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German Pages 227 Year 2008
Vazrik Bazil | Roland Wöller (Hrsg.) Rede als Führungsinstrument
Vazrik Bazil | Roland Wöller (Hrsg.)
Rede als Führungsinstrument Wirtschaftsrhetorik für Manager – ein Leitfaden
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Maria Akhavan-Hezavei Der Gabler Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Nina Faber de.sign, Wiesbaden Satz: Sascha Niemann, N&N GdbR, Mainz Druck und buchbinderische Verarbeitung: Wilhelm & Adam, Heusenstamm Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-8349-0684-7
Einleitung
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung ...................................................................................................................................7 Vazrik Bazil / Roland Wöller
Teil A Unternehmen Face-Mail oder E-Mail? Die mündliche Rede in der Unternehmenskommunikation .....................................................19 Eberhard Posner Identität und Sensemaking .......................................................................................................33 Stephan Habscheid / Edelgard Vacek Worte und Werte Der semiometrische Ansatz im Redemanagement ...................................................................51 Vazrik Bazil / André Petras
Teil B Redner Selbstkonzept Ein Instrument des strategischen Redemanagements ..............................................................75 Vazrik Bazil Corporate Speaking Praxis integrierter Auftrittsberatung.........................................................................................91 Stefan Wachtel Auftrittswirkung im Corporate Speaking...............................................................................103 Werner Dieball
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Inhaltsverzeichnis
Teil C Rede Rede beginnt vor der Rede Vorfeldkommunikation im Redemanagement ....................................................................... 125 Manfred Piwinger Persuasion Die Kunst der Überzeugung .................................................................................................. 141 Bernd F. Rex Zur Inszenierung der Rede..................................................................................................... 157 Brigitte Biehl Storytelling für Führungskräfte Kommunizieren und führen mit authentischen Geschichten................................................. 173 Karolina Frenzel Vom Architekten zum Kriegsherrn Metaphern der Top-Manager ................................................................................................. 189 Brigitte Biehl Mnemotechnik und Narratives .............................................................................................. 203 Roland Wöller Über Wirkung und Wert von Rhetorik Methodische Erörterungen..................................................................................................... 209 Roland Wöller / Thomas Petersen
Checkliste .............................................................................................................................. 229 Die Herausgeber .................................................................................................................... 233 Die Autoren............................................................................................................................ 235
Einleitung
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Einleitung Vazrik Bazil / Roland Wöller
Ein neues Buch über ein altes Thema Warum ein neues Buch über Rhetorik? Sind doch die Regale der Buchhandlungen voll mit Titeln, die ihren Leserinnen und Lesern rhetorisch wirkungsvolle Kniffe anvertrauen, Tipps und Tricks, die jeder Mensch einfach und schnell erlernen und anschließend umsetzen kann – so zumindest die Hoffnung. Diese Ratgeber sind kompakt und nützlich. Wer sie sucht, findet sie meistens in den Abteilungen „Kommunikation“, „Management“ oder „Wirtschaft“. Warum also ein neues Buch – sogar über Wirtschaftsrhetorik? Die Regale der Buchhandlungen mit einem neuen Buch zu bereichern, ist gewiss nicht unser Ziel. Vielmehr ist unser Ausgangspunkt folgende Überlegung: Meist betrachten wir das Kommunikationsinstrument „Rede“ immanent. Vorbereitung, Argumentationstechnik, Körpersprache, Stimme, Umgang mit Zwischenrufen sind dabei einige, und Recherche, Erstellung von Redemanuskripten, Einstieg, Bildersprache, Zitate und Schluss andere Schwerpunkte. Doch Rhetorik in Organisationen, und das heißt auch in Unternehmen, verlangt mehr und anderes. Jede Rede ist in der Organisationskommunikation stets in einem kommunikativen Kontext eingebettet, der nicht nur den Einsatz anderer PR-Instrumente voraussetzt und einschließt, sondern auch Fragen der Identität, des Images und der Reputation eines Unternehmens betrifft. Eine erfolgreiche Konzeption und Umsetzung von Reden hängt daher auch mit diesen Faktoren zusammen, die in der organisierten Kommunikation erörtert werden und kaum in der herkömmlichen Rhetorik. Das vorliegende Buch ist der Versuch, zwischen der landläufigen Rhetorik und der Public Relations eine Brücke zu schlagen, die von beiden Seiten begehbar ist. Beide, sowohl Rhetorik als auch Public Relations, sind auf Wirkung angelegt. Wer rhetorisch gut ausgebildet ist, hat bessere Voraussetzungen, auch in der Öffentlichkeitsarbeit behände agieren zu können. Weder darf das Instrument „Rede“ ein zur Adoption freigegebenes Kind für die Public Relations sein, noch diese als Stiefmutter oder Stiefvater der Rhetorik gelten. Denn Öffentlichkeitsarbeit ist durchzogen von vielen rhetorischen Elementen, auch jenseits der Rede, wie Persuasion und Sprachfiguren, und die Rede tangiert ihrerseits viele Kommunikationsbereiche – von Corporate Identity und Reputationsmanagement über Krisen-PR und Investor Relations bis Issues-Management und Personen-PR. Unsere Aufmerksamkeit gilt in diesem Buch der Unternehmenskommunikation, deren Methode auch auf andere Organisationsformen angewendet werden kann.
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Symbolische Bedeutungen Kommunikation bedeutet „symbolische Interaktion“ – Interaktion, weil viele an ihr teilnehmen, und symbolisch, weil jeder Akt der Teilnahme mehrdeutig ist und der ständigen Interpretation aller anderen Teilnehmer bedarf (Wie sollte zum Beispiel folgende Information gedeutet werden: „Der größte Wettbewerber des Unternehmens X verfolgt eine Politik der Diversifikation?“ Soll das Unternehmen also auch den gleichen Weg einschlagen oder heißt es, dass Unternehmen X etwas nicht weiß, was es hätte wissen müssen?). Reden sind sprachliche Handlungen, die ebenfalls immer über sich hinaus auf etwas anderes verweisen, und so symbolische Bedeutung stiften. Explizit verweisen sie auf Inhalt und Anlass, implizit aber auf den Redner und das Unternehmen, in dessen Namen er spricht. Wer eine Rede hält, enthüllt dem Publikum vieles über sich selbst, und auch einiges über sein Unternehmen. Manchmal bewusst, oft aber unbewusst. Der Raum, die Bühne, die Beleuchtung, die Kleidung, die Körpersprache, die Argumente, der Ton usw. beantworten still Fragen, die das Publikum sich entweder ausdrücklich oder oft implizit stellt: „Was für ein Mensch ist dieser Redner?“ „Ist er sympathisch?“ „Kann ich ihm glauben?“ „Mit welcher Art von Unternehmen habe ich zu tun?“ „Ist es arrogant oder kundenfreundlich?“ usw. Aus den vorerwähnten Elementen, wie Argumentation, Raum, Bühne, Einrichtung, Kleidung, Tonfall usw. zieht das Publikum immer Rückschlüsse oder Inferenzen und beantwortet für sich die obigen Fragen. Und je nach dem wie die Antworten ausfallen, verbessert die Rede das Ansehen des Redners bzw. des Unternehmens oder umgekehrt beschädigt es. Beide Fälle tangieren auch den Inhalt, der entweder überzeugt oder an dem Publikum vorbeirauscht. Aus diesem Grund liegt unserem Ansatz folgendes Dreieck zugrunde, wonach auch die hier erschienenen Beiträge gruppiert sind:
Unternehmen
Redner
Rede
Einleitung
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Strategischer Ansatz Wir plädieren dafür, dass es praktisch, strategisch und zeitökonomisch sinnvoller ist, unabhängig von Anlässen, grundsätzliche Leitlinien für Reden zu erarbeiten. Sie mögen Bilder und Geschichten ebenso umfassen wie sprachliche Bestimmungen und argumentative Schwerpunkte. Auf jeden Fall erleichtert dieses Vorgehen spätere, anlassbezogene Vorbereitungen, spart Zeit, schont Ressourcen und trägt besser zur Schärfung des Unternehmensprofils bei. Kurzum: Jede Rede beginnt vor der Rede und keine Rede endet nach der Rede.
Auch nachdem der Redner vom Pult abgetreten ist, können Unternehmen die Rede bzw. das Redemanuskript verwerten – zum Beispiel als Broschüre oder als Zitat, als eine Internet- oder Intranetseite. Unternehmen können Meinungen zu der Rede einholen, Diskussionen anfachen und Meinungsbildungsprozesse in Gang setzen. Gerade die Reden der Führungskräfte eignen sich vorzüglich zur Integration der internen und externen Kommunikation. Überall und immer – ob vor, während oder nach der Rede – wirken die Inferenzen des Publikums und beeinflussen so die Identität und das Image des Unternehmens bzw. des Redners. Deshalb ist es sinnvoll nicht isoliert an Reden heranzugehen, wie die Ratgeberliteratur es uns nahe legt, sondern kontextual, d. h. strategisch, stets im Verbund mit der Gesamtkommunikation des Unternehmens. Diese Aufgabe sollte als Führungsaufgabe der Unternehmensleitung zugeordnet sein. Aber wie stellen wir den Erfolg einer Rede fest? Zu meinen, dass Applaus, wie tosend er auch sein mag, den Erfolg einer Rede beweist und besiegelt, ist kurzsichtig. Er ist nur ein hilfreicher Wink, dass der Redner vielleicht als sympathisch wahrgenommen worden ist, aber eine Gewähr für gelungene Imagepflege ist er gewiss nicht. Wir wissen, dass die Kommunikationsbranche seit Jahren zuverlässige und aussagekräftige Evaluationsmethoden erarbeitet. Die Diskussion um Erfolgskontrollen bei Reden wird im besten Fall leise, im schlimmsten Fall gar nicht geführt, was vermutlich vom geringen finanziellen Aufwand der Rede abhängt. Meistens sind es angestellte Redenschreiber, die neben ihren genuinen Tätigkeiten auch Redetexte entwerfen, oder je nach Bedarf externe Redenberater, die im Vergleich zu anderen PR-Instrumenten bescheidenere Honorare in Rechnung stellen. Die Evaluation beschränkt sich in den meisten Fällen auf Ad-hoc-Beobachtungen, wie das Lachen, Klatschen oder missmutige Reaktionen des Publikums, und auf Presseresonanzanalysen. Ex negativo kann man oft klarere Schlussfolgerungen ziehen, die sich in Heller und Pfennigen berechnen lassen. Rutscht der Aktienkurs nach einer Rede des CEO in den Keller, hat sich die Rede nicht ausgezahlt. Umgekehrt natürlich auch. Doch genauere Verfahren, wie der Erfolg von Reden festgestellt werden kann, sind noch nicht entwickelt worden. Ob und welchem Maße solche Methoden möglich sind, ist eine zentrale Frage, der sich die gängige Rhetorikliteratur noch nicht gewidmet hat. Wichtig wäre aber eine solche Diskussion auch wegen der Verbesserung der Redequalität.
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Erschwerend kommt hinzu, dass sich in der Mediengesellschaft die Auffassung des Publikums ebenfalls gewandelt hat: Während die Rede nach der klassischen Vorstellung immer auf ein im Saal anwesendes Publikum gerichtet war, wendet sich die Rede in der Mediengesellschaft nicht ausschließlich an Menschen, die vor dem Rednerpult versammelt sind. Auch jene, die an Fernsehschirmen sitzen, Zeitungen lesen oder im Internet schmökern und vielleicht den Redetext herunterladen, gehören – im weitesten Sinne – zum Publikum.
Nichtsdestotrotz unterliegen auch Reden Kosten-NutzenKalkulationen Die Kosten-Nutzen-Kalkulation des Redners/des Unternehmens:
KOSTEN
Zeit
Energie
Geld
Kognitive
Motorische
NUTZEN
Sozial
Inhaltlich
Information
Selbstdarstellung
Redner/in
Persuasiv
Beziehung
Appell
Unternehmen
Diese Abbildungen zeigen, wie das Unternehmen bzw. der Redner die Kosten den Nutzen gegenüberstellt. Neben Zeit und Energie zahlen Unternehmen Geld als Gehalt an ihre festangestellten Redenschreiber/innen oder als Honorar an externe Redenberater. Einen Nutzen können sie aber erst dann ziehen, wenn sie Informationen klar und verständlich vermitteln, sich imagegerecht darstellen, eine positive Beziehung zum Publikum aufbauen und es zu Handlungen bewegen (Meinungs-, Einstellungs- und Verhaltensänderung).
Einleitung
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Die Kosten-Nutzen-Kalkulation des Zuhörers schaut wie folgt aus:
KOSTEN
Zeit
Energie
Motorische
Geld
Kognitive
NUTZEN
Inhaltlich
Sozial
Information
Beziehung
Hörvergnügen
Das Publikum wendet ebenfalls Zeit, Energie und oft auch Geld auf, um informative, unterhaltsame Reden mit sozialem Mehrwert (emotionale Aufwertung, Bekanntschaften usw.) zu hören. Deshalb müssen Reden klar und verständlich sein, der Redner sympathisch und hörerorientiert und die Sprache geistreich und kurzweilig.
Gesicht und Ansehen Laut einer Umfrage des Verbandes der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS) werden 49 Prozent aller Reden bei den 500 größten deutschen Unternehmen vom Vorstandsvorsitzenden selbst und 44 Prozent von den übrigen Vorstandsmitgliedern gehalten. Der Anteil von Bereichs- und Abteilungsleitern beträgt dagegen nur sechs Prozent (Bazil 2002, S. 5). Somit sind Reden auch das am meisten vom Vorstand selbst eingesetzte PR-Instrument unter allen anderen PR-Instrumenten wie Pressekontakte, Publikationen, Anzeigen, Placements oder Veranstaltungen. Während diese Instrumente unterschiedliche Botschaften in unterschiedlichen Formaten mit aktiver Beteiligung unterschiedlicher Personen aussenden, ist die Rede das einzige Instrument, das von Führungskräften persönlich eingesetzt und direkt benutzt wird. Für Führungskräfte erhält eine Rede als PR-Instrument mehr Gewicht, wenn man bedenkt, dass die Reputation des CEO zu 50 Prozent für das Unternehmensimage verantwortlich ist. Ein gutes Firmenimage und ein hohes Ansehen des Vorstandsvorsitzenden verstärken sich
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gegenseitig, und umgekehrt schadet der schlechte Ruf eines CEO dem Ansehen des Unternehmens. Das gilt für Großunternehmen genauso wie für mittelständische und kleine Firmen. Für diese sogar noch mehr. Denn kleinere Unternehmen werden oft mit ihren Vorsitzenden bzw. Geschäftsführern identifiziert. Der Absatzmarkt bestätigt auch, dass sich das Unternehmensimage besser verkauft als der Produktvorteil. Dies deshalb, weil zwar die Ökonomisierung der Gesellschaftsprozesse einerseits fortschreitet und sich andererseits die wirtschaftliche Wertschöpfung entmaterialisiert. Reputation, Glaubwürdigkeit und Ansehen sind immaterielle Werte. Die Hauptverantwortung für das Firmenimage trägt somit die Person an der Spitze, die nicht nur für ihr Unternehmen als Marke verantwortlich ist, sondern selbst als Marke wahrgenommen wird. Daher greifen das Image des Unternehmens und das seiner Führungskräfte ineinander und bedingt den Einfluss der Rede auf das Publikum.
Formen der Rede Nach der herkömmlichen Vorstellung sprechen wir von Reden, wenn in einem Saal Menschen versammelt sind und vor einem Pult sitzen, hinter dem der Redner steht und sein Wort an das Publikum richtet. Doch hat sich in der Mediengesellschaft dieses klassische Bild gewandelt: Wir nehmen Reden nicht nur direkt wahr, sondern auch indirekt über Radio, Fernsehen oder Internet, und das ändert natürlich auch die Wirkungsweise von Reden. Hinzu kommt noch ein dritter Zugang zu Reden: das Lesen. Menschen können Reden auch auszugsweise im Internet, in Zeitschriften oder Broschüren lesen, weshalb hier der Text eine entscheidende Rolle bei der Wahrnehmung spielt und deshalb auch leserfreundlich zum Beispiel im Netz eingestellt werden muss – eine wichtige Aufgabe, die oft vernachlässigt wird. Wesentlich geringer ist die Zahl derer, die sich eine Rede oder Auszüge daraus im Rundfunk anhören. Dennoch gibt es Zuhörer, die wichtige Reden in Radiobeiträgen vernehmen. Diese Abstufungen ergeben folgendes Bild: Direkte Reden Indirekte Reden Gelesene bzw. Gehörte Reden Bei dieser Differenzierung verschiebt sich das Gewicht der linguistischen und paralinguistischen Zeichen. Die Wirkung der Körpersprache ist am größten bei direkten Reden, dann bei indirekten Reden und kaum vorhanden ist sie bei gelesenen bzw. gehörten Reden. Ähnlich verhält es sich mit der Stimme. Ihre Bedeutung nimmt zu bei gehörten Reden und nimmt ab bei gelesenen Reden. Umgekehrt kommt bei gelesenen Reden der Inhalt voll und ganz zum Tragen, weniger bei indirekten Reden und, in geringerem Maße, bei direkten Reden. Doch auch die Wechselwirkung zwischen Inhalt, Stimme und Körpersprache bedarf näherer Erörterung, um Missverständnisse und Schwarz-Weiß-Sichten zu vermeiden.
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Ein Wort sagt mehr als tausend Gesten Berater, Trainer und populäre Ratgeberliteratur reden Managern seit Jahren ein, die Wirkung ihrer Reden hinge zu fast 90 Prozent von ihrer Körpersprache und Stimme ab; das Auftreten sei alles, der Inhalt weitgehend irrelevant. Daher besuchen emsige Führungskräfte Seminare bei Schauspielern, gehen zu Stimmtrainern, mühen sich vor Spiegeln ab und lernen das Alphabet ihrer Körpersprache neu, um am entscheidenden Tag, hinter dem Rednerpult, Gesten zu buchstabieren und damit das Publikum zu begeistern. Die einprägsame und eingängige Formel, worauf sich dabei alle berufen, lautet: 7-38-55. Danach beeinflusst zu 55 Prozent die Körpersprache die Wirkung von Mitteilungen, zu 38 Prozent die Stimme und zu 7 Prozent die Sprache bzw. der Inhalt – so die bekannte amerikanische Studie von Albert Mehrabian aus dem Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Doch so simpel ist es nicht. Eine vom Verband der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS) und von der Deutsche Public Relations Gesellschaft (DPRG) beauftragte und vom Institut für Demoskopie Allensbach sowie vom Institut für Publizistik der Universität Mainz durchgeführte Studie ergab einen anderen Befund. Eine Serie von Experimenten prüfte zunächst die Wirkung von drei verschiedenen kurzen Redentexten in Repräsentativumfragen mit 2000 Befragten. Der am meisten überzeugende Text wurde dann rund 200 Versuchspersonen in verschiedenen Varianten vorgeführt: Einer Gruppe wurde ein Video gezeigt, auf dem ein Redner den Text mit zurückhaltender Betonung und Gestik präsentierte, in einer anderen Gruppe trug derselbe Redner den Text lebhaft betont, in einer weiteren auch mit lebhafter Gestik vor. Das Ergebnis: Die Sprache hat einen Anteil von 22 Prozent an der Gesamtwirkung einer Rede, die Körpersprache 59 Prozent und die Stimme 19 Prozent. Doch würden wir diese Zahlen missverstehen, wenn wir annähmen, dass die Wirkungen von Körpersprache, Stimme und Sprache additiv seien und aufeinander aufbauten: Zu der Wirkung der Körpersprache kämen die Wirkung der Stimme und der Sprache hinzu, also 55 + 38 + 7 = 100 bzw. 59 + 22 + 19 = 100. Die Studie zeigt, dass die rechnerische Summe aller Einzeleffekte nicht identisch ist mit dem tatsächlichen Gesamteffekt einer Rede. Das bedeutet, dass ganz gleich, wie die Zahlen im Einzelnen ausschauen, der Wirkungsanteil des Redetextes erheblich größer ist als 22 Prozent oder gar 7 Prozent. Denn der Redetext, also die Sprache bzw. der Inhalt, gibt den Reaktionen des Publikums die Richtung vor und versetzt somit die anderen Wirkungselemente erst in die Lage, überhaupt wirken zu können: Eine Rede mit bloßer Körpersprache und Stimme, aber ohne Sprache ist schlechthin unmöglich; 55 + 38 bzw. 59 + 19 können daher ohne Sprache gar keine Wirkung entfalten, weder zu 93 Prozent noch zu 78 Prozent! Auch die Experimente von Carl I. Hovland aus den 50er Jahren verweisen darauf, dass Reden nie so eindeutig wirken. Er entdeckte, dass die Wirkung von Mitteilungen auch dann einsetzt und Einstellungen bei Zuhörern zu ändern vermag, wenn diese die Verbindung zwischen Botschaft und Redner „vergessen“, d. h. sich zwar später an die Botschaft erinnern, nicht aber an den Redner, der ihnen diese Botschaft überbracht hat. Der so genannte „Sleeper-Effekt“ zeigt, wie Wirkungen spät und ohne Bezug zum Redner eintreten können.
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Auch der öffentliche Diskurs über relevante Reden vollzieht sich entlang bestimmter Schlüsselbegriffe oder Schlüsselsätze: „Ruck“-Rede (Roman Herzog), „Peanuts“-Rede (Hilmar Kopper), „Heuschrecken“-Rede (Franz Müntefering) und nicht anhand bestimmter Gestikulationen und stimmlicher Vibrationen. Und es sind auch nicht diese Elemente, die von der Presse zitiert, angeprangert oder gelobt werden, sondern Wörter und Sätze, also sprachliche Ausdrücke. Dass paralinguistische Zeichen wie Stimme und Körpersprache wichtig sind, steht ebenso wenig außer Frage, wie die Notwendigkeit für Führungskräfte, ihre stimmlichen, mimischen oder gestischen Fähigkeiten auszubilden. Doch parallel dazu sollten Organisationen der Sprache mehr Gewicht beimessen und sprachliche Leitlinien für ihre Kommunikation entwerfen, damit sich die unterschiedlichsten Wirkungskomponenten – in Reden ebenso wie in allen anderen mündlichen und schriftlichen Kommunikationsinstrumenten – zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügen und zur Reputation des Redners und über ihn auch zu der des Unternehmens beitragen.
Ausbildung der Redner Dieses Buch ist an Interessierte gerichtet, die entweder selbst Reden halten, oder für andere Reden entwerfen oder als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kommunikationsabteilungen Reden mit konzipieren. Doch sei zum Schluss dieser Einleitung auf die Ausbildung von Rednern eingegangen, denn Ratgeberliteratur, Rhetorikseminare bzw. Coachings sind nichts anderes als pädagogische Instrumente bzw. Maßnahmen. Sie ersetzen das, was früher in Schulen und Universitäten gelehrt wurde, und was jetzt abgewandelt in Bildungseinrichtungen wieder einzieht. Während früher der angehende Redner sich mit den grundlegenden Wissenschaften, wie Philosophie, Grammatik, Musik und Geometrie befassen musste, während früher die Interpretation dichterischer Werke die Urteilskraft schulte, die Beschäftigung mit der Geometrie den Scharfsinn prägte und die Moralphilosophie tugendhaftes Handeln förderte, ist heute der junge Redner von der Pflicht entbunden, sich die Grundlagen dieser Disziplinen anzueignen. Er ist erpicht auf einfache Handlungsanweisungen. Nicht nur er, sondern viele halten Ausschau nach „praktischen“ und schnell erlernbaren Techniken. Dabei entgleitet unserer Aufmerksamkeit, dass Rhetorik mehr ist als Technik, mehr als ein gehobenes Kochbuch mit praktischen Tipps und Tricks – wenn auch selbst dieses Buch sich anschickt, aus praktischen Erwägungen gehobene Rezepte zu bieten. Rhetorik hat eine erzieherische Funktion, die den ganzen Menschen betrifft und der Übung und der Zeit bedarf. Einfache und schnell umzusetzende Kunstgriffe, ausführliche Checklisten mit Gebrauchsanweisungen täuschen viele darüber hinweg, dass die Buchstaben der Sprache oder der Körpersprache keine Teile sind, vergleichbar mit Computerteilen, die man rasch und beliebig austauscht, um erwünschte Ergebnisse schnell zu erreichen. Die viel und oft beschworene Authentizität erreicht man durch Fortentwicklung der Persönlichkeit und nicht durch Austausch von Gesten, Krawatten, Tonlagen oder Textbausteinen.
Einleitung
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Manager lernen heute Rhetorik, weil diese ihre soziale Kompetenz fördert. In der Tat schult Rhetorik diese Fähigkeit, welche früher „Gemeinsinn“ (sensus communis) hieß. Erst ein geschärfter Gemeinsinn versetzt Redner in die Lage, auf Situationen „angemessen“ zu reagieren. Da aber Manager heute vorwiegend aus naturwissenschaftlich-technischen Studienrichtungen kommen, sind sie eher mit dem mathematisch, betriebswirtschaftlich „Gemessenen“ vertraut als mit dem rhetorisch „Angemessenen“. Wer aber seinen Gemeinsinn schult, verfängt sich nicht in Fehler, die Führungskräfte oft begehen – „Peanuts“, gleichzeitige Ankündigung von Entlassungen (der Mitarbeiter) und Gehaltserhöhungen (des Vorstandes), gekünstelte Willkommensgrüße, schiefe Bilder usw. Wer seinen Gemeinsinn schult, weiß, wie er reden darf, und wann er schweigen soll. Rhetorik ist keine bloße Technik, sondern ein Medium der Bildung. Sie bedarf der Übung und der Nachahmung von Vorbildern. Je früher Menschen mit dieser Unterweisung beginnen, ohne Zeit- und Erfolgsdruck, desto leichter und authentischer können sie sich das Instrumentarium der Rhetorik aneignen und es später, im Berufsleben, anwenden. Doch berühren wir mit diesen Überlegungen die Grundlagen unseres heutigen Bildungsverständnisses, das viele Fragen aufwirft. Wir können sie hier weder stellen noch beantworten.
Face-Mail oder E-Mail?
Teil A Unternehmen
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Face-Mail oder E-Mail?
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Face-Mail oder E-Mail? Die mündliche Rede in der Unternehmenskommunikation Eberhard Posner
Es scheint in der Natur der Sache zu liegen, bei der Einordnung von neuen Phänomenen die Dinge digital zu betrachten: entweder/oder, Neu ersetzt Alt. So ist es noch gar nicht lange her, dass vom großen Kinosterben die Rede war. Denn seit dem Einzug des Fernsehens in die Wohnzimmer kann jeder sein Heimkino betreiben. Die Vision des Kinosterbens hat dann mit der Explosion der Zahl privater Fernsehkanäle mit einer kaum mehr zu überschauenden Flut von Spielfilmen, die man per Knopfdruck hereinholen, speichern und zur beliebigen Zeit abspielen kann, neue Nahrung erhalten. Aber wenn nicht alles täuscht, dann ist das Kino heute attraktiver denn je. Und wenn nicht, dann muss das nicht unbedingt am Wettbewerb des Fernsehens liegen. Wir gehen also noch ins Kino. Trotz Internet und florierender OnlineDienste lesen wir auch noch bedrucktes Papier – Briefe, Bücher, Tageszeitungen, Wochenund Monatsmagazine. Totgesagte leben halt manchmal länger. In der Praxis geht es also offenbar nicht um „entweder/oder“, sondern um „sowohl als auch“, oder mit anderen Worten um den „optimalen Mix“ der verschiedenen Kommunikationswege und -formen. Um dieses Optimum zu finden und zu organisieren, ist zunächst einmal erforderlich, die zur Verfügung stehenden formellen und informellen Kommunikationswege aufzulisten, sie dann im Hinblick auf Adressaten, Kommunikationsziele und Kommunikationsanlässe zu bewerten und schließlich bei deren konkreter Ausgestaltung bestimmte Grundregeln zu beachten. Der folgende Beitrag beschäftigt sich vor diesem Hintergrund mit dem Kommunikationsmittel „mündliche Rede“ und zwar vor allem im Zusammenhang mit der internen und externen Unternehmenskommunikation.
1.
Alle Wege führen nach Rom
Wenn man sich den Alltag eines Berufstätigen vor Augen hält, dann kommt man schnell zur Erkenntnis, dass innerhalb weniger Stunden praktisch alle Kommunikationswege und -formen gefragt sind:
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Eberhard Posner
Die informelle mündliche Kommunikation zu Hause am Frühstückstisch oder bei der Begrüßung an der Pforte und im Büro. Auf dem Weg zur Arbeit die formelle Kommunikation via Schrift, Bild und Ton im Auto oder im öffentlichen Verkehr. Bei der Morgenbesprechung mit Vorgesetzten, Kollegen und Mitarbeitern zur Einstimmung und Vorbereitung auf den Tagesablauf eine Mischung von informeller und formeller mündlicher Kommunikation, bisweilen auch unterlegt mit Schrift-, Bild- oder Tondokumenten. Der Umgang mit schriftlichen Kommunikationsmitteln bei der Lektüre und Bearbeitung der Tagespost. Das Gleiche in elektronischer Form beim Durchgehen der eingetroffenen E-Mails. Den ganzen Tag über die informelle und formelle mündliche Kommunikation am Telefon. Bis Dienstschluss bei Arbeitsbesprechungen, Sitzungen, Verhandlungen, Versammlungen alle möglichen Ausprägungen von Kommunikation in kleineren, mittelgroßen oder auch größeren Kreisen interner und externer Teilnehmer, formell und informell, mündlich und/oder kombiniert mit Schrift, Bild und Ton. Und das Gleiche schließlich am Abend je nach Programm. Allen Anlässen ist gemein: Es geht darum, Botschaften zu empfangen, zu senden und auszutauschen, als Mitteilungen in eine Richtung oder als Dialog. Und dazu ist jedes Mittel recht. Denn gerade in der Kommunikation gilt: Alle Wege führen nach Rom.
2.
Direkte Wege, Umwege, geplante Wege, Zufallswege
Aber es gilt auch: Nicht jeder Weg ist zu empfehlen. Wenn wir unterstellen, dass in der Unternehmenskommunikation überwiegend bewusste Kommunikation gefragt ist, die möglichst zielgerichtet und effizient laufen soll, dann lohnt es sich, die Dinge nicht dem Zufall zu überlassen. Denn jeder Kommunikationsweg hat seine eigenen Ausprägungen, ist für bestimmte Aufgaben geeigneter oder weniger geeignet: Die schriftliche Kommunikation in Papierform – also über Bücher, Hefte, Briefe, Rundschreiben, Aushänge, Plakate, Flugblätter – erreicht nur eine begrenzte Zahl von Adressaten und ist nur mit zeitlichem Verzug dialogfähig, dafür aber wichtig als Dokument und zum Transport auch sehr langer Texte.
Face-Mail oder E-Mail?
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Die elektronische Kommunikation – also über Internet, Intranet, E-Mail, Weblog, Webchat – kann in kurzer Zeit eine sehr viel größere Zahl von Adressaten erreichen und ist unmittelbar dialogfähig, dafür aber eher für begrenzte Textlängen geeignet und mit der heutigen Standardtechnik nicht unbedingt dokumentfähig. Die Kommunikation mit Bild und Ton – also über Filme, Bildschirm-Präsentationen und dergleichen – ist in der Regel anschaulicher, kann unterhaltsamer und deshalb einprägsamer sein, erfordert aber sowohl in der Vorbereitung als auch beim Anlass selber und bei der Dokumentation mehr Zeit und mehr Aufwand. Die mündliche Kommunikation – also Reden in größeren oder kleineren Kreisen, in Sitzungen und Verhandlungen oder ganz einfach in Gesprächen – wirkt persönlich und glaubwürdig, ist dialogfähig, aber nur für eine begrenzte Zahl von Adressaten geeignet und schwieriger zu dokumentieren. Denn bekanntlich gilt ja das „gesprochene Wort“.
3.
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold
Nun wissen wir also, dass es bestimmte Konstellationen gibt, die sich für „Reden“ in der Unternehmenskommunikation eignen, weniger eignen oder gar nicht eignen: Wenn der Chef in einem großen Unternehmen, das über viele Standorte in aller Welt verfügt, möglichst alle Mitarbeiter erreichen will, dann ist dafür die klassische Rede kaum das richtige Medium. Dazu ist der Adressatenkreis zu heterogen und zu groß. Aber in der Kombination mit elektronischen Mitteln – Videos, Unternehmens-TV, UnternehmensRundfunk – lässt sich die Rede auch in diesem Fall durchaus einsetzen. Und in Verbindung mit vorherigen oder sich an die „zentrale“ Rede anschließenden lokalen Events, bei denen die Themen mit konkreten Inhalten aus dem jeweiligen Arbeitsumfeld vertieft werden, kann das sogar ein besonders gelungener Kommunikationsweg sein. Reden erfüllen am besten ihren Zweck, wenn der Adressatenkreis homogen ist, also zum Beispiel Kunden einer bestimmten Sparte bei der Vorstellung neuer Produkte, Führungskräfte bei der Erörterung der Jahresergebnisse und beim Einschwören auf neue Ziele, Mitarbeiter bei der Erläuterung neuer Organisationsabläufe oder Gruppen bei Schulungszwecken zusammenkommen. Denn hier geht es um konkrete Inhalte, an denen alle Teilnehmer interessiert sind, und bei denen die Stärken des Mediums „Rede“, nämlich persönliche Überzeugung, Glaubwürdigkeit und Dialogfähigkeit, zur Geltung kommen können.
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Eberhard Posner
Je heterogener der Adressatenkreis ist, desto mehr Wert muss auf Allgemeinverständlichkeit und Unterhaltungselemente gelegt werden. Denn in diesen Fällen soll ja weniger ein bestimmtes Spezialwissen vermittelt werden, sondern es stehen andere Ziele im Vordergrund: zum Beispiel die Vorstellung von anregenden Thesen oder interessanten Zusammenhängen, die dann anschließend in kleineren Kreisen Gesprächsstoff bieten können. In allen Fällen gilt aber als oberstes Gebot: Nie zu lange reden. Dafür gibt es jedoch keine absolute allgemeingültige Regel. Eine einstündige Rede dürfte in den allermeisten Fällen die Grenze des Sinnvollen bereits überschritten haben. Deshalb hat es sich ja zum Beispiel im Bildungsbereich eingebürgert, in Zeiteinheiten von 45 Minuten zu rechnen. Wenn die Rede Teil eines größeren Events ist – „Dinnerspeeches“, Festreden im Rahmen geselliger Veranstaltungen, Jubiläen, Abschiedsreden –, dann gelten bereits 15 bis 20 Minuten als Obergrenze. Was die Länge einer Rede betrifft, so sollte man sich an das „Feedback“ erinnern, das vor einigen Jahrhunderten ein Gesandter aus Samos erhielt, der nach Sparta kam und zu dem die Spartaner nach einer langen Rede gesagt haben sollen: „Den Anfang haben wir vergessen und das Ende haben wir nicht verstanden, weil wir den Anfang schon vergessen hatten.“ Und noch grundsätzlicher: Reden zu halten, weil sie halt „dazugehören“, das reicht nicht. Auch wenn es „nur“ um Unterhaltung geht, muss deutlich werden, dass der Redner auch tatsächlich „etwas zu sagen hat“. Sonst kommt es leicht zu einem Ärgernis, das beiden Seiten – Rednern und Zuhörern – besser erspart bleiben sollte, ganz nach dem Motto: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Oder: „Si tacuisses, philosophus manisses.“
4.
Ich weiß viel
Es gibt Menschen, die meinen, eine Rede sei zu „dünn“, wenn sie nicht ihr gesamtes Wissen hineinpacken. Es gibt kein Thema, das sich über Details und Subdetails oder über Exkurse zu Randüberlegungen nicht anbietet, entsprechend „vertieft“ oder ausgeschmückt zu werden. Das mag dem Redner den Ruf verschaffen, über eine umfassende Bildung zu verfügen und sich die Dinge nicht leicht zu machen. Aber dieser Ruf wird erkauft mit Zuhörern, die im Laufe der Rede immer unruhiger werden. Im besten Fall schalten sie ab und lassen die Sätze an sich vorbeirauschen. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie ihrer Unruhe Gehör verschaffen, und dadurch den Redner verunsichern. „Was mache ich falsch?“, wird er sich denken und aufgrund schwindender Souveränität noch weniger in der Lage sein, die Zuhörer für sich und sein Thema zu gewinnen. Gegen dieses Missgeschick hilft ein ganz einfaches Mittel, nämlich bei der Konzeption einer Rede drei Fragen in den Vordergrund zu stellen: Welche „Vorbildung“ besitzen die Zuhörer? Was erwarten sie sich von der Rede? Welche Botschaften sollen sie nach dem Ende der Rede
Face-Mail oder E-Mail?
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im Gedächtnis haben und auf Befragen wiederholen können? Wer sich diese Fragen gewissenhaft stellt, wird schnell erkennen, dass es eigentlich nicht möglich ist, mehr als drei inhaltliche Punkte zu transportieren. Diese drei Punkte sollten dann in der Gliederung der Rede „sichtbar“ werden. Das gelingt immer, auch wenn das Thema sehr komplex ist. Bisweilen muss man allerdings mit Unterpunkten arbeiten, die aber eine überschaubare Zahl nicht überschreiten sollten. So könnte zum Beispiel eine Rede über die „Folgen der Globalisierung für die Unternehmensstrategie“ wie folgt gegliedert werden: Zunächst eine kurze Darstellung der drei Hauptmerkmale der Globalisierung, also etwa: Die Öffnung regionaler Märkte mit dem „Verlust“ nationaler Schutzräume, die weltweite Angleichung der Wettbewerbsbedingungen mit immer stärkerer Gewichtung des Preises als Differenzierungsgröße und die Zunahme der Innovationsgeschwindigkeit, um über diesen Weg Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Im zweiten Teil eine Analyse der derzeitigen Stärken und Schwächen des Unternehmens, also etwa: Die große Wertschöpfungstiefe mit dem Vorteil umfangreicher Möglichkeiten der Qualitätssicherung unter Inkaufnahme hoher Fixkosten, Konzentration von Forschung und Entwicklung im Heimatland mit dem Vorteil hervorragender Fachkräfte und eingeübter Abläufe unter Inkaufnahme großer räumlicher und „geistiger“ Entfernungen zu wichtigen Zielmärkten, breites Produktspektrum mit dem Vorteil eines vollständigen Angebots unter Inkaufnahme teilweise sehr geringer Losgrößen. Im dritten Teil eine Darstellung denkbarer Schritte zur Anpassung der Unternehmensstrategie an die Erfordernisse der Globalisierung, also etwa: Die Verringerung der Wertschöpfungstiefe durch Partnerschaften mit lokalen Firmen, Aufbau von F&E-Zentren in den Zielmärkten und Bereinigung der Produktportfolios. Es gibt vielfach die Meinung, eine solche Gliederung verstehe sich von selbst und müsse deshalb am Beginn einer Rede nicht kommuniziert werden. Das sei etwas einfallslos. Aber die Erfahrung zeigt, die Zuhörer betrachten es als wertvollen Dienst, wenn sie in der Einleitung hören: „Ich werde das Thema in drei Teilen angehen, nämlich …“. Sie können dann während der Rede jederzeit nachvollziehen, an welcher Stelle des Konzepts sie sich befinden, wie lange es bis zum Schluss noch dauern könnte, und wie sie den Faden des Mitdenkens wieder aufnehmen können, falls sie ihn zwischendurch verloren haben sollten. Ähnliches gilt für den Schluss der Rede: Es bietet sich an, in einer knappen Zusammenfassung diejenigen Punkte noch einmal zu akzentuieren, auf die es ankommen sollte. Die Betonung liegt aber auf „knapp“ und auf „Zusammenfassung“, denn die Enttäuschung und Verwunderung der Zuhörer wird groß sein, falls sich die Zusammenfassung als eigenständiges Korreferat entpuppt oder Punkte behandelt, die in der Rede gar nicht ausgeführt worden sind.
