den Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter!“ schrieb Nietzsche 1886 in Menschliches, Allzumenschliches (zit. in Göttert/Jungen 2004, 20). Mit seiner These von der Einheit von Stil und Gedanken, die beide im Zeichen untrennbar miteinander verbunden sind, geht Peirce jedoch noch einen Schritt weiter als Nietzsche; denn daraus, dass der Stil nicht ein bloßes Zeichen desjenigen ist, der sich
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil dieses Stils als eines Instruments bedient, folgert Peirce auch die Einheit des Stils eines Zeichens mit dessen Urheber. Während es bei Buffon heißt, „le style est l’homme meˆme“, schreibt Peirce 1868 noch allgemeiner: „There is no element whatever of man’s consciousness which has not something corresponding to it in the word; and the reason is obvious. It is that the word or sign which man uses is the man himself. For, as the fact that every thought is a sign, taken in conjunction with the fact that life is a train of thought, proves that man is a sign; so, that every thought is an external sign, proves that man is an external sign. […] Thus, my language is the sum total of myself; for the man is the thought.“
1.3. Stil als Index, Ikon oder Symbol Wenn Stil als Mittel zur Steigerung der eigenen Sichtbarkeit (vgl. Fix 2001, 113), als Zeichen einer Persönlichkeit oder einer sozialen Gruppe definiert wird, so ist mit dem Zeichen, welches einen solchen Stil anzeigt, ein indexikalisches Zeichen gemeint. Nach Peirce ist ein Index ein Zeichen ohne Information, das allein die Aufmerksamkeit, die Neugier, das Interesse der Zeicheninterpreten erregt. Das, worauf ein Index verweist, ist nie ein allgemeines, sondern immer ein individuelles, singuläres Objekt oder eine Ansammlung singulärer Objekte (CP 2.306). Dabei behauptet ein Index nichts über sein (Referenz-)Objekt, sondern er zeigt lediglich an bzw. lenkt unsere Aufmerksamkeit auf dieses Objekt (CP 3.361). Auch kann ein Index dem Interpreten nie etwas Neues vermitteln. Er kann nur auf etwas hinweisen, das dem Interpreten bereits aus der früheren Erfahrung bekannt ist (CP 8.368). Definiert man Stil in diesem Sinne als ein indexikalisches Zeichen, so ist damit vor allem der so genannte Individualstil gemeint. Der Stil, der auf ein Individuum verweist, ist ebenso indexikalisch, wie ein Eigenname ein Index des Individuums ist, welches diesen Namen trägt. Stil hingegen, der auf Konventionen, Gewohnheiten, Gebräuche, Verhaltensregeln oder Regeln des Sprachgebrauchs verweist, ist ein symbolisches Zeichen in der Definition von Peirce, nämlich ein Zeichen, das auf Grund „einer Gewohnheit, Disposition oder einer wirksamen Regel interpretiert wird“ (CP 4.447). Zu dieser Kategorie der Zeichen gehören Moden und Epochenstile, insofern diese Zeichen gesellschaftlicher und historischer Konventionen sind. Symbolisch sind auch die Zeichen eines sprachlich ,guten‘ Stils, der auf eine völlige Beherrschung der Regeln der Grammatik verweist, oder die Zeichen eines Stils im Sinne von ,guten Manieren‘ (Etikette), denn sie bedeuten die Beherrschung und Beachtung gesellschaftlich erwünschter Umgangsformen. Stil kann schließlich auch ein ikonisches Zeichen sein, ein Zeichen, welches nach Peirce auf einer Ähnlichkeitsbeziehung beruht. Die Zeichen eines Stils, der Mozart oder Kleist nachahmt, sind ikonische Zeichen, die durch ihre Ähnlichkeit auf das bezeichnete Objekt, das es nachahmt, verweisen. Stilimitationen oder Simulationen von Stilen gibt es in Plagiaten ebenso wie in der Ironie. Es gibt ganze Epochenstile, die auf dem Prinzip der Ikonizität basieren, etwa die Klassik, die die Antike imitiert, oder die Neogotik und Neoromanik des 19. Jhs. Auch der Prozess der Verbreitung eines neuen Stils kann als Entstehung ikonischer Zeichen gesehen werden. Luhmann (1984, 56) beschreibt diesen Prozess wie folgt: „Stil kann aus der Vorbildlichkeit einzelner Kunstwerke entstehen. […] Der Kirchturm von
70. Stil als Zeichen St. Paul de Le´on wird Vorbild für andere Kirchtürme in der Bretagne. Das ist jedoch nur möglich, wenn Copieren erlaubt ist, wenn die Einmaligkeit des Kunstwerks keine Qualitätsbedingung ist und wenn die rezeptmäßige Anfertigung nicht schadet.“ Jeder Stil ist jedoch in gewisser Weise stets indexikalisch, symbolisch und ikonisch zugleich. Luhmann (1984, 63) spricht von der „Doppelfunktion“ des Stils und meint damit Stil als ikonisches und als indexikalisches Zeichen: Einerseits zeige sich Stil (ikonisch) in der „Anfertigung und Beurteilung von Kunstwerken“ nach einem historischen Programm, das die „Selektion des Handelns und Erlebens steuert, andererseits zeige sich Stil (indexikalisch) in der „Individualisierung des Kunstwerks“ und darin, „dass das Kunstwerk […] selbst limitiert, was ihm möglich bzw. unmöglich“ sei. Der epische Stil Thomas Manns z. B. ist nicht nur ein Zeichen, das indexikalisch auf diesen Autor verweist; zugleich ist er auch ein Zeichen der Konventionen, die den Sprachgebrauch des deutschen Bildungsbürgertums in der ersten Hälfte des 20. Jh. kennzeichnen und damit ein Symbol. Einen Stil als indexikalisch, symbolisch oder ikonisch zu bewerten kann somit nur heißen, seine dominanten Stilmerkmale zu interpretieren. In der Reihenfolge Index, Ikon und Symbol vollzieht sich schließlich auch der Lebenszyklus eines Stils, der zuerst als singulär und völlig neu indexikalisch in Erscheinung tritt, sich dann ikonisch durch Imitation verbreitet und schließlich als Symbol in Konventionen erstarrt.
2. Semiotische Stilistik Ebenso wie die Stilistik ist auch die Semiotik keine Einheitswissenschaft. Es gibt vielmehr zahlreiche Strömungen und Richtungen, unterschiedliche Ansätze und Auffassungen von dem, was unter einem Zeichen und der Wissenschaft von den Zeichen zu verstehen und mithin auch, wie Stil als Zeichen zu beschreiben sei.
2.1. Ansätze, Tendenzen, Modelle Spezifisch semiotische Ansätze der Stilistik und Rhetorik vertreten oder erörtern Uspenskij (1968), Eco (1976, 276⫺289), Hervey (1982, 219⫺233), Schuh (1982), Shapiro (1983, 208⫺212), Klinkenberg (1985), Hodge/Kress (1988, 79⫺120), Chvatı´k (1987, 110⫺137), Lotman (1990, 36⫺62), Moline´ (1991), Paz Gago (1993, 105⫺130), Spillner (1995), Nöth (2000, 394⫺399) und Fix (2001). Die Bibliographie von Bennett (1985) verweist in ihrem Register auf nicht weniger als 117 Titel mit explizit semiotischen Ansätzen zur Stilistik. In der semiotisch fundierten Stilistik gibt es ebenso wie in der Stilistik allgemein verschiedene Auffassungen davon, was unter Stil zu verstehen sei. Als gemeinsamer Nenner kann gelten, dass Stilmerkmale Zeichen sind. Nach Barthes (1971) gehen alle Stildefinitionen in der Tradition der Stilistik von zwei semiotischen Dichotomien aus, nämlich „Inhalt vs. Form“ und „Kode vs. Nachricht“. Die Unterscheidung zwischen Inhalt und Form war der Ausgangspunkt für die Bestimmung des traditionellen Redeschmucks (ornatus) der antiken Rhetoriker (s. 1.2.1.). Die Dichotomie von Kode und Nachricht hingegen ist grundlegend für die Konzeption von Stil als Abweichung von einer kodierten Norm, die auch als Deviationstheorie des Stils
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil bezeichnet wird. Der Deviationstheorie wurde seit Barthes die Selektionstheorie des Stils gegenübergestellt. Während die Deviationstheorie Stilmerkmale aus der Sicht der Rezipienten als Zeichen der Abweichung von einer sprachlichen oder kulturellen Norm betrachtet, die durch die Regeln eines kulturellen Kodes vorgegeben sind, bestimmt die Selektionstheorie Stil aus der Sicht der Zeichenproduktion. Hier geht es um Fragen der Selektion und der Kombination der Zeichen aus dem Zeichenrepertoire eines Kodes. Der Unterschied zwischen der Deviations- und der Selektionstheorie des Stils wird oft überbetont. In Wirklichkeit sind die beiden Theorien komplementär und unterscheiden sich nur darin, dass ihr Fokus auf verschieden Phasen des Semioseprozesses gerichtet ist. Charles Morris (1938, 1971) hat in seiner allgemeinen Zeichentheorie die Syntax, die Semantik und die Pragmatik als die drei Dimensionen der semiotischen Forschung bestimmt. Während die Syntax die Kombination der Zeichen zu Texten untersucht, geht es der Semantik um die Bedeutung bzw. den Objektbezug der Zeichen. Die Pragmatik untersucht die Wirkung der Zeichen in Handlungszusammenhängen. Diese semiotische Trias kann auch zur Kennzeichnung der verschiedenen Ansätze in der semiotischen Stilforschung dienen, denn es gibt Ansätze, die Stil eher in der Syntax der Zeichen zu bestimmen suchen, solche, die auf die Semantik des Stils abheben, und solche, die eher der Pragmatik, also der Wirkung des Stils in Handlungszusammenhängen Aufmerksamkeit widmen.
2.2. Stil, Abweichung, Kode, Norm Die Ursprünge der Deviationstheorie des Stils, der Konzeption vom Stil als einer Abweichung von einer Norm, die ein Kode vorgibt, liegen in der Lehre von der elocutio der antiken Rhetorik, denn sowohl die Tropen als auch die Figuren galten als Fälle des abweichenden Sprachgebrauchs. Quintilian sah in ihnen „ein Abweichen von der einfachen und direkten Ausdrucksweise“ (Inst. Orat., IX,1,3). Das Prinzip der Abweichung ist auch heute noch eines der Modelle zur Interpretation der Tropen und Figuren. Manchmal heißen sie „sprachliche Anomalien“ (Todorov 1967, 108), manchmal gelten sie als Abweichung von einer „normalen“ Sprache oder auch einer „Nullstufe“ der Sprache (Dubois u. a. 1970). In der semiotischen Kodetheorie werden sie als das Ergebnis einer sekundären Kodierung der Sprache thematisiert. Eco (1976, 133; 155; 279) spricht von einer Überkodierung. Quintilian unterschied vier Kategorien der Abweichung (mutatio) (Inst. Orat. I, 5, 38⫺41), die in modifizierter Form auch in der neueren semiotischen Rhetorik zu finden sind (Dubois u. a. 1970; Plett 1975, 1977): (1) Hinzufügung (adjectio), z. B. als Anapher (⫽ Wiederholung am Satzanfang), (2) Auslassung (detractio), z. B. als Asyndeton, d. h. Auslassung von Konjunktionen, (3) Umstellung oder Permutation (transmutatio), z. B. als Inversion oder Metathese und (4) Substitution von Elementen (immutatio), z. B. Metapher, Metonymie und die meisten anderen Tropen. Die antike Rhetorik unterschied neben den Tropen die Schemata (Corbett 1965, 426). Während eine Trope eine semantische Abweichung beinhaltet, ist ein Schema eine syntaktische Abweichung von den üblichen Wort- und Satzmustern. Kopperschmidt (1973, 170) führt den Begriff der pragmatischen Figur als eine dritte semiotische Kategorie der rhetorischen Stilistik ein.
70. Stil als Zeichen
2.3. Norm, System und Kode Wie ist nun der Kode zu definieren, gegenüber dem sich die Stilmerkmale als eine Abweichung darstellen? Für die einen gilt im Sprachgebrauch die Sprachnorm als Maßstab der Bemessung der Abweichungen (Fricke 1981). Als Norm wird mal die Alltagssprache, mal einer ihrer vielen Subkodes (mündliche Rede, Schriftsprache, Amtssprache etc.) angenommen. Im Gegensatz zur Konzeption von einer Pluralität der Normen steht die Konzeption einer allgemeinen neutralen, stilistisch nicht markierten Nullebene der Sprache (Enkvist 1973, 15), wie sie auch die Gruppe μ (Dubois u. a. 1970) als Grundlage ihrer semiotischen Rhetorik annimmt. Verwandt mit der Konzeption des Stils als Abweichung sind auch die semiotischen Stildefinitionen der Prager Schule (Dolezˇel/Kraus 1972). Hier gilt das Prinzip des „Foregrounding“, der Fokalisierung von Textelementen vor dem Hintergrund einer Erwartung einer weniger auffälligen Struktur als wesentliches Stilmittel. Aufgabe der Stilistik sei es, die Funktion und Wirkung der durch dieses Prinzip markierten Textelemente zu bestimmen.
2.4. Dynamik und Evolution der Norm In der Evolution der Kulturen oszillieren Stile und der Gebrauch bestimmter Stilmittel zwischen Innovation, Konvention und Ablehnung. Lotman (1990, 40; 44) beschreibt derartige Schwankungen am Beispiel der Produktion und Rezeption von Tropen in unterschiedlichen Epochen als einen dynamischen Prozess. Epochen, in denen Tropen die Norm sind, werden von solchen abgelöst, in denen das Fehlen von Tropen die stilistische Norm ist. Die Norm, die die Präferenzen für oder gegen Tropen bestimmt und in unterschiedlichen Erwartungshaltungen resultiert, lässt die Trope schließlich zu einer „MinusTrope“ und die fehlende Trope zu einer Metatrope werden: „In a culture where the tradition of rhetoric has accumulated, becoming part of the inertia of reader-expectation, the trope becomes part of the neutral store of the language and ceases to be perceived as a rhetorically active unit. Against such a background the ,anti-rhetorical‘ text, consisting of elements of direct, nonfigurative semantics, comes to be perceived as a metatrope […]. This ,minus-rhetoric‘, which is subjectively perceived as resembling reality and simplicity, is a mirror image of rhetoric and includes its aesthetic opponent in its own cultural-semiotic code.“
2.5. Stil ohne Norm? Gegen die Möglichkeit, überhaupt jemals eine solche Norm oder auch Nullebene der Sprache bestimmen zu können, wendet sich Riffaterre in seiner Semiotik des Stils (1959, 1971). Für ihn bietet nur der jeweilige Kontext eine Möglichkeit der Bestimmung von Abweichungen. Statt der einen Nullstufe gibt es gewissermaßen ebenso viele Nullstufen, wie es Kontexte gibt. Der Norm-Abweichungs-Dichotomie völlig entgegengesetzt sind auch Stilkonzeptionen, die die Autonomie der Stile hervorheben und Stil als „das innere Merkmal einer
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Art des Diskurses“ bestimmen (Todorov 1970, 226). Statt Stil auf die Norm eines Kodes zu beziehen, vertritt die Autonomiestilistik die Auffassung, dass jeder Stil einen eigenen Kode darstelle. Die These vom Stil als einer Kategorie sui generis hat auch philosophische Implikationen, die im Zusammenhang mit der Bedeutung oder dem Fehlen von Bedeutung im Stil zu erörtern sind (s. 4.3.).
2.6. Stil als Selektion Die Selektionstheorie des Stils richtet ihre Aufmerksamkeit auf den Stil als Ergebnis einer Selektion von Zeichen aus dem Zeichenrepertoire eines Kodes, in dem semantisch äquivalente, aber in ihrem Stilwert unterschiedliche Zeichen zur Auswahl stehen. Zeichen mit jeweils gleichem Stilwert bilden verschiedene stilistische Register eines Kodes, mit denen Äquivalentes unterschiedlich zum Ausdruck gebracht werden kann. Lotman (1990, 50) erläutert diese Auffassung vom Stil mit dem Bild einer Orgel, auf der die gleiche Melodie auf verschiedenen Registern in unterschiedlichen „Tonfarben“ gespielt werden kann, wobei die Bedeutung einer einzelnen Note in den verschiedenen Registern unverändert bleibt: „A comparison of notes of the same value but in different registers will show up both what they have in common and what the particular register endows them with. The first meaning relates to semantics and the second to stylistics.“ Jede Selektion eines Zeichens erweist sich damit als ein Metazeichen (Hodge/Kress 1988, 79), also als ein Zeichen, das auf andere Zeichen verweist, denn das ausgewählte Zeichen lässt gewissermaßen stets auch das nicht ausgewählte Zeichen präsent werden, das an der gleichen Stelle im Text stehen könnte. Das stilistische Metazeichen verweist mithin auf die paradigmatische Dimension des Kodes.
2.7. Stil, Poesie, Formgebung Manche semiotisch fundierten Arbeiten zur Stilistik gehen über die Auffassungen vom Stil als Zeichen, Wahl oder Abweichung hinaus. Gelegentlich ist Stilistik sogar ein Synonym von Poetik oder gar Literaturwissenschaft überhaupt (z. B. Blanchard 1975, Kirstein 1982, Schuh 1982). Die semiotischen Konzeptionen von Stil beschränken sich jedoch nicht nur auf Poesie, Literatur oder sprachliche Texte allgemein. Definiert man Stil als die Differenz zwischen den Zeichen, die ein Kode als Selektionsmöglichkeit zulässt, so wird der Stilbegriff auch in der Malerei, Architektur, Mode und Kultur allgemein anwendbar (Uspenskij 1968, 123). Eine grundlegende Differenz zwischen der poetischen Stilistik und der Stilistik der Alltagssprache postuliert Lotman (1990, 51): Während der Stil im Alltag durch das Register der jeweiligen Kommunikationssituation vorgegeben ist, lebt die Literatur vom freien Spiel mit den Registern der Stile: „What is known as ,poetic stylistics‘ can be defined as the creation of a special semiotic space, within which a free choice of stylistic register is possible, this register no longer being automatically defined by the communicative situation. As a result, style acquires supplementary significance.“ Die vielleicht umfassendste semiotische Auffassung von Stil findet sich in der Philosophie des Stils von Granger (1968; vgl. Bureau 1976, 12). Nach dieser Theorie gilt Stil
70. Stil als Zeichen als die Wurzel allen semiotischen Handelns überhaupt. Das Stilistische sei nämlich zu begreifen als ein Prozess einer strukturierenden Arbeit mit dem Ziel, bei der Transformation des Amorphen zum Strukturierten, von Inhalt zu Form Hindernisse zu überwinden, um in eben diesem Strukturierungsprozess eine Art semiotische „Integration des Individuums“ zu bewirken (Granger 1968, 8). Stil kommt danach also in jeder menschlichen Tätigkeit, in jedem Prozess der Kommunikation und Semiose zum Vorschein.
3. Stilmittel als Zeichen Tropen oder Figuren sind Stilmittel und können z. B. einen poetischen, einen ,blumigen‘, einen symbolistischen, einen akademischen oder ⫺ in Abwesenheit von Tropen und Figuren ⫺ einen ,prosaischen‘ Stil kennzeichnen. Semiotische Ansätze zur Analyse der Stilmittel finden sich sowohl in der strukturalistischen als auch in der Peirceschen Tradition.
3.1. Metapher und Metonymie Roman Jakobson (1956) hat das System der Tropen auf zwei Grundtypen reduziert, Metapher und Metonymie. Während eine Metapher das Ergebnis einer Selektion aus der paradigmatischen Achse der Zeichen ist, verweist die Metonymie auf deren syntagmatische Achse. Eine Metapher entsteht danach durch Substitution eines Zeichens durch ein semantisch ähnliches Zeichen, zu dem es in paradigmatischer Beziehung steht. Die Metonymie hingegen ist das Ergebnis einer spezifischen Kombination der Zeichen. Während die Metapher auf dem Prinzip der Similarität beruht, ist das Prinzip der Metonymie die Kontiguität der Zeichen. Die Zeichen, die sich als Metapher oder als Metonymie darstellen, sind nicht nur Sprachzeichen, sondern sie finden sich auch im Film, in der Malerei oder in Traumbildern. Trotz der Ubiquität von Metapher und Metonymie, die letztlich darin begründet ist, dass die Metapher allgemeiner als ein ikonisches und die Metonymie als ein indexikalisches Zeichen bestimmt werden kann, betrachtet Jakobson die beiden Tropen auch als besonderes Merkmal spezifischer Stile: Das Metaphorische dominiert in der Poesie, im Surrealismus, im Symbolismus und in der Romantik, während die Metonymie die dominante Stilfigur der Epik, des Realismus und des Kubismus sei (vgl. Nöth 2000, 347 f.).
3.2. Dekomposition der Stilmittel Der Ansatz der strukturalistischen Tradition bei der Analyse der Figuren und Tropen ist durch den Versuch der Dekomposition der Sprachzeichen in Minimaleinheiten der Ausdrucks- und der Inhaltsseite gekennzeichnet, die noch nicht selbst als Zeichen, sondern nur als Komponenten von Zeichen gelten. Dabei wird zwischen einer Oberflächenund einer Tiefenstruktur auf beiden Ebenen unterschieden. Greimas (1972) etwa definiert das poetische Zeichen als ein komplexes Sprachzeichen, dessen Ausdrucksebene in seiner Oberflächenstruktur aus Graphemen bzw. Phonemen und Silben und in seiner Tiefen-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil struktur aus den distinktiven Merkmalen der Grapheme bzw. Phoneme (z. B. ,⫹/⫺stimmhaft‘, ,liquid‘, ,nasal‘, ,fortis‘ oder ,lenis‘) besteht. Auf der Inhaltsseite konstituiert sich die Oberfläche durch die Sememe der Wörter und die Tiefenstruktur durch deren Seme, den kleinsten Elementen die zwar auch Bedeutung haben, aber eigentlich nur zur Unterscheidung von Bedeutungen dienen (z. B. ,⫹/⫺ belebt‘, ,⫹/⫺jung‘ oder ,⫹/⫺menschlich‘). Das Besondere des poetischen Zeichens besteht nun darin, dass zwischen den Einheiten der Ausdrucks- und der Inhaltsebene der Sprachzeichen so genannte Homologien (Äquivalenzen, Korrespondenzen) bestehen. In einem Gedicht über Leben und Tod wäre dies z. B. eine Korrespondenz zwischen semantischen Oppositionen wie ,⫹/⫺belebt‘ oder ,⫹/⫺bewegt‘ einerseits und phonetischen Gegensätzen wie ,⫹/⫺fortis‘ oder ,⫹/⫺stimmhaft‘ oder auch ,⫹/⫺liquid‘ andererseits. Die Analyse des Systems der Figuren und der Tropen nach Prinzipien des Strukturalismus erreicht ihren Höhepunkt in der Allgemeinen Rhetorik der Gruppe μ (Dubois u. a. 1970). Auch hier werden die Stilmittel (Tropen und Figuren) auf ihrer Inhalts- und der Ausdrucksseite in minimale und größere Einheiten zerlegt und gegenüber einer als stilistisch neutral angenommenen Nullstufe der Sprache als Hinzufügung, Unterdrückung, Substitution oder Permutation von Merkmalen bestimmt. Hinzufügungen auf der Ausdrucksseite zeigen sich etwa in Reduplikationen, Alliterationen oder Reimen. Hinzufügungen auf der Inhaltsseite in partikularisierenden Synekdochen (pars pro toto, z. B. Kopf für Denker), Pleonasmen oder Hyperbeln. Beispiele für Auslassungen auf der Ausdrucksseite sind Synkopen, Elisionen oder Ellipsen. Auf der Inhaltsseite sind es die generalisierende Synekdoche (totum pro parte; z. B. USA für Sportler der USA) oder die Metapher in praesentia, die dem Simile ähnlich ist. Alle Formen der Abweichung gegenüber der Nullstufe der Sprache werden als Metabolien definiert. Diese sind nach zwei Kriterien weiter unterteilt. Das eine Kriterium ist die Ebene der Abweichung. Sie kann bis zur Wortebene reichen oder darüber hinaus auf der Satzebene liegen. Nach dem zweiten Kriterium ist zwischen Abweichungen auf der Ausdrucksseite und auf der Inhaltsseite der Sprachzeichen zu unterscheiden. Die Kombination dieser beiden Kriterien ergibt vier mögliche Formen von Metabolien: (1) Abweichungen auf der Ausdrucksseite, die bis zur Wortebene reichen, heißen Metaplasmen (z. B. Alliterationen). (2) Abweichungen der Ausdrucksseite, die auf Satzebene lokalisiert sind, heißen Metataxen (z. B. Ellipsen oder Inversionen). Auf der Inhaltsseite heißen die Abweichungen bis zur Wortebene Metaseme (z. B. Metaphern und Metonymien). Abweichungen auf der Inhaltsebene bis zur Satzebene heißen Metalogismen (z. B. Ironie).
3.3. Ikonizität in den Stiliguren Aus der Sicht der Peirceschen Semiotik eignet sich die Typologie der Zeichen, insbesondere die Unterscheidung zwischen ikonischen und indexikalischen Zeichen, zu einer Neubestimmung des klassischen Systems von Figuren und Tropen. Die Metonymie und die Synekdoche erweisen sich beispielsweise als indexikalische Zeichen, insofern sie auf dem Prinzip der Kontiguität bzw. der Teil-Ganzes-Beziehung zwischen Zeichen und Objekt beruhen. Metaphern und Similes hingegen sind ikonische Zeichen, denn sie beruhen auf dem Prinzip der Similarität zwischen Zeichen und Objekt. In seiner Theorie der ikonischen Zeichen unterscheidet Peirce drei Unterklassen des Ikons: Bild („image“), Diagramm und Metapher (vgl. Nöth 1990). Das Bild ist ein Ikon,
70. Stil als Zeichen dessen Ähnlichkeit mit seinem Objekt auf „einfachen Qualitäten“ beruht. Lautmalerei, ikonische Mittel der Graphostilistik und ähnliche Formen der qualitativen Homologie zwischen sprachlichem Ausdruck und Inhalt sind bildikonischer Art. Diagrammatische Stilmittel hingegen beruhen auf strukturellen Korrespondenzen zwischen Zeichen und Objekt. Mathematische Formeln, Tabellen und ähnliches Anschauungsmaterial, aber auch jegliche Gliederung eines Textes in Form von Paragraphen, Abschnitten und Überschriften sind Diagramme, die den Inhalt der Zeichen durch strukturelle Ähnlichkeiten repräsentieren. Ein diagrammatischer Stil visualisiert in Form von Textgliederungssignalen, Schaubildern, durch Fußnoten oder Typographie Korrespondenzen zwischen der Ausdrucks- und der Inhaltsebene des Textes (z. B. Großgedrucktes, Überschrift oder Haupttext: wichtig, Kleingedrucktes oder Fußnoten: weniger wichtig). Prototyp des Diagrammatischen ist die geographische oder topographische Karte. Während bildikonische Stilmittel durch ihre eigenen Qualitäten zu Zeichen werden, sind es bei den Diagrammen dyadische Beziehungen zwischen Zeichen und Objekt (Korrespondenzen zwischen Relationen). Die Metapher schließlich ist ein Zeichen, bei dem zwischen Zeichen und Objekt eine triadische Relation besteht, nämlich zwischen der wörtlichen und der übertragenen Bedeutung und dem tertium comparationis, dem inhaltlich Gemeinsamen, welches den Vergleich ermöglicht. Ikonische Beziehungen bestehen nicht nur zwischen den Zeichen und den von ihnen bezeichneten Objekten in der Welt der Tatsachen und Ideen, sondern auch zwischen den Zeichen selbst, denn Zeichen können exophorisch auf die Welt der Dinge oder Ideen oder endophorisch auf andere Zeichen im Text, im Bild oder im System der Zeichen verweisen. Nach dieser Prämisse lässt sich das System der Figuren als ein System ikonischer Zeichen interpretieren, denn jegliche Form der Wiederholung, der Rekurrenz oder des Parallelismus bedeutet einen endophorischen Verweis auf ähnliche vorausgegangene Formen im Text.
4. Semantik des Stils Die Frage nach der Bedeutung von Stil an sich ist umstritten. Für die einen hat Stil keine Bedeutung, und es gibt mithin keine Semantik des Stils. Für die anderen hat Stil Bedeutung, und es gibt folglich eine Semantik des Stils und der Stile.
4.1. Was Stil bedeuten kann Als Zeichen betracht, wirft Stil die Frage nach der Bedeutung auf. Gibt es eine semantische Interpretation der Differenzen zwischen äquivalenten, aber in ihrem Stilwert unterschiedenen Zeichen? Wenn Synonyme, Paraphrasen oder so genannte stilistische Varianten in ihrer Bedeutung gegenseitig äquivalent sind, kann es dann noch semantische Differenzen geben? Liegen in den Differenzen zwischen dem, was durch diesen oder jenen Stil vermittelt wird, auch Bedeutungen? Ein semiotischer Ansatz, der in Stilvarianten semantische Werte postuliert, ist derjenige, der die Unterscheidung zwischen Denotation und Konnotation für wesentlich erachtet. Danach gibt es neben einer Kernbedeutung (Denotation) auch verschiedene Ne-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil benbedeutungen (Konnotationen) eines Zeichens, wobei das spezifisch Stilistische stets in einer Konnotation zu suchen sei. Koch (1963) hat eine semiotische Stilistik entwickelt, die sowohl dem Aspekt der Bedeutungsgleichheit als auch den Bedeutungsunterschieden zwischen stilistischen Alternativen Rechnung trägt. Jede stilistische Alternative weist danach einen gemeinsamen semantischen Kern und zugleich eine semantische Differenz auf, welche als das semantische Differential definiert ist. Es gibt verschiedene Vorschläge zur semantischen Bestimmung der stilistischen Konnotationen bzw. des stilistischen Differentials. Bally (1909, 1) z. B. definiert Stil als die Lehre von den expressiven bzw. „affektiven“ Werten der Sprache, die im Gegensatz zu einer Sprache ohne Stil mit nur referenzieller bzw. „intellektueller“ Funktion stehen. Auch Riffaterre (1959, 155) steht in dieser Tradition, wenn er Stil als eine „expressive, affektive oder ästhetische Hervorhebung“ bestimmt, „die der in der sprachlichen Struktur enthaltenen Information hinzugefügt wird“. Hjelmslev (1943, 114) begründete eine semiotische Tradition der Stilistik, nach der das spezifisch Stilistische eines Sprachzeichens eine „konnotative Semiotik“ ist (Kerbrat-Orrechioni 1977, 94⫺103; Garza-Cuaro´n 1991). Unter soziosemiotischen Aspekten sehen Hodge und Kress (1988, 82) in Stilmerkmalen semantische Merkmale, die auf Ideologien und soziale Identitäten verweisen. Ihre Erklärung dafür, dass Stil oft als bedeutungsleer begriffen wird ist diese: „These markers (of social allegiance, solidarity, group identity, and ideology) primarily refer to relations in the plane of semiosis (the production of meaning) rather than the mimetic plane (what is referred to). They can therefore seem arbitrary or meaningless, whereas they carry consistent ideological meanings which become clearly evident by reference to the semiosis plane.“
4.2. Tropen als semantische Vermittler Lotman (1990), der zwischen Stil als Ergebnis einer bloßen Selektion von semantisch Äquivalentem aus sprachlichen Registern (s. 2.6.) und Rhetorik als einer Anreicherung der Sprache durch Nichtsprachliches (z. B. Raum, Symmetrie oder Bilder) unterscheidet (Lotmann 1990, 49) und Tropen nicht als Stilmittel, sondern als Elemente der Rhetorik definiert, entwickelt eine dualistische Semantik der Tropen. Tropen wie z. B. Metaphern und Metonymien sind danach Vermittler zwischen den zwei unterschiedlichen Kognitionsformen, die durch die linke und die rechte Hemisphäre des Gehirns gesteuert werden, zwischen diskreten und kontinuierlichen Zeichen, die niemals paradigmatisch äquivalent sein und nie syntagmatisch nebeneinander stehen können. Die tatsächliche Unübersetzbarkeit zwischen den beiden Sphären der Kognition, zwischen denen die Tropen vermitteln, erzeugt zugleich deren spezifische Semantik: „A trope, therefore, is not an embellishment merely on the level of expression, a decoration on an invariant content, but is a mechanism for constructing a content which could not be constructed by one language alone. A trope is a figure born at the point of contact between two languages, and its structure is therefore identical to that of the creative consciousness itself“ (Lotmann 1990, 44).
70. Stil als Zeichen
4.3. Stil verweist, ohne zu bedeuten Die Stilistik ohne Semantik geht von der Annahme aus, das Stilistische bedeute nichts außer sich selbst. Stil füge einem Zeichen nichts an Bedeutung hinzu, denn das, was in dem einen oder in dem anderen Stil zum Ausdruck gebracht werden kann, ändere an der Bedeutung des Textes nichts. Aus der Sicht der linguistischen Semantik liegt dieser Auffassung die Überzeugung von der Möglichkeit der semantischen Äquivalenz unterschiedlicher Sprachzeichen in Form von Synonymen und Paraphrasen oder gar Tropen und Figuren zu Grunde. Eine solche Auffassung findet sich etwa in der folgenden Stildefinition des Linguisten Hockett (1958, 556): „Roughly speaking, two utterances in the same language which convey approximately the same information, but which are different in their linguistic structure, can be said to differ in style: ,He came soon‘ and ,He arrived prematurely‘.“ Wenn Dolezˇel/Kraus (1972, 37) Stil definieren als „die Lehre von den alternativen Möglichkeiten, denselben (oder annähernd denselben) Inhalt auszudrücken“, so vertreten sie die Auffassung von einer Stilistik ohne Semantik. Noch prononcierter bringt Uspenskij (1968, 125) die Auffassung vom Stil, der nichts bedeute, zum Ausdruck: „Lorsque nous parlons de diffe´rents styles, nous sous-entendons qu’il est possible d’e´noncer de plusieurs manie`res le meˆme contenu: en d’autres termes, nous admettons que le contenu e´nonce´ dans tel style pourrait en principe l’eˆtre aussi dans un autre. Mais a` proprement parler, c’est bien ce qu’implique le fait de parler de langues diffe´rentes. Les diffe´rents styles s’opposent donc l’un a` l’autre comme les diffe´rentes langues, par leur faculte´ d’exprimer des contenus identiques.“ Vom Fehlen der Bedeutung in den Varianten, die einen Stil ausmachen, geht auch Spillner (1995, 68) aus, der dieses Fehlen jedoch nicht prinzipiell dem Stil selbst zuschreibt, sondern zumindest andeutet, dass auch die Methoden der herrschenden linguistischen Semantik dafür verantwortlich sein könnten, dass die Nuancen der Stile nicht angemessen als Bedeutungsunterschiede bestimmbar seien: „Wenn es gelänge, die semantische Analyse so zu verfeinern und zu differenzieren, dass jedweder sprachlichen Varietät eine je differente semantische Interpretation zugeordnet werden könnte, wäre eine eigenständige Kategorie ,Stil‘ überflüssig geworden; die Stilistik wäre in die Semantik integriert. Solange dies nicht geschehen ist, kann als ,Stil‘ diejenige Differenzqualität alternativer Äußerungen angesetzt werden, denen die linguistische Semantik keine unterschiedlichen Bedeutungen zuordnet bzw. die von den Sprechern der Sprache nicht als bedeutungsdifferent aufgefasst werden.“ Eine philosophische Variante der These vom Fehlen der Bedeutung im Stil ist die Auffassung von der Einzigartigkeit des Stils (Schleiermacher) oder sogar von der Unaussprechlichkeit dessen, was den Stil ausmacht. Sartre etwa vertritt diese Auffassung wie folgt: „Der Stil will etwas sagen, aber dies ist nichts, was sich sagen ließe, nichts an Bedeutung“ (zit. nach Biti 2001, 755).
5. Pragmatik des Stils Die stilistische Pragmatik untersucht die Wirkung des Stils in sprachlichen Handlung (Sandig 1978), und sie betrachtet die damit verbundenen Prozesse der Produktion und Rezeption der Zeichen.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
5.1. En- und Dekodieren des Stils Der Prozess der Selektion einer stilistischen Variante (s. 2.1.) impliziert die Enkodierung einer stilistischen Botschaft. In der getroffenen Zeichenwahl manifestieren sich psychologische, soziologische oder kulturelle Determinanten eines Zeichens. Komplementär zur Stilistik des Enkodierens gibt es eine Stilistik des Dekodierens. Stilmerkmale werden zu Zeichen von Autoren und ihrer Zeit oder sogar als deren Wesen überhaupt ausgelegt. Hauptvertreter einer semiotischen Stilistik des Dekodierens ist Riffaterre (1959, 1971). Seine Arbeiten basieren auf Elementen der Informationstheorie und der strukturalen Linguistik. Riffaterre schlägt vor, stilistische Wirkungen ausgehend von den Reaktionen eines hypothetischen Durchschnittslesers zu untersuchen, dessen Dekodierungen durch Erwartungen und somit Vorhersagbarkeiten neuer Zeichen im Verlauf der Botschaft bestimmt sind. Derartige Erwartungsmuster existieren a priori aufgrund der Sprachkodes und der Gattungsnormen, aber sie werden auch innerhalb eines individuellen Textes aufgebaut, wo sie einen Kode a posteriori bilden (Riffaterre 1971, 78). Von diesen Annahmen ausgehend, definiert Riffaterre (1959, 171) einen stilistischen Stimulus als ein Überraschungsmoment, welches durch ein kontextuell nicht vorhersehbares, das Muster störendes Element bewirkt wird. In der Rhetorik hat die pragmatische Dimension der Redestile seit der Antike besondere Beachtung gefunden. Die Wirkung der Zeichen war hier nicht nur eine Frage des Sprachgebrauchs, sondern auch der Gestik, denn eines der Teilgebiete der Rhetorik war die Lehre vom Vortrag (actio), bei der es um eine Schulung zur Verwendung der richtigen Gesten während einer Rede ging (Wülfing 1995).
5.2. Semiotik der Rhetorik Morris (1938, 30) bezeichnet die Rhetorik als „eine frühe und eingeschränkte Form der Pragmatik“. Das Publikum mit triftigen Argumenten zu überzeugen und es dadurch zu Handlungen oder Entscheidungen zu bewegen, zielt auf die pragmatische Dimension des Zeichengebrauchs ab. Hierzu gehören auch die Fragen nach den Funktionen des Diskurses und nach den Schritten, die der Redner zu befolgen hat, um die Rede zu produzieren. Von den pragmatischen Faktoren bei der Kunst der überzeugenden Rede handelt das 2. Kapitel des 1. Buches der Aristotelischen Rhetorik. Hier geht es um drei Überzeugungsmittel eines Redners. Diese sind „entweder im Charakter des Redners begründet oder darin, den Hörer in eine gewisse Stimmung zu versetzen oder schließlich in der Rede selbst, d. h. durch Beweisen oder scheinbares Beweisen“. Mit diesen drei Mitteln sind deutlich die Ausdrucks-, die Appell- und die Darstellungsfunktion der Rede angesprochen (vgl. Bühler 1934; Jakobson 1960). Die appellative Funktion gilt dabei als die vorherrschende. Aristoteles unterscheidet drei Formen des Appells: Der ethische Appell (ethos) hat mit den Tugenden des Redners zu tun, der emotionale Appell (pathos) richtet sich an die Affekte des Hörers, und der rationale Appell (logos) liegt in der Rede selbst. Cicero unterscheidet nur zwei Faktoren: die emotionale und die didaktische Funktion (movere und docere). Horaz fügt die Funktion des Erfreuens (delectare) hinzu. In teilweise bis heute noch unveröffentlichten Schriften hat Peirce eine pragmatische Theorie der Rhetorik entwickelt (vgl. Deledalle 1979, 157⫺67; Podlewski 1982 und Fry
70. Stil als Zeichen 1986). Peirce (CP 2.93) versteht unter spekulativer Rhetorik eine theoretische Wissenschaft, die neben der spekulativen Grammatik und kritischen Logik den dritten Zweig der Semiotik bilden soll. Während die Grammatik die Zeichen selbst und die Logik ihre Beziehung zum Objekt erforschen, untersucht die Rhetorik, wie Zeichen im Geist der Interpreten als Interpretanten wirksam werden. Peirce beschrieb die Rhetorik als die „Lehre der notwendigen Bedingungen der Übermittlung von Bedeutungen durch Zeichen von Geist zu Geist“ (CP 1.444). Er nennt sie ferner die Lehre von „den formalen Bedingungen der Kraft der Symbole oder ihrer Stärke, an einen Verstand zu appellieren“ (CP 1.559). Schließlich ist für ihn die Rhetorik dazu „bestimmt, sich zu einer gewaltigen Lehre zu entwickeln, von der man erwarten darf, dass sie zu den wichtigsten philosophischen Schlussfolgerungen führen wird“ (CP 3.454).
5.3. Angewandte semiotische Rhetorik In der Semiotik des Rechts entwickelt Schreckenberger eine umfassende Theorie der juristischen Rede. Die Rhetorik des Rechts aus semiotischer Perspektive ist Gegenstand der Untersuchung von Podlewski (1982, 83⫺95). Im Bereich der Filmsemiotik behandelt Metz (1968, 117 ff.) die spezifisch rhetorische dispositio des Films. Rhetorische Figuren des Films untersuchen u. a. Kaemmerling (1971) und Metz (1977, 149 ff.). In der Semiotik der Malerei hat die Gruppe μ strukturalistische Kategorien zur Analyse der Stilmittel der Malerei entwickelt (Klinkenberg et al. 1980). In seinen ideologiekritischen Studien zur Werbung und zu anderen Medien bestimmt Barthes die Rhetorik als das semiotische Gegenstück von Mythos und Ideologie. Barthes (1957, 259) definiert die Rhetorik hier als „eine Gesamtheit festgelegter, geregelter, insistierender Figuren“ und untersucht die Rhetorik der Rechten, in deren Diskussion er u. a. Figuren wie die Tautologie („Etwas ist so, weil es so ist“) oder die Figur des WederNoch feststellt. In seinem System der Mode ist das rhetorische System eine Analyseebene, die er im Sinne der Semiotik von Louis Hjelmslev wie folgt beschreibt: Der rhetorische Signifikant ist die Phraseologie, mit deren Hilfe Modejournale überzeugen wollen; das rhetorische Signifikat ist die „Ideologie der Mode“. Barthes definiert diese ideologischen Signifikanten als Konnotatoren und nennt die Gesamtheit der Konnotatoren eine Rhetorik. Somit erscheint die Rhetorik als die Ausdrucksebene der Ideologie (Barthes 1964a; 1964b; 1967).
6. Syntax des Stils Dass es eine Syntax der Stile und syntaktische Stile gibt, ist aus der Praxis der Stilistik bekannt. Hier geht es etwa um den Unterschied zwischen einfachen und komplexen oder langen und kurzen Sätzen, zwischen dem hypotaktischem Stil der Schachtelsätze und dem parataktischen Stil des „Telegrammstils“ (Hervey 1982, 221⫺227). Der Stil der sprachlichen Syntax ist weitgehend für das verantwortlich, was die traditionelle Rhetorik als Klarheit des Stil (claritas) definiert hat (Göttert/Jungen 2004, 128⫺131). Zur Syntax
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil des Stils im weiteren Sinn gehört auch das System der rhetorischen Figuren (s. 2.5), insofern es von der Anordnung sprachlicher Zeichen im Text handelt. Ein syntaktisches Modell des Stils war eine Zeit lang eines der Forschungsziele der Generativen Grammatik. Stilistische Merkmale waren danach textuelle Oberflächenstrukturen, die durch ein komplexes System syntaktischer Transformationen aus einer stilistisch neutralen Tiefenstruktur erzeugt werden sollten. Die syntaktische Dimension der Texte ist auch die Grundlage von Riffaterres kontextueller Stiltheorie, da für ihn stilistische Erwartungen und Überraschungen durch das kontextuelle Nebeneinander der Zeichen bestimmt sind. Ein großes stilistisches Potential liegt in der Syntax der Schriftzeichen, die anders als in der gesprochenen Sprache nicht nur linear, sondern räumlich angeordnet sind. In den Experimenten mit dem Schriftbild der immer gleichen Botschaften in der Werbung, in den Anordnungen der Schrift in den Comics, aber auch schon im Druckbild einer jeden Tageszeitung zeigen sich spezifische typographische Stile, deren Untersuchung zum syntaktischen Zweig der Graphostilistik gehören (Pfeiffer-Rupp 1984). Zur Syntax der Stile gehören aus der Sicht der Kultursemiotik auch die Stile der Kombination von Bildelementen zu Bildern, von Texten mit Bildern, Sprache mit Musik, von Speisen zu Menüs oder Kleidungsstücken in der Mode (vgl. Shapiro 1983, 210).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Riffaterre, Michael (1971): Essais de stylistique structurale. Paris. Sandig, Barbara (1978): Stilistik: Sprachpragmatische Grundlegung. Berlin. Saussure, Ferdinand de (1916): Cours de linguistique ge´ne´rale. 15. Aufl. Paris 1969. ⫺ Dt. (1931): Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Übers. v. H. Lommel. Berlin 1967. Schreckenberger, Waldemar (1978): Rhetorische Semiotik. Freiburg. Schuh, Hans-Manfred (1982): Aspekte semiotischer Stilbeschreibung. In: Kodikas/Code 4/5, 21⫺37. Shapiro, Michael (1983): The Sense of Grammar. Bloomington. Spillner, Bernd (1982): Stilanalyse semiotisch komplexer Texte. In: Kodikas/Code 4/5, 91⫺106. Spillner, Bernd (1995): Stilsemiotik. In: Gerhard Stickel (Hrsg.): Stilfragen. Berlin, 62⫺93. Todorov, Tzvetan (1967): Litte´rature et signification. Paris. Todorov, Tzvetan (1970): Les e´tudes du style. In: Poe´tique 1, 224⫺32. Uspenskij, Boris A. (1968): Les proble`mes se´miotiques du style a` la lumie`re de la linguistique. In: Information sur les sciences sociales 7.1, 123⫺140. Wülfing, Peter (1995): Antike und moderne Redegestik. In: Gerhard Binder/Konrad Ehlich (Hrsg.): Kommunikation durch Zeichen und Wort. Trier, 71⫺90.
Winfried Nöth, Kassel (Deutschland)
71. Stil und Bedeutung 1. 2. 3. 4.
Bedeutung in sprachwissenschaftlicher Perspektive Bedeutung und Stil als flächige Phänomene Stilanalyse als Bedeutungsanalyse Literatur (in Auswahl)
Abstract There has been a tradition in contemporary linguistics to focus on words when dealing with questions of meaning. However, when analyzing texts, this focus is misleading, as the meaning of a text is not the result of a mere addition of its single constituents. We perceive texts as semantic units which have a meaning that is greater than the sum of its parts, as the meaning of these parts depend on the linguistic surroundings of the words as well as on the complex relations between words, their referents and the knowledge and intentions of the author and the reader. In structural linguistics, style is often considered to be a mere external addition to the meaning of a text, not as a factor which constitutes meaning. In recent years, various approaches in linguistics have tried to overcome this all too narrow view, by using cognitive categories in semantic analysis. The article discusses the tradition of (text) semantics in linguistics, then describes some of the specific ways of how style contributes to meaning, and ends by presenting an example of a text analysis.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Riffaterre, Michael (1971): Essais de stylistique structurale. Paris. Sandig, Barbara (1978): Stilistik: Sprachpragmatische Grundlegung. Berlin. Saussure, Ferdinand de (1916): Cours de linguistique ge´ne´rale. 15. Aufl. Paris 1969. ⫺ Dt. (1931): Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Übers. v. H. Lommel. Berlin 1967. Schreckenberger, Waldemar (1978): Rhetorische Semiotik. Freiburg. Schuh, Hans-Manfred (1982): Aspekte semiotischer Stilbeschreibung. In: Kodikas/Code 4/5, 21⫺37. Shapiro, Michael (1983): The Sense of Grammar. Bloomington. Spillner, Bernd (1982): Stilanalyse semiotisch komplexer Texte. In: Kodikas/Code 4/5, 91⫺106. Spillner, Bernd (1995): Stilsemiotik. In: Gerhard Stickel (Hrsg.): Stilfragen. Berlin, 62⫺93. Todorov, Tzvetan (1967): Litte´rature et signification. Paris. Todorov, Tzvetan (1970): Les e´tudes du style. In: Poe´tique 1, 224⫺32. Uspenskij, Boris A. (1968): Les proble`mes se´miotiques du style a` la lumie`re de la linguistique. In: Information sur les sciences sociales 7.1, 123⫺140. Wülfing, Peter (1995): Antike und moderne Redegestik. In: Gerhard Binder/Konrad Ehlich (Hrsg.): Kommunikation durch Zeichen und Wort. Trier, 71⫺90.
Winfried Nöth, Kassel (Deutschland)
71. Stil und Bedeutung 1. 2. 3. 4.
Bedeutung in sprachwissenschaftlicher Perspektive Bedeutung und Stil als flächige Phänomene Stilanalyse als Bedeutungsanalyse Literatur (in Auswahl)
Abstract There has been a tradition in contemporary linguistics to focus on words when dealing with questions of meaning. However, when analyzing texts, this focus is misleading, as the meaning of a text is not the result of a mere addition of its single constituents. We perceive texts as semantic units which have a meaning that is greater than the sum of its parts, as the meaning of these parts depend on the linguistic surroundings of the words as well as on the complex relations between words, their referents and the knowledge and intentions of the author and the reader. In structural linguistics, style is often considered to be a mere external addition to the meaning of a text, not as a factor which constitutes meaning. In recent years, various approaches in linguistics have tried to overcome this all too narrow view, by using cognitive categories in semantic analysis. The article discusses the tradition of (text) semantics in linguistics, then describes some of the specific ways of how style contributes to meaning, and ends by presenting an example of a text analysis.
71. Stil und Bedeutung
1. Bedeutung in sprachwissenschatlicher Perspektive Die Kategorien Stil und Bedeutung aufeinander zu beziehen, ist keine Selbstverständlichkeit. Jedenfalls nicht dann, wenn Stil als konstitutiv für die Bildung von Bedeutung betrachtet wird, wie es hier der Fall ist. Traditionell wird Bedeutung in der Sprachwissenschaft distinkten sprachlichen Einheiten zugesprochen, in klassischer Weise dem Wort. ,Klassisch‘ meint, dass in der Geschichte der Sprachwissenschaft immer wieder das einzelne Wort Bezugspunkt der Reflexion über Fragen der Bedeutung war, von den Überlegungen Platons und Aristoteles’ zum Verhältnis von Arbitrarität und Motiviertheit bis zum Zeichenbegriff Ferdinand de Saussures und darüber hinaus. Das ist zunächst plausibel und legitim, da das Reden über Bedeutung immer auch ein Nachdenken über das Verhältnis zwischen Wörtern und bezeichneten Gegenständen einschließt, seien diese als ontisch vorgegeben oder als Resultate kognitiver Konstruktionen verstanden: ,Wörter stehen für Dinge‘, so lautet die Formel, oder sind ,Ausdruck mentaler Konstruktionen von Wirklichkeit‘. Wer über das Verhältnis von Sprache und Welt nachdenkt (und damit über Bedeutung), stößt daher zunächst auf das Wort. Diese Orientierung am einzelnen Wort als dem Träger von Bedeutung bedeutet nicht, dass sich die Sprachwissenschaft nicht der Bedeutungsqualität größerer und kleinerer sprachlicher Einheiten bewusst war und ist. Dass auch Morphemen Bedeutung zuerkannt wird, ganzen Sätzen bzw. Äußerungen oder Propositionen und schließlich Texten, ist eine Selbstverständlichkeit. Dabei ist aber keineswegs die Annahme zwingend, dass die Bedeutungen der über das Wort hinausgehenden Einheiten quasi additiv aus den jeweils kleineren Einheiten aufgebaut werden, die Satzbedeutungen also aus den Bedeutungen der Wörter, die Textbedeutungen aus denen der Sätze. Dennoch hatte vor allem die konsequent systemlinguistische Sicht auf Sprache eben das zur Folge. In etlichen einführenden und damit auch die Lehre prägenden Darstellungen und in Lexika der Sprachwissenschaft finden sich insbesondere seit den späten sechziger Jahren Formulierungen dieser Art (Ulrich 1972, s. v. Bedeutung): „B. [d. h. Bedeutung, A. G.] des Wortes enthält der Lexikoneintrag eines Lexems, B[edeutung] des Satzes ergibt sich aus den B[edeutungen] seiner Konstituenten (Lexeme) zuzüglich der semantischen Interpretation ihrer syntaktischen Beziehungen“. Die prototypischen Fälle, die hinter einer solchen Bestimmung stehen, dürften Sätze wie diese sein: Die Katze ist grau vs. Die Katze ist schwarz (Relevanz der lexikalischen Bedeutung) und Die Katze ist grau vs. Die Katzen sind grau (Relevanz der grammatischen Bedeutung). Bei der Beschreibung der Bedeutungen sprachlicher Einheiten entsprach dieser Sicht auf Sprache vor allem die Merkmalsanalyse. Was die Merkmalsanalyse sehr gut zu leisten vermochte ⫺ effizientes Werkzeug eines ersten, gliedernden Zugriffs auf das Bedeutungspotential eines Ausdrucks zu sein ⫺ wurde von der unausgesprochenen Annahme überlagert, am Ende einer Analyse die präzise Beschreibung der Bedeutung des Ausdrucks zu besitzen. Die vermeintliche Eindeutigkeit der Alternative von An- oder Abwesenheit einzelner Seme suggerierte, dass die Entscheidung über die Bedeutung eines Ausdrucks auf der Ebene seines isolierten Vorkommens getroffen werden könne, so, als sei seine langue-Bedeutung auch seine Textbedeutung. Natürlich wurde und wird zwischen der Systembedeutung und der Äußerungsbedeutung unterschieden, Letztere aber wird nicht selten als exakt definiertes Element aus einem festen Satz von Bedeutungsmöglichkeiten begriffen. Gefragt wird also z. B. danach, ob bei dem Vorkommen des Wortes Schloss in
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil einem Text die Bedeutung A (,Mechanismus zur Verriegelung‘) oder aber B (,palastartiges Gebäude‘) relevant ist, und insofern wird dem Kontext des einzelnen Ausdrucks durchaus Einfluss auf sein angemessenes Verstehen und auch auf die Gesamtbedeutung eines Textes zuerkannt. Ist die Entscheidung zwischen Bedeutung A und Bedeutung B aber einmal gefallen, scheint der Kontext keine Rolle mehr zu spielen. Dass jedoch unterschiedliche Bedeutungen in sich gar nicht so definitiv abgeschlossen, sondern durch die sprachliche Umgebung beeinflusst sein mögen, dass beim Leser durch das textsemantische Zusammenspiel verschiedener Ausdrücke ein ganz bestimmter Eindruck vom ,Tenor‘, ,Duktus‘, ,Ton‘ eines Textes entstehen könnte, der für ihn wichtiger Teil seiner Bedeutung ist, kann mit dieser reduktionistischen Bedeutungsauffassung nicht erklärt werden. Die Vorstellung von der präzise benennbaren, in sich ruhenden Wortbedeutung hat ihr Pendant auf der Ebene des Satzes. Was dagegen semantisch zwischen den Sätzen geschieht, kommt zum einen zwar durch ihre Binnenstrukturen zustande, vollzieht sich zum anderen aber auch im Zusammenwirken dieser Binnenstrukturen mit den transphrastischen Konstituenten des Textes. Peter von Polenz’ Deutsche Satzsemantik ist ein Pionierbeispiel für den Versuch, diese semantische Grauzone auszuloten, und der Untertitel seines Buches ist nach wie vor treffend: Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. Man könnte vermuten, das Problem der Definitheit bzw. Offenheit von Bedeutung damit lösen zu können, dass man in der oben angedeuteten Weise zwischen Bedeutung und Sinn unterscheidet, wobei Bedeutung dem Zeichen als solchem zugesprochen wird, der Sinn dagegen ins Pragmatische verlegt, also von der aktuellen Handlungsabsicht des Sprechenden/Schreibenden abhängig gemacht wird. Mit dieser gängigen Unterscheidung geht meist die Überzeugung einher, dass die Sprachwissenschaft für den Sinn nicht zuständig sei, weil der sich von Text zu Text ändere, die linguistische Beschreibung jedoch auf das Musterhafte zugrundeliegender Strukturen ziele. Natürlich ist der je individuelle Sinn eines Textes kein Gegenstand der Sprachwissenschaft, aber die Art und Weise seines Zustandekommens ist es sehr wohl. Denn das semantische Zusammenwirken der sprachlichen Konstituenten im Text ist keineswegs dem Zufall oder dem immer wieder neuen, rein individuellen Wollen des Autors überlassen, sondern folgt Mustern, die sich mit dem entsprechenden analytischen Instrumentarium erfassen lassen. Eben das belegt ein Blick in Bücher wie die Deutsche Satzsemantik und eine Reihe neuerer Publikationen (zum Methodischen s. u. 3). Es wäre ein Irrtum anzunehmen, das Problem eines reduktionistischen Bedeutungsbegriffs ließe sich in den Griff bekommen, indem die rein systembezogene Perspektive durch eine pragmatische erweitert würde. Sprechen und Schreiben als eine Form menschlichen Handelns in der Welt zu begreifen bedeutet nicht automatisch, die Spezifik der Bedeutungsbildung in Texten angemessener zu beschreiben. Ob man die Bedeutung der Konstituenten eines Textes (und als Folge des Textes insgesamt) deshalb für definit hält, weil man ihren Stellenwert im Sprachsystem genau zu kennen glaubt und diesen Stellenwert dann auf den Text überträgt, oder deshalb, weil man sie vor dem Hintergrund von Gebrauchstheorien der Bedeutung in der Tradition Wittgensteins für kommunikativ mehr oder weniger fest eingespielt hält, ändert nicht notwendigerweise etwas am Ergebnis der semantischen Beschreibung. Das Problem liegt eher in der erwähnten Orientierung der Linguistik am Musterhaften sprachlicher Strukturen, am Typischen, Kategorialen, eine Orientierung, die das Individuelle lediglich in seinem Beitrag zur Konstitutie-
71. Stil und Bedeutung rung des Musters wahrnimmt, nicht jedoch in seiner ganz eigenen Individualität. Um das individuelle sprachliche Phänomen überhaupt als musterbildend wahrnehmen zu können, wird häufig das schwer Einzuordnende des Phänomens, das allzu Individuelle an ihm, ausgeblendet. Dieses Vorgehen, das letztlich von einem homogenen Begriff vom Sprachsystem geleitet ist, kann den Blick auf die sprachlichen Realitäten verstellen. Die moderne Soziolinguistik etwa konnte zu ihren Forschungsergebnissen überhaupt nur gelangen, weil sie vom (standardsprachlichen) System abweichende Sprachformen nicht lediglich als individuelle Abweichungen betrachtete, sondern nach einer bislang unbekannten Systematik innerhalb dieser Abweichungen suchte. Ähnlich ist die Sprachwissenschaft ⫺ nicht nur in der Teildisziplin Textlinguistik, auch in Teilen der Lexikologie und der Syntax ⫺ aufgefordert, die Mechanismen der Bedeutungsbildung in Texten in einer Weise in den Blick zu nehmen, die der sprachlichen Realität gerecht wird. Wir nehmen Texte semantisch nun einmal nicht als additiv gebildete Summe von Wörtern und Sätzen wahr. Der hier als reduktionistisch bezeichnete Bedeutungsbegriff steht in einem eigentümlichen Gegensatz zu bestimmten sprach- und erkenntnistheoretischen Ansätzen. Es handelt sich um all jene Ansätze, die Bedeutung nicht über den Verweis sprachlicher Zeichen auf eine außersprachliche Wirklichkeit bestimmen, sondern als Resultat kognitiver Konstruktionen. Konstruktivistische Theorien gibt es in unterschiedlicher Ausprägung seit dem 18. Jahrhundert, massiv seit der romantischen Kritik am rationalistischen Erkenntnisoptimismus der Aufklärungszeit. Allen ist gemeinsam, dass sie der Sprache ein erkenntnistheoretisches Apriori zuerkennen, Sprache als ganz entscheidend für die Wahrnehmung und intellektuelle Verarbeitung der Wirklichkeit betrachten. Die Gegenposition dazu, der erkenntnistheoretische Realismus, der eine in jeder Hinsicht sprachunabhängig erkennbare Wirklichkeit und eine sich auf diese erkannte Wirklichkeit post festum beziehende Sprache annimmt, ist im großen Umfang wohl zuletzt auf der Basis der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie formuliert worden (ein prägnantes Beispiel bietet Kade 1971). Aktuell begegnen konstruktivistische Positionen in besonderer, vielleicht zu weitgehender Zuspitzung im Radikalen Konstruktivismus, wonach Referenz lediglich auf die „Innenansichten“ (Rusch 1985, 99) der Sprecher, nicht auf eine außersprachliche Wirklichkeit möglich ist (vgl. auch Maturana 1982, 73). Im Bereich der Texttheorie entspricht dieser Position das Leugnen der Möglichkeit, die Bedeutung von Texten objektiv bestimmen zu können. Am prägnantesten wurde diese Skepsis gegenüber interpretatorischer Objektivität vielleicht von Jacques Derrida formuliert, in seiner Kritik an der Annahme eines verbindlich beschreibbaren Sinnzentrums im Text (1992, 424): Infolgedessen mußte man sich wohl eingestehen, daß es kein Zentrum gibt, daß das Zentrum nicht in der Gestalt eines Anwesenden gedacht werden kann, daß es keinen natürlichen Ort besitzt, daß es kein fester Ort ist, sondern eine Funktion, eine Art von Nicht-Ort, worin sich ein unendlicher Austausch von Zeichen abspielt. Mit diesem Augenblick bemächtigt sich die Sprache des universellen Problemfeldes. Es ist dies auch der Augenblick, da infolge der Abwesenheit eines Zentrums oder eines Ursprungs alles zum Diskurs wird ⫺ vorausgesetzt, man kann sich über dieses Wort verständigen ⫺, das heißt zum System, in dem das zentrale, originäre oder transzendentale Signifikat niemals absolut, außerhalb eines Systems von Differenzen, präsent ist. Die Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche.“
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
Damit wird im Grunde der Saussuresche Gedanke der valeur, wonach die Wörter einer Sprache ihre Bedeutungen ex negativo, in Abgrenzung von den Bedeutungen anderer Wörter erhalten, aufgegriffen und auf den Text übertragen. Selbst wenn in der Texttheorie die sehr weitgehende Annahme Derridas von einem unendlichen „Spiel des Bezeichnens“ nicht überall geteilt wird, wird ein Text von Theoretikern nur selten in ein festes semantisches Gefüge eingebunden, das aus den Eckpunkten Autor, Leser und Welt besteht, jedenfalls nicht in der Weise, dass man die Bezüge zwischen dem Text und diesen Eckpunkten als eindeutig beschreibt (ein Text spiegelt verlässlich die Realität, ist verbindlicher Ausdruck der Intention seines Verfassers und ist eindeutig an einen Rezipienten gerichtet). Das bestätigt ein Blick in Arbeiten von zahlreichen Hermeneutikern und Literaturwissenschaftlern (stellvertretend für viele: Hans-Georg Gadamer: „[…] immer übertrifft der Sinn eines Textes seinen Autor“ [1986, 301] und Gottfried Gabriel [1991, 154]: „Dichtung bezieht sich nämlich nicht direkt (referentiell) auf Wirklichkeit, sondern nur indirekt (exemplarisch)“ usw.). Für die aktuelle Theoriebildung am folgenreichsten ist die Darstellung dieser Zusammenhänge durch Michel Foucault. Seine Auflösung vermeintlich fixer Kategorien wie Text, Werk, Autor, Epoche in den sich stets in Bewegung befindlichen Diskurs hinein, das radikale Infragestellen sicher geglaubter kausaler und teleologischer Zusammenhänge bei der Analyse dieser Kategorien, wie sie etwa die Archäologie des Wissens bietet (1981), haben ihn zum festen Bezugspunkt konstruktivistischer Ansätze in unterschiedlichen Disziplinen gemacht. Was die Sprachwissenschaft betrifft, so ist sie als Disziplin zwar insgesamt in ein sprach- und erkenntnistheoretisches Umfeld eingebettet, das konstruktivistische Züge trägt, jedoch begegnen in ihr immer auch theoretische Beschreibungen und Praktiken des Arbeitens, die eher ein realistisches, objektivistisches Bedeutungskonzept vermuten lassen. Zum Teil hängt das sicher damit zusammen, dass die Texte, mit denen sich die Sprachwissenschaft befasst, meist Gebrauchstexte sind, also Texte, die in der Regel genau definierbaren lebenspraktischen Zwecken dienen. In prototypischer Weise trifft das etwa auf Fachtexte zu, und die linguistische Beschäftigung mit ihnen ist dementsprechend ausgerichtet: Eine Äußerung in einem Fachtext soll „Resultat objektiver Gegebenheiten“ sein (Panther 1981, 248), das fachgebundene Denken ist auf das „Ding als solches“ (Jahr 1993, 43) gerichtet, die Sprache von Fachtexten soll „möglichst […] eindeutige Informationsübertragung“ (Hahn 1980, 390) garantieren, soll sich durch „Eindeutigkeit, Bestimmtheit und Genauigkeit“ (Schippan 1987, 245) auszeichnen. Umgekehrt wird nicht verwundern, dass sich Theoretiker, die Elemente konstruktivistischen Denkens in ihre Überlegungen aufgenommen haben, häufig auf Texte beziehen, die weniger einer alltagspraktischen Verwendung unterliegen, sprachlich oft komplex sind und zudem den individuellen Gestaltungswillen ihres Verfassers erkennen lassen. In der Tradition der Hermeneutik sind dies vorwiegend philosophische und literarische Texte (die juristische Hermeneutik und die theologische Exegese sollen hier unberücksichtigt bleiben), später dann dominieren Letztere. Interessant ist aber, dass auch in Bezug auf solche Texte immer wieder die Rede davon ist, die ⫺ d. h. die eine ⫺ Bedeutung des Textes im Vorgang der Rezeption zu erschließen. Der bereits erwähnte Hans-Georg Gadamer etwa nennt Kriterien für die „Richtigkeit des Verstehens“ (1959, 57) und fordert dazu auf, „sich wahrhaft anzueignen, was in dem Text gesagt ist“ (1986, 392). Damit wird sowohl dem Text eine feste Bedeutung zugesprochen (was in ihm gesagt ist) als auch die Möglichkeit eines richtigen, erschöpfenden Verstehens angedeutet (wahrhaft aneignen). Selbst die Rezeptionsästhetik der siebziger Jahre, die so großen Wert auf die bedeu-
71. Stil und Bedeutung
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tungsschaffende Aktivität des Lesers legte, zeigte solche Reflexe (man lese Wolfgang Isers Analyse des Ulysses von 1972, in der der Text ganz traditionell als unmittelbarer Niederschlag kommunikativer Intentionen seines Autors James Joyce beschrieben wird). Auch der in anderen Arbeiten konsequent konstruktivistisch argumentierende Siegfried J. Schmidt sieht das Verstehen von Texten festgelegt durch im Text angelegte „Instruktionen“ an den Verstehenden, „bestimmte Interpretationen“ vorzunehmen (1976, 75 f.). Die Neigung, Texte auf ganz bestimmte Bedeutungen festzulegen, hat sämtliche konstruktivistischen Ansätze überlebt und findet sich auch in der Gegenwart. Ein Blick in literaturwissenschaftliche Interpretationen ⫺ deren Verfasser in ihrer theoretischen Positionierung jedem Objektivismus abschwören würden ⫺ belegt es sofort. Auch die Rückbindung des Textes an den Autor, also seine Sicht als unmittelbarer Niederschlag der Intentionen des Autors, begegnet immer wieder, trotz aller Warnungen vor der intentional fallacy (Beardsley/Wimsatt 2000). Diese Rückbindung ist in der Sprachwissenschaft noch ausgeprägter, da im Zuge des pragmatischen Handlungsgedankens alles Sprechen und Schreiben als Ausdruck einer kommunikativen Intention begriffen wird: Texte (umso mehr Gebrauchstexte) sind sprachliche Größen, mittels derer sich jemand an einen anderen wendet. Wird nach ihrer Bedeutung gefragt, ist der Autor die erste Instanz, die Frage zu beantworten, er muss schließlich wissen, was er in seinem Text hat sagen wollen. Die Frage nach der Bedeutung eines Textes wird durch den Rekurs auf den Autor geklärt. Dass trotz konstruktivistischer Theorie die Praxis des semantischen Umgangs mit Texten zu großen Teilen realistisch ist, kann aber im Grunde nicht überraschen. Letztlich ist es ein Ausdruck dessen, was Hans Hörmann den Sog nach Sinn nennt (Hörmann 1976): des nicht hintergehbaren Dranges, die Welt über Texte erklärbar zu machen und uns in ihr zu verorten. Wir begegnen Texten mit einem Vertrauensvorschuss, gestehen ihnen, bis zum Beweis des Gegenteils, zunächst einmal zu, dass sie sinnvoll sind. Die Hermeneutik spricht hier von hermeneutischer Billigkeit (aequitas hermeneutica), an anderer Stelle ist vom Wohlwollensprinzip bzw. principle of charity die Rede (aus der Perspektive der Philosophie: Davidson 1984). Unsere gesamte Erfahrung zeigt uns zudem, dass wir Texten ⫺ Fachtexten, Gebrauchsanweisungen, Zeitungsartikeln usw. ⫺ durchaus eindeutige Bedeutungen zuschreiben können und damit unseren Alltag gut bewältigen können. Im Gegenteil hätten wir wohl eher dann Probleme, wenn wir unsere Bedeutungszuweisungen permanent relativieren würden. Das ändert nichts daran, dass es für die theoretische Beschreibung so etwas wie objektive, eigentliche Bedeutungen von Texten nicht geben kann, die Kritik am „Fetisch des Klartexts“ (Bolz 2000, 97) ist von ihrer theoretischen Begründung her stimmig. In semantischen Fragen verliert sich jede Objektivität und Eigentlichkeit in der Komplexität der Relationen zwischen den Konstituenten des Textes und seinen Bezügen zu Autor und Leser. Allerdings, das sei hinzugefügt, ist die Betonung der Unmöglichkeit objektiver Bedeutung und ihres analysierenden Nachvollzugs in einschlägigen Arbeiten nicht selten überzogen. Häufig lässt sie außer Acht, dass nur die wenigsten der über einen Text getroffenen Aussagen überhaupt strittig diskutiert werden und dass die Hervorhebung des grundsätzlichen Konstruiertseins von Bedeutung keineswegs die Annahme beinhaltet, an Stelle einer bestimmten Aussage über die Bedeutung eines Textes könne ebenso gut auch jede andere getroffen werden. Zwar ist es richtig, dass alle Feststellungen zur Bedeutung in dem Sinne ,beliebig‘ sind, als sie auf (im Prinzip veränderbaren) Konventionen beruhen, doch sind sie in einem anderen Sinne keineswegs beliebig, ebenso wenig, wie es in unser Belieben gestellt ist, zu einem
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Tisch im Deutschen etwas anderes als Tisch zu sagen, etwas wie Stuhl oder Bank. Einmal etabliert, gewinnen solche Kategorien ontischen und damit objektiven Charakter und sind nicht mit dem Hinweis auf die ,Konstruktion jeder Bedeutung‘ aus der Welt zu schaffen. Schon deshalb ist im praktischen Umgang mit Texten der Reflex einer objektivistisch-realistischen Bedeutungserschließung Teil und sogar Voraussetzung der Bewältigung des Alltags. Weniger dieser objektivistisch-realistische Reflex ist also das Problem ⫺ jedenfalls dann nicht, wenn der Verstehende grundsätzlich bereit ist, sein Urteil über den Text gegebenenfalls zu revidieren ⫺, sondern die Annahme, die Bedeutung auf eine eher mechanistische Weise erschließen zu können, durch so etwas wie das Aufaddieren von Wortund Satzbedeutungen. Stil wird dabei meist nicht als bedeutungskonstitutiv wahrgenommen, gilt als eine für die semantische Substanz des Textes irrelevante Größe. Tatsächlich aber konstituiert sich Bedeutung auch durch Stil, was aber nur dann deutlich wird, wenn sie nicht nur punktuell an isolierte Elemente des Textes geknüpft wird.
2. Bedeutung und Stil als lächige Phänomene Bedeutung in Texten ist ein flächiges Phänomen, das hat sie mit Stil gemein. Sie entsteht ⫺ was hier immer zu lesen ist im Sinne von: wird vom Leser gebildet ⫺ natürlich ganz entscheidend durch die punktuelle Präsenz einzelner Wörter und Aussagen (zum Konzept der flächigen und punktuellen Bedeutungsbildung s. 3.2). Aber sie entsteht auch zwischen den Wörtern und Aussagen, durch die Art und Weise ihrer Kombination. Manfred Frank spricht vom Wort als einer bloßen „Zeichenhülse“ (1980, 154), als die es im Text zunächst anwesend ist. Ihre semantische Füllung durch den Leser geschieht vor dem Hintergrund des Wissens um die Systembedeutung des Wortes und durch das intuitive In-Bezug-Setzen des Wortes zu seiner sprachlichen Umgebung. Dabei gilt, dass alles an einem Text potentiell bedeutungstragend ist, seine lexikalischen Elemente, seine grammatischen Formen und alle Gestaltungsmittel, die Elemente und Formen in Beziehung zueinander setzen, einschließlich der Strukturen des Textes als ganzem, d. h. seines Aufbaus, der argumentativen Verknüpfung seiner Segmente usw. In ihrem Ensemble bilden diese Größen den Stil des Textes. Da sich die Semantik zu großen Teilen zunächst auf das Wort bezieht, bleibt die textsemantische Dimension vor allem der grammatischen Formen oft unberücksichtigt. Dass aber die Verwendung bestimmter morphologischer und syntaktischer Formen z. B. in einem literarischen Text zur Charakterisierung der Befindlichkeit einer Person dienen kann, ist offensichtlich, und Entsprechendes gilt potentiell für alle grammatischen Kategorien (zu den Bezügen zwischen Grammatik und Semantik, auch unter dem Gesichtspunkt des Textverstehens, s. Köller 1988 u. 2004). Was hier als In-Beziehung-Setzen der einzelnen Konstituenten eines Texts bezeichnet wurde, geschieht, wie eingangs angedeutet, nicht in jedem Text auf eine immer neue Weise. Natürlich sind keine zwei Texte identisch, sodass auch ihre textinternen Relationen nicht identisch sind. Allerdings lassen sich bei der semantischen Gestaltung von Texten Muster erkennen, die vor allem von der Textlinguistik, der modernen Stilistik und traditionell auch von der Rhetorik untersucht wurden (zum Konzept des Musters vgl. im vorliegenden Handbuch Ulla Fix: Muster und Abweichung in Rhetorik und Stilistik). Daneben befassen sich noch eine Reihe anderer Disziplinen bzw. Teildisziplinen mit
71. Stil und Bedeutung
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solchen Fragen, darunter die linguistische Diskursanalyse (zu den einzelnen Verfahren s. u. 3). Die Wahrnehmung der semantisch relevanten Textmuster ⫺ genauer: ihr Wiedererkennen ⫺ und die Wahrnehmung der individuellen Abweichung vom Muster im aktuell vorliegenden Text vollzieht sich, wie erwähnt, zunächst intuitiv. Die individuelle Abweichung lässt sich mit der gestaltpsychologischen Kategorie von Figur und Grund beschreiben: Vor einem einheitlichen Hintergrund, dem Grund, hebt sich „eine ,ins Auge springende‘ Gestalt“ erkennbar ab (Städtler 1998, 330). Die Analyse jedoch kann und muss diesen Vorgang bewusst nachvollziehen. Dabei wird sie notwendigerweise weit über die Angabe etwa einer Reihe semantischer Merkmale bei der Beschreibung der Bedeutung einzelner Wörter hinausgehen und mit Kategorien wie Präsuppositionen, Implikaturen, Frames, Schemata, Stereotype, Kollektivsymbolen usw. operieren. Den Kategorien ist gemein, dass sie eine kognitive Dimension besitzen, sich auf komplexe Wissenseinheiten der Sprachbenutzer beziehen. Bei der Analyse der Bedeutung geht es um die Frage, welche Wissensbestände durch die Konstituenten des Textes jeweils aufgerufen werden. Texte reihen keine Einzelbedeutungen aneinander, sondern evozieren komplexe Bilder der Realität, und der Nachvollzug dieses Vorgangs ist Aufgabe der sprachwissenschaftlichen Beschreibung (zur Perspektive der Psychologie in dieser Frage vgl. Christmann/ Groeben 1999). Ein Frame etwa ist „eine mehr oder weniger stabile mentale Struktur, die durch ein jeweils thematisches Konzept bestimmt ist“ (Konerding 2009, 96; dazu auch Ziem 2008). Es beinhaltet kollektives Wissen zum jeweiligen Thema und leitet das Verständnis von Texten insofern, als die in einem betreffenden Frame enthaltenen Wissenselemente durch einen Textausdruck in ihrer Gesamtheit evoziert werden. Damit beeinflussen sie wiederum das Verstehen anderer Konstituenten des Textes und so des Textes insgesamt. Neuere Ansätze in der Sprachwissenschaft, die Analysen in diesem Sinne durchführen, zielen nicht auf isolierte Bedeutungen von Textkonstituenten, sondern auf hinter den Texten stehende „epistemische Tiefenströmungen“ (Busse 2003, 177), auf „Denkfiguren“, „Denkstile“ (Knobloch 1992), „Denkschemata“ (Warnke 2002, 132), „Denkmuster“ (Kämper 2005, 236), „Denk- und Wollensgewohnheiten“ (Wengeler 2003, 65), schließlich sogar auf „Mentalitäten“, verstanden als „Gesamtheit der Denkgewohnheiten und Überzeugungen, die das Denken einer sozialen Gruppe bestimmen und die allen Mitgliedern der Gruppe gemeinsam sind“ (Hermanns 1995, 74). Die einzelnen Konstituenten des Textes werden in diese übergeordneten Zusammenhänge eingebettet und lassen sich erst vor ihrem Hintergrund angemessen verstehen. In der Begrifflichkeit der Wissenssoziologie würde man von der „Wirklichkeit der Alltagswelt“ (Berger/Luckmann 1977) sprechen, als deren Ausdruck Texte verstanden werden.
3. Stilanalyse als Bedeutungsanalyse 3.1. Methoden Die Auffassung von Stil und Bedeutung von Texten als flächigen Phänomenen, verbunden mit ihrer Sicht als Niederschlag der sprachlichen Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit bedeutet, dass sich die Textanalyse besonderer Methoden bedienen muss.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Wenn Texte Bilder der Realität entwerfen und die Analyse das Zustandekommen dieser Bilder durch die Betrachtung der Sprache nachvollziehen will, dann kommen nur Methoden in Betracht, die den komplexen innertextuellen semantischen Bezügen und der kognitiven Dimension der Bedeutungsbildung gerecht werden. Dabei kann der Ausgangspunkt durchaus beim einzelnen Begriff liegen. Verfahren der Begriffsanalyse sind in den Geisteswissenschaften spätestens seit den Geschichtlichen Grundbegriffen von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck geläufig. In den Sprachwissenschaften finden sich neuere Arbeiten, die Analysen von Lexemen und Lexemgruppen im oben erwähnten Sinne durchführen (z. B. Bär 1999; Böke 1997; Faulstich 2009; Lobenstein-Reichmann 1998 u. 2008; Müller 2007; Odenwald-Varga 2009; Stukenbrock 2005; weitere Arbeiten s. Bibliographie). Dabei können sie auf traditionelle Kategorien der lexikalischen Semantik zurückgreifen, etwa die des Wortfeldes, das, auf den Text angewandt, dem flächigen Charakter der Bedeutungsbildung entspricht, auch des Bildfeldes, wie es bereits 1976 von Harald Weinrich definiert wurde (dass daneben die sprachliche Variation erfasst wird, die sich in Neologismen, Archaismen, Vulgarismen, Regionalismen, Fachwörtern usw. zeigt, ist selbstverständlich). Zugleich können die Autoren über diese gängigen Kategorien hinausgreifen, indem sie z. B. Metaphernanalysen betreiben oder mit Kategorien wie Schlüsselwörtern, Schlagwörtern/Fahnenwörtern/Hochwertwörtern/Stigmawörtern (zu den Begriffen vgl. z. B. Fix/Poethe/Yos 2003; Klein 1989) usw. arbeiten, gelegentlich erweitert um das Konzept der deontischen Bedeutung (dazu Hermanns 1989 u. 1994). Jenseits des einzelnen Ausdrucks werden in den genannten und anderen Untersuchungen Elemente wie Topoi und Argumentationsformen analysiert (oft auf der Basis von Kienpointner 1983), Präsuppositionen und Implikaturen, Frames usw. Mit zunehmender Häufigkeit wird dabei der Anschluss an das Konzept des Diskurses gesucht, wie es von Michel Foucault entwickelt wurde. Dabei werden Diskurse in der Regel verstanden als Auseinandersetzung mit einem Thema durch größere gesellschaftliche Gruppen, wobei der Diskurs das Wissen und die Positionierungen dieser Gruppen spiegelt und zugleich handlungsleitend ist (vgl. Gardt 2007). Diskursanalyse praktiziert so eine Stilanalyse, die die Bedeutung von Texten erschließt und damit Aussagen über die in den Texten versprachlichten Perspektiven auf die Realität formulieren kann. Dieser Blick auf die Bedeutungsqualität von Stil findet sich nicht nur in der linguistischen Diskursanalyse. Die Textstilistik, wie sie etwa von Ulla Fix (2007) und Barbara Sandig (2006) vertreten wird, teilt diese Orientierung. Auch außerhalb der Philologien begegnen solche Positionen, etwa in Arbeiten aus der Psychologie (z. B. Fiedler/Semin 2002).
3.2. Analysebeispiel Das folgende Beispiel soll dazu dienen, Möglichkeiten einer Stilanalyse als Bedeutungsanalyse zu skizzieren. Es kann nur einige dieser Möglichkeiten illustrieren und wird insbesondere auf den flächigen Charakter der Bedeutungsbildung abheben. Bezugspunkt des Beispiels ist ein Projekt, das anlässlich der Kunstausstellung documenta 12 im Jahr 2007 am Institut für Germanistik der Universität Kassel durchgeführt wurde. Im Zentrum des Projekts stand die Untersuchung der Sprache im Umfeld der Ausstellung (zum Aufbau des Gesamtprojekts und den Namen aller Projektbeteiligten
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s. Gardt 2008). Die Diskussion über eine jeweilige documenta setzt bereits Jahre vor Ausstellungsbeginn ein, mit der Ernennung des künstlerischen Leiters. In Medien und Fachwelt werden intensive Diskussionen über die programmatische Ausrichtung der kommenden Ausstellung geführt, ihrem Selbstverständnis entsprechend, im Laufe der Jahre „zu einem weltweit verbindlichen Seismographen der zeitgenössischen Kunst“ (Internetseite der documenta, Zugriff 3. 1. 2008) geworden zu sein. Damit ist zugleich gesagt, dass die documenta eine Ausstellung von globaler Dimension ist, wie auch der selbstgewählte Titel Weltkunstausstellung illustriert. Durch ihre zeitliche und räumliche Ausdehnung bildet sie einen internationalen Kommunikationsraum, in dem unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen, von den Organisatoren über Künstler, Experten, Vertreter der Medien bis zur kunstinteressierten Öffentlichkeit. Auf diese Weise entsteht ein Diskurs mit verschiedenen Akteuren, Themen und Unterthemen, mit Zentrum und Peripherie. Dieser Diskurs spiegelt und beeinflusst die Wahrnehmung der Ausstellung und ihrer Konzeption, und er spielt sich fast ausschließlich in Sprache ab. Analysen der Texte des documenta-Diskurses lassen also erkennen, welche Rolle die Sprache beim Zustandekommen der documenta 12 als kognitiver Größe, als eines Gegenstands öffentlicher Wahrnehmung genau spielt. Die im Folgenden angeführten Textanalysen beziehen sich auf programmatische Texte vor allem des künstlerischen Leiters Roger M. Buergel, daneben auch auf Pressetexte. Sie zielen vorrangig auf Konzepte und auf Denkfiguren, die sich in den Texten nachweisen lassen. Dabei werden Konzepte als kognitive Repräsentationen eines distinkten Sachverhalts verstanden (in der Tradition von Lakoff/Johnson 1980), Denkfiguren als kognitive Dispositionen eines Autors, die sein Verfassen des Textes leiten. Konzepte werden sprachlich fast ausschließlich durch die Lexik realisiert, dabei häufig durch einzelne Ausdrücke. Sie treten über den Text verteilt in semantischen Feldern auf, die im Unterschied zu Wortfeldern im herkömmlichen Verständnis nicht nur Ausdrücke einer einzigen Wortart umfassen. Denkfiguren dagegen werden auf der Textoberfläche durch sehr verschiedene Elemente realisiert. Die vielen Texten Roger Buergels eigene Denkfigur von Offenheit und Dynamik, d. h. seine Neigung, bestimmte Zusammenhänge als nicht abgeschlossen, nicht statisch, sondern als im Prozess der Entwicklung befindlich einzustufen, kommt durch die Verwendung lexikalischer Ausdrücke, durch den Einsatz von Antithesen, Hypostasierungen, Deagentivierungen, inchoativen Verben usw. zustande. Bei Denkfiguren tritt der flächige Charakter der Bedeutungsbildung in besonderem Maße hervor, da ihre Konturen erst durch die Summe der semantischen Wirkungen der sie konstituierenden sprachlichen Mittel, nicht durch die Wirkung einzelner isolierter Textelemente deutlich werden. Als Ergebnis einer Analyse der documenta-Texte lassen sich sechs programmatische Leitkonzepte benennen: ,Raum‘, ,Zeit‘, ,Publikum/Vermittlung/Bildung‘, ,Politik/Gesellschaft‘, ,Kunst‘, ,documenta‘. Textausdrücke, durch die diese Konzepte realisiert werden, sind im Falle des Konzepts ,Raum‘ z. B.: international, universal, lokal, regional, transnational, transregional, Zentren, Peripherien, geopolitisch usw. (auf die Angabe von Belegstellen wird im Folgenden verzichtet, s. dazu Gardt 2008). Hinzu kommen Aussagen des Typs, wonach Formen lokalen Wissens weltweit zueinander in Beziehung [zu] setzen sind usw. Dem Konzept ,Publikum/Vermittlung/Bildung‘ lassen sich an Ausdrücken bzw. Aussagen z. B. zuordnen: dem Publikum einen Schlüssel [zur Ausstellung] in die Hand geben, ihm Linien vorgeben, es involvieren/animieren, Lernprozesse ermöglichen; ein Ethos der Vermittlung muss gegen eine bloß[e] Konsumhaltung, ästhetische Bildung gegen Akademismus und Didaktisierung durchgesetzt werden usw.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Die Analysen verdeutlichen, dass die Konzepte in einer spezifischen inhaltlichen Prägung auftreten. Im Folgenden ein Auszug aus einem programmatischen Text eines Mitglieds des Leitungsteams der documenta 12 (Hervorhebung A. G.): Eine der zentralen Fragen einer Kunstausstellung unter den Bedingungen einer globalisierten Welt ist die nach der Vermittlung von spezifischem Wissen, von Bildern, die aus den Bedingungen eines Ortes wachsen, sie aber dennoch überschreiten. Wie findet dieses lokale Wissen in der documenta 12 seinen Niederschlag? Wie bildet es sich ab? Wie findet dieser Prozess der Übertragung statt? […] Das Projekt [von documenta 12-eigenen Publikationen, A. G.] streut seine Aktivität von den Mikropublikationen in einem kleinen Sprachraum bis hin zu den einflussreichen transnationalen Medien. In transregionalen Arbeitstreffen […] werden die konzeptuellen und gedanklichen Leitfiguren der einzelnen Publikationen in einem gemeinsamen Redaktionsraum entwickelt.
Die kursiv gesetzten Ausdrücke wurden in der Analyse dem Konzept ,Raum‘ zugeordnet. Der Text zeigt zum einen, dass ,Raum‘ in einem Spannungsfeld von lokalem Raum und globalem Raum erscheint, ein Aspekt, der sich wie ein Leitmotiv durch die Texte des Corpus zieht: Dem durch die Globalisierung entstandenen weltweiten Raum wird der lokale Raum ausgleichend gegenübergestellt, die geopolitischen Identitäten werden mit lokalen Identitäten konfrontiert. Ein Vergleich mit programmatischen Texten früherer Ausstellungen lässt zudem die räumliche Entwicklung der documenta erkennen. Während der ,Raum‘ der ersten documenta von 1955 noch in einem Spannungsfeld von Deutschland und Europa bestimmt wird, lässt die Zunahme entsprechender Einzellexeme, Kollokationen, Phraseologismen usw. die Internationalisierung der Ausstellung bis hin zur gegenwärtigen globalen Veranstaltung erkennen. Zugleich geht aus Textstellen wie der zitierten hervor, dass der skizzierte Raum nicht statisch, sondern offen ist, dass sich die in ihm verorteten Elemente in steter Bewegung befinden (überschreiten, Übertragung, transnational, transregional). Dieses zuletzt genannte Kennzeichen der Texte begegnet auch bei der Charakterisierung anderer Konzepte, z. B. dem der ,Zeit‘ („Wenn man Form nicht als etwas Abgeschlossenes begreift, sondern stark auf dieses Prozessuale achtet, dann lernt man auch, dass sich auf diesem Weg oft Möglichkeiten ergeben“; die documenta ist kein in sich ruhendes „Wissenspaket“, sondern „ein Möglichkeitsraum, der nicht fertig ist, sondern seine Gestaltung einfordert“ usw.). Nicht nur ein einzelnes Konzept wird also in dieser Weise charakterisiert, sondern sämtliche Konzepte, sodass die Charakterisierung Ausdruck einer grundlegenden Perspektive der Autoren auf ihren Gegenstand ist, eben der erwähnten Denkfigur von Offenheit und Dynamik. Diese Denkfigur modifiziert jedoch nicht nur die Leitkonzepte des Diskurses, sondern begegnet in unterschiedlichen stilistischen Formen, darunter in antithetischen Konstruktionen (die documenta soll sich mit der „Zukunft der Menschheit“ befassen und zugleich mit der „Existenz jedes Einzelnen“), im Wechsel zwischen einem autoritativen Sprechen („Ich [Roger Buergel] denke […]“ ⫺ „Ich glaube […]“ ⫺ „Ich meine“) und einem hypostasierten, deagentivierten („Es ist der Anspruch von documenta […]“), in der Verwendung von Totalitätsbegriffen („Was ist das bloße Leben?“; „Ist die Moderne unsere Antike?“; zum Terminus Totalitätsbegriff vgl. Hermanns 1999), im Einsatz inchoativer Verben („[A]ls globale Gesellschaft [müssen wir aber] einen Raum miteinander teilen und […] gemeinsam Wert aushandel[n]. Das ist ein Raum der Verhandlung, den eine Ausstellung eröffnen […] kann“) usw. Diese Art des Schreibens (und Sprechens in Interviews) hat zur Folge, dass die Texte nicht nur im Hinblick auf die Bedeutung einzelner Aussagen, sondern auch insgesamt
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oft schwer verständlich sind. Weite Teile der medialen Öffentlichkeit haben vor allem die Texte Roger Buergels eben so wahrgenommen. Insbesondere die antithetischen Konstruktionen schaffen Oppositionslinien, die sich durch die Texte hindurchziehen und das Verständnis erschweren: Der Autor greift einen Gegenstand auf, indem er zwei Themenaspekte als Pole einander gegenüberstellt, ohne zwischen ihnen argumentativ zu vermitteln. Auf diese Weise musste es fast zwangsläufig zu Reaktionen wie den folgenden kommen, auch wenn den Autoren die genaueren stilistischen Ursachen, die zu Ihrem Urteil geführt haben, nicht bewusst gewesen sein mögen: Roger M. Buergel habe „die Leute bis heute weitgehend im Unklaren darüber [gelassen], wie heiß der Brei eigentlich ist, um den er seit Jahren extrem wortreich herumredet“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20. 5. 2007). In der Berliner Zeitung vom 24. März 2007 finden sich diese Vorwürfe: „[…] mangelnde Professionalität […]. Banalität der meisten seiner Aussagen […] wolkige Andeutungen […]. Aber wie lautet sein eigentlicher Kunstbegriff? […] Wird die documenta traumhaft schön oder furchtbar belanglos? Niemand weiß es ⫺ womöglich auch Buergel nicht.“ Gelegentlich, wenn auch weit seltener, wird die semantische Offenheit der Texte positiv kommentiert: „Sieben Gründe, warum die Documenta die Gesetze des Kunstbetriebs umstürzen wird. […] Auf der Documenta gilt das Sowohl-als-auchPrinzip. […] [Das] hat diese Documenta vielen Ausstellungen voraus: Sie setzt nicht […] auf den schönheitsseligen Populismus der Berliner MoMA-Ausstellung. Sie bleibt unberechenbar, voller Wagnisse […]. So soll sie sein, die Documenta 12: beglückend und gefährdend, befreiend und bedrohend ⫺ eine dialektische Sensation“ (Die Zeit, 12. 4. 2007). Die Autoren der beiden letzten Zitate haben die Denkfigur von Offenheit und Dynamik nicht nur wahrgenommen, sondern machen sie auch, ob bewusst oder unbewusst, in Gestalt antithetischer Konstruktionen zu einem Teil ihres eigenen Stils („Wird die documenta traumhaft schön oder furchtbar belanglos?“ ⫺ die documenta 12 soll „beglückend und gefährdend, befreiend und bedrohend“ werden). Das Beispiel sollte Möglichkeiten einer Stilanalyse als Bedeutungsanalyse aufzeigen. Die beschriebenen Analyseverfahren greifen über die Betrachtung isolierter Textausdrücke hinaus und zielen auf die für Texte charakteristrische flächige Form der Bedeutungskonstitution.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
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Andreas Gardt, Kassel (Deutschland)
72. Stil und Grammatik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Der Problemzusammenhang Die Struktur des Stilbegriffs Die Struktur des Grammatikbegriffs Der Zeichencharakter von Stil und Grammatik Die innere Sprachform Die Normenproblematik Stil als Perspektivitätsproblem Literatur (in Auswahl)
Abstract Style and grammar are to be understood as linguistic subjects whose true representations find their expression in meaningful and communicative signs. Therefore, seen pragmatically, stylistic and grammatical forms have very similar functions. The purpose of these functions
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Andreas Gardt, Kassel (Deutschland)
72. Stil und Grammatik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Der Problemzusammenhang Die Struktur des Stilbegriffs Die Struktur des Grammatikbegriffs Der Zeichencharakter von Stil und Grammatik Die innere Sprachform Die Normenproblematik Stil als Perspektivitätsproblem Literatur (in Auswahl)
Abstract Style and grammar are to be understood as linguistic subjects whose true representations find their expression in meaningful and communicative signs. Therefore, seen pragmatically, stylistic and grammatical forms have very similar functions. The purpose of these functions
72. Stil und Grammatik is to give basic information a more precise meaning in a metainformative way. Thus, stylistic and grammatical forms are evaluated as manifestations of individual and collective efforts to form concise mental conceptions.
1. Der Problemzusammenhang Die Phänomene Stil und Grammatik kann man nur dann sinnvoll miteinander in Beziehung setzen, wenn man beide nicht nur mit dem Form-, sondern auch mit dem Bedeutungsbegriff in Zusammenhang bringt. Obwohl das ein ziemlich selbstverständliches Postulat ist, so trifft man dennoch immer wieder auf Analyseansätze, die eine große abstraktive Energie darauf verwenden, die beiden Phänomene nicht als sinnträchtige Phänomene zu verstehen. So war beispielsweise die so genannte Abweichungsstilistik bestrebt, das Phänomen Stil nur als Abweichung von bestimmten Erwartungsnormen zu beschreiben, und der frühe Chomsky hat auf sehr provokante Weise erklärt, dass die Frage nach der Bedeutung in der Grammatik genauso irrelevant sei wie die Frage nach der Haarfarbe der jeweiligen Sprecher (Chomsky 1971, 93). Es ist immer eine höchst problematische Aufgabe, den begrifflichen Gehalt von komplexen und geschichtsträchtigen Termini wie Stil oder Grammatik präzise bestimmen zu wollen. Dabei gerät man nämlich entweder in die Gefahr, den gängigen Gebrauch dieser Termini in der Sprache zu verfehlen, oder in die Gefahr, Festlegungen zu treffen, die dem Aspektreichtum der jeweiligen Phänomene nicht mehr gerecht werden, da sie diese nur noch in einer sehr verengten Wahrnehmungsperspektive sichtbar machen. Diesem Dilemma wird hier methodisch folgendermaßen begegnet. Zum einen soll versucht werden herauszuarbeiten, in welchen Wahrnehmungsperspektiven bisher die Phänomene Stil und Grammatik betrachtet worden sind und welches Wissen sich im traditionellen Stilund Grammatikbegriff sedimentiert hat. Zum anderen soll versucht werden, Stil und Grammatik als sehr widerborstige Phänomene ernst zu nehmen, die wegen ihrer äußerst vielfältigen Aspekte theoretisch nicht so leicht in den Griff zu bekommen sind. Das bedeutet, dass wir beide Phänomene im Sinne der Semiotik als dynamische Objekte wahrzunehmen haben, die einerseits allen Versuchen einen nachhaltigen Widerstand leisten, sie auf den Begriff zu bringen, und die andererseits die Betrachter dazu nötigen, sich selbst geistig zu bewegen, um ihren Aspektreichtum adäquat zu erfassen. Um beiden Phänomenen theoretisch gerecht werden zu können, müssen wir uns mit einem relationalen Denken anfreunden. Dieses ist im Gegensatz zu einem essentiellen Denken nicht dadurch bestimmt, dass es den Anspruch erhebt, das Wesen der jeweiligen Phänomene aufdecken zu wollen, sondern vielmehr dadurch, dass es das Ziel hat, die jeweiligen Phänomene in Wenn-Dann-Relationen bzw. in Interdependenzbeziehungen kennen zu lernen. Dementsprechend strebt das relationale Denken auch keine abschließende Wesenserkenntnis an, sondern ein offenes Strukturwissen, für das die Spannung zwischen dem jeweiligen Erkenntnisobjekt und dem jeweiligen Erkenntnissubjekt unter Einschluss seiner Erkenntnisstrategien konstitutiv ist. In unserem Fall lässt sich die Eigenart des relationalen Denkens schon am Beispiel der Konjunktion und demonstrieren, mit der hier die Begriffe Stil und Grammatik programmatisch aufeinander bezogen worden sind. Die Konjunktion und signalisiert als grammatisches Zeichen im Prinzip, dass die mit ihr verbundenen Größen nicht völlig verschiedenen Welten angehören, sondern vielmehr
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil auf irgendeine Weise sinnvoll aufeinander bezogen werden können. Sie sagt uns aber nicht, wie die beiden Begriffe sachlich zusammengehören. Schon bei dem Versuch, die Zusammengehörigkeit beider Begriffe zu klären, lernen wir sowohl etwas über die mit und korrelierten Phänomene als auch etwas über die grammatische und stilistische Sinnbildungsfunktion des grammatischen Zeichens und. Zumindest drei Korrelationsvarianten sind denkbar. Erstens kann uns die Konjunktion und signalisieren, dass zwei Einzelgrößen als Teilgrößen einer übergeordneten Größe in Erscheinung treten (3 und 5 ist 8). Zweitens kann sie signalisieren, dass zwei Größen trotz ihrer Eigenständigkeit in bestimmten Hinsichten kategorial miteinander verwandt sind (3 und 5 sind Primzahlen). Drittens kann sie signalisieren, dass zwei Größen auf interdependente und konstruktive Weise eine neue Einheit bilden (2 Wasserstoffatome und 1 Sauerstoffatom bilden 1 Wassermolekül). Diese Beispiele verdeutlichen zweierlei. Zum einen lässt sich die grammatische Relationierungsfunktion der Konjunktion und nicht ohne die genaue Kenntnis der relationierten Größen präzisieren. Zum anderen sind mit dem Gebrauch der Konjunktion und auch bestimmte Relationspostulate des Sprechers verbunden, die den Hörer dazu zwingen, sich die jeweils relationierten Größen so vorzustellen, dass sie mit diesen Postulaten vereinbar werden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ergeben sich drei unterschiedliche, aber sich ergänzende Wahrnehmungsperspektiven für mögliche Zusammenhänge zwischen den Phänomenen Stil und Grammatik. Erstens können wir die beiden Phänomene als natürliche Teilgrößen der Gesamtgröße Sprache ansehen. Dann lässt sich das Phänomen Stil als ein Ordnungszusammenhang verstehen, der sich methodisch auf der Betrachtungsebene der parole erschließt, und das Phänomen Grammatik als einer, der methodisch auf der der langue zugänglich wird. In diesem Denkrahmen kann dann der Stil eines Texts als eine spezifische personen-, epochen- oder textsortenbedingte Auswahl von Formen aus einem vorgegebenen sprachlichen Formenrepertoire verstanden werden. Unter diesen Umständen würde es sich dann aber von selbst verbieten, den verwendeten Analyserahmen selbst in Frage zu stellen und beispielsweise zu debattieren, ob das Phänomen Stil dazu geeignet wäre, den Sinn der Unterscheidung von parole und langue in Zweifel zu ziehen bzw. die kategoriale Opposition der Begriffe Stil und Grammatik. Zweitens können wir die beiden Termini als Bezeichnungen für Ordnungsgrößen ansehen, die hinsichtlich bestimmter Merkmale eine Schnittmenge und hinsichtlich anderer eine Oppositionsmenge bilden. Dann ist zu klären, auf Grund welcher Eigenschaften die Phänomene bzw. Begriffe Stil und Grammatik in einer Analogierelation zueinander stehen und auf Grund welcher in einer Kontrastrelation. Drittens können wir die Termini Stil und Grammatik als Bezeichnungen für recht komplexe Vorstellungsbereiche verstehen, die erst durch die Ausarbeitung von Objektivierungs- und Analysekonzepten ein klares Relief bekommen. Diese Betrachtungsweise impliziert nicht, dass jeder seine eigene Interpretationshoheit über die Begriffsinhalte der Termini Stil und Grammatik hat, sondern nur, dass wir die mit diesen Termini bezeichneten Phänomene als widerborstige Objekte ernst nehmen müssen und dass wir sie nicht vorschnell in das Prokrustesbett von vorgegebenen Theorien und Begriffen stecken dürfen. Vielmehr haben wir uns darum zu bemühen, geeignete Wahrnehmungsperspektiven für sie auszuarbeiten. Dabei können wir uns dann natürlich sowohl an dem gegenwärtigen als auch an dem historischen Gebrauch dieser Termini orientieren, da sich in allen Gebrauchsweisen von Wörtern ein bestimmtes Erfahrungswissen manifestiert hat, das heuristisch zum Einstieg in den hermeneutischen Zirkel eines differenzierten Sachverstehens dienlich sein kann.
