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German Pages 313 Year 1970
Dorothy L. Sayers
Rendez-vous
zum Mord
Kriminalgeschichten
Fischer Bücherei
In der Fischer Bücherei
Januar 1970
Umschlagentwurf: Hans Maier
Einzig berechtigte Übertragung aus dem Englischen
Fischer Bücherei GmbH, Frankfurt am Main und Hamburg
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung
des Scherz Verlages, Bern und München
© Scherz Verlag, Bern und München, 1965
Gesamtherstellung:
Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg
Printed in Germany
Über dieses Buch Zwölf spannende Kriminalgeschichten von der Großen Dame des englischen Kriminalromans. Lord Peter Wimsey, Gentleman-Detektiv, spielt auch hier wieder die entscheidende Rolle. (Wenn er für tot gehalten wird, ist er besonders gefährlich…) Zwölf Geschichten von Dorothy Sayers – das ist zwölfmal Spannung mit erfrischendem Witz garniert. Die Autorin Dorothy Sayers wurde 1893 in Oxford geboren. Sie studierte französische Literatur und legte als eine der ersten Frauen an der Universität Oxford ihre Examina ab. Für ihre Verdienste um die Detektivliteratur wurde sie zum Ehrendoktor von Durham ernannt. Sie starb 1957 in Witham/Essex. In der Fischer Bücherei sind außer den Romanen ›Die sieben Schneider‹ (Nr. 641) und ›Mein Hobby: Mord‹ (Nr. 897) ihre ›Kriminalgeschichten‹ (Nr. 739) erschienen.
Spottbillig
Mr. Montague Egg wurde durch das häßliche Geräusch im Nebenzimmer aus seinem Schönheitsschlaf aufgeschreckt. Eine Reihe anschwellender Töne, die in einem langen, erstickenden Gurgeln endeten. Der »Greif« in Cuttlesbury war ein altmodisches und schlechtgeführtes Hotel. Weder Mr. Egg noch seine Kollegen hätten auch nur im Traum daran gedacht, hier abzusteigen, wenn der »Grüne Mann« nicht durch ein verheerendes Feuer vorübergehend außer Betrieb gesetzt worden wäre. Und so kam es, daß Mr. Egg nach einem schlechtgekochten und unverdaulichen Abendessen in diesem muffigen, staubigen Hotelzimmer lag, das weder elektrische Beleuchtung noch eine Kerze auf dem Nachttisch aufzuweisen hatte – so erbärmlich war die Bedienung. Während Mr. Egg allmählich zum vollen Bewußtsein zurückkehrte, versuchte er sich die Situation zu vergegenwärtigen. Wie er wußte, lagen an diesem isolierten Korridor nur drei Zimmer; sein eigenes in der Mitte; Nr. 8 zu seiner Linken beherbergte den alten Waters von der Limonaden- und Zuckerwarenfabrik Brotherhood Ltd.; Nr. 10 zur Rechten bewohnte ein untersetzter Mann namens Pringle, der in Schmucksachen reiste und sich am Abend zur Bewunderung aller Zuschauer mit einer zweifelhaften Makrele und mit halbgarem Schweinefleisch vollgestopft hatte. Dicht hinter dem Kopfende von Montys Bett ließ das volltönende, rhythmische Schnarchen des alten Waters die dünne Zwischenwand vibrieren, als führe ein Lastauto am Hause vorbei. Also mußte es Pringle sein, der diese Geräusche
produzierte, und Makrelen und Schweinefleisch waren höchstwahrscheinlich die Ursache. Das Gebrüll hatte aufgehört; jetzt waren nur noch ein paar schwache Grunzer vernehmbar. Er kannte Pringle nicht, und der Mann war ihm nicht sonderlich sympathisch. Aber vielleicht war er wirklich krank. Da mußte man schon anstandshalber einmal nachsehen. Widerstrebend schwang Monty seine Beine über den Bettrand und schob seine Füße in die Pantoffeln. Ohne erst lange nach Streichhölzern zu suchen und die Gaslampe mit dem zerbrochenen Glühstrumpf am anderen Ende des Zimmers anzustecken, tastete er sich im Dunkeln zur Tür und trat in den Korridor. Dort brannte eine trübe Gaslampe, die ein irreführendes Gemisch von Licht und Schatten auf die beiden knarrenden Stufen warf, die zum Hauptkorridor führten. In Nr. 8 schnarchte der alte Waters ungestört weiter. Monty wandte sich nach rechts und klopfte an die Tür von Nr. 10. »Wer ist da?« fragte eine erstickte Stimme. »Ich – Egg«, erwiderte Monty und drehte den Türknopf, aber die Tür war verschlossen. »Geht es Ihnen nicht gut? Ich hörte Sie stöhnen.« »Tut mir leid.« Das Bett knarrte, als ob sich der Sprecher aufrichtete. »Habe schlecht geträumt. Verzeihung, daß ich Sie gestört habe.« »Macht nichts«, sagte Mr. Egg, erfreut, seine Diagnose bestätigt zu finden. »Kann ich wirklich nichts für Sie tun?« »Nein, danke, alles in Ordnung.« Mr. Pringle schien den Kopf wieder in den Decken vergraben zu haben. »Dann gute Nacht.« Mr. Egg schlüpfte zu seinem Zimmer zurück. Das Schnarchen in Nr. 8 nahm an Heftigkeit zu und endete plötzlich, als er seine Tür wieder abschloß, mit einem wilden Laut. Dann herrschte Ruhe. Monty hätte gern gewußt, wie spät es war. Während er in seinen Manteltaschen nach
Streichhölzern suchte, schlug eine Uhr mit einem wohlklingenden, vibrierenden, milden Ton, der aus einer ziemlichen Entfernung zu kommen schien. Er zählte zwölf Schläge. Im Hotel rührte sich nichts. Unten auf der Straße fuhr ein Auto vorbei. Das Schnarchen in Nr. 8 begann von neuem. Mr. Egg legte sich auf seine unbequeme Matratze und versuchte wieder einzuschlafen. Er verabscheute es, aus seinem ersten, tiefen, köstlichen Schlaf gerissen zu werden. Dieser vermaledeite Waters! Während er schlaftrunken auf das Schnarchen lauschte, begann er allmählich einzuschlummern. Klick! Eine Tür im Korridor hatte sich geöffnet. Dann kamen schleichende Schritte, unterbrochen von einem Knarren und einem Stolpern. Jemand war auf den beiden schlechtbeleuchteten Stufen gestrauchelt. Mit einer gewissen grimmigen Befriedigung kam Monty zu dem Schluß, daß die Makrelen und das Schweinefleisch Mr. Pringle letzten Endes doch von seiner Lagerstätte getrieben hätten. Und dann versank Monty ganz plötzlich in tiefen Schlaf. Um sechs Uhr erwachte er von einem Klappern im Korridor und einem Hämmern an der Tür von Nr. 8. Zum Teufel mit Waters, der mal wieder einen frühen Zug erreichen mußte. Er hörte das Zimmermädchen nebenan kichern. Der alte Waters hatte es faustdick hinter den Ohren, aber Mr. Egg wünschte, er würde seine Galanterien für eine passendere Zeit aufsparen. Tapp, tapp, an der Tür vorbei; Knarren, Stolpern, Fluchen – Waters auf dem Wege zum Badezimmer. Himmlische Ruhepause! Stolpern, Knarren, Fluchen, tapp, tapp, bums – Waters kehrt aus dem Bad zurück und knallt die Tür zu. Päng, Rascheln, plumps – Waters zieht sich an und schnallt die Koffer zu. Tapp, tapp, Knarren, Stolpern, Fluchen – Gott sei Dank! Waters war fort! Monty streckte die Hand nach seiner Uhr aus, die in dem trüben, durch die schmutzigen Vorhänge sickernden
Morgenlicht kaum zu erkennen war. Zwei Minuten vor sieben – noch eine gute halbe Stunde, bis er aufstehen mußte. Bald darauf schlug die Rathausuhr die volle Stunde, und gleich danach ertönten die musikalischen, vibrierenden Klänge der fernen Uhr im Hause. Dann herrschte Ruhe, und Mr. Egg schlief wieder ein. Um zwanzig Minuten nach sieben hallte ein durchdringendes, anhaltendes Geschrei durch den Korridor. Monty sprang aus dem Bett. Diesmal schien wirklich etwas passiert zu sein. Er warf hastig seinen Schlafrock über und rannte hinaus. Drei oder vier Leute kamen eilig vom Hauptkorridor her die Stufen herab. Das Zimmermädchen stand an der Tür von Nr. 10. Sie hatte ihre Kanne fallen lassen, und das heiße Wasser ergoß sich über den Läufer. Sie war grün im Gesicht, und ihr angeschmutztes Häubchen war verrutscht. Immer noch schrie sie mit der schrillen, mechanischen Regelmäßigkeit, die einen heftigen hysterischen Anfall kennzeichnet. Drinnen auf dem Bett ausgestreckt lag der korpulente Mr. Pringle. Sein Gesicht war geschwollen, und an seinem Hals zeigten sich häßliche lila Flecke. Blut war ihm aus Mund und Nase geströmt und hatte die Kissen gefärbt. Seine Kleider lagen unordentlich auf einem Stuhl; sein Koffer stand geöffnet am Boden; seine falschen Zähne grinsten aus dem Wasserglas auf dem Waschtisch. Aber sein Musterkoffer mit den Schmucksachen war nirgends zu sehen. Mr. Pringle lag beraubt und ermordet da. Mr. Egg machte sich schreckliche Vorwürfe, als es ihm dämmerte, daß er tatsächlich gehört haben mußte, wie der Mord begangen wurde – er mußte sogar mit dem Mörder gesprochen haben. Alles dieses setzte er Inspektor Monk auseinander. »Ich weiß nicht, ob es Mr. Pringles Stimme war, da ich kaum mit ihm geredet hatte. Er saß beim Essen nicht an meinem Tisch, und später haben wir nur ein paar Worte in der
Bar gewechselt. Die Stimme klang gedämpft – es konnte durchaus die Stimme eines Mannes sein, der soeben aufgewacht war und ohne Zähne halb unter der Decke nuschelte. Ich glaube nicht, daß ich die Stimme wiedererkennen würde.« »Das ist nur natürlich, Mr. Egg; machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Und diesen Waters, der mit dem Frühzug abfuhr, haben Sie also die ganze Zeit schnarchen hören?« »Ja – vorher und nachher. Ich kenne ihn. Ein angesehener Mann.« »Gut. Wir werden uns natürlich mit ihm in Verbindung setzen müssen, aber wenn er dauernd geschlafen hat, wird er uns wenig sagen können. Wir können ja wohl annehmen, daß die Person, mit der Sie durch die Tür gesprochen haben, tatsächlich der Mörder war. Und Sie sagen, Sie können die Zeit fixieren?« Monty beschrieb noch einmal, wie er die Uhr hatte schlagen hören, und fügte hinzu: »Ich kann natürlich selbst nicht mit einem Alibi aufwarten, aber meine Firma Plummett & Rose, Weine und Spirituosen Piccadilly, kann Ihnen Auskunft über meinen Charakter geben.« »Das wird sich alles finden, Mr. Egg. Keine Sorge«, sagte Inspektor Monk unerschütterlich. »Habe ich übrigens Ihren Namen schon mal gehört? Sind Sie je meinem Freund Ramage begegnet?« »Inspektor Ramage aus Ditchley? Ja, natürlich. Wir lösten da einen kleinen Fall mit einer Garagenuhr.« »Richtig. Er sagte mir, Sie seien ein heller Kopf.« »Sehr verbunden für die gute Meinung.« »Wir wollen also vorerst mal Ihre Aussage akzeptieren und sehen, wohin sie uns führt. Nun zu dieser Uhr. Ging sie wohl genau?«
»Ich habe sie heute morgen wieder schlagen hören, und da stimmte sie mit meiner Uhr überein. Ich glaube wenigstens«, fügte Monty hinzu, als sich ein obskurer Zweifel bei ihm regte, »daß es dieselbe Uhr war. Sie hatte denselben Klang – tief, rasch und etwas summend. Ein angenehmer Schlag.« »Hm. Wir prüfen das am besten nach. Mag gestern abend falsch und heute morgen wieder richtig gegangen sein. Machen wir also einen Rundgang durchs Haus und sehen wir zu, ob wir die Uhr entdecken können. Ruggles, sagen Sie Mr. Bates, daß niemand das Haus verlassen darf und daß wir uns nach Möglichkeit beeilen werden. Gehen wir also, Mr. Egg.« Es gab sechs schlagende Uhren im »Greif«. Die Standuhr auf dem Treppenabsatz wurde sofort ausgeschaltet, da sie einen dünnen, hohen, zittrigen Klang hatte. Auch die Garagenuhr schlug ganz anders, während die Uhr im Frühstückszimmer und das häßliche bronzene Monstrum im Aufenthaltsraum von Montys Zimmer aus nicht zu hören waren, und in der Bar hing eine Kuckucksuhr. Aber als sie in die Küche kamen, die gerade unter Montys Zimmer lag, deutete Monty auf die Uhr und sagte sofort: »Die scheint es zu sein.« Es war eine alte amerikanische Acht-Tage-Wanduhr in einem Rosenholzgehäuse mit einem gemalten Zifferblatt und dem Bild eines Bienenkorbes auf der Glastür. »Ich kenne diese Art«, sagte Monty. »Sie schlägt auf eine aufgezogene Feder und gibt diesen tiefen, summenden Ton. Wie eine Turmuhr, aber viel schneller…« Der Inspektor öffnete die Uhr und blickte hinein. »Richtig. Und die Zeit ist auch korrekt. Zwanzig vor neun. Nun gehen Sie nach oben, und ich schiebe die Zeiger auf neun.« In seinem Zimmer lauschte Monty wieder bei geschlossener Tür auf den tiefen, raschen, vibrierenden Klang.
Er eilte nach unten. »Es ist genau derselbe Ton, soweit ich es beurteilen kann.« »Gut. Wenn keiner daran herumhantiert hat, steht die Zeit fest.« Es ließ sich unerwartet leicht beweisen, daß die Uhr um Mitternacht richtiggegangen war. Die Köchin hatte sie nach der Rathausuhr gestellt, ehe sie um elf zu Bett ging. Sie hatte, wie immer, die Küchentür abgeschlossen und den Schlüssel mitgenommen. »Sonst würde dieser Hausknecht sich alle Augenblicke in die Küche schleichen und etwas aus der Speisekammer stibitzen.« Und der Hausknecht – ein ungesund aussehender Bursche von sechzehn Jahren – hatte diese Aussage zögernd bestätigt, indem er zugab, daß er eine halbe Stunde später die Tür zu öffnen versucht hatte, sie aber fest verschlossen fand. Die einzigen anderen Zugänge zur Küche – Hoftür und Fenster – waren von innen verriegelt. »Sehr gut«, sagte der Inspektor. »Nun können wir uns den Alibis all dieser Leute zuwenden. Sie, Ruggles, suchen inzwischen gründlichst nach Pringles Musterkoffer. Wir wissen, daß er ihn mit aufs Zimmer genommen hat, weil der Barmixer es gesehen hat. Und er kann vor der Entdeckung der Leiche nicht aus dem Hotel entfernt worden sein, weil alle Außentüren verschlossen und die Schlüssel herausgezogen waren. Nachdem sie geöffnet wurden, ist nur Ihr Freund Waters hinausgegangen, Mr. Egg, und nach Ihrer eigenen Aussage ist er nicht der Mörder. Er könnte allerdings ein Komplice sein.« »Waters bestimmt nicht«, verteidigte ihn Monty. »Eine ehrliche Seele, der alte Waters. Frisiert nicht einmal sein Spesenkonto. ›Sei auch im kleinsten ehrlich, rechne ab auf Heller und Pfennig‹, das war sein Lieblingszitat aus dem ›Handbuch des Verkäufers‹.«
»Sehr gut«, meinte der Inspektor. »Aber wo ist der Koffer?« Nach eingehendem Verhör der Hotelleitung und des Personals, die alle ein befriedigendes Alibi hatten, richtete Inspektor Monk seine Aufmerksamkeit auf die Gäste. Nach dem denkwürdigen, aus Makrelen und Schweinefleisch bestehenden Abendessen hatten Mr. Egg und Mr. Waters und zwei andere Handelsreisende, Loveday und Turnbull, bis halb elf Bridge gespielt, um welche Zeit Mr. Egg und Mr. Waters sich zurückzogen. Die anderen beiden hatten sich noch in der Bar aufgehalten, bis diese um elf Uhr geschlossen wurde. Danach hatten sie sich auf Mr. Lovedays Zimmer verzogen, wo sie bis halb eins plauderten und sich dann trennten. Um ein Uhr hatte Mr. Loveday Mr. Turnbull aufgesucht, um sich etwas Fruchtsalz von ihm, der mit diesem Artikel reiste, zu borgen. Auf diese Weise verschafften sie sich gegenseitig ein Alibi, und es war anscheinend kein Grund vorhanden, daran zu zweifeln. Dann kam eine ältere Dame, eine Mrs. Flack, die offensichtlich nicht dazu imstande war, eilten kräftigen Mann eigenhändig zu erwürgen. Ihr Zimmer lag auf dem Hauptkorridor, und sie hatte ungestört bis gegen halb eins geschlafen, als jemand an ihrer Tür vorbeikam und das Wasser im Badezimmer andrehte. Kurz vor eins hatte diese rücksichtslose Person das Badezimmer wieder verlassen. Sonst hatte sie nichts gehört. Der einzige andere Gast war ein Mann, der mit Pringle in dessen Wagen angekommen war und sich als Fotograf ausgab. Er hieß Alistair Cobb. Inspektor Monk gefiel er nicht besonders, aber er war eine wichtige Persönlichkeit, da er einen guten Teil des Abends mit dem Ermordeten verbracht hatte. »Schlagen Sie es sich aus dem Kopf«, sagte Mr. Cobb, während er sein Haar glättete, »daß ich viel über Pringle weiß. Bis gestern abend um sieben Uhr hatte ich ihn nie gesehen. Aber ich hatte den Bus von Tadworthy verpaßt, und der
nächste fuhr erst um neun. Also machte ich mich daran, die vier Meilen mit meinem Koffer zu Fuß zurückzulegen, als Pringle vorbeifuhr und sich erbot, mich mitzunehmen. Wie er sagte, nahm er oft Leute mit. Geselliger Bursche. Fuhr nicht gern allein.« Mr. Egg (der bei dem Interview zugegen war – ein Privileg, das er zweifellos der günstigen Meinung des Inspektors Ramage über ihn verdankte), schauderte über dieses leichtsinnige Benehmen eines mit Juwelen reisenden Kollegen. »Er war ein anständiger Kauz«, fuhr Mr. Cobb fort. »Ganz fideler alter Knabe. Er nahm mich…« »Hatten Sie geschäftlich in Cuttlesbury zu tun?« »Aber sicher. Fotos, wissen Sie. Wir vergrößern Vaters und Mutters Hochzeitsbild gratis. Mit Goldrahmen fünfundzwanzig Shilling. Spottbillig. Kennen Sie diese Masche?« »Allerdings«, erwiderte der Inspektor in einem Ton, der deutlich besagte, daß er von dieser Masche nicht viel hielt. »Na, also.« Mr. Cobb zwinkerte dem Inspektor zu. »Nun, wir nahmen unser Abendessen ein, das übrigens verteufelt schlecht war, und plauderten anschließend eine Weile in der Bar. Bates und der Barmixer sahen uns dort. Dann ging Bates fort, um mit einem jungen Mann Billard zu spielen, und wir blieben noch bis elf sitzen. Dann brach Pringle auf – behauptete, er fühle sich nicht gut, was mich nicht überraschte. Diese Makrelen…« »Lassen wir die Makrelen ruhen«, unterbrach Monk. »Der Barmixer behauptet, Sie und Pringle hätten um fünf Minuten vor elf das letzte Glas getrunken. Pringle sei dann zu Bett gegangen und habe seinen Koffer mitgenommen. Sind Sie dann direkt ins Billardzimmer gegangen?« »Ja, sofort. Wir spielten…« »Eine Sekunde. Bates sagt, Sie hätten erst noch telefoniert.« »Stimmt. Das heißt, ich ging erst ins Billardzimmer und sah, daß Bates und sein Gefährte bald mit dem Spiel zu Ende waren. Da habe ich gesagt, ich würde inzwischen telefonieren
und dann mit Bates ein Spiel machen. Ich rief beim ›Bullen‹ in Tadworthy an, wo ich ein Paar Handschuhe in der Bar vergessen hatte. Man sagte mir, man habe sie gefunden und werde sie nachschicken.« Der Inspektor machte sich eine Notiz. »Und wie lange haben Sie Billard gespielt?« »Ungefähr bis ein Viertel nach zwölf. Dann erklärte Bates, er habe genug, da er früh aufstehen müsse. Also vertranken wir das, was ich ihm abgewonnen hatte, und ich bin dann zu Bett gegangen.« Der Inspektor nickte. Dies bestätigte die Aussage des Hotelbesitzers. »Mein Zimmer liegt auf dem Hauptkorridor«, fuhr Mr. Cobb fort. »Nein, nicht an der Seite, wo der Aufruhr war – am entgegengesetzten Ende. Aber ich ging hinüber und nahm ein Bad; das Badezimmer liegt bei den Stufen, die auf den anderen Korridor führen. Es war vielleicht zehn vor eins, als ich zurückkam. Um die Zeit war alles ruhig.« »Worüber haben Sie und Pringle sich unten unterhalten?« »Oh, über dies und jenes«, erwiderte Mr. Cobb ungezwungen. »Wir haben Anekdoten ausgetauscht. Pringle wußte ein paar saftige, und meine waren auch nicht übel. Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten, Inspektor?« »Nein, danke. Erwähnte Pringle zufällig… Ja, Ruggles, was gibt es? Entschuldigen Sie einen Augenblick, meine Herren.« Er ging zu dem Wachtmeister an der Tür und kehrte nach einer Weile mit einer Karte in der Hand zurück. »Ich nehme an, daß sich Ihre fotografischen Artikel nicht auf solche Dinge erstrecken, Mr. Cobb.« Mr. Cobb blies pfeifend eine lange Rauchwolke aus. »Nein«, sagte er, »nei-ein! Woher haben Sie dieses hübsche Ding?« »Haben Sie es vorher schon mal gesehen?« Mr. Cobb zögerte. »Nun, da Sie mich fragen, ja. Der verstorbene Pringle
hat es mir gestern abend gezeigt. Hätte nichts davon gesagt, wenn Sie mich nicht gefragt hätten. Über Tote soll man nur Gutes sagen. Aber er war nicht so ganz ohne, dieser Pringle.« »Sicher, daß es dieselbe Karte ist?« »Sieht so aus. Dieselbe hübsche Dame – dieselbe hübsche Stellung jedenfalls.« »Wo verwahrte er sie?« fragte der Inspektor, während er die Karte wieder an sich nahm und sie mit einer Klammer an seinen Notizen befestigte – aber nicht, bevor Mr. Egg einen Blick darauf werfen konnte und gehörig schockiert war. »In seiner Brusttasche«, erwiderte Mr. Cobb nach kurzer Überlegung. »Aha. Pringle hat Ihnen sicher gesagt, in welcher Branche er tätig war. Hat er zufällig etwas von Vorsichtsmaßregeln gegen Diebe oder dergleichen erwähnt?« »Er hat allerdings erwähnt, daß er wertvollen Kram in seinem Koffer habe und stets seine Zimmertür abschließe«, entgegnete Mr. Cobb mit großer Offenheit. »Nicht, daß ich ihn danach gefragt hätte. Ging mich nichts an, was er tat.« »Ganz recht. Nun, Mr. Cobb, im Augenblick brauche ich Sie nicht weiter zu bemühen, aber ich möchte Sie bitten, solange im Hotel zu bleiben, bis ich noch einmal mit Ihnen gesprochen habe. Tut mir leid, wenn Ihnen das Unannehmlichkeiten bereitet.« »Durchaus nicht«, erklärte der gefällige Mr. Cobb. »Es ist mir völlig gleich.« Freundlich lächelnd schlenderte er davon. »Pah!« sagte der Inspektor. »Ein schmieriger Kerl! Und ein Lügner obendrein. Haben Sie das Foto gesehen? Wie jemand solchen Schmutz drucken kann, ist mir übrigens unbegreiflich. Nun, die Karte wurde nicht in einer Brusttasche herumgetragen. Die Ecken sind noch ganz scharf. Die kam frisch aus einem Umschlag. Möchte wetten, daß der Rest der Serie im Koffer dieses Burschen steckt. Aber das gibt er
natürlich nicht zu, denn er macht sich strafbar, wenn er sie verkauft.« »Wo hat man diese gefunden?« »Unter Pringles Bett. Wenn Cobb kein Alibi hätte – aber ich bin ziemlich sicher, daß Bates die Wahrheit spricht. Außerdem liegt das Fenster der Köchin dem Fenster des Billardzimmers gegenüber, und sie hat sie dort bis Viertel nach zwölf spielen sehen. Oder sie müßten alle unter einer Decke stecken, und das ist nicht wahrscheinlich. Und immer noch keine Spur von Pringles Koffer. Aber wir können uns nicht über die Zeit hinwegsetzen. Sind Sie sicher, daß es zwölf schlug?« »Unbedingt. Ein oder zwei Schläge lassen sich nicht mit zwölf verwechseln.« »Nein, natürlich nicht.« Der Inspektor trommelte auf den Tisch und starrte ins Blaue. Monty sah, daß er überflüssig war, und kehrte in sein Zimmer zurück. Das Bett war noch nicht gemacht und das Wasser nicht ausgeschüttet. Die Schlamperei des »Greifen« war durch diese Katastrophe in ein völliges Chaos verwandelt. Er warf sich in einen Sessel mit ausgeleierten Federn, zündete sich eine Zigarette an und versank in Nachdenken. Er hatte etwa zehn Minuten gebrütet, als er die Rathausuhr elf schlagen hörte. Unwillkürlich wartete er auf das melodiöse Schlagen der Küchenuhr, aber es kam nicht. Dann fiel ihm ein, daß Monk die Uhr um zwanzig Minuten vorgeschoben hatte, so daß sie vor einiger Zeit bereits geschlagen haben mußte. Und dann sprang er mit einem lauten Ausruf auf die Füße »Grundgütiger Himmel! Wie dumm von mir! Heute morgen um sieben schlug die Rathausuhr zuerst und die Küchenuhr unmittelbar danach. Aber gestern abend habe ich die Rathausuhr überhaupt nicht schlagen hören. Die Küchenuhr muß doch irgendwie geändert worden sein. Wenn nicht – wenn nicht – ach du meine Güte! Ob es das wohl sein
könnte? Ja. Ja, es ist möglich. Gerade bevor die Uhr zwölf schlug, hörte Waters auf zu schnarchen.« Er rannte hastig in das Zimmer Nr. 8, wo dieselbe Unordnung herrschte wie in seinem eigenen. Auch hier schien seit Wochen nicht Staub gewischt worden zu sein. Und auf dem Nachttisch neben Waters’ Bett, der an der dünnen Wand zwischen den beiden Zimmern stand, sah er im Staub einen Flecken, der so aussah, als hätte dort ein etwa acht mal acht Zentimeter großer Gegenstand gestanden. Mr. Egg stürzte aus dem Zimmer und über den Korridor. Fluchend stolperte er die beiden schlechtbeleuchteten Stufen hinauf und eilte ins Badezimmer. Das Fenster hier ging auf eine enge Seitenstraße, die an einem Ende zur Hauptstraße und am anderen zu einer Gasse führte, die zwischen Lagerhäusern lag. Mr. Egg stürmte nach unten und stieß mit Inspektor Monk zusammen, der gerade aus dem Frühstückszimmer kam. »Halten Sie Cobb fest!« keuchte Mr. Egg. »Ich glaube, ich habe sein Alibi gesprengt. Wohin ist Waters gefahren? Ich möchte mit ihm telefonieren. Rasch!« »Soviel ich weiß, nach Sawcaster«, erwiderte Monk erstaunt. »Dann wird er im ›Glockenkranz‹ übernachten«, sagte Mr. Egg, »und Hunter, Merriman und Hackett & Brown besuchen. An einem dieser Plätze werden wir ihn erreichen.« Mr. Egg verbrachte eine hektische halbe Stunde am Telefon, bis er seine Beute zu fassen bekam. »Waters«, flehte Monty, »beantworten Sie mir bitte einige Fragen; warum, verrate ich Ihnen später. Haben Sie immer einen Reisewecker bei sich? Wirklich? Ist es eine altmodische Repetieruhr? Ja? Ungefähr acht mal acht Zentimeter? Ja? Stand sie gestern abend auf Ihrem Nachttisch? Schlägt sie auf eine aufgezogene Feder? Wirklich? Gott sei Dank! Tiefe, rasche, weiche Töne wie eine Turmuhr? Ja, ja, ja! Jetzt, Waters, mein Lieber, denken Sie scharf nach. Sind Sie gestern
nacht aufgewacht, und haben Sie die Uhr repetieren lassen? Wirklich? Sind Sie ganz sicher? Fein! Um welche Zeit? Sie schlug zwölf? Und das bedeutet? Irgendwann zwischen zwölf und ein Uhr? Dann kehren Sie, um Himmels willen, mit dem nächsten Zug nach Cuttlesbury zurück; denn durch Ihre verflixte Uhr sind Sie und ich beinahe Komplicen bei einem Mord geworden. Ja, MORD… Einen Augenblick, Inspektor Monk möchte mit Ihnen noch reden.« »Nun«, meinte der Inspektor, als er den Hörer auflegte, »Ihre Aussage hätte uns schön in die Klemme bringen können, nicht wahr? Wie gut, daß Sie diese Erleuchtung hatten. Nun werden wir das Gepäck des schmutzigen Mr. Cobb durchsuchen und sehen, ob er noch mehr saftige Fotos hat. Er hat sie wohl mit in Mr. Pringles Zimmer genommen, um sie ihm zu zeigen.« »So wird’s gewesen sein. Ich konnte bisher nicht verstehen, wie der Mörder ins Zimmer gelangen konnte, da Mr. Pringle ja immer seine Tür abschloß. Aber natürlich hatte er sie offengelassen für Cobb, der ihm versprochen hatte, später noch mal vorbeizukommen und ihm – streng vertraulich natürlich – etwas zu zeigen, wobei ihm die Haare zu Berge stehen würden. Cobb muß einen wahnsinnigen Schrecken bekommen haben, als Pringle schrie und ich an die Tür klopfte. Aber er war nicht auf den Mund gefallen, das muß ich ihm lassen. Wahrscheinlich ist er ein erstklassiger Verkäufer in seiner ekligen Branche. ›Laß dich durch plötzliche Fragen nicht unterkriegen, sondern stets deine Geistesgegenwart siegen‹, wie es im Handbuch des Verkäufers heißt.« »Aber was hat er bloß mit Pringles Koffer gemacht?« fragte der Inspektor. »Aus dem Fenster des Badezimmers geworfen, wo ihn der Komplice in Empfang nahm, den er telefonisch von Tadworthy herbestellt hatte. Verflixt noch mal!« rief Monty und wischte sich den Schweiß von der Stirn, »kurz nachdem diese
verwünschte Uhr zwölf schlug, habe ich den Wagen unten vorbeifahren hören.«
Bittere Mandeln
»Donnerwetter!« rief Mr. Montague Egg. »Da hat wieder einmalein sehr guter Kunde das Zeitliche gesegnet.« Stirnrunzelnd blickte er auf seine Morgenzeitung, die ihn davon in Kenntnis setzte, daß an diesem Tage eine amtliche Totenschau abgehalten werde. Sie betraf die Leiche des Mister Bernard Whipley, eines wohlhabenden, exzentrischen alten Herrn, dem die Firma Plummett & Rose von Zeit zu Zeit beträchtliche Mengen ihrer auserlesensten Markenweine und Liköre geliefert hatte. Monty war mehr als einmal von Mr. Whipley eingeladen worden, seine eigenen Waren zu kosten, während sie in dem gemütlichen Arbeitszimmer in »Cedar Lawn« saßen – entweder eine Flasche alten Portweins, die Mr. Whipley selbst mit großer Sorgfalt aus dem Keller geholt hatte, oder einen Likörbrandy aus dem hohen Mahagonischrank in der Nische. Mr. Whipley ließ niemanden an seine alkoholischen Vorräte heran. Dienstboten könne man nie über den Weg trauen, pflegte er zu sagen, und er habe keine Lust, bestohlen zu werden oder die Köchin mit dem Kopf unter dem Küchenschrank zu finden. Mr. Eggs Miene verfinsterte sich noch mehr, als er las, daß Mr. Whipley, anscheinend durch Blausäure vergiftet, tot aufgefunden worden war, nachdem er zum Nachtisch ein Glas Pfefferminzlikör getrunken hatte. Es ist peinlich, wenn Kunden plötzlich an Vergiftung sterben nach dem Genuß von Alkohol, den man ihnen geliefert hat. Schlechte Reklame.
Mr. Egg blickte auf seine Uhr. Die Stadt, in der er gerade die Zeitung las, lag nur fünfzehn Meilen von dem Wohnort des verstorbenen Mr. Whipley entfernt. Monty hielt es für ratsam, hinzufahren und an der Leichenschau teilzunehmen. Er war jedenfalls in der Lage, die Harmlosigkeit eines von der Firma Plummett & Rose gelieferten Pfefferminzlikörs zu bezeugen. Also machte er sich sofort nach dem Frühstück auf den Weg. Bei seiner Ankunft ließ er dem Coroner seine Karte überreichen und sicherte sich auf diese Weise einen bequemen Platz in dem kleinen überfüllten Schulzimmer, wo die Untersuchung’ abgehalten wurde. Als erste Zeugin wurde die Haushälterin befragt, Mrs. Minchin, eine korpulente ältere Person von fast übertriebener Ehrbarkeit. Sie sagte, sie habe über zwanzig Jahre in Mr. Whipleys Diensten gestanden. Er sei fast achtzig Jahre alt gewesen, sehr aktiv und gesund, habe aber sein Herz schonen müssen. In ihren Augen war er immer ein ausgezeichneter Arbeitgeber gewesen, vielleicht etwas sparsam. Die Haushaltskosten hatte er scharf überwacht, aber das hatte ihr nichts ausgemacht, da sie seine Interessen ebenso im Auge hatte wie ihre eigenen. »Am Montagabend fühlte er sich durchaus wohl«, fuhr Mrs. Minchin fort. »Mr. Raymond Whipley hatte sich nachmittags telefonisch zum Abendessen angemeldet…« »Mr. Whipleys Sohn?« »Ja, sein einziges Kind.« Hier blickte Mrs. Minchin hinüber zu einem dünnen, bleichen, alt aussehenden jungen Mann, der nahe bei Mr. Egg auf der Zeugenbank saß, und rümpfte vielsagend die Nase. »Mr. und Mrs. Cedric waren im Hause zu Gast. Mr. Cedric Whipley ist Mr. Whipleys Neffe. Er hatte keine anderen Verwandten.«
Mr. Egg identifizierte Mr. und Mrs. Cedric Whipley in dem elegant gekleideten Ehepaar in Schwarz, das auf der anderen Seite von Mr. Raymond saß. Die Zeugin berichtete weiter. »Mr. Raymond kam um halb sieben in seinem Wagen an und begab sich sofort zu seinem Vater ins Studierzimmer. Er kam ein Viertel nach sieben wieder heraus, als der Ankleidegong vor dem Essen ertönte. Wir begegneten uns in der Diele, und er kam mir etwas aufgeregt vor. Da Mr. Whipley nicht erschien, ging ich zu ihm hinein. Er saß am Schreibtisch und las etwas, das wie ein Aktenstück aussah. Ich sagte: ›Entschuldigen Sie bitte, Sir, aber haben Sie den Gong nicht gehört?‹ Er war manchmal ein wenig taub, wenn auch sonst wunderbar rege für sein Alter. Er blickte auf und erwiderte: ›Danke, Mrs. Minchin.‹ Dann las er weiter, und ich sagte mir: ›Mr. Raymond hat ihn wieder geärgert.‹ Um halb acht…« »Einen Augenblick. Was hatten Sie sich bei dieser Äußerung über Mr. Raymond gedacht?« »Nichts Besonderes. Mr. Whipley war nicht immer mit Mister Raymonds Betragen einverstanden, und sie zankten sich manchmal deshalb. Mr. Whipley gefiel Mr. Raymonds Beruf nicht. Um halb acht«, fuhr die Zeugin fort, »ging Mr. Whipley nach oben, um sich umzuziehen. Er machte einen normalen Eindruck, nur sein Schritt war etwas müde und schwer. Ich wartete in der Diele, falls er Hilfe brauchte, und als er an mir vorüberging, bat er mich, mit Mr. Whitehead zu telefonieren und ihm auszurichten, er möchte am nächsten Morgen herkommen. Mr. Whitehead war sein Anwalt. Ich habe sofort angerufen, und als Mr. Whipley gegen zehn Minuten vor acht wieder herunterkam, konnte ich ihm sagen, daß Mr. Whitehead am nächsten Morgen um zehn Uhr hier sein würde.« »Hat sonst noch jemand diese Bemerkung gehört?«
»Ja. Mr. Raymond und Mr. und Mrs. Cedric waren in der Diele und tranken ihren Cocktail. Sie müssen es alle gehört haben. Um acht Uhr wurde das Essen aufgetragen…« »Haben Sie mit am Tisch gegessen?« »Nein. Ich nehme meine Mahlzeiten auf meinem Zimmer ein. Gegen ein Viertel vor neun waren sie mit dem Essen fertig, und das Hausmädchen servierte den Kaffee, für Mr. und Mrs. Cedric im Salon, für Mr. Whipley und Mr. Raymond im Studierzimmer. Bis neun Uhr war ich allein in meinem Zimmer. Dann suchten Mr. und Mrs. Cedric mich auf, um ein wenig zu plaudern. Wir waren alle bis kurz vor halb zehn zusammen, als wir die Tür des Studierzimmers heftig zuschlagen hörten. Bald darauf kam Mr. Raymond in Hut und Mantel zu uns herein. Er sah sehr angegriffen aus. Mr. Cedric sagte: ›Hallo, Ray!‹ Aber Mr. Raymond nahm keine Notiz davon und wandte sich an mich: ›Ich bleibe doch nicht über Nacht hier, Mrs. Minchin, sondern fahre sofort nach London zurück.‹ Ich erwiderte: ›Sehr wohl, Mr. Raymond. Weiß Mr. Whipley von der Änderung Ihres Plans?‹ Er lachte sehr merkwürdig und sagte: ›O ja, er ist durchaus im Bilde.‹ Dann verließ er das Zimmer, und Mr. Cedric folgte ihm. Ich hörte, wie Mr. Cedric sagte: ›Nimm’s nicht so tragisch, alter Junge.‹ Mrs. Cedric erwähnte dann, daß sie befürchte, Mister Raymond habe sich mit dem alten Herrn gezankt. Etwa zehn Minuten später hörte ich die beiden jungen Männer die Treppe herunterkommen und ging nach draußen, um zu sehen, ob Mr. Raymond nichts vergessen hatte. Er ging gerade mit Mr. Cedric aus der Haustür. Ich trug ihm seinen Schal nach, den er zurückgelassen hatte. Er fuhr sehr rasch davon, und ich kehrte mit Mr. Cedric ins Haus zurück. Als wir an der Tür des Studierzimmers vorüberkamen, sagte Mr. Cedric: ›Ob mein Onkel wohl…‹ Er brach ab und fügte hinzu: ›Nein, es ist besser, wenn man ihn bis morgen allein
läßt.‹ Wir kehrten in mein Zimmer zurück, wo Mrs. Cedric auf uns wartete. Sie fragte: ›Was ist los, Cedric?‹ und er antwortete. ›Onkel Henry hat die Geschichte mit Ella herausbekommen. Ich habe Ray ja gewarnt.‹ Sie sagte nur: ›O du liebe Güte!‹ Dann schlugen wir ein anderes Thema an. Mr. und Mrs. Cedric blieben bis halb zwölf bei mir und gingen dann nach oben zu Bett, während ich meinen üblichen Rundgang durchs Haus antrat. Als ich das Licht in der Diele ausmachte, bemerkte ich, daß das Licht in Mr. Whipleys Studierzimmer noch brannte. Da er gewöhnlich nie so lange aufblieb, ging ich hin, um nachzusehen, ob er über einem Buch eingeschlafen war. Da ich auf mein Klopfen keine Antwort bekam, trat ich ein, und da lag er tot im Sessel. Auf dem Tisch standen zwei leere Kaffeetassen, zwei Likörgläser und eine halbleere Flasche Pfefferminzlikör. Ich rief sofort Mr. Cedric, der mir riet, alles genauso zu lassen, wie es war, und Dr. Baker anzurufen.« Als nächste Zeugin erschien die Hausgehilfin, die bei Tisch aufgewartet hatte. Sie erklärte, daß während der Mahlzeit nichts Besonderes vorgefallen sei. Nur seien Mr. Whipley und sein Sohn ziemlich schweigsam und nachdenklich gewesen. »Am Ende der Mahlzeit hatte Mr. Raymond gesagt: ›Hör mal zu, Vater, so geht das nicht.‹ Mr. Whipley hatte geantwortet: ›Wenn du deine Ansicht geändert hast, sagst du es mir am besten gleich‹, und hatte den Kaffee ins Studierzimmer bestellt. Mr. Raymond erwiderte: ›Ich kann meine Ansicht nicht ändern, aber wenn du mich nur anhören wolltest…‹ Mr. Whipley schwieg. Als ich mit dem Kaffee und den Likörgläsern das Studierzimmer betrat, saß Mr. Raymond am Tisch, und Mr. Whipley stand am Schrank, offenbar, um die Likörflaschen herauszuholen. Er fragte Mr. Raymond: ›Was willst du trinken?‹ Mister Raymond erwiderte: ›Pfefferminzlikör.‹
Woraufhin Mister Whipley sagte: ›Das sieht dir ähnlich – ein Frauengetränk.‹« Mr. Egg lächelte vor sich hin, als er diesen Worten lauschte. Er konnte sich den alten Mr. Whipley so gut dabei vorstellen. Dann verzog er sein pausbäckiges Gesicht zu einer ernsteren Miene, als der Coroner Mr. Cedric Whipley vortreten ließ. Mr. Cedric bestätigte die Aussage der Haushälterin. Er gab an, daß er sechsunddreißig Jahre alt und Juniorpartner in der Verlagsfirma Freeman & Toplady sei. Ihm waren die näheren Umstände der Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn bekannt. Ja, Mr. Whipley hatte ihn und seine Frau extra eingeladen, um die Sache mit ihnen zu besprechen. Es handelte sich um Raymonds Verlobung mit einer gewissen Dame. Mr. Whipley hatte recht impulsiv von einer Testamentsänderung gesprochen, aber er, Cedric, hatte ihn dringend gebeten, sich die Sache noch einmal in Ruhe zu überlegen. Am Abend der Tragödie hatte ihm Raymond anvertraut, daß sein Vater ihn zu enterben gedroht habe. Er hatte Raymond dann den Rat gegeben, es nicht so tragisch zu nehmen, da der alte Herr sich wieder beruhigen würde. Raymond hatte ihm diese Einmischung übelgenommen. Nach Raymonds Aufbruch hatte er es für besser gehalten, den alten Mann in Ruhe zu lassen. Nachdem er und seine Frau sich von Mrs. Minchin verabschiedet hatten, war er direkt nach oben gegangen, ohne das Studierzimmer zu betreten. Nach seinem Ermessen war es etwa eine Viertelstunde später, als er auf Mrs. Minchins Ruf hin wieder nach unten gekommen war und seinen Onkel tot vorgefunden hatte. Er hatte sich über ihn gebeugt, um ihn zu untersuchen, und dabei einen schwachen Geruch von Mandeln auf den Lippen entdeckt, dann an den Likörgläsern gerochen, ohne sie anzufassen, und da ihm eins davon auch nach Mandeln zu riechen schien, hatte er Mrs. Minchin instruiert, ja nichts
anzurühren. Er hatte dann die Idee gehabt, daß sein Onkel vielleicht Selbstmord begangen habe. Ein Raunen ging durch den kleinen Saal, als Mr. Raymond Whipley an den Tisch des Coroners trat. Ein dünner, weibischer, ungesund aussehender Mann, dessen Alter zwischen dreißig und vierzig lag. Er gab seinen Beruf als »Kunstfotograf« an und sprach von einem Atelier in der Bond Street. Seine »expressionistischen Studien« prominenter Männer und Frauen hätten beträchtliches Aufsehen im West End erregt. Sein Vater, der altmodische Vorurteile hatte, habe seine Tätigkeit nicht gebilligt. »Soweit ich unterrichtet bin«, sagte der Coroner, »wird Blausäure häufig in der Fotografie verwendet.« Mr. Raymond Whipley lächelte gewinnend bei dieser ominösen Frage. »Zyankalium«, erwiderte er. »Du meine Güte, ja. Recht oft. Ich selbst verwende es nicht so häufig. Aber ich besitze etwas, wenn Sie darauf hinauswollen.« »Ich danke Ihnen. Können Sie mir jetzt etwas Näheres über diese Meinungsverschiedenheit mit Ihrem Vater sagen?« »Ja. Er hat entdeckt, daß ich mich mit einer Dame verlobt hatte, die an der Bühne ist. Ich weiß nicht, wer ihm das verraten hat. Wahrscheinlich mein Vetter Cedric, der es natürlich abstreiten wird, aber ich nehme an, daß es der famose Cedric war. Mein Vater ließ mich kommen und war sehr aufgebracht darüber. Voll eigensinniger Vorurteile. Wir hatten einen ziemlichen Auftritt vor dem Essen. Danach bat ich ihn erneut um eine Unterredung – dachte, ich könnte ihn vielleicht herumkriegen. Aber er wurde wirklich sehr beleidigend. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Es regte mich zu sehr auf. Also bin ich Hals über Kopf wieder nach London gefahren.« »Hat er erwähnt, daß er Mr. Whitehead kommen lassen wollte?«
»Oh, ja. Er sagte, wenn ich Ella heiratete, würde er mich enterben. Ganz der gestrenge Vater. Ich erwiderte: ›Dann enterbe mich nur.‹« »Hat er auch erwähnt, zu wessen Gunsten er das neue Testament machen wollte?« »Nein, aber ich denke, daß Cedric einen Batzen bekommen hätte. Er ist ja der einzige andere Verwandte.« »Wollen Sie bitte eingehend schildern, was sich nach dem Essen im Studierzimmer zugetragen hat?« »Wir gingen hinein, und ich setzte mich an den Tisch in der Nähe des Feuers. Mein Vater ging an den Schrank, in dem er seine Flaschen verwahrte, und fragte mich, was ich trinken möchte. Ich bat um einen Pfefferminzlikör, und er verhöhnte mich in seiner üblichen reizenden Art. Er nahm die Flasche heraus und forderte mich auf, mir selbst einzuschenken, als das Mädchen die Gläser hereinbrachte. Das tat ich dann auch. Ich trank Kaffee und Pfefferminzlikör. Er selbst trank nichts, solange ich da war. Er war ziemlich erregt und ging auf und ab, wobei er mir allerlei Drohungen an den Kopf warf. Nach einer Weile erinnerte ich ihn daran, daß sein Kaffee kalt werde. ›Scher dich zum Teufel!‹ lautete seine Antwort. Ich sagte: ›O. K.‹ Dann machte er eine sehr unangenehme Bemerkung über meine Verlobte. Ich verlor die Beherrschung und gebrauchte einige – sagen wir mal, unparlamentarische Ausdrücke. Dann ging ich hinaus und knallte die Tür zu. Als ich ihn verließ, stand er aufrecht hinter dem Tisch. Ich ging zu Mrs. Minchin, um ihr zu sagen, daß ich wieder in die Stadt führe. Cedric wollte sich einmischen, aber ich sagte ihm, daß ich wisse, wem ich die ganze Schererei zu verdanken habe, und wenn er das Geld des Alten haben wolle, von mir aus herzlich gern. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Wenn Ihr Vater während Ihrer Anwesenheit nicht trank, wie erklären Sie die Tatsache, daß beide Likörgläser und beide Kaffeetassen benutzt waren?« »Dann hat er seine wohl später benutzt. Er hat bestimmt nichts getrunken, ehe ich fortging.« »Und er war noch am Leben, als Sie das Studierzimmer verließen?« »Aber sehr.« Mr. Whitehead, der Anwalt, erklärte die Testamentsbestimmungen des Verstorbenen. Cedric Whipley erhielt demnach eine jährliche Summe von zweitausend Pfund, die im Falle seines Todes an Raymond zurückfielen, der der Universalerbe war. »Hat der Verstorbene jemals die Absicht geäußert, das Testament zu ändern?« »Allerdings. Am Tage vor seinem Tode erwähnte er, daß er mit dem Verhalten seines Sohnes sehr unzufrieden sei, und wenn er ihn nicht zur Vernunft bringen könne, würde er ihn mit einer jährlichen Summe von eintausend Pfund abfinden und Mr. Cedric Whipley den Rest seines Vermögens vermachen. Mr. Raymonds Verlobte war ihm widerwärtig, und er erklärte, er wünsche nicht, daß die Kinder dieser Frau später sein Geld bekämen. Ich versuchte, ihn davon abzubringen, aber er nahm wohl an, daß die Dame die Verlobung auflösen würde, wenn sie davon hörte. Als Mrs. Minchin mich an dem fraglichen Abend anrief, war ich überzeugt, daß er ein neues Testament aufsetzen wollte.« »Aber da er nicht mehr dazu gekommen ist, bleibt das Testament zugunsten von Mr. Raymond Whipley bestehen, nicht wahr?« »Ganz recht.« Inspektor Brown von der Bezirkspolizei berichtete dann über die Fingerabdrücke. Eine Kaffeetasse und ein Likörglas zeigten Mr. Raymonds Fingerabdrücke, die andere Tasse und
das Glas mit dem Gift die von Mr. Whipley senior. Außer denen des Hausmädchens waren an Tassen und Gläsern keine anderen Abdrücke zu sehen, während die Likörflasche die Abdrücke von Vater und Sohn aufwies. Mit dem Gedanken an die Möglichkeit des Selbstmords hatte die Polizei den Raum sorgfältig nach einer Flasche oder Phiole durchsucht, die vielleicht das Gift enthalten hatte. Man hatte aber nichts gefunden, lediglich im Kamin eine halbverbrannte Stanniolkapsel mit der verstümmelten Aufschrift »… Au… tier & Cie.« entdeckt. Der Größe nach zu urteilen, hatte diese Kapsel jedoch den Korken einer Halbliterflasche bedeckt, und es erschien höchst unwahrscheinlich, daß ein Selbstmordkandidat einen halben Liter Blausäure kaufen würde. Auch war keine kürzlich geöffnete Flasche vorhanden, zu der die Kapsel gehörte. An dieser Stelle tauchte ein schrecklicher Gedanke aus Mister Eggs Unterbewußtsein auf – eine trübe Erinnerung an etwas, das er einst in einem Buch gelesen hatte. Die restliche Aussage des Inspektors, die rein formell war, entging ihm. Er wurde erst wieder aufmerksam, nachdem die Köchin und das Hausmädchen bewiesen hatten, daß sie den ganzen Abend zusammen verbracht hatten, und der Arzt aufgefordert wurde, seinen medizinischen Befund darzulegen. Dieser erklärte, daß Mr. Whipley zweifellos an Vergiftung durch Zyankali gestorben sei. Nur eine sehr kleine Menge des Gifts war im Magen gefunden worden, aber selbst eine geringe Dosis wirkte bei einem Mann seines Alters und seiner natürlichen Gebrechlichkeit tödlich. Von allen bekannten Giften führt Zyankali am schnellsten zum Tode. Schon wenige Minuten nach dem Einnehmen traten Bewußtlosigkeit und Exitus ein. »Wann haben Sie die Leiche zuerst gesehen, Doktor?«
»Ich kam um fünf Minuten vor zwölf, und da war Mister Whipley mindestens schon seit zwei Stunden tot, wenn nicht noch länger.« »Er konnte nicht, sagen wir mal, eine halbe Stunde vor Ihrer Ankunft gestorben sein, wie?« »Unmöglich. Ich möchte sagen, um halb zehn herum und gewiß nicht später als halb elf.« All letztes wurde der Bericht des Analytikers verlesen. Der Inhalt der Likörflasche und der Kaffeesatz in beiden Tassen hatten sich als völlig harmlos herausgestellt. Beide Likörgläser enthielten ein paar Tropfen Pfefferminzlikör, und eins davon – das mit den. Fingerabdrücken des alten Mr. Whipley – wies eine deutliche Spur von Blausäure auf. Noch ehe der Coroner sein Resümee begann, lag es klar auf der Hand, daß die Sache für Raymond Whipley sehr finster aussah. Er besaß ein Motiv, und er allein konnte das tödliche Gift mit Leichtigkeit bekommen. Überdies fiel die Zeit des Todes fast genau mit dem Zeitpunkt seiner hastigen und aufgeregten Flucht aus dem Hause zusammen. Selbstmord schien ausgeschlossen; die anderen Mitglieder des Haushalts konnten gegenseitig ihr Alibi beweisen; nichts deutete darauf hin, daß ein Fremder von außen her eingedrungen war. Es folgte das unvermeidliche Urteil: Raymond Whipley wurde des Mordes beschuldigt. Mr. Egg verließ eilends den Saal. Zwei Dinge beunruhigten ihn – Mrs. Monchins Aussage und die halberinnerte Warnung, die er in einem Buch gelesen hatte. Er ging zum Postamt des Dorfes und schickte ein Telegramm an seine Arbeitgeber. Dann lenkte er seine Schritte zum Gasthof, wo er sich einen Tee bestellte, den er nachdenklich trank. Ihm schwante, daß dieser Fall für das Geschäft nicht gut sein würde. Nach ungefähr einer Stunde wurde ihm die Antwort auf sein Telegramm überreicht. Sie lautete: »14. Juni 1893. Freeman &
Toplady 1931«, und war von dem Seniorpartner der Firma Plummett & Rose unterzeichnet. Mr. Eggs heiteres, rundes Gesicht wurde von einer dunklen Wolke der Bestürzung und Qual überschattet. Er verzog sich in das Privatzimmer des Wirtes und meldete ein teures Ferngespräch nach London an. Weniger bestürzt, aber immer noch finster kam er nach einer Weile wieder zum Vorschein. Er stieg in seinen Wagen und begab sich auf die Suche nach dem Coroner. Dieser begrüßte ihn freundlich und führte ihn ins Zimmer, wo auch Inspektor Brown und der Polizeichef des Bezirks versammelt waren. »Nun, Mr. Egg«, meinte der Coroner, »Sie sind sicher froh, daß dieser unglückselige Fall auf die Reinheit der von Ihrer Firma gelieferten Waren keinen Schatten wirft.« »Um darüber mit Ihnen zu sprechen, habe ich mir die Freiheit genommen, Sie aufzusuchen. Geschäft ist Geschäft, aber Tatsachen sind Tatsachen, und meine Firma ist bereit, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Ich habe mit Mr. Plummett telefoniert, und er hat mich ermächtigt, Ihnen die Sache vorzulegen. Wenn ich es nicht täte«, fügte Mr. Egg unumwunden hinzu, »so würde sich vielleicht ein anderer dafür finden, und das würde alles nur verschlimmern. ›Warte nicht, bis peinliche Dinge bersten; muß die Wahrheit gesagt sein, sag du sie am ersten.‹ Mein Grundsatz – aus dem ›Handbuch des Verkäufers‹. Ein bemerkenswertes Buch, voll von gesundem Menschenverstand. Apropos gesunder Menschenverstand. Etwas von dieser Ware täte unserem jungen Freund auch keinen Schaden, nicht wahr?« »Sie meinen Raymond Whipley?« sagte der Coroner. »Meiner Ansicht nach ist dieser junge Mann ein pathologischer Fall.« »Da haben Sie recht, Sir«, pflichtete ihm der Inspektor bei. »Mir sind ja schon viele törichte Verbrecher unter die Augen
gekommen, aber er übertrumpft sie alle. Leicht angeknackst, möchte ich sagen. Zankt sich mit seinem Vater, bringt ihn um und läuft dann in dieser höchst verdächtigen Art davon – warum hat er sich nicht gleich ein Schild umgehängt: ›Ich bin der Täter!‹ Aber wie Sie schon sagten, ist er wohl nicht ganz zurechnungsfähig.« »Nun, das mag ja sein«, bemerkte Monty. »Aber darüber hinaus haben wir es mit dem alten Mr. Whipley zu tun. Sehen Sie, meine Herren, ich kenne alle meine Kunden recht gut. Es gehört sozusagen zu meinem Beruf, ihre Neigungen auswendig zu wissen. Es hat keinen Sinn, einen 1847er Oleroso einem Herrn anzubieten, der seinen Sherry leicht und herbe liebt, oder einen Kunden, der auf ärztliche Verordnung bei Rheinwein bleiben muß, mit Gelegenheitskäufen von bestem Portwein zu quälen. Nun erhebt sich die Frage: Wie ist der verstorbene Mister Whipley überhaupt dazu gekommen, Pfefferminzlikör zu trinken? Er hat ihn nur für Damen bestellt. Er selbst konnte diesen Geschmack ganz und gar nicht ausstehen. Sie haben ja gehört, was er darüber zu Mr. Raymond gesagt hatte.« »Das ist ein wichtiger Punkt«, bemerkte der Polizeichef. »Ich darf wohl erwähnen, daß uns auch schon der Gedanke gekommen ist. Aber er muß das Gift in irgendeinem Getränk genommen haben.« »Ich meine nur, behalten Sie das im Auge – das und die Dummheit bei diesem Mord, wenn er so geschehen ist, wie die Jury annahm. Doch nun zu dieser Stanniolkapsel. Darüber kann ich Ihnen einiges sagen. Ich habe mich bei der Leichenschau nicht eingemengt, weil ich nicht alle Tatsachen beisammen hatte. Aber jetzt bin ich informiert. Wissen Sie, meine Herren, wenn an jenem Tag im Studierzimmer eine Kapsel von einer Flasche entfernt wurde, so muß eine
dazugehörige Flasche existieren. Das ist doch logisch. Wo ist sie? Sie muß irgendwo sein. Flasche bleibt schließlich Flasche. Nun, meine Herren, Mr. Whipley ist über fünfzig Jahre ein Kunde meiner Firma gewesen. Plummett & Rose ist ein altbekanntes Haus. Und Flaschen mit dieser Kapsel wurden von einer französischen Exportfirma auf den Markt gebracht, die im Jahre 1900 aufgelöst wurde. Prelatier & Cie. war der Name, und wir waren ihre Vertreter in diesem Lande. Diese Kapsel gehörte nun zu einer von dieser Firma exportierten Flasche Noyeau – Sie können die letzten beiden Buchstaben noch auf dem Stempel sehen – und wir haben am 14. Juni 1893 eine Flasche von Prelatiers Noyeau mit anderen Probeflaschen an Mr. Whipley geliefert.« »Noyeau?« wiederholte der Coroner interessiert. »Wie ich sehe, sagt Ihnen das etwas, Doktor.« »Allerdings«, erwiderte der Kronrichter. »Noyeau ist ein mit Bittermandelöl oder Pfirsichkernen gewürzter Likör, wenn ich nicht irre, Mr. Egg, und enthält infolgedessen eine geringe Menge Blausäure.« »Ganz recht«, bestätigte Monty. »Normalerweise richtet er natürlich keinen Schaden an. Läßt man jedoch eine Flasche lange genug stehen, dann steigt das Öl an die Oberfläche, und es ist bekannt, daß das erste Glas aus einer alten Flasche Noyeau den Tod herbeiführen kann. Ich habe das in einem Buch ›Nahrungsmittel und Gifte‹ gelesen, das vor einigen Jahren bei Freeman & Toplady erschienen ist.« »Das ist ja Cedric Whipleys Firma«, warf der Inspektor ein. »Richtig«, sagte Monty. »Was wollen Sie damit andeuten, Mr. Egg?« erkundigte sich der Polizeichef. »Nicht Mord, Sir«, erwiderte Monty. »Nein, das nicht – obwohl es gewissermaßen dazu hätte führen können. Ich wollte nur sagen, daß nach Mr. Raymonds Fortgang der alte
Herr vielleicht etwas nervös und unruhig wurde, wie das nach einer erregten Szene oft der Fall ist. Ich könnte mir denken, daß er den kalten Kaffee zu trinken begann und dabei das Verlangen nach einem Likör spürte. Er geht also zum Schrank, kramt etwas darin herum und stößt auf diese alte Flasche Noyeau, die vierzig Jahre ungeöffnet dort gestanden hat. Er nimmt sie heraus, entfernt die Kapsel, die er ins Feuer wirft, und zieht den Korken mit seinem Korkenzieher, wie ich das oft bei ihm beobachtet habe. Dann schenkt er sich das erste Glas ein, ohne an die Gefahr zu denken, leert es, in seinem Sessel sitzend, und stirbt, ohne einen Hilferuf äußern zu können.« »Sehr geistreich«, bemerkte der Polizeichef. »Aber wo sind diese Flasche und der Korkenzieher geblieben? Und wie erklären Sie sich das Vorhandensein von Pfefferminzlikör in seinem Glas?« »Aha!« sagte Monty. »Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Irgend jemand hat seine Hand im Spiel gehabt, und zwar nicht Mr. Raymond; denn es war zu seinem Vorteil, alles so zu lassen, wie es war. Aber vielleicht ist gegen halb zwölf, als Mrs. Minchin ihr Zimmer aufräumte und die anderen Dienstboten im Bett lagen, jemand anders in das Studierzimmer gegangen, hat Mr. Whipley tot aufgefunden, daneben die Flasche Noyeau, und erraten, was geschehen war. Nehmen wir einmal an, daß diese Person den Korkenzieher wieder in den Schrank legte, ein paar Tropfen Pfefferminzlikör aus Mr. Raymonds Glas in das andere schüttete und die Noyeau-Flasche mitnahm, um sie in Ruhe zu vernichten, wie sähe die Sache dann aus?« »Aber wie konnte die Person das tun, ohne Fingerabdrücke auf Mr. Raymonds Glas zu hinterlassen?«
»Ganz einfach«, erklärte Monty. »Er brauchte bloß den Stiel des Glases mit der ganzen Hand zu umschließen. So. Dann war nur ein schwacher Fleck am Oberteil des Glases zu sehen.« »Und das Motiv?« fragte der Polizeichef. »Nun, meine Herren, darüber möchte ich mich nicht äußern. Aber wenn Mr. Raymond wegen Mordes an seinem Vater gehängt worden wäre, so wäre das Geld seines Vaters wohl an den nächsten Verwandten gefallen – an den Herrn, bei dessen Firma das Buch erschienen ist, das uns genaue Auskunft über Noyeau gibt. Es ist sehr unangenehm, daß meine Firma die fragliche Flasche geliefert hat. Eine Verantwortung müssen wir natürlich ablehnen. Aber wir werden in unserem demnächst erscheinenden Katalog eine Warnung hinzufügen. Und Sie gestatten mir vielleicht, meine Herren, daß ich Ihnen unser neues Buch ›Die hundertjährige Geschichte des Hauses Plummett & Rose‹ zusende. Es erscheint in eleganter Ausstattung – eine Zierde für jeden Bücherschrank.«
Strupps
Das Tor, auf dessen abgeschuppter, verblichener Oberfläche der Name »Strupps« in dem trüben Licht soeben zu entziffern war, fiel klappend ins Schloß, was bei den durchnäßten Lorbeerbüschen einen Sprühregen auslöste. Susan Tabbit stellte den schweren Koffer hin und betrachtete durch den Regenschleier hindurch das kleine Haus. Es war ein merkwürdiges, schiefes, buckeliges Gebäude, das hinter seinen eigenen Hecken zu horchen schien. Seine Schornsteine – an jedem Dachende einer – hoben sich von dem wässerigen Lichtstreifen im Westen wie zwei gespitzte, intensiv lauschende Ohren ab. Diese Wirkung wurde durch die blinde Fassade noch verstärkt. Susan zitterte ein wenig und dachte sehnsüchtig an den hellen Omnibus, den sie am Fuß des Hügels verlassen hatte. Der Schaffner war offenbar ebenso überrascht gewesen wie der Gepäckträger am Bahnhof, als sie ihr Ziel nannte. Sie hatte den Eindruck gehabt, als wollte er etwas sagen, und sie wünschte, sie hätte den Mut aufgebracht, sich näher zu erkundigen. Strupps. Ein merkwürdiger Name. Ihre verheiratete Schwester hatte mißbilligend die Lippen gespitzt, als sie ihr die Adresse gab: Susan Tabbit bei Mrs. Wispell, Strupps, Roman Way, Bodcaster, und bekennen mußte, daß sie die Stelle ohne Besichtigung angenommen hatte. Nun lag das Haus vor ihr, unnahbar, gleichgültig, aber auf der Lauer. Kein Haus sollte so aussehen. Sie hatte recht dumm gehandelt, aber ihrer Schwester war offensichtlich viel daran gelegen, sie aus dem Hause zu bekommen. Da die zahlreiche Familie ihres Schwagers erwartet wurde, war für sie kein Platz
mehr. Außerdem war sie knapp bei Kasse. Sie hatte es sich so angenehm im Hause Strupps vorgestellt: Haus- und Stubenmädchen bei dreiköpfiger Familie. Diener und Köchin, ein Ehepaar, vorhanden. Bei ihrer letzten Stelle war sie die einzige Hilfe in einer achtköpfigen Familie gewesen, und sie hatte sich daher auf einen leichten Posten gefreut. Susan nahm ihren Koffer wieder auf und schleppte ihn über den nassen Kiesweg zwischen viereckigen Rasenflächen mit leeren Blumenbeeten und dichten Gebüschgruppen. Dann folgte sie einem Pfad zur Rechten, der an der Hausfront mit ihren dunklen, abstoßenden Fenstern entlangführte. Der Weg an der Seite des Hauses war ebenso dunkel wie der andere. Zu ihrer Linken konnte sie die Umrisse einer hohen Glastür erkennen und zu ihrer Rechten eine Blumenrabatte, wo die an Stäben befestigten Blechschilder verlassen baumelten, und dahinter einen von hohen Bäumen eingeschlossenen Rasen. Durch eine quietschende Tür gelangte sie in einen kleinen, gepflasterten Hof, über den aus einem erleuchteten Fenster ein schmaler Lichtstreifen fiel. Sie versuchte in dieses Fenster zu blicken. Aber eine Gardine verhüllte die untere Hälfte. Sie konnte nur die niedrige, mit schwarzen Balken durchzogene Decke sehen, an der eine Petroleumlampe hing. Nicht weit vom Fenster fand sie eine Tür und klopfte. Beim ersten Schlag des altmodischen eisernen Klopfers ertönte wütendes, anhaltendes Hundegebell. Sie wartete klopfenden Herzens, aber niemand erschien. Nach einer Weile faßte sie Mut, den Klopfer noch einmal in Bewegung zu setzen. Diesmal schien sich etwas zu rühren. Das Bellen hörte auf. Sie vernahm, wie der Schlüssel umgedreht und der Riegel zurückgeschoben wurde. Dann öffnete sich die Tür, und eine massige Gestalt verwehrte ihr den Eintritt ins Haus. »Wer sind Sie?«
Eine Stimme, wie Susan sie noch nie gehört hatte: rauh, heiser und geschlechtslos, wie die Stimme eines Erstickenden. »Mein Name ist Tabbit – Susan Tabbit.« »Ach, das neue Mädchen!« Es folgte eine Pause, als ob man sie auf Herz und Nieren prüfen wollte. »Kommen Sie herein.« Die dunkle Masse wich zurück, und Susan trat mit ihrem Koffer über die Schwelle. »Mrs. Wispell hat doch sicher meinen Brief bekommen, in dem ich ihr meine Ankunft mitteilte?« »Ja, aber man kann nie vorsichtig genug sein. Das ist ein abgelegenes Haus. Ihren Koffer können Sie für Jarrock stehen lassen. Hier links ist die Küche.« Susan betrat die Küche, einen niedrigen, nicht sehr großen Raum, und stellte mit Befriedigung fest, daß ein gutes Feuer im Kamin brannte. Eine Reihe glänzender Kupferpfannen über dem Sims strahlte eine beruhigende Wirkung aus. Hinter sich hörte sie wieder die scharrenden Geräusche des Riegels und des Schlüssels. Dann nahte ihre Kerkermeisterin – warum sprang ihr das Wort unaufgefordert in den Sinn? – und trat zum erstenmal ins Licht. Der Eindruck war überwältigend. Das flache, weiße, breite Gesicht, der wogende Busen, der gewaltige Umfang der weißbeschürzten Hüften schienen den Raum auszufüllen. Dann vergaß sie alles andere über dem Schock der Entdeckung, daß die kolossale Frau obendrein noch schielte. Es war kein gewöhnliches Schielen. Das linke Auge war so weit nach innen gedreht, daß die Hälfte der Iris unsichtbar war, was dieser Seite ihres Gesichts ein listiges, boshaftes Aussehen verlieh. Das andere Auge war klein, dunkel und glänzend und heftete sich scharf auf Susan. »Ich bin Mrs. Jarrock«, sagte die Frau mit ihrer seltsamen Stimme.
Es erschien Susan unverständlich, wie jemand, der nicht gerade blind und taub war, eine derart entstellte und wie ein Rabe krächzende Frau heiraten konnte. »Guten Abend«, sagte sie und streckte zögernd die Hand aus, die von Mrs. Jarrocks dicker Pranke mit einem unerwartet harten, männlichen Griff umschlossen wurde. »Sie trinken gewiß gern eine Tasse Tee, ehe Sie sich umziehen«, sagte Mrs. Jarrock. »Sie können doch servieren?« »Oh, ja, das bin ich gewohnt.« »Dann beginnen Sie am besten gleich heute abend. Jarrock hat alle Hände voll zu tun mit Mr. Alistair, der wieder mal seinen schlechten Tag hat. Wir waren beide oben. Deswegen mußten Sie warten.« Wieder blickte sie das Mädchen durchbohrend an, und das Schielauge rollte unkontrollierbar in seiner Höhle. Sie wandte sich ab, um den Kessel vom Herd zu nehmen, und Susan konnte sich nicht von der Vorstellung befreien, daß das linke Auge sie immer noch aus seinem Versteck hinter der flachen Nase der Köchin anschielte. »Hat man es hier gut?« fragte Susan. »Oh, es ist ganz erträglich«, erwiderte Mrs. Jarrock. »Man darf nur nicht nervös sein. Sie kümmert sich nicht viel um den Haushalt, aber das ist unter den Umständen nicht anders zu erwarten, und er ist ganz friedlich, wenn man ihm nicht in die Quere kommt. Mit Mr. Alistair haben Sie nichts zu tun, das ist Jarrocks Sache. Hier ist Ihr Tee. Ob Jarrock wohl…« Sie brach ab und neigte den großen Kopf zur Seite, als ob sie auf etwas horchte, das oben vor sich ging. Dann eilte sie durch die Küche, mit einem für eine so schwerfällige Frau überraschend leichten Schritt, und verschwand in der Dunkelheit des Flurs. Die ängstlich lauschende Susan glaubte ein Stöhnen und das Getrappel von Füßen über der Balkendecke zu vernehmen. Nach wenigen Minuten kehrte Mrs. Jarrock zurück, nahm den Kessel vom Feuer und reichte ihn einer unsichtbaren Person im
Flur. Es folgte ein längeres Geflüster. Dann erschien Mrs. Jarrock wieder und begann Toast mit Butter zu bestreichen. Susan aß ohne Appetit. Sie war hungrig gewesen, als sie aus dem Bus stieg, aber die Atmosphäre des Hauses bedrückte sie. Sie hatte gerade eine zweite Scheibe Toast abgelehnt, als sie merkte, daß jemand die Küche betreten hatte. Es war ein großer, kräftig gebauter Mann, aber er stand an der Tür, als sei er mißtrauisch oder schüchtern. Als Susan den Kopf zur Tür wandte, drehte Mrs. Jarrock sich ebenfalls um. »Da bist du ja, Jarrock. Hier, trink deinen Tee.« Daraufhin schlich der Mann seitwärts wie eine Krabbe an der Wand entlang und kam auf diese merkwürdige Weise schließlich zur anderen Seite des Feuers, wo er mit abgewandtem Kopf stehenblieb und Susan aus den Augenwinkeln anblickte. »Dies ist Susan«, erklärte Mrs. Jarrock. »Hoffentlich gewöhnt sie sich gut ein. Ich bin froh, wenn ich endlich Hilfe bekomme.« »Wir werden unser Bestes tun, um ihr das Leben hier zu erleichtern«, sagte der Mann mit einem sonderbaren Lispeln. Obgleich er ihr die Hand entgegenstreckte, hielt er den Kopf abgewandt. Er ließ sich in einem Lehnstuhl nieder, der ziemlich weit vom Kamin entfernt stand, und starrte ins Feuer. Der Hund, der bei Susans Klopfen gebellt hatte, war ihm in die Küche gefolgt und umkreiste leise knurrend die Beine des Mädchens. »Ruhig, Crippen«, gebot der Mann. »Platz!« Der Hund, ein großer, scheckiger Bullterrier setzte sich, aber er knurrte weiter, bis Jarrock ihn am Halsband zurückriß und mit einem kräftigen Klaps unter den Tisch scheuchte. Bei dieser Gelegenheit wandte Jarrock zum erstenmal Susan ganz das Gesicht zu, und sie sah mit Entsetzen, daß die linke Seite vom Backenknochen abwärts eine einzige schreckliche Narbe war, die den Mund zu einem grausigen Lächeln nach oben zerrte.
Ist denn jeder in diesem Hause verstümmelt oder mißgestaltet oder verrückt? fragte sich Susan verzweifelt. Gleichsam als Antwort auf ihre Gedanken sagte Mrs. Jarrock zu ihrem Mann: »Hat er sich jetzt beruhigt?« »Oh, er ist ganz friedlich«, lispelte der Mann durch seine zerschmetterten Kiefer. »Er wird keine Schwierigkeiten mehr machen.« Er zog sich wieder in seine Ecke zurück und begann geräuschvoll an seinem gebutterten Toast zu lutschen. »Wenn Sie Ihren Tee ausgetrunken haben«, sagte Mrs. Jarrock zu Susan, »zeige ich Ihnen Ihr Zimmer. Hast du den Koffer nach oben gebracht, Jarrock?« Der Mann nickte wortlos, und Susan folgte beklommen diesem Ungetüm von einer Frau, die eine Kerze in einem Leuchter angezündet hatte. »Die Treppe wird Ihnen zuerst etwas steil vorkommen«, sagte die heisere Stimme. »Und nehmen Sie in den Gängen Ihren Kopf in acht. Dieses Haus ist anscheinend im Jahre eins gebaut und noch dazu von einem verrückten Architekten.« Mrs. Jarrock glitt geräuschlos durch einen schmalen Korridor in eine quadratische, mit Fliesen belegte Diele, wo eine Petroleumfunzel die Dunkelheit noch zu vertiefen schien, und stieg dann eine schwarze, auf Hochglanz polierte Eichentreppe mit geschnitztem Geländer empor. »Es gibt nur eine Treppe im Haus«, erklärte Mrs. Jarrock. »Höchst unbequem, aber nicht zu ändern. Sie müssen warten, bis er sich morgens in sein Zimmer verzogen hat, ehe Sie das schmutzige Wasser hinuntertragen; er sieht nicht gern Eimer. Dies hier ist das Schlafzimmer, da drüben das Gästezimmer, dies hier ist Mr. Alistairs Zimmer. Jarrock schläft natürlich bei ihm, für den Fall…« Sie blieb horchend an der Tür stehen und kletterte dann eine enge Bodentreppe hinauf. »Das ist Ihr Zimmer – klein, aber Sie sind für sich. Ich schlafe nebenan.«
Die Kerze warf ihre Schatten, ins Riesenhafte verzerrt, auf die schräge Decke, und Susan dachte: Wenn ich hier bleibe, werde ich auch eine phantastische Gestalt bekommen. »Und der große Bodenraum gehört dem Hausherrn. Damit haben Sie nichts zu tun. Wenn wir nur die Nase um die Ecke stecken, sind wir unsere Stellung los. Er schließt ihn sowieso immer ab.« Sie stieß einen heiseren Lacher aus. »Merkwürdige Dinge hebt er dort auf, das muß ich schon sagen. Ich habe sie gesehen – wenn er sie nach unten bringt, heißt das. Ein komischer Kauz, dieser Mr. Wispell. Na, werfen Sie sich nur rasch in Ihr Schwarzes; dann stelle ich Sie der Hausherrin vor.« Susan kleidete sich hastig um vor dem kleinen, herzförmigen Spiegel mit dem grünlichen Glas, das das Kerzenlicht mehr zu absorbieren ab zu reflektieren schien. Sie zog die karierten Vorhänge beiseite und stellte fest, daß ihr Fenster den Seitengarten überblickte. Unter ihr lag die Blumenrabatte, und dahinter erhoben sich die hohen Bäume wie eine Mauer. Das Zimmerchen selbst war behaglich ausgestattet, erhielt jedoch eine merkwürdige Form durch den großen Schornstein, der am Kopfende ihres Bettes in einem abenteuerlichen Knick nach oben verlief. Ein winziger Kamin war an den Schornstein angeschlossen, sah aber unbenutzt aus. Wahrscheinlich, dachte Susan, qualmte er. Dann stand sie, die Kerze in der Hand, zögernd am Kopf der Treppe. Die Angst vor der Einsamkeit kämpfte in ihr mit der Angst vor dem, was sie unten erwartete. Auf Zehenspitzen schlich sie die Bodentreppe hinab. Als sie auf dem oberen Korridor ankam, sah sie, wie Jarrock gerade die untere Treppe hinunterlief. Die Tür zu »Mr. Alistairs Zimmer« hatte er offengelassen. Getrieben von einer Neugierde, die mächtiger war als ihre Angst, schlich sie bis zur Tür und blickte verstohlen hinein. Ihr gegenüber stand ein altmodisches Himmelbett mit dunkelgrünen Behängen, und eine abgeblendete Leselampe
brannte auf einem kleinen Tisch daneben. Der Mann in dem Bett lag mit geschlossenen Augen flach auf dem Rücken. Das Gesicht mit den scharfen Nasenflügeln war von einer durchsichtigen, wachsartigen Blässe. Eine Hand, so dünn wie eine Klaue, lag regungslos auf der grünen Decke; die andere war im Schatten der Vorhänge verborgen. Wenn Jarrock vorhin von Mr. Alistair gesprochen hatte, mußte sie ihm beipflichten: dieser Mann war jetzt durchaus friedlich. »Der Arme«, flüsterte Susan, »er ist gestorben.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, als eine dröhnende Lachsalve von unten heraufschallte, ungeheuerlich, kolossal, phantastisch – ein Frevel gegen das schweigende Haus. Susan fuhr zurück und schleuderte dadurch die Lichtschere aus dem Kerzenhalter, die klappernd die Eichentreppe hinunterrollte und mit metallischem Klirren unten auf den Fliesen landete. Eine Tür wurde aufgerissen, und eine laute Stimme, in deren Tiefen noch ein Rest jener albernen Heiterkeit lauerte, rief: »Was war das? Zum Teufel noch mal! Jarrock, haben Sie den höllischen Krach gemacht?« »Entschuldigen Sie vielmals, Sir«, sagte Susan und trat bestürzt an den Treppenkopf. »Es war meine Schuld.« »Donnerwetter, wer sind Sie denn? Kommen Sie mal herunter, damit man Sie in Augenschein nehmen kann. Oh!« rief er, als Susans schwarzes Kleid und weiße Schürze bei der Treppenbiegung in Sicht kamen, »das neue Hausmädchen. Eine schöne Art, sich einzuführen. Verdammt guter Anfang! Ich wünsche keinen Lärm. Aller Lärm in diesem Haus wird von mir gemacht, verstanden?« »Ja, Sir, es soll nicht wieder vorkommen, Sir.« »So ist’s richtig. Und wenn Sie die Stufen beschädigt haben, dann geht’s Ihnen an den Kragen. Wissen Sie das?« Er legte den großen, bärtigen Kopf in den Nacken, und sein schallendes Gewieher schien das Haus wie ein Windstoß zu erschüttern.