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Eberhard Posner
5.
Langweiliges und Kurzweiliges
Aber ist das nicht langweilig, derartig überschaubar und strukturiert vorzugehen? Fehlen da nicht die Überraschungsmomente, die Pfefferkörner, die eine Rede erst zu einem interessanten und zugleich kurzweiligen Erlebnis werden lassen, an das man sich gerne erinnert und über das man noch lange spricht? Weit gefehlt, denn kurzweilig wird eine Rede nicht durch kaum mehr nachvollziehbare und überraschende Gedankengänge oder durch Ausflüge in Seitenthemen, sondern durch die Art und Weise, wie man das – klar strukturierte – Thema behandelt. Und das ist überwiegend Handwerk. Denn die Palette der zur Verfügung stehenden Mittel, aus denen die entscheidenden Farbtupfer gesetzt werden können, enthält ja keine Geheimrezepte: Lange Sätze / kurze Sätze. Abstrakte Abhandlung / anschauliche Beispiele. Reiner Fachvortrag / unterhaltsame Anekdoten. Distanziertes „man“ / persönliches „ich“. Unterstützung durch Schaubilder / kurze Filmeinspielungen. Monotones Ablesen / lebhafter Vortrag. Laute / leise Stimme. Engagiertes / distanziertes Auftreten. Starre / bewegte Körpersprache. Monolog / Dialog. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Aber auch hier gilt: Es kommt nicht nur darauf an, dass man sich der in Frage kommenden Stilmittel überhaupt bewusst ist, und versucht sie einzusetzen, sondern darauf, wie man sie einsetzt. Dazu zwei Beispiele: Unterhaltsame Anekdoten In der deutschen Kultur tun wir uns offenbar immer noch schwer, Zusammenhänge mit Beispielen zu veranschaulichen, die nicht unmittelbar aus demselben fachlichen Umfeld des Vortragsthemas, sondern eher aus dem Alltag oder aus allgemeinen Erfahrungen stammen. Da sind uns Redner aus der amerikanischen Kultur überlegen, weil sie weniger als wir von derartigen Skrupeln befallen sind. Wenn es zum Beispiel darum geht zu verdeutlichen, dass zu den Hauptmerkmalen der Globalisierung „Speed“ gehöre, also die zunehmende Geschwindigkeit des Wettbewerbs, dann würde ein amerikanischer Redner sich nicht scheuen, dies an folgender Anekdote klarzumachen:
Face-Mail oder E-Mail?
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„Zwei Waldarbeiter in Kanada machen Brotzeitpause, als sie ein Rascheln hören und einen Grizzlybären auf sich zukommen sehen. Der eine Arbeiter will voller Panik wegrennen, der andere zieht in Ruhe seine schweren Arbeitsschuhe aus, nimmt aus seinem Rucksack ein paar leichte Turnschuhe und beginnt sie anzuziehen. Auf den Hinweis seines Kollegen, er sei damit auch nicht schneller als der Bär, entgegnet er: Ja, aber schneller als Du!“
Ich meine, damit wird besser als mit jeder theoretischen Erklärung einsichtig, es kommt im Wettbewerb eben nicht auf die absolute Geschwindigkeit an, sondern auf die relative: Schneller sein als der Wettbewerber. Diese Anekdote eignet sich durchaus zum Wiedererzählen am Stammtisch. Optische Unterstützung durch Schaubilder Auch im deutschen Kulturkreis hat sich durchgesetzt, Reden mit optischen Hilfsmitteln zu unterstützen. So gehört es inzwischen zu den Standardfragen bei der Vorbereitung von Reden: Ist im Saal eine Großbildleinwand und ein Beamer vorhanden? Aber dann lassen wir uns doch bisweilen vom Perfektionismus überwältigen und versuchen, jedes Schaubild, das der optischen Untermalung einer mündlichen Rede dienen soll, mit allen Details vollzupacken, die uns bei einer ernsthaften Beschäftigung mit dem Thema einfallen. Denn es könnte uns ja jemand nachweisen, wir hätten die Fragestellung nicht ausreichend durchdrungen. Die Folge sind Schaubilder, die man selbst mit einem Opernglas bereits aus der zweiten Reihe nicht mehr lesen kann. Während der Zuhörer es mühsam versucht, verliert er den Kontakt zum Redner und zur gesprochenen Rede und befindet sich in einer schwierigeren Lage, als wenn er sich nur auf die Rede konzentriert hätte. Also auch hier ist der Mut zur Einfachheit und zur Reduktion gefragt. Denn ein Schaubild hat entweder den Zweck, den Zuhörer optisch durch die Gliederung der Rede zu führen; und dann reicht oft nur ein – groß geschriebenes und auch aus der letzten Reihe leicht leserliches – Wort, zum Beispiel „Speed“, um bei unserer Anekdote zu bleiben. Oder der Sachzusammenhang der Redepassage soll bildlich gemacht werden; dann reicht oft nur eine Kurve, die zum Beispiel die Verkürzung der Dauer der Produktlebenszyklen als Folge der zunehmenden Geschwindigkeit des Wettbewerbs im Zeitalter der Globalisierung andeutet. Da geht es eben nicht um wissenschaftliche Präzision und Vollständigkeit, sondern um ganz einfache optische Untermalung, die es dem Zuhörer leichter macht, die Gedankengänge des Redners nachzuvollziehen und im Gedächtnis zu behalten. Noch ein Hinweis zur Verwendung erläuternder Anekdoten: Sie sollen ja nicht nur zur Veranschaulichung abstrakter Zusammenhänge dienen, sondern auch Unterhaltungselemente beinhalten, zum Beispiel durch witzige Überraschungseffekte oder Aha-Erlebnisse. Und da kommen wir schnell auf eine nicht ganz unproblematische Spielwiese. Denn nicht alles, was wir intelligent und witzig finden, wird auch von unseren Zuhörern so empfunden. Das gilt erst recht, wenn wir uns in fremden Kulturkreisen bewegen. Es empfiehlt sich deshalb, solche Ausflüge in Scherze oder bildhafte Beschreibungen vorab im kleinen Kreis im Hinblick auf ihre „politische Korrektheit“ zu testen.
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Auch dazu ein Beispiel: Mitte der 90er Jahre erzählte mir ein spanischer Journalist in Madrid folgende „Geschichte“: Der liebe Gott ist zutiefst erzürnt, dass die Menschen immer weniger geneigt sind, die Zehn Gebote einzuhalten. Er verliert die Geduld und beschließt, in zwei Wochen werde der Weltuntergang stattfinden. Um dies der Menschheit mitzuteilen, ruft er Bill Clinton, Boris Jelzin und den spanischen Ministerpräsidenten Felipe Gonzales zu sich. Er erklärt ihnen die Situation und beauftragt sie, dies ihren Völkern beizubringen. Bill Clinton veranstaltet eine Fernsehpressekonferenz in Washington und sagt: „Liebe amerikanische Mitbürger und Mitbürgerinnen, ich habe eine gute und eine schlechte Botschaft. Die gute ist, der liebe Gott existiert tatsächlich, er hat mit mir gesprochen. Die schlechte ist, in zwei Wochen ist Weltuntergang.“ Boris Jelzin macht dasselbe in Moskau und sagt: „Liebe russische Mitbürger und Mitbürgerinnen, ich habe zwei schlechte Botschaften. Die erste ist, es gibt tatsächlich einen Gott, er hat mit mir gesprochen. Die zweite ist, in zwei Wochen ist Weltuntergang.“ Felipe Gonzales veranstaltet ein Riesenspektakel in Madrid und sagt: „Liebe spanische Mitbürger und Mitbürgerinnen, ich habe zwei gute Botschaften. Die erste ist, der liebe Gott existiert tatsächlich, und er hat mich zu seinem Sprecher gemacht. Die zweite ist, in zwei Wochen ist die spanische Wirtschaftskrise zu Ende.“
Ich habe diese Geschichte einige Male in Kommunikationsseminaren verwendet, um zu veranschaulichen, dass dieselben „Fakten“ nicht von jedem Adressaten mit denselben Empfindungen angenommen werden. Als Redner muss man sich also zunächst klarmachen, in welcher Erfahrungswelt die Zuhörer leben, und welche Erwartungen sie im Hinblick auf bestimmte Themen haben. Wie man in der Geschichte sieht, kann das extrem unterschiedlich sein. Als mir jedoch von verschiedenen Seiten Vorwürfe gemacht wurden, mit diesem Scherz würde ich die Grenzen in Richtung Blasphemie und Missachtung religiöser und nationaler Gefühle überschreiten, habe ich die Geschichte aus meinem Anekdotenrepertoire gestrichen. „Politische Korrektheit“ ist eine Forderung, die bisweilen belächelt und als oberflächliches Ritual mit hippokratischen Zügen abgetan wird. Ich meine aber, man muss akzeptieren, dass gerade Scherze leicht beleidigend wirken können, wenn sie – tatsächlich oder vermeintlich – zulasten Dritter gehen. Und dann haben wir das Gegenteil dessen erreicht, was wir bewirken wollten: Statt „lockerer“ Unterhaltung zur Untermalung abstrakter und komplexer Zusammenhänge erzürnt der Redner seine Zuhörer mit unbedachten „Scherzen“ – eine schwierige Spielwiese, die ganz besondere Beachtung verdient.
Face-Mail oder E-Mail?
6.
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Ich kann „frei“ reden
Mit unterhaltsamen Geschichten aufzuwarten, bedarf es also an Bedachtsamkeit und an gewissenhafter Vorbereitung, auch – oder gerade – wenn das sozusagen aus dem Stegreif wirken soll. Und damit sind wir bei einem weiteren Thema, das oft falsch eingeschätzt wird, nämlich bei der „freien“ Rede. Sie wird ja bisweilen als Ausdruck höchster Redequalität betrachtet, ganz nach dem Motto: „Wer abliest, demonstriert mangelnde Souveränität und kommt langweiliger rüber als der frei sprechende Redner, der so wirkt als plaudere er einfach frisch drauf los.“ Die Realität ist aber oft eine ganz andere: Vorformulierte Reden können ganz spannend und unterhaltsam vorgetragen werden. Der Redner benutzt dann den Text eigentlich nur als Sicherheitsnetz, das ihm hilft, den Gedankengang einzuhalten und an den entscheidenden Stellen bestimmte Kernbegriffe einzusetzen. Er klebt nicht ständig am Manuskript, sondern hält ausreichend Blickkontakt mit den Zuhörern und findet dann nach einigen „frei“ gesprochenen Sätzen ohne Weiteres wieder den Anschluss an den Text, ohne dass dies auffällt. Freie Reden ohne vorformulierte Manuskripte können misslingen, weil der Redner sich „verhaspelt“. Das beschränkt sich im besten Fall auf einzelne Sätze oder Überleitungen, kann im schlimmsten Fall aber sogar die gesamte Rede zerstören, wenn zum Beispiel der rote Faden verloren geht, oder wenn die ersten Redeteile zeitlich so ausgebreitet werden, dass die weiteren Teile und der zusammenfassende Schlussteil nicht mehr untergebracht werden können. Unabhängig davon, ob ausformulierte Texte verwendet werden oder nicht, gelten folgende Erfahrungsregeln: Jede Rede benötigt ausreichende Vorbereitungszeit. Und die ist bei dem Vorhaben einer „freien“ Rede eher länger als bei einer vorformulierten Rede. Bei freier Rede müssen intensiv Gliederung, Kernsätze und die in Frage kommenden Beispiele erarbeitet und eingeübt werden. Denn auch einem „routinierten“ Redner kann es nicht gelingen, alles nur „spontan“ aus dem Augenblick heraus zu produzieren. Es wäre aber auch ein Irrtum zu meinen, dass ausformulierte Redetexte – noch dazu, wenn sie von Dritten erarbeitet wurden – nur wenig Vorbereitung bedürfen. Man könne sie einige Minuten vor dem Auftritt in Empfang nehmen und dann einfach ablesen. Da wird schnell deutlich werden, dass der Redner nicht sich selbst einbringt, sondern sich lediglich als Sprachrohr versteht, der den Hintergrund des Textes nicht voll erfasst hat. Rhetorik und Körpersprache verraten ihn. Und damit geht die größte Stärke der Rede – persönliche Glaubwürdigkeit – verloren und verkehrt sich in das Gegenteil.
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In beiden Fällen – freie oder ausformulierte Rede – muss deutlich werden, dass sich der Redner den Text zueigen gemacht hat. Er überzeugt durch die Übereinstimmung von Text und persönlicher Ausstrahlung. Das wird nur gelingen, wenn man jede Rede ernst nimmt und ausreichend Zeit in die Vorbereitung investiert. Maßgeblich für die Wirkung einer Rede sind Beginn und Schluss. Denn mit den ersten Sätzen entscheidet sich, ob die Zuhörer für den Redner und seine Botschaften eingenommen werden oder nicht. Und die letzten Sätze bleiben haften, wenn sich die Zuhörer prüfen, wie sie die Rede einschätzen sollen. An diesen beiden Teilen muss also besonders intensiv gearbeitet werden. Deshalb kommt man dann auch bei ansonsten freier Rede an Vorformulierungen nicht vorbei. Jedenfalls wäre es leichtfertig, diese entscheidenden Passagen dem Zufall zu überlassen. Wer meint, ihm werde im entscheidenden Moment schon das Richtige einfallen, täuscht sich. Und gerade hier gilt: Das Bessere ist der Feind des Guten. Jede Rede benötigt einen einigermaßen präzisen Zeitplan, der festlegt, wie viele Minuten auf Einleitung, Hauptteile und Schluss verwendet werden sollen. Das ist wichtig für die Einhaltung der Redezeit insgesamt, aber auch für die Intensität, mit der die einzelnen inhaltlichen Punkte behandelt werden. Es versteht sich von selbst, denjenigen Aussagen, die für die Botschaft der Rede von besonderer Bedeutung sind, ausreichend Zeit zu widmen, während Ein- und Überleitungen oder Randüberlegungen kürzer abgehandelt werden sollten. Es geht also um eine ausgeklügelte Dramaturgie, die nicht „vom Himmel fällt“, sondern planmäßiges Vorgehen und Umsetzen erfordert. In der Praxis liegen freie Rede und ausformulierte Rede nicht nur in der Vorbereitung, sondern auch in der Ausführung dicht beisammen: Die freie Rede wird nur dann gelingen, wenn Einleitung und Schluss vorformuliert sind und wenigstens in Stichworten dem Redner vorliegen. Dazu gehört eine schriftlich niedergelegte Gliederung mit Kernsätzen und ein Zeitplan, der dem Redner klare „Anweisungen“ gibt, wie viel Zeit er den einzelnen Themen widmen darf. Die vorformulierte Rede wird nur dann gelingen, wenn der Redner genügend Zeit investiert hat, um sie sich zueigen gemacht zu haben. Da das ständige „Kleben“ am Text den Augenkontakt zu den Zuhörern verhindern würde, enthält sie in der Ausführung Elemente der freien Rede. Sie wird eben nicht von vorne bis hinten abgelesen, sondern besteht aus einer Mischung. Das kann „handwerklich“ anspruchsvoller sein als die freie Rede, weil das regelmäßige Zurückkehren zum Redemanuskript große Konzentration erfordert. In den letzten Jahren hat es sich mehr und mehr eingebürgert, anstelle eines auf Papier gedruckten Redemanuskripts einen Teleprompter zu benutzen. Dabei werden über Bildschirme die gerade benötigten Texte eingespielt. Besonders ausgeklügelt ist das zum Beispiel durch Bildschirme, die im Boden installiert sind, und über durchsichtige Spiegel dem Redner in Augenhöhe zugeführt werden. Den Zuhörern kann so der Eindruck einer freien Rede vermittelt werden.
Face-Mail oder E-Mail?
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Gerade diese Form der Präsentation erfordert aber viel Übung und Vorbereitungszeit. Sie ist mit einer Reihe von technischen Risiken verbunden, die nicht von jedem Redner hingenommen werden. Die Risiken, zum Beispiel Ausfall der Bildschirme oder zeitlich asynchroner Textdurchlauf, wachsen mit der Länge der Rede. Damit wird bei Rednern, die weniger mit diesem Medium vertraut sind, auch die Anspannung immer größer, was den Zuhörern nicht verborgen bleibt. Ideal ist der Einsatz von Telepromptern hingegen bei der Aufnahme von Reden für Videoübertragungen. Der Redner kann seinen Blick während der Redezeit in die Kamera und damit in das Publikum richten. Bei technischen Pannen lässt sich die entsprechende Passage leicht wiederholen.
7.
Rede als Dialog?
Zu den Grundanforderungen wirkungsvoller Kommunikation gehört es, Kommunikation als Dialog zu begreifen. Denn nur ein Austausch von Botschaften stellt sicher, dass die Themen von den Beteiligten verstanden und die sie interessierenden Aspekte auch wirklich behandelt werden. Und erst der kritische Dialog mit Meinung und Gegenmeinung bewirkt Motivation und Mobilisierung der Teilnehmer. Bei Reden im klassischen Sinne handelt es sich aber eher um Monolog als Dialog. Die Effizienz der Kommunikation leidet sehr häufig darunter, dass man „aneinander vorbeiredet“. Natürlich ergibt sich auch bei diesen „Ansprachen“ eine Art von Feedback, zum Beispiel durch Zwischen- und Schlussapplaus, durch zustimmende und ablehnende Gesten aus dem Plenum oder auch durch spürbares Abstumpfen des Plenums. Das ist aber in der Regel dem Zufall überlassen. Gerade in der Unternehmenskommunikation, in der Reden ja im Rahmen eines Gesamtkonzepts zur Erreichung der Unternehmensziele eingesetzt werden, sind bewusste Dialogelemente erforderlich. Eine Variante ist die Vereinbarung, den Redner jederzeit durch Zwischenfragen unterbrechen zu können. Er kann diese Fragen dann jeweils sofort oder an passenden Stellen, zumindest aber am Schluss seiner Rede behandeln. Eine andere Variante besteht darin, nach jeder Rede eine Diskussionsrunde im Plenum einzuplanen. Wenn das zum Beispiel aufgrund der großen Zahl der Zuhörer schwer zu realisieren ist, lassen sich Diskussionsrunden in kleineren Kreisen organisieren, die sich mit dem Inhalt der Rede auseinandersetzen und die Ergebnisse der Diskussionen noch einmal in einer Plenumsrunde einbringen.
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Heinz Goldmann, der vor kurzem verstorbene „Altmeister“ der dialogorientierten Kommunikation, hat bewiesen, dass es auch bei Reden vor einer sehr großen Zahl von Zuhörern möglich ist, Dialogelemente einzubauen: Zum Beispiel durch die Aufforderung zu Beginn der Rede, die Teilnehmer in den letzten beiden Sitzreihen mögen aufstehen. Und wenn sie das dann tun, bittet er sie, nach vorne zu kommen und auf den leeren Plätzen in den ersten Reihen Platz zu nehmen. Durch die Aufforderung, ein Blatt Papier in Empfang zu nehmen und darauf drei Kreise zu zeichnen. In diese Kreise sollen dann als Gliederung die drei Themen des Hauptteils der Rede eingetragen werden. Durch eine Redeunterbrechung, in der die Zuhörer aufgefordert werden, jeder für fünf Minuten mit seinen Sitznachbarn ein bestimmtes Thema zu diskutieren. Diese und andere „Übungen“ können natürlich einen echten Dialog nicht ersetzen. Sie eignen sich aber wenigstens, um die bisweilen starre und distanzierte Atmosphäre bei „Ansprachen“ aufzulockern und für die Mitwirkung der Teilnehmer zu sorgen.
8.
Beschlussvorlagen, Lage- und Rechenschaftsberichte
Eingangs wurde festgestellt, dass die mündliche Kommunikation den Vorteil besitzt, dialogfähig zu sein und persönlich und glaubwürdig wirken kann. Von Nachteil ist aber unter anderem, dass sie schwieriger zu dokumentieren ist. Dieser Nachteil kann gerade in der Unternehmenskommunikation von großer Bedeutung sein, wenn später nachgewiesen werden muss, welche Botschaften nun wirklich transportiert worden sind. Solche Anlässe sind zum Beispiel Sitzungen von Gremien wie Aufsichtsrat oder Vorstand, wo es darauf ankommt, Beschlüsse und in vielen Fällen auch ihre Hintergründe zu dokumentieren. Oder es geht um Lage- und Rechenschaftsberichte, die als Basis für das Handeln Dritter dienen, zum Beispiel Quartalsberichte von Aktiengesellschaften oder Hauptversammlungen. In diesen Fällen sollte der Ehrgeiz des Redners weniger auf brillanter und unterhaltsamer Kommunikation liegen, sondern auf Klarheit und Verständlichkeit mit möglichst konkreten Fakten. Es versteht sich von selbst, dass solche Beschlussvorlagen oder Lage- und Rechenschaftsberichte vorformuliert sein müssen. Sie werden dem Protokoll der Sitzungen beigefügt. Und da ist es dann auch kein Mangel an rhetorischer Qualität, wenn man solche Texte Wort für Wort vorträgt.
Face-Mail oder E-Mail?
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Worauf es ankommt
Und damit wird klar: Die Rede als Kommunikationsinstrument hat für sich betrachtet eine Reihe von Schwächen. Diese müssen dadurch kompensiert werden, dass Reden als Teil eines dialogorientierten Kommunikationskonzeptes verstanden und in vielen Fällen auch dokumentiert werden. Gerade in der Unternehmenskommunikation gilt: Reden sind zum Transport von Botschaften unerlässlich, weil sie im Vergleich zu den eher anonymen anderen Kommunikationswegen eine persönliche Note und damit Glaubwürdigkeit ausstrahlen. E-Mail ohne Face-Mail hat eben nur begrenzte Wirkung. Die Wirkung einer Rede wird umso größer, je bewusster sie durch andere Kommunikationswege ergänzt wird. Und dafür sind der Phantasie eigentlich keine Grenzen gesetzt. Wenn Reden als bewusster Bestandteil der Unternehmenskommunikation verstanden und auch so eingesetzt werden sollen, dann ergibt sich daraus zwangsläufig, dass diejenigen, die an Redetexten arbeiten, auch organisatorisch Teil der Unternehmenskommunikation sind. Der „freischwebende“ Redenschreiber, der sich nur seinem „Kunden“ verpflichtet fühlt, und möglichst nicht in starre Hierarchien eingebunden sein möchte, damit seine Kreativität nicht leidet, gehört der Vergangenheit an. Denn Kommunikation lässt sich nicht teilen: Auch „schöngeistige“ Reden, deren Themen auf den ersten Blick weit weg vom Unternehmensalltag sind, werden dem Redner in seiner Funktion im Unternehmen zugeschrieben. Sie werden extern und intern genauso wahrgenommen wie Reden auf Pressekonferenzen oder Hauptversammlungen. Und sie prägen die Perzeption der Persönlichkeit des Redners. Auch die für diese Art von Reden „zuständigen“ Redenschreiber müssen ein Gespür und Verständnis für die Strategie und die Lage des Unternehmens aufbringen. Sonst sorgen sie für Verwirrung und tragen dazu bei, dass gegen einen der wichtigsten Grundsätze der Unternehmenskommunikation verstoßen wird, nämlich die Widerspruchsfreiheit. Zu einer professionellen Unternehmenskommunikation gehört bewusste „Message Building“: Das Kommunikationsteam erörtert mit dem Vorstand, welche Kernbotschaften in der nächsten Zeit transportiert werden sollen. Und dies geschieht natürlich letztlich vor dem Hintergrund, den Unternehmenserfolg durch Kommunikation zu unterstützen. Die Umsetzung erfolgt dann – dem Charakter des jeweiligen Kommunikationskanals angepasst – auf allen Schienen, in der Pressearbeit und der Investor-Kommunikation ebenso wie in der internen Kommunikation oder auch in der werblichen Kommunikation. Das lässt sich aber nur umsetzen, wenn alle Kommunikationssparten in einer Organisation zusammengefasst sind, und entsprechend zusammenarbeiten. Dieser Forderung widerspricht nicht die Erkenntnis, dass die einzelnen Kommunikationskanäle mit verschiedenen Mitteln arbeiten und deshalb eigene Professionalität entwickeln müssen. Natürlich lebt Werbung von anderen Stilmitteln als Pressearbeit und Investor Relations.
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Und selbstverständlich ist das Themenportfolio bei der internen Kommunikation nicht unbedingt identisch mit der in der externen Kommunikation. Aber am Ende muss ein Gesamtpaket an Kommunikation entstehen, das sich inhaltlich ergänzt und verstärkt. Um dies zu bewerkstelligen sollte man bestimmte Vereinbarungen treffen, die von allen Kommunikationssparten zu befolgen sind: Das beginnt mit ethischen Fragen, zum Beispiel mit der Vereinbarung nicht zu lügen. Gerade wenn es um Themen geht, die Börsenrelevanz besitzen, und den Insiderregelungen unterworfen sind, kann man nicht immer die ganze Wahrheit sagen. Denn interne Planungen auf dem Gebiet von Firmenübernahmen oder Teilverkäufen lassen sich erst kommunizieren, wenn die dazu gesetzlich vorgeschriebenen Verhandlungen und Beratungen abgeschlossen sind. Tauchen während einer solchen Phase Gerüchte auf, bewährt es sich, wenn man glaubwürdig sagen kann, dass man zu Gerüchten grundsätzlich nicht Stellung nimmt. Aus der Not geborene Dementis, die sich dann später als falsch herausstellen, gefährden die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen dem Unternehmen und seinen externen und internen Zielgruppen. Solche Vereinbarungen können aber ganz konkret auch bestimmte Schlüsselbegriffe umfassen. Das gilt zum Beispiel, wenn es um Organisationsbezeichnungen geht. So mag es für Außenstehende unerheblich sein, ob man von „Abteilungen“, „Divisions“, „Bereichen“, „Unternehmenssparten“ oder anderen organisatorischen Einheiten spricht; in einem komplexen Großunternehmen kommt man aber im Sinne der Klarheit an immer wieder gleich verwendeten Begriffen nicht vorbei. Schlüsselbegriffe, auf die man sich einigen sollte, können aber auch Fachausdrücke umfassen, die zur Positionierung von Inhalten wichtig sind. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Frage, ob man von „Kernenergie“ oder „Atomenergie“ spricht. Die Gegner der zivilen Nutzung der Kernenergie sprechen bewusst von „Atomenergie“, weil sie damit die „Nähe“ zur militärischen Nutzung von atomaren Sprengstoffen („Atombombe“) zum Ausdruck bringen wollen, während die Befürworter sich sprachlich näher an dem neutraleren Begriff der Kernspaltung orientieren wollen. Auch diese Art der Festlegung gemeinsamer sprachlicher Leitlinien mag auf den ersten Blick nicht immer verstanden werden; die Wirkung ergibt sich erst im Laufe der Zeit. Die mündliche Rede hat in den letzten Jahren im Rahmen der Unternehmenskommunikation an Bedeutung gewonnen. Das liegt an der Möglichkeit, persönliche Erklärungen abzugeben, die in schriftlichen Dokumenten weniger passend erscheinen, weil sie Wertungen darstellen, die ohne ausführliche Erläuterungen nicht immer nachvollzogen werden können. Einer Person in den Mund gelegt, sprechen sie jedoch „für sich“. Deshalb findet man heute kaum mehr Pressemitteilungen, in denen nicht aus – tatsächlich gehaltenen oder fiktiven – mündlichen Reden zitiert wird. So ist es bei Presseinformationen über Akquisitionen Standard geworden, den Chefs des Käufers und des gekauften Unternehmens Statements in den Mund zu legen, die „belegen“, warum dieser Vorgang für beide Seiten Vorteile bietet. Rede und Antwort stehen, das ist in unserer Wahrnehmung die höchste Form der Glaubwürdigkeit. So gesehen zählt die mündliche Rede zu den wichtigsten Kanälen der internen und externen Unternehmenskommunikation.
Identität und Sensemaking
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Identität und Sensemaking Stephan Habscheid / Edelgard Vacek
1.
Problemhintergrund und Grundbegriffe
Über Identitätsprobleme zu räsonieren, gehört gegenwärtig unter Führungskräften zum guten Ton. Allenthalben ist von Identitätsmanagement und Identitätsarbeit, Identitätspolitik und Identitätskontrolle, Organisations-, Unternehmens- und Markenidentität die Rede. So abstrakt und inhaltsarm dieser populäre Begriff von „Identität“ einerseits auch sein mag (vgl. kritisch Niethammer 2000, S. 35), so dramatisch sind andererseits seine Konnotationen: Wenn von Identität die Rede ist, dann geht es fast immer auch um deren Krise, Konfliktträchtigkeit, Fragwürdigkeit, Auflösung oder Verlust, neuerdings auch um so beunruhigende Phänomene wie Identitäts-Hopping, Identitäts-Betrug oder Identitäts-Diebstahl. Nimmt man dies alles zusammen, also die „unheimliche Konjunktur“ (Niethammer), die Vagheit und die Dramatik des gegenwärtigen Identitätsdiskurses, so ist man geneigt, einer These des Sozialpsychologen Carl Friedrich Graumann beizupflichten: „Ganz unabhängig davon,“ so Graumann, „ob wir nun eine Identitätskrise haben [...], ist offenkundig, dass wir uns in einer Krise des Identitätsbegriffes befinden, falls dieser Singular angesichts des seit den siebziger Jahren währenden Identitätsdiskurses überhaupt zulässig ist“ (Graumann 1999, S. 59). Eine professionelle Arbeit mit dem Identitätskonzept im Kontext der Unternehmenskommunikation setzt also zunächst eine präzise, theoretisch fundierte Konstitution des Gegenstands „Unternehmensidentität“ voraus, auch im Verhältnis und in Abgrenzung zu anderen Auffassungen und Aspekten von Identität in diesem sehr unübersichtlichen Diskurs. Wir möchten daher zunächst in einigen wenigen Strichen eine solche theoretische Position skizzieren (Abschnitt 1.1) und sie – auf der Basis des Sensemaking-Konzepts aus der Organisationstheorie (Weick 2001) – zu aktuellen Aufgaben und Problemen der Unternehmenskommunikation in Beziehung setzen (1.2); in diesem Zusammenhang wird auch der normativ getönte Terminus „Image“ kurz expliziert und zum deskriptiv verstandenen Begriff „Identität“ abgrenzend in Beziehung gesetzt. Im Anschluss stellen wir anhand von empirischen Beispielen aus Reden und Medientexten zentrale thematische Ressourcen (2.1) und Diskursstrategien (2.2) der rhetorischen Inszenierung „kollektiver Identität“ in Unternehmen dar, bevor wir im Schlussteil des Textes die beschriebenen Verfahren, idealtypisch verdichtet und pointiert, auf ihre Reichweite und Grenzen hin diskutieren (3).
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Stephan Habscheid / Edelgard Vacek
1.1
Aspekte von Identität in Unternehmen
1.1.1
Personale Identitäten
Wenn im Alltag von „Identität“ die Rede ist, dann denken wir zunächst einmal nicht an Kollektive, Gruppen und Organisationen, sondern an die je individuelle, personale oder auch biographische Identität des Einzelnen (vgl. zum Folgenden Kaufmann 2004). Diesen Aspekt des Identitätsbegriffs kann man annäherungsweise definieren als „System aus subjektiven Vorstellungen, die jemand von sich selbst hat, und darauf bezogenen Einstellungen, Gefühlen, Bewertungen“. Potenziell problematisch ist diese personale Identität zum einen insofern, als sie der Bestätigung durch andere bedarf (jedenfalls durch bestimmte andere); wenn diese Bestätigung des Selbstbildes ausbleibt (z. B. im Gespräch mit einem Vorgesetzten), so kann dies zumindest unangenehm sein und uns dazu veranlassen, entsprechende Situationen nach Möglichkeit zu vermeiden. Problematisch wird personale Identität potenziell aber auch insofern, als eine bestimmte Identität, um verständlich zu werden, die Herstellung eines sinnvollen biographischen Zusammenhangs, also eine „kohärente“ Erzählung über das eigene Leben voraussetzt. Der „zweistellige“ Charakter des Identitätsbegriffs (‚etwas ist mit etwas identisch“) bedingt auch im Fall von Personen die Frage danach, inwiefern ein „Ich“ in einer bestimmten Situation (z. B. am Arbeitsplatz) mit demjenigen identisch ist, das eben noch oder gleich wieder in ganz andere soziale Konstellationen (z. B. als Familienmitglied oder als Bürger) eingebunden war bzw. sein wird. Vor diesem Hintergrund können tief greifende Umstrukturierungen oder kulturelle Veränderungen in Unternehmen vom Einzelnen auch als eine Bedrohung der eigenen biographischen Identität erlebt werden, bis hin zu völligem Unverständnis der geplanten Veränderungen. Zum Zusammenhang personaler Identität mit Sprache und Sprechen sei hier nur der eine Aspekt herausgegriffen, dass sprachliche Äußerungen symptomhaft als Ausdruck personaler Identitätsaspekte interpretierbar sind: auf der Basis von Alltagswissen, aber vor allem auch in bestimmten Institutionen der Beratung oder Therapie.
1.1.2
Soziale Identitäten in der Kommunikation
Noch wichtiger in unserem Zusammenhang ist ein zweiter Aspekt von Identität, nämlich die kommunikative Verständigung darüber, was jemand gerade ist (z. B. in einem Mitarbeitergespräch): in der Sprecherrolle, in der Hörerrolle, als ein Dritter, über den gerade gesprochen wird. Insofern kann man „Identitäten“ auch auffassen als eine Ebene der sprachlichen Bedeutungskonstitution (vgl. Holly 2001). Und zwar zunächst einmal in einem inhaltlichen Sinne: man nimmt auf sich selbst Bezug oder auf den Kommunikationspartner oder auf Dritte (Referenzakt) und sagt etwas darüber aus (prädikativer Akt), das Aufschluss über Eigenschaften,
Identität und Sensemaking
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Rollen und Zugehörigkeiten erlaubt (man spricht zum Beispiel darüber, wer oder was man ist, was man tut, was man mag, wie man denkt und fühlt usw.) (vgl. Hausendorf 2000). Solche Zugehörigkeiten können aber auch indirekt angezeigt werden, zum Beispiel durch stilistische Verfahren, mit denen man sich selbst und den Kommunikationspartner sozial positioniert (vgl. Wolf 1999), indem man in einer bestimmten Weise spricht (z. B. gehoben, umgangssprachlich) oder den Partner in einer bestimmten Weise adressiert (z. B. höflich, distanziert). „Soziale Identitäten“ werden einerseits von Fall zu Fall im Kommunikationsvollzug immer wieder neu konstituiert, sie beruhen andererseits aber auch auf tradierten Typisierungen von Rollen, die an bestimmte Interaktionstypen (z. B. ein Mitarbeitergespräch, eine Betriebsversammlung oder ein Meeting) gebunden sind.
1.1.3
Kollektive Identitäten
Damit ist auch bereits eine Brücke geschlagen zum dritten Aspekt von Identität, nämlich den kollektiven Identitäten, die im Moment besonders virulent sind (vgl. Giesen 1999, Niethammer 2000). Die Frage, was jemand ist, wird nämlich nicht nur im Blick auf den Einzelnen geklärt, subjektiv (‚Wer bin ich?“) bzw. kommunikativ (‚Was bin ich, bist Du, ist er oder sie gerade?“), sondern Gesellschaften und Gemeinschaften bilden auch ein kulturelles Wissen über soziale Gruppen und deren Eigenschaften aus, denen die Einzelnen zugeordnet werden können (z. B. als „Ausländer“, „Europäer“, „Schwabe“, „Punk“, „Beamter“ usw.). Dieses Wissen wird wesentlich im Modus der Sprache weitergegeben (z. B. durch entsprechende Wörter und ihre Bedeutungen), auch nonverbale Symbole können eine Rolle spielen (z. B. im Fall „nationaler“ Identitäten Flaggen, Farben, Wappen usw.). Daneben kommen auch hier indirekte Verfahren zur Anzeige von Zugehörigkeiten zum Tragen, zum Beispiel Sprachwahl, Dialekte oder Gruppenstile (sprachliche Ausdrucksweisen, Mode, Musikgeschmack usw.). Potenziell problematisch sind diese kollektiven Identitäten in mehrfacher Hinsicht: Sie begründen stets einerseits Inklusion (für die Mitglieder der Wir-Gruppe), andererseits Exklusion (der anderen); sie sind in vielen Fällen mit politischen „Programmen“ verbunden (also mit normativen Festlegungen darüber, was gemeinsam getan oder unterlassen werden soll); sie haben teilweise den Charakter (negativ) getönter sozialer Stereotype und sie werden in der Kommunikationspraxis nicht nur selbst von Sprechern gewählt, sondern auch von außen dem Kommunikationspartner oder Dritten zugeschrieben. Auch über Kollektive wie Unternehmen und andere Organisationen bestehen derartige Konzepte, die teils von den Mitgliedern als geteiltes „Selbstbild“ internalisiert sind, teils in der Außenwahrnehmung durch Kunden, Medien usw. als „Fremdbild“ auf die Organisation projiziert werden. Hiervon sind analytisch (idealisierte) identitätspolitische „Images“ zu unterscheiden, wie sie vom Management planmäßig erzeugt und in der internen und externen Kommunikation propagiert werden (vgl. Abschnitt 1.2). Vor diesem Hintergrund ließe sich nun Unternehmensidentität definieren als ein Verbund von Überzeugungen über das Unternehmen, darauf bezogenen Einstellungen emotionaler und evaluativer Art und daraus resultierenden Verhaltensdispositionen, die a) Mitglieder der Or-
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ganisation aufgrund ihrer alltäglichen Sozialisation (mehr oder weniger) verinnerlicht haben, und die sich in ihrem Handeln manifestieren, oder die b) in der Außenwahrnehmung aufgrund massenmedialer und direkter Kommunikation über das bzw. mit dem Unternehmen assoziiert sind.
1.2
Sensemaking und Image
Der Frage, wie die Mitglieder von Unternehmen ihre Organisation, deren Umwelt und sich selbst in diesem Kontext subjektiv verstehen, und welchen Sinn sie ihrem alltäglichen (kommunikativen) Handeln und den zugrunde liegenden Rollenkonstellationen beimessen, ist für die Realität einer Organisation von zentraler Bedeutung (vgl. Weick 2001). Derartige alltägliche Sinnstiftungsprozesse (Sensemaking), die immer wesentlich auch die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Handelnden und miteinander Interagierenden betreffen, sind auch in Organisationen in vielfältigen sozialen Beziehungen allgegenwärtig. Dabei spielen eingespielte Kommunikationsmuster im Rahmen alltäglicher kultureller Lebensformen eine wesentliche Rolle. Nun wird vor diesem Hintergrund ein tief greifender Strukturwandel konstatiert (vgl. Niethammer 2000; Kaufmann 2004), der Probleme der Identität, wie sie im vorherigen Abschnitt erörtert wurden, auch für Unternehmen zu einer besonderen Herausforderung werden lässt. Demnach ist die traditionelle Konstellation, vereinfacht dargestellt, etwa so charakterisiert: Der Einzelne setzt sich mit Haltungen bestimmter anderer (Eltern, Vorgesetzte, Kollegen usw.) gegenüber dem Selbst bzw. mit tradierten Bildern kollektiver Identität (Nation, Unternehmen, Abteilung usw.) auseinander im Rahmen relativ stabiler, langfristiger, immer wieder reproduzierter sozialer Bindungen und entsprechender kommunikativer Lebensformen, etwa in der Familie, im Kontext eines Milieus, in einem Betrieb oder einer Abteilung aufgrund langjähriger Zugehörigkeit. Solche Bindungen, so die Beobachtung, werden in der Spätmoderne flüchtiger (‚Individualisierung“); zudem wird die Kommunikation zunehmend medialisiert und damit schwerer kontrollierbar, bürokratische und hierarchische Formen der Regulation werden zurückgedrängt durch dynamische und flache Netzwerkstrukturen, die kulturellen Bezugssysteme werden durch Migration und globale Kommunikation teilweise „deterritorialisiert“ und aus nationalstaatlichen Grenzen gelöst, damit „dekontextualisiert“ und in hybriden Formen neu konfiguriert; dabei wird Kultur zu einem zentralen Faktor der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung (Hall 2002). Vor dem Hintergrund all dieser Entwicklungen treten die problematischen Aspekte personaler Identität – Bestätigung durch andere, Notwendigkeit der Kohärenzbildung – deutlicher hervor: Zunehmend ist eine bewusste, reflexive Arbeit am Selbst, an der eigenen Biographie gefragt. Damit sind im Vergleich zu den traditionellen Verhältnissen größere Freiheiten, aber auch größere Risiken für den Einzelnen verbunden.