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2. Die Struktur des Stilbegris Die historisierende Frage nach der Begriffsgeschichte von Termini ist keineswegs nur von antiquarischem, sondern durchaus auch von sachsystematischem Interesse. Durch sie erschließen sich uns die Motive, die zur Ausbildung und zur Variation von Begriffen geführt haben. Diese Motive gehen im Laufe der Begriffsgeschichte von Termini nie gänzlich verloren, sondern geben den jeweiligen Wörtern eine bestimmte semantische Aura, die ihre Nutzungsmöglichkeiten nachhaltig prägt. Diese Aura ist uns allerdings meist nur über unser Sprachgefühl zugänglich, das uns sagt, in welche Kontexte die jeweiligen Wörter gehören bzw. in welche Geschichten sie verstrickt werden können. Unser heutiger Terminus Stil geht auf das lateinische Wort stilus zurück, mit dem ursprünglich der Griffel für die Beschriftung von Wachstafeln bezeichnet worden ist. Dieser Griffel besaß ein spitzes Ende zum Einritzen von Buchstaben in Wachstafeln und ein plattes Ende, um die eingeritzten Wörter zu Korrekturzwecken wieder beseitigen zu können. Aus dieser Wortgeschichte lässt sich entnehmen, dass sich aus der Bezeichnung für ein Schreibgerät allmählich die Bezeichnung für eine normativ und planvoll gestaltete Schreibart entwickelt hat bzw. die Bezeichnung für eine Machart, die auch auf andere Sachgebiete bezogen werden konnte (Schreibstil, Gattungsstil, Epochenstil, Baustil, Führungsstil, Lebensstil usw.). Bei den verschiedenen Gebrauchsweisen des Wortes Stil hat sich aber immer die Grundvorstellung erhalten, dass das Phänomen Stil etwas mit normorientierten intentionalen Gestaltungsprozessen zu tun hat. Dabei dachte man zunächst an überindividuelle Gestaltungsmuster, aber ab dem 18. Jh. mehr und mehr auch an individuelle Gestaltungs- und Sinnbildungsformen. Die Verschränkung des Stilbegriffs mit normativ und intentional orientierten Gestaltungsprozessen verweist im Bereich der Sprache auf zwei wichtige Implikationen. Einerseits ist der Stilbegriff immer in ganz genuiner Weise mit der Schriftproblematik verknüpft, insofern der schriftliche Sprachgebrauch naturgemäß immer einen höheren Grad an Planung und Durchstrukturierung aufweist als der mündliche. Andererseits steht der Stilbegriff immer in einem sehr engen Zusammenhang mit dem Gestalt- bzw. Gestaltungsbegriff, insofern der Stil eines Textes aus der Befolgung und Variation sprachlicher Normen vielfältiger Art resultiert. Auch der mündliche Sprachgebrauch unterliegt natürlich bestimmten Gestaltungsnormen, nur sind diese längst nicht so differenziert wie im schriftlichen Sprachgebrauch. Während der mündliche Sprachgebrauch im Prinzip eine dialogische Grundstruktur hat und mit Verstehenshilfen rechnen kann, die sich aus der Verschränkung der Rede mit der Situation ergeben bzw. aus der Nutzung von intonatorischen, mimischen und gestischen Zeichen, hat der schriftliche Sprachgebrauch eine monologische und situationsabstrakte Grundstruktur. Schriftlich realisierte Texte müssen in einem sehr hohen Maße sprachlich durchgestaltet werden, um verständlich zu sein, weil die Nutzung zusätzlicher Informationsquellen für den Verstehenden entfällt. Alle relevanten Informationen müssen versprachlicht werden, um Texten einen besonders hohen Grad an semantischer Autonomie zu sichern. Eine solche sprachliche Durchgestaltung ist auch möglich, weil schriftliche Texte im Gegensatz zu mündlichen nicht spontan formuliert werden müssen, sondern vielmehr zeitgedehnt auf planvolle Weise konzipiert werden können, wodurch dann wiederum auch die Ausbildung von differenzierten Textmustern und Stilformen begünstigt wird.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Für die Analyse der Stilproblematik kann uns die Gestaltpsychologie aufschlussreiche Hinweise geben. Sie hat sich nämlich intensiv mit der Frage beschäftigt, in welchem Zusammenhang in Wahrnehmungsprozessen die Wahrnehmung des Ganzen und die Wahrnehmung der Teile steht bzw. wie in solchen Prozessen Analyse- und Syntheseprozesse ineinander greifen. Zur Klärung dieser Problematik hat sie die Primatsthese und die Übersummativitätsthese entwickelt (Wellek 1969, 63 ff.; Köller 1988, 325 ff.). Die Primatsthese besagt, dass die Wahrnehmung des Ganzen sich nicht kontinuierlich aus der Wahrnehmung der Einzelteile ergibt, sondern vielmehr der Wahrnehmung von Einzelteilen vorangeht. Einzelteile könnten praktisch erst nachträglich in analytischen Aufgliederungsprozessen als Bausteine des Ganzen erfasst werden. Dabei wird zugleich angenommen, dass sich nach diesen Aufgliederungsprozessen das Ganze auch prägnanter darbietet als am Anfang. Dieser Prozess der Wahrnehmungsschärfung, in dem durch Analyseund Syntheseanstrengungen aus vagen Vorgestalten über Zwischengestalten prägnantere Endgestalten ausgebildet werden, wird mit dem Stichwort Prägnanztendenz charakterisiert. Wenn ein Wahrnehmungsgegenstand wie z. B. ein Text auf diese Weise eine zunehmend prägnantere Gestalt bekommt, dann gewinnt er damit zugleich auch eine größere Sinnschärfe und Sinntiefe. Die Übersummativitätsthese besagt auf ergänzende Weise, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist bzw. dass die prägnante Sinngestalt am Ende eines Wahrnehmungsprozesses sich nicht aus der bloßen Addition von Teilwahrnehmungen ergibt, sondern vielmehr aus deren konstruktiver Korrelation. Sie besagt weiterhin, dass das Sinnprofil einer Wahrnehmungsgestalt sich nicht logisch stringent aus den jeweiligen Teilen ableiten lässt, weil die Struktur der Gesamtwahrnehmung wiederum erheblichen Einfluss darauf hat, was überhaupt als Teil wahrgenommen wird. Teile sind so gesehen keine fest vorgegebenen Bausteine mit definierten Sinnbildungseffekten, sondern vielmehr variable Bauelemente, die in unterschiedlichen Relationsgeflechten unterschiedliche Sinnbildungsfunktionen bekommen können. Außerdem steht natürlich nicht von vornherein fest, was als Teil und was als Ganzes anzusehen ist, da sich das erst als eine Funktion von Betrachtungsebenen, Erkenntnisinteressen und Wahrnehmungsperspektiven ergibt. Es ist sehr offensichtlich, dass sowohl aus der Primats- als auch aus der Übersummativitätsthese der Gestaltpsychologie wichtige methodische Hinweise abgeleitet werden können, wie man das intuitive Verständnis von Texten über analytische Zugriffe präzisieren kann bzw. wie sich Detailwahrnehmungen synthetisch wieder zu Gesamtwahrnehmungen zusammenführen lassen, sodass sich aus den vagen Vorgestalten einer Textwahrnehmung dann prägnante Endgestalten mit großer Sinnschärfe und Sinntiefe ergeben. Umgekehrt kann dieses Denkmodell auch dabei helfen, dass man sein Einzelwissen über das Sinnpotenzial von grammatischen und stilistischen Formen zu einer klar strukturierten Gestaltung insbesondere von schriftlichen Texten produktiv einsetzen kann.
3. Die Struktur des Grammatikbegris Ebenso wie unsere Stilvorstellung so ist auch unsere Grammatikvorstellung eng mit der Schriftproblematik verschränkt. Der Terminus Grammatik leitet sich von der griechischen Bezeichnung für den Buchstaben (gramma) ab. Dementsprechend bezeichnete man dann auch mit dem Terminus Grammatik zunächst die Kunst des Lesens und Schreibens.
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Bis in die frühe Neuzeit wurde mit dem Terminus Grammatik das benannt, was wir heute mit den Termini Philologie oder Textwissenschaft bezeichnen würden. Erst in der Neuzeit hat sich der begriffliche Inhalt dieses Terminus so verengt, dass mit ihm nur noch das Inventar sprachlicher Formen bzw. die Lehre von diesen Formen bezeichnet wurde, wobei sich das Interesse immer stärker auf die äußere Gestalt dieser Formen konzentrierte und die Frage nach den Funktionen dieser Formen oft ganz nebensächlich wurde. Gleichwohl ist festzuhalten, dass es in allen Schriftkulturen ein immanentes Bedürfnis nach Grammatikunterricht gibt, um prägnante, semantisch autonome Texte herstellen zu können bzw. um schriftlich überlieferte Texte besser zu verstehen. Das pragmatische Bedürfnis, die Sprache mit normierten grammatischen Formen auszustatten, um sie dann als Sinnbildungs- und Sinnvermittlungsinstrument optimal nutzen zu können, zeigt sich nicht nur besonders klar im Zusammenhang mit der Verwendung der Schrift, sondern auch im Zusammenhang mit dem kindlichen Spracherwerb. Der Übergang von Einwort- zu Zweiwortäußerungen kann geradezu als Geburtsstunde der Grammatik bezeichnet werden. In Mehrwortäußerungen muss nämlich immer zwischen der Äußerung als Ganzer und ihren konstitutiven Teilen unterschieden werden, was zwangsläufig dazu führt, den Teilen unterschiedliche Funktionsrollen beim Aufbau des Gesamtsinns einer Äußerung zuzuordnen. Die Ausbildung und Kennzeichnung von Satzgliedern, die Ausbildung von grammatischen Morphemen beim Verb sowie die Ausbildung innersprachlicher Verknüpfungszeichen ist z. B. eine notwendige Folge des Bestrebens, die Sprache als autonomes Sinnbildungswerkzeug zu nutzen. So gesehen zeigt sich, dass die Phänomene Stil und Grammatik genetisch dieselben Wurzeln haben. Die ihnen zuzuordnenden Formen sollen die Sprache tauglich machen, möglichst situationsabstrakte autonome Sinngestalten herzustellen. Die grammatischen Formen sind dabei dann sehr allgemeinen Differenzierungs- und Sinnbildungsbedürfnissen zuzuordnen und die stilistischen Formen eher speziellen und artifiziellen, bei denen es um die semantische Feinstrukturierung und die ästhetische Intensivierung des Sinnreliefs von Texten geht. Die Ausbildung von Stilformen setzt dementsprechend konsequent das Geschäft fort, das mit der Ausbildung grammatischer Formen im phylogenetischen und ontogenetischen Spracherwerb begonnen worden ist. Das bedeutet, dass die Grenze zwischen Stil und Grammatik nicht apodiktisch gezogen werden kann. Individuell entwickelte Stilformen können sich kulturell als so effizient erweisen, dass sie sich nach und nach zu grammatischen Formen verfestigen, wofür die zusammengesetzten Tempusformen und die Passivformen ein gutes Beispiel abgeben, die sich im Deutschen erst am Ende der ahd. Sprachepoche herausgebildet haben. In neuerer Zeit lässt sich vielleicht auf die so genannte erlebte Rede verweisen, die sich zunächst als eine besondere Stilform des Erzählens etabliert hat und die inzwischen wohl ähnlich wie die indirekte Rede als allgemeines grammatisches Muster des Erzählens bzw. der Wiedergabe von Inhalten angesehen werden kann. Leo Spitzer hat ausdrücklich betont, dass grammatische Formen historisch aus funktionskräftigen stilistischen Formen hervorgegangen sind. „Alle Neuerung geht vom schöpferischen Einzelnen aus, nihil est in syntaxi quod non fuerit in stylo. Syntax, ja Grammatik sind nichts als gefrorene Stilistik“ (Spitzer 1961, Bd. 2, 517). Nun ist allerdings einzuräumen und vielleicht auch zu beklagen, dass der neuzeitliche Grammatikbegriff sich gegenüber dem antiken und mittelalterlichen sehr verengt hat und oft nur noch auf die Morphologie sprachlicher Ordnungsmuster Bezug nimmt. Von der Frage nach den sinnbildenden Funktionen grammatischer Formen wird oft abstra-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil hiert, weil man fürchtet, dass grammatische Analysen sonst ihre Exaktheit verlieren und sich weniger gut am Denkstil der Mathematik orientieren können. Ein auf die bloße Form- und Regelproblematik verdünnter Grammatikbegriff verliert aber seine Relevanz für den Stilbegriff, weil grammatisches Wissen dann letztlich nur noch dazu dient, um Aussagen über die Wohlgeformtheit von Äußerungen zu machen, aber keine Möglichkeiten mehr eröffnet, das Sinnpotenzial von Äußerungen umfassend zu erschließen. Ein für den Stilbegriff brauchbarer Grammatikbegriff muss neben der Frage nach der Morphologie grammatischer Formen auch immer die Frage nach den kognitiven und kommunikativen Funktionen dieser Formen stellen. Das ist vielleicht am besten zu bewerkstelligen, wenn man seinen Grammatikbegriff am Zeichenbegriff orientiert und nach der Besonderheit grammatischer und stilistischer Formen als Zeichen fragt.
4. Der Zeichencharakter von Stil und Grammatik Die semiotische Transformation des Grammatikbegriffs lässt sich am besten im Rahmen der Semiotik von Peirce konkretisieren (Köller 1988, 41 ff.). Dessen zeichentheoretische Überlegungen zeichnen sich im Gegensatz zu denen von de Saussure dadurch aus, dass sie nicht auf dem System-, sondern auf dem Funktionsgedanken aufbauen. Da Peirce Zeichen als Mittel der Sinnkonstitution und Sinnzirkulation versteht sowie als Vermittlungsinstrumente zwischen der Objektwelt und der Subjektwelt bzw. zwischen Subjektwelten, sind seine semiotischen Überlegungen sowohl für die Grammatik als auch für die Stilistik sehr interessant. Sie eröffnen die Chance, den Stil- und Grammatikbegriff mit erkenntnistheoretischen, heuristischen und hermeneutischen Überlegungen in Verbindung zu bringen. Allerdings wirft die Verknüpfung des Stil- und Grammatikbegriffs mit dem Zeichenbegriff auch Probleme auf. Zum einen ist zu klären, welche sprachlichen Phänomene überhaupt als stilistische bzw. als grammatische Zeichen anzusehen sind und welchen morphologischen Komplexitätsgrad solche Zeichen haben können. Zum anderen ist zu klären, welche konkreten kognitiven und kommunikativen Leistungen wir den jeweiligen Zeichen zuzuschreiben haben. Diese Fragen sind im Rahmen der Semiotik von Peirce nicht abschließend zu beantworten, da deren Besonderheit darin besteht, dass alle beobachtbaren Phänomene den Status von Zeichen bekommen können, sofern wir ihnen eine Verweisfunktion auf etwas anderes zuschreiben können. Das bedeutet, dass wir den Zeichenbegriff weder an bestimmte Sacheigenschaften von Phänomenen binden dürfen noch an bestimmte Kodekonventionen, sondern allein an die Wahrnehmungs- und Interpretationsweisen für beobachtbare Gegebenheiten. Diese Bindung des Zeichenbegriffs an den Interpretationsbegriff macht die Frage nach den stilistischen und grammatischen Zeichen etwas unübersichtlich, aber zugleich auch sehr spannend, weil es kein fest vorgegebenes Repertoire solcher Zeichen gibt, weil wir die Chance haben, alle möglichen beobachtbaren sprachlichen Phänomene als Zeichen zu deuten und weil die Grenze zwischen stilistischen und grammatischen Zeichen durchlässig wird bzw. sich als eine Funktion von Betrachtungsperspektiven erweist. Zwar können wir sicherlich auf ein Inventar von sprachlichen Formen zurückgreifen, die wir traditionell als grammatische Zeichen (Kasusmorpheme, Konjunktionen, Artikel, usw.) oder als stilistische Zeichen (Parataxe/ Hypotaxe, Attributgebrauch, Metaphern, usw.) ansehen, aber die Menge dieser Zeichen
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ist nicht nur im Bereich des Stils, sondern erstaunlicherweise auch im Bereich der Grammatik nicht abschließend festzulegen (Köller 1988, 53 ff.). So nimmt Humboldt neben einem „ausdrücklich bezeichneten“ Teil der Grammatik auch noch „einen stillschweigend hinzugedachten“ an (Humboldt 1903, Bd. 5, 319). Kaznelson postuliert neben der „evidenten Grammatik“ auch noch eine „latente“ (Kaznelson 1974, 98) und Whorf neben den grammatischen „Phänotypen“ auch noch „Kryptotypen“ (Whorf 1963, 114). Je komplexer die Zeichenträger für grammatische Zeichen sind und je mehr sie aus der spezifischen Kombination von morphologisch einfacheren Zeichenträgern resultieren, desto schwieriger wird es, eine eindeutige Grenzlinie zwischen stilistischen und grammatischen Zeichen zu ziehen, da beide eine ganz ähnliche pragmatische Sinnbildungsfunktion haben. Diese besteht darin, dass sie den Stellenwert einer Grundinformation metainformativ qualifizieren sollen. Das zeigt sich sehr deutlich, wenn wir uns mit dem Problem beschäftigen, wie sich grammatische von lexikalischen Zeichen abgrenzen lassen und auf welches Semantikkonzept wir bei der Analyse grammatischer Zeichen zurückgreifen können. Alle komplexen Zeichensysteme benötigen zwei unterschiedliche Subeinheiten, nämlich solche, die organisiert werden, und solche, die organisieren, also Zeichen für Größen und Zeichen für Operationen. Humboldt hat deshalb auch betont, dass man in der Sprache die Wörter in solche einteilen müsse, „welche die Materie, den Gegenstand, und solche, welche die Form, die Thätigkeit des Denkens betreffen“. Letztere würden nicht die Gegenstände und deren Eigenschaften betreffen, „sondern nur die Beziehungen und Verhältnisse der Begriffe und Dinge aufeinander, und zu dem Verstande, durch den sie gedacht werden“ (Humboldt 1903, Bd. 5, 438 f.). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zur logischen Stufung der Informationsfunktion von sprachlichen Zeichen ist es gerechtfertigt, lexikalische Zeichen als autosemantische Grund- oder Nennzeichen zu qualifizieren, die bestimmte Sachvorstellungen zu objektivieren haben, und grammatische Zeichen als synsemantische interpretierende Metazeichen, die den Stellenwert von Nennzeichen beim Aufbau komplexer sprachlicher Formen vom Wort bis zum Text zu qualifizieren haben. Die konstruktive Verschränkung von lexikalischen und grammatischen Informationen lässt sich deshalb auch als eine Verschränkung von Basisinformationen und Metainformationen verstehen. So informieren uns beispielsweise Kasusmorpheme über die Satzgliedrolle von Substantiven und Konjunktionen über den möglichen Zusammenhang zwischen zwei Einzelaussagen. Wenn in einem Text alle grammatischen Zeichen getilgt würden, dann wird er ziemlich unverständlich, weil wir nicht wissen, in welchem Sinnzusammenhang die lexikalisch objektivierten Einzelvorstellungen stehen. Wenn in einem Text alle lexikalischen Zeichen getilgt würden, dann wird er sinnlos, weil die Vorstellungsinhalte fehlen, die durch grammatische Zeichen interpretiert und relationiert werden sollen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird klar, dass wir die Bedeutung beider Zeichentypen nicht einfach mit Hilfe desselben Semantikkonzeptes erfassen können. Während wir die Bedeutung lexikalischer Zeichen im Prinzip über ihre referenziellen Bezüge zur außersprachlichen Welt beschreiben können, kommen wir mit diesem Verfahren bei der semantischen Analyse grammatischer Zeichen nicht recht weiter. Deshalb hat Weinrich insbesondere für die semantische Analyse grammatischer Zeichen das Konzept einer Instruktions-Grammatik entwickelt (Weinrich 1993, 18). Dieses besagt, dass alle grammatischen Zeichen als Orientierungssignale zu verstehen sind, die der Sprecher in regelmäßigen Abständen setzt, um komplexe Vorstellungsbildungen übersichtlich zu
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strukturieren bzw. um die Verstehensprozesse von Hörern zu erleichtern. Es ist nun offensichtlich, dass sich die konkrete textuelle Instruktionsinformation von grammatischen Zeichen nur dann zutreffend beschreiben lässt, wenn man auch zureichende Kenntnisse über das jeweilige Instruktionspotenzial dieser Zeichen besitzt. Die Frage nach dem Instruktionspotenzial grammatischer Zeichen führt uns dann eine Abstraktionsstufe höher zu dem Problem, welche ontologische Berechtigung die jeweiligen grammatischen Differenzierungsmuster haben. Beispielsweise ließe sich fragen, warum wir im Deutschen grammatisch nur zwischen dem Plural und Singular unterscheiden und auf das Differenzierungsmuster Dual verzichten. Weiter ließe sich fragen, warum wir im Deutschen sechs Tempusformen haben, obwohl wir in der Regel nur die Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden. Solche Fragen lassen sich im Rahmen einer textbezogenen Instruktionssemantik nicht beantworten, sondern nur in dem einer Kognitionssemantik, die sich sowohl an ontologischen als auch an pragmatischen Differenzierungsinteressen orientieren kann. Es ist offensichtlich, dass nicht nur instruktionssemantische Fragestellungen für die Analyse der stilistischen Funktionen grammatischer Zeichen fruchtbar sind, sondern auch kognitionssemantische, weil uns diese ja nicht nur Hinweise auf die Denkstrukturen eines spezifischen Sprechers geben, sondern auch solche auf die spezifischen Differenzierungsinteressen einer bestimmten Sprache oder Kultur. Der stilbildende Wert grammatischer Zeichen speist sich so gesehen aus zwei Quellen. Einerseits resultiert er aus der spezifischen Auswahl, Frequenz und Kombination dieser Zeichen in konkreten Äußerungen. Andererseits resultiert er aus den grundsätzlichen ontologischen Differenzierungsstrategien, die sich in diesen Zeichen objektiviert und sedimentiert haben und die bei ihrem Gebrauch immer wieder verlebendigt werden. Deshalb kann man dann auch sowohl vom Stil eines Textes als auch von dem Stil einer Sprache sprechen, insofern nicht nur Texte, sondern auch Sprachsysteme durchstrukturierte Ordnungszusammenhänge repräsentieren. Mit Hilfe des Konzeptes der inneren Sprachform lässt sich gut erläutern, dass die Phänomene Stil und Grammatik nicht nur oberflächen-, sondern auch tiefenstrukturell aufeinander bezogen werden können.
5. Die innere Sprachorm Wenn man Sprachformen nicht als bloße Transportbehälter für von ihnen unabhängige Inhalte versteht, sondern als Manifestationsformen von Denkmustern, durch die Inhalte erst eine fassbare Erscheinungsgestalt bekommen, dann verbietet es sich von selbst, sein Interesse an der sinnbildenden Kraft der Sprache nur auf die direkt beobachtbaren Sprachformen zu beschränken. Man muss es vielmehr auch auf die Ebene der formbildenden Prinzipien ausdehnen, die zur Existenz dieser Formen geführt haben. Diese Ausweitung des Interesses macht die Frage nach den sinnbildenden Funktionen sprachlicher Formen etwas unübersichtlich, aber zugleich auch fruchtbar, weil sie dabei hilft, die kognitive und kommunikative Funktion von Sprachformen im Kontext ihrer Genese zu beschreiben. Diesbezüglich kann man auch auf eine Parallele bei der Diskussion des Naturbegriffs verweisen. Hier ist es seit dem Mittelalter üblich, zwischen der Natur im Sinne von direkt beobachtbaren Naturphänomenen (natura naturata) und Natur im Sinne von Gestalt bildenden Kräften (natura naturans) zu unterscheiden. Das liegt insbe-
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sondere im Kontext von Entelechievorstellungen nahe, insofern man beispielsweise ein Samenkorn sowohl als geformtes Naturprodukt als auch als Manifestationsweise eines Natur erzeugenden Prinzips betrachten kann. Das Interesse an den form- und damit auch sinnbildenden Kräften hinter den direkt beobachtbaren Formen hat das philosophische und ästhetische Denken seit dem 18. Jh. nachhaltig geprägt. Shaftesbury hat die Begriffe „forming power“ und „form above all forms“ bzw. „inward form“ geprägt, die insbesondere eine große Wirkung in der Klassik und Romantik gehabt haben und wohl auch Humboldt dazu inspirierten, von einer „inneren Sprachform“ zu sprechen (Schwinger 1935, 8 ff.). Auch Cassirer hat im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zu den symbolischen Formen der Sprachreflexion insbesondere folgende Aufgabe gestellt: „Hier kann nur ein Rückschluss vom Geformten zum bildenden Prinzip, von der ,forma formata‘ zur ,forma formans‘ versucht werden“ (Cassirer 1985, 125). Humboldt hat den Begriff innere Sprachform eher beiläufig in die Welt gesetzt, ohne ihn systematisch auszuarbeiten (Humboldt 1903, Bd. 7, 62; 86). Durch Steinthal ist er aber sehr wirksam für die Rezeption der Sprachauffassung Humboldts geworden, insofern er auch seinen Formbegriff sehr gut exemplifiziert. „Unter Form kann man nur Gesetz, Richtung, Verfahrensweise verstehen“ (Humboldt 1903, Bd. 5, 455). Dementsprechend versteht er unter dem Begriff der inneren Sprachform auch nicht eine direkt beobachtbare Sprachstruktur, sondern die sinnbildende innere Kraft einer Sprache. „Nicht, was mit einer Sprache ausgedrückt zu werden vermag, sondern das, wozu sie aus eigner, innerer Kraft anfeuert und begeistert, entscheidet über ihre Vorzüge, oder Mängel“ (Humboldt 1903, Bd. 4, 287 f.). Wenn man in dieser Weise die innere Form einer Sprache als das organisierende Prinzip hinter den konkreten sprachlichen und insbesondere grammatischen Formen versteht, dann kann man hinter dem konkreten sinnbildenden Stil einer Äußerung zugleich auch den sinnbildenden Stil einer Sprache vermuten. Diese fundamentale Objektivierungsstrategie würde dann den Rahmen bilden, in dem sich konkrete individuelle Objektivierungsstile manifestieren können. Wenn z. B. einmal in einer Sprache entschieden worden ist, dass Substantive mit Kasusmorphemen und Verben mit Tempus-, Modus- und Genusmorphemen versehen werden müssen, dann hat das erhebliche Rückwirkungen auf die Ausbildung und die Verwendung des übrigen grammatischen Formeninventars einer Sprache. Obwohl grammatische Formen im Prinzip nicht als Natur-, sondern als Kulturformen anzusehen sind, gibt es quer durch alle Sprachen oft sehr ähnliche Formen, sodass zuweilen auch von angeborenen grammatischen Universalien gesprochen worden ist. Aber hier handelt es sich wohl weniger um angeborene grammatische Ordnungsmuster, sondern eher um Ordnungsmuster, die sich aus systembedingten oder aus lebenspraktisch bedingten Differenzierungsnotwendigkeiten ergeben haben. Grundsätzlich ist diesbezüglich allerdings zu berücksichtigen, dass alle Basisentscheidungen, die bei der Ausbildung grammatischer Ordnungssysteme getroffen worden sind, erhebliche Rückwirkungen sowohl auf die Entwicklungstendenzen des kognitiven Stils einer Sprache haben als auch auf die Möglichkeiten, konkreten Äußerungen einen individuellen Stil zu geben. So ist es z. B. stilistisch nicht unerheblich, dass im Japanischen die grammatische Differenz zwischen Subjekten und Objekten nicht so klar markiert wird wie in den indogermanischen Sprachen. Wegen dieser grammatischen Vagheit kann der Wechsel von einer aktivischen zu einer passivischen Darstellungsweise dann auch nicht als markantes Stilistikum eingesetzt werden. Ähnliches gilt auch für die Differenz von Singular- und Pluralformen, die
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil im Japanischen nicht obligatorisch gekennzeichnet werden müssen. Im Kontrast zu den grammatischen Vagheiten der japanischen Sprache auf diesen Gebieten gibt es in ihr aber einen großen Reichtum von sprachlichen Differenzierungsformen, mit denen soziale Beziehungen markiert werden können. Die Wahl oder Abwahl solcher Formen kann deswegen zu einem wichtigen Stilistikum im konkreten Sprachgebrauch werden (Kishitani 1960, 271⫺281). Für die Beurteilung der inneren Form einer Sprache bzw. für die Beurteilung der sinnbildenden Funktionen grammatischer Formen ist es auch sehr wichtig zu wissen, welche grammatischen Differenzierungskategorien bzw. Zeichen in jedem Sprachgebrauch obligatorisch verwendet werden müssen und welche fakultativ gebraucht werden können. So muss beispielsweise im Deutschen jede Äußerung mit Hilfe von bestimmten Tempus-, Genus- und Modusmorphemen metainformativ qualifiziert werden, ob das nun im konkreten Fall besonders wichtig ist oder nicht. Für den typologischen Vergleich von Sprachen hat Jakobson daraus folgenden Schluss gezogen: „Sprachen unterscheiden sich im wesentlichen durch das, was sie mitteilen müssen und nicht durch das, was sie mitteilen können“ (Jakobson 1974, 159). Zur inneren Form einer Sprache wird man auch den Umstand zu rechnen haben, ob Adjektivattribute prädeterminierend wie im Deutschen oder postdeterminierend wie im Französischen eingesetzt werden, insofern nämlich der prädeterminierende Gebrauch synthetisierende Denkweisen begünstigt und der postdeterminierende analysierende. Auch das Phänomen der Klammerbildung wird man der inneren Form des Deutschen zuordnen können. Wenn nämlich zwischen dem Klammer eröffnenden Hilfs- oder Modalverb und dem Klammer schließenden Hauptverb alle möglichen Informationen eingebettet werden können, dann ergibt sich dadurch nicht nur eine ganz spezifische Erwartungsspannung auf die prädikative Hauptinformation am Satzende, sondern auch eine ganz spezifische Anforderung an unser Kurzzeitgedächtnis in Informationsverarbeitungsprozessen (Weinrich 1993, 29 ff.). Sprachen, die über einen bestimmten Artikel verfügen, wie etwa das Griechische und Deutsche, machen es im Gegensatz zum Lateinischen ungewöhnlich leicht, alle möglichen Wortarten zu Substantiven umzubilden, ohne dabei spektakulär in die Morphologie des Sprachsystems eingreifen zu müssen. Dadurch wird dann das spekulative Denken erleichtert, insofern alle möglichen Phänomene problemlos zu substanziellen Wesenheiten erklärt werden können, über die man dann philosophische Wesensspekulationen anstellen kann (das Gute, das Denken, das Nichts).
6. Die Normenproblematik Die These, dass Normen für die Sprache und insbesondere für die Phänomene Stil und Grammatik eine konstitutive Rolle spielen, ist ziemlich trivial. Sie wird erst interessant, wenn man ihre Prämissen, Implikationen und Konsequenzen aufzudecken versucht. Während es beim Stilbegriff umstritten ist, ob er eher auf die Abweichung von gegebenen oder eher auf die Ausbildung und die spezifische Verwendung von Sprachgebrauchsnormen gegründet werden soll, ist es beim Grammatikbegriff unstrittig, dass er auf die Respektierung von gegebenen Sprachnormen bezogen werden muss. Die metainformative Interpretation lexikalischer Zeichen durch grammatische muss normativ geregelt sein, wenn die intersubjektive Verständlichkeit von Äußerungen gewährleistet werden
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soll. Ohne normierte grammatische Ordnungsmuster entspräche eine Äußerung einem Körper ohne Skelett und bekäme eine quallige Sinngestalt. Eine klare Vorstellungsbildung, ein präziser Informationsaustausch und ein argumentativer Sprachgebrauch wären unmöglich. Je offener man die semantische Normierung lexikalischer Zeichen halten will, desto mehr müssen die grammatischen Zeichen kognitiv und instruktiv normiert werden, was der metaphorische Sprachgebrauch schlagend demonstriert. Die Normierung sprachlicher Zeichen wird allerdings immer dann zu einem Problem, wenn sprachliche Äußerungen nicht nur einem Zweck, sondern zugleich mehreren dienen sollen. Dann müssen sprachliche Ordnungsmuster variiert oder neue entwickelt werden, um die jeweiligen komplexen Objektivierungs- und Mitteilungsziele optimal verwirklichen zu können. Diese Situation ergibt sich insbesondere im natürlichen und poetischen Sprachgebrauch, der seine Flexibilität verlöre, wenn die lexikalischen und grammatischen Zeichen so streng normiert würden wie in den formalisierten Fachsprachen. Die natürliche Sprache bedarf fester Konventionen, wenn sie verständlich sein soll. Sie muss diese Normen aber auch negieren und variieren können bzw. neue lexikalische und grammatische Muster einführen dürfen, wenn sie ihren komplexen kognitiven und kommunikativen Funktionen gerecht werden will. Als sich z. B. am Ende der ahd. Sprachepoche die Differenzierungsbedürfnisse im Tempusbereich so verfeinert hatten, dass sie durch das Präsens und Präteritum nicht mehr zureichend befriedigt werden konnten, hat man zusätzlich vier neue Tempusformen entwickelt, was natürlich zur Folge hatte, dass auch das kognitive Profil und die Gebrauchsweisen der alten Tempusformen im erweiterten Tempusparadigma neu justiert werden mussten. Hinsichtlich der pragmatischen Notwendigkeit, sprachliche Normen sowohl zu stabilisieren als auch zu flexibilisieren, hat Humboldt immer wieder betont, dass man nicht den monologischen, sondern vielmehr den dialogischen Sprachgebrauch zur Grundlage sprachtheoretischer Überlegungen machen müsse. In diesem zeige sich nämlich besonders deutlich, dass das Denken einerseits immer etablierte Sprachnormen durchbrechen müsse, um innovativ zu sein, aber andererseits diese auch immer respektieren müsse, um sich selbst und anderen verständlich zu sein. „Im Menschen aber ist das Denken wesentlich an gesellschaftliches Daseyn gebunden […]. Der Begriff erreicht seine Bestimmtheit und Klarheit erst durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft“ (Humboldt 1903, Bd. 6, 160). Nun ist hinsichtlich der inneren Dialektik von Normen allerdings zu beachten, dass diese hinsichtlich ihrer jeweiligen Funktionsebene natürlich unterschiedliche Grade von Stabilität haben bzw. haben müssen. Grammatische Normen müssen fester als lexikalische und stilistische sein, weil sie deren Fundament bilden. Deshalb hat Hegel auch betont, dass man über das Studium grammatischer Formen zu den elementaren Formen des Denkens vorstoßen könne, auf denen alle bewussten Formen aufbauten. „Die Grammatik hat nämlich die Kategorien, die eigentümlichen Erzeugnisse und Bestimmungen des Verstandes zu ihrem Inhalt; in ihr fängt also der Verstand selbst an, gelernt zu werden“ (Hegel 1986, Bd. 4, 322). So gesehen sind dann stilistische Ordnungsformen in Opposition zu grammatischen genuine Ausdrucksformen individueller Sinnbildungsanstrengungen auf der Basis von schon standardisierten gesellschaftlichen Sinnbildungsmustern. Aus diesem Tatbestand lässt sich ableiten, dass der Begriff Stil in ganz exemplarischer Weise als relationaler Begriff zu verstehen ist, da er sich nur im Bezug auf historische, soziale, textuelle und situative Erwartungsnormen konkretisieren lässt. Solange sprachliche Gestaltungsformen genau dem entsprechen, was man habituell erwartet, fällt
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil es schwer, ihnen eine spezifische Sinnbildungsqualität zuzuschreiben. Erst im Kontext von Alternativen offenbart sich die spezifische Stilqualität von Äußerungsformen. Sprachliche Ausdrücke aller Art können durch die Verwendung in bestimmten Kontexten eine andere kognitive Qualität bekommen. Das lässt sich sprachhistorisch beispielsweise sehr gut an der Konjunktion weil exemplifizieren. Diese geht auf den mhd. Ausdruck di wıˆle zurück, der ursprünglich nur eine zeitliche Verknüpfungsfunktion hatte. Da die zeitliche Verknüpfung aber oft zugleich auch als eine kausale verstanden werden konnte, hat sich allmählich die zeitliche Korrelationsfunktion dieses grammatischen Zeichens ganz zu Gunsten einer kausalen verflüchtigt. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch erleben wir wiederum einen spezifischen Funktions- und Normenwandel bei der Konjunktion weil. Insbesondere im mündlichen Sprachgebrauch wird sie nicht mehr nur als subordinierende Konjunktion mit Verbletztstellung benutzt, sondern auch als koordinierende Konjunktion mit Verbzweitstellung (Er hat einen Unfall gemacht, weil er war betrunken). Daraus kann man nun den Schluss ziehen, dass wir zukünftig vielleicht ein sachthematisch begründendes und subordinierendes weil von einem reflexionsthematisch erläuternden und koordinierenden weil zu unterscheiden haben. Solange man ein unerschüttertes Grundvertrauen in die Ordnungskraft sprachlicher Formen und Gebrauchsnormen hat, solange liegt es natürlich nahe, das Stilproblem als ein Problem der ornamentalen Einkleidung bzw. der optimalen Repräsentation von Gedanken anzusehen und nicht als Problem der Gestaltung von Gedanken. Je mehr sich aber im Laufe der Zeit dieses naive Grundvertrauen in die Sprache nicht zuletzt durch kontrastive Sprachvergleiche verflüchtigte, desto mehr entwickelte sich die Vorstellung, dass der Stil als eine genuine Ausdrucksform des subjektiven Denkens bzw. des Subjekts anzusehen sei. Als Beleg für diese Umorientierung der Stilauffassung wird oft die These Buffons aus seiner Antrittsrede vor der Acade´mie Franc¸aise von 1753 herangezogen, wonach der Stil der Mensch selbst sei. Wolfgang Müller hat nun aber einleuchtend nachgewiesen, dass dieser griffige Topos ursprünglich keineswegs als eine These zur Kennzeichnung der Subjektivität eines individuellen Sprechers im Sinne des 19. Jhs. zu verstehen sei, sondern dass Buffon mit dieser These lediglich thematisieren wollte, dass die sachadäquate sprachliche Darstellung der objektiv gegebenen Welt eine genuine Aufgabe des Menschen als eines rationalen und gebildeten Wesens sei: „Ces choses sont hors de l’homme, le style est l’homme meˆme“ (Müller 1981, 41). In Buffons Denkperspektive ist der Stilbegriff sehr eng mit dem Normbegriff verbunden, insofern er einerseits auf ein umfassendes Sachwissen bezogen ist und andererseits auf logische Ordnungsprinzipien, die nach Auffassung des Rationalismus in grammatischen Ordnungsformen ihren genuinen Ausdruck finden. Guter Stil resultiert so gesehen aus gutem Denken und sachadäquatem Sprachgebrauch. Er ist eine Form der Selbstdarstellung des Menschen, aber weniger in einem subjektbezogenen als in einem gattungsbezogenen Sinne. Erst als sich das Grundvertrauen in sprachliche Formen und Normen immer mehr auflöste, war der Weg frei, das Phänomen Stil als Manifestationsweise des individuellen Denkens von Personen, Gruppen und Epochen zu verstehen. Diese Tendenz zeigt sich sehr klar, als Schopenhauer ein Jahrhundert später die anthropologischen Implikationen des Stilbegriffs thematisiert hat. „Der Stil ist die Physiognomie des Geistes. Sie ist untrüglicher als die des Leibes. Fremden Stil nachahmen heißt eine Maske tragen. Wäre diese auch noch so schön, so wird sie, durch das Leblose, bald insipid und unerträglich; so daß selbst das häßlichste lebendige Gesicht besser ist […]. Die Sprache, in welcher man schreibt, ist die Nationalphysiognomie“ (Schopenhauer
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1988, Bd. 5, 455). Schopenhauers Diktum repräsentiert ein Stilverständnis, das die Stilproblematik aus der primären Orientierung an der Objektsphäre löst und sie stattdessen recht deutlich an die Subjektsphäre bzw. an individuelle Gestaltungsintentionen bindet. Dadurch wird der Stilbegriff auf eine psychologische Ebene gebracht und gerät zunehmend in ein Spannungsverhältnis zu den kognitiven Ordnungsfunktionen der tradierten Sprachformen und zu den Normen ihres konventionellen Gebrauchs. Dieser kulturgeschichtliche Entwicklungsprozess hat zu einer paradoxen Spannung in unserem heutigen Stilverständnis geführt. Einerseits muss man einräumen, dass man in sprachlichen Sinnbildungsprozessen immer stabile Normen braucht, um intersubjektiv verständliche und prägnant strukturierte Sinngestalten zu erzeugen. Andererseits muss man aber auch akzeptieren, dass solche Normen immer wieder gebrochen werden müssen, um individuelle sprachliche Sinngestalten zu erzeugen bzw. um individuelle Sichtweisen auf bestimmte Sachverhalte sprachlich zu objektivieren. Nur wenn sich ein Sprachproduzent nicht als Interpret, sondern als sprachlicher Fotograf der Welt oder gar als Sprachrohr des Weltgeistes versteht, verschwindet diese Spannung. Je schwächer das interpretative und kreative Denken ist, desto identischer ist es mit den vorgegebenen Sprachformen und Sprachverwendungsnormen und desto mehr bewegt es sich in den vorgegebenen Gleisen der Sprache. Je mehr sich jemand seiner Sache unsicher ist bzw. danach strebt, neue Wahrnehmungsperspektiven auf anscheinend bekannte Sachverhalte zu eröffnen, desto mehr muss er auf einen Ausgleich des Spannungsverhältnisses zwischen Sprachnormen und Sprachinnovationen achten bzw. auf die Ausprägung prägnanter Stilformen. Nietzsche hat das auf eine einprägsame Formel gebracht: „Den Stil verbessern ⫺ das heißt den Gedanken verbessern, und gar nichts weiter!“ (Nietzsche 1973, Bd. 1, 930). Die Abweichung von tradierten Normen kann natürlich auch zu einer bloßen Manier werden, durch die der Blick auf die darzustellende Sache zu Gunsten des Blicks auf den Sprecher und dessen mögliche Eitelkeiten abgelenkt wird. Deshalb möchte Heyse den an der Objektsphäre orientierten Stil klar von dem an der Subjektsphäre orientierten unterscheiden. Das ist insgesamt vielleicht etwas unrealistisch, aber es verdeutlicht zumindest ein letztlich nicht ganz aufhebbares Spannungsverhältnis. „Wenn also vom subjectiven Stil das Wort gilt: der Stil ist der Mensch; so kann man von dem objectiven Stil mit noch größerem Recht sagen: der Stil ist die Sache selbst“ (Heyse 1856, 257).
7. Stil als Perspektivitätsproblem Im Anschluss an die bisherigen Überlegungen zur Stilproblematik stellt sich die Frage, ob sich ein umfassendes Ordnungskonzept finden lässt, mit dessen Hilfe man die vielfältigen Aspekte der Stilproblematik übersichtlich ordnen und insbesondere die Sinnbildungsfunktion grammatischer Zeichen in das Verständnis von Stil integrieren kann. Die grammatischen Formen rücken bei Stilanalysen nicht immer in den Fokus der Aufmerksamkeit, weil sie im Einklang mit einer langen grammatischen Denktradition oft nur als semantisch neutrale Organisationsformen der Sprache verstanden werden, die bei der Konstitution von sprachlichen Sinngestalten im Gegensatz zu lexikalischen Formen keine prägende Rolle spielen. Möglicherweise bietet der Perspektivitätsgedanke eine Hilfe, um plausibel zu machen, dass grammatische Formen keine neutralen Transport-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
formen für lexikalisch objektivierte Vorstellungsinhalte sind, sondern ebenso wie diese an der Ausbildung von sprachlichen Sinngestalten konstitutiv mitwirken. Obwohl der Perspektivitätsgedanke seine Herkunft aus der theoretischen Beschreibung von visuellen Gestaltungs- und Wahrnehmungsprozessen natürlich nicht verleugnen kann, ist er dennoch auch für die Analyse von sprachlichen Gestaltungs- und Wahrnehmungsprozessen fruchtbar, insofern sich mit ihm auf ein anthropologisches Urphänomen Bezug nehmen lässt, das alle kognitiven Prozesse grundlegend prägt (Köller 2004, 6 ff.). Durch den Perspektivitätsbegriff lassen sich alle menschlichen Gestaltungs- und Wahrnehmungsprozesse kontrastiv von absoluten bzw. göttlichen absetzen. Sein heuristischer Wert besteht darin, dass mit ihm alle grundlegenden Faktoren erfasst und korreliert werden können, die wirksam werden, wenn Erkenntnissubjekte Kontakt zu Erkenntnisobjekten aufzunehmen versuchen bzw. wenn Vorstellungsinhalte mit Hilfe von Zeichen objektiviert und vermittelt werden sollen. Der Perspektivitätsbegriff ist ein genuin medialer Begriff und eben deswegen für alle stilistischen Analysen von grundlegender Relevanz. Seine Herkunft aus der Welt des Auges mindert aber keineswegs seinen heuristischen Wert, da visuelle Wahrnehmungsprozesse von alters her als exemplarische Modelle für geistige verstanden worden sind. Für den Perspektivitätsbegriff ist konstitutiv, dass er drei grundlegende Faktoren von Sinnbildungsprozessen in einen Interdependenzzusammenhang zu bringen versucht. Diese Faktoren lassen sich mit den Termini Aspekt, Sehepunkt und Perspektive bezeichnen. Das Phänomen Perspektivität ist uns als unausweichliche Rahmenbedingung für die Strukturierung von visuellen und geistigen Sinnbildungsprozessen im Prinzip so selbstverständlich, dass wir darüber ebenso wenig nachdenken wie über das Phänomen Schwerkraft als unausweichliche Rahmenbedingung für unsere körperlichen Bewegungsmöglichkeiten. Gleichwohl lohnt es sich aber, die Struktur und die Implikationen dieses Phänomens etwas genauer ins Auge zu fassen, weil dadurch ein erhellendes Licht auf die medialen Funktionen der Sprache und insbesondere des Stils und der Grammatik geworfen werden kann. Der Begriff Aspekt ist genuin objektorientiert. Er dient dazu, den Umstand hervorzuheben, dass den Menschen ihre Wahrnehmungsgegenstände nie vollständig zugänglich sind, sondern nur hinsichtlich derjenigen Ansichten, die die jeweiligen Wahrnehmungsbedingungen zulassen. Diese Wahrnehmungseinschränkung lässt sich durch keine methodische Raffinesse aufheben, sondern nur dadurch abmildern, dass durch die Variation der jeweiligen Wahrnehmungsbedingungen einzelne Wahrnehmungsaspekte durch andere ergänzt werden. Der Begriff Sehepunkt ist genuin subjektorientiert. Er dient dazu, unsere Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass jede Sachwahrnehmung durch die räumliche und geistige Position des jeweiligen Wahrnehmungssubjekts bedingt wird bzw. durch die von ihm verwendeten Wahrnehmungsmethoden und medialen Objektivierungsmittel. All diese Faktoren präjudizieren, welche Aspekte von Wahrnehmungsobjekten in Erscheinung treten können und welche nicht. Durch die räumliche und geistige Eigenbewegung von Wahrnehmungssubjekten bzw. durch die Variation von medialen Objektivierungsmitteln lassen sich dementsprechend auch neue Aspekte von Wahrnehmungsgegenständen erschließen bzw. alte präzisieren. Der Begriff Perspektive ist genuin strukturorientiert. Er dient dazu, uns verständlich zu machen, dass alle Wahrnehmungsinhalte nicht Ergebnisse von registrierenden, sondern von interpretierenden Akten sind. Durch ihn kann verständlich gemacht werden,
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dass eine Sachwahrnehmung weder allein von der Objektseite her noch allein von der Subjektseite her erkenntnistheoretisch befriedigend beschrieben werden kann, sondern allein im Rahmen derjenigen Wahrnehmungsperspektive, in der sie in Erscheinung getreten ist oder zu treten vermag. Deshalb kann man die Ausbildung von Wahrnehmungsund Objektivierungsperspektiven auch als ein Verfahren ansehen, mit dessen Hilfe Subjekte in die Welt der Objekte hineingleiten bzw. sich diese geistig präsent machen. Infolgedessen sind auch alle von Menschen entwickelten Zeichen als Manifestationsformen von Perspektivierungsanstrengungen anzusehen und somit dem Phänomen der Perspektivität zuzuordnen. Zeichen und insbesondere sprachliche Zeichen bestimmen als hinweisende Repräsentationsmittel nicht nur, worauf sich unsere Aufmerksamkeit richten soll, sondern als interpretierende Repräsentationsmittel und kategorisierende Denkmuster auch, wie wir etwas aspektuell wahrnehmen können und sollen. Zeichen richten unseren Blick nicht nur auf Sachverhalte, sondern beleuchten diese zugleich auch in einem bestimmten kognitiven Licht, insofern sie etwas als etwas wahrnehmbar machen. Stilfragen sind dementsprechend als genuine Perspektivierungsfragen anzusehen, insofern die stilistische Ausformung einer Äußerung festlegt, wie wir Kontakt mit einem Sachverhalt bekommen bzw. in welchem Licht welche seiner Aspekte für uns sichtbar werden. Wenn wir den Perspektivitätsbegriff auf diese Weise strukturieren und in dieser Ausprägungsform auf die Stilanalyse von Texten anwenden, dann empfiehlt es sich, zwischen der kognitiven und der kommunikativen Perspektivität von Texten bzw. Stilformen in Texten zu unterscheiden. Von der kognitiven Perspektivität einfacher und komplexer sprachlicher Formen lässt sich immer dann sprechen, wenn wir uns dafür interessieren, welches Differenzierungswissen sich in diesen Formen sedimentiert hat und wie es kognitiv strukturiert ist. Die Frage nach der kognitiven Perspektivität von sprachlichen Formen richtet sich dementsprechend immer auf die Struktur des kollektiven Wissens, das sich in diesen Formen von den Wörtern bis zu den Textmustern verfestigt hat und das beim Gebrauch dieser Formen immer wieder aktiviert wird, selbst wenn es dabei auch variiert wird. Von der kommunikativen Perspektivität sprachlicher Formen lässt sich immer dann sprechen, wenn wir uns für die Perspektivierungsanstrengungen in konkreten sprachlichen Äußerungen interessieren bzw. wenn wir wissen wollen, von welchen konkreten Sehepunkten und hinsichtlich welcher Aspekte jemand für sich und andere einen Sachverhalt mit Hilfe konventionalisierter Sprachmuster perspektivisch erschließen und objektivieren will. Es ist offensichtlich, dass die Frage nach der kommunikativen Perspektivität sprachlicher Formen unmittelbar mit der Stilfrage verbunden ist, weil wir mit ihrer Hilfe ja etwas über den geistigen Sehepunkt eines Individuums, einer Epoche oder einer Textgattung für einen Sach- und Problemzusammenhang erfahren wollen bzw. über die Aspekte, die an einem Sachverhalt jeweils herausgearbeitet und beleuchtet werden sollen. Die Frage nach der kognitiven Perspektivität sprachlicher und insbesondere grammatischer Formen ist eher indirekt mit der Stilproblematik verbunden. Von ihr können wir uns erst ein Bild machen, wenn wir aus den faktischen Sinnbildungsprozessen heraustreten und uns von einem extrakommunikativen Sehepunkt her Rechenschaft über die Prämissen von konkreten Sinnbildungsanstrengungen abzulegen versuchen. In stilistischen Analysen ist die kognitive Perspektivität sprachlicher Formen allerdings immer mit zu bedenken, weil sich individuelle Perspektivierungsanstrengungen nur im Kontext derjenigen Perspektivierungsanstrengungen qualifizieren lassen, die sich in den verwendeten Sprachmustern schon traditionell verfestigt haben. Die in sprachlichen und insbesondere
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil in grammatischen Mustern gebundene kognitive Perspektivität lässt sich gut über zwei Denkbilder veranschaulichen. Seit dem Mittelalter ist die Vorstellung bekannt, dass die Nachgeborenen im Hinblick auf kulturelle Arbeitsleistungen gleichsam als Zwerge auf den Schultern von Riesen stehen (Merton 1989). Im Hinblick auf unsere Problematik lässt sich dieses Bild auf ambivalente Weise verstehen. Durch den Gebrauch der von unseren Vorfahren erarbeiteten sprachlichen Muster übernehmen wir von ihnen immer auch historisch bewährte Denkperspektiven für unsere aktuellen Perspektivierungsanstrengungen. Dadurch werden wir in unseren eigenen Wahrnehmungsprozessen sowohl unterstützt als auch präjudiziert. Auf den Schultern unserer Vorfahren können wir zwar weiter sehen als diese, aber gleichzeitig sind wir auch von den konkreten Wahrnehmungsobjekten weiter entfernt als diese und können uns diese Objekte immer weniger gut durch eigene Handlungserfahrungen erschließen. Die Traditionsbelastung unseres Wahrnehmens und Denkens durch die konventionalisierten Sprachformen hat Hugo von Hofmannsthal in einem anderen Denkbild eindrucksvoll veranschaulicht: „Denn für gewöhnlich stehen nicht die Worte in der Gewalt der Menschen, sondern die Menschen in der Gewalt der Worte […]. Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit“ (Hofmannsthal 1950, 267). Die in grammatischen Formen gebundene kognitive Perspektivität tritt als stilistisches Problem insbesondere bei Übersetzungen in Erscheinung. Wie soll man beispielsweise die sinnbildenden Funktionen der deutschen Tempus- und Modusmorpheme zur Geltung bringen, wenn man deutsche Texte in die chinesische Sprache übersetzt, wo es grammatische Verbmorpheme dieser Art gar nicht gibt? Wie lässt sich die Wahl solcher grammatischen Morpheme rechtfertigen, wenn man chinesische Texte ins Deutsche übersetzt und dabei in die deutschen Texte notwendigerweise Informationen einschleusen muss, die in dieser dezidierten Form im Ausgangstext gar nicht vorhanden sind? Dieses Problem verdeutlicht sehr klar, worauf Schopenhauer unsere Aufmerksamkeit richten wollte, als er den Stil als Physiognomie des Geistes qualifiziert hat und einzelne Sprachen als Manifestationsformen einer Nationalphysiognomie. Aus der immanenten kognitiven Perspektivität sprachlicher Zeichen ergibt sich nicht, dass sinnäquivalente Übersetzungen unmöglich sind, sondern nur, dass man sich eine sehr genaue Rechenschaft über die kognitive Perspektivität sprachlicher Formen ablegen muss, um einer Übersetzung ein dem Ausgangstext vergleichbares Sinnrelief geben zu können. Solche Analysen sind im Hinblick auf grammatische Zeichen natürlich sehr viel schwerer als im Hinblick auf lexikalische. Das gilt insbesondere dann, wenn wir die Analyse auch auf die innere Form von Sprachen ausdehnen und dabei auf anthropologische Denkmuster stoßen, zu denen wir uns kaum Alternativen vorstellen können. Erst wenn wir darüber spekulieren, welche kognitive Perspektivität grammatische Formen haben müssten, die Engel oder Fledermäuse für ihre kognitiven und kommunikativen Bedürfnisse benötigten, können wir den Stellenwert dieses Problems adäquat einschätzen. Die stilistische Analyse grammatischer Zeichen auf der Basis ihrer kognitiven und kommunikativen Perspektivierungsfunktionen führt uns zu Ergebnissen, die uns meist auch schon über unser Sprachgefühl zugänglich sind, die aber hier in der Regel eine so vage Form haben, dass sie kaum argumentativ für eine Textinterpretation zu verwerten sind. Beispielsweise erfassen wir natürlich intuitiv, dass ein parataktisch strukturierter Text ein anderes Sinnrelief als ein hypotaktisch strukturierter hat. Aber erst durch die Analyse der kognitiven und kommunikativen Perspektivität der verwendeten Konjunk-
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tionen können wir uns von der Suggestionskraft der postulierten Korrelationen von Aussagen befreien und die Frage stellen, ob es berechtigt ist, dass der Sprecher gerade diese und keine anderen konjunktionalen Verkettungen von Einzelaussagen konkret festgelegt hat, und warum er es nicht den Rezipienten überlässt, die entsprechenden Korrelationen im Verstehensprozess selbst vorzunehmen. Außerdem ließe sich fragen, warum ein Sprecher durch die Verwendung von Konjunktionen eher dazu anregen möchte, in argumentativ orientierte Sinnbildungsprozesse einzutreten als in bildlich orientierte. Im Hinblick auf die mögliche Nutzung von Negationsmitteln in einem Text könnte man sich z. B. fragen, warum ein Textproduzent es bevorzugt, einen Sachverhalt perspektivisch im Rahmen einer affirmierenden oder einer negierenden Darstellungsweise zu objektivieren (Er ist zu Hause geblieben. Er ist nicht weggefahren). Bei der Verwendung von grammatischen Negationszeichen wird ein Tatbestand so dargestellt, dass er primär nicht als eigenständiger Sachverhalt in Erscheinung tritt, sondern als Abweichung von einer Erwartung. Deshalb müssen bei der Verwendung von negierten Aussagen auch immer zwei unterschiedliche Denkoperationen vollzogen werden, nämlich eine, in der eine Sachvorstellung erzeugt wird, und eine, in der diese Sachvorstellung metainformativ als nicht gegeben verstanden wird. Aus dem Gebrauch von Negationszeichen können wir dementsprechend rekonstruieren, in welchem Erwartungshorizont ein Sprecher einen Sachverhalt wahrnimmt bzw. wie er das Denken eines Rezipienten diesbezüglich steuern möchte. Nun kann man sich natürlich lange darüber streiten, ob die sprachliche Objektivierung eines Sachverhalts mit unterschiedlichen grammatischen Mitteln nur als eine unterschiedliche perspektivische Darstellung desselben Phänomens zu verstehen ist oder als Darstellung eines ganz anderen Phänomens. Dieses Problem wird sich kaum endgültig lösen lassen. Es muss vielmehr als ein Problem toleriert werden, das uns ständig dazu zwingt, Stilfragen nicht nur als ornamentale Fragen, sondern auch als Perspektivierungsfragen mit bestimmten heuristischen, hermeneutischen und rezeptionssteuernden Implikationen wahrzunehmen. Wenn man grammatische Formen prinzipiell als Perspektivierungsmittel mit einem schon konventionell vorgegebenen kognitiven Perspektivierungspotenzial und einer aktuellen kommunikativen Perspektivierungsintention ansieht, dann stellt sich natürlich auch die Frage, welche Sinnschichten von Texten sich über die Analyse grammatischer Zeichen bzw. Sinnbildungsmittel erschließen lassen (Köller 1988, 355⫺381). Erstens kann man sich auf die Subjektsphäre konzentrieren und danach fragen, welche Rückschlüsse aus den verwendeten grammatischen Formen auf den Sehepunkt des jeweiligen Sprechers und seine aspektuellen Wahrnehmungsinteressen gezogen werden können. Dabei kann man sich dann zugleich auch für den Machtanspruch des Sprechers interessieren, Sachverhalte in der von ihm gewählten Objektivierungsperspektive zu beherrschen und anderen zugänglich zu machen. Zweitens kann man sich medial orientieren und danach fragen, inwieweit sich ein Sprecher bei der Verwendung von grammatischen Formen an deren immanente kognitive Perspektivität und traditionelle Instruktionsfunktion bindet bzw. diese variiert, relativiert oder negiert, indem er diese Formen unüblich verwendet und damit tendenziell auch abändert. So spricht Weinrich etwa von einer Tempusmetaphorik, wenn Tempusformen in Kontexten verwendet werden, in denen sie üblicherweise nicht zu erwarten sind (Weinrich 2001, 192 ff.). Das exemplifiziert sich z. B. sehr eindrucksvoll in der so genannten erlebten Rede, die erhebliche Verstehensturbulenzen auslösen kann, wenn man sich an den traditionellen Perspektivierungsfunktio-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil nen des Präteritums und des Erzählens in der 3. Pers. Sing. orientiert (Köller 2004, 706⫺ 719). Drittens kann man sich auf die Objektsphäre konzentrieren und danach fragen, inwieweit die verwendeten grammatischen Objektivierungsformen dem zu strukturierenden Sachverhalt angemessen sind bzw. inwieweit sich darin kulturbedingte Stärken und Schwächen offenbaren. Eine Antwort auf diese Frage setzt naturgemäß nicht nur ein umfangreiches Sach- und Sprachwissen voraus, sondern auch eine große metareflexive Kompetenz und hermeneutische Beweglichkeit. Der zuletzt angesprochene Problemzusammenhang ist insbesondere im Bereich der Naturwissenschaften sehr aktuell. Hier wird oft postuliert, dass es Sachverhalte gebe, bei denen es sich gleichsam von selbst verbiete, in Betracht zu ziehen, sie in unterschiedlich perspektivierter Weise darzustellen, weil es nur eine einzige sachadäquate sprachliche Objektivierungsform für sie gebe. Daraus ist dann oft der Schluss gezogen worden, dass Stil als individuell bedingte Perspektivierungsform von Sachverhalten sich nur dort entfalten könne, wo fiktive Welten entworfen würden und wo es individuelle Gestaltungsfreiräume gebe, aber nicht dort, wo die Logik der Sache den Gebrauch von Fachbegriffen und grammatischen Mustern reguliere. Diese Argumentation ist allerdings nicht ganz so stichhaltig, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Wenn man grundsätzlich der These zustimmt, dass mit sprachlichen Formen nicht die Welt an sich abgebildet werden kann, sondern allenfalls die Welt für uns, dann muss man auch einräumen, dass mit jeder sprachlichen Weltobjektivierung Perspektivierungsanstrengungen und damit Stilprobleme verbunden sind. Im Bereich der Naturwissenschaften unterliegt die stilistische Formung von Äußerungen allerdings weniger dem spezifischen Gestaltungswillen einer individuellen Person, sondern eher den Gestaltungspostulaten einer Objektivierungsmethode bzw. eines anerkannten Denkparadigmas, das den jeweiligen Verwendern als solches meist gar nicht bewusst ist und dessen Besonderheiten sich oft erst durch historische Vergleiche erschließen. Erkenntnistheoretisch sensibilisierte Naturwissenschaftler haben aber keine Scheu, von milieubedingten Sehweisen sowie von kulturbedingten Stilen und Diskursformen in ihren Wissenschaften zu sprechen (Weiss 1997, 125 ff.). Auch Naturwissenschaftler können ihre Gegenstände natürlich nicht perspektivitätsfrei aus göttlicher Sicht betrachten und darstellen. Auch sie unterliegen einem methodischen und einem medialen Relativitätsprinzip, das auch als ein stilistisches verstanden werden kann. Dessen innere Dialektik hat Humboldt im Hinblick auf die Sprache eindringlich beschrieben: „Der Mensch lebt mit den Gegenständen […] so, wie die Sprache sie ihm zuführt. Durch denselben Act, vermöge dessen er die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein“ (Humboldt 1903, Bd. 7, 60). Diese Sichtweise verbietet es, das Phänomen Stil als ein Schmuckphänomen anzusehen, das sich einem von ihm unabhängigen Inhalt auflagert. Es gebietet vielmehr, dieses Phänomen als Ausdruck eines Sinnbildungsverfahrens anzusehen, das nicht auf sich selbst aufmerksam machen will, sondern auf eine bestimmte perspektivische Erfassung von Sachverhalten. Deshalb machen sich gute Stilformen in spontanen Rezeptionsprozessen auch genauso vergessen wie adäquat verwendete grammatische Formen, insofern ein guter Stil zugleich auch ein überzeugendes Denken und eine prägnante Darstellung repräsentiert. Die stilistischen und grammatischen Bedingtheiten unserer Vorstellungsbildung, die wir medial sowohl als Hilfe als auch als Einschränkung verstehen können, lassen sich abschließend vielleicht durch das Denkbild des Fensters und das des Beleuchtungslichtes sinnbildlich veranschaulichen. Fenster sind die strukturellen Voraussetzungen dafür, dass wir aus dem Gehäuse unserer persönlichen, kollektiven und kulturellen Individualität nach draußen sehen kön-
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nen. Fenster gehören einerseits zu einem Gebäude, aber ihre genuine Funktion besteht darin, dass sie jemandem den Blick aus einem Gebäude ermöglichen sollen. Solange Fenster konkret genutzt werden, fallen sie als mediale Phänomene gar nicht auf, obwohl sie natürlich determinieren, wohin wir sehen und was wir sehen. Auf die perspektivierende Funktion von Fenstern werden wir erst aufmerksam, wenn wir unser Denken neu ausrichten und es nicht mehr sachthematisch, sondern reflexionsthematisch orientieren. In ähnlicher Weise fallen uns auch Stil- und Grammatikformen als mediale Phänomene erst dann auf, wenn wir von ihnen keinen direkten Gebrauch machen, sondern sie als sinnbildende sprachliche Perspektivierungsmittel in einem extrakommunikativen Blickwinkel ins Auge zu fassen versuchen. Eine ganz ähnliche Erläuterungsfunktion für die Phänomene Stil und Grammatik lässt sich auch mit dem Denkbild des Beleuchtungslichtes verbinden. Ebenso wie die Beleuchtung aus einem Sandstein keinen Marmor macht, aber doch vorgibt, wie Sandstein und Marmor für uns in Erscheinung treten, so geben auch Stil- und Grammatikformen vor, wie außersprachliche Phänomene für uns geistig präsent werden können. Das Beleuchtungslicht erzeugt keine Phänomene, aber es bestimmt doch, wie diese für uns aspektuell wahrnehmbar und damit auch existent werden. Als Erkenntnismedien lassen sich sowohl Fenster bzw. Beleuchtungsquellen als auch Stil- und Grammatikformen neuen Wahrnehmungsbedürfnissen anpassen, aber sie lassen sich nicht als konstitutive Erkenntnis- und Wahrnehmungsbedingungen aufheben.
8. Literatur (in Auswahl) Cassirer, Ernst (1985): Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandwelt. In: Ernst Cassirer: Symbol, Technik, Sprache. Hamburg, 121⫺160. Chomsky, Noam (1971): Syntactic Structures. 9 th ed. The Hague/Paris. Gauger, Martin (1995): Über Sprache und Stil. München. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1986): Werke in 20 Bänden. Frankfurt a. M. Heyse, K. W. L. (1856): System der Sprachwissenschaft. Nachdruck. Hildesheim/New York 1973. Hofmannsthal, Hugo von (1950): Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Prosa I. Frankfurt. Humboldt, Wilhelm von (1903): Gesammelte Schriften. Nachdruck. Berlin 1986. Jakobson, Roman (1974): Aufsätze zur Linguistik und Poetik. München. Kaznelson, S. D. (1974): Sprachtypologie und Sprachdenken. München. Kishitani, Shoˆko (1960): Die Psyche der japanischen Sprache und die europäische Denkweise. In: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 44, 271⫺281. Köller, Wilhelm (1988): Philosophie der Grammatik. Vom Sinn grammatischen Wissens. Stuttgart. Köller, Wilhelm (2004): Perspektivität und Sprache. Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern, im Denken und in der Sprache. Berlin/New York. Merton, Robert (1989): Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit. Frankfurt a. M. Müller, Wolfgang (1981): Topik des Stilbegriffs. Zur Geschichte des Stilverständnisses von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt. Nietzsche, Friedrich (1973): Werke in drei Bänden. Hrsg. v. Karl Schlechta. 7. Aufl. München. Schneider, Wilhelm (1969): Stilistische deutsche Grammatik. Die Stilwerte der Wortarten, der Wortstellung und des Satzes. 5. Aufl. Freiburg u. a. Schopenhauer, Arthur (1988): Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Ludger Lütkehaus. Zürich. Schwinger, Reinhold (1935): Innere Form. Ein Beitrag zur Definition des Begriffs auf Grund seiner Geschichte von Shaftesbury bis W. v. Humboldt. In: Reinhold Schwinger/Heinz Nicolai (Hrsg.):
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Innere Form und dichterische Phantasie. Zwei Vorstufen zu einer neuen deutschen Poetik. München, 1⫺89. Spitzer, Leo (1961): Stilstudien, 2 Bde. 2. Aufl. Darmstadt. Weinrich, Harald (1993): Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim. Weinrich, Harald (2001): Tempus. Besprochene und erzählte Welt. 6. Aufl. München. Weiss, Burghard (1997): „Stil“. Eine vereinheitlichende Kategorie in Kunst, Naturwissenschaft und Technik? In: Eberhard Knobloch (Hrsg.): Wissenschaft, Technik, Kunst. Wiesbaden, 147⫺163. Wellek, Albert (1969): Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie. 2. Aufl. Bern. Whorf, Benjamin Lee (1963): Sprache, Denken, Wirklichkeit. Reinbek.
Wilhelm Köller, Kassel (Deutschland)
73. Stil und Individuum (Individualstil) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Einheit und Differenz Stil als Ausdruck der Persönlichkeit Stil und Idiolekt Stil und Einzeltext (Werkstil) Ausblick Literatur (in Auswahl)
Abstract Both style and the individual aim at forming a unity. However, these separate elements can only be grasped by differentiated concepts, such as the concept of individuality which allows to describe the general by referring to the specific of the style and of the individual, respectively. From a historical perspective, style was first understood as personal style, i. e. as an expression of personality. In the 16th and 17th centuries, style was perceived as a person’s overall manner and image. Then, the concept of individual style emerged in the 18th century, initially standing for a person’s nature. Only in the 19th century was style finally redefined as an expression of the individual’s subjectivity, and in the early 20th century as that of a human’s psyche. The 20th century criticism of this concept led to a more concentrated focus on the linguistic aspects of style. Thus, a distinction between idiolect and personal style gained prominence through theoretical approaches, while forensic linguistics unavailingly searched for the linguistic fingerprint. Criticism of the concept also resulted in a reduced interest in the style of individual texts, which remains a common trend in literary criticism today. Since the 1990s, it has also become a popular topic of discussion in text linguistics. Insights into the role of style for the constitution of individual texts has spurred the demand for text stylistics, which, in turn, should closely collaborate with literary criticism as well as social and communication sciences.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Innere Form und dichterische Phantasie. Zwei Vorstufen zu einer neuen deutschen Poetik. München, 1⫺89. Spitzer, Leo (1961): Stilstudien, 2 Bde. 2. Aufl. Darmstadt. Weinrich, Harald (1993): Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim. Weinrich, Harald (2001): Tempus. Besprochene und erzählte Welt. 6. Aufl. München. Weiss, Burghard (1997): „Stil“. Eine vereinheitlichende Kategorie in Kunst, Naturwissenschaft und Technik? In: Eberhard Knobloch (Hrsg.): Wissenschaft, Technik, Kunst. Wiesbaden, 147⫺163. Wellek, Albert (1969): Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie. 2. Aufl. Bern. Whorf, Benjamin Lee (1963): Sprache, Denken, Wirklichkeit. Reinbek.
Wilhelm Köller, Kassel (Deutschland)
73. Stil und Individuum (Individualstil) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Einheit und Differenz Stil als Ausdruck der Persönlichkeit Stil und Idiolekt Stil und Einzeltext (Werkstil) Ausblick Literatur (in Auswahl)
Abstract Both style and the individual aim at forming a unity. However, these separate elements can only be grasped by differentiated concepts, such as the concept of individuality which allows to describe the general by referring to the specific of the style and of the individual, respectively. From a historical perspective, style was first understood as personal style, i. e. as an expression of personality. In the 16th and 17th centuries, style was perceived as a person’s overall manner and image. Then, the concept of individual style emerged in the 18th century, initially standing for a person’s nature. Only in the 19th century was style finally redefined as an expression of the individual’s subjectivity, and in the early 20th century as that of a human’s psyche. The 20th century criticism of this concept led to a more concentrated focus on the linguistic aspects of style. Thus, a distinction between idiolect and personal style gained prominence through theoretical approaches, while forensic linguistics unavailingly searched for the linguistic fingerprint. Criticism of the concept also resulted in a reduced interest in the style of individual texts, which remains a common trend in literary criticism today. Since the 1990s, it has also become a popular topic of discussion in text linguistics. Insights into the role of style for the constitution of individual texts has spurred the demand for text stylistics, which, in turn, should closely collaborate with literary criticism as well as social and communication sciences.
73. Stil und Individuum (Individualstil)
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1. Einheit und Dierenz Die Begriffe Stil und Individuum arbeiten gleichermaßen mit einer „Einheitsvorentscheidung“ (Heinz 1986, 47), die ihre Koppelung bis heute attraktiv erscheinen lässt, zugleich aber auch deren Folgeprobleme andeutet. Sie vermehren sich in dem Maße, in dem Vorentscheidungen zugunsten von Differenzen insbesondere in Theoriekontexten erfolgversprechender werden als Identitätsannahmen. Es empfiehlt sich daher, auch Stil und Individuum im Fokus einer Differenz zu beobachten. Dafür bietet sich in den Sprach- und Kommunikationswissenschaften die Differenz von Allgemeinem und Besonderem an (vgl. Nowak 1983, 123), deren Einheit sich systemtheoretisch auf den Begriff der Individualität bringen lässt. Individualität wäre dann nicht länger der „Sorgenfaktor“ (Heinz 1986, 230) der Stildiskussion sondern das Allgemeine im Besonderen des Stils (vgl. Luhmann 1986) wie auch des Individuums (vgl. Luhmann 1989). Für die Position des Allgemeinen, von der sich das Individuelle des Stils abheben lässt, bieten sich neben dem Kunst- oder dem Sprachsystem verschiedene Kollektivstile an, zu denen Zeit- und Epochenstile, Gruppenstile, National- und Kulturstile, Gattungs- und Textsortenstile, Funktionalstile etc. gehören. Umgekehrt bleibt die Konstitution überindividueller Stileinheiten auf die deskriptive Erfassung einzelner Stilvorkommen angewiesen (vgl. Anderegg 1977, 34 f.; Rosenberg u. a. 2003, 642). Historisch ist die Dimension Stil und Individuum zuerst als Gleichsetzung entfaltet worden. Unter den Stichworten Manier, subjektiver oder individueller Stil, Eigenstil, Persönlichkeitsstil, Personalstil und Individualstil wurde in Kunstkritik und Editionsphilologie, sowie in Ästhetik und Didaktik der Stil als Ausdruck der Persönlichkeit verstanden. Differenziert wurde diese Auffassung einerseits linguistisch durch die Beschränkung auf sprachliche Äußerungen des Individuums, andererseits poetologisch und texttheoretisch durch die Konzentration auf die jeweils ausgearbeitete sprachliche Äußerung selbst. Neben der dominant entwickelten autor- bzw. sprecherorientierten und der einzeltextbezogenen wäre auch eine rezeptionstheoretische Fassung der Dimension von Stil und Individuum im Sinne der Sozialisation und Enkulturation einzelner Rezipienten durch Stil(e) denkbar. Dafür liegen jedoch kaum Vorarbeiten vor (vgl. aber Frey 1975; Abraham 1996).
2. Stil als Ausdruck der Persönlichkeit Obwohl seit der Antike in Rhetorik und Poetik ein Set von topischen Formulierungen für das Konzept des Stils als Ausdruck der Individualität zur Verfügung gestanden hätte, erzeugt erst die Frühe Neuzeit den nötigen Problemdruck zur Entwicklung einer eigenen Semantik des Individuums und seines Stils. Ausgearbeitet wurde diese Semantik zuerst in der Kunstkritik. Nachdem sich das Individualstilkonzept nach 1750 durchgesetzt und um 1800 mit der neu aufkommenden Ästhetik verbunden hatte, konstituierte es eine eigenständige, von der normativen zur analytischen überleitende und bis in die 1920er Jahre andauernde Phase der Stilistik (Göttert/Jungen 2004, 23 f.). Gescheitert ist die expressive Individualstilistik am Versuch, im Individuum stilistische Normen zu entdecken.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
2.1. Stil als Charakter/Bild des Menschen 2.1.1. Antike und Mittelalter Zu den Formulierungsmöglichkeiten, die Rhetorik und Poetik der Antike für das Individualstilkonzept bereitgestellt haben, gehören der u. a. bei Platon, Pseudo-Longinus und Quintilian belegte Topos einer „Analogie zwischen rhetorischem Stil und individuellem Charakter“ (Sowinski 1998, 328; vgl. Müller 1981, 11 f.), Ciceros Pluralisierung der Stilarten durch ihre Ableitung aus der Verschiedenheit der Redner im Orator (16 [53]), sowie die spätantike, im Mittelalter vielfach variierte Annahme einer vorbildlichen Stilverwendung einzelner Autoren nach dem Muster: stilus Aesopi, Homeri, Tullianus, Gregorianus, etc. (Sowinski 1998, 329). Stets geht es dabei um Generalisierungen, Typisierungen und Amplifikationen im Rahmen von Temperamentenlehre, genera dicendi und vir bonusIdeal, allenfalls noch um Fälle von rednerischer Freiheit (licentia) oder fehlerhaftem Regelgebrauch (vitium), keinesfalls aber um Formen originärer Stilverwendung.
2.1.2. Frühe Neuzeit Aufgenommen und auf die Artikulation literarischer Individualität bezogen wurden die antiken Ansätze in der Frühen Neuzeit. Das geschieht im Spannungsfeld zwischen imitatio und inventio zuerst ansatzweise bei Petrarca (Rosenberg u. a. 2003, 668), später dann im Kontext des Anticiceronianismus, besonders bei Erasmus von Rotterdam, Montaigne und Robert Burton (Müller 1981, 31⫺39; Gumbrecht 1986, 744 f.). Zugleich kommt es zu einer physiognomischen Zuspitzung des Stilkonzepts, die ihre Parallelen in der Kunst des Porträts findet und seit dem 15. Jh. durch die maniera-Diskussion in Kunst- und Musikkritik unterstützt wird (vgl. Heinz 1986, 14 f.; Rosenberg u. a. 2003, 649; 668). Das physiognomische Stilkonzept, das in der Formulierung vom Stil als Bild des Menschen (mentis character) kulminiert, ist in der europäischen Poetik und Rhetorik des 16. und 17. Jhs. weit verbreitet. Zwar schließt die Inklusion des Individuums in die alteuropäische Sozialordnung, abgesichert durch Typisierungsleistungen der Rhetorik und der Temperamentenlehre, die Formulierung originärer Stilverwendungen noch überwiegend aus, doch werden in Einzelfällen die Rezipienten erstmals mit der Schwierigkeit konfrontiert, inkommensurable Elaborate beurteilen zu müssen (vgl. Gumbrecht 1986, 746).
2.2. Stil als Natur des Menschen Erst die Annahme, der Stil fließe aus der bislang Gott allein zugänglichen Natur des Individuums und verhelfe ihr damit zur allgemeinen Sichtbarkeit, individualisierte die physiognomische Stilauffassung dergestalt, dass um 1750 das Konzept des Stils als Ausdruck der Persönlichkeit ausformuliert werden konnte. Das geschieht, im institutionengeschichtlichen Kontext der Deutschen Rhetorik, (vgl. Weimar 2003, 39⫺54) vor allem in der Epistolographie (Nickisch 1969, 154⫺184), aber auch in Rhetorik- und Stillehrbüchern, die Denken und Sprechen nun zunehmend gleichsetzten, sowie bei Winckelmann, der den Stilbegriff in der Applikation auf die Kunstgeschichte temporalisiert (Luhmann
73. Stil und Individuum (Individualstil)
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1986, 642⫺644). Die klassische Formulierung des Konzepts findet sich in der Antrittsrede des Grafen von Buffon vor der Acade´mie Franc¸aise: „le style est l’homme meˆme“ (Buffon 1753). Gemeint war weiterhin der Mensch als Typus, in diesem Fall der grand e´crivain, zugerechnet wurde das Schlagwort aber nun zunehmend auf das Individuum (vgl. Müller 1981, 40⫺51). Gestützt auf die forcierte Identifikation von Sprechen und Denken durch Hamann und Herder verband sich in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. das Individualstilkonzept mit der Physiognomik Lavaterscher Provenienz, dem Aufrichtigkeitsfuror Rousseaus und dem Genieparadigma (vgl. Gumbrecht 1986, 751). Es prägte die Gattung des Briefromans, war wesentlich an der Epochenkonstitution des Sturm und Drang beteiligt und erlangte in der neu entstehenden Ästhetik den Status eines Grundgesetzes (Sowinski 1999, 21; Rosenberg u. a. 2003, 652). Die kunst- und literaturkritische Leistung des Konzepts erfüllte sich insbesondere im Genre der Charakteristik (Herder, Friedrich Schlegel, etc.) bzw. des Dichterporträts und der Biographie. Karl Philipp Moritz führte schließlich in seinen Vorlesungen über den Stil die Ansätze in Epistolographie, Rhetorik- und Stillehrbüchern, Kunst- und Literaturkritik, literarischer Praxis und Ästhetik zusammen und begründete damit die deskriptive Stilistik als Individualstilistik. Als Identifikations- und Wertbegriff bezeichnet Stil nun „das Eigentümliche, woran man die Schreibart eines jeden wieder erkennet, und wodurch sie eigentlich erst zur Schreibart wird“ (Moritz 1793, 591). Die Gegenposition der Aufklärung vertrat Adelung (Ueber den Deutschen Styl). Für ihn dürfen stilistische Innovationen keineswegs „aus der zügellosen Einbildungskraft des Schriftstellers“ stammen, sondern müssen stets „aus dem schönen Conventionellen der Nation selbst hergenommen werden“ (Adelung 1785, 524). Das Individuelle der Nation wird also dem Individuum vorgeordnet (vgl. Müller 1981, 118⫺123). Eine vermittelnde Position findet sich im Übergang vom Sturm und Drang zur Klassik bei Goethe (Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil), der den Individualstil noch oder wieder als Manier bezeichnet. Sie ist eine vom Künstler selbst entwickelte Sprache, „in welcher sich der Geist des Sprechenden unmittelbar ausdrückt und bezeichnet“ (Goethe 1789, 67). Obwohl die Manier dem auf Wesenseinsichten (und also auf Allgemeinheit) verpflichteten Stil untergeordnet ist, kann sie sich in dem Maße Bewunderung und Respekt erwerben, in dem sie das hochkomplexe Repräsentationsprinzip Stil mit dem unterkomplexen der einfachen Naturnachahmung „durch eine reine, lebhafte, tätige Individualität“ verbindet (Goethe 1789, 70).
2.3. Stil als Subjektivität 2.3.1. Romantik Zentraler Schau- und Kampfplatz des Stils als Ausdruck der Persönlichkeit ist das 19. Jh. Es startet in der Romantik mit einer immensen Steigerung und Ausweitung der Individualstilistik, insofern einerseits die Individualität des Individuums als Subjektivität und unendliche Reflexion gefasst (Luhmann 1989, 208⫺215) und andererseits der Stilbegriff in neuer Weise als unabschließbare Selbstlimitation im Kunstwerk und Kontaktebene zwischen Kunst und Gesellschaft konzipiert wird (Luhmann 1986, 645⫺648). Die Werke werden dadurch zum Ausdruck einer unendlich reflektierten Subjektivität, die das Allgemeine mit dem Besonderen des Individuums fortlaufend verbindet. In funktionaler Per-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil spektive soll der Ausdruck des Individuums im Stil nun „zugleich als Orientierung des Schreibens und Kriterium seiner Beurteilung“ (Gumbrecht 1986, 752) dienen, ohne dass diese Perspektive systematisch ausgearbeitet worden wäre (Linn 1963, 48 ff.). Entsprechend fragmentarisch konzipiert Novalis 1798/99 eine „Physiol[ogische] Stylistik“, die dem Stil zu entnehmen hat, „ob und inwieweit der Gegenst[and] den Verfasser reizt oder Nichtreizt ⫺ und daraus Folgerungen auf seine Constitution“ ableitet (Novalis 1978, 586). Schleiermacher nimmt 1826/27 die in der historisch-kritischen Philologie des 18. Jhs. verankerte Fassung des Individualstilkonzepts in die Allgemeine Hermeneutik auf, wobei er zugleich mit kollektiven Individualitäten rechnet: „Gesetz. Jeder Schriftsteller hat seinen eigenen Stil. Ausnahmen von denen, welche überhaupt keine Individual[ität] haben. Diese bilden aber massenweise eine gemeinschaftliche“ (Schleiermacher 1995, 174).
2.3.2. Ideologie und Wissenschat Die häufig beanspruchte Differenz zwischen kollektiven und individuellen Stilganzheiten ließ sich auch ideologisch nutzen, sobald der Individualstil mit dem Nationalstil korreliert wurde. So verfährt Theodor Mundt (Die Kunst der deutschen Prosa), der im Anschluss an Herder und Wilhelm von Humboldt die (deutsche) Sprache als Individuum und das Individuum als psychophysische Einheit konzipiert. Wenn sich dann „die bestimmteste und gebildetste Individualität“ des Autors/der Nation „mit Freiheit in der Sprache erschließt“ (Mundt 1837, 16), werden sowohl sämtliche patriotischen als auch alle stilistischen Hoffnungen erfüllt werden. Mit vergleichbarer Absicht und im Einklang mit Hegel, der Goethes Manier-Konzept in seinen Ästhetik-Vorlesungen aufgenommen und der Dialektik von Subjektivität und Objektivität zugeordnet hatte (vgl. Gumbrecht 1986, 758⫺761; Rosenberg u. a. 2003, 654), wird in der neu entstehenden wissenschaftlichen Stilistik der Individualstil als subjektiver Stil dem objektiven Stil untergeordnet. Heyse etwa weist ersteren der Stilistik und letzteren der Rhetorik zu und andere verfahren ähnlich (Linn 1963, 37, 51 f., 56 f., 63 f.). Wackernagel hat in seinen seit 1836 gehaltenen Vorlesungen den subjektiven als einer der ersten auch als „individuellen Stil“ (Wackernagel 1873, 317) bezeichnet und ihn aus der allein dem objektiven Stil vorbehaltenen Stilistik ausgeschlossen. Der Individualstil wird auf das Gebiet der grammatischen und ästhetischen Kritik beschränkt, soweit es dieser auf „die Beurtheilung eines einzelnen Autors oder die Vergleichung und Unterscheidung mehrerer unter einander“ ankommt (Wackernagel 1873, 316).
2.3.3. Selbstdarstellung und Stilgebärde Seine maximale In- und Extension findet das Konzept des Individualstils in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. theoretisch beim Hegelianer Weiße und praktisch im Werk des Antihegelianers Nietzsche. Weiße (1867, 364) bestimmt Stil in normativer Absicht als „Signatur der Persönlichkeit“ und fundiert ihn zum einen idiolektal, insofern jeder Sprecher aufgrund seiner leiblichen Konstitution unwillkürlich „eine stilistische Physiognomie, ein individuelles Bild seiner selbst“ zum Ausdruck bringt (Weiße 1867, 306). Zum anderen lässt er die gesamte Ästhetik in einer als Stilkritik konzipierten Individualstilistik aufge-
73. Stil und Individuum (Individualstil)
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hen, die nicht nur Handlungen und sprachliche Äußerungen sowie die Literatur im weitesten Sinne (inkl. Briefe, Philosophie und die Bibel) sondern prinzipiell jede (Kunst)Form als „Medium der Selbstdarstellung des subjectiven, persönlichen Charakters“ begreift (Weiße 1867, 303). Neben dem Stil einzelner Persönlichkeiten und einzelner Werke nimmt Weiße auch stilbildende Kollektive wie Völker und Kulturen, aber auch Naturstile an, die allesamt zum Ausdruck der „ewigen Persönlichkeit“ Gottes hypostasiert werden (Weiße 1867, 371). Methodisch orientiert sich bei ihm die Erschließung individueller Stile an der Altphilologie, besonders am historisch-kritischen, Kongenialität und ästhetische Bildung voraussetzenden Studium. Damit ist auch Nietzsche aufgrund seiner altphilologischen Ausbildung bestens vertraut. Seinen eigenen Stil formt er konsequent für denjenigen unter seinen Lesern aus, der „mit kritischem Takt versucht, die intentio auctoris zu verstehen“ (Benne 2005, 193). Dazu wird das Konzept des Stils als Ausdruck der Persönlichkeit performativ transformiert: „Einen Zustand, eine innere Spannung von Pathos durch Zeichen […] mitzutheilen ⫺ das ist der Sinn jedes Stils“ ⫺ der somit zur „Kunst der Gebärde“ wird (Nietzsche 1908, 304). Das Konzept der performativen Stilgesten, die sich bevorzugt an Musik und Tanz orientieren, greift neben den textkritischen besonders die ethisch-normativen und die physiognomischen Aspekte des Individualstilkonzepts auf und ergänzt sie um die obligate Adressatenorientierung der Rhetorik, die es egologisch umcodiert und auf der Basis psychologischer Einsichten als (Selbst-)Verführung zur lebensdienlichen Einsicht versteht (vgl. Gauger 1988).
2.3.4. Germanistik Die normativen Aspekte des Stils als Ausdruck der Persönlichkeit sind damit weitgehend ausgereizt und es beginnen die Abbauarbeiten. Der „persönliche Stil eines Schriftstellers“, verstanden als „die Art, wie die Individualität in seinen Schriften zum Ausdruck kommt“ (Scherer 1888, 120), ist in Scherers Poetik nur noch als deskriptive Kategorie zulässig. Zur potentiell unendlichen Extension des Personalstils gehört „die ganze individuelle Grammatik und Metrik“ (Scherer 1888, 120), sowie der Produktionsprozess mit seinen zahlreichen Einflussfaktoren (vgl. Linn 1963, 61 f.). Den germanistischen Zugang zum Individualstil sollen dann „allgemeine Schemata der Charakteristik“ eröffnen (Scherer 1888, 120), die zwischen ethischen und stilistischen Aspekten scharf zu unterscheiden hätten.
2.3.5. Deutschunterricht Die massiven Normierungsfunktionen des Individualstilkonzepts werden im Deutschunterricht des 19. Jhs. sichtbar. Zwar ermöglichte die Berufung auf „Individualstil“ die Ausdehnung des Deutsch- auf Kosten des Lateinunterrichts (Ochmann 1848, 11), schloss aber auch das Erlernen stilistischer Fertigkeiten „zugunsten des passiv-kontemplativen Verstehens“ exemplarischer Autorstile aus (Rupp 1986, 395). Um den als haltlos unterstellten Ausdruckswillen der Schüler zu disziplinieren, wurden die traditionellen Stilübungen durch eine formalisierte Aufsatzlehre ersetzt, die bis ins 20. Jh. in Geltung blieb (Rupp 1986, 402 f.; Abraham 1996, 123).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
2.4. Stil als Psyche, Zahl und Zeichen Im frühen 20. Jh. kam es in den Geisteswissenschaften zu einer „geradezu ,imperialen‘ Expansion des Stil-Paradigmas“ (Gumbrecht 1986, 772). Zugleich sollte die „Fessel der Individualität“ (Heinz 1986, 164) abgeschüttelt werden. Zuerst verblassten die Konturen des Individualstilkonzepts in seiner psychologischen Transformation, und in der semiotischen Gegenbewegung dazu löste es sich auf. Seither spielt das Konzept des Stils als Ausdruck der Persönlichkeit in den Sprach-, Literatur- und Kommunikationswissenschaften keine nennenswerte Rolle mehr, obwohl es in der praktischen Stillehre weiterhin nötig zu sein scheint (vgl. Sanders 1996, 99⫺112) und sich als stylization und imagemaking tief in den Alltag der Moderne eingegraben hat (vgl. Rosenberg u. a. 2003, 688⫺ 701).
2.4.1. Psychologie und Statistik Exemplarisch werden Expansionsdrang und Begrenzungsbedürftigkeit des Individualstilkonzepts bei Meyer (Deutsche Stilistik) sichtbar, der unter Stil den „Ausdruck einer Persönlichkeit“ (Meyer 1906, 228) versteht und diese als „originelle Mischung“ typischer Einflussfaktoren definiert (Meyer 1906, 230). In der vollständigen Beschreibung individueller Sprachgebrauchsweisen findet dann die Stilistik zwar „ihre letzte Verengung und ihre höchste Aufgabe“, gelangt damit aber auch an eine prekäre Grenze: Ihr Fernziel wäre eine empirische Stilistik, die als „individueller Sprachatlas zur deutschen Literaturgeschichte“ entworfen wird. Er hätte „den Gebrauch aller Stilformen und Mittel nach Gattungen, Zeiten und Persönlichkeiten“ darzustellen (Meyer 1906, 230). Einen Ausweg aus den empirischen Überforderungen des Individualstilkonzepts versprach seine psychologische Transformation. Für Elster etwa ist der Individualstil nur noch eine Möglichkeit unter anderen, die festgehaltene „Norm der Einheit“ (Elster 1911, 7) stilistisch zu realisieren. Die neue Konzentration auf die Apperzeptionsweisen der Produzenten löste einen massiven Historisierungsschub des Individualstilkonzepts aus, der es in kulturkritischer Perspektive als kontingenten Effekt einer Spätzeit erscheinen ließ (Elster 1911, 91⫺94). Mit dem Dekadenzverdacht kehrten normative und ideologische Optionen in die Individualstildiskussion zurück. Sie motivierten die Stilgeschichte (vgl. z. B. Nadler 1930) und operierten bevorzugt mit der Differenz von Zeit- und Persönlichkeitsstil (vgl. Martini 1955). Aufgenommen und mit der Linguistik verknüpft wurde die Psychologisierung des Individualstils insbesondere von der neoidealistischen Romanistik, nachdem Voßler im Anschluss an Wilhelm von Humboldt auch Nationalsprachen als Stile verstanden hatte. Normativ gewendet kann man dann auch zu Adelung zurückkehren und die Individualität der Nationalsprache der Erforschung von Individualstilen vorordnen (vgl. Gipper 1982). Den umgekehrten Weg hat Spitzer eingeschlagen, für den „die individuelle Stilsprache […] die biologisch notwendige Auswirkung der Individualseele“ darstellt (Spitzer 1928, 520). Winkler (Grundlegung der Stilistik) macht den Entwurf einer Individualstilphysiologie wieder rückgängig, indem er unter Stil „die charakteristische Eigenart der Gesamtheit“ aller von einzelnen Sprechern oder Sprachgemeinschaften gesetzten seelischen Werte versteht (Winkler 1929, 1) und die Identifikation des Stils mit dem individuellen Sprachgebrauch zurückweist.
73. Stil und Individuum (Individualstil)
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Parallel zu diesen psychologischen Reduktionen ist das Konzept des Individualstils auch von der Stilstatistik depotenziert worden (Göttert/Jungen 2004, 25 f.). Sie setzt eine relevante Autorengesamtheit voraus, vermag aus dieser aber nicht zweifelsfrei den Autor herauszufinden, sondern lediglich einige Kandidaten mit Gründen auszuschließen (vgl. Wickmann 1968, 7; 75).
2.4.2. Semiotik Die Auflösung der expressiven Individualstilistik erfolgt im Prager Strukturalismus. Mukarˇovsky´ hält 1944 fest, dass ein Kunstwerk „keineswegs Ausdruck der Persönlichkeit oder der Seelenzustände seines Urhebers ist, sondern ein Zeichen, das zwischen zwei Seiten [i. e.: Autor und Rezipient, U. B.] vermittelt“ (Mukarˇovsky´ 1966, 79). Das Individuum wird zum Menschen in seiner Stellung gegenüber dem Universum verallgemeinert, der im Spiel der Zeichen seine Realität verliert: „Die durch das semantische Geschehen des Werkes konstituierte Persönlichkeit kann […] keinen anderen als semiotischen Charakter haben. Sie wird durch die Gestaltungsweise des Kunstproduktes indiziert und ˇ ervenka/Jankovicˇ 1976, 98). In expliziter Aberscheint als dessen fiktiver Urheber“ (C wendung von der Ausdrucksästhetik wird der Individualstil performativ als semantische ˇ ervenka/Jankovicˇ 1976, 103). Geste verstanden, die alle Werkelemente vereinheitlicht (C Die Individualität des Stils gerinnt zum bloßen Rezeptionseffekt: „Eben vom Gesichtspunkt des Empfängers aus konnte die Persönlichkeit (Individualität) des Autors als Eiˇ ervenka/Jankovicˇ 1976, 104). genart (Individualität) des Werkes aufgezeigt werden“ (C Konstruktivistische und funktionale Perspektiven auf den Individualstil waren hier anschließbar, darunter auch die De- und Rekonstruktion der Autorkategorie (vgl. Jannidis u. a. 1999). In dem Maße, in dem neue Medien wie der Film das Einzelschöpferkonzept durch Modelle pluraler Autorschaft ergänzten, hat sich schließlich die Vorstellung isolierter Individualstile auch in urheberrechtlichen Kontexten als hinderlich erwiesen (Wermke 1988).
2.4.3. Deutschdidaktik Parallel zu seiner Auflösung in den Kulturwissenschaften wurde das expressive Individualstilkonzept im Deutschunterricht des 20. Jhs. nobilitiert. Ansätze der Reform- und Erlebnispädagogik (vgl. Sowinski 1998, 332) weiterführend entwickelte die nationalsozialistische Didaktik ein Stilkonzept, das die stilexpressive Literaturtheorie verspätet aufzunehmen schien, die damit verknüpfte Emanzipation des Individuums allerdings kollektivistisch abbog (Abraham 1996, 124). Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Deutschdidaktik fallweise zur Förderung individueller Stile zurückgekehrt (Rupp 1986, 403; vgl. Fritzsche 1991). „Individuelle ,Stilhandlungsfähigkeit‘“ wird dabei „als ein zunehmend bewusstes Verfügen über die […] Funktionen topischer Rede“ verstanden, in dem sich Eigenproduktion und Fremdverstehen wechselseitig ergänzen: „Die Fähigkeit zum individuell gestalteten Sprachgestus setzt das […] Einnehmen topischer Gesten ebenso voraus wie die reflektierende Anschauung solcher Gesten in fremden Texten“ (Abraham 1996, 395 f.).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
3. Stil und Idiolekt Während das Konzept des Stils als Ausdruck der Persönlichkeit sämtliche denkbaren Ausdrucksformen des Individuums umfasst, beschränkt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Stil und Idiolekt in linguistischer Perspektive auf sprachliche Ausdrücke. Dabei können grundsätzlich entweder alle rekurrenten stilistischen Merkmale bei der produktiven Sprachverwendung einer Person oder nur die besonderen Merkmale (der ,linguistische Fingerabdruck‘) untersucht werden (vgl. Fleischer/Helbig/Lerchner 2001, 453).
3.1. Idiolekt und Individualstil Überlegungen zur individualsprachlichen Stilverwendung finden sich bereits bei Adelung (1785, 28), für den die stilistischen Besonderheiten im Ausdruck einzelner Sprecher stets durch die Kommunikationszwecke der Sprachgemeinschaft eingeschränkt werden müssen, sowie ⫺ mit umgekehrten Vorzeichen ⫺ bei Goethe, für den jeder Mensch „sich selbst eine Sprache“ bildet, „um das, was er mit der Seele ergriffen, wieder nach seiner Art auszudrücken“ (Goethe 1789, 67). Im Anschluss an Wilhelm von Humboldt, der sich von der Stilistik einen zentralen Beitrag zur „Wesenserfassung der Sprache aus dem individuellen Geist“ (Linn 1963, 79; 100) versprochen hatte, sowie an seinen Lehrer de Saussure hat schließlich Bally eine individuelle Stilistik (im Unterschied zur allgemeinen und kollektiven) entwickelt, deren Aufgabe in der Erfassung von Ausdrucksbesonderheiten der einzelnen Sprecher besteht (vgl. Linn 1963, 101; Peukert 1977, 63). Den neoidealistischen Versuch Voßlers, die Sprachwissenschaft ganz auf die Untersuchung von Individualstilen zu gründen (Linn 1963, 99), hat Spitzer in seinen Studien aufgegriffen (vgl. 2.4.1.). Zur Erfassung von Idiolekten, die als sprachliches System einzelner Sprecher verstanden werden (Spitzer 1928, 514 f.), sind Lexik, Semantik und Syntax literarischer Texte mit der Psyche, der Denkform und der Physis ihres Autors zu verknüpfen. Eine dezidiert auf den Sprachstil bezogene Ausarbeitung des Zusammenhangs von Stil und Idiolekt bietet die empirische Stilpsychologie Busemanns (Stil und Charakter, 1948). Sie geht der Entstehung des Sprachstils aus den Persönlichkeitsmerkmalen des einzelnen Sprechers nach und versteht gestalttheoretisch den entwickelten Stil ebenso wie den Charakter selbst als Produkt einer individuellen Leistung. Dabei wird auch die Stilstatistik einbezogen. Als wesentlich wirkungsmächtiger erwies sich freilich der Strukturalismus, der Stil und Idiolekt zuerst im Rahmen phonologischer Problemstellungen verknüpft hat. Ansätze Trubetzkoys wurden in Amerika durch Bloch (A Set of Postulates for Phonemic Analysis, 1948) aufgegriffen. Er definierte den Idiolekt als Gesamtheit der möglichen Äußerungen eines Sprechers zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb der sprachlichen Interaktion, wobei jeder Sprecher im Laufe seines Lebens und zu jedem Zeitpunkt über verschiedene Idiolekte verfügen kann. Die Unterschiede zwischen ihnen erfasst der Stilbegriff. Wie die Überlegungen Ullmanns (Language and Style, 1964) verdeutlichen, schwebte der Linguistik als Modell und Fernziel idiolektaler Stilverwendung weiterhin die Literatursprache vor. Ullmann arbeitet mit einem unspezifisch zwischen langue und parole vermittelnden Idiolektbegriff, überträgt ihn auf die Literatur und unterscheidet drei Möglichkeiten der Analyse idiolektaler Autorstile: die Stilstatistik, die Stilpsycholo-
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gie und die funktionale Stilistik, der es um die strukturellen Funktionen des Stils im Einzelwerk geht. Einen ⫺ freilich sehr weit gefassten ⫺ rein linguistischen Idiolektbegriff, der sowohl das für ein Individuum spezifische Ausdruckssystem als auch die dadurch ermöglichten tatsächlichen Äußerungen umfasst, hat zuerst Hammarström (1980) eingeführt. Unter die idiolektalen Merkmale rechnet er auch unterschiedlich auf die einzelnen Sprecher verteilte Register, zu denen Phraseologismen, Themen, Rollen und Textsorten gehören und die eher tentativ unter die Stilkategorie subsumiert werden. Präziser meint der Registerbegriff „diejenigen stilistischen Eigenschaften eines Textes […], die durch den situationalen Kontext bestimmt werden“ (Püschel 2000, 480). Auch nach Ansicht der linguistischen Pragmatik sind „individuelle Stile über eine Kombinatorik beschreibbar: durch individuelle Auswahlen aus vorgefundenen Inventaren und durch eine Integration zu einem neuen individuellen Inventar“ (Sandig 1978, 170). Anspruchsvollere Fassungen des Verhältnisses von Idiolekt und Stil sind durch die Unterscheidung und Zuordnung von Idiolekt und Individualstil möglich geworden. Lerchner (1980, 48 ff.) weist die in der (linguistischen) Stilistik verbreitete Subordination des Individualstils unter die (,objektiven‘) Funktionalstile zurück und benennt die methodischen und begrifflichen Mängel des Individualstilkonzepts. Unter der soziolinguistischen Kategorie des Idiolekts wird die Gesamtheit aller sprachlichen Mittel verstanden, die einem Individuum zur Verfügung stehen, während der Individualstil als individualisierende Gestaltung des idiolektalen Repertoires bestimmt wird (Lerchner 1980, 53). Damit ist der Individualstil zu einer Prozesskategorie mit Systemcharakter geworden. Er umfasst verschiedene Register, zu denen neben Kommunikationsstrategien, Textklassen und Gebrauchsformen auch ästhetische bzw. literatursprachliche Normen gehören. Das stilsemiotische Konzept Lerchners ist mittlerweile operationalisiert (Michel 2001, 117⫺132) und in die Ästhetik integriert worden (Rosenberg 2003, 664).