»Nun kommen Sie schon, Mädchen, ich fresse Sie diesmal noch nicht. Zeigen Sie mir mal Ihr Gesicht. Ihre Beine sind wenigstens in Ordnung. Hausmädchen mit dicken Beinen kann ich nicht ausstehen. Kommen Sie herein und lassen Sie sich unter die Lupe nehmen, Sidonia, hier ist das neue Mädchen. Noch keine Minute im Haus, und schon wirft sie mit den Möbeln um sich. Hast du gehört? Ha, ha, ha!« Er schob Susan vor sich her in ein Wohnzimmer, das mit seinen leuchtend bunten Farben wie ein Pfauenschwanz wirkte. Die Fenster waren fest verrammelt. Auf einer Couch vor dem Kamin lag eine junge Frau mit einem kleinen, weißen, herzförmigen Gesicht, das von ihren schweren roten Haarmassen eingerahmt und fast darunter begraben wurde. Alte, schwere Ringe schmückten ihre langen Finger. Bei dem lärmenden Eintritt ihres Mannes erhob sie sich etwas unbeholfen und unsicher. »Lieber Walter, schrei nicht so. Ich habe Kopfschmerzen, und dem armen Mädchen jagst du Angst ein. Sie sind also Susan. Hoffentlich haben Sie eine gute Reise gehabt. Kümmern sich Mr. und Mrs. Jarrock um Sie?« »Ja, danke, gnädige Frau.« »Das ist schön.« Ihr Blick wanderte ein wenig hilflos zu ihrem Mann und dann wieder zurück zu Susan. »Ich hoffe, Sie werden Ihre Arbeit gut verrichten, Susan.« »Ich werde mich bemühen, Sie zufriedenzustellen, gnädige Frau.« »Ja, ja, davon bin ich überzeugt.« Sie ließ ein silbernes Lachen erklingen, das einem Vogelruf ähnelte. »Mrs. Jarrock wird Sie in alles einweihen. Ich hoffe, Sie werden sich hier wohl fühlen und bei uns bleiben.« Wieder ertönte ihr hübsches, sinnloses Lachen. »Hoffentlich verschwindet Susan nicht wie das letzte Mädchen«, sagte Mr. Wispell. Susan fing einen Blick auf, den
seine Frau ihm rasch zuwarf, aber ehe sie entscheiden konnte, ob er Furcht oder eine Warnung ausdrückte, wurden sie unterbrochen. Ein scharfer Glockenton erschallte, und in dem darauffolgenden Schweigen tauschten die beiden Wispells ängstliche Blicke aus. »Was ist das schon wieder, zum Kuckuck noch mal?« rief Mr. Wispell. Jarrock kam mit einem Telegramm herein, das Wispell ihm aus der Hand riß und öffnete. Mit einem Ausruf der Bestürzung reichte er es seiner Frau, die einen scharfen Schrei ausstieß. »Walter, das geht nicht! Sie darf nicht kommen. Können wir sie nicht daran hindern?« »Sei nicht töricht, Sidonia. Was können wir tun?« »Aber Walter, verstehst du denn nicht? Sie wird erwarten, daß sie Helen vorfindet.« »Oh, Herr!« stöhnte Mr. Wispell.
Susan ging früh zu Bett. Das Abendessen war eine gezwungene, melancholische Mahlzeit gewesen. Mrs. Wispell hatte von Zeit zu Zeit von nichtigen Kleinigkeiten geredet, und Mister Wispell schien in wuterfüllten Trübsinn versunken zu sein, aus dem er sich nur aufrüttelte, um von Susan mehr Kartoffeln oder noch eine Scheibe Brot zu verlangen. Auch in der Küche war es nicht besser; man erwartete anscheinend Besuch. »Per Auto von York«, murmelte Mrs. Jarrock. »Wer weiß, wann sie hier eintreffen. Aber das sieht ihr so richtig ähnlich. Keine Rücksichtnahme. Nie welche besessen. Mrs. Wispell kann mir leid tun.« Jarrocks entstellter Mund verzog sich zu einem noch entsetzlicheren Grinsen. »Reiche Leute tun, was ihnen beliebt«, meinte er. »Vor vier Jahren war es dasselbe. Ein Telegramm – und wehe, wenn nicht alles klappt! Aber wir werden bereit sein. O ja, das wirst
du schon sehen.« Er kicherte leise vor sich hin. Auf Mrs. Jarrocks Gesicht lag ein merkwürdiges, verschlagenes Lächeln. »Sie müssen mir helfen, das Gastzimmer herzurichten, Susan.« Als Susan später in die Spülküche kam, um eine Wärmflasche zu füllen, fand sie die Jarrocks in vertraulicher Unterhaltung. »Und sieh zu, daß du nicht so viel Lärm machst«, sagte die Köchin. »Diese Mädchen haben lange Zungen. Trauen kann man keiner…« Sie drehte sich um und sah Susan. »Wenn Sie fertig sind«, sagte sie und nahm ihr die Wärmflasche aus der Hand, »gehen Sie am besten zu Bett. Sie haben eine lange Reise hinter sich.« Die sanft gesprochenen Worte klangen wie ein Befehl. Susan holte ihren Kerzenhalter aus der Küche, und als sie wieder an der Spülküche vorbeikam, hörte sie die Jarrocks miteinander flüstern. An der Hintertür entdeckte sie zwei Spaten und einen leeren Sack. Die hatte sie dort vorher nicht gesehen, und sie fragte sich im stillen, was Jarrock wohl damit vorhatte. Sie schlief rasch ein, denn sie war müde. Aber einige Stunden später fuhr sie aus dem Schlaf mit dem Gefühl, daß man sich in ihrem Zimmer unterhielt. Der Regen hatte aufgehört, und ihr Zimmer war von einem matten Mondlicht erhellt. Es war niemand da, aber die Stimmen waren kein Traum. Dicht neben ihrem Kopf vernahm sie ein Gemurmel. Sie setzte sich auf und zündete ihre Kerze an. Dann schlüpfte sie aus dem Bett und schlich zur Tür. Der Korridor war leer; aus dem Zimmer nebenan drang das tiefe, regelmäßige Schnarchen der Köchin. Susan ging zurück und stand einen Augenblick verdutzt da. In der Mitte des Zimmers konnte sie nichts hören, aber sobald sie sich ins Bett legte, ertönten die Stimmen wieder, etwas gedämpft, als wären die Sprechenden tief unten in einem Brunnen. Sie beugte sich über den leeren Kamin. Sofort wurden die Stimmen deutlicher,
und sie merkte, daß der große Schornstein ein Sprachrohr bildete für Leute, die sich in dem darunterliegenden Raum unterhielten. Mr. Wispell sprach gerade. »… fangen am besten schon an… können jederzeit hiersein…« »Der Boden ist ganz weich.« Das war Jarrock. Ein paar Worte entgingen ihr, und dann: »… sie vier Fuß tief vergraben wegen der Rosenbüsche.« Es folgte ein Schweigen. Dann kam das gedämpfte Echo von Mr. Wispells homerischem Gelächter, das durch den hohlen Schornstein dröhnte. Susan hockte halb erstarrt vor dem Kamin. Die Stimmen sanken zu einem leisen Gemurmel ab. Dann wurde eine Tür geschlossen und es herrschte völlige Stille. Sie streckte ihre verkrampften Glieder und lauschte noch einen Moment. Dann begann sie sich hastig anzukleiden. Sie mußte dieses schreckliche Maus verlassen. Plötzlich ertönte ein leiser Schritt auf dem Kiesweg unter ihrem Fenster, bald darauf ein Klirren von Eisen. Dann hörte sie eine Männerstimme: »Hier zwischen Betty Uprichard und Evelyn Thornton.« Daraufhin wurde ein Spaten in den schweren Boden gestoßen. Susan schlich zum Fenster und blickte hinaus. Da unten im Mondlicht waren Mr. Wispell und Jarrock fieberhaft bei der Arbeit. Sie hoben einen flachen Graben aus. Ein Rosenbusch wurde herausgenommen und auf die Seite gelegt. Während Susan zusah, wurde der Graben zusehends tiefer und breiter und nahm eine unheimliche Gestalt an. Eilig zog Susan sich die letzten Kleidungsstücke an, suchte ihre Handtasche mit dem Geld und öffnete vorsichtig die Tür. Es war nichts weiter zu hören als das tiefe Schnarchen von nebenan. Sie hob ihren Koffer auf, den sie vorm Schlafengehen noch nicht ausgepackt hatte, zögerte eine Weile und schlich dann so
schnell und leise wie sie konnte auf Zehenspitzen die steile Treppe hinunter. Mr. Wispells Worte fielen ihr wieder ein und nahmen plötzlich eine drohende Bedeutung an. »Hoffentlich verschwindet sie nicht ebenso wie das letzte Mädchen.« Hatte die letzte auch etwas gesehen, das nicht für ihre Augen bestimmt war, war sie ebenfalls mit zitternden Knien die schwarze Eichentreppe hinabgehuscht? Oder war sie auf seltsamere Weise verschwunden und lag für immer vier Fuß tief unter den Rosenbüschen? Die alten Dielen knarrten unter Susans Gewicht. Auf dem unteren Korridor stand die Tür zu Mister Alistairs Zimmer ein wenig offen. Wurde das Grab im Garten für ihn geschaufelt? Oder war es für sie bestimmt? Oder gar für den in der Nacht erwarteten Besuch? Im Licht ihrer flackernden Kerze sah sie, daß die Haustür mit Schlüssel, Riegel und Kette verschlossen war. Nur das Grauen gab ihr die Kraft, mit äußerster Vorsicht und Beherrschung den quietschenden Riegel zurückzuschieben, die Kette zu lösen und den schweren Schlüssel umzudrehen. Der Garten lag still und aufgeweicht im Mondlicht da. Leise zog sie die Tür hinter sich zu und stand frei auf der Schwelle. Sie holte tief Atem und glitt lautlos wie ein Schatten den Pfad hinab. An der Straße, die den Hügel hinabführte, stand eine dichte Gruppe von Büschen. Hier versteckte sie ihren Koffer, und dann rannte sie, was sie konnte.
In aller Herrgottsfrühe um vier Uhr erzählte ein junger Polizist dem Polizeiwachtmeister in Dedcaster eine merkwürdige Geschichte. »Das junge Mädchen hat einen ziemlichen Schrecken bekommen«, sagte er, »aber ihre Geschichte klingt durchaus glaubwürdig. Sollen wir die Sache überprüfen? Was meinen Sie dazu?«
»Klingt verdächtig«, erwiderte der Wachtmeister. »Vielleicht ist es doch besser, wenn Sie mal nachsehen. Warten Sie, ich komme selbst mit. Eigentümliche Leute, diese Wispells. Der Mann ist ein Künstler, nicht wahr? Das sind meistens lockere Vögel. Holen Sie den Wagen heraus, Blaycock, Sie können uns fahren.« »Zum Kuckuck noch mal, was soll das denn heißen?« fragte Mr. Wispell, der aufrecht im Licht der Polizeilaterne stand. Er stützte sich auf seinen Spaten und wischte sich mit seiner erdbeschmutzten Hand den Schweiß von der Stirn. »Ist das unser Hausmädchen, das Sie da bei sich haben? Was hat sie auf dem Kerbholz? He? Was gestohlen? Wenn Sie das Silber eingesteckt haben, Sie kleiner Feger, dann können Sie was erleben!« »Dieses junge Mädchen ist mit einer sonderbaren Geschichte zu uns gekommen, Mr. Wispell«, erklärte der Wachtmeister. »Ich möchte gern wissen, was Sie hier zu graben haben.« Mr. Wispell lachte. »Was ich hier zu graben habe? Hören Sie, ich kann doch noch in meinem eigenen Garten graben, ohne daß Sie Ihre Nase hineinstecken!« »Das verfängt bei uns nicht, Mr. Wispell. Dies ist ein Grab, das sieht man doch. Zum bloßen Zeitvertreib gräbt keiner mitten in der Nacht ein Grab in seinem Garten. Ich möchte dieses Grab geöffnet sehen. Was haben Sie darin? Sagen Sie die Wahrheit.« »Im Augenblick ist niemand darin«, antwortete Mister Wispell, »und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie etwas weniger Lärm machen würden. Meine Frau ist nicht ganz gesund, und mein Schwager hat gerade wieder einen Anfall gehabt. Wir müssen ihn unter Morphium halten. Und da kommen Sie mit Ihrem Gebrüll…« »Was ist da in dem Sack?« unterbrach ihn der junge Polizist. Als sich die anderen neugierig vordrängten, stand Susan auf
einmal dicht neben ihm, und er beruhigte sie, indem er ihr freundlich auf den Arm klopfte. »In dem Sack?« Mr. Wispell lachte wieder. »Das ist Helen. Fügen Sie ihr keinen Schaden zu, ich flehe Sie an – wenn meine Tante…« Der Wachtmeister hatte den Sack schon mit seinem Taschenmesser aufgeschlitzt. Das bleiche, aber sehr schmutzige Gesicht einer Frau schimmerte zu ihnen herauf. Ihre Augenlider waren mit Erde bedeckt. »Marmor!« rief der Wachtmeister. »Nun schlägt’s dreizehn!« In diesem Augenblick hielt ein Auto vor dem Tor. »Allmächtiger Himmel!« stieß Mr. Wispell hervor. »Wir sind erledigt! Schaffen Sie die Frau rasch ins Haus, Jarrock.« »Einen Augenblick, Sir. Ich möchte erst mal wissen…« Schritte kamen auf dem Kies näher. Mr. Wispell rang die Hände. »Zu spät!« stöhnte er. Eine ältere, sehr große und kerzengerade Dame bog um die Hausecke. »Was machst du denn hier draußen, Walter?« fragte sie mit durchdringender Stimme. »Polizei? Ein schönes Willkommen für deine Tante, das muß ich schon sagen. Und was… was hat mein Hochzeitsgeschenk hier im Garten zu suchen?« fügte sie hinzu, als ihr Blick auf die nackte Marmorfigur fiel. »Oh, Herr!« stöhnte Mr. Wispell. Resigniert warf er den Spaten hin und marschierte ins Haus.
»Ich fürchte«, sagte Mrs. Wispell, »Sie müssen Ihr Monatsgehalt nehmen und wieder gehen, Susan. Mr. Wispell ist sehr ärgerlich. Sehen Sie, diese Statue war nämlich so häßlich, daß er sie nicht im Haus haben wollte, und es war nicht möglich, sie zu verkaufen, da seine Tante jederzeit auftauchen konnte. Daher vergruben wir sie, und als Tante
telegrafierte, mußten wir sie natürlich wieder ausgraben. Aber ich fürchte, sie wird das meinem Mann nie verzeihen und bestimmt ihr Testament ändern. Na, er ist jedenfalls sehr zornig, und ich verstehe auch nicht, wie Sie so töricht sein konnten.« »Es tut mir bestimmt leid, gnädige Frau. Ich war etwas nervös…« »Vielleicht«, krächzte Mrs. Jarrock, »war das arme Mädchen durch Jarrock aus der Fassung gebracht. Ich hätte ihr erklären sollen, daß er und der arme Mr. Alistair im Kriege eine Granatexplosion mitgemacht haben. Aber da ich an sein armes Gesicht gewöhnt bin und wir gerade die Aufregung mit Mr. Alistair hatten, habe ich nicht daran gedacht.« Mr. Wispells Stimme dröhnte die Treppe herab. »Ist die dumme Gans endlich fort?« Der junge Polizist legte Susan die Hand auf den Arm. Er hatte schöne braune Augen und lockiges Haar, und seine Stimme klang freundlich. »Ich glaube, Miß«, meinte er, »Strupps ist nicht der richtige Platz für Sie. Am besten kommen Sie zu uns und essen mit meiner Mutter und mir zu Mittag.«
Blutrache
Wenn das in diesem Stile so weiterging, würde John Scales bald ein reicher Mann sein. Schon jetzt war er zu beneiden, wie jeder erraten, konnte, der nach acht Uhr am Königstheater vorbeikam. Die alte Florrie, die mit ihrem Streichholztablett schon so viele Jahre an der Ecke gesessen hatte, wußte Bescheid; niemand anders war so gut über das Königstheater orientiert wie sie. Als sie, nach dem furchtbaren Bühnenbrand, den sie mit vernarbtem Gesicht und einem verdorrten Arm überstanden hatte, ihre Laufbahn aufgeben mußte, hatte sie aus Sentimentalität ihren Stand in der Nähe des Theaters errichtet und wachte immer noch wie eine Mutter über sein Wohlergehen. Sie wußte besser als jeder andere, wieviel Geld eingenommen wurde, wenn das Haus ausverkauft war, was für Gehälter gezahlt wurden, wieviel von den Einkünften die stehenden Ausgaben verschlangen und wie groß der Anteil des Autors war. Außerdem wechselte jeder, der durch die Bühnentür ging, ein paar Worte mit Florrie. Sie nahm Anteil an den guten und schlechten Zeiten des Theaters. Sie hatte die durch die Wirtschaftskrise und den Tonfilm verursachten mageren Zeiten beklagt, den Kopf geschüttelt über gefährliche Experimente mit anspruchsvollen Stücken; sie hatte Tränen der Empörung vergossen über die unheilvolle Periode der Scorer Bitterby-Direktion, die mit einem Skandal endete, und sich gefreut, als der energische Mr. Garrick Drury nach seinem ungeheuren Erfolg in der Titelrolle des Stückes »Der sehnsüchtige Harlekin« das alte Theater übernahm, es von innen und außen renovieren ließ (wobei er gleich zwei Sitzreihen mehr in das Parkett quetschte) und seinen
optimistischen Entschluß verkündete, das Theater glücklicheren Zeiten entgegenzuführen. Und seitdem hatte sie den ständigen Aufstieg des Theaters auf den wohlerprobten Flügeln altmodischer Romantik verfolgen können. Mr. Garrick Drury (die Behörden kannten ihn als Obadja Potts, was man jedoch bei seinem guten Aussehen nie vermutet hätte) war ein Intendant und Schauspieler nach Florries Herzen. Er übte seinen Beruf im guten alten Stil aus: baute seine Erfolge auf seiner eigenen glanzvollen Persönlichkeit auf, redete keinen Unsinn über neue dramatische Richtungen und verherrlichte »team work« nur in Worten. Er hatte das Glück gehabt, seine Direktionslaufbahn zu einem Zeitpunkt anzutreten, als das Publikum der düsteren slawischen Tragödien mit unterdrückten Ehemännern und der menschlichen Dokumente über Alkohol und Laster überdrüssig geworden war und nach rührseligen romantischen Stücken verlangte mit einem romantischen Helden, der durch zweidreiviertel Akte hindurch Qualen der Selbstaufopferung erduldete und in den letzten zehn Minuten die Geliebte endlich bekam. Mr. Drury (zweiundvierzig bei Tageslicht, fünfunddreißig bei Lampenlicht und fünfundzwanzig oder darunter mit blonder Perücke im Rampenlicht) eignete sich von Natur aus gut dafür, Mädchen auf diese aufopfernde Art zu gewinnen, und verstand sich auf den Trick, die Sentimentalität des neunzehnten Jahrhunderts so mit der Nonchalance des zwanzigsten zu vermengen, daß die Mischung in gleicher Weise der Stenotypistin Joan und der vom Lande kommenden Tante Mabel zu Kopfe stieg. Und da Mr. Drury, wenn er allabendlich mit jener strahlenden, jugendlichen Lebhaftigkeit, die schon seit zwanzig Jahren seine größte Zugkraft darstellte, aus seinem Wagen sprang, stets Zeit fand, die alte Florrie mit einem Lächeln oder einem freundlichen Wort zu beglücken, übte er auf sie genau dieselbe Wirkung aus wie auf alle
anderen. Niemand war mehr entzückt als Florrie, als es sich herausstellte, daß er mit dem Stück »Bitterer Lorbeer«, das jetzt der 100. Aufführung entgegenging, wieder einmal das große Los gezogen hatte. Abend für Abend begrüßte sie mit zufriedenem Lächeln die Ankündigung »Ausverkauft«. Es sah so aus, als ob das Stück ewig laufen würde, und die Gesichter der Menschen, die durch den Bühneneingang gingen, machten einen heiteren und glücklichen Eindruck, wie Florrie das schätzte. Und der junge Mann, der das Rohmaterial geliefert hatte, aus dem Mr. Drury dieses glänzende Erfolgsstück aufbaute, konnte nach Florries Ansicht auch zufrieden sein. Für gewöhnlich dachte man ja nicht viel an den Verfasser eines Stückes – wenn es sich nicht gerade um Shakespeare handelte, der natürlich unter eine andere Kategorie fiel. Verglichen mit den Schauspielern, war der Autor eine unbedeutende Figur. Man kannte ihn kaum. Aber Mr. Drury war eines Tages Arm in Arm mit einem verdrießlichen, schlechtgekleideten Jüngling erschienen, den er Florrie auf seine feine, großzügige Art vorgestellt hatte. »Hier, John, Sie müssen unbedingt Florrie kennenlernen. Sie ist unser Maskottchen – was sollten wir ohne sie wohl anfangen? Florrie, dies ist Mr. Scales, dessen neues Stück uns ein Vermögen einbringen wird.« Mr. Drury irrte sich nie bei einem Stück; er hatte den sechsten Sinn. Und während der letzten drei Monate war Mr. Scales, obwohl immer noch verdrießlich, sehr viel besser gekleidet gewesen. An diesem besonderen Abend – Sonnabend, dem 15. April, als die 96. Aufführung von »Bitterer Lorbeer« vor ausverkauftem Hause stattfand – kamen Mr. Scales und Mr. Drury, beide im Gesellschaftsanzug, zusammen an, und zwar, wie Florrie voller Unruhe bemerkte, reichlich spät. Mr. Drury würde sich beeilen müssen, und es war sehr ärgerlich, daß ihn Mr. Scales an der Tür noch mit langen Erklärungen aufhielt.
Mr. Drury schien aber durchaus nicht verstimmt zu sein. Er zeigte sein berühmtes dämonisches Lächeln und legte Mr. Scales seine ebenfalls berühmte, ausdrucksvolle Hand wohlwollend auf die Schulter. »Tut mir leid, mein Junge, habe jetzt keine Zeit. Der Vorhang muß aufgehen. Sie wissen. Kommen Sie nach der Aufführung zu mir – dann werde ich diese Leute hier haben.« Und er verschwand mit huldvollem Lächeln und einer ausdrucksvollen Handbewegung. Mr. Scales drehte sich nach kurzem Zögern um und kam auf Florries Ecke zu. Er schien immer noch verdrießlich und in Gedanken versunken zu sein, doch als er aufsah und Florrie bemerkte, lächelte er ihr zu. Sein Lächeln hatte nichts Dämonisches an sich. »Na, Florrie, wir scheinen ja, finanziell gesehen, einen ziemlichen Erfolg zu haben, nicht wahr?« Florrie stimmte ihm begeistert zu. »Aber daran sind wir mittlerweile schon gewöhnt. Mr. Drury ist ein wundervoller Mann. In welcher Rolle er auch auftritt, sie kommen alle, um ihn zu sehen. Natürlich«, fügte sie hinzu, als ihr einfiel, daß dies vielleicht nicht besonders nett klang, »versteht er es gut, das richtige Stück zu wählen.« »O ja«, meinte Mr. Scales. »Das Stück. Das hat wohl auch etwas damit zu tun. Nicht viel, aber immerhin etwas. Haben Sie das Stück gesehen, Florrie?« Ja, Florrie hatte es gesehen. Mr. Drury war ja so freundlich. Nie vergaß er, ihr schon zu Anfang eine Freikarte zu schenken, mochte das Haus noch so voll sein. »Wie fanden Sie es?« erkundigte sich Mr. Scales. »Ich fand es ganz reizend«, erwiderte Florrie. »Ich habe so geweint. Wie er einarmig zurückkehrt und seine Braut…« »Eben, eben«, sagte Mr. Scales. »Und die Szene an der Themse, als er seinen alten Uniformrock zusammenrollt und zu dem Bobby sagt: ›Ich
werde auf meinen Lorbeeren ausruhen‹ – damit haben Sie ihm eine Bravourzeile gegeben, Mr. Scales. Und wie er sie gebracht hat!« »Allerdings. So bringt es nur Drury fertig.« »Und wie sie zu ihm zurückkehrt und er sie nicht mehr haben will, und wie dann Lady Sylvia sich in ihn verliebt…« »Ja, ja«, unterbrach Mr. Scales. »Sie fanden diesen Teil besonders rührend?« »Romantisch!« schwärmte Florrie. »Und dann die Szene zwischen den beiden Frauen – einfach herrlich. Riß einen ordentlich mit. Und zum Schluß, wenn er die nimmt, die er wirklich liebt…« »Das haut hin, nicht wahr?« sagte Mr. Scales. »Direkt herzergreifend. Es freut mich, Florrie, daß Sie so denken. Denn ganz abgesehen von allem anderen, bringt es Geld in die Kasse.« »Und ob! Ihr erstes Stück, nicht wahr? Sie können sich glücklich schätzen, daß Mr. Drury es genommen hat.« »Ja«, erwiderte Mr. Scales. »Ich schulde ihm viel. Das sagt jeder, also muß es wahr sein. Heute abend erscheinen zwei wohlbeleibte Männer in Astrachanmänteln, um die Filmrechte zu erwerben. Ich bin ein gemachter Mann, Florrie, und das ist immerhin angenehm, besonders wenn man fünf, sechs Jahre von der Hand in den Mund gelebt hat. Kein reines Vergnügen, mit knurrendem Magen herumzulaufen. Meinen Sie nicht auch?« »Das kann man wohl sagen«, bestätigte Florrie, die ein Liedchen davon singen konnte. »Ich bin ja so froh, daß Ihr Blättchen sich endlich gewendet hat.« »Danke«, sagte Mr. Scales. »Hier, trinken Sie ein Glas auf den Erfolg des Stückes.« Er fummelte in seiner Brusttasche. »Hier, einen grünen und einen braunen. Dreißig Shilling.
Dreißig Silberlinge. Kaufen Sie sich etwas Schönes dafür, Florrie. Es ist Blutgeld.« »Was reden Sie da bloß!« rief Florrie aus. »Na ja, Schriftsteller erlauben sich gern mal einen Scherz. Und ich weiß noch, daß der arme Mr. Milling, der ›Pussy und das Mädchen mit dem Lippenstift‹ schrieb, immer zu sagen pflegte, daß er bei jedem Stück Blut geschwitzt habe.« Ein netter junger Mann, dachte Florrie, als Mr. Scales davonging. Ein bißchen sonderbar und für die, die mit ihm leben mußten, vielleicht etwas schwierig im Umgang. Er hatte ja sehr nett von Drury gesprochen, aber einmal, so schien es ihr, hatte Sarkasmus durchgeklungen. Auch gefiel ihr der Scherz mit den dreißig Silberlingen nicht so recht. Aber die Menschen sagten heutzutage so mancherlei, und dreißig Shilling waren dreißig Shilling. Sehr freundlich von Mr. Scales.
Mr. John Scales schlenderte mißmutig durch die Shaftesbury Avenue und wußte nicht, wie er die nächsten drei Stunden totschlagen sollte. Da begegnete er einem Freund, der gerade aus der Wardour Street kam. Dieser Freund – ein großer, dünner junger Mann, der einen schäbigen Mantel und einen verwitterten Schlapphut trug und aussah wie ein hungriger Falke – hatte ein Mädchen bei sich. »Guten Abend, Mollie«, sagte Scales, »guten Abend, Sheridan.« »Guten Abend«, erwiderte Sheridan. »Sieh mal einer an! Der große Mann in eigener Person. Londons neuer Dramatiker.« »Hör auf«, sagte Scales. »Dein Stück scheint ein Riesenerfolg zu sein«, fuhr Sheridan fort. »Herzlichen Glückwunsch. Zum Erfolg, meine ich.«
»Gott!« stöhnte Scales. »Hast du es gesehen? Ich hatte dir Karten geschickt.« »Ja, vielen Dank, war sehr nett von dir. Wir haben die Aufführung gesehen. Du hast es fertiggebracht, deine Seele ziemlich teuer zu verschachern.« »Hör zu, Sheridan – es war nicht meine Schuld. Ich bin genauso angewidert wie du. Noch mehr. Aber ich war so töricht und habe den Kontrakt ohne eine Vorbehaltsklausel unterzeichnet. Und als Drury und sein Regisseur das Manuskript genügend verhunzt hatten…« »Er hat sich nicht verkauft«, warf das Mädchen ein, »er wurde vergewaltigt.« »Schade«, meinte Sheridan. »Es war ein gutes Stück. Aber ich nehme an, daß du den Champagner trinkst, der dabei herauskommt. Du machst einen wohlhabenden Eindruck.« »Nun«, erwiderte Scales, »was erwartest du von mir? Soll ich den Scheck dankend zurücksenden?« »Um Himmels willen, nein!« rief Sheridan. »Niemand mißgönnt dir dein Glück.«
Typisch! dachte Scales voller Wut, als er die Criterion-Bar betrat. Als ob es nicht genug wäre, daß ein anständiges Schauspiel in eine Schnulze verkitscht wurde, mußten die Leute auch noch annehmen, daß man um des lieben Mammons willen in diese Verstümmelung eingewilligt hatte! Er war beunruhigt gewesen, als er erfuhr, daß George Philpotts das Stück »Bitterer Lorbeer« an Drury geschickt hatte. Die allerletzte Direktion, die er selbst gewählt hätte; aber auch die allerletzte Direktion, bei der ein so zynisches und ernüchterndes Stück eine Chance hatte. Zu seiner größten Überraschung war Drury, wie er sich ausdrückte, »ganz versessen« darauf gewesen. Es war eine Unterredung gefolgt,
und Drury (zum Teufel mit seinen ausdrucksvollen Augen!) hatte mühelos erreicht, was er wollte. Scales war seinem Charme und seinen Schmeicheleien erlegen, wie das große Publikum allabendlich. »Ein großartiges Stück, fabelhafte Situationen«, hatte Drury erklärt. »Natürlich müssen wir hier und da kleine Änderungen vornehmen.« Scales hatte bescheiden geantwortet, daß er das erwartet habe, er wisse sehr wenig von der Bühne, habe bisher nur Romane geschrieben; mit Änderungen sei er durchaus einverstanden, vorausgesetzt natürlich, daß sie nicht die künstlerische Einheit zerstörten. Mr. Garrick Drury war von dieser Unterstellung peinlichst betroffen. Er sei selbst Künstler und würde etwas Derartiges niemals zulassen. Überwältigt von Drurys Art und einer Flut von technischen Einzelheiten, mit denen der anwesende Spielleiter ihn überschüttete, unterzeichnete Scales einen Kontrakt, der dem Verfasser einen hübschen Anteil am Gewinn und der Direktion Vollmacht gab, jedwede »vernünftige« Änderung vorzunehmen, um das Stück bühnenreif zu machen. Erst allmählich entdeckte er im Verlauf der Proben, was mit seinem Stück geschah. Nicht nur war es Mr. Drury gelungen, seine eigene Rolle – einen kriegsmüden Heimkehrer – mit Gefühlen zu durchtränken, die stark abwichen von der Vorstellung, die der Autor von diesem verbitterten und zerbrochenen Charakter hatte. Nein, viel schlimmer war es, daß die ganze Handlung eine völlige Umgestaltung erfuhr; »leichte Änderungen«, wie Drury es nannte, »natürlich nichts Unkünstlerisches – aber Änderungen, die das Ganze packender, erhebender und naturgetreuer machten«. Scales hatte nicht stillschweigend nachgegeben. Er hatte um jede Zeile gekämpft. Aber gegen den Kontrakt war er machtlos. Und schließlich hatte er die neuen Szenen sogar selber geschrieben, weil seine eigene Version nicht so
unerträglich war wie die vereinten Bemühungen der Schauspieler und des Regisseurs. Daher konnte er seine Hände nicht einmal in Unschuld waschen. Er war der Linie des geringsten Widerstandes gefolgt. Mr. Drury war ihm äußerst dankbar gewesen und entzückt über die gute Zusammenarbeit. »Ich weiß, wie Ihnen zumute ist«, pflegte er zu sagen. »Das geht jedem Künstler so. Aber ich habe eine zwanzigjährige Bühnenerfahrung hinter mir, und das zählt. Sie glauben nicht, daß ich recht habe – mein lieber Scales, es würde mir an Ihrer Stelle genauso gehen. Ich bin Ihnen dankbar für die glänzende Arbeit, die Sie leisten, und ich weiß, Sie werden es nicht bereuen. Machen Sie sich keine Gedanken. Alle jungen Autoren stoßen auf dieselben Schwierigkeiten. Eine reine Frage der Erfahrung.« Es war hoffnungslos. In seiner Verzweiflung hatte Scales einen Agenten konsultiert, der darauf hinwies, daß es jetzt zu spät sei, den Kontrakt zu ändern. »Im übrigen ein fairer Kontrakt«, meinte er. »Drury hat immer einen guten Namen gehabt. Diese Änderungen sind natürlich ärgerlich, aber es ist schließlich Ihr erstes Stück, und Sie können sich glücklich preisen, daß Sie bei ihm gelandet sind. Er kennt das Westend-Publikum. Sind Sie erst mal durch ihn angekommen, können Sie die Bedingungen stellen.« Ja, natürlich, dachte Scales, allen gegenüber, die solche Stücke wünschen. Und bei denen, die ernsthaftes Theater spielen, bin ich ein für allemal unten durch. Das Schlimmste war, daß sowohl der Agent wie der Theaterdirektor der Ansicht waren, daß seine Besorgnis um seine eigene geistige Unbescholtenheit gar nicht zählte – daß er sich ganz aufrichtig mit seinen Tantiemen trösten würde. Am Ende der ersten Woche brachte Garrick Drury dies zum Ausdruck. Seine »Erfahrung« war durch die Einnahmen bestätigt worden. »Letzten Endes ist die Kasse der eigentliche Wertmesser«, bemerkte er. »Ich sage das nicht von einem
kommerziellen Standpunkt aus. Ich wäre immer bereit, ein Stück zu bringen, an das ich als Künstler glaube, selbst wenn ich dabei Geld zusetzen müßte. Aber wenn die Kasse glücklich ist, bedeutet es, daß das Publikum glücklich ist. Die Kasse ist der Puls des Publikums.« John Scales konnte das nicht einsehen. Auch seine Freunde nicht, die einfach annahmen, er habe sich verkauft. Mit der Zeit wurde ihm klar, daß das Stück wie ein Sirupstrom unaufhaltsam weiterlaufen würde. Es war sinnlos zu hoffen, daß das Publikum sich dagegen auflehnen würde. Wahrscheinlich hatten sie es durchschaut. Ebenso wie die Kritiker. Die glorreiche Gestalt von Garrick Drury verhinderte jedoch den wohlverdienten Zusammenbruch. »Dieses klapperige Stück«, schrieb das Sunday Echo, »wird nur durch Garrick Drurys glänzendes Spiel zusammengehalten.« – »Trotz seiner Süßholzraspelei«, hieß es im Looker-On, »stellt ›Bitterer Lorbeer‹ einen persönlichen Triumph für Garrick Drury dar.« – »Mr. John Scales«, äußerte sich der Daily Messenger, »hat seine Situationen mit großem Geschick so aufgebaut, daß sie Garrick Drurys Talente am vorteilhaftesten zur Geltung bringen, und das ist ein sicheres Erfolgsrezept. Wir prophezeien dem Stück ›Bitterer Lorbeer‹ eine lange Laufzeit.« Es war kein Ende abzusehen. Wenn Drury krank würde oder stürbe oder sein gutes Aussehen, seine Stimme verlöre oder seine Popularität einbüßte, dann könnte dieses widerliche Stück vielleicht begraben und vergessen werden. Aber Garrick Drury blühte und gedieh und bezauberte das Publikum, und das Stück lief. Später folgten dann die Aufführungen auf den Provinzbühnen (von Mr. Drury kontrolliert) und die Filmrechte (in großem Umfange von Mr. Drury kontrolliert) und die Radiorechte und weiß der Himmel, was sonst noch. Und Mr. Scales blieb nichts anderes übrig, als den Sold der Sünde
einzustecken und Mr. Drury zu verfluchen, der sein Werk auf so angenehme Weise ruiniert, seinen Ruf vernichtet, ihm seine Freunde entfremdet, ihn der Verachtung der Kritiker ausgesetzt und ihn zum Verrat an seiner eigenen Seele gezwungen hatte. Wenn ein Mann in London atmete, den John Scales gern tot gesehen hätte, so war es Garrick Drury, dem er (wie er tagtäglich zugeben mußte) so viel verdankte. Und doch war Drury ein wirklich charmanter Kerl. Zuweilen ging dieser Charme dem Autor so sehr auf die Nerven, daß er Mr. Drury schon um seines Charmes willen hätte erschlagen können. Doch als der Augenblick kam, in der Nacht vom 15. zum 16. April, konnte von einem Vorsatz nicht die Rede sein. Jedenfalls nicht im eigentlichen Sinne. Es passierte einfach. Es war fast ein Uhr morgens, als sie die Leute vom Film endlich loswurden. Im Verlauf dieser Auseinandersetzung stimmte Scales, wie üblich, einer Reihe von Dingen zu, die er nicht billigte, aber auch nicht verhindern konnte. »Mein lieber John«, sagte Mr. Garrick Drury, während er sich den Schlafrock auszog, den er, wenn irgend möglich, bei geschäftlichen Unterredungen trug, da er ihm so gut stand, »mein lieber John, ich weiß genau, wie Sie darüber denken, aber es gehört Erfahrung dazu, um mit diesen Leuten fertig zu werden. Und Sie können sich auf mich verlassen, daß nichts Unkünstlerisches… Oh, danke, Walter. Es tut mir unendlich leid, daß Sie meinetwegen so lange hierbleiben mußten.« Walter Hopkins, Mr. Drurys persönlicher Garderobier, hatte nicht das geringste dagegen einzuwenden, die ganze Nacht bis tief in den nächsten Morgen hinein hierzubleiben. Er war Mr. Drury leidenschaftlich ergeben, der seine Dienste stets mit einem freundlichen Wort und dem berühmten Lächeln belohnte. Er half Mr. Drury in Rock und Mantel und reichte ihm seinen Hut.
»Lassen Sie alles stehen und liegen«, fuhr Mr. Drury fort und deutete auf das Sammelsurium von Schminke, Handtüchern, Gläsern, Siphons, Aschenbechern und Manuskripten. »Räumen Sie einfach meine Sachen zusammen und schließen Sie den Whisky ein. Ich bringe nur schnell Mr. Scales an sein Taxi.« Der Nachtwächter ließ sie zur Tür hinaus. Er war ein kränklicher, alter Mann mit einem Kaninchengesicht, und Scales fragte sich, was er wohl tun würde, wenn er auf seinen Rundgängen einem Einbrecher begegnete oder wenn ein Feuer ausbräche. »Nanu!« rief Garrick Drury. »Es regnet ja. Aber etwas weiter da unten ist ein Taxistand. Machen Sie sich keine Gedanken mehr, John, alter Junge, den… Vorsicht!« Es passierte blitzartig schnell. Ein kleiner Wagen, der ein wenig zu rasch die schmierige Straße heraufkam, bremste scharf, um eine streunende Katze zu vermeiden, geriet ins Schleudern, drehte sich um neunzig Grad und sauste auf den Gehsteig. Die beiden Männer versuchten sich in Sicherheit zu bringen. Scales stolperte dabei ziemlich ungeschickt und fiel der Länge nach in die Gosse. Drury sprang, gewandt wie ein Akrobat, rückwärts, aber nicht weit genug. Die Stoßstange erfaßte ihn in der Kniekehle und schleuderte ihn durch die Schaufensterscheibe eines Hutgeschäfts. Als Scales wieder auf die Beine kam, stand der Wagen halb im Laden, und die Fahrerin lag bewußtlos über dem Steuerrad. Ein Polizist und zwei Taxifahrer kamen von der Mitte der Straße herbeigerannt, und Drury kroch gerade mit blutüberströmtem Gesicht aus den Glasscherben heraus, wobei er den linken Arm mit der rechten Hand umklammert hielt. »Oh, mein Gott!« stöhnte er. Er schwankte auf den Wagen zu, und das Blut spritzte ihm wie eine Fontäne zwischen den Fingern hervor.
Scales, von seinem Sturz noch ganz benommen und verwirrt, konnte nicht sofort begreifen, was geschehen war. Aber der Polizist besaß Geistesgegenwart. »Die Dame kann warten«, sagte er zu den Taxifahrern. »Dieser Herr hat sich die Pulsader aufgeschnitten. Er verblutet, wenn wir nicht rasch handeln.« Seine großen, geübten Finger griffen nach dem Arm des Schauspielers, fanden die richtige Stelle und drückten kräftig auf die zerschnittene Ader. »Geht’s, Sir? Gut, daß Sie die Hand daraufgehalten haben.« Er ließ den Schauspieler vorsichtig auf das Trittbrett gleiten, ohne seinen Griff zu lockern. »Hier ist ein Taschentuch«, sagte einer der Taxifahrer. »Gut«, erwiderte der Polizist. »Binden Sie seinen Arm ab, und zwar so fest, wie Sie können.« Scales blickte schaudernd auf die Schaufensterscheibe und das Pflaster. Es hätte ein Schlachthaus sein können. »Vielen Dank«, sagte Drury zu dem Polizisten und dem Taxifahrer. Er brachte ein schwaches Lächeln zustande und sank zusammen. Walter und der Nachtwächter stürzten gemeinsam ans Telefon, während Scales die anderen über die verlassene Bühne geleitete, die dunkel und geisterhaft im trüben Licht einer einzigen, hoch im Schnürboden hängenden Birne dalag. Schwere Blutstropfen fielen auf die staubigen Bretter. Als hätte das Geräusch ihrer Schritte auf diesen Brettern den Instinkt des Schauspielers wachgerüttelt, öffnete Drury ein Auge. »Was ist mit der Beleuchtung los?« – Dann, mit wiederkehrendem Bewußtsein: »Oh, die Schlußzeile… Sterben, Ägypten, sterben… der letzte Auftritt, wie?« »Unsinn, alter Freund«, sagte Scales hastig. »Sie sterben noch lange nicht.«
Einer der Taxifahrer, ein älterer Mann, stolperte. »Tut mir leid«, sagte Drury, »daß ich so schwer bin… kann es Ihnen nicht viel erleichtern… fassen Sie weiter unten an.« Sein Lächeln war verzerrt, aber sein Verstand funktionierte; es war nicht das erstemal, daß er von dieser Bühne »hinausgetragen« wurde. Die Träger befolgten seine mühsam hervorgebrachten Instruktionen und kamen gut durch die Kulissen. Scales war maßlos irritiert. Drury führte sich wieder einmal wunderbar auf. Mut, Geistesgegenwart, Rücksicht auf andere – genau die richtigen theatralischen Gesten. Konnte der Kerl selbst an der Schwelle des Todes nicht natürlich sein? Sie erreichten seine Garderobe und legten ihn auf die Couch. »Meine Frau«, begann Drury, »in Sussex. Erschrecken Sie sie nicht… sie hat Grippe gehabt… Herz nicht stark.« »Schon gut, schon gut«, sagte Scales. Er fand ein Handtuch und ließ etwas Wasser in eine Schale laufen. Walter kam eilig herbei. »Dr. Debenham ist nicht zu Hause, übers Wochenende fort. Blake telefoniert nach einem andern. Was sollen wir tun, wenn sie alle nicht da sind? Ärzte dürften nicht so viel unterwegs sein.« »Wir wollen den Polizeiarzt rufen«, sagte der Polizist. »Hier, halten Sie Ihren Daumen dahin, wo ich meinen habe. Fest drücken, und nicht locker lassen.« Dann wandte er sich an die Taxifahrer. »Sie sehen jetzt am besten nach der jungen Dame. Mein Kollege müßte inzwischen erschienen sein. Und Sie«, – wies er Scales an, »müssen hierbleiben. Ich brauche Ihre Aussage.« »Ja, ja«, erwiderte Scales, der sich mit dem Handtuch zu schaffen machte. »Mein Gesicht«, sagte Drury und hob nervös die Hand. »Ist mein Auge verletzt?«
»Nein, es ist nur die Kopfhaut. Sie dürfen sich jetzt nicht aufregen.« »Sind Sie sicher? Besser tot als entstellt. Möchte nicht wie Florrie enden. Arme alte Florrie. Bestellen Sie ihr einen Gruß… Kopf hoch, Walter… Schlechter Abgang, nicht wahr?… Trinken Sie ein Glas Whisky… Sind Sie sicher, daß das Auge heil ist?… Sie sind nicht verletzt, Scales? Für Sie auch eine schöne Bescherung. Ende der Aufführungen…« Scales, der gerade für sich und Walter Whisky eingoß, fuhr zusammen und hätte beinahe die Flasche fallen lassen. Ja, nun werden die Aufführungen aufhören. Vor einer Stunde hatte er um ein Wunder gebeten, um dies zu erreichen. Und das Wunder war geschehen. Und wenn Drury nicht die Geistesgegenwart gehabt hätte, die Blutung zu stoppen, wenn er nur eine Minute länger gewartet hätte, dann wäre es schon soweit: keine Aufführungen mehr, kein Film mehr, und das verfluchte Stück für alle Zeiten abgesetzt. Er trank den unverdünnten Whisky auf einen Zug aus und reichte Walter das zweite Glas. Es war, als habe er durch seine Wünsche das Geschehen herbeigeführt. Wenn er noch etwas kräftiger wünschte – Unsinn! Aber der Doktor kam nicht, und obgleich Walter sich wie der grimme Tod an die durchschnittene Arterie klammerte, sickerte doch das Blut aus den kleineren Adern durch den Stoff, durch den Verband… Es bestand immer noch eine Chance, immer noch die Wahrscheinlichkeit, immer noch die Hoffnung… So ging das nicht weiter. Scales stürzte in den Gang, über die Bühne und dann in den Raum des Nachtwächters. Der Polizist telefonierte noch. Drurys Chauffeur stand, verstört und erregt, mit der Mütze in der Hand und redete mit den Taxifahrern. Die Autofahrerin war inzwischen ins Krankenhaus geschafft worden. Der Bezirkspolizeiarzt war zu einem dringenden Fall gerufen. Das nächste Hospital konnte im Moment keinen Arzt entbehren.
Der Schutzmann versuchte, den Polizeiarzt des nächsten Bezirks zu erreichen. Scales kehrte wieder in das Ankleidezimmer zurück. Die nächste halbe Stunde war wie ein Alptraum. Der Patient schwebte zwischen Bewußtsein und Bewußtlosigkeit und machte sich immer noch Gedanken über sein Gesicht, seinen Arm und das Stück. Und der rote Fleck auf der Couch wurde größer und größer… Endlich trat mit emsiger Geschäftigkeit ein kleiner, untersetzter Mann ins Zimmer. Nach einem kurzen Blick auf den Patienten prüfte er dessen Puls, stellte ein paar Fragen und murmelte kopfschüttelnd etwas von Blutverlust, Zeitverlust und Schwäche. Der im Hintergrund stehende Polizist erwähnte, daß die Ambulanz eingetroffen sei. »Unsinn«, sagte der Doktor. »Kann unmöglich transportiert werden. Muß hier an Ort und Stelle damit fertig werden.« Mit ein paar kurzen Worten des Lobes löste er Walter von seinem Posten ab. Mit raschen Bewegungen schnitt er den durchweichten Ärmel fort, legte eine richtige Aderpresse an, verabreichte dem Patienten ein Stimulans und versicherte ihm nochmals, daß sein Auge nicht beschädigt sei und er nur einen Schock und den Blutverlust erlitten habe. »Sie werden mir nicht den Arm abnehmen?« rief Drury, von einer neuen Angst befallen. »Ich bin Schauspieler… ich kann nicht… Sie dürfen das nicht tun, ohne es mir zu sagen!« »Nein, nein, nein«, beruhigte ihn der Doktor. »Wir haben jetzt die Blutung unterbunden. Aber Sie müssen still liegen, sonst fängt sie von neuem an.« »Werde ich ihn wieder gebrauchen können?« Die ausdrucksvollen Augen blickten dem Doktor forschend ins Gesicht. »Verzeihen Sie. Aber ein steifer Arm ist für mich genauso schlimm. Tun Sie Ihr möglichstes! Sonst kann ich nie wieder auftreten… Außer im ›Bitteren Lorbeer‹. John, alter
Bursche… komisch, nicht wahr? Komisch, daß es dieser Arm ist… Muß für den Rest meines Lebens von Ihrem Stück leben, das einzige, einzige Stück…« »Gott bewahre!« rief Scales unwillkürlich. »Jetzt muß ich hier freie Bahn haben«, erklärte der Doktor energisch. »Wachtmeister, lassen Sie das Zimmer räumen, und schicken Sie mir die Leute von der Ambulanz herein.« »Kommen Sie mit«, sagte der Polizist. »Ich werde mir jetzt Ihre Aussage aufschreiben, Sir.« »Ich bleibe hier!« protestierte Walter Hopkins. »Ich kann Mr. Drury nicht allein lassen. Ich werde Ihnen helfen…« Irgendwie gelang es ihnen, den sich hysterisch sträubenden Walter in die gegenüberliegende Garderobe zu bringen, wo er auf der Kante eines Stuhles saß und bei jedem Laut von draußen auffuhr, während der Schutzmann die beiden Taxileute verhörte und entließ. Als Scales seine Aussage machte, steckte der Arzt den Kopf zur Tür herein und sagte: »Ich möchte, daß einige von Ihnen sich in Bereitschaft halten, für den Fall, daß wir eine Blutübertragung machen müssen. Sie wissen wohl nicht zufällig, welcher Blutgruppe Sie angehören?« »Ich bin bereit!« rief Walter voller Eifer. »Bitte, Sir, nehmen Sie mich! Ich würde den letzten Tropfen Blut für Mr. Drury hergeben, ich würde mein Leben für ihn opfern.« »Das verlangt niemand von Ihnen. Wir brauchen nur ein halbes Liter Blut – Kleinigkeit für einen gesunden Menschen. Regen Sie sich nicht so auf. Schön, daß Sie guten Willens sind, aber wenn Sie nicht die richtige Blutgruppe haben, kann ich Sie nicht gebrauchen.« »Ich bin stark«, versicherte ihm Walter, »bin nie in meinem Leben krank gewesen.« »Es hat mit Ihrem Gesundheitszustand nichts zu tun«, entgegnete der Arzt ein wenig ungeduldig. »Es ist etwas, das Sie bei der Geburt mitbekommen haben. Ich werde es zunächst
mit den beiden Ambulanzleuten versuchen, aber leider hat der Patient eine seltene Blutgruppe. Deshalb möchte ich verschiedene Spender zur Hand haben. Gut, daß ich alles Nötige mitgebracht habe: Zeit ist ein wichtiger Faktor.« Damit stürzte er wieder fort. Der Polizist steckte kopfschüttelnd sein Notizbuch ein. »Weiß nicht, ob Blutspenden zu meinen Pflichten gehört«, brummte er. »Müßte eigentlich wieder in mein Revier. Will mir zunächst mal den Wagen ansehen. Dann komme ich wieder herein. Nanu, was wollen Sie denn hier?« »Presse«, erwiderte der Mann, der an der Tür stand. »Es wurde bei uns angerufen, daß Mr. Drury schwer verletzt sei. Stimmt das? Tut mir sehr leid. Ah! Guten Abend, Mr. Scales. Das ist ja eine schreckliche Geschichte. Können Sie mir sagen…« Hilflos wurde Scales von den Rädern der Presse erfaßt: er gab einen Bericht von dem Unfall, äußerte die passenden Phrasen über Drury, was Drury für ihn, was er für das Stück getan hatte, zitierte Drurys Worte, verbreitete sich über seine Geistesgegenwart und seinen Mut – kurz und gut, er versah Drury mit einem Heiligenschein. Auch erwähnte er den seltsamen (und für den Reporter ergiebigen) Zufall, daß ausgerechnet derselbe Arm verletzt worden sei wie im Stück, und sprach die Hoffnung aus, daß die Rolle von der zweiten Besetzung weitergespielt werden könne, bis Drury sich genügend erholt habe. Mit jedem Wort, das er von sich gab, spürte er, wie eine Flut von Haß gegen Drury in ihm aufstieg. Um so mehr betonte er die ungeheure Dankbarkeit und die freundschaftlichen Gefühle, die er für Drury empfand, und sein verzweifeltes Verlangen, ihn bald wiederhergestellt zu sehen. Es war ihm, als könne er durch die ständige Wiederholung dieser Redensarten etwas Schreckliches in seinem Innern unterdrücken, das sich gegen seinen Willen zu behaupten
suchte. Der Doktor steckte wieder den Kopf herein. »Entschuldigen Sie mich«, sagte Scales und eilte zur Tür. Aber Walter war vor ihm da und bot sein Lebensblut literweise an. Scales sah, wie der Reporter die Ohren spitzte. Eine Blutübertragung gab natürlich eine prächtige Schlagzeile ab. Doch der Arzt machte kurzen Prozeß mit dem Vertreter der Presse und zog Scales und Walter zur Tür hinaus, die er heftig zuknallte. »Ich muß jetzt Sie beide testen. Hoffentlich hat einer von Ihnen die richtige Blutgruppe. Wenn nicht, lassen wir den Zeitungsfritzen zur Ader. Das wird ihn lehren, weniger aufdringlich zu sein.« Er führte sie wieder in Drurys Garderobe, wo der Wandschirm, der sonst das Waschbecken verdeckte, jetzt um die Couch gestellt war. Auf dem Tisch lagen die Instrumente ausgebreitet. Beim Waschbecken stand einer von den Krankenpflegern und kochte Wasser auf einem Gaskocher. »Nun los«, sagte der Arzt mit gedämpfter Stimme. »Verhalten Sie sich nach Möglichkeit ruhig. Leider muß ich es hier machen, da in dem anderen Raum kein Gas ist und ich den Patienten auch nicht gern allein lassen möchte. Aber es dauert ja nicht lange. Ich kann Sie beide zusammen vornehmen. Hier ist ein sauberer Teller; der genügt, braucht ja nicht steril zu sein.« Er wischte den Teller sorgfältig mit einem Handtuch ab und stellte ihn zwischen den beiden Männern auf den Tisch. Scales erkannte das Rosenmuster wieder; es hatten oft Brote darauf gelegen, während er und Drury an einem neuen Dialog für »Bitterer Lorbeer« gearbeitet hatten. »Sie wissen vielleicht«, erklärte der Arzt, »daß das Blut eines jeden Menschen einer von vier verschiedenen Gruppen angehört.« Er öffnete eine verchromte Trommel und nahm eine Nadel heraus. »Für eine erfolgreiche Transfusion muß sich das Blut des Spenders auf besondere Weise mit dem des Patienten vermischen. Nur ein kleiner Stich – Sie werden es kaum spüren.« Er nahm Walters Ohrläppchen und stach die Nadel
ein. »Gehört das Blut des Spenders einer ungeeigneten Gruppe an, verursacht es Agglutination der roten Blutkörperchen, was sehr gefährlich werden kann.« Er saugte ein paar Blutstropfen in die Pipette und übertrug zwei einzelne Tropfen auf den Teller, die er mit einem Schminkstift umrandete. »Eine gewisse Gruppe von Menschen« – hier schnappte er sich Scales’ Ohrläppchen und wiederholte die Prozedur mit einer neuen Nadel und Pipette – »die wir als Gruppe 4 bezeichnen, gehört zu den Universalspendern; das heißt, ihr Blut eignet sich für jeden. Würde einer von Ihnen die gleiche Blutgruppe haben wie der Patient, wäre das am besten. Leider gehört er der Gruppe 3 an, und die ist ziemlich selten. Bisher haben wir kein Glück gehabt.« Er ließ zwei Blutstropfen von Scales auf die andere Seite des Tellers fallen und zog mit dem Stift eine Linie von Rand zu Rand, um die beiden Proben voneinander zu trennen. Dann setzte er den Teller genau zwischen die beiden Spender, so daß jeder ein wachsames Auge auf seinen Anteil werfen konnte, und wandte sich wieder an Walter. »Wie war doch Ihr Name?« In diesem Augenblick entstand eine Bewegung hinter dem Schirm, und irgend etwas fiel krachend zu Boden. Der erschrockene Krankenwärter steckte den Kopf um die Ecke und rief mit eindringlicher Stimme: »Doktor!« Gleichzeitig ertönte Drurys Stimme: »Walter… bestellen Sie Walter…« Der Doktor schoß auf den Wandschirm los, dicht gefolgt von Walter, den Scales vergeblich aufzuhalten suchte, als er sich an ihm vorbeidrängte. Der zweite Krankenwärter ließ alles stehen und liegen, um ebenfalls Beistand zu leisten, es entstand ein kleiner Tumult und ein Wortwechsel zwischen dem Doktor und Walter, und Walter kehrte, dem Weinen nahe, wieder an seinen Platz zurück. »Sie wollen mich nicht zu ihm lassen, und er hat doch nach mir verlangt.«
»Er darf sich nicht aufregen«, sagte Scales mechanisch. Der Patient redete vor sich hin, und der Doktor versuchte ihn zu beruhigen. Scales und Walter Hopkins standen hilflos am Tisch, den Teller zwischen sich, und Scales betrachtete nachdenklich die vier kleinen Blutstropfen, die von so ungeheurer Wichtigkeit waren. In der Nähe stand ein kleines Holzgestell mit Ampullen. Er studierte die Schilder: »Testserum Nr. II«, »Testserum Nr. III«. Die Bezeichnungen hatten für ihn keine Bedeutung. Er stierte auf den Teller und nahm wahr, daß eine der kleinen rosafarbenen Rosen am Rande des Tellers beim Einbrennen etwas verschmiert worden war – und daß Walters Hände zitterten, während er sich auf die Platte stützte. Der Arzt kam wieder zum Vorschein, und Walter blickte ihn angstvoll fragend an. »Soweit alles in Ordnung«, sagte der Arzt. »Na, wo waren wir denn? Ach ja, Ihren Namen bitte.« Er markierte die Proben auf Walters Seite mit den Buchstaben W. H. »Mein Name ist John Scales«, sagte Scales. Der Arzt schrieb die Initialen von Londons populärem Dramatiker so gleichgültig hin, als handle es sich um einen Steuereinnehmer, und nahm die Ampulle mit dem Serum II aus dem Gestell. Er schlug sie auf und fügte etwas von ihrem Inhalt zunächst einem Tropfen von Scales’ Blut, dann einem Tropfen von Walters Blut hinzu und kritzelte die Zahl II neben jede dieser Proben. Jedem der beiden anderen Tropfen setzte er auf dieselbe Weise etwas vom Serum III hinzu. Blut und Serum mischten sich, ohne die vier roten Tupfen sichtbar zu verändern. Scales war enttäuscht; er hatte eine dramatischere Wirkung erwartet. »Es wird ein paar Minuten dauern«, erklärte der Arzt. »Wenn sich das Blut einer Probe mit beiden Seren mischt, ohne daß die roten Blutkörperchen klumpen, dann ist der Spender ein Universalspender, der unseren Zwecken genügt. Wenn es mit Serum II Klumpen bildet und mit Serum
III klar bleibt, dann gehört der Spender zu der Blutgruppe des Patienten und wird ihn über die Hürde bringen. Klumpt es aber mit beiden Seren oder nur mit Serum III, dann wird es ihn umbringen.« Er stellte den Teller wieder hin und kramte in seiner Tasche. Einer der Wärter blickte hinter dem Schirm hervor. »Ich kann seinen Puls nicht fühlen, und er sieht so merkwürdig aus.« Der Doktor verschwand hinter dem Schirm, und man vernahm Bewegungen und das Klirren eines Glases. Scales sah gespannt auf den Teller. Machte sich schon ein Unterschied bemerkbar? Begann einer der roten Tupfen auf Walters Seite zu gerinnen und sich in Körnchen zu teilen, als ob jemand Pfeffer daraufgestreut hätte? Er war nicht sicher. Die Tropfen auf seiner Seite sahen völlig gleich aus. Wieder las er die Bezeichnungen; wieder bemerkte er die rosafarbene Rose, die beim Einbrennen etwas verschmiert worden war. Die rosafarbene Rose – da war etwas Merkwürdiges mit dieser Rose – aber was nur? Einer von Walters Tropfen veränderte sich allmählich, ganz gewiß. Ein harter Ring bildete sich am Rand, und die winzigen Pfefferkörner wurden dunkler und deutlicher. »Wir dürfen nicht mehr viel Zeit verlieren«, sagte der Arzt bei seiner Rückkehr, »hoffentlich…« Er beugte sich wieder über den Teller. Es war der mit III bezeichnete Tropfen, der dieses körnige Aussehen hatte. Stand der Teller genauso wie zu Anfang? Scales konnte sich nicht erinnern. Der Arzt untersuchte jetzt die Proben genau mit einem Taschenmikroskop und richtete sich dann mit einem Seufzer der Erleichterung auf. »Gruppe 4«, verkündete er. »Da haben wir Glück gehabt.« Wer von uns? dachte Scales (obgleich er der Antwort ziemlich sicher war). Die rosafarbene Rose spukte ihm immer noch im Kopf herum. »Ja«, führ der Arzt fort, »keine Spur von Agglutination. Ich glaube, wir können es riskieren ohne einen direkten Test mit
dem Blut des Patienten. Das würde zwanzig Minuten dauern, und soviel Zeit haben wir nicht.« Er wandte sich an Scales. »Sie sind der Mann, den wir brauchen.« »Ich nicht?« rief Walter. »Pst!« gebot der Doktor. »Nein, leider haben wir keine Verwendung für Sie.« Er wandte sich wieder an Scales. »Sie sind ein Universalspender – sehr nützlich für solche Fälle. Herz ist wohl ganz gesund, wie? Sie machen einen kräftigen Eindruck und sind, Gott sei Dank, nicht fett. Legen Sie bitte Ihren Rock ab und krempeln Sie den Hemdärmel auf. Es wird Ihnen nichts ausmachen. Zuerst werden Sie sich vielleicht etwas schwach fühlen, aber nach ein, zwei Stunden wird alles wieder in Ordnung sein.« »Das ist ja beruhigend«, meinte Scales, der immer noch auf den Teller starrte. Die verschmierte Rose war zu seiner Rechten. – War sie immer dort gewesen? Nicht auch zu seiner Linken? Wann? Bevor die Blutstropfen auf den Teller kamen? Oder danach? Wie konnte sich die Position geändert haben? Als der Arzt den Teller in die Hand nahm? Oder hatte Walter den Teller vielleicht mit seinem Ärmel erfaßt und umgedreht, als er so wild auf den Wandschirm zustürzte? War das geschehen, bevor die Proben gekennzeichnet worden waren? Ganz sicher vorher – nachdem sie entnommen und ehe sie gekennzeichnet waren. Und das bedeutete… Der Arzt öffnete wieder die Trommel und nahm Verbandzeug, Zange, Schere, eine Glasflasche und eine Spritze heraus… Das bedeutete, daß sein eigenes Blut und Walters Blut die Plätze vertauscht hatten, bevor der Test mit dem Serum gemacht wurde, und wenn sich das so verhielt… Der Verschluß der Trommel schnappte zu. … Wenn auch nur der geringste Zweifel bestand, mußte man den Arzt darauf aufmerksam machen und den Test wiederholen. Aber vielleicht war ihrer beider Blut
verwendungsfähig, und der Arzt hatte lediglich ihm den Vorzug gegeben vor dem armen Walter, der wie Espenlaub zitternd neben ihm stand. Klumpen mit II, klar mit III; Klumpen mit III, klar mit II – er konnte sich nicht mehr entsinnen, wie das war… »Nein, tut mir leid«, wiederholte der Arzt und bugsierte Walter kurz entschlossen zur Tür. Dann kehrte er an den Tisch zurück. »Armer Kerl ‘ – kann nicht verstehen, warum sein Blut nicht brauchbar ist. Hoffnungslos. Ebensogut könnte ich Mr. Drury Blausäure injizieren.«… Die rosafarbene Rose. »Doktor…« begann Scales. Und plötzlich ertönte Drurys Stimme hinter dem Schirm; er sprach die Zeile, die ursprünglich zynisch klingen sollte, sprach sie aber, wie er sie in fast hundert Aufführungen auf der Bühne gesprochen hatte: »Schon gut, schon gut, regen Sie sich nicht auf – ich werde auf meinen Lorbeeren ausruhen.« Die verhaßte Stimme, die Stimme des Komödianten, süß wie Honigseim, flüssig und voll wie eine berauschte Flöte. Zum Teufel mit ihm! Scales spürte, wie der Gummistreifen oberhalb seines Ellbogens straffer gezogen wurde. Hoffentlich stirbt er. Ich würde alles darum geben, wenn ich diese Stimme nicht mehr zu hören brauchte. Ich würde… Er beobachtete, wie sein Arm anschwoll und blaue und rote Flecken darauf erschienen. Der Arzt machte ihm eine Einspritzung. … Ich würde alles geben. Mein Leben. Mein Blut. Ich brauche nur mein Blut zu geben – und den Mund zu halten. Der Teller ist tatsächlich umgedreht worden. Nein, ich weiß es nicht. Es ist Sache des Arztes, sich darum zu kümmern… Ich kann jetzt nichts mehr sagen, er würde sich sonst wundern, warum ich nicht eher gesprochen habe… Autor opfert Blut, um Wohltäter zu retten… Rosen zu seiner Rechten, Rosen zu seiner Linken… Rosen, Rosen überall… Ich werde auf meinen Lorbeeren ausruhen.
Jetzt der Einstich. Sein Blut floß, stieg in dem Glasbehälter. Jemand brachte eine Schale mit warmem Wasser, von der schwacher Dampf aufstieg. … Sein Leben für seinen Freund… nach ein, zwei Stunden alles wieder in Ordnung… Blutsbrüder… Blut bedeutet Leben… könnte ihm ebensogut Blausäure geben… Einen Mann mit Blut vergiften… mit dem eigenen Blut… ganz neue Mordmethode… Mord… »Zappeln Sie nicht so«, sagte der Arzt. … Und was für ein Motiv! Der Dichter mordet, um sein Künstlertum zu retten… Wer würde das glauben… Und dabei sogar Geld einbüßen… Dein Geld oder dein Leben… sein Leben für seinen Freund… seinen Freund für sein Leben… Leben oder Tod… Nicht zu wissen, wer der Spender war… nicht wirklich zu wissen… eigentlich überhaupt nicht zu wissen… Zu spät, um noch etwas zu sagen… Niemand hat gesehen, daß der Teller umgedreht wurde… Wer würde je denken…? »So, das genügt«, sagte der Arzt. Er lockerte den Gummistreifen, zog die Nadel heraus und tupfte die Punktur mit Watte ab – alles, wie es Scales schien, mit einer einzigen Bewegung. Dann stellte er das Gefäß mit dem Blut in einen kleinen Ständer über der Schale mit dem warmen Wasser und verband seinen Arm. »Wie fühlen Sie sich? Bißchen schwach? Gehen Sie hinüber ins andere Zimmer und legen Sie sich eine Weile hin.« Scales öffnete seinen Mund, um zu sprechen, wurde aber plötzlich von einer merkwürdigen Übelkeit befallen. Er stürzte zur Tür und sah im Vorbeieilen, wie der Arzt das Blut hinter den Schirm trug. Der Kuckuck soll den Reporter holen! Der drückte sich immer noch hier herum. So etwas war für die Zeitungen gefundenes Fressen. »Heldenhaftes Opfer eines dankbaren
Autors.« Gute Story. Eine noch bessere Story, wenn der heldenhafte Autor den Reporter beim Wickel nähme und ihm die unglaubliche Wahrheit ins Ohr flüsterte: »Ich habe ihn gehaßt, aus tiefster Seele, das kann ich Ihnen versichern. Ich habe ihn vergiftet. Mein Blut ist Gift für ihn, Schlangenblut, Drachenblut.« Und was würde der Arzt sagen? Wenn Drury stürbe, würde er Verdacht schöpfen? Was könnte er schon vermuten? Er hatte nicht gesehen, daß der Teller verschoben war. Niemand hatte das gesehen. Er könnte sich selbst der Nachlässigkeit zeihen, aber das würde er wahrscheinlich nicht ausposaunen. Und er war nachlässig gewesen, dieser aufgeblasene, fette, schwatzhafte Narr. Warum hatte er die Proben nicht sofort gekennzeichnet? Warum hatte er Scales’ Blut nicht noch mit Drurys Blut getestet? Wozu mußte er so viele Erklärungen abgeben? Einem sagen, wie leicht es war, seinen Wohltäter zu ermorden? Scales hätte brennend gern gewußt, was sich dort in der Garderobe abspielte. Walter hielt sich draußen im Gang auf. Walter war eifersüchtig, hatte ihn scheel angeblickt, als er nach der Blutentnahme hereingestolpert kam. Wenn Walter wüßte… Erst jetzt kam Scales in den Sinn, daß er Walter einen schäbigen Streich gespielt hatte, ihn betrogen hatte – Walter, der so sehr danach verlangte, sein rechtes, wahres, lebensspendendes Blut zu opfern… Zwanzig Minuten, fast eine halbe Stunde vergingen. Wann würden sie wissen, ob alles in Ordnung oder alles mißlungen war? »Ebensogut könnte ich ihm Blausäure injizieren«, hatte der Arzt gesagt. Das deutete auf eine ziemlich drastische Wirkung. Blausäure wirkte rasch – man starb, wie von einer Axt gefällt. Scales stand auf, schob Walter und den Reporter beiseite und überquerte den Gang. In Drurys Zimmer war der Schirm fortgerückt worden. Als Scales durch die Tür blickte, konnte er
Drurys Gesicht sehen; es war weiß und glänzte von Schweiß. Der Arzt beugte sich über den Patienten und fühlte ihm den Puls. Er sah unglücklich, fast bestürzt aus. Plötzlich drehte er sich um, erblickte Scales und kam zu ihm herüber. Er schien Minuten zu brauchen, um das Zimmer zu durchqueren. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich bin in großer Sorge. Sie haben Ihr Bestes getan – wir alle haben unser Bestes getan.« »Hat es nichts genützt?« flüsterte Scales, dessen Zunge und Gaumen wie ausgedörrt waren. »In solchen Fällen lassen sich keine sicheren Prognosen stellen«, erwiderte der Arzt. »Ich fürchte, daß er sterben wird.« Er brach ab, und seine Augen blickten unsicher. »Ein zu großer Blutverlust«, murmelte er, als ob er sich selbst die Geschichte erklären wollte, »dazu Schock, Überlastung des Herzens, leicht erregbar. Er klagte fast sofort über Schmerzen im Rücken.« Mit größerer Zuversicht fügte er hinzu: »Es ist immer ein gewisses Risiko, wenn die Blutübertragung so spät erfolgt – und manchmal ist eine besondere Idiosynkrasie vorhanden. Ich hätte einen direkten Test vorgezogen, aber es ist unangenehm, wenn der Patient während dieser Untersuchung stirbt.« Mit einem verlegenen Lächeln trat er wieder an die Couch, und Scales folgte ihm. Wenn Drury es vermocht hätte, den Tod auf der Bühne so darzustellen wie jetzt! Scales konnte sich nicht von der Vorstellung befreien, daß Drury schauspielerte – daß der Glanz auf der Haut Schminke war und das rauhe, mühselige Atmen das einstudierte Todesröcheln. Wenn die Wirklichkeit so theatralisch sein konnte, dann mußte das Theater beunruhigend der Wirklichkeit ähneln. Irgend jemand schluchzte in seiner Nähe. Walter war ins Zimmer geschlichen, und diesmal machte ihm der Arzt Platz. »Oh, Mr. Drury!« jammerte Walter.
Drurys blaue Lippen bewegten sich. Er öffnete die Augen; die vergrößerten Pupillen ließen sie schwarz und sehr groß erscheinen. »Wo ist Brand?« Der Arzt wandte sich fragend an die anderen. »Wer ist Brand?« »Die zweite Besetzung«, flüsterte Scales. Walter sagte: »Er wird gleich hier sein, Mr. Drury.« »Das Publikum wartet«, keuchte Drury. Er holte mühsam Atem und sprach mit seiner alten Stimme: »Brand! Holen Sie Brand! Vorhang auf!« Garrick Drurys Tod war eine Meisterleistung. Niemand, dachte Scales, wird es je wissen. Nicht einmal er selbst. Drury hätte durch den Schock sterben können. Es ließ sich jetzt nicht mit Sicherheit sagen, daß das Blut nicht richtig war; die Sache mit der verschmierten Rose konnte Einbildung gewesen sein. Auch wenn man tief in seinem Innern anderer Überzeugung war – beweisen konnte es niemand. Oder vielleicht doch? Es mußte natürlich eine Leichenschau stattfinden. Würden sie eine Autopsie machen? Konnten sie beweisen, daß das Blut nicht richtig war? Wenn ja, dann war es Sache des Arztes, seine Erklärungen abzugeben: »besondere Idiosynkrasie«, Zeitnot und so weiter. Er mußte diese Erklärung geben oder sich der Nachlässigkeit bezichtigen. Niemand konnte nachweisen, daß der Teller bewegt worden war. Walter nicht und der Doktor nicht. Ebensowenig ließ es sich nachweisen, daß er, Scales, es gesehen hatte. Die Annahme, daß er, der durch Drurys Tod so viel verlor, es gesehen und geschwiegen haben könnte, war phantastisch. Es gibt Dinge, die selbst die Vorstellungskraft eines Coroners und das Glaubensvermögen einer Totenschaukommission übersteigen.