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In dieser unsicheren, unklaren Situation versuchen nun Gestalter (politische Akteure, Werbetreibende, das Management in Organisationen) in der öffentlichen Kommunikation Images planmäßig zu erzeugen. Dabei handelt es sich um gezielt gestaltete, zirkulationsfähige Darstellungen kollektiver, organisationaler Identitäten und darauf bezogener positiver Einstellungen; Images sollen als symbolische Identitäts- und Identifikationsangebote das Handeln der Adressaten leiten (vgl. Habscheid/Hartz 2007). Zahlreiche Organisationen – von Wirtschaftsunternehmen über Ämter und Behörden bis hin zu Einrichtungen des Sozial- und Bildungsbereichs – richten ihre Aufmerksamkeit heute verstärkt darauf, die komplexen und spannungsreichen sozialen Gebilde durch derartige Formen der Sinnstiftung symbolisch zu integrieren. In dem Maße, wie Hierarchie und Bürokratie in ihrer Funktion als Kontroll- und Integrationsmechanismen an Legitimation verlieren, geraten – neben ökonomischen Zielvorgaben – kommunikative Praktiken und Zeichensysteme in den Fokus der Gestalter. An die Stelle der detaillierten, unmittelbaren und expliziten Anleitung und Führung tritt dabei der Versuch, die kulturellen Kontexte zu regulieren, in denen Handelnde sich orientieren und so – mittelbar, im Sinne einer „Gouvernementalität“ (Bröckling et al. 2000) – bestimmte Verhaltensweisen wahrscheinlicher bzw. unwahrscheinlicher zu machen. Diente im fordistischen Produktionsbetrieb vertikale Kommunikation idealtypisch dem Zweck, das „äußerliche“ Verhalten der Beschäftigten durch bürokratisch und hierarchisch gestützte Direktive zu regulieren, geht es nun (auch) darum, das „Innere“ der Mitarbeiter, ihr Denken, Wollen, Fühlen und (subjektives) Handeln weitreichend und nachhaltig zu beeinflussen (Alvession & Willmott 2002). Während traditionelle Ansätze zu einer „Humanisierung“ der Betriebe das Verhältnis zwischen ökonomisch-technischen Strukturen und subjektiven Perspektiven als Spannungsfeld konzeptualisierten und eine Ergänzung der sachlichen Kalküle um „weiche“ Aspekte wie das betriebliche „Klima“ postulierten, wird die Organisation nun als kommunikative Vollzugswirklichkeit mit ihrer Kultur identifiziert, wobei mit zunehmenden Verhaltensspielräumen auch Verantwortlichkeiten und Risiken auf Beschäftigte (und Kunden) übertragen werden („Management ist überall“).
2.
Rhetorik der Identitätspolitik in Unternehmen
Wie werden nun derartige „Images“ in der Unternehmenskommunikation rhetorisch gestaltet? In Anlehnung an einen Systematisierungsansatz zur diskursiven Konstruktion nationaler Identitäten (Wodak et al. 1998) unterscheiden wir analytisch zwischen „thematischen Ressourcen“, die für die Darstellung einer gemeinsamen Identität zur Verfügung stehen (Abschnitt 2.1), und komplexeren „Diskursstrategien“, nach denen in der identitätsbezogenen Kommunikation bestimmte kommunikative Handlungsziele verfolgt werden (Abschnitt 2.2).
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2.1
Thematische Ressourcen
Für die Darstellung einer gemeinsamen Identität steht auch im Fall von Unternehmen ein breites Spektrum von Themen zur Verfügung, die sich (anknüpfend an Wodak et al. 1998) zu fünf Feldern gruppieren lassen: die Konstruktion einer gemeinsamen Mentalität, eines umfassenden unternehmensbezogenen Menschenbildes, seiner charakteristischen kognitiven, emotionalen und moralischen Eigenschaften, auch in Abgrenzung von anderen Typen, die Konstruktion einer gemeinsamen Geschichte, die Verortung des einzelnen Adressaten in einem „historischen“ Handlungsraum, zum Beispiel durch Mythen und Erzählungen über die Gründung des Unternehmens, berühmte Protagonisten und deren Leistungen, die historische Mission, die Bewältigung von Krisen usw., die Konstruktion einer gemeinsamen Kultur, die Verortung der Adressaten in einem Feld geteilter Zeichen und Bedeutungen, zum Beispiel der Verweis auf gemeinsame kulturelle Alltagspraktiken, durch massenmediale Diskurse breit etablierte unhinterfragte Wissensbestände, den Sinn und ästhetischen Wert der hergestellten Produkte, geteilte Lebensstile usw., die Konstruktion einer gemeinsamen Gegenwart und Zukunft, die Verortung der Adressaten im Kontext geteilter Rahmenbedingungen, Herausforderungen, Risiken, Projekte, Visionen, die Konstruktion einer geteilten materiellen Umwelt, die Verortung der Adressaten in einem physischen Handlungsraum, dem „Standort“ eines Werkes, einer Region, einer Umgebung von Artefakten (Gebäuden, Maschinen usw.). Die Darstellung ausgewählter Verfahren wird im Folgenden durch authentische Beispiele illustriert, die größtenteils aus einer (vereinfacht) transkribierten Rede eines Industriemanagers (RT), zum kleineren Teil aus diversen (Zitaten von) Manageräußerungen in Pressetexten (PT) und aus innerbetrieblichen Medien (IT) stammen.1 Eine umfassende und differenzierte Analyse der einzelnen Texte ist im vorliegenden Beitrag nicht angestrebt.
1
Dabei greifen wir teilweise zurück auf Erkenntnisse aus einem Forschungsprojekt, das im Rahmen des Exzellenzwettbewerbes „Geisteswissenschaften gestalten Zukunftsperspektiven“, Themenperspektive „Friedfertige Gesellschaft“ durch das Ministerium für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen in den Jahren 2005/2006 gefördert wurde. Wir danken Clemens Knobloch, Tom Karasek und Ronald Hartz für vielfältige Anregungen und konstruktive Kritik im Rahmen der gemeinsamen Projektarbeit.
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2.1.1
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Die Mentalität unserer Mitarbeiter
Betrachten wir zunächst einige Beispiele zur Konstruktion einer gemeinsamen Mentalität. In dem folgenden Ausschnitt aus der Rede eines Industriemanagers geht es um die Umsetzung bestimmter, vom Management initiierten Veränderungsprozesse. Dabei wird als unabdingbare Mentalitätsdisposition von Führungskräften und Mitarbeitern des Unternehmens eine nicht mehr hinterfragte affirmative Einstellung zu derartigen Veränderungsprozessen postuliert und mit einem Negativbeispiel kontrastiert: „ich denk des war auch en bisschen personenbedingt, dass des so schwierig vorangegangen isch. heute hat sich der prozess deutlich verbessert und führungskraft N macht mit seiner mannschaft das thema schon fascht zu einer selbstverständlichkeit.“ (RT)
Vor diesem Hintergrund erscheint Management-Rhetorik auch als eine erzieherische Aufgabe. So werden im folgenden Ausschnitt Ansprüche des Managements an die Adressaten in Analogie zur Lust an Grenzerfahrungen in Extremsportarten („einen gewissen inneren KICK zu bekommen“) als positiv bewertete Mentalitätsdisposition von Führungskräften semantisch codiert; dabei nimmt der Redner die Rolle eines Trainers ein, der Anreize setzt und herausstreicht: „[…] um sie ein bisschen zu locken und zu kitzeln mit ihren aktivitäten und da auch noch sie entsprechend weiter nach vorne zu entwickeln. ja, wir werden mit den leitlinien jetzt eine, ich hab des schon mal gesagt, so eine zweite raketenstufe zünden. ich glaube es ischt der richtige zeitpunkt nach vier, fünf jahren, um nochemal ja einen gewissen inneren kick zu bekommen.“ (RT)
Dementsprechend werden in dieser Perspektive organisationale Veränderungsprozesse rhetorisch mit Erwartungen an die Veränderung des „ganzen Menschen“ geknüpft, so in dem folgenden Text aus der innerbetrieblichen Medienkommunikation: „Veränderungen sind für das Werk […] nichts Ungewöhnliches. Immer wieder und besonders in den letzten Jahren haben wir uns der Herausforderung gestellt, Produkte, Arbeitsprozesse und Fertigungsanlagen den Anforderungen der zunehmend globalisierten Märkte anzupassen. Dabei haben wir auch die Menschen hier im Werk verändert.“ (IT)
2.1.2
Unsere gemeinsame Geschichte
Der Inszenierung einer zustimmungspflichtigen, einheitlichen kollektiven Identität kann auf der Ebene der Sachverhaltsdarstellung auch die Verortung des Adressaten in einem historischen Handlungsraum dienen (vgl. zum Folgenden Hartz/Habscheid 2006). In diesen narrativen Formaten werden zeitliche Phasen und Relationen oft in einer schematisierten Weise repräsentiert, wobei kausale Pfadabhängigkeiten konstruiert und so erwünschte von unerwünschten Handlungen unterschieden werden.
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Die Sicht auf die „Vergangenheit“ ist häufig bestimmt durch deren Konstruktion als ein „Goldenes Zeitalter“, das Unternehmen erscheint als ein organisches, spannungsfreies Ganzes, als Träger wegweisender „Pionierleistungen“ und einer „großen Tradition“, so in den folgenden Formulierungen aus der innerbetrieblichen Medienkommunikation: „Wir haben bereits in der Vergangenheit Enormes geleistet.“ (IT) „Aus der Vergangenheit lernen, Zukunft sichern.“ (IT)
In diesem Sinne werden die Mitarbeiter als Teil, vor allem als verantwortliche Träger einer Erfolgsgeschichte identifiziert, die das Leben des Einzelnen – zeitlich und der Bedeutung nach – transzendiert. Dabei kann die Artikulation von Stolz und Selbstbewusstsein hinsichtlich der Unternehmensgeschichte einen wesentlichen Integrations- und Identifikationsmechanismus für die Mitarbeiter darstellen, der sich auch auf die Zukunft des Unternehmens erstreckt (vgl. ebd.). Zudem dient der Verweis auf die Erfolge der Vergangenheit als Plausibilisierungsressource für die Erfolgschancen zukünftigen Handelns: Was in der Vergangenheit erfolgreich war, so die implizite Argumentation, sollte auch in der Zukunft gelingen können (ein entsprechendes „Verantwortungsbewusstsein“ vorausgesetzt).
2.1.3
Unsere geteilte Kultur
Organisationen sind, empirisch betrachtet, in kultureller Hinsicht hoch heterogen, weil funktional ausdifferenziert und sozial stratifiziert. Dabei geht mit der Zerlegung von Aufgaben im Rahmen rationaler Organisation häufig eine Fragmentierung von Perspektiven und Rationalitäten einher, die im Grunde Facetten eines Sachzusammenhangs sind. Das Problem besteht vor allem darin, dass die an verschiedene funktionale Standorte gebundenen Perspektiven weder nach einer Rationalität miteinander verschmolzen werden sollen noch von einem der Akteure in ihrer ganzen Komplexität überblickt werden können (vgl. Habscheid 2003). Sprachlich manifestiert sich dies in einem hohen Maß an fachsprachlicher und sozialstilistischer Variation. Umso wichtiger sind für die identitätspolitischen Diskurse Ausdrucksweisen und Begriffe, die – über die verschiedenen Diskursgemeinschaften hinweg – anschlussfähig sind, und die dadurch Einwandsimmunität erlangen, dass sie entweder an Alltagswissen oder an massenmediale Begriffs-Konjunkturen und -Karrieren anschließen. Insgesamt haben wir es hier mit einem Appell an den Common sense zu tun. Interdiskursiv und einwandsimmun sind etwa Konzepte aus den Domänen der Populärkultur (Musik, Auto, Sport usw.) und des privaten Alltags (Freizeit, Familie, Gesundheit usw.) einschließlich entsprechender Werte und auch Emotionen (Hartz/Habscheid 2006), wie in den folgenden Beispielen aus der innerbetrieblichen Medienkommunikation:
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„Bei rund einem Dutzend Bands spielte [Schmitz] … bevor er 2004 mit seinen Kollegen [Bandname] gründete. […] „In unserer Band ist keiner dabei, der Flausen im Kopf hat und berühmt werden will.“„ (IT) „Ein Mann beißt sich durch“; „Geht nicht?“ sagt er mit festem Blick, „das gibt“s bei mir nicht.“ (IT) „[…] der Satz „Ich schaffe es nicht“ kommt in seinem Wortschatz nicht vor.“ (IT)
Die personalisierende Darstellung von Alltagspraktiken (Hobbys, Vorlieben etc.), von Ereignissen oder „Schicksalsschlägen“ einzelner Arbeitnehmer – häufig auch unter Verwendung umgangssprachlicher Ausdrücke – lässt sich zunächst als Verfahren zur Erzeugung von Aufmerksamkeit interpretieren. Es kann postuliert werden, dass eine derartige inhaltliche Schwerpunktsetzung die Attraktivität der Texte für breitere Adressatenkreise erhöht. Wesentlicher erscheint jedoch in unserem Zusammenhang die spezifische Konstruktion kultureller Alltagspraktiken am Beispiel von Personen, die als Identifikationsfolie und Vorbild dienen (vgl. ebd.). Im Schnittfeld der Domänen „Alltag“ und „Massenmedien“ liegen Schlagworte, deren Evidenz sich der alltagsökonomischen Vernunft erschließt, und die zusätzlich durch das Andocken an massenmedial etablierte Diskurse (vgl. Fairclough 2003) Einwandsimmunität erlangen (ebd.; Habscheid/Hartz 2007). Zu einem derartigen durch die Massenmedien und die gesellschaftlichen Eliten breit etablierten sozialen Wissenskomplex, dem innerhalb des gesellschaftlichen Mainstreams niemand widersprechen kann, gehören der unaufhaltsame Aufstieg Asiens („des Ostens“) auf einem freien und globalisierten Markt, einhergehend mit einem Preissturz auf den Arbeitsmärkten, verschärfter Konkurrenzsituation zwischen den Standorten und Protagonisten („die Mitbewerber“), zunehmender Verschuldung der Privathaushalte (in Amerika), steigender Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung (in Europa), sinkenden Lebensstandards in den Mittelschichten, Zurückdrängung der Gewerkschaftsmacht und der „westlichen Industriesaurier“, Krise des Sozialstaats, „Prekarisierung“ des „kleinen Mannes“. Zu den Schlagworten, mit denen diese komplexen Wissensbestände in verdichteter Form aufgerufen werden können, gehören u. a. Komposita mit den Wörtern Wettbewerb (Wettbewerbsdruck, Wettbewerbsvorteil, Wettbewerbssituation), Qualität (Qualitätsverbesserung, Produktqualität, Qualitätsmanagement usw.), Kosten (Kostenreduktion, -optimierung, Produktions-, Arbeitskosten usw.) und Kunde (Kundenwünsche, Kundenorientierung, Kundenbedürfnisse usw.) und semantisch verwandte Bezeichnungen: „wir stehn natürlich auch unter einem wettbewerbsdruck, der hat auf der einen seite ne komponente, des heißt osten und heißt im prinzipp äh kosten, und auf der anderen seite aber auch […] qualität, was machen die wettbewerber, wie machen se des und sie nähern sich, wenn man die vergangenen jahre anschaut, immer schneller an unsere premiumsqualität an und sie kommen uns immer näher, die kennen sie alle, ob die anfangen bei firma X oder ob die dann bei firma Y enden.“ (RT)
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„aber wir müssen an dieser kostenschraube drehn net nur wegen dem geld, sondern unsrer kunden zuliebe.“ (RT)
Auf der stilistischen Ebene ist neben den bereits erwähnten umgangssprachlichen Ausdrücken der Gebrauch des Dialekts auffällig, der – auf der Basis geteilter regionaler Zugehörigkeit – im Verhältnis zu den Adressaten „Nähe“ (in der horizontalen Dimension) und „Symmetrie“ (in der vertikalen Dimension) anzeigt, und so die formalen, organisationalen Statusunterschiede auf der Inszenierungsebene teilweise in den Hintergrund treten lässt.
2.1.4
Unser Los und unsere Zukunft
Die Sicht auf die „Gegenwart“ stellt sich heute vielfach komplexer und paradoxer dar (vgl. Hartz/Habscheid 2006; Habscheid/Hartz 2007): Häufig wird sie semantisch als „Herausforderung“ für das Unternehmen (und für die Gesellschaft insgesamt) codiert, für den Einzelnen erscheint sie damit einerseits als Schicksal und Sachzwang, dem man – als Teil des Ganzen – ausgeliefert ist: „wir sind immer in irgendeiner weise berührt (-) diese abwanderung von arbeitsplätzen in den osten (-) hat eine dramatische Form angenommen.“ (RT)
Mit dieser Sachverhaltsdarstellung eng verbunden ist die Konzeptualisierung der Globalisierung als quasi natürlicher Prozess ohne politische Akteure (Hermanns 2003), die etwa durch unpersönliche Konstruktionen (Arbeitsplätze gehen weg, wandern ab) oder den Gebrauch naturalisierender Metaphern (etwas nimmt eine Form an, kommt auf uns zu, lässt uns keine Atempause) sprachlich ausgedrückt wird: „es gibt zwei kennzahlen die ich mir jetz emal besorgt hab, ich weiß net genau wie genau es die bundesregierung weiß, aber äh in der bundesregierung gibts eine zahl die besagt, dass in den vergangenen jahrn etwa 600 bis 700 Tausend arbeitsplätze aus deutschland nach osten weggegangen sind.“ (RT) „des sag ich hier auch in aller deutlichkeit: so schwer wie in diesem jahr äh wars mir und auch dem managementkreis von der perspektive her noch gar nie gefallen, was da im prinzipp auf uns zukommt.“ (RT) „Der Wettbewerb lässt uns keine Atempause.“ (IT)
Dabei – und hierin liegen gewisse Paradoxien – soll jeder als seines Glückes Schmied gestaltend auf die Dinge Einfluss nehmen, wobei die Mitarbeiter einerseits als Subjekte adressiert werden, deren individuelles Denken, Wollen, Fühlen und Handeln gefragt ist, andererseits aber als Mitglieder des Kollektivs, von denen ein Verzicht auf Eigensinn und individuelle Autonomie erwartet wird:
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„und wie gesagt ich bin nicht angetreten um hier zum exitus des werkes zu blasen, sondern ich denke, wir alle mitnander haben die besten chancen, das thema aufzugreifen. dass des ne herausforderung ist, ischt glaub ich ihnen allen klar, aber wenn wir alle mitnander am richtigen strang ziehen, un des hammer in den letschten jahren bewiesen, werden wir des auch gemeinsam schaffen.“ (RT) „Jeder Einzelne muss sehen, dass das Wohl der Gemeinschaft auf dem Spiel steht.“ (IT)
Insoweit rhetorisch weniger eine Balance von Routine und Veränderung als eine Permanenz des Wandels inszeniert wird, verschwindet in derartigen Sachverhaltsdarstellungen (vgl. Hartz/Habscheid 2006) die „Gegenwart“ als ein Zeitraum (von zum Beispiel zwanzig Jahren im Umfeld der Redezeit), vielmehr markiert die Rede eine kurze Momentaufnahme „zwischen Wandel und Wandel“: „wir ham uns seit 1999 gewaltig weiterentwickelt; und wir stehn auch noch vor unglaublichen herausforderungen.“ (RT)
Die Darstellung der „Zukunft“ ist durch eine Bifurkation, die Darstellung zweier nur möglicher Entwicklungspfade gekennzeichnet, die häufig durch die Verwendung der Weichenmetapher rhetorisch verdichtet wird (vgl. ebd.): „Die Weichen für eine erfolgreiche Zukunft des Werks sind gestellt.“ (IT)
Das Eintreffen des einen oder des anderen Zukunftsszenarios wird dabei vom Verhalten der Adressaten abhängig gemacht: Im ersten Fall gelingt es den Beteiligten, wie in der Vergangenheit die Herausforderungen der Gegenwart erfolgreich zu „meistern“. Hierfür sind von den Adressaten entsprechende „Opfer“ zu erbringen, „jeder Einzelne muss sehen, dass das Wohl der Gemeinschaft auf dem Spiel steht“ (vgl. oben). Das zweite Zukunftsszenario lässt sich als Szenario des „Niedergangs“ beschreiben. Dazu wird – anknüpfend an entsprechende massenmediale Diskurse – eine Risiko- oder Angstkulisse entworfen, die insbesondere über die Konstruktion von Gegenspielern („der ferne Osten“, „die Mitbewerber“) interdiskursiv Plausibilität erlangt (vgl. ebd.): „wenn wir uns nicht verändern, dann werden wir verändert.“ (RT)
2.2
Diskursstrategien der Identitätspolitik
Welche Handlungsziele werden nun verfolgt, wenn Fragen der Unternehmensidentität rhetorisch verhandelt werden? – Anknüpfend an eine Typologie bei Wodak et al. (1998) lassen sich grundsätzlich fünf Typen von Strategien unterscheiden:
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konstruktive Strategien, nach denen die Adressaten eingeladen werden, sich einer WirGruppe anzuschließen bzw. sich von „anderen“ abzugrenzen, sich mit den jeweiligen sinnstiftenden Inhalten (vgl. 2.1) zu identifizieren, bewahrende Strategien, nach denen eine bedrohte Wir-Gruppe geschützt, gestützt, konserviert oder verteidigt werden soll; hierzu kann auch die Rechtfertigung des eigenen Verhaltens und die Relativierung von Schuld oder Fehlern gehören, Strategien der Transformation, nach denen eine angenommene kollektive Identität im Sinne der Perspektiven und Interessen des Sprechers verändert werden soll, Strategien der Demontage und Destruktion, nach denen eine angenommene kollektive Identität im Sinne der Perspektiven und Interessen des Sprechers delegitimiert werden soll. Im Folgenden werden zwei für die Unternehmenskommunikation typische Strategien anhand von Beispielen aus unserem Material dargestellt.
2.2.1
Inszenierung von „Einigkeit“
Besonders typisch für die Unternehmenskommunikation ist eine komplexe Diskursstrategie, die sich so charakterisieren lässt: (a) Auf der Ebene der Sachverhaltsdarstellung entwirft man das kontrafaktische Bild eines Kollektivs, das gekennzeichnet ist durch bruchlose Einheit und Einheitlichkeit, durch bedingungslose Einigkeit und Einmütigkeit: „Verlassen Sie sich darauf, dass wir in diesem Werk alle das Gleiche wollen. Die Führungskräfte, der Betriebsrat und ich haben die gleichen Ziele wie Sie als Mitarbeiter.“ (IT)
In pragmatischer Hinsicht wird damit (b) UNTERSTELLT, dass ein Konsens mit den Perspektiven und Interessen des Sprechers entweder schon besteht oder zumindest hergestellt werden kann und muss: „ich kann sie bloß alle mitnander auffordern: machen sie die nächsten schritte mit und gehen sie dort mit. […] nehmen sie mal immer diese angst und diese befürchtungen weg und tun se des au bei ihren mitarbeitern wegnehmen, weil vieles wird aus einem solchen hemmprozess gemacht.“ (RT)
Insgesamt haben wir es in solchen Fällen also mit „regulativen Sprachspielen“ (im Sinne Grünerts 1984) zu tun: In einer asymmetrischen Machkonstellation wird „von oben“ her Gefolgschaft und Zustimmung mit dem mächtigeren Sprecher eingefordert. Je nach Machtverhältnissen und Machtausübung kann dann (c) eine WARNUNG vor bzw. eine DROHUNG mit Exklusion derjenigen missverstanden werden, die eigensinnig auf abweichenden Positionen beharren.
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Dabei sind Streit, Konkurrenz und Disharmonie grundsätzlich für jedes soziale Gebilde ebenso kennzeichnend wie Konsens, Kooperation und Einigkeit. Auch wenn es mitunter im Interesse der Mächtigeren liegt, dies rhetorisch zu verschleiern: Immer wieder manifestieren, erneuern oder verändern sich in der alltäglichen Kommunikation vielfältige Gegnerschaften zwischen Einzelnen oder Gruppen, seien es Interessenkonflikte um knappe Mittel, Räume, Machtressourcen und Statuspositionen, seien es Konflikte um die Priorität von Werten, Normen, Lebenszielen usw. (Bühl 1976). Hinzu kommt, dass Organisationen Konflikte in vielerlei Hinsicht wahrscheinlicher machen: durch einen gewissen Zwang zum Autonomieverzicht, Forcierung des Wettbewerbs, Fragmentierung von Perspektiven u. a. m. Konsens ist also in Organisationen ein ebenso knappes wie begehrtes Gut. Während vor diesem Hintergrund ein „echter“ Konsens – im Sinne einer Einigung über die Teilhabe an Herrschaft und materiellen Ressourcen oder gar über Werte, Normen, Lebensziele usw. – nur schwer herstellbar erscheint, wird „Konsens“ – als Inszenierung in der öffentlichen Kommunikation und in Organisationen – mehr denn je benötigt (vgl. Habscheid/Hartz 2007). Paradox ist dabei allerdings, dass in derartigen programmatischen Texten zugleich die Mitarbeiter als Subjekte adressiert werden, deren je eigenes Denken, Wollen, Fühlen und Handeln gefragt ist: „Jeder Einzelne muss sehen, dass das Wohl der Gemeinschaft auf dem Spiel steht“ (vgl. oben). Dabei werden Verantwortung und Risiken auf den Einzelnen übertragen (‚jeder muss sehen“), zugleich aber sollen alle – im Sinne der dargelegten Sachzwanglogiken (vgl. Abschnitt 2.1) – das Gleiche sehen: was im Sinne des Managements aktuell zu tun ist. Hier wird deutlich, dass Verfahren der Identitätspolitik im Vergleich zu anderen regulativen Sprachspielen (z. B. bürokratische Regelungen, hierarchische Anweisungen usw.) dadurch charakterisiert sind, dass hier zugleich (d) der Eindruck von Persuasion und diskursiver Verständigung erzeugt werden soll. Das heißt, Macht wird nicht offen ausgeübt, sondern es wird ein argumentatives Sprachspiel inszeniert. Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass die Adressaten gar nicht – wie im Fall echter Argumentation (Kopperschmidt 1973) – von einer „überlegenen“ Option neben anderen überzeugt werden sollen, vielmehr zielt der Diskurs darauf, die zur Rede stehenden Sachverhalte dem Bereich des Strittigen und Argumentativen zu entziehen. Der Adressat soll quasi notwendig zur Übereinstimmung mit den im Diskurs gegebenen Weltdeutungen gelangen, indem der Programmcharakter, die Zustimmungspflichtigkeit, die Einwandsimmunität der Sachverhalte inszeniert werden.
2.2.2
Inszenierung permanenten Wandels
In der Unternehmenskommunikation wird allenthalben „Einigkeit“ inszeniert. Gleichwohl ist die gemeinsame kollektive „Identität“, auf die alle eingeschworen werden sollen, nicht einfach die tradierte, gegenwärtig gegebene, sondern immer eine künftige, noch herzustellende, die der gegenwärtigen überlegen ist (vgl. Abschnitt 2.1.4). Damit geht einher, dass die gegenwärtig gültigen Sinnstrukturen permanent in Frage gestellt werden, Wandel zum Ausgangspunkt des Wandels wird:
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„ich erinner mich noch ganz gut dran, als wir im Sommer 199x einen veränderungsprozess gestartet haben un ne ähnliche veranstaltung wie die heutige gemacht haben […]“ (RT)
Letztlich zielt diese Strategie darauf, als Identifikationsfläche einen idealen Mitarbeiter zu entwerfen, der das permanente Streben nach Selbstoptimierung im Rahmen des (durch Kennzahlen konkretisierten) organisationalen Relevanzsystems zum Prinzip seiner biographischen Identität erhebt.
3.
Diskussion: Reichweite und Grenzen
Idealtypisch pointiert steht damit ein Ansatz zur Diskussion, der nicht auf eine direkte Regulation des Verhaltens zielt, sondern darauf, die kulturellen Kontexte zu gestalten, in denen sich die Mitarbeiter orientieren. Charakteristisch für diesen Typus regulativer Sprachspiele ist eine komplizierte Kombinatorik von individualisierender Ansprache (‚jeder einzelne muss sehen …“) und homogenisierender Identitätskonstitution (‚… dass wir uns Eigensinn und Disharmonie nicht leisten können“). Im Mittelpunkt steht die kommunikative Implementierung und subjektive Internalisierung von Selbstbeherrschungstechniken (Burchell et al. 1991), nach denen sich der Einzelne im Interesse der Organisation aus eigenem Antrieb fortwährend selbst in die Pflicht nimmt. Zu den hier relevanten rhetorischen Verfahren gehören: die Konstruktion einer „gemeinsamen“ Mentalität, eines umfassenden, unternehmensbezogenen Menschenbildes, seiner charakteristischen kognitiven, emotionalen und moralischen Eigenschaften, auch in Abgrenzung von anderen Typen, mit entsprechenden Ansprüchen an die (pädagogisch gesteuerte Entwicklung der) Adressaten (vgl. Abschnitt 2.1.1), die symbolische Verortung der Adressaten in einem historischen, kulturellen, ökonomischen und physischen Handlungsraum, die Konstruktion kausaler und temporaler Pfadabhängigkeiten (vgl. Abschnitte 2.1.2 ff.), die Arbeit mit interdiskursiven und einwandsimmunen Begriffen: der alltagsökonomischen Vernunft, der massenmedialen Diskurse, der Populärkultur und der privaten Lebenswelt (vgl. Abschnitt 2.1.3), die Unterstellung von Konsens bei gleichzeitiger Warnung vor (Selbst-)Exklusion (vgl. Abschnitt 2.2.1),
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die Inszenierung und das Lob des Wandels als Prinzip permanenter biographischer Selbstoptimierung im Rahmen des (durch Kennzahlen konkretisierten) organisationalen Relevanzsystems (vgl. Abschnitt 2.2.2). Im Vergleich zu traditionellen Verfahren der organisationalen Steuerung (Bürokratie, Hierarchie) zielt dieser Ansatz darauf, die subjektiven Ressourcen der Organisation, die Potenziale des einzelnen Mitarbeiters mehr als bisher auszuschöpfen. Dazu wird eine Rhetorik gewählt, die – eingebettet in asymmetrische Beziehungskonstellationen – auf subjektive Einsicht der Adressaten zielt, dabei aber zugleich den Raum des subjektiv Sag-, Denk- und Machbaren mehr oder weniger eng zu begrenzen versucht. In Verbindung mit formell begründeten Machtverhältnissen stellt dieses Verfahren ein organisationales Steuerungsinstrument dar. Es birgt aber unter Umständen auch gewisse Widersprüche und Risiken: die Gefahr einer Überbetonung von „Veränderung“, damit einer erschwerten Verständlichkeit unter Gesichtspunkten biographisch-narrativer Kohärenzbildung (vgl. Abschnitt 1.1) und einer völligen Entwertung bewährter alltäglicher Routinen des Handelns, die Gefahr einer Überbetonung von „Einigkeit“, der Etablierung eines übermäßigen Anpassungsdrucks, der Entwertung etablierter Verfahren der Konfliktbearbeitung (vgl. Abschnitt 2.2.1), die Gefahr der Unglaubwürdigkeit durch Inszenierung von „Harmonie“ bei gleichzeitig „gefühlter Macht“ und der Forcierung von Konflikten (Warnung vor / Drohung mit Exklusion) (vgl. Abschnitt 2.2.1), der Widerspruch zwischen der Adressierung des eigensinnigen Subjekts und der Erwartung übermäßiger Einmütigkeit und Gefolgschaft (vgl. Abschnitt 2.2.1), der Widerspruch zwischen dem Appell an Eigenverantwortung und der Darstellung unabdingbarer Sachzwänge, denen der Einzelne hilflos ausgeliefert ist (vgl. Abschnitt 2.1.4), der Widerspruch zwischen Zukunftsoptimismus und apokalyptischen Angstkulissen, zwischen Motivation und Demotivation (vgl. Abschnitt 2.1.4). Unter Umständen wird vor diesem Hintergrund lediglich der Raum des öffentlichen Sagbaren kontrolliert, während in der subjektiven Wahrnehmung bzw. in der privaten und informellen Kommunikation kontraproduktive Ängste, Vorbehalte, Widerstände und, darauf basierend, sozial schädliche Verhaltensmuster vorherrschen. Gefragt ist daher in der professionellen Unternehmenskommunikation Fingerspitzengefühl für die Reichweite und die Grenzen von Identitätspolitik und ein Bewusstsein für den Wert komplementärer kommunikativer Verfahren, die – im Rahmen hierarchischer Asymmetrien – auf ein angemessenes Maß an Pluralität, Transparenz und „echter“ Verhandlung setzen.
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Identität und Sensemaking
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WODAK, R. ET AL. (1998): Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, Frankfurt/M. WOLF, R. (1999): „Soziale Positionierung im Gespräch“, in: Deutsche Sprache 27,1., S. 69-94
Worte und Werte
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Worte und Werte Der semiometrische Ansatz im Redemanagement Vazrik Bazil / André Petras
Wenn „Reden“ über Sprache hinaus auch Körpersprache und Stimme umfassen und in ihrer Wirkung von vielen anderen Elementen abhängen, wie Ort, Raum, Inszenierung, Dramaturgie, Anlass, Bekanntheit des Redners, Vertrautheit mit dem Thema usw., bleibt die Sprache ihr mächtigstes Instrument. Erst sie ermöglicht es all diesen Elementen, ihre Wirkung überhaupt entfalten zu können1. Zum redetauglichen Umgang mit ihr bieten die klassische und moderne Rhetorik nützliche Hinweise – von stilistischen Empfehlungen über die Wirkung von Wort- und Satzfiguren bis zu Gliederungsformen2. Wer diese Kunstgriffe beherzigt, kann besser reden und Reden für andere besser vorbereiten. Ein neuer sprachlicher Ansatz, der sich in das Gebilde dieser Kunstgriffe einfügt, ist die Semiometrie – eine Methode, die das Meinungsforschungsinstitut TNS Infratest zur psychografischen Erfassung von Zielgruppen entwickelt hat, und in verschiedenen Feldern des Marketing (Markenpositionierung, Co-Branding, qualitative Mediaplanung, Sponsoring, Testimonials, Namenstest, Trendforschung usw.) einsetzt. Im Gegensatz zu vielen anderen Tipps und Tricks der Rhetorik bietet die Semiometrie einen entscheidenden Vorteil: Sie ist messbar; man kann empirisch nachweisen, ob ihre Anwendung greift oder nicht, zum Beispiel in Reden, und wie man die Wirkung der Rede steigern kann. Nachfolgend soll diese Methode kurz umrissen und an einem Beispiel verdeutlicht werden.
1
2
Vgl. „Welchen Anteil haben Text, Erscheinungsbild des Redners, Betonung und Gestik an der Gesamtwirkung eines Vortrags?“. Eine Studie des Verbandes der Redenschreiber deutscher Sprache und der Deutschen Public Relations Gesellschaft durchgeführt von Institut für Demoskopie Allensbach und das Institut für Publizistik der Universität Mainz, Juni 2007 Volmer, Ueding, Trotha
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1.
Vazrik Bazil / André Petras
Semiometrie
Semiometrie ist ein Instrument aus der Zielgruppenforschung und ermittelt Kenntnisse über die relevanten psychografischen Eigenschaften von Anspruchsgruppen. In der Zielgruppenforschung hat sich längst die Einsicht durchgesetzt, dass überwiegend auf soziodemografischen Variablen beruhende Abgrenzungen nicht hinreichend trennscharf sind. Unterschiede im Verhalten und in den Einstellungen von Individuen entsprechen oft nicht den gängigen Variablen wie „Geschlecht“, „Alter“, „Bildung“, „berufliche Stellung“ etc. Vielmehr gehen diese Unterschiede aus grundlegenden psychografischen Merkmalen hervor, die sich insbesondere in Wertehaltungen widerspiegeln. In der Wissenschaft herrscht eine breite Übereinstimmung darüber, dass Werte Verhaltensweisen von Menschen zu erklären vermögen. So beschreibt zum Beispiel Kroeber-Riel eingehend den grundlegenden Einfluss von Werten auf Verhalten und Einstellungen (vgl. Kroeber-Riel 1992, S. 580 f.). Trommsdorff definiert Werte als „Breitband-Prädiktoren für Verhaltensmuster“ (Trommsdorff 1989, S. 147 ff.).
Veranlagungen
Soziodemografie
Werte
Normen / Rollenklischees
Messung mit Semiometrie™
Verhalten Einstellungen Bedürfnisse Motive etc.
o o o o
Konsumverhalten Mediennutzung Lifestyles etc.
Erziehung / Milieu Kultur
Abbildung 1:
2.
Der Einfluss von Werten auf das Verhalten
Messung von Wertesystemen
Das Semiometrie-Modell ist ein indirektes Messverfahren, welches die Wertehaltungen von Individuen über einen indirekten Messansatz mittels der Bewertung von 210 Begriffen misst. Dieses indirekte Vorgehen vermeidet insbesondere unerwünschte Rationalisierungseffekte
Worte und Werte
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sowie Verzerrungen aufgrund von sozial erwünschtem Antwortverhalten. Die 210 Begriffe dienen als Indikatoren für die indirekte Messung der Wertehaltungen („Semio“ = Wörter / „metrie“ = messen). Jeder Befragte beurteilt dabei jeden der 210 Begriffe bezüglich seiner spontanen, affektiven Assoziationswirkung. Die Bewertung erfolgt mittels einer 7-stufigen Skala von „–3 = sehr unangenehm“ bis „+3 = sehr angenehm“.
Semiometrie™ Das Messmodell mit 210 Begriffen Î Die Befragten geben durch Markierung eines Skalenpunktes zu jedem Wort an, inwieweit es in ihnen ein angenehmes oder unangenehmes Gefühl hervorruft.
Abbildung 2:
Bewertung der 210 Semiometrie-Begriffe
Diese 210 Begriffe wurde im Rahmen umfangreicher Validierungsstudien ausgewählt, die Mitte der 1980er Jahre von der Marktforschungsgruppe TNS Taylor Nelson Sofres durchgeführt wurden. Um das Wertesystem einer spezifischen Zielgruppe mit Hilfe des SemiometrieModells zu ermitteln, wird eine repräsentative Erhebung der 210 Semiometrie-Begriffe durchgeführt.