3.2. Der ,sprachliche Fingerabdruck Zu den Funktionen eines persönlichen Stils gehört seit jeher die Selbstdarstellung des oder der Sprachhandelnden (Sandig 1986, 214 ff.). Die Frage nach den besonderen stilistischen Merkmalen im Sprachverhalten des Individuums ist daher vor allem in anwendungsorientierten Kontexten diskutiert worden. Frühe Versuche der Kriminalistik, die individualisierenden Aspekte der Sprachverwendung erkennungsdienstlich zu nutzen (Müller 1981, 20), wurden von Literaturwissenschaftlern ermutigt, für die ein Autor aufgrund seines Stils ebenso eindeutig zu identifizieren ist „wie den Verbrecher sein Fingerabdruck verrät“ (Petersen 1939, 203). Entsprechende Erwartungen hat Jöns (1982) kritisch reflektiert und ihre forensische Diskussion eingefordert. Seine Anregungen fanden in der Gerichtspraxis Gehör und lösten eine Debatte aus, die Ende der 1980er Jahre auch die Öffentlichkeit erregte. Es kam zu einer intensiven Auseinandersetzung zwischen Gutachtern, Linguisten und Kriminalisten, in der die Metapher des linguistischen Fingerabdrucks übereinstimmend zurückgewiesen und die Möglichkeit einer linguistischen Autorschaftsermittlung einerseits aus theoretischen und methodologischen Gründen (kollektive Autorschaft, Kombination von Texten aus Versatzstücken, etc.) bestritten (Wolf 1989; Brückner 1990; Grimm 1991), andererseits aber unter bestimmten Bedingungen, zu denen etwa die Textsortengleichheit des sprachlichen Materials, die Arbeit mit Merkmalbündeln und die Beschränkung auf Wahrscheinlichkeitsaussagen gehören, als nützli-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil ches Hilfsmittel bei der Erstellung von Täterprofilen empfohlen wurde (vgl. Kniffka 1992). Zu den stylometrischen Analyseprozeduren, die in der Regel auf Ergebnisse der Sprachstatistik zurückgreifen, gehören u. a. Wortlängen- und Fehlermessungen, Einzelwort- und Wortgruppenuntersuchungen, sowie die Analyse von Satzeinleitungen und Satzkomplexen. Stets bedarf jedoch das erhobene Datenmaterial „einer sorgfältigen und vorsichtigen Interpretation“ (Lipold 1999, 256).
4. Stil und Einzeltext (Werkstil) Im Kontext der philologischen Textkritik sowie als Implikation einer jeden Version von Klassik ist Stil auch unabhängig vom Urheber der Äußerung auf der Ebene der sprachlichen Äußerung selbst angestrebt und beobachtet worden. Das folgt bereits aus dem „Homogenitätsprinzip“ (Sowinski 1998, 328) jeder individualisierenden Stilprägung. Mit dem Stilkult Flauberts und seiner Anhänger wird die „Impersonalität des Kunstwerks“ zur ästhetischen Norm (Müller 1981, 151; Gumbrecht 1986, 762 f.), der auch die Hochschätzung des „individuell geschlossenen Stilcharakters eigentlicher strenger Kunstwerke“ (Weiße 1867, 374) verpflichtet ist. Die literarische Moderne findet hier ihren Kompass. Während der Werkstil seit den 1920er und verstärkt in den 1940er und 1950er Jahren eine zentrale Rolle in der disziplinären Selbstbegründung der Literaturwissenschaft spielte, wird er dort inzwischen kaum noch explizit reflektiert, weiterhin aber analytisch beansprucht. Die Linguistik hat dagegen erst in jüngster Zeit eine Theorie des Stils einzelner Textexemplare zu entwickeln begonnen.
4.1. Literaturwissenschat Die Beschränkung der Literaturgeschichtsschreibung auf die Persönlichkeit einzelner Künstler ist 1910 von Walzel als bloßes „Aneinanderreihen der Individuen“ kritisiert worden (Walzel 1926, 3). Der analytischen „Erforschung des Einzelnen, sei es Künstler oder Kunstwerk“ (Walzel 1926, 4), wird eine synthetische Erforschung der „Beziehungen, in denen es steht“ (Walzel 1926, 35), zur Seite gestellt. Relativiert wurde der Werkstil jedoch durch die Kategorie des Zeitstils. Weiter führte der Versuch Ermatingers (Das literarische Kunstwerk, 1921), den literarischen Text als Funktionseinheit zu begreifen, die sich vom Autor zwar abgelöst, durch diesen aber ihre einheitliche, auf einem besonderen Erlebnis basierende Idee erhalten hat. Der Stil des Einzelwerks wird umgekehrt als mehr oder weniger ausgeprägte Individualisierung allgemeiner Stilnormen (Gattungsnormen etc.) verstanden. Für die existenzielle Stilforschung sind dann bereits „eindeutig die Kunstwerke“ Gegenstand der Untersuchung (Pongs 1929, 259). Nadler betont dagegen erneut, dass Stil „immer das Individuelle gegenüber der Norm eines Übergeordneten“ bezeichnet (Nadler 1930, 379) und bezieht daher den Werkstil auf „soziologische Mächte“, unter denen „Stammestümlichem“ (Nadler 1930, 395) der oberste Rang gebühre. Petersen (Die Wissenschaft von der Dichtung, 1939) folgt ihm, indem er für die Analyse des Einzelwerks eine Kategorientafel aufstellt, in der zuoberst das ideologische Konstrukt des Rassestils rangiert. Das ist nach 1945 obsolet. Während Mukarˇovsky´ (1971, 49), allerdings noch ohne Rekurs auf den Stil, bereits „das Kunstwerk als Indivi-
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duum“ auffasst, hat Kayser (1948, 289⫺292) die logischen und ideologischen Prämissen des Ausdrucksdenkens im Personalstilkonzept kritisiert und zurückgewiesen. Seither bildet der Werkstil den zentralen Gegenstand der Literaturwissenschaft. Unter Absehung von Ursprungs- und Referenzfragen wird er als individuelle Haltung (verstanden als einheitliche Wahrnehmung und Gestaltung von Welt) aufgefasst. Aufgrund ihrer Orientierung am Prinzip der Einstimmigkeit wurde die Werkstilistik in epistemologischer Perspektive als wertbezogener Aufweis kategorisiert (Strube 1979), obwohl schon für Szondi die Aufgabe der Literaturwissenschaft zwar weiterhin in der „intensiven Versenkung in das einzelne Kunstwerk“ besteht (Szondi 1962, 276), ohne für dessen Stil noch in jedem Fall Einstimmigkeit (Klassizität) postulieren zu können; stattdessen wird für den Stil des Einzelwerks auch die Möglichkeit widersprüchlicher (manieristischer) Ausgestaltung eingeräumt (Szondi 1962, 284⫺286). Die damit etablierte Differenz von Werk- und Stilindividualität gehört seither zum Basisinventar elaborierter literaturwissenschaftlicher Analysen.
4.2. Sprachwissenschat In jüngerer Zeit hat sich auch die Textlinguistik mit dem Text als Möglichkeitsbedingung von Stil und dem Beitrag des Stils zur Identifikation von Textexemplaren auseinandergesetzt. Anknüpfend an die Handlungsstilistik und die Überlegungen Lerchners zum Individualstil (vgl. 3.1.) hat Fix (1991, 51⫺54) stilistisches Handeln generell als unikalisierende Umsetzung von Stilmustern in jeweils spezifische Textoberflächen verstanden. Neben dieser notwendigen Unikalität von Texten ist jedoch auch eine „bewußt hergestellte Einmaligkeit, bewußte Unikalität“ anzunehmen, die als Individualisieren bezeichnet wird (Fix 1991, 54). Zu den Möglichkeitsbedingungen des Individualisierens von Texten gehören die Identifizierbarkeit von Stilmustern und das Wissen um ihre intertextuelle Relativität. Daraus, sowie aus dem Befolgen bzw. Fortführen innertextueller, zumeist durch den Textanfang bedingter Regularitäten, ergibt sich die konkrete Stilgestalt einzelner Texte (Fix 1991, 54⫺58). Entsprechend wurde dem Stil eine textkonstitutive Funktion zugeschrieben (Sowinski 1999, 10). Sie besteht in der Annahme, dass „die reale Existenz eines Textexemplars auch vom Vorhandensein eines einheitlichen Stils abhängt“ (Fix 2005, 37). Daraus folgt, dass jeder Stilbruch „textliche Verschiedenheit“ (Sowinski 1999, 10) signalisieren müsste (vgl. Fix 2005, 44 f.). Mit dem Fernziel einer Theorie des Stilbruchs wäre hier weiter nachzufragen, um die Regularitäten aufzudecken, nach denen einem Text (mehr als?) ein Stil und einem Stil (mehr als?) ein Text zugeordnet werden können.
5. Ausblick Fragen nach der Einheit und Differenz von Stilen und (individuellen) Texten lassen sich künftig wohl am ehesten in einer eigenständigen Textstilistik beantworten (vgl. Fix 2005, 47 f.), die eng mit den Literatur-, Sozial- und Kommunikationswissenschaften zu kooperieren hätte. In jedem Fall dürfte die Unterscheidung zwischen In/Dividuum, Text/en und Stil/en größere Beobachtungschancen eröffnen als die Voraussetzung ihrer Einheit.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
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Ulrich Breuer, Helsinki (Finnland)
74. Stil und Sozialität (Gruppe, Geschlecht, Alter)
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74. Stil und Sozialität (Gruppe, Geschlecht, Alter) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Sozialität Stil als Beschreibungskonzept Gruppe(n) und Stil(e) Geschlecht und Stil (Genderstile) Alter und Stil Perspektiven Literatur (in Auswahl)
Abstract The social dimension of style has to be constructed according to Niklas Luhmann. In taking not only the ego but also the perspectives of alter egos into account, Luhmann explains the special horizons of such categories as group, sex and age. After defining style and its communicative potential, this article introduces some anthropological studies of group styles. The less formal and the smaller the groups are, the more they create styles for managing identification within the group and disassociating from persons outside of the group. The way peer groups compete among members and the maintenance of norms are illustrated in this article by taking examples from ritual insults, narratives, quarrels and disputes. Styles are reflected in communicative (pragmatic) practices and in rules of speech performance. In chapter 4 of this article, the styles of males and females (women and men) are presented and discussed. Although many interesting findings show that there are substantial gender-specific differences, it turns out that pragmatic factors influence the communicative behavior in multiple ways. These factors have to be taken into account before any conclusions can be drawn with respect to gender-specific styles. The final chapter deals with styles and age, in particular, it focuses on the style of elderly persons. Three theoretical models are presented with major emphasis on current research on the integrationist approach.
Unter Stil verstehe ich im Folgenden mündliche kommunikative Praktiken, die auf der Verwendung sprachlicher Zeichen basieren (Mikrostilistik). Die neueren soziolinguistischen Ansätze zu sozialen kommunikativen Stilen (SKS) werden in meinem anderen Artikel in diesem Handbuch (Art. 100, insbesondere Kap. 3.3) dargestellt. Während dort theoretische und methodische Dimensionen der SKS-Definition im Unterschied zu Varietäten im Vordergrund stehen, werden im Folgenden Eigenschaften von SKS zur Explikation von paradigmatischen Konzepten der Sozialität auf dem Hintergrund von Existenzformen sozialer Lebenswelten herangezogen (vgl. Kallmeyer 1995; Schmidt 2004). Der Artikel von Johannes Schwitalla in diesem Handbuch behandelt Gesprächsstile (Art. 62), die interaktive Dimension des Stils, die im Folgenden, sofern für Gruppe, Geschlecht, Alter einschlägig, berücksichtigt wird.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
1. Sozialität Die grundlegende Bedingung menschlicher Existenz, in einem ungeschriebenen contract social im Nebeneinander kooperativ und human zu leben und dazu überhaupt befähigt zu sein, belege ich mit dem Konzept der Sozialität. „Die sozialen Umgebungen, in denen wir existieren, bestehen nicht bloß aus zufälligen Anhäufungen von Ereignissen oder Handlungen ⫺ sie sind strukturiert“ (Giddens 1995, 23). Strukturierte menschliche Handlungen und Beziehungen sind soziale Systeme: „Was diesen ihr Muster verleiht, ist ihre Wiederholung über Zeiträume und örtliche Distanzen hinweg […] Unser aller Handlungen werden von den strukturellen Merkmalen der Gesellschaften, in denen wir herangewachsen sind und leben, beeinflusst; gleichzeitig reproduzieren wir diese strukturellen Merkmale durch unsere Handlungen und verändern sie dadurch […]“ (Giddens 1995, 23). Die genannten Aspekte erforscht die Soziologie als Wissenschaft der Sozialität in ihrer formalen und funktionalen Komplexität (siehe für einen Überblick Giddens 1995). In systemtheoretischer Perspektive manifestiert sich Sozialität in der Sozialdimension. „Die Sozialdimension betrifft das, was man jeweils als seinesgleichen als ,alter ego‘ annimmt, und artikuliert die Relevanz dieser Annahme für jede Welterfahrung und Sinnfixierung. […] Jedem Sinn kann dann auch eine Verweisung ins Soziale abverlangt werden. Das heißt: Man kann allen Sinn daraufhin abfragen, ob ein anderer ihn genau so erlebt wie ich oder anders. Sozial ist also Sinn nicht qua Bindung an bestimmte Objekte (Menschen), sondern als Träger einer eigentümlichen Reduplizierung von Auffassungsmöglichkeiten. Entsprechend stehen die Begriffe Ego und Alter (alter Ego) hier nicht für Rollen oder Personen oder Systeme, sondern ebenfalls für Sonderhorizonte, die sinnhafte Verweisungen aggregieren und bündeln. Auch die Sozialdimension wird durch einen Doppelhorizont konstituiert; […] die Horizonthaftigkeit von Ego und Alter impliziert ,Unabschliessbarkeit weiterer Exploration‘“ (1985, 119 f.). Als in diesem Sinne Sozialität repräsentierende Sonderhorizonte sollen im Folgenden die (natürlichen) sozialen Erscheinungen Alter, Geschlecht und Gruppe als Grundgrößen sozialwissenschaftlicher Beschreibung betrachtet werden. Alter ist ein Konzept für unterschiedliche Lebensphasen, in deren gerichtetem zeitlichen Verlauf ,von der Wiege bis zur Bahre‘ typische Formen und Funktionen menschlicher Sozialität zum Ausdruck kommen (vgl. Altersphasen in Eckert 1997); eigentlich gibt es keine Größe der Sozialität, die nicht vom Alter ,durchherrscht‘ ist (biologische Konstante). Ohne den Rückgriff auf den soziologischen Kernbegriff Gruppe ist das altersspezifische Durchlaufen von Lebensphasen aber ⫺ über das psychische Innenleben der Individuen hinaus ⫺ nicht sinnvoll zu interpretieren. So ist Alter mit Gruppe, beide wiederum sind mit Geschlecht verzahnt ⫺ insofern die existenzielle Spannung zwischen Mann und Frau eine gruppen- und lebensphasenbestimmende Größe der Sozialität darstellt. Da der Terminus Gruppe als für Sozialität grundlegend, im Zusammenhang mit sprachlichen Praktiken aber eine zentrale Rolle spielt, wird er hier mit logischer Priorität entwickelt (siehe Kap. 3). In sozialwissenschaftlicher Perspektive kann man alters- und geschlechtsspezifische SKS von Individuen sinnvoll nur mit Bezug auf die Gruppe untersuchen, da ihre Beschreibung aus gesellschaftlich relevanten Interaktionen abgeleitet werden müssen (vgl. Schmidt 2004 und Kap. 3). Für die drei Sonderhorizonte der Sozialität, deren SKS-Eigenschaften wir im Folgenden isolieren wollen, legen wir ein interaktionistisch-konstruktivistisches Verständnis zugrunde (Fiehler/ Thimm 2003a, 13 f.; Kotthoff 2006, 6 ff.). Gruppen werden mittels Verhaltenswerten und -normen im sozialen Prozess der Gruppeninteraktion konstruiert. Für Geschlecht wird
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nicht das biologische Konzept Sexus zugrunde gelegt, sondern Gender: Unter diesem Begriff verstehen wir den sozialen Typisierungsprozess, der die Inszenierung von Männlich- und Weiblichkeiten umfasst. Alter wird nach Fiehler/Thimm (2003a, 13 f.) als interaktiv konstituiertes Phänomen betrachtet. Innerhalb der physischen Rahmenbedingungen (Stimme, Körperverhalten etc.) gibt es aber beträchtliche konstruktivistische Spielräume. In welchen stilistischen Mustern diese im Einzelnen in der Interaktionsdynamik hervortreten, ist Gegenstand der Kapitel 3, 4 und 5.
2. Stil als Beschreibungskonzept Sozialer Kommunikativer Stil (SKS) ist eine Funktion der primären (sozialpsychologischen) Bezugsgröße Identität. Soziale Identität ist in Bezug zu Alter, Geschlecht, Kulturund Gruppenzugehörigkeit erfahrbar. Als zeichenspezifische Ausdrucksrepertoires sind SKS Funktionen dieser erfahrbaren Identitätskonstellationen, aber ihrerseits distinktiv strukturierte Kodes, die über Alter, Geschlecht und Gruppe ganz spezifische Aussagen möglich machen, die bei nichtsprachlichen Variablen (z. B. Freizeitverhalten oder Sportvorlieben) in dieser distinktiven Strukturiertheit nicht erklärungsstark werden. Jede soziale Gruppe wahrt in Kontinuität (Stabilität über gewisse Zeiträume) eine Kernidentität, die ein personales oder gruppenspezifisches Überleben im sozialen Kontext sichert. Die Identität ist zum einen wesentlich geprägt durch Herkunft, Lebensraum, Geschlecht und Alter, zum andern im aktuellen Alltagsleben durch Teilbereiche wie Familie, Beruf, Freizeit (u. a.). Die ersteren nenne ich konstitutive Faktoren, die zweitgenannten kontextuelle Faktoren, die ⫺ im Verhältnis zu den ersteren ⫺ eher begrenzte Reichweiten in der Einflussnahme auf die Gesamtidentität haben. Manifest ⫺ und damit wissenschaftlich zugänglich ⫺ werden Stile nur, wenn sie in sozialen Kontexten performativ in Szene gesetzt werden. Die aktuelle Forschung zu soziolinguistischen Stilen ist sich darin einig, dass stilistische Markierungen im Kommunikationsverhalten von Sprecherinnen und Sprechern ein markiertes und gestaltgeprägtes Zusammenwirken selektiver Eigenschaften unterschiedlicher verbaler und nonverbaler Strukturebenen impliziert. Bislang ist der Nachweis des stilkohärenten Zusammenwirkens querebenenspezifischer verbaler und nichtverbaler Eigenschaften interpretativer Natur. Ein kognitiv-konstruktivistischer Ansatz würde die Disparatheit der semiotischen Markierungen mittels anwendungsbezogener Wissensbestände so rekonstruieren, dass daraus eine explizite stilkohärente Lesart entsteht. Eine theoretische Konzeption, in der den performativen Stilprofilen stilkoheränzstiftende Wissensbestände entsprechen, die als Korrelate der ersteren explizit (durch Hörer) rekonstruiert werden müssen, habe ich in Kap. 3 meines anderen Artikels in diesem Handbuch (Art. 100) vorgelegt. (Vertiefende Erläuterungen finden sich unter: http://www.personal. geisteswissenschaften.fu-berlin.de/nordit/LINK: aktuelle Veröffentlichungen, Stil.) Der folgende Überblick fokussiert die Fragestellung, welchen Beitrag die Sozialdimensionen Gruppe, Alter und Geschlecht zur Konstruktion von distinktiven (Bourdieu 1979) soziolinguistischen Stilen leisten (vgl. zu verwandten Fragestellungen Art. 73 von Breuer und Art. 62 von Schwitalla in diesem Handbuch). Anders als die meisten Beiträge dieses Handbuches bezieht sich dieser ausschließlich auf mündliche Rede als gruppen-, altersund geschlechtskonstitutiven Stil.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
3. Gruppe(n) und Stil(e) Unter einer sozialen Gruppe ist ganz einfach eine Anzahl von Menschen zu verstehen, die miteinander regelmäßig interagieren. Durch die Regelmäßigkeit der Interaktion werden die Beteiligten zu einer eigenen Einheit mit einer übergeordneten sozialen Identität verschmolzen. Mitglieder einer Gruppe erwarten voneinander bestimmte Verhaltensformen, die von Nicht-Mitgliedern nicht erwartet werden. Der Größe nach reichen Gruppen von sehr engen Verbänden, wie der Familie, bis zu großen Kollektiven, wie Sportvereine. (Giddens 1995, 305)
Der Begriff Gruppe lässt sich von ähnlichen Konzepten, wie Aggregat und Netzwerk abgrenzen (Näheres dazu wird ausgeführt in http://www.personal.geisteswissenschaften. fu-berlin.de/nordit/LINK: aktuelle Veröffentlichungen, Stil.) In den Sozialwissenschaften versteht man unter Gruppe „eine Anzahl von Personen, die untereinander dependente Beziehungen haben“. Aggregate sind demgegenüber „Anhäufungen von Menschen, deren Interaktionen nicht zentriert sind“ (Goffmann, zit. in Giddens 1995, 105). Je nach Größe (Kleingruppe, Verein), Interaktionsdichte (Ad-hocGruppe, Spontangruppe, dauerhafte Gruppe), Grad der Formalität ihrer Konstitution (formell [⫽ institutionalisiert] vs. informell [nicht-institutionalisiert]), interner Kohäsion (⫽ Zusammenhalt), primärer (Familie, Freundeskreis) und sekundärer Zugehörigkeit (Arbeitsg., Interesseng., Männerg., Fraueng. etc.) werden verschiedene Typen von Gruppen unterschieden (vgl. Abb. 74.1). Gruppen und ihr Verhalten unterliegen mehr oder weniger langfristigen Prozessen, als deren wesentliche Merkmale gelten (Fisch 2005, 423 ff.): (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9)
Entwicklung von Kontakt, Sympathie und sozialer Distanz (Abgrenzung nach außen) Wir-Gefühl, Gruppenidentität (Gefühl der Zugehörigkeit) Zusammenhalt Rollendifferenzierung (Gefüge von Funktionen, differenzierte Rollen und Regeln) Beziehungsmuster innerhalb der Gruppe (langfristige Beziehungen, gegenseitiger Einfluss, geteilte Erlebnisse und Geschichte) Formen der Führung Bezugsgruppen (Beziehung zu und Abgrenzung von anderen Gruppen) Soziale Vergleichsprozesse Leistungsvorteile von Gruppen.
Welche Auswirkungen haben diese Größen auf gruppenspezifische SKS? In der folgenden Forschungsübersicht finden sich vorzugsweise (Kriterium: Stilbezogenheit) Erkenntnisse zu (1) bis (5). Aber nur solche Studien werden einbezogen, in denen SKS-spezifische Aspekte von Gruppen über eine längere Zeit in einschlägigen Situationen/Domänen erhoben bzw. beobachtet wurden.
3.1. Typologische Aspekte Die derzeit beste soziologische Aufarbeitung gruppensoziologischer Forschung (mit einem eigenen theoretischen Entwurf) stellt Schmidt (2004) dar. Er verortet das Konzept soziale Gruppe (G) in Abb. 74.1 als typologisches Kontinuum nach Maßgabe der Parameter (i) Größe (Kleingruppe, Verein), (ii) Interaktionsdichte (Ad-hoc-Gruppe, Spontangruppe, dauerhafte Gruppe), (iii) Grad der Formalität ihrer Konstitution, (iv) interne
Abb. 74.1: Verortung der sozialen Gruppe in einem typologischen Kontinuum nach Schmitt (2004, 30)
74. Stil und Sozialität (Gruppe, Geschlecht, Alter) 1249
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Kohäsion (⫽ Zusammenhalt), (v) primäre (Familie, Freundeskreis) und sekundäre Zugehörigkeit (Arbeitsg., Interesseng., Männerg., Fraueng. etc.). Je größer eine Gruppe ist, desto formalisierter und systemzweckgebundener ist ihre inhaltliche Kohäsion. Je intimer, zweckungebundener und spontanen Interaktionsraum eröffnend eine Gruppe ist, desto kleiner ist sie in der Regel. Dieser vertikalen Dimension steht eine horizontale gegenüber: Je freundschaftlicher die Bindungen in G sind, desto intimer und gefühlsgesteuerter ist das interne Kohäsion stiftende Wir-Bewusstsein. Wichtig ist die in der Konzeption von Schmidt berücksichtigte Interaktionssituation im sozialen Kontext nach Formalität vs. Informalität. Gerade diese Differenzierung wurde in der Soziolinguistik als grundlegend für natürliche, ungezwungene Register vs. formale, stark in der Produktion kontrollierte Register betrachtet. Dass diese Dimension in der G-Konzeption eine Rolle spielt, eröffnet bessere Erklärungsmöglichkeiten für SKS. Cooleys Anfang des 20. Jhs. formulierte These, „dass Prozesse der Subjektgenese bzw. der Identitätsbildung sich im Wesentlichen durch die Spiegelung des eigenen Selbst an bedeutsamen Anderen (sog. ,looking glass self‘) vollziehen und dass solche Prozesse zunächst ausschließlich in Primärgruppen stattfinden und demzufolge dort erworben werden“ (Schmidt 2004, 37), führt Schmidt dazu (2004, 36⫺45), Primärgruppen (lebensweltliche Naturwüchsigkeit, Intimität in kleinen, natürlichen Gruppen) von Sekundärgruppen (institutionalisiert, formeller, weniger intim und spontan) zu unterscheiden. Im Folgenden werden exemplarisch SKS von Primär-, insbesondere aber von Sekundärgruppen mehr oder weniger Gleichaltriger behandelt. Damit stehen kleine, informelle Gruppen im Zentrum. Soweit wir sehen, gibt es keine oder offenbar kaum Stiluntersuchungen zu formalen, institutionalisierten Gruppen (vgl. oberer Teil der Abb. 74.1).
3.2. Jugendliche Gruppen von Gleichaltrigen (JGG) Signifikante Untersuchungen zum Stil von JGG gibt es erst seit der Etablierung der Soziolinguistik in den 1960er und 1970er Jahren. Im für die 1960er Jahre typischen Kampf gegen Analphabetismus und Rassendiskriminierung in den USA verurteilte Labov (1972b) experimentelle, nur auf individuelle psychologische Tests aufbauende Studien zum Schulversagen schwarzer Jugendlicher und stellte diesen Ergebnisse aus teilnehmender Beobachtung von JGG-Cliquen (sogenannten Clubs) entgegen. Die Jets, Cobras oder Thunderbirds gehören einer Straßenkultur an, die der Schule diametral entgegengesetzte Werte vertreten wie Drogen- und Alkoholmissbrauch, Verweigerung von Schulaufgaben, Ausübung körperlicher Gewalt. In ihrer ,Gegenkultur‘ sind körperbezogene Qualitäten gefragt: Härte (toughness), Gewandtheit (smartness), die Fähigkeit ,was-los-zu-machen‘ (trouble) oder Aufregung zu erregen (excitement); weitere Tugenden sind Selbstständigkeit (autonomy) und die Anerkennung des Schicksals (fate). Die Werte und Ziele der Gruppen wurden durch die teilnehmende Beobachtung eines Bandenmitglieds transparent gemacht, das dem Projekt über einem längeren Zeitraum angehörte. Nach den Beobachtungen eines Clubmitglieds, das die teilnehmende Beobachtung durchführte, sind die Clubs Halbwüchsiger (10⫺16) von den Jungen selbst gegründet und werden von den Erwachsenen in der Nachbarschaft abgelehnt. Die Gruppenzugehörigkeit ist mit Rechten und Pflichten verbunden. Labovs zentrales soziolinguistisches Interesse besteht darin, die Regularitäten des Black English und jener Faktoren, die zu seiner Stabilität vs. Instabilität beitragen, zu
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beschreiben. Beschreibungen des Gruppenverhaltens und des damit einhergehenden Stils sind nur insoweit von Bedeutung, als die (sozialen) Gruppengrößen die stabilen Normen eines regelhaft verwendeten Black English erklären (ein kurzer Überblick über die wichtigsten Ergebnisse der Studie finden sich unter http://www.personal.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/nordit/LINK: aktuelle Veröffentlichungen, Stil sowie in Dittmar 1976). In seiner umfassenden Bestandsaufnahme sozialen und kommunikativen Verhaltens Jungendlicher (15⫺18 Jahre) sucht Schmidt (2004, 222⫺240) Antworten auf die leitenden Fragen: Was ist die identitätsstiftende, der Außen- und der Binnenorientierung dienende Selbstdefinition der Peergroup? In welchen kommunikativen und sozialen Praktiken realisiert sich doing peergroup? Als Ergebnis des Vergleichs zahlreicher empirischer Untersuchungen im englisch- und deutschsprachigen Raum formuliert er in zwei Übersichten (2004, 225 f.) Korrespondenzregeln zwischen konstitutiven Mechanismen, Verfahren und verschiedenen Subdimensionen und ihren kommunikativen Realisierungen. Fein unterdifferenziert werden kommunikative Gattungen und Praktiken mit ihren je konfigurativen stilistischen Ausprägungen ethnographisch und soziologisch konturierten inneren und äußeren Arealen von Gruppenaktivitäten zugeordnet. Das Gruppenbewusstsein als explanativer Parameter wird als oberste Instanz in die Analyse einbezogen (metakommunikative Stile). Eine Übersicht über 16 detailliert beschriebene interaktive Szenarien auf dem Hintergrund einschlägiger Peergroupstudien am Beispiel des ethnographisch selbst erhobenen „Frankfurter Korpus ,natürliche Peer-Group-Kommunikation‘ (JuK)“ findet sich in Schmidt (2004, 403). Festzuhalten bleibt, dass der SKS der JGG (a) kein „defizitärer“ Modus des Kommunizierens ist, (b) sich an „Unterhaltung und Wettbewerb, die ihren eigenen Gesetzen folgt“ (Schmidt 2004, 251), orientiert, (c) kooperative und wettkampfbezogene, solidarische und distanzierende Stile ohne schroffe Grenzziehungen impliziert, (d) Selbst-und Fremddarstellungen mit verbalen Praktiken des Spaßes (innovativer, kreativer Sprachgebrauch) und kompetitiven kommunikativen Fähigkeiten (Überbieten [Toppen], Übertreibung [Hyperboli]) verbindet, (e) die ,Mittelknappheit‘ zum unterhaltsamen und untereinander wetteifernden JGG-Stil stilisiert: Handlungsdarstellungen in Erzählungen und Bewertungen werden „über syntaktische Reduktionen bis hin zur Kontraktion und Tilgung von Silben (etwa ku⫽ma statt kuck mal) geleistet ⫺ dies lässt sich dadurch erklären, dass lange Beiträge kaum eine Chance haben, ununterbrochen vollendet werden zu können“ (Schmidt 2004, 249). Die genannten SKS-Eigenschaften tragen wesentlich zur Stabilität und zur Kontinuität der Gruppe bei. Die Studie belegt nachhaltig, dass die Größen Alter und Geschlecht mit den Stilen der Gruppenkommunikation, der Gruppenaktivitäten, der Gruppennormen und ihrer Stabilität aufs Engste verbunden sind.
3.3. Freizeitgruppen älterer Menschen In Kallmeyer (1995, 4 ff.) werden mithilfe des Konzeptes soziale Welten ganz unterschiedliche Arten von Sozialbeziehungen in Städten am Beispiel Mannheim untersucht. Für die Mannheimer Soziolinguisten „zeigen Gruppen von ,Gleichgesinnten‘ am deutlichsten
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Tab. 74.1: Vergleich verschiedener kommunikativer Stile in zwei verschiedenen Milieus in der Stadt Mannheim nach Kallmeyer (1995, Zitate aus diesem Aufsatz) Die Literaturgruppe aus Vogelstang
Die Bastelgruppe aus Filsbach
1. Die Standardsprache wird sowohl in öffentlichen Situationen als auch im privaten Bereich, zu Hause und unter den Freunden, gebraucht. Das Mannheimerisch wird im privaten, inoffiziellen Bereich und auch mit den das Mannheimerisch Sprechenden verwendet. Allerdings wird das unterschiedlich häufig und unterschiedlich konsequent durchgeführt und oft wird hin zur standardsprachlichen Lautung gewechselt.
1. In öffentlichen Situationen wird der „markierte Standard“ verwendet, in privaten Situationen die Mannheimer Stadtsprache.
2. Die Gruppe vermeidet „vulgäre“, grobe und aggresive Lexik. Das Kritisieren der negativen Aspekte wird vermieden. Es werden lieber positive Aspekte gelobt, um „den Ausdruck von negativen Gefühlen wie Gereiztheit“ zu minimalisieren. Bei der Problemund Konfliktbehandlung wird explizite Thematisierung und argumentatives Austragen präferiert.
2. Bei den Auseinandersetzungen wird die Direktheit bevorzugt. Vorwürfe werden explizit formuliert, auch in Form von regelrechten Anklagen. Die Auseinandersetzungen können sogar heftig sein. Scharfe Ironie und Sarkasmus werden auch als Mittel des aggressiven Angriffs verwendet.
3. „Die Gruppe orientiert sich am rhetorischen Leitmotiv des „geordneten“, thematisch zentrierten Gesprächs.“ Die bevorzugten Gesprächsthemen sind dabei aus dem Bereich der Familie und dem Haus.
3. Teilweise ernste, teilweise amüsante Berichte von aktuellen Ereignissen aus der Filsbach, Gespräche über Medien, Prominente und Reisen; Erzählungen aus dem privaten Leben, über Männer und Frauen. Ernste persönliche Probleme werden nur unter vier Augen mit der vertrauten Person besprochen. Vor der Gruppe werden persönliche Probleme spielerisch und selbstironisch präsentiert.
die ,Arbeit‘ der Beteiligten am sozialen Zusammenhalt, die Definition eigener und fremder Identität und die Entwicklung von distinktiven kommunikativen sozialen Stilen“ (1995, 4 ff.). Bei der ethnographischen (teilnehmenden) Beobachtung solcher Gruppen handele es sich nicht um „primäre Gruppen, in die man hineingeboren wird, sondern um sekundäre Zusammenschlüsse von ,Gleichgesinnten‘, die in besonderer Weise ihre Zusammengehörigkeit erst im Prozess der Gruppenkonstitution herstellen bzw. sich gegenseitig verdeutlichen müssen“ (Kallmeyer 1995, 16). Die soziologischen Grundlagen ethnographischer Studien auf der Folie der Chicagoer Soziologie finden sich in Schütze (2003) sowie in Kallmeyer. (1995, Kap. 4). Ein zentraler Teil der Ethnographie, die die
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Tab. 74.1: Fortsetzung 4. Es werden Kommunikationstypen gebraucht, „deren interaktives Zentrum etwas mit der Beziehungsarbeit zu tun hat“, etwa gemeinsame Durchführung von Begrüßungen, Komplimenten, Gefühlsexpressionen und vor allem „narrative und argumentative Sachverhaltsdarstellungen von aktuellen oder weiter zurückliegenden“ persönlich erlebten Ereignissen.
4. Witze werden vor anderen Kommunikationsformen in geselligen Situationen bevorzugt. Dabei können schon seit langem bekannte Witze, wenn sie „dreckig“ sind, trotzdem Freude bereiten. „Die Lust an der Obszönität ist entscheidend für die Gruppenzugehörigkeit.“ Auch „frotzelnde Phantasiespiele“ gehören zur Lieblingskommunikationsform. Allerdings sollen Witze und Phantasiespiele mit dem obszönen Inhalt gewisse Schamgrenzen nicht überschreiten. Es ist eine Tendenz des Lustig-Seins anzumerken, um dem alltäglichen Elend zu entgehen. Das primäre Geselligkeitsziel ist deswegen, gemeinsam Spaß zu haben. Witze und lustige Geschichten werden bevorzugt, alltägliche Probleme werden amüsant und lustig dargestellt.
5. Generelle Bereitschaft zur sowohl körperlichen als auch geistigen Distanz. „Das Individuum hat Anrecht auf ein großes Territorium mit entsprechender Distanz zu den anderen.“
5. Die normalen Formen der Geselligkeit, besonders die gesteigerte Gemeinsamkeit, sind durch Nähe und Distanzreduzierung gekennzeichnet. Für die gesteigerte Gemeinsamkeit ist außerdem eine teilweise parallele Sprechweise charakteristisch.
6. Die Frauen vermeiden, sich zu rühmen und in den Mittelpunkt der Ereignisse zu stellen. Wenn es dazu kommt, über sich zu reden, reden sie über sich als Opfer ihrer Männer und eigensinnigen Kinder.
6. Die Männer sind Gegner der Frauen in Ehe und Politik. Damit ist eine starke Ablehnung der Rolle einer „aufopfernden Frau“ verbunden. „Das Handlungsziel ist im Kern, ,die Welt zu verändern‘ durch die Forderung nach Gleichberechtigung.“ Man unterscheidet zwischen einem „Weibchen“, das alles tut (z. B. schöne Kleidung), um Männern zu gefallen, und einer „guten Frau“, die Tapferkeit, praktischen Sinn und Humor bei der Bewältigung der alltäglichen Schwierigkeiten aufweist und die gut zu ihren Kindern ist.
Kommunikation in ausgewählten Stadtvierteln der Stadt Mannheim dokumentiert, stellen die Porträts städtischer Gruppen dar (vgl. hierzu Kallmeyer 1995, 21⫺38). In den vier Vierteln Sandhofen, westliche Unterstadt (Filsbach), Neckerau und Vogelstang wur-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil den (mit gewisser Repräsentativität für das jeweilige Viertel) acht Gruppen in der Konstitution ihrer sozialen Lebenswelt und der in dieser spezifisch verwendeten SKS untersucht. Die ethnographische Erhebung berücksichtigte u. a. verschiedene Handlungs- und Texttypen (Erzählungen, Interaktionsspiele) sowie ein breites Spektrum konversationeller Themen (Familie, Beruf, Institutionen, Politik, soziale Nachbarschaft, Konflikte, Humor). Die Tab. 74.1 spezifiziert unterschiedliche kommunikative Funktionen in zwei Frauengruppen, eine Bastelgruppe älterer Frauen aus dem Arbeitermilieu (westliche Unterstadt, Filsbach, vgl. Keim 1995) und eine Literaturgruppe aus der Oberschicht (Vogelstang, vgl. Schwitalla 1995). In Kallmeyer (1995) und Schwitalla (Art. 62, in diesem Band) finden sich detaillierte und feinkörnige ethnographische Vergleiche zwischen diesen beiden Gruppen. Was erbringt die linguistische SKS-Analyse des vierbändigen Mannheimer Unternehmens? Exemplarisch greifen wir die ⫺ in Rezensionen sich widerspiegelnden ⫺ erfolgreichsten Aspekte heraus. Repräsentative und valide SKS-Analysen gründen sich (u. a.) auf folgende einschlägige Kriterien für Stileigenschaften: Rekurrenz spezifischer Stilmerkmale, präferierte Formen im konzeptuellen Rahmen vergleichbarer Funktionen, querebenenspezifische phonetische, morphosyntaktische, semantische (lexikalische) Kookkurrenzen und Kongruenzen. In Aussparung jener vielen Gebrauchs- und Diskursmerkmale, die Schwitalla als Mitglied der Mannheimer Forschergruppe in seinem Artikel anführt (in diesem Handbuch, siehe insbesondere 3.3 und 3.6), sehe ich folgende auffällige SKS-Eigenschaften, die durchaus die Habitus-Thesen von Bourdieu (1979, 1982) stützen: (a) Zu ,würziger‘ Sprache (Mannheimer Gosch) passen vitale Gespräche mit Scherzen, Frotzeln, Angriffs- und Abwehrspielen, spannende Erfahrungen in Erzählungen, obszöne Witze, direkte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht (Filsbach-Welt, Milieu ,einfacher‘, einheimischer Leute). (b) Zu Hochdeutsch passt der sachbezogene Austausch der Frauen in der Literaturgruppe, die den intimen Beziehungsbereich ausklammern, feinsinnige Unterhaltung in ,gutem Ton‘ vorziehen, aber Familienprobleme (z. B. mit Töchtern und Söhnen) durchaus in der Kommunikation zulassen. In den Stilbeschreibungen hat der pragmatische Aspekt (Interaktion, Thematik, Gattungen, kommunikative Funktionen von Äußerungen) Primat vor den formalsprachlichen (grammatischen) Realisierungen (soziolinguistische Perspektive).
3.4. Andere Gruppenstile Am Beispiel von Mannschaftssitzungen beschreiben Dittmar und Hädrich (1988) die Schlagfertigkeit und die kreativen Wortspiele jugendlicher Fußballspieler (sekundäre Gruppe, Fußballverein) untereinander sowie gegenüber dem Trainer. Toppen ⫺ wie beim Aufspießen von Pfannkuchen: der Äußerung eines Mannschaftsmitglieds noch eins draufzusetzen ⫺ ist ein beliebtes Spiel: Der Gewinner hat die Lacher auf seiner Seite. Mit ähnlichen Mitteln wird auch die Abgrenzung der Jugendlichengruppe dem Erwachsenen (Trainer) gegenüber deutlich markiert. Jugendsprachliches Vokabular, aber auch Frotzeln/Necken (offensive und defensive Sprachspiele) und unterhaltsame Spaßkommunikation in lokalem Berlinisch machen den SKS dieser Freizeitgruppe im Rahmen eines Vereins aus (Dittmar 1989, mit theoretischer Konzeption von Stil).
74. Stil und Sozialität (Gruppe, Geschlecht, Alter)
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Schlobinski (1989) und Schlobinski, Kohl und Ludewigt (1994) heben in ihrer ethnographischen Untersuchung einer Gruppe von 19⫺22 Jährigen im Raum Osnabrück das Bricolage-Prinzip der Kommunikation hervor (eine ausführliche Darstellung dieses auf das Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies zurückgehenden Prinzips findet sich unter 2.3 in Artikel 62 Gesprächsstile dieses Handbuchs). In den Medien und im öffentlichen Kommunikationsraum bereits bestehende Wörter, Redewendungen, sozial markierte Ausdrücke werden innovativ in einem aktuellen Diskurs durch Neuordnung und Rekontextualisierung zu neuen (kreativen) Bedeutungen umgruppiert. Dabei gehen spezifische Ausdrucksrepertoires (Onomatopoetika, z. B. dong, ratazong; Anglizismen, z. B. magic stickers; Idiomatik/Wendungen: er darf die Kiste anpfeifen; Modifikatoren: echt voll krass drauf; Alliterationen: flippen floppen flappen; gruppenspezifische Lexik: stöppern; Kommunikativpartikeln: ey, ok) zusammen mit mimetischen und/oder selbstinszenierten Stimmenimporten nachahmenswerter Anderer (bekannte öffentliche Persönlichkeiten, Medienstars etc.) mosaikartige Verbindungen zu einem gruppenspezifischen Stil ein, der sich wiederum von anderen Stilen abgrenzt. Die verfremdenden Importe anderer Stimmen bringen jugendsprachlich stilisierte eigenständige Diskursformen hervor durch Verfahren parallelisierter Repetition und Variation. Nach Schlobinski (1989, 29) werden die jugendspezifischen Ausdrucksrepertoires im Schulterschluss mit den in den Diskurs importierten kulturellen Ressourcen zu einem distinktiven Stil bricolageartig zusammengebastelt und konstituieren damit ein „gemeinsam geteiltes Gruppenbewusstsein“ (Schlobinski 1989, 29; vgl. oben Schmidt 2004). Mädchen scheinen nach Schlobinski (1995) weniger einen eigenständigen Stil zu entwickeln als sich gegen die aggressive Sprache der Jungen abzugrenzen/zu verteidigen (vgl. demgegenüber aber Eckert 1997 und Eckert/McConnel-Ginet 1999): dabei duellieren sie sich allerdings oft brillant mit eigenen (sprachlichen) Mitteln. In sinnfälliger Weise werden daher jugendsprachliche Stile dabei auch von den Parametern Geschlecht (Kendall/ Tannen 2001; Cook-Gumperz/Kyratzis 2001) und soziale Schicht (oder: soziales Milieu) überlagert (vgl. hierzu die Rolle von Beschimpfungen in der Gruppensprache sowie die Inszenierung von Rangordnung vs. Zusammenarbeit im wettstreitorientierten Verhalten der Jungen gegenüber dem kooperationsorientierten Verhalten der Mädchen, 3.2.). Darüber hinaus bemerkt Schlobinski, dass jugendsprachliche Stile nach Altersstufen variieren. Ältere Jugendliche finden die Stile Jüngerer oft nicht (mehr) zeitgemäß, aktuell oder modern. Von oben (Ältere) nach unten (Jüngere) gibt es so etwas wie stilistische Hyperkorrekturen. Parallelen zu den hier angeführten Trends (und Merkmalen) finden sich nach Zimmermann (2003) in den romanischsprachigen Ländern. Insbesondere die Lexik, der Einfluss des Englischen, kreative Kollokationen gleichen (in etwa) den stilistischen Prinzipien, die für anglophone und germanophone Verhältnisse berichtet werden. Zimmermann (2003) plädiert für eine komparative Jugendsprachforschung. Einige Autoren beobachten negative Einstellungen der sprachpolitischen Erwachsenen-Presse gegenüber der Jugendsprache. Der jugendsprachliche Stil wird als restringiert (vereinfacht) und Beleg für aufkommende Spracharmut angesehen. Am Beispiel einer strukturellen Form-Funktionsanalyse haben Schlobinski, Kohl und Ludewigt (1993) eindrucksvoll nachgewiesen, dass der Gebrauch der kommunikativen Partikel ey je nach Stellung im Vor-, Mittel- und Nachfeld von Äußerungen Funktionen übernimmt, die in der Erwachsenensprache drei verschiedene Partikeln abdecken. Von Einschränkungen in der Kommunikation kann somit nicht die Rede sein.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Eine andere Facette der Jugendsprache ist das sogenannte ,Türkendeutsch‘, ein ethnisch geprägter Stil des Deutschen, von Auer (2000, vgl. auch Auer/Dirim 2003) auch Ethnolekt genannt. Der authentische Ethnolekt zwischen (normalerweise) Zweisprachigen mit Migrationshintergrund (meist ,Türkendeutsch‘) wird primärer, seine komödienartige Inszenierung in den Medien sekundärer und seine parodierende Verwendung durch deutsche Muttersprachler tertiärer Ethnolekt genannt. Ein Überblick über die auffälligen soziolinguistischen Merkmale des primären Ethnolekts findet sich in Dittmar/Özcelik (2006) und Dittmar/Steckbauer (2007), erste empirische Untersuchungen zum ethnolektalen Interaktionsstil haben Keim (2004) und Kern/Selting (2006) vorgelegt. Ethnische Stile des Deutschen sind erst seit kurzem Gegenstand soziolinguistischer Forschung. Die einzige gruppenbezogene Studie (türkische Mädchen) ist Keim (2004). Stil als symbolisches Verhalten, in dem der Zusammenhalt und die gemeinsamen Orientierungen einer Gruppe zum Ausdruck kommen, ist in einer Vielzahl weiterer Untersuchungen explizites oder implizites Thema. Meistens geht es in diesen Untersuchungen um größere oder kleinere, formelle oder informelle Gruppen (siehe Abb. 74.1). Dabei überlagern sich in jeweils unterschiedlicher Gewichtung und Salienz in den jeweiligen sozialen Kontexten Effekte der sozialen Dimensionen Gruppe, Alter und Geschlecht. In diesem Kapitel wurde die stilkonstituierende Kraft der Gruppe dominant gesetzt. In den folgenden Kapiteln stehen Geschlecht und Alter im Vordergrund, wobei gruppenspezifische Faktoren die geschlechts- oder altersspezifischen Parameter überlagern. Die genannten drei ,Sonderformen‘ der Sozialität gehen sozialchemische Verbindungen ein, aus denen man eine reine soziale Substanz nicht mehr isolieren kann. In den sekundären Gruppen (Institutionen, Arbeits- und Berufswelt) gibt es nicht annähernd so exhaustive und detaillierte soziostilistische Beschreibungen wie in den Mannheimer Stadtethnograpien (Kallmeyer 1994; Keim 1995; Schwitalla 1995). Bohnsack u. a. (1995) integrieren in ihre Fallstudien Diskursbeschreibungen jugendlicher Gruppen, die sich auf Lehrlinge, Gymnasiasten (und Erwachsene der Elterngeneration) in Gruppendiskussionen beziehen. Dabei werden ⫺ jeweils auf der Folie des sozialen Milieus ⫺ verschiedene sprachliche Merkmale herausgearbeitet (auf dem Hintergrund des Gumperzschen Kontextualisierungsansatzes). Diese Daten geben Auskunft über Erwartungshorizonte, Normverhalten und Gruppenbewusstsein (stilbezogene Beschreibungen metakommunikativer Äußerungen). Die sozialen und kommunikativen Binnendifferenzierungen, wie sie sich in Schmidt (2004) finden (siehe 3.2), lassen sich aus den Gruppendiskussionen nicht erschließen. Gruppenspezifische institutionelle und Berufsstile sind auch häufig unter Sondersprachen (Sprache der Schmiede, Bergarbeiter, Forstleute etc.) untersucht worden (vgl. hierzu das HSK Sondersprachen, ersch. demn.). Meistens spielt dort vor allem das Lexikon eine Rolle. Besondere Gruppensprachen, die gerade nicht transparent (also nicht verstanden) sein wollen, sind die Argots französischer Banlieus um Paris (und anderer Großstädte). Zu diesen Stilen gehören grammatische und codespezifische Sprachspielereien (vgl. Calvet 1992). In einem (viel) weiteren Sinne können auch die durch die ehemalige DDR geprägten (sozialistischen) Oststile und ihre gesellschaftlichen Pendants, die (kapitalistischen) Weststile als SKS betrachtet werden (vgl. Dittmar/Bredel 1999; Dittmar 2002). Hier geht es aber um eine national definierte Gruppe, die unter anderen als hier fokussierten Kriterien zu behandeln wäre. Gal (1978, 65 ff.) hat am Beispiel der österreichischen Ortschaft Oberwarth darauf hingewiesen, dass Stile nicht nur von Monolingualen, sondern auch von Bilingualen
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benutzt werden, wobei der Wechsel von Deutsch zu Ungarisch und umgekehrt häufig unterschiedliche Stillagen repräsentiert. Können Menschen, die aufgrund von Zwang langfristig zusammenleben (Gefangene in Gefängnissen) als Gruppen betrachtet werden und sind ihre Stile als Gruppenstile erfassbar? Sprachliche Anpassungen gibt es sicher; was aber sind die soziologischen Unterschiede zu freiwilligen Gruppen? Letztlich soll darauf hingewiesen werden, dass sich Netzwerkanalysen in der Soziolinguistik der achtziger und neunziger Jahre großer Beliebtheit erfreuen. In ihnen werden u. a. die Intensität und die Dauer zwischenmenschlicher Kontakte erfasst und als Erklärungsdimension für Konvergenz oder Divergenz im Sprachverhalten berücksichtigt. Indem in diesen Untersuchungen die Beziehungsverhältnisse zwischen den Gruppenmitgliedern, damit auch das Norm- und Gruppenbewusstsein, außen vor gelassen wird, geht es nicht um natürliche soziale Gruppen, sondern um mehr oder weniger artifizielle Kontaktinduzierungen und eine Anpassungsmasse, die aus der gemeinsam in Kommunikation befindlichen Dauer und Intensität der Kontakte geschlossen werden. Über die Grundlagen und die Ergebnisse gibt Schlobinski (2004) einen einschlägigen Überblick.
3.5. Zusammenassung In Auseinandersetzung mit dem jeweiligen sozioökologischen Milieu, in dem sie sich bewegen, prägen Gruppen einen eigenständigen SKS: (1) Sie standardisieren gruppenintern kommunikatives Verhalten in der Weise (z. B. Kongruenz in den Regeln der Sprechperformanz), (2) dass gewisse Arten und Strukturen des gemeinsamen Austausches erwartbar gestaltet werden. Hierzu gehört das Verhältnis von An- und Entspannung, Spiel und Ernst, Offensivität und Defensivität, direkte und indirekte Adressierungen, Arten verdeckter Mitteilung, Austragen von Konflikten. (3) Gruppen verfügen über einen Wir-Kode und grenzen sich gegen Außenseiter oder Personen der Außenwelt ab. Sie teilen bestimmte Wörter, Neck- und Streitmuster, verfügen über ein Repertoire von Anspielungen und Abmahnungen, signalisieren mit Binnenvarianten Vertrautheit und grenzen sich mit Varietätenwechseln von außerhalb der Gruppe stehenden Personen stilistisch ab. (4) Binnendifferenziertes Sprechen innerhalb von Gruppen ist durch wettbewerbsspielerische Diskurse mit Vergewisserung der Gruppenzugehörigkeit, aber auch mit rangbezogenem Aushandeln verbunden. (5) Negative und positive Werturteile (metakommunikative Sprechakte) balancieren das Gruppenbewusstsein aus. (6) Den jeweiligen sozialen Funktionen entsprechen Erzählungen (Erfahrungsaustausch), Frotzeln (kreative Unruhe unter den Gruppenmitgliedern), wettbewerbsartige Sprachspiele (Wettstreit wie z. B. rituelle Beschimpfungen), Selbstdarstellungen, Klatsch, Witze, Läster- und Stereotypenkommunikation. (7) Mittels kollaborativen Sprechens, Rekonstruktion eigener Wertvorstellungen, außenorientierter Selbstdefinition, gemeinsamer Zukunftspläne werden auch die Weichen für die Kontinuität der Gruppe gestellt. Die Dauer von Gruppen ist variabel. Die Voraussetzung ihrer Kontinuität ist die Entwicklung von Verhaltensnormen und ein tragendes Gruppenbewusstsein.
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4. Geschlecht und Stil (Genderstile) 4.1. Zur aktuellen Diskussion Umfassende (enzyklopädische) Darstellungen des Zusammenhangs von Geschlecht und Sprache finden sich in Klann-Delius (2005a, b) und Kotthoff (2006). Den Menschen nach seinem Geschlecht zu kategorisieren, scheint eine universell verbreitete Tendenz zu sein. Geschlechtszugehörigkeiten werden im Personalausweis festgehalten, gehen in die Anrede ein und bestimmen in vielerlei Hinsicht das menschliche Zusammenleben und den Alltag (vgl. Trautner 1997). Mit der Neuen Frauenbewegung ist die Kategorisierung von Menschen als weiblich und männlich problematisch geworden. „Ein wesentlicher Grund ist der, dass mit dem Geschlecht einer Person eine unterschiedliche Bewertung verbunden war und ist“ (Klann-Delius 2005a, 1). Dass Männer und Frauen in vielerlei Hinsicht nicht gleichgestellt sind, lässt sich leicht durch Fakten untermauern (Halpern 2000, 6). Als in den 1970er Jahren die Gleichheitschancen eingefordert wurden, wurden auch die sprachlichen Unterschiede thematisiert. Die Theorien, die Frauen etwa eine besondere Irrationalität, Sanftmut und Häuslichkeit zuschrieben, galten nunmehr als männliche Legitimationsstrategien, die weniger eine Deutung als eine Rechtfertigung des jeweiligen Status quo zum Ziel hatten (Hof 1995, 7). Durch wissenschaftliche Analysen und empirische Befunde sollte von nun an ein klares Bild der Differenzen der Frauen- und Männersprache gezeichnet werden, die sich offenbar von Sprache zu Sprache gravierend unterscheiden (vgl. Günthner/Kotthoff 1991). Hellinger und Bußmann (2001) weisen auf die spezifischen Anredeformen (angemessene syntaktische Muster) des Japanischen hin (vgl. auch Nakamura 2001 und Shibamoto Smith 2001). In der nordamerikanischen Indianersprache Koasati besteht Formverschiedenheit von Verben je nachdem, ob sie von Männern oder Frauen verwendet werden. Verschiedene Aussprachevarianten des Lexikons werden für verschiedene Sprachen belegt. Die Liste lässt sich, so scheint es, noch vielfältig erweitern. In allen Punkten stellt sich jedoch heraus, dass die Differenzen niemals so gravierend sind, dass Männer und Frauen eine völlig andere Sprache sprechen (Klann-Delius 2005b, 19). Wir sprechen also immer von unterschiedlichen Gebrauchsweisen des Sprachsystems bzw. von Sprachregistern oder von Asymmetrien hinsichtlich einiger Aspekte der Sprachstruktur. Aktuelle empirische Untersuchungen, beispielsweise zum Lexikon, zeigen jedoch, dass es hier mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt. Es werden bei Halpern (2000) und bei Kimura (2000) weniger geschlechtsbezogene Asymmetrien im Wortschatz festgestellt, als zuvor erwartet wurden. Es zeigt sich bei beiden Studien deutlich, dass keine gravierenden (signifikanten!) Geschlechtsdifferenzen zu belegen sind. Unter Vernachlässigung genderspezifischer Unterschiede auf phonetischer, syntaktischer und semantischer Ebene (siehe hierzu die Zusammenfassung auf meiner Homepage unter http://www.personal.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/nordit/LINK: aktuelle Veröffentlichungen, Stil) befasse ich mich im Folgenden mit Stil und Gesprächsverhalten.
4.2. Stil und Gesprächsverhalten Männer und Frauen unterscheiden sich im Gesprächsstil nach der aktuellen Studie von Brownlow u. a. (2003) folgendermaßen:
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Women provide more personal information and more self-disclosing […], and language concerning social and emotional behaviour, as well as sympathy, is prevalent in women’s speech.[…] These topics may be conveyed by empty adjectives (such as sweet, cute) […], intensifiers (e. g. very), and the use of personal pronouns […]. Women’s speech is prettier and more detailed than men’s although it is also judged as more intellectual […]. (Brownlow u. a. 2003, 122)
Die Sprache der Männer tendiere dazu „[…] to be forceful, very clear about direction of opinion, judgemental and replete with negative emotion“ (Brownlow u. a. 2003, 122). Die unterschiedlichen Sprechstile beruhen nach Tannen (1991) und Mulac (1998) auf einer unterschiedlichen Sozialisation. Aus dieser Tatsache ergeben sich Verständigungsschwierigkeiten, die Tannen an einzelnen Gesprächsausschnitten belegt. Ihre Theorie, die durch aktuelle Studien von Michaud/Warner (1997) und Basow/Rubenfeld (2003) bestätigt wird, ist jedoch laut MacGeorge u. a. (2004) nicht haltbar, da die meisten Studien auf Selbsteinschätzungen beruhen. Die Nachuntersuchungen von Amy Walters (1998) belegen deutlich, dass die Geschlechtsunterschiede (ein kooperativer weiblicher gegenüber einem kompetitiven männlichen Stil) eher gering sind. Wood (1994) kam in ihrer Studie zum Verhalten am Arbeitsplatz zu dem Ergebnis, dass Männer und Frauen durchaus erfolgreich miteinander kommunizieren können. Andererseits wird deutlich belegt, dass Männer häufiger und offener über Gefühle mit Frauen reden als mit Männern (Athenstaed u. a. 2004). Bei den ersten Treffen mit einer Frau liefern sie ebenso viele persönliche Informationen wie die entsprechende Frau selbst (Clark u. a. 2004). Obwohl der empirische Nachweis von signifikanten Unterschieden in der geschlechtsspezifischen Forschung oft durch Gegenbelege relativiert wird, gehen Soziolinguistinnen wie Kotthoff (2006) doch davon aus, dass diese Unterschiede im Alltag und in den Institutionen relevant und erfahrbar sind. Zur Erklärung solcher Unterschiede hat Tannen (1991) den Zwei-Kulturen-Ansatz formuliert. Unterschiedliche sprachliche und kommunikative Praktiken werden von Männern und Frauen als Habitus in der Sozialisation erworben und führen ⫺ nach der Trennung der Geschlechter in der Kindheit ⫺ in ihrer Begegnung im jugendlichen und erwachsenen Alter zu Missverständnissen ⫺ ähnlicher Art wie in der interkulturellen Literatur bekannt. Männer werden als kompetitiver, Frauen als kooperativer dargestellt (vgl. auch Kap. 3 zu männlichen Gruppen von Gleichaltrigen). Dieser Ansatz wird von Günthner/Kotthoff (1991) als zu stark dichotomisch und vereinfachend eingeschätzt; Männer wie Frauen würden in der Breite ihres Stilrepertoires unterschätzt (vgl. Kotthoff 2006). Es scheint eine Ernüchterung in der Zuschreibung genderspezifischer Stile eingetreten zu sein: „Keinem Menschen haftet ein Gesprächsstil an wie Pech und Schwefel. Wir beherrschen eine ganze Bandbreite von Stilen, die aber je nach Kontext unterschiedlich angewendet werden und den Kontext als solchen auch mitproduzieren“ (Kotthoff 2006, 4.1). Das konstruktivistische Potenzial in der Theoretisierung von Gender sei zu Beginn des 21. Jhs. deutlich hervorgetreten. Doing gender wird als eine konstruktivistische Perspektive untersucht, aber auch die Determinierung des Gender in der Sozialisation durch körperliche Inkorporierungen von Verhalten (Habitus nach Bourdieu 1982) wird durch empirische Untersuchungen belegt. Eckert und McConnell-Ginet (1992) heben hervor, das unser Sprachverhalten von den kommunikativen Praktiken geprägt ist, mit denen und durch die wir uns engagieren und soziale Beziehungen eingehen. Sie beschreiben in Längsschnittbeobachtungen, wie Mädchen zu einem bestimmten Zeitpunkt neue Praktiken des Gehens, der weiblichen Gangart, oder des Geschichtenerzählens mit pikanten Spitzen erwerben und damit weibliche Stile schaf-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil fen, die von einer Gruppe imitiert und inkorporiert werden (vgl. Kotthoff 2006, 4.1). Dabei betonen Eckert und McConnell-Ginet (1992), dass verbale und körperbezogene Stile stets zusammenspielen (semiotisches Konzept). Zusammenfassend besteht kein Zweifel daran, dass Männer und Frauen in ihrer Kommunikation unter- und miteinander eigenständige Stilzüge aufweisen und auch verkörpern ⫺ in welchem Ausmaß und wie ausgeprägt in einzelnen Segmenten des Ausdrucksrepertoires bleibt umstritten. Dabei gibt es Untersuchungen, die von politischen Prämissen ausgehen, die die Unvoreingenommenheit der Beobachtungen und Erklärungen bezweifeln lassen. Teilweise haben frauenspezifisches Engagement und feministische Betroffenheit auch die Kodetermination des Verhaltens durch eine Vielzahl pragmatischer Faktoren verkannt oder unterschätzt. Erst in den letzten Jahren ist eine erkenntnisoffene und die Breite der relevanten pragmatischen Faktoren in Rechnung stellende ausgewogene Forschungssituation entstanden. „If it isn’t separation that differentiates the sexes in their behaviour, then it must be some aspect of the distinctive content of their gendered personalities or social positions. Differences in the use of linguistic variables, then, reflect sex-based differences in social practice“ (Eckert/McConnell-Ginet 1992). Festzuhalten ist, dass Sprechstile besonders von der Spracherfahrung (Alter des Sprechers, unterschiedliche Primär- und Sekundärsozialisation, Status der Gesprächsteilnehmer), der Verständigungssituation und der Vertrautheit der Gesprächsteilnehmer sowie dem Gesprächsgegenstand (Themen) abhängig sind.
4.3. Mediale Kommunikation Ein kürzlich im Internetmagazin Wissenschaft erschienener Artikel behauptet, dass unser Stil stark von unserem Gesprächspartner abhängt. Wenn zwei Freundinnen sich unterhalten, kommen bestimmte Redewendungen und Wörter häufiger vor als in einem Gespräch zwischen Männern. So gilt heute die Auffassung, dass es einen weiblichen und auch einen männlichen Sprachstil gibt. Wissenschaftler der University of Otago, Dunedin, stellten fest, dass unser geschlechtsspezifisches Sprachverhalten stark von unserem Gesprächspartner beeinflusst wird (gegenseitige Anpassung). Die Wissenschaftler führten einen Versuch mit elf Frauen und Männern durch. Die Versuchspersonen mussten jeweils auf die E-Mails von zwei Personen antworten. Einer dieser neuen Brieffreunde trug einen weiblichen Namen und nutzte den typisch ,weiblichen‘ Stil. Der andere Brieffreund hatte einen männlichen Namen und schrieb im ,männlichen‘ Stil. Die Versuchspersonen (Frau oder Mann) beantworteten die im ,weiblichen‘ Stil geschriebenen Emails im ,weiblichen‘ Stil und die im ,männlichen‘ Stil geschriebenen Emails im ,männlichen‘ Stil. Sie passten ihren Stil also dem des Briefpartners an (vgl. http://www.wissenschaft.de/wissen/news/ 153989.html). Der weibliche Stil verwendet mehr Adverbien, stellt häufiger Fragen und macht öfter Komplimente. In diesem Stil gingen die Partner mehr auf Gefühle ein und schrieben offener über die eigene Person. Der männliche Stil verwendete mehr Adjektive. Die Betroffenen äußerten öfter eine Meinung und griffen den Partner auch verbal an. In einem zweiten Experiment bekam jede Testperson nur einen Brieffreund. Die Brieffreunde schrieben entweder im ,weiblichen‘ oder im ,männlichen‘ Stil und hatten entweder einen weiblichen oder einen männlichen Namen. Dadurch ergaben sich vier Kombinationsmöglichkeiten: Entweder der Stil und das Geschlecht des Brieffreundes stimmten überein oder sie waren verschieden. Beispielsweise gab es die Brieffreundin Sarah, die
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aber in einem ,männlichen‘ Stil schrieb. Wieder passte sich der Schreibstil des Partners an den Schreibstil des anderen an. Der Name hatte einen geringeren Einfluss auf den Stil. Der Sprachstil ist dieser Untersuchung nach weniger an das Geschlecht, sondern eher an den Sprachstil des Gesprächspartners gebunden. Die US-amerikanische Medienforscherin Susan Herring (2004) untersuchte den Bereich der computergestützten Kommunikation und stellte dabei relevante geschlechtsspezifische Unterschiede in diesen Online-Begegnungen fest. Es gibt geschlechtsspezifische Differenzen zum Beispiel im Verfassen von Nachrichten. Frauen und Männer vertreten offenbar auch unterschiedliche ethische Positionen, was aus der Gestaltung von Kommentaren geschlossen wird. Herring wendet sich gegen Annahmen, die besagen, computergestützte Kommunikation neutralisiere geschlechtsspezifische Differenzierungen. Männer haben einen aggressiveren Stil, indem sie sich zum Beispiel gegenseitig herabsetzen sowie verächtliche Behauptungen äußern. Diese Methoden werden jedoch im Rahmen der Netzfreiheit (Netiquette) als zulässig definiert. Der von Frauen angewandte und eingeforderte Kommunikationsstil basiert hingegen auf gegenseitiger Anerkennung und Abschwächung. Wie beschreiben und bewerten nun die befragten Mädchen den angesprochenen Kommunikationsstil beim Chatten? „[…] wenn ich mit Jungs rede […] die sind so grob also, die können die Gefühle nicht so zeigen wie die Mädchen. Weil ich chatte ja mit Jungs und Mädchen aber die sind irgendwie lieber und alles, aber Jungs sind auch nett“ (Jessica, 17 Jahre). „Bei Jungs ist das mehr so … die sind immer gleich drauf aus, ,ja ich komm’ dich besuchen‘ wir sind nicht gleich so drauf aus, wir wollen die erst mal so kennenlernen […]. Ich weiß nicht die machen das alles irgendwie aufwändiger, machen immer noch ein Bild dazu, das ist bei uns nicht so wichtig […] die sind halt mehr drauf aus sich zu präsentieren“ (Chrissi, 15 Jahre). Anhand dieser Kommentare zeigt sich, dass die befragten Mädchen sehr wohl unterschiedliche Kommunikationsstile erfahren. Einmal formulieren Jungs ihre Anliegen, welche sich von den Mädchen oftmals unterscheiden, direkter und zeigen sich dabei unter Umständen unsensibler, zum anderen versuchen sie mehr auf sich aufmerksam zu machen, indem sie ihre Beiträge umfassender und aufwändiger gestalten. Die Studie geht allerdings nicht auf die Themenbereiche ein, die den Chats zugrunde liegen. Bei den Erklärungen wird allerdings der Faktor Alter (nur Jugendliche) nicht berücksichtigt.
4.4. Envoi Während in dem Gebiet der geschlechtsspezifischen Stile vor allem Frauen aktive Forschung betrieben haben, sollten männliche Stile für sich und in ihren pragmatischen Auswirkungen auf die Zwecke und Ergebnisse der Kommunikation besser untersucht werden. Dagegen fehlen eher Untersuchungen zum Verhalten von Frauen (Mädchen) in kleineren sozialen Gruppen (vgl. dazu die Untersuchungen zu männlichen Jugendlichen in Kap. 3). Zu Frauen in der reifen Erwachsenenphase des Lebens gibt Schwitalla einen guten Überblick (Artikel 62 Gesprächsstile, Kap. 3.2). Im Unterschied zu den schwarzen (männlichen) Jugendlichen, von denen ausführlich in 3.2 die Rede war, hat Kochman (1981) von den schwarzen Mädchen den weniger auf körperlichen Wettstreit angelegten klatschhaften, intrigenfördernden Kommunikationsstil des he-said-she-said hervorgehoben. Mädchen erfahren von Klatsch hinter ihrem Rücken. Damit konfrontiert wird die Wirkung des Klatsches auf das einzelne Mädchen und ihre ,coolen‘ oder emotionalen
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Reaktionen bewertet. Wie geht das Klatschopfer mit der Gerüchteverbreiterin um? Wird sie aggressiv? Welche Entschuldigungen bringt sie hervor? Das signifying von Mädchen besteht aus anspielungsreichem, intrigierendem indirektem Sprechen, das mit großer Phantasie vollzogen wird. In einer detaillierten, informativen Zusammenfassung stellt Kotthoff (2006, 5.3: Sprache als Abgrenzungsverfahren) die Unterschiede zwischen der (Mädchen)Gruppe der Jocks (der Schule nahe stehende Werte) und der Burnouts (schulferne Orientierung) in der Untersuchung von Eckert an einer amerikanischen Highschool dar (2000). Die Langzeitbeobachtung fokussiert Mädchen, arbeitet aber komplementär ihre Beziehungen zu den Jungen (und deren kommunikative Praktiken) detailliert heraus. „Die männlichen jocks kommunizieren im Sport und im Umgang mit Computertechnologie (beliebte Freizeitbeschäftigungen) ein Image starker Selbstkontrolle und Kompetition. Für die Mädchen ist die Gestaltung ihres Äußeren und ihr ansprechendes Auftreten ein viel zentraleres Anliegen“ (Kotthoff 2006, 5.3). In Bezug auf bestimmte Variablen des kommunikativen Stils ergibt sich in dieser Studie „ein höchst differenziertes Bild der verschiedenen Variablen, die einen unterschiedlichen ikonischen Status für die Kommunikation von Identität haben“ (Kotthoff 2006, 2515).
5. Alter und Stil Die jungen Hoffnungsträger der Gesellschaft, die Heranwachsenden, können sich in westlichen Gesellschaften großer Beliebtheit erfreuen. Sicher Dreiviertel aller empirischen Untersuchungen absorbieren sie. Das troisie`me aˆge [die Lebensperiode des Alters] zu thematisieren ist demgegenüber eher ein Tabu, das erst in den letzten Jahren erfolgreich gebrochen wird. Dem Abtritt fehlen Glanz und Glamour des dynamischen Auftritts.
5.1. Au der Suche nach einer Deinition von Alter Den Sonderhorizont (Luhmann) Alter können wir natürlich numerisch definieren ⫺ was jedoch keine Erklärungsmöglichkeit eröffnet. Im französischen Sprachsystem ist mit dem premier aˆge die Zeitspanne 0⫺30, mit dem second aˆge die Zeitspanne 30⫺60 und mit dem troisie`me aˆge [die Lebensperiode des Alters] die Spanne ab 60 verbunden, obwohl das nirgendwo festgeschrieben ist. Die Einschnitte sind mehr oder weniger willkürlich, obwohl Abschnitte von 30 Jahren durchaus sinnvoll erscheinen. Viele Autoren beschäftigen sich mit der Sinnhaftigkeit numerischer, psychologischer oder soziologischer Definitionen. Zweifellos am vielversprechendsten sind Kriterien wie Kommunion oder Konfirmation, Wahlrecht und Führerscheinerlaubnis, Schulabschluss, Heirat und Gründung einer Familie, Aufgabe des eigenen Haushalts, Übersiedlung in ein Altersheim (u. a.). Der zunehmende Erwerb von Reife oder der Erlaubnis zur Übernahme von gesellschaftlich definierten Verantwortungen eröffnet neue Optionen mit neuem Bewusstsein, macht neue Erfahrungen in Gruppen und in Verbindung mit anderen Personen möglich und kann daher dazu dienen, das Leben in Phasen zu gliedern (vgl. die fünf Phasen in Eckert 1997).
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Natürlich wird man beim Spracherwerb des Kindes nicht von einem Altersstil reden. Allerdings erkennen bereits die Heranwachsenden zwischen 12 und 18 die soziale Bedeutung von Varietäten- u. Stilunterschieden (Labov 1972a, b). Die Halbwüchsigen erwerben die Wahrnehmungsfähigkeit der Stilunterschiede und ihrer Wirkung. Wie in Kapitel drei zu den jugendlichen peergroups bereits ausführlich beschrieben, stehen die Heranwachsenden unter 20 im Wettstreit zueinander, probieren in unterschiedlichem Maße die Sprache in Scherz-, Wettstreit- u. Erzählkommunikation aus und arbeiten sich an den potenziellen Mustern des Sprachgebrauchs relativ zu ihrer sozialen Identität ab. In der anglophonen Literatur spricht man von „life stages“ (Cheshire 2005). Nach Cheshire ist das Sprachverhalten in dem mittleren erwachsenen Sprachstadium am stabilsten. Auch Eckert (1997) ist der Meinung, dass die Sprecher und Sprecherinnen in dieser mittleren Phase mündigen und stabilen Gebrauch von der Sprache machen. Indem sie mit der Sprache Handlungen vollziehen, kurz: gesellschaftlich relevante Tätigkeiten ausüben ohne Sprache zu lernen oder sie zu verlieren. Insgesamt geht man davon aus, dass die sozialen Anforderungen an die jeweiligen Lebensphasen das Sprach- und Kommunikationsverhalten bedingen. Studien von Labov (2001) zeigen, dass phonetischer Wandel, erhoben und erfasst in mehreren Sprachgemeinschaften, mit dem Generationenwechsel verbunden ist (dies entspricht etwa der französischen Dreiteilung in erste, zweite und dritte Phase). Der phonetische Sprachwandel bei Jugendlichen, die Festigung von Aussprachenormen bei Erwachsenen im Berufsleben und die Brüchigkeit der erworbenen Normen im späteren Alter sind Teil einer generationsspezifischen Sprachwandelforschung, die vor allem in der anglophonen Variationsforschung durchgeführt wurde (Labov 2001; Cheshire 2005). Es handelt sich hier um Studien zur Übernahme, zur Praktizierung und zum Verlust (⫽ Wandel) von sprachlichem Habitus. Unter Altersstil verstehe ich dagegen das Ausdrucksrepertoire im Sinne stilgewordener sozialer Identität in Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt in der jeweiligen Lebensphase. Da wenig Forschung in der mittleren, stabilen Lebensphase der Erwachsenen gemacht werden konnte, widme ich mich im Folgenden dem Stil der Jugendlichen bzw. der älteren Menschen. Wir werden daher einige exemplarische Studien vorstellen, wobei große Lücken in den mittleren Lebensphasen bleiben. Wie schon für Gruppe und Geschlecht ausführlich dargestellt, kann Alter nicht unabhängig von Gruppe oder Geschlecht isoliert behandelt werden. Natürlich bedingt das Alter spezifische Formen und Funktionen der Verbalisierung und der kommunikativen Mitteilungen. Sie sind in der Regel von der sozialen Dimension der Gruppe und der geschlechtsspezifischen Zugehörigkeit bestimmt.
5.2. Altersphasen und Stil Eine aufschlussreiche Untersuchung zu Kindheit und Jugend ist die des Spielverhaltens von Kindern der Vor- u. Grundschule. Hier hat Streeck (1986) im Anschluss an Goodwin typische Muster jeglicher Kooperation kindlichen Spielens und kindlicher Freude untersucht. Dabei geht es nicht um Erwerb, sondern um Formen der Interaktion, des Handlungsvollzugs während des Spielens und des davon bestimmten kommunikativen Austauschs. Eine Zusammenfassung dazu durchgeführter Untersuchungen findet sich in Cook-Gumperz und Kyratzis (2001, 510⫺611).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Im Übrigen gibt Cheshire (2005, 1552⫺1563) über die soziolinguistischen Aspekte des Sprachgebrauchs nach Altersphasen einen gründlichen Überblick. Die klassischen Variationsstudien zu aussprachebezogenen (phonetischen) Variablen werden unter dem Gesichtspunkt Ausprägung der Variablen nach Alter und Register (formelle vs. informelle Sprechweise) für eine Theorie des Sprachwandels fruchtbar gemacht. Wenn die Ergebnisse dieser Studien auch nicht zur Präzisierung von Altersstilen taugen, so geben sie doch viele Hinweise auf ein kommunikatives Verhalten, das für Altersstile relevant ist (Untersuchungen zum age-grading (⫽ Durchlaufen von Altersphasen im Rahmen einer Generation)). Hier geht es um sprachliche Merkmale und Aspekte, die für Altersgruppen im Laufe des Lebens symbolische Bedeutung haben. Unter den age-exclusive features (Merkmale, die in einer Altersstufe nicht auftreten (können)) versteht man z. B. das biologisch bedingte Sprechen-Üben von Kleinkindern oder das Zittern in der Stimme älterer Menschen. Aus dieser Sicht ist der Erwachsenensprachgebrauch die normale Sprech- und Sprachlage, von der Kinder und Jugendliche sowie ältere Menschen abweichen. Cheshire berichtet von Merkmalen des exklusiven altersspezifischen Sprechens, zitiert aber auch Belege von Androutsopoulos (1998a, b) (und anderen) von ethnischen Mischungen im Sprachgebrauch von zwei- und mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen (Cheshire, 2005). Downes (zit. in Cheshire) belegt anhand vieler empirischer Untersuchungen, dass Jugendliche die prestigebesetzten Merkmale der Umgangssprache bis etwa 30 voll erwerben und bis zu 45 Jahren einen optimalen Gebrauch dieser Merkmale im Alltag dokumentieren. Danach werden diese vernacular-Merkmale langsam wieder abgebaut, was mit dem Verlust von Prestige verbunden ist. Altersspezifische Präferenzen (age-preferential features) weisen demgegenüber positiv nach, was warum in bestimmten Altersphasen benutzt wird. Es gibt offenes und verdecktes Prestige für bestimmte Varianten, die je nach sozialer Schicht, Familien- oder Straßenkulturorientierung, Männern oder Frauen bevorzugt oder stigmatisiert werden (vgl. Cheshire 2005, 1557 ff.). Öffentlich klar wahrnehmbare Normen (overt norms) sind für Jugendliche und später Erwachsene interessant, für Kinder aber nicht. Dagegen hat das öffentliche Leben für die Erwachsenen eine große Bedeutung, der Druck auf Konformität im normgerechten Sprechverhalten nimmt jedoch bei älteren Menschen wieder ab ⫺ Konformität hat an Wert verloren. Sowohl Labov als auch Trudgill unterstreichen (bibl. Angaben bei Cheshire), dass sich die altersbezogenen Unterschiede im Sprachverhalten über alle Registerdifferenzierungen hinweg erhalten. Nach Labov (2001) schlagen sich so die unterschiedlichen Beziehungslagen der Sprecher gemäß ihrer Lebensgeschichten in ihrer altersspezifischen Sprachpraxis nieder. Schließlich führen Untersuchungen in ,realer Zeit‘ (Längsschnittuntersuchungen) im Unterschied zu altersspezifischen Querschnittuntersuchungen zur These generationsspezifischen Sprachwandels. Viele in Altersabschnitte (age-grading) fallende sprachliche Differenzierungen fallen mit den größeren genrationsspezifischen Einschnitten zusammen. Obwohl „the generational change is the basic model for sound change“ (Labov, zit. in Cheshire 2005, 1559), geben graduelle sprachwandelspezifische Veränderungen wichtige Informationen zum kontinuierlichen Wandel. Ergänzend nennt Cheshire Bedingungen des generationsspezifischen Wandels in zwei- und mehrsprachigen Gemeinschaften. Von diesen Studien wird übersehen, dass zweisprachige Schüler und Schülerinnen (Mädchen und Jungen auch außerhalb der Schule) in europäischen Ländern wie BRD, GB, FR, B, IT und SP ihre Ausgangs- oder Muttersprache oft benutzen, um Klassenka-
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meraden, Lehrer und Lehrerinnen, Erwachsene, Sprecher und Sprecherinnen der entsprechenden Landessprache aus der Kommunikation auszuschließen, um ihre eigenen Belange untereinander solidarisch zu regeln.
5.3. Modelle der Beschreibung von Altersstilen Nach Fiehler und Thimm (2003a) liegen im deutschen Sprachraum ⫺ im Unterschied zum englischsprachigen ⫺ nur wenige Untersuchungen zum dritten Lebensabschnitt ab etwa 60 vor. In der Forschung zu diesem Themenbereich gibt es drei Ansätze: (1) die Untersuchung der Alterssprache und Alterskommunikation unter dem Blickwinkel der Abweichungen von der Normalsprache mittleren Alters (age markers); (2) die dritte Lebensphase als „Auslöser von stereotypen Einstellungen und einer daraus resultierenden sprachlichen Anpassung (kommunikative Akkommodation), die in Form von Sprechstilen manifest wird“ (Fiehler/Thimm 2003a, 11); (3) Alter als ein in der kontextspezifischen Interaktion zu erfassender sozialer Konstitutionsprozess, der durch konkrete Interaktionen relevant gesetzt wird und dabei bestimmte kommunikative Verfahren und Mittel freisetzt. (1) steht in der Tradition der „Defizit- und Regressionshypothese“ in der Gerontologie (Fiehler/Thimm 2003a, 12). Sie ist eng mit neurolinguistischer Forschung zum Sprachverlust verbunden. Einerseits muss gefragt werden, ob diese vornehmlich experimentelle Forschung adäquate Erklärungen bereitstellt, andererseits wird uns durch diese Sichtweise ein unvoreingenommener Blick auf andere, komplexe Funktionen und Leistungen der Alterskommunikation verstellt. (2) ist die sozialpsychologische Sicht auf das ,dritte‘ Alter als Problem der Selbsteinschätzung der noch in vollem Umfang vorhandenen Kommunikationsfähigkeit und der Behandlung durch andere „als älter geworden, nicht mehr in vollem Umfange kompetent“. Diese Divergenz bringt Unsicherheit mit sich und sie findet ihren Ausdruck in sprechstilistischen Anpassungen an die „äußere Wahrnehmung“ (Adressierung, patronisierende Kommunikation) als Divergenz zur eigenen „gelebten“ (Fiehler/Thimm 2003a, 12). Die Perspektive (3) stellt „Prozesse der interaktiven Aushandlung eines variabel definierbaren sozialen Alters in das theoretische Zentrum“ (Fiehler/Thimm 2003a, 12). Hier wird Alter als ein Konstrukt verstanden, dessen Erscheinungsweisen interaktional hervorgebracht werden. Brose (2003) widerspricht auf der Grundlage von Interviews mit über Fünfzigjährigen der Stereotypenforschung (2). Sie stellt ein aktives, angemessenes, vollkompetentes Redeverhalten fest (Brose 2003). Kurze Äußerungen, viele Füllwörter, Satzfragmente, übertrieben starke Betonung, längere Sprechpausen und auffällig häufige Verwendung der ersten Person Plural (Stereotypenansatz) kann sie nicht feststellen. In einer wegweisenden, an vorliegenden Forschungen orientierten Aufarbeitung von Merkmalen des fortgeschrittenen Alters gelangt Fiehler (2003) zu einer offenen Liste von Merkmalen, die eine Annäherung an den Altersstil darstellen. Dazu gehören (i) Vergleich von Vergangenheit und Gegenwart, (ii) Thematisierung des kulturellen und sozialen Wandels, (iii) die Selbst-
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identifikation mit der Vergangenheit, (iv) die größere kommunikative Kontaktfreudigkeit (weniger Hemmungen), (v) die ⫺ je nach Fall und Individuum ⫺ Vergrößerung oder Verringerung des Kommunikationsaufkommens und (vi) der gesteigerte Selbstbezug in der Kommunikation. Bevorzugt werden (i) bis (vi) in Erzählungen (biographisches Erzählen) und im Klatsch angewendet. Die sprachlich-stimmlichen Ressourcen sind die fragile Stimme, übergroße Emphase in der Formulierung, Dialektgebrauch und altersspezifisches Lexikon. Unter anderen/weiteren Merkmalen, die sich bei Fiehler (2003) angesprochen finden, sind zu erwähnen: mangelnder Partnerbezug im Adressantenzuschnitt, zurückhaltende Adressierung (Sprechen mit und für sich selbst), Durchziehen der eigenen thematischen Vorstellungen (mangelndes genaues Zuhören). In dem für das Thema repräsentativen Sammelband Fiehler/Thimm (2003a) handeln verschiedene Autoren theoretisch oder anhand von Gesprächsausschnitten unangemessene stereotypenhafte (präsuppositionsbesetzte) Unterstellungen gegenüber Alten in Gesprächen (Schnieders 2003), den Stil Älterer in Briefen (Cherubim/Hilgendorf 2003) oder die diskursive Sichtweise auf das eigene Altern (Thimm 2003) ab. Richtungweisend ist der von Thimm eingeschlagene vielversprechende Weg, „die sprachlich kommunizierte soziale Welt in ihrer komplexen Auswirkung auf Selbst- und Fremdbild, auf Ingroupund Outgroupbeziehungen anhand von sprachlichen Bezügen auf soziale Kategorisierungen zu erfassen“ (Thimm 2003, 88). Insgesamt scheint es nicht untypisch zu sein, dass die Extreme des Altersspektrums in der Forschung mehr Beachtung finden als die goldene Mitte der Normalität, des kommunikativen Top-Fit-Seins, der Reife und der normativen Korrektheit. So ist der kommunikative Stil der Jugendlichen am besten erforscht (vgl. Kap. 3), gefolgt von der ,dritten Altersphase‘. Die Stillage der Normalität, der Erwachsenen zwischen 30 und etwa 55, scheint wenig unter dem Fokus Alter untersucht worden sein ⫺ dafür steht aber die Fülle der Gesprächs-, Stil- und Variationsforschung für diese ,zweite Altersphase‘ für eine Vielzahl sprachlicher und kommunikativer Aspekte zur Verfügung, die hier nicht anhand von Stilmerkmalen fixiert werden kann. Stattdessen verweise ich auf die Darstellungen des kommunikativen Stils Mannheimer Erwachsener in verschiedenen ethnographisch erfassten Gruppen durch einen der beteiligten Forscher, Johannes Schwitalla, der unter 3.2 im Art. 62 dieses Handbuches wesentliche Aspekte zusammenfasst (vgl. auch Tab. 74.1).
5.4. Ein versöhnlicher Ausblick In vielen Studien werden die Einsamkeit, die körperlichen Rückschritte in der sprachlichen Performanz und der physischen Leistung zum Problem des alternden Individuums erklärt. Not, Krankheit, körperliche und geistige Regression stehen als Abbau der Physis, aber auch der kommunikativen Fähigkeiten (schlechteres Hören, leiser und unartikuliertes Sprechen etc.) im Vordergrund. Wir wollen zum Abschluss auch einen Blick auf die andere Seite, die des genießenden, noch über seine volle Lebensbreite verfügenden Menschen in der sozialen Gruppe werfen. Über die Unterhaltungskunst älterer Frauen in der Filsbachwelt und ihre Kunst der leichten Muse im Gespräch hat Jürgen Streeck (1994) ein eindrucksvolles Porträt gezeichnet. Er beschreibt, wie die Frauen im Mannheimer Dialekt sexuelle Witze erzählen, Obszönität aussprechen und auf die Zuhörerinnen wirken lassen, Obszönität aber auch aussparen, um lustvolle Phantasien anzuregen (die Absicht
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des Witzes ist es nach Freud (1905, 80) „Lust zu erzeugen“). In der Runde die „Lust am sexuellen Witz“ (Streeck 1994, 601 ff.) mit kunstvoll eingestreuten Importen direkter Rede auszuleben, wird an vielen Gesprächsausschnitten und am Beispiel des unnachahmlich erzählten Parabel-Witzes von einem italienischen ,Gockel‘, der Mannheimer Dialekt spricht, gesprächsstilistisch beschrieben und in den allgemein-menschlichen Horizont einer erklärenden Stilzweckbestimmung erhoben: „Die Reinszenierung des Alltags im Gruppengespräch ist eine andere Art der sprachlichen Objektivierung des eigenen Lebens. Sie zielt nicht auf praktischen Eingriff, und insofern mag sich in der Häufigkeit, mit der sie zur Anwendung gebracht wird, die Erfahrung der Sprecherinnen niederschlagen, dass die Welt sprachlich ⫺ durch eigenes Sprechen ⫺ kaum zu ändern ist. Aber Sprache kann eine Alternative zum Alltag bieten, eine ästhetisierte Version, die vorübergehend Entlastung schafft, indem sie für Unterhaltung sorgt“ (Streeck 1994, 610).
6. Perspektiven Stil ist die sprachliche und kommunikative Praxis, mit der Handelnde in ihrer individuellen und sozialen Prägung durch ihre soziale Umwelt und als Antwort auf die Bedürfnisse, die sie mitteilen wollen, kommunikativen Austausch pflegen und ihre soziale Identität zeigen. Stile sind ein Medium, mit dem Akteure im sozialen Alltag ihre Identität in semiotischen Gestaltformaten Ausdruck verleihen können und sich dadurch individuell und sozial wahrnehmbar und berechenbar machen. Das Potenzial des Stilkonzeptes liegt darin, dass es für sprachliche Mittel und pragmatische Kommunikationsverfahren integrierte Beschreibungsverfahren bereitstellt. Es ermöglicht eine Verknüpfung von Makro- und Mikroanalyse. Darin liegt seine Stärke, aber auch seine Schwäche: dass die Beschreibungsebenen oft nicht integrativ ineinandergreifend verzahnt, sondern additiv aneinander ,geklebt‘ werden. Auch bei Stilanalysen müssen Schwerpunkte mit eingegrenztem Fokus gesetzt werden. Für solche Analysen bilden die drei Dimensionen der Sozialität: Alter, Geschlecht und Gruppe ein Forschungsfeld, das voller unbeantworteter Fragen steckt, aber ⫺ wie dieser Überblick zeigt ⫺ auch voller Anknüpfungspunkte an bereits geleistete Vorarbeit.
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Norbert Dittmar, Berlin (Deutschland)
75. Epochenstil/Zeitstil
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75. Epochenstil/Zeitstil 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Der Problemzusammenhang Das Verhältnis von normalsprachlichem und literarischem Epochenstil Historische Stilkonzepte und Epochenstile Epochenstile in der Kunst- und Literaturgeschichte Fazit Literatur (in Auswahl)
Abstract A period style is to be understood as the set of features of expression and artistic form that are characteristic of a particular epoch (age). In the twentieth century, the term period style has developed into a general concept comprising all cultural productions and activities. From classical antiquity onwards, period styles have been related to the changing concepts of style. Since the end of the nineteenth century, there has been an interaction between concepts of period style in the field of visual art and other forms of art, especially literature.
1. Der Problemzusammenhang Der nicht unumstrittene, aber unverzichtbare Begriff des Epochenstils ist zu verstehen als Gesamtheit der epochentypischen Gestaltungsmerkmale in der Literatur und anderen Kunstmedien eines Zeitalters. Der Begriff des Epochenstils hat sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem kulturgeschichtlichen Konzept entwickelt, das alle kulturellen Hervorbringungen und Aktivitäten und alles menschliche Verhalten bis hin zur Lebensführung (Lebensstil) als kulturhistorisches Gesamtphänomen umgreift. Ein derartig weiter Begriff des Epochenstils stimmt mit einem entsprechend weiten Stilbegriff überein, wie ihn z. B. Hans Ulrich Gumbrecht (2003, 509) vertritt, der Stil als „rekurrente Formen der Manifestationen menschlichen Verhaltens im allgemeinen“ definiert und vom Stil als „Verwirklichung von Absichten“ ⫺ Stil als Ergebnis einer Handlung ⫺ und von „absichtslosem Verhalten“ spricht. Der Begriff des Epochenstils wird im Folgenden vor allem auf rhetorisch und literarisch geformte Texte und die bildende Kunst und ihre Interaktion mit der sprachlichen Kunst bezogen. Das Entstehen eines Epochenstils wird vielfach mit einer Zeitenwende zusammengebracht, in der sich das Welt- und Menschenbild verändert und sich ein neues „epochales Sinnsystem“ (Falk 1981, 113) herausbildet, sich eine „Veränderung des ,Denkstils‘“ (Lerchner 1995, 102) oder des „Geists der Epoche“ (Lerchner 2000, 51) zeigt. Der vielfach synonymisch mit Epochenstil gebrauchte Begriff Zeitstil (etwa Staiger 1951) ist neutraler. Ihm fehlt die explizite historische Dimension des Epochenstils, der sein Profil aus der Abgrenzung von einer vorausgehenden und einer folgenden Epoche gewinnt. Aus diesem Grunde ist in dem Wort Zeitstil eine Umkehrung von Determinans und Determinatum, deren Ergebnis das Wort Stilepochen ist (Por/Radno´ti 1990), nicht möglich. Ein Vorteil des Begriffs Zeitstil liegt darin, dass er unabhängig von dem Begriff der Stilepoche ist, deren Bestimmung oftmals problema-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil tisch ist, da es etwa zu stilistischen Kontinuitäten über die Epochen hinaus und zu Übergangsepochen und zum Phänomen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen kommen kann (Falk 1981; Steadman 1990). Der Begriff Epochenstil gehört in den Zusammenhang einer Erweiterung und Ausdifferenzierung des Stilbegriffs, die zusätzlich zu den Termini Schreibstil und Individualstil Begriffe bildet wie Zeitstil, Gruppenstil, Gattungsstil, Werkstil, Baustil, Denkstil, Führungsstil, Lebensstil, Funktionalstil. Ein Problem besteht darin, dass sich die einzelnen Stilbegriffe berühren oder überschneiden können (Sowinski 1994, 1320). Die Kategorien des Individualstils und des Epochenstils werden in der Stilistik kontrastiert, aber in Goethes Werthers Leiden z. B. partizipiert der Autor am Epochenstil der Empfindsamkeit und gleichzeitig gibt er seinem Stil eine eigene, unverwechselbare Prägung. Es besteht auch die Möglichkeit, dass ein Individualstil nachgeahmt wird und zur Bildung eines zeittypischen Stils beiträgt, wie das in James Macphersons Ossian der Fall ist, der wesentlich dazu beigetragen hat, den Stil der Epoche der Empfindsamkeit zu prägen. Ähnlich wie mit dem Individualstil 'verhält es sich mit der Entgegensetzung von Epochenstil und Werkstil. Goethes Götz und Iphigenie besitzen einen je eigenen Werkstil, eine textstilistisch nachweisbare Individualität der Komposition, die sich aber zu einem Teil auch dadurch erklärt, dass das erste Werk in der Epoche des Sturm und Drang und das zweite in der Klassik entstand. Ein Autor kann sich durch verschiedene Epochen und deren Stile hindurch entwickeln, wie das bei Goethe der Fall ist. Es ist auch möglich, dass ein Autor im Laufe seiner persönlichen Stilentwicklung unterschiedliche, von Epochenstilen geprägte Phasen durchläuft. In Rilkes Werk spiegeln sich im Übergang von seiner epigonal-romantischen Frühphase zum sachlichen Sagen seiner mittleren Phase und zu der poetologischen Neuorientierung in den Duineser Elegien und den Sonetten an Orpheus auf der Ebene einer individuellen künstlerischen Entwicklung übergreifende dichtungsgeschichtliche Entwicklungen. Auch Gattungsstil und Epochenstil können insofern konvergieren, als sich Gattungen in der Geschichte und damit auch die in ihnen zu erkennenden Stile verändern, wie sich zum Beispiel im Kontrast der klassischen Tragödie eines Racine und der bürgerlichen Tragödie der Aufklärung (Lessing) zeigt. Eine Gattung, wie etwa der Brief, für den Gellert um die Mitte des 18. Jahrhunderts das Natürlichkeitsideal forderte, kann auch eine entscheidende Rolle in der Herausbildung eines Epochenstils spielen. Die Bestimmung von Epochenstilen setzt also eine differenzierte Prüfung und Abgrenzung der zeittypischen Gestaltungsmerkmale eines Werks von individual-, gruppen- und gattungsstilistischen Faktoren voraus. ⫺ Ein weiteres Problem einer stilbezogenen Differenzierung von Epochen liegt im Verhältnis von sprachhistorischer und literarhistorischer Stilistik. Historische Stilistik (Pöckl 1980) kann sich auf die Sprache im allgemeinen und auf die Sprachkunst im besonderen beziehen. „Epochenstil im literarhistorischen und epochenstilistische Merkmale im sprach(stil)historischen Verständnis“ (Lerchner 1997, 49) interagieren zwar, fallen aber aufgrund von Phasenverschiebungen, etwa im „Fall sprachlich-stilistischen Transfers aus dem Bereich des literarischen Diskurses in alltagssprachliche Diskursbereiche“ (Lerchner 1997, 43), nicht zusammen. Auch hier lassen sich Parallelitäten zwischen Individual- und Epochenstil feststellen. Über große zeitliche Distanz sieht sich Thomas Mann auf der Ebene des Individualstils in einer Konkurrenzsituation mit Goethe, der für ihn das höchste Stilideal verkörpert. Mit einem gewissen zeitlichen Abstand ⫺ wenn auch bei weitem nicht einem so großen ⫺ wirken auch bestimmte Autoren wie Luther, Lessing und Goethe auf die deutsche Alltagssprache ein. Es gibt auch Epochenstile wie die des Impressionismus und
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1273
des Expressionismus, die nur begrenzt auf die Alltagssprache einwirken. Historische Stilistik in der Sprach- und der Literaturwissenschaft hat es also nicht immer mit rein zeitlichen Phänomenen zu tun.
2. Das Verhältnis von normalsprachlichem und literatursprachlichem Epochenstil Ein Beispiel für eine Konvergenz von normalsprachlichem und literarischem Epochenstil zeigt sich in der englischen Sprache der Renaissance, in der unter dem Einfluss des Humanismus der Wortschatz ein großes Wachstum erfährt und es zu zahllosen Dubletten kommt von Wörtern germanischen Ursprungs und Wörtern, die direkt aus dem Lateinischen und solchen, die über das Französische vermittelt wurden. Ein viel zitiertes Beispiel findet sich im Titel des vierten Kapitels aus Buch I von Sir Thomas Elyots The Boke named the Gouernour. Es lautet „the education or form of bringing up“. In der Dublette wird zu einem Fremdwort ein einfaches Wort germanischen Ursprungs hinzugefügt. Derartige Dubletten hatten eine didaktische Funktion. Die Sprachkenntnis des Lesers sollte erweitert werden. Aber eine solche enge didaktische Zielsetzung wurde bald überschritten. Dubletten und Tripletten dienten der sprachlichen Abwechslung und der Vergrößerung der Ausdrucksfähigkeit der englischen Sprache. Der Ausbau des Wortschatzes (vocabulary-building) wurde zu einem Aspekt des Aufbaus der Nation (nation-building). Was für die Normalsprache galt, wurde vom Dichter zu Erzeugung poetischer Wirkungen benutzt. Im folgenden Beispiel schöpft Shakespeare den epochentypischen gemischten Wortbestand der englischen Sprache aus, indem er wirkungsvoll lateinische Mehrsilbler und germanische Einsilbler kontrastiert: „no: this my Hand will rather / The multitudinous Seas incarnadine, / Making the Greene one, Red“ (Macbeth, II.2.59⫺61, Hervorhebung W. M.). Hier kehren Phänomene des Epochenstils der Normalsprache, ins Poetische gesteigert, in der Literatur wieder. Entsprechende Erscheinungen ließen sich ohne weiteres auch in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts finden. Auf diese Weise könnte vergleichende historische Stilistik in allen Bereichen der Sprache betrieben werden.
