Rhetorik fur Manager
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Zitiervorschau

Baldur Kirchner Sebastian Kirchner Alexander Kirchner Rhetorik für Manager

Baldur Kirchner Sebastian Kirchner Alexander Kirchner

Rhetorik für Manager Rede als Ausdruck der Persönlichkeit 2., überarbeitete Auflage

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Dieser Ausgabe liegt ein Post-it® Beileger der Firma 3M Deutschland GmbH bei. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser um Beachtung.

1. Auflage 1993 2. Auflage März 2006 Alle Rechte vorbehalten © Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Ulrike M. Vetter Der Gabler Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Nina Faber de.sign, Wiesbaden Druck und buchbinderische Verarbeitung: Wilhelm & Adam, Heusenstamm Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 3-409-29173-3

Dieses Buch ist dem Freund Willy Kober gewidmet. Ich danke ihm für vieles Gute, das ich in unseren zahlreichen Begegnungen empfangen durfte.

Baldur Kirchner

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„Ein Mensch ist erst da durch das Wort, das Wort erzeugt Gegenwart. Vor dem Wort war die Zeit verschwommen, andauernder Übergang von Vergangenheit in Gegenwart und Zukunft, ineinander sich auflösend. Das Wort erzeugt eine so intensive Gegenwart, dass es ist, als sei nur sie immer da gewesen, Vergangenheit und Zukunft sind in dieser Gegenwart wie aufgesogen.

Das Wort selber war verhüllt, bis es sich in der Gegenwart enthüllte. Das Wort kommt zu sich selbst in ihr. Doch nicht jedes Wort will gegenwärtig sein, oft bleibt eines verhüllt: das Verhüllende ist ein Versprechen, dass es sich einmal in der Zukunft enthülle und gegenwärtig werde.“

(Max Picard, 1888–1965)

Inhalt

Vorwort ________________________________________________ 9 Einleitung_______________________________________________ 15 1. Zur Bedeutung von „Rhetorik“ _____________________________ 15 2. Rede und Führen ________________________________________ 21

Teil A – Das Bild des Redners I. Die psychischen Grundqualitäten _________________________ 33 1. Selbstakzeptanz _________________________________________ 33 2. Emotionale Ausdrucksfähigkeit ____________________________ 40 3. Soziabilität ____________________________________________ 42 4. Identifikationsfähigkeit ___________________________________ 52 II. Das habituelle Erscheinungsbild__________________________ 55 1. Körperlichkeit __________________________________________ 55 2. Gesichtsausdruck________________________________________ 63 3. Gestischer Ausdruck _____________________________________ 68 III. Das sprecherische Erscheinungsbild______________________ 75 1. Atmung _______________________________________________ 75 2. Artikulation ____________________________________________ 78 3. Intonation _____________________________________________ 82 4. Modulation ____________________________________________ 85

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Inhalt

5. Sprechpausen _________________________________________ 87 6. Lautstärke ____________________________________________ 93

Teil B – Das Bild der Rede I. Angewandte Rhetorik __________________________________ 101 1. Denkdisziplin _________________________________________ 2. Freies Sprechen________________________________________ 3. Der Umgang mit dem Wort_______________________________ 4. Der Modus des Gesprochenen ____________________________ 5. Der Satzbau___________________________________________ 6. Überzeugungsvermögen _________________________________

101 125 135 144 153 158

II. Literarische Rhetorik _________________________________ 173 1. Der gedankliche Entwurf (inventio) ________________________ 2. Das Ordnen des Entwurfs (dispositio) und die Teile der Rede (partes orationis) _______________________________ 3. Das sprachliche Gewand (elocutio) ________________________ 4. Das Einüben der Rede (exercitatio) ________________________

174 183 191 216

Schlussbemerkung ______________________________________ 218 Ergänzende Literatur ____________________________________ 219 Die Autoren ____________________________________________ 220 Stichwortverzeichnis _____________________________________ 222 Anmerkungen __________________________________________ 226

Vorwort

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Vorwort

1. Wer redet, spricht stets auch über sich selbst. Rhetorische Auftritte sind auch persönliche Selbstbekundungen des Sprechenden. Zugleich mit dem, was ein Redner an Informationen vermittelt, gibt er sich in seiner Persönlichkeit zu erkennen. Der sprechende Mensch – der unaufdringlich monologisierende wie der im öffentlichen Dialog auftretende – teilt unaufhörlich Zeichen seiner Persönlichkeit mit. Er ist geradezu eingebunden in den Zwang, sich dem Erwartungswillen der Zuhörer nach menschlich Erlebbarem zu stellen. Schon das leibhaftige Dasein des Sprechenden drückt für den Zuhörer Sympathie oder Ablehnung aus. Die Art und Weise, in der sich ein Redner gebärdet, prägt die Atmosphäre menschlicher Nähe oder sachlichen Entfremdens. Aus dem Leiblichen treten Hinwendung (Martin Buber) zum Mitmenschen, Interesse an den Zuhörenden und genaues Wahrnehmen ihrer Reaktionen hervor. Im Sprechen und in der Sprache des Redners schließlich öffnet sich sein Inneres für den, der darin Einlass begehrt. Ein Sprechender kann sich der Wahrnehmung seiner – allerdings aufmerksamen – Kommunikationspartner nicht entziehen. Körper, Sprechen und Sprache besitzen ihren jeweils eigenen Mitteilungscharakter. Diese Originalität des Elementaren bringt einen großen Teil jener Mitteilungswerte mit, von der die Beziehung des Redners zu seinen Zuhörern oftmals getragen wird. Den anderen Teil des tragfähigen Miteinanders oder des zwiespältigen Verbleibens bestimmt das inhaltlich Gesagte. 2. Rhetorisches Begegnen ist auch immer wertendes Begegnen. Die körperliche, stimmlich-sprecherische und sprachliche Selbstdarstellung des Sprechenden prägt die Eindrücke im Zuhörer. Die individuellen Ausdruckselemente des Redners verwandeln ihn zu einem unverwechselbaren Träger von Erlebnissen, Befindlichkeiten und Emotionen. Diese Grundzüge einer solchen Selbstmitteilung lassen aber auch im Zuhörer flüchtige oder bleibende Bilder entstehen, an denen sich seine Wertbe-

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Vorwort

ziehung orientiert. Spricht der Redner in den Zuhörenden Identifikationswünsche an, trifft er mit seiner Darstellung auf erwartete Inhalte, so kann er sich wohl der Gunst des Publikums sicher sein. Provozierende, arrogante oder ignorierende Haltungen des Redners lösen auch im Zuhörerkreis Abwehrhaltungen aus. Da sich gelungene Rede auch um das Überzeugen bemüht, wird ein vielfältiger Aufbruch des Redners aus seiner Innenwelt notwendig sein, um dem kommunikativ Gemeinsamen zu dienen. Dabei mögen die persönlichen Darstellungsweisen des Sprechenden mit den symbiotischen Erlebnisangeboten der Zuhörer zu einem menschlichen Miteinander verschmelzen. Redner und Zuhörer werden so zu einem kommunikativen Gebilde geformt, das den künftigen Interaktionsstil mit personaler und sozialer Würde befruchtet. 3. Dieses Buch ist ein Bildungsangebot für Manager und Führende. Möglicherweise können Führende in der Wirtschaft und Politik Reden halten. Nicht selten präsentieren sie jedoch fremdes Gedankengut, das Redenschreiber mühsam erarbeitet und zusammengestellt haben. Auch durch diesen Stil einer reproduzierenden Darstellung tritt bei vielen Führenden eine menschliche Selbstentfremdung ein, die persönliche Originalität auf ein Maß kalten, maskenhaften Kommunizierens herabsetzt. X

Reproduzierte Rede ist meist flache, gestanzte Präsentation einer rückgebildeten Sprachkultur.

In über dreißig Jahren persönlichkeitsbildender Arbeit haben wir in Begegnungen mit Führenden unterschiedlicher Hierarchien bestätigt gefunden, wie wenig überzeugend manche Aussage klang, weil sie zu sehr dem Muster der öffentlichen Sprachschablone folgte. Dieses unreflektierte Angleichen an eine vermeintlich allseits angesehene Sprachlandschaft lässt letztlich nur den matten Glanz der zeitgenössischen Mediensprache erkennen. Es scheint, als finde in den zahlreichen Fernsehkommentaren, Magazinsendungen und Talk-Shows mehr eine Sprachzerstörung als eine kreative Spracherneuerung statt. Manager und Politiker übernehmen solche Sprachmuster in ihre eigenen rhetorischen Darstellungen und meinen, dadurch besonders aktuell und originell zu wirken. Wo die überbetonte fachliche Kompetenz das geistige Flussbett fast ganz ausgetrock-

Vorwort

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net hat, kann der Sprechende kaum tiefe gedankliche Ergüsse strömen lassen. X

Rede ist Ausdruck der Persönlichkeit. Rhetorische Bildung möge wieder zu einem elementaren Bestandteil der Persönlichkeitsbildung werden.

Von dieser Maxime lassen wir uns in unserer Arbeit leiten. Ein großer Teil der Ergebnisse dieses persönlichkeitsprägenden Tuns ist in das vorliegende Buch eingeflossen. Es will somit rhetorische Bildung als Ausdruck von Persönlichkeitsbildung vermitteln. Wir wenden uns allerdings mit dieser Publikation auch an den „Markt der Rhetorik“, der von manchen Scharlatanen und undurchsichtigen Bildungshändlern heimgesucht wird. Der unerfahrene Seminarteilnehmer kann oft nicht ahnen, was ihn bei einem Rhetorikseminar erwartet. Wer sich als Seminarleiter damit brüstet, mit den Teilnehmern eine besonders harte Gangart zu praktizieren, profiliert sich gern auf Kosten derer, von denen er lebt. X

Eine angsterfüllte Seminaratmosphäre verhindert den Zugang zur Persönlichkeit des Teilnehmers. Seine Abwehrhaltungen blockieren den persönlichen Erkenntnisprozess.

Die harte kritische Haltung eines Seminarleiters deutet vermutlich auf seine eigenen psychischen Fehlbildungen hin. Sein Verhaltensprinzip lautet wohl: Distanz durch Härte. Ein solches indirektes Selbstbekenntnis führt beinahe zwangsläufig zu einem „Verfall der Aura“1. Verhaltensnormierende, vorwiegend auf Techniken ausgerichtete Seminare in Rhetorik produzieren häufig menschliche Marionetten, nicht aber ihrer Individualität verpflichtete sprechende Persönlichkeiten. Rhetorische Rezepte sind deshalb bedenklich, weil sie von der Annahme ausgehen, die Menschlichkeit des Sprechenden, seine zwingend damit verbundene menschliche Ausstrahlung sei durch das Beobachten von Regeln zu erreichen. Uns erscheint dies als eine menschenverachtende Haltung.

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Vorwort

Menschlichkeit kann nicht durch Regelbeobachtung überzeugend vermittelt werden. Vielmehr ist fundamentale Herzensbildung vonnöten.

Die Lektüre dieses Buches kann die Teilnahme an einem Rhetorikseminar nicht ersetzen. Denn Rhetorik wird in der Praxis erlernt! Doch das aufmerksame Lesen dient der intensiven Vorbereitung auf ein Seminar. Dieses Buch ist auch deshalb ein Bildungsangebot für Manager, weil es zur Selbstanalyse und Selbstkontrolle anleitet. Das sittliche Ergebnis solcher Bemühungen ist die Selbsterkenntnis. Ohne das gründliche Wissen um die rhetorische Wirkung der eigenen Persönlichkeit und ohne den aufbereiteten Sinn für sittliches Handeln durch Rede kann der Sprechende nicht wahrhaft glaubwürdig werden. Die Rede trägt auch einen sittlichen Gestaltungsanspruch an den Redner heran. Jener Führende wird ihm am ehesten gerecht werden, der im Gesagten seinen sittlichen Akzent setzt. Uns geht es in dieser Publikation auch um die Nützlichkeit von Rhetorik für den Alltag des Führenden. Letztlich ist ja nur die pragmatische Rhetorik die für die Gestaltung des Lebensalltags sinngebende Form, die Erlebnis- und Gegenstandswelt zu thematisieren. In dieser Hinsicht ist Rede als soziales Handeln auch Ausdruck des Führens und damit nützlich. Der Weg der auftretenden Führungspersönlichkeit ist heute wohl mehr markiert durch den Wandel von der sachbeschreibenden Aussage hin zu geistiger Selbstanzeige. Gleichwohl bleiben die faktischen Inhalte bestehen. Doch das menschliche Wie des Darstellenden zieht die Zuhörer in seinen Bann. Auf dieses Wie werden wir vor allem eingehen. In ihm liegt die Beziehung zwischen Rede und Persönlichkeit verankert. Dazu werden wir das Bild des Redners nach seinen psychischen Grundqualitäten, nach seinem habituellen und sprecherischen Erscheinen betrachten. Von der Persönlichkeit des Sprechenden wesentlich gezeichnet ist das Bild seiner Rede. Denn auch das gesamte Sprachgeschehen, das er initiiert, ist ein Ausdruck seines geistigen Selbstverständnisses und seines persönlichen Verdeutlichens. In dieser Selbstverdeutlichung liegt das Fundament für viele Identifikationsangebote, die der Redner durch sein geistig-subjektives Erscheinen unterbreitet.

Vorwort

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Das sprachliche Selbstzeugnis des Führenden, sein persönlicher Redestil, die Schriftlichkeit seiner literarischen Rhetorik – alle diese Elemente seines sprachlichen Handelns charakterisieren ihn als einen Menschen, der kommunikative Kompetenz besitzt und verkörpert. 4. Organisatorisches. Der Ursprung der Rhetorik legt es nahe, gelegentlich griechische oder lateinische Quellen zu zitieren. Dies gilt vor allem für das zweite Kapitel des Teiles B, das mit „Literarische Rhetorik“ überschrieben ist. Wir bemühen uns, die Übersetzungen ins Deutsche eher dem pragmatischen Sinnverständnis anzunähern, als sie wörtlich zu übertragen. Als Sekundärliteratur sei besonders das Standardwerk von Heinrich Lausberg „Handbuch der literarischen Rhetorik“ hervorgehoben. An ihm haben wir uns als Nachschlagewerk grundsätzlich orientiert. 5. Zur Neuauflage. „Rhetorik für Manager“ ist die überarbeitete Auflage des ursprünglichen Titels „Rhetorik für Führende“, das Baldur Kirchner 1992 für den Gabler-Verlag schrieb. Es erfreut uns sehr, dass wir mit dieser neuen Ausgabe unsere Auffassung über Rhetorik und die Persönlichkeit des Redners gemeinsam darstellen können. Insofern ist dieses Gemeinschaftswerk Ausdruck nicht nur unserer persönlichen, sondern auch unserer inhaltlichen Nähe zueinander.

Ettenbeuren, im März 2006 Baldur, Sebastian und Alexander Kirchner

Zur Bedeutung von Rhetorik

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Einleitung

1. Zur Bedeutung von „Rhetorik“ Sobald das Wort „Rhetorik“ erklingt, dröhnen bei vielen älteren Menschen die Lautsprecher der Vergangenheit in den Ohren. Das, was als eine frohe Botschaft verkündet wurde, enthüllte sich nach einiger Zeit als eine geistige Restriktion. Was nach der Machtergreifung wie eine goldene Schwelle in eine neue Epoche schimmerte, erwies sich nach zwölf Jahren als ein Gang über die Felder leiblicher und moralischer Tode. An diesem Morden war der Missbrauch der Rhetorik im Nationalsozialismus elementar beteiligt. Der ideologische Neurotiker Goebbels konnte bereits am 31. Juli 1932 die Mindergefühle des deutschen Volkes in eine Kampfansage verwandeln, die später durch ihre hoffnungsferne Radikalität alles Konstruktive niederwalzte. Er sagte: „Deutsches Volk von Berlin! Ich stehe als Vertreter der größten Millionenbewegung, die der deutsche Boden jemals getragen hat, nicht vor Dir, um Deine Stimme, Deine Gnade oder Deine Verzeihung zu erbetteln. Ich will nur, Volk, dass Du gerecht bist. Du sollst ein Urteil abgeben über die vergangenen vierzehn Jahre der Schmach, der Schande, des Verfalls und der nationalen politischen Demütigung, und Du sollst darüber entscheiden, ob die Männer und Parteien, die für diese vierzehn Jahre verantwortlich gemacht werden müssen, noch weiterhin das Recht besitzen, die Macht und die Verwaltung in ihren Händen zu behalten.“2 Die groteske Verfehlung rhetorischer Sinnbestimmung setzte sich nach dem 2. Weltkrieg in den Agitationsbemühungen der damaligen Deutschen Demokratischen Republik fort. Die „Parteiarbeiter“ wurden ermuntert, „Rhetorik im Dienste sozialistischer Bewusstseinsbildung“3 zu

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Einleitung

sehen. In einer Anleitung für Propagandisten der ehemaligen SED lesen wir: „Im Überzeugungsprozess kommt dem Gesichtspunkt der Wirkung von Sprache auf den Menschen eine große Bedeutung zu. In diesem Sinne berücksichtigt die Rhetorik die erkenntnis-, gefühls- und handlungsauslösende Wirkung der Sprache auf Menschen, sie untersucht die rednerischen Wirkungsmittel, die am besten geeignet sind, unsere sozialistische Weltanschauung wirkungsvoll zu verbreiten, sozialistische Überzeugungen zu bilden, zu festigen und Initiative auszulösen ... Die auf dem Marxismus-Leninismus aufbauende Rhetorik dient der Aufgabe, das schöpferische Urteilen und Handeln aller Werktätigen im Sinne der wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse zu fördern.“4 Die Parlamentsdebatten des Deutschen Bundestages spiegeln das sittlich Zweifelhafte der politischen Auseinandersetzungen wider. Das „Parlamentarisches Schimpf- und Schmunzellexikon“ gibt Auskunft darüber, in welch verletzender Weise die Abgeordneten einander begegnen.5 Nicht selten tauchen in Redewendungen wie „das war rhetorisch gut“ oder „Ihre Rhetorik hat wieder einmal gesiegt“ oder „vor dieser Art Rhetorik habe ich Angst“ die zwiespältigen Gefühle von Unterlegenen auf. In der Tat vermochten Menschen mit desintegrativen Kräften in das Innere vieler Kommunikationspartner einzudringen, um ihre persönliche Identität zu bedrohen oder gar aufzulösen.6 Wen wundert es daher, dass die Rhetorik als kommunikatives Phänomen noch immer verdächtigt wird, eine Pseudo-Harmonie vorzugaukeln, die den Pfad der Redlichkeit häufig genug verlässt?! Die Rhetorik erscheint daher zunächst sehr suspekt. Viele fühlten sich von Führenden mit rhetorischer Eloquenz „an die Wand gedrückt“. Manager selbst suchen in der Rhetorik noch ein Machtmittel, das ihnen hilft, ihre heimlichen Dominanzwünsche zu kultivieren. Bei vielen Skeptikern hat sich inzwischen eine Rhetorikverachtung ausgebreitet, die von eindringlichem Warnen vor Doppelzüngigkeit und öffentlicher Lüge begleitet ist. In einem Land, in dem die wohlwollende

Zur Bedeutung von Rhetorik

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Parlamentsrede selten geworden ist, besteht die Gefahr, einer populistischen Rhetorik zu verfallen. X

Populistische Rhetorik fördert die Rhetorikverachtung.

Wer die flüchtige Gunst der Masse gewinnen will, wird sich auch künftig in den flachen Gewässern des Zeitgeistes aufhalten. Die Rhetorik als geistige Partnerin wird erst dann wieder an Ansehen gewinnen, wenn sie es wagt, gegebenenfalls gegen den Zeitgeist aufzutreten. Offensichtlich aber trägt das Wesen der Rhetorik einen irritierenden Dualismus in sich: Sie ist Medium des interpersonalen Miteinanders und zugleich Urheberin ihres Selbstverlustes. Das eine lässt sie überzeugen, das andere macht sie schwach. Die Spaltung im Redner bewirkt ein gespaltenes Antlitz der Rhetorik. Das sittlich Gute in der Person des Sprechenden strahlt auf das rhetorische Erleben des Zuhörers aus. Das maskenhaft Unberechenbare in der Darstellung dagegen flößt Misstrauen und Souveränitätsverlust ein. Im gleichnamigen platonischen Dialog geht Gorgias in einem Disput mit Sokrates auf die Macht der Rhetorik und ihren redlichen oder unredlichen Gebrauch ein. Gorgias sagt: „Denn es gibt nichts, worüber nicht ein Redner überredender spräche als irgendein Sachverständiger vor dem Volke. Die Kraft dieser Kunst ist also in der Tat eine solche und so große. Indessen muss man sich, o Sokrates, der Redekunst bedienen wie auch jeder andern Streitkunst. Denn auch andere Streitkunst muss man nicht deshalb gegen alle Menschen gebrauchen ... Nicht also die Lehrer sind böse, noch ist die Kunst hieran schuld und deshalb böse, sondern die, glaube ich, welche sie nicht richtig anwenden. Dasselbe nun gilt auch von der Redekunst.“7 Die Rhetorik ist ein Kind der demokratischen Gesellschaft. Das alte Griechenland mit seiner demokratischen Struktur erlaubte, ja forderte von seinen freien Bürgern, sich in der Volksversammlung zu äußern. Es gehörte ebenso zur Gepflogenheit der Polisdemokratie, dass sich die Bürger vor Gericht selbst zu vertreten hatten. Deshalb wurden die politi-

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Einleitung

sche und die Gerichtsrede zu den bedeutendsten Redegattungen herangebildet. Angesichts der Verpflichtung zu öffentlichem Sprechen bezog der Rhetorikunterricht Übungen zur Schlagfertigkeit ebenso ein wie das Einprägen von vorgefertigten Argumenten und Allgemeinplätzen (loci communes). Im ergänzenden Grammatikunterricht sahen die griechischen und römischen Redelehrer eine Form der gedanklichen Disziplinierung und eine Anleitung zu vernünftigem Sprechen. Die Teilnahme am Rhetorikunterricht bildete die Voraussetzung, um ein öffentliches Amt bekleiden zu dürfen. Für die Ausbildung von Managern und Führenden der Gegenwart schlagen wir vor, Lehrstühle zur Persönlichkeitsbildung einzurichten. Im Rahmen dieser obligatorischen Veranstaltungen wäre es möglich, bereits jungen Menschen den Weg zu überzeugender kommunikativer Kompetenz zu ebnen. Die begriffliche Bedeutung von „Rhetorik“ reicht zum griechischen „rhetos“ – „das Gesagte“ – zurück. „Rhetor-ik“ bedeutet damit ursprünglich die Lehre, die Kunst, die Art und Weise, wie das „Gesagte“ darzustellen ist. Das Suffix „-ik“ weist auf einen adjektivischen Rest hin, der im Griechischen „rhetorike techne“ lautete. „Techne“ bedeutet „Kunst, Fertigkeit, Art und Weise des Verfahrens“. Mit diesem Titel bezeichnete im 4. Jahrhundert v. Chr. Aristoteles auch seine Lehrschrift über die Rhetorik. Über das lateinische „ars rhetorica“ ist schließlich die sprachliche Kurzform von „Rhetorik“ in den heutigen Sprachgebrauch eingeflossen. Auch in der römischen Welt ist der öffentlich Redende der eigentlich handelnde politische Bürger. Der Redner – orator – nimmt zu den öffentlichen, gemeinsamen Angelegenheiten – der res publica – Stellung. Es zeichnet ihn aus, die öffentliche Auseinandersetzung zu suchen und in der politischen Debatte des römischen Senats um die Mehrheit der Stimmen zu ringen. Wie die Volksversammlung, so fanden auch die Gerichtsprozesse öffentlich unter freiem Himmel statt. Auf dem Forum Romanum wurden viele Plädoyers gehalten, um die Stimmung des Volkes für oder gegen eine politische Sache zu beeinflussen. So spielte die Rhetorik als die Kunst, etwas gut sagen zu können – ars bene dicendi –, auch eine schicksalhafte Rolle. Etwa die Enthüllung der Verschwörung Catilinas durch Cicero. Die Kunst der Beredsamkeit bleibt in der griechischen und

Zur Bedeutung von Rhetorik

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römischen Zeit (5. Jahrhundert v. Chr. bis 1. Jahrhundert n. Chr.) weitgehend auf die persönlichen Qualitäten des Redners angewiesen. Die von den Sophisten gelehrte Redekunst blieb im Formalen stecken. Nicht immer rückten sie das sittlich Richtige in den Brennpunkt ihrer Bildungsbemühungen. Sie lehrten eher die Kunst des Überredens als des vertrauensvollen Überzeugens. So überrascht es nicht, dass Platon (427– 347 v. Chr.) die Rhetorik für eine „Unglückskunst“ hält, weil sie mehr das Wahrscheinliche als das Wahre fördere. Auch Rhetorik habe aber der Wahrheitsfindung zu dienen. Diesem moralischen Postulat wird Cicero (106–43 v. Chr.) in besonderer Weise gerecht. Für ihn wird die Redekunst durch das Ansehen, die Würde des Redners (dignitas) geprägt. Er versucht, das Idealbild eines Redners zu schaffen, das die geistige Quelle des Griechischen mit der ethischen Grundhaltung des Römers verbindet.8 Quintilian (30–96 n. Chr.) lehrte als gut dotierter Professor für Rhetorik in Rom. Quintilians Rhetorik ist charakterisiert in den Worten: die Wissenschaft, gut zu reden (bene dicendi scientia). In diesem Begriffsverständnis bezeichnet für ihn „gut“ allerdings eine moralische Größe. Der charakterlich gefestigte Redner bildet die Instanz des Moralischen als Gegenposition zu narzisstischer Selbstdarstellung. Die Seriosität, mit der Quintilian an die sittliche Persönlichkeit des Redners appelliert, ließ ihn zu Recht zum Begründer einer ethischen Rhetorik werden. In seinem Werk „Ausbildung des Redners“ (institutio oratoria) widmet er sich im zwölften Buch dem vollkommenen Redner. Er sagt: „Unser Redner, den wir fordern, soll also der Mann sein, der von Cato so definiert wird: vir bonus dicendi peritus, ein ehrenhafter Mann, der im Reden erfahren ist. Vor allem muss er die Eigenschaft besitzen, die Cato an die erste Stelle setzt und die dem Wesen der Sache nach die wichtigere und die größere ist, er muss auf jeden Fall ein ehrenhafter Mann sein. Der erste, aber nicht der einzige Grund: Wenn die Beredsamkeit mit ihrer Macht dem Verbrechen Waffen liehe, dann gäbe es für das private und öffentliche Leben nichts Verhängnisvolleres als sie. Auch würden wir uns übel verdient machen um das menschliche Zusammenleben, haben wir

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Einleitung

doch nach Kräften versucht, etwas beizutragen zur Fähigkeit im Reden, und wir würden diese Waffen dann einem Räuber zur Verfügung stellen und nicht einem Soldaten ... Ich sage nämlich nicht nur, dass der Redner auch ein ehrenhafter Mann sein muss, sondern dass einer gar kein Redner sein kann, wenn er kein anständiger Mensch ist.“9 „Rhetorik“ bedeutet im Begriffsverständnis dieses Buches Ausdruck und Verwirklichung von kommunikativer Kompetenz. Mit „kommunikativer Kompetenz“ ist die Fähigkeit eines Sprechenden gemeint, Sprechakte gegenüber einem Zuhörerkreis hervorbringen und diese nach vereinbarten Regeln gestalten zu können. Insofern rednerische Aussagen Wertungen gegenüber dem Publikum vorbringen, ist Rhetorik auch Ausdruck der sozialen Kompetenz des Redners. Rede ist stets ein Sprachereignis, das durch die Persönlichkeit des Sprechenden bestimmt wird. Die Bedingungen, unter denen rhetorische Sprechakte realisiert werden, legen zwei Betrachtungsweisen von Rhetorik nahe. Diese beiden Kategorien seien in folgender Skizze veranschaulicht: Rhetorik

Angewandte Rhetorik

Literarische Rhetorik

Für das Persönlichkeitsbild des Sprechenden, für seine emotionalen und intellektuellen Gestaltungschancen breitet jede dieser Rhetorikkategorien einen eigenen kommunikativen Weg aus. Wir werden sie im zweiten Teil dieses Buches ausführlich behandeln. An dieser Stelle seien die Definitionen der beiden Rhetorikwege vorgestellt. X

„Angewandte Rhetorik“ ist die individuelle Redefähigkeit, – in freier Rede – unter spontanen Bedingungen

Rede und Führen

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– aus exponierter Stelle – zu einem Zuhörerkreis sprechen zu können. Anders dagegen verhält es sich mit der literarischen Rhetorik. Darunter ist zu verstehen: X

„Literarische Rhetorik“ meint die stets schriftliche Form der Rede. Sie orientiert sich an den von der antiken Rhetorik gegebenen Entstehungs- und Gestaltungskriterien.

Dass „angewandte Rhetorik“ gelegentlich auch als „praktische Rhetorik“ bezeichnet wird und somit von einer „allgemeinen Rhetorik“ im Sinne einer wissenschaftlichen Erforschung der Theorie der Rhetorik abgegrenzt wird, darauf haben wir an anderer Stelle hingewiesen.10

2. Rede und Führen Durch die Rede tritt der Sprechende in den personalen Raum des Zuhörers ein. Dem Redner stellt sich die wartende Innerlichkeit des Zuhörerkreises entgegen und wünscht, berührt zu werden. Warten und Erwarten charakterisieren wohl zumeist die Grundposition eines Auditoriums. In diese geistig-sinnbereite Haltung hinein spricht er aus, was ihm die intentionale Spannung der Rede aufgibt zu sagen. Rhetorische Begegnungen tragen die Absicht zu geistiger und emotionaler Berührung in sich. Der Sprechende wirbt um Vertrauen in das Gesprochene und damit in seine Persönlichkeit. Wird durch das Gesagte die sittliche Autorität des Sprechenden spürbar, weichen die heimlichen Zweifel der Anfangsdistanz. Mit der Redeabsicht ist stets ein Lenken des Zuhörerkreises verbunden. Das bedeutet: X

Rede ist auch Einflussnehmen durch das Wort. Der Sprechende ist der Führende.

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Einleitung

Zu allen Zeiten haben Führende des politischen, wirtschaftlichen und religiösen Lebens das gesprochene Wort in den Dienst ihrer Führungsabsichten gestellt. Geschah dies mit sittlicher Kompetenz, so bewirkten die rhetorischen Darbietungen viel Heilbringendes. Traten Führende in einem Sprachmissbrauch auf, so beschworen sie durch Manipulationen häufig Kommunikationsnot und Ausweglosigkeit herauf. Welche tiefere Beziehung besteht nun zwischen der Rede und ihrer Funktion als Medium des Führens? Über den Begriff des „Führens“ haben wir an anderer Stelle ausführlich gesprochen.11 Hier sei lediglich unser Grundverständnis von Führen dargelegt. Wir beziehen uns dabei auf das bewusste Führen. X

„Führen“ ist ein geplantes, beabsichtigtes Einflussnehmen auf Einzelpersonen oder auf Gruppen. Führende beabsichtigen, Einstellungen, Verhaltensweisen oder Normen anderer Menschen zu verändern.

Die Beziehung zwischen Rede und Führen trägt in sich eine auf die Selbstverwirklichung des Redners ausgerichtete Tendenz. Von der antiken Redekunst wissen wir, dass sich die Redner das innere Dabeisein der Zuhörer auf drei Wegen erschlossen haben. Diese Wege zeigen das Bemühen des Sprechenden, das Publikum in seiner Intellektualität, Emotionalität oder Aktivität erreichen zu wollen. Hier spiegelt sich die Grundstruktur von Redeintentionen wider. Sie hat bis heute ihre Gültigkeit behalten. Führen durch die Rede ist dreifach möglich. Durch  docere (das belehrende Sprechen)  delectare (das emotionale Sprechen)  movere (das bewegende, aufrüttelnde Sprechen) verfügt der Sprechende über einen Grundcharakter seines rednerischen Tuns. Davon lässt er sich in seinem Überzeugen leiten.

Docere – Das belehrende Sprechen Möglicherweise löst das Attribut „belehrend“ eine negativ assoziierbare Bewertung sprachlichen Handelns aus. Hilfreicher dürfte sein, „belehrend“ als einen kommunikativen Vorgang zu begreifen, der sich durch

Rede und Führen

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einen unterweisenden, informierenden Wert bestimmt. Das docere gibt das Ausgerichtetsein des rednerischen Geschehens vor. Der Sprechende wirkt nämlich als eine Persönlichkeit, die durch ihr gefestigtes Gedankenfundament geistige Autorität ausstrahlt. Das Wissen des Redners gibt ihm die Sicherheit, gelassen und souverän aufzutreten. X

Das docere ist das Hervortreten des menschlichen Geistes beim Sprechen. Es ist im eigentlichen Sinne die Gedanken-Führung des Sprechenden selbst und seiner Zuhörer.

Mit dem Hinausgehen des gedanklichen Angebotes, das die Denkwege der Zuhörer erreicht, ist der zunächst unmerkliche erste Schritt des Führens vollzogen. Er entspringt im gedanklichen Quellgrund des Sprechenden und verwirklicht sich im artikulierten Annähern an die Zuhörenden. In der Intention des docere ruht bereits der Auftrag, Wissen weiterzugehen. Aus der spekulativen Weite eines Themenangebotes hebt sich das präzise abgegrenzte gedankliche Feld heraus. Auf ihm bewegen sich Redner und Zuhörer, um Verständigung, Einverständnis und Zustimmung zu erfahren. Dieses Grundverhältnis rhetorisch-sachlichen Begegnens wird in Vorlesungen, Fachvorträgen und beruflichen Lehrreferaten erfahrbar. Im unterweisenden Sprechen sind Klugheit und Weisheit verborgen. Aus ihnen gehen als unüberhörbare Zeichen geistiger Selbstbekundung des Redners Worte und Sätze hervor. Sie vermögen es, das Bewusstsein der Zuhörer zu bewegen, um vielleicht ein anderes Denken und Reflektieren zu formen. Die geistige Unmittelbarkeit erfasst die Zuhörer und geleitet sie zu erweiterten Horizonten. Doch: Führen durch Vermittlung von Wissen besitzt eine fundamentale ethische Dimension. Die unterweisende Rede schafft nicht selten ein Verhältnis der Abhängigkeit des Unwissenden vom Wissenden. Herrschaft durch Wissen auszuüben, ist ein Konfliktmerkmal emotional überforderter Führungspersönlichkeiten. Das sittlich verantwortete docere dagegen geht mit Wissensangeboten sorgfältig um. Es kokettiert nicht mit seinem Wissen. Seine Selbstdarstellung ist frei von der distanzfördernden Art egozentrischer Auftritte.

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Einleitung

Die unterweisende Rhetorik führt zur Einsicht. Insofern wird das docere einem sittlichen Anspruch gerecht, als es den zuhörenden, möglicherweise suchenden Menschen nicht einem Diktat der Wissensmacht unterwirft. Vielmehr gestattet es ihm, in einer unbedrohlichen, angstfreien Interaktion über das Gehörte frei zu entscheiden. X

Ethisch begründete Unterweisung geleitet die Zuhörenden ohne Zwang zur Einsicht.

Dies vermag sie, weil sie Ein-Sicht zuerst als das Kennenlernen von Inhalten definiert. Aus dem gedanklich tiefer erfahrenen Wissen erwächst später die Einsicht, das Eingesehene nunmehr in sich aufgenommen, also mit innerer Akzeptanz besetzt zu haben. Ein Zerrbild des Dozierens ist das Dogmatisieren. Die apodiktische Verkündigung von Lehrmeinungen ist meistens ein Ausdruck von Angst, von Ungewissheit im Hinblick auf die Akzeptanz des Verkündeten durch die Rezipienten. Das Dogmatisieren schafft eine hierarchische Stufe zum Zuhörer. Der Dogmenverkünder interagiert in dem eitlen Anspruch, seine Aussagen seien frei von Irrtum und Täuschung. Ein solches Dozieren ohne ethische und emotionale Kompetenz entwickelt zwischenmenschliche Führungs-Unebenheiten, die den Sprechenden als eher destruktiv im Umgang mit Wissen erscheinen lassen. Es mangelt solchen Personen an toleranter Mitmenschlichkeit. Sie sind zu Sprachwesen degeneriert, die den Imperativ und das Müssen als semantische Eckpfeiler gewählt haben. Wir fürchten, dass diese Arroganz des Dogmatischen zum Stigma vieler Führender geworden ist, die ihr Selbstverständnis aus verliehener Status-Autorität ableiten. X

Dogmatisches Dozieren ist eine Verfallsform der Rhetorik.

Delectare – Das emotionale Sprechen In seinem klassischen Rhetorikwerk „Über den Redner“ („de oratore“) äußert sich Cicero über den Weg des Überzeugens folgendermaßen: „So konzentriert sich die gesamte Redekunst auf drei Faktoren, die der Überzeugung dienen: den Beweis der Wahrheit dessen, was wir vertreten, den Gewinn der Sympathie unseres Publikums und die

Rede und Führen

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Beeinflussung seiner Gefühle im Sinne dessen, was der Fall jeweils erfordert.“12 Die Rede als Medium des Führens gewinnt im Hinblick auf das delectare an besonderer Bedeutung. Denn das rednerische Bemühen ist ganz auf den Aufbau eines tragfähigen Sympathiefeldes gerichtet. Dies kann aber nur durch einen konstruktiven Umgang mit eigenen und fremden Emotionen gelingen. Das delectare (gleichermaßen auch das conciliare) meint das emotionale Angebot des Redners an seine Zuhörer. Weil die menschliche Persönlichkeit ein Wesen ist, das in einem emotionalen Urverlangen lebt, lässt sie sich auch durch den emotionalen Zuspruch des Redners erreichen. Die Gefühle eines Menschen zu würdigen bedeutet auch, den Kern seines persönlichen Daseins zu bestätigen. X

Führen durch Gefühle – das ist die entscheidende rhetorische Maxime.

Im delectare einer Rede tritt die Echtheit emotionaler Äußerungen hervor und damit die Glaubwürdigkeit des Sprechenden. Wer ein Sympathiefeld aufbauen, wer emotionale Abgründe überwinden will, möge für seine Mitmenschen emotional berechenbar sein. Das nämlich meint „Echtsein“ im Gefühlsleben. Wo diese Echtheit des Redners vom Zuhörerkreis erlebt wird, stellt sich bereitwillig eine Selbstvergessenheit ein, die zu besonderer Erlebnistiefe führt. Häufig heißt dieses Phänomen „Identifikation“. Die emotionale Berührung des Publikums durch den Redner ist der grundlegende Akt für die weitere Kommunikation. Sie kann darin bestehen, Worte der Bestätigung, der Ermunterung, des freundlichen und beruhigenden Einwirkens zu finden. Durch das erfreuende, mitunter auch Frohsinn vermittelnde Sprechen wächst das Vertrauen in den Redner. Und das ist die fundamentale Voraussetzung, um Führen als unspekulatives zwischenmenschliches Geschehen zu erfahren. Das delectare baut Antipathiefelder ab. Dies ist die Absicht humanen Sprechens. Das menschliche Miteinander kann nur dort wirklich gedeihen, wo emotionale Sperren durchbrochen werden. Verkrampfte, verbissene Frustration schwindet erst, wenn der Sprechende die Vorbehalte und Widerstände der Geführten in eine rettende Interaktion transformiert hat.

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Einleitung

Das emotional gekünstelte Sprechen trübt die Wirkung des Redners. Oft legt es einen Schleier der Heuchelei über seinen Habitus und lässt keine wahre Freude aufkeimen. In solchen Begegnungen verkriecht sich der Einzelne in seine Zweifel. Uns scheint, dass die politische Rede der Gegenwart die Identitätskrise der Parteien rhetorisch zu erkennen gibt. Dies beobachten wir an den gegenseitigen persönlichen Verunglimpfungen der Politiker, an den verbalen Nachkorrekturen an einstmals Versprochenem und an einer geringen Entscheidungsbereitschaft. Die Jahre der RotGrünen-Bundesregierung stehen exemplarisch hierfür. Gewiss, wer sich für oder gegen etwas entscheidet, riskiert, vom anderen abgelehnt zu werden. Ablehnung kann den Verlust von Macht bedeuten. In Zeiten der Machtferne aber reift auch die Chance zu einem geläuterten Neubeginn heran.

Movere – Das bewegende Sprechen Im delectare ist die emotionale Qualität des Sprechenden enthalten, dem Zuhörerkreis das Gefühl des Angenommen- und Einbezogenseins vermitteln zu können. Das movere nun fordert die Initiative des Zuhörers heraus. Es ist das eigentlich Bewegende, das im Redner seinen Ursprung hat und dann den Zuhörer geistig und emotional ergreift. Vorausgesetzt, die emotionale Annäherung ist gelungen. Der Redner, der selbst gedanklich und emotional von Mitteilenswertem angefüllt ist, überträgt dieses ihn Bewegende auf die Zuhörer. Sein Sprechen sprengt die Individualgrenzen und dringt ein in die Hirne und Herzen der Wartenden. Diese werden eingebunden in das gedankliche Geflecht und zu eigenem Tun aufgefordert. X

Rede als Ausdruck des Führens ist gelungen, wenn sie die Zuhörer zum Handeln zu bewegen vermochte.

Darin liegt die rhetorische Urtat, jenes Zeichen, durch das sich der Redner als lebensnaher Mensch zu erkennen gibt: im movere der Lebensentfremdung entgegengewirkt zu haben. Das bewegende Sprechen treibt in die Realitätsnähe, weil es die Zuhörer zwingt, sich ihrer Lebensbedingungen bewusst zu werden. Eine Selbstverweigerung des Zuhörers ist

Rede und Führen

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kaum möglich; es sei denn, er trüge schon von Anbeginn der Begegnung eine unsichtbare Mauer in sich. Das movere des Redners fordert auch einen Selbsterweis der Sprache ein. Sie vor allem vermag die befreienden und einengenden Akzente zu setzen, die den Zuhörer lenken. Wie aber kann der Zuhörer geführt werden? Nach unserer Beobachtung weniger durch den spektakulären Eingriff und das sich sensationell Ereignende, stärker jedoch durch persönliches Betroffensein. Die Betroffenheit, die ein Zuhörer erlebt, rüttelt stets ein wenig oder intensiver an seinem Lebensgefühl. Sein eigenes Seinsverständnis, seine existentiale Kompetenz, bedarf der ständigen Revision. Der Redner, der von seinen Bewusstseinsinhalten Reflexionen in das existentiale Verstehen des Zuhörers hinüberfließen lässt, wird gar zum geistigen Helfer. Im movere liegt der wirkliche Redesinn. Für Führende der Wirtschaft und Politik bedeutet der „Redesinn“ immer auch, das Angekündigte lebensfähig werden zu lassen. X

Nur realitätsorientierte Handlungsprinzipien.

Maximen

sind

auch

lebensfähige

Mit dem Handlungswillen beginnt der erweckende Initialstoß im Inneren des Redners, der als das Bewegende wie eine Welle auf den Zuhörer hintreibt. Das im Leben des Zuhörers bisher Statische gerät ins Wanken; Auffassungen stürzen ein, Wertvorstellungen schmelzen dahin. Mit der möglichen Korrektur von Bestehendem ereignet sich ein vielleicht neuer Vollzug von Selbstwahrnehmung im Innen und Außen. Eine andere Selbstwirklichkeit taucht auf, die den Prozess des Entscheidens prägt. Damit wird das Bewegen durch Rede zu seiner elementaren Zielsetzung geführt: dem Entscheiden zu dienen. Dem Entscheiden im Zuhörer ist das Entscheiden im Redner vorausgegangen. In der Ermunterung zum Entscheiden findet der Welt- und Lebensbezug des Sprechenden seinen deutlichen Ausdruck. Wer jedoch anderen Menschen Wege zur Entscheidung bahnen will, möge selbst genügend Lebenskunst und Lebensklugheit erworben haben, um das Empfohlene als sinnvoll begründen zu können. Der Redner stößt für die Zuhörer Türen auf, hinter denen ein

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Einleitung

neues Selbstverständnis wartet. Doch zuvor hat im Innenraum der Persönlichkeit manche Auseinandersetzung stattgefunden. X

Wer spricht, hat sich bereits entschieden. Denn Entscheiden beginnt mit der Wahl des Wortes.

Das im Redner Entschiedene hat im Wort Gestalt angenommen. Dieser Akt des Bewegens im Gefühl und im Denken des Sprechenden findet seine Vollendung, wenn sich der Zuhörer durch das Wort zu Entscheidungen und schließlich zum Handeln bewegen lässt. Dadurch wird sein Menschsein mit neuer Eigeninitiative belebt. Diese aber ist notwendig, um selbstgestaltend wirken zu können.

Das Bild des Redners

Teil A Das Bild des Redners

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Das Bild des Redners

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Vor Menschen zu sprechen – das wird vom einen als Wagnis, vom anderen als Freude empfunden. Dies wohl deshalb, weil Sprechende das Fundament ihrer Persönlichkeit, das die Beziehung zu öffentlichem Sprechen trägt, als unterschiedlich stabil erleben. Die Persönlichkeit des Sprechenden verfügt über den entscheidenden Anteil an einem gelingenden Auftreten und an überzeugendem Darstellen. Manager und Führende, an die sich dieses Buch besonders wendet, erbringen durch die Art ihres rhetorischen Auftretens den Nachweis, bereits als souveräne Persönlichkeit in Erscheinung zu treten oder noch im Aufbruch ihres sprecherischen Wirkens zu stehen. Was meinen wir in diesem Zusammenhang mit „Persönlichkeit“? X

„Persönlichkeit“ ist die an körperlichen und geistig-seelischen Merkmalen erkennbar ausgeprägte Individualität des Redners. Sie wird unter den Bedingungen und Ereignissen des rhetorischen Sprechvorganges vom Zuhörer als typisch und eigen-artig erlebt.

Rhetorisches Darbieten ist neben dem inhaltlichen Angebot bewusstes und unbewusstes selbstbekundendes Öffnen der sprechenden Persönlichkeit. Dieses zum Vorschein kommende Personhafte ist für die Geführten, für die Zuhörenden, ein Bindungsangebot, ein Auffordern zur Identifikation. In der Zeit des Massenhaften, des fehlförmigen, unförmigen und formlosen Erscheinens ragt das Einmalige der Persönlichkeit des Redners als unverkennbar und unbedingt heraus. Der Mut, polarisierenden Diskursen nicht auszuweichen, gereicht der Originalität des Redners zum Guten. Viele Redner der Gegenwart allerdings wirken wie durch den „Windkanal“ gezogen. Ihr persönliches Profil ist abgeschliffen, ihre Mienenpartie ausdruckslos und ihre Gestik automatisch gesteuert. Dieses aufgesetzte, fremdgesteuerte Gehabe entspricht genau der kollektiven gesellschaftlichen Krise, in der wir leben. Mit der geistigen Desorientierung einher geht die körperliche und psychische Verstimmtheit. Bleuler und Staehelin sagen dazu: „Die Affektivität lebt auch in unserer Motorik, der Mimik, dem Gang, dem Spiel der Hände und wird damit den Mitmenschen er-

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Das Bild des Redners

kenntlich ... So wie unser psychisches Leben vollumfänglich Gestimmtheit ist und durch die jeweiligen Stimmungen bestimmt ist, ebenso vollumfänglich ist unser somatisches Leben Gestimmtheit. Also: Der Körper ist somatische Gestimmtheit.“13 Uns begegnen immer wieder vereinsamte Konsumenten, denen das ästhetische Vergnügen an gestalteter Sprache in der Rede fremd ist. Dagegen erleben wir weithin Sprachbarbarei und die Vulgarismen der Werbetexte. Auf die Rednerpersönlichkeiten kommen neue Aufgaben zu: moralisch überzeugender Lebensstil, konstruktive Kommunikationskultur und interdisziplinäre Bildung. In den drei folgenden Kapiteln soll das Bild des Redners nach seinen psychischen Grundqualitäten, seinem habituellen und sprecherischen Erscheinungsbild betrachtet werden. Die Persönlichkeit des Sprechenden und ihre individuellen Ausdrucksformen wirken ausschlaggebend an der Gestaltung rhetorischen Geschehens mit. Der Weg der Persönlichkeitsentwicklung ist bei vielen Menschen besonders konflikthaft und wenig integrierend verlaufen. Vielleicht aber liegen gerade in solchen biographischen Holperstrecken die Ursachen für künftige Aktivitäten, aus denen sich rhetorische Originalität herausbilden kann. Eben das Menschliche, das lange in der Erinnerung der Zuhörer bleibt.

Das Bild des Redners

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I. Die psychischen Grundqualitäten

1. Selbstakzeptanz Im Allgemeinen finden rhetorische Auftritte in der Öffentlichkeit statt. Für Führende unseres gesellschaftlichen Lebens bedeutet „Öffentlichkeit“ der kommunikative Raum, in dem sie selbst für Zuhörer oder Zuschauer erlebbar und beobachtbar werden. Dabei denken wir z. B. an          

den Plenarsaal des Deutschen Bundestages Länder- und Gemeindeparlamente religiöse Veranstaltungen kulturelle Veranstaltungen Betriebsversammlungen innerbetriebliche Besprechungen Produktpräsentationen Vereinsversammlungen wissenschaftliche Lehrveranstaltungen Fernsehauftritte.

Wo auch immer der Sprechende sein Erscheinen körperlich und sprachlich bekundet, bedarf er eines psychischen Urgrundes, der ihm vertraut ist und ihn trägt. Dies ist deshalb so, weil das Exponiertsein in rhetorischen Darbietungen den Redner seiner alltäglichen kommunikativen Gepflogenheiten enthebt. Das Außergewöhnliche des kommunikativen Geschehens entblößt ihn und wirft ihn – nunmehr schutzlos geworden – auf sein seelisches Grundgefühl zurück. In diesem Geborgenheitsdrang sucht er Schutz bei sich selbst. X

Der Sprechende möge in sich selbst heimisch geworden sein.

Im Prozess der seelischen Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit heißt dieses Vertrautsein mit sich selbst „Selbstakzeptanz“.

34 X

Die psychischen Grundqualitäten

Unter „Selbstakzeptanz“ ist jenes Grundgefühl zu verstehen, in dem der Mensch in innerer Übereinstimmung mit sich selbst lebt. Er ist mit sich selbst identisch geworden, nachdem er in einem längeren Prozess des Selbstbegreifens das Bewusstsein eigenen Entfaltens und eigener Begrenztheit erfahren hat.

Die Selbstakzeptanz des Sprechenden bildet sein fundamentales psychisches Getragensein. In der Selbstakzeptanz ist das menschlich Gewordene zu einem Seinsverständnis gewandelt, das ihn künftig wegweisend begleitet. Warum nun ist die Selbstakzeptanz für den Sprechenden eine so wichtige Persönlichkeitsqualität? Wir haben folgende Antworten gefunden. Wer Selbstakzeptanz erworben hat,     

zeigt ein sicheres persönliches Auftreten drückt sein Selbstvertrauen aus zeigt Selbstbehauptung spricht zuhörer-orientiert erträgt das Exponiertsein.

Sprechen bedeutet Heraustreten des Redners aus der Anonymität. Es ist das Mitteilen seiner Individualität, es ist Öffnen des eigenen – wenn auch zunächst nur körperlich-stimmlichen – Innenlebens für andere Menschen. X

Denn alles Sprechen fließt aus dem Innen.

Ein sicheres persönliches Auftreten zeigen Das Bild des Redners wird weitgehend davon bestimmt, wie sicher er sich vor den Zuhörern präsentiert. Rede ist ja bewusste Manifestation des bis dahin gedanklich oder emotional noch Unausgesprochenen. Damit ist der Redeakt auch Bekenntnis zum persönlichen Dasein des Sprechenden. X

Sicherheit im Auftreten bedeutet Überzeugtsein von der eigenen Persönlichkeit. Der Sprechende leitet diese psychische Kompetenz aus seinem Selbstwert ab, den er in seiner Persönlichkeitsentwicklung erworben hat.

Selbstakzeptanz

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Das Bewusstsein um den eigenen Persönlichkeitswert lässt den Sprechenden in einem Gefühl relativer Angstfreiheit auftreten. Wer gelernt hat, sich und sein Leben anzunehmen, befürchtet auch nicht, von seinen Zuhörern abgelehnt zu werden. Weil Selbstakzeptanz die Voraussetzung für Fremdakzeptanz ist, kann ein solcher Sprechender angstfrei mit dem Publikum umgehen. Denn er vermag auch den Zuhörerkreis in seinem Sosein zu akzeptieren. Daraus entsteht schließlich eine positive Grundbeziehung zu den Kommunikationspartnern. Viele Redner jedoch sind einen belasteten Weg ihrer Persönlichkeitsentwicklung gegangen. Selbstzweifel und Mindergefühle haben sie an der Entfaltung ihrer Identität mit sich selbst gehindert. Menschen, die in ihrem Inneren disharmonisch leben, haben es schwer, sicher und überzeugend aufzutreten. Wenn Selbstbejahung auch ein Grad von Bewusstseinsbildung ist, der es dem Menschen ermöglicht, zu den positiven und negativen Merkmalen seines Ichs ein Ja zu sagen, dann ist bei psychisch belasteten Menschen diese Bewusstseinsbildung zum Negativen hin geprägt worden. Bei perfektionistisch und narzisstisch strukturiert Führenden bildet persönliche Unsicherheit das brüchige Fundament ihres Auftretens. Das Streben nach Perfektion entspringt der Angst vor Ablehnung. Perfekte Redner wirken unmenschlich. Da sie ihr wirkliches Menschsein mit all seinen Unzulänglichkeiten noch nicht als akzeptabel erlebt haben, gehen sie den Weg der Perfektion, der ihnen Sicherheit geben soll. Gewiss mag dies ein Weg der Selbstrettung sein, doch beim leisesten Windhauch rhetorischen Widerspruchs durch die Zuhörer blättert die mühsam aufrechterhaltene Fassade ihres neurotischen Schönseins ab. Die Unsicherheit, die sie überdeckt glaubten, meldet sich wieder als das noch unselbständige Kind in ihrer Wesenstiefe. X

Perfektion ist eine Tochter der Neurose.

Narzisstischen Rednern ergeht es nicht anders. Zwar treten sie in selbstherrlichem, zunächst beeindruckendem Gebaren auf. Doch ihre selbstverliebte Art der Darstellung schafft Distanz zu den Zuhörern. Es beginnt damit, dass bestimmte Redner des politischen Lebens nicht vor einem Kreis von weniger als einhundertfünfzig Personen sprechen. Zum anderen erwarten narzisstische Redner ein geistiges Niveau, auf dem sie

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Die psychischen Grundqualitäten

selbst zu stehen glauben. Schließlich veranstalten sie um ihre Person in den Sälen und Fernsehstudios so viel Wirbel, dass sonst nicht einmal besonders empfindsame Mitmenschen zu leiden beginnen. Narzissten sind dauerhaft unbeliebte Menschen. Ihr Autoerotismus schützt sie auch vor allzu aufdringlichen Kommunikationspartnern. Das muss so sein. Denn die Selbsthingabe des Narzissten bedeutete einen Verlust seiner psychischen Existenz. Der narzisstische Redner findet trotz manch beeindruckender Aussage nicht den Weg zum Zuhörer, weil die persönliche Wirkung eines solchen Menschen Störungen in der Interaktion hervorruft. X

Narzissmus ist eine neurotische Form der Selbstbejahung.

Die Selbstakzeptanz der narzisstischen Persönlichkeit ist im Stadium der Egozentrizität geblieben. Ein vermeintlich sicheres Auftreten dient dem Werben um Akzeptanz. Perfektionisten und Narzissten mögen lernen, gelegentliches Versagen zu akzeptieren. Erst dadurch kann menschliche Nähe auch als rhetorische Bindungsgrundlage wachsen.