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SOZIALITÄT
PFLICHT
LEBENSFREUDE
INDIVIDUALITÄT
Quelle: tnsinfratest (Semiometrie Basisbefragung 2007) Abbildung 3: Semiometrie Basismapping 2007 Die Hauptachsen werden von den beiden Faktoren „Sozialität – Individualität“ sowie „Pflicht – Lebensfreude“ gebildet. Innerhalb des Basismappings weist die Position der einzelnen Begriffe auf deren statistischen Zusammenhang (=Korrelation) mit den jeweiligen Achsen hin. Der Begriff „miteinander“ ist zum Beispiel sehr dicht am Pol „Sozialität“ angesiedelt und steht damit stellvertretend für ein eher altruistisch geprägtes Menschenbild, in welchem der Einzelne als integrativer Bestandteil einer Gemeinschaft, einer Familie, eines Freundeskreises etc. verstanden wird. Dem entgegen spiegelt der Pol „Individualität“ ein stark individualistisch geprägtes Selbstverständnis des Einzelnen wider, der sich in seiner Umwelt durchsetzt, der offensiv ist, Konflikte annimmt und seine Umwelt kritisch hinterfragt. Der Pol „Lebensfreude“ repräsentiert Hedonismus und Emotionalität. Hier finden sich insbesondere extrovertierte und stark bedürfnisorientierte Zielgruppen wieder, während der Pol „Pflicht“ für eine eher traditionell-konservative Grundhaltung steht. In Anlehnung an Freuds Strukturmodell und Trieblehre lassen sich die beiden Achsen zudem auch psychoanalytisch interpretieren. Sie können als gegensätzliche, sich zum Teil ausschließende Wünsche interpretiert werden, die als innere Konflikte die Wertesysteme von Individuen strukturieren. Das Gegensatzpaar „Pflicht – Lebensfreude“ steht demnach für den psychischen Konflikt zwischen Über-Ich und Es. In Freuds strukturellem Persönlichkeitsmodell ist das Es der triebgesteuerte Pol der Persönlichkeit, der nach Freiheit und nach dem Ausleben von Trieben strebt. Das Über-Ich, gebildet durch eine Verinnerlichung der elterlichen Verbote und Forderungen, ist demgegenüber eine moralische Instanz, die urteilt und kritisiert (vgl. Freud 1994, Laplanche/Pontalis 1998).
Worte und Werte
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In dem Gegensatzpaar „Sozialität – Individualität“ spiegelt sich entsprechend der Konflikt zwischen dem Trieb der Lebenserneuerung und -erhaltung (Eros/Sexualtrieb) sowie dem Destruktionstrieb wider, der von Freud wie folgt beschrieben wird: „Ziel des ersten ist, immer größere Einheiten herzustellen und so zu erhalten, also Bindung, das Ziel des anderen im Gegenteil, Zusammenhänge aufzulösen und so die Dinge zu zerstören.“ (Freud 1997, S. 45). Neben den beiden Hauptachsen des Basismappings lassen sich noch weitere, grundlegende Werteebenen identifizieren. Diese werden innerhalb des Semiometrie-Systems über die 14 Wertefelder abgebildet. Jedes Wertefeld wird dabei über die 10 Begriffe definiert, die auf dem entsprechenden Faktor die höchste Ladung aufweisen und die folglich die jeweilige Wertorientierung am stärksten repräsentieren.
Familiäres Wertefeld: Orientierung an der Familie als Basis menschlichen Miteinanders, mit Werten wie Geborgenheit, Frieden und Stabilität assoziiert werden. Charakteristische Worte: Kindheit, Familie, Geburt, mütterlich, Mut, Heirat, Sanftheit, Friede, Zuneigung, Besinnung.
Soziales Wertefeld: Orientierung an vertrauensvollen zwischenmenschlichen Beziehungen und einem harmonischen Leben in Gemeinschaft; Solidarität und gegenseitige Hilfe. Charakteristische Worte: Fröhlichkeit, ehrlich, Treue, heilen, lachen, miteinander, Vertrauen, Blume, Freundschaft, Humor.
Religiöses Wertefeld: Orientierung am Glauben an Gott sowie an Ritualen und moralischen Werten, die damit verbunden sind; christliche Solidarität. Charakteristische Worte: Gott, Glaube, heilig, Priester, Schöpfer, anbeten, Seele, barmherzig, bewundern, ewig.
Materielles Wertefeld: Orientierung an Besitz, Konsum und finanzielle Sicherheit; Demonstration von Wohlstand, Streben nach materiellem Eigentum. Charakteristische Worte: Reichtum, Gold, Geld, Ruhm, Eigentum, erben, edel, Schmuckstück, wertvoll, Eleganz.
Verträumtes Wertefeld: Orientierung an idealistischen Werten und Suche nach einem positiven Gegenstück zur Realität; ein Leben im Einklang mit der Natur; eine sozial-romantische Grundhaltung. Charakteristische Worte: Ozean, Wasser, Insel, schwimmen, Mond, Strom, Baum, blau, Tier, Zauber.
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Lustorientiertes Wertefeld: Hedonistische Orientierung, die mit einem Streben nach sinnlich-leidenschaftlichen Erfahrungen einhergeht. Darüber hinaus zeigt sich ein positives Verhältnis zum Körperlichen und der Sexualität. Charakteristische Worte: sexuell, intim, verführen, Nacktheit, lustvoll, Verlangen, Zärtlichkeit, männlich, sinnlich, Liebkosung.
Erlebnisorientiertes Wertefeld: Orientierung an neuen Herausforderungen und Abenteuern. Suche nach Erfahrungen mit starker emotionaler Erlebnisqualität. Charakteristische Worte: Gipfel, hochklettern, Berg, Wüste, Anstrengung, Geschwindigkeit, Abenteuer, Feuer, Herausforderung, wild.
Kulturelles Wertefeld: Intellektuelle Orientierung, die ihren Ausdruck u. a. im Interesse an Theater, Kunst und Literatur findet; ein positives Verhältnis zu Ritualen und Symbolen. Charakteristische Worte: Kunst, Theater, Poesie, Buch, Lebenskünstler, schreiben, Musik, Leichtigkeit, Zeremonie, grün.
Rationales Wertefeld: Orientierung an dem, was man sehen, fühlen, messen und beweisen kann. Entscheidungen und Verhaltensweisen orientieren sich anhand objektiv nachvollziehbarer Kriterien. Pragmatismus und das Streben nach wissenschaftlicher Präzision sind bestimmend. Charakteristische Worte: Erfinder, Forscher, Wissenschaft, Erbauer, Industrie, Handel, produzieren, Logik, Präzision, konkret.
Kritisches Wertefeld: Orientierung an kritischer Vernunft und am Abwägen von Alternativen; ein positives Verhältnis zu „Distanz“, „Zweifel“ und „Misstrauen“; ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Charakteristische Worte: Misstrauen, Zweifel, Fehler, Angst, Gefahr, Aufstand, kritisieren, Leere, Schrei, hartnäckig.
Dominantes Wertefeld: Orientierung an sozialen Hierarchien sowie Streben nach Einfluss. Aber auch Bereitschaft zur Unterordnung und Akzeptanz von gesellschaftlichen Rangordnungen. Charakteristische Worte: befehlen, beherrschen, Macht, strafen, verbieten, gehorchen, erobern, List, demütig, Maske.
Kämpferisches Wertefeld: Streben nach Veränderungen und Auflösung von verkrusteten Zuständen. Offensive und konfliktfreudige Grundhaltung. Charakteristische Worte: Soldat, Gewehr, Krieg, Rüstung, angreifen, Jagd, Mauer, Sieg, Elite, metallisch.
Worte und Werte
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Pflichtbewusstes Wertefeld: Wertehaltung, die durch Disziplin, Pflichterfüllung und Arbeitsmoral geprägt ist. Positive Einstellung zur bestehenden Ordnung; tüchtig und gleichzeitig bescheiden. Charakteristische Worte: Sparen, Schule, Disziplin, Gesetz, tüchtig, unterrichten, Regel, Arbeit, Vernunft, Respekt.
Traditionsverbundenes Wertefeld: Orientierung an traditionellen Tugenden wie Heimatverbundenheit, Ehre, Moral und Standhaftigkeit. Charakteristische Worte: Ehre, Vaterland, Moral, Standhaftigkeit, Tradition, Vollkommenheit, Vorsicht, Held, Kühnheit, Unendliche.
sozial rational
SOZIALITÄT
religiös verträumt
PFLICHT
LEBENSFREUDE
traditionsverbunden
erlebnisorientiert INDIVIDUALITÄT
kämpferisch
Quelle: tnsinfratest (Semiometrie Basisbefragung 2007) Abbildung 4: Semiometrische Wertefelder I
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familiär
materiell SOZIALITÄT
kulturell lustorientiert
pflichtbewusst
PFLICHT
LEBENSFREUDE
dominant INDIVIDUALITÄT
kritisch
Quelle: tnsinfratest (Semiometrie Basisbefragung 2007) Abbildung 5: Semiometrische Wertefelder II Es ist wichtig, die 14 Wertefelder nicht mit „Wertetypen“ zu verwechseln, wie sie zum Teil in anderen Modellen der wertorientierten Zielgruppenbeschreibung oder in LebensstilTypologien verwendet werden. Denn im Semiometrie-Modell werden die Personen einer Zielgruppe nicht einem einzigen Wertesegment zugeordnet, sondern es wird jeweils die Affinität oder Distanz zu allen Wertebereichen beschrieben. Das heißt: wie in der Realität, so ist es im Semiometrie-Modell durchaus möglich, sowohl eine „soziale“ als auch eine „rationale“ Grundhaltung zu haben. Beide Wertorientierungen schließen sich gegenseitig nicht aus. Das semiometrische Werteprofil von untersuchten Zielgruppen wird innerhalb des zweidimensionalen Basismapping dargestellt. Begriffe, die von der untersuchten Zielgruppe im Vergleich zur Gegengruppe (Nicht-Zielgruppe; i. d. R. Restbevölkerung) signifikant angenehmer bewertet werden, erhalten eine schwarze Hinterlegung. Signifikant unangenehmer eingestufte Begriffe werden hingegen weiß hinterlegt. Zusätzlich gibt es noch einen sogenannten Wertesteckbrief, der die aus dem Mapping ableitbare Kerncharakteristik auf den 14 Wertefeldern zeigt. Das folgende Beispiel zeigt das Werteprofil von Personen mit hoher Präferenz für politische TV-Sendungen:
Worte und Werte
Penetration: 31%; n=1.321 Fälle Basis: Bevölkerung 14+ Jahre (4.300 Fälle)
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familiär sozial religiös materiell verträumt lustorientiert erlebnisorientiert kulturell rational kritisch dominant kämpferisch pflichtbewusst traditionsverb.
-+++ +++ ++ +
Quelle: tnsinfratest (Semiometrie Basisbefragung 2006) Abbildung 6: Semiometrie-Mapping von Personen mit hoher Präferenz für politische TVSendungen Aus dem semiometrischen Mapping wird deutlich, dass Personen mit einer Vorliebe für politische TV-Sendungen insbesondere durch eine ausgeprägt rationale und kulturelle Wertehaltung geprägt sind (rational: z. B. Forscher, Wissenschaft, nachdenken; kulturell: z. B. Kunst, Theater, Poesie, Buch). Hinzu kommt eine traditionsverbundene und pflichtbewusste Grundorientierung. Begriffe aus dem erlebnisorientierten Wertespektrum (Abenteuer, wild, Feuer) werden dagegen im Vergleich zur Restbevölkerung als deutlich unangenehmer eingestuft. Aus dem Werteprofil der Zielgruppe lassen sich wertvolle Hinweise zur Ableitung zielgruppenadäquater Kommunikationsmaßnahmen gewinnen. So sollte die hier untersuchte Zielgruppe insbesondere auf einer pragmatischen, argumentativen und sachlichen Ebene angesprochen werden. Emotionale Aspekte sollten dagegen wenig bzw. kaum hervorgehoben werden. Neben der sprachlichen Optimierung von Kommunikationskonzepten lassen sich anhand der semiometrischen Analysen auch vielfältige Empfehlungen bezüglich der Auswahl passender Media-Umfelder in TV, Print und Direktmarketing ableiten. Wie können Redner oder Redenberater die Kenntnisse der Semiometrie in der Konzeption und Abfassung von Reden einsetzen? Das folgende Beispiel verdeutlicht diese Methode (vgl. auch Bazil 2005).
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3.
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Beispiel
Der nachfolgende Text ist ein Auszug aus einer Rede von Jürgen Dormann, Vorstandsvorsitzender der Hoechst AG, die er anlässlich der 100. Baden-Badener Unternehmergespräche über das Thema „Zum Verhältnis zwischen Unternehmer und Medien“, am 10. April 1997 in Frankfurt/Main, hielt. In unserem Blickfeld steht hier der Werterahmen des Textes – weder die Anordnung der Argumente noch der Einstieg, weder der Schluss noch die Bildhaftigkeit der Sprache, weder die Botschaft noch der Stil. Die einzige Frage, mit deren Beantwortung wir uns hier befassen, lautet: Welche Sprache soll der Redner benutzen, wenn er ein wertemäßig klar definiertes Publikum erreichen will? Zunächst lesen wir Auszüge aus dem Originaltext, eingeteilt in zehn Passagen:3 1) „… Mir geht es nicht um Medienpolitik in engerem Sinne, sondern um die Auswirkungen der Medienflut und des Ozeans an Kommunikationen auf unser Leben, unsere Arbeit, auf das Unternehmer-Sein. Vor zwanzig Jahren war „Kommunikation“ kein Gegenstand der Diskussion außerhalb geistes- und sozialwissenschaftlicher oder elektrotechnischer Fachkreise. Wenn überhaupt, überwog die technische Deutung: Kommunikation wurde meist benutzt im Sinne von: Verbindung, Verkehr. Wenn „die Kommunikation abgebrochen“ war, dann wegen eines Leitungsschadens, und die „Kommunikationslinie“ bezeichnete eine Omnibusstrecke.
2) Heute sprechen wir von der „Informationsgesellschaft“. Wie kam es zu dieser Karriere eines im Grunde doch recht abstrakten Begriffs? Treibende Kraft war und ist der Fortschritt in der Informationstechnologie. Sende- und Empfangsgeräte, Speichermedien, Übertragungskapazitäten, – Nachrichtensatelliten! – Digitalisierung, elektronische Hard- und Software haben sich in den vergangenen 20 Jahren schneller entwickelt als irgendein anderes Technikfeld. Selbst kühne Zukunftsprognosen wurden innerhalb weniger Jahre übertroffen; die Dynamik und Komplexität der Entwicklung überforderte regelmäßig die Vorstellungskraft.
3) Die erweiterte und beschleunigte Kommunikation wirkt sich auf alle anderen Funktionen der Gesellschaft aus: auf die Art, wie wir wirtschaften, forschen, lehren, lernen, Politik betreiben – oder olympische Spiele erleben. Die Gesellschaft beschäftigt sich auch deshalb intensiver mit Fragen der Kommunikation, weil sie offenbar zunehmend Verständigungsprobleme hat. Früher waren Weltbild und Wahrnehmung in sich abgeschlossener und homogener, heute sind sie offener und komplexer. Hinzu kommt die Beschleunigung gesellschaftlicher Prozesse durch Kommunikation.
3
Im Originaltext sind die Schlüsselbegriffe und deren Synonyma kursiv gesetzt und die Änderungen fett in der Neufassung.
Worte und Werte
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4) Welche Auswirkungen hat die beschleunigte Kommunikation auf Unternehmen, ihre Mitarbeiter und Führungskräfte? Unser Geschäft in der chemischen Industrie sind Moleküle, nicht Bits. Angesichts der dynamischen Veränderungen in der Informationsgesellschaft hängt aber unser Erfolg, wie der aller Unternehmen, zunehmend von der Beherrschung von Kommunikation und der Ausstattung mit leistungsfähiger Informationstechnologie ab. Moleküle werden zunehmend durch Bits gesteuert.
5) Das Geschehen in der Wirtschaft erscheint an sich überaus spannend. Forschung und Entwicklung, Themen des Umweltschutzes und der Sicherheit, Produktionsprozesse, Arbeitsabläufe, die Lösung logistischer Fragestellungen, all dies ist ausgesprochen interessant und von hoher Relevanz für unsere Gesellschaft.
6) Manager müssen lernen, allgemein verständlich, authentisch, offen und spontan vor die Öffentlichkeit treten zu können. Nur wenn sich eine breite Öffentlichkeit ein realistisches Bild vom Wirtschaftsleben machen kann, wird die Debatte über Standortqualität, das Eingehen und Beherrschen von Risiken, die Einstellung zu neuen Technologien bis hin zur Diskussion über Unternehmensethik rational und ausgewogen geführt werden können.
7) Das erfordert von uns Unternehmern ein Öffnen der Werkstore, ein Aufheben vieler traditionell bestehender Grenzen zwischen einem Unternehmen und der Öffentlichkeit. Dieser Prozess der Entgrenzung ist in vollem Gange. Er bezieht sich auf den Umgang mit den Medien, darüber hinaus bei Produktionsbetrieben auf den Umgang mit Nachbarn und dem direkten Umfeld. Bei Störfallbetrieben, die ein Risikopotenzial auch für die Nachbarschaft besitzen, müssen die Menschen im Umfeld mit in die Sicherheitskonzepte des Unternehmens eingebunden sein.
8) Viele Nachbarn des Standortes sind Mitarbeiter des Unternehmens und umgekehrt. Die Entgrenzung im Unternehmen sollte dazu führen, dass es keine Spaltung im Bewusstsein und im Verhalten des Einzelnen gibt als Mitglied der Gesellschaft oder als Mitglied des Unternehmens. Der Mitarbeiter sollte die öffentliche Kritik vorwegnehmen und konstruktiv ins Unternehmen hineintragen können.
9) Was sich so einfach und selbstverständlich anhört, ist eine große Herausforderung an die Führung im Unternehmen und ihr Rollenverständnis. Führen durch Vorbild heißt in diesem Zusammenhang: Informationen weitergeben, nicht Herrschaftswissen ansammeln, eigene soziale und kommunikative Kompetenz erwerben und weitergeben, insgesamt seine Führungsrolle deutlich als eine kommunikative Aufgabe zu sehen: der Manager als Medium.
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10) Entgrenzung erfordert gleichzeitig eine neue Form der Loyalität gegenüber dem Unternehmen. In einem offenen Unternehmen kann Loyalität nicht darin bestehen, sich passiv und kritiklos gegenüber dem Unternehmen zu verhalten. Loyalität in einem offenen Unternehmen heißt mitzudenken, Fragen zu stellen, Veränderung anzustoßen, das Unternehmen nicht gedankenlos anzugreifen oder gegen Angriffe zu verteidigen, sondern mögliche Angriffspunkte zu erkennen und gemeinsam im Unternehmen zu bereinigen. Das Loyalitätsverständnis der Führung gegenüber dem Mitarbeiter kann in einem offenen Unternehmen nicht der patriarchalische Schutz in der Sicherheit der Wagenburg sein, sondern Loyalität besteht darin, den Mitarbeiter zu stärken und mit den Fähigkeiten und Informationen auszustatten, die er für eigenständiges Arbeiten braucht. Das Wichtigste bleibt das Gespräch zwischen Menschen“.
Dieser Redetext beinhaltet verschiedene Wertefelder, die anhand bestimmter Schlüsselbegriffe oder deren sinnverwandten Ausdrücken erkennbar sind. Die folgende Tabelle greift einige der kursiv unterlegten Wörter auf, ordnet sie, wenn nicht schon selbst Basisbegriffe, den entsprechenden Schlüsselbegriffen zu und nennt das dazugehörige Wertefeld: Wörter
Schlüsselbegriff
Wertefeld
Flut
„Wasser“, „Ozean“
Ozean
„Ozean“
verträumt verträumt
Arbeit
„Arbeit“
pflichtbewusst
Unternehmer-Sein
„hochklettern“, „gipfel“
erlebnisorientiert sozial
Verbindung
„miteinander“
Leitung
„Industrie“, „produzieren“
rational
Fortschritt
„Wissenschaft“
rational
Sende- und Empfangsgeräte
„Industrie“, „produzieren“
rational rational
Speichermedien
„Industrie“, „produzieren“
Übertragungskapazitäten
„Industrie“, „produzieren“
rational
Nachrichtensatelliten
„Industrie“, „produzieren“
rational
Digitalisierung
„Industrie“, „produzieren“
rational rational
elektronische Hardware
„Industrie“, „produzieren“
Software
„Industrie“, „produzieren“
rational
Technik
„Industrie“, „produzieren“
rational
Funktionen
„Industrie“, „produzieren“
rational rational
forschen
„Forscher“
lehren
„unterrichten“
pflichtbewusst
lernen
„unterrichten“
pflichtbewusst
Spiele
„Kindheit“
familiar
erleben
„Abenteuer“
erlebnisorientiert
Worte und Werte
Wörter
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Schlüsselbegriff
Wertefeld
Gesellschaft
„miteinander“
sozial
beschleunigt
„Geschwindigkeit“
erlebnisorientiert
dynamische
„Geschwindigkeit“
erlebnisorientiert
Bits
„Industrie“, „produzieren“
rational
Moleküle
„Industrie“, „produzieren“
rational
spannend
„Abenteuer“
erlebnisorientiert
Forschung
„Forscher“
rational
Entwicklung
„Forscher“
rational
Sicherheit
„beschützen“
sozial
Prozesse
„produzieren“
rational
Arbeitsabläufe
„produzieren“
rational
logistisch
„produzieren“, „Logik“
rational
beherrschen
„beherrschen“
dominant
Risiken
„Abenteuer“
erlebnisorientiert
Technologien
„Erfinder“, „produzieren“
rational
Unternehmensethik
„Moral“
traditionsverbunden
rational
„Logik“
rational
traditionell
„Tradition“
traditionsverbunden
Grenzen
„Krieg“, „Flucht“
kämpferisch
Produktionsbetriebe
„produzieren“
rational
Nachbarn
„miteinander“
sozial
Gesellschaft
„miteinander“
sozial
Kritik
„Zweifel“
kritisch
Herausforderung
„Abenteuer“
erlebnisorientiert
Herrschaftswissen
„beherrschen“
dominant
sozial
„miteinander“, „Vertrauen“
sozial
Angriffe
„angreifen“
kämpferisch
verteidigen
„angreifen“
kämpferisch
gemeinsam
„miteinander“
sozial
Führung
„Macht“
dominant
Schutz
„beschützen“
sozial
Loyalität
„Vertrauen“
sozial
Mitarbeiter
„miteinander“
sozial
Menschen
„miteinander“
sozial
Tabelle 1:
Zuordnung von Wertefeldern
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Diese Tabelle zeigt, dass im Redetext die Wertefelder stark vertreten sind, die zwischen „Individualität“ und „Pflicht“ liegen – rational, kämpferisch, pflichtbewusst, dominant und traditionsverbunden. Wie die einzelnen Wörter den semiometrischen Basisbegriffen zugeordnet werden, wird später erläutert. Ein erster Blick genügt, um zu sehen, dass es sich immer um Wortfelder handelt, die ähnliche Bedeutungen haben. Bevor dieser Text nach dem semiometrischen Modell verbessert werden kann, sollen einige Hypothesen vorausgeschickt werden. Redner: Als Unternehmer hat der Redner ein Weltbild, das zwischen den Polen „Pflicht“ und „Individualität“ angesiedelt ist, und er empfindet angenehme Gefühle bei Schlüsselbegriffen, die den Wertefeldern „Rational“, „Dominant“ oder „Kämpferisch“ entstammen. Publikum: Wenn auch die Publika in den meisten Fällen mehrere Werteprofile umfassen, gehen wir vom hypothetischen Fall aus, dass das hiesige Publikum ausschließlich ein soziales Werteprofil hat. Diese Annahme dient nur der Erläuterung der semiometrischen Methode. Bei heterogenen Publika sollte sich der Redner auf die zwei bis drei stärksten Wertefelder konzentrieren – Beruf, Alter, Organisation etc. liefern gute Anhaltspunkte, um die herausragendsten Werte auszumachen. Wer sind aber sozial eingestellte Menschen, und welche Eigenschaften haben sie? Menschen mit sozialer Werteorientierung sind sehr gesellschaftsorientiert; sie suchen immer Situationen auf, in der das Ich dem Du begegnet, sich mit ihm austauscht und Verbindung knüpft. Mit ihrer warmherzigen, feinfühligen und geselligen Art sind Soziale sehr beliebt als Freund, Kollege und Partner. Sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen, in der der Soziale aufgehoben ist und sich geborgen fühlt, steht für ihn an oberster Stelle. Menschen mit dieser Werteorientierung sind hilfsbereit und stehen den Menschen in ihrem sozialen Umfeld jeder Zeit und in jeder Situation zur Seite. Egozentrik liegt dem Sozialen fern. Ganz im Gegenteil: Das eigene Ich steckt öfters zu Gunsten einer anderen Person zurück. Auch im Arbeitsleben sind Soziale meist diejenigen, die mit vielen Kollegen und Vorgesetzten gut auskommen und bei Konflikten im Team zwischen den Parteien schlichten. Die Sozialen werden auch gern von Kollegen aufgesucht, wenn diese Probleme im beruflichen oder privaten Leben haben. Die Sozialen streben somit nach Harmonie und Ausgleich. Sie besitzen diplomatische Fähigkeiten: Als Vermittler sind sie ungeschlagen, vor allem dort, wo Standpunkte festgefahren sind. Soziale sind gesellige, kontaktfreudige, freundliche und friedliche Menschen. Sie sind auch oft bestrebt, ihre Ziele von vornherein mit denen der anderen in Einklang zu bringen. Ihre allgemeinen Charakterzüge können wir so zusammenfassen: Hilfsbereit, kontaktfreudig, verlässlich, harmoniebedürftig, warmherzig, feinfühlig, sehr gesellig, vertrauensvoll, offen, wollen Kontakt zu ihren Mitmenschen haben, brauchen Stützen und wollen Stütze sein, nehmen Rücksicht auf die Gemeinschaft, sind Neuem gegenüber aufgeschlossen und sehen sich gerne als Vermittler. Die Umwandlung des ursprünglichen Textes in einen sozial umrahmten Text ist in diesem Fall insofern einfach, als die Botschaft der Rede auch diesen Ton anschlägt und in den Satz mündet: „Das Wichtigste bleibt das Gespräch zwischen Menschen.“
Worte und Werte
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Vor dem Hintergrund dieser Beschreibung können wir nun den obigen Redetext auf ein sozial eingestelltes Publikum zuschneiden, wohl wissend, dass es hier nur um eine Textvariante unter vielen anderen geht. 1) „… Mir geht es nicht um Medienpolitik in engerem Sinne, sondern um die Auswirkungen [gestrichen] der Kommunikation auf unser Leben, unsere Arbeit, auf das UnternehmerSein. Vor zwanzig Jahren war „Kommunikation“ kein Gegenstand der Diskussion außerhalb geistes- und sozialwissenschaftlicher oder elektrotechnischer Fachkreise. Wenn überhaupt, überwog die technische Deutung: Kommunikation wurde meist benutzt im Sinne von: [gestrichen] Verkehr. Wenn „die Kommunikation abgebrochen“ war, dann wegen eines Leitungsschadens, und die „Kommunikationslinie“ bezeichnete eine Omnibusstrecke.
2) Heute sprechen wir von der „Informationsgesellschaft“. Wie kam es zu dieser Karriere eines im Grunde doch recht abstrakten Begriffs? Die Ursache dafür ist der Siegeszug der Informationstechnologie. Sende- und Empfangsgeräte, Speichermedien, Übertragungskapazitäten – Nachrichtensatelliten!- Digitalisierung, elektronische Hard- und Software haben in den vergangenen 20 Jahren die Welt erobert und die Vorstellungskraft der Menschen überfordert.
3) Die erweiterte und beschleunigte Kommunikation wirkt sich auf die [gestrichen] Gesellschaft aus: auf die Art, wie wir leben, lernen, lehren, forschen, wirtschaften, Politik betreiben – oder Freundschaften schließen. Die Gesellschaft beschäftigt sich auch deshalb intensiver mit Fragen der Kommunikation, weil sie offenbar zunehmend Verständigungsprobleme hat. Früher waren Weltbild und Wahrnehmung in sich abgeschlossener und homogener, heute sind sie offener und komplexer. Hinzu kommt die Beschleunigung gesellschaftlicher Prozesse durch Kommunikation.
4) Welche Auswirkungen hat die beschleunigte Kommunikation auf Unternehmen, ihre Mitarbeiter und Führungskräfte? Unser Geschäft in der chemischen Industrie sind Moleküle, nicht Bits. Angesichts der dynamischen Veränderungen in der Informationsgesellschaft hängt aber unser Erfolg, wie der aller Unternehmen, zunehmend von der [gestrichen] Ausstattung mit leistungsfähiger Informationstechnologie ab. Moleküle werden zunehmend durch Bits gesteuert.
5) Das Geschehen in der Wirtschaft erscheint an sich überaus spannend. Forschung und Entwicklung, Themen des Umweltschutzes und der Sicherheit, Produktionsprozesse, Arbeitsabläufe, die Lösung logistischer Fragestellungen, all dies ist [gestrichen] von hoher Relevanz für unsere Gesellschaft. Denn wir wollen alle in einer offenen, friedlichen und fortschrittlichen Welt leben.
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6) Manager müssen lernen, allgemein verständlich, authentisch, offen und spontan vor die Öffentlichkeit treten zu können. Nur wenn sich die Gesellschaft ein realistisches Bild vom Wirtschaftsleben machen kann, wird die Debatte über Standortqualität, das Eingehen und Beherrschen von Risiken, die Einstellung zu neuen Technologien bis hin zur Diskussion über Unternehmensethik [gestrichen] ausgewogen geführt werden können.
7) Das erfordert von uns Unternehmern ein Öffnen der Werkstore, ein Aufheben vieler traditionell bestehender Grenzen zwischen einem Unternehmen und der Öffentlichkeit. Diese [gestrichen] Entgrenzung ist in vollem Gange. Sie bezieht sich auf den Umgang mit den Medien, [gestrichen] mit Nachbarn und dem direkten Umfeld. Bei Störfallbetrieben, die ein Risiko auch für die Nachbarn besitzen, müssen die Menschen im Umfeld mit in die Sicherheitskonzepte des Unternehmens eingebunden sein.
8) Viele Nachbarn des Standortes sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Unternehmens und umgekehrt. Die Entgrenzung im Unternehmen sollte dazu führen, dass es keine Spaltung im Bewusstsein und im Verhalten der einzelnen Menschen gibt als Teil der Gesellschaft oder als Mitglied des Unternehmens. Die Mitarbeiter sollten die öffentliche Kritik vorwegnehmen und konstruktiv ins Unternehmen hineintragen [gestrichen], damit wir die Sorgen der Gesellschaft besser verstehen und in unserer täglichen Arbeit stärker berücksichtigen können.
9) Was sich so einfach und selbstverständlich anhört, ist eine große Aufgabe für die Unternehmensführung. Führen [gestrichen] heißt in diesem Zusammenhang: Informationen weitergeben, nicht Herrschaftswissen ansammeln, eigene soziale und kommunikative Kompetenz erwerben und weitergeben, insgesamt seine Führungsrolle deutlich als eine kommunikative Aufgabe zu sehen: der Manager als Vorbild.
10) Entgrenzung erfordert gleichzeitig eine neue Form der Treue gegenüber dem Unternehmen. In einem offenen Unternehmen kann Treue nicht darin bestehen, sich passiv und kritiklos gegenüber dem Unternehmen zu verhalten. Treue in einem offenen Unternehmen heißt mitzudenken, Fragen zu stellen, Veränderung anzustoßen, das Unternehmen nicht gedankenlos anzugreifen oder gegen Angriffe zu verteidigen, sondern mögliche Schwächen zu erkennen und sie gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen im Unternehmen zu verbessern. Das Treueverständnis der Führung gegenüber dem Mitarbeiter kann in einem offenen Unternehmen nicht der patriarchalische Schutz in der Sicherheit der Wagenburg sein, sondern Treue besteht darin, die Mitarbeiter zu stärken und mit den Fähigkeiten und Informationen auszustatten, die sie für eigenständiges Arbeiten brauchen. Das Wichtigste bleibt das Gespräch zwischen Menschen“.
Worte und Werte
4.
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Strategie und Taktik des neuen Textes
Dieser Redetext spannt einen Bogen von der Informationstechnologie zur Kommunikation. Während die ersten Abschnitte die technischen Neuerungen der letzten Jahrzehnte beschreiben und die harten Fakten hervorheben, schärfen die letzten Abschnitte die Notwendigkeit einer offenen und transparenten Unternehmenskultur ein und gipfeln in das Lob des wichtigsten weichen Faktors schlechthin – des Gesprächs. Die Wende in dieser Gedankenführung vollzieht sich in den 5. und 6. Abschnitten. Hier deutet der Redner seine Botschaft an, die sinngemäß lautet: Kommunikation ist mehr als Informationstechnologie. Aus strategischer Sicht geht die Neufassung des Textes folgenden Weg: Die ersten Abschnitte beschreiben die technischen Errungenschaften, der 5. Abschnitt stellt diese klar und deutlich in den Dienst der Gesellschaft und die darauf folgenden Abschnitte streifen die Grundzüge einer sozial-humanen Unternehmenskommunikation. Kurzum: Technik (Abschnitte 1 bis 4) steht im Dienste (Abschnitt 5) der Gesellschaft (Abschnitte 6 bis 10). Aus taktischer Sicht reicht es nicht aus, alle erlebnisorientierten, verträumten oder kritischen, traditionsverbundenen Wörter durch Begriffe des sozial orientierten Wertefeldes zu ersetzen, weil der Inhalt der Rede nun mal die Technik ist, und diese eher den Werten von rational orientierten Menschen entspricht. Da die „sozialen“ Schlüsselbegriffe angenehme Gefühle bei einem sozialen Publikum auslösen, und alle anderen, die den Wertefeldern des „Rationalen“, „Kämpferischen“ usw. entstammen, unangenehme Vorstellungen bewirken, versucht die Neufassung die ersten Abschnitte (Technik) negativ zu umrahmen und die letzten positiv bzw. das Unangenehme der Technik mit dem Angenehmen der Gesellschaft zu verbinden und somit der Technik selbst positive Assoziationen abzugewinnen. Beispiele: Abschnitt 1 „Verbindung“ ist gestrichen, weil dieses Wort für Soziale durchaus positiv sein könnte; taktisch jedoch ist es besser, an dieser Stelle die Technik noch nicht positiv zu konnotieren, sondern später. Auch die Begriffe „Ozean“ und „Flut“ sind gestrichen, um den Gegensatz der Werte auf den Sozial-Rationalen zuzuspitzen. Abschnitt 2 „Ursache“ und „Siegeszug“ stammen eindeutig aus den Wertefeldern der Rationalen und der Kämpferisch-Dominanten. Ähnliches gilt für das Wort „Eroberung“. Das Wort „Mensch“ ist diesem Satz insofern sinnvoll, als es das Opfer bezeichnet – das Opfer der Technik, welche seine Vorstellungskraft „überfordert“. Auch dies wirkt negativ auf sozial orientierte Menschen. Abschnitt 3 Hier stellt der Text den Bezug zwischen Technik und Gesellschaft her und erwähnt die „Freundschaft“, einen zentralen Begriff für die Sozialen, welche ebenfalls dem Einfluss der Technik ausgesetzt ist.
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Abschnitt 4 „Beherrschung von Kommunikation“ ist gestrichen, weil „Beherrschen“ kein „sozialer“ Schlüsselbegriff ist, und „Kommunikation“ als „soziale“ Tätigkeit nicht negativ belegt werden soll. Abschnitt 5 Hier vollzieht sich die Wende, weil das „Geschehen in der Wirtschaft“ „von hoher Relevanz für unsere Gesellschaft“ ist. Und wir wollen in einer „offenen“, „friedlichen“, „fortschrittlichen“ Welt leben – Begriffe, die ein soziales Verhalten voraussetzen. Die nächsten Abschnitte enthalten „soziale“ Begriffe wie „Gesellschaft“ (statt „Öffentlichkeit“) (Abschnitt 6); „Prozess“ (Abschnitt 7) ist gestrichen, weil das Wort zu technisch klingt und daher im Widerspruch zu „Entgrenzung“ steht; „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ (beide Geschlechter und in Mehrzahl!) (Abschnitt 8); „Aufgabe“ statt „Herausforderung“ (erlebnisorientiertes Wort), „Vorbild“ statt „Medium“ (auch ein zu technisches Wort) (Abschnitt 9); „Treue“ ist ein typisches Wort für Soziale; lieber hat die Gesellschaft „Schwächen“ als „Angriffspunkte“, „Kolleginnen und Kollegen“ (in Mehrzahl!) und „Mitarbeiter“ (ebenfalls in Mehrzahl!) (Abschnitt 10).
5.
Semiometrisches Schreiben
Aus diesen Textänderungen wird ersichtlich, dass der einfache Gebrauch von semiometrischen Basisbegriffen noch nicht ausreicht, um Texte strategisch und taktisch umzugestalten. Welche Möglichkeiten haben Redner und Redenschreiber? Technik Gebrauchen
Erläuterung In der Rede werden die ausgewählten Basisbegriffe einfach wiedergegeben. Beispiele: „Treue“ „Freundschaft“ „Arbeit“ „Tradition“ Der einfache Gebrauch kann durch Wiederholung in seiner Wirkung gesteigert werden. So steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich die mit dem Begriff einhergehenden Assoziationen stärker im Bewusstsein der Zuhörer einprägen. So hat zum Beispiel Johannes Rau in seinen zehn großen Reden zwischen Juni 1985 (Regierungserklärung als NRW-
Worte und Werte
69
Technik
Erläuterung Ministerpräsident) und Ende August 1986 (Rede beim Nürnberger SPD-Parteitag zur Eröffnung des Hauptwahlkampfes zur Bundestagswahl am 25.1.1987) das Wort „Mensch“ 249-mal verwendet, gefolgt von folgenden Begriffen wie: (Bundes-/Länder-)Regierung (182-mal), Politik (144-mal), Arbeit (83-mal), Bürger/innen (76-mal). Der häufige Gebrauch des Wortes „Mensch“ war nicht zufällig. Ziel war es, mit diesem Wort Assoziationen hervorzurufen, die sein Erscheinungsbild als „menschlichen“ Politiker prägen sollten. Sein Slogan „Versöhnen statt spalten“ fügt sich mühelos in diesen Kontext ein. Die Wiederholung kann sich natürlich auch auf die Kernbotschaft als einen Satz beziehen: Der Redner spricht ihn zum Beispiel am Anfang, in der Mittel und zum Schluss der Rede aus, um seine Botschaft stärker im Gedächtnis des Publikums zu verankern.
Ersetzen
Die Rede ersetzt die Basisbegriffe durch sinnverwandte Begriffe. Beispiel: „Loyalität“ – „Treue“
Entgegensetzen
Die Rede verwendet Antonyme im negativen Kontext, um den negativen Kontext noch mehr zu betonen. Beispiele: „Ursache“ „Siegeszug“
Umschreiben
Statt eines Begriffes verwendet die Rede dessen denotative Bedeutung. Beispiel: „Offen, friedlich, fortschrittlich“ – „sozial“
Ableiten
Hier leitet der Text aus den Wertefeldern Verhaltensweisen ab, die diesen Werten entsprechen. „Schwäche“ – „sozial“ „Fortschritt“ – „rational“ („Wissenschaft“)
Tabelle 2:
Semiometrisches Schreiben
Auf einen Punkt sei hier zum Schluss noch hingewiesen: Die Wahrnehmung der Menschen kann durch zentrale Merkmale bzw. periphäre Merkmale beeinflusst werden. Solomon Asch hat die These aufgestellt, dass in der Wahrnehmung nur bestimmte Merkmale des wahrgenommenen Gegenstandes zentrale Rollen spielen und anderen eher periphäre Bedeutung zukommt. Untermauert hat er seine These durch ein Experiment:
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Vazrik Bazil / André Petras
Er legte zwei Gruppen von Probanden eine Liste von Adjektiven vor, die eine Person beschreiben. Nun sollten die Probanden auf einer zweiten Liste ihre Eindrücke von der Person niederschreiben. Die erste Gruppe erhielt die Adjektive „intelligent“, „fähig“, „fleißig“, „herzlich“, „entschlossen“, „praktisch“ und „vorsichtig“. Die zweite Gruppe bekam zwar dieselbe Liste, das Adjektiv „herzlich“ aber wurde durch „kühl“ ersetzt. Diese kleine Veränderung beeinflusste stark die Probanden. Wer das Adjektiv „herzlich“ gelesen hatte, beschrieb die Person als großzügig, weise, glücklich, beliebt, gesellig usw. Wer hingegen das Adjektiv „kühl“ vor sich hatte, schätzte die Versuchsperson eher negativ ein. Bei einem weiteren Experiment hat Asch die Adjektive „höflich“ und „ungehobelt“ verändert. Die Wirkung auf die Probanden war gering. Aus diesen Experimenten folgerte er, dass es bei Wahrnehmungen zentrale Merkmale gibt, die Kristallisationspunkte bilden und die ganzheitliche Eindrucksbildung beeinflussen („herzlich“, „kühl“), periphäre Merkmale dagegen bleiben unwirksam („höflich“, „ungehobelt“). Was nun zum zentralen Merkmal und was zum periphären Merkmal vorrückt, ist vom Kontext und von den Wissensbeständen der wahrnehmenden Personen abhängig. Ähnlich verhält es sich mit Redetexten. Auch hier gibt es zentrale und periphäre Werte bzw. Basisbegriffe. Von vornherein ist es jedoch schwierig diese Werte oder Worte festzumachen. Die Wiederholung wichtiger Begriffe ist eine Methode, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass genau diejenigen Begriffe bzw. Werte zum zentralen Merkmal werden, die für den Redner wichtig sind. Aber ob dies dem Redner auch gelungen ist, kann letztlich nur die semiometrische Befragung beantworten.