3. Historische Stilkonzepte und Epochenstile Ein nützliches Verfahren bei der Bestimmung von Epochenstilen ist die Frage nach die Epochen prägenden Stilkonzepten oder -idealen. Wenn das Bewusstsein von einheitlichen Kulturepochen und dementsprechend von Epochenstilen in der Antike auch kaum entwickelt war, lassen sich doch sprach- und stilgeschichtliche Formationen ausmachen, die dem, was man als Epochenstile bezeichnen kann, nahe kommen. So spricht man von der Goldenen Latinität, der Literaturepoche des Augusteischen Zeitalters, in der die römische Dichtung und Prosa inhaltlich und formal die Stufe ihrer höchsten Vollendung erreicht hatte (Cicero, Caesar, Livius, Horaz) und der darauf folgenden Silbernen Latinität, die sich durch das Eindringen von Elementen der Umgangssprache und einen auf Effekte zielenden rhetorischen Stil mit gesteigerten Emphasen, Antithesen und harten Fügungen von dem klassischen Ideal des ciceronianischen Stils entfernte (Seneca, Plinius, Tacitus).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
Als Epochenstile kann man wohl auch die einander entgegengesetzten Stilideale des Attizismus und des Asianismus erkennen. Der Attizismus, der aus einer bewundernden Rückbesinnung (imitatio veterum) auf die Redner und Schriftsteller des 4. und 5. Jahrhunderts in Athen (Demosthenes, Thukydides) und ihres schlichten, klaren und bündigen Stils (genus humile) gespeist wurde, wurde im 1. Jahrhundert v. Chr. dem aus den griechischen Städten Kleinasiens stammenden Asianismus entgegengesetzt. Der nach der römischen Provinz Asia benannte Asianismus galt als zu hochgestochen, schwülstig und pathoshaltig, und man verlangte nach einer Gegenposition, die sich im Attizismus fand. Die Opposition zwischen den beiden Stilidealen evoziert Shakespeare in der Forumsszene in Julius Caesar, in der er die sachlich-nüchterne Rede des Brutus, die absolut frei von Tropen (übertragenem Wortgebrauch) ist, und die ungemein emotionale und an Tropen wie Metaphern und Metonymien reiche Rede des Antonius einander gegenüberstellt. Ein Einwand gegen die Asianer war, dass sie sich gegen die kodifizierten Normen der Rhetorik wandten, insbesondere gegen das aptum der Drei-Stil-Lehre, der zufolge Stil und Gegenstand in abgestufter Schmuckverwendung aufeinander abzustimmen sind (Sowinski 1994, 1321). Hans Ulrich Gumbrecht weist darauf hin, dass der Gegensatz zwischen Asianismus und Attizismus in größerer Perspektive weitere Oppositionspaare konnotiert, „unter kulturgeschichtlicher Perspektive […] den Gegensatz zwischen Sophistik und Platonismus; philosophiegeschichtlich die Spannung zwischen einer Sphäre vielfacher Sinnwelten, die sich in Reden, Geschichten und ⫺ letztlich Mythen artikulieren, und jener zweischichtigen Vorstellung von Welt, in der die diesseitige Wirklichkeit immer nur Abbild einer wahren, transzendentalen Welt der ,Ideen‘ ist; damit auch ⫺ religionsgeschichtlich ⫺ den Gegensatz zwischen Polytheismus und Monotheismus“ (Gumbrecht 1986, 733). Die Auseinandersetzung zwischen Attizismus und Asianismus wurde in der frühen Kaiserzeit durch Nachfolgekämpfe zwischen ,moderner‘ und ,konservativer‘ Redekunst fortgesetzt. Sie lebte in neuer Gestalt in der Renaissance im Streit über die Cicero-Nachahmung wieder auf, wo die Imitatoren des ,Attizisten‘ Cicero von Befürwortern eines natürlicheren Ausdrucks wie Erasmus von Rotterdam angegriffen wurden. Als eine Neuauflage des Attizismus-Asianismus-Streits kann auch die Querelle des anciens et des modernes im Frankreich des 17. Jahrhunderts gelten. Die Opposition zwischen Attizismus und Asianismus wurde in der Epochendiskussion als Modell für spätere Entgegensetzungen benutzt. Curtius (1993, 76) sieht im Asianismus „die erste Form des europäischen Manierismus“, im Attizismus „die des europäischen Klassizismus“. Die Formel seines Schülers Hocke (1967) lautet: attizistisch ⫽ klassisch, asianisch ⫽ manieristisch. Hinsichtlich des Mittelalters kann von einem Epochenstil kaum die Rede sein, aber Hans Ulrich Gumbrecht weist darauf hin, dass sich nach Geffroi de Vinsauf allmählich ein Wandel der für „die Stilreflexion relevanten Rahmenbedingungen vollzog, so daß im südeuropäischen Raum selbst ein kastilischer Humanist wie der Marque´s de Santillana Besonderheiten der Sprachformen auf verschiedene Situationen und Traditionen“ (Gumbrecht 1986, 742) bezog, statt sie mit literarischen Stoffen und Gattungen zu verbinden (Rota Virgilii). Zwischen griechischer und lateinischer Dichtung, dem italienische dolce stil nuovo (einem poetischen Sprachstil, der im 13. Jahrhundert in Italien von Guido Gunizelli und Guido Cavalcanti aus dem der provenzalischen Dichtung entwickelt wurde), provenzalischer Poesie, Epen und Liedern der Spielleute „eröffnete sich eine Pluralität von Welten“ (Gumbrecht 1986, 742). Im Zusammenhang mit einer solchen Pluralität wurde die Frage nach den der Situation angemessenen Sprachmitteln relevant, auf die sich Dante in seiner Stil-Definition bezieht: „est enim exornatio alcuius conve-
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nientis traditio“ (zitiert nach Gumbrecht 1986, 742). Gumbrecht findet Anhaltspunkte dafür, dass „eine ganz neue Bereitschaft zur Wahrnehmung von nuancierten Unterschieden in Zeit und Raum der frühneuzeitlichen Proliferation des Stilbegriffs und der sie begleitenden Stilreflexion vorausgegangen zu sein“ scheint (Gumbrecht 1986, 742). Die Renaissance ist als Stilepoche verhältnismäßig heterogen. Sie setzt sich aus einer Vielzahl einzelner Stilbewegungen und -tendenzen zusammen, bei denen die Stilgenera (genera dicendi), die Opposition von Attizismus und Asianismus, die Vorbildfunktion der Stiltendenzen in der Tradition von Cicero und Seneca, die Entgegensetzung von Ornatus und Schlichtheit des Stils und die Strukturprinzipien von Symmetrie und Asymmetrie und vorrangig auch gesellschaftliche und kulturgeschichtliche Aspekte, wie die höfische Kultur und der Humanismus, eine Rolle spielen. Im Mittelpunkt steht in der Renaissance jedoch das Verständnis des Stils als Einkleidung der Gedanken, das aus der Antike stammt (Müller 1981, 52) und sich auch in Dantes oben zitierter Definition findet. Stil wird mit Ornatus gleichgesetzt, wobei es sich um einen Ornatus handelt, der unter dem Gesetz des Dekorums, verstanden auch im Sinne der gesellschaftlichen Angemessenheit, und der Drei-Stil-Lehre steht. In seiner Poetik The Arte of English Poesie (1589), die in hohem Maße eine Stillehre ist, benutzt George Puttenham den Ausdruck exornation [Ausschmückung, Verzierung]. Puttenhams Poetik ist eine höfische Poetik und zugleich ein Anstandsbuch, das dem englischen Höfling helfen soll, sich im sozialen Kräftespiel des Hofes zu behaupten und die Kunst des schönen Scheins (beau semblant) als eine Voraussetzung für höfisches Verhalten zu lernen. Die wichtigste Fähigkeit im höfischen Verhalten ist laut Puttenham die Beherrschung des Ornatus. Nicht umsonst wird die Allegorie als für höfische Rede wichtigste Trope von ihm als Höfling (courtier) und Figur des schönen Scheins (figure of faire semblant) bezeichnet. Diese sozio-ästhetische Dimension gehört unlöslich zu dem vom Ornatus geprägten Epochenstil der Renaissance. Die Faszination des Zeitalters durch den Ornatus zeigt sich ikonographisch in Christophero Giardas bekanntem Bild der Dame Rhetorik (Rhetorica), die mit ihrem reichen Kleider- und Blumenschmuck die Gleichsetzung von Rhetorik und Stil und das Verständnis des Stils als eines Kleides zeigt. Literarisch entspricht diesem Stilverständnis ein virtuoses Spiel mit Tropen und Figuren, das in der Bewegung des so genannten Euphuismus (nach Euphues, dem Protagonisten zweier Romane von John Lyly) und in Shakespeares Dramen, vor allem seiner frühen und mittleren Periode (Love’s Labour’s Lost, Richard II, Romeo and Juliet), seinen Höhepunkt findet. Gegen Ende der Renaissance kommt es in Analogie zum Verhältnis des Attizismus zum Asianismus zu einer Veränderung des Stilideals, ohne dass sich allerdings eine klar definierbare Stilepoche abzeichnet. Der an der elocutio orientierte Stilbegriff gerät im ausgehenden 16. und im 17. Jahrhundert unter dem Einfluss des Puritanismus, der neuen Wissenschaft und des Utilitarismus und Rationalismus und auch des beginnenden Journalismus in Misskredit. Die Dame Rhetorik wird ikonographisch zur billig aufgeputzten und grell geschminkten Kurtisane. Dem Bild vom Stil aus dem Kleid der Gedanken (the dress of thought) wird das Bild der ,Nacktheit‘ des Stils entgegengesetzt. Ben Jonson sagt in Epistle to Master John Selden: „Lesse shall I for the Art of dressing care, / Truth, and the Graces best, when naked are.“ Von den Mitgliedern der um 1660 in London gegründeten Wissenschaftsgesellschaft ⫺ Royal Society ⫺ wird „a close, naked, natural way of speaking“ gefordert (Thomas Sprat, History of the Royal Society, Hüllen 1989). Das neue Stilideal des 17. Jahrhunderts ist das des schlichten Stils (plain style). Hier tritt wohl um ersten Mal in der Geschichte des Nachdenkens über den Stil die Vorstellung eines Stils der
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Wissenschaftssprache auf und in diesem Zusammenhang die Schlichtheitsforderung. Der Stil habe nicht nur konzise und dicht an der Sache zu sein (close), sondern auch natürlich und ,nackt‘. Für den Wissenschaftsstil wird später die Vorstellung der Transparenz oder Durchsichtigkeit des Stils propagiert (Kretzenbacher 1995; Müller 1996). In diesem Zusammenhang taucht in Friedrich Gottlieb Klopstocks Gelehrtenrepublik 1974 im Abschnitt Vom guten Gebrauche der Sprache eine interessante visuelle Vorstellung auf, die als eine Umbildung der Figur der Dame Rhetorik gelten kann. Klopstock drückt das Verhältnis zwischen Sprache und Gedanken metaphorisch so aus: „Wie dem Mädchen, das aus dem Bade steigt, das Gewand anliegt, so soll es die Sprache dem Gedanken“ (zitiert nach Müller 1996, 164). In diesem erotischen Bild verbinden sich zwei traditionelle Metaphern für den Stil, die der Nacktheit des Stils und die des Stils als Kleid. Hier tritt uns ein Topos entgegen, der seit der Antike nichts von seiner Relevanz eingebüßt hat, das optische Bild der perspicuitas, der Durchsichtigkeit des Stils (Müller 1996, 164 f.). Die Vorstellung wird später vielfach mit dem Bild der Fensterscheibe gekennzeichnet: „Style is (like) a window-pane.“ Entsprechend hat man von der „window-pane theory“ gesprochen (Müller 1996, 165). Die Entstehung des Konzepts des Wissenschaftsstils ist somit an die neuzeitliche Stilepoche gebunden, in der das Ideal der Schlichtheit des sprachlichen Ausdrucks aufkommt. Im Rahmen dieser Entwicklung spielt auch die Gattung des Briefs eine herausragende Rolle. Der Brief in der Form des Privatbriefs gehört traditionell in das genus humile. Von der Gattung fordert der bedeutende niederländische Briefschreiber und Theoretiker Justus Lipsius, dass sie ,nackt‘, von aller rhetorischer Ausschmückung frei sein müsse ⫺ „a` cultu omni nudum“ (zitiert nach Müller 1980, 146). Die Gattung des Briefs wird hier zum Exempel eines anticiceronianischen Stilideals. Dass eine Gattung wie der Brief zur Bildung eines Epochenstils beitragen kann, zeigt sich auch in wegweisender Form in Gellerts Praktische[r] Abhandlung von dem guten Geschmack in Briefen (1751), wo die Loslösung des Briefs von der rhetorischen Dispositionslehre und von den Konventionen der Galanterie und den Standesrücksichten des Kanzlei- und Komplimentierstils vollzogen und ein Natürlichkeitsideal propagiert wird. Eine große stilgeschichtliche Wende ereignete sich in Europa in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Kulturgeschichtlich lassen sich die Entwicklungen, die hier stattfinden, anhand eines Stilverständnisses erläutern, das auf gesellschaftliches Verhalten bezogen ist. Diesem zufolge wird Stil als ein „Mittel zur Steigerung sozialer Sichtbarkeit“ verstanden (Assmann 1986, 127). Ein Beispiel dafür zeigt sich in England in der klassizistischen Anwendung der Kleidermetapher auf den Stil. Um die klassizistische Auffassung vom Stil zu verstehen, muss man wissen, dass, nachdem im 17. Jahrhundert für die unterschiedlichsten Arten des Schrifttums von der Predigt über philosophische und wissenschaftliche Traktate bis hin zur Dichtung Schlichtheit, ja Nacktheit des Stils gefordert worden war, gegen Ende des Jahrhunderts und am Anfang des 18. Jahrhunderts der Ornatus rehabilitiert und der Nacktheitstopos verdrängt wurde (Müller 1981, 69⫺82). Die immer wieder zitierte Äußerung von Lord Chesterfield im Brief an seinen Sohn vom 24. 11. 1749 „Style is the dress of thoughts“ bringt das klassizistische Stilverständnis auf den Punkt. Dieses neue Ornatus-Konzept unterscheidet sich von der Schmuckrhetorik in der Renaissance dadurch, dass die Vorstellung von der Einkleidung der Gedanken durch den Stil mit dem Ideal der Prägnanz, Eleganz und Geschliffenheit des sprachlichen Ausdrucks verbunden wird. Ein Beispiel dafür ist die Definition von Wit [Scharfsinn, Geist, Ingenium], welche die Kleidermetapher verwendet, in dem folgenden Verspaar aus Alexander Popes Essay on Criticism: „True Wit is Nature to advantage dress’d; / What
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oft was thought, but ne’er so well express’d“ (1711, 297 f.). Wie schon die Schmuckästhetik der Renaissance im Rahmen der höfischen Kultur gesellschaftlich gebunden ist, ist auch das Ornatus-Verständis des Klassizismus unlösbar sozial bedingt. Alexander Popes Definition des Stils (expression) als Einkleidung des Gedankens im Essay on Criticism ist normativ mit dem Gesetz der sozialen Schicklichkeit (decorum) verbunden, das man zu befolgen hat: „Expression is the dress of thought, and still / appears more decent, as more suitable“ (1711, 318 f.). Einige Verse später wird ebenfalls mit der Kleidermetapher ein Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Stil formuliert: „For diff’rent styles with diff’rent subjects sort, / As several garbs with country, town, and court“ (1711, 322 f.). Assmann spricht mit Bezug auf diese Stelle von der „Verbindung zwischen Stil als äußerlichem Gewand des inneren Gedankens und Stil als sozialem Indikator“ (Assmann 1986, 135). Das Konzept von „Stil als sozialer Identität (im Sinne von Pope und Shaftesbury)“ nimmt im Laufe des 18. Jahrhunderts allerdings „immer mehr die Konnotationen der Heteronomie und Affektation“ an, bis es schließlich von einem „neuen Konzept von Stil als personaler Identität mit Konnotationen der Autonomie und Authentizität“ abgelöst wird (Assmann 1986, 139). Hier zeichnet sich der Wandel vom Klassizismus zur Romantik (einschließlich der vorausgehenden Epochen der Empfindsamkeit und ⫺ in Deutschland ⫺ des Sturm und Drang) ab. Dieser Wandel zeigt sich, um es zusammenzufassen, in dreifacher Hinsicht: 1. Die Unterordnung des Stils unter das Regelwerk der Rhetorik, vor allem der Schmucklehre (Ornatus), wird aufgehoben und unmittelbarer Gefühlsausdruck gefordert. 2. Der Stil wird nicht mehr als Einkleidung, sondern als Inkarnation der Gedanken bezeichnet. 3. Stil gilt als Ausdruck der Persönlichkeit des Autors. Mit paradigmatischer Klarheit lässt sich der Wandel des Stilverständnisses vom Klassizismus zur Romantik bei dem englischen Dichter William Wordsworth beobachten. Im programmatischen Vorwort zur zweiten Auflage der Lyrical Ballads von 1800 rechnet er mit dem Epochenstil ⫺ „poetic diction“ ⫺ des Klassizimsus mit seinen Abstraktionen, Personifikationen, Apostrophen und anderen rhetorischen Elementen ab und erklärt, er wolle in seinen Gedichten die wirkliche Sprache der Menschen ⫺ „language really used by men“ ⫺ benutzen. Wordsworth hat dieses Projekt nach seinen Lyrical Ballads nicht weiter verfolgt. Für die Romantik als Stilepoche ist die Verdrängung des Topos vom Stil als Einkleidung der Gedanken durch Wordsworth kennzeichnend, der den Stil als Inkarnation der Gedanken, „incarnation of the thought“ versteht (Essay upon Epitaphs 3, 1810, zit. nach W. G. Müller 1981, 90). Subjektivistischer noch ist Jules Michelets Definition „le style n’est que le mouvement de l’aˆme“ [Der Stil ist nichts als die Bewegung der Seele] (Mon journal, 4. 7. 1820, zitiert nach Müller 1981, 98). Für die Romantik und die folgenden Epochen ist Buffons berühmtes Wort aus dem Discours prononce´ a` l’Acade´mie Franc¸aise von größter Bedeutung: „le style est l’homme meˆme“. Eigentlich im Sinne des Stils als Ausdruck eines allgemeinen Menschenbilds (honneˆte homme) gedacht, ist Buffons Definition von der Romantik an als die definitive Formel für den individualistischen Stilbegriff interpretiert worden, demzufolge sich im Stil der Geist des Autors manifestiert. In der Romantik ist die Vorstellung des Individualstils mit dem Genie-Konzept verbunden. Demgemäß lässt sich Mme de Stae¨ls Traktat De l’Allemagne „als auf den ,deutschen Geist‘ und den ,französischen Geist‘ projizierte Konfrontation dieses Begriffs (,le langage du beau ge´nie‘) mit der alten Regelpoetik lesen“ (Gumbrecht 1986, 751). Eine epochale Wende des individualistischen Verständnisses des Stils zeigt sich im Ästhetizismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sie wird vorweggenommen in George
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Henry Lewes’ Diktum „The Principle of Beauty is another name for Style“ (zitiert nach Müller 1981, 139) und weiter ausgeführt in Walter Paters Essay Style (1888), wo der Stil insofern mit dem Menschen gleichgesetzt wird, als er ein „absolut getreues Erfassen dessen, was ihm [dem Menschen] am wirklichsten ist“ („absolutely sincere apprehension of what is most real to him“, Pater 1895, 34) darstellt. Ästhetizistisch und gleichzeitig symbolistisch ist Paters Stilbegriff insofern, als er im Stil eine Übertragung des Innerseelischen in unpersönlich-objektive künstlerische Form sieht. Die Debatte über den Stil ist zur Debatte über das Wesen der Kunst geworden. Eine weitere zeitgemäße Tendenz in Paters Stiltheorie ist sein Verständnis des Stils als Sehform. Damit steht er in der Tradition von Flaubert, der den Stil als „tout seul une manie`re absolue de voir les choses“ [ganz allein eine absolute Art, die Dinge zu sehen] (Brief an L. Colet vom 16. 1. 1852, zit. nach W. G. Müller 1981, 165) definiert, und weist auf Marcel Proust voraus, für den der Stil „une qualite´ de la vision, la re´ve´lation de l’univers particulier“ [eine Qualität des Sehens, die Offenbarung des partikulären Universums] ist (zitiert nach Müller 1981, 165). Es ist aufschlussreich, dass die literarische Stiltheorie hier ⫺ besonders in der Definition des Stils als Sehform ⫺ mit wichtigen Tendenzen der Stiltheorie in der Kunsttheorie und Wissenschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts konvergiert. Dabei handelt es sich um die Zeit, in der zunächst mit Blick auf die bildende Kunst das Konzept der Epochenstile ausgebildet wurde.
4. Epochenstile in der Kunst- und Literaturgeschichte Grundsätzlich ist festzustellen, dass Stil als Kategorie nicht aus der Kunstgeschichte wegzudenken ist. Die Abfolge Romanik, Gotik, Renaissance, Barock und Klassizismus, die durch den jeweiligen Epochenstil bestimmt ist, wird nicht in Zweifel gezogen. Schwieriger stellt sich die Situation im 19. Jahrhundert dar, für das vielfach der Ausdruck Historismus verwendet wird, und im 20. Jahrhundert, das unter dem Zeichen der Moderne steht. Engere Kategorien wie Impressionismus und Expressionismus haben sich durchgesetzt. Jeder der großen Zeitstile hat eine spezifische Verlaufsgeschichte mit Übergangs-, Früh-, Hoch- und Spätstilen. Zwischenperioden sind der Manierismus, der zum Barock überleitet, und das Rokoko als Spätphase des Barock. Die Schwierigkeiten der Klassifikation und inhaltlichen Bestimmung der Kunstprozesse des 19. und 20. Jahrhunderts hat Jost Hermand in seinem Werk Stile, Ismen, Etiketten (1978) reflektiert (Möbius 1984, 12). Die Epochenbegriffe als solche mögen „leer, unlogisch und unsystematisch“ (Möbius 1984, 13) sein, aber sie haben sich als Etikette für die Benennung zeitlich zusammengehörender Kunstprozesse und die „faszinierende Umrüstung des Formenapparates von Epoche zu Epoche“ (Möbius 1984, 13) bewährt. ⫺ Der Begriff des Epochenstils zeichnet sich erstmals deutlich in der Kunsttheorie des Klassizismus ab, in welcher der Stilbegriff erweitert wird und außer dem Ingenium des Künstlers die Gesamtheit der distinkten Merkmale des Kunstwerks sowie die Prägung durch die Epoche und die Nation umfasst. Johann Joachim Winckelmann ist der erste Theoretiker, der den Stilbegriff systematisch auf die Kunstgeschichte anwandte. Er unterscheidet „Stile der Völker, Zeiten und Künstler“ (Geschichte der Kunst des Altertums, Vorrede, Winckelmann 1964, 7). Eine zentrale Rolle spielt das Konzept der verschiedenen Stile der Zeiten. Am Beispiel des Wachstums und Falles der griechischen Kunst stellt er ein Entwicklungsmodell dar, dessen Phasen aus
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vier Stilen bestehen, dem archaischen, dem erhabenen, dem schönen und den nachahmenden. Wenn Winckelmanns Kunsttheorie auch normativ-klassizistisch ist, so macht die Einführung des historischen Stilkonzepts ihn doch zum „eigentlichen Begründer der Kunstgeschichte“ (A. Müller 1981, 124). Im Bereich der Kunsttheorie wurden Winckelmanns stilgeschichtliche Betrachtungen weiterentwickelt (u. a. durch Alois Riegel und Gottfried Semper). Nur sehr vereinzelt bezieht sich Winckelmann auf Parallelen zu den von ihm eruierten Stilepochen in der Literatur. Auf stilistische Merkmale von literarischen Zeitaltern und Völkern weist Friedrich Schlegel in seinem Gespräch über Poesie (1800) zwar hin, er spricht etwa mit Bezug auf Petrarca, Boccaccio und Dante vom „alten Styl der modernen Kunst“ (Schlegel 1967, 298), aber Unterscheidungen im Sinne Winckelmanns fehlen. Bis zur Übertragung kunstgeschichtlicher Epochenbegriffe auf die Literatur sollte es noch über hundert Jahre dauern. Von größter Bedeutung für die Diskussion über Epochenstile in der Kunst- und später auch in Literaturwissenschaft ist Heinrich Wölfflins Typologie der autonomen Sehform, die er der Individualästhetik entgegensetzt, welche als Ursprung des Stils die Ausdruckskraft des Individuums sieht. Zunächst arbeitete Wölfflin in der seiner Schrift Das Problem des Stils in der bildenden Kunst (1912) im Vergleich von Renaissance- und Barockkunst kategoriale Grundformen heraus, die Oppositionen von Linearem und Malerischem, von geschlossener und offener Form, Vielheitlichem und Einheitlichem und von Klarheit und Unklarheit. Vor Wölfflin bereits erscheint der Begriff Barockstil bei Nietzsche in einer Skizze in Menschliches, Allzumenschliches (1878, 2. Bd., 144), wo der endzeitliche dionysische Barockstil dem apollinischen Stil der Klassik gegenüberstellt wird. Als Grund für den Übergang von der Renaissance zum Barock gab Wölfflin einen Wechsel in der Art des Sehens an. Er wollte zeigen, wie verschiedene Sehweisen zu verschiedenen Kunststilen führten. In seinen späteren Arbeiten, namentlich Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (1915), weitet Wölfflin seine Epochenbegriffe von der Bezeichnung für Zeitstile zu überzeitlichen Stilkategorien aus. Er leitet damit eine phaseologische Betrachtung der Kunstgeschichte ein: Die Stilentwicklung vollzieht sich nicht linear, sondern in einem Pendeln zwischen den polaren Gegensätzen von Klassik und Barock, eine Theorie, die E. Gombrich (1966) wieder aufgenommen hat. Wölfflins Ausweitung seines kunsthistorischen Stilbegriffs ins Geistesgeschichtliche, seine Konzeption der „Grundbegriffe“ als geistiger Auffassungsweisen, die durch die „Gesamtphysiognomie des Zeitalters“ bedingt sind (Wölfflin 1963, 29), ist sicher von Ernst Cassirers früher Erkenntnistheorie beeinflusst (Kluge 1977, 577 f.), in der von „wissenschaftlichen Grundbegriffen“ die Rede ist, einem „Grundsystem letzter allgemeiner Begriffe und Voraussetzungen“, aufgrund deren eine Epoche „die Mannigfaltigkeit des Stoffes, den ihr Erfahrung und Beobachtung bieten, meistert und zur Einheit zusammenfügt“ (Cassirer 1911, Bd. I, V). Wölfflins Kategorien sind immer wieder dahingehend kritisiert worden, dass sie zu einer Vereinfachung der kunsthistorischen Entwicklungen führen (Steadman 1990). In unmittelbarer Reaktion auf die Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe kritisiert Erwin Panofsky (1915), Wölfflin habe nur eine kunsttheoretisch mögliche Antithetik schematisch auf die Kunstgeschichte übertragen, „lineares“ und „malerisches“ Sehen z. B. seien nicht „StilWurzel“ oder „Stil-Ursache“, sondern sekundäre Merkmale von Stil-Haltungen, die der Erklärung bedürfen (Panofsky 1992, 25). Trotz derartiger Einwände kann kein Zweifel daran bestehen, dass Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe „den Beginn jener wissenschaftsgeschichtlichen Phase markieren, welche durch die Dominanz der Stilforschung als Paradigma geprägt ist“ (Gumbrecht 1986, 771). Neuere Kunsthistoriker ha-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
ben seinen Ansatz modifiziert. So steht Marc Eli Blanchard zwar in der Tradition Wölfflins: „Die Definition des Stils ist die essentielle Vorbedingung für die Definition historischer Epochen, wie sie von der Kunstgeschichte reflektiert werden“ (Blanchard 1986, 565). Er setzt sich aber von seinem Vorgänger ab, wenn er die Kategorie des Sehens neu bestimmt. Stil sei „nicht bezogen auf die physische Operation des Sehens, sondern auf die vom Künstler verwendeten Verfahren […], mittels derer das Visuelle dem Bewußtsein vermittelt wird.“ Das Historische am Stil sieht er in der Erzeugung eines multiplen Kommunikationssystems, „das die Ideologie einer Epoche hervorbringt“ (Blanchard 1986, 572). Wenn Wölfflin eine Brücke schlägt vom Weltverhältnis des Auges „zum Stil und zum Geist der Zeit“ (Möbius 1984, 14), eröffnet er Möglichkeiten der Epochenbestimmung durch den Stil, die auch von anderen Kunstmedien, z. B. der Literatur, genutzt werden konnten. Die Reflexion über Literaturepochen im geistesgeschichtlichen Kontext, wie sie sich etwa in Wilhelm Diltheys Werk Das Erlebnis und die Dichtung (1906) zeigt, wartete gewissermaßen auf praktikable Kategorien für die Kennzeichnung von literarischen Epochenstilen. Ein Modell dafür bot sich in Wölfflins Neufundierung der Kunstgeschichte an. 1917 wandte Oskar Walzel in seiner Schrift Wechselseitige Erhellung der Künste Wölfflins Kategorien auf die Literaturgeschichte an. Er nahm seinen Ansatz 1923 in dem Werk Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters wieder auf. Walzel ist der Begründer der Methode der wechselseitigen Erhellung der Künste. Dabei handelt es sich um interdisziplinäre Versuche, durch die Übernahme von Begriffen und Methoden verwandter Wissenschaften die jeweilige Erkenntnisbasis zu erweitern, eine Methode, die in modifizierter Form noch später aktuell blieb, z. B. bei Wiley Sypher (1955), der Analogien zwischen literarischen und bildnerischen Stilen kulturgeschichtlich begründet. Im Grunde handelt es sich bei Walzels Projekt um einen „Austausch der Fachterminologie“ (Kluge 1977, 575). Zuvörderst geht es ihm darum, „das Bedürfnis nach eindeutigen Ausdrücken für künstlerische Tatsachen zu befriedigen“ (Walzel 1923, 313). Aber er hofft auch auf tiefere Erkenntnis. Der Literaturhistoriker sollte mit den Augen des Kunsthistorikers sehen lernen, „um gewisse künstlerische Züge besser zu fassen, die ihm seine eigenen Beobachtungsweisen nicht hinreichend enthüllen“ (Walzel 1917, 9). Walzel greift nur auf ein Begriffspaar von Wölfflin zurück, das von geschlossen (tektonisch) und offen (atektonisch): „Das eigentlich Bedeutsame war mir die Scheidung künstlerischer Formmöglichkeiten in zwei große Gruppen, die einander gegensätzlich gegenüberstehen, die Bestimmung eines geschlossenen, streng tektonischen und eines offenen, gelösten, entbundenen, atektonischen Stils“ (Walzel 1917, 42). Eine Bestätigung der Zweipoligkeit seines Stilbegriffs sieht er in den Oppositionen von naiv und sentimentalisch (Schiller) und von objektiv und interessant (Schlegel), Oppositionen, wie sie in der Zeit auch von Nietzsche (apollinisch ⫺ dionysisch) und Worringer (Abstraktion und Einfühlung, 1908) formuliert wurden. So ordnet Walzel Shakespeare dem Barock und Racine und Corneille der Renaissance zu. Man hat ihm vorgeworfen, dass er Wölfflin falsch verstanden habe und sein Stilverständnis rein typologisch sei und das Historische ausschließe (Kluge 1977; Rosenberg 1986), aber Walzel ist sich durchaus der Problematik seines Vorgehens bewusst und hat eine fruchtbare Diskussion ausgelöst. Eine Zweipoligkeit des Stilbegriffs findet sich auch bei Walzels Nachfolger Fritz Strich, der eine Hin- und Herbewegung in der Stilgeschichte zwischen den Polen Vollendung (Klassik) und Unendlichkeit (Romantik) annimmt: Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit (1922). In Strichs Grundbegriffen bezeugt sich in zweifacher Weise das Streben des Geists zur
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Ewigkeit, einmal im Sinne des Vollendeten, das zeitlos „durch die Zeit dauert“, und dann im Sinne des Unendlichen, das „niemals enden kann, weil es niemals vollendet ist“ (Strich 1922, 6). Die folgende programmatische Äußerung Strichs macht deutlich, dass die von Wölfflin inspirierte Stilforschung in die Geistesgeschichte übernommen wurde: „Man nennt die einheitliche und eigentümliche Manifestation der ewigen Grundform in der Zeit, die charakteristische Gestalt, in welcher sie zu einer Zeit erscheint, den Stil dieser Zeit. Der Stil ist also die zeitliche Erscheinung des zeitlosen Menschentums. Die Dauer und der Wechsel des Geistes finden gleichermaßen in ihm den Ausdruck. Darum ist Geistesgeschichte notwendig Stilgeschichte“ (Strich 1922, 5). Strichs Werk firmiert zwar als Stilgeschichte, gehört aber in den Bereich der zu seiner Zeit dominierenden Geistesgeschichte, die sich ebenfalls mit dem Epochenstil befasste. Als einer der charakteristischen Vertreter dieser von der Geistesgeschichte dominierten Richtung der Literaturwissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre sei Emil Ermatinger erwähnt, der wie andere in dieser Zeit vom Zeitstil statt vom Epochenstil spricht. Er versucht, die charakteristischen Merkmale von Literaturepochen aufzuspüren. Zugrunde liegt seinen Darlegungen ein „Idee-Erlebnis“, aus dem sich ein Weltbild entwickele und nach künstlerischem Ausdruck verlange. In den stufenmäßigen Wandlungen der Zeiten änderten sich auch die Stilformen, so dass sich eine Folge von Stilphasen herausbilde. Phasenwechsel findet er jeweils nach zwei Generationen. Er behandelt den Zeitraum von 1640 bis 1900 und identifiziert eine Folge vom „Zeitalter des Barockstils“ über das „Zeitalter des Rokokostils“ und „das Zeitalter des Sturm und Drang, der Klassik und der Romantik“ bis zum „Zeitalter des Realismus“, das er mit dem „Impressionismus“ enden lässt (Ermatinger 1926, 615⫺650). Wie problematisch eine solche Einteilung ist, zeigt sich darin, dass er auf eine verhältnismäßig kurze Epoche wie das Rokoko eine große Epoche folgen lässt, in der sich Sturm und Drang, Klassik und Romantik verbinden. Weniger forciert ist dagegen Paul Böckmanns Verfahren, dessen Formgeschichte der deutschen Dichtung sich explizit an den „höheren Einheiten der Epochenstile“ orientiert (Böckmann 1978, 28 f.). In der Tradition der Zweipoligkeit des Stilbegriffs von Walzel und Strich steht die Untersuchung von Gerhard Storz Klassik und Romantik (1972), die stilgeschichtlich verfährt, ohne sich einer „abstrahierenden Systematik“ (Storz 1972, 12) zu verschreiben. Der Stilbegriff bleibt dabei allerdings vage, wenn er „als notwendige, aus einem tiefer liegenden Wurzelgrund erwachsene Prägung“ defininiert wird, die „nur am jeweiligen, konkreten Ganzen einer Dichtung zuverlässig wahrgenommen werden kann“ (Storz 1972, 12). Statt „Stil“ verwendet Florian Gelzer (2006) den Begriff „Schreibmodus“, um die Opposition „romantisch-komisch“ zu erfassen. Einer der wenigen Literaturwissenschaftler, die noch mit Wölfflins Begriffsoppositionen arbeiten, ist Volker Klotz mit seinem Werk Offene und geschlossene Form im Drama (1960), das nur eines der Begriffspaare verwendet, das „einander diametral entgegenstehende Stiltendenzen“ der neueren deutschen Dramatik [zu] erfassen helfen“ soll (Klotz 1960, 14). Wenn Erich Auerbachs Werk Mimesis (1946) auch nicht in der Tradition der immanentistischen Stilanalyse steht, so geht er in seiner Erforschung des Realismusbegriffs in der Literatur doch von der antiken Vorstellung der drei Stilebenen aus, und sein Versuch, Stilarten als Wirklichkeitsmodelle durch intensive Textarbeit zu eruieren, scheint von dem Vorbild zweipoliger Stilkonzeptionen beeinflusst zu sein, etwa wenn er in einem Vergleich eines homerischen Texts (19. Gesang der Odyssee) und eines alttestamentarischen Texts (Opferung Isaaks) zwei gegensätzliche „Stilarten“ erkennt und damit einen „Ausgangspunkt für Versuche über die literarische Darstellung des Wirklichen in der europäischen Kultur“ gewinnt (Auerbach 1946, 26).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Ein Problem, das weniger in der Kunstgeschichte als in der Literaturwissenschaft auftritt, ist das Postulat von Zwischenepochen, etwa der des Manierismus zwischen Renaissance und Barock (Hauser 1964). Ist schon der Barockbegriff selbst umstritten (z. B. Bahner 1976; Barner 1971, 1975; Sowinski 1994, Sp. 324 f.; Lepper 2006), so stellt der Manierismus ein geradezu unlösbares Problem dar. Stilforscher aus verschiedenen Kunstmedien haben sich den Kopf darüber zerbrochen, wie Manierismus und Barock zu unterscheiden sind, und darauf hingewiesen, dass beide Stilepochen mit Stiltendenzen in der Renaissance und mit anderen zeitgenössischen Stiltendenzen wie dem concettismo (marinismo, gongorismo) und dem Stil der metaphysical poetry (Steadman 1990) zusammenhängen. ⫺ Dass ein zu enger Begriff des Epochenstils problematisch ist, zeigt die Monographie von Richard Hammann und Jost Hermand Stilkunst um 1900 (1967), die in einem beschränkten Zeitraum „eine Anzahl deutlich unterschiedener Stilarten beobachten, die sich nur mit einiger Gewagtheit unter einem gemeinsamen Epochenbegriff vereinigen lassen“ (Hammann/Hermand 1967, 208). Die Autoren unterscheiden in der Stilwende um 1900 (1) eine „ästhetisch-dekorative“ Phase, die man auch als „stilisierten Impressionismus“ bezeichnen könne, deren Auftakt der „Neoimpressionismus“ bilde und die im Zusammenhang stehe mit dem „Jugendstil“, dem „Stimmungslyrismus“ und dem „Symbolismus“, (2) eine „volkhaft-monumentale“ Phase, die durch eine „volkhafte Heimatkunst“ eingeleitet wurde, die im „Stimmungshaften“ wurzelte und sich zu einer „Blut-und-Boden-Kunst mit ausgesprochen präfaschistischen Akzenten entwickelte, während sich die verwandte „Monumentalkunst“ dieser Jahre höhere Ziele setzte, „wo sich der wachsende Formanspruch auch auf das Religiöse, Nationale und Personenkultische auszudehnen beginnt“, (3) die „werkbetont-sachliche“ Phase, ein „Purismus“, der sich am Leitbild einer werkbetonten Sachlichkeit orientiert und bei dem „Stil“ weitgehend mit „Qualitätsarbeit“ gleichgesetzt wird (Hammann/Hermand 1967, 209 f.). Hammann und Hermand weisen daraufhin, dass das durch sie entwickelte Einteilungsprinzip „nicht absolut genommen werden“ dürfe, sondern lediglich dazu diene, „bestimmte Modellsituationen herauszupräparieren“ (Hammann/Hermand 1967, 210 f.). Die Fülle von Stiltendenzen an der Jahrhundertwende ist ein Zeichen einer Epoche, die vom Stil besessen war, der über das eigentlich Ästhetische hinaus eine Weltanschauung war, „die alle Lebensbereiche in sich einzuschließen versucht“ (Hammann/Hermand 1967, 205). Nicht umsonst gibt es in dieser Epoche mit Jugendstil einen Terminus, der das Wort Stil enthält. Von einer Stilepoche lässt sich also trotz der Vielfalt und des Facettenreichtums der einzelnen Stilbewegungen vielleicht doch sprechen. Ein vergleichbarer, wenngleich nicht so stark ausgefächerter Stilpluralismus lässt sich auch in anderen Epochen, etwa der Renaissance, erkennen.
5. Fazit Laut Hans Georg Gadamer ist der Begriff des Stils „eine der undiskutierten Selbstverständlichkeiten, von denen das historische Bewußtsein lebt“ (Gadamer 1975, 466). Wenn man einen weiten Stilbegriff ansetzt, der das gesamte künstlerische Verhalten des Menschen bis hin zu gesellschaftlich wahrnehmbaren Formen der Lebensgestaltung einbezieht, dann erschließt die Stilgeschichte Etappen der „Geistes- und Mentalitätsgeschichte“ (Gumbrecht 1986, 729). In der Geschichte der Kunst und Literatur lässt sich
75. Epochenstil/Zeitstil
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ein fortwährender Prozess der Umrüstung des künstlerischen „Formenapparates von Epoche zu Epoche“ feststellen (Möbius 1984, 13). Epochenbegriffe wie Romanik, Gotik, Renaissance, Barock, Rokoko, Klassik, Romantik, Realismus, Naturalismus, Impressionismus, Expressionismus etc., die in hohem Maße durch Wandlungen des Stils und des Stilverständnisses definiert sind, sind im Nachhinein durch Wissenschaftler festgelegt, worden. Die Benennungen der Epochenstile als solche haben wenig Aussagekraft, aber das Phänomen des Epochenstils ist, wenn sich auch kaum monolithische Stilepochen ausmachen lassen und es Kontinuitäten über die Zeiten hinweg und Parallelentwicklungen und Überlappungen gibt, eine nützliche Kategorie im stilgeschichtlichen Diskurs. Der Begriff Epochenstil/Zeitstil rechtfertigt sich nicht allein dadurch, dass sich für einzelne Epochen unbestreitbar charakteristische Stile ausmachen lassen, sondern auch dadurch, dass sich der spezifische Stil einer Zeit maßgeblich zur Definition einer Epoche heranziehen lässt.
6. Literatur (in Auswahl) Adolph, Robert (1968): The Rise of Modern Prose Style. Cambridge, Mass./London. Assmann, Aleida (1986): „Opting in“ und „opting out“. Konformität und Individualität in den poetologischen Debatten der englischen Aufklärung. In: Gumbrecht Pfeiffer (1986), 127⫺143. Auerbach, Erich (1946): Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern/München. Bahner, Werner (Hrsg.) (1976): Renaissance ⫺ Barock ⫺ Aufklärung. Epochen- und Periodisierungsfragen. Kronberg. Barner, Wilfried (1971): Stilbegriffe und ihre Grenzen. Am Beispiel „Barock“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 45, 302⫺326. Blanchard, Marc Eli (1986): Stil und Kunstgeschichte. In: Gumbrecht/Pfeiffer (1986), 559⫺573. Böckmann, Paul (1978, 1. Aufl. 1949): Formgeschichte der deutschen Dichtung. Hamburg. Cassirer, Ernst (1911): Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Bd. 1. 2. Aufl. Berlin. Curtius, Ernst Robert (1993): Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen/Basel. Ermatinger, Emil (1926): Zeitstil und Persönlichkeitsstil. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 4, 615⫺ 651. Falk, Walter (1980): Stil und Epoche. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 12, 98⫺114. Fix, Ulla/Hans Wellmann (Hrsg.) (1997): Stile, Stilprägungen, Stilgeschichte. Heidelberg. Gadamer, Hans Georg (1975): Wahrheit und Methode. 4. Aufl. Tübingen. Gelzer, Florian (2006): Romantisch-komisch: zu einem literarischen Modus in der deutschen Literatur zwischen Frühaufklärung und Klassik. In: German Life and Letters 59, 323⫺343. Gombrich, Ernst H. (1966): Norm and Form. The Art of the Renaissance. London. Gumbrecht, Hans Ulrich/Ludwig Pfeiffer (Hrsg.) (1986): Stil. Geschichte und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M. Gumbrecht, Hans Urich (1986): Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs. In: Gumbrecht/Pfeiffer (1986), 726⫺788. Gumbrecht, Hans Ulrich (2003): Stil. In: Klaus Weimar/Harald Fricke/Jan-Dirk Müller (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin/New York, 509⫺513. Hamann, Richard/Jost Hermand (1967): Stilkunst um 1900. Berlin. Hauser, Arnold (1964): Der Manierismus. Die Krise der Renaissance und der Ursprung der modernen Kunst. München. Hermand, Jost (1978): Stile, Ismen, Etiketten. Zur Periodisierung der modernen Kunst. Wiesbaden.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil
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Walzel, Oskar (1923): Gehalt und Gestalt im sprachlichen Kunstwerk. Berlin. Winckelmann, Johann Joachim (1964): Geschichte der Kunst des Altertums. Weimar. Wölfflin, Heinrich (1912): Das Problem des Stils in der bildenden Kunst. In: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 572⫺578. Wölfflin, Heinrich (1963): Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Erstausgabe 1915. Basel. Worringer, Wilhelm (1908): Abstraktion und Einfühlung. München.
Wolfgang G. Müller, Jena (Deutschland)
76. Stile wissenschatlichen Denkens 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Einleitung Stil als kulturwissenschaftliches Diskurselement Stil als wissenschaftshistorische Kategorie Wissenschaftshistorische Kontroversen Anwendungen und Grenzen des Stilbegriffs Zusammenfassung Literatur (in Auswahl)
Abstract The term style looks back on a long tradition as a descriptive element in the history of literature. Since the Renaissance, a spreading of style from the history of literature to the history of art and from there to other humanities can be observed. Since the beginning of the last century, the term has increasingly been used also (even as an element of discourse) in the epistemology and the history of science and technology. This proliferation of style calls for an explanation. Has it simply been borrowed from art history, as some historians argue? In this contribution, we will analyze the history of style anew and claim that it has been discovered independently in the emerging field of history of science and technology at the beginning of the twentieth century, when the historians’ focus shifted from so-called internal to external determinants of scientific thinking. The positivistic ideal of an unitarian and universal science revealing ultimate truth was called into question in favor of economic, ethnic, geographic, national, regional or even individual factors influencing thought; in short, of factors aggregately called a style. The advantages and limitations of this element of historic discourse will be discussed.
1. Einleitung Der Romanist und Literaturhistoriker Hans Ulrich Gumbrecht diagnostizierte eine Proliferation des Stils: „Eine Form des Verhaltens und Handelns, die über Jahrtausende als
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Walzel, Oskar (1923): Gehalt und Gestalt im sprachlichen Kunstwerk. Berlin. Winckelmann, Johann Joachim (1964): Geschichte der Kunst des Altertums. Weimar. Wölfflin, Heinrich (1912): Das Problem des Stils in der bildenden Kunst. In: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 572⫺578. Wölfflin, Heinrich (1963): Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Erstausgabe 1915. Basel. Worringer, Wilhelm (1908): Abstraktion und Einfühlung. München.
Wolfgang G. Müller, Jena (Deutschland)
76. Stile wissenschatlichen Denkens 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Einleitung Stil als kulturwissenschaftliches Diskurselement Stil als wissenschaftshistorische Kategorie Wissenschaftshistorische Kontroversen Anwendungen und Grenzen des Stilbegriffs Zusammenfassung Literatur (in Auswahl)
Abstract The term style looks back on a long tradition as a descriptive element in the history of literature. Since the Renaissance, a spreading of style from the history of literature to the history of art and from there to other humanities can be observed. Since the beginning of the last century, the term has increasingly been used also (even as an element of discourse) in the epistemology and the history of science and technology. This proliferation of style calls for an explanation. Has it simply been borrowed from art history, as some historians argue? In this contribution, we will analyze the history of style anew and claim that it has been discovered independently in the emerging field of history of science and technology at the beginning of the twentieth century, when the historians’ focus shifted from so-called internal to external determinants of scientific thinking. The positivistic ideal of an unitarian and universal science revealing ultimate truth was called into question in favor of economic, ethnic, geographic, national, regional or even individual factors influencing thought; in short, of factors aggregately called a style. The advantages and limitations of this element of historic discourse will be discussed.
1. Einleitung Der Romanist und Literaturhistoriker Hans Ulrich Gumbrecht diagnostizierte eine Proliferation des Stils: „Eine Form des Verhaltens und Handelns, die über Jahrtausende als
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Privileg der (Sprach-)Künstler galt, ist zur alltäglich dominanten Form des Verhaltens und Handelns geworden. Genau auf diese Strukturverschiebung im Bereich sozialer Aktion […] verweist das Proliferieren des einst ausschließlich den Künstlern und dem Kunstwerk attribuierten Stilbegriffs“ (Gumbrecht 1986, 777). Ein Blick auf die Wissenschaftsgeschichte scheint Gumbrechts These zu untermauern: Seit etwa Mitte der achtziger Jahre hat der Begriff des Stils auch in der Wissenschaft, genauer, in deren Historiographie, Konjunktur. In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts fanden zahlreiche internationale Konferenzen statt, die den Nutzen der Kategorie Stil für die Historiographie der Wissenschaften, und zwar sowohl der Geistes- als auch der Naturwissenschaften, thematisiert haben. Das Thema ist seitdem unverändert aktuell, was der reichliche Gebrauch des Begriffs Stil in der Wissenschafts- und Technikgeschichte beweist, ohne dass dabei jedoch Einvernehmen über Rolle und Tragweite des Begriffs erzielt worden wäre. Hier wird eine Bestandsaufnahme versucht, die von der Frage ausgehen soll, ob es sich in der Tat, wie behauptet wird (Wessely 1991), um die Proliferation einer kunstgeschichtlichen Kategorie in die Geschichtsschreibung der Wissenschaften handelt.
2. Stil als kulturwissenschatliches Diskurselement Stil ist die kulturwissenschaftliche Kategorie par excellence, und dies nicht nur wegen ihrer ubiquitären Verbreitung, sondern auch wegen ihres Alters: Der Begriff ist fast so alt wie unsere abendländische Kultur selbst. ,Am Anfang war die Metapher‘, so könnte eine Geschichte des Stilbegriffs beginnen. Das Wort Stil, so sei hier erinnert, stammt etymologisch gesehen von stilus, dem Wort, das im Lateinischen den Griffel bezeichnet, mit dem der antike Schreiber Worte in die Wachs- oder auch Tontafel ritzte. Stil verweist auf Schriftlichkeit von Überlieferung und damit auf den Beginn schriftlicher Geschichte, eben Geschichtsschreibung. Von der Bezeichnung eines Gegenstandes zur Metapher, die vielfache Konnotationen einschließt, ist es jedoch selbst ein historischer Weg, der etwa in der Zeit Ciceros, also im ersten vorchristlichen Jahrhundert, beschritten wurde. In dieser Zeit begann die Schriftlichkeit der Kultur, die Kultur des Buches also, die mündliche Kultur der Rede in ihrer Bedeutung zu übertreffen. Die Erweiterung des Begriffs setzte an bei der dialektischen Natur des Gegenstandes selbst: Der Griffel hat zwei Enden, das eine, spitze, dient dem Ritzen der Tafel, also dem Schreiben, das andere, stumpfe, aber ihrem Glätten, also dem Löschen des Textes. Das Löschen von Text dient nicht allein der Korrektur von Irrtümern, sondern, im Wechselspiel von Schreiben und Löschen, der Arbeit am literarischen Text schlechthin, also der Suche nach der optimalen Form des Ausdrucks, nach Eleganz, Prägnanz und Schlichtheit. Hier entsteht die Verknüpfung des Begriffs Stil mit ästhetischer Qualität, einer Qualität, die zudem nicht Selbstzweck ist, sondern letztlich der Suche nach Wahrheit dient: Diese Suche nach Erkenntnis, nach Wahrheit im Text, war, wie Gumbrecht unterstreicht, auch Gegenbewegung zur Sophistik, jener Scheinwissenschaft (Sokrates), die allein auf die erfolgreiche Manipulation des Adressaten der Rede abzielte (Gumbrecht 1986, 732). Die Wahrheit, die die Arbeit am Text anstrebt, ist jedoch eine sehr relative, wie schon Plato unterstrich. Die eine, die kosmologische, die eigentliche Wahrheit oder Wirklichkeit, ist nämlich göttlichen Ursprungs und damit dem menschlichen Erkenntnisstreben
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unerreichbar. Was dem Menschen bleibt, sind Bilder, Meinungen, subjektive Ansichten der göttlichen Wirklichkeit. Medium der Vermittlung zwischen der einen, der göttlichen Wahrheit, und der Vielzahl der menschlichen Wahrheiten aber ist der Text, dessen Ausdruck oder Stil zum Synonym wird für die Vielfalt, die Vorläufigkeit, die Unvollkommenheit, die Subjektivität menschlichen Erkennens. Das Mittelalter wurde von dem Glauben dominiert, dass Gott selbst seine Wahrheit all jenen Menschen offenbare, die sich seinem Wort öffnen. Die christliche Weltsicht, ihre Ablehnung einer pluralistischen Weltanschauung, hatte die Zurückdrängung individueller Ausdrucksformen und Stile im literarischen Bereich zur Folge: Der Stilus des Schreibers hatte im wörtlichen Sinn unsichtbar zu bleiben. Selbst im Bereich der säkularen Literatur hatte sprachlicher Schmuck zu unterbleiben, nur Rechtslehre und Rechtspraxis bildeten Enklaven der Subjektkategorie und damit der Möglichkeit einer Reflexion sprachlicher Stile (Gumbrecht 1986, 736). Die Renaissance, mit ihrer Wiederentdeckung des Menschen, erlebte eine Konjunktur des Subjekts und des Stilbegriffs. Die Differenzierung des Wissens, die Entstehung der modernen Naturwissenschaften sowie das aufkeimende Bewusstsein der Nationen und ihr geographischer Drang nach Westen schärfte den Blick für regionale Unterschiede bzw. deren Voraussetzungen, im Besonderen in Kunst und Literatur. Im Bereich der bildenden Künste Italiens entstand der Begriff der maniera, der auf die Machart, die Produktionsregeln, sowie die regionalen Bedingtheiten im Bereich der bildenden Kunst zielte. Maniera konnotierte aber auch Subjektivität des Künstlers, seinen Geschmack, womit der Begriff maniera als Konnotat zum Begriff des Stils hinzutrat, der dadurch selbst seine spezifische Referenz zur geschriebenen Sprache verlor. Die Betonung der künstlerischen Originalität auf Kosten der Tradition, die Hinwendung zur inventio anstelle von imitatio, stimulierte die Suche nach Neuem; in der Literatur im Besonderen zur Orientierung an der Volks- und Alltagssprache und damit, wie Gumbrecht schreibt, zur „impliziten Aufhebung der Prämisse von der einen Wirklichkeit/Wahrheit“ zugunsten einer Pluralität der Welten (und Stile) (Gumbrecht 1986, 748). Die Proliferation des Stilbegriffs, die in der Renaissance ihren Anfang nahm, setzte sich in der Aufklärung fort, wodurch der Begriff weiter an Spezifik einbüßte und wo somit die Ursache für das begriffliche Dilemma zu orten ist, dem wir uns bis heute gegenübersehen. Die für die Renaissance festgestellte Erweiterung des Begriffs von der Literatur auf die bildende Kunst wurde offensichtlich in Richtung der artes mechanicae (und damit in nuce auch der Technik) verlängert: So rubriziert die Encyclope´die von Diderot und d’Alembert unter den Anwendungsbereichen von style nicht allein Literatur, Logik, Musik und Malerei, sondern auch Jagd, Zeitrechnung, Jurisprudenz und Handel (Encyclope´die 15, 551⫺557). Nicht nur im Bereich der Anwendung, sondern auch im Bereich der begrifflichen Interpretation ist fortan eine Mehrsträngigkeit der Entwicklung feststellbar, von der Gumbrecht allein für den Bereich der Literatur drei Stränge unterscheidet. Stil meint danach erstens individuelle Besonderheiten des Sprachgebrauchs, den Stil des Individuums. Die poe´sie du style zielte auf die Emotionen des Lesers, seine Naivität im Sinne von Offenheit gegenüber dem Neuen, wobei sie sich über die Konventionen, die Regeln der Kunstfertigkeit hinwegsetzt. In der Ästhetik der Romantik wird der Individualstil als Ausdruck innerer Einzigartigkeit zum Synonym für den Stil des Genies, der didaktisch nicht zu vermitteln ist. Diese Art des Stils als Zuspitzung von Individualität als Genie ist unvereinbar mit Wissenschaft, denn „Wissenschaft ist universell, Literatur ist persönlich“ (Gumbrecht 1986, 752).
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Der zweite Strang zielt dagegen auf einen kollektiven Stilbegriff, den Epochen- bzw. Nationalstil, der im 19. Jahrhundert seine Konjunktur erlebt und bei Winckelmann seinen Ausgang hat. Es war Johann Joachim Winckelmann, der in seiner 1764 erschienenen Geschichte der Kunst des Altertums die Perioden der bildenden Kunst mit jenen der griechischen Literatur parallelisierte und dabei den Begriff des Stils zur Kennzeichnung von Epochen der klassischen Kunst etablierte. Seitdem ist der Begriff des Stils für die Geschichte von Kunst und Architektur zur Kennzeichnung von Epochen und Regionen unverzichtbar geworden (Winckelmann 1764; cf. Castle 1914, 155). Winckelmann weiterführend gab Mitte des 19. Jahrhunderts Gottfried Semper eine auf die sozialen und materiellen Bedingtheiten künstlerischen Schaffens rekurrierende Definition von Stil. Danach ist es eben nicht allein das Genie des Künstlers, das die künstlerische Hervorbringung bestimmt, vielmehr hängt diese von einer Fülle von begleitenden Nebenumständen ab, die die Lösung der künstlerischen Aufgabe modifizieren. Dazu zählen nach Semper nicht nur der Einfluss des Materials, des technischen Verfahrens oder des Herstellungsprozesses, sondern vielmehr auch lokale und ethnische Einflüsse darauf wie etwa Klima, Geographie, Religion oder Politik (Semper 1860⫺63; cf. Castle 1914, 156). Während diese beiden Stränge der Interpretation bzw. Diskussion von Stil eher die soziale Dimension (Individuum oder Kollektiv) tangieren, berührt der dritte Strang die epistemologische Dimension: Stil wird zum Synonym für die kognitiven Fähigkeiten des Menschen schlechthin. War die Aufklärung der rationalistischen Tradition folgend noch davon ausgegangen, dass die kognitive Ausstattung des Menschen, Vernunft und Logik, ihn in die Lage versetzen, Natur, Wirklichkeit und Wahrheit adäquat zu erkennen, so machte sich etwa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts eine skeptischere Auffassung breit, die die Subjektivität als unausweichliche Bedingung im Erkenntnisprozess hervorhob. Am Beginn dieser Entwicklung steht wohl jener George Louis Leclerc Comte de Buffon, der in seinem berühmten, 1753 anlässlich seiner Aufnahme in die Acade´mie Franc¸aise gehaltenen Discours den Stil zum Synonym für das Erkenntnissubjekt schlechthin werden ließ: „[…] les connoissances, les faits et les de´couvertes […] sont hors de l’homme; le style c’est l’homme meˆme“ [die Erkenntnisse, Fakten und Entdeckungen sich verflüchtigen, sich übertragen und durch geschicktere Hände realisiert werden. Dies alles bleibt außerhalb, der Stil ist der Mensch selbst] (Buffon 1753, 503). Goethe sah im Stil als der Kategorie der Subjektivität die Kategorie des Erkennens schlechthin, da, so Goethe, „jeder Mensch die Welt anders sehen, ergreifen und nachbilden wird“ (Goethe 1789). Bei Goethe meint Stil also ⫺ wie bei Buffon ⫺ die Vollendung der Kunst in ihrer kognitiven Funktion. Kunst (und nicht Wissenschaft) wird zum Instrument der Welterkenntnis; eine Auffassung, die im deutschen Idealismus Zustimmung fand. Das 19. Jahrhundert war damit beschäftigt, diese Weltsicht (in Kunst und Literatur) weiter zu perfektionieren. Stil wurde, um mit Flaubert zu reden, zur manie`re absolue de voir les choses, zur absoluten und höchst individuellen Sicht der Welt, die eine eigene Welt schafft, statt die ehedem eine, äußere, noch verstehen zu wollen. „Der Stil ist […] eine Art des Sehens und Imaginierens (une qualite´ de la vision), die Enthüllung des partikularen Universums, das jeder von uns sieht, und das die anderen nicht sehen“ (Gumbrecht 1986, 765). Nicht nur die Literatur, auch die gerade im Entstehen begriffene Psychoanalyse und mit ihr die phänomenologisch orientierte Philosophie (Husserl) nahmen Abschied von der lang gehegten Illusion, das Ding an sich sei der menschlichen Erkenntnis zugänglich. Diese Hinwendung, dieses Bekenntnis zum Partikularismus und zur Subjektivität konfligierte mit
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den erstarkenden Naturwissenschaften, die sich unter dem Einfluss des Positivismus als letzte Bastion einer auf Allgemeingültigkeit zielenden Wirklichkeitserfassung verstanden: „Die Bewahrung des Glaubens an die eine Wirklichkeit und die Erhaltung des überkommenen Begriffs von ,Wahrheit‘ kamen nun allein der Wissenschaft zu“ (Gumbrecht 1986, 769). So können wir anhand der Geschichte des Stilbegriffs die Entstehung jener inzwischen sprichwörtlichen Trennung der zwei Kulturen nachvollziehen, die danach Resultat eines epistemologischen Bruchs war: des Auseinandertretens von Wahrnehmung und Wahrheit. Stil, so wie ihn das 19. Jahrhundert verstand, wurde damit quasi automatisch zur categoria non grata all jener Wissenschaften, deren Ideale Objektivität und Allgemeingültigkeit (Universalität) waren. Stil, als begriffliche Kategorie subjektiver Anschauung, das war eine Kategorie der Kunst, der Literatur, jener Reiche der Subjektivität also, die auf das Schaffen von Welten anstelle des Verstehens der einen Welt setzten. Hier haben wir den Grund, warum in Geschichten des Stilbegriffs die Geschichte der Naturwissenschaften immer ausgespart geblieben ist: Ihre Autoren, zumeist Literaturhistoriker, wurden Opfer jenes positivistischen Methodenideals der Naturwissenschaften, das, allen Zweifeln zum Trotz, bis in unsere Zeit erfolgreich tradiert wurde. Die Wieder- bzw. Neuentdeckung des Stils in den Naturwissenschaften bahnte sich daher nicht in den systematischen, vom Positivismus dominierten Wissenschaften selbst, sondern im Bereich der erkenntnistheoretischen Reflexion über diese an. Dabei fällt auf, dass von Beginn an die Intersubjektivität menschlicher Erkenntnis nicht in der Weise infrage gestellt wurde, wie dies im Bereich der Kulturwissenschaften geschah. Die Partikularisierung der Welt konnte nur insoweit vollzogen werden, wie die Erkenntnis darüber intersubjektiv nachvollziehbar bzw. vermittelbar blieb.
3. Stil als wissenschatshistorische Kategorie Die Entdeckung des Stils im Bereich der Naturwissenschaften erfolgte zu Beginn des 20. Jahrhunderts und zwar im Bereich der Epistemologie, allerdings zunächst nicht in der Absicht, mit diesem Begriff die Grundstruktur menschlicher Kognition zu beschreiben. Der französische Physiker und Philosoph Pierre Duhem war bei seiner Analyse von Ziel und Struktur der physikalischen Theorien darauf verfallen, von nationalspezifischen Anschauungsweisen der physikalischen Realität zu sprechen. Dem „tiefen, aber engen Denken der französischen Schule“ stellte er das „umfassende, aber schwache Denken der britischen Schule“ gegenüber, ein Gegensatz, der seiner Ansicht nach vor allem in Unterschieden der wissenschaftlichen Methodik, d. h. der Bevorzugung mechanischer Modelle gegenüber analytischer Mathematik, zum Ausdruck kam (Duhem 1908, 79⫺86). Duhem schrieb in einer Epoche, die von Chauvinismen und Nationalismen und vermehrter Konkurrenz zwischen den europäischen Industrienationen geprägt war. Während des Ersten Weltkriegs ist seine Theorie zur Grundlage national-chauvinistischer Polemik geworden (Kleinert 1978, 509). Wenngleich die Ergebnisse der Duhemschen Analyse also, da von nationalen Ressentiments gefärbt, kritisch zu betrachten sind, so kommt Duhem dennoch das Verdienst zu, das Augenmerk auf die Tatsache gelenkt zu haben, dass die Entwicklung der Naturwissenschaften nicht isoliert von ihrem nationalen, politischen und sozialen Kontext gesehen werden darf, einem Kontext, in dem Traditionen, Präferenzen oder Schulen einen dominierenden Einfluss entfalten können.
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil Duhem spricht von Schulen, nicht von Stilen. Schule verweist bereits auf die Bindung kognitiver Traditionen an Institutionen und geht insoweit mit dem Begriff des Stils konform, der jedoch noch eine Fülle weiterer Parameter einbeziehen wird. Zwei Zeitgenossen Duhems, John T. Merz und Thorstein Veblen, gingen über Duhem hinaus, indem sie institutionelle und soziökonomische Aspekte hervorhoben. Ein Vergleich dieser drei Autoren liefert damit eine triadische Struktur dessen, was unter dem Aspekt nationaler Bedingtheit von Wissenschaft konnotiert werden kann, drei Ebenen, die miteinander verknüpft bzw. voneinander abhängig sind (Jamison 1987, 150 f.): (a) kognitive Konzepte bzw. Traditionen (Duhem) (b) Bildungssysteme und Institutionen (Merz) (c) sozioökonomische Ressourcen (Veblen). Diese frühen, z. T. noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden komparatistischen Versuche blieben weitgehend wirkungslos, bis im Zuge der dreißiger Jahre, bedingt z. T. durch marxistische Analysen, eine Renaissance einsetzte. Erwin Schrödinger, Pionier der Quantenmechanik und kulturhistorisch engagierter Querdenker unter den Physikern der dreißiger Jahre, konfrontierte 1932 die preußische Akademie der Wissenschaften mit der Frage Ist die Naturwissenschaft milieubedingt? Wohl wissend, dass er die Mehrzahl der Vertreter der Physikalisch-mathematischen Klasse damit provozieren, ja schockieren würde, bejahte Schrödinger diese These mit Nachdruck. Bereits das Interesse, das der Wissenschaftler auf spezifische Methoden, Experimente oder Fragestellungen richtet und die Auswahl, die er dabei unter der nahezu unbegrenzten Zahl von Möglichkeiten trifft, bedinge, so Schrödinger, dass der Subjektivität die Eingangspforte geöffnet werde. Mehr noch als durch die Wahl der Interessenschwerpunkte, die in gewissem Sinne Modesache sei, sei der Subjektivität aber dadurch Vorschub geleistet, dass auch der Wissenschaftler immer einem Milieu, Kulturkreis oder Zeitgeist angehöre, was sich dem Betrachter, so Schrödinger, aber erst in historischer Perspektive erschließe. Indem er die Kultur unter Einschluss der Naturwissenschaften als eine Einheit sah, schien es Schrödinger zwingend, dass sich „auf allen Gebieten einer Kultur gemeinsame weltanschauliche Züge und, noch viel zahlreicher, gemeinsame stilistische Züge vorfinden, in der Politik, in der Kunst, in der Wissenschaft“ (Schrödinger 1932, 38). Einen Beleg versuchte er am Beispiel der Weimarer Kultur zu liefern, indem er zeitgenössische Tendenzen in Architektur und Kunst mit der Quanten- und Relativitätstheorie verglich. Unabhängig von Duhem und Schrödinger entwickelte der polnische Bakteriologe Ludwik Fleck etwa zu selben Zeit seine Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Weit über Duhem hinausgehend und in bewusster Gegnerschaft zum logischen Empirismus des Wiener Kreises unterstrich Fleck (1935) die prinzipielle Abhängigkeit jeglichen Erkennens von sozialen und gesellschaftlichen Randbedingungen, die als „nicht-artikulierte Voraussetzungen“ in das Denken der Wissenschaftler einfließen und folglich ihren Denkstil bestimmen (Fleck 1980, 126). Mit dem Begriff des Denkkollektivs und seiner Beziehung auf die Gesellschaft wollte Fleck eine Einheit anbieten, in der sowohl die kollektiv wirksamen externen Faktoren als auch die einzelnen Forscher mit ihren individuellen Motivationen und erworbenen Fähigkeiten gleichermaßen erfasst werden können (Schäfer/Schnelle 1980). Der historische Vergleich analoger Phänomene, so etwa auch Edgar Zilsel (1941), liefere für die Erkenntnistheorie das, was das Experiment für die Naturwissenschaften tue, nämlich jene empirische Basis, auf deren Grundlage man zu gesetzesähnlichen Aussagen vordringen könne (Zilsel 1976).
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Das Eindringen vergleichender Ansätze in die Geschichtsschreibung der Naturwissenschaften setzte so eine Entwicklung in Gang, die nicht nur zur Entstehung der modernen Wissenschafts- und Technikgeschichte führte, sondern eine Neuentdeckung des Stilbegriffs mit sich brachte.
4. Wissenschatshistorische Kontroversen Seit der von Thomas S. Kuhn 1962 eingeleiteten Renaissance der Fleckschen Gedanken ist die Diskussion um die Brauchbarkeit des Stilbegriffs nicht abgerissen. Die Debatte um die theoretischen Implikationen der Wissenschaftsgeschichte hat gezeigt, dass nicht allein Theorien für den Wissenschaftler erkenntnisleitend sind. Theorien sind vielmehr Bestandteil größerer Einheiten. Die Kontroverse drehte sich um die Frage, wie diese Einheiten zu definieren sind. Während Kuhn den Begriff des Paradigmas formulierte (Kuhn 1962), Lakatos den Begriff des Forschungsprogramms dagegensetzte (Lakatos 1978) und Laudan diesen zum Begriff der Forschungstradition abwandelte (Laudan 1977), so bleibt festzuhalten, dass diese Begrifflichkeit auf den kognitiven Bereich beschränkt blieb. Demgegenüber verweist der Begriff des Denkstils direkt auf die Bedingtheit naturwissenschaftlichen Erkennens; auf seine Konditionierung durch externe, d. h. politische, soziale, allgemeinkulturelle Faktoren, kurz: auf die Standortgebundenheit intellektuellen Tuns. Dies gilt nicht nur für die klassische Geschichte der Wissenschaften, sondern auch für den Typus neuzeitlicher, organisierter Forschung. Auch die zunehmende Vernetzung in der Welt der Wissenschaft, die ihr den Anstrich der Internationalität, ja Globalität verleiht, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sub-Zivilisationen existieren, die sich mit Denkstilen identifizieren lassen (cf. Galtung 1983; Jamison 1987). Unbeschadet der in der Debatte vorgenommenen Akzentuierung des kollektiven bzw. sozialen Elements wurden in der Wissenschaftsgeschichte auch individuelle, dem Literarischen nahe kommende Stile diagnostiziert, vor allem in der Mathematik. Nehmen wir als Beispiel Isaac Newton, von dem wir wissen, dass er zwei große Werke, die Principia und die Opticks, verfasst hat, die sich in mehr als einer Hinsicht stilistisch unterscheiden: nicht nur in der Wahl des Gegenstandes (Mechanik bzw. Optik), sondern vor allem in der Wahl der Darstellungsmittel, sei es Sprache (Lateinisch bzw. Englisch), Wahl mathematischer Methoden (Geometrie bzw. Analysis), syntaktische Form, Einsatz graphischer Darstellungen etc. Interessanterweise haben diese in formaler Hinsicht so unterschiedlichen Werke eines Autors auch unterschiedliche Rezeptionsstränge oder Stile begründet, die sich das ganze 18. Jahrhundert hindurch präzise verfolgen lassen: Die Anhängerschaft Newtons, von den Historiographen lange Zeit als Newtonianer über einen Kamm geschoren, waren untereinander höchst uneins in Bezug auf die Frage, wer von ihnen das Erbe des Meisters am besten verträte. Unterschiedliche Konzeptionen in Bezug auf die rechten, bei der Befragung der Natur einzusetzenden Methoden, standen sich als Schulen oder Stile des Newtonianismus unversöhnlich gegenüber und konnten geographisch bzw. national verortet werden (cf. Hall 1979). Gegnerschaft gab es jedoch auch, und zwar innerhalb der Soziologie des Wissens, was zeitweilig zu einer Zurückdrängung bzw. Vernachlässigung der komparativen Erkenntnistheorie geführt hat. Der Grund ist wohl darin zu sehen, dass die komparative Erkenntnistheorie den klassischen Idealen der Wissenschaft wie Objektivität und Univer-
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil salismus Hohn zu sprechen schien. So wurden auch Soziologie und Kulturwissenschaften gelegentlich Opfer des gebetsmühlenhaft wiederholten Anspruchs der Naturwissenschaften, Hüter der Wahrheit bzw. der einen Welt zu sein. So erteilte Robert K. Merton noch 1968 allen Subjektivismen eine Abfuhr, indem er schrieb: „The acceptance or rejection of claims entering the lists of science is not to depend on the personal or social attributes of their protagonist; his race, nationality, religion, class and personal qualities are as such irrelevant. Objectivity precludes particularism. The imperative of universalism is rooted deep in the impersonal character of science“ (zit. n. Jamison 1987, 145 f.).
5. Anwendungen und Grenzen des Stilbegris Die Attraktivität des Begriffs Stil für die Wissenschaftsgeschichte resultiert aus der im Laufe der letzten Jahrzehnte gewonnenen Einsicht, dass es die Historiographie der Wissenschaft nicht mit einer Welt, der Welt, zu tun hat, sondern vielmehr mit Bildern der Welt, also mit Welten, die zwar chronologisch aufeinander folgen und auseinander hervorgehen und damit auch miteinander verwandt sind, sich jedoch, aus ideozentrischer Perspektive betrachtet, als inkommensurabel erweisen. Die von Kuhn bis Feyerabend geleistete Arbeit am Begriff der Wissenschaftsgeschichte weist in diese, einem relativierenden Verständnis Vorschub leistende Richtung. Den Versuch, die Wissenschaftsgeschichte Europas unter Zugrundelegung eines die diachrone Perspektive und die Wahl der Erkenntnismethode und Darstellungsmittel betonenden Stilbegriffs komplett zu schreiben, verdanken wir Alistair C. Crombie (1994). Crombie strukturiert die Geschichte des Wissens, indem er eine Taxonomie wissenschaftlicher Denkstile entwirft. Für die Geschichte der europäischen Wissenschaft von den Griechen bis 1900 sieht Crombie sechs Stile, die er als ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
Postulieren (Griechische Antike, Plato bis Galen), Experimentelles Argumentieren (Mittelalter bis Newton), Hypothethisches Modellieren (imitatio naturae), Taxonomisches Ordnen (Systematik, Linne´, Buffon), Probabilistisches Analysieren (Pascal bis Laplace), Historisches Ableiten (genetische Methode, Darwin)
bezeichnet. Ohne auf die Stile hier näher eingehen zu können sei nur erwähnt, dass diese zwar prinzipiell eine chronologische Abfolge, also Epochenstile darstellen, sich jedoch zeitlich weit überlappen, sodass eine zeitliche Parallelität verschiedener Stile und damit die Möglichkeit horizontalen Vergleichens sichergestellt ist. Interessanter als ein konkretes Eingehen auf die Taxonomie der Stile ist für uns hier die Frage, was Crombie genau unter Stil versteht, nach seinem Stilbegriff also. Wie die oben genannte Bezeichnung der Stilrichtungen bereits nahe legt, liegt der Akzent auf der wissenschaftlichen Methodik, auf der Wahl von Gegenstand und Art des wissenschaftlichen Fragens: „A scientific style identified an object of inquiry, defined the questions to be put, and determined what counted as an answer“ (Crombie 1994, 1; 56). Hier haben wir wie schon bei Schrödinger den Aspekt des Subjektiven, der sich in der Möglichkeit der freien Wahl, der Auswahl, des Interesses manifestiert. Der wissenschaftliche Stil selbst aber ist Teil eines kulturellen Stils, den Crombie uns wie folgt beschreibt: „In every culture at any time men have
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experienced existence through the mediation of a particular vision of existence and of knowledge and their meaning, a vision presupposed in their cultural style. Every society has a cultural ecology in which its view of nature and of humanity is conditioned both by this mental vision and also by its technical capability in relation to its physical and biological environment. Styles of theoretical and practical thinking within any culture, styles of accepting or of making decisions both about the nature of the world and about what should be done in any situation, styles of perceiving and of solving within this vision and experience, not only in natural science and mathematics but also in the aesthetic arts and sciences and those of personal and public government, in morality, law, commerce, industry and so on, all nearly always have the marks of a recognizably common provenance. In any culture then men’s relations to nature as perceivers and knowers and agents have been regulated, as knowledge, by conceptions of human nature and its intellectual capacities within a total scheme of knowledge and existence. This has entailed conceptions of both man and nature, of both perceiver and perceived, knower and known, and man’s place in nature, time and history, of his origins and his destiny. Relations as action have been regulated by practical needs, habits and motivations and by conceptions of man’s practical capacities, freedoms and limitations“ (Crombie 1994, 1; 56). Stil ist für Crombie also ein Synonym für die intellektuellen, moralischen und physischen Bindungen (commitments) der Wissenschaft, ihre Einbindung in die Gesamtheit der Kultur, mithin für deren unauflösliche Einheit. Der kulturelle Stil und die (technische) Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, seinem environment, bestimmen das, was Crombie die kulturelle Ökologie einer Gesellschaft nennt. Dies ist, vielleicht abgesehen von der Begriffsbildung, so neu nicht. Hier gerät der Begriff des Stils in Gefahr, mit anderen geistesgeschichtlichen Begriffen in Konkurrenz zu treten: Kulturelle Ökologie scheint nur ein anderes Wort für wissenschaftliches Weltbild zu sein. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt bei Crombie auf den intellektuellen Bindungen. Crombie geht damit kaum über den Bereich des Kognitiven hinaus. Dies entspricht einem klassischen, nicht-soziologischen Verständnis von Stil. Die zeitlich wie räumlich breite Konzeption von Stil verstellt zudem die Möglichkeit, sinnvoll nach der gesellschaftlichen Kausalität für die Herausbildung bzw. Fortdauer von Stilen zu fragen. Viel häufiger und möglicherweise auch ergiebiger als die von Crombie eingenommene Perspektive, die hauptsächlich diachron, also vertikal vorgeht, ist die synchrone, also horizontale Sicht, die zeitlich parallel Existierendes miteinander in Beziehung setzt und als Stile konfrontiert. Hier scheint uns die eigentliche Stärke des Stilbegriffs zu liegen. Für dieses Vorgehen gibt es zahlreiche Beispiele, wobei der Nationalstil dominiert (cf. Malley 1979; Galtung 1983; Harwood 1987; Jamison 1987; Weiss 1988; SiegmundSchultze 1994; Borck 2006). Trotz der Kommunalität und Interdisziplinarität, ja Globalität der modernen Wissenschaft, die die Abschottung der nationalen communities, wie sie im 19. Jh. bestand, überwinden half, sind solche nationalen Differenzen bis heute von Bedeutung, wobei sich die Frage aufdrängt, wie diese zu erklären sind. Die Frage ist auch, was wir hier unter Erklärung verstehen wollen: nur ordnende Deskription oder die Aufzeigung einer Kausalität? Ist Stil ein beschreibendes oder erklärendes Element? Bereits Fleck hat den Akzent von der Deskription auf die Erklärung verschoben, was unsere These von der Neuentdeckung stützt. Seit Fleck versucht die Forschung über die ordnende Deskription hinauszugehen und zwar primär auf soziologischem Wege. Stil wird oft als lokale bzw. regionale Dominanz kognitiver Traditionen verstanden, die aber letztlich wiederum spezifischer institutioneller Nischen bedürfen, um angesichts
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil des Drucks in Richtung Standardisierung zu überleben und tradiert zu werden (cf. für Großbritannien: Davie 1961; Cantor 1983; für Genf: Montandon 1975; Weiss 1988; für die USA: Schweber 1986; Reingold 1991; Borck 2006). Damit versucht die Wissenschaftsgeschichte dem Vorwurf der Inhaltsleere des Begriffs zu entkommen, einer bereits von Panofsky (1915) geäußerte Kritik, die noch von Gumbrecht als Hinweis auf eine „systematische Insuffizienz des Stilbegriffs“ gewertet wurde (Gumbrecht 1986, 772). Hier sei noch einmal an die triadische Struktur erinnert, die bereits im 19. Jahrhundert mit dem Begriff des nationalen Stils konnotiert wurde, nämlich die Ebenen (a) der kognitiven Konzepte bzw. Traditionen (Duhem), (b) der Bildungssysteme und Institutionen (Merz) und (c) der sozioökonomischen Ressourcen (Veblen). Die Ebenen (b) und (c) können auch ihren Rang tauschen, je nachdem, worauf der Akzent der Analyse gelegt wird bzw. womit die Dominanz intellektueller Konzepte oder Vorurteile legitimiert werden soll. Der Begriff des Stils bietet soziologisch verstanden die Möglichkeit, Unterschiede zu erklären: Fragen der Wissenschaftsorganisation, der Ausbildungswege, der Institutionen wie z. B. Struktur und Dynamik der Universitätssysteme werden vergleichend thematisiert (cf. u. a. Harwood 1987; Jamison 1987; Siegmund-Schultze 1994). Der drittgenannte Bereich (c), der die nationalen Ressourcen thematisiert, bietet so die Chance, die Auswahl bzw. Präferenz für Themen zu analysieren, die nationale wissenschaftlich-technische Interessenlage, die besonders im Bereich der anwendungsorientierten Disziplinen die Selektion von Themen determiniert. Jamison (1987) gelingt es damit z. B. die Unterschiede zwischen Dänemark und Schweden zu erklären: Der Bevorzugung eines mechanistischen, ordnenden und taxonomischen Denkens der Schweden stellt er die Präferenz der Dänen für organismisches, physiologisches, ja vitalistisches Denken gegenüber, was sich unter anderem in dem starken Einfluss manifestiert, den die deutsche romantische Naturphilosophie in Dänemark (und nicht in Schweden) gewinnen konnte. Die Analyse reduziert den Gegensatz der Denkstile auf die sozioökonomischen Strukturen der beiden Länder, die unterschiedliche Interessenlagen und damit auch verschiedene Themenauswahl zur Folge hatte: Das primär auf Handel, Seefahrt und Landwirtschaft angewiesene Dänemark förderte die Astronomie, die Landwirtschaftswissenschaften und die Lebensmitteltechnologie, während das mit Grundstoff- und Schwerindustrie gesegnete Schweden besonders die Mineralogie bzw. Bergbauwissenschaften unterstützte. Einem hoch differenzierten Bildungssystem in Schweden, das für die technischen Wissenschaften spezielle Hochschulen reservierte, stand in Dänemark ein hoch integriertes System gegenüber, das der Volksbildung, im Besonderen den Volkshochschulen, sowie privaten Stiftungen, große Bedeutung einräumte (Jamison 1987). Harwood verglich jene Fragen oder Probleme, die sich während der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen die nationalen scientific communities Deutschlands und der USA auf dem Gebiet der Genetik vorlegten. Während diese Fragestellungen in Deutschland sehr breit und theoretisch angelegt waren, war in USA eine Tendenz zur Einengung bzw. Spezialisierung sowie Präferenz für empirische Untersuchungen erkennbar. Die Ursache dafür sieht Harwood in den unterschiedlichen Dynamiken und Strukturen der Universitätssysteme. Während die deutschen Universitäten nach anfänglicher Expansion im Kaiserreich zwischen den Weltkriegen durch krisenhafte wirtschaftliche Entwicklung finanziell stagnierten, was die Etablierung neuer Disziplinen wie der Genetik behinderte, brachte die Expansion der amerikanischen Hochschulen, unterstützt durch massive staatliche Förderung und private Sponsoren, zahlreiche Chancen zu akademischen Karrieren und damit frühzeitiger Spezialisierung mit sich. Entscheidender noch als diese auf finanzielle bzw. ökonomische
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Faktoren zurückzuführenden Unterschiede in den Dynamiken der Systeme sieht Harwood jedoch die strukturellen Faktoren: Während das deutsche System mit seiner bekannten, auf Ordinarien fixierten hierarchischen Organisation und deren erklärter Feindlichkeit gegenüber angewandten Fragestellungen einer disziplinären Differenzierung im Wege stand, waren die privat finanzierten und departmental organisierten amerikanischen Hochschulen darauf angewiesen, auf neue Trends bzw. Anforderungen der Gesellschaft nach angewandter Wissenschaft rasch zu reagieren, wollten sie für ihre Finanziers, Sponsoren wie Studenten, attraktiv bleiben (Harwood 1987). Der Stilunterschied wird so auf Differenzen der Institutionenentwicklung bzw. das spezielle Institutionalisierungsdefizit Deutschlands gegenüber den USA zurückgeführt. Harwood will seine Untersuchung als Beleg für die Relevanz eines soziologischen Konzepts von Stil verstanden wissen. Kognitive Stile werden durch Rekurs auf Institutionen und damit auf soziologische bzw. gesellschaftliche Fakten (und nicht etwa auf nationale Charaktere wie bei Duhem) erklärt. Aus diesem Grund ist der Befund natürlich immer historisch spezifisch, d. h. er kann nur für eine konkrete Epoche Gültigkeit beanspruchen: Angleichung der ökonomischen Situationen sowie der akademischen Strukturen hätte zur Folge, dass die festgestellten Unterschiede verschwänden. Gleichzeitig weist Harwood auf die Problematik hin, die sich mit dem Begriff nationaler Stile verbindet: Dieser Begriff suggeriert eine Homogenität, die in dieser Form kaum existieren wird, da es auch in der Wissenschaft stets nationale Minoritäten zu berücksichtigen gibt. Eine Nation ist nicht homogen, weshalb die stilistische Analyse auf nationaler Ebene fortgesetzt werden kann bzw. muss.
6. Zusammenassung Wenn in der Geschichtsschreibung der Wissenschaften vom Denkstil die Rede ist, dann sind primär zwei Dinge gemeint, die das Element des Subjektiven in der Wissenschaft sowie den Kontext der wissenschaftlichen Produktion als relativierende Faktoren bezeichnen: ⫺ die spezifische, auch subjektiv getroffene Auswahl von Gegenständen, Problemen, Projekten oder Themen sowie der zur ihrer Bearbeitung, Lösung und Darstellung eingesetzten Mittel sowohl intellektueller als auch materieller Art, seien es Methoden, Verfahren, Instrumente, Maschinen oder Ressourcen (wobei Verfügbarkeit hier vorausgesetzt wird); wobei die Kriterien dieser Auswahl in der Regel bereits in den Fundus jener ⫺ stillschweigenden Voraussetzungen intellektueller, kognitiver oder materieller Art eingehen, die deswegen nicht explizit gemacht werden, weil sie entweder gar nicht als solche bewusst werden oder für selbstverständlich gehalten werden, da sie nach Dafürhalten des Verfassers den zeitgenössischen Adressaten als vertraut gelten können. Der Akzent liegt also zunächst immer auf dem Bereich des Kognitiven, was aber die Frage nach der Erklärung und damit den Verweis aufs Gesellschaftliche nach sich ziehen wird und die Möglichkeit von Antworten eröffnet, sofern wir bereit sind, uns auf die sozialgeschichtliche Perspektive einzulassen. Dies zunächst vorausgesetzt sind es fünf Elemente oder auch Ebenen des Fragens, die sich als konstitutiv für einen wissenschaftlichen Denkstil erweisen. Ein solcher umfasst:
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VI. Dimensionen der Kategorie Stil (1) neben expliziten Elementen wie theoretischen und praktischen Überzeugungen und Konzepten auch implizite, d. h. nicht-artikulierte und damit dem Wissenschaftler in der Regel nicht bewusste Ideen/Begriffe philosophischer, theologischer, politischer und sozialer Art. Die Tatsache, dass diese Faktoren nicht-bewusst oder zumindest für das wissenschaftliche Tun nicht-reflektiert sind, bedeutet jedoch nicht deren Zufälligkeit. Sie sind vielmehr durch eine lokale Tradition von Unterricht und Ausbildung, im Besonderen durch Institutionen (wie Schulen, aber auch Unternehmen) vermittelt und verweisen damit (2) auf die soziale und geschichtliche Bedingtheit des Denkstils, auf die Standortgebundenheit von Wissen und Erkennen. Ein Denkstil ist damit sozial/regional lokalisierbar, wobei regional nicht immer nur geographisch verstanden zu werden braucht; er gedeiht häufig in klar abgrenzbaren sozialen Nischen (Institutionen), in denen sich das betreffende Denkkollektiv etabliert hat. Damit folgt, (3) dass Wissen nicht von isolierten Individuen erzeugt wird, vielmehr immer einen Kommunikationsprozess (in der Regel innerhalb des Denkkollektivs) voraussetzt. Diese Kommunikation vollzieht sich schriftlich oder mündlich, in jedem Falle aber sprachlich, womit (4) deutlich wird, dass ein Denkstil auch durch einen Sprach- oder Kommunikationsstil gekennzeichnet werden kann. Diese Kommunikation hat, soll sie erfolgreich sein, d. h. verstanden werden, ein Grundmaß von begrifflicher Übereinstimmung zur Voraussetzung. Damit ist (5) klar, dass Wahrheit ein relativer Begriff ist, der lediglich einen sozialen Konsens, ein soziales Konstrukt beschreibt. Wahrheit spiegelt die Wirklichkeitswahrnehmung des jeweiligen Denkkollektivs, das seine Wahrheit als Wahrheit formuliert, ohne sich ihrer sozialen Bedingtheit bewusst zu sein. Hier besteht Übereinstimmung mit Tendenzen der Kunstgeschichtsschreibung, sofern diese die Prämisse teilen, dass nicht ein extremer Subjektivismus, sondern soziale Gemeinsamkeiten über die Rezeption von Kunst entscheiden, was uns die sozialgeschichtliche Perspektive öffnet. Mit spezifischem Blick auf die Kultur der Renaissance aber nicht ohne Anspruch auf Allgemeingeltung schrieb der Kunsthistoriker Michael Baxandall: „Ein Teil der geistigen Ausstattung, mittels derer jemand seine visuellen Erfahrungen strukturiert, ist variabel, und vieles von dieser variablen Ausstattung ist kulturspezifisch in dem Sinne, dass es von der Gesellschaft bestimmt wird, die seine Erfahrungen beeinflusst. Unter diesen Variablen finden sich Kategorien, mit denen er seine visuellen Eindrücke ordnet, das Wissen, das er einsetzen wird, um zu ergänzen, was ihm der unmittelbare Blick bietet, und die Einstellung, die er gegenüber dem gesehenen Kunstgegenstand einnehmen wird. Der Betrachter muss die visuellen Fähigkeiten, über die er verfügt, auf das Gemälde anwenden, auch wenn normalerweise nur sehr wenige davon speziell die Malerei betreffen […]. Der Maler stellt sich darauf ein; die visuelle Kompetenz seines Publikums muss sein Medium sein. Was immer seine eigenen spezialisierten beruflichen Fähigkeiten sein mögen, er ist selbst ein Mitglied der Gesellschaft, für die er arbeitet, und teilt ihre visuelle Erfahrung und Gewohnheit. Wir haben es hier mit dem kognitiven Stil […] im Verhältnis zu seinem malerischen Stil zu tun“ (Baxandall 1987, 54). Diese Stile oder besser Stilelemente aber stehen im wechselseitigen, selbstreferentiellen Bedingungsverhältnis. Baxandall schreibt weiter: „Eine Gesellschaft entwickelt die für sie charakteristischen Fertigkeiten und Gewohnheiten, die einen visuellen Aspekt haben, da der Sehsinn das wichtigste Organ der Erfahrung ist; und diese visuellen Fertigkeiten und
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Gewohnheiten gehen ein in das Medium des Malers [d. h. in die visuelle Kompetenz des Publikums, B.W.]; entsprechend bietet der malerische Stil einen Zugang zu den visuellen Fertigkeiten und Gewohnheiten und über diese auch zu den charakteristischen gesellschaftlichen Erfahrungen. Ein altes Bild dokumentiert eine visuelle Handlung. Man muss lernen es zu lesen, genauso wie man lernen muss, einen Text aus einer anderen Kultur zu lesen, selbst wenn man in gewissem Sinne die Sprache kennt: Sprache und bildliche Darstellung sind konventionsgebundene Tätigkeiten […]“ (Baxandall 1987, 185). Das gilt mutatis mutandis auch für die Wissenschaften, wenn wir visuell mit intellektuell generalisieren. Stil verweist damit letztlich auf das Problem des Verstehens, ein Problem, das allen Disziplinen der Kulturgeschichte gemeinsam ist. Stil ist damit ein kulturwissenschaftlicher Begriff, der disziplinübergreifend verwendet werden kann. So können wir hier, am Ende der Betrachtung, Gewinn und Verlust bilanzieren: Die Einführung einer komparativen Betrachtungsweise in die historische Analyse brachte die relativierende Einsicht mit sich, dass wir es nicht mit einer Welt, sondern mit Welten zu tun haben, die eigener historischer Dynamik unterliegen. Diesem Verlust an Homogenität, diesem Blick auf die „schwindende Stabilität der Wirklichkeit“ (Gumbrecht 1986, 761), steht ein Gewinn gegenüber: Die Suche nach dem Stil bietet uns die Chance, die Kultur einer Epoche oder Region in allen ihren Spielarten, künstlerischen, technischen oder wissenschaftlichen, als eine Ganzheit, eine Einheit zu begreifen und, von der Geschichte ausgehend, durch eine interkulturelle Blickweise die Spaltung der Kulturen zu überwinden.
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Burghard Weiss, Lübeck (Deutschland)
VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik 77. Muster und Abweichung in Rhetorik und Stilistik 1. 2. 3. 4. 5.
Die Kategorien Andersheit, Abweichen und Musterhaftigkeit Andersheit und Stil als kollektive Denkfiguren Rhetorik: Deviation, Normen und Überformung Textstilistik: Verfahren, Typisierungen, Muster, Brüche Literatur (in Auswahl)
Abstract Using the categories of “pattern”, “deviation” and of related terms, this article discusses the general alternatives of focusing on standards (rules, norms, patterns, prototypes) or on applying intentional deviation from such standards when performing language activities. While the strict adherence to standards, on the one hand, ensures proper understanding, eases the reception process and serves the social and esthetic adjustment process, deviation may, on the other hand, increase perceptibility and receptive enjoyment and can take on an individual and creative character. Following the clarification of the above two categories, this article examines to what extent the phenomenon of deviation is considered in various linguistic directions and schools. In this context, major focus is on the 20 th and 21st centuries. However, brief historical reviews are also required as is a perspective on neighboring disciplines. Both “style” and “deviation” are categories that can be found as key terms throughout the humanities and the social sciences. Without considering their usability contexts, linguistic phenomena would remain fairly incomprehensible.
1.
Die Kategorien Andersheit, Abweichen und Musterhatigkeit
1.1. Andersheit und Abweichen Das Phänomen sowie die Denk- und Wahrnehmungsfigur der Andersheit bilden den Hintergrund der folgenden Ausführungen. Im philosophischen Sinne ist Andersheit eine ontologische Kategorie: „Etwas ist, was es ist, indem es anders ist als anderes“ (Waldenfels 1999, 63). Andersheit ist, bezogen auf das menschliche Handeln und dessen Hervorbringungen, aber auch eine anthropologische Größe, nämlich die Reaktion auf das Bedürfnis der Menschen nach Beständigkeit wie nach Veränderung, das ihnen über die Zeiten und Kulturen hinweg als Grundbedingung ihrer Existenz gegeben ist. Es geht um das Wechselspiel zwischen dem Eingehen auf das Verlangen nach Stabilität und dem auf das Verlangen nach Wechsel. Ersteres kann gekoppelt sein mit der Angst vor dem Neuen
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(bis hin zur Xenophobie), letzteres mit der Lust am Neuen (bis hin zur Neophilie). Andersheit ist zudem eine Wahrnehmungskategorie. Das ontologische Anderssein existiert im Sinne der gestaltpsychologischen Figur-Grund-Unterscheidung (Fitzek/Salber 1996) erst dadurch, dass „eine ,ins Auge springende‘ Gestalt“ vor dem „homogeneren und sozusagen ,allgemeineren‘ Hintergrund“ (Städtler 1998, 330) wahrgenommen wird. Das nicht so´ Erwartete hebt sich von dem Hintergrund des Erwartbaren ab. Es geht nicht um das bloße Anderssein, sondern darum, „dass etwas anders [ist], als es eigentlich sein sollte“ (Püschel 1985, 13). Diese Spielart des Andersseins ist es, die als Phänomen der sprachlichen Form in der Stilistik schon immer eine bestimmende Rolle gespielt hat: Stil als Abweichung (s. 1.2) ist eine Konstante verschiedener Stilvorstellungen, in denen die Erwartung der üblichen sprachlichen Form den Hintergrund bildet für die Wahrnehmung der abweichenden Form. Dass das Übliche als das Erwartbare gilt, muss relativiert werden. Mittlerweile ist für Äußerungen bestimmter Kommunikationsbereiche, wie z. B. der Werbung, wohl eher Erwartung von Andersheit üblich (zu künstlerischen Texten s. 2.6). In der Rhetorik bildet das Figurensystem selbst das erlern- und erwartbare Abweichungspotential (s. 3). Das Wechselspiel von Erwarten und Abweichen findet man nicht nur im Formalen, sondern auch im Inhaltlichen, wobei im Kontext von Rhetorik und Stil natürlich die Formseite dominiert. Ob und wie man sich als Rezipient zu Abweichungen positioniert, hängt zunächst davon ab, ob man die Abweichung überhaupt wahrnimmt. Die erste Stufe des Umgehens mit dem Anderssein ist also dessen sinnliche Wahrnehmung. Die zweite Stufe ist die Abgleichung dieser Wahrnehmung mit dem Erwarteten. Man bemerkt es in der Regel, wenn sich die wahrgenommene Form mit den Erwartungen an die als typisch geltende Form nicht deckt. Zu den Prozessen des objektbezogenen Wahrnehmens und Abgleichens gesellt sich die subjektbezogene wertende Stellungnahme. Akzeptiert man die Abweichung vom Erwarteten oder stößt man sich an ihr? Eine solche wertende Reaktion kann moralischer Natur sein. Der Rezipient kann es als positiv bewerten, wenn ein Text in seiner Form Konventionen folgt und damit soziale Werte wie Beständigkeit und Tradition bestätigt: „Gut, dass alles beim Alten bleibt“. Umgekehrt kann der Rezipient es aber auch für gut halten, wenn sich der Text vom Geltenden abwendet: „Endlich einmal etwas Neues“. Eine solche Beurteilung folgt eher einem ästhetischen Kriterium. Der Rezipient würdigt neue Wahrnehmungsmöglichkeiten und neue Reize. Beide Urteile haben mit Beständigkeit und Wechsel zu tun, nur sind die Präferenzen verschieden. Welche dominiert, kann z. B. psychisch, sozial, geschmacks- und altersbedingt sein.
1.2. Der Hintergrund ür Andersheit Norm, Erwartung, Muster in der Stilistik Die Frage nach der Art des „allgemeineren Hintergrunds“ (s. 1.1), vor dem Abweichungen wahrgenommen werden, ist vielfältig beantwortet worden: Normen, Erwartungen und Muster werden genannt. Keine Rolle spielt hier, dass auch jeder „übliche“, den Erwartungen entsprechende Text eine individuelle Hervorbringung, also etwas „anderes“ ist. Es geht nicht um dieses notwendig Individuelle, sondern um das intendierte Anderssein (Dittgen 1989), das eine „kommunikative, funktionelle, semantische oder sonst wie geartete Zusatzbedeutung“ (ebd., 18) vermittelt. Ob diese vom Rezipienten toleriert wird,
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik hängt v. a. von seinen Erwartungen ab, in denen Wissen von Sprachsystemregeln, von Normen sprachlichen Handelns und von prototypischen Mustern geronnen ist (Fix 1987). Bedingung für die Wirkung einer Abweichung ist nicht, dass der Rezipient sie reflektiert. Der Effekt bliebe dann ja in Fällen aus, wo die Normvorgabe nicht bekannt oder bewusst ist. Er tritt aber dennoch ein, weil die intuitiven Erwartungen enttäuscht werden. Während man sich zu Recht schwer damit tut, das Normhafte als den „Hintergrund“ anzusehen, vor dem sich im gestaltpsychologischen Sinne die Abweichung abzeichnet ⫺ schließlich ist offen, was diese Normen sind und wer sie bestimmt (Püschel 1985) ⫺, greifen Konzepte der jüngeren Zeit (Püschel 1985; 2000; Sandig 1986; 2006; Dittgen 1989; Fix 2007) auf die Kategorie der ,Erwartung‘, speziell der von Musterhaftem (s. 4.1), zurück. Nicht die Normen selbst bilden den Hintergrund, sondern Erwartungen als verinnerlichtes Normen- und Musterwissen. Im Laufe der Zeit haben sich die Schwerpunkte also verlagert. Zunächst betrachtete man Abweichungen als intendiertes Abheben von einer Norm, wobei Norm unterschiedlich verstanden wurde. Für den Hermeneutiker Spitzer ist der künstlerische Text immer die sprachliche Neuerung „großer Sprachgebraucher“ (1961, 502) vor dem Hintergrund der „Allgemeinsprache […] als ein Durchschnitt von Individualsprachen“ (ebd., 517). Strukturalistische Auffassungen unterscheiden sich in den Beschreibungen des Sich-Abhebenden nach ihren Normbegriffen. Riffaterre (1973, 51) wendet sich gegen die Annahme einer „globalen“ Norm und setzt dagegen den Kontext, d. h. die im Text selbst etablierten „stilistischen Verfahren“, als Norm, von der abgewichen werden kann. Enkvist fasst als Norm, vor der der Einzeltext zu sehen ist, die Menge aller vergleichbaren Texte, ein „kontextuelles Netzwerk, vor dem sich der Stil eines Werkes abhebt“ (Enkvist 1976, 82). Für Jakobson (1974; 1982) ist Poetizität an die Parallelismus-Technik und Äquivalenz von Texten gebunden. Der Bruch der durch die Parallelismen geweckten Erwartungen, also auch einer Art Textnorm, kann verfremdend wirken. Bierwisch (1965, 61) betrachtet Abweichungen, denen die Regelhaftigkeit der Sprachkompetenz zugrunde liegt, unter strukturalistischem Aspekt als poetisch wirksame Graduierungen auf einer Skala der Poetizität (vgl. Sanders 1973, 62 f.; Asmuth/ Berg-Ehlers 1978, 20 f.; 32 f.). Die Verschiedenheit der Normbegriffe (Spillner 1974, 31 ff.) hat zur Ablösung des Normbegriffs an sich geführt, wenn auch Anderegg (1977, 34) auf die nützliche Interdependenz zwischen Normbefolgen und Abweichen hinweist. An dessen Stelle treten mit der „kognitiven Wende“ die Kategorien ,Erwartung‘ und ,Muster‘. Die Erwartungen der Kommunikationsteilnehmer, in der Normdiskussion der 1970er Jahre ein zentraler Gegenstand (Gloy 1975; Fix 1987), werden als geronnene Norm-Erfahrungen angesehen, deren man sich im Kommunikationsvorgang nicht bewusst sein muss, die man aber (im Sprachgefühl) verinnerlicht und daher verfügbar hat (vgl. Kainz 1946, 37 f.). Erwartungen werden auch gegenwärtig als Hintergrund angesetzt, z. B. von Sandig (2006, 42) als „erwartbare Art der Handlungsdurchführung“ und von Adamzik (2004, 61) als das, „was man […] selbst erwarten kann und was die anderen von einem erwarten“. Der Begriff wird hier jedoch ⫺ im Unterschied zu den 1970er Jahren ⫺ alltagssprachlich gebraucht (so auch Heinemann/Heinemann 2002). Anders verhält es sich mit der Kategorie des ,Musters‘, die sich, wenn auch verschieden aufgefasst, so doch immer reflektiert und (mehr oder weniger scharf) definiert, durchgesetzt hat. Ebenso wie bei ,Erwartung‘ erspart der Gebrauch von ,Muster‘ die Festlegung dessen, was als Norm gelten soll, denn wichtig ist nun, was der Rezipient als Musterwissen im Kopf hat und was sich mit dem Wissen der anderen Rezipienten in etwa deckt. Schon früh hat Steger darauf hingewiesen, dass wir Texte als „erfahrbare interaktionale Ganzheiten“ (1979,
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28 f.) aufnehmen, sie also aufgrund einer Schnittmenge gemeinsamen Wissens verstehen und nicht an dem messen, was ein schwer fassbares Normensystem verlangt. Der Weg von Typenvorstellungen über einen sprechakttheoretischen Musterbegriff hin zu einem prototypischen, wie er heute dominiert, war lang. Er führte von ,Pattern‘ (Riffaterre 1973) über ,Stiltypen‘ und ,Textklassen‘ (Fleischer/Michel 1975, 28 ff.) sowie ,Textsorte‘ (Spillner 1974, 71 ff.) zum „Textmuster“ als „Konventionen für das Bilden von Texten“ (Sandig 1978, Anm. 4). Heute ist die Vorstellung von einem mental repräsentierten Textmuster, das Prototypisches vorgibt und Freiräume lässt, allgemein anerkannt, wenn es auch in der Ausdifferenzierung dessen, was an einem Text bzw. seiner Herstellung musterhaft sein kann ⫺ musterhafte Textherstellungsverfahren, prototypische Vorstellungen vom Text als Resultat ⫺, verschiedene Auffassungen gibt (Fix 1999; 2007; Püschel 2000; Heinemann/Heinemann 2002; Adamzik 2004; Sandig 2006; ausführlicher in 4).
2. Andersheit und Stil als kollektive Denkiguren 2.1. Philosophie/Philosophische Ästhetik Der Stilbegriff begegnet im Kontext von Andersheit und Abweichen in vielen Wissenschaftsdisziplinen, auch bezogen auf Sprachliches. Es handelt sich bei Stil und Abweichen um aktuelle Denkfiguren, entwickelt in „kollektive[r] gedankliche[r] Wechselwirkung“ (Fleck 1994, 5). Ohne einen, wenn auch auf einige Ansätze beschränkten, Überblick über deren Verwendung „hinge“ die sprachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Phänomenen Muster und Abweichung „in der Luft“. In der Philosophie findet man zunächst die Auseinandersetzung mit dem ontologischen und anthropologischen Begriff der ,Andersheit‘ (s. 1.1). Bereits hier wird Bezug auf andere Disziplinen genommen: „Entsprechende Figuren einer […] Ah. begegnen uns im Kontrast von Gestalt und Grund […] in der Abweichung von bestehenden Normen oder in Prozessen der Sinnverschiebung, wie sie uns aus Gestalttheorie, Semiotik, Poetik oder Psychoanalyse bekannt sind“ (Waldenfels 1999, 65). In der philosophischen Ästhetik geht es zudem um die Beschäftigung mit Abweichen als einer ästhetischen Erscheinung. Für die philosophische Ästhetik, die sich mit Wahrnehmungen aller Art (Welsch 1993, 9) und auf Gefühl beruhenden Erfahrungen (Recki 1999, 1031) befasst, ist das Phänomen der Abweichung zentral. Wenn man Ästhetik nicht als das Schöne, sondern als das Sinnenhafte versteht, folgt daraus ein Verständnis vom Ästhetischen als im Dienste der Wahrnehmbarkeit überhöhte, sichtbar gemachte Gestalt (Fix 1996). Wo die Form hervorgehoben wird, entsteht Ästhetisches. Wenn es darum geht, die Aufmerksamkeit der durch die Fülle ästhetischer Angebote (Ästhetik) abgestumpften (Anästhetik, vgl. Welsch 1993, 16) Rezipienten zu wecken, kommt Andersheit zum Tragen. Hervorhebung wird vollzogen, indem man über das Gewohnte hinausgeht und bevorzugt zu Verfahren greift, deren Wesen im Bruch kultureller Konventionen besteht.