Selbstvertrauen ausdrücken Die Selbstakzeptanz des Sprechenden drückt Selbstvertrauen aus. Wie ist das gemeint? Ein seelisch stabiler Mensch hat in seiner Kindheit neben dem Selbstwertgefühl auch Selbstvertrauen entwickelt. Um Selbstvertrauen aufbauen zu können, bedarf es einer Atmosphäre der Geborgenheit und der emotionalen Akzeptanz. Das seelische Beheimatetsein gibt dem jungen Menschen das Gefühl der Urverbundenheit mit seinem Dasein. Aus diesem Elementargefühl heraus beginnt der Mensch zu handeln. Durch sein Handeln aber beginnt er sich allmählich zu begreifen. Das Vertrauen in sein eigenes Handeln öffnet allmählich die Tore zu einem vertrauensvollen Umgang mit dem Leben. Denn Vertrauen in das Leben heißt Einlassen auf die Angebote des Lebens. Der Sprechende verwirklicht ebenfalls dieses Einlassen, indem er die Begegnung mit dem Zuhörer sucht. Sein Lebensantrieb verpflichtet ihn auch zu kommunikativem Erleben. Sprachliches Handeln durch die Rede ist für ihn immer neue Bewältigung des an ihn Herangetragenen. Mehr und mehr begreift er sich in seinem rednerischen Tun als Mensch, der

Selbstakzeptanz

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durch Selbstvertrauen auch in seinem Vertrauen zu den Zuhörenden wächst. X

Handeln fördert die Nähe zu sich selbst und zum Selbstbegreifen. Aus der Nähe aber entsteht Vertrauen.

Der gehemmte Mensch erlebt das Sprechen sorgenvoll. Seine Selbstzweifel lassen ihn kein Vertrauen in sich und seine Umgebung finden. Wer in seiner Kindheit häufig genug gehört hat, dass er nicht brauchbar oder gar nicht erwünscht sei, verliert die ablehnende Haltung sich selbst gegenüber meistens nicht mehr. Er geht zögernd und zweifelnd durch das Leben und kann seinen schwachen Intentionen selten zum Durchbruch verhelfen. Das fehlende Selbstvertrauen zeigt sich in unterschiedlichen Ausprägungen. Wir werden noch an anderen Stellen dieses Buches auf das Gehemmtsein zu sprechen kommen.

Selbstbehauptung zeigen Mit der Selbstakzeptanz eng verknüpft ist die Selbstbehauptung. Sie vor allem benötigt ein Sprechender, der seinen Auffassungen zum Durchbruch verhelfen will. Das ist weder suggestiv noch autoritär gemeint. Selbstbehauptung als Ausdruck psychischer Stabilität wird in der Konfrontationsbereitschaft und Konfliktfähigkeit des Sprechenden benötigt und verwirklicht. X

„Selbstbehauptung“ meint die Treue zur Selbstidentität.

Selbstbehauptung ist damit ein Sein-Wert. Er charakterisiert die Bereitschaft des Redners, sich der Begegnung mit den Zuhörern grundsätzlich stellen zu wollen. Aus dieser Bereitschaft kann sich eine konstruktive Konflikthaltung entwickeln. Mangelnde Selbstbehauptung führt zur Anpassung. Wer kaum einen Eigenwert in seiner Persönlichkeit anzubieten hat, der setzt sich auch nicht über Eigenes auseinander. Die Selbstbehauptung als Selbstidentität bewahrt im Menschen das Eigenwertige, um es immer wieder lebendig werden zu lassen.

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Die psychischen Grundqualitäten

Zuhörer-orientiert sprechen Zwar spricht ein Redner auch, um seine Überzeugung auszudrücken; doch die Rede lebt von der Akzeptanz durch die Zuhörenden. Das zuhörer-orientierte Sprechen meint den Sprechvorgang als Akt der Zuwendung. Das Dasein des Redners lässt seine Zuwendung zum Publikum erwarten. Damit bedeutet rhetorisches Können auch die psychische Qualität, sich von sich in seinem Inneren zu entfernen und die Zuhörenden ganz wahrzunehmen. X

Zuwendung setzt Loslassen der eigenen Person als sprechende Person voraus.

Anders gesagt: Ein Redner, der während seiner Darbietung noch intensiv mit sich selbst befasst ist, kann den Zuhörern nicht die notwendige Zuwendung schenken. Mit der Selbstakzeptanz hat der Redner in seiner Persönlichkeitsentwicklung jenes Grundbefinden erworben, das ihn frei auf die wartenden Zuhörer zugehen lässt. Nur wer sich nicht zwanghaft an sich gefesselt fühlt, kann den Schritt vom Ich zum Wir vollziehen. Weil der Sprechende auf Grund seiner Selbstbejahung in sich einen pressionsfreien Raum verspürt, erlebt er seinen Auftritt als Möglichkeit zur Selbstverwirklichung. Die rhetorische Situation ängstigt ihn nicht, da er Fehlleistungen als natürlich interpretiert und sie deshalb rascher verarbeiten kann. Er empfindet Fehler nicht als Profilverlust. Seine Selbstakzeptanz bewahrt ihn davor, auf Fehlleistungen mit Mindergefühlen zu reagieren. Er entschuldigt sich dort, wo eine Entschuldigung angebracht ist. X

Er entschuldigt sich aber nicht dafür, dass er existiert!

Ängstliche Redner werden noch zu stark von ihren Ängsten belegt. Deshalb fällt es ihnen schwer, sich in der erforderlichen Weise um ihre Zuhörer zu kümmern. Die Zuwendung zur eigenen Person – weil rhetorisch unerfahren – bindet sie noch an ihre eigenen Defizite. Darunter leidet nun die überzeugend menschliche Ausstrahlung des Redners.

Exponiertsein ertragen Insbesondere in der freien Rede ist die Vertrautheit mit der exponierten Stelle notwendig. Denn die freie Rede in der angewandten Rhetorik

Selbstakzeptanz

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kennt selten ein Rednerpult, das den Sprechenden mit äußerem Schutz umgeben könnte. Wenn die äußere Stütze fehlt, wird die innere umso wertvoller. Die innere Stütze aber ist die Selbstakzeptanz des Sprechenden. Sie hilft ihm, sich in der Exponiertheit zu ertragen. Sicherheit und Souveränität in der Wirkung des Redners sind elementar geprägt von der Art des Umganges mit der exponierten Stelle. Vor den Augen des Publikums mit ungezwungener und offener Natürlichkeit agieren zu können, setzt eine feste Verankerung in seiner Wesenstiefe voraus. Manchmal mag dieses Gefestigtsein auch durch die Sicherheit im Thema begünstigt werden. Doch die fachliche Kompetenz bietet keine Gewähr für eine souveräne rhetorische Leistung. Die Persönlichkeitsbildung des Sprechenden erschließt ihm nicht nur seine eigene Erlebniswelt, in der er sich intensiver wahrnehmen kann. Darüber hinaus wird für ihn das Zwischenmenschliche greifbarer, weil es sich ihm in einer Nähe zeigt, die sich unverstellt zu erkennen gibt. Mit der Selbstakzeptanz trägt er jenes psychische Fundament in sich, das seinem Leben eine dauerhafte Wertschätzung verleiht. Das Wertvolle der eigenen Persönlichkeit aber bildet die Voraussetzung dafür, auch den Zuhörern mit Wertschätzung zu begegnen. X

Rhetorik ohne Wertschätzung der Zuhörer ist sprachliches Handeln ohne Seele.

Fragen zur Selbstreflexion – Wie erleben Sie Ihre Selbstakzeptanz? Eher privat oder eher beruflich? – Beobachten Sie Ihr Auftreten vor Zuhörern! Wie erleben Sie sich bei Ihren Auftritten? Sind Sie noch mehr mit sich als mit den Zuhörern befasst? – Wie können Sie grundsätzlich mit eigenen Fehlern umgehen? Wie oft entschuldigen Sie sich während des Tages? Wie oft begehen Sie Fehler bei rhetorischen Auftritten, und wie gehen Sie mit ihnen um? – Was bedeutet für Sie Perfektion? Wie häufig werden Ihnen Arroganz oder Eitelkeit nachgesagt?

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Die psychischen Grundqualitäten

– Wie beurteilen Sie Ihre Konfliktfähigkeit? Wann gehen Sie Konfrontationen aus dem Wege? – Wie stehen Sie zur exponierten Stelle als sprechende Persönlichkeit – bereitet sie Ihnen noch Angst?

2. Emotionale Ausdrucksfähigkeit In der Emotionalität begegnen wir dem wichtigsten Phänomen im Innenleben der menschlichen Persönlichkeit. Wichtig deshalb, weil von ihm die Ausstrahlung und die Überzeugungsfähigkeit des Redners abhängen. Doch betrachten wir zunächst, wie das gegenwärtige gesellschaftliche Leben zur Emotionalität steht. Viele Menschen unseres nationalistischen Zeitalters geben der Technik als der Kunst des Machbaren den Vorzug. Sie orientieren sich in ihrem Denken am Zweckhaften, von dem sie sich eine optimale Erfüllung ihres ökonomischen Strebens erhoffen. Eine solche Tendenz in der Lebensgestaltung führt fast immer zu einer tiefen Abspaltung der Emotionalität. Der Mensch sieht sich selbst als wertvoll an, wenn er sich eine bestimmte Nützlichkeit zuschreiben darf. Viele Praktiken in der Psychohygiene – so etwa Psychotrainings oder Führungstrainings – verfolgen das Ziel, den Menschen auf ein im Sinne der Nützlichkeit verwertbares Wesen zu trimmen. Wir kennen gar Menschen, die Seminare in Meditation oder Kontemplation besuchen, um in ihrem Führen leistungsstärker zu werden. Wahrlich eine Perversion und Entwertung von Spiritualität! Durch solche und andere Dispositionen wird ein Persönlichkeitsbild herangezüchtet, das sich in seinem Selbstverständnis vorwiegend durch rationale Kriterien definiert, nicht aber menschliche Elementarwerte wie Güte, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Fürsorge und Mitfühlen gelten lässt. Unser gesellschaftliches System gibt damit Menschen den Vorzug, die ihren Eigenwert von ihrer Leistungsfähigkeit und vom zweckmäßigen Einsatzvermögen abhängig machen. Das Abnorme, nämlich keine Emotionen zu haben, wird hoffähig. Die Disziplin, keine Emotionen zu zei-

Emotionale Ausdrucksfähigkeit

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gen, entfaltet ein gesellschaftsfähiges Profil. Eine Gesellschaft, die die Herrschaft der Rationalität über die Emotionalität fördert und begünstigt, ist krank. Solange Emotionalität in das Privatleben verbannt wird, existiert auch die Angst davor, Gefühle in öffentlichen Interaktionen (Politik, Wirtschaft, Kirche) zu zeigen. Der Alexithymiker, ein psychisch gestörter Mensch, scheint der traurige Repräsentant einer solchen Fehlentwicklung im gesellschaftlichen Leben zu sein (mehr zu Alexithymie findet sich in unserem Titel „Fühlen und Führen“). Rupert Lay beschreibt diesen Menschen so: „Er zeigt eine erhebliche Armut im Ausdruck von Gefühlen und nimmt emotionale Darstellungen anderer als Störgrößen wahr (das sind die beiden Symptome des Syndroms ,Alexithymie').“14 Die menschliche Persönlichkeit ist vor allem ein emotional bestimmtes und geehrtes Wesen. Alle anderen Versuche, dem Menschenbild vorwiegend rationale Eigenschaften dominant zuschreiben zu wollen, verkennen die Uranlage im Wesen des Menschen. Was ist nun mit „Gefühlen“ gemeint? X

„Gefühle“ bezeichnen die Grundbefindlichkeit eines Menschen. Es sind Elemente der Wahrnehmung, wie das menschliche Individuum die Beziehung zu sich selbst und zu anderen Menschen erlebt.

An die Persönlichkeit des Sprechenden werden im Allgemeinen hohe emotionale Erwartungen gerichtet. Diese Erwartungen entspringen der Gruppenstruktur. Da Redner meistens heterogene Gruppen vorfinden, gilt das Prinzip: X

Die Erwartungen eines heterogenen Publikums an den Sprechenden sind weitgehend emotional geprägt.

Diese Haltung resultiert aus dem Grundbedürfnis des Menschen nach Zuwendung. Vom Redner wird die Fähigkeit erwartet, seinen Zuhörern Zuwendung geben zu können. Ist er dazu nicht oder nur sehr begrenzt in der Lage, so hinterlässt er einen distanzierten, kalten Eindruck. Zahlreiche Führende zeigen eine solche Wirkung, und deshalb bleibt ihnen auch das Vertrauen der Geführten versagt.

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Die psychischen Grundqualitäten

Die emotionale Ausdrucksfähigkeit des Sprechenden ist – wie vieles andere an ihm auch – ein Ergebnis seiner Persönlichkeitsentwicklung. Diese psychische Heranbildung zu emotionaler Offenheit hat im Wesen des Redners eines bewirkt: einen angstfreien Umgang mit Gefühlen. Wer in seinem Kindsein für seine spontan geäußerten Gefühle nicht bestraft, nicht abgelehnt wurde, empfindet sich später auch als ein emotional akzeptiertes Wesen. X

Die emotional positive Selbsterfahrung in der Kindheit führt zu einem konstruktiven Fremdbezug des Erwachsenen.

Führende sind geradezu verpflichtet, emotionale Zeichen zu geben und Spuren ihres emotionalen Befindens zu hinterlassen. X

Wer menschlich glaubwürdig führen will, kann nicht auf die Äußerung seiner Gefühle verzichten.

Emotionale Ausdrucksfähigkeit bewahrt im Erwachsenen einen Teil seiner kindlichen Erlebniswelt. Denn Natürlichkeit und ungekünstelte Offenheit sind wohlbehütete Reste kindlicher Echtheit und Einfachheit. Der Redner vermag mit dieser Art des Auftretens zu beeindrucken. Seine Gefühle werden zu Identifikationsangeboten für die Zuhörenden. Das ist das entscheidende Signum: X

Die emotionalen Identifikationsangebote des Sprechenden wirken vertrauensfördernd. Nur dadurch ist dauerhaft Überzeugen möglich.

Das emotionale Ausdrucksvermögen zeigt viele Gesichter. Deshalb verweisen wir auf die weiteren Aussagen im Zusammenhang mit dem habituellen und sprecherischen Erscheinungsbild des Redners.

3. Soziabilität Soziable Menschen haben eine konstruktive Beziehung zu ihrem sozialen Umfeld entwickelt. Als Verhalten des Redners ist damit gemeint, gegenüber der Gruppe der Zuhörer eine soziale Wertschätzung auszudrücken.

Soziabilität

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Dazu ist längst nicht jeder Sprechende befähigt. Schon gar nicht jener Mensch, der in seiner Kindheit und Jugend eine gründliche Angst vor Gruppen entwickelt hat. Wie erwirbt ein Mensch Soziabilität? Jeder Mensch ist von Kindheit an auf ein Du hin orientiert. Dieses duzentrierte Ausgerichtetsein ist in ihm angelegt und wird durch die Einflüsse des sozialen Mitfeldes gefördert. Jener Prozess, in dem ein Kind die Fähigkeit erwirbt, in einen Sozialverband hineinzuwachsen und sich seinen Normen anzupassen, heißt „Sozialisation“. Die Voraussetzung für eine stabile Sozialisation bildet eine gesunde Individuation, also IchBildung des Kindes. Es gelingt demjenigen, die Persönlichkeit des anderen ernsthaft und intensiv wahrzunehmen, der sich nicht mehr so stark auf sein Ich konzentrieren muss. So wird auch ein Kind umso früher in das Gruppengeschehen integriert, je leichter es sich von sich selbst lösen kann. Der Sozialisationsprozess des Kindes ist wesentlich durch drei Erscheinungen charakterisiert. Sie sollen zunächst betrachtet werden:  Wahrnehmung des Du  Akzeptanz der Gruppennorm  Konfliktbewältigung in der Gruppe.

Wahrnehmung des Du Etwa bis zum dritten Lebensjahr ist die frühkindliche Phase der Persönlichkeitsentwicklung auf die Stabilisierung des Ichs ausgerichtet. Zwar hat das Kind die Bezugspersonen seiner Erfahrungswelt wahrgenommen, doch eine bewusste Reflexion über sein Ich und die Beziehung des Ichs zu anderen Personen hat noch nicht eingesetzt. So kreisen die Aktionen und Reaktionen des Kindes vorwiegend um sich selbst. Mit der Familie sammelt das Kind seine erste Gruppenerfahrung. In der Familie wiederum wird es einen Menschen geben, dem sich das Kind besonders emotional verbunden fühlt. Diesen Menschen nimmt es als ersten positiv wahr.

44 X

Die psychischen Grundqualitäten

Die Wahrnehmung des sozialen Du geschieht durch die Wertschätzung, die das kindliche Ich erfährt.

Ohne die Familie gäbe es für ein Kind nur einen kleinen sozialen Reaktionsspielraum. Das Kind aber benötigt auch das familiäre Du, um sich als eigenständige Persönlichkeit zu empfinden.

Akzeptanz der Gruppennorm Eine menschliche Gemeinschaft sichert ihr soziales Bestehen durch Normen, die sie sich gibt und nach denen sie zusammenleben will. Sie findet diese Regeln akzeptabel, wenn damit Harmonie im Zusammensein gewährleistet wird. Das kindliche Individuum ist zunächst damit beschäftigt, sich in diesem sozialen Rahmen zu orientieren. Dabei begegnet es Ereignissen, die den Tagesablauf bestimmen: In der Familie, im Kindergarten und in der Schule läuft das Leben nach sozialen Normen ab. Die Interaktion der Gruppenmitglieder wird nicht dem Zufall überlassen, sondern vollzieht sich nach selbstgegebenen oder von außen vorgeschriebenen Regeln. Das Kind spürt, dass es sich in einem solchen Lebensrhythmus wohlfühlen kann (Aufstehen, Mahlzeiten, Freizeit). Es bemerkt auch, dass diese Regeln von jenen eingehalten werden, zu denen es eine Vertrauensbeziehung aufgebaut hat. Die eigene Erfahrung mit den Normen und das lebendige Beispiel der Bezugspersonen lassen im Kind nach und nach die Überzeugung reifen, dass die bestehenden Verhaltensvorschriften auch für sein Leben und Wohlergehen nützlich sind. Das Kind hat aber auch schon die Erkenntnis gewonnen, dass manche Regeln seine individuelle Freiheit einschränken können. Dennoch überwiegt die Akzeptanz der Gruppennorm, da sie ein latentes Bedürfnis nach Anlehnung und Führung befriedigt. Indem das Kind die Gruppennorm akzeptiert, hat es einen weiteren Schritt in seinem sozialen Lernen vollzogen.

Konfliktbewältigung in der Gruppe Konfliktbewältigung zu erlernen, ist eines der elementaren Lebensziele eines Menschen. Von dieser Fähigkeit hängt die Lebensharmonie in entscheidendem Maße ab. Oft bezeichnen wir als „Glück“ jene Zeit, in der wir konfliktfrei leben.

Soziabilität

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Die menschliche Persönlichkeit gerät häufig genug mit sich selbst und mit ihrer Umgebung in Konflikte. Wir nennen die Konflikte, die sich im Inneren der Persönlichkeit abspielen, „intrapersonale Konflikte“, jene, die zwischen dem Ich und der Gruppe ausgetragen werden, ,,interpersonale Konflikte“. Der Sozialisationsprozess hat auch das Ziel, den heranwachsenden Menschen zur Konfliktbewältigung mit der Gruppe zu befähigen. Dazu ist es notwendig, Selbstbehauptung erlernt zu haben. In der Selbstbehauptung des Kindes wirken die ichstabilisierenden Einflüsse nach, die es schon während der frühen Individuation erlebt hat. X

Weil ein Kind Selbstakzeptanz besitzt, kann es sich behaupten.

Die Konfliktbewältigung in der Gruppe Familie beginnt mit der Trotzphase des Kindes und endet mit den pubertären Auseinandersetzungen des Jugendlichen. Die Familie und das übrige soziale Feld fordern das Kind heraus, um es mit der Lebensrealität zu konfrontieren. Für viele Erwachsene sind in späteren Jahren leider manche Konflikte erforderlich, um ihre wahre Lebensrealität zu begreifen. Wir denken dabei an Menschen, die in einer Lebenslüge leben. Da sich Konfliktbewältigung in verbalen Interaktionen ereignet, lernt bereits der junge Mensch den Umgang mit emotionalen, konfrontierenden Sprachmustern. Dieses sprachliche Können wird sich in mancher kontroversen Auseinandersetzung als hilfreich erweisen. Wir kehren nun zur Soziabilität zurück. Soziabilität im rednerischen Verhalten heißt, einem Zuhörerkreis als sozialem Du angstfrei zu begegnen. X

Die Angst vor der Gruppe ist die Gegnerin des Redners.

(Nur in Ausnahmesituationen kann die Angst den Sprechenden besonders aktivieren, z. B. Kompensation von Versagensangst durch auffallende sprachliche Aktivität.) Die exponierte Stelle fördert durch die Distanz des Sprechenden zu den Zuhörern in ihm das Gefühl, allein und ganz auf sich angewiesen zu sein. Dieses Gefühl einer Vereinsamung kann Ängste

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Die psychischen Grundqualitäten

produzieren, unter denen manch Sprechender leidet. Wir haben in vielen Jahren folgende Ängste an Sprechenden beobachtet:    

die Angst vor einer Zuhörergruppe schlechthin die Angst vor Ablehnung durch die Zuhörer die Angst vor der Dominanz der Zuhörer die Angst vor einer Konfliktsituation mit den Zuhörern.

Die Angst vor einer Zuhörergruppe schlechthin Ein Sprechender, der sich von dieser Angst belastet fühlt, empfindet den Auftritt vor der Gruppe als Gang zum Schafott. Häufig sind dies sozial isoliert gebliebene Menschen, denen Kontakte überhaupt schwer fallen. Das Selbstwertgefühl dieser Menschen brennt auf Sparflamme, soziale Bindungen wirken bedrückend, Begegnungen werden gelegentlich depressiv erlebt. In der Wesenstiefe dämmert eine Kommunikationsscheu. Ein Mensch, den Gruppenangst lähmt, befindet sich auf der Flucht vor der Gruppe. Überall dort, wo soziale Aktivitäten ein Öffnen seiner Persönlichkeit verlangen – besonders in der Rede –, weicht er aus, um in den Schatten seines ungelebten Ichs zurückzukehren. Es ist in den Seminaren gelungen, durch behutsam gestaltete VideoAnalysen bei solchen Menschen ein Selbstwertgefühl heranzubilden. Diese Seminarteilnehmer erlebten sich in ihrem Fremdbild wirkungsvoller und sicherer, als sie sich während des Sprechens fühlten. Daraus entwickelten sie in einem längeren Prozess unter persönlichkeitsbildender Begleitung eine Selbstakzeptanz, die ihnen half, auch beruflich neue Aufgaben zu übernehmen. X

Gruppenangst lässt sich durch einfühlsame Führung abbauen.

Vertrauen durch Zuwendung ermöglicht Vertrauen in das ängstliche Ich.

Die Angst vor Ablehnung durch die Zuhörer Viele Menschen, denen wir begegnet sind, scheuten sich, zu einer Zuhörergruppe zu sprechen, weil sie befürchteten, von dieser Gruppe abgelehnt zu werden. Die Angst vor Ablehnung reicht weit in die Kindheit zurück. Das zurückgewiesene Kind musste nur allzu schmerzlich erfah-

Soziabilität

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ren, dass es vor allem liebenswert sei, wenn es die Leistungserwartungen seiner Bezugspersonen erfülle. Diese soziale Urerfahrung wird künftig zur Richtschnur für das Kind. Es wird sich bemühen, die Zuwendung der „lieben“ Bezugsperson durch Leistung zu erhalten. X

Wegen seiner Leistungsfähigkeit und nicht wegen seines Daseins geliebt worden zu sein – das ist ein deprimierendes Ergebnis einer Lebensbilanz!

Solche Menschen sind als Manager zweifellos erfolgreich. Denn die gesellschaftlichen Bedingungen bieten den Raum für derartig partielle Selbstverwirklichung. Doch im Laufe der Jahre werden diese Menschen in eine zwanghafte Lebensbahn geschoben. So bleiben Ehrgeiz und Profilierung die einzigen Gipfel auf dieser Lebenstour. In der Angst vor Ablehnung durch eine Gruppe wiederholt sich bewusst oder unbewusst die belastete Eltern-Kind-Beziehung. Sie wiederholt sich bewusst, wenn einige Zuhörer gar in ihrem Äußeren oder in ihrem Wesen den Eltern des Sprechenden ähneln. Der Sprechende kann dieses Angstgefühl nur bewältigen, indem er „Profil“ zeigt. Der Weg der Perfektion ist der kompensatorische Schritt, um zu einer vermeintlichen Identität mit sich selbst zu gelangen. Rhetorische Perfektion aber baut Distanz auf, weil die fehlerbesetzte Natürlichkeit des Sprechenden durch seinen Leistungszwang überlagert wird. Gerade aber das Fehlerhafte ist es, das ein solcher Mensch zulassen muss, wenn er ganz Mensch werden möchte. Fehler zu begehen und ohne Schuldgefühle einzugestehen – das möge seine Maxime werden!

Die Angst vor der Dominanz der Zuhörer Von einer ähnlichen Angst – wie eben dargestellt – wird ein Sprechender begleitet, der Zuhörer als dominant in ihrem geistigen Vermögen empfindet. Mindergefühle, Selbstzweifel und Selbstvorwürfe zernagen beinahe den Selbstwert dieser Menschen. Auch diese Fehlbildung des Persönlichkeitswertes beginnt in der Kindheit. Wer in den frühen Phasen seiner Persönlichkeitsentwicklung erfahren hat, dass in sein emotionales und praktisches Können Zweifel gesät wer-

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Die psychischen Grundqualitäten

den, der beginnt auch bald an sich selbst zu zweifeln. (Diese Kindheitserfahrungen dauern ja mehrere Jahre und nicht drei Tage!) Die Bezugspersonen entreißen dem Heranwachsenden durch permanente destruktive Kritik die psychischen Grundlagen zur Identifikation mit sich und seinem Tun. Die Be-wertung des jungen Menschen wird zur Ab-wertung seiner Person. Eltern, die sich selbst als vollkommen darstellen, werden verehrt, aber nicht geliebt. Sie bleiben für das Kind unerreichbar. Diese Präsenz des Kritischen überschattet den Lebensweg auch vieler Sprechender. Sie unterstellen, die geistig-gedanklichen Erwartungen der Zuhörer nicht erfüllen zu können. Ihr Antrieb wird von ihren Mindergefühlen gehemmt. Zuhörende bemerken dies vor allem an den häufigen Entschuldigungen, Relativierungen und zögernd vorgetragenen Entscheidungen. Wer sich selbst misstraut, misstraut auch anderen Menschen. Wer sich selbst nicht annehmen kann, glaubt auch nicht, dass seine Mitmenschen ihn akzeptieren können. Die Kluft zwischen ihm und den Zuhörern ist tief geworden oder geblieben. X

Der misstrauische Mensch lebt in einer Selektion des Negativen.

Da er sich als Kommunikationspartner, als Redner, nicht angenommen fühlt, kann er sich auch niemandem gegenüber öffnen. Seine Skepsis als Wesenshaltung hindert ihn daran. Manche Sprechende wirken auf die Zuhörer unerwartet autoritär. Meistens liegt dieser Wirkung die unbewusste Absicht zugrunde, aus der Rednerhaltung heraus eine Gegenposition gegen die als dominant empfundene Zuhörerschaft aufbauen zu müssen.

Die Angst vor einer Konfliktsituation mit den Zuhörern Über Konflikte haben wir schon einige Gedanken dargelegt. Hier ist die Angst vor der Auseinandersetzung mit der Gruppe angesprochen. Im rhetorischen Alltag bieten sich dazu Gelegenheiten in der Gegenrede, der Debattenrede, dem Scholastischen Disput, der Verteidigung von Thesen. Die Angst vor Konflikten mit der Gruppe deutet auf die Schwierigkeit

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des Redners hin, mit der Intellektualität oder der Emotionalität der Zuhörenden souverän umgehen zu können. X

Konfrontationen mit Zuhörern beanspruchen einen großen Teil der psychischen Kräfte des Redners.

Um konfliktstabil zu sein, ist es notwendig, Konflikte in der Kindheit und Jugend als Regulative für soziale Beziehungen kennen gelernt zu haben. Der Konflikt als soziales Steuerungselement wird so zu einer interpersonalen Größe, die sich klärend für die Kommunikationspartner herausbildet. X

Die Angst vor Konflikten bedeutet meistens die Angst vor persönlichen Niederlagen.

Diese Interpretation finden wir vor allem bei Managern, die Kritik als Ablehnung ihrer Person durch den Kritiker erfahren haben. Aus diesem Grunde scheuen sich zahlreiche Sprechende, neben Rückmeldungen zum Inhalt des Gesprochenen auch mitgeteilt zu bekommen, wie sie in ihrem Menschsein gewirkt haben. Die Kenntnis des eigenen Fremdbildes aber ist dringend notwendig, um die persönliche Überzeugungsfähigkeit verbessern zu können. Wer das Gegen in seinem Leben überwinden will, möge lernen, auf das Leben zuzugehen. Das Wissen um die Wirkung auf andere Menschen hilft erheblich, seine sozialen Beziehungen möglicherweise grundlegend zu korrigieren. Soziale Ängste zu überwinden, beginnt mit der Erforschung dieser Ängste. Nicht selten ergibt sich daraus ein Neuerleben der eigenen Lebensrealität. Die Angst des Sprechenden vor der Zuhörergruppe ist ein Ausdruck der Unkenntnis des eigenen Fremdbildes. X

Wer nicht weiß, wie er auf seine Zuhörer wirkt, spricht mit einem hohen Anteil persönlicher Unsicherheit.

Sich für sein Fremdbild zu interessieren, bedeutet bereits den Weg zur Selbsterkenntnis betreten zu haben. Viele Sprechende scheuen das reflektierende Gespräch mit Zuhörern oder Dialogpartnern, weil sie noch nicht bereit sind, sich selbst zu begegnen. Es gibt jedoch manche Hilfe im Alltag, die uns als Quelle für das Betrachten unseres Fremdbildes zur

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Die psychischen Grundqualitäten

Verfügung steht. Wir können daraus entnehmen, dass wir nicht diejenigen sind, für die wir uns halten. X

Wer wir wirklich sind, das sagen uns die Mitmenschen.

Welche Quellen stehen uns zur Verfügung? Das Partnergespräch Die auf Vertrauen gegründete Beziehung zwischen Mann und Frau oder zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern; vorausgesetzt wird die Gesprächsfähigkeit beider Partner. Eine Partnerbeziehung ist gesprächsfähig, wenn beide Partner ihre positiven und negativen emotionalen Erlebnisinhalte verbalisieren können. Die Eltern-Kind-Beziehung Kinder äußern sich in spielerischer Weise darüber, wie sie ihre Eltern erleben. Bei älteren Kindern lassen sich nach dem Spielen gute Reflexionsgespräche anknüpfen. Freundschaften Eine Freundschaft ist eine emotionale, im Allgemeinen gleichgeschlechtliche Beziehung, die von Vertrauen und Kritikfähigkeit getragen wird. Freundinnen und Freunde, aber auch befreundete Paare, sagen einander, wie sie sich gegenseitig sehen und empfinden. Verwandte Hierbei denken wir an die reife Eltern-Kind-Beziehung, die GeschwisterBeziehung und die Großeltern-Enkel-Beziehung. Je nach dem Vertrauensverhältnis gehören auch weitere Verwandte dazu. Außerberufliche Begegnungen Diese Quelle für das persönliche Fremdbild bezieht sich zunächst auf alle Freizeitaktivitäten. Zum Beispiel werden in Sportgruppen häufig soziale Verhaltensweisen der Gruppenmitglieder besprochen. Außerdem zählen wir hierzu alle kontinuierlichen Formen des Miteinanders, zum Beispiel längere Reisen mit einem Schiff, Bergtouren, Wanderungen. Weiterhin

Soziabilität

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gehören zu dieser Quelle Vermieter-Mieter-Beziehungen, Nachbarschaftsbegegnungen sowie regelmäßige Gespräche bei einem Arzt, einem Therapeuten oder einem Beichtvater. Berufliche Begegnungen In Mitarbeitergesprächen erhalten Geführte von den Führenden mindestens einmal im Jahr Rückmeldungen zu ihrer fachlichen und gelegentlich wohl auch zu ihrer sozialen Kompetenz. Auch Arbeitskollegen – z. B. eines Projektteams – besprechen phasenweise, wie sie miteinander umgegangen sind. Eher selten dagegen – darauf allerdings kommt es besonders an – erhalten Führende von den Geführten ehrliche Informationen zu ihrem Fremdbild. Dies liegt daran, dass in hierarchischen Abhängigkeiten die meisten Geführten unter Bestrafungsängsten leiden. Deshalb mögen Führende von sich aus ihr Interesse an ihrem Fremdbild bekunden. Persönlichkeitsbildende Veranstaltungen Hiermit meinen wir insbesondere Seminare, in denen der Teilnehmer in konstruktiver Weise erfährt, wie die Wirkung seiner Persönlichkeit von anderen aufgenommen wird. Hilfreich sind Video-Aufzeichnungen, weil sie das habituelle Erscheinungsbild neben dem verbalen wiedergeben. Daneben gewinnt der Teilnehmer durch das Anschauen der VideoAufzeichnung einen eigenen Eindruck von seiner Präsentation.

Fragen zur Selbstreflexion – Sind Sie fähig, Ihre Gefühle wahrzunehmen? – Gibt es für Sie eine Vertrauensperson, mit der Sie über Ihre Gefühle sprechen können? – Wie gehen Sie mit den Gefühlsäußerungen Ihrer Mitmenschen um? – Können Sie fremdes Erleben wie das eigene Erleben akzeptieren? – Von welchen positiven und welchen negativen Gefühlen werden Sie besonders berührt? – Wie verarbeiten Sie vor allem negative Gefühle (z. B. Angstgefühle, Mindergefühle, Schuldgefühle)? – Wie intensiv haben Sie sich bisher mit Ihrem Fremdbild beschäftigt?

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Die psychischen Grundqualitäten

– Welche Beziehungen haben Sie bisher zu Gruppen aufgebaut? Sind Sie mehr ein Einzelgänger? – Wie erleben Sie das Sprechen zu einer Gruppe? – Wie sprechen Sie mit einer Gruppe (offen oder mit Abwehrhaltungen)? – Haben Sie Angst vor Ablehnung durch andere Menschen? – Wie gehen Sie mit Konflikten um (privat – beruflich)? – Auf welchen Wegen Ihrer Persönlichkeitsentwicklung haben Sie Konfliktbewältigung erlernt? – Welche Quellen nutzen Sie, um Rückmeldungen über und für Ihr Fremdbild zu erhalten?

4. Identifikationsfähigkeit Von dem Kirchenlehrer Augustinus (354–430) ist uns ein Wort überliefert, das die emotionale Grundlage für jegliche Identifikation ausdrückt: „In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst.“ Er, der zuerst in Karthago und später in Rom Rhetorik lehrte, wusste um die geistige und emotionale Identifikation als Merkmal persönlicher Qualität des Redners. Noch immer gilt die rhetorische Maxime: X

Wer seine Zuhörer überzeugen will, möge in seinem Inneren strahlen; denn Aus-strahlung setzt ein inneres Leuchten voraus.

Identifikationsfähigkeit ist ein seelisches Phänomen, das im Unbewussten angelegt ist. Es bedeutet die unbewusste Bereitschaft, zu empfangen, was die Gesamtheit des Seienden dem menschlichen Erleben anzubieten hat. Für ein Kleinkind ist das Angebotene noch amorph, weil es – das Kleinkind – selbst noch nicht zu seiner Identität gelangt ist. Erst im gegenständlich-dialogischen Begegnen mit der Welt tritt diese in das frühkindliche Leben ein. Während die Hände des Kindes nach dem Leben greifen, wächst in seinem Inneren das Sehnen, sich mehr und mehr im Lebhaften selbst zu begreifen. Das Suchen nach einer Lebensbeziehung ist für ein Kind stets die Suche nach seiner eigenen Individualität und Identität.

Identifikationsfähigkeit

X

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Identität bedeutet damit, sich nach der Identifikationssuche im Außerhalb in seinem personalen Innerhalb gefunden zu haben.

Identifikationsfähigkeit meint ein bewahrendes Offensein für die Bildhaftigkeit der Welt. Wir bezeichnen das in die Persönlichkeit aufgenommene Bild von der Welt als „Inbild“. (Im Erinnern tauchen viele Inbilder eines Menschen wieder auf.) X

„Inbilder“ sind Lebensbilder – also das durch den Menschen und von seiner Vorstellung Gebildete –, die in das Wesensinnere Eingang gefunden haben.

Im Inbild hat sich das Bildhafte der Welt zu einer selbstverständlichen Imagination verdichtet. Das Bildhafte des Lebens, seine Szenen und Situationen sind autonom. Sie existieren unabhängig von unserem Wahrnehmen. Durch unser Identifizieren aber erhalten sie auch für uns eine Bedeutung. So ist die Seele des Kindes angefüllt mit Bildern, die manchmal im Traum wiederkehren, um sich vielleicht in neuem Licht darzustellen. Das Innenleben des Erwachsenen dagegen gleicht häufig einer bildlosen Galerie. Ein Dasein ohne Spiel und Illusion – eingesperrt von den kahlen Wänden der Abstraktion. Mit der erlebten Identifikation haben sich im Erwachsenen Konturen des Lebensgeschehens eingezeichnet. Im Sprechen greift der Mensch auf das Eingezeichnete zurück, um es – vielleicht erneut – in sprachliche Bilder zu kleiden. Ein großer Teil des rednerischen Könnens beruht in dieser Hinsicht darauf, das Inbildliche der Persönlichkeit im Inneren anzusprechen, wachzurufen und es sprachlich zu reproduzieren. Im bildhaften Darstellen fließen Denken und Fühlen ineinander. Der assoziative Rückgriff auf das schon lange bildlich Eingeprägte und die angstfreie Präsentation bilden den guten Redefluss des Sprechenden. Mit seiner Identifikationsfähigkeit bleibt der Mensch wach für vieles im Leben, das ihn ansprechen will. Dieses Identifikationsgut in seine Rede aufzunehmen, lässt ihn als einen lebensnahen und damit lebendigen Redner erscheinen. Die Integration des Bildhaften in die Rede steigert das Überzeugungsvermögen des Sprechenden. Sein sprachlicher Ausdruck stellt die Widerspiegelung des innen Ein-gedrückten, der Eindrücke, dar. Das Hervorho-

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Die psychischen Grundqualitäten

len von längst in die Persönlichkeit internalisierten Erlebnissen gibt dem Sprechenden Sicherheit. Denn „Sicherheit“ heißt für den Redner auch: vertraute Inhalte zu reproduzieren. Die Identifikationsfähigkeit als psychische Grundqualität des Redners öffnet den Innenraum auch für gefährliche gedankliche Güter. Dort, wo das Selbstwertgefühl eines Menschen nicht aus seiner Selbstintegration, sondern aus einer Fremdsteuerung entstanden ist, lauert die Gefahr fanatischer Reaktionen. Fanatismus ist stets an die Intensität von Identifikationen gebunden. Bildet der vom Außen entliehene Identifikationsinhalt das einzige Wertgut eines Menschen, so wird er dieses in verbissener Weise gegen alle Angriffe verteidigen. Fanatische Redner treten zumeist mit einem Absolutheitsanspruch auf. Ihr autoritäres Gebaren verrät, mit welcher Willenswut sie gegebenenfalls ihr Wertgebäude zu stützen versuchen. Die neurotische Form der Identifikation führt zu einer fanatischen Dominanz, die eine herrschaftsfreie Kommunikation erstickt. Vom Fanatismus beherrschte Kommunikation finden wir gegenwärtig in Auftritten radikaler politischer und religiöser Gruppen. Doch auch die subtile und unauffällige Form der Durchsetzung wirtschaftlicher Ziele wird häufig von einer unnachgiebig-fanatischen Haltung getragen, die in den Geführten erheblichen Leidensdruck verursacht. Erst die Bereitschaft, sich selbst und manchen Identifikationsinhalt wieder in Frage zu stellen, erlaubt den Aufstieg zu einer neuen Wertorientierung. Dadurch kann auch der Sprechende in seiner geistigen Haltung und in seiner rhetorischen Kompetenz wachsen.

Identifikationsfähigkeit

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II. Das habituelle Erscheinungsbild

1. Körperlichkeit Mit dem leibhaftigen Auftreten des Redners vor den Zuhörern beginnt seine ganz persönliche Selbstbekundung. Dies ist ein psychosomatisches Geschehen, denn der Redner zeigt durch die Art seiner körperlichen Darstellung, wie er sich fühlt. Für die Zuhörenden wird sichtbar, ob sich der Sprechende mehr in körperlicher Gelassenheit präsentiert oder doch unter Anspannung leidet. Welche Intensität körperlichen Wohlbefindens der Redner verspürt, das hängt – von seinem augenblicklichen Gesundheitszustand einmal abgesehen – von folgenden Erfahrungen ab:  von der körperlichen Selbstakzeptanz  von der Beziehung zum Raum  von der Beziehung zum Exponiertsein.

Die körperliche Selbstakzeptanz Das Werden der menschlichen Persönlichkeit ist immer an ihr körperliches Werden gebunden. Die somatische Selbstwahrnehmung bestimmt nicht nur in der Kindheit, sondern auch später während vieler Jahre das elementare Lebensgefühl eines Menschen. Wurde ein Kind von den ersten Lebenstagen an körperlich durch Zärtlichkeit bestätigt, so breitet sich das Gefühl des körperlichen und damit personalen Angenommenseins als Grundstimmung im Menschen aus. Mit der körperlichen Züchtigung, die ein Kind über sich ergehen lassen musste, teilte sich ihm das Leben in seinen härtesten Zügen mit. X

Menschen, die als Kinder körperlich misshandelt wurden, können später nur sehr schwer ein Selbstwertgefühl entwickeln.

Ihr Vertrauen in das Leben ist fundamental erschüttert worden. Mit dem Verlust des körperlichen Selbst-Wertes wurde auch die Entstehung des

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Das habituelle Erscheinungsbild

psychischen Selbst-wertgefühles unterbunden. Die körperliche Unlust führt zu einer Unlust dem Leben gegenüber. Mindergefühle und Gefühle der Reserviertheit drücken dies aus. Eine positive Beziehung zur eigenen Leiblichkeit dagegen teilt sich auch durch sicheres Auftreten und freudiges Sprechen mit.

Die Beziehung zum Raum Das Sprechen vor Zuhörern wird für den Redner auch zu einem Raumerlebnis. Redner und Raum stehen gleichsam in einer „Schicksalsgemeinschaft“ zueinander. Der Raum bietet das für den Redner so wichtige Gefühl der Geborgenheit; der Redner füllt den Raum mit dem ganzen Einsatz seiner zunächst körperlichen Sprechmittel. Empfindet der Redner den Raum als einengend, bedrohlich, so wird sich diese Wahrnehmung auch auf das nonverbale Verhalten auswirken. Viele Redner fühlen sich bei einer zu geringen Distanz zu den Zuhörern bedrängt und reagieren mit verstärktem Schweißausbruch. In spontanen Interviews, in denen die Befragten oft körperlich sehr dicht belagert werden, schmilzt der Raum für den Sprechenden auf eine Handbreite zusammen. Mancher Manager und Politiker empfand die Raumatmosphäre in den Fernsehstudios als kalt, unpersönlich, distanziert. Das spürt der Fernsehzuschauer nicht. Wir erwähnen dies deshalb an dieser Stelle, um ein wenig Verständnis für gelegentliche Fehlleistungen zu wecken, die Personen bei Fernsehauftritten gezeigt haben und zeigen werden. Das Sprechen am Rednerpult schafft Raum zu eigener Entfaltung. Es bietet dem Redner auch eine relative äußere Sicherheit, weil er sich hinter dem Pult verbergen und meistens auch aufstützen kann.

Die Beziehung zum Exponiertsein Das Exponiertsein beeinflusst das körperliche Erscheinungsbild des Redners in entscheidendem Maße. Die folgende Skizze soll verdeutlichen, welche Beziehungen zwischen der Exponiertheit und dem Befinden des Redners bestehen:

Körperlichkeit

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Exponierte Stelle des Redners

Situative Einengung

Angst vor der Erwartungshaltung des Zuhörers

Wenn sich der Redner in die exponierte Stelle begibt, so ist dies der Beginn seines rhetorischen Handelns. Wir verstehen unter „Exponiertsein“ zunächst die körperlich herausgehobene Stellung, also die stehende Position, die der Sprechende einnimmt, während er zu den Zuhörern spricht. (Es gibt auch ein Exponiertsein durch eine gedankliche Position oder Meinung. Diese wird uns später beschäftigen.) Mit dem Eintreten in die exponierte Stelle verlässt der Sprechende den Raum der Anonymität, der ihm zuvor Deckung gegeben hat. Das Heraustreten aus der Anonymität bedeutet für ihn Öffnen seiner Individualität. Die körperliche Selbstdarstellung, das habituelle Erscheinen also, zieht die Aufmerksamkeit der Zuhörenden auf sich. Es entsteht eine Bindung, die vom Publikum mit Erwartungen erfüllt und vom Redner mit einem gedanklichen Angebot bedacht ist. Die glaubwürdige Autorität des Redners erwächst aus der ausgewogenen Beziehung zwischen Körperlichkeit und Exponiertsein. Das Leibhaftige des Redners, das für den Zuhörer erst einmal mit den Augen Erfassbare, ragt in den Raum und in das Abwarten hinein. Je seltener ein Sprechender aus der exponierten Stelle heraus gesprochen hat, desto intensiver ist das Erleben der situativen Einengung. Was ist darunter zu verstehen?

58 X

Das habituelle Erscheinungsbild

Unter „situativer Einengung“ ist eine vorübergehende Begrenzung des sonst natürlichen Verhaltens des Sprechenden zu verstehen. Diese Begrenzung resultiert aus den Bedingungen, unter denen der Redner zu sprechen hat.

Aus welchen Gründen nun verändert die exponierte Stelle das kommunikative Verhalten des Sprechenden? Dazu seien vier Charakteristika genannt:    

Die exponierte Stelle ist außergewöhnlich. Die exponierte Stelle besitzt Zwangscharakter. Die exponierte Stelle besitzt Erwartungscharakter. Die exponierte Stelle besitzt Angstcharakter.

Diese Merkmale wollen wir etwas näher betrachten.

Die exponierte Stelle ist außergewöhnlich Im Allgemeinen verläuft das kommunikative Geschehen unseres Lebens dialogisierend. Das Zusammenleben von Menschen ist durch den Dialog bestimmt. X

Der psychische Wert des Dialogischen besteht in Hinwendung, Geborgenheit und Orientierung für die Kommunikationspartner.

Das exponierte Sprechen aber verläuft monologisierend. Es ist die Einzelrede eines allein Sprechenden. Hinsichtlich der Exponiertheit bedeutet „Monolog“ aber psychisches Alleinsein. Der Sprechende erlebt sich in einer außergewöhnlichen Situation, die von seinen sonstigen Kommunikationsmustern einschneidend abweicht. Alles von der Norm Abweichende aber verlangt vom Menschen einen besonderen Einsatz seiner körperlichen und geistigen Kräfte. Für den Redner ist es die Herausforderung, zunächst einmal körperlich mit dem Ungewöhnlichen der exponierten Stelle fertig zu werden.

Die exponierte Stelle besitzt Zwangscharakter Der Teilbegriff „Zwang“ ist hier im Sinne der Verpflichtung zu verstehen, einen Redeauftrag erfüllen zu müssen. Wenngleich die innere Identifikation mit dem zu Sagenden bestehen mag, so kann die Lust am Spre-

Körperlichkeit

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chen dennoch durch die leibliche Anspannung gemindert werden. Auch der Zwang, ein selbstgewähltes Anspruchsniveau erreichen zu wollen, bindet den Redner an eine intellektuelle Leistung, die er möglicherweise unter den Bedingungen der Redesituation als einengend empfindet. Der Wunsch nach rhetorischer Selbstverwirklichung durch die Beredsamkeit des Geistes wird von der Profanität körperlichen Befindens gezügelt.

Die exponierte Stelle besitzt Erwartungscharakter Hier sieht der Redner die andere Medaillenseite seiner Redesituation. Der Sprechende weiß, dass die Zuhörer mit Erwartungen gekommen sind. Nicht die selbstgesetzte Verpflichtung zu rhetorischer Leistung engt ihn allein ein, sondern die fremdgesteuerte Erwartung durch die Gekommenen. Wer aber die Erwartungen seiner Zuhörer kennt, erlebt die exponierte Stelle weniger einengend. Es ist eine elementare Aufgabe bei der Vorbereitung auf Redesituationen, die Erwartungshaltung der Zuhörer zu erkunden und sie selbst zu steuern.

Die exponierte Stelle besitzt Angstcharakter Die Angst, das vom Publikum Erwartete nicht bieten zu können, produziert im Sprechenden eine Unsicherheit (wohl Versagensangst), die ihm vorübergehend eine situative Einengung beschert. Die Angst ist pathologisch, wenn der Sprechende während der gesamten Darbietung keinerlei innere Lockerung verspürt und vom ständigen Gedanken an Flucht gepeinigt wird. Wie wird die situative Einengung des Sprechenden erkennbar? Wir haben die Symptome nach  somatisch (körperlich)  rational (die Verstandesleistung betreffend)  emotional (die Gefühlsäußerungen betreffend) gegliedert.

Somatische Symptome In der exponierten Stelle spricht der Redner stehend vor den Zuhörern. Oft fehlt sogar ein Tisch oder ein Pult, so dass er ganz der Nähe der Zuhörenden „ausgeliefert“ ist. Viele unerfahrene Sprechende fühlen sich

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Das habituelle Erscheinungsbild

unter solchen Bedingungen entblößt. Sie können allerdings auch noch nicht wissen, dass in der Nähe die größte Chance zu eindringlichem Überzeugen liegt. Ein auffallendes körperliches Erscheinungsbild (zu lang, zu dick, zu klein) kann bewusst oder unbewusst vorhandene Mindergefühle verstärken. Die somatischen Symptome, die wir beobachten konnten, stellen sich so dar:  geduckte Körperhaltung, bei der sich die Schulter-Nacken-Partie durch hochgezogene Schultern verspannt  stark schaukelnde, unruhige Haltung des gesamten Körpers  zitternde Finger und Hände  zitternde Knie  ziellose und unangemessene Gesten  verkrampfte Handhaltung  ticartige Bewegungen der Gesichtsmuskulatur  starrer und unpersönlicher Blickkontakt  starrer Gesichtsausdruck  Kurzatmigkeit  ausgetrockneter Mund- und Rachenraum  stärkeres und häufigeres Schluckbedürfnis  erhöhte Pulsfrequenz  kalte Hände  verstärkte Schweißbildung in den Händen und an verschiedenen Stellen des Körpers  Appetitlosigkeit  unregelmäßige Magen- und Darmtätigkeit  Verstopfung.

Rationale Symptome An der rhetorischen Darbietung ist in hohem Maße die Intellektualität des Sprechenden beteiligt. Diese Leistung des Verstandes befähigt ihn sonst, seine Gedanken nach einem logischen Konzept zu gestalten und zu präsentieren. Die situative Einengung jedoch treibt auch mit den rationa-

Körperlichkeit

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len Entwürfen des Redners ein eigenartiges Spiel. So können wir als situative Fehlleistungen beobachten:  die Gedanken werden ungeordnet dargelegt, so dass ein folgerichtiger Aufbau nicht erkennbar ist  unübersichtlicher Satzbau (verschachtelt und Satzfragmente)  Blockade bei der Entwicklung von Gedanken; der Sprechende bleibt stecken und findet nur schwer oder gar nicht den gedanklichen Anschluss  Blockade des aktiven Wortschatzes; der Sprechende zeigt Wortfindungsschwierigkeiten und verwendet andere Wörter anstelle der richtigen oder beabsichtigten  sprechtechnische Fehlleistungen; undeutliche Aussprache der Vokale, Konsonanten und Silben eines Wortes  zahlreiche Verlegenheitslaute (äh-Laute) und Versprecher.

Emotionale Symptome Die situative Einengung erfasst den weniger Geübten unnachsichtig. Das Sprechenmüssen türmt sich noch in ihm auf und verlangt danach, durch immer neues Erleben in ein Sprechenwollen gewandelt zu werden. Rhetorische Sprechakte sind vor allem emotional anspruchsvoll. Sie fordern die ganze seelische Habe des Menschen ein und lassen ihm einen kargen Rest an Mitteilbarem. Diese Reste stellen sich häufig so dar:  Unsicherheit in der Stimmführung: vibrierende Stimme, zu hohe Stimme; zu langsames, zu schnelles, zu lautes, zu leises Sprechen  hektische Redesituation  häufiges Räuspern  reserviertes und gehemmtes Verhalten  zögerndes Schauen  wagt keine Öffnung seiner Persönlichkeit  Anlässe für Reaktionen des Publikums fehlen  der Redner setzt keine Zeichen  der Redner wirkt statisch in Wort und Haltung  zeigt aggressives, arrogantes oder ablehnendes Verhalten gegenüber den Zuhörern

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Das habituelle Erscheinungsbild

zeigt distanziertes und autoritäres Verhalten wirkt ironisch, zynisch, sarkastisch wirkt gekünstelt emotional spricht in seinen Konzepten absichernd oder entschuldigend.

Was sollte ein Redner hinsichtlich der körperlichen Erscheinung als Ausdruck seiner Persönlichkeit bedenken? Der Sprechende möge in der exponierten Stelle Haltung zeigen. „Haltung“ beginnt im Inneren. Sie hat etwas mit innerem Halten, mit Haltgefunden zu tun. Er möge in ruhiger und aufrechter Haltung vor den Zuhörern stehen. Nicht in einer Schräglage – etwa mit Standbein und Spielbein. Seine Haltung sei symmetrisch. X

Die Symmetrie in der Körperhaltung erhöht die Ausgewogenheit und Konzentration beim Sprechen.

Die natürliche Körperhaltung allerdings neigt zur Asymmetrie. Dadurch fühlt sich ein stehend Sprechender locker, gelöst. Die Neigung zur Asymmetrie resultiert aus dem unbewussten Streben, eine möglichst geringe körperliche Anspannung empfinden und dadurch ein unbelastetes Körpergefühl verspüren zu wollen. Indes gehört zu öffentlichem Sprechen auch ein akzeptables Maß an körperlicher Disziplin. Nicht jede Haltung ist einem Publikum zumutbar. X

Selbstdisziplinierung drückt Würde gegenüber den Zuhörenden aus.