Das unwürdige Melodrama vom Zankapfel
»Sie haben ja furchtbares Wetter mitgebracht, Lord Peter«, meinte Mrs. Frobisher-Pym in spielerischem Tadel. »Wenn das so weitergeht, wird man einen schlechten Tag für die Beerdigung haben.« Lord Peter Wimsey blickte aus dem Fenster des Frühstückszimmers auf den durchweichten grünen Rasen und die Büsche, wo der Regen unbarmherzig über die Lorbeerblätter strömte, die steif und glänzend wie Regenmäntel waren. »Man ist den Elementen einfach gräßlich ausgesetzt bei Begräbnissen« stimmte er zu. »Ja, die alten Leute tun mir dann immer leid. In einem so kleinen Dorf ist es ungefähr das einzige Vergnügen, das sie im Winter haben. Es gibt ihnen wochenlang Gesprächsstoff.« »Handelt es sich um ein besonderes Begräbnis?« »Mein lieber Wimsey«, entgegnete sein Gastgeber. »Man merkt, daß Sie aus dem kleinen London kommen; denn Sie sind ja überhaupt nicht im Bilde. Little Doddering hat noch nie eine solche Beerdigung mitgemacht. Es ist ein Ereignis.« »Wirklich?« »Meine Güte, ja. Können Sie sich noch an den alten Burdock erinnern?« »Burdock? Warten Sie mal. Ist das nicht ein hiesiger Gutsbesitzer oder dergleichen?« »Er war’s«, korrigierte Mr. Frobisher-Pym. »Nun ist er tot – starb vor ungefähr drei Wochen in New York und wird jetzt hierher überführt. Die Burdocks haben Hunderte von Jahren in dem großen Hause gelebt und sind alle hier auf dem Friedhof
begraben außer dem einen, der im Kriege gefallen ist. Burdocks Sekretär hat die Nachricht von seinem Tode telegrafiert und erwähnt, daß die Leiche nach der Einbalsamierung folge. Das Schiff legt heute morgen in Southampton an, denke ich. Jedenfalls wird die Leiche mit dem Zug, der um sechs Uhr dreißig von London fährt, hier ankommen.« »Gehst du zum Bahnhof, Tom?« »Nein, meine Liebe. Ich glaube, das ist nicht nötig. Das ganze Dorf wird vertreten sein. Joliffes Leute sind in ihrem Element. Sie haben sich für diese Gelegenheit extra ein Paar Pferde vom jungen Mortimer geliehen. Ich hoffe nur, daß sie nicht über die Stränge schlagen und den Leichenwagen umwerfen. Mortimers Gäule sind im allgemeinen etwas lebhaft veranlagt.« »Aber Tom, wir müssen doch den Burdocks etwas Achtung zollen.« »Wir gehen morgen zur Beerdigung, das ist völlig genug. Das müssen wir wohl mit Rücksicht auf die Familie tun; denn was den Alten selbst angeht, so würde wohl kaum jemand auf den Gedanken kommen, ihm Achtung zu erweisen.« »O Tom, er ist tot.« »Wurde auch endlich Zeit. Nein, Agatha, es hat keinen Zweck, so zu tun, als sei der alte Burdock nicht ein gehässiger, übelgelaunter, schmutziger alter Lump gewesen, dem die Welt nicht nachzutrauern braucht. Nach dem letzten Skandal, den er sich geleistet hat, wurde ihm der Boden zu heiß unter den Füßen. Er mußte das Land verlassen und nach Amerika gehen. Und wenn er nicht das Geld gehabt hätte, um die Leute zu beschwichtigen, wäre er sogar ins Gefängnis gewandert. Deshalb ärgere ich mich so über Hancock. Ich habe ja nichts dagegen, daß er sich Priester nennt, wenn auch für den guten alten Weeks, der doch immerhin Stiftsherr war, die
Bezeichnung ›Geistlicher‹ gut genug war. Auch nichts gegen seine Meßgewänder. Meinetwegen kann er sich in unsere Nationalfahne hüllen. Aber wenn er den alten Burdock, von Kerzen umgeben, im Südschiff aufbahren und Hubbard, den Wirt von der ›Roten Kuh‹, und Duggins’ Jungen ihm die halbe Nacht über Gebete sprechen läßt, dann geht das doch etwas zu weit. Die Leute mögen es nämlich nicht – wenigstens nicht die ältere Generation. Die kannten Burdock schließlich zu gut. Simpson, der Armenpfleger, kam gestern abend noch ganz unglücklich deswegen zu mir. Ich versprach ihm, mit Hancock zu reden, und das habe ich heute morgen auch getan. Aber man kann genausogut mit dem Westportal der Kirche reden.« »Mr. Hancock gehört zu den jungen Leuten, die sich einbilden, alles zu wissen«, erklärte seine Frau. »Ein vernünftiger Mann hätte auf dich gehört, Tom. Du bist in diesem Dorf Friedensrichter und hast dein ganzes Leben hier verbracht. Da liegt es doch auf der Hand, daß du bedeutend besser über die Gemeinde Bescheid weißt als er.« »Er beharrte auf der lächerlichen Einstellung, daß ein Mann das Gebet um so nötiger habe, je sündiger er sei. Worauf ich erwiderte: ›Ich glaube, selbst wenn wir beide mit vereinten Kräften beteten, so könnten wir ihn doch nicht aus den Regionen holen, in denen er jetzt weilt.‹ Ha, ha! Darauf sagte er: ›Ganz meine Meinung, Mr. Frobisher-Pym; darum lasse ich auch acht Wächter die ganze Nacht für ihn beten.‹ Darauf konnte ich nichts mehr sagen, das gebe ich zu.« »Acht Leute?« rief Mrs. Frobisher-Pym aus. »Nicht alle zur gleichen Zeit, wie ich höre, sondern schubweise, immer zwei auf einmal. Ich machte ihn natürlich darauf aufmerksam, daß er damit den Nonkonformisten eine Handhabe geben würde, was er nicht abstreiten konnte.« Wimsey nahm sich Marmelade. Die Nonkonformisten suchten anscheinend immer nach einer Handhabe. Da er jedoch in der Atmosphäre der
Staatskirche aufgewachsen war, kannte er solche Meinungsverschiedenheiten und sagte einfach: »Schade, daß man in einem so kleinen Dorf zu solchen Extremen neigt. Es stört die Vorstellung von den einfachen Dorfvätern, vom Dorfschmied mit seiner im Chor singenden Tochter, vom alten hundertsten Psalm und dergleichen. Hat die Familie Burdock sich nicht dazu geäußert? Es sind doch einige Söhne vorhanden, nicht wahr?« »Nur noch zwei. Aldine ist ja gefallen, und Martin ist irgendwo im Ausland. Er ging weg nach dem Krach mit seinem Vater, und ich glaube nicht, daß er seitdem wieder in England gewesen ist.« »Weshalb haben sie sich denn verkracht?« »Oh, das war eine schimpfliche Angelegenheit. Martin hatte ein Mädchen unglücklich gemacht – eine Filmschauspielerin oder Stenotypistin oder etwas Ähnliches – und bestand darauf, sie zu heiraten.« »Oh?« »Ja, das war schrecklich von ihm«, nahm die Dame des Hauses die Erzählung auf, »wo er doch praktisch mit der einen Delaprime verlobt war – der mit der Brille, wissen Sie. Es gab einen schrecklichen Skandal. Fürchterlich vulgäre Leute kamen her, drängten sich ins Haus und wollten unbedingt den alten Mr. Burdock sprechen. Ich muß ja sagen, er hat sich ihnen gegenüber behauptet – er war kein Mann, der sich einschüchtern ließ. Er sagte ihnen glatt, daß das Mädchen selbst Schuld habe, und sie könnten Martin verklagen, wenn sie Lust hätten – er lasse sich nicht seines Sohnes wegen erpressen. Der Butler hat natürlich an der Tür gelauscht und die Geschichte im ganzen Dorf herumgetragen. Und dann kam Martin Burdock nach Hause und zankte sich mit seinem Vater, daß man es meilenweit hören konnte. Er erklärte, daß das Ganze erlogen sei und er das Mädchen sowieso heiraten wolle.
Ich kann nicht verstehen, wie jemand in eine solche Erpresserfamilie einheiraten will.« »Meine Liebe«, bemerkte Mr. Frobisher-Pym in sanftem Ton, »du tust da, glaube ich, Martin und den Eltern seiner Frau unrecht. Wie Martin mir erzählte, sind es ganz anständige Leute, allerdings nicht vom selben Stande, und sie kamen in guter Absicht, um zu hören, was für Pläne Martin habe. Du hättest genauso gehandelt, wenn es deine Tochter gewesen wäre. Der alte Burdock bildete sich natürlich ein, sie wollten ihn erpressen. Er war eben der Typ, der glaubt, alles könne mit Geld abgemacht werden. Auch er war der Ansicht, daß ein Sohn von ihm völlig berechtigt sei, ein junges Mädchen zu verführen, das für seinen Lebensunterhalt arbeitete. Ich will nicht behaupten, daß Martin im Recht war – «. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, fürchte ich«, entgegnete die Dame. »Er hat das Mädchen jedenfalls geheiratet, und warum hätte er das tun sollen, wenn er es nicht mußte?« »Du weißt aber, daß sie nie Kinder gehabt haben«, warf Mr. Frobisher-Pym ein. »Das mag sein, wie es will. Ich bin fest überzeugt, daß das Mädchen mit den Eltern unter einer Decke steckte. Und du weißt, daß die Martin Burdocks seitdem immer in Paris gelebt haben.« »Das stimmt«, gab ihr Mann zu. »Es war eine unglückselige Angelegenheit, wie man’s auch nimmt. Man hatte einige Schwierigkeiten, Martins Adresse ausfindig zu machen, aber er wird sicher bald kommen. Wie ich höre, ist er damit beschäftigt, einen neuen Film zu drehen. Da kann er vielleicht nicht rechtzeitig zur Beerdigung abkommen.« »Wenn er irgendwelche natürliche Gefühle hätte, ließe er sich nicht durch einen Film abhalten.«
»Meine Teuerste, es gibt so etwas wie Kontrakte mit sehr schweren Geldstrafen, wenn man sie bricht. Und ich glaube nicht, daß Martin es sich leisten kann, eine große Summe zu verlieren. Von seinem Vater wird er kaum etwas erben.« »Dann ist Martin wohl der jüngere Sohn?« fragte Wimsey mehr aus Höflichkeit als aus Interesse an dem abgedroschenen Thema dieses dörflichen Melodramas. »Nein, er ist der Älteste. Das Haus und der Besitz sind natürlich ein unveräußerliches Erblehen. Aber es steckt kein Geld in dem Land. Der alte Burdock hat sein Vermögen während der Hochkonjunktur in Gummi gemacht, und das Geld bekommt der, dem er es vererbt. Wer das ist, weiß keiner; denn bislang hat man noch kein Testament entdeckt. Wahrscheinlich hat er es Haviland hinterlassen.« »Ist das der jüngere Sohn?« »Ja. Er bekleidet einen Posten in der City – Direktor einer Gesellschaft – hat etwas mit Seidenstrümpfen zu tun, soviel ich weiß. Niemand hat viel von ihm gesehen. Als er vom Tode seines Vaters erfuhr, kam er sofort her. Er wohnt bei Hancocks. Das große Haus ist unbewohnt, seitdem der alte Burdock vor vier Jahren nach Amerika ging. Haviland hat es nicht der Mühe wert gefunden, es herrichten zu lassen, bevor man weiß, was Martin damit vor hat. Daher wird die Leiche auch in die Kirche gebracht.« »Bestimmt viel weniger Arbeit«, bemerkte Wimsey. »O ja – aber meiner Ansicht nach sollte Haviland nachbarlicher handeln. Wenn man bedenkt, was für eine Rolle die Burdocks hier immer gespielt haben, so konnten die Leute mit Recht einen angemessenen Empfang nach der Beerdigung erwarten. Das ist nun einmal so üblich. Aber diese Geschäftsleute halten weniger auf Tradition als wir hier. Und da Haviland bei den Hancocks zu Gast ist, kann er natürlich nicht viel sagen wegen der Kerzen und Gebete und so weiter.«
»Vielleicht nicht«, meinte Mrs. Frobisher-Pym, »aber es wäre schicklicher gewesen, wenn Haviland zu uns gekommen wäre; denn die Hancocks kennt er doch kaum.« »Meine Liebe, du hast wohl die sehr unangenehme Auseinandersetzung vergessen, die ich mit Haviland hatte, weil er auf meinem Grund und Boden jagte. Nach der zwischen uns gewechselten Korrespondenz konnte ich ihm unmöglich meine Gastfreundschaft anbieten. Aber wir wollen Sie mit unserem Dorfklatsch nicht langweilen, Lord Peter. Was halten Sie von einem kleinen Inspektionsgang nach dem Frühstück? Es ist ein Jammer, daß es so stark regnet, und natürlich bietet der Garten um diese Jahreszeit nicht den allerbesten Anblick, aber ich habe da ein paar Schnepfenhunde, die Sie vielleicht interessieren.« Lord Peter ging eifrig auf diesen Vorschlag ein, und wenige Minuten später knirschten seine Schritte über den nassen Kiesweg, der zu den Hundezwingern führte. »Geht nichts über ein gesundes Landleben«, meinte Mr. Frobisher-Pym. »Meiner Ansicht nach ist London im Winter deprimierend. Man kann nichts anfangen. Ein paar Tage lasse ich mir gefallen, um wieder einmal ins Theater zu gehen. Aber wie Sie alle es dort wochenlang aushalten können, geht einfach über meinen Horizont. Ich sollte unbedingt mit Plunkett über diesen Bogengang sprechen«, setzte er hinzu. »Der muß geschnitten werden.« Er brach eine baumelnde Efeuranke ab. Die Pflanze schüttelte sich rachsüchtig und kippte Wimsey einen kalten Wasserfall in den Nacken. Die Hundemutter hauste mit ihren Sprößlingen in einer bequemen, luftigen Hütte im Stallgebäude. Ein junger Mann in Kniehosen und Gamaschen kam zum Vorschein, um die Besucher zu begrüßen, und reichte ihnen ein paar kleine Hundebündel zur Besichtigung hin. Wimsey setzte sich auf
einen umgestülpten Eimer und besah sich ein Bündel nach dem anderen mit ernsthafter Miene. Die Hündin knurrte ein wenig, kam aber nach vorsichtiger Beschnüffelung seiner Stiefel zu dem Schluß, daß er vertrauenswürdig sei, und besabberte freundschaftlich seine Knie. »Na, wie alt sind sie denn nun?« fragte Mr. Frobisher-Pym. »Dreizehn Tage, Sir.« »Hat sie genug Milch?« »Reichlich, Sir. Sie bekommt etwas von dem Malzpräparat. Scheint ihr gut zu bekommen, Sir.« »Ach ja, richtig. Plunkett war nicht so ganz dafür. Aber es wurde mir sehr empfohlen. Plunkett hat für Experimente nicht viel übrig, und im allgemeinen gebe ich ihm recht. Wo ist er übrigens?« »Er fühlt sich heute morgen nicht sehr wohl, Sir.« »Das tut mir leid, Merridew. Wieder mal der leidige Rheumatismus?« »Nein, Sir. Wie Mrs. Plunkett mir erzählte, hat er eine Art Schock erlitten.« »Einen Schock? Was für einen Schock? Hat doch wohl nichts mit Alf oder Elsie zu tun?« »Nein, Sir. Tatsächlich – ich meine, soviel ich weiß, hat er etwas gesehen, Sir.« »Was soll das heißen: etwas gesehen?« »Nun, Sir, wie er sagt, war’s eine Art Warnung.« »Eine Warnung? Gütiger Himmel, Merridew, solche Marotten darf er sich nicht in den Kopf setzen. Ich bin erstaunt über Plunkett. Ich habe ihn stets für einen vernünftigen Mann gehalten. Von was für einer Warnung hat er denn gesprochen?« »Das weiß ich nicht, Sir.« »Er hat doch bestimmt erwähnt, was er zu sehen glaubte.« »Ich kann es wirklich nicht sagen, Sir.«
»So etwas geht ja nicht. Ich muß Plunkett unbedingt sprechen. Ist er in seinem Häuschen?« »Ja, Sir.« »Wir werden sofort hingehen. Sie haben doch nichts dagegen, Wimsey? Ich kann nicht einfach zusehen, wie Plunkett sich krank macht. Wenn er einen Schock gehabt hat, müssen wir einen Arzt holen. Also, machen Sie nur weiter, Merridew. Ich kann mir einfach nicht vorstellen«, fuhr er fort, als er Lord Peter an einem Gewächshaus vorbei zu einem schmucken Häuschen führte, das von seinem eigenen Gemüsegarten umgeben war, »was für ein Ereignis Plunkett so aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Er wird natürlich auch älter, aber er dürfte doch nicht an solche Dinge wie Warnungen und Anzeichen glauben. Es ist unwahrscheinlich, was für merkwürdige Ideen sich die Leute hier in den Kopf setzen. In Wirklichkeit ist er vermutlich im ›Müden Wanderer‹ eingekehrt und hat auf dem Heimweg irgendwo Wäsche hängen sehen.« »Keine Wäsche«, korrigierte Wimsey mechanisch. Er besaß einen logischen Verstand, der die Torheit einer Idee sogar dann bloßstellte, wenn er gereizt zugab, daß die Sache unwesentlich sei. »Es goß gestern abend in Strömen. Und außerdem war’s Donnerstag. Am Dienstag und Mittwoch war das Wetter schön. Also war die Wäsche längst trocken. Daher keine Wäsche.« »Nun gut, dann war’s eben etwas anderes – ein Pfosten oder der weiße Esel der alten Mrs. Giddens. Plunkett trinkt leider manchmal einen über den Durst, aber er versteht sich gut auf Hunde, und da übersieht man das eben. Die hiesigen Bewohner sind sehr abergläubisch und können einem merkwürdige Dinge erzählen, wenn man ihr Vertrauen genießt. Sie würden staunen, wenn Sie wüßten, wie weit wir hier von der Zivilisation entfernt sind. In Abbots Bolton, nur fünfzehn
Meilen von hier, darf man keinen Hasen schießen, wenn einem das Leben lieb ist. Hexen, wissen Sie, und ähnlicher Zauber.« »Das überrascht mich gar nicht. In manchen Teilen Deutschlands spricht man noch vom Werwolf.« »Was Sie nicht sagen! Na, hier wären wir.« Mr. FrobisherPym klopfte mit seinem Spazierstock laut an die Haustür und drückte die Klinke herunter, ohne auf eine Einladung zu warten. »Sind Sie da, Mrs. Plunkett? Dürfen wir hereinkommen? Ah, guten Morgen, hoffentlich stören wir nicht, aber Merridew erzählte mir, daß Plunkett nicht so ganz auf dem Damm sei. Dies ist Lord Peter Wimsey – ein sehr alter Freund von mir; das heißt, in bin ein sehr alter Freund von ihm; ha, ha!« »Guten Morgen, Sir; guten Morgen, Ihre Lordschaft. Plunkett wird sich über Ihren Besuch sicher freuen. Bitte, treten Sie näher. Plunkett, Mr. Pym ist hier, um dich zu besuchen.« Der ältere Mann, der zusammengekauert vor dem Feuer saß, wandte ihnen ein klägliches Gesicht zu und stand halb auf, während er zum Gruß einen Finger an die Stirn legte. »Nun, Plunkett, wo zwickt’s denn?« erkundigte sich Mr. FrobisherPym in der herzhaften Art, die sich die Landjunker zugelegt haben, wenn sie ihre Untergebenen am Krankenbett besuchen. »Tut mir leid, daß ich Sie nicht auf den Beinen sehe. Wieder mal das alte Leiden, wie?« »Nein, Sir; nein, Sir. Dank der Nachfrage. Mir geht es an sich ganz gut. Aber ich habe eine Warnung bekommen und werde nicht mehr lange in dieser Welt leben.« »Nicht mehr lange leben? Unsinn, Plunkett. So dürfen Sie nicht reden. Es wird wohl eine kleine Verdauungsstörung sein. Dabei sieht man nämlich auch schwarz. Mit mir ist auch gar nichts los, wenn ich einen Gallenanfall habe. Versuchen Sie es einmal mit einer Dosis Rizinusöl oder mit einem alten probaten Hausmittelchen. Die sind nicht zu unterschätzen.
Dann werden Sie nicht mehr von Warnungen und vom Sterben reden.« »Gegen meine Krankheit ist kein Kraut gewachsen. Niemand, der das gesehen hat, was ich gesehen habe, ist mit heiler Haut davongekommen. Aber da Sie und der Herr gerade da sind, möchte ich Sie fragen, ob Sie mir wohl einen Gefallen tun wollen.« »Natürlich, Plunkett. Alles, was Sie wollen. Worum handelt es sich denn?« »Nur um mein Testament, Sir. Der alte Pastor tat es gewöhnlich. Aber mit diesem neuen jungen Mann, mit seinen Kerzen und Geschichten, verstehe ich mich nicht. Ich weiß nicht, ob er es so richtig nach dem Buchstaben des Gesetzes macht, Sir, und es soll keine Scherereien geben, wenn ich nicht mehr bin. Da mir nicht viel Zeit bleibt, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie für mich klar und deutlich mit Tinte und Feder aufschreiben würden, daß das bißchen, was ich besitze, an Sarah und nach ihrem Tode zu gleichen Teilen an Alf und Elsie fallen soll.« »Natürlich mache ich das für Sie, Plunkett, wenn Sie wollen. Aber es ist Unsinn, von Testamenten zu reden. Du meine Güte, es sollte mich nicht überraschen, wenn wir alle vor Ihnen stürben.« »Nein, Sir. Ich bin ein gesunder, kräftiger Mann gewesen. Das will ich nicht abstreiten. Aber ich bin gerufen worden, Sir, und ich muß gehen. Ich weiß, es bleibt keiner verschont. Aber es ist doch furchtbar, wenn man den Totenwagen kommen sieht, der einen abholen wird, und weiß, daß die Toten darin sind, die nicht in ihrem Grabe ruhen können.« »Na, na, Plunkett, Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, daß Sie an den alten Unsinn mit der Todeskutsche glauben. Ich habe Sie für einen aufgeklärten Mann gehalten. Was würde Alf wohl sagen, wenn er solchen Unsinn von Ihnen hörte?«
»Ach, Sir, junge Leute wissen auch nicht alles, und in Gottes Schöpfung gibt es noch viel mehr Dinge, als man in gedruckten Büchern findet.« »Na ja«, meinte Mr. Frobisher-Pym, der dieser Gelegenheit nicht widerstehen konnte, »es gibt halt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt… Ganz richtig. Aber das bezieht sich nicht auf heute«, fügte er widerspruchsvoll hinzu. »Im zwanzigsten Jahrhundert gibt es keine Geister. Denken Sie einmal ruhig über die Sache nach, und dann werden Sie finden, daß Sie sich geirrt haben. Es gibt wahrscheinlich eine ganz einfache Erklärung dafür. Du meine Güte! Wenn ich daran denke, wie Mrs. Frobisher-Pym eines Nachts in Angst und Nöten aufwachte, weil sie glaubte, jemand habe sich an unserer Schlafzimmertür erhängt. Ein törichter Gedanke; denn ich lag ja wohlbehalten neben ihr im Bett – schnarchte sogar, wie sie sagte, ha, ha! – und wenn jemand das Verlangen gehabt hätte, sich aufzuknüpfen, wäre er wohl nicht in unser Schlafzimmer gekommen, um es zu tun. Na, sie umklammerte in großer Aufregung meinen Arm, und als ich aufstand und die Sache näher untersuchte, was meinen Sie wohl, was es war? Meine Hose, die ich am Hosenträger aufgehängt hatte und aus der die Socken noch herausbaumelten. Du lieber Gott! Was für Vorwürfe habe ich da bekommen, weil ich meine Sachen nicht ordentlich weggelegt hatte!« Mr. Frobisher-Pym lachte, und Mrs. Plunkett sagte pflichtschuldigst: »Nein, so was!« Ihr Mann schüttelte den Kopf. »Das mag ja alles so sein, Sir, aber ich habe gestern nacht die Todeskutsche mit eigenen Augen gesehen. Die Kirchturmuhr schlug gerade Mitternacht, und da kam sie den Weg herauf, der an der Wand der alten Priorei entlangführt.« »Und was machten Sie um Mitternacht noch da draußen?«
»Ich hatte meine Schwester besucht, Sir. Deren Sohn war gerade da. Er hatte Urlaub von seinem Schiff.« »Und. Sie haben natürlich tüchtig auf sein Wohl getrunken, nicht wahr, Plunkett?« Mr. Frobisher-Pym hob drohend den Zeigefinger. »Nein Sir. Ein paar Gläser Bier habe ich wohl getrunken, das will ich nicht abstreiten. Aber betrunken war ich nicht. Meine Frau kann Ihnen das bestätigen, daß ich ziemlich nüchtern war, als ich nach Hause kam.« »Das stimmt, Sir«, mischte sich seine Frau ein. »Plunkett hatte gestern abend keinen Tropfen zuviel getrunken. Das kann ich beschwören.« »Und was haben Sie denn gesehen, Plunkett?« »Die Todeskutsche, wie ich Ihnen schon sagte. Geisterhaft weiß und völlig geräuschlos wie die Toten, die darin waren, Sir.« »Ein Lastwagen, der nach Lymptree oder Herriotting fuhr.« »Nein, Sir – es war kein Lastwagen. Ich habe die Pferde gezählt – vier weiße Pferde, und sie trabten vorbei ohne Hufschlag, ohne Klirren des Zaumes. Und das war noch nicht –« »Vier Pferde! Nanu, Plunkett, Sie müssen wohl doppelt gesehen haben. Niemand in dieser Gegend würde mit vier Pferden fahren, höchstens Mr. Mortimer aus Abbots Bolton, und der würde seine Gäule nicht um Mitternacht herumkutschieren.« »Vier Pferde waren’s, Sir. Ich habe sie deutlich gesehen. Und es war auch nicht Mr. Mortimer; denn er fährt einen Jagdwagen, und dies war eine große, schwere Kutsche ohne Lichter, die aber von sich aus leuchtete, als wäre sie mit Mondlicht übergossen.« »Unsinn, Mann! Der Mond war gestern abend nicht zu sehen. Es war eine pechschwarze Nacht.«
»Ja, Sir. Aber die Kutsche leuchtete doch wie Mondlicht.« »Und keine Lichter? Was würde die Polizei wohl dazu sagen.« »Keine irdische Polizei hätte die Kutsche anhalten können«, entgegnete Plunkett verächtlich, »noch konnte ein Sterblicher den Anblick ertragen. Ich sage Ihnen, Sir, das ist noch nicht das Schlimmste. Die Pferde – « »Fuhr die Kutsche langsam?« »Nein, Sir. Im Galopp, nur berührten die Hufe den Boden nicht. Es war kein Laut zu hören, doch ich sah die schwarze Straße und die weißen Hufe etwa fünf bis zehn Zentimeter darüber. Und die Pferde hatten keine Köpfe.« »Keine Köpfe?« »Nein, Sir.« Mr. Frobisher-Pym lachte. »Na, na, Plunkett, Sie erwarten doch wohl nicht, daß wir das schlucken. Keine Köpfe? Wie könnte selbst ein Geist kopflose Pferde lenken? Wo lagen denn die Zügel?« »Sie können ruhig lachen, Sir, aber wir wissen alle, daß bei Gott kein Ding unmöglich ist. Vier weiße Pferde waren es. Das habe ich deutlich gesehen. Aber über dem Kummet gab es keinen Hals und keinen Kopf, Sir. Ich sah die Zügel, die wie Silber schienen, und sie gingen bis zu den Ringen im Kummet, nicht weiter. Und wenn ich in dieser Sekunde tot umfallen sollte, es war so.« »Gab es auch einen Kutscher bei diesem merkwürdigen Aufzug?« »Ja, Sir, es gab auch einen Kutscher.« »Etwa auch kopflos?« »Ja, Sir, auch kopflos. Jedenfalls konnte ich nichts oberhalb des Mantels mit einer dieser altmodischen Schulterpelerinen sehen.«
»Na, ich muß schon sagen, Plunkett, Ihre Schilderung ist ja sehr eingehend. Wie weit war diese. – hm – Erscheinung von Ihnen entfernt?« »Ich ging gerade am Kriegerdenkmal vorbei, Sir, als ich sie den Weg heraufkommen sah. Also waren es nicht mehr als zwanzig oder dreißig Meter. Sie kam im Galopp vorbei und bog links bei der Friedhofsmauer ein.« »Das klingt ja höchst merkwürdig. Aber es war eine dunkle Nacht, und bei der Entfernung mögen Ihre Augen Sie getäuscht haben. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann schlagen Sie sich die ganze Sache aus dem Kopf.« »Ach, Sir, das ist leicht gesagt, aber jeder weiß, daß der Mann, der die Todeskutsche der Burdocks gesehen hat, innerhalb einer Woche sterben muß. Dagegen kann man sich nicht auflehnen; das ist einfach so. Und wenn Sie mir den Gefallen mit dem Testament tun wollen, würde ich glücklicher sterben in dem Gedanken daran, daß Sarah und die Kinder zu ihrem bißchen Geld kämen.« Mr. Frobisher-Pym setzte das Testament auf, obschon ziemlich widerwillig, und ermahnte und schalt abwechselnd beim Schreiben. Wimsey unterschrieb ebenfalls als einer der Zeugen und versuchte, Plunkett auf seine Art zu trösten: »An Ihrer Stelle würde ich mich nicht so sehr über die Kutsche aufregen. Sie können sich darauf verlassen, wenn es die Burdock-Kutsche ist, so will sie nur die Seele des alten Gutsbesitzers holen. Sie konnte ja deswegen nicht nach New York fahren, nicht wahr? Es ist sozusagen nur eine Vorbereitung für das Begräbnis morgen.« »Das mag wohl sein«, stimmte Plunkett zu. »Man hat sie häufig in dieser Gegend gesehen, wenn jemand von den Burdocks gestorben war. Aber sie bringt dem, der sie sieht, furchtbares Unglück.«
Der Gedanke an das Begräbnis schien ihn jedoch ein wenig aufzuheitern. Die Besucher baten ihn nochmals, sich die Geschichte aus dem Kopf zu schlagen, und verabschiedeten sich von ihm. »Ist es nicht erstaunlich«, fragte Mr. FrobisherPym, »was eine blühende Phantasie bei diesen Leuten fertigbringt? Und sie sind hartnäckig. Man kann sich den Mund fusselig reden.« »Ja. Aber ich schlage vor, wir gehen einmal zur Kirche und sehen uns das Ganze an. Ich möchte gern wissen, wieviel er wirklich von seinem Platz aus sehen konnte.« Die Pfarrkirche von Little Doddering steht, wie so viele Landkirchen, abseits von den Häusern. Die Hauptstraße von Herriotting, Abbotts Bolton und Frimpton führt am Westtor des Kirchhofs vorbei – es ist ein großer Friedhof mit vielen alten Grabsteinen. Auf der Südseite befindet sich ein schmaler, düsterer, von alten Ulmen beschatteter Weg, der die Kirche von den noch älteren Ruinen der Priorei von Doddering trennt. An der Hauptstraße, etwas weiter als der Punkt, wo der alte Prioreiweg einmündet, steht das Kriegerdenkmal, und von hier läuft die Straße in gerader Richtung nach Little Doddering. Um die übrigen zwei Seiten des Friedhofs schlängelt sich noch ein Weg, der im Dorf einfach als »Hintergasse« bekannt ist. Dieser zweigt etwa hundert Meter nördlich der Kirche von der Herriotting-Straße ab, mündet in das untere Ende des Prioreiwegs und läuft von da aus in Kurven nach Shootering Underwood, Hamsey, Thripsey und Wyck. »Was Plunkett auch gesehen zu haben glaubt«, sagte Mr. Frobisher-Pym, »muß von Shootering gekommen sein. Die Hintergasse führt nur an ein paar Feldern und kleinen Häusern vorbei, und es liegt klar auf der Hand, daß jeder, der von Frimpton gekommen wäre, die Hauptstraße gewählt haben würde. Die Gasse ist durch den vielen Regen in einem schlechten Zustand. Ich fürchte, daß sogar Sie, mein lieber
Wimsey, trotz Ihrer vorzüglichen Eigenschaften als Detektiv es nicht fertigbringen, Wagenspuren auf diesen modernen Schotterstraßen zu entdecken.« »Wohl kaum«, gab Wimsey zu, »besonders, wenn es sich um eine Geisterkutsche handelt, die dahinrollt, ohne den Boden zu berühren. Aber Ihre Schlußfolgerung scheint wohlbegründet zu sein, Sir.« »Wahrscheinlich waren es ein paar verspätete Lastwagen, die zum Markte fuhren«, setzte Mr. Frobisher-Pym hinzu. »Aberglaube und das hiesige Bier, fürchte ich, sind für den Rest verantwortlich. Aus dieser Entfernung hätte Plunkett nicht alle die Einzelheiten, die er erwähnte, erkennen können. Und wenn die Kutsche geräuschlos war, wie kam’s, daß er sie überhaupt bemerkte, wo er doch schon über die Einbiegung hinaus war und in der anderen Richtung ging? Verlassen Sie sich darauf, er hat nur die Räder gehört und sich den Rest eingebildet.« »Wahrscheinlich«, sagte Wimsey. »Wenn die Wagen allerdings ohne Lichter fuhren«, gab sein Gastgeber zu bedenken, »müßte man der Sache natürlich auf den Grund gehen. So etwas ist gefährlich, besonders, wo diese vielen Autos auf den Straßen so rasen. Ich mußte den Leuten deswegen schon scharf ins Gewissen reden. Gerade neulich habe ich einem Mann dafür eine Geldbuße auferlegt. Haben Sie Interesse daran, die Kirche zu besichtigen, wo wir schon hier sind?« Lord Peter, der wußte, daß eine Kirchenbesichtigung auf dem Land nun einmal dazugehört, ging bereitwilligst darauf ein. »Heutzutage ist sie immer offen«, erklärte der Friedensrichter, während er auf das Westportal zuschritt. »Der Vikar geht von dem Gedanken aus, daß Kirchen für Privatgebete immer offen sein sollten. Er kommt natürlich von einer Stadtpfarre. Die Leute in dieser Gegend sind immer draußen auf den Feldern,
und man kann von ihnen nicht erwarten, daß sie in Arbeitskleidung und schmutzigen Stiefeln in die Kirche kommen. Sie würden es als unehrerbietig ansehen, und außerdem haben sie etwas anderes zu tun. Auch habe ich den Vikar darauf hingewiesen, daß dadurch unerwünschtem Betragen Tür und Tor geöffnet sei. Aber er ist ein junger Mann und muß durch Erfahrung klug werden.« Er stieß die Tür auf. Ein merkwürdiger, dumpfer Geruch von altem Weihrauch, Feuchtigkeit und Öfen schlug ihnen beim Eintritt entgegen – gewissermaßen ein konzentrierter Hochkirchenextrakt. Die beiden blumengeschmückten und vergoldeten Altäre, die sich wie grelle Flecken in den düsteren Schatten der bedrückenden Architektur dieser kleinen normannischen Kirche ausnahmen, strahlten dieselbe widersinnige Atmosphäre aus. Das Warme und Menschliche wirkte hier exotisch und fremd; das Kalte und Abstoßende schien dagegen dem Ort und den Leuten angestammt zu sein. »Die Marienkapelle im Südschiff, wie Hancock sie nennt, ist natürlich neu«, sagte Mr. Frobisher-Pym. »Sie stieß auf großen Widerstand, aber der Bischof ist nachsichtig mit den Anhängern der Hochkirche – zu nachsichtig, denken manche – und was macht es schließlich aus? Ich kann meine Gebete genauso gut verrichten, ob wir nun zwei Abendmahltische haben oder einen. Eins muß ich Hancock lassen: er versteht es, mit den jungen Männern und Mädchen umzugehen. In diesem Zeitalter der Motorräder will es schon was heißen, wenn jemand ein Interesse für die Religion in der Jugend erweckt. Dieses Gestell in der Kapelle ist wohl für den Sarg des alten Burdock bestimmt. Ah! Hier kommt ja der Vikar.« Ein dünner Mann in einer Soutane trat aus einer Tür neben dem Hochaltar und kam mit einem großen, eichenen Kerzenleuchter in der Hand auf sie zu. Er hieß sie mit einem etwas berufsmäßigen Lächeln willkommen. Wimsey sah auf
den ersten Blick, wen er vor sich hatte: einen ernsten, nervösen und nicht gerade hochintelligenten Mann. »Die Kerzenleuchter sind soeben erst gekommen«, bemerkte der Vikar nach der üblichen Vorstellung. »Ich fürchtete schon, sie würden nicht rechtzeitig eintreffen. Aber jetzt ist alles in Ordnung.« Er stellte einen der Leuchter neben das Gestell für den Sarg und steckte eine lange Kerze aus ungebleichtem Wachs auf die Messingspitze. Mr. Frobisher-Pym erwiderte nichts darauf. Wimsey hielt es jedoch für angebracht, ein gewisses Interesse zu bekunden. »Es ist höchst erfreulich«, meinte der so ermunterte Mr. Hancock, »wenn man sieht, daß die Leute sich wirklich für ihre Kirche zu interessieren beginnen. Ich habe eigentlich sehr wenig Schwierigkeiten gehabt, um Leute zu finden, die heute nacht die Totenwache halten. Wir haben acht Wächter, die zu zweit von heute abend um zehn Uhr – bis zu welcher Stunde ich im Dienst bin – bis morgen früh um sechs, wenn ich die Messe lese, wachen werden. Die Männer werden bis 2 Uhr auf ihrem Posten sein, dann lösen meine Frau und Tochter sie ab, und Mr. Hubbard und der junge Rawlinson haben sich freundlicherweise bereit erklärt, die Stunden von vier bis sechs zu übernehmen.« »Was für ein Rawlinson ist das?« erkundigte sich Mr. Frobisher-Pym. »Mr. Grahams Schreiber aus Herriotting. Er gehört zwar nicht zu dieser Gemeinde, ist aber hier geboren und hat seine Dienste angeboten. Er kommt mit seinem Motorrad herüber. Mr. Graham hat ja schließlich auch viele Jahre lang die Angelegenheiten der Familie Burdock verwaltet, und da wollte er wohl in irgendeiner Weise seine Achtung bezeugen.« »Na, ich hoffe nur, daß er seine Arbeit morgen früh verrichten kann, nachdem er sich die Nacht um die Ohren
geschlagen hat«, brummte Mr. Frobisher-Pym. »Was Hubbard angeht, so muß er ja wissen, was er tut. Es scheint mit allerdings eine merkwürdige Beschäftigung für einen Gastwirt zu sein. Nun, wenn’s ihm Spaß macht und Sie damit zufrieden sind, läßt sich nichts weiter dazu sagen.« »Sie haben hier eine sehr schöne alte Kirche, Mr. Hancock«, sagte Wimsey, der es nicht zum Disput kommen lassen wollte, ablenkend. »Sie ist wirklich sehr schön«, pflichtete ihm der Vikar bei. »Haben Sie schon die Apsis gesehen? Es ist selten, daß eine Dorfkirche eine so vollkommene normannische Apsis hat. Betrachten Sie sie einmal aus der Nähe.« Er schwatzte munter darauf los, als sie zum Altarplatz hinaufgingen, wobei er hin und wieder Wimseys Aufmerksamkeit auf hübsche MiserereStühle, eine schön gemeißelte Piscina oder herrlich geschnitzte Wandnischen lenkte. Wimsey half ihm dann noch, die übrigen Kerzenleuchter aus der Sakristei zu tragen. Sobald diese aufgestellt waren, verließ er mit Mr. Frobisher-Pym die Kirche.
»Sie erwähnten doch, daß Sie heute abend von den Lumsdens zum Essen eingeladen seien«, sagte der Friedensrichter, als sie nach dem Lunch ihre Zigarette rauchten. »Wie wollen Sie hinkommen? Möchten Sie mit dem Auto fahren?« »Lieber wäre mir eines Ihrer Reitpferde«, erwiderte Wimsey. »In der Stadt habe ich so wenig Gelegenheit zum Reiten.« »Aber gewiß doch, mein Lieber, gewiß doch. Ich fürchte nur, Sie werden ziemlich naß. Nehmen Sie Polly Flinders. Ihr täte etwas Bewegung gut. Ist ihnen das auch wirklich lieber? Haben Sie Ihr Reitzeug mitgebracht?« »Ja – ich habe ein paar alte Hosen bei mir, dazu einen Regenmantel. Da kann mir nichts passieren. Sie werden mich
nicht im Abendanzug erwarten. Wie weit ist es eigentlich bis Frimpton?« »Neun Meilen auf der Hauptstraße und den ganzen Weg leider Schotter, aber er ist von breiten Grasstreifen eingesäumt. Auch können Sie etwa eine Meile abschneiden, wenn Sie über die Gemeindewiese reiten. Wann wollen Sie denn aufbrechen?« »Gegen sieben Uhr, denke ich. Glauben Sie wohl, daß Mrs. Frobisher-Pym mich für sehr unhöflich halten wird, wenn ich etwas spät zurückkehre? Lumsden und ich sind alte Kriegskameraden, und wenn wir einmal die alten Zeiten beim Wickel haben, werden wir wahrscheinlich bis in die frühen Morgenstunden hinein schwatzen. Ich möchte natürlich Ihr Haus nicht wie ein Hotel betrachten, aber – « »Selbstverständlich nicht! Das ist ganz in Ordnung. Meine Frau hat absolut nichts dagegen. Sie sollen Ihren Besuch genießen und tun, was Sie wollen. Ich gebe Ihnen einen Hausschlüssel und werde daran denken, nicht die Kette vorzulegen. Vielleicht machen Sie es dann selbst, wenn Sie nach Hause kommen, ja?« »Selbstverständlich. Aber wie steht’s mit der Mähre?« »Ich werde Merridew Bescheid sagen, damit er nach Ihnen Ausschau hält. Er schläft über den Ställen. Wenn Sie nur besseres Wetter hätten! Das Barometer fällt leider. Ja. Du meine Güte! Für morgen sieht es schlecht aus. Sie werden wohl dem Leichengefolge an der Kirche begegnen, wenn der Zug pünktlich ist.« Der Zug mußte pünktlich gewesen sein; denn als Lord Peter auf das Westtor der Kirche zutrabte, sah er dort einen prunkvollen Leichenwagen stehen, der von einer kleinen Gruppe umgeben war. Zwei Trauerkutschen waren im Gefolge. Der Kutscher der zweiten schien Schwierigkeiten mit den Pferden zu haben, und Wimsey schloß daraus ganz richtig,
daß das wohl das Paar war, das man sich von Mr. Mortimer geliehen hatte. Während er Polly Flinders nach Kräften im Zaume hielt, stellte er sich in achtbarer Entfernung am Rande der Menge auf und beobachtete, wie der Sarg aus dem Leichenwagen gehoben und durch das Tor getragen wurde, wo ihn Mr. Hancock in vollem Ornat, begleitet von einem Meßdiener und zwei Fackelträgern, erwartete. Die Wirkung wurde ein wenig verdorben durch den Regen, der die Kerzen ausgelöscht hatte. Aber in den Augen der Dorfbevölkerung war es dennoch ein ausgezeichnetes Schauspiel. Ein massiver Mann, sehr korrekt in schwarzem Gehrock und Zylinder und begleitet von einer Frau in Pelzen und hübscher Trauerkleidung, veranlaßte die Umstehenden zu teilnahmsvollen Bemerkungen. Es war der durch seine Seidenstrümpfe berühmte Haviland Burdock, der jüngere Sohn des Verstorbenen. Eine große Anzahl weißer Kränze wurde dann herausgereicht und mit einem Gemurmel gefälliger Bewunderung begrüßt. Der Chor stimmte ziemlich unregelmäßig eine Hymne an, und die Prozession bewegte sich in die Kirche. Polly Flinders schüttelte kräftig den Kopf. Wimsey, der dies als Aufbruchssignal deutete, setzte seinen Hut wieder auf und trabte sanft in Richtung Frimpton davon. Vier Meilen weit folgte er der Hauptstraße, die sich durch ein schön bewaldetes Gelände bis an den Rand der Gemeindewiese von Frimpton hinzog. Hier machte die Straße einen weiten Bogen um die Wiese und schlängelte sich in sanften Kurven in das Dorf Frimpton. Wimsey zögerte einen Augenblick; es wurde dunkel, und er kannte weder den Weg noch das von ihm gerittene Tier. Ein ziemlich ausgeprägter Reitweg schien jedoch über die Wiese zu führen, und letzten Endes beschloß er, diesen zu wählen. Polly Flinders kannte ihn anscheinend sehr gut und trabte ohne Zaudern dahin. Ein Ritt von anderthalb Meilen brachte sie ohne jeden Zwischenfall
wieder auf die Hauptstraße. Hier verursachte eine Straßengabelung Verwirrung, aber Taschenlampe und Wegweiser lösten das Problem. Ein weiterer Ritt von zehn Minuten brachte den Reiter ans Ziel. Major Lumsden war ein großer, heiterer Mann, der, obwohl er im Kriege ein Bein verlor, von seiner Heiterkeit nichts eingebüßt hatte. Er besaß eine große, heitere Frau, ein großes, heiteres Haus und eine große, heitere Familie. Wimsey saß bald vor einem Feuer, das ebenso groß und heiter war wie der Rest des Haushalts, und tauschte über einem Whisky-und-Soda Klatsch und Tratsch mit seinen Gastgebern aus. Er beschrieb die BurdockProzession mit unehrerbietigem Spott und erzählte dann die Geschichte von der Geisterkutsche. Major Lumsden lachte. »Es ist eine wunderliche Gegend«, gab er zu. »Der Schutzmann ist genauso schlimm wie die anderen. Erinnerst du dich noch daran, liebes Kind, wie ich einen Geist bannen mußte, da unten auf Pogsons Farm?« »O ja«, erwiderte seine Frau mit großem Nachdruck. »Die Hausmädchen hatten eine herrliche Zeit. Trivett – das ist der Schutzmann des Ortes – stürzte bei uns herein und schlug in der Küche hin. Alle saßen heulend um ihn herum und stärkten ihn mit unserem besten Brandy, während Dan sich aufmachte, um die Sache zu untersuchen.« »Hast du den Geist gefunden?« »Nicht gerade den Geist, aber ein Paar Stiefel und eine halbe Schweinefleischpastete in dem leeren Haus. Wir haben daher alles auf einen Handwerksburschen geschoben. Ich muß gestehen, es passieren hier tatsächlich merkwürdige Dinge. Wenn ich nur an die Feuer denke, die wir im vergangenen Jahr auf der Gemeindewiese hatten. Dafür hat man nie eine Erklärung gefunden.« »Zigeuner, Dan.«
»Mag sein, aber niemand hat welche gesehen. Die Feuer erschienen unter den merkwürdigsten Umständen, manchmal im strömenden Regen, und ehe man an eins herankam, war es aus und nur noch ein durchweichter, nasser schwarzer Fleck zu sehen. Es gibt da noch einen Fleck auf der Gemeindewiese, den die Tiere nicht leiden können – in der Nähe des sogenannten Totenmann-Pfostens. Meine Hunde meiden ihn wie die Pest. Komische Viecher! Ich konnte dort nie etwas entdecken, aber selbst bei hellichtem Tage wollen sie nichts davon wissen. Die Wiese genießt keinen guten Ruf. Es war früher ein idealer Platz für Straßenräuber.« »Hat die Burdock-Kutsche etwas mit Straßenräubern zu tun?« »Nein. Ich glaube, mit einem wüsten, längst verblichenen Ahnen. Gehörte zum Höllenfeuerklub oder dergleichen. Die übliche Geschichte. Alle Leute in dieser Gegend glauben natürlich daran. In gewisser Beziehung ist das ganz gut. Da bleiben die Dienstboten wenigstens abends zu Hause. Wie wär’s, wenn wir uns etwas zu Gemüte führten? Ich bin hungrig.« »Erinnerst du dich noch an die verfluchte alte Mühle und die drei Ulmen beim Schweinestall?« fragte Major Lumsden. »Na, und ob! Du hast sie ja sehr entgegenkommend aus der Landschaft gesprengt. Sie waren ein zu starker Blickfang.« »Als sie fort waren, haben sie uns sehr gefehlt.« »Gott sei Dank, daß du sie nicht verfehlt hast, als sie noch da waren. Etwas hast du aber verfehlt.« »Was denn?« »Die alte Sau.« »Wahrhaftig, ja. Weißt du noch, wie der alte Piper sie hereinholte?« »Das will ich meinen. Da fällt mir ein, du kanntest doch Bunthorne…«
»Ich sage gute Nacht«, erklärte Mrs. Lumsden, »und überlasse euch beide den Erinnerungen.« »Erinnerst du dich noch«, fragte Lord Peter, »an den unangenehmen Augenblick, als Popham überschnappte?« »Nein. Ich war mit einer Gruppe von Gefangenen zurückgeschickt worden. Habe aber davon gehört. Was ist eigentlich aus ihm geworden?« »Ich habe ihn nach Hause schicken lassen. Jetzt ist er verheiratet und lebt in Lincolnshire.« »So? Er konnte wohl nichts dafür. Er war ja nur ein Kind. Was ist aus Philpotts geworden?« »Oh, Philpotts…« »Wo ist dein Glas, alter Knabe?« »Hier, alter Knabe. Die Nacht ist noch jung…« »Wirklich? Hör’ mal, warum bleibst du nicht über Nacht? Meine Frau würde sich freuen. In einer Sekunde kann ich dir ein Lagerzurechtmachen.« »Tausend Dank. Aber ich muß mich nach Hause trollen. Ich habe es versprochen. Muß auch die Kette vorlegen, weißt du.« »Ganz wie du willst. Aber es regnet immer noch. Keine angenehme Nacht für einen Ritt.« »Nächstes Mal komme ich in einer Chaise. Uns macht’s nichts aus. Regen ist gut für die Haut – zaubert Rosen in die Wangen. Wecke bloß nicht deinen Diener. Ich kann das Pferd selbst satteln.« »Aber das macht er doch gern.« »Nein, wirklich nicht, alter Freund.« »Ich komme mit und helfe dir.« Ein nasser Windstoß fegte durch die Halle, als sie sich ihren Weg in die Nacht hinaus bahnten. Es war nach ein Uhr und pechschwarz. Wieder drängte Major Lumsden Wimsey zum Bleiben.
»Nein, wirklich nicht, danke. Die alte Dame könnte beleidigt sein. Es ist auch nicht so schlimm – naß, ja, aber nicht kalt. Komm her, Polly, und laß dich satteln!« Er schnallte den Sattel fest, während Lumsden die Laterne hielt. Die gefütterte und ausgeruhte Stute tänzelte mit vorgestrecktem Kopf und schnuppernden Nüstern aus dem warmen Stall. »Also, auf Wiedersehen, alter Bursche. Komm bald mal wieder. Es war herrlich.« »Gern. Wahrhaftig, ja. Beste Empfehlung an deine Frau. Ist das Tor offen?« »Ja.« »Alsdann, auf Wiedersehen!« »Auf Wiedersehen!« Jetzt, wo es nach Hause ging, legte sich Polly Flinders ins Zeug, um die neun Meilen auf der Landstraße schnell hinter sich zu bringen. Vor den Toren schien die Nacht heller zu sein, obgleich es noch in Strömen regnete. Irgendwo hinter den sich zusammenballenden Wolken war der Mond vergraben, der sich hin und wieder als blasser Fleck am Himmel und noch blasserer Widerschein auf der schwarzen Straße zeigte. Wimsey, der mit Erinnerungen und Whisky angefüllt war, summte vor sich hin. Als er die Gabelung erreichte, zauderte er einen Augenblick. Sollte er den Pfad über die Wiese nehmen oder sich an die Straße halten? Nach kurzer Überlegung beschloß er, die Wiese zu meiden – nicht wegen ihres bösen Rufes, sondern wegen der Rillen und Kaninchenlöcher. Er schüttelte die Zügel, sprach seiner Rosinante aufmunternd zu und blieb auf der Landstraße; auf der einen Seite hatte er die Wiese, auf der anderen Felder mit hohen Hecken, die etwas Schutz gegen den peitschenden Regen gewährten. Er war über den höchsten Punkt hinweg und hatte gerade die Stelle passiert, wo der Reitweg auf die Landstraße mündete,
als Polly Flinders durch ein leichtes Stolpern seine Aufmerksamkeit in unangenehmer Weise auf sich lenkte. »Nicht schlafen, Polly«, sagte er mißbilligend. Polly schüttelte den Kopf und versuchte, ihre leichte Gangart wieder aufzunehmen. »Hallo!« Wimsey war beunruhigt und brachte sie zum Stehen. »Hinkt mit dem linken Vorderfuß«, stellte er beim Absteigen fest. »Wenn du vier Meilen von zu Hause etwas verstaucht hast, mein Mädchen, wird Vater sich aber freuen.« Jetzt erst fiel ihm auf, wie merkwürdig einsam die Straße war. Er hatte kein einziges Auto gesehen. Sie hätten ebensogut durch eine afrikanische Wildnis reiten können. Prüfend fuhr er mit der Hand am linken Vorderbein hinab. Die Mähre verhielt sich ganz ruhig, ohne zu zucken. Wimsey stand vor einem Rätsel. »In der guten alten Zeit hätte ich angenommen, sie habe sich einen Stein in den Fuß getreten«, murmelte er vor sich hin. Er hob ihren Fuß und untersuchte ihn sorgfältig mit Fingern und Taschenlampe. Seine Diagnose erwies sich als richtig. Eine Stahlschraube, die wohl von einem vorüberfahrenden Auto gefallen war, hatte sich fest zwischen Hufeisen und Gabel eingeklemmt. Wimsey stöhnte und tastete nach seinem Messer. Glücklicherweise war es eins von jener ausgezeichneten altmodischen Sorte, die außer Klingen und Korkzieher noch ein raffiniertes Gerät zum Entfernen von Fremdkörpern aus Pferdehufen besaß. Das Pferd rieb ihn sanft mit der Nase, als er sich über seine Aufgabe beugte, die nicht ganz einfach war, da er sich die Taschenlampe unter den Arm klemmen mußte, um eine Hand für das Werkzeug und die andere für den Huf frei zu haben. Er fluchte leise vor sich hin, und als er zufällig die Straße hinabblickte, glaubte er, etwas Glänzendes zu sehen, das sich bewegte. Es war nicht gut zu erkennen, denn an dieser Stelle
standen hohe Bäume zu beiden Seiten der Straße, die sich stark neigte. Für ein Auto war das Licht zu schwach. Ein Wagen vielleicht, mit einer trüben Laterne. Doch schien es sich schnell zu bewegen. Einen Augenblick lang zerbrach Wimsey sich darüber den Kopf und ging dann wieder an die Arbeit. Als er sich nach einiger Zeit aufrichtete und seine Blicke über die Straße schweifen ließ, sah er es. Aus dem triefenden Dunkel der Bäume kam es herauf und strahlte in schwachem Mondesglanz. Kein Klappern von Hufen, kein Rollen von Rädern, kein Zaumgeklirr war vernehmbar. Wimsey sah die weißen, glatten, leuchtenden Schultern der Pferde und die Kummets, die wie schwache, feurige Ringe darauf ruhten und nichts umschlossen. Er sah die glänzenden Zügel, deren Enden in den Ringen hin- und herglitten. Die Füße, die die Erde nie berührten, bewegten sich schnell – viermal vier geräuschlose Hufe, die die blassen Leiber, wie in Nebelglanz gehüllt, vorbeitrugen. Der nach vorn gebeugte Kutscher schwang die Peitsche. Er war ohne Gesicht, ohne Kopf, aber seine ganze Haltung verriet schreckliche Hast. Die Kutsche war in dem peitschenden Regen kaum sichtbar. Aber Wimsey sah verschwommen die sich schnell drehenden Räder und etwas Mattweißes, still und steif, am Fenster. Sie sausten im Galopp vorbei. – kopfloser Kutscher, kopflose Pferde und lautloses Gefährt. Als die Kutsche sich entfernte, spürte Wimsey ein leichtes Vibrieren in der Luft – und plötzlich brüllte der Wind hinter ihr her, während im Süden der Himmel seine Schleusen zu einem Wolkenbruch öffnete. »Mein Gott!« flüsterte Wimsey. Und dann: »Wie viele Whiskys haben wir denn eigentlich getrunken?« Er wandte sich um und blickte mit angestrengten Augen die Straße entlang. Dann fiel ihm plötzlich die Stute ein. Ohne sich weiter mit der Taschenlampe abzuquälen, hob er ihren Huf und arbeitete nach dem Gefühl. Bald darauf fiel die Schraube in
seine Hand, und Polly Flinders blies ihm, dankbar seufzend, ins Ohr. Wimsey führte sie ein paar Schritte. Sie setzte die Hufe fest und stark auf. Die unverzüglich entfernte Schraube hatte keine empfindliche Stelle hinterlassen. Wimsey schwang sich in den Sattel und ließ sie laufen – dann riß er ihr plötzlich den Kopf herum. »Ich will doch mal sehen«, erklärte er resolut. »Vorwärts, Polly! Wir lassen uns doch nicht von ein paar kopflosen Pferden ins Bockshorn jagen. Gänzlich unanständig, ohne Kopf herumzulaufen. Schneller, alte Dame! Über die Wiese mit dir! Wir werden sie an der Gabelung schnappen.« Ohne die geringste Rücksicht auf seinen Gastgeber oder das Eigentum seines Gastgebers lenkte er das Pferd wieder auf den Reitweg und ließ es galoppieren. Zuerst glaubte er, auf der Straße etwas Flatterndes, Weißes zu erkennen. Aber als Straße und Reitweg sich voneinander entfernten, verlor er es aus den Augen. Doch er wußte, daß keine Seitenstraßen abzweigten. Wenn sein Pferd keinen Unfall hatte, mußte er die Kutsche vor der Gabelung einholen. Polly Flinders, die auf die leiseste Berührung mit seinen Absätzen reagierte, flog über den rauhen Pfad mit einer aus Vertrautheit geborenen Gleichgültigkeit dahin. In knapp zehn Minuten erklangen ihre Hufe wieder auf der Schotterstraße. Er brachte sie zum Stehen und blickte die Straße hinab, die nach Little Doddering führte. Noch konnte er nichts sehen. Entweder war er zu früh da oder sie war bereits mit unglaublicher Geschwindigkeit vorbeigefahren, oder aber – Er wartete. Nichts. Der heftige Regen hatte aufgehört, und der Mond kämpfte sich wieder durch die Wolken. Die Straße schien völlig verlassen zu sein. Er blickte über seine Schulter. Ein kleiner Lichtstrahl bewegte sich nahe am Boden, blitzte grün, rot und dann wieder weiß auf und kam auf ihn zu. Bald
erkannte er, daß es ein Schutzmann war, der sein Rad neben sich führte. »Eine schlechte Nacht, Sir«, bemerkte der Mann höflich, jedoch mit einem leicht fragenden Ton in der Stimme. »Scheußlich«, bestätigte Wimsey. »Mußte einen geplatzten Schlauch flicken. Das fehlte einem gerade noch«, fügte der Polizist hinzu. Wimsey bezeugte seine Teilnahme. Dann fragte er: »Sind Sie schon lange hier?« »An die zwanzig Minuten.« »Ist etwas an Ihnen vorübergekommen von Little Doddering her?« »Nichts, solange ich hier war. Was sollte es denn sein?« »Ich dachte, ich hätte – « Wimsey zauderte. Er spürte kein allzu großes Verlangen, sich lächerlich zu machen. »Einen Wagen mit vier Pferden gesehen«, fuhr er zögernd fort. »Vor kaum einer Viertelstunde ist er auf dieser Straße an mir vorbeigekommen – unten am anderen Ende der Gemeindewiese. Ich – ich bin zurückgeritten, um zu sehen, was es war. Es war so merkwürdig – « Er spürte, daß sein Bericht sehr schwach klang. Der Polizist sprach ziemlich scharf und schnell. »Es ist nichts vorbeigekommen.« »Bestimmt nicht?« »Nein Sir. Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber ich rate Ihnen, sich nach Hause zu begeben. Es ist eine einsame Gegend hier.« »Ja, nicht wahr?« meinte Wimsey. »Gute Nacht, Herr Wachtmeister.« In langsamem Schritt ritt er nach Little Doddering zurück. Er sah nichts, hörte nichts und kam an nichts vorbei. Die Nacht war jetzt heller, und er stellte noch einmal fest, daß es keine Seitenstraßen gab. Was das Ding, das er gesehen hatte, auch gewesen sein mochte, es war irgendwo am Rande der Gemeindewiese verschwunden; es hatte nicht die Hauptstraße benutzt noch irgendeine andere.
Wimsey kam reichlich spät am nächsten Morgen zum Frühstück herunter und fand seine Gastgeber in ziemlicher Aufregung. »Es ist etwas ganz Ungewöhnliches passiert«, rief Mrs. Frobisher-Pym ihm zu. »Himmelschreiend!« setzte ihr Mann hinzu. »Ich habe Hancock ja gewarnt – das kann er nicht abstreiten. Aber wie man auch über sein Getue denken mag, für ein so abscheuliches Betragen läßt sich keine Entschuldigung finden. Wehe, wenn ich die Burschen in die Hände bekomme, wer sie auch sein mögen – « »Was ist denn los?« fragte Wimsey und nahm sich von den geschmorten Nieren, die auf dem Büfett standen. »Einfach skandalös!« erklärte Mrs. Frobisher-Pym. »Der Vikar ist sofort zu Tom gekommen – hoffentlich haben wir Sie nicht mit all dem Theater gestört. Als Mr. Hancock heute morgen um sechs Uhr zur Kirche kam, um den Frühgottesdienst zu halten – « »Nein, nein, meine Liebe, so kannst du nicht beginnen. Laß mich erzählen. Als Joe Grinch – das ist der Küster, wissen Sie, und er muß zuerst da sein, um die Glocken zu läuten – als er ankam, fand er das Südportal weit offen und niemanden in der Kapelle, wo sie doch neben dem Sarg Wache halten sollten. Er war natürlich ganz bestürzt, dachte sich aber, daß Hubbard und der junge Rawlinson der Sache vielleicht überdrüssig geworden und nach Hause gegangen seien. Also ging er zur Sakristei, um die Meßgewänder und das alles zurechtzulegen, und hörte zu seinem Erstaunen Frauenstimmen darin, die ihm etwas zuriefen. Er war so verwirrt, daß er nicht mehr wußte, wo er sich befand. Dann ist er aber hingegangen und hat die Tür aufgeschlossen – « »Mit seinem eigenen Schlüssel?« fragte Wimsey. »Der Schlüssel steckte in der Tür. In der Regel hängt er an einem Nagel unter einem Vorhang bei der Orgel. Aber diesmal steckte er im Schloß – wo er nichts zu suchen hatte. Und
drinnen fand er Mrs. Hancock und ihre Tochter, die vor Angst und Ärger halb tot waren.« »Du lieber Himmel!« »Das kann man wohl sagen. Sie hatten eine höchst seltsame Geschichte zu erzählen. Um zwei Uhr hatten sie die Wache abgelöst und waren, wie vorgesehen, am Sarg in der Marienkapelle niedergekniet, um die Gebete zu sprechen. Nach ihrer Schätzung hörten sie etwa zehn Minuten später vom Hochaltar her ein Geräusch, als schleiche jemand dort herum. Miss Hancock besitzt ziemlich viel Mut. Sie erhob sich und ging im Dunkeln den Gang entlang. Mrs. Hancock folgte ihr, weil sie nicht allein gelassen werden wollte. Als sie bis zum Altargitter gekommen waren, rief Miss Hancock laut: ›Wer ist da?‹ Daraufhin hörten sie ein Rascheln und einen Laut, als sei etwas umgeworfen worden. Miss Hancock griff äußerst mutig nach einem Stab des Kirchenvorstehers, der am Chorgestühl befestigt war, und ging vor im Glauben, daß jemand versuche, die Ornamente vom Altar zu stehlen. Es ist da ein sehr schönes Kreuz aus dem fünfzehnten Jahrhundert – « »Laß das Kreuz aus dem Spiel, Tom. Das wurde jedenfalls nicht gestohlen.« »Nein, aber Miss Hancock befürchtete es. Gerade als sie bei den Altarstufen anlangte und Mrs. Hancock, die dicht hinter ihr war, sie zur Vorsicht mahnte, stürzte jemand aus dem Chorgestühl, packte sie am Arm und stieß sie, wie sie sich ausdrückte, in die Sakristei. Bevor sie überhaupt Atem holen konnte, um zu schreien, wurde Mrs. Hancock ebenfalls hineingeschoben und die Tür zugeschlossen.« »Herrje! In Ihrem Dorf geht es aber lebhaft zu.« »Na, sie hatten natürlich furchtbare Angst; denn sie konnten doch nicht wissen, ob diese Schurken zurückkommen und sie umbringen würden. Auf jeden Fall nahmen sie an, daß ein
Kirchendiebstahl geplant war. Aber die Fenster der Sakristei sind sehr eng und vergittert. Es blieb ihnen also nichts anderes übrig als zu warten. Sie versuchten zu lauschen, konnten aber nicht viel hören. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, daß die Vier-Uhr-Wache früh kommen und die Diebe überraschen würde. Doch sie warteten und warteten und hörten es vier Uhr schlagen, dann fünf, und niemand kam.« »Wo waren denn dieser Dingsda und Rawlinson geblieben?« »Das konnte keiner sagen, auch Grinch nicht. Sie haben jedoch gründlich in der Kirche nachgesehen, und es schien nichts gestohlen oder in Unordnung gebracht worden zu sein. Dann kam der Vikar hinzu, dem sie den ganzen Vorgang berichteten. Er war natürlich ganz entsetzt, und sein erster Gedanke war – als er entdeckte, daß die Ornamente und die Armenkasse nicht gestohlen waren – daß einige die Hostie aus dem – wie nennt man das Ding doch? – gestohlen haben könnten.« »Tabernakel«, schlug Wimsey vor. »Ganz recht, das ist der Name. Der Gedanke beunruhigte ihn sehr. Er hat es dann aufgeschlossen und nachgesehen, aber die Hostie war noch da. Also schickte er Mrs. und Miss Hancock nach Hause und hielt draußen vor der Kirche Umschau. Das erste, was er entdeckte, war das Motorrad des jungen Rawlinson, das im Gebüsch beim Südportal lag.« »Aha!« »Sein nächster Gedanke war daher, Rawlinson und Hubbard aufzustöbern. Er brauchte jedoch nicht weit zu suchen. Als er zum Heizungsraum an der Nordseite kam, hörte er einen fürchterlichen Radau. Es wurde geschrien und an die Tür gehämmert. Er holte sich also Grinch, und beide guckten durch das kleine Fenster hinein. Dort, bitte sehr, entdeckten sie dann Hubbard und den jungen Rawlinson, die schrien, tobten und die fürchterlichsten Ausdrücke gebrauchten. Es stellte sich
heraus, daß man mit ihnen in derselben Weise verfahren war wie mit den beiden Frauen, aber ehe sie die Kirche betraten. Rawlinson hatte den Abend mit Hubbard verbracht. Um die Hausbewohner nicht so früh zu stören, hätten sie hinten in der Bar ein Nickerchen gemacht – so sagten sie jedenfalls, aber in Wirklichkeit werden sie sich wohl einen kräftigen Schluck genehmigt haben. Und wenn das Hancocks Vorstellung ist von einer geziemenden Vorbereitung für Kirche und Gebet, so kann ich nur sagen, ich teile sie nicht. Jedenfalls brachen sie kurz vor vier Uhr auf. Am Südtor, das zugeschoben war, mußten sie absteigen, und als Rawlinson das Rad den Weg hinaufschob, sprangen mehrere Männer hinter dem Gebüsch und den Bäumen hervor. Es gab ein kleines Handgemenge, aber da sie das Motorrad hatten und das Ganze so unerwartet kam, konnten sie nicht viel machen. Außerdem warfen ihnen die Männer Decken über die Köpfe. Dann wurden sie im Heizungsraum eingeschlossen. Wenn inzwischen der Schlüssel nicht gefunden wurde, mögen sie immer noch dort sein. Es müßte eigentlich ein zweiter Schlüssel vorhanden sein, aber ich weiß nicht, wo der geblieben ist.« »Dann haben sie ihn also diesmal nicht im Schlosse stecken lassen, wie?« »Nein. Man schickte nach dem Schlosser. Ich will eben hingehen, um zu sehen, wie es steht. Möchten Sie mitkommen, wenn Sie fertig sind?« Wimsey willigte ein. Alles, was ein Problem darstellte, faszinierte ihn. »Sie sind übrigens ziemlich spät nach Hause gekommen«, bemerkte Mr. Frobisher-Pym leutselig, als sie aus dem Hause gingen. »Haben wohl die alten Zeiten durchgehechelt, was?« »Allerdings«, entgegnete Wimsey.
»Die alte Mähre hat sich doch wohl gut aufgeführt. Einsame Straße, nicht wahr? Sie haben hoffentlich nichts Schlimmeres gesehen als sich selbst, wie man so zu sagen pflegt.« »Nur einen Polizisten«, log Wimsey. Er war sich noch nicht schlüssig, ob er über die Phantomkutsche reden sollte. Zweifellos würde Plunkett erleichtert sein, wenn er wüßte, daß er nicht der einzige war, der eine »Warnung« bekommen hatte. Aber war es auch wirklich die Geisterkutsche gewesen und nicht eine von Whisky und Erinnerung erzeugte Illusion? Bei Tageslicht besehen, war Wimsey seiner Sache nicht allzu sicher. Als sie bei der Kirche anlangten, fanden der Friedensrichter und sein Gast eine stattliche kleine Schar versammelt. In die Augen stachen der heftig gestikulierende Vikar in Soutane und Birett und der Dorfpolizist, dessen Uniformrock schief zugeknöpft war und dessen Würde darunter litt, daß die Kinderwelt des Dorfes sich an seine Beine klammerte. Er hatte soeben die Aussagen der beiden Männer notiert, die endlich aus dem Kohlenkeller befreit worden waren. Der jüngere der beiden, ein frischer, kecker Bursche von etwa fünfundzwanzig Jahren, war gerade dabei, sein Motorrad in Gang zu bringen. Er begrüßte Mr. Frobisher-Pym freundlich. »Leider hat man uns etwas geduckt, Sir. Sie entschuldigen mich, nicht wahr? Ich muß schleunigst zurück nach Herriotting. Mr. Graham ist nicht erfreut, wenn ich zu spät ins Büro komme. Ich glaube, ein paar lustige Gesellen haben sich einen Scherz mit uns erlaubt.« Er grinste, als er den Gashebel umlegte und in einer unnötig dicken Rauchwolke, die Mr. Frobisher-Pym zum Niesen brachte, davonsauste. Sein Mitopfer, ein großer, fetter Mann, der typische fidele Gastwirt, lächelte den Friedensrichter beschämt an. »Na, Hubbard«, meinte letzterer, »ich hoffe, Sie haben Ihr Erlebnis genossen. Ich muß schon sagen, ich bin überrascht,
daß ein Mann von Ihrem Format sich wie ein ungezogener Lausbub im Kohlenkeller einsperren läßt.« »Ja, Sir, ich war selbst im Moment überrascht«, erwiderte der Gastwirt ziemlich gutmütig. »Als mir die Decke über den Kopf geworfen wurde, war ich der erstaunteste Mann im ganzen Lande. Ich habe ihnen aber ein paar vors Schienbein gegeben, damit sie an mich denken.« In Erinnerung daran mußte er lachen. »Wie viele waren es denn?« fragte Wimsey. »Drei oder vier, möchte ich wohl schätzen, Sir. Aber da ich sie nicht gesehen habe, kann ich nur nach ihrem Reden urteilen. Zwei haben mich geschnappt, das weiß ich ziemlich sicher, und der junge Rawlinson meint, daß er nur von einem gepackt wurde. Der muß mächtig stark gewesen sein.« »Wir müssen alle Hebel in Bewegung setzen, um die Namen dieser Leute ausfindig zu machen«, stieß der Vikar aufgeregt heraus. »Ah, Mr. Frobisher-Pym, kommen Sie und sehen Sie sich an, was sie in der Kirche angerichtet haben. Es ist so, wie ich annahm – ein antiklerikaler Protest. Wir müssen höchst dankbar sein, daß es nicht noch schlimmer geworden ist.« Damit führte er sie in die Kirche. Irgend jemand hatte ein paar Ampeln bei dem düsteren kleinen Altarplatz angezündet. Auf diese Weise konnte Wimsey sehen, daß der Hals des Adlers am Lesepult mit einer ungeheuren rot-weiß-blauen Schleife geziert war und außerdem ein großes Plakat trug – offenbar aus einem Zeitungsbüro entwendet – »Vatikan verbietet unsittliche Kleidung«. Auf jedem Chorstuhl saß ein einfältig liebenswürdiger Teddybär, anscheinend darein vertiert, das Gesangbuch von unten nach oben zu lesen, während auf der Liste vor ihnen Exemplare eines losen Witzblattes aufdringlich ausgebreitet lagen. Auf der Kanzel hatte eine schalkhafte Hand einen papierenen Eselskopf angebracht, der aus einem eleganten Nachthemd herausragte und mit einem hübschen,
aus Goldpapier geschnittenen Heiligenschein gekrönt war. »Schandbar, nicht wahr?« sagte der Vikar. »Na, Hancock«, erwiderte Mr. Frobisher-Pym, »ich muß sagen, ich glaube, Sie haben sich das selbst zuzuschreiben, obgleich ich natürlich zugebe, daß so etwas unter keinen Umständen geduldet werden darf. Die Missetäter müssen gefunden und streng bestraft werden. Aber Sie sehen doch nun ein, daß viele Ihrer Gebräuche diesen Leuten wie papistischer Unsinn vorkommt, wenn das auch keine Entschuldigung ist…« Seine tadelnde Stimme dröhnte weiter. Der Polizist hatte inzwischen die herumstehenden Dorfbewohner abgeschoben und stand nun neben Lord Peter am Eingang des Altargitters. »Waren Sie das nicht, den ich heute morgen auf der Straße traf, Sir? Aha! Ich habe doch Ihre Stimme wiedererkannt. Sind Sie gut nach Hause gekommen, Sir? Ist Ihnen nichts mehr begegnet?« Sein Tonfall verriet mehr als müßige Neugierde. Wimsey drehte sich schnell um. »Nein, mir ist nichts – mehr begegnet. Wer fährt hier nachts in einer Kutsche mit vier weißen Pferden im Dorf herum, Herr Wachtmeister?« »Bin kein Wachtmeister, Sir – mit meiner Beförderung hat’s noch gute Weile, Na, Sir, was die weißen Pferde angeht, so kann ich Ihnen keine rechte Auskunft geben. Mr. Mortimer drüben in Abbotts Bolton hat ein paar hübsche Grauschimmel, er ist der größte Pferdezüchter in dieser Gegend. Aber er würde in einem so furchtbaren Regen nicht draußen herumkutschieren, nicht wahr, Sir?« »Man sollte es nicht annehmen.« »Nein, Sir. Und« – der Polizist beugte sich dicht zu Wimsey hinüber und flüsterte ihm zu – »und Mr. Mortimer ist ein
Mann, der einen Kopf auf seinen Schultern hat – und was noch wichtiger ist, seine Pferde ebenfalls.« »Na«, fragte Wimsey, ein wenig betroffen über die Bemerkung, »haben Sie je ein Pferd gekannt, das keinen Kopf auf den Schultern hatte?« »Nein, Sir«, erwiderte der Polizist mit Nachdruck, »ein lebendes Pferd jedenfalls nicht. Aber das alles hat weder Hand noch Fuß, wie man zu sagen pflegt. Was diese Kirchenangelegenheit betrifft, so ist das nur ein kleiner Schabernack, den sich die Jungen geleistet haben, weiter nichts. Sie haben sich nichts Böses dabei gedacht, Sir, sie machen eben gern mal einen Streich. Der Vikar hat gut reden, Sir, aber es waren keine Kensitaner oder dergleichen, das kann jeder Blinde sehen. Nur ein kleiner Ulk, weiter nichts.« »Zu der Überzeugung bin ich auch gekommen«, sagte Wimsey interessiert. »Aber ich möchte gern wissen, was Sie zu dieser Ansicht gebracht hat.« »Gütiger Himmel, Sir, ist das nicht sonnenklar? Wären es diese Kensitaner gewesen, hätten sie sich dann nicht über die Kreuze und Bilder und Lichter und – das da hergemacht?« Er wies mit einem schwieligen Finger auf das Tabernakel. »Nein, Sir, die Burschen, die dies taten, haben nichts von dem angerührt, was man Heiligtümer nennen könnte – und sie haben auch nicht den Abendmahltisch berührt. Daher sage ich, es hat mit einem Glaubensstreit nichts zu tun; es ist nur ein kleiner Scherz. Außerdem haben Sie Mr. Burdocks Leiche mit Respekt behandelt. Das deutet darauf hin, daß sie nichts Böses im Schilde führten. Leuchtet Ihnen das nicht ein?« »Vollkommen«, entgegnete Wimsey. »Sie haben sich tatsächlich bemüht, nichts anzurühren, das ein Kirchenbesucher heilig hält. Wie lange sind Sie eigentlich schon im Dienst?« »Im Februar werden es drei Jahre, Sir.«
»Haben Sie sich jemals mit dem Gedanken getragen, nach London zu gehen oder Detektiv zu werden?« »Ja, Sir, das habe ich wohl. Aber es geht nicht immer so, wie man möchte.« Wimsey nahm eine Karte aus seiner Brieftasche. »Wenn Sie jemals ernstlich daran denken«, sagte er, »dann geben Sie diese Karte Herrn Oberinspektor Parker und unterhalten Sie sich mit ihm über die Sache. Sagen Sie ihm, ich sei der Ansicht, daß Sie hier nicht genug Gelegenheit hätten, Ihre Fähigkeiten zu entfalten. Er ist ein guter Freund von mir und wird Ihnen schon einen Weg bahnen. Das weiß ich.« »Ich habe von Ihnen gehört, Mylord«, sagte der Polizist erfreut, »es ist sehr freundlich von Ihrer Lordschaft. Na, jetzt muß ich wohl weiter. Überlassen Sie die Sache nur mir, Mister Frobisher-Pym, wir werden ihr schon auf den Grund kommen.« »Wollen’s hoffen«, entgegnete der Friedensrichter. »Inzwischen, Mrs. Hancock, werden Sie wohl eingesehen haben, wie unratsam es ist, die Kirchentüren nachts offen zu lassen. Kommen Sie, Wimsey, wir wollen jetzt gehen, damit sie die Kirche für das Begräbnis in Ordnung bringen können. Was haben Sie denn da entdeckt?« »Nichts«, antwortete Wimsey, der auf den Fußboden der Marienkapelle gestarrt hatte. »Ich befürchtete, Sie hätten den Holzwurm hier, aber ich sehe, es ist nur etwas Sägemehl.« Mit diesen Worten wischte er sich die Finger ab und folgte Mister Frobisher-Pym aus dem Gebäude.