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Worte und Werte
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Selbstkonzept
Teil B Redner
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Selbstkonzept
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Selbstkonzept Ein Instrument des strategischen Redemanagements Vazrik Bazil
1.
Einführung
Reden sind auf Wirkung angelegt. Sie wollen Meinungen, Einstellungen oder Verhalten ändern bzw. festigen. Jenes Element, das diese Wirkungen auslöst, ist die „Botschaft“ einer Rede. Doch wissen wir, dass der Inhalt der Rede allein kaum imstande ist, Meinungen oder Einstellungen zu ändern. Die Person des Redners spielt beim Gelingen oder Misslingen der Rede eine maßgebliche Rolle. Denn eine Rednerin bzw. ein Redner gibt viel von sich preis, sobald sie bzw. er über etwas anderes spricht. Der Redner muss nicht einmal das Pronomen „ich“ benutzen, um dem Publikum etwas von sich mitzuteilen. Aus allem, was er sagt und wie er es sagt, ziehen Menschen Schlüsse, die dem Redner Sympathie oder Antipathie entgegenbringen, dessen Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit, dessen guten oder schlechten Ruf ausmachen und die Wirkung der Botschaft erhöhen oder schmälern. Während die gängige Redepraxis vornehmlich anlassbezogen ist und Argumente vom gegebenen Anlass her entwickelt, setzt das strategische Redemanagement im Vorfeld und im Nachgang jeder Rede an und ist zunächst einmal unabhängig von Redeanlässen. Es geht davon aus, dass jeder Redner, der als Führungskraft, als Vorstandsmitglied oder gar als Vorstandsvorsitzender im Namen seines Unternehmens spricht, nicht nur einmal, sondern öfters auftreten und so das eigene Ansehen ebenso beeinflussen wird wie das seines Unternehmens. Daher braucht diese Person und ihr Unternehmen ein erarbeitetes Identitätskonzept, das zentrale Fragen zu beantworten vermag: „Wer ist diese Person?“ „Wie will er wahrgenommen werden?“ „Wie soll er wahrgenommen werden?“ „Gibt es Widersprüche zwischen dem, was er sagt und tut und dem, wofür sein Unternehmen steht?“
76
Vazrik Bazil
Diese Fragen beziehen sich auf nichts anderes, als das „Selbstkonzept“ des Redners, das jeder Rede innewohnen muss, unabhängig von Anlass, Inhalt und Publikum. Zum Selbstkonzept gehört auch das äußere Erscheinungsbild – Körperhaltung, Mimik, Gestik, Raumnutzungsverhalten, Gewicht, Größe, Kleidung, Schmuck, Auto, Haus/Wohnung (Stadtteil), BüroAusstattung, Benehmen usw. Symbolische Darstellungen von Charakterzügen, Vorlieben, Stil usw. spielen ebenfalls eine gewichtige Rolle. Symbolisch sind diese Darstellungen deshalb, weil sie nur indirekt vollzogen werden – über Rückschlüsse des Publikums. Vor allem aber soll die Person des Redners in ihrer Gesamtheit, ohne innere Widersprüche zum Vorschein kommen, denn diese beeinträchtigen die Wirkung jeder Rede. Kurzum: Genauso wie Unternehmen Identitätskonzepte haben, müssten auch Redner über ausgearbeitete „Selbstkonzepte“ verfügen. Der Fachbegriff für diese Arbeit heißt „Impression Management“.
2.
Impression Management
Impression Management ist eine Methode der Selbstinszenierung. Personen und Organisationen sind immer bestrebt, ein positives Selbstbild in der Öffentlichkeit zu hinterlassen. Dabei streuen und steuern sie entsprechende Eindrücke bei ihren Interaktionspartnern. Doch Images entstehen nicht einseitig. Vielmehr gehen sie aus Deutungsprozessen hervor, an denen die Organisationen und ihre Anspruchsgruppen gleichermaßen beteiligt sind. Diesen Deutungsprozess durch bestimmte Techniken der Eindruckssteuerung in Gang zu setzen, zu kontrollieren, zu erhalten bzw. zu verändern, ist eine Tendenz, die jeder Person und Organisation innewohnt. Entscheidend für diese Eindruckssteuerung sind eben die Selbstkonzepte oder die Selbstbeschreibungen, die aus Wechselwirkungen zwischen Eigenwahrnehmung und Fremdbeurteilungen hervorgehen, und den Selbstinszenierungen zugrunde liegen. Wenn Menschen bestimmte Eindrücke bei anderen erzeugen, nehmen sie deren Reaktionen wahr, integrieren sie in ihr Selbstkonzept und passen ihre Inszenierung an dieses gewandelte Selbstkonzept an. „Impression Management is the conscious or unconscious attempt to control images that are projected in real or imagined social interactions. When these images are self-relevant, the behaviour is termed self-presentation“ (Schlenker 1980, S. 6). Vor allem in der Mediengesellschaft nimmt die Bedeutung der Selbstdarstellung zu, weil Massenmedien nicht nur nach Selektionslogik (Nachrichtenwert) vorgehen, sondern auch nach Präsentationslogik (Attraktivität). Das, was für Personen gilt, gilt natürlich auch für Unternehmen: „… die Präsentation von Inhalten ist immer mit Selbstdarstellung verbunden. Selbstdarstellung ist keine besondere Form von Eitelkeit. Im Gegenteil! Wir können gar nicht anders, als uns selbst darzustellen. Im Privatleben genauso wie im Unternehmen. Ob unbewusst oder bewusst. Konsequent ausgerichtet, schafft sie Identität und Vertrauen, stabilisiert nach innen und grenzt gleichzeitig nach außen ab. Strategisch genutzt heißt sie Impression Management, nicht zu verwechseln
Selbstkonzept
77
mit Eindruckschinden. Selbstverständlich muss Unternehmenskommunikation Impression Management betreiben. Es wäre grob fahrlässig, dies nicht zu tun“ (Posner/Posner-Landsch 2000, S. 299). Und van Riel: “Impression Management is the company’s policy of presenting itself to target groups in such a way as to evoke in them a favourable picture [image] or to avoid an unfavourable picture” (van Riel 1995, S. 96). Nach Bromely bedeutet Public Relations nichts anderes als Impression Management – mit dem Unterschied, dass PR sich auf Organisationen bezieht, während Impression Management die Selbstinszenierung von Personen betrifft (vgl. Bromley 1993, S. 120). Gelungene Selbstdarstellungen führen zur Markenbildung. Nicht nur bei Unternehmen, sondern auch bei Menschen. Mögen heute solche Inszenierungen, vor allem für Prominente, ausgefeilter sein als in den vergangenen Jahrhunderten, doch haben es berühmte Persönlichkeiten immer schon verstanden, sich ins rechte Licht zu rücken. Lorenzo de’ Medici (ca. 1449–1492) nutzte die damals verfügbaren Medien, um sich und die Medici zu verherrlichen: Er mischte sich in die Stadtpolitik von Florenz ein, ging den gesellschaftlichen Verpflichtungen nach, besuchte Feste und veranstaltete spektakuläre Events, förderte Gelehrte und Künstler, unterstützte Akademien und engagierte sich als großzügiger Mäzen. Er ließ eigene Medaillen mit seinem Abbild anfertigen und Gemälde von seiner Familie. Kaiser Maximilian I. (1459–1519) schüttelte Hände, herzte Kinder und mischte sich unter das Volk, wo immer er unterwegs war. Er nutzte auch die damaligen „neuen Medien“ wie Buchdruck, Zeitungen und Flugblätter und verfügte bereits über einen publizistischliterarischen Hofdienst, der ihm eine günstige Presse verschaffte. Er setzte auch Holzschnitte mit dem kaiserlichen Konterfei ein oder Gedenkmünzen mit seinem Abbild, um sein Erscheinungsbild zu verbessern. Ludwig XIV. (1643–1715) inszenierte große Feste am Hof, setzte Mode- und Architekturtrends, veröffentlichte bereits nach der Geburt seines Sohnes seine Memoiren, ließ sich als Apollo porträtieren, umgab sich mit Künstlern, Literaten und Wissenschaftlern und förderte sie als Mäzen. Nicht anders erging es Marilyn Monroe (1926–1962) oder Elvis Presley (1935–1977), die zu Legenden bzw. Idolen (gemacht) wurden. Marilyn Monroe und Elvis Presley wurden als „Sex-Bombe“ oder als „Rebell“ inszeniert. Postkarten, Kalender, Autogrammkarten und Live-Auftritte gehörten zum Instrumentarium des Impression Management (Nessmann 2005, S. 11f.). Viele Bücher und Seminare vermitteln Managern, Führungskräften und Politikern Techniken, wie sie sich überzeugend darstellen können. Begriffe wie „Marke ICH“, „ICH-AG“, „ICHMarketing“, „Eigen- oder Selbst-PR“, „Promoting-, Marketing- oder Branding-Yourself“ stehen dafür. Der Begriff „Markt“ ist zur vorherrschenden Metapher geworden. „Mit dieser Metapher soll zum Ausdruck gebracht werden, dass Märkte eigene Gesetzmäßigkeiten aufweisen. Märkte werden als Rahmen verstanden, indem Produkte und Dienstleistungen auf Grund von Angebot und Nachfrage zu einem momentanen Tauschwert gekauft und verkauft werden. In diesem Kontext ist auch von Arbeitsmarkt, Heirats- oder Kontaktmarkt die Rede“ (Nessmann 2003, S. 171). Für Markenbildungsprozesse bei Personen spielen neben Leistung bzw. Erfolg und medialer Dauerpräsenz auch die Persönlichkeit eine Rolle und das heißt Aussehen, Ausstrahlung, Sympathie, Auftreten, Glaubwürdigkeit (Herbst 2003, S. 324).
78
2.1
Vazrik Bazil
Impression-Management-Techniken
Mummendey unterscheidet zwischen positiven und negativen IM-Techniken. Die positiven sind Durchsetzungstechniken und verlangen aktiv nach Belohnung, Zuspruch, positiver Beurteilung usw. und die negativen verteidigen bzw. schützen die Identität der Personen und Organisationen. Zu den positiven Techniken zählen zum Beispiel „Attraktivität“, „Status“, „Glaubwürdigkeit“, „Vertrauen“, „Offenheit“ und zu den negativen „Anbiederung“, „Entschuldigung“ oder „Rechtfertigung“. Folgende Taxonomie fasst einige der bekannten IM-Techniken zusammen: Positive IM-Techniken Ingradiation Self-promotion Exemplification Intimidation Supplication Entitlement Enhancement Basking Boosting Attraction Prestige, status Credibility Trustworthiness Self-disclosure
(man biedert sich an oder schmeichelt sich ein) (man verweist auf eigene Vorzüge) (man stellt sich als beispielhaft dar) (man schüchtert andere ein) (man präsentiert sich als hilfsbedürftig) (man signalisiert gehobene Ansprüche) (man erhöht seinen Selbstwert) (Aufwertung der eigenen Person über Kontakte zu positiv bewerteten Personen oder Gruppen) (man verändert die Bewertung anderer, um selbst im positiven Licht zu erscheinen) (man präsentiert sich als attraktiv) (man unterstreicht die Bedeutung der eigenen Person) (Glaubwürdigkeit) (Vertrauenswürdigkeit) (Offenheit) Negative IM-Techniken
Apology Justification Disclaimer
(Entschuldigung) (Rechtfertigung) (man verweist vorsorglich auf schwierige Umstände, um später Verantwortung von sich zu weisen) Defense of innocence (man streitet die Sache ab) Blasting (man wertet andere ab) Understatement (man untertreibt) Dependence (man präsentiert sich als abhängig von anderen) Weakness (man unterstreicht seine Schwäche) Self-handicapping (man stellt sich als beeinträchtigt dar)
Selbstkonzept
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Diese Liste ist nicht vollständig. Ihr könnte man weitere Eindrücke hinzufügen, wie „Sympathie“ oder „Durchsetzungsfähigkeit“. Eine Fundgrube solcher Techniken sind die Autobiografien der Manager [„Meine wahren Memoiren“ (Jean-Marie Messier), “Die Macht der Freiheit“ (Hans Olaf Henkel), „Was zählt. Die Autobiografie des besten Managers der Welt“ (Jack Welch), „Schein und Wirklichkeit“ (Edzard Reuter), „Auto. Biografie“ (Ferdinand Piech) usw.]. Diese Bücher liefern zwar biografische Fakten, ihr Hauptaugenmerk jedoch liegt auf deren Interpretation. Da das Leben von Prominenten bzw. Teile davon der Öffentlichkeit bekannt sind, werden bekannte Fakten, soweit sie negativ waren, umgedeutet und unbekannte herangezogen, soweit sie dem Ansehen des Autors zuträglich sind. Entscheidend ist, dass der Autor für die Nachwelt in einem positiven Licht erscheint. Politische Biografien sind ebenfalls Selbstdarstellungsinstrumente, die weniger der Aufklärung als der Verklärung des Geschehenen dienen. Man denke allein an die Autobiografie von Otto Bismarck. Die sprachliche Umsetzung einiger dieser Techniken könnte wie folgt aussehen: IM-Techniken
Beispiele
Sich beliebt machen
„Wissen Sie, wenn Sie, Herr Appel, Sie sind doch, wie ich auch in diesem Feld, und Sie alle, wir sind doch alte Fuhrmänner.“
Sich als kompetent darstellen
„Ich glaube, dass ich sehr schnell politische Situationen analysieren kann, und ich glaube, dass ich sehr früh erkenne, wie man auf sie reagieren muss.“
Sich als Vorbild darstellen
„Ich will jedenfalls alles tun, damit ein Wahlkampf ein Wettbewerb um Entwürfe und um Ideen ist und nicht ein Kampf gegen Personen.“
Andere einschüchtern
„Ich muss bestimmten Gruppen, die in einer für mich unakzeptablen Weise ihre egoistischen Partikularinteressen gegenüber dem Gemeinwohl zu stark betonen, gelegentlich auf den Fuß treten.“
Sich als hilfsbedürftig darstellen
„Es kommt auf jede Stimme an“
Verteidigung der Unschuld
„Ich bin nicht bestechlich, habe mich nie bestechen lassen. Jeder, der mich kennt, weiß es.“
Ausreden
„Möglicherweise war die äußerste Beanspruchung terminlicher und arbeitsmäßiger Art, der ich im Februar und März unterlag, ein Grund für eine nicht hinreichende Aufmerksamkeit.“
Rechtfertigung
„… weil ich es für selbstverständlich erachte, dass ich jede Möglichkeit ergreife, um zu Investitionen in der Bundesrepublik zu ermuntern.“
(vgl. Jones/Pittmann 1982, S. 48-51)
80
2.2
Vazrik Bazil
Risiko-Eindrücke
Doch welche Handlungen zu welchen Eindrücken führen, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Erst der Kontext entscheidet über die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten. Deshalb ist mit jedem Versuch, diesen oder jenen Eindruck zu erzeugen, das Risiko verbunden, unerwünschte Eindrücke zu hinterlassen. Risikoabschätzung ist daher unzertrennlich mit der Handhabung von Eindrücken verbunden. Self-promotion könnte zum Beispiel als Angeberei wahrgenommen werden und Intimidation als Härte, Apology als Weichheit und Supplication als Unterwürfigkeit usw. Alle Formen der indirekten Höflichkeit (Konjunktive, indirekte Hinweise auf Meinungsverschiedenheiten) laufen genau diese Gefahr: Sie könnten als Schüchternheit, Feigheit oder Einfältigkeit interpretiert werden. IM-Techniken
Angestrebter Eindruck
Risiko-Eindruck
Sich beliebt machen (ingratiation)
sympathisch, liebenswert
kriecherisch, unterwürfig
Sich als kompetent darstellen (self-promotion)
kompetent, effektiv
eingebildet, angeberisch
Sich als Vorbild darstellen (exemplification)
moralisch und stilistisch überlegen
abgehoben, scheinheilig
Andere einschüchtern (intimidation)
stark, selbstbewusst
jähzornig, mangelndes Selbstwertgefühl
Sich als hilfsbedürftig darstellen (supplication)
hilflos, behindert
tollpatschig
Attraktivität (attraction)
stilvoll
Schickimicki
Offenheit (self-disclosure)
ehrlich, zeigt wie er/sie ist
unvorsichtig, leichtsinnig, unkonzentriert
Aufwertung durch andere (Basking)
wichtig, erfolgreich
selbstherrlich, arrogant
Verteidigung der Unschuld (defense of innocence)
Opfer
uneinsichtig, stur
Selbstkonzept
3.
81
Selbstkonzept
Bei Selbstkonzepten geht es um die Positionierung des Redners. Deshalb kann strategisches Redemanagement nicht isoliert von Personen-PR angesehen werden – vor allem nicht in Organisations- bzw. Unternehmenskommunikation, denn Rede ist eines der wirkungsvollsten Instrumente jeder Personen-PR. Die Wege, wie man Selbstkonzepte erstellt, sind verschieden. Dazu zählen eine Reihe von Selbstfindungsübungen und Persönlichkeitstests in Form von Fragebögen und Checklisten – zum Beispiel der Potenzialanalysetest (Hesse/Schrader, 2000), das Polaritätsprofil (Greisinger, 1998), der Beziehungstest (Kremer, 2000), der Talente-Check (Christiani/Scheelen, 2002) oder die Übungen zum Mission Statement (Cerny, 2002). Auch einfache Gespräche mit Freunden und Bekannten können Ideen und Einsichten liefern: „Wenn du etwas willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund: mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen“ (Kleist, 1982, S. 880). Auf jeden Fall umfasst das Selbstkonzept den Lebenslauf bzw. wichtige Eckdaten zur Person, Fotoarchiv und eine Reihe persönlicher Angaben. Hier einige hilfreiche Fragen (vgl. Nessmann 2003 und 2005):
W-Fragen zur Person Wer ich bin Name, Rolle, Funktionen Was ich anbiete Angebote, Dienstleistungen, Fähigkeiten Wie ich es mache Eigenschaften, Leidenschaften,Werte Warum ich es so mache Motive, Legitimation, Ziele, Visionen Für wen ich meine Leistungen anbiete Ziel- bzw. Bezugsgruppen Welchen Nutzen meine Bezugsgruppen haben Benefits, Vorteile Wo ich besonders gut bzw. weniger gut bin Stärken/Schwächen, USP
82
Vazrik Bazil
Folgende Fragen können ebenfalls als Leitfaden der Erarbeitung eines Selbstkonzeptes dienen (Nessmann 2003 und 2005): Ihre größte Macke? Ihre beste Eigenschaft? Ihre größten Erfolge? Ihre größten Misserfolge? Was mögen Sie an sich besonders? Was mögen Sie an sich gar nicht? Was würden Sie gerne an sich ändern? Was wollen Sie sich abgewöhnen? Was bedeutet Ihnen der Name? Was ist Ihnen wichtig im Leben? Was würden Sie gerne erfinden? Auf welche Leistungen sind Sie besonders stolz? Auf was könnten Sie verzichten? Wofür geben Sie Ihr Geld am liebsten aus? Worüber können Sie sich freuen? Worüber können Sie sich ärgern? Wobei werden Sie rot? Welchen Traum wollen Sie sich erfüllen? Welchen Genüssen können Sie nicht widerstehen? Welches Tier wären Sie am liebsten? Welches Tier lieben Sie? Wie schalten Sie am leichtesten ab? Wann haben Sie das letzte Mal geweint? Haben Sie einen Spitznamen? Mit welchem bekannten Menschen würden Sie gern einen Abend verbringen? Mit welchem auf gar keinen Fall? Welche Schlagzeile würden Sie gerne über sich in der Zeitung lesen?
Selbstkonzept
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Was sollte in Ihrer Grabrede gesagt werden? Die größte Strafe für Sie … Als Kind träumten Sie zu sein wie … Zeichnen Sie sich bitte selbst … Beschreiben Sie einem Blinden Ihr Äußeres … Was ist Ihre Lieblings-Farbe, -Baum, -Ort, -Beschäftigung, -Speise, -Getränk… Was ist Ihre Lieblings-Musik, -Buch, -Autor, -Schriftsteller, -Schauspieler, -Maler … Was ist Ihre Lieblings-Sendung im TV, -Märchen als Kind … Was sind Ihre Lieblings-Zitate? Was ist Ihr Lebensmotto Was war in Ihrer Karriere wichtig? Was haben Sie in Ihrer Karriere gelernt? Was schätzen Sie an anderen Menschen am meisten? Welche Geschichten aus Ihrem Unternehmen haben sich Ihnen eingeprägt? Haben Sie Vorbilder? usw. Neben diesen persönlichen Angaben sollte die Dokumentation auch folgende Unterlagen beinhalten: frühere Reden Artikel oder Bücher von ihm bzw. über ihn Medienresonanz auf seine Reden bzw. Entscheidungen Reaktionen, Meinungen der Kollegen, Mitarbeiter usw. Diese Dokumentation liefert eine Fülle von hilfreichen Informationen. Doch das allein reicht nicht aus. Vielmehr ist es wichtig, und das ist auch das eigentliche Ziel des Redemanagements und der Personen-PR, die Führungskräfte als sympathisch und glaubwürdig erscheinen zu lassen. Albert Koch, Leiter der Unternehmenskommunikation der Nestlé Deutschland, hat auf die Frage „Wie sollte ein CEO positioniert sein, was sind die wichtigsten ‚öffentlichen’ Eigenschaften?“ geantwortet: „Menschliche Werte sind ganz wichtig. Er sollte durchaus sympathisch sein, das schafft Nähe zu Journalisten und anderen Meinungsführern. Dann muss er zuhören können und dies auch zeigen. Und dann ist Wahrhaftigkeit entscheidend. In jedem Fall sollte er einen eigenen, sichtbaren Stil entwickeln“ (Kalt 2006, S. 75).
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Sympathie ist ein emotionales Bewertungsmuster. Sie bedeutet persönliche Zuneigung, Beliebtheit, gemeinsamer Draht, gleiche Wellenlänge. Sympathie verbindet, löst Verkrampfungen und baut Barrieren ab. Gleichzeitig löst sie Erwartungen, Neugierde und Nachfragen aus. Sie schürt den inneren Antrieb zur Annäherung, Auseinandersetzung und Nachfrage (vgl. Bergler 2004). Bergler listet einige Schlüsselreize auf, die zur Sympathie führen (vgl. Bergler 2004, S. 17 f.):
Physische Merkmale: Frisur Stimmqualität und Dialektfärbung Kleidung – Mode Körperpflege – Kosmetik Physische Attraktivität Blickkontakt Brille Geruchsqualitäten Taktile Erfahrungen: Händedruck Gestik, Mimik: Lächeln – Freundlichkeit
Kommunikative Merkmale: Aktives Zuhören Interesse für den anderen: Fragen, Anerkennung, Akzeptanz Offenheit Stimmigkeit der verbalen und nonverbalen Signale Erlebte Ähnlichkeit von Einstellungen, Werthaltungen, Interessen, Standpunkten Erlebte Nähe zu Idealvorstellungen auf Basis des Vergleichsniveaus der Alternativen Lob Ruhe, Ausgeglichenheit u. a. Optimismus – Positive Stimmungslagen
Selbstkonzept
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Alle diese Merkmale beruhen auf Reziprozität (Ähnlichkeit, Offenheit, Nähe zu Idealvorstellungen), Anerkennung (aktives Zuhören, Interesse für andere, Lob) und Angemessenheit (Stimmigkeit der verbalen und nonverbalen Signale) und sind imstande, den Eindruck der Sympathie beim Publikum hervorzurufen. Doch ist es auch hier wichtig, Risiko-Eindrücke bzw. Missverständnisse zu vermeiden: Lob könnte Anerkennung oder Schmeichelei signalisieren, Offenheit Ehrlichkeit oder Aufdringlichkeit, positive Stimmung bzw. Lächeln Optimismus oder Sunnyboy-Verhalten. Der Redner bzw. die Kommunikationsverantwortlichen müssen versuchen einerseits Übereinkunft und Ähnlichkeit herzustellen zwischen den Werten des Redners, wie sie im Selbstkonzept zum Vorschein kommen, und den Werten der Gesellschaft, in der das Unternehmen tätig ist, und andererseits, noch präziser und konkreter, zwischen den Werten des Redners und denen des Publikums, wobei es auch hier keine Widersprüche zwischen den beiden Ebenen geben darf. Aus der Fülle des Materials, das in die Dokumentation aufgenommen worden ist, kann dann der Redenberater bzw. Redenschreiber eine Selbstkonzept-Rede verfassen, eine Art Urrede.
4.
Urrede
Die Urrede ist eine Rede, die nie gehalten wird, aber jeder gehaltenen Rede zugrunde liegt. Sie verdichtet auf einer Seite das Selbstkonzept des Redners – unabhängig von Redeanlass und Redethema. Guido Westerwelle, Vorsitzender der Freien Demokratischen Partei, hat sich selbst wie folgt beschrieben: Ich bin politisch aktiv, „weil ich etwas bewegen möchte und überzeugt bin, dass das möglich ist“. Die größte politische und gesellschaftliche Errungenschaft ist die Freiheit, „weil sie für alle bessere Möglichkeiten und Ergebnisse bereithält als jede noch so gut gemeinte Fremdbestimmung. Die Kraft der Freiheit schafft Wohlstand für alle. Und nur so gibt es soziale Sicherheit“. Liberal denken und handeln heißt: „Leistungsbereitschaft, Weltoffenheit und Toleranz“. Ich kann mich begeistern für „meine Freunde, zeitgenössische Kunst, gute Opern, kluge Bücher, verschiedene Sportarten und vieles mehr“.
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Ein perfekter Tag sieht bei mir so aus: „Ausschlafen, laufen im Wald, lange frühstücken, anschließend auf dem Markt einkaufen und den Nachmittag über gemeinsam kochen für ein tolles Abendessen mit zehn Freunden an unserem Tisch“ (vgl. „61 Liberale im 16. Deutschen Bundestag“).
Dieser Text ist zwar kein komplettes Selbstkonzept, enthält aber wertvolle und bezeichnende Bausteine einer solchen Selbstbeschreibung, deren Elemente dem heutigen gesellschaftlichen Werterahmen entsprechen und eine auf den ersten Blick undenkbare Brücke schlagen zwischen Individualität und Sozialem: Aussage
Eindruck
„… etwas bewegen …“
Er ist dynamisch.
„Freiheit“ „Leistungsbereitschaft“
Er legt Wert auf Individualität.
„… Wohlstand für alle“ „soziale Sicherheit“ „… auf dem Markt einkaufen …“ „… gemeinsam kochen …“
Er hat eine soziale Ader.
„… Kunst … Opern … Bücher…“
Er ist kulturinteressiert.
„… Laufen im Wald …“
Er ist naturverbunden.
Gelänge es zusätzlich, eine Person in einem einzigen Gedanken zu verdichten, dann ist das Selbstkonzept vollkommen. Zwei Beispiele: Für Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt ist folgender Gedanke charakteristisch. Dieser Gedanke taucht in vielen seiner Reden und Artikeln auf. Auch andere Autoren heben diese Eigenschaft bei ihm hervor: „Menschen haben neben Rechten auch noch Pflichten, insbesondere gegenüber der Gemeinschaft, denen sie nachkommen sollten.“
Muhammad Ali, der dreifache Schwergewicht-Boxweltmeister, antwortet auf die Frage, wie denn Menschen ihn in Erinnerung behalten sollten: „Sie sollten immer daran denken, dass ich die Menschen geliebt und Gott gedient habe.“
Wer neben Rechten auch Pflichten Bedeutung zumisst, wird sicherlich auch von der „Verantwortung“ der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Land sprechen; er wird auch auf die sozialen Belange der Menschen eingehen und die Fahne der Solidarität hochhalten. Wer die Menschen liebt und Gott dient, wird die Bedeutung des Glaubens im Leben unterstreichen oder für religiöse Erziehung in Schulen eintreten usw. Diesen Faden kann man beliebig, je nach Anlass, Publikum und Thema, fortspinnen. Auch sprachlich können Leitlinien entwickelt werden, die das Selbstkonzept des Redners widerspiegeln (vgl. Bazil 2005, S. 74 ff.).
Selbstkonzept
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Diese Sätze bringen also zentrale Einstellungen von Helmut Schmidt und Muhammad Ali auf den Punkt und sind bestens geeignet, in Reden entweder als komplette Sätze oder indirekt aufzutauchen. Im letzten Fall ist es wichtig, Themen so zu entwickeln, dass diese Positionen mittelbar, über Inferenzen und Rückschlüsse, deutlich werden. Aus Sicht der Persuasion ist es sogar ratsamer, diese mittelbare Darstellungsform der unmittelbaren, direkten vorzuziehen, denn Gedanken, auf die Menschen selbst kommen, sind für sie am überzeugendsten. Wie in der Kommunikation im Allgemeinen, so auch im Redemanagement im Besonderen ist Wiederholung der beste Weg, um bestimmte Wahrnehmungen bei der Zielgruppe bzw. beim Publikum zu verankern. Daher sollte in jeder Rede die Urrede zugrunde liegen – auf die Gefahr hin, manches oder vieles zu wiederholen: Selbstkonzept
Urrede
Rede A
Rede B
Rede C
Rede D
Rede E
Rede F
Rede G
Jede Rede soll das Thema so entwickeln, dass das Publikum daraus die erwünschten Schlüsse zieht. Doch die Wirkung der Rede kann man durch weitere Elemente stärken. Zwei Elemente, die in diesem Kontext bislang wenig Aufmerksamkeit gefunden haben, sind: Einladungen und Vorstellungen. Oft vergisst man, dass Einladungen nicht bloß Thema, Zeit und Ort einer Veranstaltung bekannt geben, sondern auch erste Eindrücke über Einladende und Referenten streuen. Das Äußere (Papier, Druck, Design usw.) spielt dabei eine wichtige Rolle, aber auch die Beschreibung des Themas, die Ankündigung des Redners. Schon hier kann der Redner bzw. der Redenschreiber versuchen, den ersten Eindruck, den die geladenen Gäste von ihm bzw. seinem Unternehmen bekommen, nach eigenem Selbstkonzept zu beeinflussen. Zum Beispiel können in Einladungen zentrale Sätze oder Begriffe genannt werden, die dann in der Rede wiederkehren. Es hat sich mittlerweile eingebürgert, Themen in Form von aneinandergereihten Fragen aufzubereiten und das Publikum so in die Veranstaltung einzuführen. Andere Formen sind natürlich auch möglich und sogar erwünscht, um diese bekannte und daher auch zu erwartende Form zu brechen und damit mehr Aufmerksamkeit zu erregen. Noch wichtiger ist die Vorstellung des Redners durch eine andere Person – durch den Veranstalter selbst oder den Moderator. Auch hier sollten Redner bzw. Redenschreiber im Vorfeld eingreifen und den ersten Eindruck in ihrem Sinne steuern. Wichtige Fakten für eine solche Vorstellung sollte am besten der Redenschreiber selbst zusammenfassen und als Textbaustein
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archivieren bzw. rechtzeitig an die Organisatoren schicken. Selbstverständlich sollte man diese Informationen je nach Anlass, Thema und Publikum ergänzen. Wichtig dabei ist nur, dass diese Änderungen bzw. Ergänzungen immer dem ursprünglichen Selbstkonzept entsprechen. Auch bei diesen kurzen Präsentationen vor jeder Rede gilt es: Selbstdarstellungen sind keine Aneinanderreihung von Fakten, sondern interpretierte Biografien. Alle weiteren PRInstrumente können ebenfalls der Verankerung der Rede dienen.
5.
Fazit
Strategisches Redemanagement bedeutet, das Selbstverständnis des Redners herauszuarbeiten und es mit dem Selbstverständnis des Unternehmens in Einklang zu bringen – unabhängig von Redeanlässen und Redethemen. So sollte zuerst das Selbstkonzept des Redners erstellt und auf deren Grundlage eine Urrede verfasst werden. Auf ihr gründen sich alle anderen Reden. Damit der Redner selbst und über ihn die Botschaft seiner Rede Akzeptanz finden, muss das Selbstkonzept auch mit den gesellschaftlich gültigen Werten übereinkommen. Diese Werterahmen sind natürlich nichts Absolutes, sondern unterliegen dem gesellschaftlichen Wandel. Deshalb sollen Kommunikationsleute diesen Wandel genau beobachten, um entsprechend dann auch das Selbstkonzept und die Urrede zu ändern oder umzudeuten.
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Selbstkonzept
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Corporate Speaking
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Corporate Speaking Praxis integrierter Auftrittsberatung Stefan Wachtel
1.
Wirtschaftsrhetorik und Corporate Speaking
Unternehmenskommunikation umfasste lange Zeit vornehmlich Schriftprodukte. Der Auftritt des Spitzenpersonals blieb Stiefkind. Die Lücke wurde offenbar, als in den neunziger Jahren die Repräsentanten vom Kapitalmarkt, von Mitarbeiterfragen und insbesondere von den Medien ans Licht gezerrt wurden. Jetzt rächte sich, dass sich viele Unternehmen immer nur mit der Papierform der Kommunikationsarbeit begnügt hatten. Am Ende der Neunziger Jahre kam die Digitalbegeisterung hinzu und machte vieles noch schlimmer: „Information mit Daten und Fakten“ statt „Überzeugung durch auftretende Personen“. Inzwischen ist Personalisierung (Eisenegger/Wehmeier 2007) oder besser Personifizierung des Spitzenpersonals das Gebot der Stunde. Der Kopf wird zum Marketing- und Branding-Instrument. Dabei geht es nicht mehr nur – wie uns das Paradigma Journalismus weismachen will – um das Informieren, sondern um das Überzeugen bzw. Überreden, um das Erbauen, Motivieren, um das alte rhetorische movere. Für beides – mündliche Kommunikation wie Überzeugungsarbeit, mehr noch für diese als für jene – ist die Rhetorik zuständig. Als ich 2004 zum ersten Mal eine „Wirtschaftsrhetorik“ skizzierte (vgl. Corporate Speaking 2004, 71ff.), war die Anfang der Renaissance der alten Disziplin im Kanon der Beratungsfelder für Spitzenmanager längst in Gang. Die dahinter liegenden Theorien sind schnell aufgezählt: Wirtschaftsrhetorik lässt sich als ein Praxisfeld der sprechwissenschaftlichen Rhetorik verstehen (vgl. Geißner et al. 1999; Geißner et al. 2001; Gutenberg 1999). Wie andere sektorale Rhetoriken, etwa die politische (Parlamentarik), die Gerichtsrhetorik (Forensik), die geistliche Rhetorik (Homiletik) – ist die Wirtschaftsrhetorik nach Zielsituationen (publicae) abgrenzbar: „Wirtschaftsrhetorik ist die sektorale Rhetorik von Industrie-, Finanz- und Dienstleistungsunternehmen und deren Verbänden in Gespräch und Rede ihrer Repräsentanten“ (Wachtel 2004, S. 74).
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Nicht jede Rede oder jedes Gespräch schafft gleich viel Wert. Hohe Aufmerksamkeit und noch höheren Beratungsaufwand verlangen besonders die Auftritte des Spitzenmanagements. Darauf ist Corporate Speaking konzentriert. Auftritte des Vorstands forcieren die Wahrnehmung der Unternehmensmarke und schaffen (oder vernichten) teils immensen Wert. Auftritte des Spitzenmanagements sind weltweit Sache der Unternehmenskommunikation. Corporate Speaking liegt insofern im Schnittpunkt aus Wirtschaftsrhetorik und Corporate Communications. (s. Abbildung 1)
Abbildung 1:
2.
Der Ort des Corporate Speaking
Auftritts-Situationen des Spitzenmanagements
Auftritte des Spitzenmanagements erreichen das Publikum unvermittelt. Wer hier überzeugt, beeinflusst wirkungsvoller als manches schriftliche/grafische Produkt. Feld der Wirtschaftsrhetorik sind vier Gruppen von Situationen: 1. intern-direkt: z. B. Reden auf Führungskräftekonferenzen, 2. intern-medial: z. B. Interviews im Business-TV, 3. extern-direkt: z. B. Vorträge, Podiumsdiskussionen, 4. extern-medial: z. B. TV-Auftritte, Presse-Interviews.
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3.
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Rhetorik und Public Relations: Zwei Trends
Alle diese Überlegungen sind nur Variationen eines Themas und das heißt immer „Rhetorik und Public Relations“ (vgl. Wachtel 2003/1). Diese lernt von jener; zumal sich die eine aus der anderen entwickelt hat. Der eingangs beschriebene Zustand – Beschränkung auf Schriftbekundungen – ändert sich derzeit, denn die Personifizierung der Botschaft verlangt den Auftritt. Mündliche Kommunikation wird deshalb inzwischen in den Unternehmen professionalisiert, sowohl für face-to-faceSituationen wie auch für mediale Aktionen (Fernsehen, Radio, Business-TV) (Wachtel 1999). „Personifizierung“ (Deekeling/Arndt 2006), „Personalisierung“ (Eisenegger/Wehmeier 2007) sind einige Stichwörter. In der Kommunikationsberatung für die Wirtschaft, insbesondere in den Public Relations, sind folgerichtig zwei Transformationen zu beobachten (Wachtel 2003/1, 18 f.): 1. Vom Text zur Person 2. Vom Produkt zur Aktion Zur ersten Transformation: Das Studium angelsächsischer Auftrittsberatung, die der deutschsprachigen Einiges an Effizienz voraushat, lässt ahnen, was auf uns zukommen könnte. Zwar gibt es das Formulieren von Manuskripten immer schon als prosperierendes Berufsfeld: „Reden schreiben" (Bazil 2005, Roehreke 2002), „Schreiben fürs Hören“ (Wachtel 2003/2). Immer mehr aber wird aus Beratung Coaching: Vom Text zur Person. Die zweite Transformation erinnert sich der hergebrachten Kunst der Rhetorik für die Inszenierung von Spitzenmanagern in Auftritt und Rede. Wirtschaftsunternehmen haben eingesehen, dass sich dies nicht mit Texten, Charts und „Q and A“ (Antwortvorschläge auf zu erwartende kritische Fragen) allein leisten lässt. Die Anleitung zur rhetorischen actio wird existenziell: Vom Produkt zur Aktion. Coaching in Beratung – Product in Process: Angelsächsische Wirtschaftsberatung hat beide Bewegungen schon umgesetzt, indem sie nicht mehr nur Texte und Beratungsprodukte liefert. Empfohlen wird etwa eine „Briefing session, a day or two” (Foster 2002, S. 122): „Arrange a session in which you sit at the Computer and the speaker sits beside you, looking at the screen. You bring the notes up onto the screen and, in conjunction with a conversation you hold with the speaker, start writing.”