Es gibt eine sehr enge Beziehung zwischen dem gedanklich-seelischen Eingestelltsein und der körperlichen Ein-Stellung des Sprechenden. Eine lässig-asymmetrische Haltung zeugt nicht gerade von einer ernsthaften inneren Einstellung zu den Zuhörenden. Sie bezweifeln eher die Ernsthaftigkeit in einem derartigen körperlichen Erscheinungsbild. In der Überwindung seiner körperlichen Ambivalenz wird das Bestreben deutlich, dem Publikum mit Würde begegnen zu wollen. Die Ruhe im Auftreten ist stets ein Spiegelbild von Eigenwürde. Ein zurückweichender Oberkörper dagegen wirkt scheu, unentschlossen. Die offene, aufrechte Körperhaltung vermittelt den Zuhörern den Eindruck von Aufrichtigkeit. Aufrichtigsein und Entschlossensein sind Über-

Gesichtsausdruck

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zeugungsangebote des Sprechenden, die bleibende Eindrücke hinterlassen. Die Fußstellung und Beinhaltung des Sprechenden drücken auch seinen inneren Standpunkt aus. Wer einen Standpunkt, einen gedanklichen Standort gefunden hat, steht auch in seinem Äußeren korrekt. Geistige Unentschlossenheit zeigt sich in wankender, schaukelnder Körperbewegung, so wie sich die innere Unruhe grundsätzlich durch körperliche Unruhe mitteilt. Eine wippende Haltung nährt den Verdacht, der Sprechende wolle sich mit Nachdruck darstellen und noch eindringlicher bemerkbar machen. Aus diesem Grunde neigen auch lang gewachsene Männer zum Wippen auf den Zehenspitzen. Bei kleinen Männern ist es jedoch am häufigsten zu sehen. Das körperliche Dasein des Redners fordert ihn selbst zur Zuwendung den Zuhörenden gegenüber auf. Er zeigt die Zuwendung durch seine Körperhaltung, in der ein Ausdruck des Gebens sichtbar wird. Weil die Zuhörergruppe in der Erwartung nach Zuwendung gekommen ist, registriert sie eine ablehnende Körperhaltung als besonders negativ. Sichtbar wird die gemeinte ablehnende Haltung dadurch, dass sich der Sprechende mit dem Kopf, dem Oberkörper und dem Leib von seinen Zuhörern abwendet. Er zeigt sich von der linken oder rechten Körperseite und spricht entsprechend nur noch nach links oder rechts gewandt. Viele Zuhörer fühlen sich dadurch mehr über die „kalte Schulter“ angesprochen. Diese Haltung wirkt desinteressiert und arrogant. Einer überheblichen Haltung aber fehlt die emotionale Bereitschaft zum wirklichen Dialog.

2. Gesichtsausdruck „Das Gesicht kommt aus dem Verhüllten und geht ins Verhüllte – auf dem Wege von einem Verhüllten zum anderen Verhüllten gibt es sich zu erkennen, aber nur so, wie einer sich zu erkennen gibt, der unterwegs ist, also nebenbei und nicht vollständig.“15

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Das habituelle Erscheinungsbild

In der Tat – alles Wandelbare und Bleibende, alles Verschlossene und Offene, alles Verbindliche und Ferne ruht in einem Menschengesicht. Das menschliche Gesicht hat einen langen Prozess seines Werdens durchlebt: vom Ungeformten zum Geformten hin. Aus dem Dunkel eines ungeschichtlichen Seins ist es durch die Geburt Geschichte geworden. Der dunkle Hintergrund des Unpersönlichen hat es freigegeben zu menschlicher Individuation. Der Akt der Schöpfung trug es in die Helligkeit weltlicher Begegnung. Das Einmalige, das Eigenartige menschlichen Personseins hat im Gesicht seinen Ausdruck gefunden. Das Innere und das Äußere sprechen im Gesicht miteinander. Das Innere kann ohne das Äußere nichts bewirken. Das Innere des Menschen wäre ohne das Gesicht isoliert, versteinert, starr. X

Das Gesicht ist der Weg des Inneren in das Äußere.

Vieles aus dem inneren Menschsein wird in das Äußere abgegeben: die Freude, die Trauer, das Hässliche, das Edle. Das Wort nun, das vor das Gesicht tritt und vor ihm schwebt, muss manches zwischen dem Innen und Außen ordnen. Es könnte sein, dass ein Gesicht zerreißt, wenn die Spannung im Inneren nicht durch das Wort in Bewegung käme. So darf es sein, dass Menschen herausplatzen, plötzlich und unangekündigt. Es darf geschehen, dass nach dem Entsetzen im Gesicht bald der Schrei folgt. Das Menschengesicht drückt das Gebundensein des Menschen an sich selbst, an seine Wesenstiefe aus. Alles, was aus dieser Tiefe der Innerlichkeit emporsteigen darf, ruht im oder auf dem Gesicht. Das Menschengesicht ist gegliedert. Mit der Stirnfläche ist das Ebenmaß und die horizontale Offenheit des Gesichtes gezeichnet. Die Stirn ist geöffnet für den Raum, der sie gerade berührt: für den Innenraum und für den Außenraum. Der Innenraum des Menschen tritt mit seinen emotionalen Geheimnissen auf die Stirnfläche. So bewegt sich die Stirnpartie und teilt mit, was sie bewegt. Der Außenraum des Menschen bedrängt die Stirn und entlockt ihr reaktiv manches Zeichen: Bewunderung, Strenge, Klarheit oder Harmonie. Das Augenpaar überreicht die Seelenfülle des Menschen. Das innere Gestimmtsein, das sich zunächst hinter den Augen verbirgt, wird sichtbar

Gesichtsausdruck

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durch das Schauen des Menschen. Der Blick, der die Begegnung mit dem Umgebenden sucht, wählt aus, wem er sich schenken will. Die Augen können sich weiten, so dass das ganze Gesicht zum Auge wird. Wie ein großes Auge schaut der Mensch drein. Die Augen können sich verschließen. Die Lider gleichen Wächtern, die häufig Eindringlinge abwehren. Die Augenlider bestimmen den Augen-Blick. Der Lidschlag wird zum Ordnungsruf des Geistes, nicht alles aufzunehmen, was sich dem Menschen aufdrängt. Die geschlossenen Augen verkünden den Wunsch nach Abgrenzung von der Außenwelt. Das Fürsichsein wird zum tiefen Erlebnis von Gegenwart. Hinter den geschlossenen Lidern beginnt die Wohnung des Traumes. Die senkrechten Wangenflächen bleiben niemals für sich allein. Sie fließen hinüber zum Mund, zu den Lippen. Das Wellenartige der Wangen umschmiegt den Mund und löst sich in ihm auf. Die Nase ragt aus der Landschaft des Menschengesichts hervor, um das Profil zu verstärken. Nur die Ohren befinden sich etwas abseits am Kopf, als hätten sie keinen besonderen Einfluss auf die Ausstrahlung des Menschen. Doch ihre Pforten sind geöffnet für die intensive Aufnahme dessen, was das Außen an den Menschen heranträgt. Nur wenn der Mensch in sein Inneres einkehren will, können sich auch die Ohren verschließen. Im Hörsturz wird die Pforte für die Außenwelt verschlossen. Soweit einige allgemeine Gedanken zum Menschengesicht. Für den Sprechenden – namentlich für den Führenden im öffentlichen Leben – bedeutet das Gesicht das Aufscheinen seiner Persönlichkeit. Wie weit sein Gesicht geöffnet ist, die Feinheiten seiner Gesichtszüge für die Zuhörenden sichtbar werden, davon wird auch das unmittelbare Erleben für den Zuhörer und Zuschauer abhängen. Das Phänomen der körperlichen Nähe des Sprechenden kannte die antike Rhetorik kaum. Heute ist der Redner durch das Medium Fernsehen für jeden, der es möchte, porentief durchschaubar. Gelegentlich auch wirken Redner erdrückend nahe.

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Das habituelle Erscheinungsbild

Wo ein Redner die Nähe seiner Zuhörer besonders zulässt, baut sein Blickkontakt die lebendige Brücke zum Miteinander. So sei ein Hinweis für Sprechende nachdrücklich gegeben: X

Der Blickkontakt des Sprechenden wird nicht nach seiner Quantität, seiner Häufigkeit, sondern nach seiner Qualität, seiner Intensität, bewertet.

Der Redner möge fähig werden, mit seinem Blick bei den Zuhörern zu verweilen. Das verweilende Schauen drückt Bindungsfähigkeit aus. Im längeren Schauen vermittelt der Redner Interesse und Hinwendung zur Person des Zuhörers. Augen und Mund stehen ja in einem ständigen Dialog zueinander. Denn das Schauen begleitet das Gesagte. Das Anschauen, mit dem sich die Absicht des gesprochenen Wortes verbindet, ist ein würdigendes Zugehen auf den wartenden Zuhörer. X

Das bewusste Schauen in das Angesicht der Zuhörer hilft, das Sympathiefeld des Redners zu stabilisieren.

Oberflächliches Blicken, rasches und ignorierendes Schauen vermitteln den Eindruck von Egozentrizität des Sprechenden. Seine Unsicherheit – persönlich oder thematisch – hindert ihn noch, sich dem Publikum inniger zu widmen. Der introvertierte Redner durchbricht selten den unsichtbaren Kreis seiner Zurückhaltung. Er bleibt zu lange bei sich selbst. Im Blickkontakt liegt also auch die Verpflichtung, sich loszulassen. X

Wer seine Zuhörer anschaut, wünscht selbst, von ihnen angesehen zu werden.

Auch der Sprechende wartet auf Blicke der Zuhörenden. Versagen sie sich ihm, fühlt er sich oftmals abgewiesen, chancenlos, überzeugen zu können. Arroganz und Ignoranz sind Kinder rhetorischer Unsicherheit. Die Kopfhaltung arroganter und ignorierender Redner hebt sich über die Horizontale des Kinns hinaus. So, als blicke der Redner in eine Ferne, die nicht im Raum erkennbar sei. Über die Häupter der Gekommenen hinwegzuschauen und hinwegzusprechen, ist Ausdruck einer Hybris, die sittlich nicht gerechtfertigt werden kann. Es ist ein würdeloses Auftreten.

Gesichtsausdruck

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Die Mimik – das ist die Gesamtheit der Veränderungen des Gesichtsausdrucks – wird das Überzeugungsvermögen erst mitgestalten, wenn sie emotionale Echtheit zu erkennen gibt. X

Die rhetorische Überzeugungsfähigkeit des Sprechenden wird umso stärker sein, je deutlicher er die Einheit von Inhalt und Ausdruck durch seine Mimik vermittelt.

Erst das lebendige Mienenspiel, das die seelischen Regungen angemessen nach außen trägt, vermag die Zuhörer zu binden. Aber dazu ist – wie wir schon gesehen haben – das Zulassen von Gefühlen in der Innenwelt des Redners notwendig. Der Gesichtsausdruck wird zum Spiegelbild der emotionalen Ausdrucksfähigkeit des Sprechenden. Lebt der Vortragende in einer emotionalen Distanz zu sich selbst, so wird sein Gesicht ernst, verschlossen, weitgehend reglos bleiben. X

Der maskenhafte Gesichtsausdruck ist ein Selbstschutz des Redners. Er weist damit die emotionalen Bedürfnisse der Zuhörer zurück, die er nur schwer erfüllen könnte.

Die maskenhafte Mimik macht nicht nur unzugänglich, sondern sie wirkt auch dominant. Sprechende wünschen respektiert zu werden, weil sie durch ihre übrigen Persönlichkeitswerte kaum souverän erscheinen. Das Lächeln des Menschen ist auch ein Lächeln seiner Seele. Das Körperhafte des Gesichts wartet darauf, dass sich die Seele seiner bedient, um den Menschen in sein Lächeln zu betten. Bei einem gütigen Menschen vergeht das Lächeln nicht. Wenn es einmal nicht zu sehen ist, hat es sich in das Unsichtbare begeben. Im Unsichtbaren aber bleibt es bestehen. Lässt das seelische Befinden das Lächeln wieder zu, so erscheint es im Angesicht des Sprechenden und verbreitet Harmonie. Das lebendige Mienenspiel des Redners breitet das Unerwartete vor dem Publikum aus. Das ist das spontane Einbrechen emotionaler Kräfte in das rhetorische Geschehen. Die Lust des Zuhörers am rhetorischen Erleben wächst mit dem Überraschenden im Gesichtsausdruck des Sprechenden. So wird auch das Habituelle, das sonst formal Unscheinbare, zu einem kommunikativen Ereignis.

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Das habituelle Erscheinungsbild

Manchmal jedoch bleibt das Lächeln auf dem Gesicht des Redners stehen. Dann wirkt es unnatürlich, unecht, nicht passend. Es ist das Lächeln aus Verlegenheit, das um Verständnis für mögliche Fehler des Sprechenden bittet. Im grinsenden Gesichtsausdruck dagegen mischen sich Überheblichkeit, Ironie und Unsicherheit. Diesem Gesicht fehlt die Klarheit des Wirklichen, der Mut zum Unmittelbaren, der den Zuhörer einbeziehen müsste in das aktuelle emotionale Handeln. Im Grinsen bleibt der Redner an der Peripherie der Begegnung stehen. Der Gesichtsausdruck des Redners möge die gedankliche und emotionale Fülle seines Inneren zeigen, die ihn zu diesem Sprechen bewogen hat. Davon lebt letztlich die Fülle des Miteinanders mit dem Zuhörer.

3. Gestischer Ausdruck In der Übersetzung des lateinischen „gestus“ finden wir die Bedeutungen: „Bewegung, Gebärde, Gebärdenspiel“. Die „Geste“ als rhetorischer Terminus meint die Bewegung der Finger, Hände und Arme des Redners. Sie drücken gleichsam die körperlich-motorische Eloquenz des Redners aus. Kritiker der Rhetorik werfen den Rednern vor, sie stellten sich in einem übertriebenen, schauspielerhaften Gebaren dar, so dass die Unechtheit der gesamten Aussage schon von weitem erkennbar sei. (Wir haben auch bemerkt, dass manche Redner unter einem zwanghaften gestischen Ausdruck leiden. Sie wirken hölzern wie Marionetten. Wir betrachten solche Erscheinungen als ein Ergebnis verhaltensnormierenden Übens. Vielleicht gilt gerade für eine Zeit geistigen Verlustes das Prinzip, sich mehr den Techniken zuzuwenden. Dies gilt auch für Rhetorik-Lehrer der Gegenwart. Wer selbst kaum geistige Angebote unterbreiten kann, wem der interdisziplinäre Blick eines ganzheitlichen Schauens fehlt, der verfällt in seiner Unterweisung dem Sog des Methodischen. Ein Rhetorik Lehrender möge aber die Individualität seiner Methode verkörpern; so bestimmt der Lehrende die Methode der Unterweisung, weil sie

Gestischer Ausdruck

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originär von ihm stammt. Im gegenwärtigen Rhetorikunterricht jedoch beherrscht die Methode den Trainer weitgehend. Das unterscheidet wohl in Rhetorik-Seminaren „Trainer“ von „Lehrenden“. Trainer stülpen ein schablonenhaftes Konzept über die Teilnehmer. Am Ende einer solchen „persönlichkeitsbildenden“ Veranstaltung zeigen die Teilnehmer die gleichen Gesten und sprechen in eingeübten sprachlichen Wendungen. Wir halten dies für persönlichkeitsdeformierend, für entwürdigend, für unsittlich. Lehrende widmen sich den Teilnehmern individuell. Sie analysieren und beraten. Sie versuchen, dem Übenden einen für seine Persönlichkeitsstruktur angemessenen Weg zu weisen. Sie überlassen dem Teilnehmer auch die Entscheidung darüber, welche Verhaltensweisen und Inhalte er künftig besonders berücksichtigen will.) Cicero unterscheidet elementar den Schauspieler vom Redner. Er sagt: „Auf diese Dinge gehe ich deshalb ausführlicher ein, weil die Redner, die für die Wahrheit selbst eintreten, dieses ganze Feld geräumt, dagegen die Schauspieler, die die Wirklichkeit doch nur nachahmen, es in Besitz genommen haben ... Denn jede Regung des Gemüts hat von Natur ihren charakteristischen Ausdruck in Miene, Tonfall und Gebärde ... Alle diese Regungen muss aber die entsprechende Gebärdensprache unterstreichen; sie soll die Worte nicht wie auf der Bühne pantomimisch wiedergeben, sondern den gesamten Inhalt und Gedanken andeutend, nicht darstellend, mit energischer, männlicher Körperhaltung zum Ausdruck bringen, nicht nach Bühnen- und Schauspielerart, sondern im Stil der Waffenübung oder auch des Ringkampfs.“16 Der gestische Ausdruck des Redners ist ein Zeichen seines kommunikativen Handelns. X

Gesten sind sichtbare Hand-lungen des Sprechenden.

Es sind mit den Händen, den Handlungsträgern, ausgeführte Bewegungen. Die Gesten drücken die innere Motorik des Sprechenden aus. Denn das Bewegende existiert bereits vor dem sichtbar gewordenen Handoder Fingerzeichen. Die Gesten verwandeln den Zuhörer in den Zuschauer. Gewiss haben schon seine gesamte körperhafte Erscheinung und

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Das habituelle Erscheinungsbild

sein Gesichtsausdruck den Sehenden im Zuhörer angesprochen. Jetzt, im Auftritt der Finger und Hände, wird der Zuhörer ganz zum schauenden Zeugen der gestischen Bekundungen des Redners. Die Gesten des Kindes entstehen in früher Kindheit. Noch vor dem Spracherwerb gestikuliert ein Kind und zeigt auf Personen oder Gegenstände. Je intensiver sich das Kind mit der geliebten Bezugsperson identifiziert, desto rascher und offener fließen die Gesten aus ihm heraus. Mit dem Mannigfaltigen des kindlichen Erlebens wird auch die Gebärde zum Ausdruck des Erlebten. Der schauende Zuhörer entdeckt am Redner das Vielfältige seines Bewegungsablaufs. Vor allem wird es die natürliche, spontane Geste sein, die den Zuschauer erreicht. Im Spontanen liegt das Schöpferische. Die ungeplante Geste bricht aus dem ruhenden Beisichsein aus und springt in den Raum hinein, der sich zwischen Redner und Zuschauer wölbt. X

Natürliche Gesten eilen den Worten voraus.

Daran kann der Zuschauer die Echtheit der Gesten überprüfen. Denn das natürlich Gestische ereignet sich autonom. Die Gesten sind Kinder unserer Gedanken. Sie werden sichtbar und kehren wieder zu ihrem körperlichen Ursprung zurück. Gesten bedürfen im Allgemeinen nicht der Kontrolle durch den Sprechenden. Manchmal beklagen Sprechende, ihre Gesten seien zu ungestüm, zu aufdringlich. Hier kann eine „domestizierte Spontaneität“ seriöser wirken. Wenn der Redner frei im Raum steht, werden seine Gesten deutlicher erkennbar, als wenn ein Pult sie verbirgt. Dennoch: Dauerhaft vermag die äußere Redesituation den genuinen Bewegungsdrang des Sprechenden nicht einzuengen. Die Gesten charakterisieren das habituelle Erscheinungsbild des Sprechenden in besonderer Weise. Sie formen das Anonyme in das Persönliche, sie durchbrechen die Distanz und ebnen den Weg zum Zueinander. Für uns stellt sich die Qualität der Gesten so dar:  Gesten bilden die Beziehung zwischen Redner und Zuhörern ab.  Gesten drücken bestimmte Emotionen aus.

Gestischer Ausdruck

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 Gesten drücken Deskriptionen aus.  Gesten drücken unbewusste Selbstreflexionen aus. Gesten bilden die Beziehung zwischen Redner und Zuhörern ab Der Redner steht zu den Zuhörern – auch unbewusst – in einer Akzeptanzbeziehung. Diese fundamentale Wertigkeit bezeichnen wir mit Bejahung und Verneinung. X

Bejahung und Verneinung sind archetypische Gesten. Wir meinen damit gestische Urbilder, die sich in der manuellen Bewegung als kollektive Grundmuster erhalten haben.

In diesen archetypischen Grundbewegungen wird das unbewusste Eingestelltsein des Sprechenden sichtbar. Die Geste der Bejahung ist in unserem Kulturkreis an der geöffneten Hand zu erkennen. Eine oder beide Hände sind ausgestreckt und zeigen mit der Handinnenfläche nach oben, in die Richtung des Gesichtes des Sprechenden. Der Arm kann leicht angewinkelt oder ausgestreckt sein. In dieser Urgeste wendet sich das Innen nach außen, es gibt sich zu erkennen. Die Handinnenfläche symbolisiert die Vertrautheit mit seinem gestischen Innenleben. (Der Händedruck zwischen zwei Menschen ist aus dieser Sicht deshalb so wertvoll, weil sich beide Partner mit der Handinnenfläche berühren.) Das Handinnere bedeutet die nonverbale Intimität des Menschen. In der archetypischen Geste der Bejahung ruhen auch Geben und Nehmen. Der im religiösen Ritual opfernde Mensch bringt die Gabe zum Altar, die er in seinem Handinneren hält. Er legt das Opfer nieder und begleitet es noch eine kleine Weile mit den zu einer Halbschale geformten, aneinandergefügten Händen. Die nach oben hin geöffneten Hände bedeuten im Gebetsleben von glaubenden Menschen die Bereitschaft zur Hingabe. Die Selbsthingabe des Betenden verschmitzt in den geöffneten Händen mit dem Nehmen, mit der empfangenden Haltung. Im Bitten, im Beten, im Betteln strecken hilfesuchende Menschen ihre Hände aus, um die Leere des Inneren zu zeigen. Oft haben wir an Sprechenden in den Seminaren beobachten können, wie sich ganz allmählich ihre Hände von der leicht geballten Faust zur geöff-

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Das habituelle Erscheinungsbild

neten Hand ausgebreitet haben. Es ist schön, dieses Öffnen miterleben zu dürfen. Das in der geschlossenen Hand Verborgene, das Verhüllte, wird zum Sichtbaren. Die Hand des Redners ist sein Außen-Herz. Herz und Hand versinnbildlichen die Gefühlsbeziehung zwischen dem Innen und Außen. Menschen mit einem weiten Innenleben sprechen mit der einladenden Geste der geöffneten Hand. Die Tatkraft des Herzens schließlich wird in kraftvolles Zupacken der Hände umgesetzt. Der Sprechende wirkt eindringlicher, wenn er in Einzelgesten spricht. X

Die Einzelgeste – die mit einer Hand ausgeführte Geste – wirkt ausdrucksstärker als die mit beiden Händen ausgeführte synchrone Parallelgeste.

Die Einzelgeste verlangt mehr Mut, da sie ein impulsives Heraustreten der Hand aus einem noch ungeprägten Bewegungsablauf darstellt. Die parallel mit beiden Händen ausgeführten Gesten dagegen werden in Kreisbewegungen sichtbar, die sich aus den Handgelenken herauswinden. Parallelgesten wirken auf die Dauer langweilig, einförmig, ausdruckslos. Die archetypische Geste der Verneinung wirkt wie eine Sperre, die der Sprechende zwischen sich und den Zuschauern errichtet hat. Die Negation gehört zum Dualismus unseres Daseins. Gestisch äußert sie sich durch die nach unten gerichtete Handinnenfläche. Es ist die Haltung der Abwehr, der Scheu, des Zurückdrängens, der Distanz. Diese Geste wird dann auftauchen, wenn sich der Sprechende tatsächlich in einer Abwehrhaltung befindet. Sie überführt den Redner der Heuchelei, wenn er positive Lippenbekenntnisse hervorsprudelt, sich in seinem Inneren aber gegenüber den Zuhörern ablehnend fühlt. Hier gilt: X

Gesten sind sichtbar gewordene Gefühle.

Gesten drücken bestimmte Emotionen aus Gesten symbolisieren intensive und oberflächliche Gefühlsereignisse. So findet die emotionale Ausdrucksfähigkeit des Redners im Gestischen eine adäquate Form. Weil Gefühle das seelische Geschehen elementar

Gestischer Ausdruck

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bestimmen, können wir am Redner auch die seelischen Vorgänge während seines Sprechens beobachten. Die Geste ist die emotionale Wegbereiterin und spätere Begleiterin des Gesprochenen. Sie hebt das statische Erscheinungsbild des Redners auf und verwandelt es in dynamisches körperliches Fließen. Sie ist die sinntragend Führende, die den Dialog mit dem Zuschauer belebt. Der emotionale Sinn des Dargelegten ruft die Gesten auf, sich der Außenwelt zu zeigen. Spontan machen sie sich auf, das gesprochene Wort als das ihre zu begleiten und zu behüten. Dabei legen sie fest, in welchem Deuten der Zuschauer das Gesagte interpretieren soll. Die Faust des Redners, die geballte Kraft, Mut, Entschlossenheit, Wut, Wille verkörpert, dringt in den Raum und in das Schauen der Anwesenden ein. Anders wirken die Fingergesten. Daumen und Zeigefinger der linken oder rechten Hand, die sich mit den Fingerspitzen zart berühren, werden das Feine, Ästhetische, Zerbrechliche, Präzise andeuten. Auch die zu einer kleinen Krone zusammengefügten Fingerspitzen einer Hand bringen das Empfindsame, Partielle, sich Schließende im Gesagten nahe. Emotional negativ, weil zumeist aggressiv, wird der in die Zuschauer zielende Pfeil des ausgestreckten linken oder rechten Zeigefingers empfunden. Bei einer größeren Entfernung zum Publikum kann diese Fingergeste durchaus auch eine insistierende Sprechweise beschreiben. Der erhobene Zeigefinger ist inzwischen zum moralischen Sinnbild geworden. Im dozierenden Redestil ist er auch ein Ausdruck der Identifikation des Lehrenden mit seiner Aussage. Der Redner, der häufig über sich selbst spricht, wird mit der linken oder rechten Hand seinen Oberkörper berühren. Gesten drücken Deskriptionen aus Die deskriptiven, die beschreibenden Gesten versuchen ein Bild zu zeichnen. Wer eine Wendeltreppe, einen Kreis oder den Körper einer Frau beschreiben will, kann kaum auf diese in den Raum hineinmalende Geste verzichten. Die beschreibende Gebärde verstärkt das gesprochene Bild. Für den Sprechenden verbindet sich damit eine stärkere Empfindung, so dass er sich gestisch in das ihn Bewegende hineinlebt.

74 X

Das habituelle Erscheinungsbild

Die Geste ist nicht nur ein Einverständnis zwischen der Seele und dem Körper; sie ist es auch zwischen dem Gedanken und dem Leib.

Wo der aktive Wortschatz den Redner verlassen hat, bietet die deskriptive Geste ihren Dienst an. Die Handbewegung wird gar zum Redeersatz. Bei Menschen mit verbalen Ausdrucksschwächen wirkt das beschreibende Gestikulieren ausgleichend. Gesten drücken unbewusste Selbstreflexionen aus In den Gesten, die der spontanen Redesituation entspringen, gibt sich der Sprechende den Zuhörern unbeabsichtigt zu erkennen. Oft sind es Gewohnheits- oder Verlegenheitsgesten, die den Redner ganz „menschlich“ erscheinen lassen. Der Sprechende drückt eine augenblickliche Bewertung seines kommunikativen Zustandes aus. Die Geste der Selbstreflexion ist reaktiv und bezieht sich allein auf den Sprechenden. Dieses gestische Verhalten ist individuell; es kann bei anderen Rednern in ähnlicher Weise wiederkehren. So berührt der eine Redner seine Stirn, wenn er nachdenkt oder ihm ein Gedanke entfallen ist. Ein anderer kratzt sich am Hinterkopf, an der Wange oder fasst sich an die Nase, wenn er peinliche oder kritische Aussagen zu verkünden hat. Schließlich schiebt ein anderer Vortragender in ticartiger Bewegung seine Brille zurück, wenn er sich verlegen fühlt. Diese gestischen Notsignale bilden zugleich wichtige Identifikationsangebote für die Zuhörer. Im Gestikulieren auch einen Menschen zu erblicken, der zwischen Gelassenheit und Unbeholfenheit schwebt, wirkt für die meisten Anwesenden beruhigend. Der gestische Ausdruck des Sprechenden wendet sich an ein Gegenüber, das für Gefühle empfänglich ist. Es besteht die Gefahr, dass auch künftig unser menschliches Miteinander von zu viel Sachlichkeit überschattet wird. Das bedeutete auch einen Verlust gestischer Individualität. Wer sich in seinen Gebärden weiterentwickeln will, möge bereit sein, seinen Gefühlen Raum zu geben. Dann folgt das Gestische von selbst.

Gestischer Ausdruck

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III. Das sprecherische Erscheinungsbild

1. Atmung Es ist nicht unsere Absicht, den zahlreichen Publikationen über „Atemtechnik“ einen weiteren Absatz hinzuzufügen. Im Literaturverzeichnis haben wir einige Titel aufgeführt.17 Atmung unter persönlichkeitsbildenden Gesichtspunkten zu betrachten, legt eine andere Dimension nahe: die seelisch-meditative Dimension des Atmens. In den Yoga-Sutras des Patanjali, einer Anleitung zur Lebensmeisterung durch Selbsterkenntnis, lesen wir über den Weg zur Beruhigung des Gemüts Folgendes: „Durch richtiges Atmen, durch die bewusste Lenkung des Atemstromes (prana) wird eine rasche Sammlung und Beruhigung des Gemüts erlangt ... Mit jedem Atemzug zieht der Übende Weltkraft in sich hinein, sättigt sich mit kosmischer Wirklichkeit, badet in dem kristallenen Lebensstrom des Alls.“18 Die bewusste Konzentration auf den Vorgang des Atmens ist nicht nur der Beginn von Ruhe, sondern der atmende Mensch tritt auch in Verbindung mit seinem Urgrund. Gerta Ital, die für sieben Monate in einem zen-buddhistischen Kloster in Japan weilte, beschreibt ihr Atemerlebnis so: „Ich war nur auf das ‚Mu‘ und den Atem konzentriert, der ruhiger und ruhiger kreiste. Plötzlich wusste ich – – ich kann nicht erklären, wie es geschah, ich kann nur sagen, plötzlich wusste ich: Der Atem ist der Beginn der Schöpfung. Und ich bin der Schöpfer selbst. Mit diesem ‚Wissen‘ zugleich stieg ein Lachen in mir auf,

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Das sprecherische Erscheinungsbild

strahlend und glückselig, und es fand während der ganzen Meditation kein Ende.“19 Der Atem ist der Hauch des Inneren, die Verbindung zwischen Leib und Seele. Der Herzschlag und die Atmung entziehen sich dem Willen des Ichs. Der Mensch kann beides nicht willentlich lenken. X

Herzschlag und Atmung sind die existenziellen Geschenke des Schöpfers an den Menschen.

Im Atemrhythmus fließt auch der Lebensrhythmus dahin: das Aufnehmen, Festhalten und Loslassen des Erhaltenen. In der Atemnot, wie sie besonders ängstliche Menschen erleben, drückt die Angst die Atemwege zu. Lebensangst erschwert das Atmen. Ohne den Atem ist das Sprechen nicht möglich; ohne den Luftstrom aus dem Körperinneren können die Stimmbänder nicht zum Schwingen gebracht werden. Das Sprechen ist an das Ausatmen gebunden. Wenn in unser Verstehen von „Atem“ auch die Bedeutung des griechischen Wortes „pneuma“ für „Hauch“ und „Geist“ einkehrt, so ist Atmung auch das Erfülltwerden von Geist, ausatmen deshalb das Aussenden von Geist in die Welt. Wer etwas ausspricht, also beim Sprechen ausatmet, gibt geistiges Gut an die Menschen ab. Im Einatmen kann der Mensch nur sehr schwer sprechen. Es widerspricht der natürlichen Ordnung, dies zu tun. Deshalb ist es mit großer Anstrengung beladen. Der Einatmende soll sich zurücknehmen, besinnen, den inneren Raum bereiten für das, was einziehen will. Das Einatmen wird reicher, wenn sich der Atmende dabei vorstellt, gute Kräfte und Licht in sich aufzunehmen. Im Einatmen durch die Nase wird der Luftstrom enger, feiner. Das langsame Einatmen durch die Nase ist wie ein zartes Prüfen dessen, was die Außenwelt an uns heranträgt. So ist auch das feine Einatmen mit vorsichtigem, behutsamem Riechen zum Inbegriff von atmender Zartheit geworden. Nicht alles erhält durch das Einatmen Einlass in die feinen Gewebekammern des Innenmenschen. Nicht Hitze und Kälte, nichts Übelriechendes und nicht das Feste und Flüssige dürfen den Eingang passieren. Nur der feinste Stoff, der Lebensodem, findet im Menschen sein Wesen.

Atmung

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Die Kurzatmigkeit verdeutlicht die angespannte Beziehung zwischen Atmung und Nervosität. Das Einatmen, das in knappen Schnappbewegungen des Mundes durch den Mund erfolgt, wirkt wie ein fast lautloses Ringen um Luft. Das kurzatmige Aussprechen der Gedanken zerstückelt die Aussage des Redners in sinnverstörende Satzelemente, weil die Pausen an unerwarteten Stellen eintreten. Der Sprechende möge sich das Einatmen durch die Nase angewöhnen. Zwar ist dies in Phasen erregten Vortragens nur schwer möglich; doch zugleich fordert die Sprechpause (wir behandeln sie später noch ausführlich) den Redner auf, sich erneut auf sein Atmen zu besinnen. Das Einatmen während der Rede sammelt Kräfte im Inneren, festigt das Stehen und speichert Reserven für das Aussprechen. X

Bewusstes, kontrolliertes Einatmen verleiht Sicherheit. Der Sprechende fühlt sich durch den aufgenommenen Sauerstoff erfrischt und neu belebt.

Bevor der Sprechende mit seinen Ausführungen beginnt, möge er zwei bis drei Mal tief durchatmen. Beim Einatmen fühle er sich mit Kraft und Licht beschenkt; für kurze Zeit (zwei bis drei Sekunden) bewahre er dieses Gefühl des Beschenktseins in seiner Wesenstiefe und gebe beim Ausatmen durch den Mund Unruhe, Anspannung, Rastlosigkeit und weiteres Negative, das ihn bedrückt, ab. X

Lampenfieber entsteht zu einem großen Teil aus angespannter, unausgeglichener Atmung.

Das Ausatmen während der Rede gebiert den Sprechakt. Das gedankliche Wollen initiiert ihn und trägt die Stimme in rascher Folge aus dem Schweigen in das Außen. Diese mentale, somatische und psychische Verwobenheit des Innen mit dem Außen kennzeichnet die persönliche Wirkung des Redners. Ruhiges Atmen verstärkt die Souveränität des Redners. Er spricht und bleibt gelassen. Seine Stimme klingt fest und in ihm ruhend. Den Atemstrom beim Sprechen bewusst zu lenken, ist eine bedeutende Form von

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Das sprecherische Erscheinungsbild

Eigensteuerung. In welcher Weise das geschieht, darüber werden die nächsten Abschnitte berichten.

2. Artikulation Unter „Artikulation“ verstehen wir das sprechtechnische Vermögen des Redners, Vokale, Konsonanten und Silben in akustisch-phonetisch angemessener Weise aussprechen zu können. An der Deutlichkeit der Aussprache sind die Zunge, die Zähne und die Lippen-Mund-Partie des Sprechenden beteiligt. Die Art der Artikulation charakterisiert die Sprechtechnik des Redners und damit seine Wirkung auf die Zuhörenden. Die Artikulation ist das bedeutendste Kriterium zur Bewertung der Sprechtechnik. Sie prägt das rhetorische Fremdbild des Redners in erheblichem Maße. X

Die Artikulation bildet das psychische und sittliche Fundament der Sprechtechnik.

Warum ist das so? Mit der Artikulation beginnt der Sprechakt; denn Artikulation ist zuerst Öffnung des Mundes. Die Öffnung des Mundes aber setzt einen psychomotorischen Antrieb voraus, der den Unterkiefer und die Lippen bewegt. Das Sprechenwollen wird zum entscheidenden Ausdruck der kommunikativen Initiative des Redners. X

Sprechenwollen setzt einen psychischen Antrieb voraus.

Indem der Sprechende den Mund öffnet, überschreitet er die Schwelle des Schweigens und signalisiert seine Sprechbereitschaft. Die Artikulation gibt zu erkennen, wie der Sprechende selbst zu seinem Sprechakt steht. Der gehemmte Mensch, dessen Gesprächsinitiative schon in früher Kindheit blockiert wurde, wird seinen Mund nur leicht öffnen, um sich mitzuteilen. X

Gehemmtes und undeutliches Sprechen drückt eine gestörte Beziehung zur Selbstbekundung aus.

Artikulation

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In der Artikulation wird die psychische Eigensteuerung des Redners hörbar. Die Deutlichkeit der Aussprache weist auf ein bewusstes Sprechen hin, das die Identifikation mit dem Gesagten vermittelt. X

Wer gedanklich deutlich verstanden werden will, möge auch in seiner Artikulation deutlich sein.

Deutliches Artikulieren ist ein zeichenhaftes Sprechen. Das einzelne Wort als Zeichen einer Mitteilung wird durch die Lippen geformt und zu seinem Empfänger geführt. Ist das Artikulieren ein Ausdruck des Inneren, dann sind Mund und Wort nicht getrennt. Ist aber die Seele des Sprechens verhüllt, dann sind auch die Worte verhüllt. Das undeutliche Sprechen ist ein verhüllendes Sprechen. Es hört sich an, als seien über die Worte, die Silben und Konsonanten Schleier gelegt. Das nuschelnde Sprechen wirkt wie eine Flucht des Redners, beim einzelnen Wort nicht festgelegt werden zu wollen, eine Flucht aber auch vor der Identifikation mit der Worttiefe. Der Redner will sich selbst nicht gedanklich in die Worttiefe hinabbegeben, weil eine seelische Berührung mit dieser Tiefe Ängste auslösen könnte – Ängste möglicherweise, die an frühere Worterlebnisse heranreichen und heute verdrängt bleiben sollen. In der Artikulation sollen Wort und Mund verschmelzen. Die einzelnen Vokale, die das Emotionale des Artikulierens betonen, ragen heraus aus der Klanglandschaft, um das Runde, Volle, Harmonische, Spitze oder Leere eines Wortgebildes zu malen. Der psychisch gehemmte Mensch, der ja meistens auch ein wortgehemmter Mensch ist, kann die Vokale „a, e, i, o, u“ auch nicht heiter oder jubelnd aussprechen, weil sein seelisches Daheim kaum emotionale Höhepunkte erfährt. Zu einer deutlichen Artikulation gehört das Hervorheben der Silben eines Wortes. Silben sind die Gliedteile eines Wortes. Der Sprechende, der sich für das gesprochene Wort verantwortlich fühlt, da er sich in ihm wiederfindet, weiß auch mit der Feinheit des Wortes umzugehen. Die Feinheit des Wortes erblickt er in der einzelnen Silbe. X

Überzeugende Sprechtechnik kennt die Sorgfalt in der Aussprache der Silben.

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Das sprecherische Erscheinungsbild

Jedes Wort besitzt einen eigenen Körper. Wer diesen Körper würdigt, der spricht das einzelne Wort bedächtiger aus als jener, der über die Wortkörper hinwegrennt. Die besonnene Aussprache grenzt die Worte voneinander ab und bringt auch die Endsilben, die Endungen zum Ausdruck. Dennoch soll die Artikulation nicht zu einem Stakkato erstarren. Die Kunst des fließenden Artikulierens besteht darin, den emotionalen und intellektuellen Wert des einzelnen Wortes sprecherisch hervorzuheben und ihn in den Wortreigen der Gesamtaussage einzureihen. Die Art der Artikulation drückt auch eine elementare Freude oder Distanz zum Sprechen aus. Die Freude am Sprechen mag aus vielen positiven Erfahrungen der Kindheit und Jugend hervorgegangen sein. Sich selbst als Sprechenden erlebt zu haben, das beflügelt zu weiterem artikulatorisch lebendigen Darstellen. Schwieriger verhält es sich mit den negativen Gefühlen bei der Aussprache. Wir denken dabei an Menschen, die sich wegen ihrer mundartlichen Herkunft scheuen, öffentlich zu sprechen. Diese Menschen bewegen sich relativ sicher im Kreis derer, die diese Mundart ebenfalls sprechen und verstehen. Bei öffentlichen Auftritten aber sind diese Sprechenden gehemmt und sprechen auch deshalb undeutlich. Oftmals verzerrt schon die Mundart eine deutliche Artikulation. In ähnlicher Weise gehemmt erscheinen Menschen, die sich wegen ihrer Zahnstellung oder ihrer Zahnpflege schämen. Nicht immer war es Menschen in ihrer Kindheit möglich, aufgrund einer Deformation des Oberkiefers eine angemessene kieferorthopädische Korrektur ihrer Zahnstellung vornehmen zu lassen. So ist mancher Zahn schief geblieben und deshalb manche Aussprache unklar. Jene, die um ihr unattraktives Gebiss wissen, öffnen den Mund nicht so gern. Auch dadurch entsteht eine verschwommene Aussprache. Mit der Zahnstellung, vor allem jedoch mit infantilen Restwünschen, hängt die undeutliche Aussprache des S-Lautes zusammen. In der Umgangssprache gibt es dafür die Bezeichnung „Lispeln“. Die erweiterte Form der fehlerhaften Aussprache der Zischlaute heißt „Sigmatismus“. Dazu eine medizinische Bemerkung:

Artikulation

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„Der Sigmatismus ist ein Aussprachefehler der Zischlaute, der sehr oft zu beobachten ist. Als Ursache für das verbreitete Auftreten mag gelten, dass die Zischlaute zu den Lauten gehören, die ein feines Artikulationsgefühl und eine exakte Einstellung der Artikulationsorgane erfordern.“20 Die Zeit des kindlichen Spracherwerbs legt das Fundament für die spätere Sicherheit im sprecherischen Auftreten. Eltern als Führende mögen sich dieser Verantwortung oft genug bewusst sein. Die sittliche Qualität der Artikulation liegt in der Absicht, gegenüber dem Zuhörerkreis deutlich und verständlich sprechen zu wollen. Die gedankliche Intention hat in der Artikulation eine Hilfe gefunden, die das Verstehen des Gedachten durch lebendiges Aussprechen erleichtert. X

In der deutlichen Artikulation wird die Wertschätzung gegenüber den Zuhörern spürbar.

Wer deutlich spricht, wünscht vom Publikum ohne artikulatorischakustische Missverständnisse verstanden zu werden. Eine klare Aussprache ist Ausdruck eines würdevollen Umgangs mit dem Zuhörer. Das Ernstnehmen des anderen hebt das Trennende auf, das durch die Unartikulation entstanden sein könnte. Im unartikulierten Sprechen, im verschwommenen Hinwerfen von Silbenfragmenten, geschieht die Entweihung des Sprechens. Denn das Sprechen wird würdig durch den Sinn, den es kundtut. Das Unartikulierte verwirft den Sinn: den Sinn des Wortes, den Sinn der Beziehung zu sich selbst und den Sinn der Begegnung mit dem Zuhörer. Im Artikulieren lebt Sittlichkeit: sich der ethischen Pflicht zu unterwerfen, die Zuhörenden durch das Gesprochene in das Wesen des Wortes einzufahren. Artikulation ist dann kein auf das Phonetische reduziertes Tönen, sondern die besondere Weise, dem Wort im Zuhörer Raum anzubieten.

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Das sprecherische Erscheinungsbild

Was kann der Übende tun? In Sprechübungen das eigene Artikulationsvermögen kennen zu lernen, ist sehr hilfreich. Die Sprechübungen können aus dem Vorlesen eines beliebigen Textes bestehen. Der Sprechende möge sich bei der Aussprache der einzelnen Wörter besondere Mühe geben. Das Vorgelesene möge auf einem Tonträger aufgenommen werden, z. B. einem Diktiergerät. Zur Verbesserung der Aussprache gehört die ständige und gründliche Kontrolle. Der Übende möge den gesprochenen Text nun anhören und eventuelle Artikulationsfehler korrigieren. Es wird außerdem notwendig sein, sich auch außerhalb der Übungsphasen zu beobachten. Bei Vorträgen, Besprechungen oder Telefongesprächen bietet der kommunikative Alltag genügend Anlässe, die Sprechdeutlichkeit zu überprüfen. Die ständige Selbstbeobachtung möge sich auch auf die Analyse von Missverständnissen beziehen, die auf ungenügende Artikulation zurückzuführen sind.

3. Intonation Mit „Intonation“ als Merkmal der Sprechtechnik ist die Veränderung der menschlichen Stimme nach ihrem Tonhöhenverlauf während des Aussprechens eines Satzes gemeint. In der verkürzten Form bezeichnet „Intonation“ die Satzmelodie des Sprechenden. Außerdem tritt die Fähigkeit des Redners in den Vordergrund, das jeweils wichtige, bedeutungstragende Wort der Aussage durch die richtige Betonung hervorzuheben. Somit sind in der Intonation zwei Sprechintentionen enthalten:  die Satzmelodie  die Betonung des wichtigen Wortes im Satz.

Die Satzmelodie Der Sprechende verbindet mit dem Satz, den er ausspricht, ein bestimmtes stimmliches Engagement. Das stimmliche Werden am Satzbeginn

Intonation

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enthiillt sich zum Hahepunkt der Aussage als das zu Betonende und klingt nach der Verkiindung des Anliegens zum Satzende wieder aus. Diese als "Vollschluss" bezeichnete ansteigende, auf der Hahe verweilende und danach in die unverspannte Ausgangslage einsinkende Stimmflihrung bietet zugleich flir den Harenden eine inhaltliche Orientierung an. Zum Beispiel:

I

IMl

Als der Arzt eintrat, kehrte Ruhe im Zimmer ein.

Als "Halbschluss" wird folgende Stimmflihrung bezeichnet: Der Sprechende verweist in einer Hingeren Aussage durch die halbhoch gehaltene Stimme auf weitere, in den folgenden Teilaussagen enthaltene gedankliche Schwerpunkte. Zum Beispiel: Wenn Sie bei Tante Emma einkaufen und damit ihren Laden

u!!!erstii~en, tun

Sie ein gutes Werk.

Der Halbschluss tritt auch bei Redeteilen auf, die noch nicht abgeschlossen erscheinen und damit auf weitere sinntragende Aussagen hinweisen sollen. Zum Beispiel bei der Anrede, bei Ankiindigungen, denen eine sinntragende Aussage folgt oder bei Aufzahlungen. Etwa:

I

Liebe Zuschauer, Sie sehen das Abendprogramm.

Oder:

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I

Das sprecherische Erscheinungsbild

Der Minister sagte: "Ich erkHire hiermit meinen Rticktritt."

SchlieBlich nimmt innerhalb der Intonationsregeln der Frageton ("Hochschluss") eine sehr wichtige Position ein. l'> Der Frageton besitzt Aufforderungscharakter.

Zum Beispiel:

I

I I I

SolI ich Ihnen das erkliiren?

We' bum ,;ich mch' tibe' die,en Sieg frenen?

Die Betonung des wichtigsten Wortes im Satz Die Betonung des sinntragenden Wortes im Satz zeigt, welche semantische Tiefe der Sprechende seiner Aussage beimisst. Andert sich die Betonung, so erhalt dieselbe wortliche Aussage eine neue Bedeutung. Zum Beispiel:

• I

Die Arbeitnehmer leisten viele Oberstunden.

Die Arbeitnehmer leisten viele Oberstunden.

I I

Die Arbeitnehmer leisten viele Oberstunden.

Die Arbeitnehmer leisten viele Oberstunden.

Modulation

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Unter dem Druck der situativen Einengung betonen manche Sprechende auch in den Medien einige Worte falsch. In den Reportagen zu bestimmten Sportveranstaltungen verführt die Hektik des sportlichen Geschehens die Berichterstatter oft dazu, die Präpositionen zu betonen, nicht aber die treffenden Substantive. So sind bei Fußballübertragungen immer wieder solche oder ähnliche Wendungen zu hören: /

/

Der Verteidiger schießt in die Mitte, läuft am Stürmer vorbei / und holt sich den Ball wieder aus dem Strafraum.

Der kommunikative Wert der Intonation liegt vor allem in der engen Bindung des Sprechenden an seine Aussage. Das heißt, dass der Sprechende zu erkennen gibt, wie sehr er in seinen Worten lebt. Denn eine gute Intonation, eine Betonung der inhaltlichen Feinheiten ist nur möglich, wenn der Sprechende im Raum seiner Gedanken Ordnung, Disziplin und Übersicht bewahrt hat. Wer einen Satz beendet und die Stimme nicht im Sinne des Vollschlusses senkt, lässt die Zuhörer in einer unaufgelösten Spannung zurück. Wer eine Frage formuliert und am Ende der Frage die Stimme senkt, kann nicht eindringlich und auffordernd sprechen. Die Intonation verläuft während des Sprechens weitgehend automatisch. Doch die Stimmführung am Ausklang einer Aussage bedarf einer bewussten Beobachtung.

4. Modulation Die Stimmführung des Sprechenden ist ein Ausdruck seiner Gefühlssteuerung. Die Stimme steigt mit dem Atem aus dem Wesensgrund der Persönlichkeit auf und dringt an das Ohr des Zuhörers. In welcher Weise der Redner sich selbst vom Anliegen seiner Aussage erreichen lässt, das hört der Zuhörende in der Modulation der Stimme.

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Das sprecherische Erscheinungsbild

„Modulation“ ist die emotionale Ausdrucksfähigkeit der Stimme.

Es ist die Klangfarbe, die Klangfülle, das Klingen schlechthin eingewoben in den Seinsgrund der Stimme. Der Urklang der Stimme macht sie einmalig und unverwechselbar. Noch typischer für das Persönliche als das Gesicht ist die Stimme des Menschen. Die Stimme verändert sich nicht. Das Alter vielleicht vermag die Stimme zu lenken, doch das Personhafte bleibt ihr treu. Menschen erkennen sich an ihrer Stimme, denn mit der Stimme tritt die Person hervor. Das Unveränderliche der Stimme deutet auf ihre metaphysische Herkunft hin. Darauf, dass es im Menschen etwas Unveränderliches gibt. Wer spricht, gibt daher auch das in seiner Person Bleibende durch seine Stimme zu erkennen. So scheint es, als existiere die Stimme unabhängig von der Person des Sprechenden, wenngleich sie das Persönliche an ihm ausmacht. Das Timbre – die Klangfarbe der Stimme – erklingt auch, wenn der Mensch, den wir kennen, nicht spricht. Wir können die Stimme in unsere Klangvorstellung rufen und bei ihr verweilen, bis sie verhallt. Bei einem Sprechenden, den wir nicht sehen, ist die Stimme allein da. Dann ist der Redner ganz seine Stimme geworden. Doch in der Rede vor Zuschauern wird jene Stimme lebendig, die sich auch im Gesicht des Redners bewegt. Das Gefühl ist das in der Rede und die Rede Bewegende. Wird das Gefühl so stark, dass es im Herzen des Sprechenden nicht mehr genügend Raum findet, dann tritt es nach außen. Es bemächtigt sich der Stimme, um von sich selbst zu künden. X

Die Stimme ist der Ausdruck der Lebensstimmung eines Menschen.

In der emotionalen Weite der Stimme, ihren lebendigen Schwingungen, drückt sich eine heitere Stimmung aus, die auf die Zuhörer überspringt. Die Zuhörer lassen sich meistens vom Beschwingten eines stimmlichen Klanges erfassen. Für den Vortragsstil belastend wirkt sich die monotone Stimmführung aus. Es erhebt sich in der Tat die Frage, ob es im Zusammenhang mit Monotonie eine Stimm-Führung gibt. Die eintönige, gleichförmige und ohne Höhepunkte wirkende Stimme vermittelt dem Zuhörer das Gefühl von Gleichgültigkeit, Distanz, Reserviertheit und Introvertiertheit des

Sprechpausen

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Sprechenden. Als sei die Gefühlswelt des Sprechenden zugeschüttet vom Gram über die Welt, so klingt gar die depressiv-monotone Stimme. Oft geht diese Stimme einher mit einem ernsten, strengen Gesicht. Auch der Zuhörer erwartet wohl kaum eine Heiterkeit des Herzens, wenn er die monotonen Stimmschritte des Sprechenden vernimmt. Doch auch das sei gesagt: Im Monotonen ruht das Unaufdringliche. Das, was sich emotionalen Reizen entzieht, weil es bei sich bleiben will. Die Monotonie einer Stimme klingt unbeeinflussbar, vorsichtig und fürsorglich. Im unaufdringlichen Sprechen respektiert der Sprechende die Eigenhaltung des Zuhörers. Der monotone Sprecher maßt sich nicht an, seine Norm über die des Rezipienten zu setzen. Viele Führungskräfte haben Mühe, sich stimmlich darzustellen. Das ist nicht eitel gemeint, sondern als emotionales Identifikationsangebot für die Geführten. Bei jenen Managern, die einer rationalen Kontrolle unterliegen, haben wir meistens eine sachliche und distanzierte Art der Stimmgestaltung erlebt. X

Das Zulassen von Gefühlen belebt die Modulation des Sprechenden. Modulation ist so ein emotionales Bekenntnis.

Aber nicht nur das ist sie. Die nach Höhen und Tiefen modulierende Stimme wirkt leicht, wenn der Sprechende mit innerer Gelöstheit spricht. Sie wirkt schwer, wenn die Worte aus trockenem, steinigem Wesensgrund aufsteigen. Die Modulation vertreibt das Fremde zwischen dem Sprechenden und den Zuhörern. Damit wandelt sie stimmliche Nähe zu menschlicher Nähe. Erst dadurch gelingt dauerhaftes Überzeugen.

5. Sprechpausen Häufig bleibt von rhetorischen Darbietungen nur noch der Eindruck, dass der Redner pausenlos gesprochen habe. Das Ergebnis ist gleichwohl deprimierend, denn die Zuhörer haben kaum einen Gedanken mitnehmen

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Das sprecherische Erscheinungsbild

können. Auch das mag ein Merkmal der gegenwärtigen Lebensbedingungen sein: aus Zeitnot schnell und ohne Pausen zu sprechen. Was jedoch ihre psychische und sittliche Qualität betrifft, so besitzt die Pause eine Reihe von Attributen, die sie als sprecherisches Zeichen besonders empfehlenswert erscheinen lassen. Die wichtigsten Attribute seien aufgeführt:       

Pausen begünstigen die Atmung. Pausen gliedern Aussagen. Pausen helfen, das Gehörte zu verarbeiten. Pausen lenken den Redner auf die kommende Aussage. Pausen ermöglichen Kontrolle. Pausen regeln das Sprechtempo. Pausen kennzeichnen die Sicherheit und Souveränität des Sprechenden.

Pausen begünstigen die Atmung Die Atmung ist die körperliche Urbewegung des Sprechenden. Sie gestaltet den Redefluss zu jenem gedanklichen und stimmlichen Bekunden, das die Zuhörenden als gebundene und harmonische Darbietung empfinden. Doch es scheint, dass sich dem Atemfluss ein Gebietendes entgegenstelle. So souverän das Atmen in sich selbst ruhen mag, so sehr ist es auch angehalten, sich zurückzunehmen. Das Atmen, das Sprechen und die Sprechpause müssen sich arrangieren, wem zu welcher Zeit der Vortritt gebührt. X

Die Sprechpause bewahrt den Redner vor Atemnot.

Die Pause durchbricht die Vorherrschaft der Atmung. Während die Atmung sonst uneingeschränkt zum Wohle des Sprechenden wirkt, wird sie in der Sprechpause still. In der Pause des Redners hört das Atmen für kurze Zeit auf, um zu einer neuen Sequenz auszuholen, in der die Stimme umso kraftvoller und eindringlicher spricht. Der Sprechende ist auf die Pause angewiesen, weil sie ihm die Rekreation anbietet, die sein Körper wünscht.

Sprechpausen

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Pausen gliedern Aussagen Der Sprechende trägt zwar das gedankliche Kontinuum in seiner Vorstellung mit sich herum. Doch der Wert des Gedanklichen zwingt den Redner dazu, seine Aussagen zu portionieren. Ungeachtet der Struktur seines gedanklichen Konzeptes vermag die Sprechpause die Gliederung im Feinen des gedanklichen Netzwerkes zu bewirken. Die gedankliche Feingliederung durch die Pause erfüllt eine sinngebende Funktion. Denn dort, wo die Pause eintritt, wird eine Sinneinheit in der Aussage gebildet worden sein. Meistens fallen Sprechpause und Satzzeichen zusammen. Zum Beispiel: „Wenn wir daran denken,/ was unsere östlichen Nachbarn im Kriege erleiden mussten,/ werden wir besser verstehen,/ dass der Ausgleich,/ die Entspannung/ und die friedliche Nachbarschaft mit diesen Ländern/ zentrale Aufgabe der deutschen Außenpolitik bleiben.“21 In der freien Rede verlangt das Einlegen der Sprechpause erheblich mehr Denkdisziplin als in der geschriebenen Rede. Das bedeutet: Der Sprechende muss eine gute Übersicht über die Gedanken- und Satzstruktur besitzen. Zugleich nimmt er Rücksicht auf das Aufnahmevermögen seiner Zuhörer, die er durch die Sprechpausen gedanklich lenkt und begleitet. Pausen helfen, das Gehörte zu verarbeiten Das Rücksichtnehmen auf die Zuhörer – insbesondere bei einem heterogenen Publikum – charakterisiert den Redner als einen sozialen Kommunikationspartner. Den Zuhörenden die Chance zu bieten, das Gehörte zu verarbeiten, ist ein Ausdruck kommunikativer Kompetenz. Egozentrierte Redner gehen mit den Zuhörern unpersönlich um. Sie erwarten, dass ihnen das Publikum folgen könne, und sprechen pausen- und atemlos. X

Die Überzeugungsfähigkeit des Sprechenden wird wesentlich davon geprägt, auf das gedankliche Verstehen der Zuhörer eingehen zu können.