Wenn man auf dem Dorfe lebt, muß man an den Interessen und Vergnügungen der Bevölkerung teilnehmen. Daher beteiligte sich auch Lord Peter pflichtschuldigst an der Beerdigung des Gutsbesitzers Burdock und sah, wie der Sarg unversehrt in die
Erde gelassen wurde. Trotz des Sprühregens hatte sich ein großes, ehrfürchtiges Gefolge eingefunden. Nach der feierlichen Handlung wurde Wimsey Mr. und Mrs. Haviland Burdock vorgestellt und fand seinen früheren Eindruck bestätigt, daß die Dame sich gut, beinahe zu gut kleidete, wie das ja auch von einer Frau zu erwarten war, deren Garderobe sich auf Seidenstrümpfen aufbaut. Sie war eine hübsche Person in einer auffallenden, großangelegten Art, und die Hand, die Wimseys Finger umfaßt hielt, war ziemlich schmerzhaft mit Brillanten bespickt. Haviland neigte zu Freundlichkeit – ein Seidenwarenfabrikant hatte ja auch keine Veranlassung, sich reichen Herren aus altem Adel gegenüber anders zu verhalten. Er schien Wimseys Ruf als Antiquitäten- und Büchersammler zu kennen und lud ihn herzlich ein, das alte Haus zu besichtigen. »Mein Bruder Martin ist noch im Ausland«, meinte er, »aber er würde sich bestimmt freuen, wenn Sie sich das Haus ansehen. Es sollen einige sehr schöne alte Bücher in der Bibliothek sein. Wir werden bis Montag hier bleiben, falls Mrs. Hancock uns so lange behalten will. Wie wär’s, wenn Sie morgen nachmittag kämen?« »Mit dem größten Vergnügen«, erklärte Wimsey. Hier mischte sich Mrs. Hancock ein und fragte, ob Lord Peter nicht vorher erst ins Pfarrhaus zum Tee kommen wolle. »Sehr freundlich von Ihnen«, erklärte Wimsey. »Es bleibt also dabei«, bemerkte Mrs. Burdock, »Sie und Mr. Pym kommen zum Tee, und dann werden wir uns alle das Haus ansehen. Ich bin selbst kaum darin gewesen.« »Es lohnt sich schon«, meinte Mr. Frobisher-Pym. »Feiner alter Besitz. Gehört aber viel Geld dazu, um ihn richtig instand zu halten. Hat man das Testament immer noch nicht gefunden, Mr. Burdock?« »Immer noch nicht«, lautete die Antwort. »Es ist merkwürdig, weil Mr. Graham – das ist der Rechtsanwalt,
Lord Peter – bestimmt eins aufgesetzt hat, und zwar unmittelbar nach der unglücklichen Auseinandersetzung zwischen Martin und meinem Vater. Er kann sich noch ganz deutlich darauf besinnen.« »Kann er sich nicht an den Inhalt erinnern?« »Das wohl schon. Aber die Etikette verbietet es ihm, darüber zu sprechen. Er ist noch einer vom guten alten Schlag. Der arme Martin nannte ihn immer einen alten Gauner, aber Martin war auch nicht gut bei ihm angeschrieben und daher wohl kaum ganz objektiv. Außerdem ist das alles, wie Mister Graham betont, schon etliche Jahre her, und es ist durchaus möglich, daß der alte Herr das Testament später vernichtet oder in Amerika ein neues gemacht hat.« »Der ›arme Martin‹ scheint in dieser Gegend nicht sehr beliebt gewesen zu sein«, bemerkte Wimsey zu Mr. FrobisherPym auf dem Heimwege. »N-nein«, gab der Friedensrichter zu. »Jedenfalls nicht bei Graham. Ich persönlich habe den Burschen ganz gern gehabt, wenn er auch ein bißchen leichtsinnig war. Zeit und Heirat werden ihn wohl vernünftiger gemacht haben. Merkwürdig, daß das Testament nicht zu finden ist. Aber wenn es nach dem Spektakel aufgesetzt wurde, muß es ja zu Havilands Gunsten sein.« »Das denkt Haviland, glaube ich, auch«, meinte Wimsey. »Er trug eine unterdrückte Befriedigung zur Schau. Der diskrete Graham hat sicher durchblicken lassen, daß der abscheuliche Martin nicht der Begünstigte war.« Am nächsten Morgen war das Wetter schön, und Wimsey, der in Little Doddering Ruhe und frische Luft genießen sollte, bat noch einmal um Polly Flinders. Sein Gastgeber willigte mit Vergnügen ein und bedauerte nur, nicht mit ausreiten zu können, da er an einer Sitzung der Armenbehörde teilnehmen mußte.
»Sie könnten sich auf der Gemeindewiese ordentlich durchwehen lassen«, schlug er vor. »Reiten Sie über Petering Friars bis zum Totenmann-Pfosten und kommen Sie über die Frimpton Straße zurück. Ein netter Rundritt – ungefähr neunzehn Meilen. Sie können bequem zum Lunch wieder zurück sein.« Wimsey ging auf den Plan ein – zumal er mit seinem eigenen Vorhaben übereinstimmte. Er wollte sich aus einem bestimmten Grunde die Frimpton Straße bei Tageslicht ansehen. »Seien Sie vorsichtig am Totenmann-Pfosten«, warnte Mrs. Frobisher-Pym etwas besorgt. »Die Pferde scheuen dort. Ich weiß nicht, warum. Man sagt natürlich – « »Alles Unsinn«, schalt ihr Mann. »Die Dörfler mögen den Platz nicht, und das macht die Pferde nervös. Merkwürdig, wie die Gefühle eines Reiters sich auf sein Pferd übertragen. Ich habe nie Schwierigkeiten am Totenmann-Pfosten.« Es war eine ruhige und selbst an einem Novembertag hübsche Straße, die nach Petering Friars führte. Wimsey fühlte sich beruhigt und glücklich, als er so im Wintersonnenschein durch die EssexLandschaft trabte. Ein strammer Galopp über das Gemeindeland fachte seine Lebensgeister besonders an. Den Totenmann-Pfosten und seinen unheimlichen Ruf hatte er darüber ganz vergessen, bis eine plötzliche, heftige Bewegung des Pferdes, die ihn beinahe aus dem Sattel geworfen hätte, ihn wieder in die Gegenwart zurückriß. Mit einiger Mühe beruhigte er Polly Flinders und brachte sie zum Stehen. Er befand sich am höchsten Punkt des Gemeindelandes auf einem Reitweg, der auf beiden Seiten mit Ginster und totem Farnkraut bewachsen war. Etwas weiter vorn schien ein anderer Reitweg in diesen einzumünden, und an der Kreuzung stand etwas, das er für einen verfallenen Wegweiser gehalten hatte. Es war allerdings ein wenig zu kurz und zu dick für einen Wegweiser und besaß auch keine Arme. Auf der ihm
zugewandten Seite entdeckte er jedoch eine Inschrift. Er redete der Stute gut zu und drängte sie sanft nach dem Pfosten hin. Sie machte auch ein paar zaudernde Schritte, sprang dann aber schnaubend und zitternd zur Seite. »Merkwürdig!« murmelte Wimsey. »Wenn dies mein Geisteszustand ist, der sich auf das Pferd überträgt, dann konsultiere ich am besten einen Arzt. Meine Nerven müssen ja ganz kaputt sein. Nur zu, altes Mädchen! Was ist denn mit dir los?« Polly Flinders weigerte sich höflich, aber energisch, von der Stelle zu gehen. Er drängte sie sanft mit seinem Absatz. Sie tänzelte mit zurückgelegten Ohren zur Seite, und er sah das Weiße eines protestierenden Auges. Er glitt aus dem Sattel und versuchte, sie am Zügel zu führen. Nach einigen Überredungskünsten folgte ihm die Stute mit gestrecktem Hals, aber so, als ginge sie auf Eierschalen. Ein paar zaudernde Schritte, und sie blieb wieder stehen, am ganzen Leibe zitternd. Er befühlte ihren Hals und entdeckte, daß er vom Schweiß naß war. »Verdammt noch mal!« rief Wimsey. »Ich möchte aber lesen, was da auf dem Pfosten steht. Wenn du nicht mitkommen willst, wirst du dann wenigstens stille stehen?« Er ließ die Zügel fallen. Die Stute stand mit gesenktem Kopf ruhig da. Er ging vorwärts, blickte aber von Zeit zu Zeit nach ihr, um zu sehen, ob sie auch keine Anstalten machte, auszureißen. Sie stand aber ganz ruhig da, trat nur manchmal von einem Fuß auf den anderen. Wimsey ging an den Pfosten heran, eine kräftige Säule aus uralter Eiche, die kürzlich weiß angestrichen worden war. Die vor nicht langer Zeit schwarz aufgemalte Inschrift lautete: An dieser Stelle wurde George Winter als er das Hab und Gut seines Herrn verteidigte
niederträchtig ermordet vom schwarzen Ralph aus Herriotting der hinterher am Tatort in Ketten erhängt wurde 9. November 1674
fürchte die Gerechtigkeit
»Sehr schön«, sagte Wimsey. »Totenmann-Pfosten – der Name paßt zweifellos. Polly Flinders scheint dasselbe zu fühlen wie die Bevölkerung. Na, Polly, wenn dem so ist, sollst du deinen Gefühlen keinen Zwang antun. Aber wenn du dich bei einem einfachen Pfosten schon so anstellst, wie kommt’s, daß du angesichts einer Totenkutsche mit vier kopflosen Pferden einen so unerschütterlichen Gleichmut bewahrst?« Die Stute nahm die Schulter seiner Jacke sanft zwischen die Lippen und knabberte daran herum. »Ganz recht. Ich verstehe vollkommen. Du möchtest, wenn du könntest, aber du kannst wirklich nicht. Doch jene Pferde, Polly – brachten sie keinen Schwefelpesthauch aus der Hölle mit sich? Sollte es möglich sein, daß sie wirklich nur einen rechtschaffenen, vertrauten Stallgeruch ausströmten?« Er stieg wieder in den Sattel und ritt in einem weiten Bogen um den Pfosten herum und zurück zum Pfad. »Eine übernatürliche Erklärung ist wohl ausgeschlossen. Nicht a priori. Das wäre unzuverlässig. Sondern auf Grund von Pollys Sinnen. Die einzigen Alternativen wären Whisky und Hokuspokus. Eine nähere Untersuchung scheint angebracht zu sein.« Während die Stute sich ruhig vorwärtsbewegte, grübelte er weiter darüber nach. »Nehmen wir einmal an, ich wollte aus irgendeinem Grunde die Nachbarschaft mit einer solchen Erscheinung erschrecken. Dann würde ich zunächst eine dunkle, regnerische Nacht
wählen. Und die hatten wir ja. Wenn ich dann schwarze Pferde nähme und ihre Leiber weiß anstriche – arme Teufel! wie furchtbar für sie! Nein. Wie werden doch diese Kunststücke von Maskelyne und Devant gemacht, wo man den Leuten die Köpfe abschlägt? Weiße Pferde natürlich – und schwarze Filzhauben über die Köpfe. Da haben wir’s! Und Leuchtfarbe auf dem Geschirr, hier und da auch auf den Leibern. Das gibt einen guten Kontrast und garantiert die Sicherheit. Ganz einfach. Sie müssen sich aber lautlos bewegen. Warum auch nicht? Vier starke schwarze Säcke, mit Kleie gefüllt und um die Fesseln gebunden, verschaffen jedem Pferd einen lautlosen Gang, besonders, wenn’s etwas stürmisch ist. Ein paar Lappen um die Zügelringe, um das Klirren zu verhindern, ebenfalls um die Enden der Zugriemen, damit sie nicht quietschen. Dazu einen Kutscher mit weißem Mantel und schwarzer Maske, einen gut geölten Wagen mit Gummirädern, den man mit etwas Phosphor beschmiert – und man hätte etwas hinreichend Geisterhaftes, um einen gut getränkten Herrn morgens um halb drei Uhr auf einsamer Landstraße zu erschrecken.« Dieser Gedanke gefiel ihm, und er klopfte heiter mit seiner Peitsche auf seine Stiefel. »Aber verdammt noch mal! Sie sind nicht wieder an mir vorbeigekommen. Wohin fuhren sie? Eine Kutsche mit Pferden kann sich nicht einfach in blauen Dunst auflösen. Es muß doch einen Seitenweg geben, oder du hast mich die ganze Zeit zum Narren gehabt, Polly Flinders.« Der Reitweg mündete schließlich wieder bei der vertrauten Gabelung auf die Landstraße, wo Wimsey den Polizisten getroffen hatte. Während Polly langsam mit ihm nach Hause tänzelte, nahm seine Lordschaft die Hecken auf der linken Seite genau aufs Korn, um den Feldweg zu entdecken, der sicherlich vorhanden sein mußte. Aber seine Suche war erfolglos. Eingezäunte Felder mit verschlossenen Gattern
bildeten die einzige Unterbrechung der Hecken. Ehe er sich’s versah, blickte er wieder die Baumallee hinab, durch die die Todeskutsche vor zwei Nächten heraufgaloppiert war. »Verflixt noch mal!« knurrte Wimsey. Zum erstenmal kam ihm der Gedanke, daß die Kutsche vielleicht umgekehrt und durch Little Doddering zurückgefahren sein mochte. Am Mittwoch war sie ja bei der Kirche gesichtet worden. Aber auch dann war sie in Richtung Frimpton davongaloppiert. Nach weiterer Überlegung kam Wimsey zu dem Schluß, daß sie von Frimpton gekommen, dann um die Kirche gefahren – natürlich in der entgegengesetzten Richtung des Uhrzeigers – und auf derselben Straße wieder zurückgekehrt sein mußte. Aber in dem Falle – »Zurück, marsch, marsch!« sagte Wimsey, und Polly Flinders rotierte gehorsamst auf der Straße. »Durch eines dieser Felder ist sie gefahren oder ich heiße Hans.« Er ritt im Schritt auf dem Grasstreifen an der rechten Seite und starrte auf den Boden, als sei er ein Schotte, der einen Groschen verloren hat. Das erste Gatter führte auf ein geeggtes Feld, das mit Winterweizen besät war. Man konnte deutlich erkennen, daß seit Wochen nichts Berädertes darüber hinweggerollt war. Das zweite Gatter sah verheißungsvoller aus. Dahinter lag unbebautes Land, und der Eingang war mit zahllosen Radspuren bedeckt. Eine weitere Untersuchung ergab jedoch, daß dies das einzige Gatter zu diesem Feld war, und es schien unwahrscheinlich, daß die geheimnisvolle Kutsche auf ein Feld gefahren war, das keinen Ausgang hatte. Wimsey suchte also weiter. Das dritte Gatter war in schlechtem Zustand. Es sackte stark; die Haspe war verschwunden und das Gatter mit Draht am Pfosten festgebunden. Wimsey stieg ab und prüfte den Draht, überzeugte sich aber bald, daß seine rostigen Windungen in letzter Zeit nicht angerührt worden waren. Es
blieben noch zwei Gatter bis zur Kreuzung. Eins davon führte wieder in ein gepflügtes Feld, dessen dunkle Furchen unberührt dalagen, aber beim Anblick des letzten Gatters hüpfte Wimseys Herz vor Freude. Hier war ebenfalls gepflügtes Land, doch um das Feld herum lief ein breiter, ausgetretener Weg mit zahlreichen, teils unter Wasser stehenden Wagenspuren. Das Gatter war nur eingehängt, nicht verschlossen; Wimsey untersuchte die Anfahrt. Unter den breiten, von Farmwagen hinterlassenen Rillen sah er die Spur von vier eng zusammenstehenden Rädern und den unverkennbaren Abdruck von Gummireifen. Er stieß das Gatter auf und ritt hindurch. Der Weg lief an zwei Seiten des Feldes entlang. Dann kam noch ein Gatter und ein anderes Feld, auf dem eine lange Futterrübenmiete und mehrere Scheunen standen. Beim Geräusch von Pollys Hufen kam ein Mann mit einem Malerpinsel in der Hand aus der nächsten Scheune und wartete, bis Wimsey heranritt. »Morgen!« begrüßte ihn der letztere munter. »Morgen, Sir.« »Schöner Tag nach dem Regen.« »Das ist wahr, Sir.« »Ich bin doch hoffentlich nicht auf einem verbotenen Wege.« »Wo wollten Sie denn hin, Sir?« »Ich dachte – nanu!« »Etwas nicht in Ordnung, Sir?« Wimsey rückte im Sattel hin und her. »Ich glaube, der Gurt ist etwas verrutscht. Er ist neu. Besser einmal nachsehen.« Der Mann kam näher, um die Sache in Augenschein zu nehmen, aber Wimsey war bereits abgesprungen und zupfte mit dem Kopf unter dem Bauch der Stute, an einem Riemen. »Ja, er muß etwas enger geschnallt werden. Oh! Vielen Dank. Ist dies übrigens ein kürzerer Weg nach Abbotts Bolton?«
»Nicht zum Dorf, Sir, obgleich man von hier aus hinkommen kann. Dieser Weg führt zu Mr. Mortimers Ställen.« »Ach so. Ist dies sein Land?« »Nein, Sir, es gehört Mr. Topham. Aber Mr. Mortimer hat dieses und das benachbarte Feld gepachtet, um Viehfutter zu haben.« »Ach so.« Wimsey lugte über die Hecke. »Luzerne, wahrscheinlich. Oder Klee.« »Klee, Sir. Und die Futterrüben sind für die Kühe.« »Oh – hält Mr. Mortimer außer Pferden auch Kühe?« »Ja, Sir.« »Sehr schön. Zigarette?« Wimsey hatte sich interessiert bis an die Scheune herangeschlängelt und blickte geistesabwesend in das dunkle Innere. Dort standen einige Farmgeräte und ein antiker schwarzer Einspänner, der anscheinend gerade neu lackiert wurde. Wimsey zog ein paar Wachsstreichhölzer aus der Tasche. Die Schachtel war offenbar feucht; denn nach einigen vergeblichen Versuchen steckte er sie wieder ein und riß ein Streichholz an der Wand der Scheune an. Das Licht fiel auf den antiken Einspänner, und Wimsey sah, daß er ganz unpassend mit Gummireifen ausgestattet war. »Wie ich gehört habe, hat Mr. Mortimer ein sehr feines Gestüt«, bemerkte Wimsey, ohne besonderes Interesse zu verraten. »Ja, Sir, das stimmt.« »Er hat wohl nicht zufällig ein paar Grauschimmel. Meine Mutter – eine majestätische Frau mit viktorianischen Ideen – ist ganz versessen auf Schimmel. Hält sich eine zweispännige Equipage, wissen Sie.« »So? Nun, ich glaube, Mr. Mortimer hätte bestimmt etwas Passendes für die Dame, Sir. Er hat mehrere Schimmel.« »Wirklich? Dann muß ich ihn einmal aufsuchen. Ist es weit von hier?«
»Fünf bis sechs Meilen über die Felder, Sir.« Wimsey blickte auf seine Uhr. »Das ist mir leider heute morgen zu weit. Ich habe fest versprochen, zum Lunch zurück zu sein. Vielleicht ein anderes Mal. Einstweilen vielen Dank. Sitzt der Gurt nun richtig? Tausend Dank. Hier, genehmigen Sie sich einen guten Schluck – und bestellen Sie Mister Mortimer, er solle seine Schimmel nicht verkaufen, bevor ich sie gesehen habe. Also, guten Morgen und verbindlichen Dank.« Wimsey schwang sich in den Sattel und trabte langsam davon. Erst als er außer Sichtweite war, brachte er Polly zum Stehen, beugte sich aus dem Sattel und prüfte nachdenklich seine Stiefel. Sie waren reichlich mit Kleie beschmiert. »Das muß ich mir in der Scheune geholt haben«, meinte Wimsey. »Merkwürdig, wenn’s stimmt. Warum sollte Mister Mortimer in tiefster Nacht das Letzte aus seinen Gäulen herausholen – noch dazu mit umwickelten Hufen und ohne Köpfe? Nicht gerade sehr freundlich. Das hat Plunkett in Angst und Schrecken versetzt und bei mir Zweifel an meiner Nüchternheit erweckt. Soll ich es der Polizei melden? Gehen mich Mr. Mortimers Streiche etwas an? Was meinst du dazu, Polly?« Die Stute, die ihren Namen hörte, schüttelte heftig den Kopf. »Du bist nicht der Meinung. Vielleicht hast du recht. Nehmen wir an, Mr. Mortimer hat es wegen einer Wette getan. Warum soll ich mich um seinen Zeitvertreib kümmern? Aber ich bin doch froh«, fügte Seine Lordschaft hinzu, »daß es nicht an Lumsdens Whisky lag.«
»Dies ist die Bibliothek«, erklärte Haviland seinen Gästen. »Ein schöner Raum – und eine schöne Sammlung von Büchern, wie es heißt, wenn auch Literatur nicht meine starke Seite ist. Mein alter Herr hatte leider auch nicht viel dafür übrig. Es muß alles instand gesetzt werden, wie Sie sehen. Ich
weiß nicht, ob Martin es machen lassen wird. Dazu gehört natürlich Geld.« Die Bibliothek, ein langer, modriger Raum im kalten neuklassischen Stil, war an dem sonnenlosen grauen Nachmittag melancholisch genug, auch ohne die Spuren der Vernachlässigung, die einem Bücherliebhaber das Herz im Leibe umdrehten. Die Wände waren bis zu halber Höhe mit Bücherschränken bedeckt. Die andere Hälfte bis zur Stuckdecke war getüncht. Feuchtigkeit hatte groteske Figuren darauf hervorgezaubert, und hier und da zeigten sich häßliche Risse und abgeschuppte Stellen, von denen der Bewurf in gelblichen Blättern abfiel. Eine nasse Kälte schien aus den Büchern zu strömen, aus den sich abschälenden Lederrücken, aus den grünlichen Schimmelflecken, die sich gräßlich von Band zu Band ausbreiteten. Der seltsam muffige Geruch von verdorbenem Leder und feuchtem Papier machte die ganze Atmosphäre noch trostloser. »Ach, herrje!« stöhnte Wimsey, als er unglücklich in diese Gruft vergessener Gelehrsamkeit blinzelte. Mit hochgezogenen Schultern, langer Nase und halbgeschlossenen Augen glich er einem miesepetrigen Reiher, der über einer winterlichen Pfütze brütete. »Was für ein eiskalter Raum!« rief Mrs. Hancock aus. »Sie sollten Mrs. Lovall wirklich schelten, Mr. Burdock. Als sie hier Hausverwalterin wurde, habe ich gleich zu meinem Mann gesagt – nicht wahr, Philip? – daß Ihr Vater die faulste Frau in Little Doddering ausgesucht hat. Sie hätte mindestens zweimal in der Woche ein Feuer im Kamin machen sollen! Es ist wirklich schändlich, wie sie alles hat verkommen lassen.« »Ja, nicht wahr?« pflichtete ihr Haviland bei. Wimsey sagte nichts. Er schnüffelte in den Büchern herum und nahm hin und wieder einen Band heraus, um ihn sich näher anzusehen.
»Es war immer ein ziemlich deprimierender Raum«, fuhr Haviland fort. »Ich weiß noch, daß er mir als Kind Schrecken einflößte. Martin und ich pflegten in den Büchern herumzuwühlen, aber wir fürchteten immer, daß irgend etwas oder irgend jemand aus den dunklen Ecken auf uns zuschleichen würde. Was haben Sie denn da, Lord Peter? Oh, ›Foxes Buch der Märtyrer‹. Mein Gott! Wie haben mich diese Bilder in den alten Tagen erschreckt! Da war noch ein Band von ›Pilgrim’s Progress‹ mit einem höchst aufregenden Bild von Apollyon, das mir Alpdrücken verursachte. Es stand immer in diesem Erker. Ja, hier ist es. Ist es übrigens wertvoll?« »Eigentlich nicht. Aber diese Erstausgabe von Burton ist kostbar. Und dies ist ein außerordentlich feiner Boccaccio. Behandeln Sie ihn gut.« »John Boccacce – ›The Dance of Machabree‹. Jedenfalls ein guter Titel. Ist das derselbe Boccaccio, der die anzüglichen Geschichten schrieb?« »Ja«, sagte Wimsey, etwas kurz angebunden. Ihm paßte diese Einstellung zu Boccaccio nicht. »Habe sie nie gelesen«, erklärte Haviland, indem er seiner Frau zuzwinkerte, »aber ich glaube, der Vikar ist schockiert.« »Durchaus nicht«, entgegnete Mr. Hancock mit einer sorgfältig zur Schau getragenen Toleranz. »›Et ego in Arcadia‹ – mit anderen Worten: man wird nicht Pfarrer ohne eine klassische Ausbildung und ohne Bekanntschaft mit weltlicheren Autoren als selbst Boccaccio. Diese Holzschnitte erscheinen meinem ungeübten Auge als sehr schön.« »Das sind sie auch«, stimmte Wimsey zu. »Da fällt mir noch ein anderes altes Buch ein mit fabelhaften Bildern«, sagte Haviland. »Eine Art Chronik – wie war doch der Name – nach einer deutschen Stadt genannt, wo der
Henker herkam. Gerade neulich wurde sein Tagebuch veröffentlicht. Wie hieß doch der Ort?« »Nürnberg?« schlug Wimsey vor. »Richtig – die Nürnberger Chronik. Ob die wohl noch am alten Platz steht? Wie ich mich recht erinnere, war sie hier am Fenster.« Er führte sie zu einer Nische. Hier hatte die Feuchtigkeit verheerenden Schaden angerichtet; denn in dem nahen Fenster war eine Scheibe zerbrochen, durch die der Regen eindrang. »Na, wo ist sie denn nur geblieben? Es war ein dickes Buch mit gepreßtem Ledereinband. Die alte Chronik möchte ich ganz gern mal wieder in die Hand nehmen. Ich habe sie ewig lange nicht mehr gesehen.« Sein Blick glitt vage über die Borde. Wimsey mit dem Instinkt des Buchliebhabers war der erste, der die »Chronik« entdeckte. Er schob seine Finger hinter den Buchrücken, um das Buch herunterzuziehen. Als er jedoch spürte, daß das verrottete Leder bei der leisesten Berührung zerbröckelte, entfernte er ein benachbartes Buch und zog sie mit der ganzen Hand sanft heraus. »Hier haben wir sie – leider in ziemlich schlechtem Zustand. Nanu!« Als er das Buch von der Wand zog, fiel ihm ein gefaltetes Stück Pergamentpapier zu Füßen. Er bückte sich und hob es auf. »Sagen Sie mal, Burdock – ist dies nicht das Dokument, das Sie gesucht haben?« Haviland Burdock, der auf einem der unteren Regale herumgewühlt hatte, richtete sich rasch auf. Sein Gesicht war vom Bücken rot angelaufen. »Wahrhaftig!« rief er, wobei sein Gesicht vor Erregung zuerst noch roter und dann ganz blaß wurde. »Sieh mal, Winnie. Es ist das Testament. Wie merkwürdig! Wer hätte wohl daran gedacht, es ausgerechnet hier zu suchen?«
»Ist es wirklich das Testament?« rief Mrs. Hancock. »Zweifellos«, bemerkte Wimsey kühl. ›»Letzter Wille und Testament von Simon Burdock.‹« Er stand da und drehte das schmutzige Dokument in den Händen. »Wie seltsam!« sagte Mr. Hancock. »Es ist beinahe wie eine göttliche Vorsehung, daß Sie das Buch herausgenommen haben.« »Was steht denn drin?« fragte Mrs. Burdock etwas aufgeregt. »Verzeihung«, sagte Wimsey und reichte ihr das Dokument. »Ja, wie Sie schon bemerkten, Mr. Hancock, es sieht tatsächlich so aus, als ob ich es finden sollte.« Er blickte wieder auf die »Chronik« und zeichnete voll Kummer mit dem Finger einen feuchten Fleck nach, der den Deckel verrottet, sich bis auf die inneren Seiten ausgedehnt und den Kolophon fast ausgelöscht hatte. Haviland Burdock hatte unterdessen das Testament auf einem nebenstehenden Tisch ausgebreitet. Seine Frau blickte ihm über die Schulter. Die Hancocks, die ihre Neugierde kaum bezähmen konnten, standen dabei und warteten auf weitere Enthüllungen. Wimsey tat so, als ob ihn diese Familienangelegenheit nicht angehe, und untersuchte die Wand, an der die »Chronik« gestanden hatte. Er betastete die feuchten Stellen, die wie ein grinsendes Gesicht aussahen, und verglich sie mit dem Fleck auf dem Buch. Dann schüttelte er traurig den Kopf. Mr. Frobisher-Pym, der schon vor langem seine eigenen Wege gegangen war und sich in ein uraltes Buch über Roßarzneikunde vertieft hatte, kam nun herbei und erkundigte sich nach dem Grund der Aufregung. »Hören Sie mal her!« rief Haviland. Obwohl seine Stimme ruhig war, klang doch ein versteckter Triumph hindurch und glitzerte in seinen Augen. »›Ich vermache meinen ganzen Besitz‹ – hier folgt eine eingehende Aufstellung, die im
Moment nicht von Bedeutung ist – ›meinem ältesten Sohn Martin – ‹« Mr. Frobisher-Pym pfiff vor sich hin. »Hören Sie! ›Meinem ältesten Sohn Martin für so lange, wie meine Leiche sich über der Erde befindet. Aber sobald ich begraben bin, soll dieser ganze Besitz bedingungslos auf meinen jüngeren Sohn Haviland übergehen‹ – « »Mein Gott!« stieß Mr. Frobisher-Pym hervor. »Es steht noch viel mehr darin«, sagte Haviland, »aber dies ist das Wesentlichste.« »Darf ich sehen?« bat der Friedensrichter. Er nahm das Testament in Empfang und las es mit gerunzelter Stirn durch. »Ganz richtig«, bemerkte er dann. »Es besteht nicht der geringste Zweifel. Martin hat seinen Besitz gehabt und wieder verloren. Wie seltsam! Bis gestern hat ihm alles gehört, ohne daß jemand etwas davon wußte. Jetzt ist es Ihr Eigentum, Burdock. Dies ist bestimmt das eigenartigste Testament, das ich je gesehen habe. Man stelle sich das vor! Martin der Erbe bis zum Begräbnis und nun – na, Burdock, meinen besten Glückwunsch.« »Danke«, erwiderte Haviland. »Das kommt mir ganz unerwartet.« Er lachte etwas unsicher. »Aber was für eine merkwürdige Idee!« rief Mrs. Burdock. »Wenn Martin nun zu Hause gewesen wäre! Es ist beinahe ein Segen, daß er nicht da war, nicht wahr? Es wäre alles so peinlich gewesen. Was wäre zum Beispiel passiert, wenn er versucht hätte, das Begräbnis zu verhindern?« »Ja«, meinte Mrs. Hancock. »Hätte er etwas unternehmen können? Wer entscheidet solche Dinge?« »Im allgemeinen die Testamentsvollstrecker«, erwiderte Mr. Frobisher-Pym. »Wer sind die Testamentsvollstrecker in diesem Fall?« erkundigte sich Wimsey.
»Ich weiß es nicht. Wollen mal sehen.« Mr. Frobisher-Pym las das Dokument noch einmal. »Aha, hier haben wir’s. ›Ich ernenne meine beiden Söhne, Martin und Haviland, gemeinsam als Testamentsvollstrecker dieses meines letzten Willens.‹ Was für eine ungewöhnliche Bestimmung!« »Ich nenne es eine böse, unchristliche Bestimmung«, rief Mrs. Hancock. »Sie hätte schreckliches Unheil anrichten können, wenn das Testament nicht – glücklicherweise – verlorengegangen wäre!« »Pst, meine Liebe!« mahnte ihr Gatte. »Leider«, sagte Haviland grimmig, »war es die Idee meines Vaters. Es ist sinnlos, so zu tun, als sei er nicht boshaft gewesen. Das war er ganz entschieden, und ich glaube, er hat Martin und mich bis aufs Blut gehaßt.« »Das dürfen Sie nicht sagen«, flehte der Vikar. »Ich tue es aber. Er hat uns das Leben zur Hölle gemacht, und offenbar wollte er das nach seinem Tode fortsetzen. Hätten wir uns gegenseitig die Gurgel durchgeschnitten, hätte er einen Mordsspaß gehabt. Herr Pastor, es hat keinen Zweck zu heucheln. Er haßte unsere Mutter und war eifersüchtig auf uns. Das ist überall bekannt. Der Gedanke, daß wir uns um seine Leiche streiten würden, hat wahrscheinlich seinen unangenehmen Sinn für Humor gereizt. Glücklicherweise hat er sich selbst übertroffen, als er das Testament hier versteckte. Nun ist er begraben, und das Problem ist gelöst.« »Sind Sie dessen ganz sicher?« fragte Wimsey. »Aber natürlich«, erwiderte der Friedensrichter. »Der Besitz geht auf Haviland Burdock über, sobald die Leiche seines Vaters unter der Erde ist, und sein Vater wurde gestern begraben.« »Aber sind Sie davon überzeugt?« wiederholte Wimsey. Er sah sie der Reihe nach merkwürdig an, wobei ein schwaches Grinsen um seine langen Lippen spielte.
»Davon überzeugt?« rief der Vikar aus. »Mein lieber Lord Peter, Sie haben doch selbst an der Beerdigung teilgenommen und mit eigenen Augen gesehen, wie er beigesetzt wurde.« »Ich sah, wie sein Sarg beigesetzt wurde«, entgegnete Wimsey mild. »Daß seine Leiche darin war, ist nur eine unerwiesene Folgerung.« »Für meine Begriffe«, meinte Mr. Frobisher-Pym, »ist dies ein ziemlich unpassender Scherz. Es besteht kein Grund zur Annahme, daß die Leiche nicht in dem Sarg war.« »Ich habe sie im Sarg gesehen«, erklärte Haviland, »und meine Frau ebenfalls.« »Ich auch«, betonte der Vikar. »Ich war zugegen, als sie aus dem zeitweiligen Sarg, in dem sie von den Staaten übers Meer geschickt worden war, in den endgültigen, mit Blei ausgeschlagenen Eichensarg gelegt wurde, den Joliffe geliefert hatte. Und wenn weitere Zeugen erforderlich sind, so kann man leicht Joliffe und seine Leute holen, die die Leiche eingesargt und den Deckel zugeschraubt haben.« »Ganz recht«, gab Wimsey zu. »Ich streite nicht ab, daß die Leiche im Sarg war, als er in die Kapelle gestellt wurde. Ich zweifle ja nur daran, ob sie noch darin war, als er in die Erde gesenkt wurde.« »Das ist eine ganz unerhörte Idee, Lord Peter«, kritisierte Mr. Frobisher-Pym mit einiger Strenge. »Darf ich fragen, ob Sie eine Begründung für diese Annahme haben? Und vielleicht würden Sie uns auch verraten, wo sich die Leiche Ihrer Meinung nach befindet, wenn sie nicht im Grabe ist.« »Aber selbstverständlich«, antwortete Wimsey. Er schwang sich auf die Kante des Tisches, ließ sein Bein pendeln und blickte auf seine Hände hinab, als er die einzelnen Punkte an den Fingern abzählte. »Meiner Ansicht nach beginnt die Geschichte mit dem jungen Rawlinson. Er ist Schreiber bei Mr. Graham, der das
Testament aufsetzte, und ich nehme stark an, daß er über die Bestimmungen Bescheid weiß. Mr. Graham natürlich auch. Aber irgendwie habe ich ihn nicht im Verdacht, an dieser Angelegenheit beteiligt zu sein. Nach dem, was ich über ihn gehört habe, schlägt er sich auf keine Seite, bestimmt nicht auf Mister Martins. Als die Nachricht von Mr. Burdocks Tode von Amerika aus telegrafiert wurde, sind dem jungen Rawlinson wohl die Testamentsbestimmungen eingefallen, und er kam zu der Überzeugung, daß Mr. Martin durch seinen Aufenthalt im Ausland ziemlich benachteiligt war. Rawlinson muß übrigens sehr an Ihrem Bruder hängen – « »Es ist immer Martins Art gewesen, Taugenichtse aufzulesen und seine Zeit mit ihnen zu verschwenden«, gab Haviland verdrießlich zu. Der Vikar hatte offenbar das Gefühl, daß diese Behauptung ein wenig gemildert werden müsse, und murmelte, daß er immer gehört habe, wie gut Martin mit den Dorfburschen umzugehen verstehe. »Ganz recht«, meinte Wimsey. »Na, ich glaube, der junge Rawlinson wollte Martin die gleiche Chance geben, sich das Erbteil zu sichern, verstehen Sie. Also beschloß er, die Leiche zu stehlen und sie über der Erde zu behalten, bis Martin nach Hause kam und selbst nach dem Rechten sehen konnte.« »Das ist eine ungewöhnlich schwere Beschuldigung«, begann Mr. Frobisher-Pym. »Möglicherweise habe ich mich geirrt«, gab Wimsey zu. »Aber es ist nun einmal meine Idee, und es reimt sich alles tadellos zusammen. Rawlinson sah denn, daß er die Aufgabe unmöglich allein bewältigen konnte. Also schaute er sich nach Helfern um und entschied sich für Mr. Mortimer.« »Mortimer?« »Ich kenne Mr. Mortimer nicht persönlich, sondern nur vom Hörensagen. Aber er soll kein Spielverderber sein, und
außerdem besitzt er manche Vorteile, die nicht jeder hat. Der junge Rawlinson und Mortimer steckten die Köpfe zusammen und entwarfen einen Schlachtplan. Sie, Mr. Hancock, haben ihnen natürlich mit ihrer Aufbahrungsidee tüchtig geholfen. Ich weiß nicht, ob sie es ohne diese Gelegenheit fertiggebracht hätten.« Mr. Hancock schnalzte verwirrt mit der Zunge. »Die Idee war folgende: Mortimer sollte einen alten Wagen mit vier weißen Pferden stellen und alles mit Leuchtfarbe und schwarzen Tüchern so herrichten, daß das Gespann die Todeskutsche der Burdocks darstellte. Dieser Plan hatte den Vorteil, daß niemand ein Verlangen spüren würde, diesen Aufzug von nahem zu inspizieren, wenn er ihn in nächtlicher Stunde am Kirchhof stehen sähe. Inzwischen mußte Rawlinson dafür sorgen, daß er sich an der Totenwache in der Kapelle beteiligen durfte und einen Gefährten fand, der mit ihm die Wache teilte und die Sache mitmachte. Er verabredete sich mit dem Gastwirt und redete Mr. Hancock allerlei vor, damit er die Wache von vier bis sechs bekam. Schien es Ihnen nicht merkwürdig, Mr. Hancock, daß er unbedingt eigens von Herriotting herüberkommen wollte?« »Ich bin gewohnt, daß die Mitglieder meiner Gemeinde Eifer an den Tag legen«, erwiderte Mr. Hancock gezwungen. »Ja, aber Rawlinson gehört nicht zu Ihrer Gemeinde. Jedenfalls war alles geplant, und Mittwoch nacht fand eine Generalprobe statt, die den guten Plunkett zu Tode erschreckte.« »Wenn ich wüßte, daß dies wahr wäre – « sagte Mr. Frobisher-Pym. »Donnerstag nacht«, fuhr Wimsey fort, »waren die Verschwörer tatbereit und versteckten sich um zwei Uhr morgens auf dem Altarplatz. Sie warteten, bis Mrs. und Miss Hancock ihren Platz eingenommen hatten, und machten dann Lärm, um ihre Aufmerksamkeit anzuziehen. Als die Damen
mutig herankamen, um zu entdecken, was los war, sprangen sie hervor und schoben sie in die Sakristei.« »Meine Güte!« rief Mrs. Hancock dazwischen. »Um diese Zeit sollte die Todeskutschenimitation am Südportal vorfahren. Sie kam wohl durch die Hintergasse, ich weiß es aber nicht genau. Dann nahmen Mortimer und die beiden anderen die einbalsamierte Leiche aus dem Sarg und legten statt dessen Säcke mit Sägemehl hinein. Ich weiß, daß es Sägemehl war; denn ich fand am Morgen Spuren davon auf dem Fußboden der Marienkapelle. Sie schafften die Leiche in den Wagen, und Mortimer fuhr damit los. Um halb drei Uhr kamen sie auf der Herriotting-Straße an mir vorbei, müssen sich also sehr beeilt haben. Mortimer mag allein gewesen sein, kann aber auch jemanden bei sich gehabt haben, der sich um die Leiche kümmerte, während er den kopflosen Kutscher in einer schwarzen Maske spielte. Das kann ich nicht genau sagen. Sie fuhren durch das letzte Gatter, bevor man zu der Gabelung bei Frimpton kommt, dann über die Felder zu Mortimers Scheune. Dort ließen sie den Wagen stehen – das weiß ich zufällig, weil ich ihn gesehen habe. Auch habe ich die Kleie entdeckt, die sie zur Umwicklung der Pferdehufe benutzten. Von da aus haben sie die Leiche wohl in einem Auto weiterbefördert und die Pferde am nächsten Tage geholt. Ich weiß allerdings nicht, wo sie die Leiche gelassen haben. Aber wenn Sie Mortimer danach fragten, würde er Ihnen versichern können, daß sie noch über der Erde ist.« Wimsey machte eine Pause. Mr. Frobisher-Pym und die Hancocks blickten nur verwirrt und zornig drein, aber Havilands Gesicht war grün. Bei Mrs. Haviland zeigte sich ein abgezirkelter roter Fleck auf jeder Backe, und ihr Mund sah verhärmt aus. Wimsey nahm die »Nürnberger Chronik« in die Hand und strich nachdenklich über die Deckel, während er fortfuhr. »Inzwischen besorgten natürlich der junge Rawlinson
und sein Gefährte die Tarnung in der Kirche, um eine antiklerikale Ausschreitung vorzutäuschen. Sobald sie alles hübsch und nett hergerichtet hatten, brauchten sie sich nur noch in den Heizungsraum einzuschließen und den Schlüssel aus dem Fenster zu werfen. Dort werden Sie ihn wahrscheinlich finden, Mr. Hancock, wenn Sie Lust haben, nachzusehen. Erschien Ihnen die Geschichte eines Angriffs durch zwei oder drei Männer nicht etwas kümmerlich? Hubbard ist groß und stämmig, und Rawlinson ist auch nicht von schwachen Eltern – und doch wurden sie, wie sie selbst sagten, wie hilflose Kinder in einen Kohlenraum geschubst, ohne eine Schramme abzubekommen. Suchen Sie einmal die Männer, die nicht vorhanden sind, mein lieber Sir!« »Hören Sie zu, Wimsey«, sagte Mr. Frobisher-Pym, »phantasieren Sie auch bestimmt nicht? Man müßte natürlich klare Beweise haben, ehe man – « »Gewiß«, erwiderte Wimsey. »Lassen Sie sich vom Innenministerium eine Anweisung geben und das Grab öffnen. Dann werden Sie schon sehen, ob die Geschichte wahr oder nur ein Produkt meiner krankhaften Phantasie ist.« »Für meine Begriffe ist die ganze Unterhaltung ekelhaft«, erklärte Mrs. Burdock. »Hör nicht darauf, Haviland. Ich kann mir einfach nichts Herzloseres vorstellen, als einen Tag nach Vaters Begräbnis hier zu sitzen und eine so abstoßende Geschichte zu erfinden. Sie ist es nicht wert, daß man ihr auch nur eine Sekunde Aufmerksamkeit schenkt. Du wirst doch wohl nicht gestatten, daß die Leiche deines Vaters gestört wird. Es ist schrecklich. Es ist eine Entweihung.« »Es ist allerdings sehr unangenehm«, gab Mr. Frobisher-Pym mit ernster Miene zu. »Aber wenn Lord Peter allen Ernstes diese erstaunliche Theorie vorbringt, der ich kaum Glauben schenken kann – « Wimsey zuckte die Schultern.
» – dann fühle ich mich verpflichtet, Sie darauf aufmerksam zu machen, Mr. Burdock, daß Ihr Bruder bei seiner Rückkehr auf einer Untersuchung bestehen mag.« »Das kann er doch nicht, nicht wahr?« protestierte Mrs. Burdock. »Natürlich kann er das«, stieß ihr Mann wütend hervor. »Er ist doch ein Testamentsvollstrecker. Er ist ebenso berechtigt, den alten Herrn ausgraben zu lassen, wie ich, es zu verbieten. Sei doch nicht so töricht.« »Wenn Martin einen Funken von Anstand hat, wird er es ebenfalls verbieten«, erklärte Mrs. Burdock. »Na ja«, warf Mrs. Hancock ein, »so unerhört es auch klingen mag, man muß doch die Geldfrage berücksichtigen. Mr. Martin betrachtet es vielleicht als eine Pflicht seiner Frau und seinen Kindern gegenüber – wenn er jemals welche haben sollte – « »Das Ganze ist einfach lächerlich«, sagte Haviland resolut. »Ich glaube kein Wort davon. Wenn das der Fall wäre, würde ich als allererster entsprechende Schritte unternehmen – nicht nur, um Martin gerecht zu werden, sondern auch meinetwegen. Aber wenn ich glauben soll, daß ein verantwortungsvoller Mann wie Mortimer eine Leiche stehlen und eine Kirche entweihen würde – mein Gott, man braucht es bloß in Worte zu fassen, um zu sehen, wie absurd und undenkbar die Sache ist. Vielleicht findet Lord Peter Wimsey, der sich ja mit Verbrechern und Polizeibeamten abgeben soll, die Idee verständlich. Ich jedenfalls nicht. Es tut mir leid, daß sein Herz sich gegen jedes anständige Gefühl so abgestumpft hat. Damit basta. Guten Tag.« Mr. Frobisher-Pym sprang auf. »Na, na, Burdock, so dürfen Sie es nicht auffassen. Ich bin überzeugt, daß Lord Peter keine Unhöflichkeit beabsichtigte. Nach meiner Ansicht hat er völlig unrecht. Aber du meine Güte, in den letzten Tagen ist im Dorf so viel Aufregendes
passiert, daß ich nicht überrascht bin, wenn jemand glaubt, es stecke etwas dahinter. Denken wir nicht mehr daran – und wäre es nicht besser, wenn wir diesen schrecklichen kalten Raum verließen? Es ist beinahe Essenszeit. Gütiger Himmel, was wird Agatha von uns denken?« Wimsey reichte Burdock die Hand, der sie zögernd nahm. »Es tut mir leid«, erklärte Wimsey. »Meine Phantasie geht leicht mit mir durch, wissen Sie. Wahrscheinlich Überreizung der Schilddrüse. Achten Sie nicht auf mich. Ich bitte nochmals um Entschuldigung.« »Ich glaube, Lord Peter«, stichelte Mrs. Burdock, »Sie sollten Ihrer Phantasie nicht auf Kosten des guten Geschmacks die Zügel schießen lassen.« Wimsey folgte ihr etwas verwirrt aus dem Zimmer. Ja, er war so verstört, daß er die »Nürnberger Chronik« unter seinem Arm davontrug, was unter den Umständen etwas merkwürdig war. »Ich bin tief bestürzt«, sagte Mr. Hancock. Er war nach dem Abendgottesdienst am Sonntag zu den Frobisher-Pyms herübergekommen und saß mit vor Besorgnis gerötetem Gesicht aufrecht in seinem Stuhl. »Das hätte ich von Hubbard niemals erwartet. Es war ein schwerer Schock für mich. Es ist nicht nur die schwere Sünde, einen Leichnam aus dem Bereich der Kirche selbst zu stehlen, obwohl das schwerwiegend genug ist. Nein, es ist vor allen Dingen die traurige Heuchelei seines Verhaltens – das Verspotten heiliger Dinge, das Ausnutzen heiliger religiöser Gebräuche für weltliche Zwecke. Mit allen Zeichen der Trauer und des Respekts nahm er an der Beerdigung teil, Mr. Frobisher-Pym. Selbst jetzt kommt ihm offenbar die Sündhaftigkeit seines Betragens noch nicht zum Bewußtsein. Es geht mir sehr nahe, als Priester und als Seelsorger, wirklich sehr nahe.«
»Nun ja, Hancock«, entgegnete Mr. Frobisher-Pym, »Sie müssen eben etwas Nachsicht üben. Hubbard ist kein schlechter Kerl, aber von einem Menschen aus seiner Klasse können Sie kein zartes Empfinden erwarten. Der springende Punkt ist: was sollen wir machen? Mr. Burdock muß es natürlich gesagt werden. Es ist eine sehr peinliche Situation. Meine Güte! Hubbard hat also das ganze Komplott eingestanden. Wie kam er dazu?« »Ich habe ihn bezichtigt«, erwiderte der Pfarrer. »Als ich über Lord Peter Wimseys Bemerkungen nachdachte, war ich innerlich sehr beunruhigt. Ich hatte das Gefühl – warum, weiß ich nicht – es könnte etwas Wahres an der Geschichte sein, so phantastisch sie auch klang. Ich habe mir so viele Gedanken darüber gemacht, daß ich gestern abend die Marienkapelle selbst ausgekehrt habe, und ich entdeckte eine Menge Sägemehl im Kehricht. Das bewog mich, nach dem Schlüssel des Heizungsraumes zu suchen, und ich fand ihn im Gebüsch – tatsächlich in Wurfweite des Fensters. Ich suchte Zuflucht im Gebet und auch bei meiner Frau, auf deren Urteil ich sehr viel gebe – und faßte den Entschluß, nach der Messe mit Hubbard zu reden. Es war mir eine große Erleichterung, daß er nicht zur Frühmesse erschien. Angesichts meiner Gefühle hätte ich doch einige Skrupel gehabt.« »Ganz recht, ganz recht«, bemerkte der Friedensrichter ein wenig ungeduldig. »Sie bezichtigten ihn also, und er bekannte Farbe?« »Ja. Leider zeigte er überhaupt keine Reue. Er lachte sogar. Eine höchst peinliche Unterredung.« »Das kann ich mir lebhaft denken«, versicherte ihm Mrs. Frobisher-Pym teilnahmsvoll. »Wir müssen unbedingt Burdock aufsuchen«, erklärte der Friedensrichter und erhob sich. »Ganz gleich, was der alte Burdock mit seinem ungerechten Testament beabsichtigt haben
mag, es liegt klar auf der Hand, daß Hubbard, Mortimer und Rawlinson nicht so handeln durften. Ich weiß wahrhaftig nicht, ob Leichenraub ein strafbares Vergehen ist. Ich muß einmal nachschlagen. Aber ich glaube es bestimmt. Wenn eine Leiche einen Besitz darstellt, so muß sie der Familie oder den Testamentsvollstreckern gehören. Auf jeden Fall ist es ein Kirchenraub, ganz zu schweigen von dem Skandal in der Gemeinde. Ich muß ja sagen, Hancock, die Nonkonformisten werden sich ins Fäustchen lachen; der Meinung sind Sie sicher auch. Na, es ist eine unangenehme Aufgabe, und je eher wir sie in Angriff nehmen, desto besser. Ich gehe mit Ihnen ins Pfarrhaus und helfe Ihnen, Burdock die Sache schonend beizubringen. Und wie steht’s mit Ihnen, Wimsey? Sie hatten also doch recht, und meiner Ansicht nach muß sich Burdock bei Ihnen entschuldigen.« »Ich will mit der Sache nichts mehr zu tun haben«, antwortete Wimsey. »Ich werde nicht gerade hoch im Kurse stehen; denn für die Haviland Burdocks bedeutet es doch einen verflixt schweren Geldverlust.« »Das stimmt. Höchst unangenehm. Na, vielleicht haben Sie recht. Kommen Sie, Herr Pastor.« Wimsey und seine Gastgeberin saßen am Feuer und hatten die Angelegenheit etwa eine halbe Stunde lang diskutiert, als Mr. Frobisher-Pym plötzlich seinen Kopf durch die Tür steckte und sagte: »Hören Sie mal, Wimsey – wir wollen alle zu Mortimer gehen, und es wäre mir lieb, wenn Sie mitkämen und den Wagen führen. Merridew hat sonntags immer frei, und ich setze mich nachts nicht gern ans Steuer, besonders nicht bei diesem Nebel.« »Selbstverständlich«, lautete die Antwort. Wimsey rannte nach oben und kam nach wenigen Sekunden wieder herunter in einem schweren ledernen Fliegermantel und mit einem Paket
unter dem Arm. Er begrüßte die Burdocks kurz, kletterte auf den Führersitz und steuerte den Wagen vorsichtig durch den Nebel die Herriotting-Straße entlang. Er lächelte etwas grimmig vor sich hin, als sie die mit Bäumen bestandene Straße hinauffuhren und zu der Stelle kamen, wo die Geisterkutsche an ihm vorübergefahren war. Als sie das Gatter passierten, durch das die sinnreich erdachte Gespensterkutsche verschwunden war, ließ er es sich nicht nehmen, darauf hinzuweisen, und hörte mit Befriedigung, wie Haviland knurrte. Bei der altvertrauten Gabelung wählte er die rechte Biegung nach Frimpton und fuhr in gleichmäßigem Tempo etwa sechs Meilen weiter, bis ihn ein Warnruf von Mr. Frobisher-Pym auf den Seitenweg zu Mortimers Haus aufmerksam machte. Mr. Mortimers Haus stand mit seinen ausgedehnten Stallungen und Scheunen etwa zwei Meilen abseits der Hauptstraße. In der Dunkelheit konnte Wimsey wenig erkennen, aber es fiel ihm auf, daß die Fenster des Erdgeschosses alle hell erleuchtet waren, und als auf das gebieterische Klingeln des Friedensrichters hin die Tür sich öffnete, deutete ein schallendes Gelächter aus dem Innern darauf hin, daß Mr. Mortimer seine Missetaten nicht allzu ernst nahm. »Ist Mr. Mortimer zu Hause?« fragte Mr. Frobisher-Pym im Ton eines Mannes, der nicht mit sich spaßen läßt. »Ja, Sir. Wollen Sie bitte eintreten?« Sie kamen in eine große, altmodische, hell erleuchtete Halle, die durch eine vor der Haustür aufgestellte Schutzwand aus schwerer Eiche recht gemütlich gemacht wurde. Als Wimsey aus der Dunkelheit blinzelnd ins Helle trat, sah er einen großen beleibten Mann mit rötlichem Gesicht und ausgestreckten Händen auf sie zukommen.
»Frobisher-Pym! Wahrhaftig! Wie schön, daß Sie gekommen sind! Es sind ein paar gute Freunde von Ihnen hier. Oh!« (in etwas verändertem Ton) »Burdock! Das ist ja – « »Zum Teufel mit Ihnen!« rief Haviland Burdock und stürzte wütend am Friedensrichter vorbei, der ihn zurückzuhalten versuchte. »Zum Teufel, Sie Schwein! Hören Sie auf mit dieser verdammten Farce. Was haben Sie mit der Leiche gemacht?« »Leiche?« fragte Mr. Mortimer und trat etwas verlegen zurück. »Ja, verflucht noch mal! Ihr Freund Hubbard hat alles verraten. Also hat es keinen Zweck, die Sache abzustreiten. Zum Kuckuck, was soll das eigentlich heißen? Die Leiche haben Sie sicher hier versteckt. Wo ist sie? Heraus damit!« Er schritt drohend um die Schutzwand herum in das Lampenlicht. Ein großer, schlanker Mann erhob sich unerwartet aus einem tiefen Sessel und trat ihm gegenüber. »Nicht so hastig, alter Knabe!« »Lieber Gott!« Haviland fuhr zurück und trat Wimsey dabei heftig auf die Zehen. »Martin!« »Sicher«, erwiderte der andere. »Hier bin ich. Unkraut vergeht nicht. Wie geht’s dir denn?« »Du bist also die Triebfeder in dieser Angelegenheit!« tobte Haviland. »Das hätte ich mir ja denken können. Du verdammter Schweinehund! Bildest du dir vielleicht ein, daß es anständig ist, deinen Vater aus dem Sarge zu zerren und ihn wie eine Zirkusattraktion im Lande herumzuschleifen? Es ist entwürdigend. Es ist ekelhaft. Es ist abscheulich. Du bist anscheinend eines anständigen Gefühls nicht mehr fähig. Du willst die Sache doch wohl nicht etwa abstreiten?« »Hören Sie doch, Burdock!« protestierte Mortimer. »Halten Sie Ihren Mund, verflucht noch mal!« schimpfte Haviland. »Sie kommen schon noch an die Reihe. Nun höre zu, Martin,
ich habe von diesem schändlichen Theater genug. Du wirst sofort die Leiche herausrücken und – « »Einen Augenblick mal«, entgegnete Martin. Er stand ein wenig lächelnd da und hatte die Hände in den Taschen seines Smokings vergraben. »Diese Auseinandersetzungen scheinen ja reichlich öffentlich vor sich zu gehen. Wer sind alle diese Leute? Oh, der Herr Pfarrer, wie ich sehe. Ich fürchte, wir schulden Ihnen eine kleine Erklärung, Herr Pfarrer. Und – hm –« »Dies ist Lord Peter Wimsey«, schaltete sich Mr. FrobisherPym ein. »Er entdeckte Ihr – ich fürchte, Burdock, ich muß auch die Bezeichnung Ihres Bruders wählen und sagen – Ihr ekelhaftes Komplott.« »Du liebe Zeit!« rief Martin. »Mortimer, Sie haben wohl nicht gewußt, daß Sie es mit Lord Peter Wimsey zu tun hatten, wie? Kein Wunder, daß die Katze aus dem Sack ist. Dieser Mann ist ein regelrechter Sherlock. Doch ich bin offenbar im entscheidenden Moment nach Hause gekommen. Also hat’s nichts zu sagen. Diana, darf ich dir Lord Peter Wimsey vorstellen – meine Frau.« Eine hübsche junge Frau in schwarzem Abendkleid begrüßte Wimsey mit scheuem Lächeln und wandte sich bittend an ihren Schwager. »Haviland, wir wollen dir erklären – « Er schenkte ihr keine Aufmerksamkeit. »Also Martin, ich glaube, das Spiel ist zu Ende.« »Ich auch, Haviland. Aber warum dieser ganze Spektakel?« »Spektakel! Das ist ja wunderbar. Dabei nimmst du die Leiche deines eigenen Vaters aus dem Sarge – « »Nein, nein, Haviland. Davon habe ich nichts gewußt. Das kann ich beschwören. Ich habe die Nachricht von seinem Tode erst vor wenigen Tagen erhalten. Wir waren weit draußen in der Wildnis und machten einen Film in den Pyrenäen. Sobald
ich hier abkommen konnte, bin ich hergeeilt. Mortimer hier hat mit Rawlinson und Hubbard die ganze Sache inszeniert. Ich habe nichts davon gewußt, bis ich gestern morgen in meiner alten Behausung in Paris einen Brief von ihm vorfand. Ehrlich gesagt, Haviland, ich hatte nichts damit zu tun. Warum auch? Ich hatte so etwas gar nicht nötig.« »Was willst du damit sagen?« »Na, wenn ich hier gewesen wäre, hätte ich bloß meinen Mund aufzumachen brauchen, um die Beisetzung zu verbieten. Warum in aller Welt hätte ich mir die Mühe machen sollen, die Leiche zu stehlen? Ganz abgesehen von der Pietätlosigkeit und so weiter. Als Mortimer mir davon berichtete, war ich sogar ein wenig empört, obgleich ich ihnen die Freundlichkeit und die Mühe, die sie sich meinetwegen gemacht hatten, hoch anrechnete. Mr. Hancock hat wohl am meisten Grund, zornig zu sein. Aber Mortimer ist so vorsichtig wie möglich gewesen, Sir – ganz bestimmt. Er hat den alten Herrn ganz ehrerbietig und hochanständig in der früheren Kapelle untergebracht, ihn mit Blumen umgeben und alles. Sie werden bestimmt zufrieden sein.« »Ja, ja«, stimmte Mortimer zu. »Es waren keine Pietätlosigkeiten beabsichtigt. Das dürfen Sie glauben. Besuchen Sie ihn einmal.« »Das ist schrecklich«, erklärte der Vikar verlegen. »In meiner Abwesenheit mußten sie eben tun, was in ihren Kräften stand. Das sehen Sie doch ein, nicht wahr? Sobald ich kann, werde ich die nötigen Anordnungen für eine passende Gruft treffen – oberhalb der Erde natürlich. Oder vielleicht wäre es ebenso richtig, ihn verbrennen zu lassen.« »Was!« keuchte Haviland. »Bildest du dir etwa ein, daß ich meinen Vater unbeerdigt lasse nur wegen deiner ekelhaften Geldgier?«
»Mein lieber Bruder, denkst du etwa, ich gestatte dir, ihn unter die Erde zu bringen, nur damit du meinen Besitz einheimsen kannst?« »Ich bin sein Testamentsvollstrecker, und ich sage, er soll begraben werden, ob es dir paßt oder nicht!« »Und ich bin auch sein Testamentsvollstrecker – und ich sage, er soll nicht begraben werden. Er kann ganz anständig oberhalb der Erde aufbewahrt werden, und das soll auch geschehen.« »Hören Sie doch einmal auf mich«, warf der Pfarrer ein, der ganz verstört zwischen diesen beiden Kampfhähnen stand. »Ich will sehen, was Graham dazu sagt«, kreischte Haviland. »Ach ja – dieser herrliche Rechtsanwalt«, höhnte Martin. »Er wußte, was im Testament stand, nicht wahr? Er hat es wohl nicht zufällig dir gegenüber erwähnt, wie?« »Das hat er nicht getan«, erwiderte Haviland, »er hat überhaupt nichts davon gesagt, weil er nur zu gut wußte, was für ein Ekelpaket du bist. Nicht damit zufrieden, daß du durch deine elende, erpresserische Heirat Schande über uns gebracht hast – « »Mr. Burdock, Mr. Burdock – « »Nimm dich in acht, Haviland!« »Du bist so schamlos – « »Schweig!« » – daß du die Leiche deines Vaters und mein Geld stiehlst, damit du und deine verdammte Frau euren lockeren Lebenswandel mit einem Haufen von Filmschauspielern und Tänzerinnen fortsetzen könnt – « »Ich rate dir eins, Haviland. Laß meine Frau und meine Freunde aus dem Spiel. Wie ist es denn bei euch bestellt? Mir hat jemand gesagt, daß Winnie es auch ziemlich gut versteht, mit dem Gelde fertig zu werden – du bist doch beinahe bankrott, nicht wahr? Durch die Pferdchen, die Spieltische und
wer weiß was noch! Kein Wunder, daß du deinen Bruder um sein Geld betrügen willst. Ich habe nie eine hohe Meinung von dir gehabt, Haviland, aber bei Gott – « »Einen Moment!« Mr. Frobisher-Pym war es endlich gelungen, sich durchzusetzen, teils, weil er gewohnt war, Autorität auszuüben, teils, weil die Brüder sich heiser geschrien hatten. »Einen Moment, Martin. Ich will Sie so nennen, weil ich Sie lange gekannt habe und Ihren Vater ebenfalls. Ich verstehe Ihren Zorn über das, was Haviland gesagt hat. Es war unverzeihlich, und ich bin überzeugt, daß er das einsehen wird, wenn er zu Verstande kommt. Aber Sie müssen daran denken, daß er – ebenso wie wir alle – durch diese sehr, sehr peinliche Angelegenheit im höchsten Grade schockiert ist. Und es ist auch nicht gerecht, zu behaupten, daß Haviland versucht habe, Sie um Ihr Geld zu betrügen. Er hat von diesem boshaften Testament nichts gewußt, und er hat in ganz natürlicher Weise dafür gesorgt, daß die üblichen Anordnungen für die Beerdigung getroffen wurden. Sie müssen sich auf gütlichem Wege einigen, wie Sie das auch getan haben würden, wenn das Testament nicht zufällig verlegt worden wäre. Also, Martin und auch Haviland, überlegen Sie sich die Sache. Meine lieben Jungens, dieser Auftritt ist einfach entsetzlich. So etwas darf nicht vorkommen. Sie können den Besitz doch freundschaftlich unter sich aufteilen. Es ist schrecklich, daß die Leiche eines alten Mannes, nur des elenden Mammons wegen, einen Zankapfel zwischen seinen eigenen Söhnen bildet.« »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Martin. »Ich bin zu weit gegangen. Sie haben vollkommen recht, Sir. Hör mal, Haviland, vergiß die ganze Geschichte. Ich will dir die Hälfte des Geldes überlassen – «
»Die Hälfte des Geldes! Aber es gehört doch alles mir. Du willst mir die Hälfte des Geldes überlassen? Wie verdammt großzügig von dir! Mein eigenes Geld!« »Nein, alter Knabe. Im Augenblick gehört es mir. Der alte Herr ist noch nicht begraben, weißt du. Das ist doch korrekt, nicht wahr, Mr. Frobisher-Pym?« »Ja; im Augenblick gehört das Geld gesetzlich Ihnen. Das müssen Sie doch einsehen, Haviland. Aber Ihr Bruder bietet Ihnen die Hälfte an, und – « »Die Hälfte! Ich wäre verrückt, wenn ich die Hälfte nähme. Der Mann hat versucht, mich zu betrügen. Ich werde die Polizei holen und ihn ins Gefängnis werfen lassen wegen Kirchenraub, das kann ich Ihnen versichern. Wo ist das Telefon?« »Entschuldigen Sie, bitte«, ließ Wimsey sich hören. »Ich möchte mich eigentlich nicht mehr in Ihre Familienangelegenheiten mischen, als ich es bereits getan habe, aber ich rate Ihnen wirklich nicht, die Polizei kommen zu lassen.« »So, Sie raten mir nicht dazu. Was hat das mit Ihnen zu tun, zum Kuckuck noch mal?« »Nun«, sagte Wimsey flehentlich, »wenn diese Testamentsangelegenheit vor Gericht kommt, werde ich wahrscheinlich eine Aussage machen müssen, da ich der Bursche bin, der das Ding gefunden hat.« »Ja, und?« »Sie könnten mich fragen, wie lange das Testament wohl in dem Versteck geruht habe.« Haviland schien einen Kloß im Halse zu haben, der seine Sprache beeinträchtigte. »Und was täte das zur Sache?« »Es ist ziemlich merkwürdig, wenn man es sich richtig überlegt. Ich meine, Ihr verstorbener Vater muß das Testament
im Bücherschrank versteckt haben, bevor er ins Ausland ging. Das war – vor wie lange? Drei Jahre? Fünf Jahre?« »Vor etwa vier Jahren.« »Na, also. Und seitdem hat Ihre gescheite Hausverwalterin die Feuchtigkeit in die Bibliothek eindringen lassen, nicht wahr? Kein Feuer, ein zerbrochenes Fenster und so weiter. Verheerend für die Bücher. Sehr traurig für Leute wie mich. Nun ja. Nehmen wir einmal an, man würde diese Frage stellen – und Sie würden antworten, es habe vier Jahre im Feuchten gelegen. Würde man es nicht komisch finden, wenn ich aussagte, daß sich am Ende des Bücherregals ein großer, feuchter Fleck befinde, der wie ein grinsendes Gesicht aussehe, daß ein entsprechendes großes, grinsendes Gesicht auf der alten ›Nürnberger Chronik‹ zu finden sei und überhaupt kein Fleck auf dem Testament, das vier Jahre lang zwischen beiden gesteckt haben soll?« Mrs. Haviland schrie plötzlich: »Haviland! Du Dummkopf! Du großer Dummkopf!« »Halte deinen Mund!« Mit einem Wutschrei fuhr Haviland seine Frau an, die in einem Sessel zusammenbrach und sich die Hand vor den Mund hielt. »Danke vielmals«, sagte Martin. »Nein, Haviland, du brauchst keine Erklärungen abzugeben. Winnie hat alles verraten. Du wußtest also Bescheid – du kanntest das Testament. Hast es absichtlich versteckt und Anordnungen für die Beerdigung getroffen. Ich bin dir unendlich dankbar – beinahe so dankbar wie dem diskreten Graham. Gilt das Verstecken von Testamenten als Unterschlagung oder als Komplott oder als was? Mr. Frobisher-Pym wird’s wissen.« »Ach, du liebe Zeit!« sagte der Friedensrichter. »Sind Sie Ihrer Sache auch sicher, Wimsey?« »Ganz sicher«, erwiderte Wimsey und zog die Nürnberger Chronik unter seinem Arm hervor. »Hier ist der Fleck – Sie
können sich selbst überzeugen. Verzeihen Sie, daß ich Ihr Eigentum entliehen habe, Mr. Burdock. Ich fürchtete aber, Mr. Haviland könnte in den stillen Stunden der Nacht über diese kleine Abweichung nachdenken und den Entschluß fassen, die ›Chronik‹ zu verkaufen oder zu verschenken, oder zu der Ansicht gelangen, daß sie ohne Deckel besser aussähe. Gestatten Sie, daß ich sie Ihnen zurückgebe, Mr. Martin, und zwar intakt. Sie werden mir vielleicht verzeihen, wenn ich sage, daß ich keine der Rollen in diesem Melodrama sehr bewundere. Es wirft, wie Mr. Pecksniff sagen würde, ein trauriges Licht auf die menschliche Natur. Aber besonders habe ich mich über die Art und Weise geärgert, in der man mich zu dem Bücherregal lotste und zum gescheiten, unabhängigen Zeugen machte, der das Testament fand. Ich mag ein Narr sein, Mr. Haviland Burdock, aber ich bin kein Erznarr. Gute Nacht. Ich werde im Wagen warten, bis alle fertig sind.« Wimsey schritt würdevoll hinaus. Bald folgten ihm der Vikar und Mr. Frobisher-Pym. »Mortimer bringt Haviland und seine Frau zum Bahnhof«, berichtete der Friedensrichter. »Sie kehren sofort nach London zurück. Sie können ihnen das Gepäck morgen nachschicken, Hancock. Wir machen am besten, daß wir fortkommen.« Wimsey drückte auf den Anlasser. Im selben Augenblick rannte ein Mann eilig die Treppe hinunter und trat zu ihm an den Wagen. Es war Martin. »Hören Sie«, murmelte er. »Sie haben mir einen großen Gefallen getan – den ich eigentlich nicht verdiene. Sie müssen mich für einen Schweinehund halten. Aber ich werde dafür sorgen, daß der alte Herr anständig begraben wird, und ich werde das Vermögen mit Haviland teilen. Sie dürfen ihn auch nicht zu sehr verurteilen. Seine Frau ist ein schreckliches Wesen. Sie hat ihn bis über die Ohren in Schulden gebracht und sein Geschäft ruiniert. Ich sorge dafür, daß alles in Ordnung
kommt. Verstehen Sie? Ich möchte nicht, daß Sie zu schlecht von uns denken.« »So ist’s recht!« sagte Wimsey. Er schaltete den Gang ein und verschwand im nassen, weißen Nebel.
Die phantastische Schauergeschichte
von der Katze im Sack
Wie ein flaches, stahlgraues Band schlängelte sich die Große Nordstraße dahin. Mit der Sonne und dem Wind im Rücken bewegten sich zwei schwarze Flecke blitzschnell auf ihr entlang. Für den Bauerntölpel, der den Heuwagen lenkte, waren sie nur zwei von »diesen verdammten Motorradfahrern«, als sie schnell hintereinander an ihm vorbei ratterten und knatterten. Der Familienvater, der weiter vorn sehr vorsichtig ein Motorrad mit einem zweisitzigen Beiwagen fuhr, grinste, als auf das scharfe Rasseln des O. H. V.* Norton das katzenartige Gekreisch eines Scott Flying-Squirrel folgte. Er hatte sich in seinen Junggesellentagen ebenfalls an diesem ewigen Wettstreit beteiligt. Voller Bedauern seufzte er hinter den beiden Rennmaschinen her, als sie in nördlicher Richtung verschwanden. Bei der abscheulichen und unerwarteten SKurve an der Brücke oberhalb von Hatfield drehte sich der Norton-Fahrer in stolzem Selbstgefühl um und winkte seinem Verfolger herausfordernd zu. In dieser Sekunde rollte vom Brückenkopf her ein riesiger, vollbesetzter Autobus auf ihn zu. Mit einer ungestümen Bewegung, die ihn ins Wanken brachte, wich der Norton aus, und der Scott, der melodramatisch in die Kurve ging, wobei seine Fußstützen abwechselnd den Boden streiften, gewann triumphierend einige Meter. Der Norton fuhr mit Vollgas weiter. Mehrere Kinder stürzten, von plötzlicher Panik ergriffen, holterdiepolter quer über die Straße. Der Scott *
O. H. V. = mit untengesteuerten Ventilen.
torkelte wie ein Betrunkener durch sie hindurch. Dann war die Straße wieder frei, und die wilde Jagd begann von neuem. Meile für Meile rollte die Steinschuttchaussee unter ihnen dahin. Mit bellender Hupe und knallendem Auspuff ging’s in vollem Tempo durch die Ortschaften. Der Schutzmann in Eaton Socon war durchaus kein Anti Motor-Fanatiker. Er war gerade von seinem Fahrrad abgestiegen, um mit dem Mann vom Straßendienst, der an der Kreuzung Wache stand, ein paar Worte zu wechseln. Aber er war gerecht und gottesfürchtig. Der Anblick zweier Verrückter, die in mörderischem Tempo in sein Protektorat brausten, ging ihm über die Hutschnur. Daß er so etwas durchgehen ließ, konnte niemand von ihm verlangen, besonders nicht, wo der Friedensrichter des Ortes in diesem Augenblick zufällig mit seinem Ponywagen daherkam. Er stellte sich also mitten auf die Straße und breitete majestätisch die Arme aus. Der Norton-Fahrer sah mit schnellem Blick, daß die Straße hinter dem Schutzmann durch eine Straßenlokomotive und einen Ponywagen verbaut war, und fügte sich ins Unvermeidliche. Er warf den Gashebel zurück, stampfte auf die quietschenden Bremsen und kam rutschend zum Stehen. Der Scott, der beizeiten Lunte gerochen hatte, kam zimperlich und wie ein zufriedenes Kätzchen schnurrend hinterher. »Nein«, sagte der Schutzmann in tadelndem Ton, »haben Sie denn gar keinen Verstand, daß Sie hier in der Stadt mit hundertfünfzig Kilometern aufkreuzen? Dies ist doch keine Rennbahn. So was ist mir noch nie vorgekommen. Muß Ihre Namen und Nummern notieren. Also bitte! Mr. Nadgett, Sie sind Zeuge, daß sie über hundertzwanzig gefahren sind.« Der Mann vom Straßendienst warf einen schnellen Blick auf die Maschinen, um sich zu vergewissern, daß die schwarzen Schafe nicht zu seiner Herde gehörten. Dann gab er sich den
Anschein unparteiischer Genauigkeit und erklärte: »Ungefähr neunundneunzigeinhalb würde ich sagen, wenn Sie mich vor Gericht fragten.« »Hören Sie mal zu, Sie Affe«, redete der Scott-Fahrer voller Empörung den Norton-Mann an, »warum haben Sie eigentlich nicht gehalten, als Sie mich hupen hörten, zum Donnerwetter? Ich bin fast fünfzig Kilometer mit Ihrem dämlichen Koffer hinter Ihnen hergesaust. Warum können Sie sich nicht selbst um Ihr blödes Gepäck bekümmern?« Er wies auf einen kleinen, starken Koffer, der mit einer Schnur auf seinem Gepäckträger festgebunden war. »Das Ding da?« fragte der Norton-Mann höhnisch. »Was wollen Sie denn überhaupt? Das ist nicht mein Eigentum. Habe den Koffer nie im Leben gesehen.« Dieses schamlose Ableugnen drohte dem Scott-Fahrer die Stimme zu verschlagen. »Das ist doch – « keuchte er. »Sie verdammter Idiot, Sie, ich habe doch gesehen, wie er gerade vor Hatfield herunterfiel. Ich habe geschrien und wie verrückt gehupt. Aber Ihre unten gesteuerten Ventile machen wohl so viel Krach, daß Sie nichts anderes mehr hören können. Ich mache mir die Mühe, das Ding aufzuheben und Ihnen nachzufahren, und Sie rasen wie ein Wahnsinniger davon und landen mich bei einem Schutzmann. Schöner Dank, den man erntet, wenn man sich bemüht, zu Dummköpfen auf der Straße anständig zu sein.« »All dies Gerede führt zu nichts«, warf der Schutzmann dazwischen. »Ihren Führerschein, bitte.« »Hier haben Sie ihn«, sagte der Scott-Fahrer und zog ihn wütend aus seiner Brieftasche. »Mein Name ist Walters, und dies ist das letzte Mal, daß ich jemandem einen Gefallen tue. Darauf können Sie Gift nehmen.« »Walters«, murmelte der Schutzmann, während er die Einzelheiten mühsam in seinem Notizbuch vermerkte, »und
Simpkins. Sie werden Ihre Vorladung zu gegebener Zeit bekommen. Wahrscheinlich in einer Woche. Montag oder so.« »Wieder mal vierzig Shilling flöten«, brummte Mr. Simpkins, während er mit dem Gashebel spielte. »Na ja, das läßt sich wohl nicht ändern.« »Vierzig Shilling?« schnaubte der Schutzmann. »Haben Sie ‘ne Ahnung! Gemeingefährliches Fahren, so nennt man das. Sie können sich freuen, wenn Sie mit fünf Pfund pro Nase davonkommen.« . »Verdammt noch mal!« zischte der andere und trat wütend auf den Kickstarter. Der Motor heulte auf. Aber Mr. Walters schwang seine Maschine geschickt quer über den Weg. »O nein, noch nicht«, sagte er giftig. »Sie nehmen schön Ihren schmierigen Koffer, und zwar ohne weitere Ausreden. Ich sage Ihnen, ich habe ihn ‘runterfallen sehen.« »Mäßigen Sie Ihre Sprache«, begann der Schutzmann, als er plötzlich merkte, daß der Mann vom Straßendienst den Koffer recht merkwürdig anstarrte und ihm Zeichen machte. »Nanu«, fuhr er fort, »was ist denn los mit dem – schmierigen Koffer? So nannten Sie ihn doch, nicht wahr? Zeigen Sie mal her, ich möchte mir das Ding mal ansehen, Sir, wenn Sie nichts dagegen haben.« »Ich habe nichts damit zu tun«, erklärte Walters und händigte ihn dem Schutzmann aus. »Ich habe ihn ‘runterfallen sehen und – « Seine Stimme versagte plötzlich, und er starrte wie gebannt auf eine Ecke des Koffers, wo etwas Feuchtes, Dunkles langsam durchsickerte. Gräßlich! »Haben Sie diese Ecke hier bemerkt, als Sie ihn aufhoben?« fragte der Schutzmann. Er tappte behutsam mit dem Finger darauf und besah ihn sich hinterher. »Ich weiß nicht – nein – nicht besonders«, stammelte Walters. »Ich habe nichts bemerkt. Vielleicht – vielleicht ist er geplatzt, als er auf die Straße prallte.«
Der Schutzmann prüfte schweigend die geplatzte Naht. Dann wandte er sich eilig um und scheuchte ein paar junge Frauen fort, die stehengeblieben waren. Der Mann vom Straßendienst trat neugierig näher und fuhr dann zurück. Es wurde ihm beinahe übel. »O Gott!« ächzte er. »Es ist ja lockig – Frauenhaar.« »Ich bin’s nicht«, schrie Simpkins. »Ich schwöre bei Gott, daß er mir nicht gehört. Der Mann versucht, ihn mir aufzuhalsen.« »Ich?« stieß Walters hervor. »Ich? Sie gemeiner, brutaler Mörder, ich sage Ihnen doch, ich habe ihn von Ihrem Gepäckträger fallen sehen. Kein Wunder, daß Sie ausrissen, als Sie mich kommen sahen. Verhaften Sie ihn, Herr Wachtmeister. Bringen Sie ihn ins Gefängnis – « »Hallo, Herr Wachtmeister«, ertönte eine Stimme hinter ihnen. »Warum so aufgeregt? Sie haben nicht zufällig einen Motorradfahrer vorbeifahren sehen, der einen Koffer auf seinem Träger hatte?« Ein großer offener Wagen mit einer unnatürlich langen Haube war leise und unbemerkt an sie herangefahren. Die ganze aufgeregte Gesellschaft wandte sich wie ein Mann dem Fahrer zu. »Könnte es dieser sein, Sir?« Der Autofahrer schob seine Schutzbrille hoch und enthüllte eine lange, schmale Nase und ein Paar zynisch dreinblickender, grauer Augen. »Er sieht fast so aus – « begann er, und dann entdeckte er das fürchterliche Etwas, das sich da an einer Ecke herausdrängte. »In Gottes Namen«, fragte er, »was ist denn das?« »Das möchten wir auch gern wissen«, antwortete der Schutzmann grimmig. »Hm«, meinte der Autofahrer, »ich scheine ja einen äußerst passenden Moment gewählt zu haben, um mich nach meinem Koffer zu erkundigen. Taktlos. Jetzt zu sagen, es sei nicht mein
Koffer, ist zwar einfach, aber keineswegs überzeugend. Tatsächlich gehört er mir nicht, und ich darf wohl sagen, wenn es doch der Fall wäre, würde ich nicht so eifrig hinter ihm herrennen.« Der Schutzmann kratzte sich den Kopf. »Diese beiden Herren – « begann er. Die beiden Motorradfahrer brachen gleichzeitig in einen heftigen und leidenschaftlichen Wortschwall aus, in dem sie alles abstritten. Inzwischen hatte sich eine kleine Zuschauermenge eingefunden, die der Mann vom Straßendienst zu verscheuchen suchte. »Bitte, kommen Sie mit zur Wache«, erklärte der geplagte Schutzmann. »Wir können hier kein Verkehrshindernis bilden. Aber keine Ausflüchte! Sie schieben Ihre Motorräder, und ich setze mich mit in Ihren Wagen, Sir.« »Aber wenn ich nun davonsauste und Sie entführte, was dann?« fragte der Autofahrer grinsend. Darauf wandte er sich an den Mann vom Straßendienst: »Hier, können Sie mit diesem Ungetüm fertig werden?« »Aber klar«, erwiderte der Mann, dessen Blicke liebevoll über das langgeschwungene Auspuffrohr und die flotten Linien des Wagens glitten. »Gut. Steigen Sie ein. Sie, Herr Wachtmeister, können nun mit den anderen Verdächtigen dahinzotteln und ein wachsames Auge auf sie werfen. Fabelhaft, wie ich so an alle Einzelheiten denke. Nebenbei bemerkt, ist die Fußbremse ziemlich mitgenommen. Drangsalieren Sie sie nicht, sonst können Sie Ihr blaues Wunder erleben.« Auf der Polizeiwache wurde der Koffer aufgebrochen, wobei eine Aufregung herrschte, wie sie die ruhige Geschichte von Eaton Socon nie zuvor gekannt hatte. Den fürchterlichen Inhalt legte man ehrerbietig auf einen Tisch. Außer einer ganzen Menge Gaze, in die er eingewickelt war, gab es keinerlei Aufschluß für dieses Rätsel.