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4.
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Corporate Speaking und CEO-Kommunikation
Kommunikationsarbeit stellt heute schon viel bereit. Vielfach sind „Vision und Mission“ ausgearbeitet, Konzepte erstellt, Workshops in der Organisation installiert, die Kaskade läuft. Mitarbeiter und Führungskräfte müssten wissen, was und wie es zu sagen ist. Von diesen Arbeiten ist aber oft noch das Spitzenmanagement abgekoppelt (vgl. Deekeling/Barghop 2007). Nicht selten müssen sich die Kommunikationsleute darauf verlassen, dass die Repräsentanten ad hoc ihre Form finden. Oft genug macht der Vorstand im Auftritt Aussagen, die nicht aus der Vorarbeit hervorgehen. Auch das Umgekehrte wird beklagt: rhetorisch nicht wirkungsvolles werkgetreues Vorlesen von Redemanuskripten und teils auch Antworten. Anders gesagt: Es werden Fragen gestellt, die weitere Themen um den Auftritt herum einbeziehen, etwa: Anschlussfähigkeit der Spitzenpersonen, Spitzenmanager im Meinungsmarkt, Platzierung in TV und Veranstaltungen, Positionierung von Marke und CEO (Deekeling/Arndt 2006), Reden schreiben (Wachtel, 2003/2; Roehreke 2002), Dress und Foto. Die Vorbereitung von Auftritten des Spitzenmanagements wird früh verzahnt. Programmatik („Vision und Mission“), Sprachregelungen, Event-Dramaturgie und Management-Äußerungen sollten daher aufeinander abgestimmt sein. Entscheidend sind die Prozesse: das Spitzenmanagement früh in den Prozess einbinden – Kommunikation und selbst Issues-Management wird erst zur „Chefsache“ (Kuhn et al. 2003), wenn der CEO im Team den Auftritt mit vorbereitet. Die Vorbereitung von Auftritten für das Spitzenmanagement beginnt heute beim IssuesManagement und geht weiter über die Auswahl und Positionierung von Köpfen des KlientenUnternehmens bis zur Vorbereitung von Veranstaltungen. Es gilt, die Positionierung des Spitzenmanagements mit Schriftprodukten aus Werbung, Marketing und auch mit der internen Kommunikation zu verzahnen. Strategisch ist der Auftritt Teil von Branding und ThemenManagement – und damit der Corporate Communications. „Corporate Speaking ist die Gesamtheit der Maßnahmen, um Auftritte des Spitzenmanagements in allen internen und externen Auftritten zu planen, zu platzieren, vorzubereiten und durchzuführen. Seine Komponenten sind Anbindung an Themen, deren rhetorische Aufbereitung in Denkstil und Sprachstil, Methoden zum Sprechstil im Executive Coaching bis hin zu Inszenierung und Dresscode sowie Foto-Planung. Grenze dieses Feldes ist das Issues-Management bzw. Corporate Messaging, strategische Kommunikationsberatung und am anderen Ende die Durchführungsseite von Eventmanagement und Medienbegleitung. In einem Satz: Corporate Speaking ist integrierte Auftrittsberatung. Corporate Speaking speist sich methodisch aus der Rhetorik und ist strategisch Teil von Branding und Gesamtkommunikation“ (Wachtel 2004, S. 12).
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Produkte: Themenmanagement, Sprachmodule, Soundbites
Einige globalisierte Unternehmen bündeln diese Arbeit in Einheiten wie „Issues and Speeches“. Modernes Issues-Management hat dazu Instrumente von Frühwarnung und AgendaSetting. Dies etwa sind die CEO-Steuerungsinstrumente (vgl. Deekeling/Arndt 2006; Wachtel 2003/1). Das bedeutet: strittige Themen auswählen und ihre Deutung steuern, zudem analysieren und evaluieren. Dies alles kulminiert in Soundbites. Ihr Material ist Originalität und ihre Prozedur ist die Wiederholung. Hilfreich ist eine Datenbank aus Zitaten, die stetig aktualisiert wird. Der Coach von Bill Clinton wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass eine Vorbereitung nach Themen und nicht nach Fragen (Q and A) nötig ist (vgl. Sheehan 2007).
6.
Beispiel Executive Coaching
Kern des Corporate Speaking ist Executive Coaching: Der gelungene Auftritt ist in der Regel Ergebnis intensiver Vorarbeit. Selbst sprachlich höchst ritualisierte Veranstaltungen wie Hauptversammlungen oder Pressekonferenzen verlangen Probe und Arbeit an der Aktion – und nicht nur das Formulierungs-Produkt. Wichtig ist vor allem, dass der Auftritt nicht bloß mechanisch einstudiert wird, sondern dass ein wirklich eigener Stil die Äußerung prägt. Das kann nur gelingen, wenn sich Spitzenmanager auf eine eigene Erarbeitung des Auftritts einlassen (vgl. Wachtel 2001). Executive Coaching bereitet den oder die Auftretenden für Reden, Präsentationen, Diskussionen, Medienauftritte, Finanzpräsentationen vor – häufig zweisprachig. Coaching für Auftritte des Spitzenmanagements gibt es mit zweierlei Zielen: a) prophylaktisch und b) vor dem Auftritt. Corporate Speaking ist Teamarbeit mit dem Auftretenden. Integrierte Auftrittsberatung hat deshalb Erfolgschancen, weil sie mit denjenigen arbeitet, die die Auftritte absolvieren. Trainingsfelder sind: Binnenstringenz der Äußerung (Denkstil) Textform der Äußerungen (Sprachstil) Ton der Äußerungen (Sprechstil) Proxemik (Bewegung im Raum)
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Einzelcoaching statt Seminar
Kein Spitzenmanager geht heute noch in ein Seminar. Einzelcoaching ist die einzig akzeptable Methode, Auftritte vorzubereiten. Der Executive Coach ist hier, anders als ein Trainer, eine Art Anwalt: einer, auf den der Klient sich berufen kann. Coaching ist zudem erweitertes Training: denn am Coaching hängt mehr als ein Trainingstag. Der Coach muss die Bereitschaft mitbringen, zu nahezu jeder Zeit für Fragen und Hilfen zur Verfügung zu stehen. Das wieder ist nur im Rahmen eines Retainer-Vertrags (retain = bereithalten) möglich. Eine Zusammenarbeit, über die nach dem ersten Tag entschieden werden sollte. Die Einzelarbeit erfolgt weitgehend unbehelligt vom Hierarchie-Clinch, der in Seminaren immer wieder aufbricht. Einzelcoaching ermöglicht eine Exklusivität und Diskretion, die die Klienten des Executive Coaching verlangen. Existentiell ist schließlich die Vertrauensfrage. Jeder Klient muss jederzeit entscheiden können, ob er mit dem beauftragten Coach arbeiten möchte. Einzelcoaching heißt keineswegs Therapie. Coaching heißt Einsichten gewinnen und Fähigkeiten erarbeiten, in kurzer Zeit und mit definiertem Ziel. Therapieprozesse, solche der Sprache oder der Psyche, brauchen erheblich länger. Am Ende steht das Agieren in einer Rolle mit sehr engem Korsett – und extrem wenig Zeit.
8.
Beispiel Inszenierung
Erst wenn Werbeauftritt, Public Relations-Anstrengungen und Auftritt des Spitzenmanagement integriert sind, schärft sich das Bild über die Unternehmensmarke. Nicht anders als die „Images“ aus Spots, Plakaten und Presseäußerungen, sollte das Bild des Vorstandes in Aktion dargeboten werden. Bei aller Rücksicht auf die „deutsche Seele“, der so etwas suspekt ist: Es gibt dafür keinen treffenderen Begriff als „inszenieren“ – während das Alltagsverständnis nicht selten dem „authentischen“ und schlechteren den Vorrang geben will: „Wir finden gelegentlich die große charismatische Rede, aber auch das überbordende Mittelmaß unbeholfener Rhetoren. Der eine spricht, wie es heißt, frei – der andere liest vom Blatt. Der eine spricht fließend – der andere stockt, verhaspelt und verspricht sich. Der eine spricht mit dem festen Blick ins Publikum, respektive die Kamera – der andere verbirgt das Antlitz, weil er, die Augen auf den Zeilen seines Manuskriptes, ins Pult spricht. Der eine wirkt ausgeruht und entspannt – der andere überarbeitet, angestrengt, fahrig. Der eine nestelt an Krawatte und Reißverschluss seiner Hose – der andere nutzt Arme und Hände zu großen, für ihn typi-
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schen Gesten. Der eine flieht in die Verästelungen eines komplexen Sachverhalts und scheitert an der von ihm selbst bemühten Fachsprache – der andere sagt einfache, klare Sätze, die wie Motti einer ganzen Epoche klingen. Der eine hastet – der andere nimmt sich Zeit, lässt sein Publikum die Denkpausen spüren. Bei dem einen hoffen die Zuhörer in der stillen Verzweiflung des durch Eintönigkeit Zermürbten, dass er ein Ende finden möge – bei dem anderen wirken ihre Augen verklärt, wenn plötzlich Schluss ist. Den einen halten die Zuhörer für glaubwürdig – bei dem anderen haben sie Zweifel, ob er die Rede, die er hielt, überhaupt selbst verstanden hat – geschrieben zu haben, schien sie ohnehin jemand anders. Was unterscheidet beide Erscheinungen aber in ihrem Wesen? Welcher Schein trügt – der glatte, erfolgreiche oder der unbeholfene?“ (Kocks 2003). Erfolge angelsächsischer Auftrittsberatungen zeigen, dass hier der Blick über den Tellerrand von Werbemittel und Pressetext hinaus hilfreich ist – bis hin zu Anleihen aus der Theaterdramaturgie. Die Inszenierung der Auftretenden (Haltung, Stand, Bewegungen der redenden Akteure): das Staging bestimmt die Wirkung wesentlich mit. Corporate Speaking passt den Auftritt von Spitzenmanagern ein in die Dramaturgie von Workshops, Reden, evtl. ShowEinlagen.
9.
Beispiel Foto und Dress
Allein nur ein Foto kann einen Teil der Wirkung zunichte machen. Der Dresscode muss klar sein, die Situationen definiert, und beides mit der Individualität des Auftretenden verknüpft sein. Prophylaktisch-allgemein werden schon vor konkreten Anlässen Dress-Regeln für Auftritte definiert, die für verschiedene Anlässe später variiert werden. Dieser Beginn der Beratung zielt also noch nicht auf konkrete Situationen, sondern es wird für alle zu erwartenden Auftritte ein Rahmen gesteckt. Dazu gehören die Werte und Marke des Hauses und ein erster Abgleich mit den Charakteristiken der Person. Erst danach werden Dress-Varianten für konkrete Situationen vorbereitet. Situativ-konkret empfiehlt sich eine kontinuierliche Zusammenarbeit; vor wichtigen Anlässen wird das Erscheinungsbild besprochen. Dazu gehört auch die Dresscode-Planung für Fotoshootings für Geschäftsberichte, Pressefotos etc. Die Grundregeln der Positionierung von Personen auf Fotos gehören ebenso zum Corporate Speaking. Dress wie Foto, beides darf nicht Werten und Unternehmensmarke entgegenstehen.
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Dresscode methodisch Überprüfung/Ist-Zustand vorhandener Garderobe Einsatz von Stilmitteln zur Optimierung des Erscheinungsbildes Angleichung des Erscheinungsbilds an die Botschaften/Unternehmenswerte Dresscode – spezifiziert für öffentliche Auftritte ggfs. Einkauf von Garderobe
10.
Die gängige Beschränkung: „Medien-Coaching“
Mit dem Auftritt befasst sich ein beträchtlicher Personenkreis: sowohl Kommunikationsmanager des Hauses als auch PR- und Werbeagenturen oder Redenschreiber, Vorstandsassistenten. Auftrittsberatung wird aber oft eingeschränkt nur als Executive Coaching verstanden, manchmal nur in der beschränkten Form „Medientrainer“. So kommt es allenfalls nur zur Arbeit am Allerdringlichsten, aber dieses Coaching wird oft noch ganz hinten in der Kette angeordnet. Die „Rede“ ist fertig, nur gestikuliert der Vorstand irgendwie falsch, seine „Körpersprache“ soll „optimiert“ werden. Das ist nicht selten die Anforderung für die Vorbereitung auf öffentliche Auftritte. Was bleibt, ist Darstellungskunst, mit der ein „Inhalt“ eingeübt wird (vgl. Seitz 2004).
11.
Qualifikationen der Auftrittsberater und Coaches
Es fehlt an qualifiziertem Personal. Weder Personalabteilungen mit ihrem Heer der Trainer noch Fernsehjournalisten als „Medientrainer“ können Auftrittsberatung über alle Situationen hinweg leisten: Präsentation, Interviews, Road Shows, Mitarbeiter-Veranstaltungen, Kapitalmarktgespräche. Die einfache und nahe liegende Frage nach der Qualifikation von Executive Coaches wird zu selten gestellt. Zu Recht, denn zu viele Auftrittsberater haben keinerlei Trainerausbildung, obwohl sie doch im Kern individuelles Verhalten ändern helfen müssen. An jeder Volkshochschule geht es qualifizierter zu als in manchen Vorstandscoachings. Ob und wie sehr schließlich PR-Berater selbst zum Auftrittscoaching qualifiziert sind, steht dahin. Die für die Vorstandsauftritte zuständigen Kommunikationschefs engagieren oft nur „Medientrainer“. Journalisten aber sind keine ausgebildeten Trainer.
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Orchestrierung und Prozess
Zunächst gilt es, die Vorbereitungs-Produkte zu professionalisieren: Redemanuskripte, Stichwortkonzepte, Medienbild-Analyse (flankierend), Sheets über Setting, Publikum und Event/Dramaturgie, Prozess- und Zeitpläne, Dresscode-Sheets, Foto-Skribbles und -Pläne; alles soll die Wirkung des Auftritts positiv beeinflussen. Corporate Speaking ist ein Prozess, der vom Produkt zur Aktion führt. Vehikel sind intelligente Redevorlagen, entstanden zwischen dem auftretenden Spitzenmanager, Kommunikationsleuten und Coach. So bietet sich die Chance, das Vorlesen von Fremdmanuskripten strukturell zu umgehen. Das erspart Zeit, Ressourcen und Arbeiten ins Leere (klassischer Redenschreiber). Im Executive Coaching sind (möglichst ein bis drei Tage vorher) vornehmlich die ersten Auftritte durchzuproben. Später genügt oft Konzeptlieferung und Probe am Telefon. In Einzelfällen liefert der Coach aus einem Telefonat das Stichwortkonzept ohne Beteiligung von Redenschreibern, zum Beispiel bei Soft Speeches. Dazu legt der Auftrittsberater eine Datenbank an, modulartig aus bereits frei gegebenen Passagen. Ergebnis ist erfolgreiche Aktion statt gelieferter Text: „Rede“ und „Antwort“ (Q and A), a) inhaltlich: vom Redner selbst mitgeprägt b) stilistisch: dem Sprach- und Sprechstil des Auftretenden Raum lassend. Dieser Prozess setzt nur für die ersten Auftritte etwas mehr Zeit voraus. Langfristig schont Corporate Speaking Ressourcen und spart Zeit. Die Herstellung eines ausformulierten Fremdmanuskriptes entfällt für viele Situationen, sobald der Anstoß gegeben ist, und Redner und Kommunikatoren die Prozedur kennen. Die Produkte wiederum werden mit dem Executive Coaching verzahnt. Dazu braucht es je nach Anlass ein erstes Treffen, ein weiteres kurz vorher. Zwischenzeitlich arbeiten der Coach und/oder eine Person des Hauses am StichwortMaterial weiter.
Prozess des Corporate Speaking Medienanalyse auswerten: Vorkommen, (positiv, neutral, negativ) – Konsequenzen ziehen an Markenwerte und Strategie ankoppeln mit Issues-Management verzahnen/auf Themen hin platzieren Soundbites auswählen/entwickeln Produkte für mündliche Sprache aufbereiten Executive Coaching, dt./engl. Staging und Auftrittsinszenierung entwickeln Begleitung bei Auftritten
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Berater integrieren ist Voraussetzung. Auftrittskompetenz und Auftrittsvermittlung der Vorstände werden zur Aufgabe der Kommunikationsleute. Ihr Ergebnis hängt existenziell von der Coaching-Qualität ab. Die Trainer-Branche ist aber zu oft noch vom Vorbereitungsprozess abgekoppelt í es fehlt die Verzahnung mit anderen Beratern. Die Vorbereitung von Auftritten sollte dagegen früh integriert werden, damit nicht ein Zweig der Beratung leer läuft. Programmatik („Vision und Mission“), Sprachregelungen, Event-Dramaturgie und ManagementÄußerungen sollten aufeinander abgestimmt sein. Zur Vorbereitung müssen alle Beteiligten alles bisher Ausgearbeitete kennen: Die PR-Beratungen müssen die Mitschnitte einsehen, die Coaches die Strategien.
13.
Prinzipien des Corporate Speaking
Im Corporate Speaking verbietet sich die Offenlegung der Klienten. Das passt nicht zum Stil dieser Arbeit. Dies hat zur Konsequenz, dass die CEO-Beratung vertraglich außerhalb großer Agenturapparate (und ihrer IT-Systeme!) agieren muss. Wer eine „Kundenliste“ vorzeigt, hat den Anspruch auf Seriosität verwirkt. Diese Diskretion ist nicht zu verwechseln mit der Vertraulichkeit die Inhalte betreffend, die ebenso selbstverständlich sein muss. Weil eine methodisch-didaktische Ausbildung in Redetraining nötig ist, gibt es hier nur Coaches oder Senior Coaches, allenfalls beim Redenschreiben Associates oder Juniors. Hinzu kommen in seriösen Beratungsunternehmen Konkurrenzausschlüsse (kein Coach arbeitet parallel für mehrere Klienten desselben Branchensegmentes). Schließlich sollten immer feste Honorare selbstverständlich sein, denn es gibt keine Massenoder Skaleneffekte im Executive Coaching.
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Kontinuität
Anders als etwa PR-Beratung bleibt Corporate Speaking beim gelieferten Produkt nicht stehen (Redemanuskript, Q and A, Charts, Konzepte). Integrierte Auftrittsberatung endet erst nach der Aktion und bemisst sich an deren Wirkung. In der Regel wird dies für den Kern – Stichwortkonzepte und Executive Coaching – in Kontingenten mit Retainer-Vereinbarung erfolgen. Einzelne Veranstaltungen, Dresscode und Foto werden nach Tageshonorar honoriert.
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Integrierte Auftrittsberatung (Corporate Speaking), die vom CEO-Themensetting über Produkte (Rede- und Antwortstichworte), Prozesse über Executive Coaching bis zum Dresscode für glaubhafte Präsenz sorgt, wird sich auch in deutschsprachiger Wirtschaftsrhetorik durchsetzen.
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Stefan Wachtel
SCHULZ, J. (2007): „Personalisierung in der Wirtschaft als Problem der Repräsentation“, in: Personalisierung in der Unternehmenskommunikation. Eisenegger, M./Wehmeier, S. (Hrsg.), Wiesbaden SCHULZ, J./WACHTEL, S. (2003): „Das Issue ist eine 2500 Jahre alte Kategorie“, in: Chefsache Issues Management. Kinter, A./Kalt, G./Kuhn, M. (Hrsg.), Frankfurt M., S. 154-167 SEITZ, A. (2004): „Medien-Coaching.de. Ein Marktüberblick“, in: Corporate Speaking. Auftritte des Spitzenmanagements. Positionierung, Executive Coaching, Dresscode, Bonn/London, S. 79-90 SHEEHAN, M. (2007): “Noch irgendwelche Fragen?“, in: Harvard Businessmanager, Heft 7/ S. 26-27 WACHTEL, S. (1999): Überzeugen vor Mikrofon und Kamera, Frankfurt/New York WACHTEL, S. (2001): „Topmanager: Vor Mikrofon und Kamera überzeugend auftreten“, in: Harvard Businessmanager, Heft 5/2001 WACHTEL, S. (2003/1): Rhetorik und Public Relations. Mündliche Kommunikation von Issues, München WACHTEL, S. (2003/2): Schreiben fürs Hören. Trainingstexte, Regeln und Methoden. 3. Auflage, Konstanz WACHTEL, S. (2004): „Wirtschaftsrhetorik“, in: Corporate Speaking. Auftritte des Spitzenmanagements. Positionierung, Executive Coaching, Dresscode, Bonn/London, S. 71-79 WACHTEL, S. (2004): „Corporate Speaking. Mündliche Kommunikation in der Wirtschaftsrhetorik“, in: Grundlagen der Sprechwissenschaft und Sprecherziehung. PabstWeinschenk, M. (Hrsg.), München/Basel, S. 338-339 WACHTEL, S. (2004/2): “Was ist Corporate Speaking”, in: Corporate Speaking. Auftritte des Spitzenmanagements. Positionierung, Executive Coaching, Dresscode, Bonn/ London, S. 9-18 WACHTEL, S. (2005): „Wirtschaftsrhetorik“, in: Zeitschrift Sprechen, H. 43/2005, S. 53-61 WACHTEL, S. (2007/1): „Corporate Speaking. CEO-Kommunikation und rhetorische Kompetenz“, in: Kommunikation im Corporate Change. Maßstäbe für eine neue Managementpraxis. Deekeling, E./Barghop, G. (Hrsg.), Wiesbaden, S. 65-83 WACHTEL, S. (2007/2): „Authentizität und Corporate Speaking“, in: Personalisierung in der Unternehmenskommunikation. Eisenegger, M./Wehmeier, S. (Hrsg.), Wiesbaden WACHTEL, S. (2007/3): „Die Rede muss zur Marke passen“, in: Harvard Businessmanager. Heft 5/2007, S. 28-31
Auftrittswirkung im Corporate Speaking
103
Auftrittswirkung im Corporate Speaking Werner Dieball
1.
Kopf und Marke
Die Personalisierung von Politik und Wirtschaft schreitet fort. Sie ist für die Vermittlung von Botschaften essentiell, denn Köpfe lassen sich leichter darstellen und vermitteln als Inhalte. Das Spitzenmanagement, insbesondere der CEO, verkörpert die Unternehmensmarke. Köpfe machen Kurse. Es ist unbestritten, dass die Entscheider den Unternehmenswert durch ihre Persönlichkeit und ihre Auftritte vorantreiben. Die öffentliche Präsenz bestimmt in großem Maße Image und Erfolg. Das imageentscheidende Massenpublikum verlangt nach dem Management persönlich. Überzeugende Führung der Unternehmensmarke braucht daher wirkungsvolle Präsenz gegenüber allen, die Reputation und Marke beeinflussen. Das Bild des Unternehmens nach außen hängt an dessen Köpfen. Wie diese repräsentieren, so wird das Haus wahrgenommen. Es gilt: Das Unternehmen durch professionelle Kommunikation darzustellen. Folgende Wirkungs-Kriterien sind dafür maßgeblich: Körperausdruck Äußeres Erscheinungsbild (Dress), Mimik, Gestik, Motorik Denkstil Planung und Aufbau der Äußerung Sprachstil Wörter, Satzform Sprechstil Stimmklang, Pausen, Melodie Inszenierung Proxemik (Verhalten im Raum), Umgang mit Pult, Bühne, Mikrofon, begleitende Bildelemente
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Werner Dieball
Die Auftritte der Akteure sollten ihrer Unternehmensmarke entsprechen, gleichzeitig sollen sie authentisch erscheinen. Das Ziel ist die Kongruenz des „Unternehmens-Stils“ und der persönlichen Erscheinung. Dazu muss integrierte Auftrittsvorbereitung (Corporate Speaking) ein angemessenes Verhältnis von Inhalt und Form erreichen. Denn was nützt selbst die eindrucksvollste Erscheinung, wenn eine schlechte Rede gehalten wird? Andererseits stört es natürlich, wenn der Vortragende zwar Richtiges sagt, dabei aber aus der Rolle fällt. Die Personen stehen für Marke und Rolle und sind nicht mehr nur Privatiers. Die Herausforderung lautet dementsprechend, dass Kopf und Marke eine Einheit bilden. In diesem Kontext sollte das Management Antworten auf folgende Fragen finden: In welcher Rolle erreicht das Spitzenmanagement die unternehmerischen Ziele? Welches Verhältnis besteht zwischen Rolle und Authentizität?
2.
Voraussetzungen für sozialverträgliches Kommunizieren
Wenn es mehr Spitzenmanager verstehen würden, so zu kommunizieren, dass ihre Mitarbeiter positiv gestimmt aus Gesprächen, Meetings und Begegnungen herausgehen, was wäre dann? Möglicherweise gäbe es weniger Konflikte, Krisen und Querelen. Die Unternehmensprozesse würden effektiver verlaufen, da die in der Regel unnötigen Auseinandersetzungen ausblieben. Dadurch würden viele Firmen eine Menge an Zeit und damit Kapital einsparen. Gleichzeitig müssten seltener externe Mediatoren oder Konfliktmanager engagiert werden, was zu zusätzlichem Einsparpotenzial und einer nachhaltig positiven Unternehmenskultur führen würde. Bei diesen Überlegungen handelt es sich nicht um Illusionen, sondern sie bieten Chancen. Der Schlüssel liegt in charismatischen Führungspersönlichkeiten, die ihre Fähigkeiten zielgerichtet und sozialverträglich einsetzen. Denn jeder Mensch entscheidet über seine Wirkung. Zur Frage, aus welchen Gründen manche Personen sofortige Wirkung entfalten, andere wiederum gar keine, werden im Folgenden einige Impulse angeboten.
Auftrittswirkung im Corporate Speaking
2.1
105
Charismatisch überzeugen
Es gibt Menschen, die nehmen Raum ein, die sind präsent und wirken ausdrucksstark. Andere Menschen wiederum, die binden sich symbolisch betrachtet ‚ein Klavier mit Stacheldraht um den Bauch’ und hinterher fragt man sich: „War da jemand? Hmm, ein Klavier?“ An die Person jedoch erinnert sich keiner mehr. Bei der Beantwortung der Fragen, was Charisma bedeutet, und ob es überhaupt trainierbar ist, hilft ein Blick auf zwei Definitionen. Der Brockhaus interpretiert Charisma „als die von Gott gegebene […].“ Je nach Glaubenseinstellung kann Charisma natürlich eine „gottesgesandte Gnadengabe“ sein. In diesem Fall, wäre Charisma allerdings schwer selbst zu trainieren. Die Charisma-Definition des Soziologen Max Weber erweckt diesbezüglich Hoffnung: „Die Fähigkeit eines Menschen, in nicht alltäglicher Weise, Menschen für sich und seine Sache zu gewinnen.“ Die Worte „in nicht alltäglicher Weise“ sind das entscheidende an Max Webers Definition. Wer „in nicht alltäglicher Weise“ auftreten möchte, benötigt nur eine wichtige Eigenschaft: Mut. Ohne rhetorischen und nonverbalen Mut wird es nicht zu einer Stärkung der persönlichen Ausdruckskraft kommen. Die individuelle charismatische Wirkkraft ist das Ergebnis von vier Resonanzkörpern: Sprache, Einfühlungsvermögen, Körpersprache und Intelligenz. Dabei sollte nun nicht das hoffnungslose Unterfangen angestrebt werden, alle vier Resonanzkörper in Perfektion zu beherrschen. Dies wird keinem Menschen gelingen. Auf dem Weg zu mehr Charisma sollte jeder Mensch vielmehr seinen eigenen Sensor für die vier Bereiche entwickeln und daran weiterarbeiten.
2.2
Grundannahmen der menschlichen Kommunikation
Die Sensibilisierung für die Auftrittswirkung kann dazu beitragen, dass sich Unternehmensprozesse produktiver gestalten, da so eine vertrauensvollere und verständnisvollere Kommunikation zwischen den Akteuren entsteht. Der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick liefert hierzu verschiedene Grundannahmen der menschlichen Kommunikation.
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Werner Dieball
Die wahrscheinlich gängigste lautet: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Das Alphabet der Körpersprache verrät ständig, in welcher Verfassung sich ein Mensch gegenwärtig befindet, denn auch wenn der Mensch schweigt, spricht er durch bzw. mit seinem Körper. Ein Spitzenmanager, der morgens ohne zu grüßen und zur Seite zu schauen durch die Geschäftsräume schreitet, kommuniziert für die Mitarbeiter sehr eindeutig. Je nach Situation wird diese Nicht-Kommunikation von den Mitarbeitern als Arroganz, Unhöflichkeit oder mangelnde Wertschätzung gewertet. Diese Situation mag sich banal anhören, ereignet sich allerdings tagtäglich in deutschen Unternehmen und kann die Atmosphäre unter den Angestellten deutlich verschlechtern. Ein Referent, der sein Produkt vor einer Gruppe präsentiert, von der zwei Personen immer wieder den Kopf schütteln, hat zwei Möglichkeiten: Er kann den Vortrag stur bis zum Ende durchzuziehen oder er ist für nonverbale Signale sensibilisiert und ist in der Lage flexibel damit um- bzw. darauf einzugehen. Wer das Axiom der ständigen Kommunikation versteht und beachtet, wird einen gewaltigen Schritt in Richtung sozialverträgliche Führung gehen. Wenn Menschen miteinander kommunizieren, findet sich in jeder Botschaft ein Inhalts- und ein Beziehungsaspekt. Diese Grundannahme liefert die Basis für kongruente Interaktion und empathische Kommunikation. Der Inhaltsaspekt vermittelt die Daten und der Beziehungsaspekt offenbart, wie diese Daten zu verstehen sind. Auf die mündliche Kommunikation übertragen heißt das, dass stets die Inhalts- und die Beziehungsebene der Menschen bedient werden sollten. Der Spitzenmanager, der fachlich versiert ist, jedoch nur die Verstandesebene der Mitarbeiter anspricht, wird diese langfristig weniger motivieren, als jemand, dem es gelingt auch die Emotionen zu wecken. Analog stellt es sich in der Politik dar. Die Politiker, die sachlich-analytisch lupenrein die Vorzüge der Gesundheitsreform hervorheben, werden wahrscheinlich weniger potenzielle Wähler erreichen, als die Politiker, die Hirn und Herz ansprechen. Wenn Spitzenmanager im Fernsehen auftreten, argumentieren sie meistens rein sachlichinhaltlich, während ein Spitzenpolitiker wie Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder seine Antworten häufig mit einem persönlichen Appell verknüpft, um so auf der Beziehungsebene der Bürger zu punkten. In drei verschiedenen Fernsehduellen spielte sich in etwa folgendes Szenario ab: „In diesem Zusammenhang, möchte ich Ihnen von meiner persönlichen Situation berichten. Meine Mutter, Kriegerwitwe, hat alleine fünf Kinder groß gezogen. Sie hat wirklich buckeln müssen. Ich hab erst mal nen Beruf gelernt, war Ladenschwengel, ehe ich über den zweiten Bildungsweg Abitur und Studium nachgeholt habe. Deshalb setze ich mich dafür ein, dass bei uns in Deutschland auch diejenigen eine Chance erhalten, die nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren worden sind. Daher habe ich dafür gesorgt, dass der Bildungsetat […] erhöht wird.“
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Bereits im TV-Duell um das niedersächsische Ministerpräsidentenamt 1998 mit seinem Herausforderer Christian Wulff bringt Gerhard Schröder seine emotionalisierende Familiengeschichte. Wulff als Zuhörer schaut staunend bis anerkennend zu. Wie müssen dann erst die menschelnden Sätze Schröders auf die potenziellen Wähler/innen an den Fernsehbildschirmen wirken? Ähnlich wie 1998 verfährt Bundeskanzler Schröder im ersten Fernsehduell mit Edmund Stoiber 2002. Mit sonorer, warmer Stimme spricht er von dem Schicksal seiner Familie. Dadurch punktet Schröder kräftig bei den Fernsehzuschauern, da seine bildhaften Worte wie „goldener Löffel“ oder „hat buckeln müssen“ die Gefühlswelt des Publikums erreichen. Doch damit nicht genug. Prätendent Stoiber interveniert, indem er zischt: „Schöne Worte. Schöne Worte.“ Nun schnappt die Moral-Falle Schröders vollends zu. Der Bundeskanzler dreht sich ruhig in Stoibers Richtung und rügt mit der offenen rechten Hand und sanfter Stimme: „So sollten Sie nicht über meine persönlichen Erfahrungen sprechen. Das sollten sie nicht tun.“ Anschließend wendet sich Schröder wieder nach vorne zu den Fernsehzuschauern und fährt fort. Trotz seiner jahrzehntelangen politischen Erfahrung, steht Kanzlerkandidat Stoiber buchstäblich da wie ein kleiner Schuljunge, der gerade vom großen Lehrmeister die Leviten gelesen bekommt. Und das vor einem TV-Auditorium von etwa 15 Millionen Menschen. Ein Deja-vu im Jahre 2005, denn auch im Fernsehduell mit Angela Merkel spielt der Bundeskanzler seinen Emotio-Trumpf aus. In diesem TV-Zweikampf, bietet Schröder nochmals sein gesamtes darstellerisches Können auf. Dass was vielen Managern und Unternehmensbossen fehlt, da sie sich meistens nur auf die Sachebene konzentrieren, beherrscht Schröder perfekt. Der Medienkanzler mimt den Inszenierungsartisten, der es versteht, an die Gefühle seiner Adressaten zu appellieren. Ganz gleich wie einzelne Kritiker es beurteilen, die Mehrheit der Duell-Zuschauer empfand Schröders Liebes-Botschaft an seine Frau Doris Schröder-Köpf als großes Kino. Obwohl der Bundeskanzler von den Journalisten mehrmals unterbrochen wird, lässt er es sich nicht nehmen mit Pathos zu verkünden: „Und das ist nicht zuletzt der Grund, warum ich sie liebe.“ Das TV-Publikum ist perplex bis berührt, auf einmal transferiert die hohe Politik HollywoodFlair direkt in die deutschen Wohnzimmer. Diese Beispiele dokumentieren, welche starke und vor allem nachhaltige Wirkung erzielt werden kann, wenn verinnerlicht wird, dass die Beziehungsebene bestimmt, was auf der Sachebene möglich ist. Die Kenntnis des Watzlawick-Axioms, wonach „Kommunikation immer digital und analog ist“, hilft bei der Frage mit welchen Mitteln die beiden Ebenen am besten zu erreichen sind.
108
Werner Dieball
Während digitale, verbalsprachliche Informationen wie Zahlen, Daten und Fakten die Vernunft ansprechen, lösen analoge, körpersprachliche Informationen wie Motorik, Mimik, Gestik und Tonfall Gefühle aus. Um eine empathische und überzeugende Kommunikation zu gewährleisten, ist es unerlässlich, die Gesprächspartner oder Zuhörer durch den Einklang von Worten und Körperausdruck zu aktivieren.
7% Worte
38% Tonfall/ Stimme
55% Körpersprache
Abbildung 1:
Kommunikationspyramide
Wenn diese Grundannahmen der menschlichen Kommunikation vernachlässigt werden, kann das zu Kommunikationsstörungen, Konfliktsituationen und Missverständnissen führen. Da in Vorträgen, Seminaren und populärwissenschaftlichen Ratgebern verschiedene, teils widersprüchliche Aussagen zur Auftrittswirkung im Umlauf sind, ist es an der Zeit Aufklärungsarbeit zu betreiben.
2.3
Der Mythos: 7 Prozent Inhalt
Auf dem freien Kommunikationsmarkt dreht sich ein buntes Zahlenkarussell zur Bedeutung der Auftrittswirkung. Dabei hat das sogenannte „Kommunikationsdreieck“ mittlerweile den Status eines international anerkannten Klassikers eingenommen. Es besagt, dass die Kommunikation zu 7 Prozent vom Inhalt, zu 38 Prozent von der Stimme und zu 55 Prozent von der Körpersprache bestimmt wird. Die einfache Formel 7 % + 38 % + 55 % = 100 % dient der gesamten KommunikationsBranche als Aufhänger und wissenschaftliche General-Legitimation.
Auftrittswirkung im Corporate Speaking
109
Je nach Bedarf wird die Formel interpretiert. Mal heißt es, etwa zwei Drittel unserer Kommunikation findet ohne Worte statt, andernorts findet sich gar die These, dass 97 Prozent der Kommunikation ohne Worte abläuft. Nur drei Prozent der Informationen würden verbal vermittelt. In Verkaufsschulungen wird Führungskräften die 80/20-Gleichung erklärt, die aus der Kommunikationspyramide abgeleitet wurde. Dort heißt es ca. 80 Prozent aller Entscheidungen werden aus dem ‚Bauch’ heraus gefällt. Andere Autoren übertragen die Zahlen auf die Bildgestaltung von fernsehjournalistischen Produkten. Sie schlussfolgern, dass die Wahrnehmung der Zuschauer zu 80 Prozent durch das Bild und zu 20 Prozent durch den Ton bestimmt wird. So dankbar das Zahlenmaterial für Trainer, Coaches, Autoren und Journalisten auch ist, so ernüchternd ist ein genauerer Blick auf die wissenschaftlichen Wurzeln dieses Kommunikationsklischees (vgl. Lenhart/Wachtel 2002). Die Experimente des amerikanischen Psychologieprofessors Albert Mehrabian aus dem Jahr 1967 bilden die Quelle des Wissenschaftsmythos. In seinen beiden Versuchen kam Mehrabian zu dem Resultat, dass nonverbale Signale eine viel stärkere Wirkung als der verbale Inhalt hatten, und der Gesichtsausdruck eine stärkere als der Tonfall. Die Kritik der Autoren richtet sich auf die wissenschaftlich vagen Ergebnisse von Albert Mehrabian. Denn zum einen beschränken sich die Forschungen auf 30 amerikanische Studenten, zum zweiten sind sie aus einer beobachteten Labor-Situation heraus und nicht aus einer direkten Face-to-face-Situation entstanden. Daher ist es unter wissenschaftlichen Aspekten fraglich, ob die statistischen Auswertungen von Mehrabian tatsächlich als signifikant bezeichnet werden können. Dieser international kursierende Kommunikations-Virus, soll jedoch nicht die Bedeutung des nonverbalen Managements und des Stimmklangs in Frage stellen. Denn der Weg zu einer professionellen Auftrittswirkung liegt in der Kongruenz von Sprache, Körper und Stimme (s. Abbildung 2). Insbesondere im Bereich der Körpersprache existieren eine Vielzahl von empirischanalytischen Untersuchungen, die für das Spitzenmanagement interessant sind. So ergaben bspw. die Forschungen von William Condon, dass dem Körper häufig bereits eine Sekunde vor dem ausgesprochenen Wort analoge Vorbereitungen vorausgehen. Dieses Phänomen ist dann zu beobachten, wenn sich der Körper eines Menschen durch Augenbewegungen, Luftholen bei gleichzeitigem Aufrichten des Körpers oder einer einleitenden Bewegung der Hand zum Sprechen vorbereitet.
110
Werner Dieball
Worte
Stimme
Körperausdruck
Abbildung 2:
Kongruente Kommunikation
Des Weiteren fand Condon heraus, dass es neben der Selbstsynchronie auch eine Synchronie mit dem Gesprächspartner gibt, die Interaktions-Synchronie: Bei einem harmonischen Gespräch bewegt sich der Zuhörer im Sprechrhythmus des Sprechers und vice versa. Eine Strukturanalyse des Psychologen Siegfried Frey dokumentiert die Macht des ersten Eindrucks. In einer Studie zur Bildwirkungsforschung wies Frey nach, dass bereits der Bruchteil einer Sekunde einer Fernsehsendung ausreicht, um bei den Zuschauern reflexartige Deutungen auszulösen und so über Sympathie und Antipathie zu entscheiden. Dementsprechend kann gefolgert werden, dass der erste Eindruck den Prozess der Meinungsbildung automatisch auslöst (vgl. Frey 1999). Da der erste Eindruck in jeglichen Kommunikationssituationen maßgeblich ist, sollten die Verhaltenskreise, die sogenannten Distanzzonen unbedingt respektiert werden.