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Das sprecherische Erscheinungsbild

Wer ohne Pausen spricht, möge sich nicht wundern, wenn das Publikum das Gesagte nur selektiv aufnimmt. Pausen lenken den Redner auf die kommende Aussage Der Sprechende selbst benötigt – vor allem in der freien Rede – genügend Spielraum, um seine Gedanken immer wieder zu konzipieren. Spricht er mit einem Stichwortzettel, so kann der sequenzielle Ablauf in folgender Weise geschehen: Der Redner legt die Sprechpause ein, schaut auf den Stichwortzettel, prägt sich das nächste Stichwort ein und blickt wieder auf, um zu den Zuhörern zu sprechen. Bei der Manuskriptrede möge der Redner mit dem Text weitsichtig umgehen. Damit ist gemeint, er möge die Sprechpause nutzen, um den nachfolgenden Wortlaut aufzunehmen und ihn dem Zuhörerkreis frei vorzutragen. In der Spontanrede, z. B. einer Replik oder einer InterviewAntwort, wird der Sprechende bewusst Sprechpausen einlegen, um sich auf den neuen Gedanken einzustellen. Für spontane Redesituationen gilt: X

Die Sprechpause bewahrt den Redner vor der Fremdsteuerung durch seine Herausforderer. Der Sprechende selbst entscheidet, wann er antworten wird. Er lässt sich den Interaktionsrhythmus nicht aufzwingen.

Pausen ermöglichen Kontrolle Der Sprechende kann nichts dagegen tun, von den Zuhörern ständig beobachtet und kontrolliert zu werden. Es ist allerdings eine Frage seines Selbstwertgefühles, ob er rhetorisches Auftreten als Kontrollereignis oder als Chance, zu überzeugen, interpretiert. Die Sprechpausen bieten jedoch auch dem kritischen Zuhörerkreis die Gelegenheit, das gedankliche Angebot zu prüfen. Sprechende, die kaum Pausen einlegen, wirken verdächtig. Sie erscheinen so, als wünschten sie nicht, dass das Gesagte auf seine Substanz näher durchschaut werde. Durch solch ein Fluchtsprechen verliert der Redner rasch an Glaubwürdigkeit. Dagegen ist die bewusst gesetzte Sprechpause ein Bekenntnis des Redners zu dem von ihm Vorgetragenen. Es ist der Hinweis darauf, den Zuhörern nichts verborgen oder manipulativ vorenthalten zu haben. In solchen Sprechpausen verbirgt

Sprechpausen

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sich auch die Bereitschaft, mit dem Publikum über das Gesagte disputieren zu können. Pausen regeln das Sprechtempo Wer schnell spricht, verfällt leicht dem unartikulierten und wenig gut betonten Sprechen. Im schnellen Sprechen kommt eine Rastlosigkeit und Hektik zum Vorschein, die sich auf die Beziehung zu den Zuhörern und auf die Verständlichkeit des Gesagten sehr negativ auswirkt. X

Schnell sprechende Menschen sind meistens auch ungeduldige Menschen.

Es ist die Ungeduld mit sich selbst, aber auch mit den Dialogpartnern. So sind ungeduldige Menschen oft schlechte Zuhörer. Ihre Egozentrizität hindert sie daran, sich im Zuhören dem sprechenden Partner zu widmen. Im schnellen Sprechen liegen häufig Ängste verborgen. Die kindliche Erfahrung hat solchen Menschen genügend Beweise geliefert, dass sie nur durch schnelles Darlegen ihrer Themen Gehör bei ihren Bezugspersonen finden konnten. Die Angst, im Gespräch die Zuwendung ihrer Partner verlieren zu können, treibt diese Menschen – inzwischen unbewusst – zu schnellem Sprechen an. Im Unbewussten des schnell sprechenden Menschen schimmert auch die Abwehr von Schuld. Schnelles Sprechen ist wie eine Art verbalen Reinwaschens: Schuldgefühle sollen erst gar nicht aufsteigen. Deshalb wird der Gesprächsinhalt rasch abgehandelt. Außerdem soll das rasche Sprechen den Partner darauf hinweisen, dass der Umgang mit dem Thema kein Problem sei. Redner wirken während des schnellen Sprechens oft oberflächlich, salopp und pseudosouverän. Die Art dieses Sprechens vermittelt den Eindruck von wenig gedanklichem Tiefgang. Und offensichtlich scheint dem Redner das Gesagte tatsächlich nicht so sehr auf dem Herzen zu liegen. Mit der Sprechpause erhalten auch schnell Sprechende ein Hilfsmittel, ihren sprecherischen Duktus bewusster zu gestalten. Durch die Pause wird die schnell präsentierte Sequenz aufgebrochen und – Temposperren gleich – in einem zumutbaren Rhythmus dargeboten. Das normale Sprechtempo eines Redners beträgt 85 bis 95 Wörter pro Minute. Unter

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Das sprecherische Erscheinungsbild

dieser Bedingung darf eine Sprechpause bis zu sieben Sekunden dauern, bevor sie vom Publikum als unangenehm empfunden wird. Diese Korrelation mögen sich all jene Redner vor Augen halten, die zur Sprechpause eine gestörte Beziehung aufrechterhalten. Pausen kennzeichnen die Sicherheit und Souveränität des Sprechenden Die Pause ist eine Form des Schweigens. Im Schweigen hat sich das Atmen zurückgenommen, die Sprechwerkzeuge ruhen. Verstummt ist die Sprache des Mundes. Das Schweigen jedoch kennt seine eigene Sprache. Es ist die intensive Wahrnehmung des Gestalthaften, des physiognomischen und mimischen Ausdrucks. In der Sprechpause findet vielleicht die intensivere Begegnung statt als während des Sprechens. Denn Schweigen und Sichanschauen verlangen gegenseitigem Ertragen. Sich anzunehmen und auszuhalten lässt Gegenwart noch näher treten. X

Menschen mit Angstgefühlen, Mindergefühlen und Schuldgefühlen verlässt oft der Mut, eine Pause durchzustehen.

Wohl deshalb, weil die Sprechpause den schweigenden Partner auf sich selbst und sein Mit-sich-Sein zurückwirft. Dies aber zu erdulden, setzt psychische Stabilität voraus, die ein Mensch mit den genannten negativen Lebensgefühlen noch nicht besitzt. In der Sprechpause verwirklicht der Redner seine kommunikative Kompetenz, indem er entscheidet, wann und unter welchen Bedingungen er die Sprechpause festlegt. Der Umgang mit der Sprechpause beansprucht die rhetorische Autonomie des Sprechenden. In ihr sind Sicherheit und Souveränität enthalten. Die Sicherheit, weil der Redner aufgrund seines geistigen und psychosomatischen Befindens in einem angstfreien Raum kommuniziert. Die Souveränität, weil er der lenkende Partner ist, der über den Wechsel von Sprechen und Pause nach eigenem Ermessen verfügt.

Lautstärke

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6. Lautstärke Die Lautstärke gehört zu jenen persönlichen Sprechqualitäten, die die Gefühlswelt des Redners in besonderer Weise nach außen tragen. Wir sprechen hier von der natürlichen Lautstärke, nicht von der durch technischen Einfluss mitgestalteten Sprechweise. Denn das technische Medium verhüllt die Originalität des stimmlich feinen Ausdrucks. Durch die Stimme erklingt die Innenwelt, das Innenleben des Sprechenden. Die Stimme ist die Mutter der Laute, die der sprechende Mensch von sich gibt. Er bringt sie hervor aus dem Unbewussten und dem Bewussten seines Daseins. Im Äußern von Lauten verbinden sich unbewusstes und bewusstes Sprechen. X

Ein „Laut“ ist die kleinste Einheit der gesprochenen Sprache.

Die Laute des menschlichen Individuums drücken etwas Elementares aus: zu stimmlichen Signalen fähig zu sein, ohne diese bereits sinnvoll miteinander verbunden zu haben. Dennoch hat jeder Laut einen Sinn – „Sinn“ nicht im Verständnis einer semantischen, inhaltlich abgrenzbaren Bedeutung. Vielmehr meint „Sinn“ den Hinweis auf das Seiende des und im Menschen. Menschliche Laute sind akustische Zeichen der Wahrnehmung eigenen und fremden Existierens. Die Lautstärke des Sprechenden nun als stimmliches Charakteristikum seiner Darstellungsweise schlägt die Brücke zu den Zuhörern. In der Lautstärke schwingt die Gesamtheit der gedanklichen und emotionalen Identifikationen zum Publikum hin. Das emotional Tönende im Redner drängt in die Welt, um gehört zu werden. So erhält die Lautstärke erst durch das Gehörtwerden ihren Wert. Welchen Wert verleihen ihr die Zuhörer? Weil ein Sprechender, während er spricht, seine Lautstärke selbst nicht genau ermessen kann, ist es hilfreich, das Echo der Zuhörer einzuholen. Im Allgemeinen beurteilen die Zuhörenden die Lautstärke nach „laut“ und „leise“. Für einen Redner ergeben sich daraus manche Qualitätskriterien seiner Überzeugungsfähigkeit. Im lauten Sprechen, worunter eine unangemessene Übertönung

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Das sprecherische Erscheinungsbild

des Gesprochenen verstanden wird, schreit gleichsam die Wesenstiefe um Gehör. X

Lautes Sprechen ist seelisch lärmendes Sprechen.

Eine gleichbleibend laute Sprechweise wirkt aufdringlich und eindringend. Sie verletzt die psychische Intimzone des Zuhörers und maßt sich an, nach eigenem Belieben in sie einzubrechen. Sie ignoriert die Distanz zum Zuhörer und überwältigt ihn rücksichtslos. So liegt auch etwas Radikales, Dominantes im lauten Sprechen. Viele solcher Redner werden oft als autoritär und machtorientiert empfunden. Im seelischen Urgrund der lauttönenden Menschen wartet wohl der ständige Wunsch um Beachtung und Bestätigung. X

Lautes Sprechen wirkt oft wie ein Aufschrei der Seele.

Laute Menschen sind seelisch leicht verwundbar. Es scheint, als wollten sie ihr inneres Lärmen durch das Laute in ihrer Stimme überdecken; ihre Empfindsamkeit durch das Laute schützen und doch verletzbar bleiben. In situativ lautem Sprechen – etwa in Anfangsphasen einer Rede – kann manchmal die Angst die Stimme aufblähen. Dann weicht der Zuhörer vorübergehend zurück, weil er in seinem Inneren noch nicht bereit ist, den Redner mit seiner Anfangsunsicherheit zu empfangen. Sprechende, die ihr Leben unter unbewusstem Druck verbringen, finden in der Lautstärke den stimmlichen Weg, ihrem Inneren Ausdruck zu verleihen. Der innere Druck bezieht sich nicht selten auf eine politische oder religiöse Fixierung. Sehr häufig sind aus solchen Personen ideologisch-fanatisierte Lautsprecher geworden. Immer wieder ist es das in den Menschen Eindringende, das sich rücksichtslos ausbreitet. Dem lauten Redner fehlt meistens die feine, innige Wortbeziehung. Denn die Kontinuität des Lauten produziert mehr Wortgeräusch als modifizierendes Rücksichtnehmen auf den Wortinhalt. Das unbeteiligte Hinwegschreiten über die Wortlandschaft zertritt die sanften Hügel des Betonens. Im leisen Sprechen tritt das Wort zurück. Der Zuhörer ringt mit dem akustischen und dann mit dem inhaltlichen Verstehen des Gesagten. Redner, die leise sprechen, werden vom Zuhörer meistens mit Gehemmt-

Lautstärke

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heit, Unsicherheit und geringer Identifikation in Verbindung gebracht. Beinahe zwangsläufig schwindet mit dem Leisen auch die Betonung des einzelnen Wortes. Das leise Sprechen schmälert den emotionalen Wert des Dargebotenen. Wo das stimmliche Engagement des Redners nicht durchbricht, versiegt allmählich die Aufmerksamkeit der Zuhörenden. Auch die Angst vor den Zuhörern und vor dem rhetorischen Geschehen kann sich in stimmlicher Zurückhaltung manifestieren. Der Sprechende verwehrt dem Zuhörer so den Zugang zu seiner Persönlichkeit. Oft ist die Monotonie des Stimmlichen mit der zurückhaltenden Sprechweise verwoben. Da akustische Höhepunkte fast ganz fehlen, bleibt auch der Gesamteindruck einförmig und langweilig. X

Überzeugendes Sprechen besteht im Führen durch die Stimme.

Die Lautstärke soll im Zusammenwirken mit den übrigen Elementen des sprecherischen Erscheinungsbildes lautes und leises Sprechen als angemessene Ausdrucksformen rhetorischer Anliegen koordinieren. So wird es dem Redner möglich sein, die Feinheit des Inhaltlichen durch das Sprecherisch-Stimmliche eindrucksvoll zu vermitteln.

Das Bild der Rede

Teil B Das Bild der Rede

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Das Bild der Rede

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Das Wesen des Wortes wird lebendig durch jene Impulse, die ihm die Persönlichkeit des Redners eingibt. Sonst ruht das Wort. Aber es will ergriffen werden. Erst der Sprechende haucht ihm Leben ein. Die intellektuellen und emotionalen Impulse des Redners führen ihn selbst und die Zuhörenden aus einer Sprachlosigkeit heraus, von der die Entfremdung der Gegenwart gekennzeichnet ist. X

Im Sprechen und in der Sprache liegt der Auftrag zum begegnenden Miteinander.

Wenn sich Menschen verstehen, besteht die Chance, gemeinsame Nähe zu erleben und sich zu binden. Das Bedürfnis nach Bindung ist ein menschliches Urbedürfnis. Auch zwischen dem Redner und seinen Zuhörern ereignet sich Bindung. Bindung durch Sprechen und Sprache. Durch das gesprochene Wort ist der Redner für die Zuhörenden da. „Sprache ist Dasein für den anderen.“ (Sartre) Der Charakter der Begegnung zwischen Redner und Zuhörern bestimmt das Bild der Rede. Der Redeanlass legt das Vorzutragende fest. Das Bild des Redners und das Bild der Rede formen sich zu einem Gesamteindruck, der das kommunikative Erleben trägt. Manager und Politiker sehen sich nahezu täglich kommunikativen Erwartungen gegenüber, die ihr rhetorisches Können in anspruchsvoller Weise einfordern. Dies erscheint uns umso mehr bemerkenswert, als die kommunikativen Bedingungen der Demokratie geradezu eine Renaissance der Rhetorik hervorbringen. Rhetorik scheint modern zu sein, zumindest was das Auftreten in der Öffentlichkeit betrifft. Die demokratischen Strukturen erlauben eine Entfaltung der Rhetorik. Öffentliches Sprechen in der Form von Rede und Gegenrede ist erwünscht. Autoritäre Systeme drängen den Lebensraum der Rhetorik auf ein ideologisches Feld, das wenig freie Sicht bietet. In Diktaturen gedeiht nur eine systemfixierte Rhetorik. Sie muss sich in den Dienst der Herrschenden stellen lassen. Weigert sie sich, wird ihr die Sprache entzogen. Der zweite Teil dieses Buches stellt die beiden Kategorien der Rhetorik vor, die uns in der Gegenwart begegnen: die angewandte und die literarische Rhetorik. Führungspersönlichkeiten werden mehr und mehr durch

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Das Bild der Rede

das Auftreten im Fernsehen beansprucht. Hier hat die angewandte Rhetorik fundamentale Dienste zu leisten, denn ihre Eigenart befähigt zu solchen Auftritten. Aber auch an anderen Stätten kommunikativen Zusammentreffens ist die Qualität der angewandten Rhetorik notwendig. Die literarische Rhetorik bietet eine geistige Form des sprachlichen Erscheinens an, die manchem Führenden aufgrund seiner Ausbildung nicht selbstverständlich sein dürfte. Dennoch ergänzen sich beide RhetorikGattungen, weil sie Intellektualität und Emotionalität zu etwas Gemeinsamem vereinigen, das den Redner der Gegenwart überzeugend auftreten lässt.

Das Bild der Rede

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I. Angewandte Rhetorik

1. Denkdisziplin Angewandte Rhetorik bezeichnet die individuelle Redefähigkeit eines Menschen. Damit ist die ganz persönliche Art der Darstellung gemeint, die aus seiner Persönlichkeitsstruktur hervorgegangen ist. Es ist die ihm eigene Weise des Sprechens, die Rhetorik als das von der Persönlichkeit Geprägte im Auftreten des Sprechenden erkennbar werden lässt. „Rhetorik“ ist die Kunst, etwas gut oder schön zu sagen. Die Bedingungen, unter denen angewandte Rhetorik praktiziert wird, fordern vom Sprechenden das Selbstbeherrschen und Beherrschen der interaktionellen Beziehungen. Überzeugenkönnen ist ohne Selbstdisziplin nicht denkbar, weil die Kontrolle über das eigene Verhalten den Verlauf der Darstellung oder des Dialoges bestimmt. Angewandte Rhetorik ist zudem stets freies Sprechen. Damit sind erhöhte Anforderungen an die Regieleistungen des Sprechenden gestellt. Weil es uns in diesem Zusammenhang bereits auf die Vorbereitung zum freien Sprechen ankommt, haben wir die Denkdisziplin des Sprechenden in unseren Betrachtungen an die erste Stelle gesetzt. Der Begriff „Denkdisziplin“ ist als ein Elementarbegriff zu verstehen. Er bezeichnet hier die Beobachtung des eigenen Denkens, Verbalisierens und Reagierens. X

„Denkdisziplin“ ist das Bündeln der gesamten Aufmerksamkeit auf das kommunikative Ereignis.

Diese Aufmerksamkeit beginnt mit der Vorbereitung auf die freie Rede. Wir zählen zur Vorbereitung auf die Einzelrede:  die Formulierung des Themas  die Strukturierung des Vortrages

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Angewandte Rhetorik

 die Erstellung des Stichwortzettels  die Berücksichtigung der Zuhörer  das einübende Sprechen. Für die Vorbereitung auf eine dialogische Begegnung ist wichtig:  die Beherrschung des Eingangs- und Schlussstatements  die Fähigkeit des Zuhörens  das Kennen verschiedener Reaktionsmuster. Auf beide Gruppen wollen wir näher eingehen. Zunächst einige Überlegungen zur Vorbereitung auf die Einzelrede.

Die Formulierung des Themas Die Gelegenheiten, bei denen Führende zu sprechen haben, sind mannigfaltig. Je höher ein Manager in der Hierarchie steht, desto häufiger wird er gebeten, in seiner beruflichen Sphäre, aber auch in außerberuflichen Repräsentationsaufgaben zu sprechen. Seltener werden dabei Themen im engeren Sinne der fachspezifischen Kompetenz gewählt. Mit der Heterogenität des Publikums erweitert sich die Palette der Themen, die ein Führender einzubeziehen hat. Handelt es sich um einen im Thema kundigen Zuhörerkreis, so dürfen durchaus Fachausdrücke das Thema kennzeichnen. Schwieriger könnte es sein, einem heterogenen Publikum thematisch die Balance zwischen beruflicher Sicht und außerberuflichen Erwartungen zu vermitteln. X

Bemühen Sie sich deshalb, das Thema so zu formulieren, dass Sie die Zuhörer interessieren und persönlich erreichen.

Zum Beispiel: Ein Fachmann des Städtischen Gesundheitsamtes beabsichtigt, einen öffentlichen Vortrag mit anschließender Diskussion über das Thema „Richtige Ernährung“ zu gestalten. Es wäre weniger erfolgreich, den Vortragsabend zu überschreiben mit „Richtige und zeitgemäße Ernährung für den Bundesbürger“. Dieses Thema verspricht zwar auch einige Ernährungsimpulse. Lebendiger und vermutlich eher anlockend könnte die Frageform wirken: „Welchen Einfluss haben Fleischprodukte auf unsere Gesundheit?“

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Kleiden Sie Themen möglichst in Frageform, und verwenden Sie einen konkreten Begriff, an dem sich das Interesse der Besucher orientieren kann.

Bei Veranstaltungen, bei denen Sie zu einem allgemeinen Anlass sprechen, ist es selten üblich, ein Thema zu formulieren. Dabei denken wir an Würdigungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, an Auszeichnungen in Sportgemeinschaften oder anderen Vereinen, an Predigten neueren Stils, an Abschlussfeiern nach absolvierten Prüfungen. Wichtiger jedoch ist hier die Formulierung der Anrede. Dazu folgende Empfehlungen: X

Wählen Sie stets die besondere Anrede!

Der Vorsitzende eines Tennisclubs wirkt weniger persönlich, wenn er die allgemeine Anrede „Meine Damen und Herren“ wählt. Die kommunikative Qualität dieses Zusammenseins wird bereits durch die Anrede unterstrichen: „Liebe Freunde unseres Tennisclubs Rot-Weiß“. Die besondere Anrede vermittelt menschliche Nähe. Die Anrede vor einer Predigt erscheint daher mit folgendem Wortlaut sinnvoll: „Liebe Brüder und Schwestern im Herrn“ oder „Zum Gottesdienst versammelte Gemeinde“. Die Wortwahl in der Anrede kennzeichnet die Qualität der Beziehung zwischen dem Sprechenden und den Zuhörern. Legen Sie nach der Anrede eine kurze Pause ein, damit das Besondere auch wirken kann. X

Die Anrede ist eine Wertschätzung der Zuhörer.

Damit verwirklicht der Sprechende schon mit der Anrede jene sittliche Kompetenz, die ihn in seinen späteren Ausführungen glaubwürdig erscheinen lässt. Den Zuhörerkreis ernst zu nehmen, ist ein ethisches Gebot der Rhetorik. X

Die Anrede weckt bereits zu Beginn des Gesprochenen die Aufmerksamkeit der Zuhörer.

Gewiss wirken in dieses Kriterium auch die Stimmqualitäten des Redners hinein. Doch auch die Wortwahl der Anrede, gepaart mit angemessenem

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Angewandte Rhetorik

Schauen und passender Mimik, intensiviert das Interesse der Gekommenen an der Begegnung. Es ist auch möglich, die Anrede nach dem ersten oder gar zweiten Satz einfließen zu lassen. Sprechende im Fernsehen, z. B. Kommentatoren, praktizieren diese Art wohl deswegen, weil sie vermuten, die Aufmerksamkeit der persönlich nicht direkt erreichbaren Zuschauer dadurch besser binden zu können. Zum Beispiel: „Die deutsche Familie wird getötet. Das, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, könnte mancher denken, der die Radikalität der Befürworter von Abtreibung beobachtet.“ X

Wer die Anrede nach den ersten beiden Sätzen folgen lässt, möge einen emotionalen Beginn formulieren.

Die Strukturierung des Vortrages X

Unter „Struktur“ verstehen wir hier die Sinngliederung eines gedanklichen Ganzen.

Wer seine Zuhörer gedanklich führen will, möge selbst seine Gedanken gliedern. Das Vorbereiten einer Struktur verlangt vom Sprechenden die Fähigkeit, das Thema nach Sinnschritten durchdenken zu können. Diese Sinnschritte orientieren sich wiederum an der Zielsetzung des sprachlichen Vorhabens. Die Reaktionen der Zuhörer werden zeigen, wie es dem Sprechenden gelungen ist, vor allem sein Ziel zu verdeutlichen. Die Konzentration auf das Aussage- und Vortragsziel setzt in besonderer Weise Denkdisziplin voraus, weil es gilt, den gedanklichen Kern zu erfassen. Wir halten fünf Grundstrukturen als sinngliedernde Wege für empfehlenswert:     

die programmatische Struktur die analytische Struktur die proleptische Struktur die Hegelsche Struktur die Statement-Struktur.

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Die programmatische Struktur Die programmatische Struktur charakterisiert das konzeptionelle Denken und Vorgehen eines Redners. Sie verbindet analytische Aspekte mit einer klaren, zielgerichteten Geisteshaltung. Sie ist eine konstruktive Struktur, weil sie eine geistige Prosperität kultiviert. Die Elemente dieser Struktur lauten: 1. 2. 3.

Ausgangssituation schildern Zielsetzung darlegen Wege zum Ziel beschreiben

Das erste Element dieser Struktur gleicht einer Bestandsaufnahme, einer Beschreibung des Ist-Zustandes. Der Sprechende möge hier eine klare Realitätsbeziehung zu erkennen geben. Es besteht die Gefahr, bereits im ersten Schritt dieser Struktur manipulativ zu beginnen. Damit meinen wir eine allzu subjektive Schilderung des Bestehenden, die nicht die Zustimmung der Zuhörenden finden wird. Oftmals beginnen Kritiker, bereits die Schilderung der Ausgangsposition anzuzweifeln, weil der Sprechende wesentliche Ereignisse oder Betrachtungsweisen eliminiert und das Geschilderte nur selektiv präsentiert habe. X

Zweifelhafte, unschlüssige Prämissen führen auch nur zu wiederum bedenklichen und nicht schlüssigen Konklusionen.

Die realistische Schilderung des Gegebenen dagegen charakterisiert die realitätsorientierte Persönlichkeit des Redners. Das zweite Element markiert gedanklich das Ziel dieses programmatischen Tuns. Das künftig Angestrebte ist ja meistens ein weiteres Entwickeln des Bestehenden. Das Beabsichtigte, die Zielsetzung, leuchtet wie ein Fanal am geistigen Horizont des Redners und der Zuhörer. Das gemeinsame Ziel lässt Gemeinsamkeit wachsen und Gemeinschaft entstehen. Zunächst ist dies eine Gedankengemeinschaft, der die Handlungsgemeinschaft folgen wird. X

Eine Zielsetzung soll sich am Realisierbaren ausrichten.

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Ob im politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Leben – die verkündeten Ziele werden nur dann Akzeptanz finden, wenn sich die Zuhörer identifizieren können. Egoistische Zielsetzungen eines allein Führenden kollidieren mit dem inneren Widerstand der Geführten. Im dritten Element dieser Struktur wird die Realitätsnähe des Zieles überprüfbar. Hier erkennen die Zuhörenden im Detail, worin das Konstruktive dieser Zielsetzung besteht. X

Wege zum Ziel mögen auf sittlicher Verantwortung gründen.

So manches Ziel wurde wieder verworfen, weil die Wege dorthin unseriös oder gar bedrohlich für manchen Kommunikationspartner waren. Das Ziel eines Handelns heiligt nicht ohne weiteres jedes Mittel. (Aus diesen Überlegungen entstanden viele Diskussionen über den Sinn der Raumfahrt, der Entwicklungshilfe oder militärischer Einsätze.) Die analytische Struktur Mit der analytischen Struktur in der freien Rede betrachtet der Sprechende die tieferen gedanklichen Zusammenhänge einer zurückliegenden Aktivität. Deshalb eignet sich dieses gedankliche Verfahren wohl am ehesten bei kritischen Reflexionen und belehrenden Unterweisungen. Da die Struktur vom Publikum verlangt, die einzelnen Schritte geistig nachzuvollziehen, sollte das Publikum fachkundig sein. Folgende Schritte kennzeichnen diese Struktur: 1. 2. 3.

Tatsachen schildern Ursachen darlegen Schlussfolgerungen formulieren

Die Tatsachen zu schildern, bindet den Sprechenden an das faktisch Geschehene. Das, was sich ereignet hat, wird zur Ausgangsbasis für künftige Reflexionen. Meistens handelt es sich um eine kritische Betrachtung von Vergangenem. Der Redner bedient sich bestimmter Beweismaterialien, um seine Betrachtungsergebnisse zu stützen, zu dokumentieren. Aus dem Bestehenden leitet er über zum Ursächlichen.

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Im zweiten Schritt, der Analyse der Ursachen, gilt es für den Sprechenden, den logischen Nachweis der Beziehung von Ursache und Wirkung des Betrachtungsgegenstandes zu erbringen. Von diesem Können wird ein großer Anteil seiner Glaubwürdigkeit geprägt. Er wird die Quellen nennen, aus denen er schöpft, und die Beziehung zwischen dem Vergangenen und dem gegenwärtig zu Behandelnden darstellen. Dies ist eine Art gedanklichen Führens, die den Zuhörerkreis zu Erkenntnissen geleitet. Aus dem Erkannten erwächst die Zustimmung zur Richtigkeit des Geforderten. Diese Zustimmung wird umso intensiver sein, je mehr Betroffenheit das Erkannte im Zuhörer ausgelöst hat. Die analytische Struktur trägt wesensimmanent das Korrigierende in sich. Denn der sittliche Anspruch des Analytischen schlechthin besteht in der Intention, durch Betroffensein zur Veränderung zu führen. X

Betroffenheit aber gebiert Einsicht.

So liegt letztlich der Sinn analytischen Betrachtens im Wegweisen zu Folgerungen, die ein neues Handeln aufbrechen lassen. Das Auflösende des Analytischen sucht nach anderen Formen des Miteinanders. Der durch die analytische Darlegung zur Einsicht geführte Zuhörer erhält handlungsleitende Impulse, die sein künftiges Tun steuern werden. So wird das Kritikwürdige zu Vertrauenswürdigem, das Fehlverhalten der Vergangenheit zu neuen Wesenseinblicken gelenkt. Die Folgerung oder das Schlussfolgende bezeichnet einen perspektivischen Akt. Das konstruktiv Korrigierende der analytischen Struktur ebnet den Weg zu weiteren Interaktionen. Darin liegt vor allem ihr Sinn. Die proleptische Struktur Das griechische Wort „prolepsis“ bezeichnet als Terminus der antiken Rhetorik „das Vorwegnehmen eines Einwands“. Die Prolepse oder die proleptische Struktur ist damit auf einen inneren dialektischen Dialog angelegt, der im Monolog dennoch das Dialogisieren erlaubt. Im freien Sprechen das Dialogische mit möglichen Meinungsgegnern zu kultivieren, ist ein geistiges Erlebnis, das Tiefe und Durchdringen verheißt. Die Prolepse ist aus den öffentlichen Disputen im alten Griechenland hervorgegangen. Sie berücksichtigt das Bedürfnis des Sprechenden nach Absi-

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cherung seiner Position und seines Standpunktes. Sie verbindet Emotionalität und Intellektualität zu Merkmalen eines rhetorischen Handelns, das den Redner in besondere Erwartungen einbezieht. Die Struktur bietet sich in vier Schritten an: 1. 2. 3. 4.

Gemeinsamkeit mit den Meinungsgegnern herstellen Problematik schildern Gegenargumente nennen und entkräften Eigene Argumentation darlegen

Das erste Element der Struktur geht von der rhetorisch-dialektischen Erkenntnis aus: X

Gegen eine negative emotionale Einstellung eines Zuhörers oder einer Zuhörergruppe ist keine Überzeugung möglich.

Wer also überzeugen will, möge sich bemühen, die Gefühle der Zuhörenden positiv anzusprechen. Gewiss ist dazu derjenige am ehesten in der Lage, der zu Gefühlen aufgrund seiner Persönlichkeitsentwicklung eine gute Beziehung aufbauen konnte. Aber auch jener, der zu Emotionen eine weniger gute innere Haltung einnimmt, möge sich bemühen, das Publikum als kommunikatives Du zu akzeptieren. Denn der erste Sinnschritt dieses dialektischen Weges verlangt die Glaubwürdigkeit des Sprechenden. Wenngleich die Prolepse aus dem Bedürfnis entstanden ist, Meinungsgegnern zuvorzukommen, so strebt sie doch eine Konsenshaltung an. Der Sprechende wird daher bereits in der Eröffnung seines Vortrages Gemeinsamkeiten hervorheben, die das kritische, zu überzeugende Publikum mit dem Redner verbinden. Schließlich hat die Zuhörer vermutlich ein persönliches Anliegen bewogen, das Zusammentreffen mit dem Redner zu suchen. Anders gesagt: Der Sprechende möge in der Eingangsphase der Prolepse die Gefühle der Zuhörenden, das sie im Inneren Bewegende, verbalisieren. Dazu ist es notwendig, sich längere Zeit vorher mit den Gefühlen der Zuhörer befasst zu haben. Ein intellektuell-analytisches Durchdringen des Problems genügt nicht. X

Wer Menschen in ihrem Inneren erreichen will, möge ihre Gefühle ernst nehmen.

Denkdisziplin

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So wird der Manager eines Kernkraftwerkes die Sorgen und Ängste der Kundgebungsteilnehmer würdigen; der Verkehrsdezernent einer Großstadt wird die Befürchtungen von Geschäftsinhabern teilen, einen Umsatzverlust zu erleiden, nachdem eine gut frequentierte Geschäftsstraße für den Autoverkehr gesperrt werden soll; und auch der Direktor einer höheren Schule wird den Bedenken von Eltern Recht geben, bei einer Vergrößerung der Schulklasse könne die Intensität der Lernerfahrung gemindert werden. Den ersten Schritt der Prolepse als echt zu verkörpern, gelingt leichter, wenn der Sprechende persönliche Erfahrungen einfließen lässt. Die Gewinnung des Wohlwollens der Zuhörer (captatio benevolentiae) darf nicht als Pseudo-Harmonie empfunden werden. Im zweiten Strukturelement kommt der Redner zum Thema im engeren Sinne. Er schildert die Problematik in ruhiger, ausgewogener Art. Dabei legt er Wert auf eine Sprachebene, die einem heterogenen Zuhörerkreis gerecht wird. In der Schilderung des Faktischen erkennen die Zuhörer, wie sehr sich der Redner mit der Thematik beschäftigt hat. Am Ende des zweiten Schrittes steht die These. Sie gibt eine Meinung, ein Postulat oder eine Behauptung wieder.

Zum Beispiel: „Der Stadtrat ist der Auffassung, die Goethe-Straße muss zur verkehrsberuhigten Zone erklärt werden.“

Oder: „Die Fraktion der Grünen plädiert dafür, im Steuerrecht ein FamilienSplitting einzuführen.“

Oder: „Der Bund der Steuerzahler ist sich sicher, dass die Zwangseintreibung der Kirchensteuer durch den Staat zu weiteren Austritten aus der Kirche führen wird.“

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Angewandte Rhetorik

Für die rhetorische Gestaltung der These gilt die Empfehlung: X

Formulieren Sie die These stets  syntaktisch überschaubar  logisch nachvollziehbar  sprachlich präzise.

Die Verkündung der These setzt den gedanklichen Schwerpunkt der Prolepse, um den sich die weiteren Ausführungen ranken werden. Mit der These ist der dialektische Spannungsbogen für die beiden nächsten Sinneinheiten der proleptischen Struktur geschlagen. Der dritte Teil der Struktur hat der Prolepse den Namen verliehen. Das Beschäftigen mit den Gegenargumenten kennzeichnet die dialektische Qualität dieser Auseinandersetzung. Denn das Vorwegnehmen eines Einwands setzt voraus, sich mit den argumentativen Konzepten der Meinungsgegner beschäftigt zu haben. Souverän erscheint der Sprechende, wenn er fähig ist, die Gegenargumente ohne persönliche Verunglimpfungen seiner Zuhörer vorzutragen. In mancher Fernsehsendung geschieht dies nämlich reichlich verletzend. Wir zweifeln deshalb sehr an der Konsensabsicht von Disputanten, die in Pro- und Contra-Begegnungen aufeinandertreffen. Je nach der Redezeit, die dem Sprechenden gestattet ist, wird er alle Gegenargumente nennen und entkräften oder nur die zentralen Positionen zu widerlegen versuchen. Bei der Widerlegung der Gegenargumente gilt: X

Würdigen Sie die Argumente Ihrer Meinungsgegner. Beschimpfen oder erniedrigen Sie Ihre Widersacher nicht. Sie machen sich sonst ethisch unglaubwürdig.

Seine Mitmenschen kleinzumachen, ist eine Form von Arroganz. Selten kann derjenige, der so verfährt, argumentativ wirklich überzeugen. Wer die Argumente des anderen ignoriert, verherrlicht sich selbst. Zugleich vergrößert er die Distanz zu den Zuhörern. Als Ergebnis bleibt ein unversöhnliches Gegeneinander, das in die Sprachlosigkeit sinkt. Im Entkräften der Gegenargumente beweist der Sprechende sein kreatives Können. Es besteht darin, den Zuhörenden eine plausible Erklärung

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dafür anzubieten, aus welchen Gründen die von ihnen eingenommene Position nicht gerechtfertigt ist. Sei es, dass der Redner Befürchtungen zerstreut oder andere emotionale Widerstände als unbegründet auflöst. Sei es aber auch, dass er mit sachlicher und logischer Argumentation den Ansichten der Zuhörenden entgegentritt. Das Kreative des vierten Elementes besteht darin, die im zweiten Schritt geäußerte Meinung oder These mit eigenen Argumenten zu stützen. Zwischen dem vierten und dem zweiten Schritt muss daher zwingend eine kausale Beziehung bestehen. Die eigenen Argumente sollen nicht identisch sein mit den Aussagen, die zur Entkräftung der Gegenargumente vorgetragen wurden. Das Überzeugende, das die Prolepse beabsichtigt, soll durch die Eigenargumentation hervorgebracht werden. Die Originalität der Argumente und der persönliche Eindruck des Sprechenden werden schließlich darüber entscheiden, ob diese dialektische Struktur erfolgreich war. Die Hegelsche Struktur Mit der Hegelschen Struktur ist eine gedankliche Folge genannt, deren Ansatz ebenfalls in die Antike zurückreicht. Auf das Griechische weisen die Begriffe „These“, „Antithese“ und „Synthese“ hin. Das dialektische Schema, das hier nach Hegel (1770–1831) gemeint ist, stellt für den Redner zunächst etwas Modellhaftes dar. Der Redner wird dadurch in die Lage versetzt, in vorläufig spielerischer Weise ein Denkgebäude zu errichten, in dem er erprobt, was er vielleicht in seine Realität übertragen möchte. Das dialektische Schema heißt: 1. 2. 3.

These Antithese Synthese

Hegel begreift den dialektischen Dreierschritt als einen Ausdruck des Bewegens von Denken schlechthin. Das Denken selbst ist von einem Urgeist bewegt, der der bewegende Beweger ist. Allem Denken wohnt der Drang nach Bewegen, nach Veränderung inne. Das innere Reflektieren über die Denkinhalte führt zu stets neuen Aspekten des denkenden

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Angewandte Rhetorik

Betrachtens. So entsteht allmählich eine Entwicklung vom Gedachten zu einer weiteren Stufe des Denkbaren hin. X

Das menschliche Denken ist unvollkommen. Das ist es deshalb, weil alles Geschaffene unvollkommen ist.

Das Unvollkommene ist ein wesentliches Kriterium des Daseins. Die Unvollkommenheit im Denken führt zu Disputen über das Gedachte und später Ausgesprochene. Dialektische Dispute sind – so gesehen – auch ein Auseinandersetzen über das Unvollkommene. Auseinandersetzungen sind Formen geistigen Bewegens. Der Redner nun überträgt diese gedanklichen Bewegungen in das Pragmatische. Auch Reden sind Gedankenbewegungen, in denen sich die Polarität unseres Daseins widerspiegelt. These, Antithese und Synthese weisen darauf hin. Doch alles gedanklich Bewegte strebt der Vollkommenheit entgegen. Dies erklärt den Weg zur Synthese. These und Antithese können dauerhaft nicht allein verbleiben. Wenn die Antithese eine Negation der These ist, so muss sich nach dem Prinzip des sich bewegenden Geistes eine neue Form, eine neue Qualität des Bewusst-Seins entwickeln. Im praktischen Redealltag heißt dies: Die Diskussionen zwischen Vertretern der These und der Antithese führen nach einer unbestimmten Zeit zur Synthese. In unserer Gesellschaft scheint sich der Hegelsche Dreierschritt mit unterschiedlicher Intensität zu verwirklichen. Lenin (1870–1924) – von Hegel stark geprägt – begriff den Dreierschritt radikal und setzte ihn weltbewegend um: These: Das zaristische Russland beutet den Menschen aus. Antithese:

Nur eine Revolution des Proletariats (Marx) kann die gesellschaftlichen Bedingungen ändern.

Synthese:

In der klassenlosen Gesellschaft gibt es die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nicht.

(Die Synthese ist leider eine Utopie geblieben.) Die wirtschaftspolitischen Veränderungen in der Bundesrepublik Deutschland zeigen, dass sich die Dialektik als Ausdruck des Bewegens

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durch Gegensätze mit bewusstseinsverändernden Einflüssen bemerkbar macht. These:

Der Bundesbürger hat einen Anspruch auf einen hohen Lebensstandard.

Antithese:

Ein hoher Lebensstandard führt zu einer Gefährdung der Umwelt.

Synthese:

Der Lebensstandard darf künftig die Umwelt nicht mehr belasten.

Oder: These: Entwicklungshilfe ist notwenig und sinnvoll. Antithese:

Entwicklungshilfe ist Verschleudern von Geldmitteln zugunsten weniger Mächtiger.

Synthese:

Nur eine kontrollierte Entwicklungshilfe ist nützlich.

Die Synthese ist – so Hegel – nur dann eine Weiterentwicklung gegenüber These und Antithese, wenn sie eine neue Bewusstseinsqualität enthält. Dadurch unterscheidet sich die Synthese vom Kompromiss. Ein „Kompromiss“ ist die Einigung von Partnern durch gegenseitige Zugeständnisse. Die Tarifverhandlungen der Arbeitgeber mit den Gewerkschaften künden davon. Die Synthese jedoch ist die (vorübergehende) Aufhebung des sich Widersprechenden und damit eine Vereinigung, die auf einer neuen Lebens- oder Bewusstseinsqualität gründet. Darin besteht das in der Dialektik des Denkens Fortschreitende, sich Entwickelnde. Der Hegelsche Dreierschritt ist „vollendet“, wenn sich die Synthese in eine neue These verwandelt. Die Statement-Struktur Als sehr pragmatisch und für zahlreiche spontane Redesituationen geeignet empfehlen wir die eigentliche Statement-Struktur. Sie besteht aus vier gedanklichen Schritten, die leicht einprägsam sind:

114 1. 2. 3. 4.

Angewandte Rhetorik

Persönliche Meinung nennen Begründung darlegen Veranschaulichung bieten Schlussfolgerung formulieren

An prominenter erster Stelle formuliert der Sprechende seine Meinung. Damit benennt er besonders klar seine entschiedene Position. Mag dies gelegentlich auch konfrontativ und provokant klingen, der Sprechende drückt mit dieser Struktur seine Entscheidungs- und letztlich Konfliktfähigkeit aus. Im nächsten Schritt folgt die Begründung dieser Meinung. Zwei Argumente, die möglichst nummeriert werden, reichen hier im Allgemeinen aus. Ein Beispiel, das im dritten Schritt folgt, veranschaulicht das Gesagte. Allerdings soll dieses Beispiel auf das Publikum abgestimmt sein; andernfalls verfehlt es seine Wirkung. Das Statement schließt mit einem Fazit, einem Ausblick oder einem Appell. Überlegt und rund klingt das Statement, wenn sich hier die Worte oder Bilder des ersten Schritts wiederholen, durchaus in dramatisierter Form. Ratsam ist die Statement-Struktur für den Umgang mit Journalisten wie auch für Besprechungen oder Diskussionsrunden. Registriert der Sprechende beispielsweise, dass die Zeit für seine weiteren Ausführungen knapp wird, sich bereits die ersten Hände heben für Fragen oder ein Medienvertreter sanft auf die Uhr zeigt, kann er sein Statement abbrechen – und hat dabei immer noch das wesentliche ausgeführt: seine persönliche Meinung.

Das Erstellen des Stichwortzettels In der angewandten Rhetorik ist es dem Sprechenden häufiger möglich, einen Stichwortzettel zu erstellen und zu benutzen. X

Stich-Worte sind Eckpfeiler der Rede. Sie sollen hervorstechen.

In den Stichworten ist das gedanklich Hervorstechende enthalten. Daraus ergibt sich für die Vorbereitung auf den rhetorischen Auftritt eine Selektion nach Hauptgedanken und Nebengedanken. Aristoteles empfiehlt dem Redner, seine Gedankenblöcke in fünf Stichworte aufzugliedern. So

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stehen auf jeder Stichwortkarte fünf Stichworte, die den jeweiligen gedanklichen Schwerpunkt kennzeichnen. (In der stehenden Position, in der der Sprechende die Stichwortkarten in den Händen halten muss, hat sich kartoniertes Papier im DIN-A6-Format sehr bewährt. Die quer gehaltene Stichwortkarte wird nur auf der Vorderseite beschriftet. Das Umdrehen der Karte kann den Redner irritieren. Hilfreich ist es, die Stichwortkarten zu nummerieren. Außerdem möge der Sprechende so groß und deutlich schreiben, dass er das Geschriebene aus der stehenden Augenhöhe lesen kann. Dies gilt für die Situation, in der die Karten auf einem Tisch oder Pult liegen sollten.) Der Stichwortzettel (auch wenn es eine Karte sein sollte, so bleiben wir doch hier bei der Verwendung des Begriffes „Zettel“) geht aus dem assoziativen Vorstellungsvermögen des Redners hervor. Im ersten Schritt wird der Sprechende alles notieren, was ihm seine Inspiration zu diesem Thema eingibt. Diese Sammlung von thematischen Vorstellungsinhalten wird im zweiten Schritt strukturiert. Der Redner möge sich selbst darüber klar werden, wie er die Zuhörer erreichen will. Oft ist eine gestörte Kommunikation bereits aus der Vorbereitung vorhersehbar. Einiges Unbedachte während der Vorbereitung sei genannt. Der Sprechende:        

legt seinen Aussagen kein Ziel zugrunde hat Mühe mit logischem Denken hat Mühe mit analytischem Denken strukturiert sein Konzept zu wenig denkt in anderen Begriffskategorien als die Zuhörer will nur einen Teil der Zuhörer ansprechen setzt zu viel bei den Zuhörern voraus lehnt die Zuhörer emotional ab.

Die Einleitung sicher zu beherrschen, sei oberstes Ziel. Warum? X

Wer die Einleitung sicher beherrscht, vermittelt sich selbst bereits zu Beginn ein Gefühl der Sicherheit.

Redner, die während der Eingangsphase sprechtechnische oder verbale Versprecher produzieren, verunsichern sich von Anfang an. Sie schaffen eine negative Anfangsatmosphäre, die sich wie ein Schatten auf das Ge-

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Angewandte Rhetorik

fühl des Redners legt. Die bewusste Selbstbeobachtung nämlich, die notwendig wird, um Fehlleistungen zu vermeiden, mindert die Konzentration auf das Gesprochene. Das Vortragen der Einleitung wird umso sicherer gelingen, je konkreter sie formuliert ist. Das bedeutet: X

Sprechen Sie das Vorstellungsvermögen Ihrer Zuhörer durch anschauliche Aussagen an.

Zum einen erleichtert sich der Sprechende das Einprägen der Einleitung, wenn diese konkret und anschaulich formuliert ist. Anschauliche Aussagen sind leichter reproduzierbar. Zum anderen erwartet die gedankliche Vorstellung der Zuhörer assoziative Angebote des Sprechenden. Unter „anschaulichen Aussagen“ sind Bilder, Beispiele, aktuelle Ereignisse oder persönlich Erlebtes zu verstehen. Das Formale der Einleitung möge aus kurzen Sätzen bestehen. Denn durch die syntaktische Kürze führt der Redner die Zuhörenden in kleineren Schritten. Dies dient dem tieferen Verstehen des Vorgetragenen. Den Hauptteil der Darbietung kann der Redner nach einer der bereits vorgestellten Strukturen gliedern. Die Schlussform der Rede kann ähnlich gestaltet sein, wie sie in der literarischen Rhetorik noch besprochen wird.

Die Berücksichtigung der Zuhörer Welchen Eindruck eine Rede hinterlässt, das beurteilen die Zuhörer. Zu einem Urteilen sind sie eher befähigt, wenn sie ihre Erwartungen widergespiegelt und weitgehend erfüllt gesehen haben. Dazu kann der Redner viel beitragen. Zum vorbereitenden Disziplinieren zählt daher auch, die Erwartungen der Zuhörer kennen zu lernen. So wird es notwendig sein, die informative Beschäftigung mit der Zuhörergruppe in die Vorbereitung einzubeziehen. Dabei können die für eine Vortragsveranstaltung Verantwortlichen mithelfen. Nicht selten ist es dem Sprechenden aber möglich, die Erwartungen der Zuhörer selbst zu bestimmen. Dieses gestaltende Einflussnehmen erwei-

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tert den kreativen Raum für den Redner. Er kann die Erwartungen der Zuhörer in folgender Weise mitprägen:  Er legt durch die präzise Formulierung des Themas fest, welche Gedanken zur Sprache kommen werden.  Er formuliert den Einladungstext, der den Inhalt knapp skizziert.  Er legt durch die Bekanntgabe der Gedankenfolge (Gliederung) die thematischen Schritte fest.  Er entscheidet, welche Personen als Zuhörende eingeladen werden. Auf diese Weise gelingt es, Erwartungen und Absichten zu einer gemeinsamen Grundhaltung zu führen.

Das einübende Sprechen In der antiken Rhetorik und in den klösterlichen Redeschulen des Mittelalters wurde dem einübenden Sprechen besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Denn das Einüben fördert die Konzentration und stärkt das Gedächtnis des Redners. X

Was der Redner laut gesprochen hat, kann er leichter reproduzieren.

Es ist hiermit nicht die wörtliche repetierende Art des Einübens gemeint. Wir sprechen ja von der angewandten Rhetorik, bei der es unter günstigen Bedingungen einen Stichwortzettel gibt. Damit ist der Übende aufgefordert, die Stichworte sinnvoll zuzuordnen und zu einem gedanklichen Ganzen zu verbinden. In dieser Art des Einprägens ist die imaginative, die bildhafte Vorbereitung, eine bedeutende Stütze. Mit ihr vermag sich der Redner auf sicherem geistigen Gelände zu bewegen. Allerdings befreit das einübende Sprechen nicht von der Verpflichtung zu öfterem memorierenden Rekapitulieren. Weil der Mensch unserer Zeit unter einem erheblichen Verlust seiner Gedächtnisleistung leidet, ist das immer wieder repetierende Sprechen eine kommunikationsfördernde Notwendigkeit geworden. So können kleinere, während des Tages oder am Abend eingestreute Übungen helfen, das Erinnern zu verbessern. Zum Beispiel: aus dem Gedächtnis heraus den Verlauf eines Telefongespräches notieren; am Abend den Ablauf des Tages auf eine Kassette sprechen; einen soeben gelesenen Zeitungsartikel der Familie laut wie-

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dergeben; den Inhalt einer Fernsehsendung frei nacherzählen; der Partnerin oder dem Partner ein Buch vorlesen und gemeinsam den Inhalt repetieren; häufiger Rundfunksendungen anhören, weil sie das Vorstellungsvermögen intensiver ansprechen, und den Inhalt weitererzählen. Das einübende Sprechen – und deshalb ist es als vorbereitende Übung so bedeutsam – zwingt den Redner, die Darbietung bereits allein zu proben und den Text bis zum Ende vorzusprechen. Dabei lernt der Redner durch das laute Sprechen, sich selbst zu hören. X

Wer sich selbst anhört und zuhört, überhört sich nicht.

Im anhörenden Begreifen der eigenen Aussage wächst die Verantwortung für das später Vorzutragende. Führungspersönlichkeiten werden häufig noch stärker durch dialogische Begegnungen gefordert. Sich darauf gründlich vorzubereiten, bedeutet, mit mehr Gelassenheit öffentlich aufzutreten. In Diskussionen, Disputen, Debatten und Interviews wird die Kunst der freien Rede am stärksten geprüft, weil der Sprechende oftmals spontan zu agieren und zu reagieren hat. Das Bild der Rede wird hier wesentlich vom Interaktionsstil der Kommunikationspartner bestimmt.

Das Beherrschen des Eingangs- und Schlussstatements In öffentlichen Dialogen geht es meistens darum, einen heterogenen Zuschauerkreis zu überzeugen. Zwar strahlt das persönliche Überzeugungsvermögen des Redners als Sympathiewert auf das Publikum aus; doch die Art des Sprechens und die Vermittlung des Gedachten verstärken die Zuneigung des Publikums zum Sprechenden. X

Bereiten Sie sich auf das Eingangs- und Schlussstatement Ihres öffentlichen Auftretens sehr gründlich vor.

Woraus besteht das Eingangsstatement? Es bildet die Brücke zum heterogenen Zuschauerkreis. Es ist der Schlüssel für Sie, das Verschlossene in den Zuhörern zu öffnen. Viele Redner haben bereits durch unsichere und wenig beeindruckende Eingangsstatements die Tür des gegenseitigen Verstehens zugeschlagen. Der erste Schritt des Eingangsstatements ist die

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Darlegung des Standpunktes. Der Sprechende bezieht eine Position – er formuliert seine These. Zum Beispiel: „Ich halte die Ehelosigkeit der katholischen Priester nicht mehr für zeitgemäß.“

Falls er es für notwenig hält, kann der Sprechende Kernbegriffe der These definieren. Einige Gedanken zur Definition seien eingefügt. Eine „Definition“ ist eine Begriffsbestimmung, eine Erklärung des verwendeten Begriffs. X

Wer definiert, schafft eine gemeinsame begriffliche Grundlage, grenzt das Thema ein und sichert seinen Standpunkt ab.

Der definierende Redner spricht, indem er definiert, aus einer konstruktiven Grundhaltung heraus. Er wünscht, von den Zuschauern verstanden zu werden. Mit der Definition werden die Zuhörenden auch gedanklich geführt. Oftmals bedeutet bereits die Definition die Ausgangsbasis für die spätere Argumentation. Besonders emotional besetzte Begriffe bedürfen einer Klärung, weil sich an ihnen die Dispute entzünden. Hier kann das Definieren helfen, zu einer sachlicheren Gesprächsführung zu gelangen. Mit der Begriffsklärung der These hat der Redner ein gedankliches Fundament gelegt, das für die nachfolgende Auseinandersetzung wegweisend wird. Das Eingangsstatement sollte nicht mehr als zwei Argumente enthalten. Dies vor allem deswegen, weil Gesprächspartner kaum in der Lage sind, sich mehr als zwei Argumente einzuprägen. Bei Fernsehzuschauern sollte der Sprechende keinen allzu hohen Grad an Aufmerksamkeit voraussetzen, weil der Zuschauer meistens noch durch die Begleitumstände abgelenkt wird. Die beiden Argumente, die die These begründen, sollen für alle Kommunikationspartner nachvollziehbar gestaltet sein. Wer schon die Anfangsargumentation abstrakt formuliert, kann nicht darauf hoffen, die Gunst der Zuschauenden lange geschenkt zu bekommen. Kehren wir zu der beispielhaft genannten These zurück:

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„Ich halte die Ehelosigkeit der katholischen Priester nicht mehr für zeitgemäß.“

Das erste Argument könnte lauten: „Katholische Priester müssen heute eine moderne Form der Seelsorge pflegen. Dazu gehört auch die Beratung in Ehekrisen. Die Glaubwürdigkeit der Priester, hier kompetent zu sein, wächst, wenn sie selbst Erfahrungen in der Ehe besitzen.“

Das zweite Argument könnte heißen: „Ein zwangsverordnetes Alleinsein ist widernatürlich. Priester müssen im Zwangszölibat leben. Mit Zwang belegte Lebensformen aber sind heute nicht mehr zeitgemäß, weil widernatürlich. Der Mensch der Gegenwart kann über seine Lebensführung frei entscheiden.“

Das Eingangsstatement möge zwei Minuten nicht überschreiten. Die Sicherheit des Sprechenden wird im freien Vortrag des Statements umso überzeugender wirken, je offener er den Blickkontakt zum Publikum herstellt. Im Fernsehstudio und anderswo wirkt der Redner souveräner, wenn er die Passagen seines Statements weitgehend frei vorträgt. Das Abschlussstatement will ebenso gut durchdacht und präsentiert sein. Es bildet nach einer dialogischen Begegnung die gedankliche Abrundung des Gesagten. Oft ist bei öffentlichen Auftritten zu beobachten, dass Disputanten in ihr Schlussstatement Gedanken aufnahmen, die sie während des Disputes vergessen hatten. So geriet die Schlussaussage aus den Fugen und wirkte eher verwirrend als eindringlich. Denn das Eindringliche, das, was sich im Denken und Gemüt der Zuschauenden einnisten soll, findet im Schlussstatement seinen Platz. Deshalb gilt der Hinweis: X

Formulieren Sie Ihr Schlussstatement in drei knappen und überschaubaren Sätzen. Betonen Sie diese Aussagen so deutlich, dass die Zuschauer den appellativen Charakter spüren. Vermeiden Sie es, im Schlussstatement gedankliche Details nachzutragen.