2.2. Semiotik/Zeichenhatigkeit Stil ist „Teil eines umfassenden Systems von Zeichen, Symbolen und Verweisungen für soziale Orientierung“ (Soeffner 2000, 84). Er entsteht als „Vergemeinschaftungs- und Distinktionsmuster“ (ebd., 79) durch die Verwendung von Zeichen verschiedenster
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik Codes. Dieser semiotische Ansatz spielt in soziologischen, literatur-, kultur- und sprachwissenschaftlichen Überlegungen eine Rolle. Eco (1972) entwickelt, bezogen auf ästhetische Phänomene, denen er Ambiguität und Selbstreflexivität zuspricht, eine Vorstellung von Semiose (ebd., 149), die auf jeder Ebene des Artefakts ⫺ er verwendet ein sprachliches („a rose is a rose is a rose is a rose“) ⫺ Abweichungen konstatiert: auf den Ebenen der physikalischen Träger (Töne, Material), der differentiellen Elemente (Rhythmus, Metrik), der syntagmatischen Beziehungen, der denotierten und konnotierten Signifikate und der auf all diesen Informationen beruhenden Erwartungen. „Es etabliert sich eine Art Netz von homologen Formen, das den besonderen Code dieses Werks bildet.“ (ebd., 151) Mit Bezug auf Spitzers Auffassung, dass sich das Ästhetische als Verstoß gegen die Norm verwirkliche, schließt Eco, dass „alle Ebenen der Botschaft die Norm nach derselben Regel [verletzen]“ (ebd., 151). Ein derart entstandener Idiolekt erzeuge Nachahmung und schließlich neue Normen. Mukarˇovsky (1982) entwickelt eine „semiologische“ Vorstellung von der Funktion des Ästhetischen, nicht nur bezogen auf künstlerische Texte. Sprache und andere Codes können an der Herstellung des ästhetischen Angebots beteiligt sein, das in der Rezeption den Prozess der Deautomatisierung fordert, im Gegensatz zur routinehaften Rezeption des „normalen“ Angebots. Nicht ,Ambiguität‘ wie bei Eco (Verdichtung), sondern ,Hervorhebung‘ (Verdeutlichung) ist sein Schlüsselbegriff. Die Leistung des Ästhetischen ist für ihn die „maximale Konzentration der Aufmerksamkeit auf einen gegebenen Gegenstand“ (1982, 32 f.), dessen Hervorhebung durch die Form also. Diese isolierende Funktion macht das Ästhetische auch geeignet, als sozial differenzierender Faktor zu wirken (s. 2.3).
2.3. Soziologie/Soziologische Ästhetik In der Soziologie hat der Begriff ,Stil‘ Konjunktur. Angesichts der zunehmenden Ästhetisierung der Lebenswelt, der „Versinnlichung von Handlungen, Prozessen, Strukturen“ (Kösser 2006, 453) durch Überhöhung in allen Lebensbereichen, wird die Herausforderung an das Individuum, sich ästhetisch zu präsentieren, sich dabei für soziales Anpassen oder Abheben zu entscheiden und diese Entscheidung zeichenhaft zu realisieren, zum Forschungsgegenstand. Stilisierungsverfahren, darunter auch die des Sprachverhaltens, werden beschrieben. Simmel geht schon Ende des 19. Jhs. unter anthropologischem und gattungsgeschichtlichem Aspekt auf das Wechselspiel von Beharren und Veränderung ein, soziologisch gesehen die Tendenz zu konventionellen oder eigenständigen Lebensformen (Simmel 1998, 57 f.). Die Vorstellung von Stil als Mittel des Anpassens an Kollektive wie des Abgrenzens von diesen begegnet als Grundmuster soziologischer Arbeiten später u. a. bei Bourdieu, Schulze und Söffner, die Stil verschiedenster alltagsweltlicher Lebensäußerungen (Mode, Gebäude, Kunstwerke, Texte, vgl. Soeffner 2000, 87) als zeichenhaft verstehen. Der für Bourdieu (1994, 60 f.) zentrale Begriff der ,Distinktion‘ ist zu verstehen als Gebrauch aller Mittel, die geeignet sind, die Stellung des Individuums in der Sozialstruktur durch Anderssein zu markieren. Das Bestreben nach Abheben vom Gewöhnlichen führt zu einer Erneuerung der „Kundgabemittel“ (ebd., 65 ⫺ herausgehoben werden die sprachlichen „Kundgabestile“, ebd., 69 f.) ⫺, da diese die Fähigkeit, Unterschiede zu markieren, durch allgemeinen und häufigen Gebrauch mit der Zeit einbüßen. Für Schulze (1995) spielt in der „Erlebnisgesellschaft“ Ästhetisierung eine bestimmende Rolle. Ausgehend von einem mit dem Verschwinden der Großgruppengesellschaft ver-
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bundenen Individualisierungsschub, stellt er einen starken Orientierungsbedarf des Einzelnen fest (ebd., 18). Das Vakuum an traditionellen Regulierungen bringt das Bedürfnis nach neuen sozialen Mustern ⫺ „Stil und Stiltypen, alltagsästhetische Schemata, soziale Milieus“ (ebd., 62) ⫺ hervor, dem das Bedürfnis nach Herausstellung von Individualität und Kultivierung der Unterschiede gegenübersteht, das zur Etablierung von Distinktionsmustern führt, die jedoch notwendigerweise wieder in Konformität umschlagen. Milieus werden von Schulze auch durch ihren Sprachgebrauch charakterisiert, wobei er die Vielfalt der hier zu findenden Distinktionsmöglichkeiten bei weitem nicht ausschöpft. Soeffner konstatiert, dass Individuen mit ihren Stilisierungshandlungen zum einen auf soziale Zugehörigkeit verweisen, dass sie zum anderen aber auch ihre individuelle Stellung gegenüber der eigenen Gruppe anzeigen (Soeffner 2000, 82). Dieser Einbindung von Individuen in eine kollektive Darstellungsform auf der einen Seite und der Abgrenzung gegenüber Kollektiven auf der anderen Seite geht „die strukturelle Differenz von Individuum und Kollektiv voraus“ (ebd., 80). In der Gruppenkonkurrenz entstehen so zwangsläufig auch Stilkonkurrenzen. Der Druck, sich einen geeigneten Stil zu suchen, findet ein Ventil in der Andersheit.
2.4. Psychologie/Psychologische Ästhetik Die psychologische Ästhetik, mit fließenden Grenzen zur philosophischen und soziologischen Ästhetik, heute u. a. gestalttheoretisch, kognitiv-konstruktivistisch angelegt, befasst sich mit dem Phänomen der Wahrnehmung des Gestalthaften. Zentraler Gedanke ist, dass es für Ästhetisches Wahrnehmungsschwellen gibt. Ein Objekt muss eine bestimmte Reizstärke haben, um wahrgenommen zu werden und Lust oder Unlust zu erzeugen. Durch Steigerung des ästhetischen Eindrucks ⫺ durch Abweichen vom Üblichen ⫺ wird die Wahrnehmungsschwelle, wenn sie zu hoch gelegen hat (Erwartung stärkerer Reize), wieder überschritten. „Lust entsteht bei Herausforderung unserer psychophysischen Potenzen, Unlust bei Unter- oder Überforderung“ (Kösser 2006, 247 f.). Die Nähe zur philosophischen Ästhetik wird in der Verwandtschaft der Vorstellungen mit denen von Ästhetik und Anästhetik (s. 2.1; Welsch 1993), die Nähe zur soziologischen Ästhetik z. B. in Simmels Überlegungen zur ästhetischen Wahrnehmung deutlich: Selbstbehauptung des Einzelnen gegenüber der Massengesellschaft durch den Stil, in der wahrnehmbar gemachten „individuelle[n] Differenzierung“ (Simmel 1998, 58). Der Umgang mit Anpassen und Abheben, der die Fähigkeit voraussetzt, vor dem Hintergrund von Konventionen (Städtler 1998, 607) etwas Neues zu schaffen, ist ein Fall von Kreativität und somit Gegenstand auch der differentiellen ⫺ divergentes Denken untersuchenden ⫺ Psychologie. Dem reproduktiven Sprachgebrauch (Stein 1995, 103 ff.), der von der Vorgeprägtheit des sprachlichen Handelns bestimmt ist, steht das kreative, durch den Bruch von Normen charakterisierte sprachliche Handeln gegenüber.
2.5. Kulturwissenschat/Tradition und Identität In den Kulturwissenschaften spielt das Problem des Abweichens u. a. eine Rolle bei der Bestimmung der zentralen Kategorien ,Tradition‘ und ,Identität‘. Tradition, eine anthropologische Konstante, ist für die Fortexistenz von Gesellschaften, für deren Überliefe-
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik rungsprozesse zuständig. „Texte sollen genauso gelesen, gelernt, erinnert [und geschrieben U. F.] werden wie ehedem“ (Auerochs 2004, 24) Das geschieht in Verbindung von Selbstverständlichkeit und Normativität und konstituiert ein Zugehörigkeitsgefühl (ebd., 27). Tradition verfügt über restriktive wie über kreative Funktionen. Gegenüber der restriktiven führt die kreative Funktion zum Abweichen und damit möglicherweise zur Herausbildung neuer Traditionen: Texte werden nun anders geschrieben, gelesen und gelernt. Assmann (2006) unterscheidet zwischen „Inklusions-Identität“, die durch „opting in, d. h. durch Übernahme einer sozialen Rolle und Erwerb von Identität durch Zugehörigkeit“ entsteht, und „Exklusions-Identität“, die durch „opting out, d. h. durch Markierung einer Differenz zwischen dem eigenen Ich und allen vorformulierten sozialen Rollen“ gebildet wird (ebd., 215). Die Notwendigkeit, eine Differenz zum Vorformulierten herzustellen, bringt den ständigen Zwang „zur Erneuerung, Überbietung, Überhöhung“ mit sich (Assmann 1986, 128).
2.6. Literaturwissenschat/Abweichungsästhetik In der Literaturwissenschaft spielt das Abweichen u. a. unter literaturgeschichtlichem, kunstphilosophischem, evolutionstheoretischem, strukturalistischem und kulturwissenschaftlichem Aspekt eine Rolle. Als ein Topos der Literaturgeschichte kann gelten, dass poetische Regelhaftigkeit, die in Verbindung mit dem „aktuellen, genuin neuzeitlichen staatlichen Ordnungsbedürfnis“ der Zeit steht (Brenner 2004, 28), ein besonderes Merkmal der Literatur des 17. Jh. ist. Aber auch hier ist Abweichung eine Größe: „Das dominierende Kennzeichen der Barockliteratur wird ihr Drang zur Reglementierung sein […], das Zusammenspiel von Regel und Abweichung bleibt eine auffällige Eigenheit ihrer Entwicklung“ (Brenner 2004, 25). Im 18. Jh. ändert sich das aus politischen, geistesgeschichtlichen, philosophischen, ästhetischen Gründen (Stolt 2003, 2595 f.). „Die Künste, insbes. Literatur und Musik, [emanzipieren sich] von den Normen der traditionellen Regelwerke und [finden] zu jener Autonomie, durch die sie dem Selbstbewusstsein des modernen Menschen zur Darstellung verhelfen“ (Recki 1999, 1032). Bis heute bestehe, so Luckscheiter über die Erzählliteratur in diesem Handbuch, der Erwartungsdruck der Moderne, innovativ zu sein und von der Alltagssprache abzuweichen. Gegen die Vorstellung von „historischer Bedingtheit“ und „epochaler Begrenztheit“ der Abweichungsästhetik wendet sich Fricke (2000, 55). Für ihn ist Abweichung ein konstitutives Element von Literatur schlechthin, als kunstphilosophisches Modell stelle sich die Konzeption von Norm und Abweichung dem Anspruch, „Beschreibungskategorien für Kunstwerke aller Zeiten und Sparten“ anzubieten“ (ebd., 55), was Kumulationen nicht ausschließe: „Zumindest das späte 18. wie das frühe 19. Jahrhundert […] erweisen sich als eine einzige Fundgrube für die Geschichtsschreibung einer Ästhetik der Abweichung“ (ebd., 56). Bezogen auf Stil äußert sich van Peer aus evolutionstheoretischer Sicht zum Problem von Muster und Abweichung als Erscheinung zwischen Epigonentum und Kreativität. Im Dienste sozialer Integration folgt der Mensch durch Verwendung imitativer Formen einem herkömmlichen Stil. Im Sinne „einer […] menschlichen Entwicklung, die alle Tendenzen zum Experimentieren und zu Neuschöpfungen […] umfasst“ (van Peer 2001, 48), kreiert er neue Stile. Das Wesen strukturalistischer Ansätze zum Erfassen poetischer
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Abweichungen besteht darin, dass sie die poetische Funktion eines Textes als bewusste Abweichung von der Norm untersuchen. Diese Abweichungen vom „Normalen“ gelten jedoch als „in höchstem Grade angemessen“ (Oomen 1980, 266). „Sie lassen sich automatisch, allgemein verbindlich und eindeutig interpretieren, wenn man die Regelhaftigkeit herausfindet, durch die sie sich auf normale Ausdrücke zurückführen lassen“ (ebd., 270). Die poetische Ausdrucksweise gilt als eine verfremdende Ausschmückung des eigentlichen Sprechens, die im Interpretationsvorgang „durchschaut“ werden muss. Aus kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive fragt Assmann (1988), wie es zu erklären ist, dass das Abweichen vom Üblichen, sogar die Regelverletzung in literarischen Texten nicht auf Rezeptionswiderstände stoße. Es setze, so Assmann, eine spezifische Art von Semiose ein, die in der Intention des Produzenten gelegen haben muss und die die Rezipienten zu vollziehen bereit sind, die sie der Aufnahme regelhafter Texte sogar vorziehen. Es geht um Wahrnehmen durch Bevorzugen und Ausblenden zugleich. Was wahrgenommen wird, ist durch einen freien Umgang mit Normen gelenkte „wilde Semiose“.
3. Rhetorik: Deviation, Normen und Überormung 3.1. Deviation Von den Kategorien der Rhetorik sind für unseren Gegenstand v. a. zentral: ars (Beherrschung eines Regel- und Definitionskanons), imitatio (Nachahmung mustergültiger Beispiele), aptum (Angemessenheit an Situation im weiten Sinne), deviation (Abweichung von einer Normsprache) und Figuren (strukturell verfestigte Sprachmuster). Nach der bis heute in der Rhetorik präsenten Deviationstheorie gelten Figuren aufgrund ihrer Ungewöhnlichkeit als Abweichungen vom „normalen“ Sprachgebrauch. Trotz offener Fragen wie z. B., ob man alle Figuren als abweichend erklären kann, ob der „normale Sprachgebrauch“ ein geeigneter Bezugspunkt ist und ob man auf andere Bezüge, wie z. B. die außersprachlich motivierte Wahl, verzichten kann, sind Beschreibungssysteme für Figuren als Abweichungen nach wie vor im Blick. Zentraler Gedanke ist dabei, dass die Deviationstheorie ihren Gegenstand als die Art von Abweichung versteht, die mithilfe etablierter sprachlicher Operationen zu den Figuren der Änderungskategorien ,Verkürzung‘, ,Erweiterung‘, ,Umstellung‘, ,Ersetzung‘ (andere Klassifikationen: Knape 1992, 549 ff.) führt. Abweichung wird ⫺ anders als im alltagssprachlichen Verständnis ⫺ als regelgeleitet betrachtet (vgl. aber 2.6). Der Hintergrund für Änderungskategorien und Deviation wird verschieden bestimmt, wobei der Ansatz, Abweichung an der Nichteinhaltung von „Normalsprache“ zu messen, als obsolet gilt; denn tatsächlich können rhetorische Figuren nicht als „nicht-normalsprachlich“ (Bachem 1992, 528) angesehen werden, da sie akzeptierten Regeln folgen. Dass diese akzeptierten Regeln ihrerseits auch gebrochen werden können (Lizenz), wird unter verschiedenen Aspekten betrachtet: Plett weist auf gewollte Inkongruenzen hin (1991, 25), Ueding auf die „bewusst unangemessene Stilebene“ (1985, 28) und Knape (2000a, 18) zeigt Gattungsbruch. Es geht um zwei Stufen des Abweichens: die Figuren als „regelgeleitete“ Deviation und der „funktional intendierte Normverstoß“ (Plett 1991, 25). Im Folgenden wird der Umgang mit Deviation an zwei exemplarischen Auffassungen gezeigt.
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3.2. Deviation als Abweichung von primären und sekundären Normen Plett (2000) setzt sich in einem generativen Rhetorikmodell mit dem Problem des „Hintergrundes“, also mit der Frage, woran Abweichungen gemessen werden, auseinander. Er schlägt eine Lösung mit einem differenzierten Normbegriff und ein „neues FigurenModell“ (ebd., 20) vor, das alle Figuren als intendierte Abweichungen darstellt. Zeichentheoretisch begründet, werden nach den Bereichen Syntax, Pragmatik und Semantik drei Klassen von Abweichungen und drei Gruppen von Figuren abgeleitet: (semio)syntaktische, pragmatische, (semio)semantische, die sich auf das jeweils zugehörige Grammatik-, Kommunikations-, Realitätsmodell beziehen. So sind die syntaktischen Figuren z. B. durch Abweichung von der üblichen Kombinatorik der Lautzeichen, also von der standardsprachlichen Norm, gekennzeichnet. Die Abweichungsmöglichkeit sieht Plett in einer „rhetorischen Sekundärgrammatik“ (ebd., 20) beschrieben, die ebenfalls eine Norm bildet, die der „Rhetorizität des Sprachzeichens“ (ebd.). Man hat bei Figuren also immer mit zwei Normebenen zu rechnen, wobei die primäre ⫺ z. B. die syntaktische ⫺ die „Nullebene“ (degre´ ze´ro) darstellt, von der auf der sekundären ⫺ der rhetorischen ⫺ Ebene (Rhetorizitätsnormen) die Figuren gewollt abweichen. Pragmatische und semantische Figuren lassen sich ebenfalls als Deviation erfassen, abweichend von der „üblichen Norm der sprachlichen Kommunikation“ bzw. von der „üblichen Norm des Realitätsbezuges“ (ebd., 31). Die linguistischen Operationen, die die Transformation von Grammatik in Rhetorizität bewerkstelligen, unterscheidet Plett in solche, die primärsprachliche Normen verletzen („Lizenz: A-grammatikalität“ ebd., 21) und solche, die primärsprachliche Normen verstärken („Äquivalenz: Syn-grammatikalität“ ebd., 21). Den Vorwurf des Formalismus will er entkräften, indem er die „rhetorische Situation“ (ebd., 34), dominiert vom „persuasiven Zweck“ (ebd., 35), einbezieht. Defekte Formen („Ungrammatikalitäten“ ebd., 35) sowie unauffällige Deviationsformen (ebd., 36) wie „notwendige Metaphern“ (Flaschenhals, Buchrücken) schließt er aus. Nur in einer persuasiven Situation haben die Deviationsformen den Charakter von Figuren.
3.3. Deviation und Überormung Knape (2000b) wendet sich gegen die generelle Gültigkeit der Deviationstheorie als Erklärung für Änderungskategorien, also für Verfahren, die das Zustandekommen von Tropen und Figuren erfassen. In der Auseinandersetzung mit deren Wesen zeigt er vor dem Hintergrund von Quintilians Kategorie der Bewegung die Komplexität des Begriffs figura. Zum einen handelt es sich bei der Figurenverwendung selbstverständlich um Abweichung. Nach Quintilian müsse es darum gehen, partiell vom Üblichen abzuweichen. Diese Forderung erfüllt die Figur, weil sie entfernt ist von der sich zunächst anbietenden Ausdrucksweise (Knape 2000b, 160 f.). Zweifellos, so Knape, liegt dieser Auffassung eine Deviationstheorie zugrunde. Zum anderen weist Knape auf das Merkmal der Überstrukturierung hin, durch das Figuren auch charakterisiert sind: „Veränderung der einfachen, spontanen Ausdrucksweise nach Art des Poetischen oder Oratorischen“ (Knape 2000b, 162 f.). Das ist nicht Deviation, sondern „Erzeugung von zusätzlichen Strukturen, die vorgegebenen, kodifizierten, außergrammatischen Wohlgeformtheitsregeln gehorchen“ (ebd.). Es geht um Veränderungen nach den Regeln der rhetorischen Kunstlehre, die zu
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einem ästhetischen Mehrwert führen. Nur vor dem Hintergrund vom Wissen um „figurenfreie“ Rede hat man auch eine Vorstellung davon, was überstrukturierte, mehrwertige Rede ist. Änderungskategorien und Figuren repräsentieren also nicht nur das Abweichen von Erwartungen, sondern auch den Gewinn eines zusätzlichen Wertes (s. 2.6). Das Deviationsprinzip gilt nach Knape nur für den Bereich der grammatischen Figuren; denn erst vor dem Hintergrund einer Regelgrammatik können Abweichungen überhaupt entstehen und erkennbar werden. Das trift nicht zu für den Bereich der Tropen, da man von einem vergleichbaren Regelsystem für „richtigen“ Wortgebrauch nicht ausgehen kann.
3.4. Ablösung von Deviation durch Individuation Der Paradigmenwechsel des 18. Jh. ⫺ Etablierung des Faches Ästhetik (Baumgarten 1750/58), Begründung der Individualstilistik (Moritz 1785) und damit die Abwendung von der Regel-Rhetorik ⫺ bringt einen radikalen Bruch mit der rhetorischen Tradition der ars, exercitatio und imitatio. Der Maßstab des rhetorischen Regelwerks wird vom Ideal des Individualstils „als Ausdruck der Persönlichkeit, der sich jeder normativen Definition entzieht“ (Ottmers 1996, 207), abgelöst. Mit Moritz wird Stil als Ausdruck der persönlichen Empfindungen des Autors verstanden. Dreistillehre und Figuren mit Deviationspotential werden nun als mechanisches Regelwerk betrachtet, ungeeignet, einen natürlichen und individuellen Stil hervorzubringen. An ihre Stelle treten das stilistische Vermögen der „nicht regelhaften individualistischen natura des empfindenden Subjekts“ (ebd.) und eine wirkungsästhetische Sicht. Nicht mehr an die Vorgaben der Dreistillehre gebunden, hat das Individuum nun die nicht leichte Aufgabe, eigene Lösungen für seine Ausdrucksbedürfnisse zu finden. „Das eröffnet große, bislang nie da gewesene Spielräume.“ (Braungart 2004, 297), zu denen vor allem die „Sprachverletzungen“ mit Funktion (Fricke 2000, 14), der „kalkulierte Regelbruch“ (ebd., 59) gehören. Der Buchtitel „Regeln für Abweichungen“ (Dittgen 1989) zeigt exemplarisch, dass auch die scheinbar autonomen „Sprachverletzungen“ der Moderne nicht regellos verlaufen, wie man sich überhaupt dessen bewusst sein muss, dass bei aller Freiheit des Stils immer Regelbzw. Musterhaftigkeit (Sandig 2006) zu konstatieren ist. Zudem bilden rhetorische Figuren ein nach wie vor genutztes Arsenal, z. B. in journalistischen Texten.
4. Textstilistik: Verahren, Typisierungen, Brüche 4.1. Pragmatische Stilistik: Fortühren und Abweichen Die verschiedenen Arten von „Hintergründen“ für Abweichungen, die in der Stilistik im Laufe ihrer Entwicklung eine Rolle gespielt haben, Pattern, Regeln, Konventionen, innere und äußere Norm (s. 1.2), sind mit der Etablierung der Pragmatischen Stilistik (bei Püschel 2000: ,Handlungsstilistik‘), der Funktionalstilistik und der Gesprächsstilistik durch die nun dominierenden Begriffe vor allem des ,Musters‘, aber auch der ,Typisierung‘ abgelöst worden. Der Begriff der ,Erwartung‘ wurde, wenn auch unspezifiziert, beibehalten. Während in der Pragmatischen Stilistik die Vorstellung des Abweichens, stärker noch die des Unikalisierens, im Mittelpunkt stehen, sind sie in den beiden ande-
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik ren Stilauffassungen eher Randphänomene. In der 1978 vorgestellten sprechakt- und handlungstheorisch begründeten und 1986 um die ethnomethodologische Perspektive erweiterten pragmatischen Stilkonzeption von Sandig spielt das Muster eine zentrale Rolle. Ausgangspunkt ihrer die konventionellen Stile von Gebrauchstexten in den Mittelpunkt stellenden Auffassung ist, dass eine linguistische Stilistik im Gegensatz zur Tradition das Regelhafte, Konventionelle zum Gegenstand zu machen hat (1978, 5), weil im sprechakttheoretischen Sinne die „Befolgung von konventionellen Formulierungsarten als für das richtige Verstehen relevant“ angesehen wird (ebd., 18). Demzufolge spielen Konventionen, Erwartungen (ebd., 11) und vor allem Muster ⫺ zentral sind Textmuster und Formulierungsmuster (ebd., 20) ⫺ eine bestimmende Rolle. Textmuster schriftlicher Texte sind nach dem Modell der Sprechakttheorie beschreibbar als komplexe Sprechakte „nach Voraussetzungen, Intentionen, Ergebnissen und Folgen“ (ebd., 69 f.). Als stilistischen Teil eines Textmusters setzt Sandig Stilmuster oder den konventionellen Stil an und meint damit „eine bestimmte Art von Formulierungsmuster, das Sprecher Adressaten gegenüber benutzen, wenn sie Texte nach einem Textmuster äußern“ (ebd., 26). Zu Stilmitteln werden auch Handlungsarten (Handlungsmuster) gerechnet (ebd., 34). Wenn Sprecher für den Vollzug von Texthandlungen gleichartige sprachliche Phänomene immer wieder gebrauchen, vollziehen sie auch immer wieder gleichartige sprachliche Handlungen (ebd., 32), sie bedienen sich des Handlungsmusters Fortführen, zu dem neben Wiederholen und Variieren auch Abweichen gehört: Werden stilistische Phänomene gezielt nicht fortgeführt, geht es um das Handlungsmuster Abweichen. In der Stilistik von 1986 verliert der Bezug auf das Konventionelle zwar nicht an Bedeutung, erhält aber ein Gegengewicht: Fortführen und Abweichen werden ergänzt durch die Textherstellungsverfahren Typisieren und Unikalisieren (ebd., 147 f.). Während beim Typisieren die Handlung nach den Vorgaben des Musters vollzogen wird, wird beim Unikalisieren als genereller Technik bewusst von Mustern abgewichen, Variationen, Mischungen werden hergestellt (ebd., 147). Unikalisieren führt also zum Auffälligen vor dem Hintergrund des durch Typisieren unauffällig gestalteten Hintergrunds. Zu den Funktionen des Unikalisierens zählt Sandig auch Selbstdarstellung und Beziehungsgestaltung des Produzenten und stellt so einen Bezug zu soziologischen Stilvorstellungen (s. 2.3) her. In der handlungs- und kognitionstheoretisch sowie konversationsanalytisch angelegten Textstilistik von 2006 führt sie das Konzept der Gestalttheorie ein, das mit Abweichen und Unikalisieren bereits angelegt war. Merkmalhafte und neutrale Elemente, das Auffällige und Unauffällige eines Textes, bilden zusammen die Gestalt. Typisieren und Unikalisieren sind die Prozesse, die die individualisierte merkmalhafte Figur vor dem neutralen typisierten Hintergrund herausarbeiten, also Wahrnehmbarkeit schaffen und Aufmerksamkeit wecken. Der Musterbegriff wird nun nicht mehr handlungstheoretisch, sondern kognitionslinguistisch bestimmt. Textmuster werden verstanden als ganzheitlich mental repräsentierte Gestalten prototypischen Charakters mit Funktion und Struktur. Typisierte Stile gelten folgerichtig als „prototypische Gestalten“ (ebd., 72). Abweichungen können nach diesem Konzept sowohl als Verhältnis von Vorder- und Hintergrund als auch als Mischung prototypischer Elemente verschiedener Muster betrachtet werden.
4.2. Funktionalstilistik: Stilzüge und Muster Die von der Prager Schule herkommende Funktionalstilistik (Riesel/Schendels 1975; Fleischer/Michel 1975) geht davon aus, dass es einen korrelativen Zusammenhang gibt zwischen Außersprachlichem (Tätigkeitsbereiche, Kommunikationssituationen) und für
77. Muster und Abweichung in Rhetorik und Stilistik dieses Außersprachliche typische sprachliche Gebrauchsweisen. Nach der Art dieser Korrelationen werden Funktionalstile unterschieden, z. B. die des Alltags, des Amtsverkehrs, der Wissenschaft, der Journalismus, der Belletristik, deren Zahl schwankt und die in Substile oder Textsorten untergliedert werden können. Diese sind durch dominierende Stilzüge gekennzeichnet, also Charakteristika des Gesamttextes, die zwischen den einzelnen Stilelementen und dem Stilganzen auf eine für den Tätigkeitsbereich oder die Textsorte charakteristische Weise vermitteln und nicht fehlen dürfen, wenn der Text einem Funktionalstil zugeordnet werden soll. Diese Auffassung versteht sich als auf das Funktionieren und auf Wirkung hin orientiert und rückt daher das Normative, d. h. die einen Funktionalstil dominierenden Stilzüge, in den Vordergrund. Abweichungen sind daher kein relevantes Thema, wenn auch individuelle Spielräume innerhalb der Vorgaben gesehen werden. Anders verhält es sich in der von den Autoren als formulierungstheoretisch bezeichneten Weiterentwicklung der Funktionalstilistik (Fleischer/Michel/Starke 1993). Sie arbeitet mit dem Prototypenkonzept der Gedächtnispsychologie: Begriffliches Wissen wird als vernetzt betrachtet, „in typischen Konstellationen und mit der Herausbildung von Prototypen (als Mustern mit hohem Typikalitätsgrad) angeeignet und gespeichert“ (ebd., 26). Das trifft auch zu für das Wissen über Textstrukturen und Stiltypen (offene Menge von Texten, die gemeinsame stilistische Dominanzen haben). Im Zentrum eines Stiltyps gibt es Prototypen, konkrete Texte mit hochgradiger Ausprägung der jeweils typischen Merkmale. An der Peripherie finden sich weniger typische Fälle. Das Wissen darum, was als prototypisch gilt, auch für Textsortenstile als wiederkehrende Muster (ebd., 35), teilen die Mitglieder der Sprachgemeinschaft im Wesentlichen. Den „Muster[n] für gesellschaftlich sanktioniertes Formulieren im Bezugsfeld der entsprechenden Textsorte“ (ebd., 52) wird normative Kraft zugesprochen. Möglichkeiten des bewussten Stil- und Musterbruchs, also der Abweichung, werden unter dem Stichwort der Expressivität vorgestellt.
4.3. Gesprächsstilistik: Typisierte Stile In ethnomethodologisch, konversations- und kontextualisierungsanalytisch sowie handlungstheoretisch angelegten Gesprächsstilistiken ist der Grundgedanke, dass Interaktionspartner in Kontextualisierungsverfahren einen für die anstehende Interaktion „,normalen‘, ,unmarkierten‘, ,unauffälligen‘ ,Referenzsprechstil‘“ erst aushandeln, der allerdings auch „Spielraum lässt für lokale Variation oder auch spätere Umdefinitionen“ (Selting 1989a, 203). Stil orientiert sich also nicht an situationsunabhängigen Faktoren wie Redekonstellation, Funktionsbereich, Textsorte, an denen eine etwaige Abweichung gemessen werden könnte, sondern er wird in Beziehung zum Kontext gemeinsam hervorgebracht und aus sozial und interaktiv interpretierten Merkmalen konstituiert. Dies geschieht allerdings nicht im luftleeren Raum, sondern in Relation zu paradigmatischen Alternativen: „aus denen aktiv und immer Sinn-konstituierend gewählt“ werden kann (Selting 1989b, 7). Es wird vollzogen mit Verwendung und in Abwandlung bereits vorhandener typisierter Stile, die als Ressource genutzt und in dem Sinne auch gemischt und gebrochen werden können. In diesem Sinne sind Abweichungen hier als Relation zwischen typisiertem Hintergrund und konkret ausgehandeltem Stil zu verstehen.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
4.4. Stilwissen im Textmusterwissen Die Betrachtung von Musterhaftigkeit im Stil ist von der Musterhaftigkeit der Texte nicht zu trennen. Dies bedeutet einerseits, dass es Stil nur im Textzusammenhang gibt und sprachliche Mittel außerhalb des Textes stilistisch nicht eingeordnet werden können, und andererseits, dass die reale Existenz eines Textexemplars auch vom Vorhandensein eines einheitlichen Stils abhängt. Ohne diesen sind Textmusterbezogenheit und Textualität eines Textes nicht zu erkennen (Fix 2005). Wie auch immer Textmusterwissen spezifiziert und beschrieben wird ⫺ Wissen über textkonstitutive Stilmuster gehört dazu, d. h. Kenntnis der stilistischen Muster und Verfahren, die sich in sozialer Konvention herausgebildet haben und in bestimmter Auswahl für ein jeweiliges Textmuster als kennzeichnend gelten. Stilmuster reichen von komplexen Textmusterstilen und Funktionalstilen, von Stilebenen, Stilschichten und typisierten Stilen (komplexe Ressourcen für bestimmte Kommunikationsaufgaben) über weniger komplexe, aber auch Textualität konstituierende wie Stilzüge bis hin zu punktuellen wie Stilfiguren, die teilweise ⫺ z. B. Anapher, Epipher, Parallelismus ⫺ auch auf Textzusammenhänge angewiesen sind. In handlungsorientierten Stilistiken haben auch Handlungsmuster als auf eine bestimmte Weise Stil herstellende Verfahren einen zentralen Platz. Abweichungsmöglichkeiten sind einerseits insofern gegeben, als Stilmuster dem Hervorheben (s. 3.3) dienen können, andererseits dadurch, dass es, wo es feste Stilmuster und -verfahren gibt, immer auch die Möglichkeit zum intendierten Stilbruch als einer eklatanten Art des Abweichens mit einer bestimmten Wirkung gibt.
4.5. Stilpotenzen nichtstilistischer Muster Auch nichtstilistisches Musterwissen ist eine Ressource für Stil. Wissensmuster, Handlungsmuster, Textmuster können, wenngleich keine stilistischen Phänomene, stilbildend eingesetzt werden, dann nämlich, wenn von ihnen intendiert abgewichen wird. Bei der Umsetzung können Produzenten verschiedene Möglichkeiten des Abweichens wahrnehmen, die bei der Rezeption vor dem Hintergrund der Kenntnis der Merkmale der Textsorte z. B. als stilistisch bedeutsam interpretiert werden. In dem Kontext spielen Verfahren wie Mustermontage, Mustermischung und Musterbrechung eine Rolle: Textmustermontage ⫺ Kopplung mehrere Textexemplare verschiedener Muster, die einer Intention folgen; Textmustermischung ⫺ prototypische Eigenschaften mehrerer Textmuster mischen sich in einem Textexemplar; Textmusterbruch ⫺ ein Textexemplar hat Züge eines Textmusters und darüber hinaus Eigenschaften, die sich keinem Muster zuordnen lassen (Fix 1999; vgl. auch Musterimplementierung, Mustermix, Mustereinbettung bei Sandig 2006, 165). Das Spiel mit den Mustern ist ein immer häufiger zu beobachtendes Phänomen der „Grenzüberschreitung“, wie es in literarischen und nichtliterarischen Texten als Nutzung typologischer Intertextualität (Text-Textsorten-Bezug) begegnet. Dieser dem „normalen“ Gebrauch entgegengesetzte Umgang mit Textmustern hat das Ziel, die Aufmerksamkeit aus der Fülle der Texte gerade auf diesen zur Rede stehenden zu lenken und eine verfremdete Semiose in Gang zu setzen.
77. Muster und Abweichung in Rhetorik und Stilistik
1313
4.6. Stilistische Einheit eines Textes - Stilbruch Während es innerhalb verschiedener Stilauffassungen mittlerweile einen Konsens über die Textgebundenheit von Stil gibt, ist die Lage in der Textlinguistik anders. Zwar wird in der Regel „fraglos vorausgesetzt, dass dem Text Stil eignet […] Eine Entfaltung der Rolle, die Stil für den Text spielt, wird jedoch nicht geboten“ (Püschel 2000, 479). Die Tatsachen, dass ein Text eine sprachliche Einheit bildet, dass beim Textherstellen ein einheitlicher Textgestus hergestellt und damit sowohl ein individueller Textstil kreiert als auch ein der Textsorte angemessener Ausdruck gefunden wird (Fix 2005), können als Textualitätskriterien gelten. Mit dieser Einheitlichkeit wird in Textmustermischungen z. B. (s. 4.4) bewusst gespielt und Abweichung erzielt. Neben Stil als textkonstitutivem Mittel gibt es aber auch das Phänomen des Stilbruchs als ungewollte Vermischungen von Stilebenen, Stiltypen, Darstellungsarten u. a., die nicht als intendierte Abweichungen wirken, sondern als funktionsloser Verstoß, der die Texteinheitlichkeit und damit die Rezeption gefährdet. Bei aller Verschiedenheit der hier vorgestellten Arten und Auffassungen von Abweichung wird doch deutlich, welch zentrale Funktion der Vorgang des Abweichens für die rezipientenorientierte Textgestaltung hat.
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77. Muster und Abweichung in Rhetorik und Stilistik
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
78. Situation als Kategorie von Rhetorik und Stilistik 1. 2. 3. 4. 5.
Situative Grundkonstellationen Zum Stellenwert von ,Situation‘ für die theoretische und praktische Rhetorik ,Situation‘ als Theorieelement in der Stilistik Zur Situationstypik von rhetorischen Gattungen und Stiltypen Literatur (in Auswahl)
Abstract The article deals with a number of views on the role of situational context both for rhetorical communication and stylistic variation. It examines the impact of the category of situation on the derivation of rhetorical or stylistic rules which do not only establish relations between particular situational aspects and characteristic details of speech/conversation/style but also between types on both sides. It is evident that it is impossible to apply the category of situation without taking into account the participants and their activities in a communicative act.
1.
Situative Grundkonstellationen
1.1. Die situative Grundkonstellation der rhetorischen Kommunikation Rhetorik und Stilistik haben mit anderen textwissenschaftlichen Disziplinen (Textlinguistik, Literaturwissenschaft) gemeinsam, dass Erscheinungsformen und Regularitäten der Textkonstitution weitgehend situationsunabhängig beschrieben werden können. Das Hauptaugenmerk kann in der Rhetorik auf die Beschreibung universell verwendbarer Argumentationsmuster gerichtet sein oder auf allgemein verfügbare Ordnungsprinzipien für die Darstellung eines Sachverhalts, in der Stilistik auf die Beschreibung grammatischlexikalischer Stilelemente oder bestimmter Stilmuster wie Nominal- und Verbalstil. Sobald Texte (i. w. S.) und Stile in den Rahmen eines kommunikativen Ereignisses bzw. einer sozialen Veranstaltung (z. B. Gerichtsverhandlung, Wahlkampfveranstaltung, Predigt) gestellt werden, kommt die Situierung der (stilistischen) Textkonstitution in das Blickfeld. In der Ausrichtung auf Letzteres liegen bekanntlich die Wurzeln der Rhetoriktheorie, ist zugleich ihre (wiederentdeckte) Spezifik im Ensemble der textwissenschaftlichen Disziplinen begründet. Rhetorische Situationen im ursprünglichen Sinne liegen dann vor, wenn sie „ein Procedere notwendig machen, das im Austausch der Meinungen eine Klärung über den vorliegenden Sachverhalt ermöglicht, ohne daß für diese Klärung eine übergeordnete und von allen fraglos akzeptierte Perspektive eingenommen werden kann“ (Ptassek 1993, 7). Es handelt sich also um eine problembehaftete situative Konstellation: aus der Sicht des Redners um eine Konflikt- bzw. Streitsituation, aus der Sicht des Redepublikums um eine Entscheidungssituation, insofern als es sich vor die Entscheidung gestellt sieht, einer vorgebrachten Meinung zuzustimmen oder ihr eben die Zustimmung zu verweigern. Diese Bestimmung des Rhetorischen, festgemacht an der Spezifik
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einer Problemsituation zwischen Redner und Redepublikum, orientiert sich an den spezielleren situativen Rahmenbedingungen klassischer Rhetorikbereiche (gemeint sind insbesondere forensische und politische Rhetorik bzw. Gericht und Parlament), so etwa an Platons Rekonstruktion situativer und sozialer Voraussetzungen für rhetorische Kommunikationsereignisse am Beispiel des Interagierens von Redenden vor Gericht. Diese müssten sich, wenn sie sich behaupten wollen, um sozial überleben zu können, bestimmten Bedingungen unterwerfen ⫺ Bedingungen notorischen Zeitmangels, restriktiver Parteilichkeit, strategischen Kommunikationsverhaltens u. a. (vgl. Kopperschmidt 1999, 13). In rhetorischen Situationen müssen sich Menschen durch Reden (oder Schreiben) behaupten, wenn sie ⫺ im übertragenen wie nichtübertragenen Sinne ⫺ überleben wollen. Rhetorik reflektiert solche Situationen einschließlich der für sie geeigneten kommunikativen Verhaltensmuster. Wer das Wesen von Rhetorik verstehen will, muss ihre anthropologischen Voraussetzungen kennen (vgl. Blumenberg 1991; Kopperschmidt 1999).
1.2. Die situative Grundkonstellation bei stilistischer Variation In vergleichbarer Weise ist eine allgemeine Theorie des Stils auf ein anthropologisches Fundament zu stellen (vgl. van Peer 2001, 40 ff.). Die Frage nämlich, warum es stilistische Variation (im Sprachlichen wie Nichtsprachlichen) überhaupt gibt, führt zu zwei unterschiedlichen Grundmustern menschlichen Verhaltens: Zum einen gibt es das Muster der Anpassung an Usuelles/Normatives, dessen Befolgung sozialen Nutzen verspricht, da sie im Interesse einer optimalen sozialen Interaktion liegt; zum anderen gibt es das Muster des Abweichens vom Usuellen/Normativen bzw. des „Experimentierens mit dem Unbekannten“ (ebd., 48), was dem Bedürfnis nach Abgrenzung, dem Wunsch nach kreativem Tätigsein oder auch der Notwendigkeit entspricht, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen, und was insgesamt gesehen die zweite Seite der funktionalen Natur des Stils ausmacht. Bei Assmann (1986, 128) lesen wir in diesem Zusammenhang wesentlich früher von zwei „stilträchtigen Strategien“: der Strategie des Anschlusses an eine Gruppe (opting in) und der des Austritts aus einer Gruppe (opting out). Die anthropologischen Wurzeln der Stilistik zeigen, dass Kommunikationsteilnehmer, indem sie einen Stil imitieren (Anpassung) oder kreieren (Abweichung), sich nicht zwangsläufig in einer Problemsituation befinden müssen. Beide Funktionen des Stils können indes eine rhetorische Dimension erhalten ⫺ je nachdem, ob im Anschluss- oder Austrittsverhalten die geeignete Kommunikationsstrategie gesehen wird, das angestrebte Redeziel zu erreichen. In der Wählbarkeit eines dieser beiden Verhaltensmuster mit ihren je besonderen sozialen Zielrichtungen ist die situative Grundkonstellation bei stilistischer Variation zu sehen. Der Textproduzent befindet sich in einer Entscheidungssituation, allerdings nicht generell im Sinne eines Entweder-Oder. Erstaunlicherweise zeigen gerade die Stilanalysen eines Leo Spitzer, dass bei stilistischer Variation auch ein Kompromiss zwischen Normbefolgung und Abweichung möglich ist, der seinerseits zur Norm werden kann (vgl. Neuschäfer 1986, 285 ff.). Dass sich Spitzers Analysen im Spannungsfeld zwischen den beiden stilträchtigen Strategien bewegen, erstaunt deshalb, weil bei ihm der Text erklärtermaßen in sich selbst ruht und stilkonzeptionell vordergründig als ein einmaliges, autonomes, von äußeren Umständen unbeeinflusstes Gebilde begriffen wird.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
2. Zum Stellenwert von ,Situation ür die theoretische und praktische Rhetorik 2.1. Verweise au ,Situation bei der Bestimmung des Rhetorischen und seiner Bereiche Wie in 1.1 festgestellt, entscheidet die jeweilige Blickrichtung auf rhetorische Textkonstitution über den Stellenwert der Kategorie Situation für die rhetorische Theorie und Praxis. Die „Allgemeine Rhetorik“ von Dubois u. a. (1974) wird ihrem Namen nur insofern gerecht, als sie, gestützt auf literarische (vorrangig poetische) Texte, eine theoretische Neufassung der elocutio anstrebt. Rhetorik sei die Kenntnis der für die Literatur charakteristischen sprachlichen Verfahren (ebd., 45), womit figurative Verfahren des Abweichens von einer Normalform gemeint sind. Situationsaspekte spielen keine nennenswerte Rolle; sie kommen lediglich in den Beispielanalysen zum Tragen, indem einige der als abweichend begriffenen Sprachformen in den Kontext wissenschaftlicher Veröffentlichungen und privater Alltagsgespräche gestellt werden und Besonderheiten der Rede der Bühne und des Films zur Sprache kommen. Selbst bei den herausgehoben beschriebenen „Erzählfiguren“ und „Figuren der Kommunikationspartner“ interessiert allein deren Systematisierbarkeit nach den streng strukturbezogenen Regeln des aufgestellten Systems. ,Situation‘ ist hier demnach nicht mehr als ein gewisser außersprachlicher Rahmen für die Exemplifizierung rhetorischer Figuren. Ein völlig anderes Verständnis von einer Allgemeinen Rhetorik tritt zutage, wenn man den Ursprungsbedingungen des Rhetorischen in der Antike zu folgen bereit ist. Dann nämlich kommen Beredsamkeit und die spezifische Problemsituation (vgl. 1.1) als qualifizierende Merkmale eines Kommunikationstyps in Betracht, der in das Zentrum einer Allgemeinen Rhetorik gerückt werden kann: die persuasive Kommunikation (vgl. Ottmers 1996, 15). ,Situation‘ wird dann zum Kriterium für die Bestimmung des Gegenstands von Rhetorik. Während sich ⫺ wie zu registrieren war ⫺ eine rhetorische Systematik weitgehend anhand literarischer Texte entwickeln lässt, wird rhetorische Kommunikation in ihrer Komplexität erfassbar, wenn man nach den Erscheinungsformen von Persuasion fragt. In die Zuständigkeit von Rhetorik fallen dann sämtliche Formen der mündlichen und schriftlichen Beredsamkeit, weiter untergliedert in monologische und dialogische Redeformen (wie Predigt und Debatte) zu allen öffentlichen und privaten Anlässen (vgl. ebd., 6). Wie zu erkennen ist, zeigen diese Kommunikationsformen eine Bindung an spezifische Situationsaspekte: (1) das Medium der Kommunikation (mündlich/schriftlich), (2) die Kommunikationsrichtung (monologisch/dialogisch), (3) den sozialen Sektor der Kommunikation (privat/öffentlich). Die einzelnen Situationsaspekte dienen als Kriterien für die Erfassung der Vielfalt an rhetorischen Kommunikationsformen. Das Kommunikationsziel der Persuasion, d. h. die strategiegeleitete, entscheidungsstimulierende Einflussnahme auf das Denken, Fühlen und Handeln von Kommunikationspartnern, stellt sich immer nur in einer Problemsituation der beschriebenen Art. Rhetorische Situationen können aber auch umfassender definiert werden ⫺ mit der Konsequenz, dass der Gegenstandsbereich der Rhetorik eine weitere Ausdehnung erfährt. Rehbock (1980, 297 f.) z. B. bezieht rhetorisches kommunikatives Handeln auf alle die Situationen, in denen eine Kommunikationsbarriere in Gestalt von Rezeptionsschwierigkeiten, Wahr-
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nehmungs- und Reaktionshindernissen antizipiert wird, begleitet von Überlegungen, welcher zusätzliche kommunikative Aufwand zu betreiben ist, wenn sie überwunden werden soll. Kommunikationsbarrieren in der persuasiven Kommunikation bestehen in der unterstellten Differenz (Asymmetrie) zwischen den Kommunikationsteilnehmern in Bezug auf Meinungen, Haltungen, Überzeugungen und dergleichen mehr. Außerhalb der für Persuasion maßgebenden Situation hingegen liegen dann etwa die Antizipation einer zu geringen Verstehenskompetenz (bei der Wissensvermittlung) oder einer zu schwach ausgeprägten mentalen Zuwendung zu Personen/Sachen (z. B. bei mangelnder Gesprächsbereitschaft). Bei diesem Rhetorikverständnis erscheint das Rhetorische als ein Spezialfall des Kommunikativen und das Persuasive als ein Spezialfall des Rhetorischen. ,Situation‘ fungiert des Weiteren als Kriterium für die Differenzierung zwischen verschiedenen rhetorischen Kommunikationsbereichen. Klassische Bereiche sind die forensische, politische, homiletische und literarische Rhetorik; moderne die Medien-, Verkaufsund Bewerbungsrhetorik. Der Situationsaspekt ,Kommunikationsbereich‘, definiert als „soziale Sphäre mit den für sie charakteristischen Institutionen (i. w. S.) und Sozialbeziehungen“ (Fleischer/Michel/Starke 1996, 37), bildet dabei auch den Bezugsrahmen, um Veränderungen gegenüber den Ursprungsbedingungen von Rhetorik aufzuzeigen. So gilt aktuell für den Bereich der politischen Rhetorik u. a., dass das, was Politiker in einer demokratischen Gesellschaft öffentlich sagen, so gesagt werden muss, dass der Weg für politische Kompromisse freigehalten wird (vgl. Kammerer 1995, 24). Auch lassen sich innerhalb eines kommunikativen Rhetorikbereichs kulturelle bzw. interkulturelle Besonderheiten darstellen, beispielsweise ⫺ um im Bereich der Politik zu bleiben ⫺ Eigenheiten des Wahlkampfes in den USA (vgl. u. a. Ketteman 1994). Wie weit oder wie eng ein Kommunikationsbereich abgesteckt, in welche Teilbereiche er aufgegliedert wird, ist von speziellen Erkenntnisinteressen und praktischen Bedürfnissen abhängig (vgl. Fleischer/ Michel/Starke 1996, 36). Die neuere Rhetorikforschung entdeckt denn auch immer neue kommunikative Sphären für sich selbst, z. B. die Esoterik, die gewerkschaftliche Bildungsarbeit oder den Unterrichtsraum als Austragungsort für gesprächsrhetorische Wettspiele (vgl. die Beiträge in Mönnich 1999).
2.2. Situationskonzepte bei der Modellierung von rhetorischer Kommunikation Die sich nun anschließende Betrachtung der vom jeweiligen Rhetorikverständnis geleiteten Modellierung des Aufeinanderbezugs von Rede und Situation behandelt die Frage, welche Konsequenzen das betreffende Situationskonzept für die Erfassung und Akzentuierung von Situationsaspekten hat. Die einzelnen Konzepte zeigen nicht nur, wie verschieden ,Situation‘ bestimmbar ist, es wird auch deutlich, dass dem jeweiligen Konzept eine Schlüsselrolle zukommt bei der Darstellung des Situationsbezugs von Redegattungen, Stilarten o. Ä. sowie bei der theoretischen Fundierung der für wesentlich gehaltenen rhetorischen Erfordernisse. Unter Letzteres fallen beispielsweise die Beachtung von Redemaximen, die Abstimmung von Emotionsbekundungen auf den Redeinhalt, die Konzentration auf bestimmte Redezwecke bzw. -funktionen oder die Herstellung von Gemeinsamkeit zwischen den Kommunikationsteilnehmern.
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2.2.1. ,Situation als rededeterminierendes Umeld Einzugehen ist zunächst auf das tradierte Denkmuster, dass jegliche Rede insofern situativ determiniert ist, als die Redesituation ein Umfeld bildet, aus dem sich detaillierte Forderungen nach Angemessenheit (aptum) ableiten, denen sich Redner zu stellen haben, wenn sie ihr Redeziel erreichen wollen. Bei der auf Aristoteles zurückgehenden Situationstrias aus Redner (Rednerpersönlichkeit), Sache (Gegenstand der Rede) und Publikum gilt es Letzteres als grundsätzlich „richtunggebende Instanz“ (Ueding/Steinbrink 1994, 216) zu beachten, denn „der Zweck der Rede ist nur auf ihn, den Zuhörer, ausgerichtet“ (Aristoteles 1999, 19). Redesituationen werden als ein Komplex von äußeren Umständen begriffen; Raum und Zeit finden ebenso Berücksichtigung wie sozialgeschichtliche Einflussgrößen. Ottmers (1996, 152 f.) differenziert zwischen der konkreten Redesituation und der übergeordneten sozialen, politischen oder historischen Situation, so dass sich aptum-Relationen auch in ihrer historischen Wandelbarkeit erfassen lassen. Angemessenheitsforderungen wandeln sich naturgemäß, wenn sich die Rahmenbedingungen von Rhetorik ändern, wie dies für die einzelnen Rhetorikbereiche, so auch für den Bereich der Politik (vgl. Kammerer 1995), zu konstatieren ist, oder wenn sich ein Umdenken bei der Lösung kommunikativer Standardaufgaben abzeichnet, z. B. bei einem sich wandelnden Predigtverständnis. Roelofsen (1999a, 173) spricht ⫺ die gegenwärtige Praxis des Predigens beobachtend ⫺ von der „Wiedereinführung der Rhetorik in die Predigtarbeit“. Zusammenhänge zwischen Situationsaspekten und Redemerkmalen werden dem klassischen rhetorischen Kanon zufolge durch aptum-Muster (Ottmers 1996, 153) hergestellt, die für sämtliche Stadien der Verfertigung von Rede zur Verfügung stehen. Der für das Stadium der elocutio geltende Regelapparat erfasst insbesondere die folgenden situativ determinierten aptum-Relationen mit Einschluss geeigneter Redemittel (vgl. Plett 2001, 28 f.): (1) Stil ⫺ Redner (gefordert wird u. a. eine dem Ethos des Redners angemessene Ausdrucksweise); (2) Stil ⫺ Publikum (gefordert wird u. a. ein dem Bildungshorizont des Publikums angepasster Stil); (3) Stil ⫺ Redeanlass (gefordert wird z. B. ein formeller Stil für einen offiziellen Anlass); (4) Stil ⫺ Redegegenstand (gefordert werden Stilmittel, die z. B. der Bedeutsamkeit der besprochenen Sache entsprechen und diese zur Geltung bringen). Aptum-Muster sind rhetorikdidaktisch von besonderem Wert. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass bereits das antike Regelwerk auf eine flexible Handhabung setzte. Ottmers (1996, 153 f.) betont, dass rhetorische Kommunikation deshalb immer auch Einfühlungsvermögen sowie ein gewisses Fingerspitzengefühl erfordert und gerade auch dann funktionieren kann, wenn es das ausdrückliche Redeziel ist, Normvorstellungen oder gesellschaftliche Erwartungshaltungen zu durchbrechen. Auffällig an neueren, der rhetorischen Praxis verpflichteten Rhetorikdarstellungen sind Situationsdefinitionen, die sich auf das Organon-Modell der Sprache (Bühler 1934) sowie die Unterscheidung zwischen einem sachgerichteten Inhaltsaspekt und einem situationsgerichteten Beziehungsaspekt der Kommunikation (Watzlawick u. a. 1972) stützen. Dabei machen sich Unsicherheiten bemerkbar zu bestimmen, welche kommunikativen Aspekte zum Begriffsinhalt von ,Situation‘ gehören und welche nicht. So begegnet man in Rhetoriklehrbüchern zum einen einem Nebeneinander von Hörer und Situation ⫺ nach Allhoff/Allhoff (2000, 95 f.) gilt es einen Hörer- und einen Situationsbezug zu beachten. Zum anderen wird ein Miteinander von Sache und Situation postuliert, das aber eigentlich als ein Ineinander (Situation als übergreifend auch für die Sache) zu begreifen ist (vgl. Pabst-Weinschenk 2000, 20 f.; 24 f.), wofür es eine simple Erklärung geben mag:
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Wenn es so ist, dass die Beziehung zwischen Sprecher und Hörer einen Situationsrahmen mit gegenseitigen Einschätzungen, Erwartungshaltungen und Redeabsichten konstituiert, dann schließt dieser Rahmen sprecherseitige Überlegungen zur partnergerechten Sachdarstellung und hörerseitige Erwartungshaltungen gegenüber der zum Thema gemachten Sache ein. Insofern hat die Situationseinschätzung der Kommunikationsteilnehmer immer auch einen Sachbezug. Hinzu kommt, dass es Situationen geben kann, in denen eine reine Sachdarstellung kommunikativ am zweckmäßigsten ist, aber auch solche, wo es die Subjektgeprägtheit der Sachdarstellung ist, die der rhetorischen Erwartungshaltung am besten entspricht. Bühlers Zeichenfunktionen erweisen sich in diesem Zusammenhang als geeignet, „Redesorten“ (Pabst-Weinschenk 2000, 22 f.) in verschiedene situativ-funktionale Dimensionen zu stellen. Zu unterscheiden sind die vorrangig sprecherorientierte Meinungsrede (z. B. Kommentar), die vorrangig zuhörerorientierte Überzeugungsrede (z. B. Wahlkampfrede) und die vorrangig sachorientierte Informationsrede (z. B. Vortrag).
2.2.2. ,Situation als redeveranlassender Zustand Von der Bestimmung des Rhetorischen als eines persuasiven Prozesses ausgehend (vgl. 2.1) erscheint ,Situation‘ hier nun als ein vorgefundener, mit rhetorischen Mitteln beeinflussbarer/veränderbarer Zustand. Nach den feingliedrigen Unterweisungen zur persuasiven Kommunikation in Lausberg (1967, 15 f.) vollzieht sich persuasive Rede immer in Bezug auf eine Situation mit der Intention der Änderung dieser Situation. Situation wird als ein Zustand sachlicher, persönlicher oder sozialer Art bestimmt, den Menschen(gruppen) zu einem gegebenen Zeitpunkt antreffen, der für sie von Belang ist und durch Reden verändert werden kann. Obwohl ,Situation‘ somit eigentlich als eine prä- bzw. postkommunikative Gegebenheit bestimmt wird, kommen über die an einem persuasiven Kommunikationsprozess beteiligten Menschen(gruppen) indirekt auch Aspekte der Redesituation zum Vorschein. So baut die Rollenverteilung zwischen den Kommunikationsteilnehmern, bei der eine Trennlinie zwischen dem Situationsmächtigen und den Situationsinteressierten gezogen wird, zugleich eine für diese Art von Redesituation charakteristische Sozialbeziehung auf. Denn in der Hand des Situationsmächtigen liegt es und nur in seiner, eine Änderung der Situation herbeizuführen und damit eine Entscheidung zu treffen, auf die die Situationsinteressierten hingewirkt haben. Letztere spalten sich unter Umständen in Parteien auf, so dass zwischen Befürwortern und Gegnern einer Situationsänderung oder mehreren konkurrierenden Vorstellungen, die Situationsänderung betreffend, zu unterscheiden ist. An anderer Stelle bringt Lausberg (1967, 31) kognitive Aspekte der rhetorischen Kommunikation zur Sprache. Dies ist offenbar auf die Erkenntnis zurückzuführen, dass Situationsänderungen jedweder Art eine Bewusstseinsänderung vorausgehen muss. Der Kommunikationsprozess erscheint nun als die Überführung von Zirkularität (Bewusstseinsinhalten) in Linearität (Rede), an die sich die Überführung von Linearität in Zirkularität (Bewusstseinsresultate) anschließt. In der persuasiven Kommunikation werden diese Vorgänge ⫺ wie es heißt ⫺ von der Intention getragen, auf das Bewusstsein des Situationsmächtigen (z. B. eines Richters) einzuwirken. Dessen „Urteilsspruch“ überführt dann Zirkularität (Bewusstseinsresultate) in außer-
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik sprachliche Realität, bewirkt also die eigentliche, intendierte Situationsänderung (gegebenenfalls zum Vorteil einer der beteiligten Parteien). Um sich die dargelegten Verhältnisse zu verdeutlichen, kann man auch auf die moderne Differenzierung zwischen Sinnkonstitution und Handlungsauslösung (vgl. Geißner 1982, 12; 27) zugreifen. Zusammenhänge zwischen Situationsaspekten und Redemerkmalen treten in einem Regelwerk zutage, das sich ⫺ wie bei den aptum-Mustern (vgl. 2.2.1) ⫺ auf alle Stadien der Verfertigung von Rede erstreckt. Für das Stadium der dispositio führt Lausberg (1967, 33 ff.) Redemittel an, die der Realisierung zweier hauptsächlicher Prinzipien der persuasiven Sachverhaltsdarstellung dienlich sind: Parteilichkeit und Verfremdung. Letzteres werde beispielsweise realisiert, indem sich der Redner unerwartet der Redesituation ⫺ hier findet sie explizit Erwähnung ⫺ (und nicht dem Redegegenstand) zuwendet. Für diese rhetorische Aktivität ⫺ so lehrt es die Rhetorik klassischen Zuschnitts ⫺ gibt es probate Muster. Der Redner kann die Schwierigkeit, in der er sich befindet, offen zugeben, die gegnerische Partei loben, das Publikum um Entschuldigung bitten oder mit einer unerwarteten Nachricht schockieren, möglichen Einwänden des Situationsmächtigen zuvorkommen u. a. m. Solche persuasio-Muster der Verfremdung, wie man sie nennen könnte, stehen offensichtlich in Relation zu allen nach ihren kommunikativen Rollen unterscheidbaren Kommunikationsteilnehmern. Mit der Modellierung von rhetorischer Kommunikation als persuasiver Kommunikation, die sich in der Öffentlichkeit vollzieht, geht eine Typologisierung von Reden nach ihrem Redesituationsbezug einher. Zum einen werden nach dem Kriterium der verschiedenen Kommunikationsrollen „drei Arten von Reden“ (Lausberg 1967, 16) unterschieden: die Eröffnungsrede (in der die strittige Angelegenheit zur Sprache gebracht wird), die Parteireden der Situationsinteressierten und die Entscheidungsrede des Situationsmächtigen. Zum anderen werden nach dem Kriterium der Gebrauchsfrequenz zwei Redeklassen (ebd.) gebildet: die Verbrauchsrede, die in singulären, nicht wiederholbaren Redeereignissen in Erscheinung tritt, und die Wiedergebrauchsrede, die in typischen, sich wiederholenden Redesituationen immer auf die gleiche Weise gehalten wird. Wiedergebrauchsreden scheinen aber eher an den Kommunikationstyp der rituellen Kommunikation gebunden zu sein, wo Eide geschworen, Trauungen vollzogen, Veranstaltungen für eröffnet erklärt werden; mit rhetorischer Kommunikation vertragen sie sich außerordentlich schlecht. Die explizierten Modellvorstellungen von persuasiver Kommunikation leben in der neueren Rhetorikforschung vom Denkansatz her fort, sie werden durch Übertragung auf konkrete Rhetorikbereiche spezifiziert und natürlich modernisiert. Aktuelle Modelle von politisch-persuasiver Kommunikation beispielsweise integrieren dezidiert kognitive Komponenten wie Partnerhypothesen/Annahmen über die Situation (vgl. Herrgen 2000, 38), berücksichtigen dezidiert die Vermittlerrolle der journalistischen Medien (vgl. Klingemann/Voltmer 1998, 397) oder stellen den Einfluss der Öffentlichkeit (einschließlich der Medien) auf den politischen Prozess dar, der in den einzelnen Stadien von Politik unterschiedlich stark ausgeprägt ist (vgl. Jarren/Donges/Weßler 1996, 26).
2.2.3. ,Situation als komplexe rhetorische Augabe im Prozess des Miteinandersprechens Der Begriff Redesituation (auch: Sprechsituation) ist in der Rhetorikforschung verschiedentlich problematisiert worden, da er einseitig sprecherbezogen angelegt ist. Mit Beru-
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fung auf Erich Drach und dessen Gedanken der Komplementarität von Sprech- und Hörsituation sowie auf Erving Goffmans aktivitätsbezogen definierten Situationsbegriff argumentiert Geißner (1982, 27 ff.), dass sich rhetorische Kompetenz (als globales Lernziel) wesentlich daran zeigt, inwieweit es gelingt, eine gemeinsame Situation zwischen den Kommunikationsteilnehmern herzustellen. Es könne „genau genommen nie gesagt werden, daß die Situation ,besteht‘ (statisch ist), sondern, daß sie durch die Miteinandersprechenden erst ,hergestellt‘ wird (dynamisch ist)“, und das aber heiße, „daß Verständigung nur gelingen kann, wenn es den Miteinandersprechenden gelingt, diese Situation zu ihrer gemeinsamen zu machen“ (ebd., 28). Wir begegnen hier einer Position, die auch in der Gesprächslinguistik bzw. interaktionalen Gesprächsstilistik als methodologisch bedeutsam gilt (vgl. 3.2.3). In Geißners didaktisch orientierten Darlegungen zur rhetorischen Kommunikation kommen aber letztlich durchaus situative Zustände vor, nämlich die bestehenden Ausgangssituationen von Sprecher und Hörer, zu verstehen als ein Zusammenwirken von relativ objektiven und relativ subjektiven Faktoren, die von der herzustellenden Situation zwischen Sprecher und Hörer zu unterscheiden sind. An die erfolgreiche Bewältigung der bezeichneten rhetorischen Aufgabe (Herstellung einer gemeinsamen Kommunikationssituation) wird eine weitere als Voraussetzung geknüpft: die Analyse der Ausgangssituationen (von Sprecher und Hörer) und der Zielsituation (zwischen Sprecher und Hörer) ⫺ eine Situationsanalyse, bei der grundlegende Arten situativer Beziehungen als Relationen zwischen situationskonstituierenden Faktoren (WANN, WO, WER, MIT WEM, WORÜBER u. a.) im Rahmen eines Situationsmodells des Gesprächs einzeln unter die Lupe zu nehmen sind. So wird u. a. als wesentlich herausgestellt, dass ein Ich (ego) und ein Gegenüber (alter) grundsätzlich Inhaber sozialer Rollen (Kommunikationsrollen) sind, was für die Analyse der interpersonalen Dimension dann konkret heißt, Rollenerwartungen, -definitionen, -interpretationen und auch Rollenkonflikte zu reflektieren. Gestützt auf die Beobachtung, dass nicht jeder mit jedem über alles sprechen kann, und die Erkenntnis, dass dieses Worüber bzw. das Thema an verschiedene Wissens-, Erfahrungs- und Erlebnishorizonte gebunden ist, werden konzeptionelle Überlegungen auch dahingehend für notwendig erklärt, wie im Gemeinsammachen der Situation ein gemeinsames Thema zu finden/auszuhandeln ist. Das vordergründig am Gespräch als einem Sprechen mit anderen ausgerichtete Situationskonzept wird im Weiteren auf Rede als ein Sprechen zu anderen ausgedehnt. Bei den rhetorischen Kommunikationsformen Gespräch und Rede, aufgefasst als zwei Seiten einer Medaille (vgl. Geißner 1981, 69; 71), werden jeweils zwei Grundtypen unterschieden: zum einen das Klärungs- und das Streitgespräch, zum anderen die Informationsund die Überzeugungsrede (vgl. Geißner 1982, 99 ff.; 141 ff.). Anhand der Gegenüberstellung von phatischen und rhetorischen Gesprächen wird verdeutlicht, dass rhetorische Gesprächsprozesse weniger an glänzenden Formulierungen oder schlüssigen argumentativen Prozeduren zu erkennen sind, sondern hauptsächlich an Kommunikationsakten bzw. Gesprächsschritten wie Fragen und Fragenlassen, Ratsuchen, Klären von Sachverhalten und Beziehungen, Problematisieren von Handlungszielen, Suchen nach gemeinsamen Lösungen, Streiten über Lösungswege, Aushandeln von Entscheidungsmöglichkeiten usw. ⫺ an Gesprächsschritten also, die dem für grundlegend erklärten Situationsaspekt ,Gemeinsamkeit‘ Rechnung tragen. Es entspricht der Logik des zugrunde gelegten Situationskonzepts, wenn zwei weitere Gesprächstypen, das Schein- und das Kampfgespräch, als nichtrhetorisch apostrophiert werden. Bei Scheingesprächen beanspruche ein Situationsmächtiger für sich allein das Frage- und Entscheidungsrecht, Kampfgespräche
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik basierten auf einem von Aggressivität getragenen Freund-Feind-Schema und endeten häufig mit brachialer Gewalt.
2.2.4. ,Situation als Beziehung zwischen kooperativ handelnden Kommunikationsteilnehmern Rhetorische Aktivitäten wie das Herstellen und Gemeinsammachen von Situationen (vgl. 2.2.3) finden sich als Theorieelemente im Paradigma einer Kooperativen Rhetorik wieder, dessen Grundzüge u. a. in Bartsch (1990) dargestellt sind. Der innovative Charakter des hier zu besprechenden Situationskonzepts zeigt sich darin, dass Kooperation, als eine kommunikative Haltung bestimmt und zur rhetorischen Obermaxime erhoben, auch dann Geltung haben soll, wenn zwischen den Kommunikationsteilnehmern ein sozial oder anderweitig asymmetrisches Rollenverhältnis besteht. In Geißners Theorie (1982 u. ö.) war diesbezüglich noch von phatischen oder Scheingesprächen die Rede ⫺ infolge fehlender Chancengleichheit/Möglichkeiten des Rollentauschs bei der Gesprächsführung. Die neue Richtung betrachtet auch Bewerbungs-, Verkaufs- und Prüfungsgespräche als rhetorische Gespräche, orientiert sich demnach wieder stärker an der situativen Grundkonstellation von Rhetorik (1.1), geht aber zugleich über das tradierte Rhetorikverständnis hinaus, denn mit der Redemaxime Kooperation kommen Verhaltensmuster auf den Prüfstand, die einseitig die Interessen des Sprechers bedienen, mit anderen Worten Muster, die als nützlich bei der Durchsetzung nur seiner Interessen im Zuge sozialer Selbstbehauptung gelten. Der theoretische Anspruch der Kooperativen Rhetorik wird allerdings erst dann deutlicher, wenn man mit Fiehler (1999, 53 f.) begrifflich differenziert zwischen ,kommunikativer Kooperation‘ als Bezugnahme auf gemeinsame Kommunikationsregeln einerseits und ,kommunikativer Kooperativität‘ als einer Modalität der kommunikativen Interaktion andererseits. Es ist nämlich nicht das Grice’sche Kooperationsprinzip gemeint, zumal dieses keinerlei Bindung an spezielle Situationsaspekte aufweist; gemeint ist vielmehr ein Kommunikationsprinzip, das die Gestaltung von Beziehungen zwischen den Kommunikationsteilnehmern steuert. Kooperative Rhetorik ist vom Anspruch her eine Rhetorik der Gestaltung partnerschaftlicher Beziehungen. Einen Schwerpunkt bilden Kommunikationsbarrieren, die aus asymmetrischen Kommunikationsverhältnissen hervorgehen. Solche Asymmetrien kommen ⫺ wie man weiß ⫺ auf unterschiedlichen Beziehungsebenen vor: Ungleichwertige Verhältnisse können die soziale Position betreffen, darüber hinaus Sichtweisen und Interessenlagen, aber auch die verschiedenen Arten von Kompetenz (Sach-, Sprach-, Kommunikationskompetenz). Das Profil eines kooperativ handelnden Menschen (vgl. Jaskolski 1999, 27 f.) umfasst die Bereitschaft und die Fähigkeit, asymmetrischen Beziehungen, die der Herstellung eines echten Partnerschaftsverhältnisses abträglich sind, mit rhetorischen Aktivitäten (Herstellen von sozialer Nähe, Erzeugen von Transparenz im Hinblick auf die eigenen Interessen, Einnehmen der Partnerperspektive) wirksam zu begegnen. Partnerschaftlichkeit heißt im Situationskonzept der Kooperativen Rhetorik allerdings keinesfalls völlige Aufhebung von Divergenz. Als wesentlich gilt die Herstellung einer gemeinsamen Gesprächsbasis als Schnittmenge aus den Anschauungen und Einstellungen der Gesprächsbeteiligten, das Erzielen eines partiellen Konsensus. Am Beispiel religiöser Gruppengespräche stellt Roelofsen (1999b, 214) fest, dass Gemeinsamkeit gerade in der Vielfalt der zusammengetragenen und gegenseitig respektierten Sicht- und Verstehensweisen bestehen kann und sollte.
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3. ,Situation als Theorieelement in der Stilistik 3.1. Verweise au ,Situation bei der Bestimmung von Stil Stiltheoretische Bestimmungen des Phänomens Stil enthalten ⫺ sofern sie kommunikationsorientiert angelegt sind ⫺ explizite oder implizite Verweise auf ,Situation‘. Im Weiteren soll dargelegt werden, wie von einem allgemein akzeptierten Leitsatz stiltheoretischen Denkens aus der Zusammenhang von Stil und Situation erfassbar wird und wie die entsprechenden Positionen Eingang in Stildefinitionen gefunden haben. Über den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich Stiltheoretiker einigen können, nämlich „Stil ist immer das Wie einer Ausführung, auf welchem Gebiet des Lebens auch immer“ (Riesel/Schendels 1975, 15), findet man mehrere Zugänge zur Relationierung von Stil und Situation. Zum einen lässt sich aus dem Verweis auf alle möglichen Gebiete des Lebens ⫺ gemeint sind Bereiche der sprachlichen Kommunikation (vgl. 2.1), Kunstbereiche (Musik, Tanz, Malerei) sowie weitere Bereiche wie Mode und Sport ⫺ ableiten, dass stilistische Variation prinzipiell in Relation zu einem spezifizierten gesellschaftlichen Umfeld (Tätigkeitsbereich) zu denken ist. Zum anderen verbindet sich mit dem „Wie einer Ausführung“ immer auch Erklärungsbedarf dergestalt, dass erklärt werden muss, warum es stilistische Variation und verschiedene Stile gibt. Einige der Erklärungsansätze, die dabei mit der Kategorie Situation operieren, seien genannt: (1) Stil ist kontextbedingt: „Der Stil eines Textes ist das Aggregat kontextbedingter Wahrscheinlichkeitswerte seiner linguistischen Größen“ (Enkvist/Gregory/Spencer 1972, 26). Kontext wird in dieser Stilistik zum einen bestimmt als eine textinterne (sprachliche, textstrukturelle) Zeichenumgebung, zum anderen als ein Umfeld, das außerhalb des Textes liegt und Einflussgrößen umfasst wie Epoche, Gattung, Erfahrungsbereiche der Kommunikationsteilnehmer, Situation u. a. Kontextbedingt kann also u. a. heißen: situationsbedingt. (2) Stil ist die funktionsgerechte Verwendungsweise der Sprache ⫺ oder genauer: „die funktionsgerechte, dem jeweiligen Sprachusus im schriftlichen und mündlichen Gesellschaftsverkehr angemessene Verwendungsweise des sprachlichen Potentials“ (Riesel/Schendels 1975, 16). Der Begriff der Funktionsgerechtheit umgreift dabei sowohl die Ausrichtung auf die gesellschaftliche Funktion der Sprache, die von Kommunikationsbereich zu Kommunikationsbereich verschieden ist, als auch die Berücksichtigung von Kontaktfaktoren, etwa die Einstellung auf den Kommunikationspartner oder den Unterschied zwischen direkter und indirekter Kontaktaufnahme. Funktionsgerecht heißt demnach nichts anderes als: der Situation angemessen. (3) Stil erfasst eine charakteristische Verwendungsweise von Sprache, nämlich „die auf charakteristische Weise strukturierte Gesamtheit der in einem Text gegebenen sprachlichen Erscheinungen, die […] zur Realisierung einer kommunikativen Funktion in einem bestimmten Tätigkeitsbereich ausgewählt worden sind“ (Fleischer/Michel 1975, 41). Dass Stil ein charakteristisches Wie ist, verdient besonders herausgestellt zu werden, denn erst mit diesem Erklärungsansatz werden Zusammenhänge von Stil und Situation herstellbar, die sich zu Stiltypen (Stilklassen, -arten, -gattungen o. Ä.) verallgemeinern lassen. Charakteristisch heißt hier: charakteristisch für eine Situation. Der Tätigkeits- bzw. Kommunikationsbereich stellt stiltypologisch gesehen allerdings nur einen der in Frage kommenden Situationsaspekte dar.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik Einzugehen wäre auf eine Reihe weiterer Stilbestimmungen, so auch auf die Abweichungsstilistik (Stil als abweichender Sprachgebrauch), die die Relation zwischen Stil und situativen Erwartungen, „das Anderssein als erwartet/erwartbar“ (Püschel 1985, 13), (verabsolutierend) fokussiert. Diese Art von Stilistik hat das ihrige dazu beigetragen, Beobachtungen zum relativen/relationalen/relationierenden Charakter des Stils (van Dijk 1980, 97 ff.; Sandig 1986, 95 ff.; Sandig 2001) in eine Grunderkenntnis über den Stil zu überführen. Die Komplexität stilistischer Sachverhalte erwächst aus einem Gefüge von Relationen, die sowohl für die Stilbildung als auch für die Stilinterpretation und -wirkung maßgebend sein können. Relationen zwischen Stil und Situation/situativen Erwartungen bilden dabei nur einen Teilbereich und sind ihrerseits von äußerst vielfältiger Natur.
3.2. Konzepte des Zusammenhangs von Stil und Situation in der Stilistik Bei den stiltheoretischen Erörterungen des Verhältnisses von Stil und Situation zeichnet sich in gewisser Weise eine Parallelentwicklung zur Rhetorik ab. Wird Stil ⫺ der rhetorischen Tradition entsprechend ⫺ zunächst mit den situativen Rahmenbedingungen von Textkommunikation relationiert, so interessieren später vornehmlich die situationskonstituierenden Aktivitäten von Kommunikationsteilnehmern im Kommunikationsprozess. ,Situation‘ wird weniger als etwas von außen Vorgegebenes, vielmehr als etwas (gemeinsam) Hervorzubringendes angesehen. Darüber hinaus werden aber auch Konzepte entwickelt, zu denen es kein so offenkundiges Pendant in der Rhetorik gibt. Dies betrifft beispielsweise semiotisch orientierte Ansätze, die sich der Zeichenhaftigkeit von stilistischer Variation zuwenden, was zur Folge hat, dass Situatives textsemantische Wertigkeit erlangt. Deutlicher noch als in der theoretischen Rhetorik wird die Bestimmung der Kategorie Situation zum Aushängeschild für die ganze Richtung. Darauf ist im Folgenden näher einzugehen.
3.2.1. ,Situation als stildeterminierendes Umeld Die Rede von der Situationsbedingtheit des Stils, die in der Stilistik weite Verbreitung gefunden hat, ist im Laufe der Zeit zu einem stiltheoretischen Problem geworden. Versetzt man sich in die Lage der Stiltheoretiker, die dem konditional-konsekutiven Denkmuster folgen, beginnen die Schwierigkeiten bereits damit, dass geklärt werden muss, welche situativen Faktoren in welcher Konstellation bei der Theoriebildung zu bedenken sind. Folgt man z. B. dem Grundsatz, dass Situationen nicht an sich existieren, sondern immer nur mit Bezug auf Personen, die sich in einer Situation befinden (vgl. Asmuth/ Berg-Ehlers 1976, 73), wird der Blick von vornherein auf die Kommunikationsteilnehmer und ihre Beziehung gelenkt. Der Zusammenhang von Stil und Situation stellt sich dann so dar, dass außersprachliche Restriktionen für die Selektion und Kombination von sprachlichen Mitteln aus personalen und sozialen Konstellationen heraus zu erklären sind. Sanders differenziert in seiner „Linguistischen Stilistik“ (1977, 32⫺62) zwischen der individuell-sozialen und der kollektiv-sozialen Determiniertheit, d. h. zwischen Faktoren wie Bildungsgrad, Interessen einerseits und Sprecher/Hörer-Konstellation, Kommunikationszweck andererseits, um in einem nächsten Schritt diese inneren und äußeren
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Sprachverwendungskonditionen situationsbegrifflich zusammenzuführen. Die Faktorengruppen in ihrem Zusammenwirken erfassend, spricht er von einer komplexen Voraussetzungsituation des Sprechers/Schreibers und einem nicht weniger komplexen Erwartungshorizont des Hörers/Lesers; das stildeterminierende situative Umfeld wird also kommunikationsteilnehmerbezogen perspektiviert (vgl. bereits Spillner 1974, 64 ff.). Erwähnung verdient des Weiteren, dass Sanders’ Konzept neben der Perspektivierung der jeweiligen Ausgangssituationen auch kommunikationsprozessbezogene Perspektiven auf ,Situation‘ vorsieht. Danach gibt es sprecher-/schreiberseitig eine Situation der Textproduktion, die über die komplexe Voraussetzungssituation hinaus durch einen bestimmten Bewusstheitsgrad bei der Hervorbringung von Stil beherrscht wird, wodurch sich zugleich mehrere Stilbereiche bilden lassen. Anhand der Dreiheit von Alltagssprach-, Gebrauchssprach- und Kunstsprachstil wird verdeutlicht, dass sich Stilbildung auf einer Skala von mangelnder bis intensivierter Bewusstheit bewegen kann. Die Situation der Textrezeption hingegen wird über den komplexen Erwartungshorizont hinaus von Aufmerksamkeitsstufen des Hörers/Lesers beherrscht. Die Aufmerksamkeit des Rezipienten entscheide letztlich darüber, was an Interpretationsleistungen erbracht wird, und erkläre in gewissem Sinne auch den jederzeit einzukalkulierenden Auseinanderfall von efficiens (der intendierten Wirkung) und effectum (der ausgelösten Wirkung). Ein weiteres Problem besteht in der Frage, wie man den Zusammenhang zwischen Stildeterminanten (der Situation) und Stilelementen (des Textes) beschreiben soll. In der Funktionalstilistik ist dazu deutlich gesagt worden, dass die Verbindung zwischen dem jeweiligen Kommunikations- bzw. Funktionsbereich der Sprache (als Situationsaspekt) und den einzelnen Stilistika (im Text) keine direkte, sondern eine über Stilzüge vermittelte ist (vgl. Riesel/Schendels 1975, 24). Mit den funktionalen Stilzügen (Beispiel: die Förmlichkeit von Amtsdokumenten) sind normative Stilprinzipien gemeint, die sich aus der gesellschaftlichen Spezifik der Kommunikation ableiten, die Textgestaltung steuern und stilprägend in Erscheinung treten. Stillehren, die demgegenüber an allgemeinen Normen/Prinzipien eines guten Stils festhalten, gewinnen dann an Systematik und Format, wenn sie diese zu grundlegenden Faktoren des Kommunikationsprozesses in Beziehung setzen. „Kommunikationsfaktoren sind für uns nur insoweit wichtig, als sich ihnen Stilprinzipien zuordnen lassen“, heißt es in der praktischen Stillehre von Sanders (1990, 73), und in der Gruppe der Stilprinzipien, die speziell der Redekonstellation (Kommunikationspartner, raum-zeitliche Umstände u. a.) zugeordnet werden, findet man ein Grundprinzip der rhetorischen Stilistik wieder: das der Angemessenheit. Wer hingegen den Begriff der Norm in Anspruch nehmen will, hat zu berücksichtigen, dass Stilnormen dem Sprecher/Schreiber „einen relativ breiten Spielraum für individuelle, nicht normbare oder nicht genormte stilistische Varianten lassen“ (so bereits Michel 1978, 541). Die Aristotelische Rhetorik lehrt mit der Dominantsetzung des Redepublikums innerhalb der Situationstrias aus Redner, Sache und Publikum, dass (stil)determinierende Faktoren nicht in einem Nebeneinander, sondern in ihrem hierarchischen Miteinander zu erfassen sind (vgl. 2.2.1). In der Stilistik sind die Auffassungen über die Dominanz eines Faktors weit auseinander gegangen. Als primäre Stildeterminanten galten u. a. die Mitteilungsabsicht des Sprechers/Schreibers, der Gegenstand und das Thema der Äußerung, Besonderheiten des Kommunikationsmediums (mündlich/schriftlich), aber auch die konkrete soziale Praxis der Kommunikationsteilnehmer. Eine Entscheidung in dieser Frage ⫺ wird sie so gestellt ⫺ erscheint kaum möglich, und eine Lösung des Problems ist wohl erst dann in Sicht, wenn der Blick auf einzelne Faktoren gänzlich aufgegeben
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik und statt dessen ein teilnehmerperspektivierter Situationsrahmen konzipiert wird, der an der sozialen Praxis orientierte kommunikationsfunktionale Aspekte verschiedener Art (Intentionen, Strategien, Aufgaben u. a.) in sich aufnehmen kann. Regularitäten der Textund Stilkonstitution können dann z. B. mit Bezug auf „Darstellungsaufgaben“ (W. Heinemann in Fleischer/Michel 1975, 298) erklärt werden, d. h. Aufgaben, die ⫺ im Unterschied zu den Darstellungsarten (Berichten, Beschreiben usw.) ⫺ aus einer Situation erwachsen und auf die Situation zugeschnitten zu bewältigen sind (z. B. das Beschreiben eines Vorgangs für Leser einer Bedienungsanleitung). Bei Hundsnurscher (1989, 115) heißt es: „Möglicherweise hat ,die Situation‘ oder ,etwas an der Situation‘ etwas Besonderes an sich, das die Menschen veranlaßt zu sprechen und, wenn sie sprechen, so zu sprechen, wie sie sprechen.“ An anderer Stelle (ebd., 135) wird betont, dass Sprecher nicht so sehr von der Situation abhängig/durch sie bestimmt sind, sondern sich vielmehr bemühen, die Situation zu meistern/ihr gerecht zu werden. Die Anerkenntnis dessen erfordert stiltheoretisch, der funktionalen Dimension kommunikativer Situationen in besonderem Maße Rechnung zu tragen.
3.2.2. ,Situation als Inhalt/Bedeutung von Stilzeichen Eine andere Blickrichtung auf das Verhältnis von Stil und Situation wird daraus ersichtlich, dass an die Stelle einer Determinationsbeziehung zwischen beiden Größen eine Repräsentationsbeziehung gesetzt wird: Stil repräsentiert die Kommunikationssituation im Text. Der Zusammenhang von Stil und Situation wird auf die Formel ,Stil als Situation‘ gebracht (vgl. Hoffmann 1990, 46; 61). Stil gibt dieser Auffassung zufolge Informationen über die Situation an den Textrezipienten weiter, d. h. insbesondere über das Situationsverständnis des Textproduzenten: dessen Einstellungen gegenüber dem Kommunikationspartner, dem Kommunikationsgegenstand und auch gegenüber dem kommunikativen Kode ⫺ eine Auffassung, die sich die Entdeckung der Zeichenhaftigkeit des Stils zunutze macht und sich an einer semiotischen Semantik der Texte orientiert, in der alles Zeichenhafte an Texten interessiert, das sich im Medium der Sprache manifestiert, aber nicht alles sprachlich Zeichenhafte ausschließlich auf das Sprachsystem als Zeichenreservoir beziehbar ist. Entscheidende Impulse, stilistische Einheiten/Merkmale als Stilzeichen und den Stil insgesamt als ein komplexes kommunikatives Zeichen zu begreifen, kommen in den 70-er Jahren des 20. Jhs. von der Übersetzungswissenschaft und der literarischen Stilistik. Übersetzungswissenschaftler stellen fest, dass Stil im Translationsprozess von der Ausgangs- zur Zielsprache nur dann Äquivalenz beanspruchen kann, wenn er als etwas Inhaltliches, als eine Komponente des Textinhalts aufgefasst wird. Stilistische Merkmale werden deshalb als Textzeichen bestimmt, als Träger von Informationen über das Kommunikationsziel und die gesamte Kommunikationssituation (vgl. Schmidt 1979, 58). In der literarischen Stilistik hingegen wird der Zeichencharakter des Stils von der Praxis der Textinterpretation hergeleitet. „Die Art und Weise des Sprachgebrauchs zeugt von der Art und Weise, wie ein Sprecher oder Schreiber sich zu seiner Umwelt, zu seinem Adressaten verhält, sie verrät, wie er sich jene Wirklichkeit bildet, um die es im jeweiligen Text oder Sprechakt geht“ (Anderegg 1977, 52 f.; Hervorhebungen M. H.). Erstaunlicherweise ist es gerade der Literaturwissenschaftler und nicht der Linguist, der es dezidiert für notwendig erachtet, bei stilistischen Zeichen von bedeutungstragenden Einheiten zu sprechen (ebd., 57) ⫺ mit der Begründung, dass man stilistische Merkmale nicht
78. Situation als Kategorie von Rhetorik und Stilistik
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bestimmen kann, ohne sie zu interpretieren, und die Interpretation eines Merkmals nur dann gelingen kann, wenn sie zum Erfassen einer Bedeutung führt. Ansonsten wird der Bedeutungsbegriff innerhalb dieser Stilrichtung nur zögerlich verwendet, vorzugsweise greift man auf verwandte Begriffe wie ,Index‘, ,Indiz‘, ,Konnotation‘ (im Verständnis der Glossematik), ,Sinn‘ oder eben ,Information‘ zurück. Für die Schwierigkeiten, Stilzeichen der Situationsrepräsentation im Text als textsemantische Einheiten zu behandeln, gibt es eine Reihe von Gründen. Die Probleme erklären sich nicht nur aus speziellen Bedeutungskonzepten, die so (eng) gefasst sind, dass sie stilistische Bedeutungen ausschließen; sie hängen auch mit dem relationierenden Charakter von Stil (vgl. 3.1) zusammen. Schmidt (1979, 72) verweist auf „nicht-vertextete Informationen über die Kommunikationssituation/den Kommunikationsgegenstand“ als spezielle Kontextarten. Wenn jemand die Frage Wie geht es Ihrer Frau Mutter? stelle, so würden damit in Abhängigkeit z. B. vom Alter des Fragestellers (älterer Mensch, Jugendlicher) verschiedene stilistische Informationen gegeben. Probleme bereitet auch die Grenzziehung zwischen semantischen und pragmatischen stilistischen Informationen, zumal die Repräsentationsbeziehung zwischen Stil und Situation an Aktivitäten der Zeichenbenutzer gebunden wird. Informationen darüber, ob die Kommunikation von sozialer Nähe oder Distanz geprägt ist, über die Gruppenzugehörigkeit der Teilnehmer, die Bindung an Institutionen usw., die als stilistische Informationen gelten, lassen sich in Beziehung setzen zu stilistischen Handlungsmustern (vgl. Hoffmann 1990, 52 ff.), so dass es nahe liegt, Motive/Ziele/Zwecke des Gestaltens als Sinneinheiten in der Kommunikation zu betrachten. Die kommunikative Zeichenhaftigkeit von Stil ist in gewissem Sinne im Sprachsystem (oder anderen Zeichenordnungen) vorgeprägt. Die Stilschichten/-ebenendifferenzierung im Sprachsystem reflektiert die bevorzugte Verwendung sprachlicher Einheiten in sozial merkmalhaften Kommunikationssituationen. Zwischen Stilmitteln (im System) und Situation werden Reflexionsbeziehungen folgender Art hergestellt (vgl. Fleischer/Michel/ Starke 1996, 104 ff.; 208 ff.): (1) Stilschicht ,gehoben‘/Superstandard ⫺ Bindung an rhetorisch aufwendige, anspruchsvolle, feierliche Kommunikation; (2) Stilschicht ,normalsprachlich‘/Vollstandard ⫺ Bindung an den mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch des öffentlichen Lebens; (3) Stilschicht ,umgangssprachlich‘/Substandard ⫺ Bindung an ungezwungene Situationen des (mündlichen und nichtöffentlichen schriftlichen) Alltagsverkehrs; (4) Stilschichten ,salopp‘ und ,vulgär‘/Substandard ⫺ Bindung an die Kommunikation im engeren Kreis von Vertrauten bzw. zwischen Teilnehmern mit geringerem Sozialprestige.
3.2.3. ,Situation als zeichenhate stilistische Aktivität von Kommunikationsteilnehmern In diesem Abschnitt ist auf die literarische, pragmatische und interaktionale Stilistik einzugehen, die jeweils einen eigenständigen Beitrag zum Thema ,Situation als stilistische Aktivität‘ beigesteuert haben. Das Verbindende zwischen den einzelnen Ansätzen ist, dass sie das Verhältnis zwischen Stil und Situation (auch) als eine Konstitutionsbeziehung bestimmen. Stilistische Aktivitäten konstituieren die Situation, stellen sie her. Dabei erscheinen die folgenden spezielleren Akzentsetzungen als besonders wesentlich:
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik (1) Situationsschöpfung In der literarischen Stilistik Herbert Seidlers (1953, 80 ff.) bezeichnet der Begriff Situationsschöpfung das Erzeugen einer Gesamtstimmung im Sprachkunstwerk, wofür die Oden- und Hymnendichtung mit ihrer Stimmung des Getragenen, Feierlichen überzeugende Beispiele liefert. Dieser Begriffsbildung liegt die Unterscheidung zugrunde zwischen Situationen, die unabhängig von Sprachlichem gegeben sind, und solchen, die mittels Sprache erst hervorgebracht werden (ebd., 40, Anm. 1). Situationsschöpfungen werden der Sprache zugeschrieben ⫺ eine metonymische Verkürzung, denn gemeint sind eigentlich die Sprachbenutzer, die Atmosphärisches, Stimmungsvolles erzeugen, bzw. die Rezipienten, die Entsprechendes auf sich wirken lassen. Mit dem Verweis darauf, dass Situationen im Sinne von Gesamtstimmungen auch außersprachlich geschaffen sein können (Beispiel: die Inszenierung von Dramentexten), ergehen indirekt Hinweise auf die Semiotik des Theaters (Bühnenbild, Lichtgestaltung usw.). Der Gedanke, dass Situationen (sprach)künstlerisch hervorgebracht werden, findet seine Weiterführung in der Beschreibung von Möglichkeiten einer „bewußten Koloritzeichnung“ (Riesel/Schendels 1975, 64 ff.) sowie in der Kategorisierung von Milieukolorierung und Figurenporträtierung als Typen stilistischen Sinns im Bezugsfeld ästhetischer Kommunikationshandlungen (Hoffmann 2003, 115 ff.). (2) Situationsgestaltung Wird stilbegrifflich eine Relation zwischen Stil und Situation hergestellt, steht stilistische Variation in aller Regel in einer pragmatischen Dimension. Das Besondere einer pragmatischen Stilistik indes besteht darin, dass die Grunderkenntnis über den Stil (Stil ist immer ein Wie) bzw. der kontextbedingte, funktionsgerechte, charakteristische, abweichende Sprachgebrauch (vgl. 3.1) in den Erklärungsrahmen kommunikativen Handelns gestellt wird. Unter ,Stil‘ wird die „Art der Durchführung konkreter Handlungen mittels Texten/Äußerungen in Situationen“ (Sandig 1986, 157; Hervorhebung M. H.) verstanden. Sprachlich-kommunikatives, speziell stilistisches Handeln, wird als situationsgerichtet begriffen, wobei dem Stil die Aufgabe zukommt, die konkrete Handlung den Gegebenheiten (Erfordernissen, Bedürfnissen) der Situation anzupassen. In der pragmatischen Stilistik ist es üblich, von Handlungssituationen zu sprechen. Nun muss beachtet werden, dass Situationsanpassung zweifelsohne eine stilistische Aktivität ist, jedoch keine (i. e. S.) situationskonstituierende. Im Wesentlichen gehört Situatives (in Gestalt von Situationseigenschaften wie Mündlichkeit/ Schriftlichkeit, Massenmedialität, Institutionsgebundenheit) zu den Handlungsvoraussetzungen, nicht zu den Handlungsaktivitäten. In Sandigs Stiltheorie wird vordergründig eine Akkommodationsbeziehung zwischen Stil (der Handlung) und Situation hergestellt, das Konzept lässt aber auch ⫺ und das entspricht ethnomethodologischem Denken ⫺ die Konstitution von Situationen mittels Stil zu. So heißt es, dass stilistische Variation an soziale Situationstypen gebunden ist und zur Gestaltung sozialer Situationen beiträgt (ebd., 27). Und eine Aussage wie die, dass die Einschätzung der Situation in der Art der Handlungsdurchführung ihren Ausdruck findet (ebd., 42), macht das angenommene Verhältnis von Stil und Situation auch im Sinne einer Repräsentationsbeziehung auslegbar. Dieser „Beziehungsreichtum“ zwischen beiden Größen liegt in der Natur der Sache. Wer kommunikativ (stilistisch) handelt, gibt immer auch etwas zu verstehen, setzt also Zeichen, macht Äußerungen sprachlicher wie nichtsprachlicher Art interpretierbar, z. B. im Hinblick auf Situationsein-
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schätzungen. Es durchdringen sich also handlungsfunktionale und zeicheninhaltliche Aspekte ⫺ so auch bei Hoffmann (1990, 61), wo beides, ,die Situation gestalten‘ und ,die Situation repräsentieren‘, unmittelbar aufeinander bezogen ist. Ob allerdings der Handlungsbegriff für die Modellierung des Zusammenhangs von Stil und Situation unabdingbar ist, kann durchaus in Frage gestellt werden. Aus dem Blickwinkel einer semiotisch orientierten Stilistik formuliert: „Die Invariante des Stilbegriffs besteht offenbar nicht im Handlungsbegriff, wohl aber in der Funktion zeichenhaft repräsentierter Situationsverweise“ (Firle 1990, 25). (3) Situationskontextualisierung Für die interaktionale Stilistik, die sich die Erforschung von stilistischer Variation in natürlichen Gesprächen, in authentischen Interaktionssituationen zur Aufgabe macht, ist die Annahme eines wechselseitigen Verhältnisses, einer Interdependenzbeziehung zwischen Stil und Kontext (einschließlich des Situationskontextes) grundlegend (vgl. Selting 1997, 12): Einerseits beeinflusst der Kontext stilistische Entscheidungen, macht bestimmte Stile erwartbar. Andererseits ist Stil ein Mittel der Kontextherstellung (Kontextualisierung). Er setzt Kontexte relevant oder verändert sie. Das besondere theoretische wie analytische Interesse ist mit Bezug auf die Kontextualisierungstheorie John J. Gumperz’ (1990 u. ö.) darauf gerichtet, die interaktive Kontextherstellung mittels Stil zu rekonstruieren. Wie in der Kontextstilistik von Enkvist/ Gregory/Spencer (vgl. 3.1) werden mehrere Kontextarten in Betracht gezogen, hier u. a. der Interaktionstyp (z. B. ,Erzählen‘) und der Situationstyp (z. B. ,privater Alltag‘). Interaktionstheoretisch ist ,Kontext‘ in erster Linie kognitiv bestimmt: als ein Interpretationsrahmen bzw. -schema. Es wird anhand stilistischer Daten ermittelt, welche Interpretationsrahmen sich Gesprächspartizipienten interaktiv nahe legen. Situationskontexte stellen sich ⫺ in Anlehnung an Erving Goffmans ,social frames‘ ⫺ als Interpretationsrahmen dar, die typisierte soziale Situationen erfassen (vgl. van Dijk 1980, 232 ff.). (Ein verwandter Begriff in der pragmatischen Stilistik ist ,Situationsmuster‘.) Sozial geprägte Rahmen für Situationsinterpretationen schließen mehreres ein: stereotype Rollen und Beziehungen ebenso wie Konventionen verschiedener Art; als Beispiele werden u. a. die Rahmen ,zu Hause‘, ,Straße‘, ,Universität‘ ,Gericht‘, ,Gefängnis‘ und ,Supermarkt‘ genannt (ebd., 236). Diese gehen eine Verbindung mit Interaktionsrahmen ein, z. B. der soziale Rahmen ,Gericht‘ mit den Interaktionsrahmen ,Anklage‘, ,Verteidigung‘ und ,Urteilsverkündung‘. Darin eingebunden sind typisierte Sozialstrukturen, wie sie sich in Relationen der Autorität und Macht und/oder in typisierten Strukturen des Gebens und Nehmens, z. B. im Dienstleistungssektor, zeigen (ebd., 237 f.).
4. Zur Situationstypik von rhetorischen Gattungen und Stiltypen Obwohl die Kategorie Situation für die Herleitung von kommunikativ-pragmatischen Regularitäten des Rhetorischen und Stilistischen unverzichtbar ist, fehlt es an einer Situationstypologie, auf die rhetorische Gattungen und Stiltypen systematisch beziehbar wären. Die Textlinguistik sieht sich in Bezug auf die Situationstypik von Textsorten vor die gleichen Schwierigkeiten gestellt (vgl. Brinker 1997, 134). Selbst der Begriff Situationstyp wird von Rhetorik und Stilistik nur sporadisch verwendet; er weist zudem keinen
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik fest umrissenen Inhalt auf. Im Grunde kann jedes beliebige Situationsmerkmal (Öffentlichkeit, Institutionalität, Ungezwungenheit, Direktheit/face to face, Massenmedialität, Feierlichkeit, Alltäglichkeit usw.) zu einem situationstypisierenden werden. Situationsmerkmale können aber auch gebündelt werden. Aus Gegenüberstellungen wie Situation der Textproduktion vs. Situation der Textrezeption (vgl. 3.2.1), äußere (relativ objektive) vs. innere (relativ subjektive Situation (Geißner 1982, 29 ff.) oder freigewählte vs. verordnete Situation (ebd., 31), die auf kommunikationstheoretischen Erkenntnissen basieren, wird ersichtlich, dass das Verhältnis von Mensch (Kommunikationsteilnehmer) und Situation von besonderer situationstypologischer Relevanz sein muss. Hinzu kommt, dass Situationen nach Komplexitätsgraden differenzierbar sind. Situationstypen bilden dann eine hierarchische Ordnung, wie in der Unterscheidung zwischen Makro-, Meso- und Mikrosituation, z. B. ,Schule‘ ⫺ ,Unterricht‘ ⫺ ,Unterrichtsphase‘ (ebd., 29). Eine Hierarchie von Situationstypen zeichnet auch das Modell einer Gesamtsituation aus, das drei ineinander greifende Situationskomponenten enthält: (1) die Tätigkeitssituation (als übergeordnete Komponente), (2) die soziale Situation und (3) die Umgebungssituation (vgl. Hartung 1974, 273 ff.). Dieses Modell erweist sich als geeignet, Zusammenhänge herzustellen zwischen Situationstypen einerseits und rhetorischen Gattungen bzw. Stiltypen andererseits, was hier nur exemplarisch aufgezeigt werden kann. ,Tätigkeitssituation‘ erfasst nach diesem Modell einen Ausschnitt aus der sozialen Praxis der Kommunikationsteilnehmer, mit dem Anlässe, Ziele, Inhalte und Formen der interpersonalen Kommunikation verknüpft sind. Solche Tätigkeitskontexte werden von der Rhetorik als Rhetorikbereiche (vgl. 2.1) beschrieben, wo sich spezielle Gattungen, z. B. die Wahlkampfrede im Bereich der politischen, das Glaubensgespräch im Bereich der religiösen Rhetorik ausgeprägt haben; sie konkretisieren sich darüber hinaus in sämtlichen Kommunikationsbereichen im Verständnis der Funktionalstilistik ⫺ in Bereichen, denen sowohl Stiltypen auf einem hohen Abstraktionsniveau zugeordnet werden, d. h. Funktional- bzw. Bereichsstile wie ,Stil der Wissenschaft‘ und ,Stil der Presse und Publizistik‘, als auch speziellere Textsortenstile, etwa der Stil wissenschaftlicher Gutachten oder der Leitartikelstil. Tätigkeitssituationen schließen charakteristische Sozialbeziehungen ein, die von den Kommunikationsteilnehmern respektiert, aber auch modifiziert oder ignoriert werden können. In der rhetorischen Gattungstypologie zeigt die Abgrenzung zwischen Klärungsund Streitgespräch sowie die Ausgrenzung von Schein- und Kampfgespräch (vgl. Geißner 1982, 99 ff. und 2.2.3), dass der Beziehungsaspekt der Kommunikation (Partnerschaft, Gegnerschaft, Repression, Aggression) als prominentes Kriterium fungiert. Stiltypologische Textkennzeichnungen, die speziell auf die soziale Situation bezogen sind, erstrecken sich auf das Feld der Rollen-, Beziehungs- und Gruppenstile (vgl. Michel 2001, 96 ff.; 133 ff.). Der Situationstyp Umgebungssituation bündelt alle die Situationsmerkmale, die als raum-zeitliche Begleitfaktoren auf das kommunikative Geschehen Einfluss nehmen (können): (1) raum-zeitliche Merkmale des kommunikativen Kontakts (direkt/vermittelt), (2) die Kommunikationsrichtung (monologisch/dialogisch), (3) das Kommunikationsmedium (mündlich/schriftlich), (4) die Kommunikationsplanung (spontan/vorbereitet). Als umgebungssituativ bestimmt erweist sich daher die Differenzierung zwischen rede- und konversationsrhetorischen Gattungen (Beispiele in Bader 1994, wo mit Bezug auf Koch/Oesterreicher über mediale und konzeptionelle Aspekte des Rhetorischen reflektiert wird) sowie zwischen Sprech- und Gesprächsstil (Sandig/Selting 1997, 5). Hier
78. Situation als Kategorie von Rhetorik und Stilistik
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einzuordnen ist auch der Stiltyp Situationsstil, der durch Auffälligkeiten des Sprachgebrauchs bei direktem Kontakt zwischen Sprecher und Hörer in der spontanen mündlichen Kommunikation gekennzeichnet ist (vgl. Sanders 1977, 90 ff.). Dem entspricht texttypologisch die Klasse der situativen Texte, deren Umgebungssituation durch ein „gemeinsames augenblickliches Wahrnehmungsfeld“ (Asmuth/Berg-Ehlers 1976, 72) geprägt ist.