2.4
Proxemik
Als Wissenschaftler wie Ray Birdwhistell und Paul Ekman (vgl. Ekman 1969) den Begriff „Kinesics“, der Lehre von den Körperbewegungen, einführten und Edward T. Hall seine Erkenntnisse zu der Wirkung der Distanzzonen „Proxemics“ vorstellte, wurden neue Sichtweisen zum nonverbalen Ausdrucksverhalten entwickelt. Die Forschungsarbeiten von Edward T. Hall (vgl. Hall 1959), zeigen wie Menschen Raum benutzen. Hall hat seine Ergebnisse unter dem Begriff „Proxemik“ zusammengefasst. Ein einfaches Experiment zur Raumbeanspruchung und Revierverteidigung unterstützt die wissenschaftlichen Ergebnisse von Hall.
Auftrittswirkung im Corporate Speaking
111
4,0 m
persönliche Zone 0,5m bis 1,5m
1,5 m- 4,0m 0,5 m- 1,5m
intime Zone bis 0,5 m
0,5 m
öffentliche Zone ab 4,0m
gesellschaftliche, soziale Zone 1,5m bis 4,0m
Abbildung 3:
Distanzzonen
Bei dem Versuch dringt Person A mit einer Zigarettenschachtel, einem Teller, Besteck und schließlich dem Oberkörper in den persönlichen Raum von Person B ein. Daraufhin fühlt sich Person B bedroht und reagiert automatisch mit der Verteidigung ihres Reviers. Der Manager der seiner Assistentin die Arbeitsmappe auf den Tisch wirft, hat von Höflichkeitsformen einmal abgesehen, ihr Territorium verletzt. Die beiden Geschäftspartner, welche zum ersten Mal zusammentreffen, begrüßen sich per Handschlag. Jedoch berührt der eine den anderen zusätzlich am Oberarm. Diese Berührung bestimmt den ersten Eindruck maßgeblich mit und kann einen großen Einfluss auf den weiteren Gesprächsverlauf haben. Denn je nach Berührungstoleranz fühlt sich der Berührte in seiner Intimzone verletzt. Selbstverständlich gibt es bei den Distanzzonen interkulturelle Unterschiede, auf die sich situationsspezifisch einzustellen ist. Für unseren Kulturkreis empfiehlt es sich, die Contenance zu wahren und sich in Zurückhaltung zu üben. Die anstehenden Ausführungen zur Auftrittswirkung sollen zur Dechiffrierung komplexer Kommunikationssituationen beitragen.
112
3.
Werner Dieball
Elemente und Einsatzmöglichkeiten der Auftrittswirkung
Es ist zu prüfen, welche Prägung die auftrittswirksamen Merkmale: Erscheinungsbild, Motorik, Mimik, Gestik, Stimme und Sprechstile dem Spitzenmanagement und damit verbunden der Unternehmensmarke geben können.
3.1
Erscheinungsbild
Die Anforderungen an die richtige Kleiderwahl stellt für das Spitzenmanagement ein sehr wichtiges Kriterium dar, denn in der Öffentlichkeit repräsentieren sie mehr als nur ihre eigene Person. Der Stil der persönlichen Erscheinung sollte mit der Unternehmensmarke harmonieren. Prinzipiell sind Frauen in Führungspositionen mit einem Hosenanzug oder einem Kostüm angemessen gekleidet. Damit können Blusen, Tops oder feiner Strick kombiniert werden. Für eine selbstbewusste Spitzenmanagerin ist es wichtig, dass sie durch ihr Auftreten Modernität ausstrahlt. Ein distinguierter, femininer Kleidungsstil zeichnet sich etwa durch taillierte Jacketts in dezenten Pastellfarben aus. So kann schnörkellose Eleganz zum Ausdruck gebracht werden. Anschauungsunterricht diesbezüglich gibt die US-Außenministerin Condolezza Rice, die durch ihre Kleidersprache einen allgemein positiven, erfrischenden Eindruck hinterlässt. Neben der Kleidung hilft die Schminke dem persönlichen Ausdruck mehr Kraft zu verleihen. Ein glättendes Make-up, überdeckt die Gesichtsfalten vor allem um die Mundpartie und lässt den Teint frischer erscheinen. Bei Medienauftritten gehört das Auftragen von Make-up mittlerweile für Frauen und Männer zum Standardprogramm. Eine Spezialpflege um die Augen, lässt den Blick wacher und den Gesichtsausdruck insgesamt überzeugender wirken. Frauen können ihrem Antlitz durch das Schminken der Lippen etwa in einem leuchtenden Terrakotta-Ton mehr Ausdruckskraft verleihen. Zum maskulinen Kleidungscodex gehört, dass Führungspersönlichkeiten dunkelblaue oder anthrazitfarbene Anzüge tragen sollten. Von Kombinationen wie unifarbene Hose mit karogemustertem Sakko oder Ähnlichem ist unbedingt Abstand zu nehmen. Auch bei noch so hochsommerlichen Temperaturen sollten im Business keine halbärmeligen Hemden getragen werden. Dass der Satz „Körpersprache kann nicht lügen“ wenig Substanz hat, versinnbildlicht folgendes Beispiel. Obwohl auf beiden Bildern ein und dieselbe Person abgelichtet ist, wird wohl in jedem beliebigen Bewerbungsverfahren die Person „Normal I“ der Person „Normal II“ vorgezogen.
Auftrittswirkung im Corporate Speaking
Abbildung 4:
113
Normal I
Normal II
Generell empfiehlt sich ein eher konservativer als ein zu auffälliger Stil. Als Faustformel für Frauen und Männer gilt, maximal drei verschiedene Farben miteinander zu kombinieren. Von protzigem Schmuck an Körper und Kleidung ist abzuraten. Hier gilt ebenfalls die Devise: „Weniger ist mehr“, d. h. Männer maximal zwei und Frauen maximal vier Schmuckstücke.
Äußere Signale Äußeres Signal
Effekt
dunkle, schlichte Anzüge
geschäftsmäßig
hemdsärmelig
kämpferisch
Brille
ggf. seriöses Element
diagonalgestreifte Krawatte
moderner Zeitgeist
Schminke, Make-up
frischer, vitaler Gesichtsausdruck
3.2
Mimik
Der Begriff „Mimik“ definiert sich als das, was sich zwischen Stirn und Kinn abspielt. Die 22 Muskeln auf jeder Gesichtshälfte, sind in der Lage über 10.000 mimische Ausdrucksmöglichkeiten hervorzurufen. Die lange Tradition wissenschaftlicher Untersuchungen der Mimik zeigt, dass das Gesicht ein wichtiger Gradmesser für den Ausdruck von Emotionen ist.
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Werner Dieball
Dass die Deutung der Mimik kulturunabhängig ist, beweisen die Untersuchungsergebnisse der Psychologen Ekman, Friesen und Sorenson (vgl. Ekman 1969). Ihre Forschungen legen dar, dass es sieben Grundemotionen gibt: Freude, Überraschung, Angst, Traurigkeit, Wut, Ekel und Interesse. Da die Mimik eng mit diesen Grundemotionen und ihren zentralnervösen Prozessen verknüpft ist, kann das Mienenspiel nur in einem gewissen Maß kontrolliert werden. Die Physiognomie wird einerseits durch den genetischen Code, andererseits durch Lebenseinstellung, Erlebnisse und innere Verfassung geprägt. Zu den wichtigsten Kommunikationsinstrumenten gehören die Augen. Sie haben vor allem eine regulative Funktion für die ablaufende Interaktion. Dem Empfänger, sprich dem aktiven Zuhörer, ist ein aufmerksames Blickverhalten zu empfehlen. Bei Vortragssituationen gelten die Grundregeln: Blick in die Runde, Augen schweifen lassen, je nach Redeanlass eine positiv angemessene Mimik. Eine Studie von Ekhard Hess (vgl. Hess 1972) belegt, dass sich die Pupille unbewusst weitet, wenn das Auge etwas Erfreuliches oder Angenehmes wahrnimmt. Ein altes chinesisches Sprichwort besagt: „Wenn Du nicht lächeln kannst, dann eröffne keinen Laden.“ Durch nonverbale Autosuggestion kann der innere Gefühlszustand verändert werden. Ein 30 Sekunden anhaltendes Grinsen auch bei schlechter Laune kann Wunder wirken. Selbstverständlich sollte das Lächeln zur jeweiligen Situation passen. Wer sich wie etwa Edmund Stoiber im Bundestagswahlkampf 2002 mit einem leichten Lächeln über die hohe Arbeitslosigkeit ereifert, erlangt bei den Rezipienten wenig Glaubwürdigkeit. Durch das Lachen wird die Freisetzung von Hormonen und Neurotransmittern (Botenstoffen) im Gehirn stimuliert. Zu den wichtigsten Neurotransmittern gehören Glückshormone wie etwa Serotonin, Acetylcholin, Dopamin und die Endorphine. Die vom Körper ausgeschütteten Glückshormone bewirken im Gehirn, dass sich ein umfassendes Wohlgefühl einstellt.
Auftrittswirkung im Corporate Speaking
115
Mimische Signale Mimisches Signal
Effekt
offenes Lächeln zur Begrüßung/Verabschiedung
Sympathien gewinnen, emotionaler Verstärker
verzerrtes Lächeln, nur Mundwinkel angehoben, Augen lächeln nicht mit Lippen strichförmig zusammenpressen
artifiziell, grimassenhaft
mit der Zungenspitze über die Oberlippe lecken häufiges Schließen der Augen
Selbstbestätigung, Honorierung
Augenbrauen heben Augenbrauen senken bzw. zusammenziehen
Skepsis, Erstaunen, Arroganz Ärger, Nachdenklichkeit
Kinn vorschieben Blick zur Seite, nach unten
Durchsetzungswillen ausweichend, ängstlich
schweifender Blick in die Runde
Ruhe, Sicherheit
3.3
angespannt, verbittert
Schutz gegen äußere Reize
Stimme
Die Wirkungskomponenten der Stimme sind Tonfall, Sprechmelodie, Sprechpausen, Lautstärke und Sprachrhythmus. Der Tonfall lässt sich in Stimmhöhe, Schnelligkeit, und Volumen kategorisieren. Bei der Sprechmelodie ist zwischen dem Heben und Senken der Stimme zu unterscheiden. Jemandem, der zu monoton spricht, ist zu empfehlen die Stimme durch mehr Intonation abwechslungsreicher einzusetzen. Die Fähigkeit, die Stimme situationsspezifisch zu modulieren, ist die Basis für ein erfolgreiches Auftreten. Die rhetorische Wirkpause ist neben der variierenden Sprechgeschwindigkeit und der Lautstärke ein weiteres Stilmittel, um den Worten Nachdruck zu verleihen.
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Stimmsignale Stimmliches Signal
Effekt
monotone Stimme
desinteressiert, ermüdend
Modulation zwischen ernstem und jovialem Ton
abgeklärt, überlegen
ruhige, klare, sonore Stimme
angenehm, souverän, sicher
schneller, hastiger Sprechrhythmus
unverständlich, unsicher
jovialer, ironischer Ton
leutselig, humorvoll, unterhaltsam
sachlicher, nüchterner Ton
ernst, geschäftsmäßig
dozierender Ton
oberlehrerhaft, besserwisserisch
3.4
Gestik
Eine der am häufigsten gestellten Fragen in Coaching- und Trainingsmaßnahmen lautet: „Wohin mit den Händen, wenn ich im Rampenlicht stehe?“ Plötzlich geraten gestandene Manager ins Schwitzen, denn die Hände werden, symbolisch betrachtet, so groß wie Tennisschläger. Der Einsatz der Arme und Hände ist sehr stark evolutionär bedingt. Insbesondere in Stresssituationen sind ursprüngliche gestische Instinkte zu beobachten. Da wir nicht mehr wie früher fliehen können, spiegelt sich unser Unwohlsein in gestischen Reaktionen wie Finger an Nase oder Ohr wider. Generell ist zwischen der offenen, empfindlichen, vertrauenschenkenden und der zudeckenden, abwehrenden Hand zu trennen. Wenn Bewegungen von oben nach unten zu beobachten sind, wird meistens Dominanz ausgedrückt. Der Redner, der am Podium steht, und mit seinen Händen die Beifalls- oder Ablehnungsbekundungen nach unten drückt, möchte einerseits das Publikum beruhigen, andererseits möchte er es dominieren. Andere Dominanzgesten sind das Ballen der Faust oder der Einsatz des Zeigefingers. Die Faust strahlt einen aggressiven Reiz aus, signalisiert aber auch die Bereitschaft für eine Sache zu kämpfen. Mit dem Zeigefinger kann etwa eine Pistole gebildet werden, wodurch der Sprecher seine Angriffslust zum Ausdruck bringt. Stellen wir uns den Manager vor, der in einer Teambesprechung mit ausgestrecktem, dolchartigem Zeigefinger seinen Mitarbeitern erklärt: „Ab heute machen wir Teamarbeit.“
Auftrittswirkung im Corporate Speaking
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Zwar signalisieren seine Worte etwas Positives, sein Körper verrät ihn aber durch die autoritäre, drohende Dominanzgeste. Der ehrenwerte Teamgedanke wird durch die Killergeste konterkariert. Für die Mitarbeiter erscheint der Manager inkongruent. Steckt ein Redner seine Hand in die Hosentasche, so bedeutet dies, dass er dadurch eine ungezwungene, zwanglose Atmosphäre herstellen möchte. Allerdings ist das „Hände in die Hosentasche stecken“, das eher typisch männlich ist, zu unterlassen. Es hat eine arrogante, überhebliche Außenwirkung. Nach dem Motto: „Wer mich nicht kennt, hat nicht gelebt.“ Eine fließende, spielerische Gestik wirkt angenehmer und ausgeglichener auf die Rezipienten. Die Menschen möchten klare, sichere Gesten, die aus dem Inneren emporkommen, sehen. Eine zu schnelle und hektische Gestik weckt negative Assoziationen. Zackige Arm- und Handbewegungen hinterlassen beim Gegenüber einen fahrigen unruhigen Eindruck. Ein Problem bleibt: Was wirkt echt, was aufgesetzt? Mit schematisch einstudierten Gesten wird keine Glaubwürdigkeit erreicht. Denn Körperausdruck in diesem Sinne lässt sich nicht trainieren. So sind beispielsweise die Hände des Redners ein wichtiges Ausdrucksmittel, um den Grad der Aufregung abzulesen. Durch angespannte, verkrampfte Hände, die sich aneinander festhalten oder die Stuhllehne umklammern, zeigt sich Nervosität und Anspannung. Die Grundregel lautet: Die Hände sind zum Handeln da. Sie sollen die Worte des Sprechenden moderat begleiten. Durch die Hände kann Sprache plastisch gemacht werden. Dabei sollten sich die Hände im Wechselspiel zwischen der neutralen Zone (oberhalb der Gürtellinie) und der positiven Zone (in Brusthöhe) bewegen. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass ein übertriebener Einsatz in der positiven Zone artifiziell wirken kann. Es bringt jedoch nichts, dem Spitzenmanager zu raten, mehr oder weniger mit den Händen zu machen. Denn in der Auftrittsvorbereitung – oft kurzfristig und fast immer unter Zeitdruck – ist nicht der Rahmen für die Aufarbeitung von Unbewusstem. Das würde nur verunsichern und ist daher für das Trainieren der Sicherheit in der Rolle kontraproduktiv. Der Schlüssel liegt im Denk-, Sprach- und Sprechstil. Wer es versteht, verständliche Satzformen zu bilden und wer die eigene Wirkung kennt, wird automatisch Äußeres und Äußerung in Einklang bringen. Anders gesagt: Wer sicher in der Rolle ist, wirkt auch in Haltung und Gestik souverän.
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Gestische Signale Gestisches Signal
Effekt
körpergerichtete Bewegungen
emotionale Erregung
akzentuierte, fließende Gesten
Ruhe, Gelassenheit
Kinn streicheln
Nachdenklichkeit
sich kurz an die Nase greifen
Verlegenheit, sich ertappt fühlen
Hände unterhalb der Gürtellinie
negative Zone
Hände oberhalb der Gürtellinie (Hüftbereich)
neutrale Zone
Hände in Brusthöhe
positive Zone
Dominanzgesten wie Zeigefinger heben oder das dreigezackte Fingerröllchen
Angriffsinstrumentarien zur Bedrohung bzw. Belehrung
3.5
Motorik
Grundsätzlich ist darauf zu achten, dass beide Füße festen Bodenkontakt haben. Dabei sind die Fußballen und Fersen bewusst zu spüren. Dieser motorische Ablauf sendet dem Gehirn Sicherheit und gibt dem Akteur Ruhe und Kraft. Der Kopf ist gerade zu halten und die Muskulatur des aufrechten Oberkörpers kann für wenige Sekunden etwas angespannt werden. Die Redner, die ständig auf den Fußballen wippen oder umherlaufen, wirken unruhig und fahrig. In Vortragssituationen hat es sich bewährt, einen festen Fixpunkt auszuwählen, an den der Sprechende immer wieder in die obig beschriebene Position zurückkehrt. Vom Fixpunkt aus, der dem Referent zusätzliche Konzentration und Souveränität gibt, sollte das gesamte Auditorium gut zu sehen sein. Um eine selbstbewusst scheinende Sitzhaltung einzunehmen, ist es wichtig, nicht auf dem vorderen Stuhlrand zu sitzen, sondern die gesamte Sitzfläche auszufüllen. Derjenige, der sich mit vollem Körpergewicht auf der gesamten Sitzfläche positioniert, signalisiert Selbstsicherheit, während derjenige, der sich auf der Stuhlkante platziert, eher Unsicherheit offenbart. Analog zum Sprechen im Stehen, sollten die Füße auch im Sitzen festen Bodenkontakt haben. Die Kongruenz von Körperhaltungen zwischen Gesprächspartnern ist ein wichtiges nonverbales Signal. Ähnliche oder spiegelbildliche Körperhaltungen finden sich vor allem in solchen Gesprächen, in denen der Verlauf positiv erlebt wird. Inkongruente Körperhaltungen treten dagegen meistens dann auf, wenn die inhaltliche Übereinstimmung fehlt oder eine Störung auf der Beziehungsebene vorliegt.
Auftrittswirkung im Corporate Speaking
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Motorische Signale Motorisches Signal
Effekt
den Kopf einziehen
Unsicherheit, Schuldbewusstsein
ruckartige Kopfbewegungen
hektisch, fahrig, aggressiv
moderater Kopf- und Oberkörpereinsatz
nachhaltige Verstärkung der Argumentation
vorgebeugter Oberkörper
Interesse, Offensive ergreifen
fester Stand (Fußstellung hüftbreit, Fußspitzen einen ‘Tick’ nach außen)
Ruhe, Sicherheit
die Beine übereinanderschlagen zum Gesprächspartner hin
Sympathien, Vertrauensbekundung
die Füße um die Stuhlbeine legen
Unsicherheit, Halt suchen
3.6
Sprechstil
Es geht darum, mit den richtigen Argumenten den Anschluss an das (Medien-) Publikum zu finden und klare Botschaften zu vermitteln. Ein sprechtechnisches Manko tritt dann auf, wenn Sachverhalte zu kompliziert und zu weitschweifig dargestellt werden. Ebenso wie das nonverbale Management verlangt die Sprache nach einer klaren Struktur. Zahlreiche Schachtelsätze führen zur Disharmonie zwischen Sprache und Körper. Durch zu viele Nebensätze, sprich Nebelsätze, können bei den Rezipienten Irritationen entstehen. Lange Sätze wirken kraftlos, kurze Sätze sind lebhafter und drücken mehr Dynamik aus. Wer mehr sprachlichen Esprit erzielen möchte, sollte versuchen, in den nächsten Redesituationen 6-8 Wortsätze zu formulieren. In dieser Trainingsphase liegt der Fokus auf Hauptsätzen. Wörter wie „und/oder“ sind zu vermeiden. Wenn gleichzeitig die passenden rhetorischen Wirkpausen gesetzt werden, können einzelne Passagen durch die entsprechende Betonung mehr Gewicht erhalten. In das sprachliche Repertoire sollten nicht zu viele Fremdwörter und Anglizismen eingebaut werden. Es ist ein Trugschluss anzunehmen, dass eine möglichst komplizierte, verklausulierte Sprache dem Sprecher mehr Kompetenz und Überzeugungskraft verleiht. Die Kunst besteht darin, sich einfach, klar und stimulierend zu artikulieren, so dass die Inhalts- und Beziehungsebene der Zuhörer oder Gesprächspartner erreicht wird.
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Werner Dieball
Sprechstilsignale Sprechstilistisches Signal
Effekt
origineller Einstieg (1. Eindruck zählt)
Interesse, Aufmerksamkeit
origineller Ausstieg (der letzte Eindruck bleibt)
nachhaltige Wirkkraft
kurze, einfache, strukturierte Sprechweise
bessere Verständlichkeit
bildhafte, stimulierende Sprache
Aktivierung der Beziehungsebene
Einsatz der Pausentechnik
Betonung, Spannungsaufbau
4.
Fazit
„Wir alle spielen Theater“, so der Titel des modernen Klassikers der Soziologie von Irving Goffmann (vgl. Goffmann 1996). Die Schlussfolgerung daraus ist, dass die Menschen Theater spielen, sobald sie „mit anderen in Beziehung treten.“ Die Kunst für die im Medienzeitalter agierenden Akteure besteht darin, die richtige Rolle im Theater zu verkörpern. Schauspieler bereiten sich oft monatelang täglich auf ihre neuen Rollen vor, um sie zu verinnerlichen und dem Auditorium Authentizität zu vermitteln. Das soll nicht heißen, das Management sollte wie Schauspieler trainieren, vielmehr soll es dazu anregen und ermutigen, sich über einen längeren Zeitraum mit der eigenen Auftrittswirkung zu beschäftigen. Es ist jedoch vermessen zu glauben, dass man sich durch ein einziges Coaching in eine völlig neue Rolle, bspw. die des Vorstandsvorsitzenden, begeben kann und diese dann perfekt spielt. Selbst ein professionell ausgebildeter Schauspieler wäre in diesem Fall zum Scheitern verurteilt. In vielen sogenannten Ratgebern der Kommunikations-Literatur, in vielen Coaching- und Trainingsmaßnahmen wird sich auf die reine Wirkung konzentriert. Dies führt häufig zu einer reinen Strohfeuer-Verhaltensänderung. Nach dem Motto: „Sprechen Sie kürzer, bewegen Sie Ihre Hände moderater und schauen Sie freundlicher.“
Dies kann allenfalls zu gutem Benehmen führen. Schlimmstenfalls kann es sogar kontraproduktiv sein, wie das Beispiel von Edmund Stoiber im Bundestagswahlkampf 2002 gezeigt hat.
Auftrittswirkung im Corporate Speaking
121
Die Schlussfolgerung: Nie geht es nur um die Form des Auftritts. Der Inhalt ist wesentlich: In der professionellen Auftrittsvorbereitung werden Äußerungen erarbeitet, die Form ergibt sich daraus. Die Trainierten sollen nicht zu weichgespülten Marionetten gerieren. Der individuelle Kern muss sich in der Rolle wiederfinden. Nur so können markige, greifbare Unternehmensgesichter langfristig glaubhaft auftreten. Wer es versteht einen Sensor zu entwickeln, der es ermöglicht, sich in kürzester Zeit verbal und nonverbal auf die verschiedensten Gruppierungen einzustellen, egal ob es sich um eine Praktikantengruppe oder eine Geschäftsführerversammlung handelt, ist auf einem guten Wege charismatisch aufzutreten.
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122
Werner Dieball
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Rede beginnt vor der Rede
Teil C Rede
123
Rede beginnt vor der Rede
125
Rede beginnt vor der Rede Vorfeldkommunikation im Redemanagement Manfred Piwinger
1.
Was ist Vorfeldkommunikation?
Im Vorfeld einer kommunikativen Maßnahme müssen Entscheidungen getroffen werden, die den Erfolg der Maßnahme sichern. Um die richtigen Entscheidungen zu treffen, braucht man Wissen. Sehr viel Wissen kann durch Kommunikation erworben werden, zum Beispiel ein Antesten der Befindlichkeit oder Stimmung des Publikums. Insofern gilt der Satz, dass Vorfeldkommunikation Kommunikation vor der Kommunikation ist. Wir erkunden unbekanntes Gelände, eine neue Situation, eine neue Zielgruppe. Wir treffen auf eine Zuhörerschaft, deren Einstellungen, Verhaltenserwartungen und Ansprüche an die Kommunikation uns nicht geläufig sind. Vorfeldkommunikation ist Erkundungskommunikation und stellt die Reflexion von Gelingensbedingungen in den Mittelpunkt. Keine Kommunikation beginnt bei Null. Noch bevor eine Zielgruppe in eine spezifische Kommunikation eintritt, stellt sie sich auf die Hauptakteure ein. Beispielsweise eilt in einer Hauptversammlung dem Vorstandsvorsitzenden ein bestimmtes Image, ein bestimmter Ruf voraus. Jeder Kommunikation ist ein Filter von Vorbewertungen, Annahmen und Vorwissen vorgeschaltet (Piwinger 2005, S. 92 ff.). Jede Kommunikation erfolgt in einem historischen, sozialen und kulturellen Kontext, der dem Verstehen vorgelagert ist. Welche Zielgruppe bewertet zum Beispiel einen pathetischen Stil positiv, welche negativ? Methoden, Verfahren und Instrumente der Vorfeldkommunikation sind aus anderen Disziplinen verfügbar und brauchen nicht neu erfunden zu werden. Mit Hilfe systematisch angewandter Methoden der Vorfeldkommunikation können kommunikative Prozesse besser gesteuert werden. Denn Vorfeldkommunikation beinhaltet Wissen über den angemessenen Einsatz unterschiedlicher Symbolsysteme (Sprache, Gestik, Mimik, Marken, Rituale etc.), Wissen über Impression-Management-Strategien, Wissen über Verlaufsmuster zum Beispiel von Skandalen, Wissen über kultur-, regional- und geschlechtsspezifische Kommunikationserwartungen und Kommunikationspräferenzen sowie Wissen über Wissen (Wissensmanagement) und Wissen über Denkstile (vgl. Ebert/Piwinger 2007 u. Reinhardt/Eppler 2004).
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Manfred Piwinger
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass über den Erfolg einer Rede im Vorhinein entschieden wird. Das Misslingen einer Rede kann seine Gründe in einer unzureichenden Bearbeitung des Vorfeldes haben. Im Momentum der Rede erweist sich die Qualität der Vorfeldkommunikation, die immer Resultat einer gründlichen Vorüberlegung ist.
2.
Rede und Vorfeldkommunikation
Reden und Vorträge haben als gemeinsames Charakteristikum, dass sie im Moment ihrer Realisierung abschließend sind. Oft schon während des Vortrages, spätestens danach merken wir an der Reaktion der Zuhörer Signale der Wertschätzung oder der Geringachtung. Für Reden und Vorträge gibt es keine Wiedergutmachung. Die Redewirkung ist endgültig und lässt sich nicht beliebig im Nachhinein korrigieren. „Die spezielle [...]Situation wird sich nie wieder genau in derselben Form ereignen und genauso wahrgenommen werden; sie ist unwiederholbar und flüchtig, transitorisch“ (Biehl 2007, S. 15). Hierin unterscheidet sich die Rede von vielen anderen Kommunikationsformen, die wir kennen. Es ist die Augenblicklichkeit, welche die Rede auszeichnet und zu etwas Besonderem macht. Daneben gibt es noch ein weiteres Charakteristikum: den Nachhall. Eine Rede wird stets „gedeutet“. Gesagtes, Gemeintes und Gedeutetes müssen nicht kongruent sein. Noch nachhaltiger als diese Verstehenswirkung ist die Wirkung auf das Ansehen der Person des Redners und – in den Folgen oft gravierender – der Sache oder der Organisation, die er vertritt, im Positiven wie im Negativen. Schließlich müssen wir bedenken, dass neben der eigentlichen rhetorischen Leistung immer auch Zeit und Umstände ergebniswirksam sind. Daher ist die Risikobetrachtung stets Teil des Redemanagements. Für einen Redeauftritt ist es nicht wichtig, ob er authentisch ist, sondern ob er authentisch wirkt. Für den Zuhörer zählt nicht die Wahrheit, sondern die „Wahr-Schein-lichkeit“ (vgl. Biehl 2007, S. 81). Wenn ein Redner mit dem Satz endet: „Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit“, dann hat er zwar seine Rede beendet und womöglich den höflichen Applaus aus der Zuhörerschaft bekommen. Aber war’s das schon? Eine Rede wird nicht passiv hingenommen, sondern im Nachhinein besprochen. Eine Rede stößt Kommunikation an. Der Wert einer Rede bemisst sich in dem, was nachhaltig in Erinnerung haften bleibt, und darin, ob sie einen Anlass bietet, weiter über das Thema zu sprechen. Redevorbereitungen im Rahmen der klassischen Vorfeldkommunikation kalkulieren durch Wortwahl, dramaturgischen Aufbau (Nähe, Distanz), die Inszenierung des Auftritts des Redners u. v. a. m. den „Erinnerungswert“ mit ein. Nicht in jedem Fall ist der Redenschreiber auch die Person, die dies alles zu leisten vermag. Zumindest bei wichtigen Reden sollten von daher auch die Kommunikationsverantwortlichen mit einbezogen werden. Sprechen wir im
Rede beginnt vor der Rede
127
Zusammenhang mit Reden von „Nachhaltigkeit“, so zielen wir auf die Wahrnehmung bei den entsprechenden Publica. Redemanuskripte sind Drehbüchern oder Transkriptionen von Gesprächen vergleichbar. Stil und Artikulationsweisen sind auf die Rolle des Redners zugeschnitten und im Idealfall authentisch.
3.
Modell der Vorfeldkommunikation
Wer das Verhalten anderer Menschen mit Hilfe strategischer Kommunikation beeinflussen will, muss die sogenannten intervenierenden Variablen sehr genau beachten und systematisch bei der Kommunikationsplanung berücksichtigen.1 Vorfeldüberlegungen betreffen in starkem Maße die Rezeptionsbedingungen. Aus der Perspektive eines Beobachters gibt es in einer Interaktion immer Mehrdeutigkeit. Wenn ein Redner auftritt, sprechen wir von einer Form der theatralischen Kommunikation. Der Auftritt wird nach allen Regeln der Kunst inszeniert. Nach Biehl (2007, S. 16) betrachtet eine Inszenierungsanalyse drei Ebenen der Aufführung, die ineinander übergehen: den Inszenierungstext (Raumkonzeption, Ort des Treffens sowie Signifikanten wie Beleuchtung, visuelle Darstellungen, Sprechweise und Kleidung), den linguistischen Text (der sprachlich formulierte Inhalt der Rede und die rethorischen Stilmittel) und den Performancetext (beinhaltet die für die Wahrnehmung entscheidenden Faktoren). „Inszenierung hat nicht nur Schaufunktion, sondern ist performative, handelnde Tätigkeit, die etwas Neues hervorbringt und lässt sich definieren als „Vorgang der Planung, Erprobung und Festlegung von Strategien, nach denen die Materialität der Aufführung performativ hervorgebracht werden soll“ (Fischer-Lichte 2004, S. 327, zit. n. Biehl 2007, S. 15). „Das Phänomen der Kommunikation hängt nicht von dem ab, was übermittelt wird, sondern von dem, was im Empfänger geschieht. Und dies hat wenig zu tun mit übertragender Kommunikation“ (Maturana/Varela 1987, S. 221)2. Anders gesagt: Ich weiß erst, was ich gesagt habe, wenn ich die Antwort der Zuhörer bekommen habe. In der Reaktion unserer Zuhörer finden wir ein erstes Ergebnis vor. Von der Vorstellung, Wahrnehmung sei objektiv, gilt es sich zu verabschieden. Denn wahr ist: „Der Mensch nimmt nur wahr, was ihm in den Kram passt.“ (Alfred Adler zit. nach Tages-Anzeiger-Magazin, 18. April 1987). Wir gehen in diesem Beitrag von einem 3-Ebenen-Modell der Vorfeldkommunikation aus und skizzieren die wichtigsten Einflussfelder, die im konkreten Fall zu prüfen bzw. zu gestalten sind. Vorfeldkommunikation als Instrument strategischer Planung erfasst Voraussetzun1
2
Wir klammern hier zunächst manipulative Techniken der Eindrucksmanipulation aus, die eine genauere Betrachtung auch unter dem Aspekt kommunikativer Ethik verdienen. Über unwahre Dementis, begrenzte Kumpanei oder Mitwisserschaft vgl. Bellebaum (1992, S. 89). Zitiert nach Peter Zec in: Manfred Bruhn (Hrsg.): Die Marke. Symbolkraft eines Zeichensystems. Bern, Stuttgart, Wien, 2000, S. 236
128
Manfred Piwinger
gen, unter denen der Redner (Sender) agiert, Voraussetzungen, die den Verständigungsprozess steuern, und Voraussetzungen, unter denen das Publikum (Rezipienten) agiert. Vorfeldkommunikation als Strategie muss die Faktoren, die beeinflussbar sind und die kommunikative Wirkung steigern, in besonderer Weise reflektieren.
Abbildung 1:
3.1
Modell der Vorfeldkommunikation
Kommunikatorvariablen
Der Kommunikationskorridor Das habituelle Verhalten im Unternehmen wird durch die Strukturen (Hierarchie, Tiefenstaffelung im Konzern, Berichtswesen etc.) stark mitbestimmt. In Unternehmen, die ihre Philosophie explizieren und aktiv ihre Kultur entwickeln, orientiert die Philosophie das sprachliche und nichtsprachliche Verhalten eines Unternehmens im Innen- und im Außenverhältnis (vgl. Ebert/Konerding 2002). Die normativen Vorgaben der Unternehmensphilosophie eröffnen Verhaltensspielräume. Deshalb sprechen wir von einem Kommunikationskorridor. Schließlich wird der Korridor mitbestimmt durch Erwartungen, Ansprüche an kommunikative Qualitätsstandards und Vorstellungen (Fremdbilder). Ein Unternehmen, das für seine Kreativität bekannt ist, würde die Öffentlichkeit irritieren, wenn es plötzlich in einem bürokratischen Modus kommunizieren würde.
Rede beginnt vor der Rede
129
Der Status quo ante des Kommunikators Die Überzeugungskraft einer Mitteilung ist immer auch abhängig von demjenigen, der die Botschaft mitteilt. Ist das Unternehmen dem Publikum vertraut oder bekannt, muss es weniger erklären. Der kommunikative Aufwand sinkt, wenn die Bekanntheit steigt. Jedes „Etikett“ hat seine eigene Autorität. Trotzdem ist es ein Unterschied, ob man ein Niemand oder ein Jemand ist. Davon hängt in hohem Maße die nachfolgende Bewertung ab. Dem einen traut man „das“ am ehesten zu, dem anderen „am wenigsten“. Das macht den kleinen Unterschied aus. Der Redner beeinflusst die Wahrnehmung seiner Zuhörer indirekt auch dadurch, welcher Ruf ihm vorauseilt, in welcher Rolle er spricht oder welche Autoritätssignale zur Geltung gebracht werden. Autoritätssignale können u. a. Titel, Status, Position oder Herkunft sein. Eine weitere Variable ist die Glaubwürdigkeit, die man einem Redner oder der von ihm repräsentieren Institution entgegenbringt (vgl. Piwinger 2005). Konversationsmaximen Prinzipien des effizienten und wirkungsvollen Sprachgebrauchs wurden u. a. von Grice postuliert. Hierzu gehören die folgenden Prinzipien: Das Kooperationsprinzip: Kommuniziere so, wie es die aktuelle Zweckbestimmung und die Ausrichtung des kommunikativen Verlaufes erfordern. Qualitätsprinzip: Kommuniziere wahrhaftig. Quantitätsprinzip: Kommuniziere so informativ wie für die aktuelle Zweckbestimmung der Kommunikation nötig. Gestalte deinen Beitrag nicht informativer als nötig. Relevanzprinzip: Mache deinen Beitrag relevant für die Kommunikationspartner, ihre Interessen, Ziele, Wünsche etc. Prinzip der Art und Weise: Kommuniziere klar und deutlich: vermeide Unklarheit, vermeide Mehrdeutigkeit, fasse dich kurz, sei methodisch bzw. konzeptionell (vgl. Levinson 1990, S. 104). Will man diese Prinzipien operativ „herunterbrechen“, stellen sich viele weitere Fragen: Wie beschaffe ich mir Aufmerksamkeit, wie beeinflusse ich den Kommunikationsverlauf in einem für mich günstigen Sinne, wie hierarchisiere ich Informationen bzw. wie gestalte ich Informationshintergund und Informationsvordergrund, wie gestalte ich einen Verstehenshorizont, einen sinnhaften inner- oder außersprachlichen Kontext, wie vermeide ich „Aufmerksamkeitskiller“ wie zum Beispiel rituelle Phrasen, wie gleiche ich Eigenbild und Fremdbild, Sprecher- und Hörerperspektive miteinander ab?
3.2
Situationsvariablen
Situationsvariablen (Zeit, Umstände, Orte, Artefakte) Hierzu zählen zum Beispiel Ort, Zeit, Artefakte (Ambiente etc.), Atmosphäre, Stimmungen oder psychosoziale Klimata. In vielen Fällen besteht hinsichtlich des Ortes und des Zeitpunktes sowie des Ambientes eine Wahlmöglichkeit. Die Rezeptionssituation leistet eine zusätzliche Selektion der Kommunikationsinhalte: Zeitpunkt, Ort, Stimmung, soziales Klima, vor allem – bei massenmedialer Vermittlung – die Gegenwart anderer Personen be-
130
Manfred Piwinger
einflussen die Art und Weise, wie ich ein Kommunikationsangebot rezipiere. Organisatorische Bedingungen entscheiden im Vorfeld darüber, ob und wie die Kommunikationsinhalte den Adressaten erreichen: Verfügbarkeit von Medien (Internetzugang), Erreichbarkeit des Kommunikators, Kommunikationsnetzwerke, Organisationsstruktur, Durchlässigkeit usw. Ein Kommunikationsangebot steht selten allein, sondern es konkurriert mit anderen Angeboten um die Gunst des Adressaten. Der Kontext entscheidet mit darüber, welche Auswahl getroffen wird. In einer nachrichtenarmen Zeit ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass auch weniger relevante Aussagen den Weg ins Blatt finden. Inhalte, Stil, Medium, Sprache Aussagen (Sätze, Wörter) sind keine Transportbehälter für Sinn, sondern Anweisungen an den Rezipienten, die dessen innere Handlungen steuern: Nach dem Eindrucksmodell der Kommunikation handelt der Sprecher kommunikativ, insofern und indem er einen Eindruck beim Hörer hervorbringt, den sich jedoch der Hörer durch eigene Tätigkeit, durch kognitive Anstrengungen zu seinem Eindruck machen muss. Der Sprecher „berechnet“ seine Äußerung und die Wirkung auf den Hörer. Daraus folgt auch ein veränderter Blick auf Sprache als Kommunikationsmittel: „Struktur und Leistung der jeweils verwendeten sprachlichen Mittel haben wenig bis nichts mit der Struktur des ‚Ausgedrückten’ zu tun, aber viel bis alles mit dem, was unter gegebenen Kommunikationsbedingungen wie Situation, Vorwissen des Hörers, Kontext etc. für das Erzielen der beabsichtigten, im Verein mit dem Hörer herzustellenden Wirkung im Hörer erforderlich ist“ (Schmitz 1994, S. 17). Die ausdruckstheoretisch motivierte Annahme, erfolgreiche Kommunikation setze generell ein gemeinsames Sprach-, Situations- und Weltwissen voraus, ist vollkommen unrealistisch. „Wir kommunizieren nicht erst dann, wenn wir aufgrund von gemeinsamem Wissen eine Garantie für den Kommunikationserfolg haben, sondern wir riskieren Kommunikation auf der Basis unterschiedlicher Annahmen, Unterstellungen, Vermutungen und schaffen dadurch erst, soweit wir erfolgreich sind, geteiltes Wissen (Schmitz 1994, S. 18).