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Schreiben Sie das Schlussstatement ebenfalls auf. Prägen Sie es sich so gut ein, dass Sie es frei sprechen können. Inhaltlich besteht diese Aussage aus einem Appell, der die Zuschauenden bittet, den Standpunkt des Redners durch ihre Stimme zu unterstützen. Vermeiden Sie es, in der Schlussaussage auf Ihren Meinungsgegner einzugehen, indem Sie seine Gedanken herabzuwürdigen und Ihre Position dadurch aufzuwerten versuchen. Gedankliches Nachtreten wird von den Zuhörern selten belohnt.

Die Fähigkeit des Zuhörens Das Zuhörenkönnen ist eine elementare Ausdrucksform von Denkdisziplin. Es ist schlimm, ansehen zu müssen, wie sich Gesprächspartner in öffentlichen Auftritten durch zahlreiche Unterbrechungen gegenseitig ignorieren. X

Das Nichtzuhören ist ein Ausdruck von Arroganz und Ignoranz.

Der Nichtzuhörende maßt sich an, seine kommunikativen Normen über die des Partners zu stellen. Er erhebt sich damit in egozentrierter Weise zum Schnittpunkt der Interaktion. Auch Moderatoren können in solchen Situationen selten gut steuern. Wer sich deshalb öffentlichen Disputen, Interviews und Kontroversen stellt, möge zuvor das Zuhören hinreichend geübt haben. Dazu ist die Übung des „Scholastischen Disputes“ nach Thomas von Aquin (1225– 1274) hervorragend geeignet.22 In dieser Übung, die die Klosterschüler als Vorbereitung auf den Unterricht absolvieren mussten, kommt es auf die Fähigkeit des Repetierens und des tieferen analytischen Verstehens an. Es ist eine Übung, mit der neben dem Repetieren und dem analytischen Zuhören auch Denkdisziplin und Konzentration sowie Gelassenheit und Geduld eingeübt werden. Da es sich um eine klassische dialektische Übung handelt, wird mit ihr auch das kontradiktorische Denken – das Denken in These und Antithese – auf die Probe gestellt. X

Das Zuhörenkönnen ist ein Hauptmerkmal der kommunikativen Kompetenz.

Wer nicht zuhören kann, kann kaum den Anspruch erheben, als Gesprächspartner glaubwürdig und seriös zu sein. Aufmerksame Zuhörer

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kommunizieren in einer alterozentrierten Grundhaltung. Damit ist gemeint: Der Zuhörende nimmt während des Sprechaktes seine eigenen Vorstellungen, Wünsche und Erwartungen zurück. Er konzentriert sich ganz auf den Sprechenden, dem er zuhört, und dessen Anliegen. Das wirkliche Zuhören erweist sich schließlich an der Antwort, die der Zuhörende gibt. Kommunikativ unreif ist es, bereits an die eigene Antwort zu denken, noch während der Partner spricht. Diese subtile Form von Egozentrizität kennzeichnet viele Führende. Das vermeintliche Besserwissen lässt sie ungeduldig werden und schmälert ihre Sympathiewerte. Aufmerksame Moderatoren achten darauf, dass die Redeanteile der Disputanten etwa gleich lang sind. Akustische oder optische Signale helfen, die begrenzte Redezeit einzuhalten und sich zu disziplinieren. Gesprächspartner, die sich ständig unterbrechen, machen sich auch bei den Zuschauern unbeliebt. Höfliche Korrekturen wie „Sie haben mich zwar ausatmen, aber nicht aussprechen lassen“ bieten auch dem hartnäckigen Egoisten die Chance zum Selbstbesinnen. Im Zuhörenkönnen liegt die Fähigkeit, seinem Mitmenschen mit Würde zu begegnen. Auch darin wird die sittliche Qualität der Rhetorik erkennbar.

Das Kennen verschiedener Reaktionsmuster Wer sich auf ein öffentliches Auftreten vorbereitet, bei dem er durch Diskussionen oder andere Formen des Dialogisierens herausgefordert wird, möge vorher einige Reaktionsmuster bedenken, die ihm Sicherheit und innere Gelassenheit verleihen können. Mit diesem Reagieren strebt der Redner keine Dominanz an. Doch gilt es, ein rhetorisches Profil zu zeigen, das auch auf die Zuschauer und Zuhörenden sympathisch wirkt. Aus ethischer Sicht besitzt das Reagieren ohnehin einen hohen Wert. Es manifestiert die Wirkung des Gesagten und das Ernstnehmen des Partners. Die Art und Weise, in der der Sprechende reagiert, kennzeichnet seine Geisteshaltung. So wird er als Repräsentierender einer sittlich orientierten Dialogkultur nicht verletzend antworten. Welches Stilmittel

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seines Reagierens er auch benutzt, er wird eine konstruktive Haltung in ihm ausdrücken. Zum Beispiel: die Gegenfrage. In bestimmten Verkaufsveranstaltungen wird die Gegenfrage als „die Königin der Dialektik“ bezeichnet. Das riecht reichlich unseriös und manipulativ. (Welches Dialektikverständnis wird da vermittelt?) X

Die Gegenfrage ist dialektisch seriös, wenn sie dazu beiträgt, einen Begriff oder Gedanken zu präzisieren.

Zum Beispiel: Ein Disputant hat in seiner Darlegung Ihnen gegenüber den Begriff „Verkehrskontrolle“ benutzt. Er fordert Sie zu einer Stellungnahme auf. Nun ist es Ihnen erlaubt, mit einer Gegenfrage zu antworten und um eine Definition des Begriffes „Verkehrskontrolle“ zu bitten. Um nicht den Eindruck zu erwecken, Sie wollten durch die Gegenfrage Ihre Antwort hinauszögern, können Sie Ihre Gegenfrage begründen. So können Sie z. B. sagen: „Mir ist in Ihrer Aussage der Begriff ‚Verkehrskontrolle‘ noch nicht klar geworden. Würden Sie bitte, bevor ich Ihnen antworte, dieses Wort noch definieren?“ Wenn die Gegenfrage Ausdruck einer Bitte ist, einen Gedanken zu präzisieren, so kann sie etwa lauten: „Würden Sie bitte Ihren Gedanken/ oder den letzten Gedanken noch einmal darlegen? Ich habe ihn noch nicht ganz verstanden.“ Sollte der Redner in gedankliche Bedrängnis geraten, so darf er, um gleichsam geistig Luft zu holen, eine Gegenfrage stellen, die das Gewand der Repetitio (der Wiederholung) trägt. X

Die Repetitio ist die seriöseste Art des Verzögerns. Allerdings sei vorausgesetzt, dass der Repetierende die Aussage des anderen nicht selektiv wiederholt.

Der Repetierende kann formulieren: „Sie haben eben ... gesagt. Ist es richtig, dass Sie von mir die Einschätzung zu ... wissen wollen?“ Durch die Repetitio des herausgeforderten Redners überprüft der Herausforderer, ob er auch in der semantischen Tiefe verstanden worden ist.

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Zu einem der bedeutendsten Reaktionsmuster gehört die konstruktive Rückmeldung gegenüber einem Gesprächspartner. Wir meinen damit nicht die allseits bekannten Ausdrucksstereotypien wie: „Das ist eine gute Frage!“, „Das ist ein interessanter Hinweis.“ oder „Ich danke Ihnen für diesen Einwand.“ Diese oder ähnliche Bemerkungen gaukeln eine Pseudo-Harmonie vor. Es geht dem Reagierenden meistens um den Eindruck, ein wohlwollender Gesprächspartner zu sein. In Wirklichkeit sind solche Antwortschablonen manipulative Ansätze, die Gunst des anderen auf diesem Wege zu gewinnen. Uns fällt auf, dass diese Wendungen immer wiederkehren und dadurch unecht wirken. Redner in der Öffentlichkeit könnten Gefahr laufen, durch diese eigennützigen Floskeln jegliches Lobende in Dialogen zu pervertieren. Die konstruktive Rückmeldung ist zuerst an ihrer Ich-Botschaft erkennbar. Der Antwortende bewertet den Partner nicht, sondern sagt ihm, wie er dessen Aussage empfindet. Zum Beispiel: „Ich merke, meine Darlegung bereitet Ihnen Sorge.“ Oder: „Ich finde es schade, dass Sie mir hier nicht zustimmen können.“ Der Reagierende möge vermeiden, den Disputanten abzulehnen oder in ihm Schuldgefühle zu erzeugen. Ebenso gut ist es, nach einem kritischen Angriff des Gesprächspartners nicht mit einer Negation zu antworten. Spontan nämlich antworten viele Angegriffene mit einer negierenden Aussage. Zum Beispiel: „Da muss ich Ihnen sofort widersprechen.“ Oder: „Nein. Das ist völliger Quatsch, den Sie da vortragen. Im Übrigen habe ich das nie gesagt.“ X

Negierende Reaktionen führen zu einer Verhärtung der Meinungsfronten.

Fühlt sich ein Angreifer durch eine Negation abgelehnt, so empfindet er dies als Zuwendungsentzug. Meistens werden seine Angriffe danach noch aggressiver. Ernst genommen dagegen fühlt sich ein Gesprächspartner, wenn Sie seine Auffassung, seine Gefühle würdigen. Dazu gehört ein partielles Rechtgeben ebenso wie das Verständnis für seinen Standpunkt. Zum Beispiel: „In dieser Hinsicht stimme ich Ihrem Standpunkt zu.“ Oder: „Ich verstehe Ihre Auffassung.“

Freies Sprechen

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Die kommunikative Kompetenz des Redners gibt stets seine Konsensbereitschaft zu erkennen. Wenn der Sprechende einem Partner geantwortet hat, so möge er sich vergewissern, wie der andere die Antwort aufgenommen hat. Dieses Vergewissern kann durch folgende Rückfragen geschehen: „Genügt Ihnen meine Antwort?“ Oder: „Was meinen Sie zu meiner Antwort?“ Ist der Gesprächspartner mit der erhaltenen Antwort nicht zufrieden, so können Sie ihm eine der weiteren Gegenfragen stellen: „Welchen Gedanken vermissen Sie in meiner Antwort?“ Oder: „Worauf hätte ich nach Ihrer Meinung noch eingehen sollen?“ Oder: „Welchen Gedanken habe ich noch nicht ausführlich genug behandelt?“ Sie zeigen damit Ihrem Gesprächspartner, auch weiterhin an einer sinnvollen Dialoggestaltung interessiert zu sein. Zugleich signalisieren Sie ihm, sich mit destruktiven Reaktionen des Angreifers nicht zufrieden zu geben.

2. Freies Sprechen Im Begriffsverständnis von „Angewandter Rhetorik“ ist das freie Sprechen, verbunden mit Spontaneität und Kreativität, das entscheidende Kriterium, das diese Art des Sprechens von der literarischen Rhetorik abgrenzt. X

Die angewandte Rhetorik erfordert einen höheren Einsatz der Persönlichkeit, weil das freie Sprechen eine direkte Beziehung des Redners zum Publikum bedeutet.

Was ist nun mit „freiem Sprechen“ oder „freier Rede“ gemeint? X

„Freie Rede“ ist ein in sitzender oder stehender Position vorgetragenes gedankliches Angebot, bei dem der Redner nicht über einen vorformulierten Text verfügt.

Dabei kann sich der Sprechende auf einen Stichwortzettel stützen. Meistens jedoch wird freies Sprechen ohne schriftliche Unterlagen präsentiert, weil es die Redebedingungen oft gar nicht gestatten, gedankliche Stützen

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schriftlich zu fixieren. Deshalb ist die freie Rede stets von Spontaneität begleitet. Denn der Sprechende ist durch die Redesituation aufgefordert, in kurzer Zeit darzulegen, was der oder die Zuhörer von ihm erwarten. Die freie Rede wirft den Redner durch den Grad an Spontaneität auf seine bis dahin entwickelten intellektuellen und emotionalen Persönlichkeitswerte zurück. Um es noch einmal zu sagen: Zur freien Rede gehört nicht das Vortragen oder Vorlesen von schriftlich existierenden Fachreferaten, von Reden politischer, kultureller oder wirtschaftlicher Inhalte. Es gehört auch nicht das Schauspiel oder das freie Rezitieren von Texten dazu. Wir bitten das freie Sprechen nicht zu verwechseln mit dem freien Vortrag von etwas schriftlich Existierendem. Im freien Vortrag ist wörtlich ausgearbeitet und wird ebenso wörtlich vorgetragen, was das Manuskript enthält. X

Freies Sprechen dagegen unterscheidet sich von der Manuskriptrede durch die spontane Entstehung des formulierten Wortlautes.

Aus diesem entscheidenden Grund setzt angewandte Rhetorik ein bedeutendes Maß an Persönlichkeitsentwicklung des Redners voraus. Auch das Ausarbeiten einer Manuskriptrede beansprucht den Redner – wie wir noch sehen werden – ganz außerordentlich. Doch was das Sprechen betrifft, so bietet ein vorgefertigter Text schon durch sein Dasein sehr viel Sicherheit. Was meinen wir mit „Spontaneität“? Spontaneität ist die Fähigkeit, einem eigenen plötzlichen, inneren Antrieb zu folgen und gedanklichen oder emotionalen Intentionen durch das eigene Handeln Raum zu geben. Die freie Rede verpflichtet gleichsam den Sprechenden zur Spontaneität. So gesehen, ist freie Rede der kommunikative Raum, in dem sich Spontaneität durch sprecherisches Handeln verwirklicht. Durch das spontane Sprechen scheint das Persönlichkeitsprofil des Redners als eines weitgehend angstfreien Menschen auf. X

Angst lähmt die Spontaneität und Kreativität des Redners.

Freies Sprechen

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Die Angst vor dem Versagen in der exportierten Stelle beeinflusst das kreative Vermögen des Redners erheblich. So gestaltet sich auch bei manchen Sprechenden die freie Rede als kreativer Prozess schleppend und umständlich. Von freiem, fließendem Sprechen spüren die Zuhörer dann nicht sehr viel. Weil Spontaneität eigengesteuerten plötzlichen Impulsen folgt, ist sie deshalb auch nicht trainierbar. Spontan agierende Redner werden oft wegen ihres Auftretens bewundert. Schlagfertigkeit ist wohl eine solche beeindruckende Mischung aus geistiger und emotionaler Spontaneität. Vor allem drängt unter diesen Bedingungen das Emotionale als das verkörperte, persongewordene Innere des Redners nach außen. Die freie Rede bringt somit schon sui generis die menschliche Nähe des Sprechenden mit sich. Denn es ist schwer, sich hinter einem Stichwortzettel zurückzuziehen. Die Kreativität in der freien Rede – das ist ein Akt des Erscheinens eigener Assoziationen im Gewand der Sprache. Da angewandte Rhetorik in freiem Sprechen besteht, verleihen ihr auch die Assoziationen des Redners ein charakteristisches Profil. X

„Assoziationen“ sind emotional ausgelöste gedankliche Verknüpfungen.

Je weniger eingeengt sich ein Sprechender in der freien Rede fühlt, desto assoziationsreicher werden seine inneren Impulse fließen und durch das gesprochene Wort hörbar werden. Wer aber noch mit unsicherem Gefühl auftritt, benötigt eine gründlichere Vorbereitung, da er sich auf seine spontane Kreativität noch nicht genügend verlassen kann. So erleben wir bei manchen Rednern, dass sie niemals ohne Stichwortzettel auftreten. Andere Situationen, in denen sie spontan frei sprechen müssten, meiden sie deshalb. Die spontane Kreativität ist in Wirklichkeit, vom Persönlichkeitsfundament des Redners aus betrachtet, nicht spontan. Spontan wirkt auf den Zuschauer die Reaktion im Sprechakt, im dialogisierenden Gestalten des Gesprochenen. Das Plötzliche in der freien Rede ist lediglich ein Abrufen des schon lange in der inneren Schatztruhe geborgenen Inbildlichen des

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Angewandte Rhetorik

Redners. Das Inbildliche, das eingeprägte Inbild, wartet stets darauf, ausgedrückt zu werden. „Kreativität“ ist das Aufgreifen des schon – aber noch nicht realisierten – Existierenden durch das menschliche Individuum. Durch die Kreativität des Menschen erhält das schon immer Vorhandene eine Form für sein Dasein. Der schöpferische Mensch ist der Mittler – das Medium – für das, was Gestalt annehmen will. Erfinder und Entdecker auf allen Lebensgebieten haben das Metaphysische erlebbar gemacht. Sie haben gefunden und ent-deckt: das bedeutet, einen Schleier wegzuziehen, also ent-schleiern. In der freien Rede zeigt sich, was sich im Laufe des geistigen und emotionalen Werdens der Persönlichkeit im Inbildlichen eingefunden hat. Das als verarbeitetes Erleben in das Wesensinnere Aufgenommene hält für denjenigen vieles bereit, der seine Assoziationen zulässt. X

Verdrängte Gefühle belasten den assoziativen Weg des Redners. Gefühlsverbote erzeugen meistens auch Assoziationsverbote.

Das Verbotene kommt dennoch nicht zur Ruhe. In Wortversprechern und begrifflichen Fehlassoziationen bahnt es sich oft seinen Weg. Wir beobachten dies in sprachlichen Fehlleistungen, die unter spontanen Redebedingungen auftauchen. Wenn ein Politiker davon spricht, mit der „Koalition gemeinsam unterzugehen“, so deutet dies nicht gerade auf ein tiefes inneres Überzeugtsein vom Sinn dieses Bündnisses und vom Erfolg der augenblicklichen politischen Bemühungen hin. Freies Sprechen ist Reproduktion des Inbildlichen. Das Erscheinen vor den Zuschauern als Ausdruck eigenen oder fremden Wollens erzwingt vom Redner, die innere Reserviertheit aufzugeben und das Inbildliche partiell preiszugeben. X

Das Vertrautsein mit inneren Bildern erleichtert das elementare Sprechen in Bildern.

Der Sprechende – wenn er überzeugen und eindringlich wirken will – wird stets das Bildhafte in seiner sprachlichen Begleitung wissen. Das Bild, das assoziativ im Zuhörer hervorgerufene geistige Anschauen,

Freies Sprechen

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vermag ihn, den Schauenden, zu überwältigen. Dann nämlich, wenn das Bild den Rahmen des Wortes sprengt. Das Bild im Inneren des Wortes befreit sich von der Wortmauer und greift nach der Vorstellung des Zuhörenden. Es kann den Zuschauer unmerklich verwandeln, ihn um-bilden. X

„Bild-ung“ ist ein Verwandeln des aufnahmebereiten Menschen zu neuem Sehen hin.

Jenes Bildhafte im Dargestellten des Redners wird sich im Zuschauer besonders einrichten dürfen, das seine Gefühle ergreift. Auch der Zuschauer wartet darauf, ergriffen zu werden. Sich ergreifen zu lassen, ist ein Privileg des gemütsverankerten Menschen. X

Nur jener Redner kann er-greifend sprechen, der zuvor von seinen inneren Bildern ergriffen wurde.

Im Allgemeinen sind es zuerst die Bilder des Täglichen, die für den Zuschauer greifbar werden. Das Alltägliche ist leichter rekapitulierbar, weil meistens schon einmal gelebt oder erlebt. In der freien Rede – gleich unter welchen Bedingungen – nimmt das einleitende Sprechen einen wichtigen Platz ein. X

Das einleitende Sprechen baut Bindungen zum Zuschauer auf

Deswegen seien für die Einleitung des frei sprechenden Redners einige Hinweise gegeben. Das Einleiten durch ein Beispiel kennzeichnet einen praxisnahen Beginn. Beispiele haben die Aufgabe, abstrakte Inhalte zu veranschaulichen, zu verdeutlichen. Beispiele aus dem möglichen Erleben des Zuschauenden lassen in ihm Vertrautes wach werden. So öffnet er sich eher für das Kommende, als wenn ihm abstrakte Aussagen begegneten. Wenn Sie gar ein Beispiel wählen, das auch die Zuschauer schon diskutiert haben, so erhöhen Sie die Identifikationsbereitschaft mit Ihrem Anliegen. Gewiss liegen in der beispielorientierten Einführung auch Nachteile. Manchen Rednern gelingt es nicht, die enge innere Beziehung des Beispiels zum Thema herzustellen. Andere wiederum schildern das Beispiel zu langatmig. Ausführliche Schilderungen aber kosten Zeit. Außerdem

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Angewandte Rhetorik

könnte die breite Darstellung des Beispiels belehrend wirken; so als müssten die Zuschauer in dieser Weise angesprochen werden, weil sie das Anliegen sonst nicht verstünden. Die Einleitung durch eine Provokation will sehr behutsam angewandt werden. X

Wer in der Rede provozieren will, möge persönlich und fachlich sicher sein.

Nur dadurch ist auch ein souveräner und ethisch verantworteter Gebrauch der Provokation gewährleistet. Das provozierende Sprechen gehört nicht in das Repertoire eines sittlich labilen Menschen. Dieser könnte das Provozierende in eigennütziger Weise für sich missbrauchen. Die Provokation als Stilmittel aber dient dem Zuschauer. Es geht um das Aufmerken des Zuhörerkreises, der sich dem Sprechenden und seiner Aussage mit besonderer Intensität widmen möge. Die Provokation ist eine gedankliche und emotionale Herausforderung für ein Publikum. Es ist oft ein Einbrechen in die inneren Wesensräume des Zuschauers, ohne nach dessen situativem Befinden zu fragen. Doch gerade das spontan emotional Berührende, das Überraschende der Provokation belebt und weckt auf. Bereits eine abweichende Anrede an das Publikum statt der erwarteten löst Verwunderung aus. Zum Beispiel: „Liebe Frauen und Männer!“ in der Antrittsrede der Grünen im Deutschen Bundestag. Und der Rektor einer Schule, der sich eine lebhafte Diskussion mit den Eltern erhofft, braucht nur zu sagen: „Sie, sehr geehrte Eltern, tragen einen großen Teil der Schuld daran, dass es an unserer Schule immer wieder zu aggressiven Ausschreitungen der Schülerinnen und Schüler gegeneinander kommt!“ Die Provokation besitzt Behauptungscharakter. Der provozierende Redner ist der Behauptende. Die Behauptung als rhetorische Aussage trägt ohnehin ein Spannungsfeld in sich. Sie weckt Erwartungen beim Zuschauer und erfüllt sie (zunächst) nicht. Das Unerhörte der behauptenden und damit provozierenden Aussage besteht darin, vom Publikum zu erwarten, dass es der Behauptung ohne Beweisführung zustimmen werde oder möge.

Freies Sprechen

X

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Wer behauptet, auferlegt sich die Beweispflicht. Er fordert meistens zur Gegenbehauptung heraus.

Provozierende Aussagen dürfen nicht zur Verletzung des Zuschauerkreises führen. Damit gingen der moralische Anspruch der Rhetorik und das sittliche Profil des Sprechenden verloren. Mit einem Zitat zu beginnen, kann erfrischend für Dialogpartner und Publikum sein. Ein „Zitat“ ist die wörtliche Wiedergabe einer mündlichen oder schriftlichen Aussage unter Angabe der geistigen Quelle. Das Zitat möge zu den nachfolgenden Gedanken passen, die der Redner verkünden will. X

Wer längere Zitate abliest, wirkt glaubwürdiger.

Dies deutet auf eine gründliche Vorbereitung hin, mit der der Sprechende bekundet, auch die Zuschauer ernst genommen zu haben. Zitate, die auch den Zuschauern bekannt sind, können eine gemeinsame gedankliche Ausgangsbasis schaffen. Doch sollten es keine abgegriffenen Zitate sein, da diese ihre Wirkung längst eingebüßt haben. Der Sprechende weist mit dem Zitierten auch seinen eigenen Bildungsstand nach. Allerdings möge er damit nicht kokettieren und seinem geistigen Narzissmus huldigen. Zitierende Redner können auch manipulieren. Sie greifen nur einen Teil des Zitates auf und entstellen damit die ursprüngliche Intention. Sie verfälschen den Autor durch eine fragmentarische Wiedergabe des fremden geistigen Gutes. Dennoch können Zitate helfen, die Einleitung sicher zu gestalten. Vor allem dann, wenn das Zitierte seiner Aktualität wegen den Zuschauern als Schlagzeile noch lebendig vor dem geistigen Auge steht. Viele Redner beginnen in einer lockeren Gesprächsrunde ihre Ausführungen mit einer Anekdote. Eine solche kurze, meist witzige Geschichte über einen Menschen oder ein Ereignis hebt das Typische des Geschilderten hervor, um es als illustre Begebenheit auf das augenblickliche rednerische Anliegen zu übertragen. So werden über Persönlichkeiten der Politik, der Wirtschaft, der Kirche und des näheren Verwandtenkreises manche biographischen Histörchen berichtet, die zum Schmunzeln anre-

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Angewandte Rhetorik

gen und dennoch nachdenklich stimmen sollen. Der Sprechende wird dadurch beinahe ungewollt zu einem Erzähler, der vieles aus seinem geistigen Hausschatz zu berichten weiß. Der Nachweis der persönlichen oder fachlichen Kompetenz des Sprechenden wird von den Zuschauern meistens als Vertrauensangebot interpretiert. In Interviews, Debatten oder Streitgesprächen wird der Sprechende ja als Repräsentant seiner beruflichen Rolle vorgestellt und auftreten. Es wird ihm deshalb leichter fallen, unter spontanen Bedingungen zu sprechen als zu wenig eingeübten Themen. Oft greifen die Redner den Wortlaut des Moderators oder Vorredners auf, um den gedanklichen Faden knüpfen zu können. Wer als eine solche Referenzperson erscheint, möge bedenken, dass öffentliche Ämter und Institutionen nicht bei allen Zuschauern mit derselben Gunst belegt sind. Hier hilft bescheidenes Darstellen mehr, als es die fachliche Autorität zuließe. Manager mit verliehener Autorität sind gefährdet, eine zu große Distanz zum Publikum entstehen zu lassen. Da diese Distanz durch das Herausheben der „öffentlichen Persönlichkeit“ durch die Medien ohnehin geschieht, braucht der Redner nicht noch durch eine selbstgefällige Darstellung diese Distanz zu vergrößern. In der Demonstration visualisiert der Redner sein Anliegen „augenfällig“. Dabei haben wir weniger an das Einsetzen von Medien wie Tafel, Powerpoint, Flip-Chart oder Overheadprojektor gedacht. Diese könnten gar das freie Sprechen reduzieren, da sich der Vortragende an die technischen Hilfsmittel zu sehr anlehnte. Beim einleitenden Demonstrieren zeigt der Redner den Darstellungsgegenstand vor und lässt die Zuschauer direkt partizipieren. Es ist die Präsentation eines Produktes, das der Redner in die wirksame Nähe des Publikums und seiner Aussagen rückt. So wird neben Industrieprodukten auch ein Bild, ein kultischer Gegenstand, ein Tatwerkzeug oder eine Publikation gelten können. Das präsentierende Sprechen regt die plastische Vorstellungskraft der Zuschauer an. Solche Erlebnisse kann der Teilnehmende rasch in sein Erinnern rufen. Die rhetorische Frage schließlich ist eines der bedeutendsten Stilmittel, das in der angewandten wie in der literarischen Rhetorik mit gleicher vorzüglicher Praktikabilität ausgestattet ist. Unter der „rhetorischen Fra-

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ge“ verstehen wir eine Frage, die nur zum Schein gestellt wird, nicht aber darum, dass sie ein Zuhörer beantworte. Sie bildet eine geistig-verbale Partnerschaft mit dem Redner, der mit Hilfe dieses Stilmittels einen lebendigen Dialogismus – ein fingiertes Frage- und Antwort-Spiel – mit sich selbst oder mit dem Publikum treiben kann. Zunächst sei grundsätzlich gesagt: X

Die rhetorische Frage erhöht das Interesse und die Aufmerksamkeit der Zuhörer gegenüber dem Redner. Sie besitzt Aufforderungscharakter. Sie ist auch ein probates Mittel für den Sprechenden, sich selbst den weiteren gedanklichen Weg zu bereiten.

Als einleitende Aussage wirkt sie eindringlicher, wenn der Redner drei rhetorische Fragen stellt, die sich inhaltlich steigern. Zum Beispiel: „Wen lassen die Bilder der weltweiten Hunger-Katastrophen kalt?“ „Wer kann denn noch länger das Sterben der Kinder anschauen?“ „Ist nicht derjenige ein herzloser Mensch, der nicht zur Mithilfe bereit ist?“

Aber auch in dialogischen Begegnungen ist die rhetorische Frage eine wertvolle Wegbereiterin, die das Gespräch initiierend lenkt. Nach einer Frage, die der Redner von einem Kommunikationspartner gestellt bekam, kann er zu sich selbst sagen: „Ich frage mich nun, wie soll ich mit Ihrer Frage umgehen?“ Oder in moderierender Weise kann er fragen: „Welche Erkenntnisse ergeben sich nun für uns aus den bisherigen Beiträgen der Abteilungsleiter?“ Die rhetorische Frage sichert dem Sprechenden seinen Anteil am kommunikativen Geschehen. Da er die von ihm gestellte Frage auch selbst beantwortet, kann er auch entscheiden, in welcher Weise er mit seiner eigenen Antwort umgehen will. Dadurch aber reserviert er für sich als Sprechendem genügend gedanklichen Spielraum und die Chance zu weiterem Formulieren.

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Das spontane freie Sprechen im öffentlichen Alltag beansprucht den Manager besonders in seiner Überzeugungsfähigkeit. Aussagen, die von Journalisten und Zuschauern mit Interesse aufgenommen werden sollen, müssen die Überzeugungsabsicht des Redners zu erkennen geben. Als gedankliches Grundmuster eignet sich nach unserer Erfahrung – neben den bereits in früheren Abschnitten besprochenen Strukturen – die Sinnfolge des Votums. X

Ein „Votum“ ist als rhetorischer Terminus eine Meinungsabgabe mit Überzeugungsabsicht.

Wer votiert, wünscht mit dem Gesagten, von dem er selbst überzeugt ist, auch die Zuschauenden zu überzeugen. Die Struktur des Votums ist leicht einprägsam und ebenso leicht für ein Publikum reproduzierbar. Deswegen kann es gerade zum gedanklichen Grundgerüst desjenigen werden, der oft spontan zu sprechen hat. Es lautet: 1. 2. 3.

Schilderung des thematischen Hintergrundes Persönliche Stellungnahme (Votum) Begründung

Die Schilderung des thematischen Hintergrundes greift meistens das gerade diskutierte Thema auf. Es knüpft eine Beziehung zu aktuell Geschehenem und charakterisiert zugleich den sachlichen Informationsstand des Sprechenden. Dieser Kompetenznachweis ist der Beginn des Überzeugungsvorganges. Stellen Sie sich bitte eine Pressekonferenz vor, bei der ein Journalist einem Vorstandsmitglied eines Unternehmens eine Frage zur zukünftigen Geschäftspolitik gestellt hat. Zum Beispiel: „Herr Müller, wie stellen Sie sich die Unternehmenspolitik in den nächsten drei Jahren vor?“ Der befragte Manager wird zuerst einige Gedanken anführen, die den augenblicklichen Stand der Branche und speziell des eigenen Unternehmens betreffen. Indem er dies schildert, weist er sich als einen fachkundigen Kenner des Wirtschaftslebens aus. Die zeitlichen Umstände werden ergeben, wie ausführlich der erste Schritt des Votums verbalisiert sein darf. In einem Fernsehinterview wird der erste Teil vermutlich kürzer sein müssen, da oft die Fragenden das Szenario selbst hinreichend

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beschreiben. Der Sprechende möge im ersten Teil des Votums darauf achten, dass die Zuschauer, die er ja überzeugen will, sich auch sprachlich-begrifflich angesprochen fühlen. Der zweite Teil des Votums ist der kürzeste Teil. Er enthält – um zum interviewten Manager zurückzukehren – die persönliche Stellungnahme des Befragten. Das eigentliche Votum also besteht in einer wertenden Meinungsabgabe, die Pro- oder Kontra-Charakter besitzt. Sie bedeutet die gedankliche Grundorientierung für die meisten Geführten. Viele Manager haben es schwer, sich eindeutig zu äußern. Letztlich aber wird ihnen eine verschwommene Antwort zum Nachteil gereichen, denn die Zuhörenden vermuten eine Entscheidungsangst des sprechenden Managers oder Politikers. X

Die Entscheidungsangst eines Führenden produziert in ihm Entscheidungsstaus. Resignation und Stagnation im politischen und wirtschaftlichen Leben sind die Folge.

Der mittlere Teil, der Meinungsteil des Votums, kann, wenn er missverständlich formuliert ist, auch polarisierend wirken. Polarisierendes Sprechen, so wissen wir von Politikern und Managern der Vergangenheit, setzt den Mut zu klaren Bekenntnissen voraus. Der dritte Teil bietet die Begründung an. Je nach der Meinung, die der Manager geäußert hat, wird er nun seine beiden Argumente vortragen. Bei der Argumentation gilt es, sachliche und emotionale Argumente auf die Struktur der Zuschauer abzustimmen. Ein heterogener Zuschauerkreis wird für rationale, von Zahlen gestützte Begründungen nicht sehr viel Aufmerksamkeit entbieten. Der Sprechende möge hier abwägen, welche kausalen Beziehungen für sein Überzeugungsvermögen wirklich tragfähig sind.

3. Der Umgang mit dem Wort Die Sprache ist das bedeutendste Ausdrucksmittel der menschlichen Persönlichkeit. Das Leben der Sprache ist das Leben des Wortes. Das Leben des Wortes lebt vom Leben des Menschen. Der Sprechende haucht

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in das Wort hinein, was es später zu bewirken vermag. Deswegen ist der Mensch der Hüter des Wortes geworden. In seinem moralischen Verwahr liegt verborgen, zu welcher Bedeutung die Frucht des Wortes heranreift. Die ethische Kompetenz des Redners befähigt ihn, das gesprochene Wort zur Brücke werden zu lassen. Sein Wollen trägt das Zeichen des Mitmenschlichen, nicht des Gegenmenschlichen auf der Stirn. Das gesprochene Wort lässt die Nähe zu, die es zwischen Menschen geben muss, wenn sie sich vertrauen wollen. Mit der Sprache, dem Gesprochenen, kehrt das Menschsein in das Zwischenmenschliche ein. Das Geschriebene allein vermag noch nicht den Wortkörper zu verlassen. Erst durch das Gesprochene scheint das persönlich Einmalige des menschlichen Individuums, seine Eigenart, auf. Dieses Einmalige des persönlich Gesprochenen reicht bis zum Du, an das es sich wendet. Das verkündete Wort verbindet sich mit dem Verstehen im anderen Menschen und bildet nun das Gemeinsame eines Begegnens. In der Beredsamkeit des Redners eilt das Wort zum Zuhörer und wird zum Verkünder einer Botschaft, die den hörend Schauenden bewegen soll. Das Wort als das Bewegende im Redner überträgt sich auf den Geist und das Gemüt des Zuhörers. X

Das gesprochene Wort ist mehr als ein akustisch-phonetisches Zeichen, das auch die Zuhörer dechiffrieren können. Es ist die lebendige Botschaft, die von der Tiefe des menschlichen Miteinanders kündet.

Sprechende im gesellschaftlichen Leben nun wünschen mit ihrem Erscheinen zu überzeugen. Dazu ist es notwendig, durch die Sprache eine soziale Beziehung zum Publikum aufzubauen. Denn Sprechakte sind Akte sozialen Handelns. Das Bemühen des Redners, verstanden zu werden, kennzeichnet seine soziale Haltung. Doch im Zusammentreffen von Menschen, die aus unterschiedlichen sozialen Schichten stammen, beobachten wir auch einen unterschiedlichen Sprachgebrauch. Das Wort also, das der Sprechende wählt, ist seine Wahl. Möglicherweise versteht es der Zuschauer nicht oder anders. Viele Führende, so scheint es, wünschen nicht verstanden zu werden. Für sie bedeutet Sprache ein Statussymbol. Dort verbindet Sprache nicht, sondern sie isoliert. Dort auch

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erscheint der Sprechende überheblich; als könne er auf die Zuwendung des Publikums verzichten. Er wird also nicht überzeugen können. Die Soziolinguistik beschäftigt sich mit der Untersuchung des Sprachverhaltens gesellschaftlicher Gruppen. Dieser Zweig der Sprachwissenschaft hat zwei Ausdrücke geprägt, mit denen das Sprachverhalten gesellschaftlicher Gruppen gekennzeichnet werden soll: „restringierter Code“ und „elaborierter Code“. Wir kürzen sie in den folgenden Ausführungen mit rC und eC ab.23 Unter dem „rC“ wird ein eingeschränktes, individuell nicht stark differenziertes Sprachverhalten verstanden. Mit dem „eC“ ist gemeint, der Sprechende verfüge über ein differenziert ausgebildetes, hochentwickeltes Sprachvermögen. Wir haben die wichtigsten Merkmale der rC- und eC-Orientierten zusammengestellt. Zunächst der rC-orientierte Mensch in seiner Sprache und seiner sozialen Beziehung:                 

stereotype Ausdrucksweise geringer aktiver Wortschatz wenige sprachliche Assoziationen einfache syntaktische Muster Wiederkehr von syntaktischen Grundformen stärkerer Gebrauch von Floskeln und breiter interpretierbaren Wörtern (Worthülsen) wenig soziale Bezugspunkte (Familie, Arbeitsplatz) auf wenige Rollen fixiert einseitige Betrachtung sozialer Beziehungen nur kurzfristige Planung von Aktivitäten gehemmte Lernprozesse Schwierigkeiten in abstrakter Verbalisierung Einsatz der nonverbalen Kommunikation bei situativ ungewöhnlichen Zuständen Interaktionen werden nicht reflektiert und analysiert vermeidet Redundanzen der soziale Status der Interaktionspartner prägt das kommunikative Geschehen traditionelle Normen regulieren das Gruppengeschehen

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 sprachliche Ausdrücke sind stark standardisiert  sprachliche Sequenzen sind leicht durchschaubar und vorhersagbar. Der eC-orientierte Mensch zeigt folgende Prägungen:  flexible Ausdrucksweise  breiterer aktiver Wortschatz  sprachliche Assoziationen ermöglichen eine weitere gedankliche Entwicklung  komplizierte syntaktische Muster, die zwar individueller gedanklicher Kreativität Raum geben, aber oft nicht auf Anhieb den Sinn verstehen lassen (hypotaktisch)  Wortgebrauch individuell und originell  viele soziale Bezugspunkte  verschiedene Diskussionsthemen  Flexibilität in der Übernahme sozialer Rollen  langfristige Planung von Aktivitäten  reflektierte Erfahrungen und lebendige Lernprozesse  logisch-analytisches Denkvermögen  Fähigkeit zur Abstraktion und zu differenzierter Betrachtung von Zusammenhängen  Fähigkeit zur verbalen Kommunikation bei unterschiedlichen Sachverhalten  Grundlagen der Interaktion werden analysiert und diskutiert  Kommunikation mit abstrakten Beziehungen  Interaktionen werden an der Persönlichkeit der Interaktionspartner ausgerichtet  sozialer Status der Kommunikationspartner wird unterschiedlich bewertet  sprachliche Ausdrücke sind individuell und oft Ergebnisse kreativer Prozesse  Bildung von Neologismen (Wortneubildungen)  geringe Sicherheit in der Vorhersagbarkeit sprachlicher Sequenzen. Die Betrachtung dieser Merkmale ist für das sprachliche Überzeugen des Führenden ausschlaggebend. Nur die selbstkritische Analyse vermag die Codierung des Sprechenden zu ändern. Aus der Codedifferenz zwischen

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Sprechendem und Zuschauern entstehen die Kommunikationsstörungen. Deshalb gilt: X

Wer überzeugend sprechen will, möge seine eigene und die Codezugehörigkeit der Zuschauer kennen.

Viele Redner berücksichtigen die sprachliche Codierung des Publikums zu wenig. Ihre Egozentrizität hindert sie oft daran, ihre eigene sprachliche Normierung zu hinterfragen und die Verständnisgrundlage der Zuschauer zu ergründen. Besonders für die Beziehung zu einem heterogenen Zuschauerkreis ist es fundamental, die Grundregel zu kennen: X

Ein heterogenes Zuschauerpublikum gehört dem rC-orientierten Personenkreis an.

Wer sich dieser Erkenntnis bewusst ist, möge folgende Ungleichung bedenken: eC z rC

Sprechende des eC-Personenkreises erreichen ein rC-orientiertes Publikum nur sehr schwer. Dazu einige Beispiele: Der akademisch gebildete Vorsitzende einer Geschäftsführung hat große Mühe, sich bei einer Betriebsversammlung der Belegschaft gegenüber verständlich zu machen. Die Zuhörenden empfinden den Sprecher als dominant, weil er durch sein abstraktes Sprechen die Mindergefühle der weniger Gebildeten verstärkt. Manche Generalsekretäre verschiedener Parteien in der Bundesrepublik konnten aufgrund ihres intellektuellen Auftretens wiederum auch nur die Intellektuellen im Lande ansprechen. Einen großen Teil der Wähler konnten sie nicht erreichen. Auch Gewerkschaftsführer haben Mühe, ihre Glaubwürdigkeit gegenüber der Basis der Mitglieder zu retten. Ihr statusorientiertes Auftreten, ihre geheuchelten Fensterreden sind inzwischen entlarvt worden.

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Zahlreiche Theologen, die öffentlich auftreten, haben vergessen, dass sie sich nicht mehr in einem exegetischen Seminar der Universität befinden. Die theologisch-psychoanalytische Terminologie ist längst nicht jedem Glaubenden vertraut.

Die Code-Identität können wir in folgenden Gleichungen ausdrücken: rC == rC und eC == eC

Der rC-orientierte Sprecher wird mit einem rC-strukturierten Publikum kaum Verständnisprobleme erleben. So kann sich der Vorsitzende eines Betriebsrates im Allgemeinen den übrigen Betriebsräten gut verständlich machen. Der eC-orientierte Sprecher wird ohne Mühe die Aufmerksamkeit des eC-strukturierten Zuschauerkreises gewinnen. Dabei denken wir an manche akademische Lehrveranstaltung oder an Besprechungen, die Führende in politischen oder wirtschaftlichen Gremien leiten. Die Redner-Zuhörer-Beziehung, bei der ein rC-orientierter Sprecher vor einem eC-strukturierten Zuschauerkreis spricht, könnte manche Akzeptanzprobleme für den Redner bringen. Denn ein eC-orientierter Zuhörerkreis ist sehr auf seinen Gruppenstatus fixiert. Das „Niveauvolle“ bindet diese Menschen meist aneinander. So könnte ein Redner anderen geistigen Ansatzes vielleicht als rustikaler Eindringling empfunden werden. Nach eigenen Beobachtungen an eC-orientierten Kommunikationspartnern sind diese wohl bereit, dem rC-Sprecher eine formale Akzeptanz auszusprechen, nicht jedoch eine wesensinnere. Deshalb scheint uns eine Gleichung unangebracht zu sein:

Umgang mit dem Wort

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rC | eC

Der Umgang mit dem gesprochenen Wort meint nun, über die Sprachcodierung hinausreichend, auch die feinere Beziehung des Sprechenden zum einzelnen Wort. Das Sprach- und Stilgefühl, das der Sprechende als Ausdruck seiner inneren Erlebniswelt verrät, charakterisiert ihn in seinem persönlichen Überzeugenkönnen. Es ist eben nicht nur die Schulbildung, von der das sprachliche Ausdrücken eines Menschen geprägt wird. Entscheidender ist wohl, wie viel des Erlebten im inneren Menschen heimisch werden durfte und sich als Ausdruck zur Verfügung stellt. X

Der sprachliche Aus-druck eines Sprechenden ist abhängig von den Ein-drücken, die sich in ihm angesammelt haben.

Vielen Rednern hilft es, einige stilistische Merkmale zu bedenken, die das Sprachverhalten in der freien Rede begünstigen werden. Jedes Thema, über das ein Redner spricht, wird von einem bestimmten, ihm eigentümlichen Wortschatz getragen. Dieser themenbezogene individuelle Sprachschatz heißt auch „Wortfeld“. Wir definieren ein „Wortfeld“ als die Ansammlung typischer, das Thema charakterisierender Wörter. Zum Beispiel könnte das Wortfeld zum Thema „Fußball“ heißen: Tor, Schiedsrichter, Stürmer, Verteidiger, das Leder, laufen, Rasen, Elfmeter, köpfen, Angriffsspitze, Zuschauer, Stadion, schreien, Jubel, Fans, Abpfiff. In der Darstellung eines Sprechenden entsteht durch das Wortfeld jene Atmosphäre, die das Originelle des Geschilderten wiedergibt. X

Ein Wortfeld entsteht durch die Verbalisierung des Erlebten.

Das, was für den Redner mit seinen Sinnen erfassbar ist, kann er leicht wieder hervorholen und es beschreiben. Je rascher der Sprechende ein Wortfeld aufbaut, desto flüssiger und assoziativer kann er sprechen. Er beschreibt, was er konkret oder vor seinem geistigen Auge sieht. Das freie Sprechen gelingt mit einem Wortfeld besser. Der Sprechende aktiviert oder reaktiviert dadurch seinen Wortschatz. X

Ein Wortfeld hilft, die Aussage zu präzisieren.

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Die Präzision des sprachlichen Ausdrucks sagt auch etwas über den Sprechenden aus. Er gibt zu erkennen, wie intensiv er sich mit dem Gesagten identifiziert. Manche Führende, die bestimmten Anliegen innerlich gleichgültig gegenüberstehen, verbalisieren auch mit einer oberflächlichen und breit interpretierbaren Wortwahl. In der allgemeinen Wortwahl wird oft die (unbewusste) Distanz des Redners zum thematischen Anliegen deutlich. Sprechende im Fernsehen sind bedeutende Repräsentanten dieser Wortleere. Die Sprachanalyse nennt solche unpräzisen Substantive und Verben „Worthülsen“. Personen, die häufig im Fernsehen auftreten, müssen ja auch sehr oft zu verschiedenen Themen Stellung nehmen. Es wundert daher nicht, dass sich diese Sprechenden der Worthülsen bedienen. Zu den häufig genannten Hülsen-Substantiven gehören etwa: Ding, Sache, Leute, Punkt, Möglichkeit, Bereich, Situation, Geschichte, Faktor, Komponente. Das Substantiv gibt der Aussage einen großen Teil ihrer inhaltlichinformativen Bedeutung. Es ist der Informationsträger. In der Aussage eines Redners „Die deutsche Wirtschaft gewinnt an Ansehen“ vermitteln die Substantive „Wirtschaft“ und „Ansehen“ einen hohen Sinngehalt. Dennoch haftet dem Substantiv etwas Statisches an. Redner, die den Substantivstil bevorzugen, hinterlassen meist den Eindruck, theoretisch, gestelzt, geschraubt, gekünstelt gesprochen zu haben. X

Der Substantivstil erhöht den Abstraktionsgrad einer Aussage.

Für viele Sprechende ist der Substantivstil zu einem unbewussten Schutz vor emotional aufdringlichem Verhalten geworden. Der Sprechende signalisiert durch diese theoretische Ausdrucksweise eine Distanz, mit der er sich Partner vom Leib hält. Allerdings wirkt der Substantivstil auch nicht überzeugend. Substantive, die auf -ung, -heit und -keit enden, lassen die Aussage noch starrer und trockener erscheinen. Das Sprichwort „Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“ heißt im Substantivstil so: „Nach Aushebung einer Vertiefung liegt auch für den Urheber ein Stürzen im Bereich der Möglichkeit“.24

Umgang mit dem Wort

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Der Substantivstil soll Mindergefühle vieler Sprechender kompensieren. Doch dauerhaft wirkt er isolierend, weil ihm die Freude des Begeisterns fehlt. Die freie Rede verlangt lebendige Aussagen. Dazu möge sie sich jener Wortart bedienen, die das Handeln in ihrem Wesen trägt: des Verbs. Ein Redner, der bevorzugt Verben in seine Aussagen aufnimmt, kultiviert den Verbalstil. Häufig Verben zu verwenden, das bedeutet für den Sprechenden, bereits vor der Verbalisierung des Gesagten eine aktive Beziehung zu seinem Darstellungsinhalt entwickelt zu haben. In der freien und spontanen Rede ist der Sprechende besonders geneigt, zu Hilfsverben oder blassen Verben zu greifen. Er möge folgende Verben reduzieren: ist, sind, haben, müssen, sollen, machen, tun, kommen, laufen, gehen. Gewiss können wir auf diese Wörter nicht verzichten; doch verflacht der Antrieb einer Aussage, wenn sie von einem dieser Hilfsverben und Verben gebremst wird. In Verben zu sprechen, spiegelt die innere Aktivität des Redners wider. Das agierende Sprechen belebt auch die Aufmerksamkeit des Publikums. Die Zuschauer selbst werden durch das Appellative zum Handeln aufgefordert. Wer in Verben spricht, bekennt klar, dass er sich und das Geschilderte an ein Handeln gebunden hat. Das Tätigkeitswort wird damit zum Rückgrat der Aussage. So wie auch der Sprechende Rückgrat zeigt, wenn er das Handelnde in das Zentrum seiner Aussageabsicht rückt. X

Wer in Verben spricht, benennt das Ereignis. Das Geschehene prägt sich ein. Es bindet den Zuschauer, weil es lebendig wirkt.

Im Adjektiv erleben wir noch eine Wortart, die besondere Eigenschaften, Wesensmerkmale des Ausgesagten bezeichnet. Mit ihm, dem Hinzugefügten, wird das Gesprochene erweitert, ergänzt, vertieft oder verdichtet. Mit dem Adjektiv zeichnet der Sprechende Feinheiten, die an eine Person, eine Sache oder einen Begriff gebunden sind. Das Adjektiv kann das äußere und das innere Wesen des zu Beschreibenden näherbringen. Es gibt Auskunft über das Vorgestellte und lässt die Zuhörenden daran teilhaben. Der sprachliche Ausdruck des Redners wird präziser, die Gedanken und Gefühle, die er äußert, werden leichter nacherlebbar. Einige Beispiele zum Adjektiv:

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„Ich fühlte mich hoffnungslos isoliert, als stünde ich vor einem großen, eisernen Tor. Selbst die schrillen Schreie konnte ich nur noch schwach wahrnehmen.“ Oder: „Das marktpolitische Konzept, das Sie uns vorgelegt haben, ist eine vergilbte Akte. Wann wollen Sie endlich Ihre alten, verkrusteten Vorstellungen über Bord werfen?“ (Private Zitate)

Das Adjektiv erweitert die Dimension des Substantivs und vertieft den Aussagewert. Es holt aus der Wortbeziehung neue Assoziationen hervor und verdrängt das Oberflächliche. Es grenzt alles Unerwünschte ab und gibt der Aussage feineres Profil. Die emotionale Ausdrucksfähigkeit wird durch das Adjektiv verstärkt, so dass der Zuhörerkreis das innere Befinden des Sprechenden spürt. Zum Beispiel: „Es tut mir in der tiefsten Seele weh, und ich stehe hier, nicht um eine leichte Strafe, sondern um die allerschwerste Strafe entgegenzunehmen.“25 „Ihr seid die Veteranen schöpferischen Leidens. Macht weiter und vertraut darauf, dass unverdientes Leiden erlösende Qualität hat.“26

Das Adjektiv ermöglicht die feine und grobe Federzeichnung des Verstandes und Herzens, und es bereichert durch seine Nuancen den sprachlichen Ausdruck.

4. Der Modus des Gesprochenen Die Persönlichkeit des Redners wird in der freien Rede besonders sichtbar, weil die Spontaneität des rhetorischen Geschehens Merkmale in den Vordergrund treten lässt, die sich der bewussten Selbstbeobachtung entziehen. Daraus erwächst für den Sprechenden die Chance, Originalität zu leben, aber auch das Risiko, Unsicherheit zu zeigen. Beides muss er zur Bewertung dem Urteil des Publikums überlassen.

Modus des Gesprochenen

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Der Modus – die Art und Weise, das Beabsichtigte darzustellen – charakterisiert das innere Befinden des Redners. Die Aussage des Sprechenden kann somit wirklich, nur vorgestellt, möglich, vermutet, erwünscht, erforderlich, unsicher oder unrealistisch sein. Der Redner kann die Meinung eines anderen Menschen wiedergeben, wobei er sich einer persönlichen Zustimmung enthält oder ihr Raum gibt. Um die rationale und emotionale Qualität als Merkmale seines persönlichen Überzeugens sichtbar werden zu lassen, stellt ihm die Sprache Kategorien zur Verfügung, die sein sprachliches Handeln typisieren. So wird der Redner die grammatischen Kategorien „Indikativ/Konjunktiv“ und „Aktiv/Passiv“ wählen, um die Beziehungsstruktur zum Gesagten zu gestalten. Betrachten wir zunächst den Indikativ. Mit „Indikativ“ meint die deutsche Grammatik die „Wirklichkeitsform“ einer Aussage. Zum Beispiel: „Der Vogel sitzt auf dem Ast.“

Der Indikativ bezeichnet das Reale, das Tatsächliche, das auch als Wirkliches Vorgestellte. Er besitzt eine beschreibende Funktion, denn in ihm spiegelt sich das real Seiende wider. Da Rede auch Werte der Persönlichkeit ausdrückt, ist es erlaubt zu sagen, der Indikativ beschreibe die Realitätsnähe des Sprechenden zum Gesagten. X

Der Indikativ kennzeichnet die Art des Sprechenden, mit Realität umzugehen.

Er ist ein Ausdruck von Realitätsdichte im Sprechenden. Die realitätsorientierte Persönlichkeit scheut sich nicht, im Indikativ zu sprechen. Allerdings geht dieser Fähigkeit ein psychischer Prozess voraus: X

Wer im Indikativ spricht, hat zuvor eine Entscheidung gefällt.