»Nun«, fragte der Inspektor, »was wissen Sie über die Angelegenheit, meine Herren?« »Gar nichts«, erklärte Mr. Simpkins mit kreidebleichem Gesicht. »Ich weiß nur, daß dieser Mann versuchte, mir den Koffer anzudrehen.« »Ich habe ihn vor Hatfield von seinem Gepäckträger fallen sehen«, wiederholte Mr. Walters mit fester Stimme, »und ich bin fünfzig Kilometer hinter ihm hergefahren, um ihn wieder abzuliefern. Mehr weiß ich darüber nicht, und ich wünschte von ganzem Herzen, daß ich das grauenhafte Ding nie angerührt hätte.« »Auch ich weiß persönlich nichts darüber«, sagte der Autobesitzer, »aber ich glaube, ich weiß, was es ist.« »Nanu?« fragte der Inspektor scharf. »Ich glaube, es ist der Kopf des Finsbury-Park-Mordes. Aber wohlgemerkt, ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen.« »Denselben Gedanken hatte ich auch«, pflichtete ihm der Inspektor bei und warf einen Blick auf die neben ihm liegende Tageszeitung, deren Schlagzeilen die finsteren Einzelheiten dieses schaurigen Verbrechens verrieten. »Und wenn das der Fall ist, muß man Ihnen, Herr Wachtmeister, zu einem wichtigen Fang gratulieren.« »Danke vielmals, Sir«, sagte der geschmeichelte Beamte und stand stramm. »Jetzt möchte ich all Ihre Aussagen aufschreiben«, erklärte der Inspektor. »Nein, nein, zuerst kommt der Schutzmann. Nun, Briggs?« Nachdem der Schutzmann, der Mann vom Straßendienst und die beiden Motorradfahrer ihre Versionen von der Geschichte gegeben hatten, wandte sich der Inspektor an den Autofahrer. »Und was haben Sie dazu zu sagen?« fragte er. »Zunächst einmal Ihren Namen und Ihre Adresse.«
Der Angeredete holte eine Karte hervor, die der Inspektor abschrieb und ihm ehrerbietig zurückreichte. »Gestern wurde mir in Piccadilly ein Koffer mit wertvollem Schmuck aus dem Wagen gestohlen«, begann der Autofahrer. »Er ähnelt diesem Koffer sehr, hat aber ein Kombinationsschloß. Ich zog mit Hilfe von Scotland Yard Erkundigungen ein, und heute wurde mir mitgeteilt, daß ein ganz ähnlicher Koffer gestern nachmittag beim Handgepäck im Bahnhof Paddington abgegeben wurde. Ich eilte sofort hin und erfuhr, daß der Koffer von einem Motorradfahrer abgeholt worden sei, bevor die Polizeiwarnung durchgegeben wurde. Das war vor ungefähr einer Stunde. Die Sache erschien natürlich hoffnungslos, da man nicht einmal darauf geachtet hatte, was für eine Maschine es war, von der Nummer gar nicht zu reden. Glücklicherweise war da ein kluges kleines Mädel, das vor dem Bahnhof gespielt und gehört hatte, wie ein Motorradfahrer sich bei einem Taxichauffeur nach dem schnellsten Wege nach Finchley erkundigte. Ich ließ die Polizei nach dem Taxichauffeur suchen und folgte selbst den Spuren des Motorradfahrers. In Finchley stieß ich auf einen intelligenten Pfadfinder. Er hatte einen Motorradfahrer gesehen, mit einem Koffer auf dem Gepäckträger und ihn durch Winke und Rufen darauf aufmerksam gemacht, daß der Riemen sich gelockert habe. Der Fahrer war dann abgestiegen, hatte den Riemen festgeschnallt und war in Richtung von Chipping Barnet weitergefahren. Der Junge hatte aus der Entfernung die Maschine nicht identifizieren können. In Barnet vernahm ich die merkwürdige Geschichte von einem Mann im Automantel, der mit kreidebleichem Gesicht in eine Wirtschaft getorkelt sei, zwei Doppelgläser Brandy getrunken habe und dann wie verrückt weitergefahren sei. Hinter Hatfield hörte ich von einem Wettrennen auf der Straße, und hier sind wir nun.«
»Es sieht so aus, Mylord«, bemerkte der Inspektor, »als ob auch Sie nicht gerade im Schneckentempo gefahren seien.« »Das gebe ich zu«, erwiderte der andere, »aber ich beantrage mildernde Umstände, da ich Frauen und Kinder verschont und nur in den offenen, freien Weiten auf das Gaspedal getreten habe. Der springende Punkt – « »Nun, Mylord«, unterbrach der Inspektor, »ich habe Ihre Aussage, die nötigenfalls durch Nachfragen in Paddington und Finchley bestätigt werden kann. Was aber diese beiden Herren angeht – « »Die Sache ist völlig klar«, fiel Mr. Walters ein, »der Koffer ist diesem Manne von seinem Gepäckträger gefallen, und als er mich damit ankommen sah, hielt er es für eine günstige Gelegenheit, mir die ganze Sache in die Schuhe zu schieben. Das ist doch sonnenklar.« »Das ist eine Lüge«, erklärte Mr. Simpkins. »Dieser Mann ist in den Besitz des Koffers gekommen – wie, das sage ich nicht, kann es mir aber denken – und nun hat er den schlauen Gedanken, ihn bei mir abzuladen. Er kann ja gut sagen, das Ding ist von meinem Träger gefallen. Wo ist der Beweis? Wo ist der Riemen? Wenn seine Behauptung wahr ist, müßte der Riemen doch noch an meiner Maschine hängen. Der Koffer war aber auf seiner Maschine, und zwar fest angebunden.« »Ja, mit einem Bindfaden«, entgegnete der andere. »Wenn ich jemanden ermordet und mir den Kopf zum Andenken mitgenommen hätte, glauben Sie, ich würde so ein Esel sein und ihn mit einem armseligen Stück Bindfaden anbinden? Der Riemen hat sich gelöst und ist irgendwo auf die Straße gefallen. Ganz einfach.« »Hören Sie mal zu«, sagte der Mann, der mit »Mylord« angeredet wurde. »Ich habe eine Idee. Ob sie etwas taugt, weiß ich nicht. Wie wär’s, wenn Sie, Herr Inspektor, so viele Ihrer Leute zusammentrommelten, wie Sie brauchen, um ein
wachsames Auge auf drei Schwerverbrecher zu werfen, und wir dann alle zusammen nach Hatfield kutschierten. Wenn’s sein muß, kann ich zwei in meinem Auto unterbringen, und Sie haben doch sicher einen Streifenwagen. Wenn dieses Ding wirklich vom Gepäckträger gefallen ist, so lassen sich vielleicht noch andere Zeugen auftreiben außer Mr. Walters.« »Das hat keiner gesehen«, erklärte Mr. Simpkins prompt. »Es war niemand in dem Moment zu sehen«, bestätigte Mr. Walters. »Aber woher wissen Sie das denn? Ich dachte, Sie hätten von der Geschichte keine Ahnung.« »Ich meinte, er ist nicht heruntergefallen, und infolgedessen konnte es niemand gesehen haben«, keuchte der andere. »Mylord«, ließ sich der Inspektor vernehmen, »ich bin geneigt, Ihren Vorschlag zu akzeptieren, zumal er uns Gelegenheit bietet, auch Ihre Aussage zu prüfen. Womit ich nicht sagen will, daß ich sie anzweifle, besonders, da ich weiß, wer Sie sind. Ich habe von Ihren Leistungen als Detektiv gelesen, Mylord, und war sehr davon angetan. Aber es ist meine Pflicht, nach Möglichkeit alle Aussagen von anderen bestätigen zu lassen.« »Tadellos! Da haben Sie ganz recht«, rief Seine Lordschaft. »Also, die ganze Abteilung, marsch! Wir schaffen es mit Leichtigkeit in – das heißt, bei dem gesetzlich vorgeschriebenen Tempo brauchen wir wohl nicht viel mehr als anderthalb Stunden.«
Eine dreiviertel Stunde später schaukelten die Rennwagen und das Polizeiauto friedlich nebeneinander in die Stadt Hatfield. Von hier ab fuhr der Viersitzer, in dem Walters und Simpkins saßen und sich wütende Blicke zuwarfen, voran. Bald darauf hob Walters die Hand, und beide Wagen kamen zum Stehen.
»Ungefähr an dieser Stelle fiel der Koffer herunter, soweit ich mich erinnern kann«, meinte er. »Natürlich kann man jetzt nichts mehr davon sehen.« »Sind Sie ganz sicher, daß der Riemen nicht gleich mit abgefallen ist?« fragte der Inspektor. »Es war kein Riemen vorhanden«, sagte Simpkins, bleich vor Zorn. »Sie haben kein Recht, solche Suggestivfragen zu stellen.« »Einen Augenblick mal«, sagte Walters langsam. »Nein, der Riemen ist nicht hier heruntergefallen. Aber es kommt mir so vor, als hätte ich ungefähr dreihundert Meter weiter zurück etwas auf der Straße gesehen.« »Das ist gelogen«, schrie Simpkins. »Das hat er sich ausgedacht.« »Ungefähr da, wo wir vor einigen Minuten den Mann mit dem Beiwagen passierten«, stellte Seine Lordschaft fest. »Ich sagte Ihnen doch, Herr Inspektor, wir hätten halten und ihn fragen sollen, ob wir ihm helfen könnten. Sie wissen doch, Höflichkeit auf der Landstraße und so weiter.« »Der hätte uns auch nichts erzählen können«, erwiderte der Inspektor. »Er hatte wahrscheinlich gerade erst angehalten.« »Dessen bin ich nicht so sicher«, meinte der andere. »Haben Sie nicht bemerkt, was er tat? Herrje, wo hatten Sie denn nur Ihre Augen? Aha! Hier kommt er ja.« Er sprang auf die Straße und winkte dem Fahrer, der es beim Anblick von vier Polizisten für richtiger hielt, anzuhalten. »Entschuldigen Sie, bitte«, sagte Seine Lordschaft, »wir wollten nur fragen, ob mit Ihrer Maschine alles in Ordnung ist. Wollte schon vorher halten, aber ich konnte den Motor nicht abdrosseln. Sie hatten wohl eine kleine Panne, wie?« »O ja, aber es ist nun in Ordnung, vielen Dank. Ich wäre allerdings sehr froh, wenn Sie mir vier Liter Benzin überlassen könnten. Mein Tank löste sich. Verflixte Schweinerei.
Glücklicherweise hatte mir eine gütige Vorsehung einen abgerissenen Riemen auf den Weg gelegt. Damit konnte ich den Schaden kurieren. Die Schweißnaht ist etwas gerissen. Ein Glück, daß es keine Explosion gab. Aber Motorradfahrer haben eben einen besonderen Schutzengel.« »Sie haben also einen Riemen gefunden, wie?« fragte der Inspektor. »Leider muß ich Sie bitten, ihn mir zu zeigen.« »Was?« rief der Mann entrüstet, »gerade, wo ich das vermuckte Ding wieder hingekriegt habe? Schon gut, meine Liebe, schon gut« – dies zu seiner Partnerin. »Handelt es sich um etwas Wichtiges, Herr Kommissar?« »Leider ja, Sir. Es tut mir leid, Sie bemühen zu müssen.« »Heda!« gellte einer der Polizisten und schnappte sich Mr. Simpkins mit einer geschickten Bewegung, als er gerade das Weite suchen wollte. »Das hat gar keinen Zweck. Man hat Sie erwischt, Bürschchen.« »Zweifellos«, rief der Inspektor triumphierend, nachdem er den Riemen inspiziert hatte. »Sein Name steht sogar darauf. ›J. Simpkins‹ riesengroß in Tinte. Sehr verbunden, Sir. Sie haben dazu beigetragen, daß wir eine wichtige Verhaftung vornehmen konnten.« »Nein! Wer ist es denn?« rief das Mädchen im Beiwagen. »Wie aufregend! Handelt es sich um einen Mord?« »Schauen Sie morgen in Ihre Zeitung, Miss«, riet ihr der Inspektor, »da werden Sie alles Nähere erfahren. Hier, Briggs, Sie legen ihm am besten Handschellen an.« »Und was soll ich mit meinem Tank machen?« fragte der Mann kläglich. »Ich gönne dir ja die Aufregung, Babs, aber du mußt aussteigen und schieben helfen.« »Aber nein«, erklärte Seine Lordschaft. »Hier ist ein Riemen. Ein viel schönerer. Dem anderen weit überlegen. Und Benzin. Und eine Flasche Kognak. Alles, was ein junger Mann bei sich haben sollte. Und wenn Sie in London sind, besuchen Sie mich
beide, nicht vergessen. Lord Peter Wimsey, 110 A Piccadilly. Freut mich jederzeit, Sie zu sehen. Prost!« »Prost!« echote der andere besänftigt und wischte sich die Lippen. »Es war mir ein Vergnügen, Ihnen dienen zu können. Denken Sie bitte daran, Herr Kommissar, wenn ich das nächste Mal die Höchstgeschwindigkeit überschreite und dabei geschnappt werde.« »Wie gut, daß wir diesen Mann entdeckt haben«, bemerkte der Inspektor selbstgefällig, als sie wieder zurückfuhren. »Geradezu eine Fügung des Schicksals.« »Ich will alles gestehen«, sagte der unglückliche Simpkins, als er gefesselt in der Polizeiwache von Hatfield saß. »Ich schwöre bei Gott, daß ich nichts davon weiß – von dem Mord, meine ich. Ich kenne da einen Mann, der ein Juwelengeschäft in Birmingham hat. Das heißt, ich kenne ihn nicht sehr gut, habe ihn tatsächlich erst letzte Ostern in Southend kennengelernt, wo wir uns etwas anbiederten. Er heißt Owen – Thomas Owen. Gestern schrieb er mir, er habe versehentlich einen Koffer in der Gepäckaufbewahrung in Paddington zurückgelassen, und fragte mich, ob ich ihn wohl abholen – er hatte den Schein beigelegt – und das nächste Mal, wenn ich in seine Gegend käme, mitbringen würde. Ich bin nämlich beim Transportdienst, wie Sie aus meiner Karte ersehen, und komme überall herum. Zufällig fuhr ich mit dieser Norton grade in die Gegend, und da habe ich das Ding um die Mittagszeit geholt und bin damit losgefahren. Ich habe nicht auf das Datum des Gepäckscheins geachtet. Es war keine Extragebühr zu bezahlen. Also konnte der Koffer nicht lange dort gelegen haben. Bis Finchley ging alles so, wie Sie es erzählten, und dort machte mich der Junge auf meinen lockeren Riemen aufmerksam. Ich stieg ab, um ihn enger zu schnallen. Und da entdeckte ich, daß die eine Ecke des Koffers geplatzt und ganz feucht war – und – und ich sah, was Sie gesehen haben. Ich
bekam einen Schrecken und verlor den Kopf. Ich hatte nur einen Gedanken: das Ding so schnell wie möglich loszuwerden. Es fiel mir ein, daß es auf der Großen Nordstraße viele einsame Strecken gab. Also schnitt ich den Riemen fast durch – das war, als ich bei der Wirtschaft in Barnet hielt – und später, als ich dachte, daß niemand zu sehen sei, langte ich einfach zurück und zog kräftig an dem Riemen. Der Koffer fiel – mitsamt dem Riemen, den ich nicht durch die Kerben gezogen hatte, und es war mir, als fiele mir ein schwerer Stein vom Herzen. In dem Augenblick muß Walters wohl um die Biegung gekommen sein. Ein paar Kilometer weiter mußte ich langsamer fahren, weil eine Schafherde in ein Feld einbog, und da hörte ich ihn hupen – und – o mein Gott!« Stöhnend vergrub er den Kopf in den Händen. »So, so«, bemerkte der Inspektor von Eaton Socon. »Das ist also Ihre Version. Na, und dieser Thomas Owen – « »Oh«, rief Lord Peter Wimsey dazwischen, »lassen Sie bloß Thomas Owen aus dem Spiel. Der hat nichts damit zu tun. Es ist wohl kaum anzunehmen, daß ein Bursche, der einen Mord begangen hat, sich von einem anderen den Kopf bis nach Birmingham nachtragen läßt. Es liegt doch klar auf der Hand, daß der Kopf im Gepäckraum bleiben sollte, bis der erfinderische Täter das Weite gesucht hatte oder das Gesicht unkenntlich war. Im Gepäckraum von Paddington werden wir übrigens auch meinen Familienschmuck finden, den Ihr einnehmender Freund Owen mir aus dem Wagen geklaut hat. Mr. Simpkins, nun reißen Sie sich mal zusammen und sagen Sie uns, wer an der Gepäckausgabe dicht neben Ihnen stand, als Sie den Koffer holten. Denken Sie scharf nach; denn diese hübsche kleine Insel ist kein Platz für ihn, und er wird mit dem nächsten Schiff losgondeln, während wir hier stehen und schwatzen.«
»Ich kann mich nicht darauf besinnen«, stöhnte Simpkins. »Ich habe nicht darauf geachtet. Es schwirrt mir alles im Kopf herum.« »Macht nichts. Versetzen Sie sich zurück. Denken Sie ruhig nach. Stellen Sie sich vor, wie Sie von Ihrer Maschine abstiegen – sie gegen irgend etwas anlehnten – « »Nein, ich habe sie auf den Ständer gestellt.« »Gut! Da kommen wir der Sache schon näher. Nun denken Sie weiter – Sie nehmen den Gepäckschein aus der Tasche – Sie gehen hin und versuchen, die Aufmerksamkeit des Beamten zu erregen.« »Das ging zuerst nicht. Vor mir stand eine alte Dame, die einen Kanarienvogel aufgeben wollte. Dann war da noch ein äußerst eiliger Mann mit Golfschlägern. Der war ziemlich unhöflich zu einem ruhigen kleinen Mann mit – wahrhaftig, ja – mit einem Koffer wie diesem hier. Ja, so war’s. Der schüchterne Mann hatte ihn ziemlich lange vor sich stehen, und der große Mann drängte den kleineren beiseite. Was dann eigentlich geschehen ist, weiß ich nicht, da mein Koffer mir gerade zugeschoben wurde. Der große Mann stellte sein Gepäck vor uns beide, so daß ich hinüberlangen mußte, und ich muß dann wohl den falschen Koffer gegriffen haben. Mein Gott! Wollen Sie etwa sagen, daß der schüchterne, kleine, nichtssagende Mann ein Mörder war?« »Mancher Mörder scheint nichtssagend«, warf der Inspektor von Hatfield ein. »Aber wie sah der denn aus – schnell!« »Er war etwa einen Meter fünfundsechzig groß und trug einen weichen Hut und einen langen staubfarbenen Mantel. Eine ganz alltägliche Erscheinung mit ziemlich schwachen, vorstehenden Augen, glaube ich, aber ich bin nicht sicher, ob ich ihn wiedererkennen würde. Doch warten Sie mal! Da fällt mir etwas ein. Er hatte eine merkwürdige, sichelförmige Narbe unter seinem linken Auge.«
»Dann besteht kein Zweifel mehr«, erklärte Lord Peter. »Ich hatte es mir schon halb gedacht. Haben Sie das – das Gesicht erkannt, als wir den Kopf herausnahmen, Herr Inspektor? Nein? Aber ich. Es war die Schauspielerin Dahlia Dallmeyer, die angeblich in der letzten Woche nach Amerika gefahren ist. Und der kleine Mann mit der sichelförmigen Narbe ist ihr Mann, Philip Storey. Düstere Geschichte. Sie hat ihn ruiniert und wie Dreck behandelt. Außerdem war sie ihm untreu, aber er hat anscheinend das letzte Wort behalten. Und jetzt wird das Gesetz wohl bei ihm das letzte Wort haben. Nun gehen Sie rasch an den Apparat, Herr Inspektor. Auch könnten Sie wohl Paddington anrufen und den Leuten dort Anweisung geben, mir meinen Koffer auszuhändigen, bevor Mr. Thomas Owen dahinterkommt, daß ein kleiner Fehler unterlaufen ist.« »Na, jedenfalls«, meinte Mr. Walters und reichte dem niedergeschlagenen Mr. Simpkins großmütig die Hand, »war es ein erstklassiges Wettrennen – um das sich eine Vorladung schon lohnte. Das müssen wir demnächst noch einmal machen.«
Früh am nächsten Morgen ging ein kleiner, unbedeutend aussehender Mann an Bord des Atlantikdampfers Volucria. Oben am Laufsteg rempelten ihn zwei Männer an. Der jüngere der beiden, der einen kleinen Koffer trug, drehte sich um und entschuldigte sich, wobei es wie ein Erkennen über seine Züge huschte. »Nanu, wenn das nicht Mr. Storey ist!« rief er laut aus. »Wohin geht’s denn? Ich habe Sie ewig lange nicht mehr gesehen.« »Leider«, sagte Philip Storey, »habe ich nicht das Vergnügen –«
»Ach, tun Sie doch nicht so«, erwiderte der andere lachend. »Ich würde Ihre Narbe überall erkennen. Fahren Sie nach den Staaten?« »Ja«, gab der andere zu, als er sah, daß das ungestüme Benehmen seines Bekannten Aufmerksamkeit erregte. »Ich bitte Sie um Verzeihung. Sie sind Lord Peter Wimsey, nicht wahr? Ja. Ich reise meiner Frau nach.« »Und wie geht es ihr?« erkundigte sich Wimsey, während er den anderen in die Bar steuerte, wo er sich mit ihm an einen Tisch setzte. »Sie ist bereits schon vorige Woche gefahren, nicht wahr? Ich habe es in der Zeitung gelesen.« »Ja. Sie hat es mir gerade gekabelt, ich möchte nachkommen. Wir – hm – wollen unsere Ferien an – den großen Seen verbringen. Sehr angenehm dort im Sommer.« »So, sie hat Ihnen also gekabelt. Und wir reisen im selben Schiff. Merkwürdig, wie sich das oft so trifft, wie? Ich habe meinen Reisebefehl erst in der letzten Minute bekommen. Bin auf Verbrecherjagd – das ist nämlich mein Steckenpferd.« »Tatsächlich?« Mr. Storey netzte sich die Lippen. »Ja. Dies hier ist Inspektor Parker von Scotland Yard – ein guter Freund von mir. Ja. Sehr unangenehme Sache. Höchst verdrießlich. Koffer, der friedlich im Bahnhof Paddington ruhen sollte, taucht plötzlich in Eaton Socon auf. Hat dort nichts zu suchen, wie?« Er knallte den Koffer so heftig auf den Tisch, daß das Schloß aufsprang. Mit einem Schrei fuhr Storey auf und warf seine Arme über den Koffer, als wolle er den Inhalt verbergen. »Wie sind Sie dazu gekommen?« schrie er. »Eaton Socon? Das – ich habe niemals – « »Es ist meiner«, sagte Wimsey ruhig, als der unglückliche Mann zurücksank, nachdem es ihm zum Bewußtsein
gekommen war, daß er sich verraten hatte. »Etwas Schmuck von meiner Mutter. Was dachten Sie denn?« Inspektor Parker berührte den kleinen Mann leise an der Schulter. »Die Frage brauchen Sie nicht zu beantworten«, sagte er. »Ich verhafte Sie, Philip Storey, wegen des Mordes an Ihrer Frau. Alles, was Sie sagen, wird gegen Sie verwandt.«
Das ungelöste Rätsel vom Mann ohne Gesicht
»Und was sagen Sie, Sir«, fragte der dicke Mann, »zu dieser Geschichte hier mit dem Kerl, der am Strande von East Felpham gefunden worden ist?« Die Überfüllung der Züge nach den Feiertagen hatte zur Folge gehabt, daß viele Dritter-Klasse-Passagiere die erste überfluteten, und der dicke Mann war krampfhaft bemüht, so zu tun, als sei er in seiner neuen Umgebung zu Hause. Der jüngere Herr, den er anredete, hatte offenbar den vollen Preis für eine Abgeschiedenheit bezahlt, die er nicht genießen sollte. Er nahm die Sache jedoch von der gutmütigen Seite und erwiderte in höflichem Ton: »Leider habe ich nur die Schlagzeilen gelesen. Er wurde ermordet, nicht wahr?« »Das kann man wohl behaupten«, sagte der dicke Mann mit sichtlichem Wohlbehagen. »Ganz zerstückelt war er – einfach schrecklich.« »Mehr, als ob ein wildes Tier es getan hätte«, mischte sich der hagere, ältere Mann von gegenüber ein. »Überhaupt kein Gesicht hatte er mehr, wie’s in meiner Zeitung steht. Es sollte mich nicht überraschen, wenn es einer von diesen Verrückten war, die herumstrolchen und Kinder abmurksen.« »Ich wollte, du sprächst nicht davon«, sagte seine Frau mit einem Schauder. »Ich liege nachts wach, weil ich immer daran denken muß, was Lizzies Kindern zustoßen mag. Mir wird dann ganz heiß im Kopf, und der Magen rutscht mir bis in die Kniekehlen, so daß ich aufstehen und ein paar Kekse essen muß. Sie sollten so etwas Gräßliches nicht in den Zeitungen abdrucken.«
»Es ist besser, wenn sie es tun, Madame«, meinte der Dicke, »dann sind wir sozusagen gewarnt und können Vorsichtsmaßregeln treffen. Na, so wie ich das verstehe, hat dieser unglückselige Herr für sich allein an einer einsamen Stelle gebadet. Nun, ganz abgesehen von Krämpfen, die jeder von uns kriegen kann, ist das sehr töricht.« »Das ist es ja gerade, was ich meinem Mann immer predige«, fiel die junge Frau ein. Der junge Ehemann runzelte die Stirn und rückte unruhig hin und her. »Mein Lieber, es ist bestimmt gefährlich, und noch dazu, wo du kein starkes Herz hast – «. Ihre Hand tastete unter der Zeitung nach seiner. Er rückte verlegen ab und sagte: »Schon gut, Kitty.« »Meiner Meinung nach liegt die Sache so«, fuhr der Dicke fort. »Der unselige Krieg hat Hunderte von Männern aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie sahen, wie ihre Freunde in die Luft flogen oder zerschossen wurden. Sie sind fünf Jahre durch Schrecken und Blutvergießen gegangen, und das hat ihnen Appetit auf Greuel gemacht. Sie mögen es zunächst vergessen haben und allem äußeren Anschein nach friedlich dahinleben wie jeder andere auch, aber das ist alles gekünstelt, wenn Sie mich recht verstehen. Dann passiert eines Tages etwas, das sie aus der Fassung bringt – vielleicht ein Zank mit der Frau, oder das Wetter ist besonders heiß wie heute – und dann knallt’s in ihrem Gehirn, und sie werden zu rasenden Ungeheuern. Es steht alles in den Büchern. Ich lese ziemlich viel, so am Abend, da ich ein Junggeselle ohne Anhang bin.« »Das trifft alles zu«, äußerte sich ein kleiner, sittsamer Mann, der von seiner Zeitschrift aufblickte, »es ist tatsächlich wahr – leider zu wahr. Aber glauben Sie, daß es sich auf diesen Fall anwenden läßt? Ich habe mich mit der Literatur über das Verbrechen eingehend befaßt – ich darf wohl sagen, es ist mein Steckenpferd – und meiner Ansicht nach steckt hier mehr dahinter, als man auf den ersten Blick sieht. Wenn Sie diesen
Mord mit einem der höchst mysteriösen Verbrechen vergleichen, die in den letzten Jahren stattgefunden haben – Verbrechen, die, wohlgemerkt, niemals aufgeklärt worden sind und meiner Meinung nach niemals aufgeklärt werden – was finden Sie dann?« Er brach ab und blickte sich im Kreise um. »Sie finden viele Züge, die auf diesen Fall zutreffen. Besonders werden Sie entdecken, daß das Gesicht – und wohlgemerkt nur das Gesicht – entstellt worden ist, als ob man ein Erkennen verhindern wollte. Als ob man die Persönlichkeit des Opfers auslöschen wollte. Und Sie werden finden, daß trotz der gründlichsten Nachforschungen der Verbrecher niemals entdeckt worden ist. Worauf läßt das nun schließen? Auf Organisation. Organisation. Auf einen ungeheuer mächtigen Einfluß, der hinter den Kulissen am Werk ist. Sogar in dieser Zeitschrift, die ich gerade lese« – er klopfte nachdrucksvoll auf die Seite – »steht ein Bericht – keine erfundene Geschichte, sondern ein den Annalen der Polizei entnommener Bericht – über die Organisation einer dieser Geheimgesellschaften, die Männer, gegen die sie einen Groll haben, auf eine Liste setzen und dann vernichten. Dabei entstellen sie die Gesichter mit dem Kennzeichen der Geheimgesellschaft und verdecken die Spuren des Meuchelmörders so vollständig – ihnen stehen ja Geld und Hilfsmittel zur Verfügung –, daß niemand sie belangen kann.« »Solche Dinge habe ich natürlich auch gelesen«, gab der Dicke zu, »aber ich dachte, das gehörte ins Mittelalter. So etwas gab es einmal in Italien. Eine Gomorrha oder so ähnlich. Existiert das heutzutage noch?« »Sie haben ein wahres Wort gesprochen, Sir, als Sie Italien erwähnten«, erwiderte der sittsame Mann. »Der italienische Geist ist für Intrige wie geschaffen. Und wenn man etwas tiefer in das Land eindränge, würde man erstaunt sein über die zahllosen Geheimgesellschaften, von denen es dort wimmelt.
Geben Sie mir da nicht recht, Sir?« fügte er hinzu, in dem er sich an den Reisenden erster Klasse wandte. »Ach ja«, meinte der Dicke, »dieser Herr ist gewiß in Italien gewesen und weiß darüber Bescheid. Würden Sie diesen Mord für das Werk einer Gomorrha halten, Sir?« »Das hoffe ich nicht«, erwiderte der Angesprochene. »Ich meine, das würde das Interesse zerstören, nicht wahr? Ich selbst ziehe einen netten, ruhigen, einheimischen Mord vor, wo der Millionär tot in der Bibliothek aufgefunden wird. Wenn ich einen Detektivroman aufschlage und einen Anhänger der Camorra darin finde, versiegt bei mir das Interesse sofort und verwandelt sich in Staub und Asche – eine Art von Sodom und Camorra sozusagen.« »Darin gebe ich Ihnen recht«, mischte sich der junge Ehemann ein, »sozusagen vom künstlerischen Standpunkt aus. Aber in diesem besonderen Falle spricht, glaube ich, manches für den Standpunkt dieses Herrn.« »Nun«, gab der Reisende erster Klasse zu, »da ich die Einzelheiten nicht gelesen habe – « »Die Einzelheiten sind deutlich genug«, bemerkte der sittsame Mann. »Diese arme Kreatur wurde heute am frühen Morgen tot am Strande von East Felpham aufgefunden, und sein Gesicht war in der gräßlichsten Weise verstümmelt. Er war nur mit einem Badeanzug bekleidet.« »Einen Moment. Wer war es zunächst einmal?« »Man hat ihn noch nicht identifiziert. Seine Kleider sind verschwunden.« »Das sieht mehr nach Raub aus, nicht wahr?« äußerte sich Kitty. »Wenn es sich nur um Raub handelte«, entgegnete der sittsame Mann, »warum ist sein Gesicht dann so verstümmelt worden? Nein, die Kleidung ist entfernt worden, um, wie ich schon sagte, die Identifizierung zu verhindern. Das machen diese Gesellschaften doch immer so.«
»Hat man ihn erstochen?« fragte der Reisende erster Klasse. »Nein«, erwiderte der Dicke, »nicht erstochen. Man hat ihn erwürgt.« »Keine typisch italienische Mordmethode«, bemerkte ersterer. »Da haben Sie recht«, versicherte ihm der Dicke. Der sittsame Mann schien ein wenig zerknirscht zu sein. »Und wenn er an die Stelle ging, um zu baden«, ließ sich der hagere, ältliche Mann hören, »wie ist er dahin gelangt? Irgend jemand muß ihn mittlerweile doch vermißt haben, wenn er sich in Felpham aufhielt. Während der Feiertage ist es ein ziemlich besuchter Ort.« »Nein«, widersprach ihm der Dicke, »nicht East Felpham. Sie denken an West Felpham, wo der Yachtklub ist. East Felpham ist einer der einsamsten Orte an der Küste. Es steht kein Haus in der Nähe außer einem kleinen Gasthof, der ganz für sich allein am Ende einer langen Straße liegt, und danach muß man noch durch drei Felder gehen, ehe man an die See kommt. Es führt keine richtige Straße dahin, nur ein Karrenweg, aber man kann zur Not mit einem Auto darauf fahren. Ich bin einmal dort gewesen.« »Er ist mit einem Auto gekommen«, sagte der sittsame Mann. »Man hat die Wagenspuren entdeckt. Aber das Auto ist wieder fortgefahren.« »Es sieht so aus, als ob die beiden Männer zusammen dorthin gefahren sind«, meinte Kitty. »Das glaube ich auch«, pflichtete ihr der sittsame Mann bei. »Das Opfer ist wahrscheinlich gefesselt und geknebelt an die Stelle gefahren worden, dann herausgetragen und erwürgt und –« »Aber warum sollten sie sich die Mühe gemacht haben, ihm einen Badeanzug anzuziehen«, wandte der Reisende erster Klasse ein.
»Weil«, erwiderte der sittsame Mann, »wie ich schon sagte, sie keine Kleidung zurücklassen wollten, die seine Identität verraten könnte.« »Ganz recht; aber warum haben sie ihn nicht einfach nackt dort liegen lassen. Ein Badeanzug scheint unter den Umständen auf eine reichlich übertriebene Rücksicht auf das Dekorum zu deuten.« »Ja, ja«, warf der Dicke ein, »sie haben aber die Zeitung nicht sorgfältig gelesen. Die beiden Männer können nicht gemeinsam dorthin gekommen sein. Und warum? Man hat nur die Fußspuren eines Mannes gefunden, und die stammten von dem Ermordeten.« Er sah sich triumphierend um. »Nur die Fußspuren eines Mannes, wie?« sagte der Reisende erster Klasse rasch. »Das ist ja interessant. Wissen Sie das bestimmt?« »So steht’s in der Zeitung. Die Fußspuren eines Mannes, heißt’s da, die von nackten Füßen herrühren und sich durch sorgfältigen Vergleich als die des Ermordeten erwiesen haben, führen vom Standort des Autos bis zur Stelle, wo der Leichnam gefunden wurde. Was sagen Sie dazu?« »Na«, entgegnete der Angeredete, »das verrät einem eine ganze Menge. Man sieht den Platz sozusagen aus der Vogelschau. Auch erfährt man die Zeit des Mordes. Außerdem wirft es ziemlich viel Licht auf den Charakter und die Verhältnisse des Mörders – oder der Mörder.« »Wie können Sie das alles aus den paar Angaben herauslesen, Sir?« wollte der ältere Mann wissen. »Zunächst einmal gibt es dort – ich bin zwar selbst noch nie in der Gegend gewesen – offenbar einen Sandstrand.« »Richtig«, bestätigte der Dicke.
»Ferner ragt in der Nähe der Ausläufer eines Felsens weit in die See hinaus, von dem aus man ins Wasser springen und baden kann, ehe die Flut an die Küste kommt.« »Ich weiß nicht, wie Sie das erraten können, Sir, aber es stimmt. Ungefähr hundert Meter weiter weg gibt es solche Felsen und tiefes Wasser, genau wie Sie es beschreiben. Manches Mal bin ich dort hinuntergesprungen.« »Und die Felsen setzen sich nach dem Binnenland zu fort, wo sie mit kurzem Gras bedeckt sind.« »Stimmt.« »Der Mord fand, wie ich annehme, kurz vor der Flut statt, und die Leiche lag so ziemlich an der Hochwassergrenze.« »Warum das?« »Na, Sie sagten doch, daß Fußspuren bis zur Leiche führten. Das bedeutet, daß das Wasser nicht bis über die Leiche hinaus vorgedrungen ist. Aber andere Spuren waren nicht vorhanden. Daher müssen die Fußspuren des Mörders von der Flut ausgelöscht worden sein. Das Ganze läßt sich nur so erklären, daß die beiden Männer innerhalb der Hochwassergrenze zusammenstanden. Der Mörder kam aus der See. Er griff den anderen an – drängte ihn vielleicht ein wenig in seinen eigenen Spuren zurück – und tötete ihn. Dann kam das Wasser heran und wusch eventuelle Spuren des Mörders hinweg. Man kann sich richtig vorstellen, wie er da kauerte und sich fragte, ob die See wohl weit genug vordringen würde.« »Hu!« rief Kitty, »ich bekomme eine regelrechte Gänsehaut.« »Nun zur Entstellung des Gesichts«, fuhr der Reisende erster Klasse fort. »Der Mörder war nach meiner Ansicht schon im Wasser, als das Opfer ankam. Sehen Sie, was ich meine?« »Ich verstehe schon«, sagte der Dicke. »Sie nehmen an, er ist von dem Felsen ins Meer gesprungen und aus dem Wasser an den Strand gekommen. Daher keine Fußspuren.«
»Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Und da das Wasser bei diesen Felsen, wie Sie sagen, tief ist, war er vermutlich auch im Badeanzug.« »Höchstwahrscheinlich.« »Ganz recht. Nun fragt man sich: womit ist das Gesicht verstümmelt worden? Man nimmt gewöhnlich kein Messer mit, wenn man morgens in die Fluten steigt.« »Das ist allerdings ein Rätsel«, bemerkte der Dicke. »Nicht unbedingt. Sagen wir einmal, der Mörder hatte entweder ein Messer bei sich oder nicht. Wenn er eins – « »Wenn er eins bei sich hatte«, ergänzte der sittsame Mann eifrig, »muß er vorsätzlich auf den Ermordeten gewartet haben. Und meiner Ansicht nach bestätigt das wieder meine Theorie von einem groß angelegten, listigen Komplott.« »Ja. Aber wenn er dort mit dem Messer wartet, warum hat er den Mann nicht einfach erstochen? Warum hat er ihn erwürgt, wenn er eine tadellose Waffe zur Hand hatte? Nein – ich glaube, er kam unbewaffnet, und als er seinen Feind dort sah, ging er auf typisch britische Art mit Fäusten auf ihn los.« »Aber die Verstümmelung?« »Ich denke, als er den Mann tot vor sich im Sande liegen sah, packte ihn eine furchtbare Wut, und er wollte noch mehr Schaden anrichten. Er griff nach dem ersten besten Gegenstand, der in der Nähe lag – vielleicht ein Stück altes Eisen oder eine scharfe Muschel oder etwas Glas – und fiel in einer maßlosen Anwandlung von Eifersucht oder Haß über ihn her.« »Schrecklich, schrecklich!« stöhnte die ältere Frau. »Natürlich kann man nur im dunkeln tappen, wenn man die Wunden nicht gesehen hat. Es ist durchaus möglich, daß dem Mörder während des Kampfes das Messer entfallen ist und er sich gezwungen sah, ihn mit den Händen zu erwürgen, und daß er das Messer nachher aufgehoben hat. Wenn es glatte
Messerwunden waren, hat sich die Sache wahrscheinlich so verhalten, und es handelte sich um einen geplanten Mord. Wenn es aber schartige, zerfetzte Wunden waren, hervorgerufen durch eine improvisierte Waffe, dann handelte es sich wohl um eine zufällige Begegnung, und der Mörder war entweder verrückt oder – « »Oder?« »Oder er war plötzlich auf jemanden gestoßen, den er sehr haßte.« »Wie ist es dann wohl weitergegangen?« »Das ist kein Geheimnis. Nachdem der Mörder gewartet hatte, bis alle seine Fußspuren vom Wasser ausgelöscht waren, ist er zum Felsen, wo er seine Kleidung gelassen hatte, zurückgewatet oder geschwommen und hat die Waffe mit sich genommen. Das Meer wusch alle Blutspuren von seinem Badeanzug und seinem Körper. Er kletterte dann wieder auf den Felsen und ging barfuß bis zu dem kurzen Gras an der Küste, wo er sich anzog. Zuletzt setzte er sich in den Wagen des Ermordeten und fuhr mit diesem fort.« »Warum hat er das bloß getan?« »Ja, warum? Vielleicht hatte er es eilig, irgendwohin zu kommen. Oder er fürchtete, wenn der Ermordete zu früh identifiziert würde, daß dann der Verdacht auf ihn falle. Oder es mögen noch andere Motive mitgespielt haben. Der springende Punkt ist: woher kam er? Wie kam er dazu, an dieser entlegenen Stelle so früh am Morgen zu baden? Offenbar ist er nicht mit einem Auto hingefahren. Er mag in der Nähe gezeltet haben. Es hätte aber wohl ziemlich lange gedauert, bis er das Zelt abgebaut und all seinen Kram ins Auto gepackt haben würde, und dabei hätte er gesehen werden können. Ich neige mehr zu der Ansicht, daß er an die Stelle geradelt ist und das Rad dann hinten ins Auto geladen hat.«
»Wenn das so ist, warum hat er dann überhaupt den Wagen genommen?« »Weil er sich in East Felpham länger aufgehalten hatte als vorgesehen und fürchtete, zu spät zu kommen. Entweder mußte er in einem Hause, wo seine Abwesenheit auffallen würde, zum Frühstück zurück sein, oder er wohnte ziemlich weit entfernt und hatte gerade nur noch Zeit genug für die Heimfahrt. Ich glaube aber, er mußte zum Frühstück zurück sein.« »Warum?« »Wenn er bloß Zeit auf der Landstraße gewinnen wollte, brauchte er ja nur sich und sein Rad in einen Zug zu packen. Nein, ich glaube, er wohnte irgendwo in einem kleinen Hotel. Es kann nicht groß gewesen sein, sonst wäre seine Abwesenheit nicht aufgefallen. Wahrscheinlich hat er auch nicht in einer Pension oder einem möblierten Zimmer gewohnt, sonst hätte bestimmt schon jemand erwähnt, daß sie einen Gast gehabt hätten, der in East Felpham zum Schwimmen ging. Entweder wohnt er in der Nähe – und in dem Falle müßte er leicht zu finden sein – oder er hielt sich bei Freunden auf, die daran interessiert sind, ihn zu schützen. Oder aber – und das halte ich für wahrscheinlicher – er lebte in einem kleinen Hotel, wo er am Frühstückstisch vermißt werden würde, wo man jedoch nicht wußte, welches sein beliebtester Badeplatz war.« »Das erscheint durchaus möglich«, gab der Dicke zu. »Auf jeden Fall«, fuhr der Reisende erster Klasse fort, »muß er an einem Ort gewohnt haben, von dem aus East Felpham leicht per Rad zu erreichen ist. Also dürfte es nicht so schwer sein, ihm auf die Spur zu kommen. Außerdem wird ihn das Auto verraten.«
»Ja. Wo ist nach Ihrer Theorie das Auto?« wollte der sittsame Mann wissen, der offenbar nicht gern seine Camorra-Theorie aufgeben wollte. »Bis auf Abruf in einer Garage«, lautete die prompte Antwort des Reisenden erster Klasse. »Ja, aber wo?« beharrte der sittsame Mann. »Oh! Irgendwo in entgegengesetzter Richtung vom Standquartier des Mörders. Ich würde den Wagen in West Felpham suchen und das Hotel in der nächsten Stadt an der Hauptstraße, etwas weiter als der Schnittpunkt der beiden Straßen nach East und. West Felpham. Sobald man den Wagen gefunden hat, weiß man auch den Namen des Opfers. Und was den Mörder angeht, so muß man Ausschau halten nach einem rüstigen Manne, der ein guter Schwimmer und ein begeisterter Radfahrer ist – wahrscheinlich nicht sehr wohlhabend, da er sich kein Auto leisten kann – der sich als Feriengast in der Nähe der beiden Felphams aufgehalten und einen guten Grund hat, das Opfer zu hassen.« »Nein, so was!« rief die ältere Frau bewundernd. »Wie schön Sie das hingekriegt haben. Wie Sherlock Holmes, ganz gewiß.« »Es ist ja eine sehr hübsche Theorie«, meinte der sittsame Mann. »Aber trotzdem werden Sie finden, daß es eine Geheimgesellschaft ist. Denken Sie an meine Worte. Meine Güte! Da sind wir schon. Nur zwanzig Minuten Verspätung. Das nenne ich ziemlich pünktlich für einen Feiertag. Entschuldigen Sie, bitte, aber mein Koffer ist gerade unter ihren Füßen.« Es war noch eine achte Person im Abteil, die während der ganzen Unterhaltung anscheinend in eine Zeitung vertieft war. Als die übrigen Reisenden sich auf den Bahnsteig ergossen, legte er eine Hand auf den Arm des Reisenden erster Klasse. »Verzeihung, Sir«, sagte er. »Das war eine sehr interessante Idee von Ihnen. Mein Name ist Winterbottom, und ich untersuche diesen Fall. Würden Sie mir vielleicht Ihren
Namen nennen. Es könnte sein, daß ich mich später einmal mit Ihnen in Verbindung setzen möchte.« »Gewiß«, erwiderte der Reisende erster Klasse. »Es ist mir stets ein Vergnügen, meine Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken. Hier ist meine Karte. Sie können mich aufsuchen, wann Sie wollen.« Detektiv-Inspektor Winterbottom nahm die Karte und las darauf: Lord Peter Wimsey, 110 A Piccadilly.
Der Verkäufer der Abendnachrichten bei der Untergrundstation Piccadilly arrangierte sein Plakat mit einiger Sorgfalt. Es machte sich sehr gut, wie er dachte. Mann ohne Gesicht identifiziert Für seine Begriffe war es bedeutend auffallender als das von der Konkurrenz ausgehängte Plakat, das ohne viel Phantasie ankündigte: Mord am Strand
Opfer identifiziert
Ein jüngerer Herr im grauen Anzug, der in diesem Moment aus der »Criterion Bar« auftauchte, schien derselben Ansicht zu sein; denn er tauschte eine Kupfermünze gegen die Abendnachrichten ein und versenkte sich sofort darin. Er war derart gefesselt, daß er vor dem Bahnhof einen eiligen Mann anrannte und sich entschuldigen mußte. Die Abendnachrichten, die dem Mörder wie dem Opfer dankbar waren, daß sie in der toten Zeit nach den Feiertagen für eine so nützliche Sensation sorgten, hatten ihr den besten Platz in der Zeitung eingeräumt:
Gesichtsloses Opfer des Strandverbrechens identifiziert Mord an einem prominenten Reklamekünstler Anhaltspunkte der Polizei »Die Leiche eines Mannes in mittleren Jahren, der, nur mit einem Badeanzug bekleidet und mit einem durch ein schartiges Instrument gräßlich verstümmelten Gesicht, Montag morgen am Strande von East Felpham aufgefunden wurde, ist jetzt identifiziert worden. Es handelt sich um Mr. Coreggio Plant, Leiter des Ateliers der Firma Crichton Ltd. den weitberühmten Reklameexperten von Holborn. Mr. Plant, der fünfundvierzig Jahre alt und unverheiratet war, verbrachte seine jährlichen Ferien auf einer Autotour an der Westküste entlang. Er hatte keinen Gefährten bei sich und auch keine Adresse hinterlassen, so daß ohne die schneidige Arbeit von Inspektor Winterbottom von der Westshire Polizei sein Verschwinden normalerweise erst bemerkt worden wäre, wenn er nach drei Wochen wieder an seiner Arbeitsstätte hätte erscheinen müssen. Der Mörder hatte zweifellos hiermit gerechnet und das Auto mit den Sachen des Opfers entfernt, um alle Spuren dieses feigen Verbrechens zu verbergen und so Zeit für die Flucht zu gewinnen. Durch eine rigorose Suche wurde jedoch der fehlende Wagen letzten Endes in einer Garage in West Felpham entdeckt, wo er zurückgelassen war zur Entrußung und für Reparaturen am Magneten. Der Garagenbesitzer, Mr. Spiller, hat selbst den Mann gesehen, der den Wagen gebracht hat, und konnte der
Polizei eine Beschreibung liefern. Es soll ein kleiner dunkler Mann sein – ein ausländischer Typ. Die Polizei besitzt Anhaltspunkte für seine Identität, und eine baldige Verhaftung wird mit Sicherheit erwartet. Mr. Plant war fünfzehn Jahre bei der Firma Crichton beschäftigt und wurde in den letzten Kriegsjahren zum Atelierleiter ernannt. Er war bei seinen Kollegen sehr beliebt, und seine Geschicklichkeit beim Entwurf von Reklamen hat viel dazu beigetragen, die Wahrheit des weitbekannten Schlagwortes der Firma Crichton zu bestätigen: ›Crichtons Reklamen sind unübertroffen‹. Die Beisetzung des Opfers findet morgen auf dem Friedhof von Golders Green statt. (Siehe auch die Bilder auf der letzten Seite).« Lord Peter warf einen Blick auf die letzte Seite. Bei der Fotografie des Opfers hielt er sich nicht lange auf. Es war eines jener charakterlosen Atelierbilder, die nichts besagen, als daß der Sitzende ein leidliches Sortiment von Gesichtszügen besitzt. Er sah, daß Mr. Plant ziemlich dünn gewesen war, in seinem Aussehen eher einem Kaufmann als einem Künstler glich, und daß der Fotograf es vorgezogen hatte, eine ernste Aufnahme von ihm zu machen. Ein Bild vom Strand in East Felpham, auf dem die Stelle, wo die Leiche gefunden wurde, mit einem Kreuz bezeichnet worden war, schien ein mehr als oberflächliches Interesse in ihm zu wecken. Er studierte es eine geraume Zeit sehr sorgfältig, wobei er hin und wieder Laute der Überraschung ausstieß. Es war eigentlich kein offensichtlicher Grund für Überraschung vorhanden; denn das Bild bestätigte in allen Einzelheiten die Schlüsse, die er auf der Fahrt gezogen hatte. Da war die Kurve des Sandstrandes mit dem langen Felsausläufer im Hintergrund, der bis ins tiefe Wasser hinaus ragte und auf dem Festland mit kurzem, dichtem Rasen bedeckt war. Dennoch betrachtete er es
minutenlang mit gespannter Aufmerksamkeit. Dann faltete er die Zeitung zusammen und winkte ein Taxi herbei. Sobald er in dem Taxi saß, schlug er die Zeitung wieder auf und betrachtete das Bild noch einmal.
»Ihre Lordschaft waren ja so freundlich«, sagte Inspektor Winterbottom, der sein Glas eigentlich zu rasch geleert hatte, um den Inhalt gebührend genießen zu können, »und luden mich ein, Sie in London aufzusuchen. Da habe ich mir gestattet, im Vorübergehen bei Ihnen vorzusprechen. Danke vielmals, zu einem solch guten Tropfen sage ich nicht nein. Na, wie Sie ja wohl in der Zeitung lasen, haben wir den Wagen tatsächlich gefunden.« Wimsey brachte seine Befriedigung über dieses Resultat zum Ausdruck. »Und ich bin Ihrer Lordschaft für den Wink äußerst dankbar«, fuhr der Inspektor großmütig fort. »Ich will ja nicht sagen, daß ich nicht auch zu demselben Schluß gekommen wäre, wenn ich etwas mehr Zeit gehabt hätte. Außerdem sind wir dem Mann auf der Spur.« »Wie ich gelesen habe, soll er etwas Fremdländisches an sich haben. Sagen Sie nur nicht, daß er doch ein Camorrist ist!« »Nein, Mylord.« Der Inspektor blinzelte ihm zu. »Unserem Freund in der Ecke spukten die Zeitschriftengeschichten ein wenig im Kopf herum. Und Sie, Mylord, waren mit Ihrer Radfahrertheorie auch etwas auf dem Holzwege.« »Wirklich? Das ist aber ein Schlag für mich.« »Nun, Mylord, solche Theorien hören sich ganz gut an, aber meistens sind sie zu fein gesponnen. Halten Sie sich an die Tatsachen – das ist unser Motto bei der Truppe – Tatsachen und Motiv, da kann man nicht viel verkehrt machen.« »Oho! Dann haben Sie also bereits das Motiv entdeckt, wie?« Der Inspektor kniff wieder ein Auge zu.
»Für den Mord an einem Manne gibt es nicht viele Motive«, antwortete er. »Frauen oder Geld – oder Frauen und Geld – meistens ist es das eine oder das andere. Dieser Plant spielte ein bißchen den Lebemann. Unterhielt ein kleines Häuschen in der Nähe von Felpham mit einem netten kleinen Frauenzimmer darin, das dieses Liebesnest für ihn warm hielt. Sehen Sie?« »Ach! Ich dachte, er sei auf einer Autotour.« »Autotour – so sehen Sie aus!« sagte der Inspektor nicht sehr höflich, aber energisch. »Das hat der alte Lüstling den Leuten im Büro erzählt. Ein wunderbarer Grund, wenn man keine Adresse hinterlassen will. Nein, nein. Es war schon einer Dame wegen. Ich habe sie selbst gesehen. Eine sehr attraktive Person, wenn man Haut und Knochen liebt, was ich nicht tue. Ich schwärme mehr für die etwas besser Gepolsterten.« »Der Sessel ist wirklich bequemer, wenn Sie sich ein Kissen hinter den Rücken stecken«, warf Wimsey mit ängstlicher Besorgnis dazwischen. »Gestatten Sie.« »Vielen Dank, Mylord, vielen Dank. Ich sitze sehr bequem. Es scheint, als ob diese Frau – nebenbei bemerkt erzähle ich Ihnen dieses im tiefsten Vertrauen. Ich möchte nicht, daß etwas durchsickert, ehe ich den Mann hinter Schloß und Riegel habe.« Wimsey gelobte Diskretion. »Schon gut, Mylord, schon gut. Ich weiß, ich kann mich auf Sie verlassen. Nun, die Quintessenz ist, daß diese junge Frau noch einen Kavalier hatte – einen Italiano, den sie sitzen ließ, als sie Plant kennenlernte. Dieser Makkaronischlinger hat Lunte gerochen und kam am Sonntag abend nach East Felpham, um sie aufzusuchen. Er ist einer der Eintänzer in einem Tanzpalast in Cricklewood, und das Mädchen stammt auch daher. Sie dachte wohl, Plant sei etwas Besseres. Jedenfalls kam er herüber und platzte Sonntag abend bei ihnen herein, als sie gerade zu Abend aßen – dann fing der Krach an.«
»Wußten Sie denn nichts von dem Häuschen und von dem, was sich darin abspielte?« »Wissen Sie, es gibt heutzutage so viele, die Wochenendhäuser haben. Wir können sie unmöglich alle unter Beobachtung halten, solange sie sich anständig aufführen und kein öffentliches Ärgernis erregen. Wie man mir sagt, ist die Frau seit Juni dort, und er kommt immer von Sonnabend bis Montag. Aber es ist ein einsamer Fleck, und der Schutzmann hat nicht sonderlich darauf geachtet. Plant kam immer abends an, da hat ihn keiner so recht gesehen außer der alten Putzfrau, und die ist halb blind. Und als sie ihn fanden, hatte er kein Gesicht mehr, das man erkennen konnte. Man hat bestimmt angenommen, daß er wie üblich abgefahren sei. Damit hat der Makkaroni-Jüngling wohl gerechnet. Wie ich schon erwähnte, gab’s einen tollen Krach, und der Italiener wurde ‘rausgeschmissen. Er muß Plant an der Badestelle aufgelauert und ihn dann umgebracht haben.« »Durch Erwürgen?« »Er wurde erwürgt.« »War sein Gesicht denn mit einem Messer zerschnitten?« »Nein – ich glaube nicht, daß es ein Messer war. Es sah eher nach einer zerbrochenen Flasche aus. Mit der Flut werden viele solcher Flaschen angeschwemmt.« »Aber dann sind wir ja wieder bei unserem alten Problem angelangt. Wenn dieser Italiener Plant aufgelauert hat, um ihn zu ermorden, warum hatte er sich keine Waffe mitgebracht und sich statt dessen auf seine Hände und die zerbrochene Flasche verlassen?« Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Flüchtig«, erwiderte er. »Alle diese Ausländer sind flüchtig. Keinen Verstand. Aber wir haben den Mann, und wir haben das Motiv. Das ist doch sonnenklar. Mehr braucht man nicht.« »Und wo ist der italienische Bursche jetzt?«
»Weggelaufen. Das ist an sich schon ein guter Beweis für seine Schuld. Aber wir werden ihn bald kriegen. Deshalb bin ich nach London gekommen. Er kann nicht außer Landes gehen. Ich habe einen Steckbrief erlassen. Die Leute von der Tanzhalle gaben uns eine Fotografie und eine gute Beschreibung. Ich erwarte jede Minute einen Bericht. Daher muß ich jetzt wohl gehen. Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Gastfreundlichkeit, Mylord.« »Ganz meinerseits«, sagte Wimsey und klingelte nach dem Diener, der den Inspektor hinausbegleiten sollte. »Ich habe viel Freude an unserer kleinen Unterhaltung gehabt.«
Als Wimsey am nächsten Tag um zwölf Uhr in den »Falstaff« schlenderte, fand er dort, wie er erwartet hatte, Salcombe Hardy, der seine rundliche Gestalt gegen die Bar lehnte. Der Berichterstatter begrüßte seine Ankunft mit ungewöhnlicher, geradezu überschäumender Herzlichkeit und bestellte sofort zwei große Whiskys. Sobald das übliche Geplänkel wegen der Bezahlung ehrenhaft beigelegt war, indem man die Gläser prompt austrank und zwei andere spendierte, zog Wimsey die letzte Nachtausgabe der Abendnachrichten aus der Tasche. »Könnten Sie nicht bei Ihrer Zeitung für mich einen anständigen Abzug dieser Aufnahme beschaffen?« fragte er und deutete auf das Bild vom Strand bei East Felpham. Salcombe Hardy blickte ihn mit fragenden Augen an, die wie ertrunkene Veilchen aussahen. »Hören Sie mal, Sie alter Spürhund«, sagte er, »soll das etwa heißen, daß Sie eine Theorie haben? Ich muß unbedingt etwas darüber schreiben. Die Polizei ist offenbar seit gestern abend nicht weitergekommen.« »Nein; ich bin von einem gänzlich anderen Gesichtspunkt aus daran interessiert. Ich hatte eine Theorie – wenn man’s so
nennen kann – aber sie scheint ganz verkehrt zu sein. Nun, das kann vorkommen. Aber ich möchte gern einen Abzug haben.« »Ich werde Warren einen abluchsen, wenn wir zurückkommen. Wir wollen nämlich zusammen zu Crichton gehen, um uns ein Bild anzusehen. Sagen Sie, wie wär’s, wenn Sie mitkämen. Dann könnten Sie mir verraten, was ich über das verdammte Ding schreiben soll.« »Mein Gott! Ich verstehe nichts von gewerbsmäßiger Kunst.« »Es handelt sich nicht um gewerbsmäßige Kunst, sondern um ein Porträt dieses Tropfes, Plant. Gemalt von einem Burschen in seinem Atelier. Das Mädchen, das mir davon erzählte, behauptet, es sei geistreich. Ich verstehe nichts davon; sie wahrscheinlich auch nicht. Aber Sie sind doch künstlerisch veranlagt, nicht wahr?« »Ich wollte, Sie bedienten sich nicht solcher Gemeinplätze, Sally. Künstlerisch veranlagt! Wer ist dieses Mädchen?« »Eine Stenotypistin in der Abteilung, wo die Reklametexte angefertigt werden.« »Aber Sally!« »Nichts dergleichen. Ich habe sie nie zu sehen bekommen. Sie heißt Gladys Twitterton. Der Name ist gräßlich genug, um jeden abzustoßen. Sie telefonierte gestern abend und erzählte uns, daß dort jemand sei, der den alten Plant in Öl gemalt habe, und ob es von Interesse für uns sei. Drummer war der Ansicht, daß es sich wohl lohne, das Ding anzusehen. Mal was anderes wie diese ewige Fotografie, die durch alle Zeitungen geht.« »Ach so. Wenn man keinen exklusiven Bericht hat, ist ein exklusives Bild besser als gar nichts. Das Mädchen scheint auf dem Quivive zu sein. Freundin des Künstlers?« »Nein – behauptete, er würde wahrscheinlich sehr verärgert darüber sein, daß sie es mir gesagt habe. Aber damit werde ich schon fertig. Ich möchte nur, daß Sie mitkämen und es sich ansähen. Und mir einen Wink gäben, ob ich es als Werk eines
unbekannten Meisters oder nur als ein gut gelungenes Ebenbild deklarieren soll.« »Zum Kuckuck nochmal, wie kann ich sagen, ob es ein gut gelungenes Ebenbild ist, wenn ich den Kerl nie gesehen habe?« »Das werde ich auf jeden Fall behaupten. Aber ich will wissen, ob es gut gemalt ist.« »Verdammt noch mal, Sally, was hat es schon zu sagen, ob es gut gemalt ist oder nicht? Ich habe anderes zu tun. Wer ist denn der Künstler? Hat man von ihm schon etwas gehört?« »Weiß nicht. Den Namen habe ich hier irgendwo.« Sally wühlte in seiner Hüfttasche und fischte eine Menge schmutziger und stark mitgenommener Briefe heraus. »Irgend so ein komischer Name war Buggle oder Snagtooth – warten Sie mal – hier haben wir ihn ja. Crowder. Thomas Crowder. Ich wußte, daß es kein gewöhnlicher Name war.« »Sehr viel Ähnlichkeit mit Buggle oder Snagtooth. Na schön, Sally. Ich will den Märtyrer spielen. Führen Sie mich zum Opferplatz.« »Wir wollen schnell noch einen heben. Hier ist Warren. Dies ist Lord Peter Wimsey. Diesen spendiere ich.« »Nein, ich«, korrigierte der Fotograf, ein abgekämpfter junger Mann, der nicht viele Illusionen gerettet zu haben schien. »Drei große White Labels, bitte. Na, zum Wohl! Bist du fertig, Sally? Dann machen wir uns besser auf. Ich muß nämlich um zwei Uhr zur Beerdigung in Golders Green sein.« Mr. Crowder von der Firma Crichton schien durch Miss Twitterton schon auf den Besuch vorbereitet zu sein; denn er empfing die Abgesandten mit finsterer Resignation. »Die Direktoren werden nicht begeistert sein«, meinte er, »aber sie haben schon so viel über sich ergehen lassen müssen, daß eine Unregelmäßigkeit mehr oder weniger sie wahrscheinlich auch nicht umwerfen wird.« Er hatte ein kleines, ängstliches, gelbes
Affengesicht. Wimsey schätzte ihn auf Ende Dreißig. Er bemerkte die schönen, fähigen Hände, von denen eine durch einen Streifen Heftpflaster verunstaltet war. »Haben Sie sich verletzt?« fragte Wimsey liebenswürdig, als sie die Treppe zum Atelier hinaufstiegen. »Das dürfen Sie nicht zur Gewohnheit werden lassen. Die Hände eines Künstlers sind sein Kapital – mit Ausnahme natürlich von armlosen Wundern und solchen Leuten! Anstrengend, mit den Zehen zu malen.« »Oh, es ist nur eine Kleinigkeit«, entgegnete Crowder, »aber es ist besser, wenn man keine Farbe in Schrammen bekommt, sonst kann man sich eine Bleivergiftung zuziehen. Hier ist das verfehlte Porträt. Ich will Ihnen gleich verraten, daß es dem Sitzenden nicht gefallen hat. Er wollte es um keinen Preis haben.« »Nicht schmeichelhaft genug?« fragte Hardy. »Sie haben es erfaßt.« Der Maler zog das etwa ein Meter dreißig lange und ein Meter breite Ölgemälde aus seinem Versteck hinter aufgestapelten Plakatkartons hervor und stellte es auf die Staffelei. »Oh!« rief Hardy ein wenig überrascht. Das Gemälde selbst gab allerdings keinen Grund zur Überraschung. Es war eine ziemlich unkomplizierte Leistung. Die Geschicklichkeit und die Originalität der Pinselführung waren von einer Art, die den Maler interessiert, ohne den Laien zu schockieren. »Oh!« sagte Hardy nochmals. »Sah er wirklich so aus?« Er trat näher an das Gemälde heran und betrachtete es so intensiv, als blicke er in das Gesicht des lebenden Mannes in der Hoffnung, etwas daraus zu lesen. Unter dieser mikroskopischen Betrachtung vermischte sich das Porträt, wie das meistens geschieht, und verwandelte sich in ein Konglomerat gemalter Flecke und Streifen. Er machte die Entdeckung, daß das menschliche Gesicht in den Augen eines Malers aus lauter grünen und purpurnen Flecken besteht.