5. Literatur (in Auswahl) Allhoff, Dieter-W./Waltraud Allhoff (unter Mitarbeit von Brigitte Teuchert) (2000): Rhetorik und Kommunikation. Ein Lehr- und Übungsbuch zur Rede- und Gesprächspädagogik. 12. Aufl. Regensburg. Anderegg, Johannes (1977): Literaturwissenschaftliche Stiltheorie. Göttingen. Aristoteles (1999): Rhetorik. Stuttgart (bereits Stuttgart 1862). Asmuth, Bernhard/Luise Berg-Ehlers (1976): Stilistik. 2. Aufl. Opladen. Assmann, Aleida (1986): „Opting in“ und „opting out“. Konformität und Individualität in den poetologischen Debatten der englischen Aufklärung. In: Gumbrecht/Pfeiffer (1986), 127⫺143. Bader, Eugen (1994): Rede-Rhetorik, Schreib-Rhetorik, Konversationsrhetorik. Eine historisch-systematische Analyse. Tübingen (ScriptOralia, 69). Bartsch, Elmar (1990): Grundlinien einer ,kooperativen Rhetorik‘. In: Hellmut Geißner (Hrsg.): Ermunterung zur Freiheit. Rhetorik und Erwachsenenbildung. Frankfurt a. M., 37⫺49. Blumenberg, Hans (1991): Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Josef Kopperschmidt (Hrsg.): Rhetorik. 2 Bde. Bd. 2: Wirkungsgeschichte der Rhetorik. Darmstadt, 285⫺312. Erstveröffentlichung 1970. Brinker, Klaus (1997): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 4. Aufl. Berlin (Grundlagen der Germanistik, 29). Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena. Dijk, Teun A. van (1980): Textwissenschaft. Eine interdisziplinäre Einführung. Tübingen (Utrecht 1978). Dubois, Jaques u. a. (1974): Allgemeine Rhetorik. München (Paris 1970). Enkvist, Nils Eric/Michael Gregory/John Spencer (1972): Linguistik und Stil. Heidelberg (London 1964). Fiehler, Reinhard (1999): Was tut man, wenn man ,kooperativ‘ ist? Eine gesprächsanalytische Explikation der Konzepte ,Kooperation‘ und ,Kooperativität‘. In: Mönnich/Jaskolski (1999), 52⫺58. Firle, Marga (1990): Stil in Kommunikation, Sprachkommunikation und poetischer Kommunikation. In: Fix (1990), 19⫺45. Fix, Ulla (u. Autorenkoll.) (1990): Beiträge zur Stiltheorie. Leipzig. Fleischer, Wolfgang/Georg Michel u. a. (1975): Stilistik der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig. Fleischer, Wolfgang/Georg Michel/Günter Starke (1996): Stilistik der deutschen Gegenwartssprache. 2. Aufl. Frankfurt a. M. u. a. Geißner, Hellmut (1981): Gesprächsrhetorik. In: Literaturwissenschaft und Linguistik 11, H. 43/44 (Perspektiven der Rhetorik, hrsg. v. Wolfgang Haubrichs), 66⫺89. Geißner, Hellmut (1982): Sprecherziehung. Didaktik und Methodik der mündlichen Kommunikation. Königstein/Ts. (Monographien Literatur ⫹ Sprache ⫹ Didaktik, 30). Gumbrecht, Hans Ulrich/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.) (1986): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M. Gumperz, John J. (1990): Contextualisation and understanding. In: Alessandro Duranti/Charles Goodwin (eds.): Rethinking context. Language as an interactive phenomenon. Cambridge, 229⫺252. Hartung, Wolfdietrich (u. Autorenkoll.) (1974): Sprachliche Kommunikation und Gesellschaft. Berlin (Sprache und Gesellschaft, 1). Herrgen, Joachim (2000): Die Sprache der Mainzer Republik (1792/93). Historisch-semantische Untersuchungen zur politischen Kommunikation. Tübingen (Reihe Germanistische Linguistik, 216).
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Michael Hoffmann, Potsdam (Deutschland)
79. Handlung (Intention, Botschat, Rezeption) als Kategorie der Stilistik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Handlungsstilistik/pragmatische Stilistik Stildefinition Stilabsicht, Stil als Wahl, Stilwirkung Stilistische Funktionstypen bezogen auf kommunikatives Handeln Stilrelevante Typen von Textherstellungshandlungen Stilistische Handlungsmuster Sprechakte und Satzsemantik Beispiele sprachpragmatischer Stilanalyse von Texten/Gesprächen Literatur (in Auswahl)
Abstract Pragmatic stylistics investigates the types of meanings which style can contribute to linguistic action and to the organization of themes. This includes, among other things, the expression of attitudes, the establishment of relationships between partners and relating action(s) to situations in order to communicate with utmost efficiency. Style is expressed both
79. Handlung (Intention, Botschaft, Rezeption) als Kategorie der Stilistik
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Michael Hoffmann, Potsdam (Deutschland)
79. Handlung (Intention, Botschat, Rezeption) als Kategorie der Stilistik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Handlungsstilistik/pragmatische Stilistik Stildefinition Stilabsicht, Stil als Wahl, Stilwirkung Stilistische Funktionstypen bezogen auf kommunikatives Handeln Stilrelevante Typen von Textherstellungshandlungen Stilistische Handlungsmuster Sprechakte und Satzsemantik Beispiele sprachpragmatischer Stilanalyse von Texten/Gesprächen Literatur (in Auswahl)
Abstract Pragmatic stylistics investigates the types of meanings which style can contribute to linguistic action and to the organization of themes. This includes, among other things, the expression of attitudes, the establishment of relationships between partners and relating action(s) to situations in order to communicate with utmost efficiency. Style is expressed both
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik through single remarks and their components and through complex structures such as an entire text or discourse (or rather discourse units). Stylistic awareness (competence) of the participants is the key element for producing, conveying and interpreting stylistic meaning or effects compliant to the communicative intentions. Styles can be interpreted based on their structure and relation to the multiple conditions of language usage. This articles focuses on different types of stylistic acts, on the one hand, it examines the stylistic text producing acts (text constituting acts) of different degrees of generality versus specificity and different complexity. On the other hand, stylistic patterns of action as inventories (resources) of highly different elements are described, which can be interpreted as a unit within the text. Finally, the variety of potential options of analysis is considered.
1. Handlungsstilistik/pragmatische Stilistik „Die Rhetorik ist im Kern eine sprachpragmatische Stilistik“, allerdings noch ohne Handlungskategorien (Püschel 1991a, 53). Handlungsstilistik ist weit mehr als die rhetorische Elocutio. Sie basiert auf der Auffassung der linguistischen Pragmatik, dass mit der Verwendung von Sprache in unterschiedlichen Situationen Handlungen vollzogen werden. Da in derselben Situation dieselbe Handlung jeweils verschieden durchgeführt werden kann und die Verschiedenheit stilistisch bedeutsam ist, hat jede Äußerung und mithin jede kommunikative Handlung Stil: erwartbar in der Situation, bezogen auf unsere Kenntnisse von Situationstypen (vgl. Artikel 74 in diesem Handbuch) und damit unauffällig oder auffälliger bzw. auffallend aufgrund gradueller Abweichungen vom Erwartbaren. Auch Sprach-Kontexte schaffen Erwartungen, von denen zu stilistischen Zwecken abgewichen werden kann. Das bedeutet, dass der Beitrag von Stil zum kommunikativen Handeln auf Wahl beruht, nämlich auf den in der Situation und/oder dem Sprach-Kontext vorgegebenen, d. h. erwartbaren oder gradweise ungewöhnlichen Alternativen. Drei verschiedene Zugänge der Handlungsstilistik lassen sich unterscheiden: (1) die Beschreibung der Arten des Beitrags von Stil zum sprachlichen Handeln, d. h. seiner typischen Funktionen (s. 4), (2) die Beschreibung stilistischer Textherstellungshandlungen verschiedener Reichweite (s. 5) und komplexe stilistische Handlungsressourcen (s. 6) sowie (3) die stilistisch relevante Analyse von Sprachhandlungen angesichts jeweils möglicher Handlungsalternativen (s. 7 und 8) Zur pragmatischen Stilistik wird verwiesen auf den knappen Überblick bei Göttert/Jungen (2004, 32 ff.), die programmatischen Artikel von Püschel (1991a; 1995), den Überblick bei Fix/Poethe/Yos (2001, 35 f.) sowie die Grundlegung bei Sandig (1978, 61 ff.). Nach Püschel (1991b, 22) „ist es die Aufgabe der sprachpragmatischen Stilanalyse, die stilistische Bedeutung von Sprachhandlungen bzw. Texten zu erklären.“
2. Stildeinition Eine pragmatische Stildefinition setzt Einheiten voraus, die in der folgenden Weise erfragt werden können (vgl. Stolt 1984; Sandig 1984; Sanders 2003; Fix/Poethe/Yos 2001,
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32; 35 f.; 152): WAS (Botschaft) wird WIE von WEM (Rolle/Individuum) für WEN (Rezipient: Rolle/Individuum) WOZU (mit welcher Intention: welcher Art von Text) unter WELCHEN Handlungsumständen FORMULIERT und ⫺ weitergehend ⫺: BEBILDERT, farblich, typografisch … bzw. mit Stimme, Mimik, Gestik … GESTALTET. Zu unterscheiden sind Textstile, Textmusterstile (in anderer Terminologie „Textsortenstile“) und Gesprächsstile bzw. die mehr auf Intonation fokussierten Sprechstile (Selting/Sandig 1997). Es gibt individuelle Stile (Individualstil oder ad hoc verfertigter Stil) und typisierte Stile wie den Märchenstil oder Fachstile, die als Ressourcen für das Herstellen von realisierten Stilen bereitliegen und die anhand charakteristischer Merkmale (Schlüsselmerkmale wie Es war(en) einmal) oder Merkmalsbündel von Rezipienten erkannt werden können. Stil, das WIE, ist die bedeutsame, situations- und funktionsbezogene Variation der Verwendung von Sprache (und anderen Zeichentypen) zum Zweck möglichst erfolgreichen kommunikativen Handelns in sozialen Situationen. Mit dem Stil kann außerdem die Handlung um weitere Sinnaspekte angereichert werden. Mit Stilen werden Handlungen typisiert oder gradweise individualisiert: Sie ermöglichen bedeutsame Differenzierungen beim kommunikativen Handeln. Sie basieren auf sozialem Wissen, auf kommunikativer Kompetenz.
3. Stilabsicht, Stil als Wahl, Stilwirkung Kommunikatives Handeln ist grundsätzlich intentional, wobei auch mit automatisierten, routinierten und unbewussten Intentionen zu rechnen ist. Das Verstehen geschieht mit Bezug auf gewusste Regeln und Muster, nach denen gehandelt wird bzw. von denen gradweise abgewichen wird. „Handlungen ⫺ also auch stilistische Handlungen ⫺ (sind) Interpretationskonstrukte […]. Hörerleser können etwas als stilistische Handlungen verstehen, auch wenn es vom Sprecherschreiber keineswegs so gemeint ist“ (Püschel 1991a, 53), z. B. bei der Epochenzuordnung älterer Texte. Kommunikatives Handeln erfolgt bezogen auf bestimmte Handlungsumstände und -voraussetzungen. Analog zu den Handlungsaspekten Intention und Rezeption stehen auf der Produzentenseite die Stilabsicht und auf der Rezipientenseite die Stilwirkung. Die Botschaft als Handlungsinhalt oder Thema wird im Rahmen der Handlungsintention, z. B. einer brieflichen Bitte, übermittelt. Die Stilabsicht soll die Handlung mit ihrer Botschaft unterstützen und dies in der gegebenen Situation, angesichts des oder der Rezipienten mit ihrem zu antizipierenden Wissen, auch angesichts des Kanals (z. B. visuell-schriftlich), des Textträgers (Briefpapier unterschiedlicher Qualität), des sozialen Umfelds der Beteiligten, d. h. der gesamten Handlungskonventionen. Es liegt auf der Hand, dass bei derart komplexen Voraussetzungen die Stilabsicht mehr oder weniger gut realisiert werden kann; es handelt sich um einen Gestaltungsversuch (Püschel 1987). Auch bei der Stilwirkung auf der Rezipientenseite bestehen Risiken: Stil wird nicht immer bzw. nicht immer voll erkannt, d. h. die Stilmerkmale eines Textes sind nur virtuell (Spillner 1995, 70); sie müssen rezipierend realisiert werden. Ein entsprechendes Stilwissen (stilistische Kompetenz) muss vorhanden sein. Außerdem können Voreingenommenheiten sowie regionale, soziale, auch historische bzw. kulturelle Zugehörigkeiten von Rezipienten dazu führen, dass die Stilabsicht nicht gelingt: Dann wirkt der Stil ,altmodisch‘,
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik ,gekünstelt‘, ,komisch‘, ,fremd‘ usw. Auch eine andere ideologische Ausrichtung kann zur Folge haben, dass das in den Text über den Stil eingeschriebene Wertesystem (Fowler 1991, 10 ff.) abgelehnt wird: z. B. kann ein traditionell am generischen Maskulinum ausgerichteter Stil in den Augen einer Feministin negativ bewertet erscheinen (Mills 1995). Das bedeutet, dass die Stilabsicht analog zur Perlokution bei der Sprechaktbeschreibung als Versuch gesehen und vom tatsächlich bei der Rezeption eintretenden Effekt (Stilwirkung) unterschieden werden muss (vgl. Luge 1991, 75 f.: perlokutionärer Versuch und perlokutionärer Effekt). Die Handlung und ihr Inhalt (Botschaft) können in verschiedener Weise GESTALTET werden, so kann ich geradeheraus um etwas BITTEN oder gleichzeitig mich SELBSTDARSTELLEN (als Experte, als originell) und/oder die Beziehung in bestimmter Weise GESTALTEN (als familiär oder förmlich distanziert …), dabei den situativen Gegebenheiten (institutionsbezogen, privat …) usw. Rechnung tragen. In allen derartigen Aspekten besteht eine Wahlmöglichkeit (Stil als Wahl, s. Short 1993). Für solche Wahlen verfügen wir über vielfältige Vorgaben, Ressourcen: individuelle Stile, Stilebenen, typisierte Stile verschiedener Art wie Telegrammstil, Parlando (Sieber 1998), soziale Stile (Habscheid/Fix 2003) oder Textmusterstile, mediale Stile (für die beiden letzteren Bachmann-Stein 2004), Mündlichkeit, Schriftlichkeit und deren unterschiedliche Mischungen für den jeweils konkreten Zweck. Die Stilstruktur, die als Ergebnis der jeweiligen Wahl bei der Produktion entsteht, ist bei der Rezeption in vielfältigen Relationen zu interpretieren: zum Handlungstyp, zum Inhalt oder Thema, zu den Handlungsbeteiligten und zu den komplexen Gegebenheiten der gesamten Situation, für deren Deutung wir über Situationstyp-Wissen verfügen (vgl. Artikel 74 in diesem Handbuch). Stil hat Struktur und ist relational auf das gesamte kommunikative Handeln bezogen: Erst aus beiden kann ein Rezipient einen stilistischen Sinn interpretieren. So verwundert es nicht, dass der Beitrag von Stil zum kommunikativen Handeln „eine über die sprachliche Form vermittelte Information pragmatischer Art“ (Fix/Poethe/Yos 2001, 35) ist, aber auch dazu, wie sich die kommunizierende Person zu den Konventionen und konkreten Gegebenheiten des Handelns verhält und zu ihren diesbezüglichen Einstellungen.
4. Stilistische Funktionstypen bezogen au kommunikatives Handeln Kommunikatives Handeln beruht auf Konventionen, auf in einer Gemeinschaft eingespielten Regeln und komplexeren Mustern, von denen jedoch ⫺ mit besonderem Sinn ⫺ auch abgewichen werden kann. Zu diesen Konventionen gehört, dass wir über generelle Typen stilistischen Sinns verfügen, nach denen wir kommunikative Handlungen interpretieren. Im konkreten Fall sind diese generellen Typen spezifiziert. Zunächst ist danach zu fragen, wie die konkrete Kommunikationshandlung relativ zum per Konvention vorgegebenen Handlungsmuster durchgeführt ist. Daraus ergibt sich stilistischer Sinn. Die Botschaft, das Thema kann je nach konkreter Handlungsabsicht mit verschiedenem Sinn GESTALTET werden. Beides wird an (einen) Adressaten über einen Kanal übermittelt: Geschieht es kanalgemäß oder ,besonders‘? Wenn es einen Textträger gibt, stellen sich die folgenden Fragen: Hat er eine ,besondere‘ Qualität oder folgt seine Wahl dem Üblichen, ist er unauffällig? Wie ,passt‘ er zur Handlung mit ihrem
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Thema? Wer äußert die Handlung? Gibt es eine besondere Selbstdarstellung des oder der Beteiligten (als Experte, als gebildet, als ,schlicht‘, als einer bestimmten Gruppe zugehörig usw.)? Wie wird mündlich oder schriftlich auf den/die Adressaten eingegangen? Wie wird die Beziehung zwischen Produzent und Rezipient GESTALTET? Findet die Kommunikation in einem institutionellen oder in einem privaten Rahmen statt und wie verhalten sich die Beteiligten zu den dadurch vorgegebenen Erwartungen. Wird die Kommunikation medial vermittelt und entspricht sie dem ,Image‘ des Mediums (ein Fernsehsender, eine bestimmte Tageszeitung …)? Wie verhält sich die Kommunikation zu den regionalen, sozialen, zeit- und damit kulturgegebenen Erwartungen? Schließlich können mit dem Stil nebenher, nicht explizit, Meinung und Ideologie vermittelt werden, aber auch andersartige Einstellungen wie Bewertungen und Emotionen oder Einstellungen zur Sprache, auch ästhetische Werte (Hoffmann 2003). Diese ganze Vielfalt, die Art der Handlungsdurchführung und ihres Themas, gegebenenfalls angereichert mit dem Ausdruck von Einstellungen, und der vielfältige Situationsbezug können durch Stil ausgedrückt werden. Und das heißt: implizit, nebenher. Methodisch ist die Relevanz dieser Sinnaspekte nachweisbar durch das typische Reden über Stil in der Gemeinschaft (vgl. Sandig 1986, 20 ff.). Anhand der Kategorisierungsausdrücke für literarisch-ästhetische Stile entwickelt Hoffmann (2003, 115 ff.) eine zusätzliche Typisierung ästhetischen Sinns literarischer Werke. Die Sinnaspekte gehören zur Handlungskompetenz. Dabei kann man den situationsbzw. traditionsgegebenen Erwartungen folgen oder gradweise davon abweichen, ja sogar die Situation neu definieren (Selting 1997, 12). Damit ist Stil das Mittel der Individuierung oder Typisierung kommunikativer Handlungen und das Mittel, sie in Relation zu den Erwartungen zu sehen, die durch Handlungs-, Themen- und Situationstypen geweckt werden. Auf Typen von Stilwirkungen (Sandig 1986, 64 ff.) sei hier nur kurz hingewiesen.
5. Stilrelevante Typen von Textherstellungshandlungen Antos (1982) unterscheidet zwischen den Handlungen, die dazu dienen, einen Text zu verfertigen (Textherstellungshandlungen oder Textkonstitutionshandlungen, „stilbildendes Handeln“ bei Fix/Poethe/Yos 2001, 35), und Handlungen, die mit dem Text als Ergebnis dieses Textherstellungsprozesses vollzogen werden (s. dazu 8). Kommunikative Handlungen desselben Typs werden stilistisch auf verschiedene Weise, den aktuellen Intentionen entsprechend, DURCHGEFÜHRT, indem sie einerseits stilistisch GESTALTET werden und andererseits mit den Gegebenheiten der Kommunikation, mit den Konventionen des Handlungstyps bzw. Textmusters und mit dem kulturell relevanten Wissen RELATIONIERT werden. Das DURCHFÜHREN erfolgt durch FORMULIEREN (Püschel 1987, 144), durch WÄHLEN von Stilelementen, auch von Elementen stilistischer Handlungsmuster (s. 6). Wichtig ist auch das WÄHLEN von Teilhandlungen und/oder Teilthemen und des Textmusters (s. 2: mit welcher Art von Text), z. B. Erzählen oder Berichten bei der Wiedergabe eines Geschehens, auch der Interaktionsmodalität, z. B. ,heitere‘ oder ,besinnliche‘ Erzählung. Weiter geht es um das WÄHLEN von Aspekten materieller Gestaltung sowie um das STRUKTURIEREN des Gesamttextes: Sprachliches, Typografie, Bild(er), Farbe(n) …, und schließlich durch das SEQUENZIEREN der Teilhandlungen und/oder der Botschaft (Genaueres dazu Sandig 2006, Kap. 4.1). In Gesprächen werden Stile als gemeinschaftliche „interaktive Leistung“
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik (Selting 1997, 10) hergestellt, beibehalten oder verändert und bilden so einen gemeinsamen „Interpretationsrahmen“ für die Aktivitäten der Beteiligten: „interaktionale Stilistik“ (Selting 1997, 13). Weiter zählt zu den generellen Textherstellungshandlungen beim WÄHLEN von Stilelementen das FORTFÜHREN (Sandig 1978) von meist verschiedenartigen Merkmalen, die alle zusammen in ähnliche Richtung wirken, wie z. B. EMOTIONALISIEREN durch Exklamativsatz oder Wunschsatz, Betonung des Satzanfangs und insgesamt akzentreiche Sprache, emotionale Lexik und entsprechende Phraseologismen usw. Untermuster des FORTFÜHRENSs sind WIEDERHOLEN der Form und/oder der Semantik (kein Mensch, kein Schwein für ,niemand‘) und VARIIEREN als Standardfall (dazu genauer Besch 1989). Das FORTFÜHREN mit seinen Untermustern kann ausdrucksseitig sein (dann ist es markiert) oder inhaltsseitig, was der Standardfall ist. Muster können GEMISCHT (vgl. Rehbein 1983), VERSCHOBEN, GEWECHSELT werden, oder von ihnen kann ABGEWICHEN werden (Püschel 1995, 317). GESTALTEN oder auch der sich auf die Stilabsicht beziehende Gestaltungsversuch ist der stilistische Handlungstyp schlechthin (Püschel 1987, 143; 1995, 306), da er die gesamte sprachliche, parasprachliche und nonverbale Textgestalt umfasst (Fix 1996a): Die stilistische Textgestalt als Ergebnis des GESTALTENs ist ein komplexes Ganzes aus verschiedensten Teilaspekten. Eine solche Gestalt ist immer eine bedeutsame Gestalt. Dieses Ganze wird in verschiedenen Relationen, d. h. RELATIONIERT rezipiert. Auf diese Weise wird die Handlung, die mit dem Text vollzogen wird, zu einer individuellen Handlung, d. h. UNIKALISIERT (Fix 1991b; Fix 1991a, 302). Dabei kann sie durchaus auch TYPISIERT sein (bei einem stark konventionalisierten Textmusterstil wie etwa dem von Gesetzestexten), aber auch INDIVIDUALISIERT oder gar ORIGINALISIERT (Fix 1991b, 54 ff.). Hoffmann (2003, 109) bringt mit Bezug auf Fix (1996a) auch „ästhetisierendes Handeln“ ein; man kann es auch ÄSTHETISIEREN nennen. Dies geschieht durch FORTFÜHRENDES „Gewährleisten von Einheitlichkeit“ (Hoffmann 2003, 110) oder EINHEITLICH MACHEN durch GESTALTEN nach einem „Formprinzip bzw. einer Formidee“ (ebd., 108). Dabei sieht Hoffmann „künstlerisches Gestalten […] als eine von pragmatischen Zwängen befreite Tätigkeit“ (ebd., 110 f.). Spezielle stilistische Verfahren dienen dazu, im Text Stilmittel herzustellen, die dann zusammen mit anderen konventionellen Stilmerkmalen (Stilfiguren, Satzkonstruktionen, Lexemen, Morphemen, Phraseologismen, Wortbildungen etc.) zusammenwirken. Dazu gehören ABWEICHEN (Püschel 1985; Fix/Poethe/Yos 2001, 186 ff.; Sandig 2006, Kap. 4.1.2.1) und VERDICHTEN (Dittgen 1989; Sandig 2006, Kap. 4.1.2.2; von Polenz’ vier Typen komprimierter Aussagen 1980, 145⫺150).
6. Stilistische Handlungsmuster Stilistische Handlungsmuster im engeren Sinn (auch „Stilmuster“, dieser Terminus aber auch mit weiterer Bedeutung, Fix/Poethe/Yos 2001, 218; Sandig 1978, 167 ff.: „Stilinventare“) sind komplexe Vorgaben, d. h. gewusste Muster als Teil der stilistischen Kompetenz für das DURCHFÜHREN spezieller stilrelevanter Teilhandlungen, wie EMOTIONALISIEREN oder ÄSTHETISIEREN (Fix 2001) als Spezialfälle des Einstellungsausdrucks. Das bedeutet, dass sie in ihrer Realisierung bereits als solche zur stilistischen Bedeutung des Textes beitragen. Sie bestehen aus einer Bandbreite stilistischer Merkmale
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verschiedener Sprachbeschreibungsebenen und eventuell anderer Zeichentypen als komplexe Ressource, aus denen für die konkreten Handlungsziele FORTFÜHREND ausgewählt wird, so dass im Text ein charakteristisches Merkmalsbündel entsteht (s. 3), das den entsprechenden stilistischen Sinn nahe legt. Bei der Rezeption werden Zusammenhänge unter den Merkmalen interpretiert, was zur Deutung der Anwendung eines stilistischen Handlungsmusters im Text führt. Derartige stilistische Handlungsmuster sind sehr variabel einsetzbar, und je nach kommunikativen Gegebenheiten und Textmuster sind die entstandenen Merkmalsbündel im Text verschieden. Sie sind unterschiedlich komplex und unterschiedlich spezifisch. Zum Beispiel können KONTRASTIEREN und DIALOGISIEREN (im Schrifttext), auch HERVORHEBEN, mit ganz verschiedenen Funktionen zur Ausgestaltung der Intention und/oder der Botschaft eingesetzt werden. Bereits speziellerer stilistischer Sinn wird vermittelt durch ATTRAKTIV MACHEN (Sandig 1986, 228 ff.) als Spezialisierung der Adressatenberücksichtigung mittels gängiger Stilmerkmale, aber auch mittels Typografie, Farben, Bildern, Form des Textträgers usw. Vergleichbares gilt für VERSTÄNDLICH MACHEN (Groeben 1982, Teil II; Sandig 1991) als Mittel der Sachverhaltsdarstellung und der Adressatenberücksichtigung. Beispielsweise können sowohl für das ATTRAKTIV MACHEN als auch für das VERSTÄNDLICH MACHEN die stilistischen Handlungsmuster KONTRASTIEREN, DIALOGISIEREN und HERVORHEBEN verwendet werden. Stilistische Handlungsmuster sind also nicht fest begrenzt und die einfacheren können in die komplexeren integriert werden. Noch komplexer als die bisher genannten stilistischen Handlungsmuster ist z. B. das PERSPEKTIVIEREN: Es kann das ERZÄHLEN aus einer Perspektive mit Zitaten aus einer anderen enthalten, aber auch das KONTRASTIEREN unterschiedlicher Perspektiven, das Doppeln von Perspektiven wie bei der erlebten Rede (Sie war ja so glücklich darüber!), Perspektivenschwenks usw. Auch Stilebenen können als stilistische Handlungsmuster gesehen werden, denn mit ihrer Hilfe kann man distanziert (,poetisch‘, ,erhaben‘, ,pathetisch‘ …), normal (,neutral‘, ,unauffällig‘ …) oder nah (,familiär‘, ,salopp‘, ,vulgär‘ …) GESTALTEN. Dialekte, Soziolekte, fremde Sprachen können wie stilistische Handlungsmuster eingesetzt werden.
7. Sprechakte und Satzsemantik Auf einer Mikroebene geht es um die Art der Durchführung von Sprechakten. Hier lauten die Fragen: Wie wird auf Gegenstände REFERIERT? Was wird darüber PRÄDIZIERT? Wie wird die illokutionäre Rolle versprachlicht? Werden (z. B. durch Konnotationen oder Präsuppositionen) nebenbei Handlungen mit vollzogen? Es geht also um das Problem, mit welchem stilistischen Sinn im gegebenen Kontext ein Sprechakt ausgedrückt, FORMULIERT bzw. auch weitergehend GESTALTET ist. So kann jemand je nach der Art der Beziehung und/oder seiner Einstellung zum Sachverhalt jemand anderen auf sehr verschiedene Weise BITTEN oder AUFFORDERN, das Fenster zu schließen; zum sprachlichen Ausdruck kommt Artikulation, Intonation und gegebenenfalls Mimik und Gestik hinzu: (1)
a. Mach das Fenster zu (!) b. Mach bitte das Fenster zu (!) c. Mach doch bitte mal das Fenster zu.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik d. e f. g.
Würdest du wohl das Fenster schließen! Das Fenster ist (ja) (immer noch) offen. Kannst/Könntest du bitte mal das Fenster zumachen? Es zieht! usw. (nach Maas/Wunderlich 1972, 123 f.)
Auch die Art der Sequenzierung von Sprechakten kann betrachtet werden: vom selben Sprecher, in der Replik. Ein Beispiel für misslingende Sequenzen erörtert Fix (1996b) im Kontext von sprecher- und hörerbezogenen Kommunikationsmaximen. Man kann auch danach fragen, wie jeweils auf Gegenstände REFERIERT wird. So wurde im „Stern“ (11/2000, 25) in der Rubrik „Leute“ auf die frühere englische Premierministerin und ihren Ehemann folgendermaßen VARIIEREND Bezug genommen: (2)
a. die Eiserne Lady, Mrs. Thatcher, die Lady, Maggie; b. ihr Gatte Sir Dennis Thatcher, der millionenschwere Geschäftsmann, der Gatte, der Herr Gemahl.
Man kann weiter danach fragen, wie über einen Gegenstand PRÄDIZIERT wird. Man vergleiche: (3)
a. Die Unterstellung von Absichten ist ein praktischer Turbolader der Kommunikation, für die Kommunikationswissenschaft ist sie Sand im Getriebe und eine veritable Störgröße. (Knobloch 2005, 14). b. Die Unterstellung von Absichten ist nützlich für die Kommunikation, für die Kommunikationswissenschaft ist sie (problematisch und) störend.
Es ist z. B. möglich, dass die Botschaft, das Thema ,interessant‘ oder ,witzig‘ gemacht wird, indem die Referenz unbestimmt bleibt. In diesem Fall versuchen die Rezipierenden, aus den Prädikationen das Gemeinte zu erschließen: (4)
Jedesmal wenn ich dort bin, schwöre ich mir, ich gehe nie wieder hin. Wenn ich dort war, schäme ich mich. Ich schäme mich, weil ich ohne nicht sein kann, weil es Tage gibt, wo ich am Morgen schon spüre, ich muß wieder hin. Und dann gehe ich wieder hin […] Und man merkt, daß es dem anderen ebenso peinlich ist, hier gesehen zu werden. Auch ihn trieb irgendeine Sehnsucht her. Neulich traf ich dort einen alten Bekannten, einen Filmarchitekten. „Du hier?“ „Und du?“ So unser verklemmtes Begrüßungsritual. „Ich statte doch jetzt diese TV-Soap-Geschichten aus ⫺ dusselige Familienserien ⫺, wie soll ich die anders einrichten als mit IKEA? Aber was machst du hier?“ „Recherche“ […] (Elke Heidenreich/Bernd Schroeder (2005): Rudernde Hunde. Frankfurt/M., 59 f.)
Dieses Verfahren kann zum Aufbau von fiktionalem Wissen führen oder wie hier für eine unerwartete Wendung genutzt werden. Auch was es mit dem ich auf sich hat, erfährt man erst nach dem Stichwort Recherche, ebenfalls über die Prädikationen. Eine komplexe Methode zum „Zwischen-den-Zeilen-Lesen“ hat von Polenz (1980) entwickelt. Zu diesem Zweck erweitert er die Sprechaktkategorien: den Referenzakt um „Größenbestimmung“ zur genauen Bestimmung der Quantität, um „Sprechereinstellung“ und um „soziale und psychische Beziehung“. Nach der Bestimmung der „wesentli-
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chen Texthandlungen“ und des notwendigen Kontext- und Situationswissens folgt von Polenz in seiner „satzsemantischen“ Beschreibung der Abfolge des Textes: Schritt für Schritt werden die Teilhandlungen ermittelt, indem auch Angedeutetes, ,Mitgemeintes‘, Konnotiertes usw. beschrieben wird und zwar immer ganz nah an den Äußerungen. Die Methode ist vorzüglich demonstriert bei von Polenz (1980; 1988, 328 ff.).
8. Beispiele sprachpragmatischer Stilanalyse von Texten/Gesprächen Grundsätzliches zur pragmatischen Stilanalyse komplexer Einheiten ist zu finden bei Püschel (1991b), bei Faber (1994) und bei Holly/Kühn/Püschel (1986). Püschel (1995) setzt sich zum Ziel seiner stilpragmatischen Überlegungen die praktische Anwendbarkeit. Als theoretische Voraussetzungen formuliert er Folgendes (1995, 307): Sprachhandlungen erfolgen nach in einer Gemeinschaft eingespielten Mustern, nach regelhaft gewordenen Mustern. Aufgrund der Musterkenntnis erkennen wir Musteranwendungen, und wir können diese beschreiben. Aus der Gestalt der sprachlichen Handlung erkennen wir zudem den „durch die Gestalt bewirkten stilistischen Sinn“ (ebd.). Er gibt als Beispiel die Anrede des Publikums in einer Neujahrsansprache von Helmut Schmidt: Meine Damen und Herren mit einer stilistisch neutralen Formel. Helmut Kohl hingegen benutzt zum vergleichbaren Anlass: Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger. In beiden Fällen wird die Beziehung verschieden GESTALTET und die Fortsetzungserwartungen sind verschieden: ,distanziert‘ im ersten Fall, ,förmlich-distanziert‘ und außerdem „integrierend und Nähe schaffend“ (ebd.) im zweiten. Er betont, wir müssten „die Details und das Ganze gleichermaßen im Blick haben, wir müssen zwischen beiden Perspektiven hin und her springen […] und zwischen ihnen vermitteln“ (1995, 310). Püschel geht darauf ein (1995, 311), dass der stilistische Sinn in der Regel nicht explizit gemacht wird ⫺ dies kann zusätzlich geschehen, unterstützend ⫺, sondern dass sein impliziter Charakter an der Gestaltung, an Äußerungsqualitäten des Textes nachgewiesen werden muss, am WIE, vgl. Faber (1994, 48⫺85): Die Interpretation muss plausibel gemacht werden. Um die Analyse durchschaubar zu halten, unterscheidet Püschel (1995, 312 f. ebenso wie Holly/Kühn/Püschel 1986, 43 ff.) drei „Aufgabenfelder“ (die zugleich Aufgaben für die sprachlich Handelnden benennen): (1) textsortenkonstitutive Muster, die also konventionsgemäß bei einem Gesprächs- oder Textmuster erwartbar sind (hinzuzufügen sind die fakultativen Teilhandlungen, sofern sie nach den Konventionen vorkommen können); (2) Organisationsmuster: Diese betreffen die Strukturierung und Gliederung von dialogischen und monologischen Texten, die thematische Organisation sowie die Verständnissicherung und die Aufmerksamkeitslenkung; (3) Kontakt- und Beziehungsmuster: die Etablierung, Aufrechterhaltung und Ausgestaltung kommunikativer Beziehung. Das unterschiedliche WIE weist Püschel bezüglich dieser drei Aufgabenfelder an den genannten beiden Neujahrsansprachen nach. Es ist zu betonen, dass Püschel (1995, 319) nicht bei der textinternen Beschreibung stehen bleibt: Gemäß der Einbettung von Äuße-
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik rungen/Texten in Situationen sind diese, so Püschel, mit ihren Eigenschaften auf die Gegebenheiten der gesamten Situation zu beziehen, d. h. mit diesen zu RELATIONIEREN (s. 5). Das betrifft Handlungsrollen, Zusammenhänge und Anlass des Textes, den kulturellen Rahmen etc. (vgl. Sandig 1995, 33 f.).Um das Ausufern einer sprachpragmatischen Stilbeschreibung zu vermeiden, betont Faber (1994) außer den Aufgabenfeldern die jeweilige Zielsetzung einer Beschreibung. Bei Püschel geht es beispielhaft um die Erarbeitung der unterschiedlichen Stile der Ansprachen zweier Regierungschefs. Es folgen einige Beispiele, um die Vielfalt der Zielsetzungen und Anwendungen sprachpragmatischer Stilanalyse zu zeigen: Frier (1978, 106) behandelt den Nachweis der „möglichen Anwesenheit der gesellschaftlichen Kommunikation im literarischen Text“ und auch die „Freiheit, die der literarische Text bei der Integration der Alltagskommunikation hat“ (ebd., 95). Hier wird also der literarische Text mit bekannten Mustern RELATIONIERT. Short (1996) betrachtet den Dramentext als Sequenz kommunikativer Akte, die auf der Basis der Discourse Analysis interpretiert werden: Es geht um Sprechakte und Sprechaktsequenzen, pragmatische Präsuppositionen, Grices Kooperationsprinzip mitsamt den Konversationsmaximen, die alle auf der Grundlage des kommunikativen Wissens in ihrem WIE interpretiert werden. Weiter spielen das Anredeverhalten der Figuren und die Formen der Gestaltung von (sozialen) Beziehungen eine Rolle. Dabei sind verschiedene Kommunikationsebenen des Textes relevant: Intention und Botschaft des Autors an die Rezipierenden sowie der Figuren untereinander, Mitteilung einer Kommunikation mit Dritten an eine Figur etc. Neben den bei Short genannten und problematisierten Analysekriterien spielen weiter die Interaktionsmodalitäten wie Scherz, Ernst, Fantasie etc. eine Rolle. Zu einer Analyse mittels der Griceschen und weiterer Konversationsmaximen s. auch Fix (1996b). Faber (1994) reichert für die Dramenanalyse die sprachpragmatische Beschreibung um ethnomethodologisches Gedankengut an: Der zu interpretierende Sinn wird durch die Beteiligten (hier die Dramenfiguren) selbst hergestellt; dabei orientieren sie sich an Modellen oder Mustern, die in ihrer Gemeinschaft geläufig sind. Die so erarbeiteten alltagssprachlichen Muster, z. B. das eines Gesprächsbeginns, nimmt Faber als Hintergrund für ihre Beschreibungen. So kann sie zeigen, dass Thomas Bernhards Figuren derartige Muster nur teilweise befolgen ⫺ ein Zeichen „gestörter Kommunikation“ (1994, 34). Insofern sind die Gespräche „stilisiert“. Auf diese Weise zeigt sie das WIE der Dialoge auf, auch die Art der Entwicklung der Dialogtechnik bezüglich der Beziehungsqualität bei Bernhard. Holly/Kühn/Püschel (1986) geht es um den Inszenierungscharakter von Fernsehdiskussionen. Sie ergänzen die sprachpragmatische Beschreibung von Fernsehdiskussionen mit Politikern um die Beschreibung der nonverbalen, visuellen Inszenierung mittels Kameraführung und Bildregie: Auch in dieser Hinsicht sind die Sendungen GESTALTET. Im Rahmen der genannten Aufgabenfelder werden „textsortenkonstitutive Muster“ herausgearbeitet, nämlich Aufgaben der Moderatoren (wie kritisch FRAGEN, AUFLOCKERN zur Unterhaltung der Zuschauer, Ausgewogenheit herstellen usw.) und Aufgaben der Politiker (wie WERBEN und LEGITIMIEREN). Im Rahmen des Aufgabenfeldes Organisation geht es um die besondere Art der Gesprächsorganisation und die Art der Themenabhandlung. Dabei werden vor allem auch die Tricks von Politikern aufgezeigt. Holly (1990) untersucht das Sprachhandeln eines ,einfachen‘ Bundestagsabgeordneten. Seine Einbindung in verschiedene Institutionen und der Zwang, als „Transmissions-
79. Handlung (Intention, Botschaft, Rezeption) als Kategorie der Stilistik
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riemen“ (ebd., 128 ff.) zwischen Basis und Politiker-Kollegen zu fungieren, führt zu „Mehrfachadressierungen und Mehrfachfunktionen von Äußerungen“ (1990, 54). Die Rede wird „inszeniert“ (ebd., 54 ff.), indem gegenüber dem Publikum bestimmte Effekte intendiert werden, die das eigentliche Handeln überdecken: „Politische Akteure sind gleichzeitig auf der Bühne und im Zuschauerraum tätig, die Rampe ist beweglich und jeweils an anderer Stelle […]“ (ebd., 58). Der daraus resultierende besondere Stil der institutionellen Kommunikation wird mittels Sprachhandlungsanalysen aufgezeigt. Dabei ist Persuasion wesentlich „als eine stilistische Weise, bestimmte Textsorten zu gestalten“ (ebd., 105). Holly zeigt auch Möglichkeiten der Vermeidung von Rollenkonflikten auf und ihre Auswirkungen auf die stilistische Handlungsgestaltung. Fix/Poethe/Yos (2001, 82⫺93) analysieren einen Aufforderungstext im institutionellen Kontext mit Blick auf die Sprechaktformulierungen und zeigen sprachkritisch mögliche Alternativen auf. Sie beziehen die Typografie als Zeichentyp mit ein. Im selben Band (ebd., 150⫺157) wird ein Werbebrief analysiert. Beide Analysen enthalten auch Reflexionen über Grundsätzliches und die Methodik und sind durch Übungsaufgaben ergänzt. Oberhauser (1993) beschreibt bei ein- und mehrzeiligen Zeitungsschlagzeilen 43 verschiedene gängige Handlungstypen, die auch gleichzeitig realisiert werden können. Er geht aus von der Austinschen Einteilung des Sprechakts in Lokution, Illokution und Perlokution und ergänzt diese Gesichtspunkte um den Beziehungsaspekt, den „ko-textuellen“ Aspekt (Relation von Überschrift(en) und zugehörigem Text), den „intertextuellen“ Aspekt des Zusammenhangs mehrerer Nachrichten in derselben Zeitung, den „perspektivierenden“ Aspekt durch Vergleich von Gestaltungen desselben Sachverhalts in verschiedenen Zeitungen und schließlich den „intratextuellen“ Aspekt durch die Art der Verknüpfung der Äußerungen einer mehrteiligen Überschrift untereinander. Auf diese Weise kann er der gängigen Vorstellung von der ,Objektivität‘ der hard news-Überschriften Handlungstypen wie BEWERTEN und KRITISIEREN, EMOTIONALISIEREN, FAMILIÄR MACHEN, sich DISTANZIEREN oder IDENTIFIZIEREN, HOCHoder HERABSTUFEN usw. entgegensetzen. Stile in Arbeitskontexten untersuchen z. B. Müller (1997) und Brünner (1997). Bei Müller (1997) wird z. B. die Prosodie mit einbezogen und ebenso die Themenwahl, um eine asymmetrische Rollenbeziehung in einem Betrieb zu beschreiben. Brünner (1997) beschreibt unterschiedliche Stile eines Dienstleisters, je nach der Einschätzung der Kunden als Experten oder Laien. Für die Darstellung des Handlungsmusters nutzt sie eine Modellierung mittels Flussdiagramm, die auf Rehbein (1977) basiert und die auch mentale Tätigkeiten der Beteiligten einbezieht. Andere „Beziehungsstile“ werden in Holly (1983) und Sandig (1983) beschrieben. Die handlungsstilistischen Analysen gehen, basierend auf Text- oder Gesprächsmustern und Beschreibungsinteresse, mehr und mehr in Richtung einer umfassenden ganzheitlichen, einer „holistischen“ Beschreibung. Dies wird besonders deutlich durch den Vergleich der stilistischen Analyse von Zeitungshoroskopen über die Jahre hinweg: als zwei Varianten eines Textmusterstils in Sandig (1978, 99 ff.) einerseits und BachmannStein (2004) andererseits. Bachmann-Stein beschreibt anhand eines Textmustermodells ebenso die materielle, visuelle Gestalt in ihren Funktionen wie die Handlungsstrukturen, die thematischen Strukturierungen und die sprachlichen Formulierungsmuster bezogen auf vier verschiedene Zeitungen mit ihrer jeweiligen Klientel.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
9. Literatur (in Auswahl) Antos, Gerd (1982): Grundlagen einer Theorie des Formulierens. Textherstellung in geschriebener und gesprochener Sprache. Tübingen. Bachmann-Stein, Andrea (2004): Horoskope in der Presse. Ein Modell für holistische Textsortenanalysen und seine Anwendung. Frankfurt/M. Besch, Elmar (1989): Wiederholung und Variation. Untersuchung ihrer stilistischen Funktionen in der deutschen Gegenwartssprache. Frankfurt/M. u. a. Brünner, Gisela (1997): Fachlichkeit, Muster und Stil in der beruflichen Kommunikation. In: Selting/Sandig (1997), 254⫺285. Dittgen, Andrea Maria (1989): Regeln für Abweichungen. Funktionale sprachspielerische Abweichungen in Zeitungsüberschriften, Werbeschlagzeilen, Werbeslogans, Wandsprüchen und Titeln. Frankfurt/M. Faber, Marlene (1994): Stilisierung und Collage. Sprachpragmatische Untersuchung zum dramatischen Werk von Botho Strauß. Frankfurt/M. Fix, Ulla (1991a): Vorbemerkungen zur Theorie und Methodologie einer historischen Stilistik. In: Zeitschrift für Germanistik NF 1, 299⫺310. Fix, Ulla (1991b): Unikalität von Texten und Relativität von Stilmustern. In: Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache 10, 51⫺60. Fix, Ulla (1996a): Gestalt und Gestalten. Von der Notwendigkeit der Gestaltkategorie für eine das Ästhetische berücksichtigende pragmatische Stilistik. In: Zeitschrift für Germanistik NF VI, 308⫺323. Fix, Ulla (1996b): Text- und Stilanalyse unter dem Aspekt der kommunikativen Ethik. Der Umgang mit den Griceschen Konversationsmaximen in dem Dialog „Das Ei“ von Loriot. In: Angelika Feine/Hans-Joachim Siebert (Hrsg.): Beiträge zur Text- und Stilanalyse. Frankfurt/M. u. a., 53⫺67. Fix, Ulla (2001): Die Ästhetisierung des Alltags ⫺ am Beispiel seiner Texte. In: Zeitschrift für Germanistik NF XI, 36⫺53. Fix, Ulla/Hannelore Poethe/Gabriele Yos (2001): Textlinguistik und Stilistik für Einsteiger. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, unter Mitarbeit von Ruth Geier. Frankfurt/M. u. a. Fowler, Roger (1991): Language in the News: Discourse and Ideology in the Press. London/New York. Frier, Wolfgang (1978): Zur Anwesenheit kommunikativer Handlungen im Text. Pragmatische Analyse der „Linkshänder“ von G. Grass. In: Der Deutschunterricht 30. H. 5, 95⫺110. Göttert, Karl-Heinz/Oliver Jungen (2004): Einführung in die Stilistik. München. Groeben, Norbert (1982): Leserpsychologie: Textverständnis ⫺ Textverständlichkeit. Münster. Habscheid, Stephan/Ulla Fix (Hrsg.) (2003): Gruppenstile. Zur sprachlichen Inszenierung sozialer Zugehörigkeit. Frankfurt/M. u. a. Hoffmann, Michael (2003): Stil und stilistischer Sinn im Bezugsfeld pragmatischer und ästhetischer Kommunikationshandlungen. In: Irmhild Barz/Gotthard Lerchner/Marianne Schröder (Hrsg.): Sprachstil ⫺ Zugänge und Anwendungen. Ulla Fix zum 60. Geburtstag. Heidelberg, 107⫺121. Holly, Werner (1983): „Die Mutter is wie alt?“ Befragungstechniken und Bewältigungsstile eines Psychotherapeuten in Zweitinterviews. In: Germanistische Linguistik 5⫺6/81, 103⫺147. Holly, Werner (1990): Politikersprache. Inszenierungen und Rollenkonflikte im informellen Sprachhandeln eines Bundestagsabgeordneten. Berlin/New York. Holly, Werner/Peter Kühn/Ulrich Püschel (1986): Politische Fernsehdiskussionen. Zur medienspezifischen Inszenierung von Propaganda als Diskussion. Tübingen. Knobloch, Hubert (2005): „Sprachverstehen“ und „Redeverstehen“. In: Sprachreport 1/2005, 14. Luge, Elisabeth (1991): Perlokutionäre Effekte. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 19, 71⫺86. Maas, Utz/Dieter Wunderlich (1972): Pragmatik und sprachliches Handeln. Frankfurt/M. Mills, Sara (1995): Feminist Stylistics. London/New York.
79. Handlung (Intention, Botschaft, Rezeption) als Kategorie der Stilistik Müller, Andreas Paul (1997): ,Reden ist Chefsache‘. Linguistische Studien zu sprachlichen Formen sozialer ,Kontrolle‘ in innerbetrieblichen Arbeitsbesprechungen. Tübingen. Oberhauser, Stephan (1993): „Nur noch 65.000 Tiefflugstunden“. Eine linguistische Beschreibung des Handlungspotentials von hard news-Überschriften in deutschen Tageszeitungen. Frankfurt/M. u. a. Polenz, Peter von (1980): Möglichkeiten satzsemantischer Textanalyse. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 8, 133⫺153. Polenz, Peter von (1988): Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. 2. durchges. Auflage. Berlin/New York. Püschel, Ulrich (1985): Das Stilmuster „Abweichen“. Sprachpragmatische Überlegungen zur Abweichungsstilistik. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 16, 9⫺24. Püschel, Ulrich (1987): GESTALTEN als zentrales Stilmuster. In: Forum Angewandte Linguistik 13, 143⫺145. Püschel, Ulrich (1991a): Stilistik: Nicht Goldmarie ⫺ nicht Pechmarie. Ein Sammelbericht. In: Deutsche Sprache 19, 50⫺67. Püschel, Ulrich (1991b): Sprachpragmatische Stilanalyse. Überlegungen zur interpretativen Stilistik. In: Der Deutschunterricht 43. H. 3, 21⫺32. Püschel, Ulrich (1995): Stilpragmatik. Vom praktischen Umgang mit Stil. In: Gerhard Stickel (Hrsg.): Stilfragen. Berlin/New York, 303⫺328. Rehbein, Jochen (1977): Komplexes Handeln. Elemente zur Handlungstheorie der Sprache. Stuttgart. Rehbein, Jochen (1983): Zur pragmatischen Rolle des „Stils“. In: Germanistische Linguistik 3⫺ 4/81, 21⫺48. Sanders, Willy (2003): Über WAS und WIE und andere W-Fragen. In: Irmhild Barz/Gotthard Lerchner/Marianne Schröder (Hrsg.): Sprachstil ⫺ Zugänge und Anwendungen. Ulla Fix zum 60. Geburtstag. Heidelberg, 269⫺275. Sandig, Barbara (1978): Stilistik. Sprachpragmatische Grundlegung der Stilbeschreibung. Berlin/ New York. Sandig, Barbara (1983): Zwei Gruppen von Gesprächsstilen. Ichzentrierter versus duzentrierter Partnerbezug. In: Germanistische Linguistik 5⫺6/81, 149⫺197. Sandig, Barbara (1984): Ziele und Methoden einer pragmatischen Stilistik. In: Bernd Spillner (Hrsg.): Methoden der Stilanalyse. Tübingen, 137⫺161. Sandig, Barbara (1986): Stilistik der deutschen Sprache. Berlin/New York. Sandig, Barbara (1991): Stilistische Handlungsmuster. In: Werner Barner/Joachim Schildt/Dieter Viehweger (Hrsg.): Proceedings of the Fourteenth International Congress of Linguistics. Band III. Berlin, 2222⫺2225. Sandig, Barbara (1995): Tendenzen der linguistischen Stilforschung. In: Gerhard Stickel (Hrsg.): Stilfragen. Berlin/New York, 27⫺61. Sandig, Barbara (2006): Textstilistik des Deutschen. Berlin/New York. Selting, Margret (1997): Interaktionale Stilistik: Methodologische Aspekte der Analyse von Sprechstilen. In: Selting/Sandig (1997), 9⫺43. Selting, Margret/Barbara Sandig (Hrsg.) (1997): Sprech- und Gesprächsstile. Berlin/New York. Short, Michael H. (1993): Style: Definitions. In: Ronald E. Asher (ed.): Encyclopedia of Language and Linguistics. Oxford et al., 4375⫺4382. Short, Michael H. (1996): Discourse analysis and the analysis of drama. In: Jean Jacques Weber (ed.): The Stylistics Reader. From Roman Jakobson to the Present. London et al., 158⫺180. Sieber, Peter (1998): Parlando in Texten. Zur Veränderung kommunikativer Grundmuster in der Schriftlichkeit. Tübingen. Spillner, Bernd (1995): Stilsemiotik. In: Gerhard Stickel (Hrsg.): Stilfragen. Berlin/New York, 62⫺93. Stolt, Birgit (1984): Pragmatische Stilanalyse. In: Bernd Spillner (Hrsg.): Methoden der Stilanalyse. Tübingen, 163⫺173.
Barbara Sandig, Saarbrücken (Deutschland)
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
80. Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthatigkeit 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Stil als Frage der Wahrnehmung: eine kognitionspsychologische Dimension Stil als Frage des Verstehens: eine hermeneutische Dimension Stil als Frage der Gestaltwahrnehmung: eine gestaltpsychologische Dimension Stil als Frage der Analyse und Beschreibung: eine linguostilistische Dimension „Stilgestalten“ in rezeptions- und produktionsästhetischer Sicht Holistische Konzepte der Stilwahrnehmung Resümee: Wahrnehmen und Gestalten von Stil-Zeichen an eigenen und fremden Texten Literatur (in Auswahl)
Abstract The article discusses the problem that “style” is not a set of single traits in a text but an overall quality, which is best defined as “Gestalt”, a term developed by German “Gestalt” psychology in the early 20th C. Several approaches to this problem are being considered: A psychology of cognition found that there is no uninterested, “objective” perception at all. Hermeneutics, as developed by Schleiermacher in the late 18th C., has ever since been dealing with the problem that “jumping” from isolated observations in a text and its individual traits to a general conclusion results in a logical problem. This problem can only be solved by “psychological” means, which Schleiermacher called “divination”. A psychology of perception explains how forms ⫺ in geometry, in architecture, in music, and in literature ⫺ can be perceived in their “Gestalt” character. In linguostylistics, means of investigating style in texts have been discussed for three decades, without resolving the problem of “total impression” (Wilhelm v. Humboldt) created by the text in linguistic terms. German “Rezeptionsaesthetik” (text analyses under aesthetic aspects) has shown that “Gestalt” is not a trait but an interpretation of the text ⫺ a fact that is also relevant for any aesthetics of production. Finally, “holistic” style perception, as treated in a didactic and methodical way, is considered in the opposition of “Klang ⫺ Ton” (sound ⫺ tone) and “Haltung ⫺ Habitus” (attitude ⫺ habit), as well as Brecht’s “Gestus” (gesture). In a nutshell, the article points out that style looked upon as “Gestalt” is not a verbal work of art’s property but rather a product of its perception. It is formed in the reader’s mind ⫺ the more clearly, the more aware the readers are.
1. Stil als Frage der Wahrnehmung: eine kognitionspsychologische Dimension Texte kann man lesen, nicht aber ihren Stil. Man muss ihn wahrnehmen. Stil ist ein übersummatives Ganzes. Man hat auch gesagt: Er ist eine Gestalt. In welchem Sinn das richtig ist, davon handelt dieser Artikel. Fix (1996, 320) stellt fest, dass „die Kategorie
80. Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthaftigkeit
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,Gestalt‘ sich offensichtlich in linguistische, soziologische, literaturwissenschaftliche und andere Gedankengänge einfügt“. Nicht zuletzt sind das sprach- und literaturdidaktische Gedankengänge. Mit ihnen soll dieser Artikel schließen.
1.1. Von der einzelheitlichen zur ganzheitlichen Wahrnehmung Linguistische Kategorien der Stilanalyse zielen auf Wahrnehmung einzelner Textmerkmale. Was ist typisch für einen geschriebenen Text überhaupt, für ein bestimmtes Textmuster, für eine bestimmte kommunikative und/oder gestalterische Absicht? So wichtig es ist, diesen Fragen nachzugehen, so wenig ist damit schon reflektiert, wie man einen Stil im Ganzen wahrnehmen kann. Immer wieder in der Geschichte der Sprachund Literaturwissenschaft, aber auch Sprach- und Literaturdidaktik, hat man diesem Problem beizukommen versucht. Auffällig ist, dass man überall dort, wo es nicht um entweder textgrammatisch fassbare Phänomene (wie z. B. Satzverknüpfung) oder aus der Rhetorik bekannte Figuren (wie z. B. Alliteration) geht, Zuflucht nimmt zu metaphorischen Beschreibungen (z. B. „leichtfüßiger“, „schwerfälliger“ Stil). So hat etwa Lanham (1974, 47) vorgeschlagen, Prosastile in einem Spektrum zwischen transparent und opak anzuordnen. Bezeichnet sind damit nicht Texteigenschaften, sondern Wahrnehmungsweisen. Wenn Lanham (ebd., 54) danach fragt, in welchem Ausmaß der ,Stil‘ eines rezipierten Textes sich selbst auf Kosten von ,Inhalten‘ in den Vordergrund schiebe, so meint er: in welchem Ausmaß er sich der Wahrnehmung anbietet.
1.2. Gerichtetheit jeder Wahrnehmung als sinnlicher Erkenntnis Aebli (1980, 171) unterscheidet zwischen „Wahrnehmung der elementaren Einheiten (Ränder, Ecken)“, für die der Mensch angeborene neurale Detektoren besitze, und Wahrnehmung von „Einheiten höherer Ordnung“, die erlernt werden müsse. Stil ist eine solche Einheit höherer Ordnung, seine Wahrnehmung wird in kultureller Praxis erlernt. Also ist diese Wahrnehmung auch erlernbar. Dass Menschen sich darum bemühen, hängt mit dem zusammen, was man symbolic selfcompletion genannt hat (vgl. Wicklund/Gollwitzer 1982). Gemeint ist unser Interesse daran, die eigene Selbstdarstellung durch symbolischen Ausdruck und Setzen von Zeichen (z. B. Kleidung, Haartracht, Schreibstil) zu gestalten. Im Feld der Literatur hat es weiterhin auch mit dem zu tun, was eine konstruktivistische Literaturtheorie (vgl. Scheffer 1992) als „endlos autobiografische Tätigkeit“ des Lesens beschreibt: Wir erhoffen uns für unseren eigenen „Lebensroman“ (Scheffer 1992, 24 f.) eine Bereicherung durch die lesende Aneignung von Sprech- und Schreibstilen. Obwohl wir dabei Stilkonstruktion als Rekonstruktion erleben und beschreiben, geht es zuallererst um den selbstsuggestiven Charakter jener Wahrnehmungen, die zum Erkennen von Stilen in und an Texten führen. Wir versichern uns deshalb der theoretischen Grundlagen einer Psychologie der Wahrnehmung als „sinnlicher Erkenntnis“ (Holzkamp 1986, 22⫺31): ⫺ Wahrnehmung setzt sinnliche Präsenz des Wahrgenommenen voraus und hat Erkenntnischarakter, ist also nie passives Aufnehmen.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik ⫺ Wahrnehmung ist allemal perspektivisch und auf „sinnvolle Ganzheiten“ gerichtet; insbesondere gilt das für Wahrnehmungsgegenstände, die ihrer wesentlichen Eigenart nach Träger von Symbolbedeutungen sind; also gilt es für Sprache. ⫺ Wahrnehmungsbedingungen können optimiert werden durch Veränderung der standortgebundenen Perspektive, durch Vergleich verschiedener Wahrnehmungsobjekte oder Intensivierung der Gerichtetheit und Gespanntheit auf den Gegenstand. Da Wahrnehmung ganz grundsätzlich selektiv ist und ohne Interpretation nicht möglich, ist die Wahrnehmung stilistischer Eigenheiten eines Textes immer auch Ergebnis einer Interpretation; sie ist Stilkonstruktion, nicht bloßes Zur-Kenntnis-Nehmen.
1.3. Stilisierung als kulturelle Praxis Ein Blick auf nichtsprachliche Stile zeigt, dass wir es hierbei mit einem grundlegenden Zug kultureller Praxis zu tun haben: Auch die Soziologie erforscht ja Stile (vgl. Luckmann 1986). Neben Interaktionsstilen sind hier vor allem Selbststilisierungen und, oft unter Berufung auf Bourdieu (1982), Lebensstile schlechthin Gegenstand des Interesses (vgl. Lüdtke 1989). So hat eine interpretative Soziolinguistik (vgl. Hinnenkamp/Selting 1989) etwa Konfliktlösungsstile herausgearbeitet und über solche Einzelfragen hinaus nach dem Verhältnis von Natürlichkeit und Stil gefragt (vgl. Auer 1987). Stile werden allgemein als „Mittel und Ressource sozialer Kategorisierung“ (Hinnenkamp/Selting 1989, 20) verstanden: „Die feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1982) sind häufig fassbar als Stilunterschiede. Auch für diesen Bereich der Stilforschung gilt, dass nicht einzelne Handlungen der (Selbst-)Stilisierung schon genügen um einen Stil zu fassen, sondern dass ein ganzheitlicher Wahrnehmungseindruck zu untersuchen ist.
2. Stil als Frage des Verstehens: eine hermeneutische Dimension Schleiermacher (1838/1977), unter dem Einfluss der romantischen Ästhetik eine Theorie des Verstehens von Texten entwerfend (vgl. z. B. ebd., 176), bedient sich des Begriffs der Eigentümlichkeit als einer ganzheitlichen Qualität, die eher im Stil als im Stoff eines Werkes zu suchen sei (vgl. ebd., 170). Im 20. Jahrhundert hat die kritische Rekonstruktion der Hermeneutik Schleiermachers deutlich machen können: „Der Stil entzieht sich der begrifflichen und grammatischen Analyse […] aus prinzipiellen Gründen“ (Frank 1977, 316). Die Deutung der Singularität des Stils bedürfe stets eines divinatorischen Sprungs von der Summe der Einzelbeobachtungen zum ganzheitlichen Verstehen eines Stils, wobei „das Nichtverstehen sich niemals gänzlich auflösen will“ (ebd., 330). In der Tat lehrt praktische Erfahrung mit der Rezeption literarischer Texte, dass Beobachtungen zur sprachlichen Gestalt nicht nur etwas Intuitives haben, sondern dass das kluge Wort vom „Vermutungscharakter allen Verstehens“ (Glinz 1973, 41) ganz besonders gilt, wo ein Sinn im Stil gesucht werden soll. Einfühlung in einen Autor, wie Dilthey sie lehrte, mag auch zur Hermeneutik gehören; das von Schleiermachers „divinatorischem Sprung“ Gemeinte deckt sie nicht ab. Mit Schleiermacher psychologisch denkend, kann sich eine Hermeneutik des Stils nur durch diesen Sprung über den Graben zwischen der Eigentümlichkeit des Autors und dem „erratenden“ Leserbewusstsein retten.
80. Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthaftigkeit
1351
3. Stil als Frage der Gestaltwahrnehmung: eine gestaltpsychologische Dimension 3.1. Gestalt als holistisches Konzept Mit Gestaltqualität bezeichnet die Gestaltpsychologie „einen von der [Wahrnehmungs-] Grundlage abhängigen und doch von ihr zu unterscheidenden Vorstellungsinhalt“ (v. Ehrenfels 1890, 266). So, wie eine visuell erfasste Gestalt in der Malerei mehr ist als die Summe aller Teile, so ist auch Stil mehr als die Summe der vom Autor benutzten rhetorischen Figuren, stillagenspezifischen Vokabeln oder dergleichen. Damit haben Texte „andere Eigenschaften, als sie sich aus der Summe der Eigenschaften ihrer Teile ergäben“ (Fix 1996, 314 f.). Schon Walzel (1923) und dann auch, wie Fix (1996, 315) herausarbeitet, Kainz (1926) übertrugen den holistischen Begriff der Gestaltqualität, den v. Ehrenfels (1890) geprägt hatte, auf das literarische Kunstwerk. Walzel (1923, 185) sprach polemisch von der Stilistik als „niederer Mathematik“, der er eine Lehre von der Gestalt als „höhere Mathematik“ überordnete: Das Herauspräparieren von Stilmitteln und Stilfiguren der Rhetorik und Poetik schien ihm die stilistische Eigenart eines Werkes gar nicht zu erfassen. Auch Kainz (1926, 57) stellte einen Bezug zwischen Gestalthaftem und Ästhetischem her und bewegte sich auf eine „holistische“ Stilauffassung zu (vgl. Fix 1996, 315). Inzwischen ist auch die Rede von „textsortenspezifischen Stilmitteln“ in diese Anmahnung einer abhanden gekommenen Ganzheitlichkeit einzubeziehen. Komplexe Textstrukturen müssen als Gestalten erfahren werden. Wie das geschehen soll, ist allerdings schwerer zu beschreiben als bei geometrischen Figuren. Dennoch ist die Anwendung dieses Begriffs auf die Wahrnehmung literarischer Texte folgerichtig: Auch hier handelt es sich um „Gestaltqualitäten höherer Ordnung“ (Walzel 1923, 278), die sich durch Vergleich einfacher Gestaltqualitäten in der Wahrnehmung des Subjekts bilden können: „So erkennen wir etwa den Componisten einer Melodie an ihrer Aehnlichkeit mit anderen, bekannten, ohne dass wir des Näheren anzugeben vermöchten, worin jene Aehnlichkeit besteht. So erkennen wir den Angehörigen einer Familie an einer Aehnlichkeit, welche sein gesammtes physisches Wesen, sein ,Habitus‘ aufweist, und welche sich der Analyse in die Gleichheit einzelner Bestandtheile oft hartnäckig widersetzt.“ (ebd., 279) Es geht also um die eher intuitive als bewusste Wahrnehmung eines Gleichklangs, einer „Familienähnlichkeit“ auch der Texte. Walzel, der mit seinen Überlegungen einen Anfangspunkt bezeichnet, steht andererseits damit auch am Ende einer Entwicklung: Es lässt sich in der Geschichte der Rede vom Stil nachweisen, dass der Begriff selbst gerade deshalb Karriere gemacht hat, weil er die Aporie des unmöglichen Schlusses aus Einzelbeobachtungen auf ein (Gestalt-)Ganzes in sich aufzunehmen vermochte (vgl. Abraham 1996, 286).
3.2. Semantisierung des Stils durch den Gestaltbegri in Anwendung au Sprache und Literatur Nun ist die sprach- und literaturtheoretische sowie didaktische Wirkungsgeschichte der Gestalttheorie erst angerissen (vgl. Wermke 1989, Bd. 1, 32; Abraham 1996). Klar wird
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik aber die Anschließbarkeit gestaltpsychologischer Einsichten an philologische Stiltheorie und Stildidaktik durch eine Bemerkung Bühlers (1960, 20): „Was der Ausdruck ,Schlankheit‘ bedeutet, ist kein Teil, sondern ein anschauliches Moment an dem präsentierten Etwas.“ Nun spricht Bühler hier zwar von Rechtecken und nicht von Texten. Aber die Analogie zwischen Gestaltqualitäten geometrischer Figuren (wie „Schlankheit“) und solchen literarischer Texte wurde oben schon skizziert. Gerade auch metaphorische Beschreibungsversuche für Stilqualitäten in der Tradition Schneiders (1931) sind nicht nur ganzheitlicher, sondern gestaltpsychologischer Natur, indem sie im Sinne Bühlers die Mitte halten (vgl. Bühler 1960, 91 f.) zwischen Begriff und sinnlicher Wahrnehmung: Die Gestaltqualität ist eine Brücke. Sie ist erlebbar, weil inhaltsgesättigt, und doch auch abstrakt, weil transponierbar (Bühler 1960, 89). Dies lange vor seiner theoretischen Formulierung durch Bühler für die literarische Ästhetik nutzbar gemacht zu haben, ist die wesentliche Leistung Walzels: „Im weitesten Umfang“, sagt er über die Ehrenfels’sche Prägung, „sind durch diese Begriffsbestimmung alle Vorstellungen zusammengefaßt, in denen eine Verknüpfung von Einzelheiten zu einem Ganzen sich vollzieht.“ (Walzel 1923, 277) Diese Verknüpfung muss auch wahrnehmungspsychologisch gedacht werden und nicht nur hermeneutisch; sie ist Sache des Lesers und nicht Sache einer letztlich ohnehin schwer ergründbaren Autorintention. Die „Werkimmanente Schule“ um Spitzer, Staiger und Kayser hat später diese Semantisierung (vgl. Abraham 1996, 149 f.) des Stilbegriffs in der Literaturwissenschaft weitergetrieben (vgl. Kaleri 1993).
4. Stil als Frage der Analyse und Beschreibung: eine linguostilistische Dimension 4.1. Gestalthatigkeit in der pragmatischen Stilistik „Stil hat mit ,Gestalt‘ und ,Gestaltung‘ zu tun“. Dieser vorwissenschaftliche Satz von Eggers (1973, 7) bezeichnet einen seither verifizierten gestaltpsychologischen Anfangsverdacht (vgl. Fix 1996, 313): Die Rede vom Gestaltcharakter der Stile fordert auch die Linguistik heraus. Eine sprachliche Handlung ist nur in der Überschau über einzelne Formulierungen (Auswahl aus einem Register, Abweichung von einer Norm) zu fassen. Unter Berufung auf Wilhelm v. Humboldt hat Trabant (1986) auch von dieser Seite aus eine ganzheitlichen Beschreibung von Stil(en) eingeklagt und damit bekräftigt, dass Ersatzkategorien wie Textsorte oder Register nicht hinreichen (vgl. ebd., 172). Auch für die pragmatische Stilistik ist die Kategorie Gestalt notwendig, wobei Fix (1996, 320) mit Luckmann (1986) zwischen Handeln und Gestalten unterscheidet: Ist Handeln auf außersprachliche Ziele gerichtet, so zielt Gestalten als „ästhetisierendes Handeln“ auf innersprachliche Einheitlichkeit (vgl. Fix 1996, 317 f.). Das damit verbundene Wahrnehmungsproblem freilich wird zu wenig reflektiert. Auch Nussbaumer (1991, 258⫺269) hat keine befriedigende Lösung. Er führt zwar als eine von neun Textsortenkonstituenten die „Sprachmittelwahl“ an. Hier ist aber nicht alles versammelt, was traditionell als Stil von Texten diskutiert worden ist. Vielmehr sind makrostilistische und stilpragmatische Phänomene in verschiedenen Konstituenten zu
80. Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthaftigkeit
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suchen (vgl. Nussbaumer 1991, 260⫺264). Das Problem, wie man vom einzelnen Sprachmittel zum Gesamturteil über die Stilschicht oder den Tonfall eines Textes kommt, wird ausgeblendet durch eine Logik des Nebeneinander.
4.2. Drei Ebenen ganzheitlicher Stilwahrnehmung: Medium, Muster, Intention Es geht bei der Wahrnehmung von Stil in Texten nicht um den einzelnen Ausdruck, die einzelne Formulierung, wie Deutschlehrer traditionell an den Rand von Aufsätzen schrieben, sondern um den alles Einzelne synthetisierenden Zugriff auf eine sprachliche Gestalt. Sie zu erfassen, gelingt ⫺ hier mögen sich verschiedene Künste unterscheiden ⫺ jedenfalls in der Literatur (im weitesten Sinne) nur in Schritten. Abraham (1993) hat methodologisch einen Dreischritt vorgeschlagen, der didaktisch motiviert und linguistisch abgesichert ist: ⫺ Auf der Ebene des Kommunikationsmediums (Mündlichkeit/Schriftlichkeit) ist Stil als Wahl zu begreifen, d. h. als Entscheidung für eine „Sprache der Nähe“ bzw. „der Distanz“. ⫺ Auf der Ebene der Kommunikationsmuster ist Stil als Abweichung zu begreifen, d. h. als opting-out in Bezug auf Textsorten bzw. literarische Schreibmuster. ⫺ Auf der Ebene der Intention ist Stil als Zeichen (oder, im Fall der Nichtintentionalität, als An-Zeichen) zu begreifen; der Stilsinn einzelner markierter Textpassagen und ihre Funktion für das Textganze ist zu bedenken.
4.3. Textualität als Zuschreibung Auch für die linguistische Dimension von Stilgestalten aber gilt, dass man sie nicht zu fassen bekommt, solange man sich Stil als Eigenschaft der Texte (oder Textsorten) vorstellt und die stilkonstitutive Leistung des Lesers nicht in Anschlag bringt. Was Nussbaumer (1991, 132) richtig von der Textualität sagt, dass nämlich kein sprachliches Gebilde prinzipiell davor geschützt sei, „als Text oder auch als Nicht-Text aufgefasst zu werden“, das gilt auch für Stil: Kein Text ist davor sicher, in einer (oder keiner) Stilgestalt wahrgenommen zu werden. Es kommt auf die erbrachten oder unterlassenen Zuschreibungen an. Das von Abraham (1996) als aporetisch bezeichnete Dilemma jeder Rede vom Stil, das Einzelne wie das Ganze gleichermaßen zu ,meinen‘, ist tatsächlich ja nur solange Aporie, wie man einen statischen Stilbegriff zugrunde legt, der Beobachtungen am Text machen und als objektive Ausdruckswerte (Schneider 1931) ausgeben will. Die scheinbare Aporie löst sich auf, wenn in der Konsequenz von Walzels und Bühlers Überlegungen ein dynamischer Stilbegriff konzipiert wird, der Stilqualitäten als Gestalterlebnis im wahrnehmenden Subjekt aufsucht und nicht im Text. Der „holistische Charakter“ von Stil, den nicht nur die Literaturwissenschaft, sondern auch eine pragmatische Linguostilistik betont (vgl. Püschel 1988), spricht dafür, dass strittige Urteile über Texte sich nicht nur an abweichenden Rubrizierungen einzelner Sprachmittel festmachen können, sondern auch an den Resultaten ganzheitlicher Wahrnehmung. Sinnlich präsent werden eher fiktionale oder diskursive Inhalte als die sprachliche Verfasstheit, solange man nicht auch für die letzteren die Wahrnehmungsbedingungen
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik optimiert (vgl. Holzkamp 1986). Dieser „Optimierung“ dient theoretisch der Gestaltbegriff; praktisch hat die Didaktik mit den Konzepten Ton, Haltung und Gestus experimentiert (vgl. 6).
4.4. Gestalthatigkeit in der empirisch-statistischen Stilistik Eine statistisch arbeitende empirische Stilistik hat versucht, Individualität des sprachlichen Ausdrucks kontrastiv nachzuweisen (vgl. Grimm 1991, 43⫺46): Wenn Stil zugleich Resultat der Wahl aus einem Ausdrucksrepertoire und Resultat der Abweichung von einer Erwartungsnorm ist, so könnte der Abweichungsgrad helfen, Individualität des Ausdrucks zu ermitteln, vor allem in literarischen Texten. Vergleicht man aber verschiedene gattungsgleiche Texte desselben Autors untereinander oder mit Texten anderer Autoren, erweist sich ein solcher Individualstil als „Mythos“ (vgl. Grimm 1991, 272). Die empirisch-statistische Stilforschung arbeitet sich also am selben Dilemma ab, das die Literaturwissenschaft lösen wollte, indem sie eine Persönlichkeits-, Werk-, Epochenstillehre konzipierte (vgl. historisch Abraham 1996, Kap. 2; zum gegenwärtigen Stand Fix/Wellmann 1997). Intuitiv ,weiß‘ man von der Individualität zumindest literarischer Texte (vgl. z. B. Michel 1968, 113). Aber bei wissenschaftlicher Nachprüfung durch Auszählen graphischer, morphologischer, lexikalischer und syntaktischer Stilmittel verflüchtigt sich dieses Intuitionswissen.
4.5. Stil als Totaleindruck in der Linguistik Der ganzheitliche bzw. Gestalt-Charakter von Stilphänomenen hat die Linguistik beträchtlich irritiert. Trabant (1986, 171), der sich ⫺ wie angedeutet ⫺ mit der Unbeliebtheit der Stilistik („Anti-Linguistik“) in der Linguistik auseinandergesetzt hat, hält der Sprachwissenschaft vor, sie betreibe Begriffsvermeidung und handle stilistische Fragestellungen lieber ausweichend in der Textlinguistik, der Soziolinguistik oder der Pragmatik ab. Mit dem Verzicht auf den Stilbegriff aber ⫺ und das betrifft nicht nur eine literarische Stilistik, sondern auch eine Stilistik der Alltagsrede ⫺ habe die Sprachwissenschaft den „totalisierenden“ Anspruch aufgegeben, „das Individuelle des Individuums“ einzufangen (vgl. ebd., 172; dazu auch Abraham 1996, 159 f.). Trabant (1986, 173) möchte daher die Kategorie Stil „im Rahmen wissenschaftlichen Sprechens über sprachliches Handeln“ beibehalten. Er klagt ⫺ mit Humboldt (1822) ⫺ die Aufmerksamkeit für das „Besondere“ an Texten bei seiner Disziplin ein. Was dieser aber auf ganze Sprachen bezieht, will Trabant für einzelne Texte und ihre Beschreibung geltend machen (vgl. Trabant 1986, 182).
5.
Stilgestalten in rezeptions- und produktionsästhetischer Sicht
5.1. Rezeptionsästhetische Perspektive: Stilgestalten in Texten, die wir lesen oder hören Ein Versuch van Peers (1986), stilistische Markierungen in veränderten Fassungen englischer Gedichte des 19. und 20. Jahrhunderts empirisch nachzuweisen, ergab unter ande-
80. Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthaftigkeit
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rem, dass wiederholte Textbegegnung die Wahrnehmungsfähigkeit für solche Effekte schärft ⫺ also die konstitutierende Wahrnehmung einer Stilgestalt begünstigt. Nach wiederholter Lektüre seien die Probanden durchschnittlich besser in der Lage, die originale Stilgestalt einer Textstelle zu erraten (vgl. ebd., 112). Van Peer fragt sich, ob seine Testpersonen (Studierende verschiedener Fächer) vielleicht allmählich den Zweck erraten und deshalb jeweils eine stilistisch möglichst stark markierte Lösung gewählt hätten. Er müsste weniger überrascht sein, würde er die Rezeptionsbedingungen der Erstleser (Testpersonen) von seinen eigenen als Textanalytiker unterscheiden. Er selber hat ja die Entscheidung über Stilmarkierungen nicht nach einmaliger Lektüre getroffen, sondern nach vielfachem Lesen. Je öfter die Rezipienten den Text wahrzunehmen gezwungen waren, desto näher waren ihre Angaben an van Peers Voraussagen über die zu erkennende Stilgestalt ⫺ weil sie den Übergang zur Zweitlektüre nachholten, den der Tester schon hinter sich gebracht hatte. Die Wahrnehmung von Stilgestalten ist an die wiederholte Textrezeption gebunden, da der Eindruck einer Gestalt sich bei Texten (anders als bei Rechtecken) nicht durch einmaliges Hinsehen hervorrufen lässt. Überdies ist Gestalt nicht Eigenschaft, sondern „konsistente Interpretation“ eines Textes, „weder auf die Zeichen des Textes noch auf die Dispositionen des Lesers ausschließlich zu reduzieren“ (Iser 1984, 194 f.). Erst die Beziehung zwischen beiden schaffe die Gestalt. Die Forderung, an die Stelle der „registrierenden Auffassung der Stilistik ˇ ervenka/Jankovicˇ 1976, 115) zu setzen, […] die Beobachtung von Stil in Aktion“ (C leuchtet ein ⫺ allerdings mit der Einschränkung, dass der objektivistische Terminus Beobachtung nicht über den selbstsuggestiven Charakter jeder Stilwahrnehmung hinwegtäuschen sollte. Wie kann Stil in Aktion beobachtet werden? Der Blick auf den Kontext nach links und rechts ist Voraussetzung, genügt aber nicht. Man muss die räumlich-zweidimensionale Perspektive des optischen Paradigmas überschreiten durch (vgl. 6): ⫺ Hören eines Klangs und synthetisierende Wahrnehmung eines Tons, ⫺ Betrachten einer Haltung und synthetisierende Wahrnehmung eines Habitus, ⫺ Studieren eines Gestus.
5.2. Produktionsästhetische Perspektive: Stilgestalten in Texten, die wir ormulieren Eggers (1973, 8) sagt zu Recht, die Linguistik könne „keine Grenzen anerkennen, unterhalb derer Gestalt und Stil aufhören“. Das gilt für die Wahrnehmung fremder und eigener Texte. Es gibt nämlich auch produktionsästhetisch eine Zweitlektüre ⫺ sei es als bewusste und planmäßige Textredaktion, sei es als „Monitoring“ im Prozess der Textproduktion. Auch einfache Gestalten sind bereits Gestalten; sie lassen sich aber bearbeiten. Arnheim (1964, 30 f.) sagt über Architektur, dass Funktion allein noch keine Form ausmache und auch Beschränkung auf reine Zweckdienlichkeit den Schöpfer nicht der Notwendigkeit einer Stilwahl enthebe. Das gilt auch für das ,Bauen‘ von Texten, insoweit sie es überhaupt zu Formhaftigkeit bringen; und zwar in ⫺ nicht neben ⫺ ihrer Funktionalität. Die an der Schreibprozessforschung orientierte Schreibdidaktik behauptet gerade nicht, dass Gestaltung erst an einem komplett vorliegenden Text ansetzen könnte (vgl. z. B. Augst 1988). Auch die Alltagserfahrung widerspräche einer solchen Modellie-
1356
VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik rung: Versierte Schreiber nehmen bereits während einer Erstniederschrift Ansätze zu Stilgestalten an ihrem Text wahr und schöpfen bewusst die in ihnen liegenden Möglichkeiten aus ⫺ ähnlich, wie ein geübter Redner auch ohne Manuskript rhetorische Figuren wirkungsvoll in seinen Text einbauen kann. Phasen der Produktion und der Wahrnehmung/ Gestaltung können einander so schnell abwechseln, dass von Gleichzeitigkeit gesprochen werden muss.
5.3. Gleichzeitigkeit von Stilwahrnehmen und Stilverstehen Es gibt also eine vertrackte „Gleichzeitigkeit von Stilwahrnehmen und Stilverstehen im Rezeptionsprozeß“ (Püschel 1983, 118). Und es gibt eine nicht minder vertrackte Gleichzeitigkeit von Stilwahrnehmen und Stilgestalten im Produktionsprozess: Wie und an welchem Punkt im Rezeptionsprozess kann und soll ein Text dem Leser zur Gestalt werden? An welchem Punkt des Entstehungsprozesses kann oder soll der eigene Text dem Schreiber zur Gestalt werden? Und wie ist dabei zu vermeiden, dass eine methodisch willkommene temporäre Fremdheit in irreversible Entfremdung zwischen Text und Leser bzw. Autor umschlägt? Lesende und Schreibende brauchen nicht nur eine Checkliste stilistischer „Gütekriterien“, sondern Kategorien der Gestaltwahrnehmung. Die bereits erwähnten Begriffe Ton, Haltung und Gestus beschreiben sowohl die Rezeption im Leseprozess als auch die Selbstrezeption im Schreibprozess: Wie kommt der Leser hinter den Ton des Werkes, wie der Sprecher oder Schreiber auf den Ton, in dem er am besten sein Formulierungsproblem löst? Welche „Haltung“ beim Lesen und beim Sprechen oder Schreiben ist also angemessen? Wie ergibt sich ein dem Text angemessener Gestus, der den Sprachhandlungscharakter eines Textes zugleich enthält und überformt? Sowohl literatur- als auch sprachdidaktisch ist es also wichtig, bereits in ein Gespräch über Stilgestalten einzutreten, solange der Text noch Spuren des Gemachtwerdens an sich hat. Literaturdidaktisch wird diese Möglichkeit als kontrastive Stilanalyse genutzt ⫺ überall dort, wo Texte in verschiedenen Varianten vorliegen (z. B. zu C. F. Meyers „Brunnen“ oder zu Stifters „Mappe meines Urgroßvaters“; vgl. Püschel 1993). Schreibdidaktisch setzt sich die Einsicht durch, dass es nützlich ist, auch den Schülertext in verschiedenen Varianten zu haben und diese vergleichen zu können.
6. Holistische Konzepte der Stilwahrnehmung 6.1. Der Text als Partitur: Klang/Ton als holistische Konzepte der Stilwahrnehmung Der Ton entspricht derjenigen Komponente von Stil, die Abraham (1996, 295 f.) als das „Allgemeine“ gegenüber dem Klang als dem „Besonderen“ bezeichnet. Realisierungsmuster für einen Ton wirken typisierend. Klang ist hingegen das Ergebnis eines individuellen Gestaltungsversuchs im Rahmen eines dominanten Tons. Ton und Klang sind Kategorien aus einem akustischen Paradigma der Stilwahrnehmung, nahe gelegt nicht nur durch die zitierten Überlegungen v. Ehrenfels’ und Walzels, sondern auch durch die didaktische Tradition des klanggestaltenden Textlesens. Göttler (1990) fordert die Wie-
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derentdeckung der Klangerfahrung also zu Recht. Wie etwas „klingt“, kann hinführen zu der Frage nach dem Ton, in dem es geschrieben ist. Analog zu Farb-Tönen gibt es auch in Texten Töne, allerdings ⫺ wie einleitend gesagt ⫺ nur wahrnehmbar, nicht lesbar im engeren Sinn. In der Rede vom Ton verschränken sich eine didaktische und eine philologische Tradition, die beide der Erfahrung von Totaleindrücken gelten. Auch in der Literaturwissenschaft ist die Notwendigkeit gesehen worden, die Polyphonie des Ganzen mithilfe der Begriffe Haltung und Ton zu thematisieren (vgl. Strelka 1989). Und die Linguistik hat mehrfach bemerkt, dass alltagssprachliche Stilbeschreibungen im Gegensatz zu solchen der Rhetorik vorwiegend auf akustisch-musikalische Kategorien rekurrieren (vgl. Sanders 1977, 140 ff.; Püschel 1983, 102). Ton, Klang, Polyphonie: Dieses Vokabular des Ohres signalisiert den Bezug zur didaktischen Tradition des lauten Lesens als einer „tonalen Realisation“ des Textes (vgl. Abraham 1996, 295⫺306). Allerdings gibt es in Studium und Unterricht eine „herrschende Praxis der Unterbewertung des Akustischen“ (Klöckner 1986, 167). Sie lässt sich damit erklären, „daß unser Begriffsinstrumentarium für die Beschreibung optischer Phänomene ungleich reicher ausgebildet ist“ (ebd.). Unterbewertet in diesem Sinn scheint vor allem der heuristische Wert tonaler Realisation. Die deutschdidaktische Tradition des klanggestaltenden Lesens, die ja nicht nur Ideen der Kunsterziehungsbewegung, sondern auch Traditionsstränge von Deklamationsunterricht und „Tonlesekunst“ fortführt, war lange verschüttet. Dabei geht eine Linie von Arbeiten Petschs (z. B. 1938) bis zur Poetik Herders zurück: Die dichterische Sprache vermittle zwischen Sinnlichkeit und Reflexion (vgl. ebd., 1). Es gehe um „die Schallformen der Seele, die sich nur mit ihrer Hilfe äußern kann.“ (ebd., 2) Den Begriff Register versteht Petsch wörtlich, betont aber, die sprachliche Tongestaltung unterscheide sich von der „Registrierung der Orgel“, da immer nur ein Ton zu einer Zeit „aus der Rede herausgeholt werden“ könne, diese aber im Gegensatz zum Musikinstrument über unzählige Zwischentöne verfüge (vgl. ebd., 8). Diese sind zwar schwierig näher zu bestimmen. Richtig ist aber, dass „die Tonführung in ihrer für die poetische Wirkung letzthin ausschlaggebenden Bedeutung bei der wissenschaftlichen Behandlung von Dichtungen nicht mehr übersehen werden“ darf (vgl. Petsch 1938, 22). Und was für fachwissenschaftliche Behandlung gilt, muss für die fachdidaktische erst recht gelten (zum Vorlesen vgl. Beisbart 1993; Ockel 2000). Schon Drach (1953, 212) stellt fest, im Vortrag liege oft die beste Erklärung. Der Text wird damit zur Partitur (vgl. Arens 1980), die erst tonal realisiert werden muss, um Wirklichkeit zu gewinnen. Theoretisch ist das natürlich anschließbar an Einsichten der Rezeptionsästhetik, aber auch an den gestaltpsychologischen Zugang zum Phänomenen des Stils (vgl. Janning 1980, 39). Ungeklärt bleibt allerdings das Verhältnis von Gefühlsausdruck und Stilerfahrung. Lockemann (1952) versuchte den Klang eines Textes sukzessive gestisch und mimisch umzusetzen. Die Frage nach einem Maßstab für die Angemessenheit der tonalen Realisation eines Textes beantwortete er allerdings nicht. Essen (1972, 26) berichtete, „dass mehrere ,gute Autorenleser‘ das gleiche dichterische Werk in annähernd gleichem Sinne melodisieren.“ Das spricht für eine starke Vorgabe durch die Textvorlage. Auf der anderen Seite betont Gutenberg (1985, 13) zu Recht den Spielraum, den der Leser/Sprecher dabei hat. Man ist keineswegs festgelegt: „Die vollständige Determination der Schallgestalt gilt noch nicht einmal für Lieder. Obwohl hier ein Teil des Sprechausdrucks […] durch die musikalische Partitur vorgeschrieben ist […]“. Beide Sichtweisen stimmen darin überein, dass es die eine Klanggestalt eines Textes ebensowenig gibt wie die eine Deutung. Aber wo Literaturwissenschaftler eher die vom
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik Text ausgehenden Forderungen an die Realsituation hervorheben, betonen Deutschdidaktiker die gestalterischen Möglichkeiten von „Partituren“ (Arens 1980), die noch weniger als diejenige von Liedern eine tonale Realisation determinieren. Im Überblick über didaktische Entwürfe, in denen klangliche Gestaltung eine Rolle spielt, erscheint tonale Realisation (Vorlesen, Sprechen, Inszenieren) als Überführung von Sprachgestalt in Sprechgestalt, von Schreibfigur in Klanggestalt (vgl. Janning 1980, 39). Das sprachliche Werk ist Partitur (vgl. ebd., 35), deren Realisation als rückverwandelnde Herstellung oder Darstellung tonaler Gestalten gelten kann. Ohne den konzeptuellen Unterschied zwischen spontan-mündlicher Textproduktion und (Vor-)Lesehandlung zu verkennen, kann man davon ausgehen, dass auch für die letzteren solche „Schallbilder“ bedeutsam sind, weil sie ein Text-Leser-(Sprecher)-Verhältnis buchstäblich verlautbaren: Der Sprecher zeigt, wie ihn der Text gestimmt hat und wie seiner Meinung nach die Hörer gestimmt werden sollten, wenn sie als Folge von Klangbildern seinen Ton wahrnehmen: zornig, heiter, traurig, usw. (vgl. Arens 1980, 192). Fremde und eigene Texte werden gesehen als „Klanggestalten“ (Lockemann), als „Partituren“ (Drach 1953; Janning 1980; Arens 1980), als evozierte „Hörmuster“ (Geißner 1984). Dass die auch historisch beglaubigte Quasi-Synonymität von Stil und Ton in einer ,ganzheitlichen‘ Stildidaktik Sinn ergibt, belegen die drei „determinierenden Faktoren“, die Gutenberg (1985, 14 f.) für die Erarbeitung einer Sprechfassung benannt hat: der Text selbst in seiner „Sprachgestalt“, der „intrapsychische Vollzug“ der von diesem Text evozierten „Begriffe, Gedanken, Bilder, Emotionen“ und schließlich die „TextSprech-Situation“.
Abb. 80.1: Tonale Realisation (aus: Abraham 1996, 306)
80. Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthaftigkeit
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Da die Sprechwissenschaft eigene Überlegungen zur Stilistik vorgelegt hat und mit Kategorien arbeitet, die zum Teil aus der Didaktik des klanggestaltenden Lesens stammen, ist von sprechwissenschaftlichen Kategorien aus eine Kriterientafel für die Beurteilung tonaler Realisationen zu entwickeln. So bietet die von Gutenberg (1983, 257 f.) vorgelegte, ältere einschlägige Arbeiten integrierende Systematik von Dimensionen einer sprechwissenschaftlichen Stilistik ⫺ bei Abraham (1996) vereinfacht dargestellt ⫺ die Möglichkeit, Sprachtätigkeiten der tonalen Realisation eigener und fremder Texte sprechwissenschaftlich einzuordnen und begrifflich zu fassen (s. Abb. 1).
6.2. Körperlichkeit der Rede: Habitus und Haltung als holistische Konzepte der Stilwahrnehmung An einem Versuch Gerths (1988), mit Haltung einen ganzheitlichen und entsprechend unscharfen Begriff zum Kronzeugen eines besseren, sowohl sinnlichen als vernünftigen Bildungsbegriffs zu ernennen, interessiert hier die Analogie dieser Rede von der ,Haltung‘ zur Rede vom Stil in ihren expressiven, pragmatischen, ethischen und ästhetischen Implikationen. Haltung ist für Gerth eine expressive Größe (sie berühre den „Kern der Person“), aber auch eine pragmatische Kategorie sowie ein ethischer Begriff: Die „Haltung, die hinter dem Sprechen und Schreiben steht“, sei „das Ethos, das sich in der Sprache spiegelt“. Daneben ist „Haltung“ auch Gegenstand ästhetischer Wahrnehmung: „Wir wollen eine Stimme vernehmen, die unsre Achtung und Zuneigung gewinnt; Sinnlichkeit und Vernunft sollen sich die Waage halten ⫺ Schiller sprach von Schönheit …“ (Gerth 1988, 38). Hinter Gerths Kritik steckt, in Abwandlung des berühmten Grundsatzes von Buffon, die Prämisse: Die Haltung, das ist der Mensch selber. Auch Haltung drückt Stil aus. Vom Gespann ,Klang-Ton‘ unterscheidet sich ,Haltung-Habitus‘ zwar durch eine körpersprachliche Komponente. Wiederum aber schreitet hier eine Wahrnehmung vom Individuellen zum Typischen fort und denotiert die Verfestigung einmaliger und textspezifischer ,Haltungen‘ zu einer Habitualität, in der als ähnlich wahrgenommene Texte in ähnlicher Grundhaltung gelesen oder gesprochen werden. Heinitz (1972, 33) will diese Grundhaltung durch „begleitende Mitbewegungen oder Sprachgesten“ fassen. Diese stellen sich, ebenso wie Körperhaltungen beim Sprechen, prinzipiell spontan ein. Wiederum ist dies das Ergebnis einer ,ganzheitlichen‘ Wahrnehmung, ohne dass die Familienähnlichkeit (v. Ehrenfels 1890) zwischen individuellen Haltungen, die zusammen einen Habitus ergeben, analytisch leicht fassbar wäre. Der Begriff der Haltung ist nicht weniger als der Tonbegriff historisch besetzt. Auch er entstand nämlich im Kontext didaktischer Konzepte als ganzheitliche Kategorie der Wahrnehmung von Stilgestalten bzw. der Gestaltung von Stilwahrnehmung. Dabei geht es um mehr als didaktisch-methodische Verlängerung der literarästhetischen Rede von einer „im Werk sich aussprechenden ,Haltung‘“ des Dichters (vgl. Helmich 1969, 114). Helmich sagt: „Dichtung ist gestaltete Ganzheit“ (ebd., 127). Abraham (1996, 308) kontert: „Der poetische Text ist ⫺ wie jeder andere ⫺ zu gestaltende Ganzheit.“ Ebenso, wie die Vorstellung einer tonalen Realisation auf die klanggestaltende Literaturdidaktik zurückgreifen konnte, kann die Vorstellung eines Findens von Haltungen auf die Theaterpädagogik zurückgreifen. Scheller (1989) hat spieldidaktische Prinzi-
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
pien und Methoden entwickelt, die mit dem Begriff der Haltung arbeiten. „Eine Haltung nenne ich das Gesamt an inneren Vorstellungen, Gefühlslagen, sozialen und politischen Einstellungen und Interessen (,innere Haltung‘) und körperlicher und sprachlicher Ausdrucksformen (,äußere Haltung‘), das eine Person oder Personengruppe in bestimmten Interaktionssituationen zeigt, aber auch längerfristig gegenüber anderen Personen und sich selbst aufrechterhält. Haltungen drücken Beziehungen aus.“ (Scheller 1989, Bd. 2, 26) Wie für den Tonbegriff, so lassen sich auch für den Haltungsbegriff Analogien zum Stilbegriff herausarbeiten: Wie ,Stil‘, so ist auch ,Haltung‘ im von Scheller explizierten Sinn ein Begriff, der holistisch eine Reihe einzelner „Ausdrucksformen“ zu einem Gesamtbild synthetisieren kann. Wie der Stilbegriff ist er pragmatisch an Interaktionsformen gebunden und von ihnen aus zu verstehen. Und wenn sich in der Rede vom Stil das Typische so gut wie das Individuelle am Text (und seinem Autor) wiederfindet, so gilt das auch für den Gebrauch, den Scheller von dem Begriffspaar Haltung/Habitus macht: Definiert er Haltung als Summe individueller Ausdrucksformen, so versteht er Habitus als Summe kultur-, schichten- und geschlechtsspezifischer Ausdrucksklischees (vgl. ebd., 15 f.). Schellers Haltungsbegriff empfiehlt sich nicht nur, weil er diese Unterscheidung begrifflich fasst und die dialektische Spannung zwischen den unterschiedenen Größen als Beziehung wechselseitiger Vermittlung begreifbar macht, sondern aus einem noch wichtigeren Grund: Wenn die tonale Realisation der ,Übersetzung‘ einer Stilgestalt in Klang und Rede dient (etwa: Pathos, Ironie, Trauer, hämische Freude (usw.) und so zuallererst für sinnliche Präsenz sorgt, so ergänzt das „Erarbeiten von Haltungen“ (vgl. Scheller 1989, Bd. 1, 38 ff.) diese didaktische Arbeit um eine körpersprachliche Dimension. Die Überlegungen Schellers sowie die sich daran anschließenden Vorschläge für die Erarbeitung von Geh-, Sitz-, Steh- und schließlich Sprechhaltungen basieren auf Brechts Begriff der „Haltung“. Scheller (1989, Bd. 1, 31) übernimmt dessen Auffassung, „daß nicht nur ,Stimmungen und Gedankenreihen‘ (also die inneren Vorstellungen) zu bestimmten Haltungen und Gesten führen, sondern daß umgekehrt auch Haltungen und Gesten Stimmungen und Gedanken logisch hervorbringen.“ Umgekehrt bringen Haltungen und Gesten Stilgestalten hervor. So sagt Schau (1991, 12) über Queneaus Exercices de Style: „Jeder einzelnen ,Stilübung‘ liegt eine ganz bestimmte Haltung zugrunde, die man durch Gesten und durch Mimik ausdrücken kann.“ Auch für solche aus Haltungen resultierenden Stilgestalten gilt aber, was Scheller von den Haltungen der Spieler sagt: Sie „stehen zur Disposition“ (Scheller 1989, Bd. 1, 42) und dienen keineswegs nur der Beeindruckung der Hörer oder der Demonstration von Beeindrucktsein des Sprechers. Auch Widerstände gegen eine tonal und gestisch/mimisch realisierte Stilgestalt dürfen sichtbar werden. Es geht gerade nicht um eine theatralische Textinszenierung, sondern um Rekonstruktion der zugrundeliegenden Haltung und probeweises Transponieren in andere Haltungen. So können am Text verschiedene Stilgestalten wahrgenommen werden. Das geschieht gleichsam in Fortsetzung ,Glinzscher Proben‘ durch körpersprachliche, gestischen und mimischen Mittel. Ziel ist weniger die Darbietung eines Textes als die Inszenierung der Beziehung, die zwischen seiner stilistischen Verfasstheit und seinem Leser im Augenblick besteht. Brechts Haltungsbegriff (vgl. Brecht 1967, Bd. 12, 485) steht zum einen für eine „innere Haltung“ (d. h. ein Sich-Hineinfinden in die Figur) und für das Erproben und schließlich Festlegen einer „äußeren Haltung“, gar eines „Habitus“ dieser Figur. Zum
80. Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthaftigkeit
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andern steht er für die prinzipielle Erreichbarkeit einer Einheit von Innen (,Einstellung‘) und Außen (Körper-Haltung) im Vorgang des ,Übersetzens‘ individueller Wahrnehmung von Stil. Das ins Allgemeine und Typische weisende Pendant zum Begriff der Haltung ist aber nicht nur spielpädagogisch, sondern auch stildidaktisch derjenige des „Habitus“. Es geht um eine Übersetzung literarischer und alltagssprachlicher Stilgestalten in Körpersprachstile (vgl. auch Schwarz 1979). Sprechen kann „zu einem Sprachwerk ausgebaut“ werden (ebd., 30); und da es sich hier um eine gegenüber der bloß tonalen Realisation weiter ausgreifende Ausgestaltung der sinnlichen Präsenz handelt, kann man sagen: Es geht bei der Einführung des Haltungsbegriffs ⫺ der auch Bewegungsabläufe einschließt ⫺ in eine ganzheitliche Arbeit am Stil tatsächlich nicht nur um Wahrnehmen, sondern auch um Hervorbringen von „Gestaltqualitäten höherer Ordnung“ (v. Ehrenfels 1890, 280).