Für deskriptive Aussagen bedeutet das nicht sehr viel. Denn die Deskription existiert oft außerhalb der Persönlichkeit des Redners. In allen Aussagen jedoch, in denen das persönliche Beteiligtsein des Redners durch sein Sprechen nach außen tritt, zeichnet er stets auch ein Bild seiner eigenen Entscheidungsfähigkeit. Da wir uns in diesem Buch um die Füh-

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renden bemühen, seien diese Überlegungen auch auf das Auftreten der Führungspersönlichkeiten unseres gesellschaftlichen Lebens übertragen. Der Gebrauch des Indikativs setzt Entscheidungsfähigkeit im Führenden voraus. So wird der Verteidigungsminister vor der Presse verkünden können: „Am 1. Juli 2007 werden fünfhundert Soldaten im Kampfgebiet eingesetzt.“

Diese entschlossene Mitteilung lässt die Zuschauer vermuten, dass hinter den Kulissen Diskussionen stattgefunden haben mögen, bevor es zu dieser Aussage kommen konnte. Noch intensiver wirkt der Indikativ als Modus persönlichen Realitätsbezugs in Aussagen, in denen Emotionales dargelegt wird. Ein Priester kann nach längeren persönlichen Konflikten über seine zölibatäre Lebensführung vor seine Pfarrgemeinde treten und sagen: „Nach langem innerem Ringen und nach reiflicher Überlegung habe ich mich entschlossen, mein Amt als Priester niederzulegen.“

In der Verkündung einer These schließlich erfahren die Zuschauer, wie klar die Position des Redners zum Diskussionsinhalt ist: „Die Gewerkschaften haben heute keine Existenzberechtigung mehr.“

Das indikativische Sprechen ist das Ergebnis eines Entscheidens, das dem Zuschauerkreis mitgeteilt wird und zu dem er Stellung beziehen kann. Deshalb möge sich der Führende der Wirkung des Indikativs bewusst sein: X

Wer im Indikativ spricht, fordert zur Konfrontation heraus.

Die Realitätsnähe des indikativischen Sprechens bedeutet für viele Zuschauer eine fundamentale Orientierung am Führenden. Eine unmissverständliche Aussage zu formulieren und damit gedankliche wie emotionale Klarheit zu bieten, das ist für viele Geführte eine berufliche

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Lebenshilfe. Es mag sein, dass die innere Herausforderung, die im Indikativ lebt, von manchem Führenden Mut einfordert. Zuhörer haben gelegentlich beklagt, der Indikativ sei hart, provozierend, autoritär. Gewiss mögen einige Manager die Postulate des Indikativs zu energisch und imperativisch vorgetragen haben. Nach unserer Beobachtung wirkt sich auch hier der Tonfall des Redners positiv oder negativ auf die Weise des Vermittelns aus. Das Sprechen im Indikativ bleibt dennoch ein Beispiel dafür, wie sich Stimmführung und Inhalt zu einem Überzeugen verbinden können, in dem die Persönlichkeit des Führenden als Identifikationsgestalt akzeptiert wird. Der „Konjunktiv“ bezeichnet eine Aussageweise des Möglichen, des Vorgestellten, des Wünschbaren, des Unwirklichen. Das Irreale in der poetischen Aussage z. B. klingt an in der Gedichtzeile: „Wenn ich ein Vöglein wär' und auch zwei Flügel hätt', flög' ich zu Dir“.

Die Beziehung des Sprechenden zum Inneren der Aussage ist ein emotionales Gebundensein, aus dem es noch keinen eindeutigen Schritt in das Wirkliche gibt. Im Konjunktiv erlebt der Zuschauer das Bekenntnis des Sprechenden zum Unvollendeten seines Handelns. Es liegt gelegentlich Distanz in der Aussageweise, die Ferne des Indirekten in der zwischenmenschlichen Beziehung. Der Konjunktiv findet seine glaubwürdige Anwendung in folgenden kommunikativen Formen:    

in der indirekten Rede in Höflichkeitsaussagen in hypothetischen Aussagen in Entscheidungsphasen.

Die indirekte Rede – auch abhängige oder nichtwörtliche Rede – gibt das persönlich Originale in distanzierter Weise wieder. Nicht derjenige, der etwas gesagt hat, kommt direkt zu Wort, sondern ein anderer reproduziert die Gedanken, Gefühle, Auffassungen des originären Redners.

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„Sie sagte in ihrem Vortrag, es seien noch zu wenige Menschen bereit, den Opfern zu helfen.“

Der Konjunktiv der Höflichkeit vermeidet eine direkte Aufforderung zum Handeln oder zu einem Verhalten, wie wir es im Imperativ kennen. Der Sprechende sagt höflich: „Ich möchte Sie doch bitten, wieder Platz zu nehmen.“

Oder als Frage: „Wäre es Ihnen vielleicht möglich, morgen eine Stunde früher zu kommen?“

Hypothetische Aussagen sind Annahmen, Vorbedingungen, die ihrer Verwirklichung noch harren. In der Hypothese des Alltagslebens ist das Wünschen erkennbar, das das Unreale in die Lebensrealität verwandeln möchte. „Wenn die Menschen in der Bundesrepublik rücksichtsvoller wären, gäbe es weniger Konflikte im Zusammenleben.“

Der Kommunikationsstil in Entscheidungsphasen ist weitgehend vom Konjunktiv geprägt. Das ist verständlich, weil das Unvollendete, das einen kreativen Prozess kennzeichnet, den Weg zu mehrfach Möglichem offen lässt. So werden Diskussionspartner einer Arbeitsgruppe ihre Vorschläge in den Konjunktiv kleiden, wenn sie das gemeinsame Vorgehen besprechen. Zum Beispiel: „Ich könnte mir vorstellen, noch jenen Aspekt in unsere Überlegungen einzubeziehen. Dann wären wir noch ein Stück weiter, und es gäbe keine so großen Meinungsverschiedenheiten mehr.“

Auch derjenige, der in einer Gruppe Ziele formuliert, wird sich des Konjunktivs bedienen, um das künftig Wahrscheinliche anzusprechen. Er könnte sagen:

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„Es wäre gut, wenn wir bis zum Herbst auf das genannte Umsatzziel gekommen wären. Dann stünde uns auch nicht mehr das Veto des Verkaufsleiters entgegen.“

Der im Konjunktiv Sprechende hat den Schritt vom Wahrscheinlichen zum Wahren noch nicht vollzogen. Dafür mag es im seelischen Leben eines Menschen ausreichende Gründe geben. Als Manager jedoch ist er verstärkt verpflichtet, sein Sprachverhalten auf diese Dimensionen hin zu beobachten. Das ist deshalb so, weil Geführte wie auch andere Zuhörende im außerberuflichen Leben an den Sprechenden Erwartungen knüpfen, die seine Entscheidungsfähigkeit erkennen lassen. X

Manager, die häufig im Konjunktiv sprechen, wirken entscheidungsschwach. Wer oft im Konjunktiv spricht, produziert bei seinen Partnern Nachfragen.

Die Schattenseite des Konjunktivs ist vom Phänomen der Angst nicht zu trennen. Ängstliche Manager neigen zu konjunktivischem Sprechen. Sie tun dies, weil der Konjunktiv eine Chance zur Absicherung bietet. Sich in einer Sache oder Einstellung nicht festlegen zu wollen, kann den Führenden veranlassen, in seiner Darstellungsweise den Konjunktiv zu wählen. Leider vergessen solche Führungspersönlichkeiten, dass ihre Glaubwürdigkeit dauerhaft darunter leiden wird. Wer sich vage, unentschlossen, schwankend darstellt, kann kaum auf Vertrauensfähigkeit der Zuschauer, der Geführten hoffen. Die Angst, eine falsche Entscheidung fällen zu können, drängt solche Menschen in die Unwirklichkeit ihrer Verkündungsinhalte. Die Tendenz zu konjunktivischem Sprechen beobachten wir auch bei Menschen, eben auch Managern, die in einer Angst vor Konflikten, vor Konfrontationen leben. Das immer wiederkehrende „Wir könnten doch ...“ – „Es wäre gut, wenn ...“ – „Das dürfte eigentlich nicht so sein ...“ erregt nicht nur die Ungeduld der Zuhörenden, sondern lässt auch Zweifel an der persönlichen Ausstrahlung des Sprechenden aufkommen. Nicht selten führt der Konjunktiv zu langatmigem und damit langweiligem Sprechen. Die Umschreibung des Konjunktivs mit „würde“ zeugt von geringer Sprachästhetik und sprachlicher Unsicherheit des Redners. In-

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zwischen sind aus den verkrüppelten Umschreibungen des Konjunktivs mit „würde“ Sprachmarotten geworden, die als narzisstische Sprachticks im Kabarett gelandet sind. Zum Beispiel: „Ich würde zu Ihrer Frage einmal Folgendes denken wollen ...“

Oder: „Ich würde dazu noch etwas fragen wollen, wenn wir dahin zurückkehren dürften.“

Das ständige Sprechen im Konjunktiv deutet auf Unsicherheiten in der eigenen Lebensbeziehung hin. Deshalb wäre es gut, wenn sich solche Sprechende auf ihre Lebensziele, auf ihre Konfliktfähigkeit und ihre Realitätsnähe besännen. Die Beziehungsebene des Redners zu sich selbst, aber auch zu geschilderten Inhalten ist gekennzeichnet durch die Verwendung von „Aktiv“ und „Passiv“. In beiden Verhaltensrichtungen, die das Verhältnis des Subjekts zum Geschehen ausdrücken, schwingt viel Emotionales mit. Im Allgemeinen charakterisiert das Aktiv die Handlungsrichtung dessen, was sich ereignet. Zum Beispiel: „Die Raketen fliegen in das Weltall.“

Aber auch die Handlung des Subjekts, des persönlich Agierenden, finden wir im Aktiv beschrieben. Zum Beispiel: „Ich lese die Zeitung. Später helfe ich dir beim Aufräumen.“

Das einem Handlungsträger Eigentümliche, eine bestimmte Eigenschaft, geht ebenfalls aus dem Aktiv hervor. Zum Beispiel: „Die Sterne funkeln. Die Aster blüht. Das Obst reift.“

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Für das überzeugende Darstellungsvermögen des Führenden bedeutet der Gebrauch des Aktivs das Auseinandersetzen mit dem Handlungsgeschehen und die Präzisierung des Handelnden. Es wird nur jener Sprecher im Aktiv formulieren, der zur präzisen Aussage bereit ist. Dazu ist eine psychische Stabilität vonnöten, die möglicherweise durch einen Konflikt erprobt werden könnte. In Interviews, bei Pressekonferenzen und in Streitgesprächen wünschen die fragenden Disputanten meistens genaue Auskünfte über Personen oder über das Geschehene. Der befragte Minister oder Manager, der in seinem Auftreten Entschlossenheit und Überzeugtsein signalisieren will, wird dies durch das Aktiv als Handlungsmodus besonders gut können. Zum Beispiel: „Der Finanzminister hat die neuen Steuerpläne vorgelegt. Er schont die geringer Verdienenden und fordert mehr Geld von den Einkommensstärkeren.“

Die Zuhörer erfahren, für welches Handeln der Finanzminister die Verantwortung übernimmt. Oder: „Unser Vorstand hat dem Trainer das Vertrauen ausgesprochen. Wir haben den Vertrag um weitere vier Jahre verlängert.“

Eine traurige Aktivität drückt folgende Schlagzeile aus: „Die Hilfe rollt, die Menschen sterben.“27 Im Aktiv ist die Identifikation des Sprechenden mit dem Geschehen festgehalten, und deshalb gibt es Einblicke in sein Erleben. Um im Aktiv zu sprechen, ist der Wille zur präzisen Aussage notwendig. Zugleich tritt aus der Präzision des Geschilderten der Redner als gut Beobachtender hervor. X

Überzeugungsaussagen sind in das Aktiv gekleidet, weil es die Präzision und Dynamik des Geschehens angemessen spiegelt.

Es ist nicht so ganz passend, das „Passiv“ mit „Leideform“ zu übersetzen, wenngleich der lateinische Ursprung dies nahe legte. Wenn wir das

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Leidende mit dem Geschehenlassen, der Abhängigkeit, dem Hilflosen, nicht selbst Lenkbaren assoziieren, so werden wir der Intention des Passivs als Darstellungsmodus gerecht. Das Passiv sagt etwas aus über die psychische Blickrichtung des Sprechenden, der sich von dem Inhaltlichen ansprechen lässt. Die Umwandlung einer aktivischen Aussage in eine passivische soll das Geschehenlassen verdeutlichen. Zum Beispiel: „Die Erde kreist um die Sonne.“ (Aktiv) „Die Sonne wird von der Erde umkreist.“ (Passiv)

Im Passiv wird das Akkusativobjekt des aktiven Geschehens zum grammatischen Subjekt. Die Verwendung des Passivs aber in der angewandten Rhetorik beeinflusst die emotionale Wirkung des Sprechenden deutlich. Das Passiv als Ausdrucksmodus ist selbst geprägt von der Stimmung, die den Sprechenden erfüllt und die ihn veranlasst, einen möglicherweise anderen Sinn in etwas Geschehenem zu sehen als die Zuschauer. So erinnern wir uns an die Betroffenheit eines Journalisten, der die Ereignisse im Golfkrieg im Passiv schilderte: „Heute nacht wurde die Bevölkerung von Bagdad viele Male aus dem Schlaf gerissen, denn Bagdad wurde pausenlos bombardiert.“

Wer sich von einem Geschehen tief ergreifen lässt, wird wohl im Passiv den geeigneten Modus finden, seiner Erschütterung Ausdruck zu geben. Zum Beispiel: „Im Jahre 2003 wurden in Deutschland zweihundert Kinder zu Tode misshandelt.“

In der Neigung zum Passiv ist allerdings auch Distanz, Anonymität, Rationalität spürbar. So berührt es eigenartig, wenn ein Sprechender von sich sagt:

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„Vorhin wurde von mir ausgedrückt“ anstatt „Ich habe vorhin gesagt.“

Die Flucht vor dem Präzisen können wir in manchem Interview beobachten: „Es wurde beschlossen ...“ oder „Es wurden Stimmen laut, die meinten ...“

Eine andere Variante passivischen Sprechens ist die Verbindung von „es ist“ mit dem erweiterten Infinitiv mit „zu“. So sagen viele Redner: „Es ist noch folgendes zu ergänzen ...“

Das Sprechen in der „man-Form“ vergrößert oft die Distanz zwischen dem Redner und den Zuhörern. Auch darin klingt Anonymität an. Der Sprechende scheut sich meistens, in der Ich-Form zu artikulieren. X

Das Passiv schmälert das Lebendige einer Aussage. Thesen und Argumente stehen nicht im Passiv!

5. Der Satzbau Das freie und lebendige Sprechen des Redners wird aus einem Erleben geboren, das er als das ihn Bewegende empfindet und in Sprache kleidet. Durch das Ausgesprochene ist das Erlebte zur Wirklichkeit verdichtet. So kann es dem Zuschauer nahe gebracht und begreifbar werden. Das Gesprochene wird verständlicher, wenn es in Sinneinheiten gegliedert ist. X

Ein „Satz“ ist die Sinneinheit in einem größeren Gedankenzusammenhang.

Ein Satz ist sinnvoll, wenn er etwas Gemeintes ausdrückt. Darüber hinaus bildet er eine Spannungseinheit, die sich aus dem Zusammenfügen von Haupt- und Nebensätzen ergibt. Das in Sätze gefügte gedankliche Gut erhält durch die syntaktische Verständlichkeit einen besonderen Wert. Die Grammatik unterscheidet bei den Satzfügungen die „Neben-

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ordnung“ und die „Unterordnung“. Die Nebenordnung – auch Koordination oder Parataxe genannt – setzt Satzglieder oder Sätze gleichwertig nebeneinander. Zum Beispiel: „Junge und alte Menschen besuchten den Gottesdienst.“

Oder: „ Er kam, sah und siegte.“

Oder: „Die persönliche Bestleistung, der neue deutsche Rekord, wurde mit einer hohen Prämie belohnt.“

Im parataktischen Satzbau ist die koordinierende Absicht des Sprechenden erkennbar, das Gesagte in ein einheitliches Wertgebilde zu kleiden. Die Unterordnung – auch Subordination oder Hypotaxe – ist vermutlich aus der Nebenordnung hervorgegangen. Denn aus zwei einfachen Sätzen entsteht leicht ein Satzgefüge. Zum Beispiel: „Der Himmel verdunkelte sich. Es kam ein Gewitter auf.“

Daraus bildet sich: „Der Himmel verdunkelte sich, weil ein Gewitter aufkam.“

Die Unterordnung schafft eine Rangordnung der Satzglieder und bringt Satzgefüge hervor. Zum Beispiel: „Wir erlauben uns, Ihnen dieses Geschenk zu überreichen.“

Oder: „Und ich bin mit Ihnen, Herr Bundeskanzler, durchaus der Meinung, dass wir dann in den nächsten Wochen genug Gelegenheit haben, noch über andere Fehler der Politik im einzelnen zu sprechen.“ (H. Kohl, 1977)

Satzbau

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Für die angewandte Rhetorik ist jedoch der Überzeugungswert des parataktischen und hypotaktischen Satzbaus wichtiger als das theoretische grammatische Detail. Deswegen wenden wir uns dem pragmatischen Wert der Syntax zu. Der Satzbau bleibt das wichtigste Ordnungsprinzip für den frei Sprechenden. Der parataktische Satz, den wir zuerst betrachten, ermöglicht dem Redner und den Zuhörern eine Übersicht über das gerade Gesagte. Die Parataxe erfordert vom Sprechenden Denkdisziplin. Es kann nur jener knapp und überschaubar sprechen, der seine Aussage durchdacht, bevor er sie verbalisiert hat. X

Der parataktische Satzbau ist zuhörerorientiert. Der Redner denkt an das Aufnahmevermögen der Zuhörer. Deshalb formuliert er in übersichtlichen Sequenzen.

Die gedankliche Disziplin des Redners wird für ihn selbst erkennbar in seiner Fähigkeit des Loslassens. Wir meinen damit den freiwilligen Entschluss, einen begonnenen Gedanken mit Rücksicht auf die Zuschauer nicht in aller Länge zu präsentieren, sondern ihn noch während des Sprechens in kleinere Einheiten zu gliedern. Das gelingt, wenn der Redner sich auf die Sprechpausen besinnt, wie sie im früheren Kapitel besprochen wurden. Parataktische Aussagen sind für die Zuhörer ebenso leicht wiederholbar wie für den Sprechenden selbst. Das gedankliche Ziel, die Intention, tritt rascher und deutlicher hervor. Das erspart Nachfragen und manchmal peinliche Ergänzungen. In der Parataxe liegt der Ansatz für alles Appellative, das am Schluss einer Rede an Gewicht gewinnt. X

Gedanken, die für den Redner und für das Publikum besonders wertvoll sind, mögen im parataktischen Satzbau erscheinen.

Die Hypotaxe bringt manche Schwierigkeit mit sich. Zum einen kann der Sprechende selbst die Übersicht über das Gesprochene verlieren. Das wird vor allem peinlich, wenn ein Zuschauer den Redner bittet, das Gesagte zu wiederholen. Zum anderen bleiben nach einer langatmigen Aus-

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sage beim Zuhörer oft nur Gedanken- und Satzfragmente übrig. Hypotaktische Aussagen können das Aufnahmevermögen des Zuhörenden strapazieren, sodass dieser nicht mehr lange gewillt ist zu folgen, und eigene gedankliche Wege geht. Er nimmt das Gesagte nur noch selektiv wahr. X

Wer seine Gedanken hypotaktisch darlegt, mindert den Wert des Gesagten für den Zuschauer. Denn die Hypotaxe erlaubt viele andere Assoziationen.

Wo sich gedankliche Schwerpunkte auflösen, gerät das tiefere Verständnis ins Wanken. Redner, die stärker zur assoziativen Sprechweise neigen, benötigen schon ein größeres Maß an Selbstdisziplin, um ihr gedankliches Konzept in den erforderlichen Bahnen zu führen. Überzeugend spricht nicht, wer einen Wortschwall ausschüttet, sondern wer sich mäßigt. Disziplin beim Sprechen verlangt die Bereitschaft zum Verzicht. Sie verlangt das Bereitsein, sich in seiner Person und seinem gedanklichen Anliegen zugunsten des bisher Gesagten zurückzunehmen. Bei der analytischen Betrachtung von Sprechenden in der freien Rede ist uns die Beziehung zwischen dem hypotaktischen Satzbau und der Persönlichkeit besonders aufgefallen. Deshalb wollen wir dazu noch einige Gedanken anfügen. Hypotaktisch Sprechende – hiermit ist der verschachtelte Satzbau gemeint – wirken in dreifacher Hinsicht auf die Zuschauer problematisch:  Sie zeigen eine Tendenz zur Selbstdarstellung.  Sie befriedigen ihr Sicherheitsbedürfnis.  Sie zeigen eine Angst vor Profilverlust. Hypotaktisch Sprechende zeigen eine Tendenz zur Selbstdarstellung Für viele Sprechende – Führende – ist die exponierte Stelle zum Ort der Vor- und Darstellung geworden. Das Bedürfnis, das den Redner bewogen hat, sich zu exponieren, wird mit der Rededauer stärker. Er fühlt die Aufmerksamkeit vieler auf sich gerichtet – und genießt dies. Das ist zunächst noch nichts Verwerfliches. Treffen jedoch die Unsicherheit im

Satzbau

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Sprechenden und eine positive Zuschauerresonanz aufeinander, so verstärkt sich im Redner der Antrieb, zur Überwindung seiner Unsicherheit sich selbst noch mehr einbringen zu müssen. Nun wird der hypotaktische Satzbau zur Verlockung, die den Redner mit überraschenden assoziativen Verführungen vom Thema abdrängt und in eitler Selbstgefälligkeit manchem spontanen Gedanken nachsteigen lässt. Narzisstische Sprechende vergessen häufig Ziel und Ordnung ihrer Aussagen. Viele Manager sind davon betroffen. Denn auch ihr Narzissmus hat sie hierarchisch nach oben gebracht. Hypotaktisch Sprechende befriedigen ein Sicherheitsbedürfnis Die Hypotaxe bietet ein breites Feld für gedankliche Entwicklungen. Auf diesem Feld bewegen sich vor allem jene Redner gern, die unter dem Zwang stehen, stets eindeutig formulieren zu müssen und niemals falsch verstanden zu werden. Solche Menschen wirken gründlich in ihrer Darstellung, pedantisch in der Wortwahl und emotional gekünstelt oder distanziert. Das rhetorisch-psychische Hauptanliegen dieser Redner aber bleibt die Befriedigung eines Sicherheitsbedürfnisses. Der zwanghafte Mensch spricht mehr für sich als für die Zuschauer. Er bemüht sich, durch seine Sprechakte in seinem Inneren ein Gefühl der Sicherheit zu erzeugen. In die Satzsequenz legt er viel hinein, so dass die Hypotaxe wächst. In diesem Bemühen, sich abzusichern, hilft ihm die Parenthese. Solch ein Sprechender vergewissert sich gleichsam ständig vor sich selbst, ob es wohl ausreichend sei, zum Verständnis der vorgetragenen Gedanken noch einen weiteren hinzuzufügen – vielleicht in der Form einer Parenthese – , oder ob es wohl genügen könnte, das Gesagte auf sich beruhen zu lassen, obwohl es zum vollen Verständnis gewiss noch etwas zu ergänzen gäbe. (Dieser letzte Satz ähnelt solchen Formulierungen.) Hypotaktisch Sprechende zeigen eine Angst vor Profilverlust Wenn manche Redner gebeten werden, sich kurz zu fassen, befürchten sie, bei den Zuschauern nicht genügend zur Geltung zu kommen. Dies könnte ihrem allgemeinen Ansehen (und Ansinnen) schaden. Manager der Wirtschaft und Politik meinen, wenn sie kurz sprächen, einen Profil-

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verlust zu erleiden. Damit sie sich erst gar nicht auf dieses dünne Eis begeben müssen, setzen sie sich eine syntaktische Norm, die „hypotaktischer Satzbau“ heißt. Diese Norm ist ein unbewusstes Statussymbol, das der Manager mit „individuellem Sprachverhalten“ vor sich und anderen rationalisiert. Die Zuschauer wissen im Allgemeinen schon, was von diesem Dauerredner auf sie herniederprasselt. Viele Manager glauben, dieser selbstgesetzte Anspruch werde auch von den Zuhörenden an sie herangetragen. So verharren sie in ihrer Rechtfertigung und ihrer Egozentrizität. Der natürliche Umgang mit hypotaktischen Aussagen erlaubt dem Redner, auch Nebensächliches zu sagen. Redner und Zuschauer benötigen Phasen geistigen Luftholens. Dies ermöglicht der hypotaktische Satzbau. Denn auch ein Redner sagt nicht nur stets Wichtiges.

6. Überzeugungsvermögen Ein wesentliches Anliegen der Rhetorik ist das Überzeugen der Zuhörer. Dabei treten zwei Begriffe hervor, die zwar umgangssprachlich häufig synonym verwandt werden, hier jedoch deutlich voneinander zu trennen sind: das Argumentieren und das Überzeugen. In einem pragmatischen Begriffsverständnis verstehen wir „Überzeugen“ im Sinne des Gewinnens der Zuhörer für die eigene Meinung. X

Jemanden zu überzeugen bedeutet, ihn für seinen Standpunkt zu gewinnen.

Die „Argumentation“ dagegen ist ein einzelnes Element des Überzeugens. Argumentation ist der Überzeugung untergeordnet und beinhaltet beispielsweise Logik und Verfahrensweisen, um Zuhörende für die eigene Meinung zu gewinnen. X

Argumentation ist ein methodisches Verfahren, bei dem die Gültigkeit bzw. Richtigkeit eines Geltungsanspruches durch Beweise erarbeitet wird.

Überzeugungsvermögen

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Das Überzeugungsvermögen ist also die allgemeine Fähigkeit, Zuhörende für das eigene Anliegen zu gewinnen. „Gewinnen“ meint im ethischen Sinne, den Zuhörern zu überlassen, ob sie sich der dargebotenen Meinung anschließen oder nicht. Überzeugen bedeutet also einen Konsens herzustellen, der auf freiwilliger Basis gefunden wurde. Alle Techniken und Taktiken wie beispielsweise suggestive Aussagen oder etwa das Ausspielen seiner hierarchischen Stellung dagegen sind dem Überreden zuzuordnen. X

Überzeugen hat etwas mit Freiwilligkeit zu tun, Überreden mit Zwang.

Welche Mittel aber stehen Sprechenden nun zur Überzeugung zur Verfügung? Zunächst sei betrachtet, in welche Elemente das Überzeugungsvermögen getrennt werden kann. Dabei tragen zwei Säulen das Überzeugungsvermögen: die „Überzeugungstechnik“ und die „Überzeugungskraft“. Unter die Überzeugungstechnik fallen all diejenigen Mittel, die ein Sprechender bewusst anwenden oder sogar „erlernen“ kann. Die Überzeugungskraft hingegen meint Elemente der Wirkung eines Sprechenden. Folgende Skizze soll diese Überlegungen veranschaulichen und verdeutlichen: Überzeugungsvermögen

Überzeugungstechnik

Überzeugungskraft

Rhetorik

Persönliches Erscheinungsbild

Dialektik

Identifikation

Grammatik

Begeisterungsvermögen

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Logik

Emotionen

Struktur

Glaubwürdigkeit

Methodik Argumentation

Zunächst zur Überzeugungstechnik.

Rhetorik Unter der Überschrift der Überzeugungstechnik steht Rhetorik hier stellvertretend für all die Merkmale, die als verbal und nonverbal bezeichnet werden können und die wir bereits an anderen Stellen dieses Buches ausführlich geschildert haben. Verbal meint Elemente des Sprechens wie beispielsweise (rhetorische) Stilmittel oder der Wortwahl und der Anschaulichkeit. Unter den Begriff des Nonverbalen fallen vokale und nicht-vokale Phänomene. Zum vokalen Erscheinungsbild gehören etwa Stimmqualität, Betonung und Sprechpausen. Das nicht-vokale Gebaren eines Sprechenden dagegen impliziert zum Beispiel Mimik, Gestik und Habitus ebenso wie auch „Äußerlichkeiten“ wie Kleidung oder Schmuck. Im Sinne der Überzeugungstechnik wird der Begriff „Rhetorik“ reduziert und tritt hier als Überschrift sprachlichen Auftretens hervor. Trotz der vielen Veröffentlichungen und Seminare zu diesem Thema wird aus unserer Sicht die Rhetorik als Unterstützung der eigenen Überzeugungsfähigkeit zu wenig beachtet. X

Wer überzeugen will, möge seine verbale und nonverbale Darstellungsfähigkeit überprüfen.

Dialektik Während die Dialektik üblicherweise in einem weiteren Begriffsverständnis auftritt als „Kunst des Überzeugens“, dient sie in der Überzeugungstechnik als Statthalter für faire und unfaire Mittel der Kommunikation. Aus der so genannten Fried-Dialektik sei die Auswahl der Argumente hervorgehoben. Zur gründlichen Vorbereitung gehört es,

Überzeugungsvermögen

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Argumente für den eigenen Standpunkt aufzulisten. Daraus sollten schwache Argumente gestrichen werden, da Meinungsgegner selten gültige Argumente angreifen denn vielmehr versuchen, schwache Argumente auszuhebeln. Sei dies beispielsweise aufgrund vieler Ausnahmen, die das Argument zulässt, oder aufgrund einer mangelnden sittlichen Grundhaltung des Sprechenden. So ist etwa die Steuerersparnis, die durch die geringere Anzahl von Langzeithäftlingen zustande käme, ein sehr schwaches Argument für die Todesstrafe. X

Streichen Sie schwache Argumente aus Ihren Aussagen. Diese bieten nur Angriffsfläche anstatt zu überzeugen. Eine (Argumentations-) Kette reißt immer an ihrem schwächsten Glied.

Die unfaire Dialektik, auch Kampfdialektik genannt, vereint Elemente wie beispielsweise suggestive Aussagen, persönliche Angriffe und Beleidigungen oder Missbrauch der Beziehungsebene im Gespräch. Im Besonderen aber tritt in der Überzeugungstechnik die Verwendung von „Killerphrasen“ auf. Sie werden so genannt, weil solche Aussagen jeglichen weiteren Dialog töten. Beispiele dafür sind: „Das haben wir noch nie so gemacht.“ bzw. „Das haben wir schon immer so gemacht.“ oder „Sie sind nicht der Erste, der das versucht!“ Problematisch an solchen Aussagen ist neben der destruktiven Wirkung die fehlende Schlüssigkeit solcher Argumente, da sie keine wirklichen Begründungen liefern. Denn nur weil etwas immer schon so war, muss es nicht weiterhin so bleiben. Fragen Sie also nach, warum tatsächlich beispielsweise eine Arbeitsweise so und nicht anders vollzogen wird.

Grammatik Ausführlich wird auf die Grammatik an anderer Stelle in diesem Buch eingegangen. Dennoch wollen wir nochmals betonen, wie wichtig für die Überzeugung die bewusste Verwendung bestimmter grammatischer Kriterien ist. Zum einen wirken kurze Sätze präzise und sind leichter einzuprägen und zu reproduzieren. X

Der parataktische Satzbau unterstützt die Überzeugungsfähigkeit eines Sprechenden, weil die Sprache dadurch klarer wird.

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Die Verwendung des Indikativs trägt dazu bei, eine klare Linie vorzugeben, denn wer im Indikativ spricht, hat zuvor eine Entscheidung gefällt. Vor allem aber ist der Indikativ wichtig, wenn Sie an andere Menschen appellieren. Aussagen wie „Dürfte ich Sie bitten, …“ oder „Ich möchte Sie auffordern, …“ zeugen von der Absicht des Sprechenden. Sie bewegen die Zuhörenden aber nicht endgültig zur Handlung. Besser also sind Passagen wie: „Ich bitte Sie, …“ oder „Ich fordere Sie auf, …!“ X

Vermeiden Sie den Konjunktiv, wenn Sie Zuhörende auffordern wollen. Verwenden Sie den Indikativ, um Zuhörende zum Handeln zu bewegen.

Logik Die Logik als Element der Überzeugungstechnik meint zweierlei: die Richtigkeit und die Schlüssigkeit einer Aussage. Die Frage, ob etwas logisch sei, meint also erstens: Ist etwas richtig, stimmt etwas? Ein allgemeingültiges Prinzip oder eine Antwort darauf zu finden, wann etwas richtig ist bzw. stimmt, lässt sich selten geben (Generationen von Philosophen haben sich diesem Thema gewidmet). Als Anhaltspunkt kann dennoch gelten: Was von den am Dialog Beteiligten allgemein anerkannt und erfahren ist, wird als logisch akzeptiert und bedarf keines weiteren Beweises. Zweitens meint die Logik: Wie schlüssig ist eine Aussage? Die Schlüssigkeit definiert sich darüber, wie plausibel und einleuchtend das Vorgetragene ist. Beispielsweise muss geprüft werden, ob eine Aussage zwingend die eigene Meinung begründet oder nur den konträren Standpunkt abwehrt. Diese Form des Argumentierens über das Gegenteil heißt „argumentum e contrario“ (Umkehrschluss oder Beweis aus dem Gegenteil), sie wird häufig in der Gerichtsrede angewandt. Letztlich aber sind nur Argumente für den eigenen Standpunkt und nicht Argumente gegen den konträren Standpunkt schlüssig. X

Bringen Sie Argumente für die eigene Meinung und nicht gegen den gegnerischen Standpunkt vor.

Überzeugungsvermögen

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Struktur Das Überzeugungsvermögen wird auch durch die Struktur einer Darbietung unterstützt. Mit Struktur ist hier die Gliederung gemeint. Die Gliederung ist für die Folgerichtigkeit und Nachvollziehbarkeit zuständig. Die Folgerichtigkeit eines Redebeitrags wird daraus ersichtlich, ob ein Redebeitrag eine schlüssige Aneinanderreihung von Sätzen ist oder ob gedankliche Sprünge enthalten sind. Pragmatisch formuliert, meint dies: Ist ein roter Faden für die Zuhörer erkennbar? Die Nachvollziehbarkeit meint dann: Wie deutlich ist dieser rote Faden für die Zuhörer erkennbar? Häufig werden Sprechende nicht verstanden, weil sie die Struktur ihres Redebeitrags nicht deutlich genug aufzeigen. Durch rhetorische Fragen etwa („Warum unterstütze ich die genannte Maßnahme?“) oder einfaches Gliedern (z. B. „Erstens, zweitens, drittens“) bieten Sie Ihren Zuhörern eine gedankliche Struktur an, die das Verstehen und somit das Überzeugungsvermögen unterstützt. X

Ein Redebeitrag wird umso verständlicher, je deutlicher seine Struktur hervortritt.

Methodik Die Methodik schließlich ist das Verfahren bzw. die Vorgehensweise in einer Interaktion. So kann Überzeugung durch einen Monolog ebenso geschehen wie durch einen Dialog. Beispielsweise können Argumente vom Sprechenden angeboten werden oder gemeinsam in einer Diskussionsrunde erarbeitet werden. Übrigens meint dies aber nicht, in einem Workshop eine Maßnahme gemeinsam zu entscheiden, obwohl diese schon längst beschlossen war und der Konsens nur vorgetäuscht wurde. Wenn solche „methodischen“ Techniken auffliegen, verliert der Moderator auf lange Sicht seine Glaubwürdigkeit. Folgende Methoden der Interaktion werden häufig angewandt: Monolog, Gespräch, Diskussionsrunde und Workshop. (Die Argumentationsmethoden werden unter dem Stichwort Argumentation besprochen.)

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Argumentation Die Argumentation im Sinne der Überzeugungstechnik schließlich beinhaltet die Vorgehensweisen, um etwas zu beweisen. Sie ist ein methodisches Verfahren, bei dem die Gültigkeit bzw. Richtigkeit eines Geltungsanspruches durch Beweise erarbeitet wird. Ein Geltungsanspruch ist dabei die Auffassung bzw. Meinung eines Sprechenden, der zur intersubjektiven Zustimmung verholfen werden soll. In der Praxis meint dies, mit Hilfe der Argumentation meinungsneutrale Zuhörer oder Meinungsgegner vom eigenen Standpunkt zu überzeugen bzw. für den eigenen Standpunkt zu gewinnen, indem verschiedene Elemente berücksichtigt werden: Intersubjektiver Prozess Da Argumentation als inhaltliche Interaktion stattfindet, ist eine gemeinsame begriffliche Basis umso wichtiger. Daher geht jeder Argumentation eine klare Definition (definitio = nähere Begriffsbestimmung) voraus, um eine gemeinsame begriffliche Grundlage zwischen den Interagierenden zu schaffen. Ebenso impliziert das Intersubjektive die Berücksichtigung der Erwartungshaltung des Zuhörers (siehe Argumentationsqualitäten). Argumentum (Beweisstück) Im Idealfall ist das Beweisstück ein Axiom. Ein Axiom ist ein als absolut richtig anerkannter Grundsatz, der keines Beweises mehr bedarf. Häufiger jedoch sind Beweise Aussagen, die aufgrund von Erfahrung, Wissen oder Einschätzung als gültig anerkannt sind. Im Besonderen erreichen Sie mit emotionalen Aussagen und eigenen persönlichen Erlebnissen die Zustimmung der Zuhörenden. Argumentation (Beweisführung) Mit Hilfe verschiedener struktureller und inhaltlicher Vorgehensweisen wird der eigene Standpunkt dargeboten. Die Aussagenkette soll den Geltungsanspruch beweisen. In der Praxis treten verschiedene Argumentationsstrukturen auf. Meist orientieren sich die Vorgehensweisen an zwei Grundstrukturen: der so genannten argumentativen Rede oder der Induktion.

Überzeugungsvermögen

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Die argumentative Rede beschreibt einen Dreierschritt, um einen vorausgegangenen Geltungsanspruch zu beweisen: 1. Behauptender Obersatz 2. Beweisgrund 3. Beispiel Zunächst wird der behauptende Obersatz formuliert (z. B. Das Tempolimit schützt die Umwelt), um damit den Geltungsanspruch (Für ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen) zu bekräftigen. Im zweiten Schritt erfolgt der Beweis. Dieser zweite Teil steht in einer kausalen Beziehung zum behauptenden Obersatz (…, weil durch geringere Geschwindigkeiten weniger Schadstoffe ausgestoßen werden). Der Beweisgrund enthält im Kern das Beweisstück. Erst im Beispiel erfolgt dann eine Veranschaulichung anhand konkreter Zahlen oder einer Einzelbeobachtung (Bei einem Mittelklassewagen verringert sich der Ausstoß um x Prozent). Diese Struktur bietet sich an, um eine Meinung zu vertreten, die anhand von Tatsachen oder von allgemeinen Beobachtungen begründet werden kann. X

Verwenden Sie die argumentative Rede, um einen Geltungsanspruch mittels allgemeiner Tatsachen zu beweisen.

Der behauptende Obersatz kann jeweils verschiedene Qualitäten in die Argumentation bringen. Diese inhaltliche Wahl der argumentativen Vorgehensweise richtet sich meist an der Erwartungshaltung der Zuhörer aus. Während die Erwartungen eines heterogenen Publikums an den Sprechenden in der Tendenz emotional ausgerichtet sind, fordert ein Fachpublikum etwa eher rationale Aussagen ein. Diese unterschiedlichen Qualitäten lassen sich nach Aristoteles in drei Kategorien abbilden: 1. Ethos Die Kategorie Ethos vereint all jene Aussagen und Argumente, die sich auf die Sittlichkeit des Redners und des Inhalts beziehen. Es lassen sich darunter alle Aussagen aus den Bereichen wie etwa Moral, Tugend, Würde, Sitte, Werte, Normen, Charakter, Gewissen, Gebote subsumieren. Im oben genannten Beispiel des Tempolimits wäre der behauptende Ober-

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satz (Das Tempolimit schützt die Umwelt) der Kategorie Ethos zuzuordnen. 2. Pathos Im Pathos erfolgt die Überzeugung, wenn die Zuhörer in ihren Gefühlen angesprochen werden. Alle Begriffe aus emotionalen Wortfeldern wie Wünsche, Ängste, Freude, Sorgen, Optimismus, Traurigkeit, Zuversicht, Vertrauen fallen darunter. Anhand des Beispiels weiter oben folgt hier der behauptende Obersatz: Ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen nimmt ängstlichen Autofahren die Furcht vor der Autobahn. 3. Logos Schließlich vereint der Logos all die Behauptungen und Beweise, die sich an rationalen Kriterien orientieren. Dazu gehören alle Inhalte wie beispielsweise Zahlen, Verstand, Analytisches, Prozente. Häufig werden heutzutage folgende drei Argumente genannt: Kosten senken, Zeit sparen, Ertrag steigern. Analog hieße hier der behauptende Obersatz: Das Tempolimit verringert volkswirtschaftlichen Schaden. Zu allen genannten Beispielsätzen müssten nun jeweils ein Beweisgrund und ein passendes Beispiel folgen. Anhand der subjektiven Einschätzung des Publikums fällt es meist schwer, die Erwartungshaltung der Zuhörer vorauszusehen. Daher eignet sich im Allgemeinen das Vorbereiten und Darbieten aller Argumentationsqualitäten. X

Bieten Sie verschiedene Argumentationsqualitäten an, um möglichst viele Zuhörer zu erreichen.

Die zweite, häufig zu beobachtende Grundstruktur in der Argumentation ist die Induktion. Die Induktion ist die Ableitung vom Besonderen zum Allgemeinen. Im Gegenteil dazu beschreibt die Deduktion die Ableitung des Einzelbeispiels vom Allgemeinen (Alle Menschen sind sterblich – Sokrates ist ein Mensch – Also ist Sokrates sterblich). Bei der Induktion gelangt ein Sprechender aus einer Mehrzahl von Einzelbebachtungen zu einem allgemeinen Urteil. Sie eignet sich demnach meistens dann, wenn aufgrund mehrerer Einzelbeispiele eine generelle Meinung vertreten

Überzeugungsvermögen

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werden soll. Das folgende Beispiel könnte die argumentative Vorgehensweise in einem Mitarbeitergespräch wiedergeben:

1. Einsparungen vorgenommen 2. Vorschlagswesen verbessert 3. Kundenbeziehung ausgebaut

Beförderung

4. Öffentliche Auftritte gelungen 5. Krankheitsquote verringert

Aus den fünf positiven Einzelbeispielen auf der linken Seite folgt der allgemeine Schluss der Beförderung auf der rechten Seite. Allerdings birgt die Induktion zwei Gefahren: Sie kann nie vollständig sein, da nicht alles beobachtbar ist, und sie kann zur negativen Selektion führen (= Vorurteile), wenn nämlich nur bestimmte Einzelbeispiele gewählt werden. Ebenso wichtig wie die eigene Argumentation ist die Argumentation gegen Widerstände, so dass Meinungsgegner trotz einer negativen oder gar destruktiven Haltung vom Gegenteil überzeugt werden sollen. Um nicht unvorbereitet auf die Angriffe reagieren zu müssen, eignet sich eine Vorbereitung nach dem dialektischen Prinzip. Das bedeutet, einen Geltungsanspruch nicht nur aus der eigenen Sichtweise zu beleuchten, sondern auch den gegnerischen Standpunkt zu verstehen. Daher bietet sich an, sich bereits in der Vorbereitung Gedanken zu den Argumenten der Gegenseite zu machen, beispielsweise nach der so genannten Pro-etContra-Liste (PeC-Liste): Eigene ProArgumente

Vermutete ContraArgumente

Mögliche Entgegnung

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Angewandte Rhetorik

Die Überzeugungskraft als zweite Säule des Überzeugungsvermögens beherbergt jene Elemente des Überzeugungsvermögens, die durch die Persönlichkeit des Sprechenden geprägt sind.

Persönliches Erscheinungsbild Das persönliche Erscheinungsbild meint zunächst die Wirkung des Einzelnen. Wirkt er introvertiert oder geht er auf andere Menschen zu? Ist die Körperhaltung verschlossen oder offen? Wird Blickkontakt zu den Zuhörenden gesucht oder vermieden? Wirkt ein Sprechender selbstüberzeugt oder ist er sich seiner Sache doch unsicher? Diese beispielhaften Fragen geben Aufschluss über das persönliche Erscheinungsbild. Darüber hinaus ist mit diesem Begriff aber auch die individuelle Ausstrahlung verbunden. Unter dem Begriff der Ausstrahlung verstehen wir ein Gefühl, das ein Sprechender bei Zuhörern durch seine Persönlichkeit erzeugt. Dieses Gefühl aber kann nur indirekt dem individuellen Auftreten zugeschrieben werden. In dieser Hinsicht wird auch von der Aura eines Menschen gesprochen. Diese Ausstrahlung ist ein zentrales Element im Sinne der Überzeugungskraft. Denn häufig entscheiden Zuhörer auch intuitiv emotional, ob sie einem Sprechenden Glauben schenken und sich seinen Aussagen anschließen. Die Ausstrahlung eines Menschen erwächst aus seinem Ur-Vertrauen, seinem Selbstwertgefühl und aus seiner Haltung seinem eigenen Anliegen gegenüber. Um seine persönliche Ausstrahlung positiv zu gestalten, sollte sich ein Sprechender fragen: Wie komme ich zu einer positiven Grundhaltung gegenüber meinem Anliegen? X

Offenes und selbst-überzeugtes Auftreten stärken die Überzeugungsfähigkeit des Einzelnen.

Identifikation Die Überzeugungskraft eines Menschen hängt auch von seiner Identifikation ab. Die Identifikation ist hier die Akzeptanz der eigenen Meinung. Mit dem Grad der Akzeptanz steht und fällt die Darbietung. Dies kann sich im verbalen und nonverbalen Auftreten ebenso zeigen wie beispielsweise im Diskussionsverhalten. Ein Sprechender, der sich in hohem

Überzeugungsvermögen

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Maße mit seinem Gesprächsanliegen identifiziert und damit auch eine positive Grundhaltung verkörpert, fühlt sich sicherer. Die Identifikation mit dem eigenen Anliegen nämlich setzt das Durchdringen des Themas in der dialektischen Betrachtungsweise voraus. Diese Betrachtungsweise aus Pro- und Contra-Sicht verhilft dazu, sich schon in der Vorbereitung mit gegnerischen Einwänden auseinander zu setzen. Wird eine konträre Argumentation dann in der Diskussion entgegengebracht, kann der Sprechende gelassen reagieren und durch seine Antwort die Identifikation mit der eigenen Meinung zeigen. Daher sollten Sie sich wie schon beim persönlichen Erscheinungsbild in der Vorbereitung fragen: Was spricht aus meiner Sicht für meine Meinung? Warum stehe ich hinter meinem Anliegen? X

Wer sich mit seinem eigenen Gesprächsanliegen identifiziert, reagiert gelassener auf Angriffe.

Begeisterungsvermögen Von der eigenen Identifikation hängt auch in hohem Maße ab, mit welchem Begeisterungsvermögen ein Sprechender versucht, die Zuhörer von seinem Anliegen zu überzeugen. Je stärker sich ein Redner mit dem Vorgetragenen identifiziert, umso größer ist seine Nähe zum Thema. Das Begeisterungsvermögen aber bedarf einer großen Nähe zum Thema. X

„In Dir muss brennen, was Du in anderen entzünden willst.“ (Augustinus)

Begeisterungsvermögen aber bedeutet auch, Zuhörende in den Bann zu ziehen. Dies geschieht durch verbale und nonverbale Verhaltensweisen ebenso wie durch das Inhaltliche. Ein Vortrag, der stimmlich abwechslungsreich gestaltet ist, wirkt wesentlich interessanter für die Zuhörenden. Auch ziehen praxisnahe und lebhafte Beispiele die Aufmerksamkeit auf sich. Praxisnahe Beispiele sind Aussagen, die inhaltlich für die Zuhörer interessant und sprachlich abwechslungsreich vorgetragen werden. Sprachliche Vielfalt wird durch eine differenzierte Wortwahl erreicht. X

Konkrete Aussagen lassen das Gesagte greifbar werden. Bereiten Sie daher praxisnahe Beispiele vor.

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Angewandte Rhetorik

Emotionen Wenn in der Überzeugungskraft von Emotionen gesprochen wird, dann spricht das die Emotionen in zwei Aspekten an: die eigene Emotionalität und den positiven Umgang mit den Emotionen der Zuhörenden. Unter der eigenen Emotionalität ist hier die emotionale Ausdrucksfähigkeit zu verstehen. Drückt sich also auch emotional das in der Stimme und Gestik des Redners aus, was er tatsächlich fühlt, oder passen Inhalt und emotionaler Ausdruck nicht zusammen? Beispielsweise beginnen häufig Sprechende eine Rede mit folgenden einleitenden Worten: „Ich begrüße Sie aufs Allerherzlichste zu …“ bzw. „Herzlich willkommen zu …“. Der Gesichtsausdruck und die Intonation aber verraten die emotionale innere Stimmung des Redners: Er verwendet diese Worte floskelhaft, denn weder ist mimisch noch stimmlich eine besondere (positive) Anspannung zu bemerken. X

Sagen Sie nur das, was Sie fühlen.

Die Emotionen der Zuhörenden positiv anzusprechen meint, Beispiele zu nennen, in denen sich die Zuhörer nicht nur wiederfinden, sondern die auch emotional für die Zuhörenden positiv belegt sind. Wer zu jungen Familien spricht und sich beispielsweise gegen den Erhalt von Kindergartenplätzen ausspricht, wird wohl kaum Lob ernten. Dies heißt nun nicht, die eigene Meinung opportun den Zuhörern anzupassen. Vielmehr bedeutet das, über Inhalte und Beispiele zu sprechen, die für die Zuhörer emotional positiv belegt sind. X

Sprechen Sie die Gefühle der Zuhörenden positiv an.

Glaubwürdigkeit Glaubwürdigkeit ist hier in einem dialektischen (nicht etwa in einem theologischen) Sinne gemeint. „Schon gut, Sie brauchen Ihre Motive nicht weiter auszuführen, ich glaube Ihnen“, sagt beispielsweise ein Vorgesetzter zu seinem Mitarbeiter. Er glaubt seinem Gesprächspartner, das heißt, er ist bereit, die Aussage als gültig zu akzeptieren und auf eine weitere Beweisführung zu verzichten.

Überzeugungsvermögen

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Entscheidend am Thema der Glaubwürdigkeit ist, dass es sich dabei um eine „attributionale“ Eigenschaft handelt. Glaubwürdigkeit wird attribuiert, sie wird zugeschrieben und verliehen. Es kann zwar jemand von sich behaupten, glaubwürdig zu sein; ob ihm der Gesprächspartner indes Glauben schenkt, bleibt ihm überlassen. X

Glaubwürdigkeit ist mit das höchste kommunikative Gut eines Menschen.

Eindrucksvolle Eloquenz und ausgefeilte Argumentation nützen wenig, wenn es an Glaubwürdigkeit fehlt. So mag ein Neukunde eine schlüssige Präsentation vortragen, weshalb die Bank ihm vertrauen und ihm einen Millionenkredit für das neue Geschäftsmodell gewähren soll; ist von dem potenziellen Neukunden bekannt, dass er in den vergangenen Jahren vier Konkurse zu verantworten hatte, wird sie den Kredit nur unter zahlreichen Vorbehalten bewilligen. Wenn überhaupt. Wie es im Einzelnen dazu kommt, dass Menschen andere als glaubwürdig einschätzen, haben wir in weiteren Publikationen ausführlich dargestellt.28 Dabei ist besonders wichtig, sich als vertrauenswürdig, zuverlässig und kompetent zu erweisen. Dies erfordert zugleich Kontinuität und Kongruenz im Handeln. X

Um als glaubwürdig wahrgenommen zu werden, orientiere sich jemand an der Maxime: Wer A sagt, möge auch A tun.

Denn der größte Feind der Glaubwürdigkeit sind Diskrepanzen. Diskrepanzen zwischen Wirklichkeit und Begriff (etwa Euphemismen – „freisetzen“ statt „entlassen“), zwischen Denken und Handeln (ausgerechnet Außenminister Joschka Fischer von den pazifistischen Grünen musste den Auslandseinsatz der Bundeswehr im Kosovo vertreten) oder zwischen Ankündigung und Handeln (Edmund Stoiber will als Superminister nach Berlin gehen – und bleibt schließlich kleinlaut als Ministerpräsident in München). Insofern kann ein Sprechender etliches zu der Tatsache beitragen, dass der Gesprächspartner ihn als glaubwürdig einschätzt. Erzwingen allerdings kann er dies nicht. Dieses Angewiesensein auf den anderen im

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Angewandte Rhetorik

Überzeugungsprozess macht zugleich das Schwierige wie Schöne der Rhetorik aus. Zum Überzeugungsvermögen sei abschließend bemerkt, dass beide Kategorien – Überzeugungstechnik und Überzeugungskraft – gleichermaßen bedeutsam sind. Mit viel Überzeugungskraft wirken Darbietungen zwar mitreißend. Häufig jedoch fehlt eine Struktur (Überzeugungstechnik), die für das Einprägen des Inhalts wichtig ist. Ein geschliffener Vortrag wirkt zwar eloquent, doch erzeugt ein Zuviel an Überzeugungstechnik Distanz zwischen Sprechenden und Zuhörern. X

Setzen Sie beide Elemente gleichermaßen ein, ohne sich zu verbiegen. Berücksichtigen Sie dabei Ihre persönlichen Stärken.

Überzeugungsvermögen

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II. Literarische Rhetorik

In der angewandten Rhetorik ist das Bild der Rede stark von der direkten persönlichen Wirkung des Redners geprägt. Er wird für das Publikum hautnah erlebbar und wählt dafür Formen der Begegnung aus, in denen die auch vom Zuhörerkreis gewünschte Nähe möglich ist. Die angewandte Rhetorik präsentiert gleichsam das Menschliche des Sprechenden, weil sich darin ein großer Teil seines Überzeugungsvermögens verbirgt. Vor allem aber wird die angewandte Rhetorik von der Spontaneität des Entstehens oder des Verbalisierens des Gesprochenen charakterisiert. Meistens steht dem Redner keine allzu lange Vorbereitungszeit für die beabsichtigte Aussage zur Verfügung. Weil die angewandte Rhetorik den Redner mit manch Überraschendem belegt, drängt sie ihn auch, sich oft unkontrolliert zu präsentieren. Dadurch aber strahlt er ein Menschsein aus, das zur Identifikationsgrundlage für das Publikum wird. X

Die angewandte Rhetorik ist stark situativ geprägt. Das geäußerte Gedankengut wird selten schriftlich festgehalten und publiziert.

Die literarische Rhetorik hingegen stellt den Redner als Autor vor. Er ist zuerst der kreativ Schreibende und danach der Vortragende. Deshalb verlangt die literarische Rhetorik vom Redner ein geistiges Fundament, das ihn befähigt, eine Rede zu verfassen. Die literarische Rhetorik ist die intellektuell anspruchsvollere Form des Umganges mit dem Wort, mit der Sprache. Die rhetorische Tradition bezieht sich auf die literarische Rhetorik. Fast alle Reden, die von der Antike bis zur Gegenwart in der Öffentlichkeit gehalten wurden, existieren in schriftlicher Form. Jedermann, der interessiert ist, sie nachzulesen, kann sich in eine Universitätsbibliothek begeben und sich dort mit der Redelektüre beschäftigen. Die tradierten Gedanken vieler Reden bestimmen noch heute einen Teil des abendländischen Denkens.

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Literarische Rhetorik

Die Reden der literarischen Rhetorik sind wesentlich von der Geisteshaltung des Redners bestimmt. X

Der Geist einer Rede ist die Summe der Werte, die ein Redner verkündet.

Die politischen, wirtschaftlichen und religiösen Werte bilden die Identifikationsgrundlage für den Zuhörerkreis. Denn die Werke der literarischen Rhetorik wurden fast ausnahmslos geschrieben, um ein Publikum – das ist ja die teilnehmende Allgemeinheit – anzusprechen, zu lenken, zu überzeugen. Die intellektuelle Selbstbekundung des Redners gilt auch noch heute. Wenngleich die karge Interdisziplinarität der Autoren sie häufig genug einseitig dastehen lässt. Gerade deshalb erscheint es uns sinnvoll, Managern der Gegenwart einige Elemente der „früheren“ Rhetorik nahe zu bringen. Inzwischen sind diese Elemente zeitlos geworden, da sie nicht mehr nur auf die antike Gerichtsrede zu beziehen sind. Ihr allgemeingültiger Wert ist unbestritten. Eine Schulung des Geistes ist notwendig, um als Redner den Zuhörern wiederum Geistiges anbieten zu können. Die Lebenshektik der Manager verleitet sie oft dazu, sich vor sich selbst und anderen wegen ihres oberflächlichen Redeverhaltens zu entschuldigen. Wer sich mit der literarischen Rhetorik befasst, lernt auch, sich in geduldiger Weise mit jenen Merkmalen anzufreunden, die den Überzeugungserfolg einer öffentlichen Rede ausmachen. Die wichtigsten dieser Gestaltungsmerkmale sollen nun vorgestellt werden.