Hardy trat wieder zurück und änderte seine Fragestellung: »So hat er also ausgesehen, nicht wahr?« Er zog die Fotografie von Plant aus der Tasche und verglich sie mit dem Porträt. Das Porträt schien sich über sein Erstaunen lustig zu machen. »Diese Modefotografen retuschieren die Aufnahmen natürlich«, meinte er. »Aber das geht mich nichts an. Dieses Ding hier ist ein tadelloser Blickfänger. Meinen Sie nicht auch, Wimsey? Ob man uns wohl zwei Spalten Platz auf der ersten Seite gibt? Na, Warren, Sie legen am besten los.« Der von künstlerischen oder journalistischen Erwägungen unbeschwerte Fotograf studierte schweigend das Gemälde, und es wurde für ihn zu einer Angelegenheit von panchromatischen Platten und Farbfiltern. Crowder half ihm, die Staffelei in ein besseres Licht zu rücken. Zwei oder drei Leute aus anderen Abteilungen, die in dienstlicher Eigenschaft durch das Atelier gehen mußten, blieben stehen und schauten eine Weile zu, als handle es sich um einen Straßenunfall. Ein melancholischer, grauhaariger Mann, der anstelle des verblichenen Coreggio Plant vorübergehend Leiter des Ateliers war, nahm mit einer gemurmelten Entschuldigung Crowder beiseite, um ihm ein paar technische Instruktionen zu geben. Hardy wandte sich an Lord Peter. »Es ist verdammt häßlich«, meinte er. »Ist es aber gut?« »Glänzend«, entgegnete Wimsey. »Sie können sich richtig austoben. Können darüber sagen, was Sie wollen.« »Herrlich! Könnten wir nicht einen unserer vernachlässigten britischen Meister entdecken?« »Ja. Warum nicht? Wahrscheinlich werden Sie den Mann zum Salonhelden machen und ihn als Künstler ruinieren, doch das ist seine Angelegenheit.«
»Aber sagen Sie einmal – halten Sie es für ein gutes Ebenbild? Er hat ihn äußerst unheimlich dargestellt. Plant hat es ja für so schlecht gehalten, daß er es nicht haben wollte.« »Um so törichter von ihm. Haben Sie je von dem Porträt eines gewissen Staatsmannes gehört, das seine innere Leere so stark zum Ausdruck brachte, daß er es eilig aufgekauft: und versteckt hat, damit Leute wie Sie es nicht in die Finger bekommen sollten?« Crowder kehrte zurück. »Sagen Sie«, fragte Wimsey, »wem gehört das Bild eigentlich? Ihnen? Oder den Erben des Verstorbenen oder wem?« »Ich bleibe wohl damit sitzen«, erwiderte der Maler. »Plant hat mir mehr oder weniger den Auftrag dazu gegeben, aber – « »Was heißt das: mehr oder weniger?« »Er hat mir dauernd durch die Blume zu verstehen gegeben, daß er sich gern von mir malen lassen möchte. Und da er mein Vorgesetzter war, hielt ich es für richtiger, darauf zu reagieren. Ein Preis wurde überhaupt nicht erwähnt. Als er es sah, mochte er es nicht leiden und verlangte von mir, daß ich es ändern solle.« »Das haben Sie aber nicht getan.« »Nun ja, ich habe es beiseite gestellt und gesagt, ich wolle sehen, was sich machen ließe. Ich hoffte im stillen, er würde es vergessen.« »Ach so. Dann können Sie ja wohl darüber verfügen.« »Das nehme ich auch an. Warum?« »Sie haben eine sehr individuelle Technik, nicht wahr?« fuhr Wimsey fort. »Stellen Sie viel aus?« »Hie und da. In London allerdings noch nicht.« »Ich glaube, ich habe irgendwo einmal ein paar kleine Seebilder von Ihnen gesehen. Könnte es in Manchester
gewesen sein? Oder in Liverpool? Ich wußte Ihren Namen nicht, aber die Technik habe ich sofort wiedererkannt.« »Das kann wohl sein. Ich habe vor ungefähr zwei Jahren ein paar Sachen nach Manchester geschickt.« »Ja – ich war überzeugt, daß ich mich nicht geirrt hatte. Ich möchte das Porträt kaufen. Hier ist übrigens meine Karte. Ich bin kein Journalist; ich bin Sammler.« Crowder blickte abwechselnd auf die Karte und auf Wimsey und schien zu zaudern. »Wenn Sie es natürlich ausstellen wollen«, sagte Wimsey, »können Sie es selbstverständlich noch so lange behalten, wie Sie wollen.« »Das hat nichts zu sagen«, antwortete Crowder. »Die Sache ist so: ich bin von dem Ding nicht sehr erbaut. Ich möchte es am liebsten – ich wollte sagen, es ist eigentlich noch nicht fertig.« »Lieber Mann, es ist geradezu ein Meisterwerk.« »Oh, das Gemälde an sich ist in Ordnung. Aber als Ebenbild ist es nicht ganz zufriedenstellend.« »Was bedeutet schon die Ähnlichkeit? Ich weiß nicht, wie der verstorbene Plant aussah, und es ist mir auch völlig gleichgültig. In meinen Augen ist es ein verteufelt gutes Gemälde, und wenn Sie daran herummalen, werden Sie es nur verderben. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Was haben Sie denn eigentlich? Es ist doch nicht der Preis, nicht wahr? Um den werde ich nicht feilschen, wissen Sie. Noch kann ich mir meine bescheidenen Genüsse leisten, selbst in diesen mageren Zeiten. Wollen Sie es nicht in meinen Händen wissen? Oder was ist der eigentliche Grund?« »Es liegt überhaupt kein Grund vor, weshalb Sie es nicht haben sollten, wenn Sie es wirklich wünschen«, sagte der Maler immer noch ein wenig mürrisch. »Wenn es wirklich das Gemälde ist, das Sie interessiert.«
»Was sollte es sonst sein? Der Zusammenhang mit einem Verbrechen? Von dem Artikel kann ich so viele haben, wie ich will, wenn’s mich danach verlangt – oder sogar, wenn’s mich nicht danach verlangt. Na, überlegen Sie es sich jedenfalls, und wenn Sie zu einem Schluß gekommen sind, schicken Sie mir ein paar Zeilen und nennen Sie Ihren Preis.« Crowder nickte, ohne zu sprechen, und da der Fotograf inzwischen seine Aufgabe beendet hatte, verabschiedeten sich die Besucher. Beim Verlassen des Gebäudes gerieten sie in den Strom der Angestellten der Firma Crichton, die zum Lunch gingen. Ein Mädchen, das halb absichtlich in der unteren Halle herumgetrödelt zu haben schien, faßte sie ab, als der Fahrstuhl herunterkam. »Sind Sie die Leute von den Abendnachrichten? Haben Sie Ihre Aufnahme gemacht?« »Miss Twitterton?« fragte Hardy. »Ja, sicher – tausend Dank für den Tip. Sie werden das Bild heute abend auf der ersten Seite sehen.« »Oh, das ist ja wunderbar! Ich bin ganz aufgeregt. Sie verursachte große Aufregung hier – die ganze Geschichte. Weiß man schon, wer Mr. Plant ermordet hat? Oder bin ich schrecklich indiskret?« »Wer erwarten jeden Augenblick Nachricht von einer Verhaftung«, erwiderte Hardy. »Ich muß daher im Eilmarsch zum Büro zurück, um den Anruf nicht zu verpassen. Sie entschuldigen mich wohl, nicht wahr? Und darf ich an einem anderen Tag, wenn wir es nicht so eilig haben, einmal vorbeikommen und Sie zum Lunch einladen?« »Natürlich. Das würde mich riesig freuen.« Miss Twitterton kicherte. »Ich möchte gern etwas über diese Mordfälle hören.« »Hier ist der Mann, der Ihren Wunsch erfüllen kann, Miss Twitterton«, sagte Hardy mit einem boshaften Zwinkern. »Gestatten Sie mir, Ihnen Lord Peter Wimsey vorzustellen.«
Miss Twitterton reichte ihm die Hand in erregter Ekstase, die ihr fast die Stimme verschlug. »Guten Tag«, sagte Wimsey. »Da dieser Bursche es so eilig hat, zu seinem Klatschladen zurückzukommen, wie wär’s, wenn Sie einen kleinen Happen mit mir essen würden?« »Ich weiß nicht – « begann Miss Twitterton. »Das können Sie ruhig machen«, versicherte ihr Hardy, »er wird Sie nicht in goldene Lasterhöhlen locken. Wenn Sie ihn ansehen, werden Sie entdecken, daß er ein freundliches, unschuldiges Gesicht hat.« »An so etwas habe ich überhaupt nicht gedacht«, beteuerte Miss Twitterton. »Aber ich weiß nicht so recht – ich habe nur meine alten Sachen an. Es hat keinen Zweck, etwas Anständiges in diesen staubigen alten Räumen zu tragen.« »Ach, Unsinn!« erklärte Wimsey. »Sie könnten überhaupt nicht netter aussehen. Auf das Kleid kommt’s nicht an – sondern auf die Person, die es trägt. Das ist also ganz in Ordnung. Auf Wiedersehen, Sally! Taxi! Wohin sollen wir gehen? Wann müssen Sie übrigens zurück sein?« »Zwei Uhr«, entgegnete Miss Twitterton voller Bedauern. »Dann müssen wir mit dem Savoy vorliebnehmen. Es ist nicht zu weit.« Miss Twitterton hüpfte mit einem kleinen Schrei der Erregung in das wartende Taxi. »Haben Sie Mr. Crichton gesehen?« fragte sie. »Er kam gerade vorbei, als wir da standen und redeten. Er kennt mich wahrscheinlich nicht von Ansehen. Ich hoffe es jedenfalls nicht – sonst denkt er womöglich, ich sei zu großspurig und hätte kein Gehalt mehr nötig.« Sie wühlte in ihrer Handtasche. »Mein Gesicht glänzt sicher vor lauter Aufregung. Was für ein lächerliches Taxi, hat noch nicht einmal einen Spiegel – und ich habe meinen zerbrochen.«
Wimsey holte mit ernster Miene einen kleinen Spiegel aus der Tasche. »Wie tüchtig von Ihnen«, rief Miss Twitterton. »Ich fürchte, Lord Peter, Sie gehen wohl recht häufig mit Mädchen aus.« »So hin und wieder«, schmunzelte Wimsey. Er hielt es nicht für notwendig, zu erwähnen, daß er den Spiegel zum letztenmal gebraucht hatte, um die Backenzähne eines ermordeten Mannes zu prüfen. »Natürlich«, erzählte Miss Twitterton, »mußten sie ja sagen, daß er bei seinen Kollegen beliebt gewesen sei. Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen, daß Ermordete immer gut gekleidet und beliebt waren?« »Das muß schon so sein«, meinte Wimsey. »Das macht die Geschichte geheimnisvoller und rührender. Genauso wie Mädchen, die verschwinden, immer heiter und häuslich waren und nichts mit Männern zu tun hatten.« »Blöde, nicht wahr?« sagte Miss Twitterton mit einem Mund voll Entenbraten und grüner Erbsen. »Man sollte meinen, alle wären froh, Plant loszusein – ekelhafte, grobe Kreatur. Und so gemein, wie er war, immer steckte er die Anerkennung für die Arbeit anderer ein. Alle diese armen Wesen im Atelier, die sich nicht zu mucksen wagten. Ich sage immer, Lord Peter, man kann sofort spüren, ob ein Abteilungsleiter für seinen Posten taugt, wenn man beim Eintritt auf die Atmosphäre achtet. Nehmen wir mal den Redaktionsraum. Wir sind alle so freundlich und heiter, wie man sich nur denken kann, obgleich der Ton, der dort herrscht, manchmal recht kräftig ist. Aber diese Textschreiber sind nun einmal so und denken sich nichts dabei. Aber Mr. Ormerod – das ist nämlich unser Redaktionsleiter – ist wirklich ein Gentleman, und er weckt bei allen das Interesse für die Arbeit, wenn sie auch noch so sehr knurren über die Käseplakate und den Warenhauskram, den sie produzieren müssen. Aber im Atelier ist das ganz anders. Dort
herrscht so eine leblose Atmosphäre. Wir Mädchen merken solche Dinge viel mehr, als manch eine der hochgestellten Persönlichkeiten denkt. Ich bin natürlich ganz besonders empfindlich in dieser Hinsicht – beinahe spiritistisch, hat man mir gesagt.« Lord Peter meinte, Frauen seien die besten Menschenkenner und auffallend intuitiv. »Das stimmt«, erklärte Miss Twitterton. »Ich habe oft gesagt, wenn ich bloß ein paar offene Worte mit Mr. Crichton reden dürfte, könnte ich ihm vielleicht etwas erzählen. In solchen Firmen existieren komplizierte Verhältnisse unter der Oberfläche, von denen die Obersten keine Ahnung haben.« Davon sei er überzeugt, stimmte Lord Peter zu. »Sie glauben ja nicht, wie Mr. Plant Leute behandelte, die seiner Meinung nach unter ihm standen«, fuhr Miss Twitterton fort. »Es konnte einen rasend machen. Wenn Mr. Ormerod mich mit einer Botschaft zu ihm schickte, so war ich jedesmal froh, wenn ich wieder aus dem Zimmer gehen konnte. Es war geradezu demütigend, wie er zu einem sprach. Es ist mir ganz egal, ob er tot ist oder nicht. Das Totsein macht das frühere Benehmen eines Menschen auch nicht besser, Lord Peter. Es waren nicht so sehr die Grobheiten, die er einem an den Kopf warf. Mr. Birkett zum Beispiel ist, weiß Gott, auch grob genug, aber niemand macht sich etwas daraus. Er ist wie ein großer, tolpatschiger junger Hund – aber eigentlich sanft wie ein Lamm. Nein, es war Mr. Plants ekelhafte, höhnische Art, die wir alle so haßten. Und er hat dauernd die Leute heruntergemacht.« »Wie ist das mit diesem Gemälde?« fragte Wimsey. »Hat es überhaupt Ähnlichkeit mit ihm?« »Es war ihm viel zu ähnlich«, sagte Miss Twitterton nachdrücklich. »Deshalb haßte er es so. Er mochte Crowder auch nicht leiden. Aber er wußte natürlich, daß er malen konnte, und veranlaßte ihn dazu, da er glaubte, auf billige Art
und Weise zu etwas Wertvollem zu kommen. Und Crowder konnte sich nicht gut weigern, sonst hätte Plant ihn entlassen.« »Man sollte eigentlich meinen, daß das einem so talentierten Manne wie Crowder nichts ausmachen würde.« »Der arme Mr. Crowder! Er hat wohl nicht viel Glück im Leben gehabt. Gute Künstler können anscheinend nicht immer ihre Bilder verkaufen. Und ich weiß, daß er heiraten wollte. Sonst hätte er sich dieser gewerblichen Arbeit nicht zugewandt. Er hat mir ziemlich viel über sich erzählt. Ich weiß nicht, warum – aber ich gehöre wohl zu den Menschen, denen andere sich gern anvertrauen.« Lord Peter füllte Miss Twittertons Glas. »Oh, bitte! Nein, wirklich! Keinen Tropfen mehr! Ich rede sowieso schon zuviel. Was wird Mr. Ormerod nur sagen, wenn er mir seine Briefe diktiert. Ich werde sicher lauter Unsinn schreiben. Oh, ich muß wirklich gehen. Sehen Sie doch nur, wie spät es schon ist!« »Sie haben noch Zeit genug. Trinken Sie eine Tasse schwarzen Kaffee – dann fühlen Sie sich wieder ganz frisch.« Wimsey lächelte. »Sie haben durchaus nicht zuviel geredet. Die Schilderung des Bürolebens hat mir richtigen Spaß gemacht. Sie haben eine sehr lebhafte Ausdrucksweise. Ich sehe jetzt ganz deutlich, warum Mr. Plant sich keiner großen Beliebtheit erfreute.« »Im Büro jedenfalls nicht – wie er anderswo war, weiß ich nicht«, fügte Miss Twitterton geheimnisvoll hinzu. »Oho?« »Oh! Er hatte es faustdick hinter den Ohren«, fuhr Miss Twitterton fort. »Das kann man wirklich sagen. Ein paar Freunde von mir trafen ihn eines Abends im Westend, und sie konnten so allerlei berichten. Es war direkt ein Witz im Büro – der alte Plant und seine Rosenknospen. Mr. Cowley – er ist der Cowley, wissen Sie, der die Motorradrennen fährt – sagte immer, er wisse, was er von Mr. Plant und seinen Autotouren
zu halten habe. Einmal, als Mr. Plant so tat, als sei er mit seinem Auto durch Wales gefahren, fragte ihn Mister Cowley über die Straßen aus, und er hatte keinen blassen Schimmer davon. Mr. Cowley kannte sich in Wales aus und konnte Mr. Plant so, richtig ‘reinlegen. Außerdem wußte Mister Cowley, daß Mr. Plant die ganze Zeit über in sehr attraktiver Gesellschaft in einem Hotel in Aberystwyth verbracht hatte.« Miss Twitterton trank ihren Kaffee aus und setzte energisch die Tasse hin. »Und jetzt muß ich aber laufen, sonst komme ich viel zu spät. Und ich danke Ihnen vielmals.«
»Nanu«, sagte Inspektor Winterbottom. »Sie haben also das Porträt gekauft?« »Ja«, entgegnete Wimsey. »Es ist eine schöne Leistung.« Er blickte gedankenvoll auf das Ölgemälde. »Nehmen Sie Platz, Herr Inspektor, ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen.« »Und ich möchte Ihnen eine erzählen.« »Dann wollen wir erst Ihre hören«, sagte Wimsey mit einer Miene, die schmeichelhaftes Interesse bekundete. »Nein, nein, Mylord. Sie haben den Vorrang. Fangen Sie nur an.« Er kuschelte sich lachend in seinen Sessel. »Nun«, begann Wimsey, »ich habe eine Art Märchen zu erzählen. Und wohlgemerkt, ich habe die Richtigkeit nicht nachgeprüft.« »Weiter, Mylord, weiter.« »Es war einmal – « seufzte Wimsey. »So fangen die alten Märchen alle an«, meinte Inspektor Winterbottom. »Es war einmal«, wiederholte Wimsey, »ein Maler. Er war ein guter Maler, aber die böse Fee, ›finanzieller Erfolg‹ war nicht zur Taufe geladen – was?«
»Das ist bei Malern oft so«, bestätigte der Inspektor. »Daher mußte er eine Arbeit als gewerblicher Künstler annehmen; denn niemand wollte seine Bilder kaufen, und er hatte – wie so mancher Märchenprinz – den Wunsch, das Gänseliesel zu heiraten.« »Diesen Wunsch haben viele«, bemerkte der Inspektor. »Der Leiter seiner Abteilung«, fuhr Wimsey fort, »besaß eine gemeine, höhnische Seele. Er war nicht einmal tüchtig in seiner Arbeit, sondern im Kriege zur Macht gelangt, als bessere Männer zur Front zogen. Wohlgemerkt, der Mann tut mir ziemlich leid. Er litt unter einem Inferioritätskomplex« – der Inspektor schnaufte – »und er glaubte, er könne sich nur oben halten, wenn er andere Leute unten hielt. Also wurde er ein kleiner Tyrann und Krakeeler. Er steckte alles Lob für die Leistungen der unter ihm arbeitenden Leute ein und verhöhnte und drangsalierte sie, bis sie schlimmere Inferioritätskomplexe als er selber bekamen.« »Solche Typen habe ich auch gekannt«, fiel der Inspektor ein, »und es ist mir ein Rätsel, wie sie damit durchkommen.« »Ganz recht. Nun, dieser Mann wäre wohl weiterhin damit durchgekommen, wenn es ihm nicht eingefallen wäre, einen Maler dazu zu bewegen, daß er ihn porträtiere.« »Das war ziemlich unüberlegt«, bemerkte der Inspektor, »denn dadurch wurde der Maler ja nur eingebildet.« »Schon wahr. Aber sehen Sie, dieser kleine Tyrann hatte ein faszinierendes Frauenzimmer im Schlepptau, und er wünschte das Porträt für die Dame. Er hoffte, ein gutes Porträt für einen Hungerlohn zu bekommen. Doch unglücklicherweise hatte er eins vergessen: wieviel sich ein Künstler in seinem sonstigen Dasein auch gefallen läßt, in seiner Kunst muß er aufrichtig sein. Das ist das einzige, wo sich ein echter Künstler nicht dreinreden läßt.«
»Das mag wohl sein«, meinte der Inspektor. »Ich verstehe mich nicht auf Künstler.« »Sie können es mir aber glauben. Der Maler porträtierte also den Mann, wie er ihn sah, und brachte die ganze kriecherische, höhnische, erbärmliche Seele auf die Leinwand, wo sie jeder sehen konnte.« Inspektor Winterbottom starrte das Porträt an, und das Porträt starrte höhnisch zurück. »Man kann es bestimmt kein schmeichelhaftes Bild nennen«, gab er zu. »Wenn nun ein Maler jemanden porträtiert«, fuhr Wimsey fort, »so erscheint ihm das Gesicht dieser Person niemals wieder so wie vorher. Es ist, als ob – womit soll ich es vergleichen? Er ist, als ob ein Artillerist auf eine Landschaft blickt, in der er zufällig seine Stellung hat. Er sieht sie nicht als eine Landschaft. Für ihn hat sie keine magische Schönheit, keine herrlichen Formen, keine lieblichen Farben. Er sieht in ihr nur Deckung, Zielpunkte, Geschützeinschnitte. Und wenn der Krieg vorüber ist und er an diese Stelle zurückkehrt, wird er sie immer noch als Deckung, Zielpunkte und Geschützeinschnitte sehen. Es ist keine Landschaft mehr. Es ist eine Kriegskarte.« »Ich kenne das«, bestätigte Inspektor Winterbottom. »Ich war selbst Artillerist.« »Ein Maler wird genauso grausam vertraut mit jeder Linie eines Gesichts, das er je gemalt hat«, fuhr Wimsey fort. »Und wenn es ein Gesicht ist, das er haßt, so haßt er es mit einem neuen und erregbaren Haß. Es ist wie eine fehlerhafte Drehorgel, die ewig dieselbe alte, rasend machende Melodie herunterleiert und an derselben Stelle stets dieselbe verdammte, falsche, gräßliche Note produziert.« »Mein Gott! Wie Sie reden können!« stieß der Inspektor hervor.
»Ein solches Gefühl hatte der Maler bei dem Anblick des verhaßten Gesichts dieses Mannes. Den ganzen Tag und jeden Tag mußte er es ansehen. Er konnte ihm nicht entrinnen, weil er an seine Arbeit gebunden war.« »Er hätte sich freimachen sollen«, meinte der Inspektor. »Es hat keinen Zweck, auf die Dauer mit unsympathischen Leuten zu arbeiten.« »Jedenfalls hat er sich gesagt, er könne während seiner Ferien für eine kleine Weile entkommen. Er kannte da einen schönen, ruhigen kleinen Fleck an der Westküste, der abseits vom großen Getriebe lag. Dort war er schon öfters gewesen, um zu malen. Öh! da fällt mir ein – ich kann Ihnen noch ein Bild zeigen.« Er trat an einen Schrank und zog aus einer Schublade ein Gemälde auf Holz. »Dies habe ich vor zwei Jahren auf einer Ausstellung in Manchester gesehen, und ich erinnerte mich zufällig an den Namen des Händlers, der es gekauft hatte.« Inspektor Winterbottom starrte das Gemälde mit offenem Munde an. »Das ist doch East Felpham!« rief er aus. »Ja. Es ist nur T. C. gezeichnet, aber die Technik ist ganz unverkennbar. Meinen Sie nicht auch?« Der Inspektor hatte von Technik wenig Ahnung, aber auf Anfangsbuchstaben verstand er sich. Sein Blick wanderte vom Porträt zur bemalten Holztafel und wieder zurück zu Lord Peter. »Der Maler – « »Crowder?« »Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich ihn weiterhin als den Maler bezeichnen. Der Maler packte also seinen Kram auf den Träger seines Fahrrades und fuhr mit seinen zerquälten Nerven zu diesem heimlichen, geliebten Fleck, um dort ein ruhiges Wochenende zu verbringen. Er wohnte in einem
ruhigen kleinen Hotel in der Nachbarschaft, und jeden Morgen radelte er zu diesem hübschen Strand, um dort zu baden. Im Hotel hat er nie davon gesprochen; denn es war sein Platz, und er wollte nicht, daß andere Leute ihn auch entdeckten.« Inspektor Winterbottom legte die Holztafel auf den Tisch und schenkte sich Whisky ein. »Eines Morgens – es war zufällig der Montagmorgen« – Wimseys Stimme wurde langsamer und zögernder – »erschien er dort wie üblich. Die Flut war noch nicht ganz da, aber er lief über die Felsen zu der ihm bekannten tiefen Badestelle und sprang hinein. Er schwamm umher und ließ die kleine, mißtönende Stimme seines Ärgers im unendlichen Gelächter des Meeres untergehen.« »Wie?« »Ein Zitat aus den Klassikern. Es bedeutet so etwas wie: ›das Plätschern der nahenden Flut, das an Prometheus’ Ohr drang da oben auf dem einsamen Gipfel, wo der Geier an seinem Herzen nagte‹. Ich weiß noch, daß ich mich in der Schule mit meinem alten Lehrer Philpotts darüber stritt und einen über die Knöchel gezogen bekam, weil ich ihm widersprach. Ich wußte damals nicht, daß er an einer eigenen Übersetzung arbeitete. Sonst hätte ich ihm noch heftiger widersprochen und wahrscheinlich dafür die Hosen herunterlassen müssen. Der gute alte Philpotts!« »Das sind für mich böhmische Dörfer«, bemerkte der Inspektor. »Verzeihung. Entsetzliche Angewohnheit von mir, so vom Thema abzuschweifen. Also zurück zum Maler. Er schwamm um die Felsen herum, und als er aus dem Meer herauskam, sah er einen Mann am Strand stehen – an seinem geliebten Strand, müssen Sie bedenken, den er als seine eigene geheiligte Zufluchtstätte betrachtete. Er watete auf ihn zu und verwünschte den Pöbel der Feiertage, der sich überall mit seinen Zigarettenpäckchen, seinen Kodaks und seinen
Grammophonen breitmachen mußte – und dann sah er, daß es ein Gesicht war, das er kannte. An jenem klaren, sonnigen Morgen erkannte er jede verhaßte Linie darin. Und so früh es auch war, schon stieg die Hitze wie ein Dunst über dem Meere auf.« »Ja, es war ein heißes Wochenende«, stimmte der Inspektor zu. »Und dann rief ihm der Mann etwas zu in seiner gezierten, eingebildeten Stimme. ›Nanu‹, sagte er, ›Sie hier? Wie haben Sie meinen kleinen Badestrand denn entdeckt?‹ Und das war zuviel für den Maler. Er hatte das Gefühl, als habe man ihm seine letzte Zufluchtstätte geraubt. Er sprang ihm an die magere Kehle – wie Sie sehen, ist sie ziemlich sehnig mit einem vorstehenden Adamsapfel – eine irritierende Kehle. Das Wasser gluckste um ihre Füße, als sie hin- und herschwankten. Er spürte, wie seine Daumen in das Fleisch sanken, das er gemalt hatte. Er sah – und frohlockte darüber – wie die widerlichen, vertrauten Züge sich änderten, lila anliefen und bis zur Unkenntlichkeit anschwollen. Er beobachtete, wie die tiefliegenden Augen heraustraten und der dünne Mund sich verzerrte, als die geschwärzte Zunge sich vorschob – ich habe es doch hoffentlich nicht zu gruselig für Sie ausgemalt?« Der Inspektor lachte. »Kein bißchen. Sie verstehen es wunderbar, die Vorgänge zu schildern. Sie sollten ein Buch schreiben.« »Ich singe, wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet«, erwiderte seine Lordschaft nachlässig und fuhr ohne weitere Bemerkung fort: »Der Maler erdrosselte ihn und schleuderte ihn zurück in den Sand. Er sah ihn an, und in seinem Herzen jubelte es. Dann streckte er die Hand aus und fand eine zerbrochene Flasche mit einer schön ausgezackten Kante. Mit Begeisterung machte er sich ans Werk und bearbeitete das Gesicht, das er so gut kannte und so verabscheute. Er löschte es aus, zerstörte es völlig.
Dann saß er neben dem Werk, das er vollbracht hatte. Ihm wurde angst und bange. In des Kampfes Hitze waren sie vom Rande des Wassers zurückgetaumelt, und da waren seine Fußspuren und Blutflecke auf dem Sand. Sein Gesicht und sein Badeanzug waren mit Blut bespritzt, und er hatte seine Hand an der Flasche verletzt. Aber das gute Meer rollte ja immer noch herein. Er beobachtete, wie es über die Blutflecken und die Fußspuren dahinrollte und die Geschichte seines Wahnsinns auslöschte. Er dachte daran, daß dieser Mann fortgegangen war, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Schritt für Schritt ging er zurück ins Wasser, und als es ihm bis zur Brust reichte, sah er die roten Flecke wie schwache Rauchwolken in der dunklen Bläue der Flut verschwinden. Er watete und schwamm und tauchte sein Gesicht und seine Arme tief ins Wasser, wobei er sich von Zeit zu Zeit umwandte, um zu sehen, was er hinter sich zurückgelassen hatte. Als er die Landspitze erreichte und sich sauber und kühl aus dem Wasser auf die Felsen schwang, ist es ihm wahrscheinlich eingefallen, daß er die Leiche hätte mitnehmen und von der Ebbe ins Meer hinaustragen lassen sollen. Aber es war zu spät. Er war sauber, und der Gedanke, das Ding noch einmal anrühren zu müssen, war ihm unerträglich. Außerdem hatte er sich verspätet, und im Hotel würde es Aufsehen erregen, wenn er nicht rechtzeitig zum Frühstück zurückkehrte. Er rannte leichten Schrittes über die Felsen und das Gras, wo er keine Spuren hinterließ. Dann zog er sich an und achtete darauf, daß er nichts zurückließ, das seine Gegenwart verraten könnte. Er nahm das Auto, das eine Geschichte erzählt haben würde, und hob sein Rad auf den Rücksitz unter die Decken. Dann fuhr er – aber wohin er fuhr, das wissen Sie genausogut wie ich.« Lord Peter stand mit einer ungeduldigen Bewegung auf und trat an das Bild heran, wo er nachdenklich mit dem Daumen über die Textur des Gemäldes strich.
»Man kann ja sagen, wenn er das Gesicht so haßte, warum hat er nicht das Bild zerstört? Das konnte er nicht. Es war das Beste, was er je geschaffen hat. Er nahm hundert Guineen dafür. Das war billig. Aber ich glaube, er fürchtete sich, es mir abzuschlagen. Mein Name ist ziemlich bekannt. Es war wohl eine Art Erpressung. Aber ich wollte das Bild unbedingt haben.« Inspektor Winterbottom lachte wieder. »Haben Sie Erkundigungen eingezogen, Mylord, ob Crowder sich wirklich in East Felpham aufgehalten hat?« »Nein.« Wimsey drehte sich jäh um. »Ich habe überhaupt nichts unternommen. Das ist Ihre Sache. Ich habe Ihnen die Geschichte erzählt, aber ich hätte, weiß Gott, viel lieber geschwiegen.« »Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen.« Der Inspektor lachte zum drittenmal. »Es ist ohne Frage eine gute Geschichte, Mylord, und vortrefflich erzählt. Aber wie Sie schon sagten, ist es ein Märchen. Wir haben diesen Italiener gefunden – Francesco nannte er sich, und er ist schon der richtige Mann.« »Woher wissen Sie das? Hat er ein Geständnis abgelegt?« »Praktisch ja. Er ist tot. Hat sich umgebracht. Der Frau hinterließ er einen Brief, in dem er sie um Verzeihung bittet und sagt, Mordgedanken seien in ihm aufgestiegen, als er sie mit Plant zusammen gesehen habe. ›Ich habe mich‹, so schreibt er wörtlich, ›an dem gerächt, der es wagte, dich zu lieben.‹ Er hat es wohl mit der Angst bekommen, als ihm klar wurde, daß wir hinter ihm her sind – ich wollte, die Zeitungen würden diese Verbrecher nicht immer warnen – und hat sich dann das Leben genommen, um nicht gehängt zu werden. Ich kann wohl sagen, es war eine Enttäuschung für mich.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Wimsey. »Sehr unbefriedigend natürlich. Aber ich bin froh, daß meine
Geschichte doch nur ein Märchen ist. Wollen Sie schon gehen?« »Die Pflicht ruft«, erwiderte der Inspektor und wälzte sich aus seinem Sessel. »Es freut mich sehr, Sie kennengelernt zu haben, Mylord. Und es war mein voller Ernst, als ich sagte, Sie sollten sich der Literatur zuwenden.« Als er fort war, stand Wimsey immer noch vor dem Porträt. »›Was ist Wahrheit?‹ sagte der spöttelnde Pilatus. Kein Wunder, da sie vollständig unglaublich ist… ich könnte es beweisen… wenn ich wollte… aber der Mann hatte ein Schurkengesicht, und es gibt so wenige gute Maler auf der Welt.«
Die Anglerfarce vom gestohlenen Magen
»Um alles in der Welt, was ist denn das?« fragte Lord Peter Wimsey. Thomas Macpherson schälte den hohen Glasbehälter aus seinen letzten Stroh- und Papierhüllen und stellte ihn behutsam aufrecht neben den Kaffeetopf. »Das ist«, erwiderte er, »Großonkel Josephs Vermächtnis.« »Und wer ist Großonkel Joseph?« »Er war der Onkel meiner Mutter. Hieß Ferguson. Exzentrischer alter Kauz. Ich hatte einen besonderen Stein bei ihm im Brett.« »Das merkt man. Ist das alles, was er dir vermacht hat?« »Hm, ja. Er behauptete immer, eine gute Verdauung sei das Wertvollste, was ein Mensch besitzen könne.« »Darin hatte er nicht unrecht. Ist dies die seine? Besaß er eine gute?« »Das kann man wohl sagen. Er ist fünfundneunzig geworden und nicht einen Tag krank gewesen.« Wimsey betrachtete den Glasbehälter mit wachsendem Respekt. »Woran ist er denn gestorben?« »Stürzte sich vom sechsten Stock aus dem Fenster. Er hatte einen Schlaganfall erlitten, und die Ärzte gaben ihm zu verstehen – vielleicht hat er es auch selbst erraten –, daß das der Anfang vom Ende sei. Er hinterließ einen Brief, darin stand, er sei nie im Leben krank gewesen und wolle jetzt nicht noch damit anfangen. Das Urteil lautete natürlich: vorübergehende geistige Umnachtung. Aber ich glaube, er hatte alle seine fünf Sinne beieinander.« »Das scheint mir auch so. Was war er eigentlich von Beruf?«
»Geschäftsmann – Schiffbauindustrie, glaube ich. Aber er hatte sich schon vor langer Zeit zur Ruhe gesetzt. Er war ein Einsiedler, wie es in den Zeitungen heißt. Lebte ganz für sich allein in einer kleinen Etage im obersten Stockwerk eines Hauses in Glasgow und verkehrte mit niemandem. Verschwand oft tagelang, und niemand wußte, wohin und warum. Ich besuchte ihn gewöhnlich einmal im Jahr und brachte ihm eine Flasche Whisky mit.« »Hatte er Geld?« »Das wußte niemand. Er hätte eigentlich etwas haben müssen – er war ein reicher Mann, als er sich zur Ruhe setzte. Aber als wir seinen Nachlaß prüften, stellte sich heraus, daß er bei der Glasgower Bank nur ein Konto von etwa fünfhundert Pfund hatte. Anscheinend hat er vor ungefähr zwanzig Jahren fast alles abgehoben. Um die Zeit machten einige große Banken pleite, und da muß er es mit der Angst bekommen haben. Aber wo er das Geld gelassen hat, das mag der Kuckuck wissen.« »Hat es wahrscheinlich in einen alten Strumpf gesteckt.« »Ich denke mir, Vetter Robert erhofft das sehnlichst.« »Vetter Robert?« »Er erbt den Rest. Entfernter Verwandter von mir und der einzige, der noch den Namen Ferguson trägt. Er war schrecklich aufgebracht, als er entdeckte, daß er nur fünfhundert Pfund bekam. Er ist ein ziemlich lebenslustiger Geselle, dieser Robert, und hätte gut ein paar tausend gebrauchen können.« »Ach so. Na, wie wär’s, wenn wir uns nun dem Frühstück zuwendeten. Du kannst Großonkel Joseph wohl woanders unterbringen. Der Anblick ist nicht gerade begeisternd.« »Ich dachte, du hättest eine besondere Vorliebe für anatomische Präparate.« »Habe ich auch, aber nicht auf dem Frühstückstisch. ›Ein Platz für alles und alles an seinem Platz‹, wie meine
Großmutter zu sagen pflegte. Außerdem würde Maggie einen Schock bekommen, wenn sie das sähe.« Macpherson lachte und stellte den Behälter in einen Schrank. »Maggie ist schockfest. Ich habe mir ein paar Knochen und dergleichen mitgebracht, um in den Ferien daran zu arbeiten. Ich steuere nämlich auf das Staatsexamen zu. Sie wird einfach denken, dieser Behälter gehöre auch mit dazu. Willst du eben auf die Klingel drücken, alter Junge? Wollen mal sehen, wie die Forellen schmecken.« Die Haushälterin erschien in der Tür, in der einen Hand eine Schale mit gegrillten Forellen, in der anderen einen Teller mit geröstetem Haferkuchen. »Das sieht appetitlich aus, Maggie«, lobte Wimsey und schnüffelte verständnisinnig, während er sich einen Stuhl heranzog. »Ja, Sir, die Fische sind gut, nur viel zu klein.« »Nicht ärgern«, mahnte Macpherson. »Sie sind das einzige Ergebnis eines Tages auf Loch Whyneon, an dem ich Höllenqualen ausgestanden habe. Eine brennende Sonne und ein scharfer Ostwind haben mir bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen. Ich hätte mich heute morgen beinahe nicht rasieren können.« Er strich sich in Erinnerung daran mit der Hand über sein rotes, abgeschältes Gesicht. »Au! Es wehte eine ziemlich steife Brise, und das Boot schaukelte dauernd hin und her wie in der Bucht von Biskaya.« »Schauderhaft! Aber das Wetter ändert sich. Das Barometer ist gefallen. Der Regen wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.« »Wird auch höchste Zeit«, meinte Macpherson. »Die Bäche sind fast trocken und der Fleet führt nur wenig Wasser.« Er blickte durchs Fenster auf den kleinen Fluß, der am unteren Ende des Gartens hell und lustig über die Steine plätscherte. »Wenn wir jetzt nur ein paar Tage Regen bekämen, würden wir großartig fischen können.«
»Natürlich gerade jetzt, wo ich abreisen muß«, bemerkte Wimsey. »Ja. Kannst du denn nicht etwas länger bleiben? Ich möchte gern ein paar Seeforellen fangen.« »Tut mir leid, alter Freund, es geht nicht. Ich muß Mittwoch in London sein. Macht nichts. Ich habe die frische Luft und das Golf spielen sehr genossen.« »Du mußt wiederkommen. Ich bleibe noch einen Monat hier – muß Kräfte fürs Examen sammeln. Wenn du nicht abkommen kannst, bevor ich gehe, schieben wir es bis August auf und schießen dann Waldhühner. Das Haus steht dir immer zur Verfügung, Wimsey.« »Vielen Dank. Es kann sein, daß ich eher mit meinen Angelegenheiten fertig werde, als ich denke, und wenn das der Fall wäre, würde ich hier wieder auftauchen. Wann ist dein Großonkel doch noch gestorben?« Macpherson starrte ihn an. »Irgendwann im April, soviel ich mich erinnern kann. Warum?« »Nichts weiter – ich wollte es – nur wissen. Du warst bei ihm gut angeschrieben, nicht wahr?« »So ziemlich. Ich glaube, der alte Knabe mochte es ganz gern, daß ich von Zeit zu Zeit an ihn dachte. Alte Leute freuen sich nämlich über kleine Aufmerksamkeiten.« »Hm. Na, es ist eine merkwürdige Welt. Wie war doch sein Name?« »Ferguson – Joseph Alexander Ferguson, wenn du es ganz genau wissen willst. Großonkel Joseph scheint dich ja außerordentlich zu interessieren.« »Wo wir schon davon sprechen, dachte ich, ich könnte vielleicht einen Bekannten von mir aufsuchen, der ebenfalls in der Schiffbauindustrie tätig ist, und einmal hören, ob er etwas über den Verbleib des Geldes weiß.«
»Wenn du das fertigbringst, verleiht dir Vetter Robert eine Medaille. Aber wenn du wirklich deine Künste als Detektiv an diesem Problem verschwenden willst, hielte ich es für richtiger, wenn du die Etage in Glasgow durchsuchtest.« »Gute Idee – wie lautet übrigens die Adresse?« Macpherson nannte sie ihm. »Ich will sie mir notieren, und wenn mir etwas einfällt, werde ich mich mit Vetter Robert in Verbindung setzen. Wo hat er denn seine Zelte aufgeschlagen?« »Oh, er ist in London in einem Rechtsanwaltsbüro. Crosbie & Plump, irgendwo in Bloomsbury. Robert wollte eigentlich ein schottischer Barrister werden, aber er kam nicht zu Rande, und da haben sie ihn zu den Engländern abgeschoben. Sein Vater starb vor einigen Jahren – er war Rechtsanwalt in Edinburgh – und ich glaube, Robert ist seitdem ziemlich auf den Hund gekommen. Er ist da unten in eine fidele Gesellschaft geraten und hat den Zaster rollen lassen.« »Schrecklich! Die Schotten dürften ihr Land eigentlich nicht verlassen. Was willst du mit Großonkel machen?« »Ich weiß nicht so recht. Erst werde ich ihn wohl noch behalten. Ich mochte den alten Burschen ganz gern und möchte ihn nicht wegwerfen. Er wird sich ganz gut in meinem Sprechzimmer ausmachen, wenn ich mich niedergelassen habe. Meinst du nicht auch? Ich werde sagen, es ist ein Geschenk von einem dankbaren Patienten, an dem ich eine wunderbare Operation ausgeführt habe.« »Das ist keine schlechte Idee. Magenverpflanzung. Ein Wunder der Operationskunst. Noch nie zuvor versucht. Großonkel wird die Leidenden in Scharen herbeilocken.« »Der gute alte Großonkel – er stellt vielleicht doch noch ein Vermögen für mich dar.« »Das kann gut möglich sein. Du hast wohl nicht zufällig eine Fotografie von ihm?«
»Eine Fotografie?« Macpherson starrte wieder. »Großonkel scheint eine Leidenschaft von dir zu werden. Ich glaube nicht, daß sich der alte Herr in den letzten dreißig Jahren hat fotografieren lassen. Eine Aufnahme wurde gemacht, als er sich zur Ruhe setzte, und die wird Robert wohl haben.« »Och aye«, sagte Wimsey in der Sprache des Landes.
Wimsey verließ Schottland noch am selben Abend. Auf dieser Nachtfahrt nach London dachte er tief nach. Er handhabte das Steuer ganz mechanisch und fuhr hin und wieder zur Seite, um den grünen Augen der Kaninchen auszuweichen, die auf die Mitte der Straße taumelten, um dort wie fasziniert im grellen Scheinwerferlicht hocken zu bleiben. Er behauptete immer, sein Gehirn funktioniere besser, wenn seine unmittelbare Aufmerksamkeit durch die Zwischenfälle der Straße in Anspruch genommen sei. Am Montagmorgen hatte er seine Angelegenheiten in der Stadt erledigt und seinen Denkprozeß beendet. Eine Konsultation bei seinem Freunde, dem Schiffbauer, klärte ihn über Großonkel Josephs Vermögensverhältnisse auf, und durch den Londoner Vertreter der Glasgower Firma, zu der er gehört hatte, gelangte er in den Besitz seiner Fotografie. Es stellte sich heraus, daß der alte Ferguson zu seiner Zeit ein bedeutender Mann gewesen war. Das Bild zeigte ein feines, strenges, altes Gesicht mit langer Oberlippe und hohen Backenknochen – eines jener Gesichter, die sich im Laufe des Lebens wenig verändern. Wimsey betrachtete die Fotografie mit großer Befriedigung und ließ sie in die Tasche gleiten. Dann ging er schnurstracks zum Somerset-Haus. Hier wanderte er schüchtern in der Testamentsabteilung umher, bis ein uniformierter Beamter sich seiner erbarmte und ihn nach seinem Begehren fragte.
»Oh, ich danke Ihnen«, sagte Wimsey überschwenglich, »ich danke Ihnen tausendmal. An solchen Orten fühle ich mich immer so nervös. Alle diese großen Tische und dergleichen, wissen Sie, so ehrfurchtgebietend und geschäftsmäßig. Ja, ich möchte nur eben einen kurzen Blick auf ein Testament werfen. Mir wurde gesagt, man könne für einen Shilling jedes beliebige Testament einsehen. Ist das wirklich so?« »Selbstverständlich, Sir. Hatten Sie an ein bestimmtes Testament gedacht, Sir?« »Ja, natürlich. Eigentlich merkwürdig, daß nach dem Tode eines Menschen jeder Fremde in seinen Privatangelegenheiten herumschnüffeln kann – sehen kann, wieviel er wert war, was für Mätressen er hatte und so weiter. Nein. Ganz und gar nicht schön. Scheußlich indiskret.« Der Beamte lachte. »Ich glaube, wenn man tot ist, macht das nicht mehr viel aus, Sir.« »Da haben Sie recht. Ja, natürlich, man ist dann ja tot, und es hat nichts mehr zu sagen. Vielleicht etwas peinlich für die Verwandten, wenn sie erfahren, was für ein schwarzes Schaf man gewesen ist. Aber es macht viel Spaß, die Verwandten zu ärgern. Ich selbst verpasse keine Gelegenheit. Na, wobei waren wir stehengeblieben? Ach ja – das Testament (ich bin immer so zerstreut). Es handelt sich um einen alten Schotten namens Joseph Alexander Ferguson, der in Glasgow gestorben ist – Sie wissen ja, Glasgow, wo der Akzent so stark ist, daß selbst Schotten umfallen, wenn sie ihn hören – im April, im letzten aller Monate April. Wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe macht, kann ich dann wohl für einen Shilling Joseph Alexander Ferguson haben?« Der Beamte versicherte ihm, daß dies möglich sei, fügte aber die Warnung hinzu, daß er den Inhalt des Testaments auswendig lernen müsse und sich auf keinen Fall Notizen machen dürfe. Dann führte er Wimsey in eine abgelegene Ecke, wo ihm nach kurzer Zeit das Testament vorgelegt wurde.
Es war ein lobenswert kurzes, eigenhändig geschriebenes Dokument, das vom vorhergehenden Januar datierte. Nach der üblichen Einleitung und dem Vermächtnis kleiner Summen und persönlicher Andenken an Freunde ging es dann folgendermaßen weiter: »Ferner ordne ich an, nach meinem Tode meinen gesamten Ernährungs- und Verdauungsapparat von der Speiseröhre bis zum Darmausgang samt Inhalt aus meinem Körper zu entfernen, ihn an beiden Enden mit passenden Ligaturen zu verschließen, in einem Glasgefäß in Alkohol aufzubewahren und meinem Großneffen Thomas Macpherson, Stone Cottage, Gate-house-of-the-Fleet, Kirkcudbrightshire, der augenblicklich in Aberdeen Medizin studiert, zu übergeben. Und ich vermache ihm diese meine Organe mit Inhalt zu seiner Erbauung und Belehrung, nachdem sie mir fünfundneunzig Jahre in tadelloser Weise gedient haben, weil ich ihm einprägen möchte, daß kein Reichtum der Welt dem Reichtum einer guten Verdauung gleichkommt. Und ich wünsche, daß er bei Ausübung seiner medizinischen Praxis sich bestens bemühe, seinen Patienten den Segen einer guten Verdauung ungeschwächt zu erhalten, daß er ihre Mägen nicht unnötig mit Drogen anfülle aus Interesse für seine eigene Tasche, sondern sie zu einem nüchternen, mäßigen Leben anhalte, wie es dem Plan einer Allmächtigen Vorsehung entspricht.« Nach dieser bemerkenswerten Stelle hieß es weiter, daß Robert Ferguson den Rest des Besitzes erben sollte, ohne daß die Besitztümer im einzelnen aufgezählt wurden. Zum Schluß wurde ein Rechtsanwaltsbüro in Glasgow als Testamentsvollstrecker ernannt. Wimsey dachte eine Weile über dieses seltsame Vermächtnis nach. Aus dem Stil schloß er, daß der alte Mr. Ferguson das Testament allein, ohne juristische Hilfe aufgesetzt hatte, und darüber war er froh; denn der Wortlaut gab ihm auf diese
Weise wertvolle Aufschlüsse über die Stimmung und Absicht des Testators. Er merkte sich drei Punkte: der »Ernährungs und Verdauungsapparat samt Inhalt« war mit einer gewissen Betonung zweimal erwähnt worden. Er sollte oben und unten zugenäht werden. Und das Vermächtnis war von dem ausdrücklichen Wunsch begleitet, daß der Erbe die gewissenhafte Ausübung seiner Berufspflichten nicht durch finanzielle Interessen beeinflussen lassen möchte. Wimsey lachte vor sich hin. Er fühlte sich sehr zu Großonkel Joseph hingezogen. Er stand auf, nahm Hut, Handschuhe und Stock und brachte dem Beamten das Testament zurück. Dieser unterhielt sich gerade mit einem jungen Manne, der ihm offenbar ernstliche Vorhaltungen machte. »Es tut mir sehr leid, Sir«, erklärte der Beamte, »aber ich glaube nicht, daß es mit dem anderen Herrn sehr lange dauern wird. Ah!« rief er, als er Wimsey kommen sah, »hier ist der Herr ja schon.« Der junge Mann, der mit seinem rötlichen Haar, seiner langen Nase und seinen wäßrigen Augen wie ein ausschweifender Fuchs aussah, begrüßte Wimsey mit einem unangenehmen Starren. »Was ist los? Werde ich gewünscht?« fragte Seine Lordschaft etwas von oben herab. »Ja, Sir. Hier ist etwas sehr Merkwürdiges, Sir. Dieser Herr wünscht dasselbe Dokument zu sehen, das Sie studiert haben, Sir. Ich bin schon fünfzehn Jahre in dieser Abteilung, und so etwas ist noch nie vorgekommen.« »Das glaube ich wohl«, bemerkte Wimsey, »im allgemeinen besteht keine lebhafte Nachfrage nach Ihren Artikeln hier.« »Es ist wirklich höchst merkwürdig«, ließ sich der Fremde vernehmen, und aus seiner Stimme klang deutliches Mißfallen. »Familienmitglied?« erkundigte sich Wimsey. »Ich bin ein Mitglied der Familie«, gab das Fuchsgesicht zur Antwort.
»Darf ich fragen, ob Sie zu uns in verwandtschaftlicher Beziehung stehen?« »Selbstverständlich«, erwiderte Wimsey huldvoll. »Das glaube ich nicht. Ich kenne Sie gar nicht.« »Nein, nein – ich meinte, Sie dürfen selbstverständlich fragen.« Der junge Mann fletschte regelrecht die Zähne. »Wollen Sie mir vielleicht verraten, wer Sie sind und warum Sie eine so verdammte Neugierde für das Testament meines Großonkels bezeugen?« Wimsey zog eine Karte aus seiner Brieftasche und präsentierte sie mit einem Lächeln. Mr. Robert Ferguson wurde rot. »Wenn Sie Referenzen über mein Ansehen wünschen«, fuhr Wimsey liebenswürdig fort, »so wird Mr. Thomas Macpherson mit dem größten Vergnügen Auskunft über mich erteilen. Ich bin neugierig – studiere die Menschheit. Ihr Vetter erwähnte mir gegenüber die merkwürdige Klausel, die sich auf den – hm – . Magen und Zubehör Ihres geschätzten Großonkels bezieht. Merkwürdige Klauseln, sind meine Leidenschaft. Ich kam hierher, um sie einzusehen und meiner Sammlung merkwürdiger Testamente einzuverleiben. Ich bin damit beschäftigt, ein Buch zu schreiben über das Thema – Klauseln und Konsequenzen. Meine Verleger sind der Ansicht, daß es einen großen Absatz finden wird. Ich bedauere, daß ich mit meinen beiläufigen Notizen Sie von Ihren zweifellos ernsthaften Studien abgehalten habe. Ich wünsche Ihnen einen sehr guten Morgen.« Als er mit strahlendem Gesicht zur Tür hinausging, hörte Wimsey, der scharfe Ohren hatte, wie der Beamte den empörten Mr. Ferguson darüber informierte, daß er (Wimsey) »ein sehr komischer Herr, der nicht alle fünfe beisammen habe«, sei. Anscheinend war sein Ruf als Detektiv noch nicht bis in die ruhigen Winkel von Somerset House vorgedrungen.
»Aber«, sagte Wimsey vor sich hin, »ich fürchte sehr, ich habe Vetter Robert einen Floh ins Ohr gesetzt.«
Unter dem Ansporn dieses aufregenden Gedankens verschwendete Wimsey keine Zeit, sondern nahm ein Taxi bis Hatton Garden, um dort einem Freund einen Besuch abzustatten. Obwohl dieser Herr eine gebogene Nase und fleischige Augenlider besaß, kam er doch unter Mr. Chestertons Definition eines netten Juden; denn sein Name war weder Mongagu noch McDonald, sondern Nathan Abrahams, und er begrüßte Lord Peter mit einer Gastlichkeit, die an Begeisterung grenzte. »Hocherfreut, Sie zu sehen. Nehmen Sie Platz und trinken Sie ein Gläschen. Sie sind wohl endlich gekommen, um die Diamanten für die zukünftige Lady Peter auszusuchen, wie?« »Noch nicht«, entgegnete Wimsey. »Nein? Das ist ja schade. Sie sollten sich beeilen und einen Hausstand gründen. Es wird höchste Zeit. Vor Jahren haben wir doch ausgemacht, daß ich die Ehre haben sollte, die junge Frau für diesen glücklichen Tag auszuschmücken. Ich muß immer daran denken, wenn die schönen Steine durch meine Hände gleiten. Ich sage dann: ›Das wäre das Richtige für meinen Lord Peter.‹ Aber ich höre nichts und verkaufe sie an dumme Amerikaner, die nur an den Preis und nicht an die Schönheit denken.« »Früh genug, an die Diamanten zu denken, wenn ich die Dame gefunden habe.« Mr. Abrahams hob die Hände. »O ja! Und dann wird alles übereilt! ›Schnell, Mr. Abrahams! Ich habe mich gestern verliebt und heirate morgen.‹ Aber es kann Monate – Jahre – dauern, bis man vollkommene Steine findet, die zusammenpassen. Das geht nicht von heute auf
morgen. Ihre Braut wird am Hochzeitstage etwas Fertiges vom Juwelier tragen.« »Wenn drei Tage für die Wahl einer Frau genügen«, meinte Wimsey lachend, »dann dürfte ein Tag für die Wahl einer Halskette ausreichen.« »So machen es die Christen nun mal«, erwiderte der Diamantenhändler resigniert. »Sie nehmen es nicht so wichtig. Sie denken nicht an die Zukunft. Drei Tage, um sich eine Frau zu suchen. Kein Wunder, daß die Scheidungsanwälte soviel zu tun haben. Mein Sohn Moses heiratet nächste Woche. Das wurde bereits vor zehn Jahren arrangiert. Es ist Rachel Goldstein. Ein braves Mädchen, und ihr Vater hat eine sehr gute Position. Wir sind alle sehr zufrieden. Moses ist ein strebsamer Sohn, und ich werde ihn zum Partner machen.« »Ich gratuliere Ihnen«, sagte Wimsey herzlich. »Ich hoffe, sie werden sehr glücklich.« »Danke, Lord Peter. Sie werden bestimmt glücklich. Rachel ist ein reizendes Mädchen und hat Kinder sehr gern. Sie ist auch hübsch. Hübsches Aussehen allein macht es nicht, aber das bedeutet heutzutage einen Vorteil für einen jungen Mann. Es ist leichter für ihn, einer hübschen Frau treu zu bleiben.« »Stimmt«, sagte Wimsey. »Ich werde daran denken, wenn meine Zeit kommt. Zum Wohl auf das junge Paar, und mögen Sie bald ein Ahne werden. Apropos Ahnen, ich habe da so einen alten Krauter, über den Sie mir vielleicht Auskunft geben können.« »Gern. Es macht mir immer großen Spaß, Ihnen in jeder Weise zu helfen, Lord Peter.« »Dieses Bild ist vor etwa dreißig Jahren gemacht worden, aber vielleicht können Sie es erkennen.« Mr. Abrahams setzte sich eine Hornbrille auf und betrachtete Großonkel Josephs Foto mit ernster Aufmerksamkeit. »O ja, ich kenne ihn sehr gut. Was wollen Sie über ihn wissen?« Er
warf Wimsey einen schnellen, vorsichtigen Blick zu. »Nichts zu seinem Nachteil. Er ist sowieso schon tot. Ich nehme nur an, daß er kürzlich Edelsteine gekauft hat.« »Es ist nicht Geschäftsbrauch, über einen Kunden Auskunft zu geben.« »Ich will Ihnen sagen, zu welchem Zweck ich es wissen möchte.« Wimsey skizzierte Großonkel Josephs Laufbahn in groben Umrissen und fuhr fort: »Ich habe mir die Sache überlegt. Wenn jemand Mißtrauen gegen Banken hat, was macht er mit seinem Geld? Er legt es in irgendeinem Besitz an. Land oder Häuser – aber das bringt Mieten ein und bedeutet wieder Geld für die Bank. Es ist eher anzunehmen, daß er Gold oder Banknoten hinterlegt oder wertvolle Steine kauft. Gold und Banknoten nehmen verhältnismäßig viel Platz ein. Edelsteine hingegen sind klein. Gewisse Umstände haben mich veranlaßt, anzunehmen, daß er wohl Steine gewählt hat. Wenn wir nicht ausfindig machen können, was er mit dem Geld angefangen hat, bedeutet es einen großen Verlust für die Erben.« »Ach so. Wenn die Sache so liegt, kann ich es Ihnen ja ruhig sagen. Ich weiß, daß Sie ein Ehrenmann sind, und für Sie will ich meine Regel brechen. Dieser Herr, Mr. Wallace – « »Wallace hat er sich genannt?« »War das nicht sein Name? Sie sind schrullig, diese alten Herren mit ihrer Geheimniskrämerei. Aber das ist nichts Ungewöhnliches. Wenn sie Steine kaufen, fürchten sie oft, daß sie beraubt werden. Daher geben sie einen anderen Namen an. Na dieser Mr. Wallace hat mich von Zeit zu Zeit aufgesucht. Ich hatte den Auftrag, Diamanten für ihn zu finden. Er suchte zwölf völlig gleichwertige Steine von hervorragender Qualität Es dauerte ziemlich lange, bis ich diese fand.« »Natürlich.«
»Über einen Zeitraum von zwanzig Jahren habe ich ihm im ganzen sieben Steine verschafft. Andere Händler haben ihn auch beliefert. Er war in dieser Straße ziemlich bekannt. Den letzten Stein habe ich ihm, glaube ich, im vergangenen Dezember verkauft. Ein schöner Stein! Er zahlte siebentausend Pfund dafür.« »Das muß ja ein fabelhafter Stein gewesen sein. Wenn sie alle so außerordentlich waren, muß die Sammlung einen beträchtlichen Wert haben.« »O ja. Es ist natürlich schwer zu sagen, wieviel. Wie Sie wissen, sind zwölf passende Steine weit mehr wert als die Summe der für die einzelnen Diamanten gezahlten Preise.« »Ganz gewiß. Würden Sie mir vielleicht verraten, auf welche Weise er sie im allgemeinen bezahlt hat?« »Stets in englischen Banknoten. Bar auf den Tisch. Er bestand auf einem Rabatt für Barzahlung.« Mr. Abrahams lachte vor sich hin. »Er war ein Schotte«, erklärte Wimsey. »Na, die Sache scheint ziemlich klar zu sein. Er hatte zweifellos irgendwo ein Safe, und sobald er die Steine zusammenhatte, machte er sein Testament.« »Aber was ist aus den Steinen geworden?« erkundigte sich Mr. Abrahams mit fachmännischer Besorgnis. »Ich glaube, auch das weiß ich«, entgegnete Wimsey. »Ich bin Ihnen ungeheuer dankbar und sein Erbe wahrscheinlich auch.« »Wenn sie wieder auf den Markt kommen sollten – « deutete Mr. Abrahams an. »Dann werde ich dafür sorgen, daß Sie sie in die Hand bekommen«, ergänzte Wimsey prompt. »Das ist freundlich von Ihnen. Geschäft ist Geschäft. Tue Ihnen stets gern einen Gefallen. Schöne Steine – wunderbar. Wenn Sie sie kaufen wollen, würde ich Ihnen als Freund einen besonders günstigen Preis machen.«
»Danke«, sagte Wimsey, »aber wie Sie wissen, ist die Zeit für Diamanten noch nicht reif.« »Schade, schade«, jammerte Mr. Abrahams. »Es hat mich gefreut, Ihnen dienen zu können. Sind Sie vielleicht an Rubinen interessiert? Nein? Ich habe hier nämlich etwas sehr Schönes.« Er griff mit der Hand nachlässig in eine Tasche. Als er sie öffnete, funkelte darin ein karmesinrotes Feuer, das einem Miniatursonnenuntergang glich. »Würde doch hübsch in einem Ring aussehen, nicht wahr?« meinte Mr. Abrahams. »In einem Verlobungsring zum Beispiel, wie?« Wimsey lachte und suchte das Weite. Es drängte ihn sehr, sofort nach Schottland zurückzukehren und die Sache mit Großonkel Joseph persönlich in die Hand zu nehmen. Aber der Gedanke an einen wichtigen Bücherverkauf am nächsten Tage hielt ihn davon ab. Es wurde ein Manuskript von Catullus angeboten, das er leidenschaftlich gern besitzen wollte, und er vertraute seine Interessen niemals einem Händler an. Er begnügte sich also damit, Thomas Macpherson ein Telegramm zu schicken: »Rate Großonkel Joseph sofort aufschneiden.« Das Mädchen am Postschalter wiederholte die Botschaft laut und ein wenig skeptisch. »Durchaus richtig«, bestätigte Wimsey und schlug sich die Angelegenheit aus dem Kopfe. Bei der Bücherauktion am nächsten Tage hatte er viel Spaß. Er fand einen Ring von Händlern auf dem Plan, die eifrig damit beschäftigt waren, ein Kippengeschäft zu machen. Nachdem er eine Stunde lang hinter einer Bildsäule auf der Lauer gelegen hatte, kam er plötzlich zum Vorschein, gerade als der Hammer auf den Catullus niedersausen wollte bei einem Preis, der den zehnten Teil seines Wertes darstellte, und machte ein so großes, promptes und schallendes Überangebot, daß der Ring vor Entsetzen nach Luft schnappte. Scrymes –
ein Händler, der Wimsey wegen eines früheren kleinen Scharmützels über einem Justinian ewige Feindschaft geschworen hatte – riß sich zusammen und bot fünfzig Pfund mehr. Dieses Angebot wurde von Wimsey prompt verdoppelt. Scrymes bot wieder fünfzig Pfund mehr. Wimsey ließ den Preis sofort um hundert emporschnellen, und zwar in einem Ton, als sei er willens, die Sache bis zum Jüngsten Gericht fortzusetzen. Scrymes blickte finster drein und schwieg. Irgend jemand bot fünfzig Pfund mehr. Wimsey verwandelte die Pfunde in Guineen, und der Hammer fiel. Von diesem Erfolg ermutigt und im Gefühl, daß er heute eine glückliche Hand hatte, stürmte er selig in den Kampf um den nächsten Posten, eine »Hypnerotomachia«, die er schon besaß und nach der er gar kein Verlangen hatte. Der durch seine Niederlage verärgerte Scrymes biß die Zähne aufeinander und beschloß Wimseys Bieterlaune auszunutzen und ihn für seine Tollkühnheit bezahlen zu lassen, bis er schwarz wurde. Wimsey, wie berauscht, trieb mit Begeisterung die Preise himmelhoch. Die Händler, die seinen Ruf als Sammler kannten und glaubten, das Buch müsse etwas Ausgezeichnetes an sich haben, das sie übersehen hätten, beteiligten sich mit ganzer Seele, und es wurde schnell und wild geboten. Aber nach und nach hörten sie alle wieder auf und überließen Scrymes und Wimsey das Feld. Sobald Wimsey ein Zaudern in der Stimme des Händlers wahrnahm, zog er sich raffiniert aus der Affäre und ließ Mr. Scrymes in der Patsche. Nach diesem Unheil wurde der Ring mürrisch und mutlos und hielt sich ganz aus dem Spiel. So kam’s, daß ein schüchterner kleiner Außenseiter, der plötzlich in die Arena sprang, ganz billig zu einem feinen Missale aus dem vierzehnten Jahrhundert kam. Krebsrot vor Aufregung und Überraschung bezahlte er seinen Kauf und rannte wie ein Kaninchen aus dem Raum, wobei er das Missale ans Herz drückte, als erwartete er jeden
Augenblick, daß es ihm entrissen würde. Daraufhin machte sich Wimsey ernstlich daran, ein paar schöne frühe Ausgaben zu erwerben, und als ihm das gelungen war, zog er sich, mit Lorbeeren und Haß bedeckt, aus der Arena zurück. Als nach diesem wunderbaren und befriedigenden Tag kein überschwengliches Telegramm von Macpherson eintraf, fühlte er sich irgendwie verletzt. Er wollte nicht glauben, daß seine Folgerungen falsch gewesen seien, und nahm vielmehr an, Macphersons Begeisterung sei viel zu gewaltig für die knappe Ausdrucksweise eines Telegramms und werde sich in einem Brief austoben. Am nächsten Morgen um elf traf jedoch das Telegramm ein. Es lautete: »Telegramm soeben erhalten was bedeutet es Großonkel gestern abend gestohlen Einbrecher entkommen erbitte ausführliche Nachricht.« Wimsey äußerte sich kurz in einer Sprache, die gewöhnlich der Soldateska vorbehalten ist. Zweifellos hatte Robert sich des Großonkels bemächtigt, und selbst wenn man ihn des Einbruchs überführen konnte, so war das Erbteil inzwischen auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Noch nie hatte sich Wimsey so schauderhaft hilflos gefühlt. Er verwünschte sogar den Catullus, der ihn dran gehindert hatte, gen Norden zu fahren und die Sache persönlich in die Hand zu nehmen. Während er noch überlegte, was zu machen sei, brachte man ihm ein zweites Telegramm folgenden Wortlauts: »Großonkels Behälter zerbrochen im Fleet gefunden Einbrecher hat ihn auf der Flucht verloren Inhalt verschwunden. Was nun.« Wimsey überlegte. »Wenn der Dieb«, sagte er sich, »den Behälter einfach geleert und Großonkel Joseph in die Tasche gesteckt hat, sind wir natürlich erledigt. Oder wenn er einfach Großonkel ausgenommen und den Inhalt in die Tasche gesteckt hat, haben
wir ebenfalls das Nachsehen. Aber ›auf der Flucht verloren‹ klingt eher, als sei Großonkel mit der ganzen Geschichte über Bord gegangen. Warum kann dieser blöde Schotte kein ausführlicheres Telegramm schicken. Es hätte nur ein paar Pennies mehr gekostet. Ich fahre am besten selbst hin. Mittlerweile tut ihm ein bißchen gesunde Beschäftigung keinen Schaden.« Er nahm sich ein Telegrammformular und schickte eine weitere Botschaft: »War Großonkel im Behälter als er hinfiel wenn ja Fluß dreggen wenn nein Einbrecher verfolgen wahrscheinlich Robert Ferguson scheue keine Mühe ich fahre heute abend nach Schottland Ankunft frühmorgens dringend wichtig sich tüchtig dahinterklemmen Erklärung mündlich.« Früh am nächsten Morgen setzte der Nachtexpreß Lord Peter Wimsey in Dumfries ab, und ein Mietauto brachte ihn gerade rechtzeitig zum Frühstück nach Stone Cottage. Maggie öffnete ihm die Tür und begrüßte ihn herzlich: »Kommen Sie nur herein, Sir. Alles steht für Sie bereit, und Mr. Macpherson wird in ein paar Minuten zurück sein, denke ich. Nach der langen Reise sind Sie sicher müde und hungrig. Ja. Möchten Sie auch Haferbrei außer Eiern mit Speck? Heute gibt’s keine Forellen, obwohl gestern ein guter Tag zum Fischen war. Mr. Macpherson ist mit meinem Jock den ganzen Tag im Fluß auf und ab gegangen, um eins seiner Präparate, wie er sie nennt, zu suchen, das der Dieb, der hier einbrach, fallen ließ. Ich weiß nicht, was für ein Ding das ist. Mein Jock sagt, es sehe aus wie Kälbergekröse. So hat es ihm Mr. Macpherson beschrieben.« »Du meine Güte!« sagte Wimsey. »Und wie war das mit dem Einbruch, Maggie?« »Ja, das war wirklich sehr merkwürdig, Sir. Mr. Macpherson war den ganzen Montag und Dienstag fort; er fischte im
großen See oben am Viadukt. Sonnabend und Sonntag hatte es nämlich tüchtig geregnet, und Mr. Macpherson sagt, ›Wir werden morgen großartig fischen können, Jock‹ sagt er. ›Wir werden zum Viadukt gehen und die Nacht im Pförtnerhaus verbringen.‹ Am Montag hörte es auf zu regnen, und es war ein schöner, warmer, milder Tag. Also gingen sie zusammen fort. Am Dienstag morgen kam eine Telegramm für ihn, und ich legte es auf den Kaminsims, damit er es sehen konnte, wenn er heimkam, aber ich habe seitdem gedacht, daß das Telegramm vielleicht etwas mit dem Einbruch zu tun haben könnte.« »Ich möchte fast sagen, daß Sie recht hatten, Maggie«, erwiderte Wimsey ernst. »Ja, Sir, das sollte mich nicht überraschen.« Maggie setzte dem Gast eine große Schüssel mit Eiern und Speck vor und nahm die Erzählung wieder auf. »Am Dienstagabend saß ich da in meiner Küche und wartete auf Mr. Macpherson und Jock. Sie taten mir sehr leid, die armen Seelen, denn es goß wieder in Strömen, und die Nacht war so dunkel, daß ich fürchtete, sie könnten in ein Moorloch gestürzt sein. Ich horchte auf die Türklinke, als ich plötzlich ein Geräusch im Vorzimmer hörte. Die Haustür war nicht abgeschlossen, wissen Sie, weil Mr. Macpherson zurückerwartet wurde. Somit sprang ich auf und dachte, sie wären vielleicht hereingekommen, ohne daß ich sie hörte. Ich wartete noch eine Sekunde, um den Kessel aufs Feuer zu setzen, und dann hörte ich ein Krachen. Also kam ich heraus und rief: ›Sind Sie das, Mr. Macpherson?‹ Keine Antwort, aber noch ein anderes lautes Geräusch. Also rannte ich nach vorn, und da kam ein Mann schnell aus dem Vorderzimmer, sauste an mir vorbei, indem er mich mit einer Hand zur Seite schob, und dann wie ein geölter Blitz zur Haustür hinaus. Im selben Augenblick stieß ich einen Schrei aus, und Jocks Stimme
antwortete mir von der Gartenpforte her. ›Och!‹ sage ich, ›Jock! hier ist ein Einbrecher im Haus gewesen!‹ Und ich hörte, wie der Kerl durch den Garten zum Fluß hinunter rannte und dabei den jungen Kohl und die Erdbeerbeete zertrampelte, dieser Schurke!« Wimsey zeigte gebührende Anteilnahme. »Ja, das war eine böse Sache. Und in der nächsten Sekunde waren Mr. Macpherson und Jock holterdiepolter hinter ihm her. Wenn Davie Murrays Kühe eingebrochen wären, hätten sie auch keine größere Verwüstung anrichten können. Und dann hörte man ein Platschen und Krachen, und nach einer Weile kam Mr. Macpherson zurück und sagt: ›Er ist in den Fleet gesprungen‹, sagt er, ›und ist davon. Was hat er gestohlen?‹ sagt er. ›Ich weiß nicht‹, sagte ich, ›denn es passierte alles so schnell, daß ich nichts sehen konnte.‹ ›Kommen Sie ins Haus‹, sagte er, ›und wir wollen nachsehen, was fehlt.‹ Wir guckten in alle Ecken und konnten nichts entdecken. Nur die Schranktür im Vorderzimmer war aufgebrochen, und es fehlte nichts weiter als der Behälter mit dem Präparat.« »Aha!« sagte Wimsey. »Ah! Und beide sind dann mit Lichtern hinausgegangen, aber von dem Dieb war nichts zu sehen. Also kam Mr. Macpherson zurück und ›Ich gehe zu Bett‹, sagt er, ›denn ich bin so müde, daß ich heute nacht nichts mehr tun kann‹, sagt er. ›Oh!‹ sage ich, ›ich wage nicht, ins Bett zu gehen, ich habe Angst.‹ Und Jock sagt, ›Unsinn, Frau, reg dich nicht auf. Heut’ nacht werden keine Einbrecher mehr kommen wegen der Angst, die wir ihnen eingejagt haben.‹ Also haben wir alle Türen und Fenster verriegelt und sind zu Bett gegangen, aber ich konnte kein Auge zutun.« »Das kann man verstehen«, versicherte ihr Wimsey. »Erst am nächsten Morgen«, fuhr Maggie fort, »hat Mr. Macpherson Ihr Telegramm geöffnet. Du meine Güte, war er aufgeregt. Dann
ging’s los mit den Telegrammen. Hin und her, hin und her zwischen dem Haus und dem Postamt. Und dann fanden sie die Scherben des Behälters, in dem das Präparat gewesen war, zwischen den Steinen im Fluß. Und wieder zogen Mr. Macpherson und Jock los mit ihren hohen Gummistiefeln und ein paar Fischhaken und stocherten in allen tiefen Stellen und unter den Steinen herum, um das Präparat zu finden. Und sie sind immer noch dabei.« In diesem Augenblick bumste es dreimal heftig auf die Decke. »Herrjemine!« rief Maggie. »Ich habe den armen Herrn ja ganz vergessen.« »Was für einen Herrn?« erkundigte sich Wimsey. »Den sie aus dem Fleet gefischt haben«, antwortete Maggie. »Entschuldigen Sie einen Augenblick, Sir.« Sie rannte schleunigst nach oben. Wimsey goß sich die dritte Tasse Kaffee ein und zündete seine Pfeife an. Kurz darauf kam ihm ein Gedanke. Er trank erst seinen Kaffee aus – denn er versagte sich nicht gern einen Genuß – und ging dann seelenruhig hinter Maggie her nach oben. Ihm gegenüber stand eine Schlafzimmertür halb offen – es war ein Raum, den er während seines letzten Besuchs bewohnt hatte. Er stieß sie vollends auf. Im Bett lag ein rothaariger Herr, dessen langes, fuchsartiges Gesicht in keiner Weise verschönert wurde durch einen weißen Verband, der schief und etwas verwegen über der linken Schläfe lag. Ein Frühstückstablett stand auf einem Tisch neben dem Bett. Wimsey trat mit ausgestreckter Hand ins Zimmer. »Guten Morgen, Mr. Ferguson«, begrüßte er ihn. »Dies ist ein unerwartetes Vergnügen.« »Guten Morgen«, sagte Mr. Ferguson bissig. »Bei unserer letzten Begegnung«, fuhr Wimsey fort, indem er sich aufs Bett setzte, »ahnte ich nicht, daß Sie beabsichtigten, meinen Freund Macpherson zu besuchen.«
»Gehen Sie von meinem Bein herunter«, knurrte der Invalide. »Ich habe mir die Kniescheibe gebrochen.« »Wie lästig! Äußerst schmerzhaft, nicht wahr? Und es heißt, es dauert Jahre, bis die Geschichte wieder in Ordnung ist – wenn sie überhaupt wieder in Ordnung kommt. Ist es eine sogenannte Potts-Fraktur? Ich weiß zwar nicht, wer Potts war, aber es klingt so eindrucksvoll. Wie sind Sie dazugekommen? Beim Fischen?« »Ja. Bin in dem verdammten Fluß ausgerutscht.« »Scheußlich. Kann aber jedem passieren. Sind Sie ein begeisterter Angler, Mr. Ferguson?« »Leidlich.« »Ich auch, wenn ich Gelegenheit habe. Was für eine Fliege nehmen Sie am liebsten für diese Gegend? Ich selbst bin für Green-aways Gadget. Haben Sie die mal ausprobiert?« »Nein«, erwiderte Mr. Ferguson kurz angebunden. »Manche ziehen die Pink Sisket vor, wie man mir erzählt hat. Benutzen Sie die auch? Haben Sie Ihr Fliegenalbum hier?« »Ja – nein«, sagte Mr. Ferguson. »Ich habe es fallen lassen.« »Schade. Aber sagen Sie mir doch, was Sie von der Pink Sisket, halten.« »Nicht übel«, meinte Mr. Ferguson. »Ich habe manchmal Forellen damit gefangen.« »Das überrascht mich aber«, sagte Wimsey nicht ganz grundlos; denn er hatte die Pink Sisket ohne Überlegung erfunden und kaum erwartet, daß seine Improvisation durchgehen würde. »Na, durch diesen unseligen Unfall ist es mit Ihrer sportlichen Betätigung wohl für diese Saison aus. Verdammtes Pech. Sonst hätten Sie uns helfen können, dem Patriarchen zu Leibe zu rücken.« »Was ist das? Eine Forelle?« »Ja – ein schrecklich listiger alter Fisch. Lungert im Fleet herum. Man weiß nie, wo er zu finden ist. Jeden Augenblick
kann er an einer tiefen Stelle auftauchen. Ich gehe heute mit Mac los und werde mein Heil versuchen. Er ist ein richtiges Kleinod. Wir haben ihm einen Spitznamen verliehen. Er heißt bei uns Großonkel Joseph. He! wackeln Sie nicht so – sonst wird Ihr Knie schmerzen. Kann ich etwas für Sie tun?« Wimsey grinste liebenswürdig und drehte sich um, als er jemanden auf der Treppe rufen hörte. »Hallo! Wimsey! Bist du das?« »Ich bin’s. Wie ist es mit dem Sport?« Macpherson stürmte die Treppe hinauf und nahm vier Stufen auf einmal. Auf dem Treppenabsatz stieß er mit Wimsey zusammen, als dieser aus dem Schlafzimmer kam. »Weißt du auch, wer das ist? Es ist Robert.« »Ich weiß. Ich habe ihn in London gesehen. Kümmere dich nicht um ihn. Hast du den Großonkel gefunden?« »Nein, leider nicht. Was soll dieser mysteriöse Kram? Und was suchte Robert hier? Was meintest du eigentlich als du schriebst, er sei der Einbrecher? Und warum ist Großonkel Joseph so wichtig?« »Eins nach dem anderen. Wollen erst einmal den alten Knaben finden. Was hast du inzwischen getan?« »Als ich deine merkwürdigen Botschaften bekam, dachte ich natürlich, du seiest durchgedreht.« (Wimsey stöhnte vor Ungeduld.) »Dann dachte ich, wie komisch, daß jemand sich die Mühe machen sollte, Großonkel Joseph zu stehlen, und kam zu dem Schluß, daß deine Faseleien doch Sinn und Verstand haben könnten.« (»Sehr gnädig von dir«, sagte Wimsey.) »Also bin ich hinausgegangen und habe ein wenig herumgestochert. Ich glaube zwar nicht, daß wir die geringste Chance haben, etwas zu finden, da der Fluß so geschwollen ist. Na, ich war nicht sehr weit gekommen – habe übrigens Jock mitgenommen. Der denkt bestimmt, ich sei verrückt. Nicht,
daß er etwas sagt; diese Leute hier gehen nie aus sich heraus – « »Zum Teufel mit Jock! Erzähl weiter.« »Wie gesagt, ich war nicht sehr weit gekommen, da sahen wir einen Burschen mit Angelrute und Fischkorb im Fluß herumwaten. Ich achtete aber nicht besonders darauf, weil ich nämlich überlegte, was du wohl – na ja! Jock bemerkte ihn und sagte zu mir: ›Dahinten ist ein merkwürdiger Angler, wie mir scheint.‹ Also blickte ich hin und sah ebenfalls, wie er zwischen den Steinen herumstolperte und mit einem Fischhaken in den tiefen Stellen herumstocherte, während seine Fliege vor ihm den Fluß hinabtrieb. Ich rief ihn also an, und er drehte sich um. Dann legte er hastig den Fischhaken beiseite und begann, seine Angelschnur aufzuwinden. Er konnte überhaupt nicht damit fertigwerden – eine furchtbare Pfuscherei«, fügte Macpherson mit großem Verständnis für solche Dinge hinzu. »Das glaube ich gern«, meinte Wimsey. »Ein Mann, der zugibt, daß er Forellen mit einer Pink Sisket fängt, wird alles verpfuschen.« »Einer Pink – was?« »Nicht wichtig. Ich wollte damit nur sagen, daß Robert vom Angeln keine Ahnung hat. Weiter.« »Die Schnur hatte sich irgendwo festgehakt, und er zog und zerrte mit aller Gewalt und machte ein fürchterliches Geplansche. Dann löste sie sich ganz plötzlich, und er schwenkte sie wie wild in der Luft herum und angelte mir den Hut vom Kopf. Das ärgerte mich maßlos, und ich ging auf ihn los. Er sah sich nochmals um, und ich rief: ›Mein Gott, das ist ja Robert!‹ Da ließ er seine Angel fallen und machte sich aus dem Staube oder vielmehr aus dem Wasser. Dabei rutschte er auf den glatten Steinen aus und fiel krachend hin. Wir stürzten herbei, fischten ihn aus dem Wasser und brachten ihn nach Hause. Er hat sich scheußlich den Kopf gestoßen und die
Kniescheibe gebrochen. Sehr interessant. Ich hätte am liebsten selbst mein Heil daran versucht. Aber das darf ich ja noch nicht. Also habe ich Strachan kommen lassen. Der ist ziemlich tüchtig.« »Bisher hast du ein ungewöhnliches Glück in dieser Angelegenheit gehabt«, sagte Wimsey. »Nun brauchen wir nur noch Großonkel Joseph zu finden. Wie weit bist du im Fluß gekommen?« »Nicht sehr weit. Die ganze Geschichte mit Robert hat uns sehr aufgehalten. Gestern konnten wir nicht mehr viel tun.« »Dieser verfluchte Robert! Großonkel mag inzwischen ins Meer getrieben sein. Wollen uns jetzt an die Arbeit machen.« Er nahm einen Fischhaken aus dem Schirmständer und ging ihnen voran nach draußen. Die braune Flut des kleinen Flusses schäumte dahin und riß klappernde Kiesel und größere Steine mit sich. Jedes Loch, jeder Strudel mochte ein Schlupfwinkel für Großonkel Joseph sein. Wimsey blickte unschlüssig hierhin und dahin – und wandte sich plötzlich an Jock. »Wo ist die nächste Landzunge, an der gewöhnlich alles angeschwemmt wird?« wollte er wissen. »Nun ja! Da ist der Battery Pool, etwa eine Meile flußabwärts. Dort wird manchmal etwas angeschwemmt. Ei ja. Da ist eine tiefe Stelle und etwas Sand, wo der Fluß eine Biegung macht. Dort könnten Sie es vielleicht finden, wie mir scheint. Vielleicht auch nicht. Das kann ich nicht sagen.« »Wollen uns den Platz auf jeden Fall ansehen.« Macpherson, dem eine gründliche Durchsuchung des Flusses nicht gerade sehr verlockend schien, lebte bei diesem Vorschlag wieder etwas auf. »Das ist eine glänzende Idee. Wenn wir mit dem Auto etwa bis Gatehouse fahren, brauchen wir nur noch zwei Felder zu überqueren.«
Das Auto stand noch vor der Tür; der gedungene Chauffeur genoß die Gastfreundschaft des Hauses. Sie rissen ihn von Maggies Haferkuchen los und rollten dann die Straße nach Gatehouse hinab. »Die Seemöwen dahinten scheinen sich emsig um etwas zu bemühen«, meinte Wimsey, als sie das zweite Feld überquerten. Die weißen Flügel flatterten über der gelben Sandbank auf und ab in immer enger werdenden Kreisen. Der Wind trug heisere Schreie zu ihnen herüber. Wimsey deutete schweigend mit der Hand. Ein langes, unansehnliches Ding lag wie ein gelblichgrauer Geldbeutel am Ufer. Die Möwen flogen höher und kreischten die Eindringlinge empört an. Wimsey lief voran, bückte sich, und als er sich wieder aufrichtete, baumelte der lange Sack an seinem Finger. »Großonkel Joseph, habe die Ehre«, sagte er und nahm mit altmodischer Höflichkeit den Hut ab. »Die Möwen haben hier und da etwas daran herumgepickt«, bemerkte Jock. »Es ist wohl zu zäh für sie. Jawohl. Sie haben noch nicht viel Schaden angerichtet.« »Willst du es denn nicht öffnen?« fragte Macpherson ungeduldig. »Nicht hier«, entgegnete Wimsey. »Wir könnten etwas verlieren.« Er ließ es in Jocks Fischkorb fallen. »Wir wollen es erst einmal Robert zeigen.« Robert begrüßte sie mit schlecht verhüllter Entrüstung. »Wir sind angeln gegangen«, erklärte Wimsey heiter. »Sehen Sie sich unseren netten kleinen Fisch an.« Er wog den Fang in seiner Hand. »Was ist wohl in diesem kleinen Fisch drin, Mr. Ferguson?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erwiderte Robert. »Warum haben Sie denn danach gefischt?« fragte Wimsey vergnügt. »Hast du ein Skalpell da, Mac?« »Ja – hier. Beeil dich.«
»Das will ich dir überlassen. Sei vorsichtig. Ich würde beim Magen anfangen.« Macpherson legte Großonkel Joseph auf den Tisch und schlitzte ihn mit geübter Hand auf. »Gott sei uns gnädig!« rief Maggie, die ihm über die Schulter blickte. »Was ist denn das?« Wimsey schob vorsichtig Zeigefinger und Daumen in Großonkel Josephs Höhlungen. »Eins – zwei – drei – « Die Steine glitzerten wie Feuer, als er sie auf den Tisch legte. »Sieben – acht – neun. Das scheint hier alles zu sein. Versuche es mal etwas weiter unten, Mac.« Sprachlos vor Staunen sezierte Mr. Macpherson sein Erbteil. »Zehn – elf«, zählte Wimsey. »Ich fürchte, die Möwen haben sich Nummer zwölf geschnappt. Tut mir leid, Mac.« »Aber wie sind die nur da hineingekommen?« fragte Robert ziemlich albern. »Nichts einfacher als das. Großonkel Joseph macht sein Testament, schluckt seine Diamanten – « »Er muß ein guter Pillenschlucker gewesen sein«, sagte Maggie mit Respekt. » – und springt aus dem Fenster. Das wird jedem klar, der das Testament gelesen hat. Er gab dir deutlich zu verstehen, Mac, daß du den Magen studieren solltest.« Robert Ferguson stieß einen schweren Seufzer aus. »Ich ahnte so etwas«, sagte er. »Deshalb habe ich mir ja das Testament angesehen. Und als ich Sie dort traf, wußte ich Bescheid. (Ha, dieses verfluchte Bein!) Aber nicht für einen Augenblick habe ich mir träumen lassen – « Seine Augen glitten gierig abschätzend über die Diamanten. »Und was sind die Steine wohl so wert?« erkundigte sich Jock. »Ungefähr siebentausend Pfund das Stück, wenn man sie einzeln nimmt. Mehr noch in der Gesamtheit.«
»Der Alte war verrückt«, sagte Robert zornig. »Ich werde das Testament anfechten.« »Ich glaube nicht«, meinte Wimsey. »Es gibt nämlich ein Vergehen, das man als Einbruchdiebstahl bezeichnet.« »Mein Gott!« staunte Macpherson, der die Diamanten wie im Traum durch seine Hände gleiten ließ. »Mein Gott!« »Siebentausend Pfund«, warf Jock dazwischen. »Habe ich Sie richtig verstanden, daß da jetzt eine Möwe herumfliegt, mit einem Diamanten im Wanst, der siebentausend Pfund wert ist? Ach, du liebes Leben! Der Gedanke ist geradezu schrecklich. Guten Tag, die Herren. Ich will zu Jimmy McTaggert gehen und ihn bitten, mir ein Gewehr zu leihen.«
Feuerwerk
»Na, alter Junge«, sagte Mr. Lamplough, »was kann ich für dich tun?« »Der Brummer wird wohl in Aktion treten müssen«, meinte Lord Peter Wimsey, während er sich auf dem mit grünem Leder bezogenen Marterstuhl niederließ und mit einer Grimasse des Abscheus auf den Bohrer deutete. »Links oben ist mir ein Backenzahn abgebrochen, und ausgerechnet, als ich eine Omelette aß. Es ist mir schleierhaft, warum das bei solchen Gelegenheiten passiert. Wenn ich nun Nüsse geknackt oder auf einem Pfefferminzbonbon herumgekaut hätte…« Mr. Lamplough machte eine besänftigende Bemerkung und zog mit magischem Griff einen Spiegel mit elektrischer Birne aus dem Zauberkasten zu Lord Peters Linken. »Schmerzen?« »Keine Schmerzen«, erwiderte Wimsey gereizt, »abgesehen von einer scharfen Kante, die mir fast die Zunge absägt. Ich frage mich nur: was soll das? Ich habe dem Zahn doch nichts getan.« »Nein?« sagte Mr. Lamplough in halb professionellem, halb freundschaftlichem Ton; denn er hatte auch die WinchesterSchule besucht und gehörte zu einem von Wimseys Klubs. In ihrer Jugend hatten sie häufig miteinander Kricket gespielt. »Wenn du mal eine Sekunde den Schnabel halten wolltest, könnte ich mir den Schaden ansehen. Aha!« »Sag nicht, ›Aha!‹ in diesem Ton, als ob du Paradentose und Kieferschwund entdeckt hättest und dich vor Freude nicht lassen könntest, alter Blutsauger. Bohr ihn aus, stopf die Füllung hinein, und fertig. Was hast du übrigens ausgefressen? Ich bin einem Polizeiinspektor auf deiner Schwelle begegnet.