6.3. Der Text als geronnene Sprachhandlung: Gestus als holistisches Konzept der Stilwahrnehmung „Er brachte nur Haltungen in Sätze und ließ durch die Sätze die Haltungen immer durchscheinen. Eine solche Sprache nannte er gestisch, weil sie nur ein Ausdruck der Gesten der Menschen war. Man kann seine Sätze am besten lesen, wenn man dabei gewisse körperliche Bewegungen vollführt, die dazu passen.“ (Brecht 1967, Bd. 12, 458 f.) Hier ist nicht nur auf den Begriff (Gestus) gebracht, sondern funktional und methodisch plausibel gemacht, was ein sinnliches Zur-Disposition-Stellen von Stilgestalten vor bloßer Rezitation oder Deklamation auszeichnet. Das „gestische Prinzip“ bei Brecht hat Ritter (1986) als ein Gestaltungsprinzip herausgearbeitet, das nicht nur für den Schauspieler auf der Bühne gelten soll, sondern auch für Stückeschreiber, Dramaturgen und für alle das Theater betreffenden Einzelkünste (vgl. ebd., 7). Es gilt darüber hinaus für jede Art stilgestaltender Arbeit. „Der Begriff Gestus kann sich […] beziehen auf den Tonfall eines Wortes, eines Ausspruchs, auf eine mimische Bewegung, eine Handbewegung, eine Körperhaltung, auf eine Folge von Tönen in der Musik, einen Rhythmus, […] die Brechung der Zeilen in einem Gedicht, auf kleinste Momente also und große Zusammenhänge: eben alles, was die Beziehungen zwischen Menschen prägt oder von diesen Beziehungen geprägt wird“ (Ritter 1986, 7). So kann Ritter Brechts Gedanken auslegen, weil schon dieser selbst den Begriff Gestus als sinnliches Pendant zum abstrakten Stilbegriff gebraucht: Das „gestische Prinzip“ ist darauf gerichtet, „einzelne Sprechhandlungen“ zu übergreifen (ebd., 140). Bei so weitreichender Analogie der theoretischen Bestimmung überrascht es nicht, dass auch eine methodische Analogie in Ritters Ausführungen sich andeutet: „Wie können Sprechweise und Tonfall als Teilelemente eines übergeordneten Gestus aus einem Text herausgearbeitet werden?“ (ebd., 48) Brecht (1967, Bd. 15, 409) sagt: „Worte können durch andere Worte ersetzt, Gesten durch andere Gesten ersetzt werden, ohne daß der Gestus sich darüber ändert.“ Jener „Komplex von Gesten, Mimik und für gewöhnlich Aussagen“, den Brecht (1967, Bd. 15, 409) im Gestusbegriff zusammenfasst, repräsentiert den dominanten Ton einer Sprachhandlung als sich verfestigende ,Klänge‘ und den Habitus des Sprachhandelnden als sich verfestigende ,Haltungen‘, und dabei sind mimische, gestische oder tonale Einzelmerkmale durchaus austauschbar. Und dies gilt nicht nur
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik für dramatische Sprechhandlungen und überhaupt nicht nur für literarische Sprachverwendungssituationen, sondern auch für pragmatische Texte. Mimische und gestische Begleithandlungen, die sich der tonalen Realisation an mehreren Textstellen nacheinander anbieten, ergeben einen Gestus, der den gesamten Text unter einem bestimmten Blickwinkel (re)präsentiert und eine Verständigung über den ihm zugeschriebenen Sinn ermöglicht. Das ist nicht nur für poetische Texte von Belang. So spricht Feilke (1994, 152 ff.) in seiner Theorie der „common sense-Kompetenz“ im Anschluss an G. H. Mead von einem „gestischen Prinzip“ bei der Produktion idiomatischer Rede. Es gibt nun einen Punkt, an dem der fortgesetzte Austausch gestisch-mimisch-tonaler Teilhandlungen in eine insgesamt neue Qualität des Gestus umschlägt ⫺ auch hier gilt die Analogie zum Stil. Dieser Punkt des ,Umschlags‘ ist der Punkt, an dem Stilgestalten als gestische Gestalten kenntlich werden. Die Analogie zur Hermeneutik Schleiermachers liegt auf der Hand: Es ist der „Sprung“ vom Einzelnen zum Ganzen (vgl. 2.). In der Rede vom Gestus steckt prinzipiell dasselbe Problem, aber auch eine Lösung; denn ein Gestus ist, im Unterschied zu einem Stil, sinnlich präsentierbar. „Die Zitierbarkeit des Stils stellt sich dar als Zitierbarkeit des Sprachgestus.“ (Lerchner 1984, 65) Methodisch lässt sich daraus folgern, die Gestalten, ,sinnlich‘ zu konkretisieren, indem man Texte oder Auszüge daraus auf eine bestimmte Weise spricht und gestisch begleitet. Damit ist der Einsicht Rechnung getragen, mit der dieser Beitrag begonnen hat: dass man zwar Texte, nicht aber ihren Stil lesen kann. Man muss ihn nämlich wahrnehmen, und das heißt didaktisch: inszenieren. „Ein Gestus zeichnet die Beziehungen von Menschen zueinander“, sagt Brecht (1967, Bd. 16, 753): Wer ihn gestaltet, zeichnet sie bewusst, will keine nur mimetische Wiedergabe von Tätigkeiten.
Abb. 80.2: Übersetzen von Stilen: tonale und gestisch-mimische Realisation (aus: Abraham 1996, 321)
80. Stil als ganzheitliche Kategorie: Gestalthaftigkeit
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Wo Brecht von „zeichnen“ (gelegentlich auch „zeigen“) spricht, scheint ein Problem auf, das dem stiltheoretischen Spannungsverhältnis von Zeichen und Anzeichen entspricht (vgl. 4.2). Im Gegensatz zum Gestusbegriff in der Theorie des epischen Theaters versteht es sich nämlich bei einem didaktischen Gestusbegriff keineswegs von selbst, dass ein gestalteter Gestus gemeint ist. Wir verhalten uns vielmehr im Alltag auch spontan und unreflektiert gestisch. Abraham (1996) schlägt vor, diesen Gestus einen topischen Gestus zu nennen (vgl. Abb. 98.2). Er lässt sich szenisch herausarbeiten. Dabei wird durch körpersprachliche, mimische und verbale Realisation die Wahrnehmung auf einen Habitus hin gespannt und gerichtet. Das gestische Prinzip ist ein Prinzip des (Vor-)Zeigens (vgl. auch Menzel 1970, 85) oder Sichtbarmachen der „Zusatzbedeutung“ (Sandig 1986), die im Stil liegt ⫺ auch und gerade dann, wenn dies dem Sprechenden oder Schreibenden nicht bewusst ist.
7. Resümee: Wahrnehmen und Gestalten von Stil-Zeichen an eigenen und remden Texten Stil ist auf der Basis seines holistischen Charakters zu bestimmen als die im Prozess der Wahrnehmung eigener oder fremder, mündlicher oder schriftlicher Texte sich bildende Konstruktion einer Gestaltqualität im Bewusstsein des Rezipienten. Diese Gestaltqualität hält ungefähr die Mitte zwischen Abstraktion und Sinnlichkeit, zwischen Denken in den Kategorien von Zeichen oder Anzeichen (Was will mir das sagen, was verrät es mir?) und Empfinden ihrer Attraktivität bzw. Repulsivität (Wie finde ich das?). Einerseits können wir Stil als zeichenhaft verstehen und analysieren, von auffälligen Abweichungen in Textsorten des Alltags bis hin zu Werk- oder Epochenstilen in der Literatur (vgl. Fix/Wellmann 1997). Andererseits reagieren wir auf den Anmutungscharakter von Stilen auch affektiv, mit spontanem Gefallen oder Missfallen. Wahrnehmung von Stilgestalten erfordert, dass man über einzelne Stil-Zeichen hinaus geht und den Blick auf das Ganze richtet. Der Herausforderung, die darin liegt, öffnet sich zunehmend auch die Linguistik. Ein Buchtitel wie „Von der Stilfibel zum Textdesign“ (Ballstaedt 1999), bezeichnet nicht nur einen historischen Fortschritt und einen Einbezug Neuer Medien im Nachdenken über Stilgestalten, sondern auch einen für den Ganzheitscharakter von Stil geöffneten Blick: Auch „Design“ ist ein Begriff, der die einzelne Gestaltungsentscheidung übergreift in Richtung auf einen ganzheitlichen Gesamteindruck. Stil, Gestalt, Design: Es geht um das Potenzial eines Textes, solche Eindrücke hervorzubringen, zugleich aber um die Wahrnehmungskompetenz des Rezipienten. Denn dieses Ganze, um dessen Wahrnehmung es geht, ist aus heutiger Sicht nicht das Werk, wie noch die Hermeneutik in der Nachfolge Schleiermachers annahm, sondern die (Re-)Konstruktion eines Textes im Bewusstsein des Rezipienten: Stil ist nicht eine Texteigenschaft, sondern eine Bewusstseinsqualität des textproduzierenden und/oder -rezipierenden Subjekts. Diese bleibt ein Vorbewusstsein, falls sich die Stilerfahrung diesseits der Mitte auf der begriffsabgewandten Seite der Sinnlichkeit bewegt; sie wird zum analysierenden und synthetisierenden Bewusstsein jenseits dieser Mitte (vgl. Abraham 1996, 284). Die Stilgestalt eines Textes ist ebensowenig eines seiner Merkmale, wie es Schlankheit für ein Rechteck dies ist, sondern sie ist das Ergebnis einer ganzheitlichen und per-
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik spektivischen Wahrnehmung. Sie stellt nicht eine sprachliche Struktur dar, sondern die Beziehung zwischen einem Sprachgebilde und seinem Leser oder Sprecher. Welche Stilgestalt hier vorliegt, entscheidet die Realisation, und diese Entscheidung hat mehr von einer Festlegung als einer Feststellung. Das gilt zwar auch für das stille Augenlesen, aber dieses ist als Akt der Wahrnehmung nicht beobacht- und beschreibbar, außer im Spezialfall der Selbstbeobachtung. Soll Fremdbeobachtung möglich sein, so muss ⫺ und das ist die sprach- und literaturdidaktische Konsequenz ⫺ in Unterricht oder Lerngruppe öffentlich werden, was ein Rezipient als Stilgestalt wahrnimmt beziehungsweise als Stilwahrnehmung gestaltet.
8. Literatur (in Auswahl) Abraham, Ulf (1993): „Mit diesem Stil bekommen Sie auch keine Arbeit“. ,Stil‘ als vorbewußte Wahrnehmungskategorie im Korrekturhandeln von Deutschlehrern. In: Peter Eisenberg/Peter Klotz (Hrsg.): Sprache gebrauchen, Sprachwissen erwerben. Stuttgart, 159⫺178. Abraham, Ulf (1996): StilGestalten. Geschichte und Systematik der Rede vom Stil in der Deutschdidaktik. Tübingen. Aebli, Hans (1980): Denken: das Ordnen des Tuns. Bd. II: Denkprozesse. Stuttgart. Antos, Gerd (1988): Eigene Texte herstellen! Schriftliches Formulieren in der Schule. Argumente aus der Sicht der Schreibforschung. In: Der Deutschunterricht 40. H. 3, 37⫺47. Arens, Bernd (1980): Texte als Sprechpartituren. In: Peter Conrady u. a. (Hrsg.): Literaturunterricht 5⫺10. München/Wien/Baltimore, 182⫺202. Arnheim, Rudolf (1964): From Function to Expression. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism XXIII, 29⫺41. Auer, Peter (1987): Natürlichkeit und Stil. In: Hinnenkamp/Selting (1989), 27⫺59. Augst, Gerhard (1988): Schreiben als Überarbeiten ⫺ ,Writing is rewriting‘. In: Der Deutschunterricht 40. H. 3, 51⫺62. Augst, Gerhard/Evelyn Jolles (1986): Überlegungen zu einem Schreibcurriculum in der Sekundarstufe II. In: Der Deutschunterricht. H. 6, 3⫺11. Ballstaedt, Steffen-Peter (1999): Textoptimierung: Von der Stilfibel zum Textdesign. In: Fachsprache 21. H. 3/4, 98⫺124. Beisbart, Ortwin (1993): Der Ton macht nicht nur die Musik. Plädoyer für das Vorlesen in der Schule sowie einige Ratschläge für die Vermittlung dieser Fähigkeit. In: Ortwin Beisbart u. a. (Hrsg.): Leseförderung und Leseerziehung. Theorie und Praxis des Umgangs mit Büchern für junge Leser. Donauwörth, 167⫺176. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. Brecht, Bertolt (1964): Über Lyrik. Zusammengestellt v. E. Hauptmann und R. Hill. Berlin/Weimar. Brecht, Bertolt (1967): Gesammelte Werke. Frankfurt a. M. Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart. (Unveränd. Nachdr. von 1965. Stuttgart/New York) Bühler, Karl (1960): Das Gestaltprinzip im Leben des Menschen und der Tiere. Bern/Stuttgart. Busemann, Adolf (1945): Stil und Charakter. Untersuchungen zur Psychologie der individuellen Redeform. Meisenheim/Glan. ˇ ervenka, Miroslav/Milan Jankovicˇ (1976): Zwei Beiträge zum Gegenstand der Individualstilistik in C der Literatur. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 6. H. 22: Stilistik, 86⫺116. Drach, Erich (1953): Sprecherziehung. Die Pflege des gesprochenen Wortes in der Schule. 12. Aufl. Frankfurt/M.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
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81. Fehlformen rhetorisch-stilistischen Handelns
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Schau, Albrecht (1991): Szenisches Interpretieren im Unterricht. Stuttgart. Scheffer, Bernd (1992): Interpretation und Lebensroman. Zu einer konstruktivistischen Literaturtheorie. Frankfurt a. M. Scheller, Ingo (1989): Wir machen unsere Inszenierungen selber. 2 Bde. Oldenburg. Schleiermacher, Friedrich (1977): Hermeneutik und Kritik. Hrsg. u. eingel. v. Manfred Frank. Frankfurt/M. (entspricht Bd. 7 der I. Abteilung der Sämmtlichen Werke, hrsg. v. Ferdinand Lücke, Berlin 1838). Schneider, Wilhelm (1931): Ausdruckswerte der deutschen Sprache. Eine Stilkunde. Leipzig/Berlin (reprograf. Nachdruck Darmstadt 1974). Schwarz, Wolfgang (1979): Lyrik ⫺ Rhetorik ⫺ Theater. Bericht und Bilanz. In: Der Deutschunterricht 31. H. 1, 26⫺37. Sowinski, Bernhard (1978): Deutsche Stilistik. Beobachtungen zur Sprachverwendung und Sprachgestaltung im Deutschen. Frankfurt a. M. Sowinski, Bernhard (1991): Stilistik. Stiltheorien und Stilanalysen. Stuttgart. Strelka, Joseph (1989): Einführung in die literarische Textanalyse. Tübingen. Trabant, Jürgen 1986: Der Totaleindruck. Stil der Texte und Charakter der Sprachen. In: Gumbrecht/Pfeiffer (1986), 169⫺188. Van Peer, Willie (1986): Stylistics and Psychology. Investigations of Foregrounding. London. Walzel, Oskar (1923): Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters. Berlin. Wermke, Jutta (1989): „Hab a Talent, sei a Genie!“ Kreativität als paradoxe Aufgabe. 2 Bde. Weinheim. Wicklund, Robert A./Peter M. Gollwitzer (1982): Symbolic Selfcompletion. Hillsdale, N.J.
Ulf Abraham, Bamberg (Deutschland)
81. Fehlormen rhetorisch-stilistischen Handelns 1. 2. 3. 4. 5.
Begriffsklärung, Erscheinungsformen, Abgrenzungen Forschungsziele, Methodenprobleme Quellentexte für Fehlformen Möglichkeiten der Inventarisierung Literatur (in Auswahl)
Abstract There are three types of linguistic malformations which can develop during rhetorical-stylistic activity: ⫺ Autonomous malformations such as a lie or gossip; ⫺ Use of wrong formats, for example when a scientific report is written in form of a narration, or a coverage which reads like a chapter taken from a espionage novel; ⫺ Embedded wrong forms which carry negative stylistic tenor, e. g. schoolmaster tone or academic superiority tone.
81. Fehlformen rhetorisch-stilistischen Handelns
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Schau, Albrecht (1991): Szenisches Interpretieren im Unterricht. Stuttgart. Scheffer, Bernd (1992): Interpretation und Lebensroman. Zu einer konstruktivistischen Literaturtheorie. Frankfurt a. M. Scheller, Ingo (1989): Wir machen unsere Inszenierungen selber. 2 Bde. Oldenburg. Schleiermacher, Friedrich (1977): Hermeneutik und Kritik. Hrsg. u. eingel. v. Manfred Frank. Frankfurt/M. (entspricht Bd. 7 der I. Abteilung der Sämmtlichen Werke, hrsg. v. Ferdinand Lücke, Berlin 1838). Schneider, Wilhelm (1931): Ausdruckswerte der deutschen Sprache. Eine Stilkunde. Leipzig/Berlin (reprograf. Nachdruck Darmstadt 1974). Schwarz, Wolfgang (1979): Lyrik ⫺ Rhetorik ⫺ Theater. Bericht und Bilanz. In: Der Deutschunterricht 31. H. 1, 26⫺37. Sowinski, Bernhard (1978): Deutsche Stilistik. Beobachtungen zur Sprachverwendung und Sprachgestaltung im Deutschen. Frankfurt a. M. Sowinski, Bernhard (1991): Stilistik. Stiltheorien und Stilanalysen. Stuttgart. Strelka, Joseph (1989): Einführung in die literarische Textanalyse. Tübingen. Trabant, Jürgen 1986: Der Totaleindruck. Stil der Texte und Charakter der Sprachen. In: Gumbrecht/Pfeiffer (1986), 169⫺188. Van Peer, Willie (1986): Stylistics and Psychology. Investigations of Foregrounding. London. Walzel, Oskar (1923): Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters. Berlin. Wermke, Jutta (1989): „Hab a Talent, sei a Genie!“ Kreativität als paradoxe Aufgabe. 2 Bde. Weinheim. Wicklund, Robert A./Peter M. Gollwitzer (1982): Symbolic Selfcompletion. Hillsdale, N.J.
Ulf Abraham, Bamberg (Deutschland)
81. Fehlormen rhetorisch-stilistischen Handelns 1. 2. 3. 4. 5.
Begriffsklärung, Erscheinungsformen, Abgrenzungen Forschungsziele, Methodenprobleme Quellentexte für Fehlformen Möglichkeiten der Inventarisierung Literatur (in Auswahl)
Abstract There are three types of linguistic malformations which can develop during rhetorical-stylistic activity: ⫺ Autonomous malformations such as a lie or gossip; ⫺ Use of wrong formats, for example when a scientific report is written in form of a narration, or a coverage which reads like a chapter taken from a espionage novel; ⫺ Embedded wrong forms which carry negative stylistic tenor, e. g. schoolmaster tone or academic superiority tone.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
Using samples of wrong forms that are criticized as gossip, gobbledygook etc., this contribution examines how an analysis of linguistic malformations can be carried out. The analysis usually starts with an evaluation of the sources in which such wrong forms were described and in which the raters provide evidence for their judgement, for example by demonstrating cases that clearly point to the legitimacy of their negative rating. Major sources for such evaluation and legitimizing argumentation are book reviews and speaker portraits (e. g. “Der Schwätzer” ⫺ “The Talkative Man” by Theophrastus). During legitimization analysis, the norm systems will be reconstructed which are valid for a linguistic community/arena and the route traced on which the evaluator finally made his conclusion. The individual norms that can be revealed in such reconstruction can both be used to establish an inventory of norms and to categorize linguistic malformations on the various levels of abstraction. One potential classification level is that of social and communicative roles. Thus, malformations can be classified according to role expectations and their breach.
1. Begrisklärung, Erscheinungsormen, Abgrenzungen Warum gibt es eigentlich keine linguistischen Arbeiten über das Geschwätz, über die Prahlerei und über das zynische Sprechen? Das sind doch bedeutende Fehlformen des sprachlichen Handelns. ⫺ Es scheint, dass manche Phänomene des sprachlichen Lebens einfach zu groß für die linguistische Wahrnehmung und Analyse sind. (Es hat ja auch 2000 Jahre Sprachwissenschaft bedurft und der massiven Geburtshilfe durch die Philosophie, bis der Zusammenhang zwischen Sprache und Handlung erkannt worden ist.) Impulse, die zu einer Fehlformenforschung hätten führen können, die über den (Einzel-)Fehler hinausgeht, hat es zwar gegeben, aber in Gang gekommen ist sie nicht. ⫺ Die Sprechakttheorie z. B. hat das Konzept des missglückten Sprechakts geliefert ⫺ aber es ist sprachwissenschaftsgeschichtlich nicht besonders wirksam geworden. ⫺ Die sich im 20. Jahrhundert in mehreren Anläufen etablierende Fehlerlinguistik ist mehr oder weniger beim (Einzel-)Fehler stehen geblieben; bis zu den „großen“ Fehlformen ist sie nicht vorgestoßen. ⫺ Die Sprachtheorie, die über die Versprecher-Forschung zu ganz neuen Konzepten und Einsichten gelangt ist, hat sich an die den Versprechern analogen Großformen des rhetorisch-stilistischen Fehlverhaltens nicht herangewagt. Neben der fachlichen Wahrnehmungsblindheit sind sicher auch praktische Probleme für diesen weißen Fleck auf der Karte der Sprachwissenschaft verantwortlich: Probleme der Objektivität der Fehlerfeststellung (Reliabilität), der theoretischen Klassifikation und ⫺ vor allem ⫺ der Materialbeschaffung. Trotz dieses wenig ermutigenden Ist-Zustands wird im Folgenden versucht, Umrisse einer möglichen Fehlformen-Forschung zu skizzieren. So wie eine Gesteinsader in Zentralasien, die zusammen Zinn und Kupfer enthielt, mit großer Wahrscheinlichkeit die Erfindung der Bronze ermöglicht und damit die Bronzezeit eröffnet hat, gibt es auch eine Goldader für die Fehlformenforschung. Es sind die metakommunikativen Äußerungen des Typs zynisch gesagt. „Am Sonntag bebte im Iran dann auch noch kurz die Erde, zynisch gesagt (das darf man, weil das Erdbeben offenbar keine nennenswerten Schäden anrichtete) war das ein schöner Symbolismus.“ (Harrer in Standard 20. 7. 2005, 24) (Es
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geht um den überraschenden Wahlsieg des Teheraner Oberbürgermeisters, der ein politisches Erdbeben eingeleitet hat.) Auf solche Beispiele stützt sich der folgende Artikel in erster Linie. Sie enthalten eine metasprachliche/metakommunikative Bewertung (zynisch gesagt) und den objektsprachlichen Gegenstand der Bewertung (das war ein schöner Symbolismus). (Zusätzlich wird in dieser Äußerung noch über eine zentrale Bedingung reflektiert, unter der man zynisch sprechen darf.) Solche metakommunikative Äußerungen sind Ausdruck laienlinguistischer Kompetenz ⫺ im Hinblick auf Fehlformen und deren rhetorisch-stilistischen Einsatz. Sie sind als solche aber auch eine Quellenform, die einen raschen Zugang zum Phänomen Fehlform erlaubt. Das soll im Folgenden vor allem an der Fehlform (geschriebenes) Geschwätz demonstriert werden. Es gibt drei einigermaßen selbständige und qua Nomination etablierte Handlungsgroßtypen, die man als Fehlformen (nicht nur als Einzelfehler) des rhetorisch-stilistischen Handelns betrachten kann: erstens die autonomen (elementaren) Fehlformen, zweitens die fehlplatzierten Formen ⫺ das sind Fehlformen nur im Hinblick auf den Kontext, bei ihnen passen Pragmatik und Textsorte nicht zusammen ⫺ und drittens die eingebetteten Fehlformen. Die autonomen Fehlformen sind Fehlformen an sich und als type. Dazu gehören die Lüge, die Lügengeschichte, die faule Ausrede, das Märchen (in der Bedeutung „unglaubwürdige, [als Ausrede] erfundene Geschichte“; Duden 1989), das Gerücht, die Räuberpistole, die Konfabulation („auf Erinnerungstäuschung beruhender Bericht über vermeintlich erlebte Vorgänge“; Duden 1989), der Klatsch, das Geschwätz, das Gewäsch („(ugs. abwertend): leeres Gerede“; Duden 1989), die unhaltbaren Versprechungen. Autonome Fehlformen sind negativ bewertete kommunikative Gattungen/Textsorten. Fehlplatzierte Formen dagegen sind an sich keine Fehlformen; es sind Irrläufer. Sie werden erst zu Fehlformen, wenn die in einem Kontext angemessene Textsorte/kommunikative Gattung verfehlt wird (Fehlertypus: „Textsorte verfehlt“). Beispiele für kontextbedingte Fehlformen aus Rezensionen: die Nacherzählung, die statt einer (eigenständigen) wissenschaftlichen Arbeit geboten wird (vgl. Zeit 42/2007, 62), der zeitgeschichtliche Beitrag, der über das Niveau eines „schwachen Seminarreferats“ nicht hinauskommt (Geyer in Zeit 14/1996, 18), das Sachbuch, das wegen der vielen sachlich nicht haltbaren Aussagen als Roman (dis-)qualifiziert wird. Beide Typen von Fehlformen sind ganzheitliche Phänomene: Hyperzeichen, die auf Hyperwahrnehmungen beruhen. Bei ihrer Analyse tauchen dieselben Probleme auf wie bei der Analyse von Textsorten. Die Probleme betreffen meist Fragen der Ontologie, der Existenz bzw. der hypostasierten Existenz, der sachlichen Identität, der Synonymie und generell die Konstitution als soziale Form in der res-verba-Beziehung: Haben Gerede und Geschwätz ein Relatum? Beziehen sie sich auf zwei Fehlformen, oder sind sie zwei Benennungen derselben Fehlform? Bezeichnet auch Geschwafel dasselbe Phänomen oder nur ein ähnliches, aber nicht identisches? Ein drittes Zentralproblem ist die Teil-Ganzes-Beziehung, aus deren Verarbeitung der Hyperzeichen- und der Hyperwahrnehmungscharakter hervorgehen. Neben diesen ganzheitlichen Fehlformen gibt es eingebettete Fehlformen. Es sind Fehlformen in einem angemessen gebrauchten Ganzen. Hier handelt es sich z. B. um negativ bewertete Stilzüge in kommunikativen Gattungen: das falsche Pathos, die haltlosen Übertreibungen, die Dunkelheit der Rede, der Grundton von Salopperie, der Gutsherrenton (inklusive Herrengestus) oder der Schulmeisterton: „Ein schicker Jetset-Philosoph war er [Rorty] gewiss nicht, und auch der akademische Herrengestus eines Jürgen Habermas war ihm fremd.“ (Misik in profil 25/2007, 123); „Da wird Kierkegaard abgekanzelt wie ein Schuljunge“ (Hildebrandt in Zeit 31/1995, 42). Fehlformenverhalten auf der Ebene der eingebetteten Stil-
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
züge manifestiert sich in einer Menge kookurrierender negativ bewerteter Stilelemente, die diesen Stilzug konstituieren. Ein als (eingebettete) Fehlform bewertetes Kommunikat muss mindestens eines dieser Stilelemente und dieses mehrfach enthalten. Welche Stilelemente bei einer Fehlform kookurrieren ist konkreten Argumentationen zu entnehmen. In manchen Kritiken werden ganze Florilegien präsentiert, Paradigmen des Falschen, z. B. das der: „[…] Flottismen, die eine billige Sorte von Magazin-Journalismus und die Artikulationsversuche der reiferen Jugend vom Teenager aufwärts durchsetzen: ,kein Vater zum Anfassen‘ ⫺ ,klammheimlich‘ ⫺ ,Spätentwickler‘ ⫺ ,Goethe ist dieses Mal einfach nicht gut drauf‘ ⫺ ,August wird fremdbestimmt‘ ⫺ ,Caroline von Humboldt brieft aus Karlsbad …‘ Auf nur zwei Druckseiten gelang es dem Autor, eine eindrucksvolle Kette heiter-schmerzlicher Albernheiten aufzureihen […]“ (Harpprecht in Zeit 14/1993, 8). Fehlformen sind ganzheitlich aufgefasste Hypererscheinungen. Der Status als Hyperzeichen und die Eigenschaft der Ganzheitlichkeit ergeben sich aus der gewichteten Wahrnehmung und aus der Verarbeitung vieler disjunkter Elemente, wobei bestimmt wird, welche Teile als dominante und welche als nebengeordnete Details eines größeren Ganzen aufgefasst werden. Darauf nimmt das Präfix hyper- in Hyperzeichen Bezug. Im Zuge der Verarbeitung kommt es z. B. zur Dominanz bei der Wahrnehmung eines Stilzugs gegenüber vielen anderen im bewerteten Objekt ⫺ und zur metonymischen Benennung, etwa wenn das Ganze als Gewäsch angesprochen wird oder als Kitsch. Fehlformen sind Konstrukte im Zuge der Verhaltenswahrnehmung und -beurteilung. Als solche sind sie Objekte des Diskurses, Phänomene des Denk- und des Sprachverkehrs, gleichzeitig Wahrnehmungs- und Sozialkonstrukte. Ein Sozialkonstrukt sind Fehlformen deshalb, weil sie nicht Ergebnis einer individuellen, sondern einer sozialen Kategorisierung sind. Sie sind „Teilnehmerkategorisierungen“ (Sandig 2006, 3), die durch die Benennung (mit-)konstituiert werden. Durch die benennende Bezugnahme kommt es zur Reifizierung, das angesprochene Phänomen wird als eigenständig und real behandelt, obwohl die Fehlform durch die Benennung als soziale Größe so real wird und so fiktional bleibt wie das Einhorn. Kitsch gibt es in den sozialen Arenen, in denen über Kitsch gesprochen wird: „In dem Buch gibt es jede Menge Schwulst und Kitsch (,dieses wunderbare Geschenk namens Liebe‘)“ (Rathjen in Zeit 19/2000, 61). Als Wahrnehmungs- und Sozialkonstrukte geraten Fehlformen ins Visier der Kritik, wenn sie entweder als autonome Fehlform gegen elementare Normen des kommunikativen Umgangs verstoßen, gegen Normen der Wahrheit und Verständlichkeit vor allem (vgl. 4), oder wenn sie als fehlplatziertes Syndrom wahrgenommen werden. Die Metapher Syndrom bezieht sich auf ein „Krankheitsbild“, das „sich aus dem Zusammentreffen verschiedener charakteristischer Symptome ergibt“, auf einen „Symptomkomplex“ (Schulz 1978, 669). Eine Fehlform ist ebenso wie ein Syndrom durch eine „Gruppe von Faktoren o. ä. [konstituiert], deren gemeinsames Auftreten einen bestimmten Zusammenhang oder Zustand anzeigt“ (Duden 1989; zur Beschreibung eines Syndroms sprachlichen Fehlverhaltens vgl. Polenz 1989, 289 ff.). Die erste Beschreibung von Fehlformen-Syndromen in der Geschichte der abendländischen Sprachreflexion dürften die Charaktere Theophrasts sein. Dort findet sich auch ein Porträt des Schwätzers. Er wird als jemand charakterisiert, der ständig um das Rederecht kämpft, dieses exzessiv ausnützt und jeden Versuch, einen Sprecherwechsel einzuleiten, vereitelt; als jemand, der dauernd spricht, an alles und jedes anknüpft und der sein Geschwätz jedem aufdrängt, dessen er als Adressaten habhaft wird (Theophrast ca. 319 v. Chr., 21; 23). Zum Syndrom Geschwätzigkeit gehören ferner: die vom Schwätzer nicht beherrschbare Egozentrik, der Verstoß gegen das Gebot der Kürze ⫺
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„Be brief (avoid unnecessary prolixity)“ (Grice 1975, 46) ⫺, die unzusammenhängenden Redeteile, z. B. als Folge von Sätzen/Sprechakten, deren Relevanz untereinander und in Bezug auf das Kommunikationsziel nicht erkennbar ist, die nicht ausgeführten, nur angerissenen Teilthemen sowie die Anschlüsse auf der Basis unkontrollierter und nicht ausgeführter Assoziationen: „Mit einer in der Masslosigkeit schamlosen Anhäufung von Worten und Begriffen schadet er mehr, als dass er nützt. So herkulisch kann ja heute kein Künstler sein, dass er mit seinem Werk Vergleichen mit den Grössten aus der Kunstund Geistesgeschichte (von Giotto bis Beckmann und Kokoschka, von Pythagoras bis Nietzsche) standzuhalten vermöchte. Und so dumm kann kein Leser sein, dass er das Geschwätz als Hilfe zum Verständnis (zur ,Annäherung‘) akzeptiert.“ (Neue Zürcher Zeitung 2. 4. 1986 Fernausgabe, 31). Zum Syndrom Geschwätz gehört ferner das Glaubwürdigkeitsdefizit, das sich z. B. darin ausdrückt, dass ein Schwätzer ständig kommissive Sprechakte vollzieht, z. B. Versprechen macht, die er nicht einlösen kann. Das zweite Merkmal, das außer dem des Hyper-Status’ alle Fehlformen verbindet, ist der Bezug auf ein Bewertungssystem, auf dessen Basis die negative Bewertung erfolgt. Dieses Bewertungssystem ist ein unterschiedlich ausdifferenziertes Normensystem. Ein großes Problem ist die Abgrenzung zum Einzelfehler: Ein unwahrer Satz, eine substanzlose oder nicht relevante Aussage, eine herablassende Aussage innerhalb einer längeren Äußerung ⫺ das sind Einzelfehler, falsch oder unangemessen gebrauchte Teile in einem angemessen gebrauchten Ganzen. Ein Einzelfehler macht im Allgemeinen keine Fehlform; ein falsches Wort aus dem Repertoire spießbürgerlicher Großmäuligkeit macht weder den ganzen Text zu einem spießbürgerlich-großmäuligen Produkt noch dessen Verfasser zu einem Spießbürger oder Großmaul: Der Autor „interpretiert Brechts ,Weiberverbrauch‘ als konsequenten Ausbruch aus bürgerlichen Moralvorstellungen. Auf die Idee, daß die Brecht-Vokabel ,Weiberverbrauch‘ eine typisch spießbürgerlich-großmäulige ist, kommt er nicht.“ (Henrichs in Zeit 29/1976, 38). Der Übergangsbereich zwischen Einzelfehler und Fehlform bleibt diffus, wenn Einzelfehler wiederholt (wie viele Male?) auftreten. Wenn sie zwar eine Folge aus gehäuft (seriell, repetitiv) auftretenden Einzelfehlern sind, aber kein Syndrom bilden.
2. Forschungsziele, Methodenprobleme Die Forschungslage ist nicht gut. Selbst in der „großen“ Zeit der Fehlerlinguistik in den 1970er und 1980er Jahren (vgl. Cherubim 1980) waren die Fehlformen im hier verstandenen Sinn so gut wie kein Thema. Im Historischen Wörterbuch der Rhetorik (Ueding 1992 ff.) fehlt sogar das Stichwort Lüge. Auch zu den negativ bewerteten Stilzügen gibt es keine nennenswerte Forschung. Nicht einmal die notwendigen begrifflichen Klärungen sind vorgenommen worden. In der Fehlerlinguistik ging es fast nur um Einzelfehler. Das gilt auch für die heutige Fehlerlinguistik, die sich mehr oder weniger in die Nische der DaF- und Zweitsprachenforschung zurückgezogen hat. Wegen der deplorablen Forschungslage wird im Folgenden vor allem die Fehlform Geschwätz exemplarisch ins Zentrum gerückt, um auf diese Weise ein mögliches Analyseverfahren und die Kontur wenigstens einer Fehlform zu skizzieren. Neben der grundlegenden ontologischen Frage, ob es überhaupt so etwas wie Fehler bzw. Fehlformen gibt, steht die Fehlformenforschung vor einer weiteren ontologischen
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik Frage, die sich aus der res-verba-Beziehung ergibt. Entschärfen kann man diese, indem man sie zu einer sprachanalytischen macht und z. B. fragt: Gibt es hinter der Benennungsvielfalt einen res-Bereich mit deutlich wahrnehmbaren Phänomenen, mit einem oder mehreren? Auf diese Weise kann man mit der Benennungsvielfalt aus synonymen, teilsynonymen, meronymen, metonymen nennlexikalischen Einheiten zurechtkommen. Die Benennungsvielfalt ist gerade im Bereich des Geschwätzes beträchtlich: z. B. Gerede, Gewäsch, Geschwafel, stilistisch ganz unterschiedlich markiert: Galimathias, „Wortgetöse“ (Hentig in Zeit 39/1985, 49), große Worte (bildungssprachlich) vs. Käse, regionale Varianten wie Holler, Schmafu und Semmel in Österreich usw. Sind die als Geschwätz, Klatsch usw. benannten Phänomene durch die Reifizierung als (relativ) eigenständige, ganzheitliche Erscheinungen registriert, stellt sich die Frage, wie mit den kategorial unterschiedlichen Bedeutungen umgegangen wird, die z. B. in Schwätzer, geschwätzig und Geschwätz enthalten sind. Die Eigenständigkeit der Phänomene macht es möglich, dass nicht immer das Produkt, sondern manchmal nur eine Eigenschaft oder eine Konstituente des Produkts, manchmal auch der Produzent bzw. die Produzentin (Schwätzer, Großmaul, Klatschbase) oder die Wirkung auf den Rezipienten im Fokus der Wahrnehmung und Bewertung stehen. Das größte methodische Problem, vor dem die Fehlformenforschung steht, ist das der Indirektheit der Beurteilung, die starke Abhängigkeit von Schlüssen in meistens nur durch Rekonstruktion explizit zu machenden Normenund Aussagensystemen. Wie bei allen Bewertungsanalysen spielen Probleme der Objektivität und Intersubjektivität eine große Rolle. Man kann sie neutralisieren, wenn man ⫺ dem Ansatz der ordinary-language-Philosophie folgend ⫺ mit metakommunikativen Bewertungssprachhandlungen beginnt und diese als Hauptquellen nutzt (zur Nutzung der Metakommunikativa vgl. Ortner/Sitta 2003, 58 f.). Die metakommunikativen Bewertungssprachhandlungen sind oft als legitimierende Ausführungen mit mindestens einer Zweier- oder Dreierstruktur angelegt: bestehend erstens aus den als Fehlformen gewerteten Kommunikaten im O-Ton, den Belegen, zweitens (fakultativ) einer Belegbeschreibung und ⫺ drittens ⫺ der metakommunikativen Beurteilung. Ideal sind Quellen mit Bewertungshandlungen auf (quasi-)ostensiver Grundlage: Das ist Geschwafel (zu verwandten Prädikationstypen vgl. Erben 1978). Beispiel: In „Die Zeit“ (14/1988, 55) wird als objektsprachlicher Teil ein Textabschnitt aus dem Katalog einer Ausstellung zitiert: „Einige der Objekte in diesem Environment deuten ihre physikalische Wirkungsweise, ihr Funktionieren selbst. Sie sagen, was gewesen ist, und verlieren dieses prozeßhaft Gewesene zugleich in der Gegenwart der anderen Formen. Erst im Gesamtbild, als offene Struktur, die sich nicht als homologes Inventar versteht, sondern als Beziehung des einzelnen zueinander, entsteht jene Ausstrahlung, die den ganzen Denkprozeß aus Vertrautem und Unvertrautem berührt.“ Darauf bezieht sich ⫺ wie aus dem Kontext hervorgeht ⫺ die ironische Frage „Ist das nicht berückend formuliert?“ und dann ⫺ als metakommunikativer Teil mit ostensiv deutbarem Bezug: „Ist das Poesie? Ach nein, es ist erhabenes Geschwafel.“ Vor der vernichtenden Schlussbewertung „es ist erhabenes Geschwafel“ wird expliziert, d. h. plausibel gemacht, aufgrund welcher Elemente des kritisierten Textes der Schreiber zu seinem Urteil kommt: „Halten wir einen Augenblick inne: Das Gewesene wird zur Gegenwart, die Gegenwart zum Gesamtbild, das Gesamtbild zur offenen Struktur, die offene Struktur zur Beziehung des einzelnen zueinander, und die wird zur Ausstrahlung, die wiederum den Denkprozeß berührt. Welchen Denkprozeß? Natürlich, den aus Vertrautem und Unvertrautem. Noch Fragen? […] Ist das Poesie? Ach nein, es ist erhabenes Geschwafel.“ Den
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Leser dieses Artikels von Ulrich Greiner stimmt schon die Überschrift auf das zu Erwartende ein: „Sänger des höheren Schwachsinns“. Aus dem Gebrauch im Artikel darf, gestützt durch weitere Belege aus anderen Quellen, auf ein zumindest metonymisches Verhältnis, wenn nicht gar auf eine Teilsynonymie von „(höherem) Schwachsinn“ und „Geschwafel“ geschlossen werden. Das Wichtigste für das Verständnis des Phänomens sind aber die objektspachlichen Einheiten, auf die sich die metakommunikative Bewertung „Geschwafel“ bezieht. Aus ihrer Analyse lassen sich die wichtigsten Merkmale allen Geschwätzes erkennen: ,nicht nachvollziehbare Aussagen‘, ,gehäuft, d. h., in dichter Abfolge auftretend‘. (Dass Aussagen des satzthematischen Rollentyps „identifikativ“ besonders anfällig sind für die Behauptung schwer nachvollziehbarer Zusammenhänge, könnte durch die Analyse weiterer analoger Fälle bewiesen werden.) Die Untersuchung muss methodisch mit Fällen beginnen, in denen Behauptbarkeitslegitimationen und/oder Explikationen, die Urteile plausibel machen sollen, (relativ) explizit und immer qua metakommunikativer Grundstruktur gegeben werden. Im zweiten Schritt dürfen per analogiam andere nicht explizit bewertete Fälle herangezogen und interpretiert werden. Dieses methodische Verfahren zielt auf eine Rekonstruktion des Schlusssystems einzelner Bewerter und geht dann zu Verallgemeinerungen über, um etwa festzustellen, dass Geschwätz u. a. auch dann vorliegt, wenn jeweils die nominalen Elemente auf Kosten der Aussage ein zu großes Gewicht bekommen. Noch allgemeiner ⫺ wenn die jeweils kleineren auf Kosten der größeren Einheiten dominieren: die Sätze auf Kosten des Absatzes, der Textteil auf Kosten des Textes. Durch diesen methodischen Zugang lässt sich ein Fehlverhaltenstyp wie Geschwätz phänomenologisch umfangreich und methodisch sauber erfassen und beschreiben. Phänomenologisch umfangreich heißt ,das Gesamtspektrum sowohl der objektsprachlichen Phänomene wie der metakommunikativen umfassend ⫺ von der expliziten Bewertung bis zur nur angedeuteten oder gar nicht ausgesprochenen Bewertung‘. Beispiele für letztere lassen sich etwa bei Karl Kraus in „Die letzen Tage der Menschheit“ finden. Da wird Geschwätz nur vorgeführt. Die Bewertung wird dem Zuhörer überlassen. Allerdings sichern die Ausgeprägtheit und die Dichte der Merkmale (Übermarkierung, Syndrom-Charakter), dass der Hörer selbst zu diesem Urteil kommt. Der linguistische Nachweis, dass es sich tatsächlich um Geschwätz handelt, kann aufbauend auf den Erkenntnissen aus der Analyse expliziter und plausibel gemachter Fälle leicht erbracht werden. Die Legitimationsanalyse geht oft weit über die einfache Argumentationsanalyse hinaus. Speziell die Texte/Textteile mit objektsprachlichen und metakommunikativen Elementen sind oft Argumentationen in Argumentationen in Argumentationen usw. Selten folgen sie Schritt für Schritt dem Schema, das Toulmin für die Argumentation rekonstruiert hat (Toulmin 2003). Aber es kommen in ihnen Teilthemen vor, nicht alle, aber einige relevante, die eine Argumentation konstituieren: Fall/Daten, Konklusion, Grundsatz, Rechtfertigung (warrant), Stützung, Qualifikator (signalisiert „den Wahrscheinlichkeits- oder Möglichkeitsgrad (,vermutlich‘, ,vielleicht‘, ,sicher‘ usw.)“ (Wunderlich 1974, 70)), Ausnahmebedingungen (vgl. ebd., 70 f.). Eine Argumentation, die auf die Konklusion „Geschwätz“ abzielt, verläuft ⫺ Informationen und Hintergrundwissen verarbeitend ⫺ über folgende Stationen: Fall: Text(-Abschnitt) X enthält die Aussagen X, Y, Z. Die Aussagen X, Y, Z sind nicht nachvollziehbar. Grundsatz: Ein Text, der nicht nachvollziehbare Aussagen enthält, ist Geschwätz. Konklusion: Der Text(-Abschnitt) X ist Geschwätz. Ausnahmebedingung: Wenn nur vereinzelte nicht nachvollziehbare Aussagen vorkommen, ist das ein Einzelfehler (keine Fehlform).
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
Hinter dem Grundsatz stehen Stützungen. Ganz spezielle, die z. B. die Kohäsion und Kohärenz von Sätzen regeln, oder ganz allgemeine wie: Für die Kommunikation gilt, dass man seinen Text zu einem (für dein Zielpublikum) problemlos verarbeitbaren, d. h., problemlos wahrnehmbaren, d. h., zu einem möglichst prägnanten Gegenstand machen muss. Dazu gehört auch die Aufeinanderbezogenheit der Teile im Hinblick auf einen (autonomen) Inhalt, eine Botschaft; das Ganze darf nicht zerfallen. Diese Forderungen betreffen die Wahrnehmungsprägnanz. (Die Feststellung, dass ein Text(abschnitt) unverständlich ist, wäre die am stärksten verallgemeinerte und am wenigsten spezifische Form des Urteils über nicht mögliche Verarbeitbarkeit, über nicht vorliegende Wahrnehmungsprägnanz.) Über die Legitimationsanalyse kann man so aus dem obigen Beispiel den Grundsatz rekonstruieren: Ein Text, dessen Teile nicht zusammenstimmen und/oder in dem nicht nachvollziehbare Aussagen gehäuft auftreten, ist Geschwätz; dieser Befund lässt sich auch als Phänomenbeschreibung lesen: Geschwätz liegt dann vor, wenn … Weitere solche Herleitungen zeigten, dass Geschwätz auch dann vorliegt, wenn z. B. klar ist, dass die Selbstverpflichtung, die mit den kommissiven Sprechakten verbunden ist, nicht eingelöst werden kann, z. B. wenn es sich um leere Versprechungen handelt. Allmählich könnten so die relevanten Merkmale ermittelt werden, die einer Typologie und den unterschiedlichen Ausprägungen der Geschwätzigkeit zugrunde liegen, die Nietzsche beobachtet hat: „Geschwätzigkeit des Zornes“, „Geschwätzigkeit aus einem zu großen Vorrathe an Begriffsformeln“, „Geschwätzigkeit aus Lust an immer neuen Wendungen der selben Sache“, „Geschwätzigkeit aus Lust an guten Worten und Sprachformen“ (Nietzsche 1882, 451). Besondere Fundstücke sind Belege, in denen eine weitere Textkategorie vorkommt: die objektsprachliche Übersetzung. „Die ,entschlossene Weiterentwicklung Europas‘ sei das ,beste Mittel‘, um den Prozeß der Klärung des Verhältnisses von Großbritannien zu Europa und seinen Willen zur Teilnahme an weiteren Integrationsschritten positiv zu beeinflussen‘. Dieses geschraubte Bürokraten-Deutsch [Stilbewertung] bedarf der Übersetzung: Die Fünf mögen sich zusammenrotten, um die spröden Briten zu isolieren und so unter die Knute zu zwingen.“ (Süddeutsche Zeitung 203/1994, 4). Die methodisch von den Metakommunikativa ausgehende Analyse hält Eigenbewertung und Beschreibung der Bewertungspraxis einer Sprachgemeinschaft bzw. in einer Domäne streng auseinander. Sie geht von der vorgefundenen Praxis aus, und sie analysiert nicht Einzelausdrücke, sondern konkrete Sprachspiele in ihrer Gesamtheit. So entkommt sie der Gefahr der isolationistischen Analyse und bekommt Einblick in die Legitimationspraxis der Bewerter und in den Normenkosmos einer Kommunikationsgemeinschaft. Denn in vielen Rezensionen, aber auch in Gutachten usw. werden die Urteile zumindest andeutungsweise begründet. Die Beurteiler bemühen sich um intersubjektive Nachvollziehbarkeit ihrer Urteile. Dies tun sie, indem sie argumentieren, indem sie an Beispielen plausibel machen, warum sie zu dem in der ist-Prädikation ausgesprochenen Urteil kommen. Diese Legitimationspraxis lässt sich für die linguistische Beschreibung auswerten. In ihr stecken alle relevanten Informationen, die zur phänomenologischen Erfassung einer Fehlform gebraucht werden. Allerdings gehen Beurteiler nur sehr selten nach dem Schema der expliziten Argumentation vor. Sie verlassen sich auf die Fähigkeit der Leserinnen, die richtigen Schlüsse zu ziehen und die richtigen Bezüge herzustellen. Oft wird nur gerade so viel gesagt, dass sich die Argumentation zurückverfolgen lässt, manchmal nur über Schlussfolgerungen entlang von rhetorischen Figuren. Eine vielfach genutzte rhetorische Figur ist der pars-pro-toto-Modus, bei dem die Qualitätsbeurteilung auf Elemente gerichtet ist statt auf die Beurteilung der Gesamtqualität: „Ein roter Faden, der die Darstellung
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zusammenhält und ihr Profil gibt, ist nicht erkennbar.“ (Ullrich in Zeit 43/1997, 29). In diesem Beispiel werden fehlende Produkteigenschaften moniert, doch der Weg zum bewertenden Urteil ist nicht weit. Er führt über den Grundsatz: Ein Text, der die Qualität X nicht aufweist (nachvollziehbare Zusammenhänge, Thema), ist nicht gut. Keine nachvollziehbaren Zusammenhänge, kein Thema ⫺ das heißt: ,Die Textteile dominieren auf Kosten des Ganzen (der nächst größeren Einheit, des Gesamttextes)‘, das heißt: ,Geschwätz‘. Oder „Pudding“: „Und fast schon ist man versucht, die eigene ⫺ ursprüngliche ⫺ Vorstellung als hoffnungslos überholt abzuhaken, ein Buch müßte eigentlich ein Thema haben. Doch halt, auf den Seiten 361 bis 364 ist vielleicht doch so etwas wie ein Thema, doch so etwas wie ein Zweck des Buches, doch so etwas wie ein harter Kern des Puddings zu entdecken.“ (Pelinka in profil 42/1993, 38). Häufig wird Kritik metonymisch präsentiert; es wird der Produzent, nicht das Produkt kritisiert, statt Text-, wird Sprecherkritik geübt. So kommt es manchmal zu Orgien der Sprecherkritik, etwa beim „Sloterdijkbashing“: „Wanderprediger“, „ein Weltendeuter und Segen spendender Friseur“ (Ilse Aichinger zit. von Goubran in Standard 13. 1. 2007, Album A 7), der „Philosophie-Entertainer Peter Sloterdijk“ (Spiegel 11/1998, 210), „seine Gebärde ist die eines Sehers“ (Schmitter in Zeit 16/1998, 52). Auch Dispositionen, Einstellungen, Kompetenzen, die sich ungünstig auswirken, die nicht vorhanden sind, usw. stehen metonymisch anstelle der Qualität des Produkts: „[…] seine begrenzte Fähigkeit, große und komplexe Stoffmassen durchdenkend zu organisieren […] Etwas kurzatmig reiht Roazen bloß assoziativ verbundene Einzelzüge auf, kommt dabei vom Hundertsten ins Tausendste […].“ (Krieger in Zeit 2/1976, 38). Mit Abstraktbildungen lässt sich auf ein großes Spektrum von Dispositionen des Sprechers/Schreibers Bezug nehmen, die für die Äußerungs- bzw. Textqualität relevant sind: Großmäuligkeit, Schnodderigkeit, Verzagtheit, Unhöflichkeit, Umständlichkeit. Als habituell gewordene Verhaltenseigenschaften sind sie die Ursache für das (wiederholt und als Syndrom auftretende) sprachliche Fehlverhalten, das zu Fehlformen führt. Weitere Metonymien, die für die Phänomenrekonstruktion herangezogen werden können, liegen vor, ⫺ wenn die bewertete Art der Produktion für die Bewertung des Produkts steht: „mit hölzerner Feierlichkeit beschrieben“ (Henrichs in Zeit 29/1976, 38) ⫺ wenn ein Element/eine Konstituente eines Produktes statt des Gesamtprodukts bewertet wird: das Thema, der Stil, die „zerfaserte Handlung“ (Stock in Zeit, Beilage Literatur & Musik, Mai 2004, 53), „eine überzeichnete Figur“ (Winkler in Zeit, Beilage Literatur & Musik, Oktober 2003, 70), die fehlende Ordnung. ⫺ wenn von Wirkungen statt vom Produkt die Rede ist (vgl. Sandig 2006, 40). Auch satzthematisch lassen sich reichlich Metonymien und Vergleiche erzeugen. In „herrschte ein Umgangston wie auf einer Galeere“ (Standard 19./20. 5. 2007, 37) steht z. B. die Lokalisierung für die Form des kommunikativen Umgangs. Die metonymische Formulierung macht die Analyse zwar aufwändiger, aber sie kann auch als Indiz für die Häufigkeit einer Fehlform gedeutet werden. Wenn das gesamte Szenario ausgebaut ist wie bei Geschwätz, geschwätzig, Schwätzer und wenn zudem eine lange Reihe von Synonymen und sonstigen aspektvariierenden Benennungen existiert, dann hat die Fehlform ihren Sitz mitten im kommunikativen Leben.
3. Quellentexte ür Fehlormen Das Spektrum möglicher Quellen reicht von Argumentationen mit (quasi-)ostensiven Sprachhandlungen und ausführlicher Legitimation bis zu Texten, in denen man nur auf
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik dem Umweg über längere Schlussketten zum (mehr oder weniger legitimierten) Urteil „Fehlform“ gelangt. Die weitaus häufigsten und ergiebigsten Quellen sind Rezensionen, manchmal auch Gutachten. Rezensionen öffnen Fenster in die Welt der Normen und sie machen die Urteilspraxis öffentlich. Ebenfalls ergiebig, aber als eigenständige Textsorte (außerhalb der Schule) nur selten anzutreffen, sind Charakteristiken. Historisch bedeutsam ist die Sammlung von Charakteristiken von Theophrast aus dem vierten Jahrhundert v. Chr. Sie enthält eigenständige Fehlverhalter-Porträts, z. B. „Der Schwätzer“, „Der Redselige“, „Der Schmeichler“ (Theophrast ca. 319 v. Chr., 7 ff.; 11; 21 ff.) usw. La Bruye`re übernimmt von Theophrast zwar den Titel „Les caracte`res“, doch nicht die Textsorte des Porträts. In seiner Theophrastübersetzung kommen zwar der „grand parleur“ und der „impertinent ou diseur de rien“ (La Bruye`re 1688, 45) vor, doch zeichnet er in seiner eigenen Arbeit keine Porträts dieser Archetypen mehr, sondern hält nur einzelne Züge fest. Als Thema in unterschiedliche Textsorten eingebettet tauchen Porträts sowohl in fiktionaler Literatur auf als auch in nicht-fiktionaler, z. B. in Reportagen usw. In den Massenmedien finden sich gelegentlich ganz knappe Charakterisierungen (ohne objektsprachliche Komponente) wie in der Feststellung, Gordon Brown habe „das Image eines rechthaberischen Miesepeters“ (Borger in Standard 28. 6. 2007, 36), selten so umfangreiche wie in der Replik von Hans Küng auf einen Kritiker, den er als „Hämling“ charakterisiert. Dort heißt es u. a.: „Dreist führt sich ein Hämling auf, wenn er sich in Fragen, in denen er sich nicht genügend auskennt, als Oberlehrer gibt und seine Ignoranz mit Arroganz und Süffisanz überspielt. […] Dreckig benimmt sich ein Hämling, der die ethischen Intentionen eines Autors zynisch und gehässig in den Dreck zieht und dessen Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit mit allen Mitteln zu diskreditieren versucht.“ (Weltwoche 48/2002, 67). Gelegentlich verzerrte, in manchen Punkten aber überdeutliche Charakteristiken bekommt man in Parodien und sonstigen karikierenden Porträts von individuellen Sprechern/Schreibern. Negativ-Archetypen des Verhaltens, auch des sprachlichen Verhaltens, so wie auch einzelne negativ bewertete rhetorisch-stilistische Fehlformen nehmen die Ratgeberliteratur und die Sprachkritik in den Blick, z. B. „Stilgecken und Stilgaukler“, „Phrase und Plattheit“, „Kitsch“ (Reiners 1967, 213 ff.). Die Schreibpraxis kann dort für die Fehlformenforschung zur Quelle werden, wo Textherstellungsprozesse auswertbar werden, z. B. wenn in Seminaren, Schulen, Redaktionen oder Schreiber(-innen-)teams intensiv und im Kollektiv an der Textoptimierung gearbeitet wird (Fix 1988). Auch die Ergebnisse der Textkorrektur können etwas hergeben, sei es in der Form der Selbstkommentierung in einer Lautes-Denken-Aufzeichnung: „oder klingt das zu salopp?“ (Keseling 1988, 72), sei es in Form von Spät- oder Fremdkorrekturen.
4. Möglichkeiten der Inventarisierung Fehlformen sind Fehlformen sowohl in Bezug auf Normen in einer Kommunikationsgemeinschaft als auch in Bezug auf eine in ihr herrschende Praxis, die deontisch aufgefasst wird. Aus der Gesamtheit der Normen ebenso wie aus der herrschenden Praxis ergeben sich ⫺ durch Emergenz ⫺ die regulativen Sozialkonstrukte, die als Kommunikationsideale/-muster und als Normalwerte in den relevanten Parametern hinter der Praxis stehen und normengleich wirksam werden. Sie ermöglichen die Selbststeuerung und sind
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die Bewertungsgrundlage aller Kritik. Sie bilden zusammen den Kosmos der für die Äußerungs- und Textproduktion sowie -bewertung relevanten Kategorien. Dieser Kosmos wird durch die Fehlformenanalyse sichtbar. An ihm müssen sich alle Versuche der Inventarisierung und Klassifizierung der Fehlformen orientieren. Einige Fehlformen sind Fehlformen, weil in und mit ihnen auf der abstraktesten Ebene gegen die elementaren Bedingungen der „kommunikativen Rationalität“ (Habermas 2004, 110) verstoßen wird. Es sind dies nach Habermas die Forderungen nach Wahrheit/Behauptbarkeit der Aussagen, nach Wahrhaftigkeit (Glaubwürdigkeit) der Sprecherin und nach Legitimität des sprachlichen Tuns. Vor der Zentrierung auf die kommunikative Rationalität rechnete Habermas auch noch die Verständlichkeit zu den Grundvoraussetzungen des „verständigungsorientierten Handelns“ (Habermas 1976, 11). Da es bei der Fehlformenanalyse um Kommunikation schlechthin geht, nicht nur um die kommunikative Rationalität, ist aus linguistischer Sicht die Verständlichkeitsbedingung weiter zu den Grundvoraussetzungen zu rechnen, zumal Fehlformenkritik oft auf das Manko der Nicht- bzw. Schwerverständlichkeit zielt, angefangen von der autonomen Fehlform „Abrakadabra“ („sinnloses, unverständliches, unsinniges Gerede“ nach Duden 1989) bis zu Bewertungen wie „nicht/ kaum/schwer verständlich“. Gegen die Auflagen der Wahrheits- bzw. Behauptbarkeitsnorm, den neben den Verständlichkeitsnormen vielleicht wirkmächtigsten und allgemein geltendsten, also dominantesten, verstoßen die Fehlformen Lüge, Zeitungsente, Fake („ugs. für Fälschung, Betrug, Schwindel“, Duden 2006), Falschaussage, unzulässige Verallgemeinerung. In etwas harmloserer, weniger pathetischer Form tritt die Forderung nach Behauptbarkeit als Forderung nach sachlicher Richtigkeit auf. Ein Text muss nicht wahr schlechthin sein, aber sein Status und der Status seiner Aussagen müssen klar sein, z. B. ob er fiktional ist oder nicht. Die Forderung nach Wahrhaftigkeit ist in der Geschichte der Kommunikation die am stärksten zeitbedingt interpretierte (und verstümmelte). Forderungen nach Aufrichtigkeit, Authentizität und Individualität sind Kinder der Aufklärung (Rousseau). Authentizität kollidiert oft mit Ritualisierung. Wird diese Spannung nicht bewältigt, kann es zu einem Übergewicht der „Fertigteilsprache“ in der Kommunikation kommen, wie sie in der Kitschkritik thematisiert wird; vgl. auch den Bildungsjargon bei Horvath (1978, 147 ff.). Das Plagiat, die faule Ausrede, das erfundene Zitat sind deshalb Fehlformen, weil sie gegen Facetten des Wahrhaftigkeitsgebotes in heutiger Lesart verstoßen. Gleiches gilt für den Stilzug der Großmäuligkeit, der aus dem Gesagten Geschwätz macht, wenn die Glaubwürdigkeit beschädigt ist. Ein Beispiel wäre das Legitimationsdesaster, das Günter Grass mit seinem späten Geständnis der Mitgliedschaft bei der Waffen-SS ausgelöst hat (vgl. Zeit 34/2007, 1; Zeit 35/2007, 41 f.; Zeit 36/ 2007, 18). Weitaus am häufigsten begegnet Kritik an der Legitimität; sie artikuliert sich auf verschiedenen Ebenen und fokussiert auf unterschiedliche Faktoren der Kommunikationssituation, woraus sich ein Panoptikum an Fehlformentypen ergibt. Viele Fehlformen sind eine Folge der Inkongruenz zwischen Situations-, Positions- und Statusrollen (Gerhardt 2004, 388). Wenn Zimmer feststellt, dass „einige heimische Vertreter der Biologie […] gern in der Rolle des politischen Predigers“ auftreten, dann thematisiert er damit ein Fehlverhalten, das darin besteht, dass von ihnen Legitimität beansprucht wird, indem „sie in dieser Rolle zwangsläufig mehr sagen, als ihre Wissenschaft hergibt, der Leser aber nur schwer erkennen kann, wo die Wissenschaft aufhört und die Ideologie beginnt […]“ (Zimmer in Zeit 43/1988, 60). Das Rollenkonzept dürfte sich besonders dafür eignen, viele unterschiedliche Parameter einer Situation analytisch für die Fehlformenanalyse in den Griff zu bekommen. Es kann u. U. fruchtbarer werden als das Situationskon-
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zept. Die Rollenanalyse geht auf der obersten Ebene von den Statusrollen aus: Inländer vs. Ausländer, Geschlechterrollen, Kinder-, Elternrolle, Mitglied einer Dialektsprechergemeinschaft, Muttersprachler vs. Zweitsprachler usw. Auf mittlerer Ebene bezieht die Rollenanalyse Formen des rhetorisch-stilistischen Handelns auf Positionsrollen, z. B. Professor oder ⫺ historisch ⫺ Schulmeister: „,hierzulande dominiert bei Bildungsthemen eher der professorale Ton […]‘ heißt es schulmeisterlich […]“ (Schmundt in Spiegel 16/ 2007, 188). Positionsrollen sind oft in Institutionen organisiert oder an Bräuchen in Institutionen orientiert. Diese legen Normenkomplexe für Domänen/Sphären/Bereiche fest, die wiederum für Fächer, Themen, Aufgaben und/oder (prototypische) Situationen spezifiziert werden können. Kritik an Fehlanwendungen von Stilzügen basiert häufig auf normativen Orientierungen, wie man sich in bestimmten Domänen verhalten muss: „,Die einsame Masse‘ oder die Bücher von Foucault werden häufig als unwissenschaftlich, journalistisch oder ⫺ der schlimmste Vorwurf ⫺ als literarisch abgekanzelt.“ (Sennett in Zeit 40/1994, 61). Auf der untersten Analyseebene sind es Erwartungen im Hinblick auf Situationsrollen, die der Fehlformenkritik zugrunde liegen. Sie regeln das sprachliche Verhalten in „Lebenssphären a` la Reisen (inklusive Straßenverkehr), Essen, Sexualität“ (Gerhardt 2004, 387). Aus der unterschiedlichen Nutzung der formalen Gesprächsrollen, der Inkongruenz zwischen idealem (gleichberechtigtem) und tatsächlichem Sprechrollenverhalten, resultieren viele Fehlformen, auf die vor allem mit nomina agentis Bezug genommen wird: Viel- und Dauerredner, Filibuster, Monologisierer. Die fehlende Legitimität ergibt sich aus dem (neuzeitlichen) Kommunikationsideal der prinzipiellen Gleichberechtigung der Kommunikationsteilnehmer. Weitere Fehlformen ergeben sich aus den Inkongruenzen ⫺ zwischen vorgeblicher und tatsächlicher Illokution, zwischen angestrebter und erreichter Performanz: „Diese Kritik will den Rufmord“ (Pretzel in Zeit 35/2001, 38); „Hetzparolen“ (Spiegel 23/1989, 26). Sprechhandlungstypen mit nicht legitimierbaren Zielen sind per se Fehlformen: verhetzen, heruntermachen, beschimpfen, holzen (Spiegel 23/1989, 26, im Sinn von ,verbal zulangen, niedermachen‘). ⫺ zwischen „normaler“, erwartbarer und praktizierter Adressatenberücksichtigung: Der Adressat wird vom Kommunikator und vom Kommunikat mitgeschaffen. Manchmal allerdings nicht im Sinn des Adressaten, z. B. wenn er wie ein Schulbub/ein Rekrut/ ein Anfänger behandelt wird. ⫺ zwischen Anspruch und Ausführung: Das häufigste Ärgernis für Rezensenten und Lektoren, neben den Lehrern die wichtigsten Ordnungshüter der Schriftlichkeit, ist die interne Delegitimation, die sich z. B. aus der Diskrepanz zwischen Anspruch/Ankündigung und Umsetzung ergibt: „So weit sein Anspruch, wie sieht es mit der Umsetzung aus? Das Ärgernis beginnt schon auf den ersten fünfzig Seiten.“ (Wehr in Zeit 1/1999 (29. 12. 1999), 50). Ansprüche können mit der Wahl der Textsorte erhoben, im Titel angekündigt oder in einer Einleitung programmatisch formuliert werden. „Der Untertitel formuliert […] einen Anspruch, dem der Autor nicht gerecht wird. Es geht ihm um mehr als eine Reportage. […] Damit übernimmt er sich, denn es gelingt ihm nirgends, plausibel darzutun […]“ (Walther in Zeit 40/1997, 21). Die Inkongruenz zwischen Anspruch und Ausführung gehört in einer größere Klasse von Ursachen für Fehlformen. Es sind Verstöße gegen Teil-Teil- und Teil-Ganzes-Erwartungen: Die Teile müssen zueinanderpassen und zusammen ein akzeptables Ganzes ausmachen. Mit jedem verwendeten Element werden Kohärenzerwartungen aufgebaut be-
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züglich der Teile, die dazu passen, die als Fortsetzung zumindest akzeptabel sein müssen. Jedes wiederholt auftretende Ergebnis eines Verstoßes gegen die Teil-Teil-Ganzes-Erwartungen wird, wenn es sozial, d. h. sprachlich kategorisiert wird, als Fehlform wahrgenommen. Das akzeptable Verhältnis der Elemente unter- und zueinander und im Verhältnis zum Ganzen, ist eine Voraussetzung für die Verständlichkeit. Die Teil-Teil-Ganzes-Verhältnisse können auf jeder Ebene gestört sein, z. B. ⫺ wenn Gesamtstil und Stilzug/Stilelement nicht zusammenpassen. Ist ein Stilzug/Stilelement nicht vom Ganzen her funktional legitimiert, wird sein Vorkommen als Inkompetenz oder „rhetorische Wichtigtuerei“ (Wapnewski 1989, 439) gewertet. ⫺ wenn Gesamthandlung und eingebettete Teilhandlung nicht zusammenpassen. ⫺ wenn die Teile nicht gleich relevant sind: „Tatsächlich ist der zweite Band sehr schnell gearbeitet. Der Fluss der Erzählung schleppt viel unnötiges Geröll mit sich, mäandriert in ein zu weites Umfeld, wiederholt sich ständig.“ (Hanisch in Standard 20. 1. 2001, Album 6) ⫺ wenn das Thema nicht durchgehalten wird, wenn Hauptthema und Teilthemen nicht zusammenpassen: „Irgendwann hat Kershaw die Lust an dem Modell der charismatischen ,Herrschaft‘ verloren, jedenfalls fasst er es nicht mehr mit der nötigen analytischen Schärfe ins Auge. Die Biographie wird auf weiten Strecken eine konventionelle Diplomatie- und Militärgeschichte, allerdings auf hohem Niveau.“ (Hanisch in Standard 20. 1. 2001, Album 6) Die Zahl der Normen ist fast unendlich. Deshalb ist auch die Zahl der möglichen Fehlformen (und Fehler) fast unbegrenzt, ebenso (scheinbar) unbegrenzt wie die Zahl der Faktoren, die explizit bei der Produktion und bei der Rezeption (in unterschiedlicher Gewichtung) berücksichtigt werden können/müssen. Das gesamte Universum der Fehlformen kann am besten im Hinblick auf die Dimensionen im Bühlerschen Raum (Ortner/ Sitta 2003, 33 ff.) geordnet werden. Die Dimensionen bestehen aus den Faktoren, die durch sie konstituiert und in ihnen kombiniert werden. Vom Faktorenspezifizierungsansatz ausgehend können auch Veränderungen in diesem Universum analysiert werden. So verändert sich im Lauf der Ontogenese und mit dem Grad der Routiniertheit z. B. die Dimension der einfachen res-verba-Beziehung, die bei Bühler (1934/1978, 28) aus den Faktoren „Zeichen“ und „Welt der Gegenstände und Sachverhalte“ besteht. Sie differenziert sich im Laufe einer langen Lernzeit bei vielen Schreibern zu einer Dimension aus, die aus den Faktoren „Wissen“ ⫺ „Sachverhalt“ ⫺ „Inhalt“ ⫺ „Text“ ⫺ „Aufgabe“ ⫺ „Anliegen“ besteht. Je nach Ausdifferenziertheit ändern sich die Gesichtspunkte, die für die Beurteilung (Fehlform oder nicht?) entscheidend sind: Welches Wissen wird wie zu einem Sachverhalt verarbeitet? Wie viel Wissen wird in welcher Menge verarbeitet? Werden der Sachverhalt, das Anliegen usw. autonom sichtbar? Die in 2. vorgeschlagene Legitimationsanalyse kann durch die Rekonstruktion der urteilsbegründenden Grundsätze und deren Stützungen den Kosmos geltender Normen in einer Sprachgemeinschaft auf jedem beliebigen Niveau ermitteln, für jeden beliebigen Bereich und im Hinblick auf jeden beliebigen Faktor, der am Kommunikationsgeschehen beteiligt ist. Auf diesem Weg kann ein möglichst vollständiges Inventar der Normen und ein Gesamtpanorama möglicher und tatsächlicher Fehlformen erstellt werden. Auf jedem beliebigen Niveau heißt z. B.: ganz abstrakt wie bei Habermas, der mit drei Fehlformen auskommt, oder schon weniger abstrakt und im Hinblick auf weitere Eigenschaften des Kommunikates spezifiziert wie bei Grice (1975). Oder ganz konkret und im Hinblick auf
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik Normen der Mündlichkeit, der Schriftlichkeit, der Alltagskommunikation, der Bildungssprache oder für besondere Rollen, Situationen usw. wie z. B. im Hinblick auf Normen, die für Journalisten gelten, die bei Medizinthemen eine „unangemessen sensationelle Darstellung zu meiden [haben], die unbegründete Befürchtungen oder Hoffnungen beim Leser erwecken könnten“ (Deutscher Presserat zit. n. Spiegel 27/1994, 34).
5. Literatur (in Auswahl) Bühler, Karl (1934/1978): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Frankfurt a. M. u. a. (Ullstein Buch, 3392). Cherubim, Dieter (Hrsg.) (1980): Fehlerlinguistik. Beiträge zum Problem der sprachlichen Abweichung. Tübingen (Reihe Germanistische Linguistik, 24). Duden (1989): Deutsches Universalwörterbuch. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. Mannheim/ Wien/Zürich. Duden (2006): Die Deutsche Rechtschreibung. 24., völlig neu bearb. u. erw. Auflage. Mannheim u. a. Erben, Johannes (1978): Über „Kopula“-verben und verdeckte (kopulalose) Ist-Prädikationen. In: Hugo Moser/Heinz Rupp/Hugo Steger (Hrsg.): Deutsche Sprache: Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Friedrich Maurer zum 80. Geburtstag. Bern/München, 75⫺92. Fix, Ulla (1988): Redebewertung beim Lektorieren und Redigieren aus der Sicht des Linguisten. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gesellschaftsund sprachwissenschaftliche Reihe 37, H. 4, 104⫺113. Gerhardt, Uta (2004): Rolle/Role. In: Ulrich Ammon et al. (eds.) (2004): Sociolinguistics: an international handbook of the science of language and society. Soziolinguistik: ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. Volume 1/1. Teilband. 2. Aufl. Berlin/New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 3.1), 384⫺391. Grice, Herbert P. (1975): Logic and Conversation. In: Peter Cole/Jerry L. Morgan (eds.): Syntax and semantics. Volume 3: Speechacts. New York u. a., 41⫺58. Habermas, Jürgen (1976): Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt a. M. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 154). Habermas, Jürgen (2004): Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität. In: Jürgen Habermas: Wahrheit und Rechfertigung. Philosophische Aufsätze. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt a. M. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1723), 102⫺137. Horvath, Ödön (1978): Gebrauchsanweisung. In: Ödon Horvath: Kasimir und Karoline. Frankfurt a. M. (Bibliothek Suhrkamp, 316), 147⫺155. Keseling, Gisbert (1988): Probleme der inhaltlichen und verbalen Planung beim Schreiben. Bericht über ein Forschungsprojekt. In: Dieter Nerius/Gerhard Augst (Hrsg.): Probleme der geschriebenen Sprache. Beiträge zur Schriftlinguistik auf dem XIV Internationalen Linguistenkongreß 1987 in Berlin. Berlin (Linguistische Studien, Reihe A, 173), 65⫺86. Kraus, Karl (1966): Die letzten Tage der Menschheit. 2 Teile. München (dtv, 23⫺24). La Bruye`re, Jean (1688): Les caracte`res de The´ophraste traduits du grec avec les caracte`res ou moeurs de ce sie`cle. Neuausgabe 1965. Chronologie et pre´face par Robert Pignarre. Paris (Granier-Flammarion, 72). Neue Zürcher Zeitung. Tageszeitung. Zürich. Nietzsche, Friedrich (1882): Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“). In: Friedrich Nietzsche: Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999 (Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, 3), 343⫺651. Ortner, Hanspeter (1999): An den Grenzen der Sprachgeschichte: geschichtslose Textnormen. Normen ,hinter‘ den Buchrezensionen. In: Maria Pümpel-Mader/Beatrix Schönherr (Hrsg.): Spra-
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che ⫺ Kultur ⫺ Geschichte. Festschrift für Hans Moser zum 60. Geburtstag. Innsbruck (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe, 59), 297⫺324. Ortner, Hanspeter/Horst Sitta (2003): Was ist der Gegenstand der Sprachwissenschaft? In: Angelika Linke/Hanspeter Ortner/Paul R. Portmann-Tselikas (Hrsg.): Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis. Tübingen (Reihe Germanistische Linguistik, 245), 3⫺64. Polenz, Peter v. (1989): Verdünnte Sprachkultur. Das Jenninger-Syndrom in sprachkritischer Sicht. In: Deutsche Sprache 17, 289⫺316. profil. Wochenzeitung. Wien. Reiners, Ludwig (1967): Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa. München. Sandig, Barbara (2006): Textstilistik des Deutschen. Berlin/New York. Schulz, Hans (1978): Deutsches Fremdwörterbuch. Fortgeführt von Otto Basler. Bd. 4. 2. Aufl., völlig neubearb. im Institut für Deutsche Sprache. Berlin/New York. Spiegel. Wochenzeitung. Hamburg. Der Standard. Tageszeitung. Wien. Süddeutsche Zeitung. Tageszeitung. München. Theophrast (ca. 319 v. Chr.): Charaktere. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Dietrich Klose. Mit einem Nachwort von Peter Steinmetz. Stuttgart 1970 (Universal-Bibliothek 619/19a). Toulmin, Stephen (2003): The Uses of Argument. Updated edition. Cambridge et al. Ueding, Gert (Hrsg.) (1992 ff.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen. Wapnewski, Peter v. (1989): Sprache, die über ihre Verhältnisse lebt. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 33, 436⫺441. Wunderlich, Dieter (1974): Grundlagen der Linguistik. Reinbek bei Hamburg (rororo studium, 17). Die Zeit. Wochenzeitung. Hamburg.
Hanspeter Ortner, Innsbruck (Österreich)
82. Stilwandel und Sprachwandel 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Wandel von Stil und Sprache Typen des Stilwandels Stilwandel zwischen Idiolekt und Norm Stilwandel als Folge sprachlicher Stilisierung Stil als semiotische Universalie Literatur (in Auswahl)
Abstract Natural languages’ expressive potentialities change constantly. In this context, the connection between systematic changes and the development of styles is complex because styles change within a deeply interconnected set of fields, namely the linguistic system, linguistic norms and language usage. In spite of the varied dimensions of style and the complex references of language and stylistic changes, four dimensions can be distinguished to de-
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che ⫺ Kultur ⫺ Geschichte. Festschrift für Hans Moser zum 60. Geburtstag. Innsbruck (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe, 59), 297⫺324. Ortner, Hanspeter/Horst Sitta (2003): Was ist der Gegenstand der Sprachwissenschaft? In: Angelika Linke/Hanspeter Ortner/Paul R. Portmann-Tselikas (Hrsg.): Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis. Tübingen (Reihe Germanistische Linguistik, 245), 3⫺64. Polenz, Peter v. (1989): Verdünnte Sprachkultur. Das Jenninger-Syndrom in sprachkritischer Sicht. In: Deutsche Sprache 17, 289⫺316. profil. Wochenzeitung. Wien. Reiners, Ludwig (1967): Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa. München. Sandig, Barbara (2006): Textstilistik des Deutschen. Berlin/New York. Schulz, Hans (1978): Deutsches Fremdwörterbuch. Fortgeführt von Otto Basler. Bd. 4. 2. Aufl., völlig neubearb. im Institut für Deutsche Sprache. Berlin/New York. Spiegel. Wochenzeitung. Hamburg. Der Standard. Tageszeitung. Wien. Süddeutsche Zeitung. Tageszeitung. München. Theophrast (ca. 319 v. Chr.): Charaktere. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Dietrich Klose. Mit einem Nachwort von Peter Steinmetz. Stuttgart 1970 (Universal-Bibliothek 619/19a). Toulmin, Stephen (2003): The Uses of Argument. Updated edition. Cambridge et al. Ueding, Gert (Hrsg.) (1992 ff.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen. Wapnewski, Peter v. (1989): Sprache, die über ihre Verhältnisse lebt. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 33, 436⫺441. Wunderlich, Dieter (1974): Grundlagen der Linguistik. Reinbek bei Hamburg (rororo studium, 17). Die Zeit. Wochenzeitung. Hamburg.
Hanspeter Ortner, Innsbruck (Österreich)
82. Stilwandel und Sprachwandel 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Wandel von Stil und Sprache Typen des Stilwandels Stilwandel zwischen Idiolekt und Norm Stilwandel als Folge sprachlicher Stilisierung Stil als semiotische Universalie Literatur (in Auswahl)
Abstract Natural languages’ expressive potentialities change constantly. In this context, the connection between systematic changes and the development of styles is complex because styles change within a deeply interconnected set of fields, namely the linguistic system, linguistic norms and language usage. In spite of the varied dimensions of style and the complex references of language and stylistic changes, four dimensions can be distinguished to de-
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik scribe their theoretical interconnections. The differentiation between intended and non-intended change is of central importance for a theory of language and style change. This differentiation results in further categories: Stylistic change and language change in the field of tension of idiolect and norm, as well as stylistic change and language change as a result of linguistic stylisation. Furthermore, it has to be taken into consideration that style must be accepted as a semiotic universality. Consequently, a theory of language and stylistic change concerns the general semiotic theory, too.
1. Wandel von Stil und Sprache Natürliche Sprache unterliegt einem ununterbrochenen Wandel ebenso wie sich Stile des sprachlichen Ausdrucks immer wieder verändern. Es liegt nahe, beide Formen sprachlicher Veränderung als ein Phänomen des Sprachwandels zu beschreiben oder zumindest einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Veränderungen natürlicher Sprachen und ihrem Gebrauch anzunehmen. Doch der Zusammenhang zwischen Umgestaltungen des syntaktischen, semantischen und pragmatischen Systems einer Sprache einerseits und dem Wandel von Stilen andererseits ist durchaus komplex. Diese Komplexität resultiert vor allem aus dem unklaren kausalen Bezug von Sprachwandel im Allgemeinen und Stilwandel im Besonderen, der kaum aufzuklären ist, da interne und externe Faktoren des sprachlichen Wandels in unterschiedlichen Phasen mit verschiedener Konsequenz wirksam sind. Für den Zusammenhang von Stilwandel und Sprachwandel stellen sich damit zunächst drei Fragen allgemeiner Art: (1) Ist Stilwandel eine Folge des Systemwandels? (2) Kann Stilwandel eine Änderung des Systems bewirken? (3) Sind Stilwandel und Sprachwandel isoliert voneinander verlaufende Prozesse? Die Fragen (1) und (2) beziehen sich auf die Vorstellung einer deduktiven oder induktiven Korrelation von System und Stil. Die Beantwortung setzt eine Bestimmung des Determinationsverhältnisses von System und Gebrauch voraus, die derart komplex ist, dass sie implizit als zentrales Problem nahezu aller neueren Theorien der Sprache erscheint, ohne dass damit eine hinreichende Klärung erreicht wurde. Im Strukturalismus betrifft dies das bereits bei Saussure behandelte Problem von langue und parole bzw. in späterer Ergänzung von System, Norm und Gebrauch, im transformationsgrammatischen Modell die Unterscheidung von Kompetenz und Performanz (vgl. Dresselhaus 1979). Damit wird bereits deutlich, dass eine Theorie des Wandels von Sprache und Stil immer Teil einer allgemeinen Sprachtheorie ist. Dies gilt auch im Hinblick auf Frage (3), die nicht von einer notwendigen Korrelation zwischen System und Stil ausgeht, sondern diese bezweifelt und eine Autonomie von System- und Stilwandel für möglich hält. Für alle drei Fragen, die den Problemkreis um Stilwandel und Sprachwandel umreißen, wird es keine Antworten allgemeiner Art geben können. Die Komplexität sprachlicher Dynamik sowie die Fülle an Stilbegriffen und Modellen zum Sprachwandel sind Gründe für die Vielschichtigkeit des Zusammenhangs von stilistischer und sprachlicher Veränderung. Dass es eine enge Beziehung zwischen Sprachsystem und Stil gibt, kann dabei aber nicht in Frage gestellt werden. Stil ist eine Globalkategorie, die sich auf alle Ebenen des Sprachsystems bezieht, auf den Wortschatz, den Satzbau, die textuelle Strukturierung usw. (vgl.
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Ullmann 1972, 124). Dennoch werden Fragen des Stilwandels in historisch orientierten Arbeiten der Sprachwissenschaft wenig gestellt und kaum systematisch beantwortet. Lange Zeit galt der Beschäftigung mit der sprachlichen Substanz mehr linguistische Aufmerksamkeit als den Dimensionen der konkreten Handlungsformen von Sprache. Stil wird nicht selten als zu vernachlässigendes Oberflächenphänomen von Sprache angesehen und der marginalisierten Sphäre der vereinzelten Phänomene zugeschrieben, für die wissenschaftlich keine Regelhaftigkeit zu beschreiben ist. Der Wandel einer reinen Positivität des Ausdrucks ist daher ein wenig behandeltes Thema. Sofern man sich in der Linguistik mit Sprachwandel befasst, war man lange Zeit vor allem an einer „Sprache hinter dem Sprechen“ (Krämer 2001) interessiert und hat die materiale Grundlage kommunikativen Handelns wissenschaftlich vernachlässigt. Die Marginalisierung der sozialen Interaktion in den Leitparadigmen der Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts führt im strukturalistischen und nativistischen Modell der Sprache zu einer wissenschaftlichen Perspektive auf die vom Gebrauch autonom gesetzte Sprache. Haspelmath (2002, 262) widerspricht im Zusammenhang einer zahlreiche Sprachwandelphänomene anführenden Arbeit dieser Haltung und nimmt eine konstruktivistische Position ein, wenn er davon ausgeht, dass Grammatik „als Nebenprodukt des Sprechens in der sozialen Interaktion“ entsteht. Mit dem wachsenden Interesse der Sprachwissenschaft an so genannten Oberflächenphänomenen geht in jüngster Zeit auch die Beschäftigung mit Fragen des stilistischen Wandels einher. Veränderungen des Stils betreffen immer auch den Gebrauch der systematischen Potenzen einer Sprache und sind verbunden mit Veränderungen lexikalischer, grammatischer und anderer Dimensionen einer Sprache, insofern die Palette stilistischer Möglichkeiten dabei modifiziert wird. Wenn es in der Stilistik unter anderem um Fragen der Sprachrichtigkeit, der Klarheit des Ausdrucks, der Rhetorik des Einzelwortes und Satzes, der Angemessenheit sprachlicher Mittel und der Wahl von Ausdrucksformen geht, so hängen diese Stilaspekte immer mit den Ausdrucksmöglichkeiten einer Sprache zusammen und mit dem, was üblich ist bzw. als Sprachnorm gilt. Der Wandel von Sprachstilen erfolgt daher grundsätzlich im Spannungsfeld von Sprachsystem, Sprachnorm und Sprachgebrauch. Was außerhalb des Sprachsystems steht, wird immer stilistisch stark markiert sein und den kommunikativen Status von Idiosynkrasien haben. In der Regel umfasst das stilistische Repertoire einer Sprache diejenigen Ausdrucksmöglichkeiten, die Teil der Norm sind. Die Akzeptanz von Ausdrucksformen und ihre regelhafte Verwendung in spezifischen Kommunikationssituationen ist daher auch Maßstab vieler Stillehren. Der Stil ist nicht nur eine Art und Weise des individuellen Ausdrucks, sondern auch eine normbezogene Anwendung sprachlicher Möglichkeiten im Zusammenwirken unterschiedlicher sprachlicher Ebenen. Der Sprachgebrauch als Art der Handlungsdurchführung (vgl. Sandig 1986) kann aber durchaus auch alternative Modelle zum Üblichen ausbilden. Dabei ist zu bedenken, dass der Stilgebrauch nicht nur als Realisierung einer Einzelsprache in der Rede funktioniert, sondern in hohem Maße durch sprachliche und in der Interaktion eingespielte Routinen geprägt ist. Feilke (1994, 338) führt aus, dass sich das „grammatische Wissen“ nicht nur auf das bezieht, was in einer Sprache möglich vs. nicht möglich ist, sondern auch auf „verschiedene Möglichkeiten“, die „pragmatisch als Präferenzen des Meinens und Verstehens strukturiert werden“. Stile des Ausdrucks sind dabei immer vor dem Hintergrund zeitgebundener Routinen des Meinens und Verstehens zu sehen, denn jeweilige Gebrauchs- und Verstehenspräferenzen sind die Folge sprachlicher Routinen. Stein (1995) bezieht dies auf die Ebene der Textproduktion, wenn er gegen den Pol der sprachlichen Kreativität die Routine setzt, bei der es um die
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik Formelhaftigkeit und Musterprägung der Sprache gehe. Vor diesem Hintergrund ist die Wahl eines bestimmten routinegeprägten Stils eine ökonomische Entscheidung „zu reibungslosen und störungsfreien Kommunikationsabläufen“ (Stein 1995, 127). Stil ist zudem ein sprachliches Phänomen in Abhängigkeit vom gesamten Varietätengefüge und insofern nicht allein über die Betrachtung der standardsprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten zu erfassen; dies zeigt bereits die antike Bezeichnung von Kommunikationsformen nach den Stilschichten genus sublime, genus grande, genus mediocre, genus humilis bzw. genus subtile. Trotz der vielfältigen Dimensionen des Stils und der komplexen Bezüge von Stilwandel und Sprachwandel lassen sich vier Dimensionen ihres theoretischen Zusammenhangs deutlich unterscheiden. Von zentraler Bedeutung für eine Theorie des Sprach- und Stilwandels ist zunächst die Unterscheidung zwischen intendiertem vs. nicht intendiertem Wandel. Daraus ergeben sich die weiteren Kategorien der theoretischen Kennzeichnung: Stilwandel und Sprachwandel im Spannungsfeld von Idiolekt und Norm sowie Stilwandel und Sprachwandel als Folge sprachlicher Stilisierung. Dass Stil als semiotische Universalie zu gelten hat, ist dabei nicht aus dem Auge zu verlieren, sodass eine Theorie des Sprach- und Stilwandels letzthin auch die allgemeine semiotische Theorie betrifft.
2. Typen des Stilwandels 2.1. Intendierter vs. nicht intendierter Wandel Bereits die Geschichte der Sprachwandeltheorien zeigt, wie zentral die Kategorie der Intention in Modellierungen sprachlicher Dynamik ist. Während systemimmanent argumentierende Theorien des sprachlichen Wandels von internen Motiven der sprachlichen Dynamik ausgehen, wie etwa Lautgesetzen, Prinzipien der Assimilation und Ökonomie oder Fragen der kognitiven Prädisponiertheit jeglichen Sprachvermögens und dabei die Frage der Intendiertheit systematischer Veränderungen von Sprache ausklammern, konzentrieren sich beispielsweise mediengeschichtliche oder funktional orientierte Sprachwandeltheorien gerade auf die Frage der kommunikativen Absichten von Sprachteilhabern und sehen dabei einen direkten Zusammenhang zwischen Handlungszweck und sprachlichen Veränderungen. Da die Konfrontation von strukturorientierter und funktionsorientierter Linguistik nach Jäger (1993) das wissenschaftshistorische Kennzeichen der jüngeren Sprachwissenschaft ist, manifestieren sich gerade für Fragen der Stilistik die divergenten sprachtheoretischen Grundüberzeugungen. Keller (1994) führt die Pole von systemimmanenter und sprachexterner Motiviertheit des sprachlichen Wandels auf die Unterscheidung von Sprache als Naturphänomen vs. Kulturphänomen zurück. Sprache als Natur ist vorstellbar als selbstregulierendes System ohne Einfluss intendierter Handlungen. Sprache als künstliches System ist demgegenüber in erster Linie Produkt kommunikativer Intentionen. Kellers Sprachwandeltheorie bricht das tertium-non-daturPrinzip der traditionellen Theoriebildung, indem Sprache als System der dritten Art beschrieben wird. Sprachwandel ist demnach ein Invisible-hand-Prozess, das heißt eine nicht intendierte kausale Konsequenz aus einer Vielzahl gleichgerichteter Handlungen; die eigentlichen Intentionen von Sprachteilhabern müssen nicht direkt mit den kausalen Konsequenzen übereinstimmen. Dass es Folgen kommunikativer Absichten im Sprach-
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wandel gibt, wird in der neueren Theorie also keineswegs ausgeklammert, jedoch wird eine unmittelbare Intendiertheit systematischer Veränderungen kaum für möglich gehalten. Bei Keller/Kirschbaum (2003) werden damit verbundene Erklärungen auf Vorgänge des Bedeutungswandels bezogen. Für die theoretische Einordnung des Stilwandels ist die neuere sprachwissenschaftliche Einsicht in Invisible-hand-Prozesse nicht unbedeutend. Denn auch der Wandel von kollektiven Ausdrucksformen, den so genannten Kollektivstilen, ist zwar einerseits nur gebunden an kommunikative Absichten und Zwecke denkbar. Andererseits wandelt sich Stil nicht allein in Folge definierbarer Absichten, sondern entsteht aus dem Zusammenhang komplexer sozialer Bedingungen sowie den faktischen Möglichkeiten jeweiliger Sprachsysteme. Stilwandel ist damit intendiert, wenn er zurückzuführen ist auf individuelles Handeln, doch ebenso nicht intendiert, wenn er als soziales Phänomen der kollektiven Veränderung von Gebrauchsformen erscheint. Die Unterscheidung von intendiertem vs. nicht intendiertem Wandel ist in Verbindung mit zwei Formen des Stilwandels zu sehen: selektiver Stilwandel und deviatorischer Stilwandel.
2.2. Selektiver Stilwandel In der Stiltheorie wird Stil unter anderem als Auswahl aus den Möglichkeiten eines Systems beschrieben. In deutscher Sprache erscheint dieser Stilbegriff erstmals umfassend dargestellt in Johann Christoph Adelungs Über den deutschen Styl (1785). Die selektive Stiltheorie versteht Stil einerseits als Teil der systematischen Potenzen einer Sprache und andererseits als Präferenz bestimmter Ausdrucksformen im Gesamtspektrum kommunikativer Möglichkeiten. Sprache wird dabei als optionaler Code bzw. Auswahlsystem betrachtet. Wofür der Sprachbenutzer jeweils optiert, ist dabei abhängig von kommunikativen Zwecken, individuellen Präferenzen, Normen usw. Die Veränderung des Stils ist im Kontext selektiver Stiltheorien nichts anderes als eine Verschiebung im Auswahlverhalten, wie es etwa bei Grußformeln unmittelbar zu beobachten und beschreiben ist: (1)
a. Grüß dich Hans. b. Hallo Hans. c. Hi Hans.
(2)
a. Sehr geehrter Herr Maibach. b. Lieber Herr Maibach. c. Hallo Herr Maibach.
Während die Varianten (1a) bis (1c) in nähesprachlicher Mündlichkeit in der deutschen Gegenwartssprache nahezu ohne stilistische Markierung gleichwertig im Gebrauch sind, ist die Abwahl aus dem stilistischen Paradigma (2) mit Stilentscheidungen verbunden. Dabei ist ein Stilwandel durch Merkmalsverschiebung infolge veränderter Selektion von (2c) erkennbar. Während der übliche Sprachgebrauch (2a) bis (2c) auf einer Achse von Distanzkommunikation zu Nähekommunikation taxiert, ist im offiziellen Schriftverkehr jüngst die Variante (2c) als Substitut für (2a) bzw. (2b) erkennbar. Das Merkmal ,informeller Stil‘ für (2c) wird also durch veränderte Selektion getilgt. Dies führt zu einem Wandel im Stil der Anredeformen, ohne dass neue Formen ausgebildet werden oder gegen Normen des sprachlichen Ausdrucks verstoßen wird. Stilwandel kommt stattdes-
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik sen durch Änderungen der Präferenzen im Abwahlverhalten aus einem Paradigma usueller Formen zustande. Hier ist ein Zusammenhang zur Stilisierung erkennbar (s. auch Abschnitt 4), also der Produktion von Stilformen. Stilisierungen sind durch ein bewusstes Nutzen von Ausdrucksformen gekennzeichnet, bei dem die Abwahl aus der Palette der Gestaltungsmöglichkeiten den Ausdrucksintentionen angepasst wird. Dies gilt auch für Stilformen in der Bildenden Kunst. So versteht man zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Russischen Stil als „eine nationale Umbildung des byzantinischen Stils unter orientalischen Nebeneinflüssen“ (Spemann 1905, 820). Die Stilisierung präferiert aus einem Paradigma von Ausdrucksmöglichkeiten bestimmte Formen und prägt damit Stilwandel im Rahmen vorgegebener Muster. Stilistische Veränderungen sind also Substitute für andere potentielle Formen sprachlichen Verhaltens. Damit gewinnt jeder sprachliche Ausdruck eine stilistische Dimension, denn die Formulierung von Aussagen erfolgt in der Vorstellung der selektiven Stiltheorie immer in einem stilistischen Paradigma möglicher Formen, aus denen eine Auswahl erfolgt. Stilwandel durch Selektion ist insofern begrenzt durch das, was stilistisch möglich erscheint. Das stilistisch Mögliche ist schließlich die Norm, also der Umfang der im Regelfall denkbaren Ausdrucksmittel einer Sprache. Selektiver Stilwandel vollzieht sich daher in den Grenzen zeittypischer Formen des Sprachgebrauchs, in den Grenzen der Norm.
2.3. Deviatorischer Stilwandel Stil wird nicht nur als Produkt der Selektion von Normpotenzen beschrieben, sondern in der so genannten deviatorischen Stilistik auch als Normabweichung. Die Spezifik des Stils ist dabei gerade nicht die Präferenz bestimmter Normpotenzen, sondern die Differenz gegenüber üblichen Ausdrucksformen. Stil ist dabei e´cart, also Abweichung von der Norm bzw. Normverstoß (vgl. Gauger 1992, 10). So kann der Bruch mit üblichen Formen des Ausdrucks zum Kennzeichen neuer Sprachgebrauchsformen werden. Die Abgrenzung etwa von den barocken Ausdrucksvorgaben der Regelpoetik in Empfindsamkeit und Sturm und Drang bis hin zur Romantik ist dafür beispielhaft. Bekannt ist auch die im Zuge der Autonomisierung des Subjekts stattfindende Wortbildungsproduktivität mit dem Stamm Mensch(heit) im ausgehenden 18. Jahrhundert, bei der die Fülle an Neologismen zur Stilsignatur der Zeit wird (vgl. Maurer/Rupp 1974, 316 f.): Mensch, Menschenberuf, Menschendenkart, Menschenform, Menschenfreund, Menschenfurcht, Menschengeist, Menschengröße, Menschengüte, Menschenhärte, Menschenhelfer, Menschenjammer, Menschenkenntnis, Menschenlauf, Menschenliebe, Menschenmenge, Menschenpflicht, Menschenrechte, Menschensinn, Menschensprache, Menschenstrom, Menschenton, Menschentum, menschentümlich, Menschenvertilger, Menschenwert, Menschlichkeit, Menschenwürde
Zeitgleich beschreibt man Stil erstmals als distinktives Merkmal für die Periodisierung von Kunstepochen (vgl. Winckelmann 1764). Ein Gedanke, der dann im Hegelschen Konzept des Zeitgeistes pointiert erscheint. Dabei ist Stilwandel im Konzept des deviatorischen Stilwandels gerade nicht bezogen auf Stil als „the constant form ⫺ and sometimes the constant elements, qualities, and expressions ⫺ in the art of an individual or
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a group“ (Schapiro 1953, 137), sondern als Vorgang des Bruchs mit überkommenen Formen des Ausdrucks realisiert. Die konstanten Elemente sind demnach Inventar des Üblichen, der Stil hingegen weicht davon ab. Diese Vorstellung geht unmittelbar in das Konzept des Personalstils ein, für das im Hinblick auf Sprache die idiolektalen Eigenheiten des sprachlichen Ausdrucks zum Stilmarker erklärt werden. Ein solcher Normverstoß ist stilistisch markiert und wird als produktive Form des sprachlichen Ausdrucks verstanden, mit der auch Veränderungen der Norm verbunden sein können. Erst mit der Individualisierung des Stilbegriffs am Ende des 18. Jahrhunderts gewinnt diese Stilvorstellung an Bedeutung gegenüber selektiven Stilkonzeptionen; anzuführen ist hier vor allem Karl Philipp Moritz mit seinen Vorlesungen über den Styl (1793/94). Die Eigentümlichkeit subjektiver Ausdrucksformen wird dabei als wesentlicher Ausweis stilistischer Prägung verstanden. Deviatorischer Stilwandel vollzieht sich außerhalb der Grenzen zeittypischer Formen des Sprachgebrauchs und ist die Folge abweichenden Verhaltens durch Sprachteilhaber.
2.4. Ursachen des Stilwandels Selektion vs. Deviation, also Auswahl gegen Abweichung, sind im Zusammenhang mit Intendiertheit und Nichtintendiertheit stilistischen Wandels zu sehen. Daraus ergeben sich vier Ursachen des Stilwandels: intendierter Stilwandel Stil als Auswahl Stil als Abweichung
STILWAHL STILPRÄGUNG
nicht intendierter Stilwandel STILANPASSUNG STILEREIGNIS
Abb. 82.1: Vier Ursachen des Stilwandels
Stilwahl ist der beabsichtigte Vorgang einer Bevorzugung von Formen innerhalb der Sprachnorm. Die Entscheidung für ein bestimmtes Stilregister mit seinen je üblichen Ausdrücken und Satz- sowie Textstrukturierungsverfahren erfolgt im Rahmen der usualisierten Muster einer Sprache bzw. Sprachvarietät. Eine Veränderung von Stilen ist insofern die Folge einer Veränderung im Auswahlverhalten; Stilwandel als Wandel der intendierten Wahl aus sprachlichen Möglichkeiten. Zur Stilwahl kommt es bereits im Alltagsgebrauch der Sprache und grundsätzlich dann, wenn für bestimmte Funktionsbereiche oder kommunikative Zwecke angemessene Formen des sprachlichen Ausdrucks gewählt werden. (3)
a. Entschuldigen Sie meine mangelnde Geistesgegenwart. b. Ich bitte um Nachsicht für meine fehlende Konzentration. c. Ich möchte mein Bedauern über meine Zerstreutheit ausdrücken.
(4)
a. Sorry für das Missgeschick, hab ich verpennt. b. War echt nicht so gemeint, habe ich einfach nicht gepeilt. c. Tut mir wahnsinnig leid. War einfach nicht bei mir.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
Die Varianten (1) und (2) sind dabei stilistisch im Kontrast gleichwertig, zwischen (1) und (2) kann mithin eine Stilwahl stattfinden, innerhalb (1) und (2) kann stilistisch moduliert werden. Stilanpassung erfolgt demgegenüber nicht beabsichtigt, sondern als nicht intendiertes Resultat einer Wechselwirkung zwischen üblichem Sprachverhalten und individueller Auswahl. Die Entscheidung für jeweilige Formen des sprachlichen Ausdrucks geschieht häufig ohne Überlegung und gezielte Reflexion alternativer Möglichkeiten, dies hat Ullmann (1972, 149 f.) mit seiner Behandlung von expressiven vs. impressiven Stilwerten gezeigt. Stilauswahl funktioniert durchaus auch als Automatismus in spezifischen sozialen bzw. funktionalen Konstellationen. Die Veränderung von Stilen ist insofern die Folge einer Veränderung im Anpassungsverhalten; Stilwandel als Wandel der nicht intendierten Wahl aus sprachlichen Möglichkeiten. Dabei kann die Anpassung bezweckt oder die Folge einer nicht gesteuerten Assimilation sein. Ein Modell für die soziolinguistischen Dimensionen einer nicht gesteuerten Stilanpassung ist etwa die Angleichung im sprachlichen Ausdruck bei der Integration von Russlanddeutschen (vgl. Berend 1998). Anpassung unter Zwang ist historisch beispielsweise in Veränderungen der Ausdrucksformen als Folge kolonialer Sprachpolitik zu beobachten. Auch die stilistischen Folgen der Political-Correctness-Bewegung sind ein gutes Feld zur Beobachtung sprachlicher Assimilation. Stilprägung ist das Ergebnis eines intendierten Verstoßes gegenüber der Norm. Kennzeichen dieser sprachlichen Abweichung ist die beabsichtigte Differenz im sprachlichen Ausdruck. Die Entscheidung für eine bestimmte Formulierungsvariante erfolgt dabei bewusst außerhalb dessen, was usualisiert ist. Die Veränderung von Stilen ist insofern die Folge von beabsichtigten Normverstößen; Stilwandel als Wandel der intendierten Normdifferenzen. Zu Stilprägungen kommt es häufig in sprachlichen Äußerungen mit starker Markierung der poetischen Funktion, also dann, wenn Sprache mit selbstreflexiven Bezügen etwa im literarischen Schreiben gebraucht wird und dabei Funktionen des Ausdrucks, der Darstellung oder des Appells in den Hintergrund der kommunikativen Absichten rücken. Ein Stilereignis vollzieht sich bei nicht beabsichtigtem Normverstoß. Kennzeichen dieser sprachlichen Abweichung ist die unbeabsichtigte Differenz im sprachlichen Ausdruck, also eine stilistische Markierung. Die Veränderung von Stilen ist insofern die Folge von unbeabsichtigten Normverstößen; Stilwandel als Wandel der nicht intendierten Normdifferenz. Dass solche Normverstöße als Stilereignisse wiederum genutzt werden können für Stilprägungen und schließlich auch die Anpassung oder Wahl eines Stils beeinflussen, kann am Beispiel des Türkischdeutschen als Migrantensprache exemplarisch beschrieben werden oder an Normverstößen in der Jugendsprache, die sich kommunikativ durchsetzen.