1. Der gedankliche Entwurf (inventio) Zuerst soll das Fundament gelegt werden. Dieses Tun beginnt in der Persönlichkeit des Redners. Die geistige Autorschaft des Schreibenden nimmt ihren Anfang in dem Bewusstsein, dass er durch Erfahrungen eine natürliche Form der Rhetorik erworben hat. Er kann nun mit seiner persönlichen Rhetorik das Angebot der klassischen Rhetorik nutzen, um es zu einer Symbiose zu gestalten. Darin vereinigen sich das praktische

Gedanklicher Entwurf

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Beherrschen der Rhetorik (angewandte Rhetorik) und die Kenntnis rhetorischer Ausdrucksformen. Die Formen rhetorischen Ausdrucks gleichen Gefäßen, die mit den persönlich und situativ intendierten Inhalten gefüllt werden. Welche Inhalte sich dem Sprechenden anbieten, um das geistige Gefäß zu füllen, das hängt von seinem Bemühen (studium) ab, den Redegegenstand (materia, res) mit seinem Erkenntnisvermögen (intellectio) zu erfassen. Dazu meint Cicero: „Sobald ich einen Fall und Sachverhalt erst gründlich kenne, zeigt sich mir sofort der springende Punkt in der Auseinandersetzung. Denn es gibt keine Auseinandersetzung zwischen Menschen, mag der Kern in einem Schuldvorwurf bestehen, wie bei einer Untat, oder in einem Rechtsstreit, wie bei einer Erbschaft, oder in einer Überlegung, wie bei einem Krieg, oder in einer Persönlichkeit, wie bei einer Lobrede, oder in einem Meinungsstreit, wie bei der Frage nach der rechten Lebensweise, es gibt nichts, bei dem man nicht entweder fragt, was war, beziehungsweise ist und sein wird, oder welcher Art es ist, oder wie es bezeichnet wird.“29 Der intensiven Beschäftigung mit dem Redegegenstand geht allerdings das grundsätzliche Interesse des Redners an den Erscheinungen und Geschehnissen des Lebens voraus. So stellt sich das lateinische „inventio“ nicht nur als „Erfinden, Auffinden, Ideenhaben“ im Hinblick auf das Darzustellende vor, sondern im erweiterten Sinne als das Auffinden von Allgemeinbildung, geistigem Gut, Assoziationsvermögen und schließlich Umgang mit Sprache in der eigenen Persönlichkeit des Redenden. Das gedankliche Entwerfen ist Ausdruck eines Lebenskonzeptes, ist Ergebnis von Reflexionen, die der Autor mit sich und der Welt unternommen hat. Zur inventio im erweiterten Sinne zählt, sich von einer einseitigen fachlichen Orientierung gelöst zu haben, um für andere Themen – „Stoffe“ im antiken Sprachgebrauch – geöffnet zu sein. Die pragmatische Seite der inventio ist die methodische Vorbereitung auf die geplante Rede.

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Literarische Rhetorik

Für Manager der Wirtschaft und Politik heißt dies, das Sprachliche über die Gebrauchsrhetorik des schablonenhaften Alltages hinaus als geistigen Wert zu entdecken. Dies geschieht durch Lektüre von Werken, die jenseits der beruflichen Welt liegen. Ein Manager möge im Jahr zwei bis fünf Bücher lesen. Wir meinen damit anspruchsvolle Literatur, die die ganze Aufmerksamkeit des Lesenden verlangt. Dazu zählen wir die drei Gattungen: Poesie, Epik, Dramatik. Auch der Feuilletonteil einer überregionalen Zeitung ist geeignet, sich zusätzliches Wissen über kulturelles Geschehen anzueignen. Das geistig Erarbeitete möge festgehalten werden. So gehört zur methodischen Ausstattung des Redners ein „Zettelkasten“, in dem alles Merk-würdige aufbewahrt wird. Was Ihnen auch immer unter die Augen kommt und Sie geistig wie emotional anspricht, gehört in diesen Sammelkasten. Die rhetorische Faustregel X

Wer nichts liest, kann nichts zitieren.

behält ihre Gültigkeit auch weiterhin. Dabei bezieht sich der geistige Schatz des Zitierbaren nicht nur auf Gedanken aus den gelesenen Werken, sondern auf alles Bemerkenswerte, das während des Tages in das Erleben des Redners eindringt. Schlagzeilen, Titel von Vorträgen, Kalendersprüche, Aussagen von Menschen, die unser Leben streifen – vieles ist geeignet, um auf guten gedanklichen Wegen in der Rede verarbeitet zu werden. Auch in der literarischen Rhetorik gibt es meistens ein heterogenes Publikum, so dass die emotionalen Angebote des Sprechenden bei allem intellektuellen Anspruch nicht fehlen dürfen. Die inventio beginnt mit der vielseitigen Interessiertheit des Redners über den Redegegenstand hinaus. So vor allem wird es ihm möglich sein, das gedanklich zu Bearbeitende auch vielseitig zu betrachten. Der gedankliche Entwurf als Ausdruck konzeptionellen Denkens muss mehrere Aspekte für die Gestaltung der Rede beachten. Das bedeutet, mit sehr viel Sorgfalt an das Gedankliche heranzugehen. Die gründliche Beschäftigung mit dem zu behandelnden Thema wird zeigen, welche Erkenntnisse der Redner gewinnt, um dem Anliegen des Redegegenstandes gerecht zu werden. Das Gefühl für das Angemessene, für die Vorund Nachteile des darzustellenden Inhaltes bildet ein wesentliches Krite-

Gedanklicher Entwurf

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rium für die Verantwortung des Redners dem Thema gegenüber. Die inventio ist ein kreativer Prozess, der nichts Leichtfertiges verträgt, wenn das rhetorische Werk überzeugen soll. Das Kreative besteht in dem Erkenntnisvermögen des Redners, das zu Behandelnde mit sehr viel Weitsicht zu gestalten. Insofern ist er der Regisseur seiner Rede, der bereits in der Phase der inventio wissen muss, wie er die Darbietung strukturell und sprachlich gestaltet. Dieser Anspruch ergibt sich aus dem generellen Anspruch der Rhetorik, alle Redegegenstände behandeln zu dürfen. Außerdem ist nach dem Rednerideal der Antike der Redner eine Persönlichkeit, die aufgrund ihrer umfassenden Bildung fähig ist, über vieles gut und überzeugend sprechen zu können. Sollte er einmal nicht so kundig sein, so möge der Redner den Rat des Fachmannes einholen. Grundsätzlich aber geht Cicero von seiner Erwartung an den Redner nach möglichst breitem Wissen nicht ab. Er sagt: „Nach meiner Meinung könnte jedenfalls kein Redner den Gipfel allen Ruhms erreichen, ohne sämtliche bedeutenden Gebiete und Disziplinen zu beherrschen; denn aus dem Wissen um die Sache muss die Rede in Glanz und Fülle des Ausdrucks erwachsen.“30 Das Vertrautwerden mit dem Redestoff als Akt der inventio ist das erste Prinzip für den Redner. Dieses Vertrautwerden ermöglicht die intellectio – das ist das Erkennen der Beziehungen, die das Redeanliegen berühren. Das vorausdenkende und vorhersehende Können ergibt sich aus der Intelligenz des Redners. Diese Intelligenz befähigt ihn auch, den Redestoff der jeweiligen Redegattung zuzuordnen und sich darauf einzustellen. Damit ist die inventio auch die Phase der Redeplanung. Zu ihr gehört weiterhin, sich mit der Redegattung und demzufolge mit dem Redestoff genauer zu beschäftigen. Der Redner weiß im Allgemeinen, worüber er sprechen wird. Für den Manager heute dürften die von Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) fixierten Redegattungen noch immer gültig sein, weil sie sich durch ihre Grundfunktionen auszeichnen:  genus iudiciale (Rede mit Anklage- oder Verteidigungsabsicht)  genus deliberativum (Rede mit Erörterungs- oder Mahnabsicht)  genus demonstrativum (Rede mit Lob- oder Tadelabsicht).

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Literarische Rhetorik

Es ist die Aufgabe des Redners, der Redegattung gemäß genügend Redestoff zusammenzutragen, um später im Redeakt eine ausreichend breite Grundlage anbieten zu können. Denn die Ausführlichkeit der Rede drückt auch eine hinreichende Würdigung des Redegegenstandes aus. Daran schließt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit (probabilitas, veritas, auctoritas) des Redners an. Der Sprechende möge sich selbst auf seine Glaubwürdigkeit hin überprüfen. Diese wird bestimmt von der Verkörperung der sozialen und sittlichen Kompetenz und von der Redlichkeit des rhetorischen Anliegens. Die Seriosität des Redners begünstigt meistens auch die Ernsthaftigkeit des rhetorischen Vorhabens. Der soziale Status, das politische oder wirtschaftliche Amt, das der Manager bekleidet, lässt im Allgemeinen kaum Zweifel an der Seriosität und Glaubwürdigkeit des Sprechenden aufkommen. Ein hoher Grad an Glaubwürdigkeit, so möge der Redner vorher bedenken, wird ihm von jenen Zuschauern verliehen, die ihn kennen und die seine Meinung vertreten. Wohl aus diesem Grunde sind Reden vor eigenen Parteianhängern keine so bedeutende emotionale und ethische Leistung. Einen nur mittleren Grad an Glaubwürdigkeit erreicht der Sprechende bei jenen Zuhörenden, die sich bereits mit einem gedanklichen Konzept identifizieren und dem Redner mit Zurückhaltung begegnen. Einen schwachen oder geringen Grad an Glaubwürdigkeit finden wir bei Rednern, deren Meinung an der Meinung der Zuschauer vorbeifließt und eher eine absurde oder extreme Position einnimmt. Es ist sehr wichtig für die Gestaltung des gedanklichen Entwurfs, sich in der Vorphase darüber klar zu werden. Die inventio wird damit sogar zu einem Akt der Selbstfindung und Selbsterkenntnis für den Redner. In die Vorbereitung einer Rede ist stets auch einzubeziehen, welche „Orte“ (loci) – sinnvoller ist „Quellen“ – dem Redner überhaupt zur Verfügung stehen, um sein gedankliches Gebäude zu errichten. Wir unterscheiden Quellen, die sich:  auf die Person beziehen  auf die Sache beziehen.

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Welche Rede auch immer gehalten wird – sei sie auf einen Menschen oder auf eine Sache, ein Ereignis bezogen – stets wird eine Anzahl von loci dem suchenden Redner zur Verfügung stehen. Welche Quellen sind gemeint?

Quellen, die sich auf die Person beziehen Steht ein Mensch im Mittelpunkt des rhetorischen Geschehens, so bieten sich dem Redner viele Orientierungshilfen an, um das Manuskript mit manchem individuellen Wert auszustatten. – Persönliche Herkunft. Damit ist die familiäre Abstammung gemeint. Oftmals bietet die Familie, bietet das Elternhaus gute Ansätze, um die Persönlichkeit näher zu betrachten. Einflüsse, die, vom sozialen Umfeld eines Menschen ausgehend, auf ihn eingewirkt haben. Der prägende Schatten von Bezugspersonen legt sich oft viele Jahre auf den Lebensweg des anderen. – Nationale Herkunft. Die Abstammung von einer Völkergemeinschaft lässt Identifikationen in einem Menschen wachsen, die sich unterschiedlich auswirken können. In Zeiten politischer Konflikte gilt es, dies besonders zu berücksichtigen. Die völkische Mentalität wirkt sich in einer multikulturellen Gesellschaft bemerkenswert aus. – Staatliche Herkunft. Die Gesetze, Institutionen und Normen eines Staates bilden eine Lebenshilfe für den Bürger. Doch weichen diese Merkmale häufiger von denen anderer Staaten ab. Um einen Menschen besser zu verstehen, seine Meinung eher zu begreifen, kann es nützlich sein, auch diesen Aspekt zu berücksichtigen. – Geschlecht. Frauen und Männer sind durch unterschiedliche Wesensmerkmale gekennzeichnet. Ihre Aufgaben im privaten und beruflichen Leben werden verschieden gesehen. Es gibt Wandlungen im Rollenverständnis und Rollenverhalten. Daraus resultiert manches neue persönliche oder gesellschaftliche Selbstverständnis. – Alter. Erfahrung, Reife, Krisen, Konflikte und Lebensgestaltung können Stichworte sein, die die Persönlichkeit charakterisieren. Mündigkeit und Verantwortung treten als sittliche Kriterien hinzu.

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– Körperliches Erscheinen. Oft ist mit der Körperlichkeit eines Menschen seine Ausstrahlung auf andere verbunden. Aber auch Merkmale wie Stärke und Schwäche, Mut, Tapferkeit, Durchsetzungskraft tauchen auf. – Ausbildung. Welche Ausbildung ein Mensch erlebt hat und bei wem er sie absolviert hat, das ist häufig bestimmend für das weitere Leben. Neben dem Fachlichen spielen kulturelle Erfahrungen wie etwa religiöse eine fundamentale Rolle. – Gegenwärtige Lebensbedingungen. Der heutige soziale oder wirtschaftliche Stand eines Menschen kann manche seiner Handlungen bestimmen. Oft werden sie zum Anlass von Reden gewählt. Zum Beispiel die Berühmtheit eines Menschen. – Wesensart. Ob ein Mensch die Nähe des anderen sucht oder auf Distanz geht, ob er Vertrauenswürdigkeit genießt oder man ihm mit Misstrauen begegnet – das sind Quellen für emotionale und ethische Aussagen über einen Menschen. – Beruf und Tätigkeit. Das ist wohl häufiger Redeanlass für Führende und Geführte. Die Entwicklung der Persönlichkeit durch das berufliche Tun zu würdigen, bedeutet, zu einem großen Teil ihrem Selbstverständnis entgegenzukommen. Manche Verhaltensweise wird aus dem beruflichen Verständnis erklärbar. Auch die Beziehung zwischen Leistung und Persönlichkeit. – Neigungen. Sie sind der Anlass für viele Würdigungen im Privatleben eines Menschen. Drückt er doch hierdurch andere Teile seiner Werteskala aus. Sie zeigen eine weitere Seite des Persönlichkeitsbildes. Oft klären sie die Beziehung zwischen Schein und Sein. – Persönliche Besonderheiten. Manche menschliche Eigenart macht den anderen zu einem Original. Sei es eine auffallende Art des Sprechens, der extremen Freizeitgestaltung oder besonderer Lebensumstände. Das in einem Menschenleben ganz Herausragende verdient, näher betrachtet zu werden.

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Quellen, die sich auf die Sache beziehen In das rednerische Vorbereiten gehören auch Quellen, die sich auf eine Sache oder ein Ereignis beziehen. Quintilian gibt dem Redner eine bemerkenswerte Anregung, die in Fragen erscheint: Warum, wann, wo, wie, mit welchen Mitteln? Uns scheint diese Fragenfolge eine wichtige analytische Anregung für den Redner zu sein. Deshalb wollen wir sie unserer Gliederung zugrunde legen. Das fragende Präparieren veranlasst den Redner, sich des Themas von verschiedenen Seiten zu nähern. Es leitet ihn zur Sorgfalt an, da er die Fragen für sich induktiv beantworten muss. Das Fragen ist ohnehin ein Weg, sich einem Thema dialektisch zu nähern. Denn ihm wohnt das abwägende Nachdenken inne, das auch den Redner bewegen sollte, sich beim Entwerfen seines gedanklichen Konzeptes ähnlich zu orientieren. Die inventio durch nachdenkendes Fragen zu beleben, ist ein Teil jener Kreativität, der am Beginn der rednerischen Vorbereitungen stehen möge. – Warum? Mit dieser Frage ist der Weg zu analytischer Tiefe geöffnet. Er berührt nicht nur das persönliche Motiv des Sprechenden, das ihn bewegt, diese Rede zu halten. In noch stärkerem Maße leitet diese Frage dazu über, den Redegegenstand – also das Ereignis oder die Sache – anzuschauen. Wer in seiner Rede ein historisches Ereignis würdigt, wird sich mit den Hintergründen ebenso beschäftigen müssen wie mit den Beziehungen dieses Ereignisses zur Gegenwart. Und jener Redner, der eine Festrede zur Eröffnung einer Buchmesse hält, wird in begründender Weise die stets gültige Aktualität dieses Ausstellungsgeschehens hervorheben. – Wann? Die Zeit, in der sich Ereignisse zugetragen haben, drückt diesen Vorkommnissen ihren Stempel auf. Sie bildet den Rahmen, dem das Situative der Rede zugeordnet wird. Das Wann beschreibt den Zeitrahmen der Rede. Zum einen ist damit der Rahmen des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen gemeint. Zum anderen aber auch das konkret zu Bezeichnende wie etwa „nach dem 2. Weltkrieg“ oder „im Zeitalter der Raumfahrt“. Mit der Zeitangabe, die durch das Wann herausgefordert wird, erhält auch der Zuhörer eine elementare Orientierung.

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– Wo? Die Frage nach dem Ort eines Geschehens oder einer Sache dient der inhaltlichen Präzisierung des Gesprochenen. Sie wird sich auf das lokal Begrenzte beziehen und den Radius des Handelns beschreiben. Ein Redner, der über die Wiedervereinigung Deutschlands spricht, wird wohl das Brandenburger Tor oder die Berliner Mauer als lokale Zentren herausstellen. In einem Vortrag über Entwicklungshilfe werden die Länder vor Augen geführt werden müssen, denen die Hilfe zugute kommen soll. – Wie? Ein Ereignis in seinem Entstehen, seinem Verlauf und seinen Auswirkungen zu schildern, heißt, dem prozessualen Geschehen in verantworteter Weise gerecht zu werden. Das Wie verlangt eine Treue zur Methode und zu sachgemäßem Umgang mit dem Thema. Es wird besonders berücksichtigt werden bei Darbietungen, in denen zukunftsweisende, strategische Impulse gegeben werden. So etwa bei der Präsentation von Unternehmenszielen, politischen oder militärischen Vorhaben. – Mit welchen Mitteln? Hier ist das Instrumentelle angesprochen. Der Redner möge in seiner Redevorbereitung beachten, mit welchen Mitteln er selbst seine Rede zu gestalten gedenke. Außerdem soll er das zu schildernde Ereignis in seinem praktischen Lebensbezug hinreichend vorstellen. Dies bedeutet letztlich die Schilderung von positiven oder negativen Sachverhalten, die einen Einblick in die innere Struktur eines Verlaufs ermöglichen. Zum Beispiel ist damit gemeint die Schilderung einer erfolgreichen Marketingstrategie oder der Bericht des Innenministers über eine geglückte Spionageabwehr. Der Zuschauer erhält einen gründlicheren Einblick und wird an der Aktivität somit beteiligt.

Die Vorbereitung der Rede in der inventio erwartet vom Redner eine breite und gründliche Beschäftigung mit dem Redeinhalt. Intellektuelle und emotionale Aspekte werden dem Thema jene Farbigkeit geben, die eine beeindruckende Rede kennzeichnen. Eine weitsichtige Planung des rhetorischen Vorhabens wird ihm helfen, die Rede in ihrer Ordnung und in ihrem sprachlichen Gewand wirkungsvoll zu formen. Einfälle, Ideenreichtum, Erfindungsgabe bewirken dabei sehr viel. Doch letztlich ist das Wesensinnere des Sprechenden aus-

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schlaggebend, das auch in den Herzen und Hirnen der Zuschauer seine Spuren zieht.

2. Das Ordnen des Entwurfs (dispositio) und die Teile der Rede (partes orationis) In der inventio hat der Redner eine gründliche Vorarbeit geleistet. Er hat die Quellen studiert, den Stoff gesammelt und das Gefundene notiert. Das, was er sich zu sagen vorstellt, hat er zu einem geistigen Monument zusammengetragen, dem die feineren Konturen noch fehlen. Die feinere Bearbeitung des Gefundenen und für die Rede Wertvollen geschieht in der dispositio. Das Entworfene zu ordnen und dabei die Schwerpunkte der Rede zu schaffen, das ist die Aufgabe im zweiten Schritt des Entstehens einer Rede. Da der Redner in seiner Persönlichkeit und in dem Gesagten überzeugen möchte, wird er sich – der Heterogenität der Zuschauer angemessen – des Rationalen wie Emotionalen bedienen, um dieses rhetorische Ziel zu erreichen. Er wird diese Elemente seines Wirkens auf die Redeteile ausbreiten. So wird am Beginn und am Ende der Rede das Affektive seinen Platz finden, während das Argumentative den mittleren Teil der Rede trägt. Auf diesem Wege kann es ihm gelingen, das Bewegende der Rede auch in die Zuhörer einzupflanzen. Die persuasive Haltung des Redners erwächst aus der Anordnung des Gefundenen und aus der Sprache, die er für sein Auftreten wählt. Dazu bemerkt Cicero: „Ich hatte auch die Lehren über die Ausschmückung der Rede selbst gehört: Dabei verlangt die Vorschrift, dass wir erstens sprachlich richtig, zweitens klar und deutlich, drittens wirkungsvoll und viertens der Würde unseres Themas angemessen und gleichsam schicklich formulieren.“31 Die dispositio erhält in den Redeteilen ihr formales Profil. Im Einzelnen lauten die Redeteile:

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Redebeginn (exordium) Erzählung (narratio) Beweisführung (argumentatio) Redeschluss (peroratio).

Die Redeteile stehen nicht formal kalt und streng nebeneinander, sondern die Kunst der Beredsamkeit vermag es, sie geschmeidig miteinander zu verbinden. Dadurch entsteht das Ganze einer Rede, das dennoch durch seine Elemente wirkt. Die Verbindung eines Redeteiles mit dem anderen nennt Quintilian transitus oder transgressio.32 Für die Gestaltung des Redeanfangs spricht Cicero eine Empfehlung aus, die auch heute noch gilt: „Jeder Anfang muss aber entweder die Bedeutung des gesamten Gegenstandes der Verhandlung in sich tragen oder einen gangbaren Zugang zu dem Fall eröffnen oder ein gewisses Maß von Glanz und Würde mit sich bringen. Man muss jedoch, wie bei den Häusern und Tempeln die Vorhallen und Eingänge, so auch bei den Verhandlungen das, was man als Einleitung voranstellt, entsprechend ihrem Gegenstand bemessen.“33

Der Redebeginn (exordium) Das Publikum zu erreichen, es für das Redeanliegen zu interessieren, das ist das vorrangige Ziel des Sprechenden. Ein Sympathiefeld aufzubauen, das möglichst für die Dauer der Rede und die Zeit danach bestehen bleibt, ist das psychische Anliegen des Redners. Somit erfüllt das exordium eine wichtige Aufgabe, weil durch den Redeeingang das Emotionale in die wartenden Zuschauer einfließt. Das exordium ist die allgemeine Bezeichnung für die Einleitung. Ihre weitere qualitative Unterscheidung erfährt sie durch das prooemium und die insinuatio. Das prooemium trägt als Form der Einleitung mehr den Charakter einer Vorrede, während die insinuatio als ein eindringlicher Eintritt in die Rede bezeichnet wird.

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Das prooemium Das Ziel der Einleitung nach dem prooemium ist es, die Aufmerksamkeit der Zuschauer, der Zuhörer zu gewinnen. Zwar möge der Redner dieses Ziel während der gesamten Rede nicht aus den Augen verlieren, doch in der Einleitung bindet er die Zuhörer in initiierender Weise. Wie gelingt es nun, diese Bindung des Publikums an den Redner herzustellen? Zunächst wird der Redner bemüht sein, das Desinteresse des Publikums abzubauen. Das Desinteresse der Zuhörer könnte z. B. seine Ursachen finden in einer geistigen Übersättigung, in körperlicher Ermüdung oder in der Unattraktivität des Redegegenstandes. Der Sprechende, der sich bemüht, die Gleichgültigkeit der Zuschauer zu überwinden, kann ein Versprechen abgeben, die Rede werde kurz sein. Allerdings darf dann auch die Einführung nur knapp formuliert sein. Viele Redner geben leere Versprechen ab – wie wir dies auch in den Seminaren bei begrenzter Redezeit des Einzelnen immer wieder erleben. X

Wer eine angekündigte Redezeit überschreitet, erhält selten das weitere Vertrauen der Zuhörer. Stets möge der Redner darauf achten, das Publikum nicht zu enttäuschen.

Dennoch liegt in der Ankündigung, knapp zu sprechen, ein Reiz für die Zuschauer, dem Sprechenden für eine begrenzte Zeit die Aufmerksamkeit zu schenken. Ein weiterer Weg, das Interesse der Zuhörer zu gewinnen, ist der Hinweis darauf, es gehe bei dem Redegegenstand um Belange der Zuhörer. Damit ist ein Griff zum Affektiven, weil die Identifikation angerührt wird, erkennbar. Der Redner, der sich das Besorgtsein um die Zuschauer zum persönlichen Anliegen werden ließ, erweist sich selbst als höchst engagiert und als sozial kompetent. Indem er das Anliegen des Publikums aufgreift, erhöht er seine künftige Glaubwürdigkeit. Aufmerksamkeit erzielt der Sprechende auch, wenn er – gleichsam als gedankliche Vorschau – die Gliederung, die Struktur seiner Rede vorträgt. Er gibt damit jedoch dem Publikum ein Kontrollkriterium in die Hand und verpflichtet sich, das Angekündigte auch zu befolgen.

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Mit dem Erlangen des Wohlwollens (captatio benevolentiae) greift der Redner zu einem Redebeginn, der Vorsicht und Feingefühl miteinander verbindet. Die captatio setzt ein hohes Maß an sittlicher Autorität des Sprechenden voraus. Nur jener Redner sollte sich dieser Einleitung bedienen, der weitgehend frei ist vom Verdacht des Spekulativen. Das Wohlwollen der Zuhörer kann der Redner auf zwei Wegen erlangen: durch das Eingeständnis eigener Unzulänglichkeit und durch das Lob für das Publikum. Das Eingestehen eigener Unvollkommenheit, des menschlich Fehlerhaften, weckt bei vielen Zuschauern Sympathie. Denn der Sprechende verbalisiert damit möglicherweise jene persönlichen Unebenheiten, von denen sich auch der Zuhörer belastet fühlt. Auch damit wird das Affektive zum Instrument der Zuwendung. Das Lob für die Zuhörenden setzt beim Redner gute Kenntnisse des Zuhörerkreises voraus. Weil das Lob leicht zur Ironie werden kann, ist Vorsicht in der Wortwahl angebracht. Das Lob einem Publikum gegenüber verlangt auch, dass das Publikum selbst die lobenswerte Eigenschaft akzeptiert, die der Redner zum Inhalt seines Lobes gewählt hat. Die insinuatio Eine emotionale Einleitung trägt die Gefahr des Verstellens, des Unechten in sich. Daran ist das Glaubwürdigsein des Redners in den Augen des Publikums wesentlich beteiligt. Wer in seiner persönlichen Ausstrahlung den Eindruck vermittelt, oberflächlich und ungeduldig in der Darlegung seiner Gedanken zu sein, wird im Zuhörerkreis keine Wurzeln seines persönlichen Überzeugens setzen können. Die insinuatio ist eine bedenkliche Art der Einleitung. Lausberg beschreibt sie so: „Die insinuatio besteht darin, dass durch listige Verwendung psychologischer Mittel (Unterstellung, Überrumpelung, etwa auch durch einen Witz) das Unterbewusstsein des Publikums in einem für uns günstigen Sinne beeinflusst wird und so langsam der Boden für eine Sympathiegewinnung vorbereitet wird.“34 Aus diesem Begriffsverständnis heraus ist es auch möglich, „insinuatio“ mit „Einschmeicheln“ zu übersetzen. Durch diese Einleitung wird der Redeinhalt seiner unangenehmen Tendenz entfremdet, bagatellisiert und

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als weniger bedeutend dargestellt. Nicht selten versuchen sittlich wenig gebildete Redner, die Beweisführung des Meinungsgegners lächerlich zu machen und dadurch ihre eigene Position zu stärken. Etwa mit den Worten: „Solch eine Argumentation habe ich noch nie gehört. Von wem haben Sie die übernommen?“ Oder: „Glauben Sie ernsthaft, diesem Publikum einen solchen gedanklichen Schrotthaufen anbieten zu können?“ Mit der direkten emotionalen Hinwendung zum anderen erhofft sich der Redner indirekt beim Publikum zu landen. Es geschieht auch, dass sich der Redner in einer überbetonten Art von seiner Thematik überzeugt zeigt und damit keinen Zweifel an der Identifikation aufkommen lässt. In kritischen Reden kann der Sprechende die Aufmerksamkeit des Zuhörerkreises auch auf andere Inhalte lenken, um sich damit aus dem Dunstkreis des negativ besetzten Inhaltes zu entfernen. So kann ein persönliches Schicksal plötzlicher Mittelpunkt eines rhetorischen Geschehens werden, obwohl eine Konfliktrede auf dem Programm stand. Wir können diese Art des Einleitens nicht empfehlen, weil sie unecht, heuchlerisch und unsittlich ist. Redner solcher Prägung werden auch dauerhaft nicht überzeugen können, weil das Publikum die Verstellung bemerken wird.

Die Erzählung (narratio) Der zweite Teil der Rede – die narratio – bildet die gedankliche Quelle für die weitere rhetorische Darbietung. Sie beschreibt das Redeanliegen, das Geschehen, das Faktische oder das Scheinbare. Nach Cicero sind die Kürze (brevitas) und die Deutlichkeit oder Klarheit (perspicuitas) die elementaren Kriterien für die narratio. Die Tugenden des Erzählens werden noch von der Glaubwürdigkeit des Redners begleitet. Die Kürze allerdings soll den Redegegenstand nicht auf seine Hauptaussage zusammenschrumpfen lassen. Das Publikum schenkt einer Darstellung mehr Glauben, wenn das Ereignis in angemessener Ausführlichkeit dargelegt wird, so dass es die Zusammenhänge besser begreifen kann. Auch hier hilft die Redepause, das Gehörte zu verarbeiten und zu würdigen. In der Phase des inhaltlichen Darlegens wird sich der Redner emotional zurücknehmen, um dem Gedanklichen den Vortritt zu lassen.

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Wie ausführlich der Redner die narratio gestaltet, hängt davon ab, wie gut das Publikum über das Faktische informiert ist. In politischen und wirtschaftlichen Erörterungen werden die Redner manches Wissen bei einem ihnen vertrauten Kreis voraussetzen können. X

Ein heterogenes Publikum dagegen will durch die narratio informiert und geführt werden.

Die narratio erfüllt in den öffentlichen Auftritten der Führenden eine unterweisende Funktion. Zugleich ist sie ein Nachweis für die fachliche Kompetenz des Sprechenden. Aus ethischer Sicht wird der Redner dem Anspruch gerecht, den Zuschauern die gleiche Beurteilungsgrundlage zu bieten, über die auch der Redner verfügt. Die narratio will der argumentatio vorbereitend dienen. Sie ergänzen sich oftmals. Meistens dann, wenn bereits die Erzählung das Geschilderte als einen kausalen Zusammenhang begreift. Manche Umstände erfordern gar eine ausführliche narratio, um das Publikum zu noch mehr Spannung zu führen. Gelegentlich – je nach der Fülle des Angebotenen – kann es notwendig sein, die Erzählung zu gliedern und damit übersichtlicher werden zu lassen. Folgen wir den Empfehlungen Quintilians für eine lebendige Gestaltung der Rede, so findet auch die digressio – die Abschweifung – in der narratio, aber auch in anderen Redeteilen, ihren Platz. Häufig erlaubt es die Beziehung zwischen dem Sprechenden und dem Publikum, Exkurse in Randgebiete des Darstellungsinhaltes einzulegen. So kann die digressio eine rationale oder eine emotionale Absicht verfolgen. Sie wird aber meistens eine affektive Pflicht erfüllen, denn die Überzeugungsabsicht tritt auch in diesen Sequenzen der Rede erkennbar hervor. Methodisch entsteht die Abschweifung aus dem vorher Gesagten. Sie ergänzt oder verstärkt das bereits Gesprochene. Die Abschweifung soll keine narzisstische Spielwiese für den Redner sein. Dann würde sie der Intention, bereichernd zu wirken, kaum gerecht.

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Die Beweisführung (argumentatio) Die Beweisführung ist der tragende Teil der überzeugenden Rede. Die argumentatio ist bereits in der inventio als Intention enthalten und erhält nunmehr den geistigen Raum, sich intellektuell und emotional zu behaupten. In der Beweisführung nimmt der Redner unmissverständlich Stellung, um den eigenen Standpunkt in persuasiver Weise abzusichern. Dies gelingt ihm durch die Zeichen (signa), Beweise (argumenta) und Beispiele (exempla). Die Verständlichkeit der Beweisführung erreicht der Redner am besten, wenn er an ihren Anfang eine Gliederung (partitio) stellt. Schon mehrfach haben wir auf den Wert der Struktur hingewiesen. Hier – in der argumentatio – erweist sie sich als die intellektuelle Stärke des Redners, die Zimmer seines Gedankengebäudes gut zu kennen und in ihnen zu wohnen. Die partitio ist die zielgerichtete gedankliche Überschau, die den Redner und das Publikum gleichermaßen lenkt. Wiederum zeigt sich die Denkdisziplin des Sprechenden als rationale Kraft, die der gedanklichen Ordnung Profil und Zuverlässigkeit gibt. Die Beweisführung ist ein konstruktives Element der Rede. Ihre Intention ist es, Personen oder Sachen in einen Bedeutungszusammenhang zu fügen, der dem Persuasiven der Rede weitere Ausstrahlung verleiht. Die Beweisführung durch ein Zeichen, ein Indiz, ist etwas sinnlich Wahrnehmbares, das der Redner dem Publikum präsentiert. Dadurch wird das Gegenständliche zu einem Identifikationsangebot, in dem das Wirkliche, das Greifbare aufscheint. Für die Beziehung zu den Zuhörenden ist dies sehr bedeutsam, weil durch die Präsentation von etwas Greifbarem auch der Redner mit seinem Anliegen begreiflicher wird. Welches signum er dem Publikum zeigt oder vorstellt, das hängt vom Charakter der Redebegegnung ab. X

Wer in der Rede sinnfällige Zeichen setzt, prägt sie auch in die Erinnerung der Zuhörer ein.

Die argumentatio ist eine rationale Leistung des Redners. Der gedankliche Kern ist das argumentum – das Beweisende, von dem die Beweisführung ihre innere Kraft empfängt. Mit dem argumentum erhält der Be-

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weisvorgang seine Beweiskraft. Zweifel sollen beseitigt werden, und die Gewissheit von der Richtigkeit und Gültigkeit des Gesagten soll wachsen. Die Führungskraft der Gegenwart steht beinahe täglich vor diesem Anspruch und erprobt sich in ihrem argumentativen Können. Die rhetorische Beweisführung findet im Enthymem (ratiocinatio) ihren Ausdruck. Das Enthymem ist ein reduzierter Syllogismus, der dem Redner hilft, seine Argumentationsweise aufzubauen. Grundlage des Enthymems ist eine allseits akzeptierte Feststellung. Von dieser geht der Redner beim Aufbau seiner Argumentation aus. Nach Quintilian stehen dem Redner mehrere Quellen zur Verfügung, aus denen er solche feststehenden Sätze gewinnt, um sie als Fundamente seines Enthymems zu wählen:  die Wahrnehmung dessen, was wir mit unseren Sinnen erfassen können,  jene Inhalte, über die es im Allgemeinen Übereinstimmung gibt, (z. B. die Existenz von Göttern)  jene Inhalte, die in den Gesetzen stehen,  jene Inhalte, die uns mit der Tradition geschenkt sind,  jene Inhalte, die zwischen Parteien als gültig und erwiesen akzeptiert werden,  jene Aussagen, die bewiesen sind,  jene Aussagen, gegen die vom Meinungsgegner kein Widerspruch angezeigt wird.35 Für den Führenden bietet sich in der Gegenwart die Fülle beinahe aller Geschehnisse an, um darauf das gedankliche Fundament zu errichten. Im Übrigen bestimmt der Redeanlass, legt der Themenkreis fest, woraus sich die Kernsätze ergeben werden. Hier erweist sich die Klarheit des Gesagten als Ausdruck der gedanklichen Disziplin, die den Redner kennzeichnet. Das exemplum, das Beispiel, ist schon in anderem Zusammenhang in diesem Buch angeklungen. Es ist ein Beleg, ein Nachweis, der veranschaulicht, wie praxisorientiert der Redner sein Thema betrachtet und welche Erfahrungen aus seiner Erlebniswelt ihm zur Verfügung stehen. X

Beispiele charakterisieren die Realitätsnähe der argumentatio.

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Schließlich steht dem Redner als Fundament für seine Beweisführung noch die auctoritas zur Verfügung. Gemeint ist die Berufung auf eine allgemein anerkannte geistige Autorität, die ihre Glaubwürdigkeit von der Außenwelt verliehen bekam. Zugleich bedeutet dies eine geistige Absicherung für den Redner, denn wer eine auctoritas akzeptiert, wird dem Redner kaum widersprechen.

Der Redeschluss (peroratio) Der Schlussteil der Rede hat die Aufgabe, die wichtigen Gedanken zusammenzufassen, um sie dem Publikum als das Bleibende zu vermitteln. Die peroratio soll aber auch das emotional Bewegende im Publikum verankern, auf dass der Sprechende am Ende seiner Ausführungen die Zustimmung der Zuschauer erhalte. Die peroratio möge knapp und einprägsam formuliert sein; keine neue argumentatio, um eventuell den eigenen Standpunkt neu zu begründen. Vielmehr möge der Redner das Gemüt der Zuschauer erschüttern. Darin besteht letztlich sein Überzeugen.

3. Das sprachliche Gewand (elocutio) In der elocutio erlebt der Redner seine stärkste Herausforderung. Während die inventio und dispositio mehr das methodisch-technische Anliegen bei der Redevorbereitung verwirklichen, tritt im sprachlichen Gewand der Rede wieder die Persönlichkeit des Redners in den Vordergrund. Denn „elocutio“ – mit „Ausdruck, Stil“ übersetzt – ist das Gesamte des sprachlichen Ausdrucks einer Rede. Für den Manager erscheint hiermit die geistige Tribüne, von der aus er wirkt und überzeugt. Die elocutio ist der wichtigste und auch schwierigste Teil der Redevorbereitung und des Darbietens einer Rede. Hier berühren sich angewandte und literarische Rhetorik aufs engste. Denn der sprachliche Ausdruck verbindet beide. Wer die Wege gedanklicher Selbstbekundung in der literarischen Rhetorik kennen gelernt hat, wird in der angewandten Rhetorik mühelos auf sie zurückgreifen können. Das durch häufigen

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Gebrauch in die Persönlichkeit des Sprechenden internalisierte Gut steht ihm unter den Bedingungen des freien Sprechens stets zur Verfügung. Insofern vermag die elocutio einen persönlichkeitsbildenden Dienst zu leisten, der den Manager der Gegenwart durch sein sprachliches Niveau gegenüber anderen heraushebt. Im sprachlichen Ausdrucksvermögen des Sprechenden vereinigen sich das Was und das Wie der rednerischen Intention. Das Auftreten von Politikern und Managern vor einem Publikum ist von einem gedanklichen Auftrag initiiert. Zugleich wird der Sprechende berücksichtigen müssen, zu wem und vor wem er spricht. Dieses Bedenken verpflichtet ihn zu richtigem, lebendigem und anschaulichem Sprachgebrauch. In der elocutio zeigt der Redner, wie er es versteht, sein rhetorisches Anliegen unter angemessenen Bedingungen in angemessene Sprache zu kleiden. Die treffsichere Wort- und Ausdruckswahl bildet bereits einen verlockenden Ansatz für den Zuschauer, dem Redner zu folgen. So bildet die Angemessenheit (aptum) für den Manager ein Fundament seines sprachlichen Überzeugungsvermögens. Der tugendhafte Umgang mit Sprache wird deshalb immer das Angemessene in die rhetorischen Bedingungen einbeziehen. Was ist damit gemeint? Das Angemessene bezieht sich zunächst auf die äußeren Bedingungen der Redepräsentation. Der Redner möge berücksichtigen, an welchem Ort er spricht. Führungspersönlichkeiten treten an verschiedenen Orten auf: in großen Stadthallen, in Werkshallen, in kleineren Festsälen, im Nebenzimmer eines Hotels, im Fernsehen. Es verlangt jeder dieser Rednerauftritte seine eigene Art des Vortrags. Was in der Stadthalle beeindruckt, wird im Hotel unangemessen sein. Was im Fernsehstudio durch die Nähe wirkt, löst sich in der Werkshalle geräuschlos auf. Was auf dem geistigen Parkett glänzt, stumpft auf den Pflastersteinen des gedanklichen Alltags ab. Des Weiteren möge der Manager bedenken, zu welchem Zeitpunkt er spricht. Es wirkt sich die Tageszeit auf den Sprechenden und auf das Aufnahmevermögen der Zuhörer aus. Aber auch die Zeit als Begleiterin des gesellschaftlichen Bewusstseins prägt die Bewertung des Gesagten. So werden die Zuschauer den Sinn einer Rede in den Tagen wirtschaftli-

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cher Not anders begreifen als zu Zeiten ökonomischen Gedeihens. Nicht zuletzt darauf ist auch der „Erfolg“ nationalsozialistischer Redekultur zurückzuführen. Die Rede soll auch dem Alter, dem Beruf, der sozialen Stellung des Sprechenden angemessen sein. So werden ältere, reife Menschen wohl in einer besonnenen Art sprechen und junge Menschen eher in schwungvollen und kühnen Reden. Die Würde des Berufes legt dem Redner einen bestimmten Redestil nahe. Von einem Geistlichen oder einem Arzt erwartet das Publikum einen seriösen und eher disziplinierten Redevortrag als von einem extrem stehenden Politiker. Manager werden am überzeugendsten in ihrem Persönlichkeitsbild wirken, wenn sie Intellektualität und Emotionalität in ausgewogener Weise miteinander verbinden. Darin besteht für diesen Personenkreis das Angemessene. Der Zuhörerkreis, der eine Rede aufnimmt, verpflichtet den Sprechenden zu besonderer Redegestaltung. So wird eine Rede, die sich an Jugendliche wendet, sprachlich anders geprägt sein müssen als die Rede vor Bewohnern eines Altenheimes. Die Rede, die sich an Angehörige der Bundeswehr wendet, wird andere Intentionen erkennen lassen als die Rede an Gastarbeiter. Der Führende möge daher bei seiner Redevorbereitung das Denken, Empfinden, die Gefühlslage der besonderen Zuhörergruppe beachten. Das Angemessensein einer Rede wird damit auch vom Besonderen, von der Eigenart des Publikums beeinflusst. Schließlich ist der Inhalt der Rede aus der Sicht des Publikums die Ursache für eine bestimmte Angemessenheit. Dem Redeinhalt misst das Publikum einen bestimmten Wert bei. Deshalb muss der Redner, wenn er überzeugen will, auch diesen Wert würdigen. Er wird sachlich sprechen, wenn es sich um Informationen, emotional, wenn es sich um einen gefühlsbewerteten Inhalt handelt. Das Einwirken der Rede auf die Zuhörer gelingt damit am ehesten. Dennoch gilt auch dies: Einem affektiven Publikum gegenüber möge der Redner eher zurückhaltend begegnen, wenn eine Konfrontation drohen könnte. „Zu einem Feuer trage kein Holz herbei.“ (Buch der Weisheit) Der Redner solle ermunternd sprechen, wenn eine rational orientierte Zuhörerschaft anwesend ist. Mit beiden Strukturen von Zuhörergruppen haben Führende in der Wirtschaft

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und Politik zu tun. Wer vor eine aufgebrachte Menge tritt, möge nicht noch Benzin in das lodernde Feuer der Aggression gießen. Wer eine träge Gruppe von Menschen vor sich sieht, kann einige „kleine Eber aus dem Stall“ lassen. Das Angemessene in sprachlicher Hinsicht beginnt mit dem Redestil des Dargebotenen. Der rednerische Ausdruck wird nach Quintilian in drei Stilarten gegliedert: „Es gibt noch eine andere Einteilung, die auch drei Teile umfasst, mit Hilfe derer sich die verschiedenen Stilarten wohl auch richtig voneinander unterscheiden lassen. Denn als erster wird der schlichte Stil festgesetzt (genus subtile), den die Griechen mager, trocken' nennen, als zweiter der Erhabene und Kraftvolle (genus grande), der bei ihnen ,voll, kräftig' heißt, einen dritten fügen sie hinzu, den die einen den mittleren von diesen beiden (genus medium), die anderen aber den blumigen nennen.“36 Der einfache Stil des Redners kommt dem Sprachverhalten des Täglichen am nächsten. Es ist eher eine schmucklose Sprache; eine einfache Wortwahl, ein schlichter Satzbau, ein berichtender, informierender Redestil. Er repräsentiert das Private, Zurückhaltende und vermeidet sprachliche Auffälligkeiten. In dieser Stilart werden Führende sprechen, wenn sie sich an Menschen wenden, denen diese Sprachebene vertraut ist. Der schlichte Redestil wirkt vertrauenerweckend, weil er bekannte Worte und Sprachmuster benutzt, in denen sich der schlichte Zuhörer beheimatet fühlt. Dennoch formuliert der Redner mit sprachlicher Genauigkeit und Deutlichkeit des Ausdrucks. Der schlichte Redestil gibt die beobachtete Lebensrealität wieder, und deshalb ist er gut verständlich. Die Wahl dieser Stilebene wird vom Redegegenstand mitbestimmt, nicht nur von der Erwartung der Zuhörer. Ein einfaches Vorkommnis des Alltags wird auch nur in einfachen Worten beschrieben. Damit erfüllt der schlichte Redestil die innere Angemessenheit des rhetorischen Geschehens. Der mittlere Redestil ist für Führende unseres gesellschaftlichen Lebens die typische Stilart ihres Auftretens. Er ist durch das Bildhafte, durch Gedankenfiguren, durch flüssige geistvolle Impulse gekennzeichnet, die

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den Sprechenden selbst als eine lebendige Persönlichkeit erscheinen lassen. Das Publikum wird die Offenheit, Heiterkeit, aber auch das Ernsthafte des Geistes sparen und in seinem Inneren bewahren. Zum Beispiel: „Die Aufklärung, eine aufschäumende Brandung, aber auch tragende neue Substanz. Allerdings mit einer Überbewertung von Verstand und Vernunft, mit denen man alle Bereiche beherrschen zu können glaubte. Dabei ging die alte Erkenntnis zeitweise verloren, dass das Herz mehr Wahrheit zu schauen vermag, als der Verstand fassen kann. Die Aufklärung haben wir in vielen ihrer Ausgangsformen selbst erlebt, manche von uns sogar schon in den frühen, stürmischeren Phasen. Nun hat sich der Schaum gesetzt. Wir sind ernüchtert, viele sind entsetzt und entmutigt.“37 Der mittlere Redestil tritt uns in beinahe allen Redesituationen entgegen. Er ist vielseitig anwendbar und entspricht auch dem sprachlichen Ausdrucksbedürfnis zahlreicher Führender. Für Persönlichkeiten des politischen Lebens ist er die sprachliche Grundlage, ein breites Publikum zu berühren. Richard von Weizsäcker sagte zum Beispiel: „Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung. Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit. Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft .“38 Der kraftvolle, pathetische Redestil stellt den Redner körperlich und sprachlich als besonders exponiert dar. Im Gestischen, Stimmlichen und Affektiven erscheint er als eine Gestalt, die den Raum mit Dynamik füllt. Über das Publikum bricht ein pathetischer Redestil herein, der, dem Redeanlass angemessen, das Emotionale in seiner ständigen Begleitung weiß. Das genus grande zielt auf die Erregung des Publikums und verfehlt selten sein Ziel. Meistens treffen die effektiven Intentionen auf einen bereits emotionalisierten Zuhörerkreis. Manche Politiker haben diese Stimmungslage benutzt, um ihre manipulativen Absichten zu reali-

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sieren. So sprach Goebbels im Jahre 1943 zur leidgeprüften Bevölkerung der Stadt Kassel. Er sagte: „Ich glaube, wenn in verhältnismäßig kurzer Zeit in unseren Vergeltungsaktionen die Katastrophe über England hereinbricht, wird in Deutschland für das englische Volk keine Träne geweint werden! (Bravo-Rufe, Beifall.) Im Gegenteil. Ich glaube die Meinung des ganzen Volkes auszusprechen, wenn ich von meiner Person sage: Das wird die glücklichste Stunde dieses Krieges für mich werden! (Bravo-Rufe, starker Beifall.) Da handeln wir einmal nicht nach dem Grundsatz: Wenn einer dich auf die linke Wange schlägt, halte ihm die rechte dar, – sondern da werden wir dann gegenschlagen. Und zwar in der Überzeugung, dass das alleine hilft.“39 Der pathetische Redestil erfasst die breite Gefühlslage des Publikums und schleudert es bis zur emotionalen Ohnmacht. Wenn das sittlich gefestigte Fundament des Sprechenden nicht erkennbar ist, verführt dieser Redestil zum Unberechenbaren im zwischenmenschlichen Umfeld. Das religiös und sittlich intendierte Pathos vermag ein Publikum zu Versunkenheit und Zukunftsschau zu geleiten. Martin Luther King trug mit viel Ergriffenheit folgenden Redeteil vor: „Heute sage ich euch, meine Freunde, trotz der Schwierigkeiten von heute und morgen habe ich einen Traum. Es ist ein Traum, der tief verwurzelt ist im amerikanischen Traum. Ich habe einen Traum, dass eines Tages diese Nation sich erheben wird und der wahren Bedeutung ihres Credos gemäß leben wird ... Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt.“40 Alle Redestile werden von der Wirkung des Einzelwortes genährt. Daraus erwächst für den Sprechenden eine Verantwortung im Gebrauch des einzelnen Wortes.

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Wo das Wort seiner wahren Bedeutung beraubt wird, stirbt es den Tod der Manipulation. Deshalb möge der Redner auf den Urgrund des Wortes sehen, um dessen ungetrübten Sinn zu erfassen.

Das tugendhafte Sprechen ist verantwortetes Sprechen. Es weiß um das Wirken des Wortes als eines Elementes, das die Überzeugungsfähigkeit des Redners trägt. Der Manager setzt mit dem treffsicheren Wort ein Zeichen seiner Gedanken- und Sprachnähe. Zugleich weist die genaue Wortwahl auf die Gründlichkeit des Redners hin, die Gedanken so zu vermitteln, wie sie der Zuschauer empfangen soll. Der Mut zur Deutlichkeit ist ein Ausdruck psychischer Stabilität. Denn eine „deutliche Sprache“ meint eine über die Artikulation hinausgehende Offenheit, der möglicherweise eine Konfrontation folgen kann. Der Beifall des Publikums ist ein Bestätigen des rednerischen Könnens, das von dem Gedanklich-Sprachlichen und dem Emotionalen des Redners gebildet wird.

Der Redeschmuck (ornatus) Mit diesem Thema treffen wir in das Zentrum der literarischen Rhetorik. Denn der Redeschmuck, die Schönheit, Lebendigkeit und emotionale Ausstrahlung der Sprache sind zeitlose Kriterien, an denen der Redner vom Zuschauer gemessen wird. Der ornatus verlangt vom Sprechenden eine vielseitige Kunstfertigkeit und Klugheit in der Berührung mit dem Wort. Die Schönheit der Rede, des Gesprochenen, strahlt ein in die Gemüter des Publikums und lässt es nicht mehr los. Ob die Zuhörer, wie es Quintilian ausdrückt, so berauscht sind, dass sie nicht mehr wissen, an welchem Ort sie sich aufgehalten haben – das liegt in des Wortes Macht, Gewalt, aber auch Schönheit. Die Zuschauer hängen noch heute „dem Redner an den Lippen“ und vergessen, mit welcher Absicht sie gekommen waren. Die zuhörenden Menschen haben sich innerlich auf das schöne und edle Wort eingestellt. Sie warten darauf, es von diesem Redner immer wieder zu hören. Und so meint Cicero über den ornatus:

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„Der größte Vorzug der Beredsamkeit liegt aber in der Ausgestaltung eines Themas durch den Schmuck der Rede; sie eignet sich nicht nur dazu, etwas zu steigern und in der Darstellung hervorzuheben, sondern auch zur Abschwächung und Verkleinerung. Das ist bei all den Punkten erforderlich ... einer Rede Glauben zu verschaffen, wenn wir etwas erklären oder Sympathien zu gewinnen oder Leidenschaften zu erregen suchen.“41 Das geschmückte Gewand der Rede, mit dem der Sprechende vor die Zuschauer tritt, vermag den Glauben an das Gesagte wachsen zu lassen. X

Worten, die ein Zuschauer zu hören wünscht, glaubt er leichter.

Diese Erkenntnis, als Postulat an die Führenden in der Politik, Wirtschaft und Kirche gerichtet, legt die Bemühung nahe, den Redeschmuck künftig eindringlicher, lebendiger, bildhafter auszustatten. Um aus der sachlichen Trockenheit, der schwerverständlichen Abstraktion und der oft verworrenen gedanklichen Dunkelheit auszubrechen in die klaren Ebenen des Verständlichen, seien zunächst einige allgemeine Hinweise zum Redeschmuck gegeben. X

Der Redeschmuck ist ein Instrument rhetorischen Führens.  Der Redeschmuck dient der Zielsetzung des Führenden, weil die Wirkung der Worte Zuhörer beeinflusst.  Der Redeschmuck hilft dem Führenden durch angemessene Sprache, die eigene Position zu verdeutlichen.  Der Redeschmuck wird geprägt von dem Anliegen, das der Führende darzustellen wünscht.  Der Redeschmuck ermöglicht es dem Führenden durch Abwechslung, das Publikum vor Langeweile, Überdruss und Abneigung zu bewahren.  Der Redeschmuck erlaubt eine veranschaulichende Art der Darbietung.  Der Redeschmuck erleichtert den Weg der Verständlichkeit für die Zuschauer.