Du brauchst gar nicht so zu tun, als sei er seines Gebisses wegen gekommen; ich habe nämlich gesehen, daß sein Wachtmeister draußen auf ihn wartete.« »Ja, das ist eine ziemlich merkwürdige Angelegenheit«, sagte Mr. Lamplough, während er seinen Freund geschickt mit einer Hand knebelte and ihm mit der anderen Watte in den hohlen Zahn stopfte. »Eigentlich sollte ich nicht darüber reden; aber du würdest es ja doch aus deinen Freunden von Scotland Yard herauslotsen. Der Inspektor wollte die Bücher meines Vorgängers einsehen. Vielleicht hast du die Notiz in der Zeitung gelesen über einen Zahnarzt, der in einer brennenden Garage in Wimbledon tot aufgefunden wurde.« »Ae-ä«, verneinte Lord Peter Wimsey mit aufgerissenem Mund. »Gestern abend«, fuhr Mr. Lamplough fort, »brannte es auf einmal, gegen neun Uhr. Sie haben drei Stunden gebraucht, um das Feuer zu löschen. Es war eine dieser verdammten Holzgaragen, und sie hatten alle Hände voll zu tun, das Wohnhaus vor den Flammen zu schützen. Glücklicherweise liegt es ganz am Ende der Straße. Niemand war zu Hause; sie sind alle verreist. Offenbar war dieser Mr. Prendergast im Begriff, ebenfalls auszufliegen, und hat es dabei fertiggebracht, sich, seinen Wagen und seine Garage in Brand zu setzen. Als man ihn fand, war die Leiche so verkohlt, daß man ihn nicht mit Sicherheit identifizieren konnte. Daher will die Polizei seine Zähne ansehen.« »Wirklich?« sagte Wimsey, während er zusah, wie Mr. Lamplough einen neuen Bohrer einsetzte. »Hat man denn nicht versucht, das Feuer zu löschen?« »O ja, aber es war ein Holzschuppen, dazu voller Benzin, und brannte sofort lichterloh. Den Kopf bitte ein wenig nach hier. So ist’s gut.« G-r-r-r s-s-s-s-g-r-r. »Man nimmt an, daß es sich um Selbstmord handeln könnte. Der Mann ist verheiratet und hat drei Kinder.« S-s-s g-r-r-r s-s-s. »Seine Familie ist in
Worthing, zu Besuch bei seiner Schwiegermutter. Sag mir, wenn’s weh tut.« G-r-r. »Ich glaube, die Praxis ging nicht gut, dazu Eheschwierigkeiten und was weiß ich. Immerhin kann ihm auch einfach beim Auffüllen seines Tanks ein Unglück zugestoßen sein. Soviel ich verstand, wollte er gestern abend zu seiner Familie fahren.« »A-ha-u-ai-u-u?« gurgelte Wimsey. »Was ich damit zu tun habe?« interpretierte Mr. Lamplough korrekt. Lange Erfahrung hatte ihn zum Experten in der Deutung solcher Urlaute gemacht. »Nun, der Mann, dessen Praxis ich übernommen habe, hatte den Kollegen Prendergast zahnärztlich behandelt.« S-s-s-s. »Er ist inzwischen gestorben, hat mir aber damals seine Bücher zur Orientierung hinterlassen, falls einige seiner alten Patienten geneigt sein sollten, sich mir anzuvertrauen.« G-r-r s-s-s. »Hast du das gespürt? Tut mir leid. Tatsächlich suchen mich manche von ihnen auf. Die Menschen trotteln wohl instinktiv zur selben alten Stelle, wenn sie von Schmerzen gepeinigt werden. Genau wie die sterbenden Elefanten. Willst du bitte spülen?« »So steht die Sache also«, meinte Wimsey, nachdem er die Splitter ausgespuckt und den verwüsteten Backenzahn mit der Zunge untersucht hatte. »Merkwürdig, daß einem diese Löcher immer so groß vorkommen. Mir ist, als könnte ich meinen Kopf hineinstecken. Aber du wirst ja wissen, was du tust. Und was ist nun mit Prendergasts Zähnen?« »Hatte noch keine Zeit, die Bücher durchzusehen; habe ihnen aber versprochen, nach Wimbledon zu fahren und die Sache an Ort und Stelle zu prüfen, sobald ich mit dir fertig bin. Es ist sowieso meine Mittagspause, und die nächste Patientin hat, Gott sei Dank, abgesagt. Etwas weiter aufmachen, wenn’s geht.« G-r-r. »So ist’s recht. Nun können wir eine provisorische Füllung einlegen. Bitte spülen.«
»Schön«, sagte Wimsey. »Aber nimm bloß nicht zuviel von diesem scheußlichen Nelkenöl. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schauderhaft mit Nelken gewürzter Kaviar schmeckt.« »Doch«, lachte Mr. Lamplough. »Bitte zusammenbeißen. Aufmachen. Gut. Jetzt bist du erlöst. Noch mal spülen? Bitte. Und wann kommst du wieder?« »Unsinn«, sagte Wimsey, »ich komme mit. Nach Wimbledon. Du bist zweimal so schnell da, wenn ich dich fahre. Eine Leiche in einer brennenden Garage habe ich noch nie gehabt und möchte etwas lernen.« Der Anblick verkohlter Leichen ist alles andere als erfreulich. Trotz seiner Kriegserfahrungen vermochte Wimsey sich nicht mit dem Objekt anzufreunden, das da in der Polizeiwache vor ihm lag. Vor diesem grausigen Etwas, das überhaupt keine Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen mehr hatte, erblaßte selbst der Polizeiarzt, während Mr. Lamplough so überwältigt war, daß er die mitgebrachten Bücher aus der Hand legen und sich ins Freie verziehen mußte. Unterdessen drehte Wimsey, der sich mit den Polizeibeamten bekannt gemacht hatte, nachdenklich den kleinen Haufen von geschwärzten Siebensachen um, der den Inhalt von Prendergasts Taschen darstellte. Es war nichts Bemerkenswertes darunter. Die lederne Brieftasche enthielt noch die Überreste eines ziemlich dicken Banknotenbündels – zweifellos Bargeld für die Ferien in Worthing. Die goldene Uhr war um sieben Minuten nach neun stehengeblieben. Wimsey machte eine Bemerkung über ihren guterhaltenen Zustand; er erklärte sich wohl aus ihrer geschützten Lage zwischen dem linken Arm und dem Körper. »Es hat den Anschein, als ob die erste plötzliche Glut ihn regelrecht übermannt hätte«, meinte der Polizeiinspektor. »Er hat offensichtlich keinen Versuch gemacht, ins Freie zu kommen, ist einfach über das Steuerrad gefallen und mit dem Kopf auf das Armaturenbrett geschlagen. Deshalb ist das
Gesicht so entstellt. Ich werde Ihnen nachher die Überreste des Wagens zeigen, Mylord. Wenn der andere Herr sich besser fühlt, wollen wir erst einmal die Leiche vornehmen.« Die Leiche »vorzunehmen« erwies sich als eine ebenso langwierige wie unangenehme Aufgabe. Mr. Lamplough, der seine ganze Kraft zusammennahm, prüfte sorgfältig mit Zange und Sonde die Kiefer, welche durch die Hochofenhitze fast bis zur Knochenstruktur reduziert waren, während der Polizeiarzt den Befund mit den Eintragungen in den Büchern verglich. Mr. Prendergasts zahnärztliche Behandlung hatte sich über mehr als zehn Jahre erstreckt, und zwei oder drei Füllungen stammten noch aus einer früheren Periode, was bei seinem ersten Besuch bei Mr. Lamploughs Vorgänger vermerkt worden war. Am Ende der langen Untersuchung blickte der Polizeiarzt von den Notizen, die er sich gemacht hatte, auf. »Wir wollen das noch einmal kontrollieren«, schlug er vor. »Wenn wir berücksichtigen, daß alte Arbeiten erneuert worden sind, haben wir wohl ein ziemlich genaues Bild von der jetzigen Verfassung seines Gebisses. Es sollten im ganzen neun Füllungen vorhanden sein. Kleine Amalgamfüllung im rechten unteren Weisheitszahn; große Amalgamfüllung rechts unten erster hinterer Backenzahn; Amalgamfüllungen rechts oben im ersten und zweiten vorderen Backenzahn am Berührungspunkt; rechter oberer Schneidezahn Stiftkrone. Stimmt’s?« »Ich denke, ja«, erwiderte Mr. Lamplough. »Nur scheint der rechte obere Schneidezahn ganz zu fehlen. Aber vielleicht hatte sich die Krone gelockert und ist herausgefallen.« Er sondierte vorsichtig. »Der Kiefer ist sehr spröde – ich kann den Wurzelkanal nicht entdecken – aber es spricht nichts dagegen.« »Die Krone finden wir vielleicht nachher in der Garage«, meinte der Inspektor.
»Linke Seite«, fuhr der Polizeiarzt fort. »Gebrannte Porzellanfüllung im oberen Eckzahn, Amalgamfüllungen oben erster vorderer Backenzahn, unten zweiter vorderer Backenzahn und unten zweiter hinterer Backenzahn. Das scheint alles zu sein. Weder fehlende noch künstliche Zähne. Wie alt war dieser Mann, Inspektor?« »Ungefähr fünf und vierzig, Doktor.« »Genau so alt wie ich. Ich wünschte, ich hätte so gute Zähne«, seufzte der Arzt, und Mr. Lamplough pflichtete ihm bei. »Dann können wir also annehmen, daß es Mr. Prendergast ist«, meinte der Inspektor. »Bleibt nur noch die Frage, ob es sich um einen Unfall oder um Selbstmord handelt.« »Ziemlich abgelegen für einen Zahnarzt«, bemerkte Mr. Lamplough, als sie bei einigen verstreuten Häusern am Stadtrand anlangten. Der Inspektor schnitt eine Grimasse. »Ganz meine Meinung, Sir, aber Mrs. Prendergast überredete ihren Mann, sich hier draußen niederzulassen. So schön es für die Kinder ist, so ungünstig ist es für die Praxis. Ich sage Ihnen offen, daß Mrs. Prendergast einigen Anlaß zu der Selbstmordtheorie gab.« Ein Menschenknäuel drängte sich vor dem Gartentor eines Einfamilienhauses am Ende einer Reihe ähnlicher Häuser. Von einem Trümmerhaufen im Garten wehte ein ekelhafter Brandgeruch herüber. Der Inspektor ging den anderen voran durch das Tor, begleitet von den Bemerkungen der Umstehenden. »Aha, der Inspektor…Das dort ist Dr. Maggs. Das ist wohl auch ein Arzt, der mit der Tasche… Wer kann denn das sein?…. Sieht aus wie ein richtiger Adeliger… Pah, wahrscheinlich der Versicherungsagent…« Wimsey grinste unschicklich vor sich hin, während sie den Gartenpfad hinuntergingen. Der Anblick des Wagengerippes
inmitten der nassen, geschwärzten Überreste der Garage stimmte ihn wieder ernst. Zwei mit einem Sieb über Asche und Schutt gebeugte Polizisten richteten sich auf und grüßten. »Kommen Sie gut voran, Jenkins?« »Haben noch nicht viel gefunden, Sir. Nur eine Zigarettenspitze aus Elfenbein. Dieser Herr…« er deutete auf einen untersetzten Mann mit Glatze und Brille, »ist Mr. Tolley von der Autofabrik. Der Kommissar hat ihn hergeschickt, Sir.« »Schön. Was ist Ihre Meinung, Mr. Tolley? Dr. Maggs kennen Sie wohl schon. Mr. Lamplough. Lord Peter Wimsey. Übrigens, Jenkins, Mr. Lamplough hat das Gebiß des Toten untersucht und hält Ausschau nach einem verlorenen Zahn. Sie können vielleicht versuchen, ihn zu finden. Nun, Mr. Tolley, was sagen Sie?« »Ich bin mir ziemlich klar darüber, wie es passiert ist«, erwiderte Mr. Tolley, der nachdenklich in den Zähnen stocherte. »Regelrechte Todesfallen, diese kleinen Limousinen, wenn etwas unerwartet schiefgeht. Der Wagen hatte einen Vordertank, und es sieht ganz so aus, als ob es irgendwo hinter dem Armaturenbrett geleckt hätte. Vielleicht war eine Schweißnaht gesprungen, oder die Verbindung zur Benzinleitung hatte sich gelockert. Aus einem beschädigten Tank oder Rohr kann eine ganze Menge langsam heraussickern, und der Wagen war vorn anscheinend mit Kokosmatten verkleidet, weshalb es nicht gleich aufgefallen ist. Es hat natürlich nach Benzin gerochen, aber in diesen kleinen Garagen riecht es meistens nach Benzin, und Mr. Prendergast hatte mehrere Kanister Vorrat. Anscheinend hat er seinen Tank aufgefüllt – es stehen zwei leere Kanister neben der Haube – ist eingestiegen, hat die Tür geschlossen, vielleicht den Wagen angelassen und sich eine Zigarette angezündet. Sind dann Benzindämpfe von irgendeinem Leck vorhanden, explodiert die ganze Chose – wumm!«
»Wie war die Zündung?« »Abgestellt. Vielleicht hatte er sie gar nicht eingeschaltet; aber es ist ebenso denkbar, daß er sie wieder abgestellt hat, sobald die Flammen hochschlugen. Natürlich Unsinn, aber viele Leute machen das. Das richtige wäre gewesen, den Benzinhahn abzudrehen und den Motor laufen zu lassen, damit der Vergaser sich entleert. Aber man denkt nicht immer scharf, wenn man bei lebendigem Leibe verbrennt. Vielleicht hat er auch die Absicht gehabt, die Benzinzufuhr abzustellen, und hat das Bewußtsein verloren, ehe er sie ausführen konnte. Der Tank ist hier, auf der linken Seite, sehen Sie.« »Andererseits«, ließ sich Wimsey hören, »mag er Selbstmord begangen und den Unfall vorgetäuscht haben.« »Schauderhafte Selbstmordart.« »Und wenn er vorher Gift genommen hätte?« »Er hätte lange genug am Leben bleiben müssen, um den Wagen in Brand zu setzen.« »Allerdings. Und wenn er sich erschossen hätte, würde das Feuer der Pistole… Nein, das ist Unsinn, in diesem Falle hätte man die Waffe gefunden. Oder eine Spritze? Nein, derselbe Einwand. Mit Blausäure hätte er es vielleicht geschafft – ich meine, er hätte eine Tablette nehmen können und gerade noch Zeit gehabt, den Wagen in Brand zu setzen. Blausäure wirkt schnell, aber nicht unbedingt sofort.« »Ich werde auf jeden Fall Ausschau danach halten«, versprach Dr. Maggs. Sie wurden von dem Polizisten unterbrochen. »Entschuldigen Sie, Sir, aber ich glaube, wir haben den Zahn gefunden. Mr. Lamplough sagt, es sei der richtige.« Zwischen seinem schmutzigen Daumen und Zeigefinger hielt er einen kleinen, knochigen Gegenstand, aus dem ein Metallstift herausragte. »Dem Aussehen nach zu urteilen, ist es die Richmondkrone eines rechten oberen Schneidezahns«, bestätigte Mr.
Lamplough. »Der Zement hat sich wohl in der Hitze aufgelöst. Manche Zementsorten sind gegen Hitze empfindlich, manche gegen Feuchtigkeit. Nun, dadurch ist der Fall wohl geklärt, nicht wahr?« »Ja – wir werden es der Witwe schonend beibringen müssen. Allerdings wird sie nicht mehr daran gezweifelt haben.« Mrs. Prendergast – eine Dame mit zuviel Make-up und einem Gesicht, in das gewohnheitsmäßige Verdrießlichkeit tiefe Linien gegraben hatte – brach beim Empfang dieser Nachricht in lautes Schluchzen aus. Sobald sie sich genügend erholt hatte, teilte sie ihnen mit, daß Arthur stets nachlässig mit Benzin umgegangen sei; daß er zuviel geraucht habe; daß sie ihn oft vor der Gefährlichkeit kleiner Limousinen gewarnt und ihm geraten habe, sich einen größeren Wagen anzuschaffen, denn sein Wagen sei wirklich nicht groß genug für sie und die ganze Familie gewesen; daß er es nicht lassen konnte, nachts zu fahren, obgleich sie immer gesagt habe, es sei gefährlich, und daß dies niemals geschehen wäre, wenn er auf sie gehört hätte. »Der arme Arthur war kein guter Fahrer. Erst letzte Woche, als er uns nach Worthing brachte, fuhr er den Wagen eine Böschung hinauf beim Versuch, einen Lieferwagen zu überholen.« »Aha!« rief der Inspektor. »Bei der Gelegenheit muß der Tank undicht geworden sein.« Vorsichtig erkundigte er sich, ob Mr. Prendergast wohl einen Grund gehabt haben könnte, sich das Leben zu nehmen. Die Witwe war empört. Allerdings sei die Praxis in letzter Zeit ein wenig zurückgegangen, aber so etwas Entsetzliches hätte Arthur nie getan. Du liebe Güte, erst vor drei Monaten hatte er sich ja in Höhe von fünfhundert Pfund in eine Lebensversicherung eingekauft. Die hätte er nie durch einen Selbstmord aufs Spiel gesetzt. So rücksichtslos Arthur ihr gegenüber auch gewesen sei, wie sehr er sie auch als Frau verletzt habe, er hätte seine unschuldigen Kinder nicht
beraubt. Bei dem Wort »verletzt« spitzte der Inspektor die Ohren. Inwiefern hatte er sie verletzt? Oh, sie hatte natürlich die ganze Zeit gewußt, daß Arthur sich mit dieser Mrs. Fielding abgab. Er konnte sie nicht täuschen mit all dem Gerede, daß die Zähne dieser Frau ständige Behandlung nötig hätten. Und es war ganz schön und gut, zu sagen, daß Mrs. Fieldings Haus besser im Schuß sei als ihr eigenes. War das etwa erstaunlich bei einer reichen Witwe ohne Anhang und ohne alle Verpflichtungen? Mrs. Fielding fiel es natürlich nicht schwer, die Männer anzulocken, wo sie sich wie eine Modepuppe kleidete und einen solchen Lebenswandel, führte. Sie, Mrs. Prendergast, hatte gesagt: »Wenn das nicht aufhört, lasse ich mich scheiden!« Seitdem hatte er alle seine Abende in London verbracht – und was mochte er dort nur… Der Inspektor unterbrach diesen Redefluß, indem er sich nach Mrs. Fieldings Adresse erkundigte. »Die kann ich Ihnen nicht geben«, erwiderte Mrs. Prendergast. »Sie hat hier in Nummer S7 gewohnt, aber sie ist ins Ausland gegangen, nachdem ich ein für allemal klargestellt hatte, daß ich mir dies nicht mehr bieten lassen würde. Manche Leute haben es doch gut… Ich bin seit unserer Hochzeitsreise – und die führte nur bis Boulogne – nie wieder ins Ausland gekommen.« Nach dieser Unterredung legte der Inspektor Dr. Maggs nahe, bei seiner Suche nach Blausäure doch recht gründlich zu sein. Die letzte Zeugenaussage stammte von Gladys, dem Alleinmädchen im Prendergastschen Haushalt. Sie hatte das Haus am Tage zuvor um sechs Uhr verlassen; sie sollte eine Woche Ferien nehmen, während die Prendergasts in Worthing waren. Mr. Prendergast hatte ihr in den letzten Tagen einen gequälten und nervösen Eindruck gemacht, doch das hatte sie nicht überrascht, weil sie wußte, daß er nur ungern bei der
Familie seiner Frau weile. Gladys hatte ihre Arbeit beendet, eine kalte Platte für den Hausherrn zurechtgemacht und war dann mit seiner Erlaubnis nach Hause gegangen. Mr. Prendergast hatte ihr auseinandergesetzt, daß er länger arbeiten werde – ein Patient aus Australien wollte vor seiner Heimreise rasch die Zähne in Ordnung bringen lassen – sie brauche aber nicht auf ihn zu warten. Es stellte sich heraus, daß Mr. Prendergast sein Abendessen kaum angerührt hatte, da er es wohl eilig hatte, fortzukommen. Der erwähnte Patient war vermutlich die letzte Person gewesen, die Mr. Prendergast lebend gesehen hatte. Als nächstes wurde das Anmeldebuch des Zahnarztes geprüft. Der Patient war dort eingetragen als »Mr. Williams 17.30«, er wohnte in einem kleinen Hotel in Bloomsbury. Von dem Geschäftsführer des Hotels erfuhr man, daß Mr. Williams sich dort eine Woche aufgehalten habe. Er habe keine nähere Adresse angegeben, nur Adelaide, und erwähnt, daß er die Heimat zum erstenmal nach zwanzig Jahren wieder besucht und keine Freunde in London habe. Leider könne man nicht mit ihm sprechen. Am Vorabend gegen halb elf habe er durch einen Boten seine Rechnung bezahlen und sein Gepäck abholen lassen, ohne eine Adresse für das Nachschicken der ^Post zu hinterlassen. Es sei kein konzessionierter Bote gewesen, sondern ein Mann mit einem Schlapphut und einem schweren dunklen Mantel. Der Nachtportier habe sein Gesicht nicht deutlich sehen können, da nur eine Lampe in der Halle brannte. Der Mann habe zur Eile gedrängt, da Mr. Williams den Zug nach Dover am WaterlooBahnhof erreichen wollte. Nachfragen am Fahrkartenschalter ergaben, daß Mr. Williams tatsächlich diesen Zug benutzt hatte, und zwar mit einer am gleichen Abend gelösten Fahrkarte nach Paris. Mr. Williams war also ins Blaue verschwunden, und selbst wenn sie ihn fanden, war es nicht sehr wahrscheinlich, daß er viel
über Mr. Prendergasts Geistesverfassung unmittelbar vor dem Unglück aussagen könnte. Es schien zunächst ein wenig merkwürdig, daß ein in Bloomsbury wohnender Mr. Williams aus Adelaide nach Wimbledon fahren sollte, um seine Zähne behandeln zu lassen. Aber es gab eine einfache Erklärung dafür: der einsame Mr. Williams hatte Prendergast vielleicht in einem Restaurant getroffen und seine Zahnsorgen erwähnt, so war die Bekanntschaft zustande gekommen. Danach schien es, als ob der Coroner nur noch das Urteil »Tod durch Unfall« zu fällen und die Witwe ihren Anspruch bei der Versicherungsgesellschaft einzureichen brauchte, als Dr. Maggs plötzlich die ganze Sache über den Haufen warf mit der Ankündigung, daß er Spuren einer Hyoszyamin-Injektion im Körper entdeckt habe. Woraufhin der Inspektor die Bemerkung machte, daß er nicht überrascht sei, denn wenn je ein Mann Grund zum Selbstmord gehabt habe, so sei es Mrs. Prendergasts Gatte gewesen. Er schlug eine gründliche Durchsuchung der versengten Lorbeerbüsche vor, die um die ehemalige Garage standen, während Lord Peter Wimsey prophezeite, daß die Spritze nicht gefunden werden würde. Lord Peter befand sich jedoch im Irrtum. Die Spritze wurde am nächsten Tag gefunden und Spuren des Giftes darin entdeckt. »Ein langsam wirkendes Gift«, bemerkte Dr. Maggs. »Zweifellos hat er die Spritze weggeworfen in der Hoffnung, daß niemand danach suchen würde. Ehe er das Bewußtsein verlor, ist er dann ins Auto geklettert und hat es in Brand gesetzt. Sehr ungeschickte Methode.« »Eine verdammt geistreiche Methode«, bemerkte Wimsey. »Irgendwie glaube ich nicht so recht an diese Spritze.« Er rief seinen Zahnarzt an: »Lamplough, altes Haus, ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Untersuche die Zähne doch noch einmal. Nein – nicht meine, Prendergasts.«
»Ei verflucht!« sagte Mr. Lamplough unbehaglich. »Mir liegt sehr viel daran«, versicherte ihm Seine Lordschaft. Die Leiche war noch nicht begraben, und Mr. Lamplough fuhr abermals mit Wimsey nach Wimbledon, um sich von neuem dieser widerwärtigen Aufgabe zu unterziehen. Diesmal begann er auf der linken Seite. »Links unten zweiter hinterer Backenzahn und zweiter vorderer Backenzahn mit Amalgam gefüllt. Im linken oberen Eckzahn plastische Porzellanfüllung auf der Vorderseite…« »Eine Sekunde«, unterbrach ihn Wimsey. »In Maggs’ Notizen steht ›gebrannte Porzellanfüllung‹. Ist das ein und dasselbe?« »Nein. Ein anderer Prozeß. Nun, es mag auch eine gebrannte sein – schwierig zu erkennen. Ich halte sie jedoch für eine plastische.« »Wollen mal im Buch nachsehen. Wenn Maggs doch nur die Daten hinzugefügt hätte! Wer weiß, wie weit wir zurückgreifen müssen.« »Nicht sehr weit, wenn es sich um eine plastische handelt«, erklärte Dr. Lamplough. »Das Verfahren kam erst 1928 auf. Von Amerika. War damals große Mode, hat aber hier keinen besonderen Anklang gefunden. Manche Zahnärzte wenden es jedoch an.« »Oh, dann kann es keine plastische Füllung sein«, meinte Wimsey. »Bis 1928 ist von Eckzähnen hier nicht die Rede. 27, 26, 25, 24, 23. Hier haben wir’s. Eckzahn, und so weiter.« »Das ist er«, sagte Lamplough, der einen Blick über Wimseys Schulter warf. »Gebrannte Porzellanfüllung. Dann muß ich mich wohl geirrt haben. Es ist leicht festzustellen, wenn man die Füllung herausnimmt.« »Dann nimm sie doch heraus.« »Das läßt sich hier nicht gut machen.«
»Dann nimm die Leiche mit nach Hause. Verstehst du nicht, Lamplough, wie wichtig das ist? Wenn es eine plastische Füllung ist, kann sie nicht 1923 gemacht worden sein. Und wenn die gebrannte später ersetzt worden ist, muß es ein anderer Zahnarzt getan haben. Vielleicht hat er noch andere Arbeiten ausgeführt – und in dem Fall müßten sie zu sehen sein. Sie sind es aber nicht. Siehst du das nicht ein?« »Ich sehe, daß du sehr erregt bist. Aber ich weigere mich, dieses Ding mit in mein Sprechzimmer zu nehmen. Leichen sind in Harley Street nicht sehr beliebt.« Letzten Endes wurde die Leiche in die Zahnklinik des Städtischen Krankenhauses geschafft, wo Mr. Lamplough unter Beistand von einem Zahnexperten, Dr. Maggs und der Polizei die Füllung aus dem Eckzahn entfernte. »Wenn das keine plastische Porzellanfüllung ist«, rief er triumphierend, »ziehe ich alle meine Zahne ohne Betäubung und verschlinge sie. Was meinen Sie, Benton?« Der Krankenhauszahnarzt gab ihm recht. Mr. Lamplough, der auf einmal lebhaftes Interesse für dieses Problem entwickelte, schob vorsichtig eine Sonde zwischen die oberen Backenzähne mit ihren angrenzenden Füllungen. »Sehen Sie sich das einmal an, Ben ton. Würden Sie das nicht auch für eine neue Füllung halten? Hätte gestern gemacht sein können. Und hier – einen Augenblick, halten Sie mal den Unterkiefer. Geben Sie mir ein Stück Kohlepapier. Dieser Backenzahn müßte einen schauderhaften Biß hinterlassen. Die Füllung liegt bei weitem zu hoch. Wimsey, wann ist der erste hintere Backenzahn rechts unten gefüllt worden?« »Vor zwei Jahren«, erwiderte Wimsey. »Unmöglich!« riefen die beiden Zahnärzte wie aus einem Munde, und Benton fügte hinzu:
»Wenn Sie den Schmutz abkratzen, werden Sie sehen, daß es eine neue Füllung ist. Hat niemals darauf gebissen, möchte ich behaupten. Eine merkwürdige Geschichte, Mr. Lamplough.« »Das kann man wohl sagen. Gestern habe ich mir nichts dabei gedacht. Sehen Sie sich dieses alte Loch an der Seite an. Warum hat er das nicht füllen lassen, als alles andere gemacht wurde? Es ist ziemlich tief und muß ihm Schmerzen verursacht haben. Ich würde gern noch ein paar Füllungen herausnehmen. Haben Sie etwas dagegen, Inspektor?« »Nur zu«, sagte der Inspektor, »wir haben ja genug Zeugen.« Während Benton den grausigen Patienten stützte, manipulierte Mr. Lamplough mit dem Bohrer, und im Nu war die Füllung eines hinteren Backenzahns heraus. »Mein Gott«, sagte Lamplough. »Versuchen Sie es mit den vorderen Backenzähnen«, schlug Mr. Benton vor. »Oder mit dem Siebener rechts unten«, fiel sein Kollege ein. »Langsam«, protestierte der Inspektor, »verderben Sie mir das gute Stück nicht ganz und gar.« Mr. Lamplough bohrte, ohne auf ihn zu achten. Wieder kam eine Füllung zum Vorschein, und Mr. Lamplough rief abermals: »Mein Gott!« »Schon gut«, meinte Wimsey grinsend, »Sie können den Haftbefehl ausstellen lassen, Inspektor!« »Wie bitte, Mylord?« »Mord«, antwortete Wimsey. »Wieso?« fragte der Inspektor. »Wollen Sie etwa sagen, daß Mr. Prendergast zu einem neuen Zahnarzt gegangen ist, der ihn vergiftet hat?« »Nein«, erklärte Mr. Lamplough, »nicht gerade vergiftet. Aber in meinem ganzen Leben habe ich noch keine solche Pfuscharbeit gesehen. An zwei Stellen hat der Mann nicht einmal die Karies entfernt, sondern einfach das Loch
vergrößert und wieder gefüllt. Warum dieser Bursche nicht die fürchterlichsten Abszesse bekommen hat, ist mir ein Rätsel.« »Vielleicht«, meinte Wimsey, »sind die Füllungen noch zu neu. Hallo, was gibt’s nun?« »Ein Zahn, der in Ordnung ist. Keinerlei Fäulnis. Scheint überhaupt keine vorhanden gewesen zu sein. Aber das läßt sich schwer sagen.« »Ich möchte wetten, daß da keine war. Inspektor, heraus mit dem Haftbefehl!« »Wegen Mordes an Mr. Prendergast? Und gegen wen?« »Nein. Gegen Arthur Prendergast wegen Mordes an einem gewissen Mr. Williams und gleichzeitig wegen Brandstiftung und versuchten Betrugs. Und auch gegen Mrs. Fielding wegen Mittäterschaft, obgleich Sie ihr das vielleicht nicht nachweisen können.« Als man Mr. Prendergast in Rouen festnahm, stellte es sich heraus, daß er alles lange im voraus geplant hatte. Er brauchte nur auf einen Patienten zu warten, der seine Größe, seine Statur und gute Zähne besaß und keine Freunde hatte. Als der unglückliche Williams ihm in die Hände fiel, waren nur noch wenige Vorbereitungen nötig. Mrs. Prendergast mußte nach Worthing geschickt werden und das Mädchen seine Ferien antreten. Dann wurden ein paar technische Vorbereitungen getroffen und das Opfer nach Wimbledon zum Tee eingeladen. Dann erfolgte der Mord – ein betäubender Schlag von hinten und die Injektion. Hinterher die langsame, gräßliche Arbeit, die Zähne des Opfers so herzurichten, daß sie Mr. Prendergasts eigenen glichen. Als nächstes wurden die Kleider gewechselt und die Leiche ins Auto getragen. Die Spritze wurde so versteckt, daß sie bei oberflächlicher Inspektion übersehen und doch gefunden werden konnte, falls das Vorhandensein von Gift entdeckt würde. Im ersteren Falle lautete das Urteil dann auf Unglücksfall und im zweiten auf Selbstmord. Nun wurde
das Auto mit Benzin getränkt, die Benzinleitung beschädigt und etliche Kanister hingestellt. Fenster und Tür der Garage wurden offengelassen, um dem Ganzen einen glaubwürdigen Anstrich zu geben und Zugluft zu erzeugen; schließlich wurde der Wagen in Brand gesteckt. Dann Flucht zum Bahnhof durch die winterliche Dunkelheit und mit der Untergrundbahn nach London. Das Risiko, in der Bahn erkannt zu werden, war gering, da Prendergast Williams’ Hut und Mantel trug und einen Schal um sein Kinn gewickelt hatte. Dann hieß es, Williams’ Gepäck zu holen und den Zug nach Dover zu nehmen, um die reiche und verliebte Mrs. Fielding in Frankreich zu treffen. Danach hätten sie als Mr. und Mrs. Williams nach England zurückkehren können oder auch nicht, ganz nach Belieben. »Ein gelehriger Student der Kriminologie«, bemerkte Wimsey am Schluß dieses kleinen Abenteuers. »Er hat sich die Fehler seiner Vorgänger zunutze gemacht. Schade, daß ihm der Irrtum mit der plastischen Porzellanfüllung unterlaufen ist. Ging wohl schneller, nicht wahr, Lamplough? Eile mit Weile ist ein weiser Spruch. Was ich gern noch wissen möchte: zu welchem Zeitpunkt bei all diesen Vorgängen mag Williams tatsächlich gestorben sein?« »Halt den Mund«, gebot Mr. Lamplough. »Apropos, ich muß dir immer noch eine Füllung machen.«
Ganz woanders
Lord Peter Wimsey, Oberinspektor Parker vom C. I. D. und Inspektor Henley von der Baldocker Polizei saßen zusammen in der Bibliothek des Hauses »The Lilacs«. »Du siehst also«, sagte Parker, »daß die Hauptverdächtigen zu der Zeit ganz woanders waren.« »Was verstehst du darunter?« wollte Wimsey wissen. Er war in gereizter Stimmung, da Parker ihn ohne Frühstück hier nach Wapley geschleppt hatte. »Meinst du damit, daß sie den Mordschauplatz nicht erreichen konnten, ohne über hundertsechsundachtzigtausend Meilen pro Sekunde zu fahren? Wenn nicht, waren sie nicht ganz woanders, sondern nur relativ und scheinbar woanders.« »Um Himmels willen, verschone uns mit deiner Wortklauberei. Jedenfalls waren sie nicht hier. Und nun, Inspektor, lassen wir sie am besten einzeln eintreten, damit ich mir ihre Aussagen noch einmal anhören kann. Zunächst den Butler.« Der Inspektor steckte den Kopf zur Tür hinaus und rief: »Hamworthy!« Der Butler war ein Mann mittleren Alters mit einem beachtenswerten Embonpoint. Sein breites Gesicht war blaß und gedunsen, und er sah angegriffen aus. Er legte jedoch ohne Zaudern los. »Zwanzig Jahre habe ich in den Diensten des verstorbenen Mr. Grimbold gestanden, und er war für mich stets ein guter Gebieter, zwar streng, aber gerecht. Ich weiß, daß er als harter Geschäftsmann galt. Er war Junggeselle, aber er hat seine beiden Neffen, Mr. Harcourt und Mr. Neville, aufgezogen und war sehr gut zu ihnen. In seinem Privatleben würde ich ihn als
freundlichen, rücksichtsvollen Mann bezeichnen. Sein Beruf? Nun ja, man könnte ihn wohl einen Geldverleiher nennen. Die Vorgänge der letzten Nacht, Sir? Wie üblich verschloß ich das Haus um halb acht Uhr – Mr. Grimbold legte großen Wert auf Pünktlichkeit und Ordnung. Ich schloß alle Fenster im Erdgeschoß, die sämtlich diebessichere Schließhaken haben. Auch verriegelte ich die Haustür und legte die Kette vor.« »Und die Tür zum Wintergarten?« »Die hat ein Schnappschloß, Sir. Ich habe wohl darauf geachtet, daß die Tür geschlossen war, aber nicht den Sicherheitshebel herabgedrückt. Das war Usus, Sir, für den Fall, daß Mr. Grimbold länger durch Geschäfte in der Stadt aufgehalten wurde. Dann konnte er herein, ohne jemanden zu stören.« »Gestern abend hatte er doch keine Geschäfte in der Stadt, wie?« »Nein, Sir, aber das Schloß blieb immer so. Ohne Schlüssel konnte niemand herein, und den trug Mr. Grimbold an seinem Bund.« »Existiert kein zweiter Schlüssel?« »Ich glaube, Sir…« der Butler hüstelte verlegen, »obgleich ich es nicht mit Sicherheit weiß, daß ein anderer im Besitz einer Dame ist, die augenblicklich in Paris weilt.« »Aha. Mr. Grimbold war ungefähr sechzig Jahre alt, nicht wahr. Wie heißt diese Dame?« »Mrs. Winter, Sir. Sie wohnt in Wapley, aber seit dem Tode ihres Gatten im letzten Monat hat sie, soweit ich unterrichtet bin, im Ausland gelebt.« »Aha. Vielleicht notieren Sie das, Inspektor. – Und wie steht’s mit den oberen Räumen und der Hintertür?« »Die Fenster in den oberen Räumen waren ebenfalls verriegelt, außer in den Schlafzimmern von Mr. Grimbold, der
Köchin und mir. Aber ohne Leiter konnte niemand einsteigen, und die Leiter ist im Schuppen verschlossen.« »Das stimmt«, mischte sich Inspektor Henley ein. »Wir haben das gestern abend nachgeprüft. Der Schuppen war verschlossen, und außerdem hingen Spinngewebe zwischen der Leiter und der Wand. Die Schlösser an Türen und Fenstern waren ebenfalls in Ordnung. Weiter, Hamworthy.« »Ja, Sir. Während ich durchs Haus ging, kam Mr. Grimbold nach unten in die Bibliothek, um sein Glas Sherry zu trinken. Um Viertel vor acht wurde die Suppe aufgetragen, und ich rief Mr. Grimbold zum Essen. Er saß, wie immer, am Ende der Tafel, gegenüber der Durchreiche.« »Mit dem Rücken zur Bibliothekstür«, sagte Parker und machte ein Zeichen auf dem grob skizzierten Zimmerplan, der vor ihm lag. »War die Tür geschlossen?« »Ja, Sir. Sämtliche Türen und Fenster waren geschlossen.« »Anscheinend ein sehr zugiger Raum«, bemerkte Wimsey. »Zwei Türen und eine Durchreiche und zwei lange Glastüren zur Terrasse.« »Jawohl, Mylord. Aber sie schließen alle sehr gut, und die Vorhänge waren zugezogen.« Seine Lordschaft ging auf die Verbindungstür zu und öffnete sie. »Ja«, meinte er, »eine gute, schwere Tür, die sich unheimlich leise in den Angeln bewegt. Diese dicken Teppiche gefallen mir, nur das Muster ist ein bißchen laut.« Er schloß die Tür geräuschlos und kehrte an seinen Platz zurück. »Mr. Grimbold brauchte gewöhnlich fünf Minuten, um seine Suppe zu essen. Als er fertig war, servierte ich den Fisch. Ich brauchte den Raum nicht zu verlassen, da alles durchgereicht wurde. Der Wein für den ersten Gang stand schon auf dem Tisch. Dieser Gang bestand nur aus einer kleinen Portion Steinbutt, und Mr. Grimbold war auch hiermit in etwa fünf Minuten fertig. Dann
brachte ich den Fasanenbraten und wollte Mr. Grimbold gerade das Gemüse servieren, als das Telefon klingelte. Mr. Grimbold sagte: ›Gehen Sie nur hin, ich bediene mich schon selbst.‹ Es war natürlich nicht Sache der Köchin, das Telefon abzunehmen.« »Gibt es keine anderen Dienstboten?« »Nur die Putzfrau, die tagsüber kommt, Sir. Ich ging also an den Apparat und machte die Tür hinter mir zu.« »War es dieser Apparat oder der in der Diele?« »Der in der Diele. Den benutze ich immer, außer ich bin gerade in der Bibliothek, wenn es klingelt. Der Anruf kam von Mr. Neville Grimbold aus London, Sir. Er und Mr. Harcourt bewohnen eine Etage in der Jerym Street. Mr. Neville, dessen Stimme ich erkannte, sagte: ›Sind Sie es, Hamworthy? Einen Augenblick. Mr. Harcourt möchte mit Ihnen sprechen.‹ Er legte den Hörer hin, und dann kam Mr. Harcourt. Er sagte: ›Hamworthy, ich möchte heute abend hinüberkommen, um mit meinem Onkel zu sprechen, wenn er zu Hause ist.‹ Ich erwiderte: ›Ja, Sir, ich will es ausrichten.‹ Die jungen Herren kamen oft für ein paar Nächte hierher, Sir, und wir halten ihre Zimmer stets bereit. Mr. Harcourt sagte, er werde sofort aufbrechen und gegen halb zehn hier sein. Während er sprach, hörte ich die große Standuhr in ihrer Wohnung acht schlagen. Unmittelbar darauf schlug unsere Uhr in der Diele, und dann hörte ich, wie das Amt sagte: ›Drei Minuten.‹ Also muß der Anruf um drei Minuten vor acht gekommen sein, Sir.« »Dann besteht also kein Zweifel hinsichtlich der Zeit. Wenigstens ein Trost. Was geschah dann, Hamworthy?« »Mr. Harcourt verlangte weitere drei Minuten, weil Mr. Neville noch etwas zu sagen habe, und dann war Mr. Neville wieder am Apparat. Er teilte mir mit, daß er bald nach Schottland fahre, und bat mich, einen Anzug, Strümpfe und Hemden zu senden, die er hier zurückgelassen hatte. Der
Anzug sollte zuerst in die Reinigungsanstalt geschickt werden, und da er mir noch mehr Instruktionen erteilte, verlangte er weitere drei Minuten. Das war also um 8.03, Sir. Und etwa eine Minute später, während er noch sprach, klingelte die Haustürglocke. Da ich nicht vom Telefon fortgehen konnte, mußte der Besucher warten, und um fünf Minuten nach acht ertönte die Glocke abermals. Ich wollte Mr. Neville gerade bitten, mich zu entschuldigen, als ich die Köchin zur Haustür gehen sah. Mr. Neville bat mich, die Instruktionen zu wiederholen, und dann unterbrach uns das Amt wieder. Also beendete er das Gespräch, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie die Köchin gerade die Tür zur Bibliothek schloß. Ich ging ihr entgegen und sie sagte zu mir: ›Dieser Mr. Payne will wieder mal mit Mr. Grimbold sprechen. Ich habe ihn in die Bibliothek geführt, aber mir gefällt seine drohende Miene nicht. ‹ Ich erwiderte: ›Ich werde ihn mir schon vornehmen‹, und die Köchin ging wieder in die Küche.« »Einen Augenblick«, warf Parker ein. »Wer ist Mr. Payne?« »Einer von Mr. Grimbolds Klienten, Sir. Er wohnt etwa fünf Minuten von hier entfernt und hat schon öfters Scherereien gemacht. Ich glaube, er schuldet Mr. Grimbold Geld und wünschte einen Zahlungsaufschub.« »Er wartet draußen in der Diele«, fügte Henley hinzu. »Ach?« sagte Wimsey. »Der unrasierte Bursche mit dem finsteren Gesicht, dem Eschenstock und dem blutbefleckten Rock?« »Ganz richtig, Mylord«, bestätigte der Butler und wandte sich wieder an Parker. »Nun, Sir, ich wollte gerade in die Bibliothek gehen, als mir plötzlich einfiel, daß ich noch nicht den Rotwein ins Eßzimmer gebracht hatte, und ich befürchtete, daß Mr. Grimbold ärgerlich sein würde. Also holte ich den Wein aus der Anrichte, wo ich ihn zum Anwärmen vor das Fenster gestellt hatte. Es dauerte nicht länger als eine Minute,
Sir, bis ich wieder im Eßzimmer war. Und dann, Sir…«, die Stimme des Butlers begann zu zittern, »dann sah ich, daß Mr. Grimbold vornüber auf den Tisch gefallen war, direkt über seinen Teller. Ich dachte, ihm sei schlecht geworden, und eilte auf ihn zu. Da entdeckte ich, daß er… daß er tot war, Sir, mit einer schrecklichen Wunde im Rücken.« »Keine Waffe zu sehen?« »Ich habe keine bemerkt, Sir. Die Wunde hatte stark geblutet. Ich wurde fast ohnmächtig und war zunächst völlig ratlos. Dann stürzte ich an die Durchreiche und rief nach der Köchin. Sie kam sofort und stieß einen fürchterlichen Schrei aus, als sie unseren Herrn sah. Dann erinnerte ich mich an Mr. Payne und öffnete die Tür zur Bibliothek. Er erkundigte sich sogleich, wie lange er noch warten müsse. Ich erwiderte: ›Etwas Entsetzliches ist geschehen! Mr. Grimbold ist ermordet worden!‹ Er drängte sich an mir vorbei ins Eßzimmer und fragte als erstes: ›Sind die Glastüren offen?‹ Er zog den Vorhang der Glastür, die der Bibliothek am nächsten stand, zurück, und sie stand tatsächlich offen. ›Auf diese Weise ist er entkommen‹, rief er und wollte hinauseilen. Ich sagte: ›Halt, bleiben Sie hier‹, weil ich glaubte, er wolle entfliehen, und hielt ihn fest. Er schimpfte und fluchte, und dann sagte er: ›Mein guter Mann, nehmen Sie Vernunft an. Der Kerl gewinnt ja einen zu großen Vorsprung. Man muß hinter ihm her!‹ Ich erwiderte: ›Nicht ohne mich‹, und er willigte ein. So gebot ich der Köchin, nichts anzurühren, sondern die Polizei anzurufen, holte meine Taschenlampe aus der Anrichte und ging mit Mr. Payne hinaus.« »War Mr. Payne dabei, als Sie die Taschenlampe holten?« »Ja, Sir. Wir haben dann den ganzen Garten durchsucht, aber wir konnten keine Fußspuren oder sonst einen Anhalt finden, weil der Weg, der um das Haus herum und dann zum Tor führt, asphaltiert ist. Auch entdeckten wir keine Waffe. Mr.
Payne schlug dann vor, den Wagen zu nehmen und die Straßen abzusuchen, aber ich hielt es für zwecklos, da es nur eine Viertelmeile von unserem Tor bis zur Great North Road ist, und es war schon zuviel Zeit vergangen. Mr. Payne sah das ein, und wir kehrten ins Haus zurück. Dann erschien der Polizist aus Wapley und nach einer Weile der Inspektor hier und Dr. Crofts aus Baldoch. Sie untersuchten alles und stellten viele Fragen, die ich nach bestem Wissen beantwortete, und mehr kann ich Ihnen wirklich nicht sagen, Sir.« »Haben Sie bemerkt«, fragte Parker, »ob Mr. Payne Blutflecken am Anzug hatte?« »Nein, Sir. Als ich ihn zuerst sah, stand er hier im hellen Licht, und ich hätte es bestimmt gesehen.« »Könnte jemand von oben gekommen sein, während Sie bei Mr. Grimbold im Eßzimmer waren?« »Das wäre durchaus möglich, Sir. Aber dann müßte der Betreffende vor halb acht ins Haus gelangt sein und sich irgendwo versteckt haben. Das ist natürlich nicht ausgeschlossen. Die Hintertreppe kann er nicht benutzt haben, denn er hatte an der Küche vorbeigehen müssen, wo der Flur mit Fliesen belegt ist und die Köchin ihn auf jeden Fall gehört hätte. Aber die Vordertreppe – ja, ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.« »So wird es schon gewesen sein«, meinte Parker. »Machen Sie sich nur keine Vorwürfe, Hamworthy. Man kann von Ihnen nicht erwarten, daß Sie jeden Abend alle Winkel und Ecken nach versteckten Verbrechern absuchen. Jetzt möchte ich mit den beiden Neffen sprechen. Sind sie gut mit ihrem Onkel ausgekommen?« »Ja, sehr gut. Hatten nie Meinungsverschiedenheiten. Es war ein schwerer Schlag für sie, Sir. Sie waren ganz außer sich, als Mr. Grimbold im Sommer krank wurde…« »Krank? Was fehlte ihm denn?«
»Herzgeschichten, Sir, im vergangenen Juli. Es ging ihm sehr schlecht, und wir mußten Mr. Neville kommen lassen. Aber danach hatte er sich wunderbar erholt, Sir, nur schien er seine gewohnte Heiterkeit eingebüßt zu haben. Vielleicht spürte er, daß er auch nicht mehr der jüngste war. Aber niemand hätte gedacht, daß er auf diese Weise umkommen würde.« »Wem hat er sein Geld hinterlassen?« erkundigte sich Parker. »Das weiß ich nicht, Sir. Vermutlich den beiden jungen Herren, obwohl sie selbst auch Vermögen besitzen. Aber darüber wird Ihnen Mr. Harcourt Auskunft geben können. Er ist der Testamentsvollstrecker.« »Na schön, wir werden ihn fragen. Verstehen sich die Brüder gut?« »O ja, Sir. Sie sind sich sehr zugetan. Mr. Neville würde alles für Mr. Harcourt tun – und Mr. Harcourt sicher auch für ihn. Sehr angenehme Herren, Sir. Könnten nicht netter sein.« »Danke, Hamworthy. Das wäre im Augenblick alles. Oder hat sonst noch jemand etwas zu fragen?« »Wieviel hat Mr. Grimbold von dem Fasan gegessen, Hamworthy?« »Wenig, Mylord. Nach der Portion zu urteilen, die ich ihm aufgegeben habe, hat er vielleicht drei oder vier Minuten gebraucht.« »Und nichts deutete darauf hin, daß er zum Beispiel von jemandem an der Glastür unterbrochen wurde, daß er vielleicht aufstehen mußte, um diese Person hereinzulassen?« »Nichts, Mylord, soviel ich sehen konnte.« »Der Stuhl war dicht an den Tisch geschoben, als ich ihn fand«, warf der Inspektor ein. »Seine Serviette lag auf seinen Knien, und Messer und Gabel lagen ihm unter den Händen, als hätte er sie fallen lassen, als der Stoß kam. Wie man mir sagte, war die Leiche nicht angerührt worden.«
»Nein, Sir, ich habe sie nicht bewegt – nur, um festzustellen, ob er tot war. Obgleich ich eigentlich nicht zweifeln konnte, als ich die schreckliche Wunde im Rücken sah. Ich habe nur den Kopf gehoben und wieder fallen lassen. Auf dieselbe Stelle, Sir.« »Na schön, Hamworthy. Rufen Sie bitte Mr. Harcourt herein.« Mr. Harcourt Grimbold war ein energischer Mann von etwa fünfunddreißig Jahren. Er erklärte, daß er Börsenmakler und sein Bruder Beamter im Gesundheitsministerium sei. Seit ihrem elften, beziehungsweise zehnten Lebensjahr seien sie von ihrem Onkel großgezogen worden. Ihm sei bekannt, daß sein Onkel viele Geschäftsfeinde hatte, aber er selbst habe nur Güte von ihm erfahren. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht viel über diesen schrecklichen Vorfall sagen, da ich gestern abend erst um Viertel vor zehn hier ankam, und da war natürlich schon alles vorbei.« »Das war etwas später, als Sie einzutreffen hofften, nicht wahr?« »Ja, ein wenig. Mein Rücklicht ging unterwegs aus, und ich wurde von einem Polizisten angehalten. Ich fuhr dann in eine Garage in Welwyn, wo man den Schaden reparierte, was natürlich einen Aufenthalt bedeutete.« »Es sind ungefähr vierzig Meilen von hier nach London, ja?« »Etwas mehr. Gewöhnlich rechne ich um diese Abendzeit eine Stunde und fünfzehn Minuten von Tür zu Tür. Ich bin kein Kilometerfresser.« »Haben Sie den Wagen selbst gefahren?« »Ja. Ich habe zwar einen Chauffeur, nehme ihn aber nicht immer mit.« »Wann sind Sie von London abgefahren?«
»Gegen zwanzig nach acht, denke ich. Neville hat mir den Wagen aus der Garage geholt, während ich meine Zahnbürste und dergleichen einpackte.« »Vor Ihrer Abfahrt wußten Sie also nichts von dem Tode Ihres Onkels?« »Nein. Man hat erst nach meinem Aufbruch daran gedacht, bei mir anzurufen. Die Polizei versuchte später, Neville zu erreichen, aber er war in seinen Klub gegangen. Ich habe ihn dann von hier aus selbst angerufen, und er ist heute morgen gekommen.« »Mr. Grimbold, können Sie uns etwas über die Angelegenheiten Ihres verstorbenen Onkels berichten?« »Sie meinen wohl sein Testament. Die Erben sind ich, Neville und Mrs. Winter. Haben Sie schon von ihr gehört?« »Etwas, ja.« »Und dann bekommt der alte Hamworthy natürlich ein hübsches kleines Nestei, und die Köchin wird bedacht. Ferner erhält der Prokurist meines Onkels ein Vermächtnis von fünfhundert Pfund. Aber der Hauptbetrag fällt an uns und Mrs. Winter. Aber wieviel es ist, davon habe ich nicht die leiseste Ahnung. Ich weiß nur, daß es sich um eine ziemlich beträchtliche Summe handelt. Der alte Herr hat keiner Menschenseele verraten, wieviel er wert war, und wir haben uns nie darum gekümmert. Ich habe ein ziemlich gutes Einkommen, und Nevilles Gehalt stellt eine schwere Last für das langmütige Publikum dar. Daher hatten wir nur ein mildes akademisches Interesse an dieser Frage.« »Hat Hamworthy wohl gewußt, daß er ein Legat erhalten sollte?« »O ja. Da war kein Geheimnis. Er sollte lebenslang jährlich zweihundert Pfund bekommen, vorausgesetzt, daß er beim Tode meines Onkels noch in dessen Diensten stand.« »Und er war nicht gekündigt, oder?«
»N-nein. Nein. Nicht anders als gewöhnlich. Mein Onkel kündigte nämlich allen ungefähr einmal im Monat, um das Beste aus ihnen herauszuholen. Aber es blieb nur bei der Drohung.« »Aha. Darüber müssen wir noch mal mit Hamworthy sprechen. Nun zu dieser Mrs. Winter. Was wissen Sie über sie?« »Sie ist eine nette Frau. Seit… zig Jahren die Freundin meines Onkels. Aber ihr Mann hat praktisch seinen Verstand versoffen. Man kann es ihr daher nicht übelnehmen. Ich habe ihr heute morgen telegrafiert, und soeben ist ihre Antwort eingetroffen.« Er reichte Parker ein aus Paris abgeschicktes Telegramm folgenden Wortlauts: »Äußerst betroffen und betrübt. Kehre sofort zurück. In tiefer Teilnahme, Lucy.« »Sie stehen demnach in einem freundschaftlichen Verhältnis zu ihr?« »Mein Gott, ja. Warum nicht? Sie hat uns immer sehr leid getan. Onkel William wäre am liebsten mit ihr woanders hingefahren, aber sie wollte Winter nicht verlassen. Jetzt, wo Winter endlich ins Gras gebissen hat, wollten sie eigentlich heiraten. Sie ist erst etwa achtunddreißig, und es ist Zeit, daß sie endlich etwas von ihrem Leben hat, die Ärmste.« »Abgesehen von dem Geld, hatte sie also eigentlich nicht viel durch den Tod Ihres Onkels zu gewinnen, wie?« »Gar nichts. Es sei denn, sie wollte einen jüngeren Mann heiraten und befürchtete, den Betrag zu verlieren. Aber ich glaube, sie war dem alten Knaben ehrlich zugetan. Jedenfalls kann sie ihn nicht ermordet haben, da sie in Paris ist.« »Hm«, sagte Parker. »Das nehmen wir an. Aber wir vergewissern uns am besten. Ich werde beim Yard anrufen und in den Häfen nach ihr Ausschau halten lassen. Bekomme ich
das Amt direkt über diesen Apparat? Oder muß ich mich in der Diele verbinden lassen?« »Nein«, erwiderte der Inspektor, »Sie können auch von hier aus anrufen. Es sind Parallelanschlüsse.« »Na schön, Mr. Grimbold, im Augenblick brauchen wir Sie nicht weiter zu bemühen. Ich will jetzt telefonieren, und dann kann der nächste Zeuge erscheinen. Die Zeit von Mr. Harcourts Anruf aus London haben Sie ja wohl nachgeprüft, Inspektor.« »Jawohl, Mr. Parker. Das Gespräch wurde um 19.57 angemeldet und um 20 Uhr und 20.03 erneuert. Eine ziemlich teure Angelegenheit. Wir haben auch mit dem Schutzmann und der Garage wegen der Reparatur gesprochen. Er kam um 21.05 nach Welwyn und fuhr gegen 21.15 wieder weiter. Die Nummer des Wagens stimmt.« Sobald Parker sein Telefongespräch mit Scotland Yard beendet hatte, ließ er Neville Grimbold kommen, der seinem Bruder sehr ähnlich sah. Er war nur etwas schlanker und wortgewandter, wie sich das für einen Beamten geziemt. Er hatte der Aussage seines Bruders nichts hinzuzufügen und erwähnte nur, daß er von 20.20 bis gegen 22 Uhr im Kino und anschließend in seinem Klub war, so daß er erst später am Abend von der Tragödie hörte. Als nächste Zeugin erschien die Köchin, die mit vielen Worten sehr wenig sagte. Zwar hatte sie zufällig nicht gesehen, wie Hamworthy den Rotwein aus der Anrichte holte, sonst aber bestätigte sie seine Aussage. Verächtlich wies sie die Idee zurück; daß sich jemand im oberen Stock hätte verstecken können, weil die Stundenfrau, Mrs. Crabbe, fast bis zum Abendessen im Hause gewesen war, um Kampferbeutel in alle Schränke zu hängen. Überhaupt hegte sie keinen Zweifel daran, daß »dieser Payne eine ekelhafte, mordende Bestie«, sei
und Mr. Grimbold erstochen habe. Danach blieb nur noch das Interview mit dem mörderischen Mr. Payne. Mr. Payne war von einer fast aggressiven Offenheit. Er war von Mr. Grimbold sehr hart behandelt worden. Mit Wucherzinsen und Zinseszinsen hatte er bereits den fünffachen Betrag des ursprünglichen Darlehens bezahlt, und jetzt hatte Mr. Grimbold ihm einen weiteren Zahlungsaufschub verweigert und seine Absicht angekündigt, die Sicherheit – Mr. Paynes Haus und Land – für verfallen zu erklären. Dies war um so brutaler, als die Aussicht bestand, daß Mr. Payne die ganze Schuld in sechs Monaten abtragen konnte. Seiner Ansicht nach hatte der alte Grimbold so gehandelt, um die Rückzahlung zu verhindern, weil er den Besitz an sich reißen wollte. Grimbolds Tod hatte die Situation gerettet, weil die Bezahlung der Schuld nun bis zu dem genannten Zeitpunkt aufgeschoben wurde. Mit Vergnügen hätte Mr. Payne den alten Grimbold ermordet, aber dennoch war er nicht der Täter. Außerdem war er nicht der Mann, einen anderen von hinten zu erstechen. Wäre der Geldverleiher jünger gewesen, so hätte er, Payne, ihm alle Knochen im Leibe zerschlagen. So war es, mochten sie es glauben oder nicht. Wenn Hamworthy, dieser alte Dummkopf, ihm nicht in die Quere gekommen wäre, hätte er den Mörder geschnappt. Wenn Hamworthy überhaupt ein Dummkopf war, was er sehr bezweifelte. Blut? Jawohl, er hatte Blut am Rock. Das kam daher, weil Hamworthy ihn an der Glastür festgehalten hatte. Hamworthys Hände waren voller Blut, als er in der Bibliothek erschien. Zweifellos von der Leiche. Er, Payne, hatte seinen Anzug nicht gewechselt, weil sonst jemand auf den Gedanken kommen könnte, er habe etwas zu verbergen, und im übrigen war er seit dem Mord noch nicht wieder zu Hause gewesen. Außerdem wollte er Einspruch erheben gegen die unverhüllte Feindseligkeit, mit der die örtlichen Polizeibeamten ihn behandelt hatten, worauf
Inspektor Henley erwiderte, daß Mr. Payne völlig im Irrtum sei. »Mr. Payne«, fiel Lord Peter ein, »sagen Sie mir doch bitte eins. Als Sie den Klamauk im Eßzimmer hörten, warum sind Sie da nicht sofort hineingegangen, um die Ursache festzustellen?« »Warum?« entgegnete Mr. Payne. »Weil ich überhaupt nichts davon gehört habe. Deswegen. Erst als dieser Butler schnatternd und händeringend in der Tür stand, erfuhr ich davon.« »Aha!« meinte Wimsey. »Ich habe mir schon gedacht, daß es eine gute, solide Tür sei. Sollen wir die Frau vielleicht mal bitten, für uns im Eßzimmer zu schreien, und zwar bei offener Glastür?« Der Inspektor führte diesen Auftrag aus, während die übrigen gespannt auf die Schreie warteten. Es geschah jedoch nichts, bis Henley seinen Kopf fragend zur Tür hereinsteckte. »Nichts gehört«, sagte Parker. »Ein gut gebautes Haus«, bemerkte Wimsey. »Jeder Ton, der durch die Glastür dringt, wird durch den Wintergarten gedämpft. Na, Mr. Payne, wenn Sie die Schreie nicht hörten, ist es nicht überraschend, daß Sie den Mörder nicht gehört haben. Sind dies alle deine Zeugen, Charles? Ich muß nämlich nach London zurück und verlasse dich mit meinem Segen und zwei Vorschlägen. Nummer eins: suche nach einem Wagen, der gestern abend zwischen 19.30 und 20.15 innerhalb eines Umkreises von einer Viertelmeile geparkt hat. Nummer zwei: Versammle alle Beteiligten heute abend im Eßzimmer und beobachte die Glastüren. Ich werde dich gegen acht anrufen. Übrigens, kannst du mir den Schlüssel zum Wintergarten leihen, Charles? Ich habe da eine gewisse Theorie.« Der Oberinspektor überreichte ihm den Schlüssel, und Seine Lordschaft zog von dannen.
Die im Eßzimmer versammelte Gesellschaft war nicht gerade in geselliger Stimmung. Nur die Polizeibeamten plauderten miteinander und tauschten Anglererinnerungen aus, während Mr. Payne eine finstere Miene aufsetzte, die beiden Grimbolds eine Zigarette nach der anderen rauchten und die Köchin und der Butler nervös auf dem äußersten Rand ihres Stuhles hockten. Endlich läutete das Telefon. Parker blickte auf seine Uhr, als er sich erhob. »Drei Minuten vor acht«, bemerkte er und sah, wie der Butler seine zuckenden Lippen mit dem Taschentuch abwischte. »Richten Sie den Blick auf die Glastüren.« Damit trat er in die Diele. »Hallo!« rief er in den Apparat. »Ist Oberinspektor Parker dort?« fragte eine ihm wohlbekannte Stimme. »Hier spricht Lord Peter Wimseys Diener aus der Wohnung Seiner Lordschaft in London. Wollen Sie bitte am Apparat bleiben? Seine Lordschaft wünscht mit Ihnen zu sprechen.« Parker hörte, wie der Hörer hingelegt und dann wieder aufgenommen wurde. Dann ließ sich Wimseys Stimme vernehmen: »Hallo, alter Junge, hast du den Wagen schon gefunden?« »Wir haben von einem Wagen gehört«, erwiderte der Oberinspektor vorsichtig, »der bei einem Gasthaus auf der Great North Road stand, ungefähr fünf Minuten von hier.« »Lautete die Nummer ABJ 28?« »Ja. Woher weißt du das denn?« »Reine Vermutung. Dieser Wagen wurde gestern nachmittag um fünf von einer Londoner Garage gemietet und kurz vor zehn Uhr zurückgebracht. Seid ihr Mrs. Winter auf die Spur gekommen?« »Ja. Sie kam heute abend mit dem Boot von Calais. Sie ist also offenbar O.K.«
»Das habe ich mir auch gedacht. Nun höre gut zu. Weißt du schon, daß Harcourt Grimbold sich in einer mißlichen Geschäftslage befindet? Im letzten Juli kam es beinahe zu einer Krise, aber irgend jemand ist eingesprungen – möglicherweise der gute Onkel. Meinst du nicht auch? Alles ziemlich faul, wie ich von meinem Berichterstatter höre. Und man hat mir im tiefsten Vertrauen verraten, daß er wieder einen neuen Schlag erlitten hat. Aber auf Grund von Onkels Testament wird es ihm nicht schwerfallen, einen Kredit aufzunehmen. Doch könnte ich mir vorstellen, daß die Geschichte im Juli Onkel William einen ziemlichen Schreck eingejagt hat. Ich nehme an…« Er wurde durch ein kurzes, wohltönendes Glockenspiel unterbrochen, dem acht silbrige Schläge folgten. »Hörst du das? Erkennst du es wieder? Das ist die große französische Uhr in meinem Wohnzimmer… Was? Aha, Amt, bitte noch einmal drei Minuten. – Bunter möchte noch mal mit dir sprechen.« Der Hörer klapperte, und die verbindliche Stimme des Dieners meldete sich wieder. »Seine Lordschaft läßt Sie bitten, Sir, das Gespräch sofort abzubrechen und direkt ins Eßzimmer zu gehen.« Parker gehorchte. Als er den Raum betrat, hatte er zunächst den Eindruck, daß die sechs Menschen noch genauso dasaßen, wie er sie verlassen hatte: in einem erwartungsvollen Halbkreis, die Augen auf die Glastüren gerichtet. Dann öffnete sich die Tür zur Bibliothek geräuschlos, und Lord Peter Wimsey spazierte ins Zimmer. »Großer Gott!« entfuhr es Parker. »Wie bist du denn hierhergekommen?« Die sechs Köpfe flogen herum. »Auf dem Rücken der Lichtwellen«, erwiderte Wimsey und strich sich das Haar zurück. »Ich bin achtzig Meilen gereist, um bei dir zu sein, bei einer Geschwindigkeit von hundertsechsundachtzigtausend Meilen pro Sekunde.«
»Es war eigentlich ganz klar«, meinte Wimsey, nachdem sie Harcourt Grimbold (der sich verzweifelt wehrte) und seinen Bruder Neville (der zusammenbrach und mit Brandy wiederbelebt werden mußte) gefesselt hatten. »Es mußten diese beiden sein; sie waren so ausgesprochen woanders – fast wirklich woanders. Der Mord konnte nur zwischen 19.57 und 20.06 begangen worden sein, und es mußte ein Grund existieren für dieses ausgedehnte Telefongespräch, das sich auf Dinge bezog, die Harcourt sehr gut hätte regeln können, wenn er kam. Und der Mörder mußte vor 19.57 in der Bibliothek sein. Sonst wäre er in der Diele gesehen worden; es sei denn, Grimbold hätte ihn durch die Glastür hereingelassen, was nicht sehr wahrscheinlich war. Die Sache ist so vor sich gegangen. Harcourt brach gegen sechs Uhr abends in einem gemieteten Wagen von London auf und parkte ihn unter irgendeinem Vorwand bei dem Gasthaus an der Straße. Er war dort wohl nicht bekannt, wie?« »Nein, es ist ein ganz neues Haus, wurde erst im letzten Monat eröffnet.« »Aha! Dann ging er die letzte Viertelmeile zu Fuß und kam hier um 19.45 an. Es war dunkel, und er trug wahrscheinlich Gummischuhe, um auf dem Weg kein Geräusch zu machen. Dann hat er sich mit einem Nachschlüssel Zugang zum Wintergarten verschafft.« »Wie hat er den bekommen?« »Im vergangenen Juli, als sein Onkel krank war, hat er ihm den Schlüssel vom Ring geklaut. Der Schreck über die Nachricht, daß der teure Neffe in Nöten saß, hat wahrscheinlich die Krankheit heraufbeschworen. Harcourt weilte damals hier – wie Sie sich erinnern, brauchte man nur Neville herzurufen. Ich vermute, daß Onkel William nur unter gewissen Bedingungen mit dem Geld herausrückte. Es erscheint zweifelhaft, ob er es noch einmal getan hätte,
besonders da er daran dachte, sich zu verheiraten. Außerdem hat Harcourt wohl befürchtet, daß Onkel nach der Trauung das Testament ändern könne. Vielleicht gründete er sogar eine Familie, und was sollte der arme Harcourt dann anfangen? Von jedem Standpunkt aus war es besser, wenn der liebe Onkel das Zeitliche segnete. Also wurde der Nachschlüssel angefertigt und der Plan ausgeheckt. Bruder Neville wurde eingeweiht und mußte helfen. Ich neige zu der Ansicht, daß Harcourt noch mehr auf dem Kerbholz haben muß als einen Geldverlust, und Neville steckt vielleicht auch in Schwierigkeiten. Aber wo war ich stehengeblieben?« »Wie er in den Wintergarten kam.« »Ach ja – so bin ich heute abend auch hereingekommen. Er hielt sich im Schutz des Gartens auf und wußte, wann Onkel William ins Eßzimmer gehen würde; denn er sah ja das Licht in der Bibliothek ausgehen. Ihm waren die Gewohnheiten bekannt. Er kam im Dunkeln herein und schloß die äußere Tür hinter sich ab. Dann wartete er beim Telefon in der Bibliothek, bis Nevilles Anruf aus London kam. Sobald es aufhörte zu läuten, hob er den Hörer von der Gabel. Nachdem Neville seinen Vers heruntergeleiert hatte, setzte Harcourt das Gespräch fort. Niemand konnte ihn durch diese schalldichten Turen hören, und Hamworthy konnte nicht merken, daß Haicourts Stimme nicht aus London kam. Infolge des Parallelanschlusses kam sie ja auch über das Amt. Um acht Uhr schlug die Standuhr in der Jermyn Street – ein weiterer Beweis, daß die Londoner Leitung offen war. Sobald Harcourt das hörte, forderte er Neville auf, noch einmal zu sprechen. Während Neville den Butler mit seinen blödsinnigen Instruktionen aufhielt, schlich sich Harcourt ins Eßzimmer, erstach seinen Onkel und verschwand durch die Glastür. Er hatte reichlich fünf Minuten, um wieder zu seinem Auto zu gelangen und abzufahren. Hamworthy und Payne gaben ihm
durch ihren gegenseitigen Verdacht einen noch größeren Vorsprung.« »Warum ist er nicht wieder durch die Bibliothek und den Wintergarten verschwunden?« »Er hoffte, daß alle annehmen würden, der Mörder sei durch die Glastür hereingekommen. Inzwischen fuhr Neville in Harcourts Wagen um 20.20 aus London ab und lenkte unterwegs sorgfältig die Aufmerksamkeit eines Polizisten und eines Mechanikers auf die Wagennummer. An einer verabredeten Stelle außerhalb Welwyns traf er Harcourt und instruierte ihn wegen des Rücklichts. Dann wechselten sie die Wagen. Neville fuhr mit dem gemieteten Wagen nach London, und Harcourt kehrte mit seinem eigenen Wagen hierher zurück. Aber ich fürchte, es wird einige Schwierigkeiten bereiten, die Waffe, den Nachschlüssel und Harcourts blutbefleckten Mantel und Handschuhe zu finden. Neville hat sie wahrscheinlich mit nach London genommen, und durch London fließt ein schöner, tiefer Fluß.«
Die abenteuerliche Heldentat
in der Höhle des Ali Baba
Im Vorderzimmer eines düsteren, engen Hauses in Lambeth saß ein Mann am Tisch und aß Bücklinge, während er einen Blick in die Morgenpost warf. Er war etwas klein und dürr, mit braunem, zu regelmäßig gewelltem Haar und einem kräftigen braunen Spitzbart. Sein zweireihiger marineblauer Anzug und die sorgfältig dazu ausgesuchten Socken sowie Schlips und Taschentuch waren etwas zu übertrieben, um noch von wirklich gutem Geschmack zu zeugen, und das Braun seiner Schuhe war eine Idee zu hell. Er sah nicht aus wie ein Gentleman, nicht einmal wie ein Kammerdiener, und doch hatte er etwas an sich, das darauf hindeutete, daß er an einen in guten Familien herrschenden Lebensstil gewohnt war. Der Frühstückstisch, den er eigenhändig gedeckt hatte, war so tadellos in allen Einzelheiten arrangiert, wie man es von einem erstklassigen Diener erwartet. Als er zu einem kleinen Büffet ging, um sich einen Teller voll Schinken abzuschneiden, glich er einem besseren Butler, und doch war er für einen pensionierten Butler noch nicht alt genug; ein Diener vielleicht, der ein Vermächtnis bekommen hatte. Er verzehrte den Schinken mit gutem Appetit, und während er langsam einen Kaffee trank, las er aufmerksam einen Artikel durch, den er sich schon angekreuzt hatte. LORD PETER WIMSEYS TESTAMENT Vermächtnis an Diener 10000 Pfund für wohltätige Zwecke
»Das Testament Lord Peter Wimseys, der im Dezember auf der Jagd nach Großwild in Tanganjika tödlich verunglückte, ist gestern in Höhe von 500000 Pfund für gültig erklärt worden. Eine Summe von 10000 Pfund ist verschiedenen Wohltätigkeitsvereinen vermacht, einschließlich… (hier folgte eine Aufzählung von Vermächtnissen). Seinem Kammerdiener, Mervyn Bunter, wurde eine Jahresrente von 500 Pfund ausgesetzt. Außerdem erhielt er Wohnrecht in der Etage des Testators in Piccadilly. (Es folgte eine Anzahl persönlicher Vermächtnisse.) Der Rest des Besitzes, einschließlich der wertvollen Bücher- und Bildersammlung in 110 A Piccadilly, fiel an die Mutter des Testators, die Herzoginwitwe von Denver. Lord Peter Wimsey war siebenunddreißig Jahre alt, als er starb. Er war der jüngere Bruder des jetzigen Herzogs von Denver, der der reichste Peer im Vereinigten Königreich ist. Lord Peter hat sich als Kriminalist ausgezeichnet und bei der Lösung mehrerer berühmter Fälle eine aktive Rolle gespielt. Er war ein großer Büchersammler und eine bekannte Persönlichkeit.« Der Mann stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Das stimmt zweifellos«, sagte er laut. »Die Leute verschenken ihr Geld nicht, wenn sie die Absicht haben wiederzukommen. Der Mann ist tot und begraben, das ist sicher. Ich bin frei.« Er trank seinen Kaffee aus, räumte den Tisch ab und wusch das Geschirr. Dann nahm er seinen Hut vom Ständer und ging aus. Ein Bus brachte ihn nach Bermondsey. Dort stieg er aus und tauchte in einem Netz von düsteren Straßen unter. Nach einer Viertelstunde erreichte er eine schäbige Wirtschaft in einem schlechten Viertel. Er trat ein und bestellte einen DoppelWhisky.