3. Stilwandel zwischen Idiolekt und Norm Die Differenzierung von Stilwahl, Stilanpassung, Stilprägung und Stilereignis zeigt, dass Unterschiede im Stilwandel durch die Merkmale Intention und Nichtintention sowie Auswahl und Abweichung bedingt sind. Stilwandel im Besonderen, aber auch Sprachwandel im Allgemeinen vollziehen sich zudem auch im Spannungsfeld von individuellem und kollektivem Sprachgebrauch, also zwischen Idiolekt und Norm. Die Veränderung im Aus-
82. Stilwandel und Sprachwandel
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wahlverhalten oder in der Abweichung von üblichen Mustern kann als anonymer Prozess in Gruppen von Sprachteilhabern ebenso erfolgen, wie es auch möglich ist, dass diese durch Einzelpersonen motiviert ist. Gehen vom individuellen Sprachgebrauch Impulse für Stilveränderungen aus, so sind diese vor allem durch Abweichungen von üblichen Mustern gekennzeichnet. Idiolekte bedingen Stilwandel im Hinblick auf Neuerungen im sprachlichen Ausdruck. Sofern Stil aber im Zusammenhang der Sprachpflege, des Purismus bzw. der Fragen des richtigen Ausdrucks eine Rolle spielt, geht es um den so genannten angemessenen Stil, wie er in den Rede- und Stillehrbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts bereits beschrieben wird (vgl. Schmidt-Wächter 2004). Der Versuch einer Steuerung des kommunikativen Verhaltens von Individuen durch die Formulierung solcher Sprachnormen kann durchaus auch Stilwandel bedingen, dieser geht dann jedoch nicht vom Individuum aus, sondern resultiert aus der Anpassung des Individuums an formulierte Normen. Veränderungen des Sprachgebrauchs vollziehen sich somit zwischen den Polen der Anpassung an kollektive Normen und der idiolektalen Abweichungen von solchen Normen. Die Dimensionen des Normbezugs und der idiolektalen Differenz sind zentral für jede Erklärung des sprachlichen Wandels. Sie sind zurückzuführen auf zwei Typen des individuellen Verhaltens, wie sie unter anderem in der Sozialtheorie von Coleman (1990) beschrieben werden: Verhalten als Nachahmung und Verhalten als intendierte Abweichung. Mit Anderen im sprachlichen Ausdruck übereinstimmen oder von Anderen sprachlich abweichen, sind die Grundfunktionen jeder Stiläußerung. Peer (2001) erkennt in der imitatorischen Funktion des Stils eine evolutionstheoretische Dimension, insofern die stilistische Abgleichung mit dem Verhalten Anderer immer vor dem Hintergrund einer Optimierung von Verhalten im sozialen Evolutionsprozess denkbar ist. Stilwandel als Folge des individuellen Stilgebrauchs ist mithin das Ergebnis einer Selektion im Normierungsdruck der sprachlich handelnden Gemeinschaft. Neben der stilistischen Angepasstheit mit den sozialen Vorteilen einer Adaptation an gesellschaftliche Normen gibt es die kreativen Potenzen des Individuums, die der Norm entgegenstehen (vgl. Eaton 1978). Eine Theorie des stilistischen Wandels, die vom Stil als Performanzphänomen ausgeht, hat diese soziologischen, evolutionspsychologischen und semiotischen Beschreibungen von Stilfunktionen zu berücksichtigen. Denn Stil ist, in welchen Formen auch immer, ein Mittel zur „Steigerung sozialer Sichtbarkeit“ (Assmann 1986, 127). So kann die Wahl bestimmter Argumentationsstile beispielsweise ein Mittel zur Herstellung von gesellschaftlicher Akzeptanz sein. Da Stil, gleich ob als Anpassung an die Norm oder als idiolektale Abweichung von derselben, von Individuen produziert wird, „um beobachtet zu werden“ (Soeffner 1986, 319), sind Veränderungen in der Stilistik einer Sprache nicht losgelöst von Intentionen zur sprachlichen Stilisierung zu betrachten.
4. Stilwandel als Folge sprachlicher Stilisierung Der Begriff Stilwandel lässt sich keinesfalls auf alle Veränderungen sprachlicher Ausdrucksformen übertragen. So sind etwa Vorgänge des Bedeutungswandels nicht zwingend stilistische Phänomene. Dies gilt auch für phonologische, flexionsmorphologische bis hin zu syntaktischen Veränderungen von Sprachelementen. Mit Stil werden vor allem soziale Identität und funktionale Domänen markiert. Hier ist Stolt (1984, 163) zu folgen, wenn sie Stil als eine Funktion beschreibt, die aus der Relation von Konformismus und
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
Originalität erwächst. Der Wandel von Stilen ist insofern nicht identisch mit dem Wandel von Sprache überhaupt, sondern ergibt sich aus den je verschiedenen Kombinationen von obligatorischen und fakultativen Elementen des Systems. Im Rahmen einer allgemeinen Expressivitätslehre wird man Stil daher als individuelle Gestaltung des Systems beschreiben. Bereits in der Stilistik von Bally (1909) findet sich die Unterscheidung von affektiver vs. intellektueller Sprachverwendung. Die Affektivität oder auch Expressivität der Alltagssprache sei Gegenstand der Stilistik, da die Expression Ausdruck der individuellen Gestaltung des Systems ist. Eine Ausprägung sprachlicher Stilistik ist demnach verbunden mit expressiven Handlungen, mit der Gestaltung von Systempotentialen. Gumbrecht (1992) bezeichnet die Ergebnisse solcher stilbildenden Tätigkeiten als Stilisierung. Dass der Stil als Kommunikationsform, die Unterscheidung hervorruft und der Vorstellung einer einheitlichen Wirklichkeit entgegensteht (vgl. Gumbrecht 1986, 736 ff.), immer auch Veränderungen in den Ausdrucksformen bedingt, ist evident. Zunächst jedoch ist Stil gebunden an Stilisierungen im Spannungsfeld von Anpassung und Abweichung. Bereits 1753 erklärt Georges Louis Leclerc Buffon le style est l’homme meˆme; Johann Georg Hamann versteht in Anlehnung daran Stil als Ausdruck der Individualität (vgl. Trabant 1992). Diesem Konzept entspricht die neuzeitliche Vorstellung, dass das Subjekt Schöpfer eines persönlichen und vor allem auch literarischen Stils ist, des so genannten Individualstils. Die sprachliche Stilisierung ist dabei jedoch nicht zwingend als Herstellung geschraubter Künstlichkeit zu verstehen. Im Gegenteil formulieren Michel de Montaigne und auch Johann Wolfgang Goethe das Ideal der dissimilatio artis (Verbergung von Künstlichkeit), das besagt, dass ein angemessener Stil dazu diene, den Geist des Sprechenden unmittelbar auszudrücken. Metzger (2004, 84) führt hierzu aus, dass Stil insoweit als Inkarnation des Subjekts im Text verstanden wird. Während die Rhetorik ein Regelsystem der langue sei, resultiere die Stilistik einer Sprache aus ihrer parole. Man wird also in Theorien zum Stilwandel nicht umhin kommen, den individuellen Gebrauch von Sprache in Verbindung mit seinen differenzierten Bedingungen zu berücksichtigen. Stilisierung ist dabei ein wichtiges Kennzeichen des sprachlichen Verhaltens. Dass Stil überhaupt „die sozial relevante Art der Durchführung einer Handlung mittels Text oder interaktiv als Gespräch ist“ (Sandig 1995, 28), wird in den neueren pragmatischen Stilkonzepten immer wieder betont. Die Veränderung der Stilistik mag man insofern auch als Umgestaltung sprachlichen Handelns im Allgemeinen verstehen. Gebunden ist der Umbau von Ausdrucksformen an sozio-kulturelle Bedingungen, an Moden, an die Zeitläufte. Bereits bei Staiger (1963) wird der Wandel von Ausdrucksformen explizit mit dem Begriff des Stilwandels belegt. In der Begründung der werkimmanenten Interpretation entwickelt Staiger jedoch unter anderem mit den werkbezogenen Begriffen Vollendung, Steigerung, Verflüchtigung, Stilbruch eine bewertende Theorie des Stils, die für sprachwissenschaftliche Stiltheorien keine nachhaltige Bedeutung gewonnen hat. Wenn Stil nach Retamar (1958, 11) immer das Außerlogische der Sprache betrifft, so sind es eben nicht nur die ästhetisch-literarischen Kategorien wie „Gefühlsbeiklang, Betonung, Rhythmus, Symmetrie, Wohlklang […], Stilfärbung […]“ (Ullmann 1972, 114), die die sprachliche Durchführung einer Handlung charakterisieren, sondern es sind die unterschiedlichen Formen der Stilisierung des Individuums im Kontext von individuellem Sprachgebrauch und kollektiver Norm, die Stilwandel bedingen. Die bereits dargestellten Unterschiede in den Ursachen können in einer Theorie des Stilwandels als Veränderung von Stilisierung auch mit den Begriffen Abweichung, Imitation, Kontrastierung und Epigonalität beschrieben werden.
82. Stilwandel und Sprachwandel
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4.1. Abweichung und Imitation Stil als Abweichung, gleich ob intendiert als Stilprägung oder nicht intendiert als Stilereignis, gehört zu den häufigsten Formen der sprachlichen Stilisierung. Die Markierung einer kommunikativen Position durch Differenz zur Norm ist ein wirkungsvolles Mittel der pragmatischen Organisation von sprachlichen Handlungen. Bei der Stilprägung erfolgt die Nutzung einer nicht normierten Stilvariante mit dem bewussten Ziel einer sprachlichen Stilisierung, während diese sich beim Stilereignis unbeabsichtigt ergibt. Abweichungen können also von der gesteuerten medialen Prägung von Stilen, etwa sprachlichen Moden, bis zu unbewussten Idiosynkrasien reichen. Ihre Wirkung im Stilwandel entfalten solche Abweichungen durch Imitationen. Wie bereits im Lois de l’imitation von Tarde (1895) dargelegt wird, ist Nachahmung ein zentraler gesellschaftsbildender Vorgang. Sprachliche Stilisierungen erfolgen in Entsprechung dazu häufig über die Imitationen von Stilabweichungen, die Ausbildung von Gruppenstilen ist dafür ein Beispiel. Die Vorgabe von Stilabweichungen durch anonyme Produzenten oder Individuen entfaltet über die Nachahmung eine stilverändernde Wirkung. Die Differenz zu anderen Ausdrucksmöglichkeiten kennzeichnet dann den jeweiligen Stil. Dies wird strukturalistisch bereits bei Hockett (1965, 556) beschrieben, wenn er eine Stildifferenz da erkennt, wo zwei Äußerungen mit annähernd gleicher Information in ihrer linguistischen Struktur verschieden sind. Die Prägung oder unbeabsichtigte Bildung eines Stils erzeugt neue Auswahlmöglichkeiten. Stilwahl und Stilanpassung beziehen sich also nicht nur auf die usualisierten Ausdrucksmöglichkeiten, sondern gerade auch auf das Neue, noch nicht Normierte, mit dem eine Steigerung der sozialen Sichtbarkeit verbunden ist. Über die Imitation von geplanten oder ad-hoc-gebildeten Varianten vollzieht sich Stilwandel. Insofern ist die Differenzierung von Ursachen des Stilwandels (siehe 2.4) auch kausal zu formulieren. Wenn Stilprägung oder Stilereignis als abweichende Ausdrucksformen das Repertoire an Auswahlmöglichkeiten erweitern oder verändern, erfolgt Stilwandel über imitatorische Stilwahl oder Stilanpassung. Das komplexe Zusammenwirken von Abweichung und Auswahl bei der Stilbildung hat Ullmann (1972, 115) behandelt. Für den Stilwandel lässt sich festhalten, dass der Zusammenhang von Stilisierung durch Abweichung und Stilisierung durch Auswahl eine sprachliche Dynamik in Gang setzt.
4.2. Kontrastierung und Epigonalität Neben den üblichen und verbreiteten Stildifferenzen sowie ihren jeweils neuen Bildungen im Varietätenspektrum einer Sprache kommen auch Stilprägungen vor, die Nachahmung auszuschließen versuchen. Hier besteht das kommunikative Ziel in der Kontrastierung zu usualisierten Ausdrucksformen. Literarische Sprache, sofern sie das unverwechselbar Artifizielle in den Vordergrund spielt, oder aber auch Unternehmensstile im Sinne eines corporate style sind dafür Beispiele. Bei der Stilkontrastierung soll die Imitation möglichst vermieden werden, denn es geht nicht nur um die Herstellung sozialer Sichtbarkeit in einzelnen Kommunikationssituationen, sondern um die anhaltende Identifikation eines Stils mit einem Autor, einer sozialen Gruppe, einer Band, einem Unternehmen usw. Eine Nachahmung solcher Kontraststile ist dann nicht einfach Imitation, sondern Epigonalität. Immer da, wo etwa durch ästhetischen Anspruch oder Unternehmensziele die
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik Kontrastierung gegenüber Anderen zu den kommunikativen Intentionen gehört, wird zwar Stil als Abweichung erkennbar, dieser geht aber über imitatorische Auswahl nicht einfach in einen Stilwandel über, sondern bleibt als Marke, als stilistisches Kennzeichen des Stilproduzenten sichtbar. Gerade im Zusammenhang von Kontrastierung und Epigonalität wird deutlich, dass Stil nicht allein den sprachlichen Ausdruck betrifft, sondern auch andere Formen der Stilisierung.
5. Stil als semiotische Universalie Weil Stil nicht allein auf den sprachlichen Ausdruck begrenzbar ist, wird im Zusammenhang semiotischer Forschungsinteressen ein erweiterter Stilbegriff formuliert, der Stil als eine semiotisch komplexe Einheit definiert (vgl. Fix 2001). Wenngleich die aus der rhetorischen Tradition erwachsene Stilistik lange Zeit allein sprachliche Formen in den Blick genommen hat, so wird nicht von der Hand zu weisen sein, dass Stil neben seinen linguistisch und literaturwissenschaftlich traditionell berücksichtigten Realisierungen auch in außersprachlichen Ausdrucksformen zentrale Bedeutung besitzt. Bei der Etablierung eines erweiterten Stilbegriffs wird zu bedenken sein, dass es auch Malstile, Musikstile, Lebensstile etc. gibt; gerade der Zusammenhang dieser verschiedenen Formate des sozialen Verhaltens wird besonders zu gewichten sein. Stil als Mittel der Stilisierung ist multimodal und multiformal, also eine semiotische Kategorie der Entgrenzung einzelner Formen. Dies hat für die wissenschaftliche Behandlung des Stilwandels erhebliche Konsequenzen, denn Veränderungen in den sprachlichen Ausdrucksformen vollziehen sich häufig in Verbindung mit dem Wechsel anderer kultureller Kodierungsmedien. Die Formen von Handlungsdurchführungen sind weder auf Sprache beschränkt noch wandeln sich Stile allein in einem Medium. Sprachstile, Malstile, Baustile, Filmstile, Kompositionsstile usw. sind Gegenstände einer semiotischen Stilistik, die Stil als eine Universalie des individuellen Ausdrucks bis hin zum so genannten Lebensstil beschreibt. Grundfiguren der sprachlichen Stilistik, wie die ornamentkritische Forderung nach einer Ausrichtung des Schriftstils am Sprechstil mit dem Ziel der Klarheit des Ausdrucks, finden sich auch für andere kulturelle Medien, so in Debatten um Form und Funktion. Vom Stilwandel sind daher nicht nur konkrete Stileigenschaften betroffen, sondern auch die strukturellen Grundeigenschaften des Stils, die man in Anlehnung an Grice (1975) mit Quantität, Qualität, Relevanz und Modalität bezeichnen kann. Die Veränderung von Stilen ist immer mit Modifikationen dieser Eigenschaften verbunden. Dabei sind „Zeichen verschiedener Zeichenvorräte“ (Fix 2001, 118) in der Regel in einen komplexen Stilwandel eingebunden. Derartige Veränderungen sind weniger die Folge systemimmanenter Wandlungen als vielmehr einer Veränderung von kommunikativen Intentionen. In seinem grundlegenden Aufsatz Die funktionale Linguistik führt der Begründer des Prager Linguistenzirkels Mathesius (1929) aus, dass die sich damals formierende neuere Linguistik unter Berücksichtigung funktionaler Phänomene von den Ausdrucksbedürfnissen der Sprachteilhaber ausgehe. Diese manifestieren sich nun keinesfalls allein in den im engeren Sinne sprachlichen Formen. Da man in der funktionalen Stilistik Sprachstil nicht als langue-Phänomen versteht, sondern als „Funktionsweise des Systems in der gesellschaftlichen Kommunikation“ (Fleischer 1992, 118), wird man mit einem erweiterten Stilbegriff die unterschiedlichsten Kommunikationsformen zu berücksichtigen haben. Die
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funktionale Unterscheidung von fünf Stiltypen (Fleischer u. a. 1993, 32 ff.) ist dabei auch für die multimediale Stilanalyse brauchbar: (1) Der Textsortenstil ist nicht nur auf Texte im engeren Sinne zu beziehen, sondern auch auf Texturen in anderen Medien. Ein Porträt etwa weist ein anderes formales Repertoire auf als eine Produktvisualisierung. Der Zusammenhang von Textsorten im engeren Sinne und Sorten von Texturen in nicht sprachlichen Medien ist Gegenstand einer Untersuchung von Stilwandel. (2) Der Bereichsstil oder auch Funktionalstil wird in der Stilistik als Funktionsweise in einzelnen Domänen verstanden. Nicht nur die Stilisierung durch Sprache markiert hier eine Zugehörigkeit bzw. ein kommunikatives Gelingen, sondern auch visuelle und andere Medien, wie dies z. B. Unternehmensstile zeigen. Stilwandel kann dabei sowohl eine Veränderung von Ausdrucksformen innerhalb einzelner Domänen bedeuten als auch eine gegenseitige Bezugnahme von Stilen in verschiedenen Kommunikationsbereichen. (3) Unter einem Gruppenstil versteht man in der funktionalen Stilistik die Ausdrucksbesonderheiten von sozialen Gruppen und auch Altersgruppen. Diese sind keineswegs auf Sprache beschränkt, wie das etwa das Beispiel der Popkultur deutlich macht. Gruppenstile sind einer starken Dynamik unterworfen, die nicht zuletzt durch Moden beeinflusst und auch gesteuert wird. (4) Gerade auch Zeit- oder Epochenstile sind ein wichtiger Gegenstand von semiotischen Untersuchungen des Stilwandels. Die Sprache der Neuen Sachlichkeit etwa, die sich stilistisch an einer nicht artifiziellen Alltagssprache der 1920er-Jahre orientiert, ist Teil eines Zeitstils, der auch in Malerei, Architektur, Film, Musik usw. zu finden ist. Dabei ergibt sich das Problem der Abgrenzung von Stil und Epoche. Der International Style ist beispielsweise weit weniger ein einheitlicher Stil als vielmehr eine Sammelbezeichnung für Architektur der 1920er- und 1930er-Jahre vor allem in Europa und den Vereinigten Staaten. Nicht jede Stilbezeichnung ist also von Interesse für eine semiotische Stilistik, wenngleich ein Zusammenhang zwischen dem Wandel kommunikativer Formen und der Entstehung von Stilrichtungen in außersprachlichen Medien fast immer angenommen werden kann. (5) Der Individualstil schließlich bezieht sich vor allem auf Abweichung und Kontrastierung in einzelnen Medien, kann aber bei Medientransformationen, wie etwa bei Literaturverfilmungen, durchaus in unterschiedlichen kulturellen Kodierungssystemen seinen Ausdruck finden. Bei solchen Transformationen kommt es auch zu medienbedingten Modifikationen, die ebenfalls Phänomene eines sprachübergreifenden Stilwandels sind. Die Wandlung der gesellschaftlichen Kommunikationsbedingungen ist insofern mit der Ausbildung veränderter medialer Bedingungen im Hinblick auf Kommunikationsteilnehmer und Vermittlungsziele verbunden. Dabei werden neue Funktionen etabliert und im Zuge dessen auch neue Stile ausgeprägt, die kommunikativen Sprachwandel bedingen. Von Haynes (1989) wird der Zusammenhang sprachlicher und insbesondere textueller Formen des Ausdrucks mit anderen Medialisierungen von Informationen am Beispiel von Photographie und Landkarte stilistisch untersucht. Stil als Mittel zur Erreichung bestimmter kommunikativer Zwecke ist dabei nicht auf Sprache beschränkt.
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VII. Zentrale Kategorien und Problemstellungen von Rhetorik und Stilistik
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Ingo H. Warnke, Bern (Schweiz)
VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik 83. Exercises or text composition (exercitationes, progymnasmata) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Introduction and definition Current status of research The progymnasmata in ancient education Ancient sources The exercises: system and pedagogy The modern aftermath Contemporary continuations and revivals Selected bibliography
Abstract The progymnasmata are exercises in composition developed in ancient education to smoothly progress from the teaching of grammar to rhetorical education. A number of ancient textbooks show that the progymnasmata form a graduated series of ten to fourteen writing assignments ⫺ starting from small and easy exercises and proceeding to progressively complex ones that are intended to prepare for full-fledged declamation. Their pedagogy is based on the principle that, at first, the parts should be taught and mastered before the whole can be grasped ⫺ small items prior to big ones, easy tasks prior to difficult ones. They can be related to various genres of oratory or parts of speech, and practiced on different levels of difficulty. Thus, they teach textual composition to students, along with topics of invention, critical thinking and effective argumentation, orderly arrangement, and versatility in style, but their positive effects are tempered by their formal rigidity and repression of individuality and personal fantasy. The progymnasmata were widely used in early modern education and are currently being revived for schooling in compositional writing and speech.
1. Introduction and deinition From its very beginnings, ancient rhetorical education has been fully aware of the fact that well-developed speech and writing skills required more than just natural talent and theoretical instruction. They required continuous and persistent practice (see, for example, Isocrates Oratio XIII,14 f.; 17 f.; XV,187 f.; 191 f.; 209 f.; 295 f.). The composition exercises applied in written prose met this demand. Originally, they were called gymnas-
83. Exercises for text composition (exercitationes, progymnasmata)
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mata (‘exercises’), and only from the fourth century C. E. onwards were they designated as ‘preliminary’ to be distinct from the advanced rhetorical ‘exercises’ of oral declamation. The name progymnasmata (‘preliminary exercises’) is now standard. The progymnasmata were a graduated series of writing tasks for beginning students in rhetoric. Each task built successively on the skills learned in the immediately preceding task, so that despite the tasks becoming progressively more difficult, the particular exercise was still within the capability of the student at any one stage. This sequential process assigned each task its special value, and the entire sequence was intended to prepare for entry into the world of civic oratory. There are fourteen sequential exercises: 1. Fable; 2. Narration; 3. Chreia (Anecdote); 4. Maxim (Proverb); 5. Refutation; 6. Confirmation; 7. Common Topic (Commonplace); 8. Praise (Encomium); 9. Blame (Vituperation); 10. Comparison; 11. Ethopoeia (Speechin-Character); 12. Description; 13. Thesis; 14. Proposal of a Law. This ‘classical’ sequence derives from the fourth-century handbook by Aphthonius, but other sources show that the number and order of exercises could vary slightly. The names of most of these exercises are self-explanatory, but some of them are less familiar today. Chreia (or Anecdote) is a discussion of a wise saying or action by a famous person, and the student would elaborate that wisdom into an anecdote by following the same argumentative pattern used for a Maxim (or Proverb) that had not originated with an individual person. Common Topic (or Commonplace) is an exercise in amplification of the vices of a stereotypically evil character such as a murderer, tyrant, or adulterer, and this set kind of amplification could be applied in later speeches. Ethopoeia (or Speech-in-Character) is a fictitious speech put into the mouth of some mythical or historical person in a particular situation. A Thesis is a discussion of a philosophical or ethical question of a general kind, such as Should one marry? or Should one learn rhetoric? The exercise called Proposal of a Law is a detailed argument for or against a proposed law (more often than not a fanciful law) fictitiously presented to the legislature.
2. Current status o research During the Renaissance, as part of the revival and adaptation of classical rhetoric for contemporary needs, there was renewed interest in the progymnasmata, usually based on translations of Aphthonius. Not until the end of the eighteenth century did the exercises cease to be a common daily classroom practice. In the nineteenth and early twentieth century, classical scholars edited the principal texts, but otherwise the progymnasmata all but disappeared from the scholarly agenda. New interest only emerged with the rediscovery of the early modern history of the progymnasmata in a short article by Clark (1952), and the exercises then began to be mentioned in handbooks on ancient education and rhetoric (e.g. Clark 1957, 177⫺212; Bonner 1977, 250⫺276; Kennedy 1983, 54⫺73). In the very last decade of the twentieth century there was a major surge of scholarship as the progymnasmata suddenly became the object of intense international and interdisciplinary research. Translations rapidly appeared in several languages so that the texts are no longer the domain just of classicists. Historians of rhetoric, Renaissance scholars,
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
educationalists, teachers of composition and many others now also collaborate in this field. Several national and international long-term projects have been started in Sweden, Spain, the United Kingdom, the United States, and in other countries. These projects focus not only on the ancient tradition, but also examine the modern history of the exercises. The progymnasmata are once again being adopted and adapted for contemporary use in writing education. A comprehensive history of their early modern textual and educational tradition is now in progress. But the establishment of a comprehensive inventory of literary examples of elaborated progymnasmata has only just begun. Principal issues of current research include the specific pedagogy of the exercises, their relevance to social education, and their impact on literary texts and genres (see D’Angelo 2000; Webb 2001; Desmet 2005 and 2006; Kraus 2005 and 2008).
3. The progymnasmata in ancient education In the Hellenistic Greek and Roman educational system, students first acquired basic skills in reading and writing, and then studied with a grammarian who taught them to read and interpret the works of classical poets and writers. Only the best students then went on to study with a rhetorician. The progymnasmata were located within this progression precisely at the transition from grammar to rhetoric, and thus provided a smooth passage from analytical reading to rhetorical education. This transitional position is also reflected in other ways. Grammatical study used written materials, while rhetorical study aimed at oral presentation, and some of the written exercises of the progymnasmata could be adapted for oral delivery. The level of difficulty for many of these preliminary exercises could also be adjusted for the needs of either grammatical or rhetorical instruction. This intermediary position, however, often led to professional rivalry, and Quintilian complained that grammarians in Rome were usurping progymnasmata that rightly belonged to the rhetoricians (Inst. or. I,9,6; II,1,4⫺13). Instruction in the epideictic or ceremonial genre of rhetoric was conducted entirely on the level of progymnasmata, since no exercises in epideictic were available at the advanced level of declamation. This curricular anomaly granted the progymnasmata an unrivalled position within ancient rhetorical education, particularly for exercises such as Praise, Blame, Commonplace, Comparison, or Description, and as a result the upper range of the sequential progression shows a stronger emphasis on epideixis. As panegyric oratory continued to grow in importance during the Imperial period (and later in the Byzantine and early modern periods), so also did the progymnasmata. In recent decades, classical scholars have come to a new appreciation of the extent and importance of schooling in progymnasmata in antiquity, especially in comparison with the practice of declamation. Papyrus documents and other writing materials that show practical assignments for students have finally been investigated (Morgan 1998, 198⫺226; Cribiore 2001, 221⫺230; Webb 2001; Hock/O’Neil 2002). We now understand better the appropriate place of practical schooling in progymnasmata in ancient literary education. The sizeable literary evidence of ancient textbooks dealing with progymnasmata, which long lay neglected, has attracted increasing attention of scholars.
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4. Ancient sources Progymnasmatic exercises were first developed for classroom purposes in Greek rhetorical schools of the late Hellenistic period (second or first century B. C. E.), although some of the individual exercises, such as Fable or Thesis, may have a much longer tradition. Our knowledge, however, rests largely on later sources, since hardly any Hellenistic rhetorical treatises have survived. Late Roman republican rhetoric shows clear indications of acquaintance with progymnasmatic material, as in the anonymous Rhetorica ad Herennium (e.g. I,12; II,47; III,15; IV,56⫺58) and in Cicero (e.g. De or. I,150⫺158). Suetonius testifies to the popularity of the exercises in Rome by the first century B. C. E. (De grammaticis 25, 4). At some time during that century the exercises were organized systematically to form a graded, sequentially structured series. The oldest surviving progymnasmata handbook is believed to have been composed by Aelius Theon, who probably was a schoolmaster in Alexandria during the first century C.E. Theon’s handbook is a scholarly, comprehensive, and somewhat cumbersome work devised for teachers rather than students and shows noticeable traces of a grammatical approach. Quintilian explicitly incorporates the progymnasmata (named primae exercitationes) into his Institutio oratoria much in the manner of Theon, thus suggesting that both authors were writing at about the same time. Quintilian still assigns to the grammarian a small number of basic exercises, such as Fable, Maxim, Chreia, prosification of verse, and what he calls aetiology, arguably an elementary exercise in Confirmation (Quint. Inst. or. I,9). However, he clearly assigns the great majority of the progymnasmata to the rhetorician (Inst. or. II,4). The famous rhetorician Hermogenes of Tarsus was long thought to be the author of a more succinct Greek handbook of the second or third century C.E. Scholars no longer accept the attribution, but the manual is crucially important because it is the first to organize the exercises in what became the standard sequence of tasks that conform to a distinctly rhetorical point of view. The most influential handbook is that by Aphthonius, a fourth-century rhetorician from Antioch and a student of the famous schoolmaster Libanius. For the most part it follows, and slightly expands on, the sequence in Pseudo-Hermogenes, but most importantly Aphthonius adds practical examples. A slightly later treatise that appears to draw on both Theon and Aphthonius was composed by Nicolaus of Myra, who taught rhetoric in Constantinople in the fifth century. It is remarkable for its philosophical reflection and of the four Greek treatises by Theon, Pseudo-Hermogenes, Aphthonius, and Nicolaus, the latter has been called “the most thoughtful and mature of the four” (Kennedy 1983, 66). All four are now available in a convenient English translation (Kennedy 2003). Aphthonius’ handbook in time came to dominate all other manuals for two reasons. First, it presented the most complete sequence comprising fourteen individual tasks. Second, the theoretical chapter for each task was followed by a practical example that could be adopted in the pedagogical method of imitatio. But the variety of progymnasmatic tasks and curricula in antiquity was certainly much richer and more diversified than the subsequent dominance of the ‘canonical’ Aphthonian system would suggest. Manuals of progymnasmata are also credited to many other Greek rhetoricians such as Harpocration, Minucianus, Paul of Tyre, Epiphanius, Onasimus, Ulpianus, Siricius, Sopater, and Syrianus, all dating from the second to the fifth centuries C. E. Only a few fragments of these works have survived, but their sheer number testifies to the great popularity and productiveness of the genre. As late as the sixth century, the grammarian
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Priscianus translated into Latin the Greek handbook by Pseudo-Hermogenes, now entitled Praeexercitamina, and adapted the exercises to a typically Roman cultural and literary background. In addition to those textbooks, several collections of elaborated examples of such exercises (e.g. by Libanius) have also come down to us.
5.
The exercises: system and pedagogy
5.1. Pedagogical principle and method The pedagogy for the progymnasmata is based on the idea that rhetoric as a whole can be broken down into smaller parts (units) that can be taught and practiced separately before they are then brought together to form a whole. The parts should be taught and mastered before attempting the whole, small items prior to big ones, easy tasks prior to difficult ones. This method of acquiring practical skills is well-known from activities such as sports, military drill, fine arts, or craftsmanship. The very term progymnasma itself is a borrowing from the world of physical education (Greek gymnasma literally refers to a gymnastic exercise). In ceramics, large objects present of expensive technical problems that are best mastered by working on inexpensive small objects first. Thus, it is not surprising that Theon, in the preface to his manual, complains: “Most students […] proceed to debate judicial and deliberative hypotheses without having been practiced in the proper way ⫺ as the proverb says, ‘learning pottery-making by starting with a big jar’” (Kennedy 2003, 3). Beginners in rhetoric are advised first to work out individual parts of a speech, to concentrate separately on single tasks, and once they have acquired a skill, first to practice it on a very small scale before combining it with other skills in a methodical fashion to produce a full-scale speech. The complexity of rhetoric, says Nicolaus, explains why “the use of progymnasmata came about; for in them we do not practice ourselves in the whole of rhetoric but in each part individually” (Kennedy 2003, 131). There is a further benefit in that each task can separately be viewed as a synechdoche for the entire task of rhetoric as a whole, and this is what John of Sardis had in mind in his ninth-century commentary on Aphthonius, when he said that the progymnasmata were “miniature rhetoric” (Kennedy 2003, 176). Thus the entire progymnasmatic curriculum can be regarded as an attempt to downsize rhetoric to make it easy and teachable, both in mastering its individual parts and using each part as a pattern for the whole.
5.2. Modes o treatment The progymnasmata could practically be used on different intellectual levels, and this flexibility made them an ideal tool for linking the teaching of grammar and rhetoric. This is particularly evident with the first four exercises of Fable, Narration, Chreia (Anecdote), and Maxim. They could be used on the easiest level as simple texts for reading and copying, or for simple grammatical modification, as in the popular grammatical exercise called Declension, in which a student modified a sentence by passing its subjects
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through all possible cases and numbers (see Theon in Kennedy 2003, 20 f.). They could be used for reproduction from memory upon hearing or reading, or for paraphrase, for conversion from verse to prose, or for translation into another language. In fact, Theon’s manual, in an appendix only preserved in Armenian translation, includes the additional exercises of Reading, Listening, Paraphrasing, Elaborating, and Contradicting (Kennedy 2003, 66⫺72). On a slightly more advanced level, these same exercises could serve as the initial texts for stylistic variation and modification, ranging from expansion and condensation to adjustment for stylistic levels, and even to refutation and confirmation. This method is what the Romans used to call pluribus modis tractare (treatment in multiple ways). We use this practice today in music as the technique of Theme and Variation. On this level, the exercises helped to practice close work on a given text along stipulated requirements and standards, and thus they made possible intensive schooling in stylistic versatility. On the highest level, these same exercises could also be elaborated independently by students as pieces of original composition, involving a good deal of invention, disposition and argumentation of their own. This latter procedure was standard practice for the most advanced set of exercises, such as Thesis and Proposal of a Law. It is evident that the easiest level of treatment (still very prominent in Theon’s manual) clearly belongs to grammar, whereas the highest level will take the student far into the realm of rhetoric.
5.3. Scope and sequence The major pedagogical feature of the progymnasmatic exercises is their sequential character which, generally speaking, advances from easier to progressively more complex and demanding exercises. Aphthonius’ chapters, for example, steadily increase in length, from a few lines on Fable, Narration, Chreia (Anecdote), and Maxim, to half a dozen pages each for Thesis and Proposal of a Law. Similarly, the initial exercise for Fable is still close to what students would know from grammar school, while the final exercise for Proposal of a Law approaches full rhetorical declamation. This deliberate sequential pattern is even more conspicuous when the individual exercises are categorized according to their respective affinity with different oratorical genres, as Nicolaus explicitly suggests (Kennedy 2003, 133). The first four exercises in the Aphthonian sequence clearly belong to deliberative speech. Numbers 5 to 7 (Refutation, Confirmation, and Common Topic or Commonplace) are assigned to the judicial genre. Numbers 8 to 10 (Praise, Blame, and Comparison) represent the epideictic. The last group of four exercises instructs the student in exactly the skills needed for the composition of a full rhetorical declamation. Aphthonius explains that the theme of a declamation (called a hypothesis) differs from the progymnasmatic exercise of Thesis in that the latter lacks the two features of individual characters and definite circumstances, that is, indications of place and time (Kennedy 2003, 120 f.). Yet, these are exactly the features provided by the advanced exercises of Ethopoeia and Description. Ethopoeia, or Speech-in-Character, provides the sense of individual character. Description creates the sense of definite circumstances. When the exercises of Ethopoeia and Description are combined with the exercise of Thesis, the whole will transform into a formal hypothesis for declamation in the deliberative genre.
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A full rhetorical declamation in the judicial genre requires one more element past that of the deliberative genre ⫺ the discussion of a particular law. The final progymnasmatic exercise, Proposal of a Law, thus provides precisely this element, and, of course, the exercise can be used in both genres. The actual elaboration in Thesis and Proposal of a Law can go in either direction, for or against, and thus allows for arguing for both sides of a question, which is a common practice in full-fledged declamation. Such argument in utramque partem presupposes advanced skills in argumentation and decisionmaking on the part of the student. This presupposition highlights once again the sequential character of the methodology; in the earlier exercises of Confirmation and Refutation, the student does not need advanced skills in argumentation because the direction of the exercise, for or against, is part of the assignment. The sequence is generally arranged in a way that the more advanced exercises build on the simpler ones. Thus, any Refutation or Confirmation will contain Narration; any Blame will make use of Commonplace; and any Thesis or Proposal of a Law will show elements of Refutation or Confirmation. The arrangement of the sequence, however, is not rigid, since exercises do not always build on one another. Some exercises, in fact, go as far as to presuppose one another in a reciprocal fashion. Thus, any Praise or Blame will contain a Comparison, and in turn any Comparison will contain elements of Praise or Blame. The place of any single exercise within the sequence may also vary, because the grade of difficulty of any exercise depends on the mode of treatment. Theon, for example, gives first place to Chreia (in its grammatical treatment), and both Description and Ethopoeia are placed considerably earlier. The scope of the exercises may also vary (see table in Kennedy 2003, xiii). Theon uses only ten different exercises, while Pseudo-Hermogenes and Nicolaus use twelve, and Aphthonius fourteen. On the other hand, Theon and Quintilian each add a number of purely grammatical tasks. From Pseudo-Hermogenes onwards, however, purely grammatical exercises disappear, and the progymnasmata take on a distinctly rhetorical flavor. In antiquity, neither the scope nor the sequence of the exercises appear to have been rigidly fixed, and a number of different arrangements was still allowed.
5.4. Pedagogical assets The progymnasmata are more than just progressive exercises in writing and textual composition; they are also structured exercises in critical thinking and effective argumentation. The compositional aspects echo the traditional rhetorical concerns for invention, arrangement, and style. In writing progymnasmata, students are given very detailed instructions on where to look for suitable arguments. They are invited to arrange the elements of their arguments according to headings such as legality, justice, expediency, and possibility. They learn to examine a narrative according to categories such as clarity, plausibility, possibility, consistency, propriety, and expediency. This approach to argument and narrative provides students with a convenient repertory of topics of invention. Schooling in progymnasmata can also teach method and orderliness, so that a student can see how to arrange a text and organize thoughts. The simple exercises of Chreia and Maxim, for example, provide a standard eight-step pattern for elaboration that teaches formal techniques of argumentation such as direct and indirect proof, arguments by example or analogy, or the argument from authority. Implicit in many exercises, such as
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the Chreia, are patterns for arranging elements of discourse that students derive for organizing their own discourse. Style is perhaps one of the most difficult subjects to teach in composition, but it is an inherent part of the progymnasmata. The precise advice given in theoretical instructions for choosing an appropriate style, and advice about the linguistic means to achieve that style, will develop skills in the whole range of stylistic levels, from sober and plain to extremely powerful and pathetic. A standard element of many exercises is amplification, and mastering the techniques for amplifying an idea will promote ease with language. But the progymnasmata teach more than just compositional practices. They have a distinct affinity with conventional literary forms and genres, because the exercises have a very general character that is detached from specific cases or circumstances. Features such as Description, Praise, Blame, and Ethopoeia developed historically into independent literary forms. The same exercises that led to these literary genres can supply the tools needed for analysis and interpretation of poetry and literary prose. More broadly, the progymnasmata implicitly convey moral and cultural values, particularly in basic exercises such as Fable, Chreia, or Maxim. Advanced exercises such as the Common Topic, Thesis, and Proposal of a Law involve categories such as law and equity, and thus lay the basis for cultural and moral identities. An exercise such as Ethopoeia even invites students to experiment with social and gender identity by trying to speak in the voice of another character.
5.5. Shortcomings and drawbacks Despite the tremendous success of the progymnasmata over a great many centuries, there have been drawbacks and trade-offs. The formal rigidity of the exercises can suppress individuality and personal fantasy. For this reason, rhetoricians of the Enlightenment period were not particularly happy about them. The examples provided by the textbook authors themselves occasionally signal that it is not easy to comply strictly with their rules and still write a good text. Even in antiquity, the selection of exercises did not embrace all of the genres of composition. Thus, the progymnasmata did not include letter-writing, apologies, expressions of gratitude, appeals, exhortations, exordial topics, or other important rhetorical components, all of which were, however, on occasions added in early modern adaptations. The exercise of the Common Topic showed how to vilify an evil character, but strangely enough, there was no counterpart exercise for celebrating a virtuous character. The judicial genre of oratory seems slightly underrepresented. There was no reflection of stasis theory and never any discussion of the differences between written and oral style.
6. The modern atermath In the Greek-speaking East, the progymnasmata and particularly Aphthonius’ manual remained highly popular as a standard textbook until the fall of Constantinople in 1453, but the situation proved more difficult in the Latin West. With the neglect of declamation, the sequence of progymnasmata was nearly forgotten. In the fifteenth century, however,
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Byzantine refugees reintroduced Aphthonius to Italy and the West. Humanist educators such as Erasmus, Sturm, Ascham and Melanchthon recognized the value of the Greek exercises, but Latin translations were imperative for their implementation in schools. Therefore, about a dozen of different translations and adaptations were quickly produced in an immense number of printings, partly by prominent scholars such as Agricola, Camerarius, Mosellanus, or Daniel Heinsius (Kraus 2005, 167⫺177). The most successful of these was Reinhard Lorich’s translation and commentary Aphthonii Progymnasmata, first printed in 1542 and reprinted over 150 times until the eighteenth century. During the entire seventeenth century, and a major part of the eighteenth, Aphthonius’ Progymnasmata were used as a standard school textbook in rhetoric throughout Western Europe and the Americas, in numerous different editions, in Protestant and Catholic schools (Kraus 2005, 177⫺187). Various school curricula attest to its massive use in grammar schools, and the common practice of ‘theme writing’, popular throughout the whole early modern period, is entirely based on progymnasmatic sources, a particularly late offshoot being J. C. Gottsched’s German adaptation in his Vorübungen der Beredsamkeit (1754, 1756, 1764). Only in the last decades of the eighteenth century (rather than of the seventeenth, as Clark (1952, 262 f.) had insisted) did the tremendous success of the progymnasmata draw to an end.
7. Contemporary continuations and revivals Parts of the progymnasmatic curriculum have survived to the present day, but the exercises have been transformed into writing assignments and deprived of any ultimate rhetorical objective. Narration, Description, and Thesis are still found in the context of the art of composition (Aufsatzlehre) in schools. In the United States, however, there has been a very recent revival of the progymnasmata in rhetorical education and training, as evidenced by books such as those by Corbett/Connors (1999), D’Angelo (2000) or Crowley/Hawhee (2004). The practical training of the progymnasmata enjoys popularity particularly among parents and schoolteachers, to such an extent that Christy Desmet recently could declare that “progymnasmata have become pretty big business” (Desmet 2006, 186).
8. Selected bibliography Bonner, Stanley Frederick (1977): Education in Ancient Rome: From the Elder Cato to the Younger Pliny. Berkeley, CA. Cicero (2007): De oratore/Über den Redner. Lateinisch-deutsch. Hrsg. von Theodor Nüßlein. Düsseldorf. Clark, Donald Lemen (1952): The Rise and Fall of Progymnasmata in Sixteenth and Seventeenth Century Grammar Schools. In: Speech Monographs 19, 259⫺263. Clark, Donald Lemen (1957): Rhetoric in Greco-Roman Education. New York. Reprint Westport, CT 1977. Corbett, Edward P. J./Robert Connors (1999): Classical Rhetoric for the Modern Student. 4th ed. New York/Oxford.
83. Exercises for text composition (exercitationes, progymnasmata) Cribiore, Raffaella (2001): Gymnastics of the Mind. Greek Education in Hellenistic and Roman Egypt. Princeton/Oxford (22005). Crowley, Sharon/Debra Hawhee (2004): Ancient Rhetorics for Contemporary Students. 3rd ed. New York. D’Angelo, Frank J. (2000): Composition in the Classical Tradition. Boston, MA. Desmet, Christy (2005): Progymnasmata. In: Michelle Ballif/Michael G. Moran (eds.): Classical Rhetorics and Rhetoricians: Critical Studies and Sources. Westport, CT, 296⫺304. Desmet, Christy (2006): Progymnasmata, Then and Now. In: Patricia Bizzell (ed.): Rhetorical Agendas: Political, Ethical, Spiritual. New York, 185⫺191. Gottsched, Johann Christoph (1754): Vorübungen der Beredsamkeit. Zum Gebrauch der Gymnasien und größeren Schulen. Leipzig. Hagaman, John (1986): Modern Use of the Progymnasmata in Teaching Rhetorical Invention. In: Rhetoric Review 5.1, 22⫺29. ˚ storp. Hansson, Stina (ed.) (2003): Progymnasmata. Retorikens bortglömda text- och tankeform. A Hock, Ronald F./Edward N. O’Neil (1986): The Chreia in Ancient Rhetoric. Vol. 1: The Progymnasmata. Atlanta, GA (Texts and Translations, 27. Graeco-Roman Religion Series, 9). Hock, Ronald F./Edward N. O’Neil (2002): The Chreia and Ancient Rhetoric: Classroom Exercises. Atlanta, GA (Writings from the Greco-Roman World, 2). Kennedy, George Alexander (1983): Greek Rhetoric under Christian Emperors. Princeton, NJ. Kennedy, George Alexander (2003): Progymnasmata. Greek Textbooks of Prose Composition and Rhetoric. Translated with introduction and notes. Atlanta, GA (Writings from the Greco-Roman World, 10). Kraus, Manfred (2005): Progymnasmata, Gymnasmata. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 7, 159⫺191. Kraus, Manfred (2008): Aphthonius and the Progymnasmata in Rhetorical Theory and Practice. In: David Zarefsky/Elizabeth Benacka (eds.): Sizing Up Rhetoric. Long Grove, IL, 52⫺67. Morgan, Teresa (1998): Literate Education in the Hellenistic and Roman Worlds. Cambridge. Quintilian (2006): Institutio oratoria. Ausbildung des Redners. Hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn. 2 Bde. Unveränd. Nachdruck der 3. Aufl. Darmstadt (Texte zur Forschung, 2 u. 3). Rhetorica ad Herennium (1994): Lateinisch⫺deutsch. Hrsg. von Theodor Nüßlein. München/ Zürich. Suetonius (1995): De grammaticis et rhetoribus. Edited with a translation, introduction, and commentary by Robert A. Kaster. Oxford. Webb, Ruth (2001): The Progymnasmata as Practice. In: Yun Lee Too (ed.): Education in Greek and Roman Antiquity. Leiden/Boston/Köln, 289⫺316.
Manfred Kraus, Tübingen (Deutschland)
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
84. Regulative und Normen der Textgestaltung (imitatio vs. aemulatio) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Begriffliche Klärungen und konzeptionelle Paradoxien Regulative und Normen Konjunkturen der imitatio-Debatte und ihr diskursgeschichtlicher Stellenwert Performative Dimension: Sprachhandeln und textuelle Macht Forschungspositionen und -desiderate Literatur (in Auswahl)
Abstract From a technical perspective, the principle of imitatio auctorum with its widespread impact on European literary history (to the end of the 18 th century and beyond) provides a clear system of rules for producing rhetorical and literary texts. It is constituted by a relation between a model (or a canon of exemplary texts and authors), which claims normativity, and an imitator. Beneath this almost pragmatically arranged surface, however, the ongoing debate on an adequate understanding of imitative textual production and possible alternatives to it, a debate by seemingly repeating the same arguments over and over, turns out to mirror the fundamental and complex poetological problems, not least of all the questions referring to the performative power of rhetorical and literary texts.
1. Begriliche Klärungen und konzeptionelle Paradoxien Imitatio, verstanden als imitatio auctorum, d. h. als rhetorisch-stilistische Nachahmung normativer exempla, kann als poetologische Leitkategorie begriffen werden, anhand derer sich, beginnend mit der römischen Antike, eine Geschichte der europäischen Literaturproduktion schreiben ließe, der sich bis ins 18. Jh. vermutlich nur wenige Bereiche gänzlich zu entziehen vermöchten. Nimmt man die in einem ersten umfassenden Kanonisierungs- und zugleich radikalen Selektionsprozeß im 3./2. Jh. v. Chr. von den alexandrinischen Gelehrten für tradierungswürdig befundenen Texte der griechischen Antike hinzu, denen freilich als Originalen und kanonischen Mustern hinfort ein grundlegend anderer Status zukommt, so kann dem Konzept der imitatio auctorum ein Einflußspielraum von knapp 2500 Jahren attestiert werden. Sucht man den Ursprung von imitatio schon in Griechenland, so ist er (natürlich nicht unter diesem Begriff) im Athen des 5. Jhs. v. Chr. zu greifen, im rhetorischen Lehrbetrieb der Sophisten; zur auch theoretisch reflektierten poetologischen Kategorie, bei der an die Stelle des pragmatischen Wertmaßstabs situativen rhetorischen Erfolgs nun die Norm einer klassizistischen Ästhetik tritt, entwickelt sich die imitatio ⫺ zunächst noch parallel zu einer lebendigen rhetorischen Praxis ⫺ erst im Rom des 1. Jhs. v. Chr. Eine Schlüsselfigur in dieser ersten Phase systematischer Begriffs- und Theoriebildung ist Cicero, der sowohl auf dem Feld der Rhetorik als auch auf dem der Philosophie als imitator griechischer Vorbilder, insbesondere des
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Redners Demosthenes und des Philosophen Platon, Pionierarbeit leistet. Ausgerechnet der imitator Cicero aber avanciert im Humanismus seit Petrarca seinerseits zunehmend zum Musterautor, bis hin zu seiner normativen Absolutsetzung im Ciceronianismus vom ausgehenden 15. Jh. an. Gerade am Beispiel Ciceros und seines Stellenwerts in der diskursgeschichtlichen Entwicklung der europäischen imitatio-Poetik lassen sich paradigmatisch jedoch auch die Paradoxien und Aporien entfalten, die dem imitatio-Konzept von seinen römischen Anfängen an inhärent sind. Mittels der begrifflichen Trias interpretari [übersetzen], imitari [nachahmen], aemulari [wetteifern] sucht die römische imitatio-Reflexion das Verhältnis zwischen imitator und (griechischem) Muster abzustufen. Nimmt man dieses Begriffsinstrumentarium beim Wort, so wäre die Stellung zumal von Ciceros philosophischen Schriften zu ihren platonischen Vorbildern über weite Strecken mit Fug und Recht als interpretatio zu bezeichnen. Gleichwohl spricht Cicero selbst nicht nur von imitari, sondern beansprucht aufgrund der translatio in einen neuen kulturellen Kontext (was prinzipiell aber für jede Übersetzung gilt) für seine lateinische Aneignung der griechischen Philosophie eine spezifische novitas, versteht sich somit wenigstens partiell auch als aemulator (vgl. Reiff 1959, 22⫺51); der humanistischen Rezeption rückt er gar selbst in den Rang des nachzuahmenden Originals. Die hier zu beobachtende konzeptionelle Unschärfe des vorgeblich linear-graduellen Begriffspaars imitatio ⫺ aemulatio hat symptomatischen Charakter. Versteht man imitatio und aemulatio von ihrem ursprünglichen lebensweltlichen Kontext der lebendigen politischen Rede her, so bezeichnen beide Begriffe eine zweistellige Relation synchronen Vergleichs, einmal unter (noch) Ungleichen, das andere Mal unter potentiell Gleichen. Das zumal im zweiten Begriff mitschwingende Moment des Agonalen legt das Vorstellungsfeld des (rhetorischen) Wettstreits nahe, wie es exemplarisch etwa in der Konkurrenz zwischen Cicero und Hortensius greifbar wird. Hier wäre der imitandus das Idol, also (je nach Geschmack) einer dieser beiden römischen Starredner, der imitator derjenige, der es (als angehender Rhetor) seinem Vorbild nachzutun sucht; die diesem Nacheifern zugrundeliegende Relation aber wäre im Zeichen von Über- bzw. Unterlegenheit klar hierarchisch strukturiert. Die Vorstellung der aemulatio impliziert hingegen einen Agon, dessen Ausgang offen ist, in dem zwei potentiell Ebenbürtige gegeneinander antreten, von denen situativ bald der eine, bald der andere überlegen sein kann ⫺ beispielhaft der Prozeß gegen Verres im Jahr 70 v. Chr., in dem Hortensius die Verteidigung, Cicero die Anklage des Verres übernahm. Eben diese Offenheit des Ausgangs aber eignet der literarischen imitatio auch dort, wo sie offensiv als aemulatio verfochten wird, schon aufgrund der konstitutiven Ungleichzeitigkeit von bereits kanonisiertem imitandus und nachgeborenem imitator gerade nicht. Diese Ungleichzeitigkeit, die im Laufe des 16., 17., 18. Jhs. mehr und mehr als historischer Abstand bestimmt werden wird, entzieht der Vorstellung des Agonalen vielmehr von vornherein den Boden, läßt die Relation asymmetrisch werden. Gegenläufig zu diesem Befund paradoxer Begriffsbildung ist zugleich eine charakteristische Paradoxie der Theoriebildung im Verhältnis zur jeweiligen poetischen Praxis zu konstatieren. Sieht man von ausschließlich pragmatischem wörtlichen Übersetzen ab, so wird jeder ambitionierte Text, sei er im engeren Sinne literarisch oder ein Sachtext, implizit die Kategorie der aemulatio für sich in Anspruch nehmen. Wenn demnach in poetologischem Kontext von imitatio gehandelt wird, ist in Wirklichkeit dem Anspruch nach immer schon von aemulatio die Rede. Wovon aber ist die Rede, wenn über aemulatio geschrieben wird? Vom Weg, ein Original zu werden? Symptomatisch für praktisch den
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gesamten europäischen imitatio-Diskurs ist die diskursive Unzugänglichkeit des Originalen, heiße es nun ingenium oder Genie, worauf imitatio doch per definitionem ausgerichtet ist: ein leeres bzw. opakes Zentrum von quasi mythischer Qualität, das metaphorischperiphrastisch von einer Rede über imitatio umkreist wird, die doch eigentlich aemulatio meint.
2. Regulative und Normen Wenn man im Horizont universeller Intertextualität davon ausgeht, daß in einem Regreß ad infinitum jedem Text bereits eine Vielzahl von Prätexten vorausliegt, dann sind Relationen im Sinne der imitatio auctorum darin mitinbegriffen, doch fehlt die differentia specifica des Normativen. Unter die Überschrift Regulative und Normen der Textgestaltung ist das (begrifflich von vornherein paradox verfaßte) Feld von imitatio und aemulatio im vorliegenden Handbuch gestellt, und reflektiert ist darin, daß imitatio auctorum ihrem theoretischen Selbstverständnis nach ausschließlich oder doch dominant produktionsästhetisch gedacht ist. In dogmatischer Perspektive impliziert imitatio auctorum eine vorangegangene Auslese von Musterautoren, denen darum qualitative Autorität eignet, einen Prozeß der Kanonbildung somit, der aus historischen Kontexten Erwachsenes in den tendenziell zeitlosen Status von ,Klassischem‘ erhebt. Die daraus für die nachfolgende Textproduktion im Zeichen von imitatio bzw. aemulatio abgeleitete Norm kann im Einzelfall sehr verschieden aussehen, strukturell lassen sich jedoch zwei Grundmöglichkeiten unterscheiden: Entweder konkretisiert sich die Norm in einem, zum Optimum erklärten Vorbild (am prominentesten Cicero, aber im Zuge antiklassizistischer Gegenkanonisierung etwa auch Seneca oder Tacitus, zudem in homogenisierendem Zugriff etwas wie ,die Griechen‘, die augusteische Klassik). Oder der Norm liegt als Substrat eine abstrakte Wertvorstellung zugrunde, etwa die im berühmten Bienengleichnis erstmals von Lukrez formulierte und wirkungsmächtig von Seneca und Petrarca reformulierte Vorstellung einer das jeweils Beste zusammentragenden Blütenlese, woraus im Prozeß einer Anverwandlung der Honig des Eigenen entstehe. Daß die abstrakten Leitwerte einer demnach nicht puristisch, sondern eklektisch verfahrenden imitatio ⫺ das Beste, etwas Neues, ein eigener Stil usw. ⫺ sich aus dem Bereich des diskursiv unzugänglichen Originalen speisen, kann wiederum als symptomatisch gelten. Zugleich bildet sich in dieser Grundalternative imitativer Normbestimmung einmal mehr das begriffliche Paradox von imitatio versus aemulatio ab. In diachroner Perspektive wird das Normativ-Verpflichtende einer orthodoxen imitatio-Doktrin von dem Moment an fraglich, da sich die Vorstellung historischen Wandels und daraus folgender epochaler Unvergleichlichkeit gegen typologische oder zyklische Auffassungen von Geschichte durchsetzt. In dieser Entwicklung sind durchaus Ungleichzeitigkeiten des Gleichzeitigen zu verzeichnen. Jedenfalls ist, ungeachtet dessen, daß die Begriffe imitatio und aemulatio bereits im Laufe des 17. Jhs. mehr und mehr außer Kurs geraten, strukturell das imitatio-Paradigma mit der Genieästhetik im letzten Viertel des 18. Jhs. keineswegs verabschiedet; nur gibt sich die auf die Fahnen der Stürmer und Dränger geschriebene Norm im Zeichen eines Pindar, Shakespeare oder Ossian nicht mehr als Regulativ, sondern als (freilich ihrerseits verpflichtende, um so apodiktischer sich artikulierende) Regellosigkeit. Das Paradox einer nun umgekehrt zur verdeckten
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Norm erhobenen Originalität, ohne daß daraus produktionsästhetisch konkrete Regulative ableitbar wären, gelangt symptomatisch zum Ausdruck in der wachsenden Konjunktur von Fälschungen. Die vorgeblich ,originellen‘, den homerischen zur Seite zu stellenden Gesänge Ossians sind nur ein besonders prominentes Beispiel. Daß sich parallel dazu eine rezeptionsästhetische Wende vollzieht, die das Problem echter oder vorgeblicher Originalität an den (selbst-)kritischen Leser und dessen problematische Originalitätserwartungen delegiert, können die sog. Ipsefacten in Arnims und Brentanos Sammlung ,alter deutscher Lieder‘ Des Knaben Wunderhorn ebenso belegen wie schon die Goethesche Werther-Figur, deren individueller Originalitätsanspruch durch die unhintergehbare intertextuelle Determination ihrer Selbstdarstellung im Zeichen Homers, Klopstocks, Ossians konterkariert wird.
3. Konjunkturen der imitatio-Debatte und ihr diskursgeschichtlicher Stellenwert Eine historisch orientierte und zugleich europäisch ausgerichtete Darstellung von der Antike bis zum 20. Jh. bieten im Historischen Wörterbuch der Rhetorik die Artikel zu aemulatio (Bauer 1992) und zu imitatio auctorum (Kaminski 1998). Demgegenüber sollen hier in selektiv-exemplarischem Zugriff zwei Phasen besonderer Konjunktur von imitatio bzw. aemulatio in den Blick genommen und auf ihre je spezifische und zugleich repräsentative diskursgeschichtliche Symptomatik befragt werden: zum einen das 1. vorchristliche Jh. im Rom der ausgehenden Republik und beginnenden Kaiserzeit, zum anderen der Humanismus von Petrarca bis ins 16. Jh. Kennzeichnend für die ausgewählten Untersuchungszeiträume ist, daß imitatio bzw. aemulatio für das jeweilige epochale Selbstverständnis konstitutiv sind, und zwar nicht bloß für den in engerem Verständnis literarischen Bereich, sondern im Sinne eines umfassenden kulturellen Paradigmas. Die griechische (das heißt in erster Linie: attische) Kultur in ihrer literarischen, rhetorischen, theatralischen, philosophischen, architektonischen, bildkünstlerischen, nicht aber in ihrer spezifisch politischen Ausprägung übernimmt mit der Ausdehnung der römischen Herrschaft auf den gesamten Mittelmeerraum vom 1. Jh. v. Chr. an in Rom mehr und mehr die Rolle der Leitkultur. Dieses charakteristische Ungleichgewicht von politischer Überlegenheit und (dem Gefühl) kultureller Unterlegenheit zeichnet verantwortlich für eine mentale Disposition, wie sie für Ciceros zwiespältiges Verhältnis zu seinen griechischen Vorbildern auf dem Feld der Rhetorik und Philosophie bereits angedeutet worden war (vgl. 1. Begriffliche Klärungen und konzeptionelle Paradoxien). Der nicht mehr bloß imitative, sondern aemulative Anspruch, mittels translatio in den lateinischsprachigen Bereich Neuland zu erschließen, bedarf zu seiner Entfaltung ja eben der Selbstwahrnehmung als kulturell rückständig. Strategien des Umgangs mit dieser ambivalenten kulturellen Identitätsbegründung sind im Rom des 1. vorchristlichen Jhs. beispielhaft in der Auseinandersetzung um den sog. Attizismus zu beobachten. Während etwa zeitgleich im griechischsprachigen Bereich das Ideal des Attice dicere bzw. scribere im eigentlichen Sinn sprachbezogen (hinsichtlich Wortwahl, Grammatik, Syntax) normative Kraft erlangt, mit unangefochtener Wirkung bis ins 4. Jh. n. Chr. (vgl. Dihle 1992, 1169⫺1174), findet die Kategorie des Attischen in Rom von vornherein ausschließlich metaphorisch Verwendung. Selbstverständlich spricht ein Redner auf dem
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Forum Romanum nicht attisches Griechisch, sondern lateinisch. Mit dieser begrifflichen Verschiebung ins Uneigentliche geht aber zugleich ein semantisches Verfügbarwerden des Attischen einher. Gilt den sich selbst als Attici bezeichnenden Rednern und Redetheoretikern um M. Iunius Brutus und C. Licinius Calvus als attisch ein besonders schlichter, am attischen Redner Lysias orientierter Stil, so avanciert mit dem Eintritt Ciceros in die Debatte das Prädikat des Attischen, losgelöst von einem konkreten (attischen) Stilvorbild, zum programmatischen Kampfbegriff (mit dem polemisch zur Disqualifizierung gebrauchten Pendant des Asianischen). Bestes Beispiel ist wieder Cicero selbst. Von seinen sich als Attizisten verstehenden Kontrahenten des Asianismus bezichtigt, bricht er gegen jene Attici eine Lanze für das Attice dicere, allerdings metaphorisch verschoben von der (ihrerseits im Lateinischen nurmehr metaphorischen) Ebene des Stilistischen zu einer ethischen Begriffsbestimmung: „Ut non omnes, qui Attice, idem bene, sed ut omnes, qui bene, idem etiam Attice dicant“ [daß nicht alle, die attisch sprechen, auch gute Redner sind, sondern umgekehrt, daß alle, die gute Redner sind, auch attisch sprechen]; (Brut. 291). Mit dieser Umkehrung von Definiens und Definiendum hat sich unter gleichbleibend klassizistischem Begriff eine Emanzipation vom imitatio-Diskurs vollzogen. Die Verantwortung für ein situationsangemessen dem ethischen bonus-Ideal genügendes bene dicere kann dem Redner kein (attisches) Vorbild abnehmen. Vollends zur „symbolische[n] Qualitätsmarke“ (Gelzer 1979, 26), nun freilich erneut an den imitatio-Diskurs rückgebunden, wird der Attizismus in der Definition Quintilians, „Attice dicere“ bedeute „optime dicere“ (Inst. or. 12,10,26). Trotz der Wiedereinspeisung in den imitatio-Diskurs aber hat sich eine signifikante Verschiebung ereignet: was ursprünglich ein im strengen Sinn imitativer Begriff war, wird nun zur Umschreibung eines Ideals, das selbst tautologisch die Vorbildlichkeit des Originals benennen könnte. Diese Tendenz zur metaphorischen Verschiebung der im eigentlichen Sinn des Wortes keinerlei ,Fortschritt‘ gestattenden Rolle des imitator hin zur definitorisch nicht einholbaren Position des Originals ist wenig später offensiver noch auf dem Feld der Poesie zu beobachten. Nicht umsonst wird die im Umkreis von Kaiser Augustus und C. Maecenas entstehende Dichtung eines Vergil, Horaz, Properz u. a. unter dem Begriff der augusteischen Klassik gehandelt (und nicht etwa Klassizismus). Auch die augusteischen Dichter, insbesondere Horaz, verstehen wie zuvor bereits Cicero ihr Schreiben als translatio von Griechenland nach Italien; auch bei Horaz erfährt die imitatio-Vorstellung eine metaphorische Verschiebung von der Ebene des Inhaltlichen und Stilistischen („res et […] verba“) hin zu einer ethischen Dimension, mithin eine Verinnerlichung, unter Beibehaltung allerdings der geradezu als individuelle Signatur fungierenden lyrischen Versmaße („numeros animosque secutus“; Epist. 1,19,24 f., vgl. insgesamt 12⫺34). Das Innere aber, der animus, ist der Ort, der begrifflich in signifikante Nähe des für originalschöpferische Qualitäten konstitutiven ingenium rückt. Insofern erscheint es auch folgerichtig, wenn sich Properz poetisch als „Roman[us] […] Callimach[us]“ (Eleg. 4,1,64), Horaz (wenngleich in ironischer Brechung) als ein neuer „Alcaeus“ (Epist. 2,2,99) präsentiert. Doch gehen die augusteischen imitatores des (um die alexandrinischen Dichter erweiterten) klassischen griechischen Kanons in ihrem poetologischen Bestreben, den eigenen Status als Klassizisten ihrerseits in denjenigen von Klassikern zu überführen, noch einen Schritt weiter. Wie Zetzel (1983/84) hat zeigen können, treten die augusteischen Dichter von vornherein unter dem Anspruch an, in der ,klassizistischen‘ imitatio der griechischen Klassiker selbst den Rang von ,Klassikern‘ zu erlangen, was am augenfälligsten in der schon von den Autoren selbst vorgenommenen ,klassischen‘ Buchkomposition zum Ausdruck kommt.
84. Regulative und Normen der Textgestaltung (imitatio vs. aemulatio) An ,Nachahmung‘ erinnert in diesem Gebaren eigentlich nur noch der gleichwohl allenthalben in Gebrauch bleibende Begriff, der nun allerdings eine um so entschiedenere Diversifizierung in eine ,gute‘ und eine ,falsch verstandene‘ imitatio erfährt. Der zweite hier paradigmatisch herausgegriffene Zeitraum, der Renaissancehumanismus von Petrarca bis ins 16. Jh., ist in diachroner und europäischer Perspektive unter dem Aspekt der imitatio vor allem durch zwei Bewegungen geprägt: den Ciceronianismus und den Petrarkismus. Obwohl die Auseinandersetzungen um die imitatio Ciceros selbstredend auf dem Feld des Lateinischen ausgetragen werden, während der Petrarkismus sich programmatisch im volgare entfaltet, konvergieren beide in der Schlüsselfigur Pietro Bembo, der sowohl überzeugter Ciceronianer ist als auch Begründer des Petrarkismus im engeren Sinn (vgl. dazu Borgstedt 2003, 59). In diskursgeschichtlicher Perspektive ist die Beziehung zwischen Ciceronianismus und Petrarkismus weniger als Nebeneinander analoger Entwicklungen zu beschreiben denn als Wechselwirkung von emanzipatorischen Tendenzen und erneuter normativer Regulierung. Im Verhältnis zur ersten Phase epochal entfalteter Wirksamkeit des imitatio-Paradigmas in der römischen Antike stellt der Renaissancehumanismus von vornherein ein Phänomen potenzierter Imitativität dar, dem in dieser Hinsicht ein (auch theoretisch expliziertes) selbstreflexives Moment eignet. Denn die für das humanistische Selbstverständnis konstitutive ,Wiedergeburt‘ der Antike in der eigenen Gegenwart bedeutet nicht nur objektbezogen die imitatio einzelner, zu Vorbildern erklärter antiker Modellautoren bzw. eines antiken Kanons. Vielmehr impliziert die Renaissanceprogrammatik zugleich auch verfahrensbezogen die imitatio des im Rom des 1. vorchristlichen Jhs. formierten imitatio-Diskurses. Exemplarisch reflektiert dies Petrarcas produktive Rezeption des senecanischen Bienengleichnisses, die durch Akzentuierung der Verwandlung des Gesammelten „in aliud et in melius“ (Fam. 1,8,23) zwar das Tun des imitator qualitativ in die Nähe von originaler Schöpfung rückt, diese Aussage aber performativ im imitativen Rekurs auf das bereits von Lukrez und Seneca verwendete Bild unterläuft. Zwar sollen Petrarcas im Dienst literarischer imitatio tätige Bienen aus dem Vorgefundenen Neues und Besseres produzieren, sie selbst bleiben jedoch die altbekannten Bienen und verwandeln sich nicht etwa in das Gegenbild der originell aus sich selbst heraus schaffenden Seidenraupe (vgl. Fam. 1,8,5). Operationen metaphorischer Verschiebung wie die im Attizismusstreit oder von den augusteischen Klassikern praktizierten fallen somit im Renaissancegestus der Wiederholung schon von vornherein dem Verdikt imitativer Wiederholung anheim. Hinzu kommt für die Wiederentdeckung der klassischen Latinität als Idiom einer wiederzuerweckenden Kultur ein doppeltes Moment von Restriktion, das den humanistischen imitatio-Konzepten insgesamt den Stempel ,unfreier‘ Textproduktion aufprägt. Denn die programmatische Rückkehr zum klassischen Latein (anstelle von translatio in die eigene Sprache) bedeutet Schreiben nicht nur in der Fremdsprache, sondern darüber hinaus in einer nicht mehr als lebendige, veränderbare, ,zukunftsoffene‘ langue zu Gebote stehenden Sprache, beschränkt somit die Textproduktion auf die schriftlich fixierte, sakrosankte parole anderer, von der eigenen Gegenwart durch historischen Abstand und Kanonisierung getrennter Autoren. Unter diesen Extrembedingungen aber kommt die lateinischsprachige imitatioReflexion poetologischen Grundproblemen auf die Spur wie der Verhältnisbestimmung von Eigenem und Fremdem, Tradition und Innovation, der Frage nach der Begründbarkeit absoluter Normen oder der Möglichkeit sprachlicher Individualität, so daß die aporetischen Vorgaben nachgerade als experimentell gesucht verstanden werden können. Gegenüber dieser ,ausweglosen‘ Versuchsanordnung nimmt sich das Konzept des Petrar-
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kismus aus wie ein Weg ins Offene. Petrarcas Canzoniere, Referenztextcorpus aller petrarkistischen Textproduktion, bedient sich nicht von ungefähr des volgare, sondern tritt mit der Entscheidung für die nichtantike, um 1230 von Giacomo da Lentino ,erfundene‘ Gattung des Sonetts in die Nachfolge der vom Sizilien Friedrichs II. ausgehenden italienischen Herrschaftsdichtung, die sich im Zeichen mathematisch-naturwissenschaftlicher Rationalität sowohl klerikaler als auch gelehrt-lateinischer Autorität selbstbewußt entzieht (dazu ausführlich Borgstedt 2001, 117⫺167). Gegenläufig zu dieser Emanzipation vom herrschenden lateinischen Diskurs, zu dessen wichtigsten Vertretern Petrarca selbst gehört, markiert die von der Mitte des 16. Jhs. an sich vollziehende Epigrammatisierung des Sonetts (vgl. Borgstedt 2001, 200⫺253), die insbesondere für die französische und englische Petrarca-Rezeption die Weichen stellt, eine wenigstens partielle Unterwerfung der eigengesetzlichen volksprachlichen Gattung unter den antik-humanistischen Normativitätsanspruch. Eine noch rigidere Restringierung findet zeitgleich systemimmanent mit dem Übergang von Petrarca zum programmatischen Petrarkismus unter der Ägide von Pietro Bembo statt. Indem Petrarca durch den Ciceronianer Bembo in den Rang Ciceros erhoben und zum „modello di lingua“ (Hempfer 1987, 257) erklärt wird, erfährt das Italienische mit der daraus resultierenden „Toskanisierung der Dichtersprache“ (Hempfer 1987, 257) eine dem Ciceronianismus analoge Ausrichtung an einer absoluten, in einem begrenzten Textcorpus fixierten Norm. Gerade die Systematisierung, die sich nicht nur auf die sprachlich-morphologische Ebene erstreckt, sondern auch auf Rhetorik, Sprechgestus, metaphorisches Arsenal, bildet freilich andererseits die Voraussetzung dafür, daß das petrarkistische System nicht ans Italienische gebunden bleibt, sondern als die einzelnen Nationalsprachen übergreifender Code in strukturelle Konkurrenz zum Latein (als der europäischen lingua franca) tritt. Mit der seit dem 16. Jh. fortschreitenden Europäisierung der petrarkistischen Bewegung gewinnt auch die Figur der translatio wieder an Boden, die im gleichen Zug erfolgende Auslotung poetischer Freiräume ist am deutlichsten an den (nicht nur parodistischen) Spielarten antipetrarkistischen Dichtens im englischen und deutschen Sprachraum zu beobachten. Daß sich von hier aus, etwa im Falle Shakespeares oder Paul Flemings, freilich nicht unproblematische Brücken zu erlebnislyrischen Paradigmen schlagen lassen, kann wiederum als symptomatisch gelten.
4. Perormative Dimension: Sprachhandeln und textuelle Macht Parallel zur bis ins 18. Jh. prinzipiell unangefochtenen Geltung der imitatio auctorum läßt sich auch die Gültigkeit eines grundlegend anderen Textbegriffs feststellen. Durch ratio und oratio grenzt Cicero (De officiis, 1,50) den Menschen gegen die vernunft- und redelosen Tiere ab; „mit worten herrschen wir!“ heißt es rund sieben Jahrhunderte später im ersten „Reyen“ von Andreas Gryphius’ Trauerspiel Leo Armenius. Diese performative Macht der Rede gilt nicht nur im engeren Sinn für den rhetorisch handelnden Menschen im Bereich öffentlich-politischer Mündlichkeit, sondern auch für ,literarische‘ Texte, deren Reichweite unter dem in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. aufkommenden Begriff der Belletristik nicht einmal annähernd erfaßt wird. Wenn der über Normen und Autoritäten geregelte imitatio-Diskurs als hochgradig autoritär beschrieben werden kann, so eröffnen sich unter performativem Aspekt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, mit diesem Macht-
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potential im Sinne einer pragmatisch auf Sprachhandeln ausgerichteten Textkonzeption umzugehen: durch diese im mainstream eines starken Diskurses gewonnene textuelle Macht den je eigenen Rede- und Schreibzielen Nachdruck zu verleihen; oder aber in subversiver Unterminierung der den Diskurs zentrierenden Autorität(en) und gleichwohl unter ihrem Schutz das freiwerdende Machtpotential umzulenken und unter dem Deckmantel traditioneller imitatio-Doktrin ganz anders geartete Ziele zu verfolgen. Für ersteres stellt eines der wirkungsmächtigsten Beispiele die imitatio morum dar; hervorgegangen aus dem rhetorischen Kunstmittel der Ethopoiia, verschränkt sie sich vom 11./12. Jh. bis zu Petrarca mit der imitatio auctorum, so daß im Idealfall etwa von Dantes Divina commedia höchste lebenspraktische Norm, die imitatio Christi, und höchstes stilistisches Ziel, die imitatio des auctor Vergil, konvergieren und doch einer klaren typologischen Stufung, angezeigt durch den Führerwechsel (von Vergil zu Beatrice), unterliegen (vgl. De Rentiis 1996; 1998, 294⫺300). Die subversive Variante textueller Machtausübung via imitatio-Diskurs sei ebenfalls beispielhaft an zwei Fällen veranschaulicht, der erste nochmals aus dem Rom des 1. vorchristlichen Jhs. Daß der politischen Rede wie dem politischen Schrifttum in der aufgeladenen Atmosphäre eines Bürgerkriegs um so eher der performative Status sprachlichen Handelns zukommt, liegt auf der Hand. Die machtpolitische Auseinandersetzung zwischen Caesar und Cicero wird von letzterem jedoch ganz gezielt aufs literarische Feld verlagert: eine „Profilierung der eigenen politischen Person durch die Bildung“, die „von seinen Zeitgenossen wahrgenommen und als Herausforderung zum Wettstreit verstanden wurde“ (Arweiler 2003, 302; vgl. insgesamt das Kapitel „Aemulatio im literarischen und politischen Feld: Das Beispiel Caesar“, 301⫺ 306). Wie Caesar bereits auf Ciceros Schrift De oratore mit De analogia, einem Werk über den rechten Sprachgebrauch, geantwortet und so seinen „militärische[n] Ruhm […] durch den der Gelehrsamkeit wirkungsvoll flankiert“ hatte (Arweiler 2003, 303), so reagiert er auch auf dem Feld des genus demonstrativum auf Ciceros Lobschrift Cato umgehend mit einem Anticato. Formal lassen sich Caesars (nicht überlieferte) Gegenschriften als ein Spezialfall literarischer imitatio bzw. aemulatio beschreiben: als kontrafazierende Repliken. Berücksichtigt man aber den strategisch-realpolitischen Stellenwert dieser schriftstellerischen Tätigkeit, dann verhandeln beide Kontrahenten „am vorgeblichen Thema Cato […] tatsächlich die eigenen Beziehungen und die aktuellen Fragen der Machtverteilung“, wird „das Medium der Schriftlichkeit als Weg politischer Kommunikation […] von beiden effizient eingesetzt, um Anhänger zu mobilisieren, ohne dabei die Rücksicht auf die dignitas des Gegners außer acht zu lassen“ (Arweiler 2003, 304). Daß auch das zweite Fallbeispiel durch den Kontext eines Krieges bestimmt ist, des Dreißigjährigen nämlich, ist womöglich kein Zufall, wiewohl der Kriegszustand allein gewiß weder notwendige noch hinreichende Bedingung für das Ausgreifen des imitatio-Diskurses in die Performanz darstellt. Die Rede ist von der Gründungsurkunde neuzeitlicher deutschsprachiger Kunstdichtung, Martin Opitz’ 1624 erschienenem Buch von der Deutschen Poeterey. Vordergründig handelt es sich im Verhältnis zu den europäischen Renaissancepoetiken eines Scaliger, Ronsard, Heinsius um nochmalige Potenzierung der imitativen Faktur: imitatio der humanistischen imitatio der antik-römischen imitatio. So jedenfalls wurde die Opitzsche Poetik, ungeachtet ihrer enormen Wirkung, in der Forschung vielfach gesehen, einerseits selbst Produkt weitgehend unselbständiger imitatio, andererseits Anweisung zu Textproduktion mittels einer handwerklich-technisch verstandenen imitatio vor allem der Franzosen und Niederländer (vgl. z. B. Nilges 1988, 177⫺195). Liest man das Buch von der Deutschen Poeterey hingegen vor dem konfessionspolitischen
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Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges, so wird unter der traditionellen Oberfläche der humanistischen imitatio-Poetik ein „kulturpolitisches Manifest“ erkennbar (Jaumann 2002, 194). Mehr noch: eine poetologische Strategie intertextueller ,Kriegsführung‘, die den lebensweltlich gegenwärtigen, seit der Schlacht am Weißen Berg im November 1620 für die protestantisch-calvinistische Seite auf lange Sicht verlorenen Krieg textuell unter umgekehrten Vorzeichen re-inszeniert (vgl. Kaminski 2004, 16⫺52; 69⫺80). Im Licht der konfessionspolitisch motivierten militärischen Auseinandersetzungen im kriegsgeteilten Europa wird so die imitatio von Gedichten Ronsards, der in den Hugenottenkriegen Partei für die katholische Seite des französischen Königs ergriffen hatte, als poetische ,Kriegshandlung‘ kenntlich, als ,Besetzung‘ feindlichen poetischen Terrains durch deutsche Wörter. Umgekehrt eignet der Übernahme der alternierend-akzentuierenden Metrik von den Niederländern eine spezifische militärgeschichtliche Codierung: als rhythmische Archivierung des Sieges der calvinistischen Niederlande über die spanischen Habsburger, der maßgeblich auf die militärtechnischen Errungenschaften der sog. oranischen Heeresreform mit ihrer Disziplinierung der Soldaten durch gleichmäßiges Marschieren gegründet war. Unter der vermeintlichen Homogeneität einer humanistischen res publica litteraria bricht sich so in diesem ersten europäischen ,Weltkrieg‘ in radikaler Aktualisierung des imitatio-Modells ein neues Paradigma Bahn, das den europäischen Kanon in konfessionelle und national(literarisch)e Lager spaltet. Daß sich dieser fundamentale Innovationsschub des poetologischen Normensystems gerade im deutschen Sprachraum vollzieht, ist kein Zufall. Denn ihm war hundert Jahre zuvor mit der Reformation und Luthers Bibelübersetzung eine Entwicklung vorangegangen, die dem volgare in Deutschland eine nachhaltige konfessionspolitische Codierung mitgab (als protestantische Option gegen das römisch-katholische Latein).
5. Forschungspositionen und -desiderate Als charakteristische Signatur der Forschung zur imitatio auctorum kann gelten, daß sie sich ⫺ von wenigen Ausnahmen abgesehen ⫺ fast ausschließlich in Einzelstudien zu konkreten imitativen Text- bzw. Autorenkonstellationen abspielt. Eine umfassende, diachron und europäisch ausgerichtete monographische Darstellung ist Desiderat, muß aber möglicherweise auch grundsätzlich in den Irrealis verwiesen werden. In der dem Format eines Lexikonartikels geschuldeten Skizzenhaftigkeit unternehmen einen Vorstoß in diese Richtung die Artikel zu aemulatio, imitatio auctorum und imitatio morum im Historischen Wörterbuch der Rhetorik (Bauer 1992, Kaminski 1998, De Rentiis 1998). Die Monographie von Petersen (2000) unter dem Titel Mimesis ⫺ Imitatio ⫺ Nachahmung löst solche Erwartungen jedenfalls nicht ein, nicht nur weil sie sich hauptsächlich der Rezeption des aristotelischen μι´μησι/mimesis-Konzepts widmet (insofern ist die Titelformulierung irreführend), sondern auch weil sie, wo sie von imitatio auctorum handelt, extrem reduktionistisch verfährt (vgl. etwa Petersen 2000, 53⫺80 zur römischen Antike, wo der Stellenwert von imitatio auf rhetorische „Nachahmungsübungen“ verkürzt wird, 67; oder 137⫺160 zum „Fall Opitz“). Wenigstens erwähnt sei zudem, daß die vermeintlich fatale Rolle, die Opitz durch seine Formulierung, „die gantze Poeterey“ bestehe „im nachäffen der Natur“, für das nachfolgende μι´μησι/mimesis-Verständnis gespielt habe (Petersen 2000, 11 ff.; 137 ff.), lediglich darin gründet, daß Petersen nicht zwischen natura naturata und natura naturans unterscheidet.
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Nach wie vor grundlegend für alle Beschäftigung mit der imitatio auctorum ist die unabgeschlossen gebliebene monographische Darstellung von Gmelin aus dem Jahre 1932, deren Verdienst es ist, das Prinzip der Imitatio als poetologische Kategorie von epochaler Relevanz entdeckt und literaturgeschichtlich von Dante bis zur Imitatioliteratur nach Erasmus entfaltet zu haben (zur forschungsgeschichtlichen Würdigung von Gmelins Studie vgl. De Rentiis 1996, 3⫺12). Mit Ausnahme von Erasmus, Jacobus Omphalius und Johannes Sturm konzentriert Gmelin sich ganz auf Autoren der Romania, und auch die nachfolgende imitatio-Forschung ist da, wo sie über konkrete Einzeluntersuchungen hinausgeht, eine Domäne der Romanistik geblieben. Das liegt nicht zuletzt daran, daß explizite Reflexion und Diskussion über den produktionsästhetischen oder allgemeiner poetologischen Stellenwert von imitatio besonders in der italienischen und französischen Renaissance anzutreffen sind. Forschungsgeschichtlich lassen sich zwei, vielleicht bereits drei Phasen wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Phänomen der imitatio auctorum unterscheiden. Am Anfang steht mit der Pionierstudie von Gmelin (1932) und unmittelbar daran anschließenden Arbeiten, etwa Ulivi (1959) oder von Stackelberg (1956), die Auslotung eines neuen Forschungsfeldes, die innerhalb eines literaturgeschichtlichen Rahmens überwiegend positivistisch verfährt. Eine stärker begriffsgeschichtlich orientierte Bestandsaufnahme liefert ungefähr zeitgleich für die römische Antike Reiff (1959). Hatte bereits von Stackelberg (1956) die Aufmerksamkeit auf das für den imitatio-Diskurs charakteristische Ausweichen aufs Feld bildlicher Rede gelenkt, so erfährt diese Fragestellung eine Weiterführung in den Untersuchungen von Cave (1979), Pigman (1980) und Greene (1982), nun allerdings unter entscheidend veränderter Akzentsetzung. Was jetzt unter dem Einfluß methodischer Konzepte, die nicht mehr vom autonomen Autorsubjekt ausgehen (Rezeptionsästhetik, Dialogizität, Intertextualität, Dekonstruktion), interessiert, ist die Symptomatik der Bildwahl und ihrer spezifischen Brüche, die Frage nach Intentionalität versus Unfreiwilligkeit von imitatio, die zwiespältige mentale Disposition imitativer Autorschaft, Macht und Notwendigkeit von Epochenkonstrukten, Reflexion auf die Geschichtlichkeit des eigenen Schreiborts u. ä. Nicht einer der geringsten Erträge dieser zweiten Phase methodisch reflektierter imitatio-Forschung ist eine zunehmende Sensibilität dafür, daß der in seinen konstitutiven Oberflächenstrukturen über Jahrhunderte hinweg relativ simpel und konstant bleibende imitatio-Diskurs zur Projektionsfläche grundsätzlicher poetologischer Reflexionen, Fragen und Aporien wird, aus denen sich individuell wie epochal mentalitätsgeschichtliche Profile rekonstruieren lassen. Fortzuschreiben wäre diese seit den ausgehenden 70er Jahren des 20. Jhs. sich vollziehende methodische Wende in der imitatio-Forschung durch konsequentere diskursgeschichtliche Situierung von vermeintlich ,bloß‘ auf poetisch-poetologischem Feld zu konstatierenden imitativen Textkonstellationen. Die unter 4. vorgestellten Überlegungen und Ansätze in diese Richtung sind bislang erst Einzelvorstöße, breiter angelegte Untersuchungen von den verschiedenen Philologien aus bleiben ein Forschungsdesiderat. Klärungsbedarf besteht ferner, gerade infolge dieser fruchtbaren Öffnung der imitatio-Forschung für neuere Intertextualitätskonzepte, hinsichtlich einer differenzierteren Abgrenzung zwischen ,traditioneller‘ imitatio und ,(post)moderner‘ Intertextualität. Daß es mit der schlichten Vorstellung diachroner Abfolge eines nichtnormativen auf ein normatives Paradigma jedenfalls nicht getan ist, haben die Beiträge von Kablitz 1985 und 1986 sowie vor allem von Bauer 1994 bereits deutlich gemacht.
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6. Literatur (in Auswahl) Mit Blick auf die unter Punkt 5. charakterisierte Eigenart der imitatio-Forschung, sich überwiegend in konkreten Einzelstudien zu entfalten, erscheint eine auch nur annähernd repräsentative Forschungsauswahl auf dem knapp bemessenen Raum eines Handbuchartikels von vornherein aussichtslos. Aus pragmatischen Gründen werden daher nur die im Artikel zitierten Beiträge sowie übergreifende und monographische Untersuchungen aufgeführt; für die (vielfach anregende) Einzelforschung wird auf die umfangreichen Bibliographien zu den Artikeln Aemulatio, Imitatio auctorum und Imitatio morum im Historischen Wörterbuch der Rhetorik (Bauer 1992, Kaminski 1998, De Rentiis 1998) verwiesen. Arweiler, Alexander (2003): Cicero rhetor. Die Partitiones oratoriae und das Konzept des gelehrten Politikers. Berlin/New York (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte, 68). Bauer, Barbara (1992): Aemulatio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1, 141⫺187. Bauer, Barbara (1994): Intertextualität und das rhetorische System der Frühen Neuzeit. In: Wilhelm Kühlmann/Wolfgang Neuber (Hrsg.): Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Frankfurt a. M., 31⫺61 (Frühneuzeit-Studien, 2). Borgstedt, Thomas (2001): Topik des Sonetts. Eine pragmatische Gattungskonzeption. Habil.schrift Frankfurt a. M. Borgstedt, Thomas (2003): Petrarkismus. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 3, 59⫺62. Cave, Terence (1979): The Cornucopian Text. Problems of Writing in the French Renaissance. Oxford. Cicero (1990): Brutus. Hrsg. und übers. v. Bernhard Kytzler. Düsseldorf. Cicero (2008): De officiis. Hrsg. u. übers. v. Rainer Nickel. Düsseldorf. De Rentiis, Dina (1996): Die Zeit der Nachfolge. Zur Interdependenz von ,imitatio Christi‘ und ,imitatio auctorum‘ im 12.⫺16. Jahrhundert. Tübingen (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie, 273). De Rentiis, Dina (1998): Imitatio. 2. I. morum. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 4, 285⫺ 303. Dihle, Albrecht (1992): Attizismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1, 1163⫺1176. Gelzer, Thomas (1979): Klassizismus, Attizismus und Asianismus. In: Hellmut Flashar (Hrsg.): Le classicisme a` Rome aux Iers sie`cles avant et apre`s J.-C. Genf, 1⫺41. Gmelin, Hermann (1932): Das Prinzip der Imitatio in den romanischen Literaturen der Renaissance (I. Teil). In: Romanische Forschungen 46, 83⫺360. Greene, Thomas M. (1982): The Light in Troy. Imitation and Discovery in Renaissance Poetry. New Haven/London (Elizabethan Club series, 7). Hempfer, Klaus W. (1987): Probleme der Bestimmung des Petrarkismus. Überlegungen zum Forschungsstand. In: Wolf-Dieter Stempel/Karlheinz Stierle (Hrsg.): Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania. München, 253⫺277 (Romanistisches Kolloquium, 4). Jaumann, Herbert (2002): Nachwort. In: Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Hrsg. v. Herbert Jaumann. Stuttgart, 191⫺213. Kablitz, Andreas (1985): Intertextualität und die Nachahmungslehre der italienischen Renaissance. Überlegungen zu einem aktuellen Begriff aus historischer Sicht I. In: Italienische Studien 8, 27⫺38. Kablitz, Andreas (1986): Intertextualität und die Nachahmungslehre der italienischen Renaissance. Überlegungen zu einem aktuellen Begriff aus historischer Sicht II. In: Italienische Studien 9, 19⫺35. Kaminski, Nicola (1998): Imitatio. 1. I. auctorum. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 4, 235⫺285. Kaminski, Nicola (2004): Ex Bello Ars oder Ursprung der „Deutschen Poeterey“. Heidelberg (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 205).
85. Kriterien der Textgestaltung (virtutes elocutionis)
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Nilges, Annemarie (1988): Imitation als Dialog. Die europäische Rezeption Ronsards in Renaissance und Frühbarock. Heidelberg (Beihefte zur Germanisch-Romanischen Monatsschrift, 7). Petersen, Jürgen H. (2000): Mimesis ⫺ Imitatio ⫺ Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München. Petrarca, Francesco (1933⫺1942): Le Familiari. Hrsg. v. Vittorio Rossi. 4 Bde. Florenz. Pigman, George W. III (1980): Versions of Imitation in the Renaissance. In: Renaissance Quarterly 33, 1⫺32. Quintilian (2006): Ausbildung des Redners. Institutio oratoria. Hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn. 2 Bde. Unveränd. Nachdruck der 3. Aufl. Darmstadt (Texte zur Forschung, 2 u. 3). Reiff, Arno (1959): interpretatio, imitatio, aemulatio. Begriff und Vorstellung literarischer Abhängigkeit bei den Römern. Diss. Köln. Stackelberg, Jürgen von (1956): Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Imitatio. In: Romanische Forschungen 68, 271⫺293. Ulivi, Ferruccio (1959): L’imitazione nella poetica del rinascimento. Milano. Zetzel, James E. G. (1983/84): Re-creating the Canon. Augustan Poetry and the Alexandrian Past. In: Critical Inquiry 10, 83⫺105. Bibliographischer Nachtrag: Müller, Jan-Dirk/Jörg Robert (Hrsg.) (2007): Maske und Mosaik. Poetik, Sprache, Wissen im 16. Jahrhundert. Münster (Pluralisierung & Autorität, 11).
Nicola Kaminski, Bochum (Deutschland)
85. Kriterien der Textgestaltung (virtutes elocutionis: latinitas, perspicuitas, ornatus, aptum) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Das systematische Problem Aristoteles Begriffliches Auctor ad Herennium (Herennius-Rhetorik) Dionysios von Halikarnass Literatur (in Auswahl)
Abstract Since the time of Aristotle, ancient rhetoric has established an inventory of norms to optimize the production of texts. Not by mere chance, the term virtus, aœρετη´ /arete, in this context, originally denotes an ethic norm, since the choice of the proper mean of style orients itself along the lines of the clever choice of the golden mean (aurea mediocritas). Theophrastus applied this concept to a number of virtues (resembling the cardinal virtues of Plato in his Politeia); however, these merely represent aspects of a previous unit that is achieved in the process of persuasion.
85. Kriterien der Textgestaltung (virtutes elocutionis)
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Nilges, Annemarie (1988): Imitation als Dialog. Die europäische Rezeption Ronsards in Renaissance und Frühbarock. Heidelberg (Beihefte zur Germanisch-Romanischen Monatsschrift, 7). Petersen, Jürgen H. (2000): Mimesis ⫺ Imitatio ⫺ Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München. Petrarca, Francesco (1933⫺1942): Le Familiari. Hrsg. v. Vittorio Rossi. 4 Bde. Florenz. Pigman, George W. III (1980): Versions of Imitation in the Renaissance. In: Renaissance Quarterly 33, 1⫺32. Quintilian (2006): Ausbildung des Redners. Institutio oratoria. Hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn. 2 Bde. Unveränd. Nachdruck der 3. Aufl. Darmstadt (Texte zur Forschung, 2 u. 3). Reiff, Arno (1959): interpretatio, imitatio, aemulatio. Begriff und Vorstellung literarischer Abhängigkeit bei den Römern. Diss. Köln. Stackelberg, Jürgen von (1956): Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Imitatio. In: Romanische Forschungen 68, 271⫺293. Ulivi, Ferruccio (1959): L’imitazione nella poetica del rinascimento. Milano. Zetzel, James E. G. (1983/84): Re-creating the Canon. Augustan Poetry and the Alexandrian Past. In: Critical Inquiry 10, 83⫺105. Bibliographischer Nachtrag: Müller, Jan-Dirk/Jörg Robert (Hrsg.) (2007): Maske und Mosaik. Poetik, Sprache, Wissen im 16. Jahrhundert. Münster (Pluralisierung & Autorität, 11).
Nicola Kaminski, Bochum (Deutschland)
85. Kriterien der Textgestaltung (virtutes elocutionis: latinitas, perspicuitas, ornatus, aptum) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Das systematische Problem Aristoteles Begriffliches Auctor ad Herennium (Herennius-Rhetorik) Dionysios von Halikarnass Literatur (in Auswahl)
Abstract Since the time of Aristotle, ancient rhetoric has established an inventory of norms to optimize the production of texts. Not by mere chance, the term virtus, aœρετη´ /arete, in this context, originally denotes an ethic norm, since the choice of the proper mean of style orients itself along the lines of the clever choice of the golden mean (aurea mediocritas). Theophrastus applied this concept to a number of virtues (resembling the cardinal virtues of Plato in his Politeia); however, these merely represent aspects of a previous unit that is achieved in the process of persuasion.
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VIII. Textgestaltung im Rahmen der klassischen Rhetorik
1. Das systematische Problem Die antike Rhetoriktheorie verfügt über ein sehr weit ausdifferenziertes Konzept sprachlicher Kodebildung. Dieser Kode soll dazu dienen, durch den Einsatz sprachlicher Mittel jeweils das Optimum des rhetorisch Gebotenen zu erreichen. Die Frage, warum ein solches Optimum anzustreben ist, ergibt sich aus der antiken techne-Konzeption. In dieser geht es stets darum, dass ein technisch gesehen bestes Resultat erzielt wird; dabei kann zwischen extrinsischen und intrinsischen Kriterien unterschieden werden. Je ausdifferenzierter eine antike techne (Fachtheorie) sich gibt, desto mehr wird das intrinsische Optimum für den Techniten bestimmend. Im Zuge solcher Konzentration kann der extrinsische Erfolg einer ,technischen‘ (d. h. theoriekonformen) Produktion zwar nicht vollständig ausgeblendet werden, doch es wird deutlich, dass der Erfolg technisch eingesetzter Mittel nicht unbedingt über die technische Richtigkeit dieser eingesetzten Mittel entscheiden kann. Die wichtigsten und frühesten Überlegungen zu diesem Komplex finden wir in Aristoteles Rhetorik. Ausgehend von seiner Tugendlehre, in der zwischen richtigem und falschem Handeln allein nach Maßstäben der Angemessenheit entschieden wird, entwirft er das richtige und falsche Handeln des Orators auch im Bereich der sprachlichen Ausarbeitung nach dem Prinzip des Angemessenen (πρε´ πον/prepon). Der Orator handelt also nicht als vir bonus richtig, d. h. aus rhetorisch betrachtet sachfremden moralischen Aspekten, sondern entsprechend den Strukturanalogien zum Handeln im allgemeinen Sinn wird speziell rhetorisches Handeln auf eine Werttaxonomie zurückgeführt. Im Zuge hierauf bezogener Entscheidungen im Vertextungsprozess können sowohl Aspekte des Superkodes als auch untergeordnete Kodefragen beantwortet werden.
2. Aristoteles Aristoteles definiert das Angemessene der sprachlichen Gestaltung (λε´ ξι/lexis) als dasjenige, das durch den Einsatz von pathos und ethos den zu behandelnden Gegenständen analog ist. Diese Analogie beruht darauf, dass weder über solche Gegenstände, die dem Publikum als bedeutend gelten, nur in einem sprachlich unaufälligen Kode geredet wird, noch über Dinge, die beim Publikum als banal gelten, in einem zu aufgeladenen sprachlichen Kode. Sollte das nicht bedacht werden, führt dies zu komödiantenhafter Wirkung; dieser Effekt ist für das rhetorische Handeln aber verheerend. Die Konzeption des Angemessenen (Rhet. 3,7,1⫺2) wird ebenfalls in den Nikomachischen Ethiken 4,2, 1122a18⫺26 (nach ed. Bywater) als dasjenige bestimmt, das in einem bestimmten Verhältnis zu etwas stehen müsse, und zwar unter Beachtung der Sachlage und der Situation. In den Nikomachischen Ethiken 10,8; 1178a10 ff. (nach ed. Bywater) zeigt sich, dass es in den elementaren Bereich menschlichen Handelns gehört. Entsprechend den Aristotelischen Konzeptionen zur rhetorischen Beweisführung gemäß ethos, pathos und logos führt der Stagirit solche Unterscheidungen auch für die Wahl der angemessenen lexis an. So unterscheidet er drei Situationen, in denen es besonders wichtig sei, analog den zugrundeliegenden Gegenständen (πρa¬γματα/pragmata) zu sprechen. So müsse man etwa über Fälle von Gewalt (yÕβρι/hybris) als ein Zorniger sprechen, geht es aber um Unfrommes (aœσεβη˜ και` αiœσχρa¬ /asebe kai aischra), dann müsse man wie jemand auftreten, der sich scheue, etwas auszusprechen, dem seine ganze Entrüstung gelte. Dagegen müsse über Lobenswertes (eœπαινετa¬ /epaineta) bewundernd gesprochen werden, und über Mitleid Er-
85. Kriterien der Textgestaltung (virtutes elocutionis)
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regendes als ein Mensch, der sich niedergeschlagen fühlt (eœλεεινa¬ /eleeina, vgl. Rhet. 1408a16⫺19). Entscheidend für die Wahl der sprachlichen Mittel ist also die psychosoziale Komponente des Gegenstandes, über den der Redner zu sprechen hat. Aristoteles führt dazu einen psychologischen Grundsatz an: Die Seele werde bei solchen Performanzen regelmäßig in die Irre geführt, und zwar unabhängig von der Frage, ob sie tatsächlich glaube, was der betreffende Sprecher sagt (Rhet. 3,7,4⫺5; 1408a20⫺24). Das bedeutet also, dass affektische Performanz wie im Theater so auch in der Rhetorik regelmäßig auf eine Grunddisposition der menschlichen Rezipienten zielt: Die Seele kann sich bestimmten pathetischen Einwirkungen grundsätzlich schwer entziehen und gerät, solchen Einwirkungen ausgesetzt, regelmäßig in diejenigen Affekte, die im Sinne der Entscheidung (κρι´σι/krisis), um die es der Rhetorik gehen muss, relevant sind. Diese Irreführung der menschlichen Seele scheint für Aristoteles zu den zentralen Aspekten rhetorischen Handelns zu gehören. Man kann diesen Fehlschluss der Psyche auch als Verwechslung von notwendig und hinreichend erklären. Weil also oft Menschen, die emotional bewegt auftreten, dies tun, weil ihnen etwas widerfahren ist, schließt die Seele fälschlich, dass jeder Mensch, der so auftritt, sich einer emotional aufregenden Situation hatte aussetzen müssen. Sozialpsychologisch interessant ist diese Bemerkung, weil tatsächlich Phänomene wie Massenhysterie, die wir heute in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen wahrnehmen, auf diesem psychischen Mechanismus beruhen. Rhetoriktheoretisch bedeutsam ist, dass Aristoteles solche Phänomene nicht als ein Massenphänomen sui generis darstellt (das wäre für die Antike in solcher Form wohl auch nicht denkbar), sondern sehr konkret bei der Frage der technisch gesehen richtig zu wählenden Sprachkodeebene ansetzt. Aristoteles nennt eine solche Form, emotional qualifiziert aufzutreten, auch eine auf Anzeichen (σημει˜α/semeia) beruhende Beweisführung. Semeia deshalb, weil, wie erwähnt, die Seele eben bestimmte Anzeichen registriert, die sie zu dem vom Redner intendierten (Fehl-)Schluss führen. In der lexis kann damit allerdings auch das ethos des Redenden gesteuert werden. Es geht hierbei insbesondere um soziologische Aspekte, also volks- oder altersmäßig bestimmte Zugehörigkeit (Rhet. 1408a27⫺30). Hierbei wird die hexis (eÕξι, Habitus, Haltung) als dasjenige definiert, wodurch ein Mensch einen bestimmten Typ im Leben repräsentiert. Also nicht jede hexis ist relevant, sondern nur diejenige, die jene lebensqualifizierende Funktion erfüllt. Das Regulativ des prepon (πρε´ πον, Angemessenheit) ist der kairos (καιρο´ , richtiger Augenblick). Damit ist ein Begriff genannt, der zum Kerninventar rhetorischen Handelns gehört. Den kairos zu beachten, bedeutet die Situativität der rhetorischen Handlung zu berücksichtigen. Das kann sogar explizit erfolgen. Aristoteles nennt dies eine Art ,Generalrezept‘. Ein solches sieht eine Rücknahme des gleichwohl Ausgesprochenen vor oder auch die Kommentierung dessen, was gesagt worden ist. Dadurch gibt sich der Redner den Anschein von Objektivität, weil er den affektierten Ausdruck, der der techne entspricht, gewissermaßen relativiert; in römischer Terminologie findet sich hier der Grundsatz des artem celare, d. h. dass man die Kunstmäßigkeit zu verbergen habe. Der Redner scheint sich also seiner Mittel bewusst zu sein, er versucht nicht das Publikum durch solche Mittel zu überwältigen, sondern strebt danach, seinen Einsatz von sprachlichen Mitteln gewissermaßen transparent zu machen. Damit begibt er sich dem Anschein nach auf dieselbe Stufe wie die Rezipienten. Der Effekt solchen uneigentlichen Sprechens oder metasprachlichen Handelns kann darin gesehen werden, dass der Redner sich vorübergehend mit dem Auditorium gemein macht. Auf derselben Linie solcher Zurücknahme bewusst eingesetzter Kunstmittel liegen denn auch die von Aristoteles ge-
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VIII. Text