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Der Redeschmuck beginnt beim einzelnen Wort. Hier ist es empfehlenswert, klangvolle Worte zu wählen, deren Inneres von den Vokalen belebt wird. Der Vokal wiederum ist der Herzschlag der einzelnen Silbe. Es klingt eindringlicher zu sagen: „Wir umflochten den Kranz mit Rosen.“

als „ Wir haben um den Kranz Rosen drumgemacht.“

Je klangvoller eine Aussage gefüllt ist, desto mehr schmiegt sie sich in das Ohr und das Gemüt der Zuhörenden ein. In der vokalisch guten Artikulation liegt der Schmuck für das einzelne Wort. Darauf haben wir bereits im Abschnitt „Artikulation“ verwiesen. Noch eine weitere Schmuckgirlande wird um das einzelne Wort gelegt. Der Redner würdigt insofern das Einzelwort, als er selbst neue Wörter bildet und so einem bekannten Wortschatz eigene Wortbildungen hinzufügt. Das kann dann notwendig sein, wenn die Muttersprache das gesuchte Wort nicht anbietet. Dazu ein Beispiel von Cicero: „Neubildungen aber sind die Worte, die der Redende selbst bildet und zustande bringt, entweder durch Verbindung von Worten, wie zum Beispiel hier: ‚Dann raubt Furcht mir jede Einsicht und entgeistert mir den Sinn‘ oder ‚seine falschzüngige Bosheit‘ ...; ihr seht ja, dass ‚falschzüngig‘ und ‚entgeistert‘ Worte sind, die durch Zusammensetzung neu gebildet und nicht von selbst entstanden sind.“42 In der Bildung neuer Worte oder Wortgruppen ist auch für den Manager heute die Chance angeboten, seiner Kreativität Raum zu geben. Doch seine Wirkung als Sprechender wird noch von anderen inneren und äußeren Einflüssen bestimmt, die den ornatus über das einzelne Wort hinaus als elementare geistige und psychische Aktivität des Redners kennzeichnen. Der Redeschmuck wird zum Ausdruck seines gedanklichen und emotionalen Befindens. In dieser Hinsicht ist es für den Manager noch

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mehr bemerkenswert, seine Persönlichkeit in seinem Darstellen und damit in seiner kommunikativen Kompetenz zu begreifen. So legt die Absicht dieses Buches es nahe, den Redeschmuck auch als Ausdruck der kommunikativen Kompetenz des Sprechenden zu betrachten. Wenn auch der Manager als Redner der literarischen Rhetorik mit dem geschriebenen Wort umgeht, bewegen ihn doch Intentionen, die den Redeschmuck zum Ausdruck seiner Persönlichkeit werden lassen. Denn er wird eine Neigung verspüren, sich dem einen Stilmittel mehr zuzuwenden als dem anderen und so in seine Dienste stellen, wonach das Emotionale in ihm verlangt. Es sollte also nicht der Eindruck entstehen, die schriftliche Form der Rede verdecke die Beziehung zwischen Persönlichkeit und Rede. Letztlich geht der Redeschmuck auf emotional Erlebtes zurück und wurde erst später katalogisiert. Die Ironie Die Übersetzung dieses Wortes enthüllt bereits eine affektive Tendenz. Denn „Ironie“ heißt „Verstellung“. Sie ist eine Stilfigur des Spottes. Der ironische Mensch drückt das Gegenteil dessen aus, was er wirklich sagen will. Fast immer handelt es sich um die Kriterien Lob oder Tadel. Die Ironie ist immer eine Form der psychischen Vernichtung des anderen Menschen. Gelegentlich des Zuschauers, wenn eine solche Beziehung dabei ist, sich emotional zu verschieben. Lediglich der Grad des Vernichtens wird unterschiedlich bemessen. Die Anerkennung eines anderen wird in den Augen des Ironischen fraglich. Der ironisch Sprechende geht den indirekten Weg der Auseinandersetzung. Er enthüllt subtil und mit feinen Schnitten seiner Gedanklichkeit das Unzulängliche am Mitmenschen. Die Ironie entwürdigt den anderen. Mit verstelltem Lob kritisiert er: „Sie sind mir ein tüchtiger Mitarbeiter bei Ihrer geringen Bereitschaft zu Überstunden.“

Mit verstelltem Tadel lobt er:

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„Sie sind ja in diesem Jahr nur dreimal zu spät zur Arbeit gekommen – trotz Ihres Alkoholkonsums.“

Der Tonfall des Vortragenden gibt die Ironie stimmlich zu erkennen. Das Lächerlichmachen unter dem Anschein des Ernsthaften als Wesensmerkmal der Ironie weist noch intensivere Stufen des Verletzens auf. Die Bitterkeit des Zwischenmenschlichen bekommt jener zu spüren, der zum Opfer des sarkastischen Redners wird. Der bittere, beißende Spott im Sarkasmus nimmt keine Rücksicht auf die Empfindsamkeit des Zuschauers. Mancher Manager verwendet sarkastische Bemerkungen zur Eigenprofilierung vor dem Publikum und erhält keine Sympathien. Wer über die beißenden Bemerkungen eines sarkastischen Redners lacht, möge nicht zu laut lachen, denn er selbst könnte das nächste Mal das Opfer sein. Die vermeintlich komische, in Wahrheit jedoch sehr schmerzliche Vernichtung des Zuhörers geht auf die nur begrenzt entwickelte Fähigkeit des Redners zu offenem Schlagabtausch zurück. X

Wer häufig Ironie erkennen lässt, scheut die offene emotionale Auseinandersetzung.

Ironie ist die Emotionalität des intellektuellen Menschen. Die Konfliktfähigkeit des Ironikers geht heimliche Wege. Der emotionale Heckenschütze sieht kaum einen anderen Weg, sich zu erkennen zu geben als den, auf dem er sich sicher fühlt. Denn die Ironie ist ein Produkt seiner in das rationale Selbstverstehen fehlgeleiteten Gefühlsimpulse. Sie ist eine unbewusste Rache am Mitmenschen, eine unbewusste Bestrafung des emotionalen Vermögens des anderen Menschen. X

Andere Menschen lächerlich zu machen, ist verwerflich, weil es eine Erniedrigung bedeutet.

Aus ethischer Sicht ist die Ironie als Redeschmuck nur begrenzt einsetzbar. Sie ist es, wenn die Intention des Redners beim Publikum bekannt ist und die Zuhörer den Sprecher richtig interpretieren können. Sie ist erlaubt, wenn ein Mensch durch die ironischen Bemerkungen sein Gesicht nicht verliert.

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Der Euphemismus Bei diesem Redeschmuck in der öffentlichen wie internen Rede handelt es sich um eine Ausdrucksweise, die in mildernder oder beschönigender Weise umschreibt, was vom Publikum als unangenehm oder anstößig empfunden werden könnte. Diese „Schönrede“ bedeutet etwas Verhüllendes. Wie ist das zu bewerten? Das euphemistische Sprechen kann eine sittliche Verantwortung ausdrücken. Wenn der Zuhörerkreis, z. B. eine Trauergemeinde, in seelischem Schmerz verharrt, ist es ein Ausdruck von Rücksichtnehmen, nicht noch sprachlich zu vertiefen, was ohnehin alle empfinden und wissen. Hier wird der Redner sogar mit dem Euphemismus seine sprachliche Kreativität beweisen können, positive, mildernde Ausdrucksformen einfließen zu lassen. Er wird vielleicht von dem Entschlafenen oder dem Dahingegangenen sprechen, wenn er den Toten meint. Der Respekt vor der Gefühlslage des Publikums rechtfertigt eine euphemistische Redeweise. Auch die sittliche Achtung vor der persönlichen Not eines noch lebenden Menschen gebietet die Verwendung des Euphemismus. Bei der Schilderung eines Verbrechens z. B. wird der Redner aus persönlichen und fremden Schamgefühlen heraus die Demütigungen, die ein Verbrechensopfer erleiden musste, mit vorsichtiger Wortwahl schildern. Vielleicht sagt er, um die körperliche Zwangsentblößung einer Frau zu beschreiben, sie sei ihres letzten Kleidungsstückes beraubt worden. Oder: Er könnte sagen, sie sei so gefunden worden, wie Gott sie geschaffen habe. Der Euphemismus erfüllt eine ethische Funktion, wenn er die Würde der menschlichen Individualität bewahrt. Der Redner wird in solcher Weise des Sprechens auf das Publikum glaubwürdig und seriös wirken. Die moralische Intention des Redners wird Wirkkraft seines Überzeugenkönnens. Dagegen erscheint der Euphemismus als Redeschmuck bedenklich, wenn das verhüllende Element in ihm ein Ausdruck der Verdrängung ist. Hier definieren wir „Verdrängung“ als ein bewusstes Vergessen, ein vorsätzliches Beiseiteschieben. Der Euphemismus wird so zu einer neurotisierten Form des Darstellens von Lebensrealität. Dem euphemistischen Redner fehlt der Mut zum Anschauen des Realen.

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Das Tabu wird zur Nahrung des Euphemismus.

Falsche Scham- und Schuldgefühle, Angst vor der Konfliktbegegnung mit ihren möglicherweise extremen emotionalen Ausprägungen hindern den Redner daran, das Unangenehme beim Namen zu nennen. Der Zuhörer wird getäuscht, die Realität verhüllt, verborgen. Zwar deutet das sprachliche Zeichen darauf hin, dass Bedenkliches existiert. Doch die Erhaltung einer Pseudo-Harmonie lässt den Redner zum Peinlichen schweigen. Damit ist die Bedingung für eine Verdrängung erfüllt: Denn verdrängt werden peinliche, unangenehme, lästige Erlebnisinhalte. Das Ergebnis ist eine gestörte Realitätsbeziehung. Im Verhüllen liegt das Manipulative. Beim Wort „Kernkraftwerk“ wird die nicht erwünschte Assoziation zu „Atomkraft“ angestrebt. Bei „Schwangerschaftsunterbrechung“ das sittliche, emotionale, medizinische Geschehen verharmlost. Zudem ist die Bezeichnung unlogisch. Eine „Unterbrechung“ lässt eine Fortsetzung vermuten. Bei der Abtreibung aber gibt es keine Fortsetzung der Schwangerschaft. Darin liegt das Manipulative, das schrittweise Bagatellisieren dieses Tuns. Ebenso verhält es sich mit dem Euphemismus „Fristenlösung“. Es klingt so, als gäbe es hierbei eine Lösung. Uns schiene eine Bezeichnung wie „Verfahren“ eher angemessen. Beim Begriff „Endlösung“ wurden die Menschen schon einmal betrogen. Der Sprechende möge daher bei der Konzeption einer Rede den ornatus des Darzubietenden besonders prüfen. Denn: X

Der Euphemismus fördert auch die Lebenslüge.

Die Periphrase In die Stilkategorie der Umschreibungen gehört auch die Periphrase bzw. Paraphrase. Dieses Ausdrucksmittel umschreibt einen Begriff, eine Person oder Sache durch kennzeichnende Eigenschaften. Es ist eine „uneigentliche“ Redeweise, mit der vermieden werden soll, anstößige, abgegriffene, alltägliche oder niedrige Ausdrücke zu verwenden. So kann ein Redner „vom Pfeile Amors getroffen“ sprechen, wenn er „Verliebtsein“ meint. Oder ein politischer Redner spricht „von den Mächtigen in Berlin“ und meint die Bundesregierung. Die Periphrase ist als Stilmittel gut geeignet, wenn sie in den rednerischen Ausdruck Abwechslung, neue Asso-

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ziationen und sprachliche Originalität einbringen will. Sie trägt in dieser Hinsicht eine kreative Intention in sich. Dadurch verhindert sie mit, beim Publikum Langeweile aufkommen zu lassen. Mit der Periphrase weist auch der Redner seine sprachschöpferischen Absichten nach, sich bei der Erarbeitung der Rede um stilistische Lebendigkeit bemüht zu haben. Bedenken äußern wir über die Periphrase zunächst aus syntaktischer Sicht. Redner mit einer Tendenz zur Selbstdarstellung werden in den Sog der Weitschweifigkeit gezerrt. Nicht selten meinen Manager, ihre Hierarchiestufe erlaube eine „standesgemäße“ langatmige Darstellung. So taumeln sie von einer Periphrase in die andere, wobei sie sich zu immer neuen Ausführlichkeiten selbst ermuntern. Die Periphrase kann zwar aus Gründen der Höflichkeit verletzende und möglicherweise anstößige Bemerkungen umgehen. „Putzfrau“ wird häufiger als der „gute Geist in Haus und Küche“ umschrieben. Das sozial Erniedrigende wird damit ein wenig aufgehoben. Auch um eine psychisch verletzende Art zu vermeiden, kann jemand die „Ehekrise“ mit „die Partnerschaft befindet sich schon lange nicht mehr im Stadium der Harmonie“ bezeichnen. Doch letztlich ist auch die Periphrase eine Flucht vor dem Blick in das Reale. Das Verbergende, das sie charakterisiert, ist eine selbstgeschaffene Erleichterung, mit kritischen Lebensinhalten erträglich umgehen zu können. Die direkte Ansprache von Konfliktinhalten muss nicht zwangsläufig konfrontierend und negativ wirken. Wie ein Redner kritische Lebensinhalte thematisiert, hängt sehr von seiner Ausstrahlung und der stimmlichen Vermittlung des Unangenehmen ab. Er muss sich nicht stets der Periphrase bedienen, um die Lebensrealität verschwommen darzustellen. Im Übrigen besteht die Gefahr der Fehlinterpretation durch das Publikum. Die Zuschauer assoziieren längst nicht immer die erwünschten Vorstellungen, die der Sprechende intendiert. Es ist daher sehr wichtig, die Periphrase sorgfältig und verantwortungsvoll zu handhaben. Das Hyperbaton Eine Stilfigur, die den Redeschmuck des Gesprochenen zunächst formal auffallend berührt, ist das Hyperbaton. Aus dem Griechischen können

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wir es mit „Umsetzung, Umstellung, Versetzung der Wörter, der Redeglieder“ übersetzen. Es ist ein Abweichen von der üblichen Wortstellung innerhalb eines Satzes. Die übliche Folge Subjekt, Prädikat, Objekt wird aufgelöst. Auch sonst zusammengehörende Wortgruppen wie Adjektiv und Substantiv werden umgestellt. Zum Beispiel: Der Satz „Viele Soldaten befinden sich bei der Mittelmeerflotte.“ kann nun durch die Umstellung einzelner Wörter eine neue Gewichtung erhalten. Zum Beispiel: „Bei der Mittelmeerflotte befinden sich viele Soldaten.“ Oder: „Der Soldaten viele befinden sich bei der Mittelmeerflotte.“ Oder: „Es befinden sich viele Soldaten bei der Mittelmeerflotte.“ Die Beziehung zwischen Adjektiv als beigeordnetem Wort und Substantiv kann andere Aspekte in eine inhaltliche Betrachtung bringen. Zum Beispiel: Der Satz „Hilflose, unsichere Asylbewerber kamen über die Grenze.“ kann verändert werden, indem der Sprechende sagt: „Über die Grenze kamen hilflose, unsichere Asylbewerber.“ Oder: „Die Asylbewerber, die über die Grenze kamen, waren unsicher, hilflos.“ Im Hyperbaton wird die Wortfolge aus ihrer natürlichen Ordnung geführt und in ein neues syntaktisches Verständnis gelenkt. Das ist das formale Bild. Zugleich jedoch gibt der Redner seine Absicht zu erkennen, seinen Gedanken im Bewusstsein der Zuschauer ein anderes Gewicht zu verleihen. So fließen im Hyperbaton durch den Wechsel der Wortstellung formales Erscheinen und inhaltliches Betonen ineinander über. Der Redner erreicht dadurch eine formalstilistische und eine inhaltliche Abwechslung in der Darstellung seiner Gedanken. Die Aufmerksamkeit des Publikums wird dadurch immer wieder an den Sprechenden gebunden. Die Hyperbel Sie bezeichnet ein Übermaß im sprachlichen Ausdruck. Ihr Stilwert ist zwiespältig zu sehen. Ihr Wortursprung aus dem Griechischen verrät die innere Dynamik dieser Stilerscheinung: „Darüberhinauswerfen“. Die Hyperbel ist entstanden aus dem emotional natürlichen Umgang des

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Redners mit Erlebtem. Die Steigerungen, die er mitteilen will, sind ein Ausdruck seines Empfindens. Das, was ihn innerlich besonders bewegt, schlüpft in die Übertreibung in seiner Aussage. Die übertriebene Darstellung geht den Weg des Vergrößerns oder des Verkleinerns. Das wird bestimmt von der emotionalen Beziehung des Redners zum Erlebnisinhalt. Die Hyperbel ist eine affektive Redefigur. Sie gibt den Zustand des Erregtseins wieder, indem sie zu sprachlichen Mitteln greift, die nur aus dem Erleben des Redners zu verstehen sind. So kann der Sprechende z. B. Adjektive einfließen lassen, die eine Steigerung der Aussage veranschaulichen. Von „blitzschnell und blitzgescheit, seidenzart und himmelhoch, tausendfach und millionenschwer“ bis zur Übersteigerung gegenwärtig erkennbarer Adjektive wie „irre, wahnsinnig, toll, supergeil und affig“. Dies ist ebenso an Wendungen sichtbar, in denen Substantive als Übertreibungen auftauchen. „Der Balken im eigenen Auge“, „der erste vernünftige Mensch, der mir je begegnet ist“, „ein Fest, das es noch nie gegeben hat“. Eine eindringliche Darstellung wird auch die Zuhörer in ihrem Gefühl erreichen und vielleicht manches Identifikationsangebot unterbreiten. Mit der Hyperbel gelingt es vor allem, die eigene Stimmung des Redners anklingen zu lassen und sie unter den Zuschauern zu verbreiten. Das Emotionale des Redners steckt oft auch die Zuhörer an. Wie aber steht es mit einer angemessenen Schilderung von Ereignissen? Für Manager ist die Hyperbel eine Stilfigur, mit der sie sehr behutsam umgehen mögen. In die Schilderungen innerbetrieblicher Ereignisse fließen oft Sympathie- und Antipathiewerte ein. Das Geschilderte erscheint „gefärbt“, wird übertrieben oder heruntergespielt. Die hyperbolische Darstellungsweise wird ohnehin schon kritische Inhalte noch verschärfen, weil manches zündende Wort das Feuer des Streitens neu entfachen kann. Deshalb kann sie wegen ihrer übertreibenden Tendenz dauerhaft auf Ablehnung stoßen. Das Extreme in der Schilderung einer Person, einer Eigenschaft oder einer Sache wird die Abwehr

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des Publikums hervorrufen, weil es die Empfindungen des Sprechenden nicht nachvollziehen kann. X

Hyperbolische Darstellungen werden oft als unglaubwürdig empfunden.

Aus der Übertreibung schimmert das Oberflächliche hindurch. Die Hyperbel kennt kaum das Feine im emotionalen Erleben. Wenn ein Redner alles Erlebte als „toll und super“ bezeichnet – wo bleibt dann seine emotionale Differenzierung? X

Das einstmals Originelle wird abgegriffen und zu einer nichtssagenden Floskel entleert.

Die Chance des Ungewöhnlichen in der rhetorischen Darstellung wird zur Farce eines verblassten Erlebens. Bei aller Anschaulichkeit der Hyperbel und ihrer Intensivierung der emotionalen Angebote bleibt sie eine überlärmende Redeweise. Ihr Wert liegt darin, starr Gewordenes zu beleben und vorübergehende Effekte zu erzielen. Doch groß ist die Gefahr, dass lebendig Gemeintes wieder zu Umgangssprachlichem erstarrt. Das Anschauliche in der Rede Schon in der angewandten Rhetorik ist das bildhafte Sprechen angeklungen. Es ist auch in der literarischen Rhetorik der bedeutendste Redeschmuck, denn die Zuschauer bewerten das Dargebotene nach der Eindringlichkeit des Anschaulichen in der Rede. X

Die anschauliche Darbietung drückt die Lebensnähe des Gesagten aus.

In Führungskreisen ist die Neigung zur Abstraktion allseits erkennbar. Viele Sprechende verwirklichen in ihren Reden ihren intellektuellen Anspruch an sich selbst, ohne nach den Erwartungen des Publikums zu fragen. Das begeisterte Echo der Zuhörenden bleibt oft aus, weil sie dem Redner nur bedingt folgen konnten und wollten. Redner, die abstrakt sprechen, lassen ihr Publikum oft mit sich allein. Ein verlassener Zuhörerkreis aber geht gern eigene gedankliche Wege. Wir haben beobachtet, dass die Neigung zur Abstraktion oftmals eine Flucht ist. Abstrakte Red-

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ner fliehen vor der direkten Begegnung mit der Lebensrealität. Sie errichten ein Denkgebäude, in dem sie sich mit wenigen anderen aufhalten. Durch die Abstraktion zieht sich der Sprechende von den Zuhörern auf sich selbst zurück. Häufig umgibt er sich mit einer unsichtbaren Mauer, über die niemand steigen darf. So vermittelt der Redner durch seine Abstraktionen persönliche Distanz. Die Distanz aber macht den Vortragenden unerreichbar für die menschlichen Erwartungen des Publikums. X

Wer für einen anderen Menschen nicht erreichbar ist, ist für ihn auch nicht berechenbar. Wer aber nicht berechenbar ist, erzeugt und verbreitet Angst.

Die unbewusste Angst vor dem Direkten des Mitmenschlichen mag manchen Redner veranlassen, sich in das abstrakte Gebälk zu versteigen. Manager verlieren an Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit, wenn sie in ihren Reden nicht begreifbar sind. Das anschauliche Sprechen dringt in die Zuschauer ein. Es beginnt mit Reizworten, die der Redner wählt, um die Aufmerksamkeit des Publikums rasch zu gewinnen. Unter einem „Reizwort“ verstehen wir einen emotional besonders stark belegten Begriff. Dies kann ein Name oder ein Ereignis sein. Franz Josef Strauß wurde einmal gefragt, was er von den Grünen halte. Er antwortete sinngemäß: Grüne sind Rote, die noch nicht reif sind. Gewiss gilt es, bei der Verwendung von Reizworten selbst empfindsam genug zu sein, um auch die Wahrnehmung der Zuschauer zu erspüren. Reizworte dürfen nicht in verletzender Absicht gebraucht werden. Dennoch liegt im Reizwort der emotionale Rest aufbewahrt, der zu ihrer Entstehung geführt hat. Das Anschauliche in der Rede ist eine Reproduktion des Inbildlichen, das im Laufe des Lebens im Redner geworden ist. Wer das Leben in seiner aussagefähigen Fülle erfahren hat, gestaltet es auch in seiner rednerischen Bildwelt. Das Anschauliche ist die Eigenschöpfung des Redners, wenngleich sie von der Außenwelt entliehen ist. Im Bildhaften entfaltet sich die Erlebniswelt zu neuer Anschaulichkeit und verdichteter Gegenständlichkeit. Das Bild ist das assoziative Angebot des Sprechenden an das Publikum. Die Übertragung des Abstrakten in das Bildhafte ge-

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schieht in der metaphorischen Redeweise. Die Metapher ist ein verkürztes Gleichnis, ein bildlicher Ausdruck, der Worte aus einem Bedeutungszusammenhang auf einen anderen überträgt und damit das Vergleichende zwischen beiden bildhaft ausdrückt. So kann Belebtes auf Belebtes übertragen werden – z. B. „Blutsauger“ für einen skrupellosen Ausbeuter. Es kann Lebloses auf Lebloses übertragen werden – z. B. „Landschaftskleid“. Es kann Lebloses auf Belebtes übertragen werden – z. B. „Hafen der Ehe“ für Heirat. Es kann Belebtes auf Lebloses übertragen werden – z. B. „Zahn der Zeit“, „Auge des Gesetzes“, „der Rücken des Berges“. Um die Rede metaphorisch gestalten zu können, ist für den Sprechenden ein Umdenken notwendig. Dieses Umdenken gelingt nur, wenn der Redner seine abstrakte Aussage in einen praxisnahen Bezug setzt. Die Praxisnähe wiederum wird aus dem eigenen Erleben gespeist. Für manche Führende wird es notwendig sein, den bildhaften Ausdruck zu üben. Dafür können die Gleichnisreden Jesu im Neuen Testament eine gute Anleitung bieten. Gleichnisse und Vergleiche sind in der Methode der Redegestaltung die konstruktiven Abweichungen von einem sonst glatten und flachen Redestil. Sie wollen gründlich vorbereitet sein. Das vergleichende bildhafte Sprechen wirkt umso eindringlicher, je deutlicher die Bilder aus dem Leben der Zuschauer gewählt sind. Im Übrigen seien die Gedanken auch hier angesprochen, die bereits bei der angewandten Rhetorik dargelegt wurden. Das Eindringliche in der Rede Nicht nur anschauliche Aussagen wirken als Redeschmuck eindringlich. Daneben und mit ihnen verwoben ist manche spezielle Form des Einwirkens auf die Zuschauer. So auch die Apostrophe. Wir verstehen darunter die Abwendung oder das Wegwenden des Sprechenden vom anwesenden Publikum hin zu einem plötzlich gewählten anderen Publikum oder zu etwas außerhalb des Publikums Befindlichem. Das außerhalb Existierende kann eine nicht anwesende noch lebende Person sein; es kann sich der Redner aber auch etwas Gegenständlichem zuwenden und mit diesem in fingierter Weise sprechen. Die Apostrophe in der Rede drückt etwas Pathetisches aus. Es wirkt überraschend für ein Publikum, wenn der Redner die direkte Zuwendung zu den Zuhörern aufgibt und mit einer

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anderen Person oder einem Gegenstand spricht. Mancher Prediger z. B. richtete seinen Blick plötzlich zum Himmel und wandte sich an Gott oder einen Heiligen, um eine Klage oder Bitte zu formulieren. Redner, die in Erinnerungen schwelgen, können einen Gegenstand ansprechen und z. B. mit einer alten Truhe, die in einer Ecke des Raumes steht, über Vergangenes sprechen. Es hat Manager gegeben, die mit dem Bild des Firmengründers, der von der Wand herabschaute, gesprochen haben, um die stumme Anwesenheit zu dramatisieren. Gewiss kann das Pathetische dabei überzogen wirken – aber von Eindringlicherem wird es kaum übertroffen. Dieses Stilmittel verwendet die vorübergehende Ignoranz gegenüber dem anwesenden Publikum dazu, um das Interesse später in noch stärkerer Weise zu steigern. Darüber hinausgehend besteht der Sinn der Apostrophe in einem Verinnerlichen, also emotionalem Steigern des gesamten Redegeschehens und damit in einer eindringlicheren Wirkung auf die Anwesenden. Das Eindringliche in der Rede wird in ebensolcher Weise verstärkt durch die fictio personae. Diese Gedankenfigur des Redners entstammt seiner Einbildungskraft. Sie lässt vor sein geistiges Auge Personen oder Dinge treten, die nicht wirklich vorhanden sind und ihn mit einer so lebhaften Vorstellungskraft erfüllen, dass er lebendig mit ihnen sprechen kann oder sie sprechen lässt. Für das Publikum ist diese Personifikation des Abstrakten besonders beeindruckend, weil das affektive Element der Rede überraschend und außergewöhnlich erscheint. So kann der Sprechende seiner Phantasie freien Lauf lassen, wenn er z. B. Personen – erfundene, noch lebende oder verstorbene – sprechen lässt. „Während ich im Wartezimmer saß, kam plötzlich mein längst verstorbener Großvater auf mich zu, nahm mich bei der Hand und sagte: Hab keine Angst! Er sagte es mit einer so beruhigenden Stimme, dass meine Furcht tatsächlich rasch verflogen war.“ Für das Publikum warten in der fictio personae so viele Identifikationsangebote, dass der Sprechende häufiger von dieser Redefigur Gebrauch machen sollte. Nicht nur in der poetischen Rede ist sie beheimatet, sondern auch in den emotionalisierten Phasen politischer oder wirtschaftlicher Redeangebote.

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Der Ausruf als Form des eindringlichen Sprechens bedarf wohl keiner so gründlichen Vorbereitung. Dennoch erscheint es sinnvoll, ihn als Stilfigur der Rede richtig zu platzieren, um seine Wirkung nicht zu verfehlen. Persönlich halten wir mehr von spontanen Ausrufen als von vorbereiteten, weil sonst das Künstliche zu sehr dominiert. Das Unechte aber erscheint wenig überzeugend. Die Frage – interrogatio – verbindet die angewandte mit der literarischen Rhetorik. Der Redner erwartet keine Antwort auf seine Frage. Er wird dieses Stilmittel anwenden, wenn er eindringlich und emotional wirken will. Als besonders manipulativ sind jene rhetorischen Fragen zu bezeichnen, die Goebbels in seiner Rede am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast vorgetragen hat. Dieser Teil der Rede sei hier zitiert. Goebbels fragte: „Ich frage Euch: Glaubt Ihr mit dem Führer und mit uns an den endgültigen Sieg der deutschen Waffen? Seid Ihr entschlossen, dem Führer in der Erkämpfung des Sieges durch dick und dünn und unter Aufnahme auch der schwersten persönlichen Belastungen zu folgen? Ich frage Euch: Seid Ihr bereit, mit dem Führer als Phalanx der Heimat hinter der kämpfenden Wehrmacht stehend, diesen Kampf mit wilder Entschlossenheit und unbeirrt durch alle Schicksalsfügungen fortzusetzen, bis der Sieg in unseren Händen ist? Ich frage Euch: Soldaten, Arbeiter und Arbeiterinnen, seid Ihr und das deutsche Volk entschlossen, wenn der Führer es einmal in der Notzeit befehlen sollte, zehn, zwölf, wenn nötig vierzehn und sechzehn Stunden täglich zu arbeiten und das Letzte für den Sieg herzugeben? Ich frage Euch: Wollt Ihr den totalen Krieg? Wollt Ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt erst vorstellen können? Ich frage Euch: Vertraut Ihr dem Führer? Ist Eure Bereitschaft, ihm auf allen seinen Wegen zu folgen und alles zu tun, was nötig ist, um

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den Krieg zum siegreichen Ende zu führen, eine absolute und uneingeschränkte? Ich frage Euch: Seid Ihr von nun an bereit, Eure ganze Kraft einzusetzen und der Ostfront, unseren kämpfenden Vätern und Brüdern, die Menschen und Waffen zur Verfügung zu stellen, die sie brauchen, um den Bolschewismus zu besiegen? Ich frage Euch: Gelobt Ihr mit heiligem Eid der Front, dass die Heimat mit starker, unerschütterlicher Moral hinter der Front steht und ihr alles geben wird, was sie zum Siege nötig hat? Ich frage Euch: Wollt Ihr, dass die Regierung dafür sorgt, dass auch die letzte Arbeitskraft, auch die der Frau, der Kriegführung zur Verfügung gestellt wird, und dass die Frau überall da, wo es nur möglich ist, einspringt, um Männer für die Front freizumachen? Ich frage Euch: Billigt Ihr, wenn nötig, die radikalsten Maßnahmen gegen einen kleinen Kreis von Drückebergern und Schiebern, die mitten im Kriege Frieden spielen wollen und die Not des Volkes zu eigensüchtigen Zwecken ausnutzen? Seid Ihr damit einverstanden, dass, wer sich am Kriege vergeht, den Kopf verliert? Und nun frage ich Euch zuletzt: Wollt Ihr, dass, wie das nationalsozialistische Parteiprogramm das vorschreibt, gerade im Kriege gleiche Rechte und gleiche Pflichten vorherrschen, dass die Heimat die schwersten Belastungen des Krieges solidarisch auf ihre Schultern nimmt, und dass sie für hoch und niedrig und arm und reich in gleicher Weise verteilt werden?“43 (Alle Fragen wurden mit frenetischem Beifall bejaht.) Der Zweifel – dubitatio – ist eine zwiespältige Redefigur, weil es nach einer vorbereiteten Rede schwer ist, einem Publikum verständlich zu machen, dass der Redner unsicher, hilflos und zögerlich sei. Denn die Zuschauer kommen mit Erwartungen zu einer angekündigten Rede. Glaubwürdiger könnte ein Redner sein, der unter spontanen Redebedingungen mit leichten Selbstzweifeln beginnt, ob er denn den Ansprüchen

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dieses Publikums entsprechen werde. In dieser Hinsicht besitzt der Selbstzweifel durchaus eindringliche Tendenzen. Die Gestaltung durch Wortfiguren Die literarische Rhetorik hält für den Sprechenden einige Wortfiguren bereit, die ihm bei der lebendigen Gestaltung seines sprachlichen Ausdrucks helfen können. Auch die Wortfiguren sind Widerspiegelungen der emotionalen Beziehung zum einzelnen Wort und seinem Wert. Die Verdoppelung – geminatio – ist eine Wortwiederholung, die wegen ihrer intensivierenden Wirkung am Beginn gut geeignet ist. Denn die Wortwiederholung steigert die Aufmerksamkeit der Zuhörenden. Zum Beispiel: „Sie alle haben, Sie alle haben sich zu diesem Tun bekannt!“

Ebenfalls eine Verdoppelung ist die Anadiplose. Sie jedoch verdoppelt am Ende eines Satzes, indem sie das zuletzt verwendete Wort an den Anfang des nächsten Satzes oder Abschnittes stellt. Auch sie ist eine Verstärkung des gewählten Ausdrucks und zudem eine Gedächtnisbrücke für den Sprechenden. Übrigens eignet sich die Anadiplose sehr für die freie Rede, da sie eine sehr gute Gedankenstütze durch die Wortwiederholung für den folgenden Gedanken bildet. Zum Beispiel: „Die Arbeitslosigkeit schafft keine Entspannung. Entspannung aber benötigen wir auf dem Markt dringend.“

Die Klimax setzt die Anadiplose fort, indem sie eine stufenweise Steigerung des inhaltlichen Ausdrucks anstrebt. Das klassische Beispiel hierfür ist das Caesarwort: „Ich kam, sah und siegte.“ Aber auch im rednerischen Alltag eignet sie sich hervorragend für steigernde Aussagen. Zum Beispiel: „Seine Mitgliedschaft brachte ihm Ansehen, sein Ansehen brachte ihm Macht und seine Macht schließlich den Ruin.“

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Wortwiederholungen haben eine vertiefende Wirkung auf das Publikum. Das gilt auch für die Anapher. Wir verstehen darunter die Wortwiederholung jeweils am Anfang mehrerer aufeinanderfolgender Sätze. Zum Beispiel: „Ruhig verlief die Fahrt zum Kaufhaus. Ruhig war es in der Tiefgarage. Ruhig auch in der Herrenabteilung, in der ich mir den Mantel kaufte.“

Die Epipher ist eine Umkehr der Anapher. Sie bezeichnet eine Wortfigur, bei der am Schluss mehrerer aufeinanderfolgender Sätze dasselbe Wort steht. Zum Beispiel: „Die Wiedervereinigung begann in Berlin. Am größten war die Freude in Berlin. Am meisten habe ich geweint in Berlin.“

In der Epanalepse begegnen wir einer Redefigur, die dasselbe Wort am Beginn und am Schluss eines Satzes oder einer Sequenz vorsieht. Zum Beispiel: „Die Gläubigen verharrten lange im Gebet; auch der Lärm konnte sie nicht stören, die Gläubigen.“

Die Epanode wird in der Prosaschilderung der Rede nicht oft auftauchen. Mit ihr ist die Wiederholung in umgekehrter Wortfolge gemeint. So wird das erste Wort wieder zum letzten. Zum Beispiel: „Fröhlich tanzten Kinder, Kinder tanzten fröhlich.“ Oder: „Die Todesstrafe zu vollziehen, ist unmoralisch; deshalb stimmen Christen gegen die Todesstrafe.“

Die Verwendung von Synonymen – von bedeutungsnahen Worten – bringt Abwechslung in den stilistischen Rhythmus des Redners. Auch der Zuhörer empfindet eine wortschatzreiche Formulierung als locker, vielseitig und belebend. Als methodische Hilfe ist der Gebrauch eines Synonymwörterbuches zu empfehlen.

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Das Asyndeton – das Unverbundene – drückt meistens die Hektik und Anspannung des Geschilderten aus. Eine Reihe gleichgeordneter Wörter wird ohne verbindende Konjunktion hintereinander aufgeführt. So kann das Asyndeton besonders eindringlich wirken. Zum Beispiel: „Der Fremdenlegionär betrat die Gaststube, stampfte, brüllte, stierte, fiel zusammen.“

Das Polysyndeton ist der Gegensatz zum Asyndeton. Mit ihm wird die eindringliche Schilderung durch Anhäufen derselben Konjunktion erreicht. Zum Beispiel: „Das Gewitter war vorüber, und die ersten Würmer krochen hervor, und die Vögel begannen wieder zu singen, und die Luft war rein, und alles Leben atmete auf.“

Bei der Aposiopese – dem Redeabbruch – wird der Zuhörer um besondere Aufmerksamkeit gebeten, denn der Redner unterbricht inmitten der Rede und lässt den Zuhörer das Fehlende ergänzen. Dem Redner fehlen vor affektbetontem Sprechen gleichsam die Worte. Zum Beispiel: „Sie haben alles gehört. Wenn Sie jetzt nicht handeln, dann, ja dann ...“

In plakativen und appellativen Aussagen der Rede wirkt die Alliteration besonders verstärkend. Gemeint ist derselbe Anlaut vor allem von Substantiven, die dadurch paarweise zugeordnet werden können. Zum Beispiel: „Wind und Wetter – Macht und Moral – Land und Leute.“

Schließlich sei noch einmal auf die Wiederholung als Stilelement verwiesen. Nicht nur das Wiederholen einzelner Worte einer Rede ist gemeint. Auch Gedanken, Sentenzen, Meinungen, immer wieder während der Rede in Erinnerung gebracht, verstärken das Interesse am Gesagten.

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4. Das Einüben der Rede (exercitatio) Das Vortragen des geistig Erarbeiteten setzt zunächst das Einprägen der Rede voraus. Die in der antiken Rhetorik mit „memoria“ bezeichnete Erinnerung und Gedächtnisleistung des Sprechenden hat auch heute noch nichts von ihrer Dringlichkeit und Notwendigkeit verloren. So bleibt die Ermahnung Ciceros bestehen, wenn er sagt: „Was soll ich aber davon reden, welchen Vorteil das Gedächtnis dem Redner bringt, wie groß sein Nutzen, seine Wirkung ist? Dass man behält, was man bei der Information über den Fall erfahren und was man selbst gedacht hat? Dass sämtliche Gedanken fest im Bewusstsein bleiben? Dass alle Ausdrucksmittel wohl geordnet sind? Dass man demjenigen, von dem man informiert wird, oder dem, auf den man zu antworten hat, so aufmerksam zuhört, dass es den Anschein hat, als dringe ihre Rede gar nicht in die Ohren, sondern präge sich der Seele ein? So wissen denn nur Leute mit zuverlässigem Gedächtnis, was, wie lange und in welcher Art sie reden werden, was sie bereits erwidert haben und was noch zu sagen bleibt.“44 Der in der Rhetorik Übende – namentlich die Führenden – möge sich in seinem Vortragsstil immer wieder beobachten. Wer selten spricht, ist es sich selbst und dem Publikum schuldig, sich besonders gründlich vorzubereiten. Damit meinen wir, den Redetext beinahe auswendig zu beherrschen. Ein häufig gelesener Text fließt eben leicht von den Lippen. Da im gegenwärtigen Bildungssystem auf Vorlesen, Vortragen, Auswendiglernen und Rezitieren kaum noch Wert gelegt wird, ist die Selbsthilfe, das Selbsttraining dringend erforderlich. Viele Reden der Gegenwart verlieren an Profil, weil der Sprechende sie unangemessen (höflich gesagt) vorträgt. Wer seinen Redetext kennt, ihn sich eingeprägt hat, geht auch mit dem Geschriebenen souverän um. Mit dem Einüben der Rede ist allerdings noch eine andere Verpflichtung verknüpft: das redaktionelle Erarbeiten weiterer Texte als Stilübung. Manager, die in der Öffentlichkeit zu sprechen haben, brauchen eine enge Beziehung zum geschriebenen und gesprochenen Wort. Wenn Sie selbst

Einüben der Rede

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kleinere Schriften verfassen, erleben Sie das geschriebene Wort in seinem tieferen Wert. Der tiefere Wert des einzelnen Wortes wird einen weiteren Erkenntnisprozess einleiten, der sich wiederum auf ein neues Verstehen von Sprache besinnt. Sprache wird dann für Sie zum Abbild von Erkanntem und Reproduzierbarem. Die schon früher angesprochene Selbstverdeutlichung des Redners setzt im Schriftlichen Zeichen seines Welt- und Lebensverständnisses. Die Lernenden früherer Zeiten haben sich stets mit der Lektüre geistiger Autoritäten beschäftigt, um noch tiefer in die philosophischen Aussagen einzudringen. Das Bildungsgespräch war während vieler Jahrhunderte fester Bestandteil der humanistischen Bildung. Dem geistigen Einüben der Rede ging das geistige Verstehen des Gesagten voraus. Das, was die großen Autoren zu sagen haben, ist eine Hilfe für die Suchenden. Denn die Philosophen, Kirchenlehrer und Dichter haben auch über ihr eigenes Menschsein geschrieben. Sie haben uns ihr Menschsein näher gebracht. Damit haben sie den Weg zum eigenen Begreifen erschlossen. Einüben der Rede ist daher im übertragenen Sinne Einüben eigenen Begreifens als Fundament für künftiges Sprechen. Rede ist ein Selbstbekenntnis dessen, der dabei ist, sein Begreifen nach außen, zur sprachlichen Entfaltung zu führen. Dieses Entfalten in Sprache zu kleiden, bedarf des immer neuen Übens, denn das entfaltete Neue sehnt sich nach neuem Verstehen, dem Verstehen durch das Wort.

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Schlussbemerkung

Es ging in diesem Buch darum, vorrangig das Wie der Rede aufzuzeigen. Dies kann nicht losgelöst geschehen von der Persönlichkeit des Redners. Weil Rede stets das gesprochene Wort meint, ist das Personale des Sprechenden untrennbar mit ihr verknüpft. In der Rede vereinigen sich das Wer und das Wie zu einem Bild, das die Zuschauenden als das menschlich Eindrückliche gewinnen und mitnehmen. Dieses Persönlichkeitsbild des Redners wirkt lange nach und gestaltet das Erinnern des Publikums. Führende in der Wirtschaft, Politik und Kirche werden auf das Wirken ihres Persönlichkeitsbildes hin besonders beobachtet. Wir wollten mit diesem Buch dazu beitragen, dass den Führenden künftig das Überzeugen noch mehr gelingen möge. In der Rede des Führenden wird sein Menschenbild sichtbar. Möge sein Sprechen in Zukunft bezeugen, dass er um ein verantwortetes Menschsein bemüht ist.

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Ergänzende Literatur

Aristoteles: Rhetorik, Stuttgart 1999 Ekman, Paul: Gefühle lesen, Heidelberg 2004 Freud, Sigmund: Sämtliche Werke, Frankfurt 1977ff. Fischle-Carl, Hildegund: Sich selbst begreifen, Stuttgart 1978 Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt 1984 Kirchner, Baldur: Die Wende im Ich, Ulm 1995 Lay, Rupert: Wie man sinnvoll miteinander umgeht, Düsseldorf 1992 Miller, Alice: Das Drama des begabten Kindes, Frankfurt 2003 Picard, Max: Werke, Längwil 1996 Ptassek, Peter u. a.: Macht und Meinung – Die rhetorische Konstitution der politischen Welt, Göttingen 1992 Riedel, Manfred: Hören auf die Sprache – Die akroamatische Dimension der Hermeneutik, Frankfurt 1994 Savigny, Eike von: Grundkurs im wissenschaftlichen Definieren, München 1970 Ueding, Gert/Steinbrink, Bernd: Grundriss der Rhetorik, Stuttgart 2005 ȱ

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Die Autoren

Dr. Baldur Kirchner, geboren 1939, ist seit 1972 freier Dozent für Persönlichkeitsbildung. An seinen Seminaren und Kolloquien für Führende zu Rhetorik, Dialektik, Ethik und Kontemplation haben inzwischen über 25.000 Menschen teilgenommen. Nach dem Studium der Philosophie, Katholischen Theologie, Klassischen Philologie und seiner Promotion zum Dr. phil. an der Universität Tübingen beschäftigte er sich intensiv mit Tiefenpsychologie und Persönlichkeitsanalyse.

Sebastian Kirchner M.A., geboren 1972, studierte Deutsche Sprachwissenschaft, Psychologie und Kommunikationswissenschaft an der Universität Augsburg. Während und nach seinem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Seminarleiter. Seit 1999 hält er Seminare und Workshops mit den Inhalten Rhetorik und Dialektik, Führen von Mitarbeitern und Präsentieren vor Gruppen. Er promoviert über die Beziehung zwischen Lehrendem und Lernendem.

221 Dr. Alexander Kirchner M.A., geboren 1969, studierte Politische Wissenschaft, Psychologie und Volkswirtschaftslehre in Augsburg sowie Philosophie am Humboldt-Studien-Zentrum in Ulm. Er arbeitete viele Jahre als Journalist und als Lehrbeauftragter, absolvierte Sprechunterricht an der Otto-Falckenberg-Schule in München und besucht eine mehrjährige Weiterbildung in Psychoanalyse. Schwerpunkte seiner Seminare sind Rhetorik, Dialektik, Glaubwürdigkeit und Medienpräsenz. Weitere lieferbare Publikationen der Autoren im Gabler-Verlag: Kirchner, Baldur: Benedikt für Manager, Wiesbaden 2004. Kirchner, Baldur: Fühlen und Führen, Wiesbaden 1995. Kirchner, Alexander/ Kirchner, Baldur: Rhetorik und Glaubwürdigkeit, Wiesbaden 1998. Kirchner, Alexander/ Brichta, Raimund: Medientraining für Manager, Wiesbaden 2002. Gemeinsame Anschrift der Autoren: Kirchner-Seminare Tannenweg 4 89358 Kammeltal-Ettenbeuren Telefon 08223/2030 E-Mail [email protected] Weitere Informationen über die Autoren und ihr Seminarangebot finden Sie im Internet unter www.kirchner-seminare.de.

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Stichwortverzeichnis Abschweifung (digressio) 188 Abstraktion 207 Adjektiv 143f. Aktiv 150f. Akzeptanz der Gruppennorm 43f. Alliteration 215 Anadiplose 213 Anapher 214 Anekdote 131 Angemessenheit (aptum) 192f. Angst 24, 35, 40ff., 57, 59, 94f., 126f., 156f., 208, 210 Anonymität 152f. Anrede 103f. Antithese 111ff. Aposiopese 215 Argumentation 158f., 163ff., 187, 190 Aristoteles 18, 114, 165, 177, 219 Arroganz 24 ars rhetorica 18 Artikulation 78ff., 197, 199 Assoziationen 127f., 137f., Asyndeton 215 Atmung 75ff. auctoritas 178 Augustinus 52, 169 Ausdrucksfähigkeit, emotionale 144

Ausruf 211 Aussprache 78ff. Ausstrahlung 38, 149, 180, 186 Begeisterungsvermögen 159, 169 Beispiel (exemplum) 190 Betonung 82ff. Betroffenheit 27, 107, 152 Beweisführung (argumentatio) 130, 164, 170, 184, 187ff. Bildung 138 Blickkontakt 60, 66, 120, 168 Caesar 213 Cicero 18, 19, 24, 69, 175, 177, 183, 184, 187, 197, 199, 228 Code – elaboriert 137ff. – restringiert 137ff. delectare – Das emotionale Sprechen 24 Demonstrieren 132 Denkdisziplin 89, 101, 104 Dialektik 112f., 123, 159ff. Distanz 45, 47, 67, 70, 72, 132, 142, 147, 152f., 172, 208 docere – Das belehrende Sprechen 22ff. dogmatisches Dozieren 24

Stichwortverzeichnis

eC 137ff. Echtheit 25, 42, 67, 70 Einengung situative 57 Eingangsstatement 118ff. Einheit von Inhalt und Ausdruck 67 Einleitung 115f., 129ff., 184ff, Einüben der Rede (exercitatio) 216 Emotionalität 40, 170, 193 Enthymem (ratiocinatio) 190 Entscheidungsangst 135 Entscheidungsfähigkeit 145, 149 Epanalepse 214 Epanode 214 Epipher 214 Euphemismus 202f. Exponiertsein 33f., 38, 55ff. Floskeln 124, 137 Formulierung des Themas 101f., 117 freie Rede 101, 126f., 143 Fremdbild 49ff., 78 Freude 80 Führen 21ff. Führen durch Gefühle 25 gedanklicher Entwurf (inventio) 174ff. Gefühle 41f., 72, 108, 128f., 143, 170 Gegenfrage 123 genus demonstrativum 177

223

genus iudiciale 177 Gesicht 63ff., 86f., Gesten 60, 69ff. Glaubwürdigkeit 107f., 139, 149, 159, 170f., 178, 185 Goebbels 15, 196, 211, 228 Gorgias 17 Grammatik 145, 153, 159, 161 Grundqualitäten, psychische 33 Haltung 60ff., 71f., 167f. Hegel 111ff. Herzschlag 76 Hyperbaton 204f. Hyperbel 205ff. Hypotaxe 154ff. Identifikation 52ff., 168f. Identität 52f. Inbild 53 Indikativ 145ff. insinuatio 184ff. Intonation 82 Ironie 200ff. Klimax 213 Konfliktbewältigung 43ff. Konfrontation 146 Konjunktiv 145ff. Konsensbereitschaft 125 Körperlichkeit 55ff. Kreativität 125ff. Lächeln 67f. Lampenfieber 77

224

Stichwortverzeichnis

Lautstärke 93ff. Lay, Rupert 41 Lenin 112 Logik 158ff. man-Form 153 Menschenbild 41, 218 Menschlichkeit 11f. Methodik 159, 163 Mimik 67, 160 Modulation 85ff. Modus des Gesprochenen 144 movere – Das bewegende Sprechen 22ff. Narzissmus 36, 131, 157 Ordnen des Entwurfs (dispositio) 183, 191 Parataxe 154f. Passiv 150ff. Pausen 88ff. Perfektion 35, 39, 47 Periphrase 203f. Persönlichkeit 11ff., 31ff., 144f., 177 Persönlichkeitsbildung des Sprechenden 39 Platon 19, 228 Polysyndeton 215 prooemium 184f. Provokation 130 Pseudo-Harmonie 124

Quintilian 19, 181, 184, 190, 194, 197, 228 Raumerlebnis 56 rC 139ff. Reaktionsmuster 122 Rede als Ausdruck des Führens 26 Redestil 193 Redner-Zuhörer-Beziehung 140 Rhetorik – angewandte 21, 100f., 125ff. – literarische 99, 173, 191 Rhetorikseminar 11f. rhetos 18 Sartre 99 Satzbau 153ff., 194 Satzmelodie 82 Schauspieler 69 Schlussstatement 118ff. Schweigen 77, 92 Selbstakzeptanz 33ff. Selbstbehauptung 3445 Selbstidentität 37 Selbstreflexion 39, 51, 74 Selbstvertrauen 34ff. Selbstzweifel 35, 47 Sicherheit 34f., 54, 81, 120 Sicherheit im Auftreten 34 Sigmatismus 80f. Souveränität 77, 88, 92 Soziabilität 42ff. Soziolinguistik 137

Stichwortverzeichnis

Spontaneität 70, 125ff., Sprachcodierung 141 sprachliches Gewand (elocutio) 191f. Sprechen – freies 101, 125 – leises 61, 95 Sprechpausen 87ff. Sprechtempo 88, 91 Sprechübungen 82 Stelle, exponierte 45, 57ff. Stichwortzettel 114ff., 125 Stimme 82ff., 121, 170 Struktur – analytische 106f. – Hegelsche 111 – programmatische 105 – proleptische 107 – Statement-Struktur 113f. – Votum 134f. Strukturierung des Vortrages 104 Substantiv 142, 205 Substantivstil 142f. Syllogismus 190 Sympathiefeld 25, 66, 184 Synthese 111ff. Tabu 203

225

Teile der Rede (partes orationis) 183 These 109ff. Thomas von Aquin 121 Timbre 86 Überzeugen 22, 42, 60, 147, 158f. Überzeugungsaussagen 151 Überzeugungsfähigkeit 40, 49, 67, 89, 93, 134, 160f., Überzeugungsvermögen 158ff. Umgang mit dem Wort 135 Verben 142f. Votum 134f. Wahrnehmung des Du 43 Wertschätzung 39, 42, 81 Wiederholung 123, 214f. Wortfeld 141 Wortfiguren 213 Worthülsen 137 Zielsetzung 104ff. Zitate 131 Zuhörenkönnen 121f. Zuhörer 22, 85ff., 102ff. Zweifel (dubitatio) 212

226

Anmerkungen

1

Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: Illuminationen, Frankfurt/M. 1961, S. 154

2

„Goebbels Reden 1932-1945“, Herausgegeben von Helmut Heiber, Bindlach 1991, S. 43

3

Ernst, Otto: „Der Parteiarbeiter – Das politische Gespräch im Parteilehrjahr“, Berlin 1975, S. 17

4

ebenda – S. 19

5

Pursch, Günter (Hrsg.): „Das Parlamentarische Schimpf- & SchmunzelLexikon“, München 1992

6

Dabei denken wir vor allem an suggestive Praktiken von Sekten, die sich ihre Mitglieder auf diesem Wege gefügig machen. Diese Sekten sind auch in der Bundesrepublik Deutschland tätig.

7

Platon: „Sämtliche Werke, Band l“, Hamburg 1957, S. 210-211

8

Hier sei die Lektüre der Werke Ciceros empfohlen: „De inventione“ und „De oratore“

9

Zitiert nach: „Quintilian. Über Pädagogik und Rhetorik“, München 1974, S. 147148

10 Kirchner, Alexander: „Angewandte Rhetorik“, in: Ueding, Gert (Hrsg.): Rheto-

rik. Begriff, Geschichte, Internationalität, Tübingen 2005 11 Siehe dazu: Kirchner, Baldur: „Fühlen und Führen“, Wiesbaden 1994 12 Marcus Tullius Cicero: „De oratore“ („Über den Redner“), Lateinisch/Deutsch,

Philipp Reclam jun. Stuttgart 1976, 2, 115. Wir verwenden künftig die Abkürzung Cic. de or. 13 Staehelin, Balthasar: „Haben und Sein“, Zürich 1969, S. 146 14 Lay, Rupert: „Wie man sinnvoll miteinander umgeht“, Düsseldorf 1992, S. 112 15 Picard, Max: „Die Grenzen der Physiognomik“, Erlenbach Zürich, 1952, S. 13 16 Cic. de or. 3, 214, 216, 220 17 Weithase, Irmgard: „Sprechübungen“, Köln 1975; Balser-Eberle, Vera: „Sprech-

technisches Übungsbuch“, 2002; Reusch, Fritz/ Hey, Julius: „Der kleine Hey“, 1997; Amon, Ingrid: „Die Macht der Stimme“, 2003 18 Schmidt, K. O.: „Selbst-Erkenntnis durch Yoga-Praxis“, München 1970, S. 57- 58 19 Ital, Gerta: „Der Meister, die Mönche und ich“, München 1982, S. 94 20 Böhme, Gerhard: „Stimm-, Sprech- und Sprachstörungen“, Stuttgart 1974, S. 191

Anmerkungen

227

21 Weizsäcker, Richard von: „Von Deutschland aus“ – Reden des Bundespräsiden-

ten, Berlin 1985, S. 31 22 Siehe dazu: Thomas von Aquino: „Summe der Theologie“, 1. Band, Stuttgart

1985; vgl. auch Kichner, Alexander und Baldur: „Rhetorik und Glaubwürdigkeit“, Wiesbaden 1998 23 Siehe dazu: Bernstein, Basil: „Soziale Schicht, Sprache und Kommunikation“,

Düsseldorf 1973 24 Reiners, Ludwig: „Stilkunst“, München 1943, Sonderausgabe 1964, S. 139 25 Gandhi: „Über die Gewaltlosigkeit“, in: „Reden, die die Welt bewegten“, Stutt-

gart 1989, S. 285 26 ebenda: King, Martin Luther: „Der Traum von der Gleichberechtigung“, S. 590 27 Stuttgarter Zeitung vom 25.8.1992 28 Kirchner, Alexander: „Die sprachliche Dimension des Politischen. Studien zu

Politik und Glaubwürdigkeit“, Würzburg 2000; Kirchner, Alexander und Baldur: „Rhetorik und Glaubwürdigkeit“, Wiesbaden 1998 29 Cic. de or. 2, 104 30 Cic. de or. 1, 20 31 Cic. de or. 1, 144 32 Marcus Fabius Quintilianus: „lnstitutionis oratoriae libri XII“, ed. L. Raderma-

cher, red. Johannes Innscher, Leipzig 1965, IV, 1, 76-78 33 Cic. de or. 2, 320 34 Lausberg, Heinrich: „Handbuch der literarischen Rhetorik“, München 1973,

S. 160 35 Quintilian, a.a.O., V, 10, 12-14 36 Quintilian, a.a.O., XII, 10, 58 37 Heidinger, Peter F.: „Konsens statt Konflikt - Gedanken zu einer neuen Energie-

kultur'“ Herausgegeben aus Anlass seiner Verabschiedung, Stuttgart 1992, S. 116-117 38 Weizsäcker, Richard v., a.a.O., S. 15 39 Goebbels, a.a.O., S. 279 40 King, Martin Luther, a.a.O., S. 590-591 41 Cic. de or. 3, 104 42 Cic. de or. 3, 154 43 Goebbels, a.a.O., S. 204-206 (einige Passagen/Fragen durch uns leicht gekürzt) 44 Cic. de or. 2, 355