Die Wirtschaft war eben erst geöffnet worden, aber eine Anzahl von Kunden, die offenbar bei der Türschwelle auf dieses wünschenswerte Ereignis gewartet hatten, war bereits an der Bar versammelt. Der Mann, der vielleicht ein Diener gewesen sein mochte, faßte nach seinem Glas und stieß dabei an den Ellbogen einer auffallend gekleideten Person in einem karierten Anzug und einem bedauerlichen Schlips. »Heda!« stellte ihn die auffallende Person zur Rede. »Was soll das heißen? Leute Ihres Schlages sind hier nicht erwünscht. Machen Sie, daß Sie ‘rauskommen!« Er spickte seine Bemerkungen mit ein paar saftigen Worten und versetzte dem anderen einen heftigen Stoß gegen die Brust. »Die Bar ist ja wohl für jeden offen, nicht wahr?« entgegnete der andere und gab den Schubs mit Zinsen zurück. »Na, na«, mischte sich die Bardame ein, »so etwas gibt’s hier nicht. Der Herr hat es ja nicht mit Absicht getan, Mister Jukes.« »Nein?« sagte Mr. Jukes. »Aber ich.« »Sie sollten sich schämen«, erwiderte die junge Dame und warf den Kopf in den Nacken. »Ich will in meiner Bar keinen Streit haben – jedenfalls nicht so früh am Morgen.« »Es geschah aus Versehen«, erklärte der Mann von Lambeth. »Ich bin kein Störenfried, habe immer in den besten Häusern gedient. Aber wenn irgendein Herr Händel sucht – « »Schon gut, schon gut«, sagte Mr. Jukes etwas friedlicher. »Ich bin nicht wild darauf. Ihnen ein neues Gesicht zu verpassen, wenn auch jede Änderung es verbessern würde. Benehmen Sie sich das nächste Mal anständiger, weiter will ich nichts. Was wollen Sie trinken?« »Nein, nein«, protestierte der andere, »diese Runde zahle ich. Tut mir leid, daß ich Sie geschubst habe. Das wollte ich nicht. Aber ich lasse mir nicht gern so kommen.« »Kein Wort mehr darüber«, wehrte Mr. Jukes großmütig ab.
»Diesen spendiere ich. Noch einen Doppelwhisky, Miss, und einen wie gehabt. Kommen Sie hierher, wo es nicht so voll ist, damit Sie nicht wieder Scherereien bekommen.« Er führte ihn an einen kleinen Tisch in der Ecke des Raumes. »Nun ist’s gut«, meinte Mr. Jukes. »Sehr geschickt gemacht. Ich glaube ja nicht, daß uns hier Gefahr droht. Aber man kann nicht vorsichtig genug sein. Wie ist es nun, Rogers? Haben Sie sich entschlossen, mitzumachen?« »Ja«, erwiderte Rogers mit einem Blick über die Schulter, »ja, das will ich. Aber wohlgemerkt nur, wenn alles in Ordnung scheint. Ich will keine Scherereien, und ich will mich nicht in ein gefährliches Spiel einlassen. Ich will Ihnen wohl Auskunft geben, aber es steht von vornherein fest, daß ich keine aktive Rolle bei all den Vorgängen spiele. Ist das klar?« »Selbst wenn Sie es wünschten, dürften Sie keine aktive Rolle spielen«, entgegnete Mr. Jukes. »Mein Gott, Sie lächerlicher Kauz, Nummer Eins nimmt für diese Arbeiten nur Experten. Sie brauchen uns nur zu verraten, wo der Plunder ist und wie man darankommt. Das übrige erledigt die Gesellschaft. Eine fabelhafte Organisation, kann ich Ihnen sagen. Sie wissen nicht einmal, wer die Arbeit macht oder wie sie gemacht wird. Sie kennen niemanden, und niemand kennt Sie – außer Nummer Eins natürlich. Er kennt jeden.« »Und Sie«, sagte Rogers. »Und ich natürlich. Aber ich werde in einen anderen Bezirk versetzt. Nach dem heutigen Tage werden wir uns nicht wiedersehen, außer bei den Generalversammlungen, und da tragen wir alle Masken.« »Nun machen Sie aber einen Punkt!« stieß Rogers ungläubig hervor. »Tatsache. Man wird Sie zu Nummer Eins bringen – er sieht Sie, aber Sie sehen ihn nicht. Wenn er dann findet, daß Sie etwas taugen, werden Sie in die Liste eingetragen, und danach
wird man Ihnen sagen, wohin Sie Ihre Berichte zu liefern haben. Alle vierzehn Tage findet eine Bezirksversammlung statt, und alle drei Monate wird eine Generalversammlung einberufen, auf der die Anteile ausgehändigt werden. Jedes Mitglied wird bei seiner Nummer aufgerufen und bekommt seinen Teil in die Hand gedrückt. Das ist alles.« »Sollten aber nun zwei Mitglieder zusammen ein Ding drehen müssen, was dann?« »Wenn die Arbeit bei Tag stattfindet, sind sie so verkleidet, daß ihre eigenen Mütter sie nicht wiedererkennen. Aber meistens wird nachts gearbeitet.« »Ach so. Aber hören Sie – was sollte jemanden daran hindern, mir bis zu meiner Wohnung nachzuspüren und mich bei der Polizei anzuschwärzen?« »Nichts natürlich. Aber ich würde ihm nicht raten, es zu versuchen. Der letzte, der diese schlaue Idee hatte, wurde da unten bei Rotherhithe aus dem Fluß gefischt, noch ehe er Zeit hatte, seinen kostbaren Bericht einzureichen. Nummer Eins kennt nämlich jeden.« »Oh! – und wer ist diese Nummer Eins?« »Das möchten viele Leute brennend gern wissen.« »Weiß es niemand?« »Niemand. Er ist das reinste Wunder, dieser Nummer Eins. Er ist ein Gentleman. Soviel kann ich Ihnen verraten. Und nach seinem Benehmen zu urteilen, stammt er aus ziemlich hohen Kreisen. Er hat sogar Augen hinten im Kopf und einen Arm, der von hier bis nach Australien reicht. Aber niemand weiß etwas von ihm. Höchstens Nummer Zwei, und auch bei ihr bin ich nicht sicher.« »Gehören denn auch Frauen dazu?« »Na, klar doch. Ohne sie kann man heutzutage nicht arbeiten. Aber darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen.
Die Frauen sind durchaus zuverlässig. Sie wollen ebensowenig wie Sie oder ich zu einem schmerzlichen Ende kommen.« »Aber hören Sie, Jukes – wie ist das mit dem Gelde? Man übernimmt ein großes Risiko. Lohnt es sich denn auch?« »Ob es sich lohnt?« Jukes lehnte sich über den kleinen Marmortisch und flüsterte. »Hui!« staunte Rogers. »Und wieviel würde ich davon bekommen?« »Dasselbe wie die anderen, ganz egal, ob Sie an dem Ding beteiligt waren oder nicht. Wir haben fünfzig Mitglieder, und Sie würden den fünfzigsten Teil bekommen, dasselbe wie Nummer Eins und wie ich.« »Wirklich? Im Ernst?« »So wahr ich hier sitze!« Jukes lachte. »Man sollte es nicht für möglich halten. So etwas ist noch nie dagewesen. Das größte Unternehmen in seiner Art. Er ist ein bedeutender Mann, unser Nummer Eins.« »Und drehen Sie viele solche Dinge?« »Viele? Hören Sie! Erinnern Sie sich an die Carrutherssche Halskette und den Bankraub von Gorleston? Und an den Einbruch in Faversham? Und an den großen Rubens, der aus der Nationalgalerie verschwand? Und die Frenshamschen Perlen? Alles Leistungen der Organisation. Und nichts davon aufgeklärt.« Rogers leckte sich die Lippen. »Aber bedenken Sie«, sagte er vorsichtig, »wenn ich nun ein Spitzel wäre und direkt von hier zur Polizei ginge und dort das auspackte, was Sie mir hier alles erzählt haben, was dann?« »Ah!« meinte Jukes. »Tun Sie das nur, und wir wollen sehen, was Ihnen unterwegs passiert. Ich möchte dann nicht in Ihren Schuhen stecken.« »Wollen Sie etwa damit sagen, daß ich unter Beobachtung stehe?«
»Darauf können Sie Gift nehmen. Ja. Und selbst wenn Ihnen unterwegs nichts passierte und Sie brächten die Polente zu dieser Wirtschaft, um mich verhaften zu lassen – « »Ja?« »Dann würden Sie mich nicht finden, ganz einfach. Ich wäre dann zu Nummer Fünf gegangen.« »Wer ist Nummer Fünf?« »Ah! Das weiß ich nicht. Aber er ist der Mann, der Ihnen ein neues Gesicht verpaßt, und zwar auf der Stelle. Plastische Chirurgie nennt man das. Und neue Fingerabdrücke. Alles neu. Wir sind für die allerneuesten Methoden in unserem Verein.« Rogers pfiff vor sich hin. »Na, was meinen Sie nun?« fragte Jukes, während er seinen Bekannten über den Rand seines Glases hinweg beäugte. »Hören Sie mal – Sie haben mir da so allerlei erzählt. Wird mir nichts passieren, wenn ich ›nein‹ sage?« »Gar nichts – wenn Sie sich ordentlich aufführen und uns keine Scherereien machen.« »Hm. Ach so. Und wenn ich ›ja‹ sage?« »Dann werden Sie null Komma nichts ein reicher Mann sein und können wie ein Gentleman leben. Und brauchen nichts dafür zu tun. Müssen uns nur sagen, was Sie über die Häuser wissen, in denen Sie gearbeitet haben, Sie können Ihr Geld spielend verdienen, wenn Sie ein ehrliches Spiel mit der Organisation treiben.« Rogers schwieg und dachte darüber nach. »Einverstanden«, sagte er schließlich. »Gut. Miss! Noch einmal dasselbe, bitte. Wollen einen darauf trinken, Rogers. Ich habe auf den ersten Blick gesehen, daß Sie der richtige Mann für uns sind. Also, trinken wir auf das im Schlaf verdiente Geld! Und nehmen Sie sich vor Nummer Eins in acht! Apropos Nummer Eins, Sie suchen ihn am besten gleich heute abend auf. Je eher, desto besser.«
»Da haben Sie recht. Wo soll ich denn erscheinen? Hier?« »Nix da. Diese kleine Kneipe hat für uns ausgedient. Eigentlich schade; denn es ist hier sehr gemütlich. Aber das läßt sich nicht ändern. Hier sind Ihre Instruktionen: Heute abend Punkt zehn Uhr gehen Sie in nördlicher Richtung über die Lambeth-Brücke.« (Rogers fuhr ein wenig zusammen bei dieser Anspielung, daß seine Adresse bekannt war.) »Dort werden Sie ein gelbes Taxi sehen und einen Chauffeur, der an dem Motor herumhantiert. Sie werden zu ihm sagen: ›Ist Ihr Bus startbereit?‹ und er wird antworten: ›Kommt drauf an, wohin Sie wollen.‹ Drauf hin werden Sie sagen: ›Fahren Sie mich zu Nummer Eins, London.‹ Es gibt übrigens einen Laden, der so heißt, aber zu dem wird er Sie nicht fahren. Wohin er Sie tatsächlich bringt, werden Sie nicht erfahren; denn die Fenster des Taxis sind verhängt. Daraus dürfen Sie sich nichts machen. Das ist beim ersten Besuch so üblich. Später, wenn Sie ein regelrechtes Mitglied sind, werden Sie den Namen des Platzes erfahren. Und wenn Sie dort anlangen, dann tun Sie, was man Ihnen sagt, und sprechen Sie die Wahrheit. Sonst wird Ihnen Nummer Eins die Leviten lesen. Verstehen Sie mich?« »Ich verstehe.« »Machen Sie mit? Haben Sie keine Angst?« »Selbstverständlich habe ich keine Angst.« »Gut! Dann brechen wir jetzt am besten auf. Und ich will mich gleich verabschieden, da wir uns nicht wiedersehen. Leben Sie wohl – und viel Glück!« »Leben Sie wohl.« Sie traten durch die Schwingtür auf die häßliche, schmutzige Straße. Die zwei Jahre, die der Aufnahme des Dieners a. D. Rogers in eine Verbrechergesellschaft folgten, waren durch eine Reihe auffallender und erfolgreicher Überfälle auf die Häuser
vornehmer Leute gekennzeichnet. Da war zum Beispiel der Diebstahl der fabelhaften Diamantentiara der Herzoginwitwe von Denver. Ferner der Einbruch in die Etage, die früher der verstorbene Lord Peter Wimsey bewohnt hatte, wobei silbernes und goldenes Tafelgeschirr im Wert von 7000 Pfund erbeutet wurde; der Einbruch in das Landhaus des Millionärs Theodor Winthrop – wobei sich dieser wohlhabende Herr als ein eingefleischter Erpresser der guten Gesellschaft entpuppte, was einen Riesenskandal in Mayfair zur Folge hatte. Da war der Diebstahl der berühmten achtfachen Perlenschnur von der Marquise von Dinglewood, während sie in der Covent GardenOper der Schmuckarie aus Gounods »Faust« lauschte. Allerdings erwiesen sich die Perlen als eine Imitation, und es stellte sich heraus, daß die echten Perlen unter Umständen, die dem Marquis höchst peinlich waren, von der edlen Dame ins Pfandhaus gebracht worden waren. Trotzdem war es ein sensationeller Coup. An einem Sonnabendnachmittag im Januar saß Rogers in seinem Zimmer in Lambeth, als er plötzlich ein leises Geräusch an der Haustür wahrnahm. Er sprang auf, noch ehe es verstummt war, stürzte durch den kleinen Flur und riß die Tür auf. Die Straße war völlig leer. Doch als er zum Wohnzimmer zurückging, sah er einen Umschlag auf dem Garderobenständer liegen. Er war kurz und bündig an »Nummer Einundzwanzig« adressiert. Da er sich inzwischen an die reichlich dramatischen Methoden gewöhnt hatte, mit denen die Organisation ihre Post verteilte, zuckte er nur die Achseln und öffnete den Brief. Er war in einer Geheimschrift abgefaßt, und die Übertragung lautete wie folgt: »Nummer Einundzwanzig. – Eine außerordentliche Generalversammlung ist für heute abend 11.30 im Hause von Nummer Eins anberaumt. Abwesenheit auf eigene Gefahr. Das Losungswort ist Abschluß.«
Rogers stand eine Weile sinnend da. Dann ging er in ein Hinterzimmer, in dessen eine Wand ein großes Safe eingelassen war. Er drehte an der Kombination und marschierte in das Safe hinein, das eigentlich eine kleine Stahlkammer bildete. Er zog eine mit »Korrespondenz« bezeichnete Schublade heraus und legte den eben erhaltenen Brief hinein. Nach einigen Minuten kam er wieder hervor, verschloß das Safe mit einer neuen Kombination und kehrte ins Wohnzimmer zurück. »Abschluß«, sagte er vor sich hin. »Ja – ich glaube auch.« Er streckte die Hand nach dem Telefon aus – überlegte es sich aber offenbar anders. Dann stieg er nach oben in eine Dachstube und kletterte von da aus auf einen sich dicht unter dem Dach befindlichen Oberboden. Hier kroch er das Gebälk entlang bis in die äußerste Ecke, wo er vorsichtig auf einen Knorren im Gebälk drückte. Sofort öffnete sich eine Geheimtür. Er kroch hindurch und befand sich im entsprechenden Oberboden des nächsten Hauses. Ein leises Gurren tönte ihm beim Eintreten entgegen. Unter dem schrägen Fenster standen drei Käfige mit je einer Brieftaube. Ganz vorsichtig blickte er aus dem Dachfenster, das auf eine hohe, fensterlose Fabrikwand ging. Niemand war in dem finsteren kleinen Hof, und weit und breit war kein Fenster zu sehen. Er zog den Kopf wieder ein. Dann nahm er ein kleines, dünnes Stück Papier aus seiner Brieftasche und schrieb ein paar Buchstaben und Nummern auf, ging zum nächsten Käfig, nahm die Taube heraus und befestigte die Botschaft an ihrem Flügel. Nun setzte er sie sorgfältig auf den Rand des Fensters. Sie zauderte ein wenig, trippelte von einem rosigen Fuß auf den anderen, hob die Flügel und – weg war sie. Er beobachtete, wie sie über das Fabrikdach in den schon dunkelnden Himmel stieg und in der Ferne verschwand.
Er blickte auf seine Uhr und ging wieder nach unten. Eine Stunde später ließ er die zweite Taube fliegen und nach einer weiteren Stunde die dritte. Dann setzte er sich hin und wartete. Um halb zehn stieg er wieder auf den Boden. Es war dunkel, aber ein paar frostige Sterne glitzerten am Himmel, und durch das Fenster wehte es kalt herein. Blaß glänzte etwas am Boden. Er hob es auf – es war warm und voller Federn. Die Antwort war gekommen. Mit der Hand fuhr er durch das weiche Gefieder und entdeckte das Papier. Bevor er die Nachricht las, fütterte er die Taube und setzte sie in einen der Käfige. Er wollte gerade die Tür schließen, da hielt er inne. »Wenn mir irgend etwas zustößt«, meinte er, »so brauchst du deshalb nicht zu verhungern, mein Kind«, schob das Fenster etwas weiter auf und ging nach unten. Auf dem Stück Papier in seiner Hand standen nur zwei Buchstaben: »O. K.« Sie schienen in großer Eile geschrieben, denn die Tinte war etwas verschmiert. Er bemerkte dies mit einem Lächeln, warf das Papier ins Feuer und ging in die Küche, um sich ein kräftiges Essen zu bereiten. Er wählte Eier und Corned beef aus einer neuen Dose und aß alles ohne Brot, obwohl ein frischer Laib neben ihm auf dem Regal lag, dazu holte er sich ein Glas Wasser aus der Leitung, das er eine ganze Weile laufen ließ, ehe er es zu trinken wagte. Außerdem wischte er vorher den Hahn innen und außen sorgfältig ab. Als er fertig war, nahm er einen Revolver aus einer verschlossenen Schublade und inspizierte aufmerksam den Mechanismus, um zu sehen, ob er gut funktioniere. Dann lud er ihn mit neuen Patronen aus einem nicht angebrochenen Paket, setzte sich wieder hin und wartete. Um Viertel vor elf erhob er sich und trat auf die Straße. Er schritt kräftig aus und hielt sich von den Häuserwänden wohl entfernt, bis er auf eine gut erleuchtete Hauptstraße kam. Hier
nahm er einen Bus und sicherte sich einen Eckplatz, von dem er alle Ein- und Aussteigenden gut beobachten konnte. Nach häufigem Buswechsel gelangte er schließlich in eine respektable Wohngegend von Hampstead; hier stieg er aus und ging auf die Heide zu, indem er sich immer noch von den Hauswänden fernhielt. Es schien kein Mond, aber trotzdem war es nicht ganz finster, und als er einen einsamen Teil der Heide überquerte, sah er mehrere dunkle Gestalten aus verschiedenen Richtungen auf sich zukommen. Er blieb im Schutze eines großen Baumes stehen und befestigte eine schwarze Samtmaske vor seinem Gesicht, die von der Stirn bis zum Kinn reichte. Am unteren Rande war die Nummer Einundzwanzig deutlich mit weißem Garn eingestickt. Schließlich enthüllte eine leichte Senkung im Boden eine jener hübschen Villen, die ein wenig isoliert in der ländlichen Umgebung der Heide stehen. Eins der Fenster war erleuchtet. Als er auf die Tür zuging, drängten sich andere dunkle, ebenfalls maskierte Gestalten vor und umringten ihn. Er zählte sechs. Der Vorderste klopfte an die Tür des einsamen Hauses. Nach einer Weile wurde sie ein wenig geöffnet. Der Mann schob seinen Kopf in die Öffnung. Es folgte ein Gemurmel, und dann öffnete sich die Tür weit. Der Mann trat ein, und die Tür schloß sich wieder. Als drei Männer eingetreten waren, kam die Reihe an Rogers. Er klopfte dreimal laut und zweimal leise. Die Tür öffnete sich ein paar Zentimeter, und ein Ohr preßte sich in den Spalt. Rogers flüsterte das Wort »Abschluß«. Das Ohr wurde weggenommen, die Tür öffnete sich, und er trat ein. Ohne ein weiteres Wort der Begrüßung ging Nummer Einundzwanzig in einen kleinen Raum zur Linken, der wie ein Büro mit einem Schreibtisch, einem Safe und ein paar Stühlen ausgestattet war. Am Schreibtisch saß ein massiver Mann, der vor sich ein
dickes Hauptbuch liegen hatte. Der Neuangekommene machte die Tür sorgfältig hinter sich zu. Ein Federschloß schnappte ein. Als er zum Tisch trat, meldete er, »Nummer Einundzwanzig, Sir«, und blieb respektvoll stehen. Der große Mann blickte auf, und die Nummer 1 hob sich auffallend von seiner schwarzen Samtmaske ab. Seine seltsam harten blauen Augen glitten prüfend über Rogers. Auf ein Zeichen von ihm entfernte Rogers seine Maske. Nachdem er sorgfältigst seine Identität festgestellt hatte, sagte der Präsident: »In Ordnung, Nummer Einundzwanzig«, und machte einen Eintrag in das Buch. Die Stimme war hart und metallisch wie seine Augen. Der forschende Blick hinter der unbeweglichen schwarzen Maske schien Rogers unruhig zu machen. Er trat von einem Fuß auf den anderen und senkte die Augen. Nummer Eins entließ ihn mit einer Handbewegung, und Rogers setzte mit einem schwachen Seufzer, der nach Erleichterung klang, seine Maske wieder auf und verließ den Raum. Als er hinausging, trat der nächste ein. Der Raum, in dem sich die Geheimgesellschaft versammelte, war groß. Man hatte die beiden größten Räume der ersten Etage zusammengelegt. Möbliert war er im üblichen Vorstadtgeschmack des zwanzigsten Jahrhunderts und strahlend erleuchtet. In einer Ecke stand ein Grammophon und schmetterte eine Jazzmelodie in die Gegend, nach der etwa zehn maskierte Paare tanzten, manche in Abendkleidung, andere im Straßenanzug. In einer Ecke des Raumes befand sich eine amerikanische Bar. Rogers ging zu dem maskierten Mann, der dort waltete, und bestellte einen Doppel-Whisky. Er lehnte sich an die Bar und trank ihn langsam aus. Der Raum füllte sich allmählich. Bald darauf ging jemand zum Grammophon und stellte es ab. Er sah sich um. Nummer Eins war auf der Schwelle erschienen. Eine große, schwarzgekleidete Frau stand neben ihm. Die mit einer weißen 2 bestickte Maske bedeckte
ihr Haar und ihr Gesicht vollständig. Ihre tadellose Haltung, ihre weißen Arme, ihr schöner Busen und ihre dunklen Augen, die durch die Schlitze in der Maske leuchteten, ließen darauf schließen, daß man es mit einer machtvollen Frau von großen körperlichen Reizen zu tun hatte. »Meine Damen und Herren.« Nummer Eins stand am oberen Ende des Raumes. Die Frau nahm neben ihm Platz. Ihre Augen waren gesenkt und verrieten nichts, aber ihre Hände lagen zusammengeballt auf den Armlehnen ihres Sessels, und ihre ganze Gestalt schien verkrampft zu sein. »Meine Damen und Herren. Zwei Nummern fehlen heute abend.« Die Masken bewegten sich; Augen wanderten suchend und zählend umher. »Ich brauche Sie wohl nicht in Kenntnis zu setzen von dem schrecklichen Mißlingen unseres Plans, die Entwürfe für den Court-Windleshamschen Helikopter zu erlangen. Unsere treuen, mutigen Kameraden Nummer Fünfzehn und Nummer Achtundvierzig sind verraten und von der Polizei verhaftet worden.« Ein unruhiges Gemurmel erhob sich unter den Anwesenden. »Einige von Ihnen mögen daran gedacht haben, daß selbst die wohlbekannte Standhaftigkeit dieser Kameraden unter einem Kreuzverhör zusammenbrechen könnte. Aber Sie haben keine Ursache, aufgeregt zu sein. Die üblichen Instruktionen sind erteilt worden, und ich habe soeben den Bericht erhalten, daß ihre Zungen endgültig zum Schweigen gebracht worden sind. Sie werden sicher alle froh sein, daß diesen beiden tapferen Männern die Versuchung, ehrlos zu handeln, erspart geblieben ist, und daß sie eine öffentliche Verhandlung und die Härten einer langen Gefängnisstrafe nicht über sich ergehen zu lassen brauchen.« Die versammelten Mitglieder zogen scharf den Atem ein; es klang, als striche der Wind über ein Gerstenfeld. »Ihre Angehörigen werden in der üblichen Weise diskret
entschädigt. Ich fordere Nummer Zwölf und Nummer Vierunddreißig auf, diese angenehme Aufgabe zu übernehmen. Nach der Versammlung werden sie weitere Instruktionen in meinem Büro erhalten. Wollen die von mir genannten Nummern so freundlich sein und andeuten, daß sie fähig und bereit sind, diese Pflicht zu erledigen?« Zwei Hände erhoben sich. Der Präsident blickte auf seine Uhr und fuhr fort: »Meine Damen und Herren, fordern Sie bitte Ihre Partner zum nächsten Tanz auf.« Das Grammophon wurde wieder angestellt. Rogers wandte sich an ein Mädchen, das in einem roten Kleide neben ihm stand. Sie nickte, und beide glitten in den Takt eines Foxtrotts. Die Paare drehten sich ernst und schweigsam. Die Schatten der sich bewegenden Figuren wurden auf die Vorhänge geworfen. »Was ist nur passiert?« hauchte das Mädchen, ohne die Lippen merklich zu bewegen. »Ich habe Angst. Sie nicht? Ich habe das Gefühl, als ob etwas Schreckliches geschehen wird.« »Die Methoden des Präsidenten stoßen einen etwas vor den Kopf«, gab Rogers zu, »aber man hat dadurch größere Sicherheit.« »Diese armen Männer – « Ein Tänzer, der sich umdrehte und ihnen unmittelbar folgte, berührte Rogers am Arm. »Das Sprechen ist untersagt«, warnte er. Seine Augen funkelten streng. Er wirbelte seine Partnerin mitten unter die Menge und war im Nu verschwunden. Das Mädchen erschauerte. Das Grammophon hörte auf. Es wurde etwas geklatscht. Dann drängten sich die Tänzer wieder um den Stuhl des Präsidenten. »Meine Damen und Herren. Sie haben sich vielleicht schon gefragt, warum diese außerordentliche Versammlung einberufen worden ist. Es liegt ein sehr ernster Grund vor. Das Mißlingen unseres kürzlichen Versuchs war
kein Zufall. Die Polizei war in jener Nacht nicht zufällig am Platz. Wir haben einen Verräter unter uns.« Partner, die dicht zusammengestanden hatten, wichen mißtrauisch voneinander zurück. Jedes Mitglied schien zusammenzuschrumpfen wie eine Schnecke bei der Berührung durch einen Finger. »Sie werden sich bestimmt an das enttäuschende Resultat der Dinglewood-Affäre erinnern«, fuhr der Präsident mit seiner barschen Stimme fort. »Ich rufe Ihnen andere kleinere Angelegenheiten ins Gedächtnis zurück, die ebenfalls unbefriedigend waren. Man ist dem Ursprung aller dieser ärgerlichen Vorfälle nachgegangen. Es freut mich, Ihnen sagen zu können, daß wir jetzt alle ganz beruhigt sein können. Der Übeltäter ist entdeckt und wird entfernt. Es sollen keine Irrtümer mehr vorkommen. Das mißleitete Mitglied, das den Verräter in unsere Gesellschaft eingeführt hat, wird dahin gebracht werden, wo sein Mangel an Vorsicht kein Unheil mehr anrichten kann. Es ist keine Ursache zur Aufregung vorhanden.« Jedes Auge schweifte unter den Anwesenden umher auf der Suche nach dem Verräter und seinem unglückseligen Bürgen. Irgendwo unter den schwarzen Masken mußte ein Gesicht weiß geworden sein, irgendwo unter dem stickigen Samt müssen auf einer Stirn Schweißperlen gestanden haben, die nicht von der Hitze des Tanzes herrührten. Doch die Masken verbargen alles. »Meine Damen und Herren, bitte fordern Sie Ihre Partner zum nächsten Tanz auf.« Aus dem Grammophon tönte eine alte, halbvergessene Melodie: ›There ain’d nobody loves me.‹ Das Mädchen in Rot wurde von einer großen Maske im Abendanzug geholt. Eine Hand legte sich auf Rogers’ Arm und ließ ihn zusammenfahren. Eine kleine rundliche Frau in einem grünen
Jumper schob ihre kalte Hand in die seine. Der Tanz ging weiter. Als er unter dem üblichen Applaus aufhörte, blieb jeder für sich in steifer Erwartung stehen. Die Stimme des Präsidenten ließ sich wieder vernehmen. »Meine Damen und Herren, bitte benehmen Sie sich doch natürlich. Dies ist ein Tanz und keine öffentliche Versammlung.« Rogers führte seine Partnerin zu einem Stuhl und holte ihr ein Eis. Als er sich über sie beugte, sah er, wie schnell sich ihre Brust hob und senkte. »Meine Damen und Herren.« Die endlose Pause war vorüber. »Sie wünschen zweifellos, sofort aus Ihrer Ungewißheit erlöst zu werden. Ich will die betreffenden Personen nennen. Nummer Siebenunddreißig!« Ein Mann sprang mit einem furchtbaren, halberstickten Schrei auf. »Ruhe!« Der Unglückliche würgte und stöhnte. »Ich habe nie – ich schwöre, ich habe nie – ich bin unschuldig.« »Ruhe! Sie haben es an Umsicht fehlen lassen. Man wird sich mit Ihnen befassen. Wenn Sie zur Verteidigung Ihrer Dummheit irgend etwas vorzubringen haben, werde ich es mir später anhören. Setzen Sie sich.« Nummer Siebenunddreißig sank auf einen Stuhl. Er schob sein Taschentuch unter die Maske, um sich das Gesicht abzuwischen. Zwei große Männer stellten sich dicht neben ihn. Die übrigen wichen zurück, wie die Menschheit vor jemandem zurückfährt, der mit einer todbringenden Krankheit behaftet ist. Das Grammophon ertönte wieder. »Meine Damen und Herren, nun will ich den Verräter nennen. Nummer Einundzwanzig, treten Sie vor.« Rogers trat vor. Konzentrierte Wut und Abscheu brannte ihm aus
siebenundvierzig Paar Augen entgegen. Der elende Jukes fing von neuem an zu jammern. »Oh, mein Gott! Oh, mein Gott!« »Ruhe! Nummer Einundzwanzig, nehmen Sie Ihre Maske ab.« Der Verräter zog den dicken Stoß von seinem Gesicht. Der intensive Haß der Augen verzehrte ihn. »Nummer Siebenunddreißig, dieser Mann wurde hier von Ihnen eingeführt unter dem Namen Joseph Rogers, ehemaliger zweiter Diener im Dienste des Herzogs von Denver, wegen Diebstahls entlassen. Haben Sie etwas unternommen, um die Richtigkeit der Aussage zu prüfen?« »Ja, das habe ich getan! So wahr Gott mein Zeuge ist, es stimmte alles. Ich habe ihn von zwei Dienern identifizieren lassen. Ich habe Erkundigungen angestellt. Alles, was er mir erzählt hatte, stimmte. Das kann ich beschwören.« Der Präsident studierte ein Blatt Papier, das er vor sich liegen hatte, und blickte dann wieder auf die Uhr. »Meine Damen und Herren, bitte wählen Sie Ihre Partner…« Nummer Einundzwanzig stand mit auf dem Rücken gefesselten Händen regungslos da, während der Tanz des Verderbens um ihn herum kreiste. Das Klatschen am Ende klang genauso wie das Klatschen der Männer und Frauen, die mit durstigen Lippen unter der Guillotine saßen. »Nummer Einundzwanzig, Sie sind hier eingetragen als Joseph Rogers, Diener, wegen Diebstahls entlassen. Ist das Ihr richtiger Name?« »Nein.« »Wie heißen Sie?« »Peter Death Bredon Wimsey.« »Wir dachten, Sie seien tot.« »Natürlich. Das sollten Sie ja auch.« »Was ist aus dem richtigen Joseph Rogers geworden?« »Er starb im Ausland. Ich bin an seine Stelle getreten. Ihre Leute sind wirklich nicht zu tadeln, weil sie mich nicht
durchschaut haben. Ich bin nicht nur an Rogers’ Stelle getreten. Ich war Rogers. Sogar, wenn ich allein war, ging ich wie Rogers, saß ich wie Rogers, las ich Rogers’ Bücher und trug Rogers’ Kleidung. Schließlich hatte ich fast dieselben Gedanken wie Rogers. Wenn man eine Personifikation erfolgreich durchführen will, darf man niemals nachlassen.« »Ach so. Der Diebstahl in Ihrer eigenen Etage war also arrangiert, wie?« »Unverkennbar.« »Die Beraubung der Herzoginwitwe, Ihrer Mutter, ist wohl auch mit ihrem Einverständnis geschehen?« »Natürlich. Es war eine sehr häßliche Tiara – kein wirklicher Verlust für jemanden mit anständigem Geschmack. Darf ich übrigens rauchen?« »Das dürfen Sie nicht. Meine Damen und Herren…« Der Tanz glich dem mechanischen Hopsen von Marionetten. Glieder zuckten, Füße stolperten. Der Gefangene sah mit kritischer Überlegenheit zu. »Nummer Fünfzehn, Nummer Zweiundzwanzig und Nummer Neunundvierzig. Sie haben den Gefangenen unter Beobachtung gehabt. Hat er irgendwelche Versuche gemacht, sich mit jemandem in Verbindung zu setzen?« »Keinen einzigen.« Nummer Zweiundzwanzig war der Sprecher. »Man hat seine Briefe und Pakete geöffnet, sein Telefon abgehört und ihn beschattet. Seine Wasserrohre sind auf Morsesignale hin geprüft worden.« »Können Sie das mit Sicherheit behaupten?« »Ganz entschieden.« »Gefangener, haben Sie dieses Abenteuer allein unternommen? Sprechen Sie die Wahrheit, oder die Sache könnte noch unangenehmer für Sie werden, als sie es schon ist.«
»Ich stehe allein. Ich habe kein unnötiges Risiko übernommen.« »Mag sein. Ich halte es jedoch für ratsam, den Mann in Scotland Yard – wie hieß er doch noch – Parker – zum Schweigen zu bringen. Ebenfalls den Kammerdiener des Gefangenen, Mervyn Bunter, und eventuell auch seine Mutter und Schwester. Der Bruder ist ein Dummkopf, den der Gefangene wahrscheinlich nicht ins Vertrauen gezogen hat. Eine scharfe Bewachung wird in diesem Fall eine ausreichende Vorsichtsmaßregel sein.« Der Gefangene schien zum erstenmal ein Gefühl zu verraten. »Sir, ich versichere Ihnen, daß meine Mutter und meine Schwester nichts wissen, was auch nur im entferntesten für die Organisation gefährlich werden könnte.« »Sie hätten früher an ihre Situation denken sollen. Meine Damen und Herren, bitte wählen Sie – « »Nein – nein!« Fleisch und Blut konnten dieses Affentheater nicht länger ertragen. »Nein! Machen Sie ihn fertig. Dann haben wir’s hinter uns. Brechen Sie die Versammlung ab. Es ist gefährlich. Die Polizei…« – »Ruhe!« Der Präsident blickte sich im Kreise um. Die Leute sahen ziemlich gefährlich aus. Er gab nach. »Na schön. Schaffen Sie den Gefangenen fort und töten Sie ihn. Er wird nach der Methode Nummer vier behandelt. Erklären Sie ihm diese vorher recht sorgfältig.« »Ah!« Die Augen drückten eine tierische Befriedigung aus. Starke Hände packten Wimsey an den Armen. »Einen Augenblick – lassen Sie mich um Gottes willen auf anständige Weise sterben.« »Das hätten Sie sich vorher überlegen sollen. Bringen Sie ihn fort. Meine Damen und Herren, Sie können beruhigt sein – er wird nicht schnell sterben.«
»Halt! Warten Sie!« rief Wimsey verzweifelt. »Ich habe Ihnen etwas zu sagen. Ich bitte nicht um mein Leben – nur um einen schnellen Tod. Ich – ich habe etwas zu verkaufen.« »Zu verkaufen?« »Ja.« »Wir machen keine Geschäfte mit Verrätern.« »Nein – aber hören Sie doch zu! Denken Sie etwa, daß ich eine solche Möglichkeit nicht ins Auge gefaßt hätte? So verrückt bin ich nicht. Ich habe einen Brief hinterlassen.« »Ah! Jetzt kommt’s heraus. Einen Brief. An wen?« »An die Polizei. Wenn ich morgen nicht zurückkehre – « »Na, und?« »Wird der Brief geöffnet.« »Sir«, unterbrach Nummer Fünfzehn. »Das ist nichts weiter als Bluff. Der Gefangene hat keinen Brief abgeschickt. Er hat seit vielen Monaten unter strengster Beobachtung gestanden.« »Ah! Aber hören Sie zu. Ich habe den Brief hinterlassen, ehe ich nach Lambeth kam.« »Dann kann er keine wertvolle Information enthalten.« »Oh, doch!« »Was denn wohl?« »Die Kombination meines Safes.« »Wirklich? Ist das Safe dieses Mannes durchsucht worden?« »Ja, Sir.« »Was war darin enthalten?« »Keine wichtige Information, Sir. Eine Beschreibung unserer Organisation – der Name dieses Hauses – nichts, das vor morgen nicht abgeändert und bemäntelt werden könnte.« Wimsey lächelte. »Haben Sie das innere Fach des Safes inspiziert?« Es entstand eine Pause. »Sie haben gehört, was er gesagt hat«, schnauzte der Präsident. »Haben Sie dieses innere Fach entdeckt?«
»Da war kein inneres Fach, Sir. Er versucht zu bluffen.« »Leider muß ich Ihnen widersprechen«, erwiderte Wimsey, und es klang etwas von seinem alten, liebenswürdigen Ton durch. »Aber ich glaube wirklich, Sie haben das innere Fach übersehen.« »Na«, meinte der Präsident, »was soll denn dieses innere Fach enthalten, wenn es tatsächlich existieren sollte?« »Die Namen jedes Mitglieds dieser Organisation mit Adresse, Fotografie und Fingerabdrücken.« »Was?« Häßliche Furcht malte sich in den Augen der Umstehenden. Wimsey blickte unverwandt den Präsidenten an. »Wie wollen Sie zu dieser Information gekommen sein?« »Ich habe ein bißchen Detektiv gespielt.« »Aber Sie standen doch unter Beobachtung.« »Stimmt. Die Fingerabdrücke meiner Beobachter schmücken die erste Seite meiner Sammlung.« »Kann diese Behauptung erhärtet werden?« »Gewiß. Ich will sie beweisen. Der Name von Nummer Fünfzig ist zum Beispiel – « »Hören Sie auf!« Ein wildes Gemurmel wurde hörbar. Der Präsident brachte es mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Wenn Sie hier Namen erwähnen, können Sie bestimmt nicht auf Gnade rechnen. Es gibt noch eine fünfte Behandlungsmethode – besonders reserviert für Leute, die Namen erwähnen. Bringen Sie den Gefangenen in mein Büro. Tanzen Sie weiter.« Der Präsident nahm einen Revolver aus seiner Hüfttasche und blickte seinen stark gefesselten Gefangenen über den Tisch hinweg an. »Nun reden Sie!« befahl er. »Ich würde an Ihrer Stelle das Ding weglegen«, sagte Wimsey verächtlich. »Es würde einerlei angenehmere Todesart
sein als die Behandlungsmethode Nummer fünf, und ich könnte mich versucht fühlen, sie heraufzubeschwören.« »Geistreich«, entgegnete der Präsident, »aber ein wenig zu geistreich. Nun rasch; sagen Sie mir, was Sie wissen.« »Wollen Sie mich verschonen, wenn ich es Ihnen sage?« »Ich verspreche nichts. Schnell.« Wimsey zuckte die gefesselten und schmerzenden Achseln. »Gewiß. Ich will Ihnen sagen, was ich weiß. Wenn Sie genug gehört haben, können Sie sich melden.« Er lehnte sich vor und sprach mit leiser Stimme. Über ihnen bezeugten das lärmende Grammophon und die schurrenden Füße, daß der Tanz fortgesetzt wurde. Passanten, die zufällig über die Heide gingen, bemerkten, daß die Leute in dem einsamen Haus einmal wieder die Nacht durchfeierten.
»Na«, fragte Wimsey, »soll ich fortfahren?« »Mylord«, die Stimme des Präsidenten klang, als ob er unter der Maske grimmig lächelte, »Ihre Erzählung erfüllt mich mit Bedauern, daß Sie nicht tatsächlich ein Mitglied unserer Gesellschaft sind. Klugheit, Mut und Fleiß sind für eine Organisation wie die unsrige unendlich wertvoll. Ich fürchte, ich kann Sie nicht überreden? Nein – das habe ich mir wohl gedacht.« Er schlug eine Glocke auf seinem Tisch an. »Bitten Sie die Mitglieder, sich gütigst in den Souper-Raum zu begeben«, sagte er zu der eintretenden Maske. Der »SouperRaum« lag im Erdgeschoß. Die Fenster waren nicht verhangen und die Fensterläden fest verschlossen. In der Mitte stand ein langer, kahler, von Stühlen umgebener Tisch. »Eine Barmekidenmahlzeit, wie ich sehe«, bemerkte Wimsey liebenswürdig. Es war das erstemal, daß er diesen Raum betrat. Am äußersten Ende gähnte verhängnisvoll die Öffnung einer Falltür.
Der Präsident nahm an der Spitze der Tafel Platz. »Meine Damen und Herren«, begann er wie üblich – und die törichte Höflichkeitsfloskel hatte nie so unheimlich geklungen. »Ich will Ihnen den Ernst der Situation nicht verheimlichen. Der Gefangene hat mir zwanzig Namen und Adressen aufgezählt, die, wie wir annahmen, nur mir und ihren Eigentümern bekannt seien. Man hat sich eine große Nachlässigkeit zuschulden kommen lassen« – seine Stimme bekam einen harten Klang – »das muß näher untersucht werden. Fingerabdrücke sind erlangt worden – er hat mir einige Fotografien gezeigt. Wie unsere Leute dazu kamen, die innere Tür dieses Safes zu übersehen, ist eine Angelegenheit, die eingehend geprüft werden muß.« »Sie dürfen ihnen keine Schuld zuschieben«, warf Wimsey dazwischen. »Sie sollte nämlich übersehen werden. Ich habe sie eigens so gemacht.« Der Präsident fuhr fort, anscheinend ohne die Unterbrechung bemerkt zu haben. »Wie mir der Gefangene verraten hat, befindet sich das Buch mit den Namen und Adressen in diesem inneren Fach zusammen mit gewissen Briefen und Papieren, die aus den Häusern von Mitgliedern gestohlen worden sind, und zahlreichen Gegenständen, die authentische Fingerabdrücke aufweisen. Ich glaube, daß er die Wahrheit spricht. Er bietet uns die Kombination des Safes für einen schnellen Tod an. Ich bin dafür, daß das Angebot angenommen wird. Wie denken Sie darüber, meine Damen und Herren?« »Die Kombination ist uns bereits bekannt«, erklärte Nummer Zweiundzwanzig. »Idiot! Dieser Mann hat uns gesagt und mir bewiesen, daß er Lord Peter Wimsey ist. Glauben Sie etwa, daß er vergessen hat, die Kombination zu ändern? Außerdem existiert das
Geheimnis der inneren Tür. Wenn er heute, nacht verschwindet und die Polizei betritt sein Haus – « »Ich bin dafür«, sagte eine volle Frauenstimme, »daß man das Versprechen gibt und sich die Information zunutze macht – und zwar schnell. Die Zeit drängt.« Ein zustimmendes Gemurmel wanderte um den Tisch. »Sie hören es also«, wandte sich der Präsident an Wimsey. »Die Gesellschaft bietet Ihnen den Vorzug eines schnellen Todes für die Kombination des Safes und das Geheimnis der inneren Tür an.« »Geben Sie mir Ihr Wort darauf?« »Ja.« »Danke. Und meine Mutter und meine Schwester?« »Wenn Sie Ihrerseits uns Ihr Wort geben – Sie sind ja ein Ehrenmann –, daß diese Frauen nichts wissen, das uns schaden könnte, sollen sie verschont bleiben.« »Ich danke Ihnen, Sir. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß sie nichts wissen. Es würde mir im Traum nicht einfallen, irgendeine Frau mit so gefährlichen Geheimnissen zu belasten – besonders nicht die, die mir nahestehen.« »Also gut. Einverstanden – ja?« Murmelnd wurde die Zustimmung gegeben – obgleich nicht so bereitwillig wie vorher. »Dann bin ich bereit, Ihnen die gewünschte Auskunft zu geben. Das Wort der Kombination ist Unzuverlässig.« »Und die innere Tür?« »In Erwartung des Polizeibesuches habe ich die innere Tür – die ziemliche Schwierigkeiten geboten hätte – offengelassen.« »Gut! Wenn die Polizei unserem Boten in die Quere kommt; dann wissen Sie ja – « »Das würde mir nicht helfen, nicht wahr?« »Es ist zwar ein Risiko«, sagte der Präsident nachdenklich, »aber ein Risiko, das wir meiner Ansicht nach auf uns nehmen müssen. Bringen Sie den Gefangenen in den Keller hinunter.
Er kann sich damit amüsieren, den Apparat Nummer fünf zu betrachten. Mittlerweile werden Nummer Zwölf und Nummer Sechsundvierzig – « »Nein, nein!« Ein feindseliges Gemurmel erhob sich und schwoll drohend an. »Nein«, sagte ein großer Mann mit einer honigsüßen Stimme. »Nein – warum sollten andere Mitglieder in den Besitz dieser Beweise kommen? Wir haben heute abend einen Verräter und mehr als einen Dummkopf unter uns entdeckt. Wie können wir wissen, ob Nummer Zwölf und Nummer Sechsundvierzig nicht auch Dummköpfe und Verräter sind?« Die beiden Männer wandten sich wütend an den Sprecher, aber eine hohe, aufgeregte Mädchenstimme mischte sich in die Diskussion. »Hört, hört! Der Mann hat recht, sage ich Ihnen. Wir wollen unsere Namen nicht von jemandem lesen lassen, von dem wir nichts wissen. Ich habe jetzt genug. Sie können uns ja samt und sonders an die Polente verkaufen.« »Ich bin derselben Meinung«, ließ sich ein anderes Mitglied hören. »Man sollte niemandem trauen, überhaupt niemandem.« Der Präsident zuckte die Achseln. »Was aber, meine Damen und Herren, schlagen Sie dann vor?« Es folgte eine Pause. Dann kreischte dasselbe Mädchen wieder: »Ich schlage vor, daß der Herr Präsident selber hingeht. Er ist der einzige, der sowieso alle Namen kennt. Warum sollen wir andern das Risiko und die Arbeit haben, während er zu Hause sitzt und das Geld einsteckt. Er soll selber gehen. Das ist meine Meinung.« Ein rauschendes Gemurmel der Zustimmung ging um den Tisch. »Ich unterstütze den Antrag«, erklärte ein wohlbeleibter Mann, der eine ganze Reihe goldener Anhängsel an seiner
Uhrkette trug. Wimsey mußte lächeln, als er die Anhängsel sah, es war diese kleine Eitelkeit, die ihm den Namen und die Adresse des wohlbeleibten Herrn verschafft hatte, und er empfand deswegen ein gewisses Wohlwollen für diese Schmuckstücke. Der Präsident blickte sich im Kreise um. »Es ist also der Wunsch der Versammlung, daß ich gehe?« fragte er mit düsterer Stimme. Vierundvierzig Hände bekundeten ihre Zustimmung. Nur die als Nummer Zwei bekannte Frau saß regungslos und schweigend da. Ihre starken weißen Hände lagen zusammengeballt in ihrem Schoß. Der Präsident ließ seine Augen langsam im Kreise herumgehen, bis sie auf ihr ruhten. »Ich muß also annehmen, daß der Beschluß einstimmig ist?« erkundigte er sich. »Geh nicht«, stieß sie keuchend hervor. »Sie hören also«, erklärte der Präsident in etwas höhnischem Ton. »Diese Dame rät mir, nicht hinzugehen.« »Ich erkläre: was Nummer Zwei sagt, hat weder Hand noch Fuß«, sagte der Mann mit der Sirupstimme. »Unsere eigenen Damen sähen es wahrscheinlich auch nicht gern, daß wir gingen, wenn sie die bevorzugte Stellung von Madame genössen.« Seine Stimme war eine Beleidigung. »Hört, hört!« rief ein anderer Mann. »Dies hier ist eine demokratische Gesellschaft. Wir wollen keine bevorzugten Klassen.« »Na schön«, sagte der Präsident. »Du hörst also, Nummer Zwei. Die Stimmung der Versammlung ist gegen dich. Kannst du irgendwelche Gründe vorbringen, die deine Ansicht unterstützen?« »Hundert. Der Präsident ist das Haupt und die Seele unserer Gesellschaft. Wenn ihm etwas zustoßen sollte – wo wären wir dann? Sie alle« – sie ließ ihre prachtvollen Augen über die
Versammlung gleiten – »haben Fehler gemacht. Ihrer Nachlässigkeit haben wir dies alles zu verdanken. Glauben Sie etwa, wir könnten uns fünf Minuten in Sicherheit wiegen, wenn der Präsident nicht hier wäre, um Ihre Dummheiten auszumerzen?« »Das ist schon richtig«, sagte ein Mann, der bisher noch nicht gesprochen hatte. »Verzeihung, wenn ich einen Vorschlag machen dürfte«, sagte Wimsey boshaft, »so ist es dieser. Da die Dame ja in einer Stellung zu sein scheint, in der sie das unbegrenzte Vertrauen des Präsidenten genießt, wird der Inhalt meines bescheidenen Bandes ihr wahrscheinlich nicht neu sein. Warum sollte also Nummer Zwei nicht selbst gehen?« »Weil ich es nicht gestatte«, entgegnete der Präsident mit strenger Miene, bevor seine Gefährtin die Worte äußern konnte, die ihr auf der Zunge lagen. »Wenn es die Versammlung wünscht, will ich gehen. Geben Sie mir den Schlüssel zu Ihrem Haus.« Einer der Männer zog ihn aus Wimseys Rocktasche und gab ihn dem Präsidenten. »Wird das Haus beobachtet?« »Nein.« »Ist das die Wahrheit?« »Die volle Wahrheit.« Der Präsident drehte sich an der Tür um. »Wenn ich in zwei Stunden nicht zurückgekehrt bin«, sagte er, »rette sich jeder, so gut er kann, und mit dem Gefangenen können Sie machen, was Sie wollen. Nummer Zwei wird in meiner Abwesenheit Befehle erteilen.« Er verließ das Zimmer. Nummer Zwei erhob sich mit einer gebieterischen Geste von ihrem Platz. »Meine Damen und Herren. Das Souper gilt nun als beendigt. Fangen Sie bitte wieder an zu tanzen.«
Unten im Keller verging die Zeit langsam in der Betrachtung des Apparates Nummer fünf. Der elende Jukes jammerte und wütete abwechselnd und schrie sich schließlich in einen Erschöpfungszustand hinein. Die vier Mitglieder, die die Gefangenen bewachten, flüsterten von Zeit zu Zeit miteinander. »Anderthalb Stunden, seitdem der Präsident fortgegangen ist«, sagte der eine. Wimsey blickte auf. Dann wandte er sich wieder der Betrachtung des Raumes zu. Er enthielt so viele merkwürdige Dinge, die er seinem Gedächtnis einprägen wollte. Bald darauf wurde die Falltür aufgerissen. »Bringen Sie ihn herauf!« rief eine Stimme. Die Mitglieder der Bande saßen wieder um den Tisch. Nummer Zwei nahm den Stuhl des Präsidenten ein, und ihre wütenden Augen hefteten sich blutdürstig auf Wimseys Gesicht. Doch als sie sprach, geschah es mit einer Selbstbeherrschung, die Wimseys Bewunderung erregte. »Der Präsident ist zwei Stunden fort«, sagte sie. »Was ist ihm zugestoßen? Zweifacher Verräter – was ist ihm zugestoßen?« »Wie soll ich das wissen?« entgegnete Wimsey. »Vielleicht hat er Nummer Eins in Sicherheit gebracht und sich aus dem Staube gemacht, als die Gelegenheit günstig war!« Sie sprang mit einem kleinen Wutschrei auf und trat dich an ihn heran. »Biest! Lügner!« schrie sie und schlug ihm auf den Mund. »Sie wissen ganz genau, daß er das niemals tun würde. Er ist seinen Freunden treu. Was haben Sie mit ihm gemacht? Sprechen Sie – sonst werde ich Sie zum Reden bringen. Sie zwei da, bringen Sie mal die Eisen. Er soll reden!« »Ich kann nur vermuten, Madame«, erwiderte Wimsey, »und ich werde bestimmt nicht besser vermuten können, wenn ich mit heißen Eisen dazu aufgefordert werde wie der Hanswurst im Zirkus. Beruhigen Sie sich, und ich werde Ihnen sagen, was ich denke. Ich glaube – ich befürchte sogar sehr – daß
Monsieur le President in seiner Eile, die interessanten Beweisstücke in meinem Safe zu prüfen, zweifellos ganz aus Versehen die Tür der inneren Kammer hinter sich zufallen ließ. In dem Falle – « Er zog die Augenbrauen in die Höhe, da seine Achseln zu wund waren, um sie zu zucken, und sah sie mit einem reinen, unschuldigen Bedauern an. »Was soll das heißen?« Wimsey blickte im Kreise umher. »Ich glaube«, meinte er, »ich erkläre Ihnen zunächst einmal am besten den Mechanismus meines Safes. Es ist ein ziemlich gutes Safe«, fügte er etwas wehleidig hinzu. »Die Idee habe ich selbst erfunden – natürlich nicht das Funktionsprinzip; das ist Sache der Wissenschaftler – nur die Idee. Die Kombination, die ich Ihnen gab, ist völlig korrekt. Sie öffnet die äußere Tür, die in die gewöhnliche Stahlkammer führt, wo ich mein Bargeld und meine Manschettenknöpfe und dergleichen aufbewahre. Aber es ist noch ein inneres Fach vorhanden mit zwei Türen, die auf eine ganze andere Weise geöffnet werden. Die äußere dieser beiden inneren Türen ist nur eine dünne Stahlhaut, die so angestrichen ist, daß sie wie die Rückwand meines Safes aussieht. Sie geht nach außen und wird mit einem gewöhnlichen Schlüssel geöffnet. Wie ich dem Präsidenten wahrheitsgemäß versicherte, hatte ich sie offengelassen, als ich meine Wohnung verließ.« »Glauben Sie etwa«, unterbrach ihn die Frau höhnisch, »der Präsident ist so naiv, daß er auf eine so offensichtliche Falle hereinfällt? Er wird schon etwas dazwischengestopft haben.« »Zweifellos, Madame. Aber diese äußere innere Tür, wenn ich mich so ausdrücken darf, hat nur den Zweck, die einzige innere Tür vorzutäuschen. Hinter dieser Tür befindet sich jedoch noch eine, ein Gleitpaneel, das so in die Wand gleitet, daß man es nicht erkennen kann. Diese Tür war ebenfalls offengelassen. Unsere verehrte Nummer Eins brauchte nur geradeaus in die innere Kammer des Safes zu spazieren, das,
nebenbei bemerkt, in den Schornstein der alten SouterrainKüche eingebaut ist. Hoffentlich drücke ich mich klar genug aus.« »Ja, ja – weiter. Fassen Sie sich kurz.« Wimsey verbeugte sich und sprach noch bedächtiger als vorher: »Nun, diese interessante Liste über die Tätigkeiten der Gesellschaft, die ich die Ehre hatte zusammenzustellen, befindet sich in einem großen Buch – das sogar noch dicker ist als das Hauptbuch des Herrn Präsidenten, das er hier in Benutzung hat. Ich hoffe übrigens, Madame, daß Sie daran gedacht haben, das Buch an einen sicheren Platz zu bringen. Ganz abgesehen von dem Risiko, daß sich ein allzu diensteifriger Polizist dafür interessieren könnte, würde es auch nicht ratsam sein, es in die Hände jugendlicher Mitglieder der Gesellschaft fallen zu lassen. Ich glaube, die Stimmung der Versammlung würde sich gegen ein solches Vorkommnis richten.« »Es ist in sicherem Verwahr«, warf sie hastig ein. »Mon Dieu! Fahren Sie endlich mit Ihrer Geschichte fort.« »Danke vielmals – es ist mir eine große Erleichterung. Sehr gut. Dieses dicke Buch liegt nun auf einem stählernen Regal an der Rückwand der inneren Kammer. Einen Augenblick, bitte. Ich habe Ihnen diese innere Kammer noch nicht beschrieben. Sie ist fast zwei Meter hoch, einen Meter breit und einen Meter tief. Man kann ganz bequem darin stehen, wenn man nicht allzu groß ist. Für mich ist sie wie geschaffen – wie Sie sehen, ich bin nur 1,74 groß. Der Präsident ist größer als ich; er mag sich vielleicht etwas beengt fühlen, aber er könnte sich in die Hocke setzen, wenn er das Stehen leid würde. Nebenbei, ich weiß nicht, ob Sie’s wissen, aber Sie haben mich ziemlich fest verschnürt.«
»Ich möchte Sie fesseln lassen, daß Ihnen die Knochen krachen. He, Sie da, schlagen Sie ihn! Er versucht, Zeit zu gewinnen.« »Wenn Sie mich schlagen«, erklärte Wimsey, »werde ich keinen Ton mehr sagen, verdammt noch mal! Beherrschen Sie sich, Madame. Es hat keinen Sinn, hastige Züge zu machen, wenn Ihr König im Schach steht.« »Weiter!« schrie sie wieder und stampfte vor Wut mit dem Fuß auf. »Wo war ich doch noch? Ach, ja, bei der inneren Kammer. Wie gesagt, sie ist reichlich beengend – um so mehr, als überhaupt keine Ventilation vorhanden ist. Habe ich schon erwähnt, daß das Buch auf einem stählernen Regal liegt?« »Jawohl.« »Diese Stahlplatte ruht auf einer empfindlichen, verborgenen Feder. Wenn das Buch – das, wie gesagt, sehr schwer ist – aufgehoben wird, hebt sich die Platte unmerklich. Dadurch wird ein elektrischer Kontakt hergestellt. Nun stellen Sie sich vor, Madame: unser verehrter Präsident tritt ein – hält die falsche Tür hinter sich offen – sieht das Buch – reißt es schnell an sich. Um sich zu vergewissern, daß es auch das richtige ist, schlägt er es auf – studiert die Seiten. Er sieht sich um nach den anderen von mir erwähnten Gegenständen, die Fingerabdrücke zeigen. Und leise, aber sehr, sehr schnell – Sie können sich das doch vorstellen, nicht wahr – springt die Geheimtür wie ein Panther hinter ihm zu. Ein ziemlich abgedroschener Vergleich, aber ganz passend, meinen Sie nicht auch?« »Mein Gott! oh, mein Gott!« Sie machte eine Bewegung, als wolle sie sich die stickige Maske vom Gesicht reißen. »Sie – Sie Teufel – Teufel! Wie heißt das Wort, das die innere Tür öffnet? Schnell! Das Wort! Und wenn ich es mit Zangen aus Ihnen herausreißen lassen muß!«
»Es ist nicht schwer zu behalten, Madame – obgleich es früher schon einmal vergessen wurde. Erinnern Sie sich noch aus Ihrer Kindheit an die Geschichte ›Ali Baba und die vierzig Räuber‹? Als ich die Tür anfertigen ließ, wanderten meine Gedanken in einer für meine Begriffe hübschen Anwandlung von Sentimentalität zu den glücklichen Stunden meiner Kindheit zurück. Die Worte, die die Tür auftun, sind: ›Sesam, öffne dich.‹« »Ah! Wie lange kann ein Mann in Ihrer teuflischen Falle leben?« »Oh«, entgegnete Wimsey heiter, »ich denke, ein paar Stunden, wenn er einen kühlen Kopf behält und den verfügbaren Sauerstoff nicht durch Schreien und Hämmern aufbraucht. Wenn wir sofort hingehen, würden wir ihn noch in leidlicher Verfassung antreffen.« »Ich werde selbst gehen. Nehmen Sie diesen Mann und – quälen Sie ihn nach Herzenslust. Aber töten Sie ihn nicht, bevor ich komme. Ich will ihn sterben sehen!« »Einen Moment«, sagte Wimsey, den dieser liebenswürdige Wunsch kalt ließ. »Ich glaube, Sie tun besser daran, wenn Sie mich mitnehmen.« »Warum – warum?« »Weil ich nämlich die einzige Person bin, die die Tür öffnen kann.« »Sie haben mir aber doch das Wort gegeben. War das eine Lüge?« »Nein – das Wort stimmt schon. Aber sehen Sie, es handelt sich um eine dieser ganz modernen elektrischen Türen. Es ist tatsächlich das Neueste an Türen. Ich bin ziemlich stolz darauf. Sie tut sich allerdings bei den Worten ›Sesam, öffne dich‹ auf – aber nur bei meiner Stimme!« »Ihre Stimme? Ich möchte Ihre Stimme mit meinen Händen abdrosseln. Was soll das heißen – nur bei Ihrer Stimme?«
»Genau, was ich sage. Pressen Sie meine Kehle nicht so stark. Sonst könnten Sie meine Stimme so verändern, daß die Tür sie nicht wiedererkennt. So ist’s besser. Sie ist nämlich ziemlich eigen in bezug auf Stimmen. Sie war einmal eine ganze Woche nicht zugänglich, als ich eine Erkältung hatte und sie nur in einem Geflüster anflehen konnte. Selbst normalerweise muß ich es manchmal mehrere Male versuchen, ehe ich genau den richtigen Ton treffe.« Sie wandte sich an einen kurzen, untersetzten Mann, der neben ihr stand. »Ist das wahr? Ist so etwas möglich?« »Durchaus, Madame, leider«, erwiderte der Mann höflich. Aus seiner Stimme schloß Wimsey, daß er wohl etwas Besseres war – wahrscheinlich ein Ingenieur. »Ist es eine elektrische Vorrichtung? Verstehen Sie sich darauf?« »Ja. Madame. Es wird irgendwo ein Mikrophon vorhanden sein, das den Klang in eine Reihe von Schwingungen umwandelt, die die elektrische Nadel beeinflussen. Wenn die Nadel das richtige Muster gezeichnet hat, wird der Stromkreis geschlossen, und die Tür öffnet sich. Dasselbe kann man ebenso leicht mit Lichtschwingungen erreichen.« »Könnte man sie nicht mit Werkzeugen öffnen?« »Ja, aber das erfordert Zeit, Madame. Und es geht nur, wenn man den Mechanismus zerschlägt, der wahrscheinlich gut geschützt ist.« »Worauf Sie sich verlassen können«, bestätigte Wimsey. Sie griff sich mit den Händen an den Kopf. »Ich fürchte, wir können nichts ausrichten«, meinte der Ingenieur in einem Ton, der einen gewissen Respekt für eine gute Arbeit verriet. »Nein – warten Sie mal! Jemand muß doch darum Bescheid wissen – die Arbeiter, die das Ding angefertigt haben?«
»Sind in Deutschland«, sagte Wimsey lakonisch. »Oder – ja, ja, ich hab’s – ein Grammophon. Dieser – dieser – er – muß das Wort für uns sprechen. Schnell – wie kann man das machen?« »Unmöglich, Madame. Woher sollten wir wohl an einem Sonntagmorgen um halb vier so ein Gerät bekommen? Der arme Herr würde längst tot sein – « Es folgte ein Schweigen, in das die Laute des erwachenden Tages fielen. Eine Autohupe ertönte in der Ferne. »Ich gebe nach«, erklärte sie. »Wir müssen ihn gehen lassen. Binden Sie ihn los.« Sie wandte sich kläglich an Wimsey. »Sie werden ihn doch befreien, nicht wahr? Sie sind ja ein Teufel, aber ganz so teuflisch wohl doch nicht! Sie werden sofort hingehen und ihn retten!« »Ihn gehen lassen – so sehen Sie aus!« warf einer der Männer ein. »Er kommt nicht weg, um uns bei der Polizei zu verraten, meine Dame, bilden Sie sich das nur nicht ein. Der Präsident ist eben übers Ohr gehauen, und wir anderen machen uns am besten aus dem Staube, solange wir noch eine Chance haben. Es ist alles aus, Jungs. Schmeißt diesen Kerl in den Keller und knebelt ihn, damit er nicht die ganze Nachbarschaft zusammenschreit. Ich werde die Bücher zerstören. Sie können sich daneben stellen, wenn Sie mir nicht trauen. Und Sie, Nummer Dreißig, wissen ja, wo der Schalter ist. Geben Sie uns eine Viertelstunde Zeit, um den Platz zu räumen, und dann können Sie das Haus in die Luft sprengen.« »Nein! Sie dürfen nicht fortgehen – Sie können ihn doch nicht einfach sterben lassen – Ihren Präsidenten – Ihren Führer – meinen – Ich lasse das nicht zu. Befreien Sie diesen Teufel. Helfen Sie mir, einer von Ihnen, mit diesen Stricken – « »Nichts da«, sagte der Mann, der zuletzt gesprochen hatte. Er faßte sie am Handgelenk, und sie wand sich schreiend, beißend und tobend in seinen Armen.
»Denken Sie daran«, mischte sich der Mann mit der Honigstimme ein. »Es geht auf Morgen zu. In ein oder zwei Stunden ist es hell. Die Polizei kann jeden Augenblick erscheinen.« »Die Polizei!« Sie schien sich mit Gewalt zusammenzureißen. »Ja, ja, Sie haben recht. Wir dürfen nicht die Sicherheit aller eines Mannes wegen aufs Spiel setzen. Er selbst würde das nicht wünschen. Das stimmt. Wir wollen dieses Aas in den Keller werfen, wo er uns nichts tun kann, und dann jeder nach Hause gehen, solange es noch möglich ist.« »Und der andere Gefangene?« »Der? Der arme Wicht ist ganz harmlos. Er weiß nichts. Lassen Sie ihn gehen«, antwortete sie verächtlich. Wimsey wurde ohne weitere Umstände tief unten in den Keller gebracht. Er stand vor einem Rätsel. Daß sie sich weigerten, ihn gehen zu lassen, selbst wenn es um das Leben von Nummer Eins ging, konnte er verstehen. Das Risiko hatte er mit offenen Augen auf sich genommen. Aber daß sie ihn als Zeugen gegen sie zurückließen, erschien ihm unglaublich. Die Männer, die ihn nach unten gebracht hatten, banden seine Fußgelenke zusammen und drehten beim Weggehen das Licht aus. »He, Kamerad!« rief Wimsey. »Es ist ein wenig einsam hier. Sie könnten wenigstens das Licht anlassen.« »Ist schon gut so, mein Freund«, lautete die Antwort. »Sie werden nicht lange im Dunkeln sitzen. Sie haben den Zeitzünder schon eingestellt.« Der andere Mann lachte aus vollem Halse, und sie gingen zusammen hinaus. Das war es also. Er sollte mit dem Haus in die Luft gesprengt werden. In diesem Fall würde der Präsident bestimmt tot sein, ehe man ihn befreien konnte. Das quälte Wimsey. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn er diesen
Erzgauner dem Gericht hätte ausliefern können. Scotland Yard hatte schließlich sechs Jahre versucht, diese Bande aufzulösen. Er lauschte angespannt. Es kam ihm vor, als hörte er Schritte über sich. Die Bande hatte sich doch bereits fortgeschlichen… Bestimmt hatte etwas geknarrt. Die Falltür öffnete sich, und er spürte, wie jemand in den Keller kroch. »Still!« flüsterte eine Stimme in sein Ohr. Weiche Hände glitten über sein Gesicht und tasteten an seinem Körper herum. Dann spürte er den kalten Stahl an seinen Handgelenken. Die Stricke lockerten sich und fielen ab. Ein Schlüssel knackte in seinen Handschellen. Der Riemen um seine Fußgelenke wurde aufgeschnallt. »Schnell! Schnell! Sie haben den Zeitzünder eingestellt. Das Haus ist unterminiert. Folgen Sie mir, so rasch Sie können. Ich habe mich zurückgeschlichen unter dem Vorwand, meinen Schmuck zurückgelassen zu haben. Das stimmte auch. Ich habe ihn absichtlich vergessen. Er muß gerettet werden – nur Sie können das fertigbringen. Beeilen Sie sich!« Wimsey, der vor Schmerzen taumelte, als das Blut wieder in seine abgestorbenen Glieder flutete, kroch ihr nach in das obere Zimmer. Im nächsten Moment hatte sie die Fensterläden zurückgeschoben und das Fenster weit aufgestoßen. »Nun eilen Sie. Befreien Sie ihn! Versprechen Sie mir das?« »Das verspreche ich. Aber ich warne Sie, Madame, dieses Haus ist umringt. Als die Tür meines Safes sich schloß, gab sie gleichzeitig ein Signal, das meinen Diener nach Scotland Yard schickte. Ihre Freunde sind alle geschnappt – « »Ach! Aber Sie gehen – denken Sie nicht an mich – schnell! Die Frist ist fast verstrichen.« »Kommen Sie fort von diesem Haus!« Er faßte sie beim Arm, und sie rannten stolpernd durch den kleinen Garten. Eine Taschenlampe leuchtete plötzlich in einem Gebüsch.
»Bist du’s, Parker?« rief Wimsey. »Ruf deine Leute zurück. Schnell! Das Haus fliegt jeden Augenblick in die Luft.« Der Garten war plötzlich mit lärmenden, eilenden Männern angefüllt. Wimsey, der in der Dunkelheit umhertappte, stieß auf einmal heftig gegen die Mauer. Er sprang an die Mauerkappe, hielt sich daran fest und zog sich herauf. Er tastete mit den Händen nach der Frau und zog sie ebenfalls empor. Sie sprangen; alles sprang; die Frau knickte mit dem Fuß und fiel stöhnend hin. Wimsey stolperte über einen Stein und stürzte kopfüber zu Boden. Dann ging mit fürchterlichem Getöse die Nacht in Flammen auf.
Wimsey erhob sich mit schmerzenden Gliedern aus den Trümmern der Gartenmauer. Ein schwaches Stöhnen neben ihm verkündete, daß seine Gefährtin noch lebte. Plötzlich wurden sie vom Licht einer Laterne beschienen. »Ach, hier bist du ja!« ertönte eine heitere Stimme. »Alles in Ordnung, alter Knabe? Mein Gott, was für ein behaartes Ungeheuer!« »Ja«, entgegnete Wimsey. »Nur ein bißchen aus der Puste. Ist die Dame wohlbehalten? Hm – Arm anscheinend gebrochen – aber sonst unversehrt. Was ist passiert?« »Ungefähr ein halbes Dutzend von ihnen ist in die Luft geflogen. Den Rest haben wir eingesteckt.« Wimsey entdeckte einen Kreis dunkler Gestalten in der winterlichen Dämmerung. »Großer Gott! Was für ein Tag! Was für eine Wiederkehr für eine bekannte Persönlichkeit! Du altes Biest – uns zwei Jahre im Glauben zu lassen, daß du tot seist! Ich hatte mir tatsächlich einen Trauerflor gekauft. Hat außer Bunter jemand davon gewußt?« »Nur meine Mutter und meine Schwester. Ich habe einen versiegelten Umschlag beim Testamentsvollstrecker
hinterlassen. Ich fürchte aber, wir werden furchtbar viele Scherereien mit den Rechtsanwälten haben, wenn wir nachweisen wollen, daß ich ich bin. He! Ist das Freund Sugg?« »Ja, Mylord«, sagte Inspektor Sugg grinsend. Aber von freudiger Aufregung standen ihm beinahe die Tränen in den Augen. »Bin verdammt froh, Ihre Lordschaft wiederzusehen. Schöne Leistung, Ihre Lordschaft. Alle wollen Ihnen die Hand drücken, Sir.« »Oh, Herr! Ich wollte, ich könnte mich erst waschen und rasieren. Bin auch sehr froh, Sie alle wiederzusehen nach zweijähriger Verbannung in Lambeth. Das hätten wir aber ganz gut hingekriegt, nicht wahr?« »Ist er gerettet?« fragte eine gequälte Stimme. Wimsey fuhr zusammen. »Mein Gott!« rief. »Ich habe den Herrn im Safe ja ganz vergessen. Hier, holen Sie schnell einen Wagen. Die Glanznummer, Moriarty, der Führer der ganzen Bande, ist in meiner Wohnung friedlich am Ersticken. Hier – steigen Sie ein – und heben Sie die Dame ebenfalls hinein. Ich habe ihr versprochen, daß ich ihn retten würde – obgleich [er vollendete den Satz in Parkers Ohr] er wahrscheinlich auch des Mordes angeklagt wird und ich für seine Chancen im Old Bailey nicht viel gebe. Tritt auf das Gaspedal! Er kann’s in der Stahlkammer nicht mehr lange machen. Er ist der Kerl, den du gesucht hast. Bei all den unaufgeklärten Fällen war er die Triebfeder.« Der Morgen dämmerte grau, als sie bei seinem Hause in Lambeth vorfuhren. Wimsey half der Frau aus dem Wagen. Sie trug jetzt keine Maske mehr, und ihr Gesicht, das vor Furcht und Schmerz ganz bleich war, zeigte einen verzweifelten Ausdruck. »Russisch, wie?« flüsterte Parker Wimsey zu. »Sieht so aus. Verdammt noch mal! Die Haustür ist zugeschlagen, und dieser Lump hat den Schlüssel bei sich im Safe. Tu mir den Gefallen
und spring durchs Fenster.« Parker kam diesem Wunsch nach und öffnete ihnen nach einigen Sekunden die Tür. Das Haus schien sehr ruhig zu sein. Wimsey führte sie in das Hinterzimmer, wo sich die Stahlkammer befand. Die Außentür und die zweite Tür waren durch Stühle am Zuklappen verhindert. Die innere Wand stand ihnen gegenüber wie eine leere grüne Wand. »Ich hoffe ja nur, daß er die Vorrichtung nicht durch starkes Hämmern in Unordnung gebracht hat«, murmelte Wimsey. Eine ängstliche Hand umklammerte fieberhaft seinen Arm. Er riß sich zusammen und zwang seine Stimme zu einem heiteren, normalen Ton. »Nun los, altes Ding«, wandte er sich im Tone der Unterhaltung an die Tür. »Zeig uns, was du kannst. Sesam, öffne dich, zum Kuckuck noch mal, Sesam, öffne dich!« Die grüne Tür glitt plötzlich zur Seite und verschwand in der Wand. Die Frau sprang vor und fing das verkrümmte, bewußtlose Geschöpf, das aus der Stahlkammer rollte, in ihren Armen auf. Seine Kleidung war zerfetzt, und von seinen zerschlagenen Händen tropfte das Blut. »Nicht so schlimm«, sagte Wimsey, »nicht so schlimm. Er wird schon mit dem Leben davonkommen – um sich vor Gericht zu verantworten.«