3.3
Rezipientenvariablen
Vorwissen, Einstellungen und Werte der Rezipienten Um im Vorfeld von kommunikativen Maßnahmen Strategien zu entwickeln, ist es nützlich zu wissen, was die Leute von sich selbst denken, und welche Werte sie anerkennen. Das, was ich aus einem Kommunikationsangebot auswähle, hängt mit meiner Erfahrung und mit meinem Vorwissen zusammen. Man kann davon ausgehen, dass Einstellungen, aber auch Normen und Werte die Auswahl von Erfahrungen steuern, die dann mit dem Kommunikationsangebot abgeglichen werden, und zwar so, dass die vorhandenen Informationen zu den angebotenen Informationen passen und auf diese Weise Sinn stiften.
Rede beginnt vor der Rede
131
Aufmerksamkeit und Emotionalität Aufmerksamkeit ist ein grundlegender Prozess, der dem Verstehen vorgeordnet ist und mit Überraschung und Relevanz zusammenhängt. Hier fallen wichtige Vorentscheidungen. Finde ich keine Aufmerksamkeit, ist der ganze Aufwand für meine kommunikative Maßnahme vergeblich. Aufmerksamkeit ist sowohl sozial gesteuert als auch von Interessen und Motivationen der Handelnden abhängig. Das gilt auch für die auf Erfahrung aufbauenden Prozesse der Wahrnehmung. Selbstkonzept und Partnerhypothesen als Wahrnehmungsfilter Nach Schlenker (1980, S. 102-104) beeinflusst das Selbstkonzept auf vielfältige Weise das Wahrnehmen, Denken und Handeln des Menschen: Das Selbstkonzept beeinflusst die Informationsverarbeitung. Wer sich beispielsweise selbst für unabhängig hält, bemerkt und verarbeitet diesbezügliche Informationen schneller. Das Selbstkonzept beeinflusst die Interpretation und Bewertung von Fakten. Informationen, die dem Selbstbild zuwiderlaufen, werden häufig ignoriert oder uminterpretiert. Informationen, die das Selbstkonzept bestätigen, werden besser behalten als die Informationen, die das Selbstkonzept in Frage stellen. Das Selbstkonzept berührt den Wert, den Personen einem bestimmten Image zumessen. Wer sich selbst für unabhängig hält, bewertet Unabhängigkeit höher, als wenn er sich für abhängig halten würde. Partnerhypothesen sind Annahmen des Rezipienten über die Situation und über die Absichten des Kommunikators. Jede initiierte Kommunikation muss mehrere Filter durchlaufen, bis sie wahrgenommen wird. Filter sind immer Auswahlkriterien der Wahrnehmung. Vielen Kommunikationsmaßnahmen bleibt der Erfolg versagt, weil die Filterfunktion vor der Wahrnehmung nicht ausreichend beachtet wird. Die Wahrnehmungsfilter von Rezipienten nach Piwinger (2005, S. 93) sind u. a.:
soziale Rolle Vorwissen und Erinnerungen Einstellungen (Attitüden, Werthaltungen, Vorurteile) Interessen und Erwartungen frühere Erfahrungen Relevanzsetzungen
Wahrnehmen ist untrennbar mit Interpretation verknüpft. Jeder Mensch ist in seiner Wahrnehmung determiniert. Wahrnehmung variiert hinsichtlich Qualität und Genauigkeit. Der Grad der Aufmerksamkeit und situative Umstände beeinflussen die Wahrnehmung. Es werden nur jene Teile aufgegriffen, die als Information tatsächlich relevant sind; alles andere entzieht sich unserer Aufmerksamkeit. Beim Wahrnehmen strukturieren wir fortwährend unbewusst die dargebotenen Stimuli. Ein unerwartet starker Reiz zieht Aufmerksamkeit auf sich. Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut. Aufmerksamkeit verhilft dazu wahrgenommen und beachtet zu werden. Phasen der Wahrnehmung nach Zimbardo (1983, S. 308-338): Aufnahme des Reizes Selektion der einkommenden Information
132
Manfred Piwinger
Organisation des Wahrgenommenen Interpretation des Wahrgenommenen Suche nach mehr und neuerer Information und Stimulation Die Wahrnehmung wird zusätzlich erleichtert, wenn dem Wahrnehmenden ein entsprechendes begriffliches Inventar zur Verfügung steht, welches ihm erlaubt, Sachverhalte noch vor der Wahrnehmung als solche zu kategorisieren. In der Wahrnehmungspsychologie unterscheidet man zwischen direkter (unvermittelte, unmittelbare) und vermittelter Wahrnehmung. Hinzu kommt eine weitere Erfahrung. Auf Seiten der Adressaten oder Empfänger von Nachrichten werden heute bestimmte Erwartungen und deutliche Ansprüche an die Art und Weise und den Stil des Kommunizierens gestellt: „Hypothesen oder Erwartungen hinsichtlich eines Wahrnehmungsinhaltes beeinflussen die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen im Sinne dieser Erwartungen“ (Preiser 1979, S. 38). Beziehung zwischen Kommunikator und Rezipient Unternehmen, als lernende Unternehmen, müssen die Rückwirkungen auf ihre Kommunikation analysieren. Daneben muss vor dem Erreichen des Sachzieles dessen Akzeptanz geprüft und abgesichert werden. Das gilt ebenso für einzelne kommunikative Maßnahmen wie für die Schaffung günstiger Voraussetzungen: Dazu gehören: (i) die Gestaltung entsprechender Interaktions- und Kommunikationsstrukturen, (ii) die Schaffung geeigneter Symbolmilieus, (iii) das Bereitstellen von spezifischen Identifikationsangeboten als „Ankerplätze“ für entgegengebrachtes Vertrauen, (iv) die kontinuierliche Selbstbewertung des Unternehmens als Kommunikator, (v) das kontinuierliche Wissen um den Stand der Beziehung zwischen dem Unternehmen und seinen Teilöffentlichkeiten, (vi) die Bereitschaft des Unternehmens zur kontinuierlichen Selbstentwicklung, (vii) die Bereitschaft des Unternehmens zur Selbstentwicklung als Antwort auf kommunikative und interaktive Rückkoppelungssignale.
3.4
Methoden der Wissenserhebung
Pretests Hier geht es um Methoden, mit deren Hilfe der Kommunikator mögliche Reaktionen der Adressaten ermittelt und Wirkungen abschätzt. Das kann mit Hilfe von Pretests geschehen, aber auch mit Hilfe von Umfragen, Assoziations- und anderen Tests von Texteigenschaften.
Rede beginnt vor der Rede
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Wissen über die Rezipienten Der Kommunikator benötigt Informationen über die Adressaten: Vorwissen, Denkstil und Auffassungsgabe, Einstellungen, Vorurteile, Wertehierarchien, Erfahrungs- und Erwartungshorizonte. Ferner benötigt er Wissen über Rezeptionstypen und -bedingungen. Marktforschung Hierzu gehören Methoden, mit denen man Trends, Einstellungen, aktuelle und künftige Issues ermittelt. Issues sind öffentliche Themen, die in Ansprüchen münden, die ein Unternehmen als Risiko oder Chance tangieren. Metakommunikative Kompetenz Hierzu gehört das Wissen um allgemeine Kommunikationsprinzipien, ebenso wie Wissen um typische Prozessverläufe von Kommunikation wie zum Beispiel Skandalverläufe oder Phasenverläufe (Aufmerksamkeitsverteilung). Befragung ex post (Post-Evaluation) Hier geht es um folgende Fragen: Hat man mich wahrgenommen? Welches Verständnis hat sich eingestellt? Bin ich auf Akzeptanz oder Ablehnung gestoßen? Welche Lerneffekte haben stattgefunden? Habe ich meinen Bekanntheitsgrad gesteigert? Die meisten Instrumente und Verfahren müssen wir hier als bekannt voraussetzen.
4.
Praxisbeispiel
Reden haben stets einen Anlass. Der Anlass kann sowohl gesellschaftlicher Natur, wenn es um eine Ehrung geht, als auch verpflichtender Natur sein wie bei einem Vortrag auf einer Hauptversammlung. In einzelnen Fällen kennen wir auch die spontane Rede. Sie ist in der Regel situativ bedingt. Der Redner fühlt sich entweder angesprochen oder er reagiert auf eine bestimmte Situation. Die Fülle der Redeanlässe lässt es nicht zu, ein festes Drehbuch zu schreiben. Jede Rede verlangt eine Vorbereitung. Es gilt, sich auf den Anlass selbst einzustellen und sogenannte „Partnerhypothesen“ aufzustellen. Dies ist der gemeinsame Nenner, welcher selbst für den spontanen Redetyp Gültigkeit besitzt. Bei aller Grundsätzlichkeit, die wir aus der Rede- und Kommunikationsforschung kennen, bleibt es uns niemals erspart, eine Rede individuell und gemäß dem gegebenen Anlass vorzubereiten – und, falls erforderlich, den Redner eingehend und frühzeitig damit vertraut zu machen. Wie dies geschehen kann, sei mit dem folgenden Beispiel einer Jubilarrede belegt. In meiner Berufspraxis habe ich gute Erfahrungen mit der folgenden Vorgehensweise gemacht: Wenn in dem Unternehmen eine Jubilarrede anstand – Entsprechendes gilt für Verabschiedungen aus dem Dienst, für Ehrungen oder Beförderungen –, überlegten wir zuerst, wer die in Rede stehende Person am besten und lange genug aus dem täglichen Miteinander
134
Manfred Piwinger
kennt. In der Regel stellten sich Kollegen aus der gleichen hierarchischen Ebene als geeignete Ansprechpartner heraus. Bei ihnen ist die größte Nähe gegeben. Über die Zeit hat es sich immer wieder erwiesen, dass einige wenige Gespräche ausreichten, um uns ein ausreichend deutliches Bild des Anderen zu machen. Die Befragung von mehr als fünf bis sieben Personen führte zu Wiederholungen und in keinem einzigen Fall zu einem besserem Ergebnis. Insoweit ist ein solches Vorgehen auch wirtschaftlich gut zu vertreten. Weil alle Äußerungen der Vertraulichkeit unterlagen und nur anonymisiert weiter verwendet wurden, konnten sich die befragten Kollegen „frei von der Leber weg“ äußern. Andererseits stand uns auf diese Weise ein Fundus, von zum Teil witzigen, auf jeden Fall aber authentischen Zitaten zur Verfügung, die in den Redetext einflossen und bei dem späteren Publikum einen hohen Wiedererkennungswert besaßen. Im Grunde ging es aber um mehr: Um das Ausloten der vielseitigen Facetten, die einen Menschen mit all seinen Eigenheiten, Gewohnheiten und seinen kleinen Fehlern unverwechselbar, aber auch erkennbar machen. Somit war unsere erste Frage immer: „Was ist der Jubilar eigentlich für ein Mensch?“ Erstaunlich war, dass die Beurteilungen fast unisono ausgefallen sind und häufig sogar wörtlich übereingestimmt haben. Das bestätigt gleichsam im Nachhinein die Theorie der sozialen Etikettierung. Wir alle sind von unserer Umgebung „etikettiert“, ohne uns dessen bewusst zu sein. Ein bestimmtes Bild von uns hat sich in den Augen der Kollegen festgesetzt, welches ziemlich unverrückbar ist und ihr Verhalten im Umgang mit dem Etikettieren beeinflusst. Ein solches „Bild“ zu erfassen und sowohl in der Rede selbst als auch in der ihr zu Grunde liegenden Haltung zum Ausdruck zu bringen, ist die hohe Kunst der persönlichen Rede und zugleich ihr nachhaltiger Erfolg. Bei der Befragung sind wir nach dem Prinzip eines strukturierten Interviews vorgegangen: Erfragt haben wir die typischen Eigenschaften und Verhaltensweisen des Betreffenden, die Art seines kommunikativen Umganges mit anderen, seine Arbeitsweise, den Grad seines Selbstbewusstseins, seine Verdienste und die Einstellung zum Unternehmen und schließlich ihm zuzuordnende, charakterisierende Redensarten. Die Einzelbewertungen haben wir am Schluss in einer Übersicht zusammengefasst. Das folgende Beispiel stammt aus meiner Praxis. Geändert worden sind lediglich die Namen: Ein knappes Bild eines Jubilars könnte so aussehen: Ist stark „Kopsch-geprägt“. 3 Gilt nicht als besonders kommunikativ. Privat weiß man von ihm wenig. Wird eher als Einzelgänger geschildert. Geschätzt wird seine fachliche Kompetenz, sein Detailwissen und sein Zahlengefühl. Obwohl er sich selbst als Stratege sieht, wird er von anderen nicht als solcher gesehen. Er gilt mehr als der Analytiker.
3
Name des Vorstandsmitglieds geändert.
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135
Seine Einstellung zur Firma wird als äußerst loyal, aber dennoch geschäftsmäßig eingeschätzt. Er hat Marotten, die jeder kennt, aber auch hinnimmt. Insofern genießt H. im Hause eine Ausnahmestellung.
Bereits eine derart kurze Übersicht versetzt uns in die Lage, uns ein ungefähres Bild über einen anderen Menschen zu verschaffen. Wir wissen über ihn erst wenig, doch hindert uns dies im Allgemeinen nicht daran, anhand des noch lückenhaften Bildes zu einem ersten Urteil zu gelangen. In der Folge verfestigt sich der erste Eindruck in uns zunehmend, je mehr Einzelheiten, Eigenschaften und Verhaltensweisen, uns über die in Rede stehende Person zugänglich gemacht werden. Die einzelnen Rubriken der Befragung:
Eigenschaften Er ist keiner, der zuviel redet. Hilfsbereit, wenn man ihn braucht. Gerade und unverbogen. Mehr der Typ Einzelgänger. In vielem bei ihm ist auch eine Spur Egoismus. Bis zur Respektlosigkeit kritisch. Unheimliches Erinnerungsvermögen. Hat ein gutes Gefühl für Zahlen – ob sie stimmen oder nicht.
Verhalten H. kommt nicht – zu H. geht man. Reist ungern. Wenn es in früheren Jahren darum ging, in andere Tochtergesellschaften zu gehen, war H. immer derjenige, der nicht mitfuhr. Sein Büro ist sein Nest – da sitzt er. Irgendwie igelt er sich da ein bisschen ein. Fühlt sich bei jeder Art Veranstaltung, bei jeder Geselligkeit unwohl. In der Mittagszeit setzt er sich schon manchmal an den PC und spielt Solitär.
136
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Kommunikation Ist in die Abläufe gar nicht so eingebunden. Er ist einfach mehr so ein Typ Mensch, der Kommunikation mit anderen Bereichen nicht von sich aus forciert. Unaufgefordert kommt von ihm nichts. Er hat sich hochrationell eingeteilt: keine Projektarbeit, keine Vorträge, nicht von sich aus mit anderen reden. In der Kantine sieht man ihn auch nie. Er braucht die Gemeinschaft mit Kollegen nicht, drum sucht er sie auch nicht. Wenn er in den Urlaub geht, ist er einfach weg. Und wenn er zurück ist, ist er wieder da. Aber er hat mit niemand darüber geredet.
Arbeitsweise Hält nichts von großen Strategiepapieren, Führungstechniken, Stil- und Kulturfragen. Er ist er. Und er definiert die Welt von sich aus. Ein Sofort-Erlediger. Viel Einzelwissen, hasst Systematik. Keine Aktenvermerke – keine Zahlen. Wenn der mal eine Seite schreibt, dann ist das viel: One-Page-Man. In Besprechungen kommt er ohne Papier und Stift, weil er alles im Kopf hat. Er wirft seine Sachen so rein, und die anderen müssen dann sehen, wie sie damit fertig werden. Alles, was nicht in seine Welt passt, ist sinnlos und überflüssig.
Selbstbewusstsein An Selbstbewusstsein mangelt es ihm nicht. Zweifelt nicht an seiner Erkenntnis; einmal erkannt, immer richtig. Er hat es geschafft, mit dem geringsten zeitlichen Aufwand höchstes Ansehen und Einfluss zu erlangen. Seine Gefühlsbindung an die Firma ist nicht so stark, wie viele meinen.
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Verdienste/Einstellung zur Firma Gehört zu denjenigen, die das Unternehmen am besten kennen. Ist immer jemand, der alles weiß. Steht auch für Kontinuität, Stabilität und Sicherheit, ist im Hause eine „Institution“. Wird ein Verlust sein, wenn man auf seine Kenntnisse und Erfahrungen nicht mehr zurückgreifen kann. Die neuen Führungsprinzipien hat er nicht so verinnerlicht.
Redensarten Seine häufigsten Redensarten: „Ich spreche mal ins Unreine.“ „Nee, so is et nicht.“ „So’n Scheiß.“ Jeder, der ein solches Charakteristikum liest, dürfte sich nun allein auf Basis dieser Schilderung gut informiert fühlen und sich womöglich die Frage stellen, ob er mit einem solchen Menschen als Kollege gerne in einem Unternehmen zusammenarbeiten würde oder ihn gar als Vorgesetzten haben möchte. Das aufgeführte Praxisbeispiel kennzeichnet in hervorragender Weise den Gedanken der Vorfeldkommunikation.
5.
Fazit
Vorfeldkommunikation als Instrument strategischer Planung und Optimierung von Kommunikation erfasst Voraussetzungen, unter denen der Kommunikator (Sender) agiert, Voraussetzungen, die den Kommunikationsprozess steuern, und Voraussetzungen, unter denen die Rezipienten agieren. Reden sind riskant. Die Absicht, Wirkung zu erzielen, wird in vielen Fällen nicht erreicht. Oft ist das Gegenteil der Fall: Sie bleiben wirkungslos. Schlimmer ist es allerdings, wenn durch eine Rede Schaden angerichtet wird. Die Folgen können bis hin zur Rufschädigung reichen oder zu einem Reputationsverlust führen; in einzelnen Fällen kann es sogar zu rechtlichen Auseinandersetzungen kommen. Bleibt eine Rede folgen- und wirkungslos, hat sie ihren Zweck verfehlt und war nach wirtschaftlichen Maßstäben eine Fehlinvestition.
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Manfred Piwinger
Wirtschaftlichkeits- und Risikoaspekte sollten daher Bestandteil einer gründlichen Vorüberlegung sein. Zu den erforderlichen Kompetenzen gehört u. a. die Fähigkeit, die Bedingungen, unter denen Kommunikation erfolgreich verläuft, herauszufinden und zu bewerten. Welches Vorwissen muss ich schaffen, um verstanden und akzeptiert zu werden? Wie baue ich einen Verstehenshorizont auf? Wie erreiche ich emotionale und rationale Rezipienten? Zur Bewertung gehört auch die Frage, was die Kommunikationsmaßnahme kostet. Wer eine Rede in Auftrag gibt, sollte eine Vorstellung von all dem haben und sich der Komplexität der Aufgabe bewusst sein. Das mehr oder weniger Übliche: „Schreiben Sie mir mal eine Rede. Ich schaue sie mir nachher mal an. Aber bis morgen früh muss ich die Rede vorliegen haben“, ist natürlich der völlig falsche Weg. Der wirtschaftliche Aufwand liegt vor der Rede. Wer seine Zuhörerschaft erreichen will, kommt nicht umhin, sich die Grundregeln der Vorfeldkommunikation als die alles entscheidenden Erfolgsvoraussetzungen zu eigen zu machen.
6.
Grundregeln der Vorfeldkommunikation
Die Grundregeln der Vorfeldkommunikation (Ebert/Piwinger 2002, S. 36) sind: Das „Bild des Anderen“ im Kopf haben. Vorhandene Einstellungen und Gefühle, Sympathie, Vorurteile und Gewohnheiten des Anderen in Rechnung stellen. Die Stimmung erkunden. Kann diese kurzfristig noch beeinflusst werden? Den richtigen Zeitpunkt für die Kommunikation wählen. Prüfen, ob überhaupt Interesse an meinen Informationen besteht. Wie erreiche ich unter den Bedingungen der Informationsüberlastung Aufmerksamkeit, um wahrgenommen zu werden? Wie kann ich Unverständnis, Missverstehen und Kanaldiskrepanzen vermeiden? Ist der Sachverhalt überhaupt mitteilenswert? Aufwand und Nutzen prüfen, eventuell auf die Kommunikation verzichten. Worin besteht das Risiko meiner Kommunikation? Bin ich, in dem, was ich sage, glaubhaft? Ist meine Mitteilung verständlich? Ist meine Sprache sachgerecht?
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Erst kommt das Beziehungsziel, dann das Sachziel. Den Adressaten verstehen lernen und sich bemühen, von ihm zu lernen. Sich Klarheit über die eigene Rolle, Position und Standpunkt verschaffen.
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Persuasion
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Persuasion Die Kunst der Überzeugung Bernd F. Rex
1.
Einleitung
Der Prozess der Persuasion, die Kunst der Überzeugung bzw. Überredung, bildet das Kernstück der Rhetorik. Dies wird verständlich, wenn man sich vor Augen hält, dass das Kernziel der Rhetorik die „Beherrschung erfolgsorientierter strategischer Kommunikationsverfahren“ (Vgl. Knape 2000, 36) darstellt. Persuasion ist dabei der eigentliche vom Kommunikator initiierte Überzeugungsprozess, dessen Ziel es ist, einen Standpunktwechsel herbeizuführen. In diesem Beitrag soll der Vorgang der Persuasion als Prozess umrissen, die Elemente, von denen die Persuasion abhängig ist, überblickartig skizziert werden und abschließend der Frage nachgegangen werden, ob und wie die Fähigkeit des Überzeugens erlernbar und vermittelbar ist. Jeder, der schon einmal in seinem Leben eine Rede vorbereitet und vorgetragen hat, weiß, dass es durchaus eines gewissen Maßes an Mühe und Anstrengung bedarf, bis ein guter Vortrag erstellt ist, und dass dann für den Vortrag selbst auch noch ein wenig Mut von Nöten ist, um sich in der Öffentlichkeit vorn anzustellen und das Wort zu ergreifen. Warum unternimmt man trotzdem diese Anstrengung? Klarer wird dies, wenn man typische rhetorische Situationen betrachtet, wie zum Beispiel die Situation, in der der Beschuldigte zu seiner Verteidigung das Wort ergreift, der Verkäufer seine Waren anpreist oder ein Bewerber versucht den Personalverantwortlichen davon zu überzeugen, dass er der Richtige für die ausgeschriebene Stelle ist. Allen Situationen ist gemein, dass versucht wird, den anderen1 zu einer bestimmten Meinung, Haltung, Verhaltensänderung zu bewegen. So versucht der Beschuldigte, die Richter von seiner Unschuld zu überzeugen, der Verkäufer den potenziellen Kunden zum Kauf zu bewegen und der Bewerber versucht, eine dauerhafte Anstellung zu erreichen. Kurz gesagt: es wird versucht, einen Standpunktwechsel im mentalen Zustand des Gegenübers zu bewirken oder noch prägnanter: der Redner versucht sein Gegenüber zu überzeugen. Dieser Prozess der Persuasion ist im engeren Sinne der Kern der Rhetorik. 1
In diesem Text wird auf die Anführung weiblicher grammatikalischer Formen verzichtet, was aber auf keiner wie auch immer gearteten Wertung beruht, sondern nur ein Zugeständnis an bessere Lesbarkeit ist.
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Diese Erkenntnis ist nicht unbedingt neu. Schon seit den wissenschaftlichen Anfängen der Rhetorik vor über zweieinhalbtausend Jahren wird sie als „ die Meisterin der Überredung“ definiert. So umschreiben die großen Rhetoren der Antike wie Gorgias, Isokrates oder Antiphon die Rhetorik als die „Kunst der Überzeugung bzw. Überredung“. Bei Aristoteles ist die Rhetorik die Fähigkeit, die das Überzeugende oder möglicherweise Glauben erweckende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen vermag (Arist. Rhet. I, 2, 25). Auch Cicero nennt im 1. Jh. v. Chr. die Rhetorik die „seelenwendende Königin“ und meint damit den im Persuasionsprozess innewohnenden Wechsel. Diese Beobachtung, dass bereits in den Anfängen der Rhetoriktheorie die grundlegenden, noch immer gültigen Erkenntnisse für eine überzeugende Rede zu finden sind, lässt sich an vielen Stellen der heutigen Kommunikationswissenschaften zeigen. Da in der beeindruckenden Klarheit dieser antiken Texte oftmals die eigentlichen Erkenntnisse für den heutigen Redner und Redenschreiber viel einfacher und systematischer zu verstehen sind als in den modernen Texten, wird im Folgenden mehrfach darauf Bezug genommen. Zwei Begrifflichkeiten, die im Zusammenhang mit Persuasion immer wieder fallen, sind Einfluss und Motivation. In der Psychologie wird als Einfluss alles beschrieben, was auf eine Person oder eine Reihe an Geschehnissen einwirkt und diese mitbestimmen kann. Einfluss ist damit als der generelle Überbegriff von Motivation und Persuasion zu verstehen. Motivation im psychologischen und philosophischen Sinne stellt dagegen die viel genauere Frage, warum ein Individuum, zum Beispiel ein bestimmter Mensch, in einer bestimmten Weise denkt oder handelt. Motivation ist damit die Frage nach dem Stimulus, der den Menschen zu seinem Verhalten bringt, unbesehen ob für diesen Stimulus eine andere Person oder deren Aktionen nötig sind. So kann die bloße Befriedigung von menschlichen Bedürfnissen, wie das Stillen von Hunger und Durst oder der Wunsch nach einer Unterkunft ausreichen, um einen Menschen zu einer Handlung zu motivieren. Persuasion im rhetorischen Sinne von Überzeugen grenzt sich so als ein Teilbereich der Motivation ab, in der der Stimulus der Motivation kommunikativ initiiert wird. Ein reines Vermitteln von Wissen oder Information ist per se noch keine Persuasion, erst wenn sich dadurch ein Wechsel in der mentalen Orientierung des Gegenübers einstellen soll, handelt es sich um Persuasion. Solche Orientierungswechsel können u. a. dergestalt ablaufen, dass etwas so oder nicht so, wahr oder falsch, gut oder schlecht, schön oder hässlich, zu lieben oder zu hassen, zu tun oder zu lassen ist.
2.
Der Prozess der Persuasion
Grundsätzlich sind also mindestens zwei Teilnehmer am Persuasionsprozess beteiligt, der handelnde „Persuierende“, rhetoriktheoretisch Orator genannt, und auf der anderen Seite der Adressat der Überzeugung bzw. der Rezipient. Der Adressat der Überzeugung kann aus einer
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einzelnen Person, aber auch aus einer Vielzahl von Personen bestehen, wie zum Beispiel das konkrete Publikum im Saal oder die anonyme Masse potenzieller Kunden. Auch die Wahl der Art und Form der kommunikativen Mittel ist für das Grundverständnis der Persuasion zunächst unerheblich. Der Orator kann sich für einen mündlichen Vortrag, genauso aber auch für eine schriftliche Niederlegung entscheiden. Wichtig ist nur, dass dabei immer eine Art von Code, Textur oder Symbol verwendet wird. Klarer wird dies am Beispiel der Werbung für ein Produkt, das mündlich im direkten Kontakt von einem Verkäufer angepriesen, in einem TVSpot visuell und auditiv, aber auch rein schriftlich in einer Zeitschrift beworben werden kann. Alle Formen zielen darauf ab, den potenziellen Käufer zum Kauf zu bewegen. Voraussetzung eines Persuasionsprozesses ist ganz grundlegend, dass zwischen dem Orator und dem Adressaten der Überzeugung mindestens ein Unterschied in deren Meinungen, Erwartungen, Einstellungen, Interessen oder sonstigen Verhaltensdispositionen besteht. Des Weiteren muss der Orator seine eigene Überzeugung bereits gefunden haben. Dies erscheint trivial, da der Orator ja mit dem Ziel antritt, den anderen von seinem Standpunkt zu überzeugen. In der Praxis jedoch scheitern hier schon viele Persuasionsanläufe, weil ein Redner sich nicht im Klaren ist, was seine Rede letztendlich bewirken solle, und damit auch die Rede keine klare Botschaft enthält oder weil in einer Verhandlungssituation nicht klar ist, welche Ziele erreicht werden sollen. Als dritte Voraussetzung für einen Persuasionsprozess muss beachtet werden, dass der Prozess einen Wechsel beinhalten können muss. So beinhalten Kommunikationssituationen keinen Persuasionsprozess, in denen eine Überzeugung nicht mehr nötig (z. B. durch starre Verhaltensregeln wie dem formellen Ablauf einer Bestellung) oder nicht mehr möglich ist (z. B., wenn die Entscheidung hierarchisch nach oben abgegeben wurde oder der Zufall des Würfels entscheiden soll). Treffen nun der Orator und der Adressat der Überzeugung aufeinander und ist der Orator erfolgreich in seinem Streben nach Wechsel, so findet Persuasion statt. In der modernen Persuasionsforschung unterscheidet man dabei meist in den Kategorien, die durch die Forschergruppe um Carl Hovland definiert wurden, in opinion change, attitude change und behavior change, also den Wechsel von Meinung, Einstellung und Verhalten. Wobei die Änderung der Meinung als eher kurzfristiges Ziel, das Verändern der Einstellung längerfristig und das Ändern des Verhaltens als langfristiges Ziel eingestuft werden kann. Generell gilt, je länger die Änderung andauern soll, desto schwieriger ist es diese zu erreichen. So ist die Meinung „Rauchen ist ungesund“ als Meinungs- oder Einstellungsänderung schneller erreicht, der tatsächliche Verzicht auf die Zigarette als dauerhafte Verhaltensänderung viel schwieriger zu bewirken. Hat der Orator den Wechsel bewirkt, kommt es zu einer Art „Persuasivem Paradox“. Denn nun soll der neu gefundene Zustand bestehen bleiben – aus dem Wechsel soll eine feste Bindung werden. Der Raucher, der davon überzeugt wurde, mit dem Rauchen aufzuhören, soll dies nun dauerhaft beibehalten. Der Kunde, der davon überzeugt wurde, ein Produkt einer bestimmten Marke zu kaufen und dies nun tat, soll dazu gebracht werden, immer Produkte dieser Marke zu erwerben. Dieses nur scheinbare Paradox löst sich auf, wenn man den Persuasionsprozess um die Elemente der Gewissheit und des Zweifels ergänzt.
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Persuasion ist also, den Adressaten der Überzeugung aus einem Zustand des Zweifels heraus in den Zustand der Gewissheit zu überführen. Auf einen längeren Zeitraum betrachtet, bedeutet dies zwangsläufig, dass aufkommende Zweifel immer wieder persuasiv in den Zustand der Gewissheit gebracht werden müssen. Hat ein Unternehmen es geschafft, einen Kunden zu gewinnen, muss dennoch weiterhin um den Kunden geworben werden, damit dieser nicht zum nächsten Konkurrenzprodukt wechselt. Der Konkurrent wird natürlich versuchen, den Kunden zu gewinnen und damit die Gewissheit des Kunden („Ich kaufe das richtige Produkt: das Produkt der Marke A!“) ins Zweifeln zu überführen („Das Produkt der Marke B erscheint mir vielleicht besser.“), um dann wiederum den Wechsel in die gewünschte Gewissheit zu erzeugen („Ich kaufe das richtige Produkt. Ich kaufe das Produkt der Marke B!“). Diese immerwährende Persuasion wird als „Persuasionsstress“ umschrieben. Dieser Stress der steten Persuasion wird zum Teil zu umgehen versucht, indem Regeln und Gesetze eine Änderung der Situation verhindern sollen. So werden bei Mobilfunkverträgen möglichst lange Vertragslaufzeiten vereinbart, um einen Wechsel zu verhindern. Einem Politiker auf Bundesebene wird vier Jahre wechselfreie Zeit eingeräumt, ehe der Wähler einen Wechsel herbeiführen kann. Auch wenn diese Darstellung wie eine Art klare Wechselwirkung von Ursache und Wirkung scheint, so ist ein Vergleich mit naturwissenschaftlichen Vorstellungen von Kausalität und Gesetzmäßigkeiten grundsätzlich verfehlt. Menschliches Handeln ist viel zu multikausal, als dass es sich gleich einer chemischen Formel darstellen ließe. Eine Allmacht des Orators, der nach seinem Willen alles beherrschen kann, ist in keinem Falle gegeben. Deutlicher wird dies, wenn man sich im nächsten Abschnitt die vielfältigen und komplexen Elemente der Persuasion genauer betrachtet. Trotzdem kann man an dieser Stelle das persuasive Gefährdungspotenzial, das oftmals gegen die Rhetorik angeführt wird, nicht von der Hand weisen. Zum einen ist Persuasion gemäß ihrer Zielsetzung die Einschränkung des Freiheitsspielraums des Kommunikationspartners. Jedoch kann man nicht ignorieren, dass solange Menschen existieren, es keine persuasionsfreie Welt geben kann, genauso wenig wie eine Welt ohne Kommunikation. Es liegt in der menschlichen Natur, dass wir unterschiedliche Meinungen, Interessen, Einstellungen und Werte haben, und dass man selbst stets erst davon ausgeht, dass die eigenen Meinungen, Interessen, Einstellungen und Werte die richtigen sind. Folgerichtig versucht man nun, diese zu vertreten und den anderen vom vermeintlich ‚Richtigen‘ zu überzeugen. Auf der anderen Seite wird das verwendete Instrumentarium kritisiert. Nicht jedes Mittel ist gesellschaftlich erwünscht im Prozess der Persuasion. Sicherlich wirkt die an den Kopf gehaltene Waffe mit den Worten „Geld oder Leben“ deutlicher und schneller als eine aufwendige Werbestrategie für den Verkauf von Gütern. Es steht aber völlig außer Frage, dass dies einer Gesellschaft in unserem Sinne nicht zuträglich wäre. Aber auch subtilere Formen der Einflussnahme sind nicht unumstritten, immerhin scheint es oft so, dass das, was eine Seite im Überzeugungsprozess gewinnt, der anderen als Verlust zugeschrieben werden muss. Meist werden diese Verluste als bedrohlich empfunden, wenn damit auch ein gewisser Zwang verbunden ist. Die Folge davon sind Regeln und Gesetze, die wir uns gesellschaftlich auferlegen, um ein Minimum an Sozialverträglichkeit zu gewähren. So hat ein Kunde bei „Haustür-
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geschäften“ ein 14-tägiges Rücktrittsrecht, um sich vor allzu raffinierten Verkaufsgesprächen zu schützen. Auch sind ethisch und juristisch selbstverständliche Regelungen, die vor Täuschung, Verstellung oder Lüge schützen, eine Form dieses Schutzgedankens. Diese Grenze ist aber nicht trennscharf. So wird versucht, einer unbewussten Einflussnahme im Bereich der Produktwerbung zu entgehen, indem klare Kennzeichnungspflichten für Werbemaßnahmen gelten, wie zum Beispiel die Kennzeichnung „ANZEIGE“ in Printmedien oder klar abgegrenzte Werbeblöcke im Fernsehen. Nun stellt dies den Werbenden aber vor ein Problem, da ein „Vorsicht Rhetorik“-Schild die Wirksamkeit der Werbemaßnahme zwangsweise reduziert. Stellen Sie sich einen Verkäufer vor, der am Anfang des Gesprächs immer darauf hinweist, dass er Ihnen etwas verkaufen will. Oder überlegen Sie, wie offensichtlich das eigene Interesse an einem Artikel in einer Zeitschrift nachlässt, wenn man plötzlich den Hinweis „Anzeige“ am oberen Rand wahrnimmt. Will man jeden Versuch der Beeinflussung offenlegen, also eine persuasionsfreie Welt schaffen, führt dies jedoch in eine gesellschaftliche, kommunikative Überregulierung und Lähmung. Das Unternehmen, das nicht wirbt, wird lange warten müssen, bis potenzielle Kunden Produkte kaufen werden. Der alleinstehende Mann, der darauf wartet entdeckt zu werden, wird vermutlich lange warten müssen, bis er von einer Frau erobert wird. Und auch in der Kommunikation selbst ist es kaum möglich alles offenzulegen. Man stelle sich ein Flirtgespräch vor, bei dem versucht wird, jeden Persuasionsversuch offenzulegen: „Darf Ich Dir sagen, dass Du ein schönes Kleid anhast, damit Du Deine Meinung dahingehend änderst, dass ich ein sensibler, aufmerksamer Mann bin? „Ja“ „Du hast ein schönes Kleid an.“ „Darf ich Dir sagen, dass ich auch Deine körperliche Erscheinung sehr attraktiv finde, damit Du mich als möglichen Sexualpartner in Betracht ziehst?“ „Ja“ „Ich finde Deine körperliche Erscheinung sehr attraktiv.“ usw.
Dieser Dialog wird kaum zu einer wilden und leidenschaftlichen Affäre führen. Persuasion ist in unserer menschlichen Gesellschaft nicht wegzudenken, es geht daher vielmehr um die gesellschaftliche Aufgabe, die Regeln zu finden, die dieses Zusammenleben sinnvoll gestalten (vgl. Knape 1998; Knape 2003).
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3.
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Elemente der Persuasion
Um zu verstehen, wie sich Persuasion vollzieht, ist es wichtig deren Elemente genauer zu untersuchen. Aus drei verschiedenen Perspektiven kann man diese Elemente genauer analysieren: aus der Perspektive des Redners, der Rede und des Publikums. Will man die moderne, bisweilen sehr komplex gewordene Persuasionsforschung verstehen, lohnt es sich, wieder einen Blick in die Antike zu werfen. Bereits bei Aristoteles werden die in der Redesituation erzeugten drei bestimmenden Elemente der Überzeugung genannt und beschrieben: „Sie sind zum einen im Charakter des Redners angelegt [ethos], zum anderen in der Absicht, den Zuhörer in eine bestimmte Gefühlslage zu versetzen [pathos], zuletzt in der Rede selbst, indem man etwas nachweist oder zumindest den Anschein erweckt etwas nachzuweisen [logos]“ (Arist. Rhet. I, 2, 3). Diese drei Elemente der Überzeugung sind überraschend deckungsgleich zu den modernen Einteilungen, der Dimension des Verhaltens (ethos), der Kognition (logos) und der Affekte (pathos).
3.1
Ethos
Unter Ethos versteht Aristoteles die Glaubwürdigkeit des Redners selbst, basierend auf dessen bisherigem und momentanem Verhalten. Dabei zeigt er auch im zweiten Buch seiner Rhetorik, dass diese Glaubwürdigkeit abhängig ist von „Einsicht, Tugend und Wohlwollen“ des Redners. Modern übersetzt könnte man auch Einsicht mit Kompetenz bzw. von den Zuhörern vermutete Kompetenz benennen („Der weiß, wovon er spricht!“), Tugend mit wahrgenommener Integrität („Der sagt und tut, was er meint und denkt!“) und Wohlwollen mit der wahrgenommenen positiven Absicht des Redners gegenüber seinem Publikum („Der will von dem überzeugen, was er selbst als richtig und gut erkannt hat!“) benennen. Wichtig dabei ist, dass es darauf ankommt, was der Adressat wahrnimmt, nicht auf das, was tatsächlich ist. So kann ein Prediger durchaus überzeugend von Enthaltsamkeit predigen und dies durch sein Beispiel vorleben. Ob er in seinem, von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommenen, privaten Leben dieser Enthaltsamkeit auch nachkommt, ist für die persuasive Wirkung solange nicht relevant, bis der Adressat der Überzeugung einen Bruch der Integrität erkennen kann. Kürzer gesagt: Eine Lüge funktioniert – sie funktioniert aber nur, solange sie nicht als Lüge enttarnt wurde. Glaubwürdigkeit in der modernen Persuasionsforschung wird unter dem Begriff der ‚source credibility‘ dynamischer und komplexer wahrgenommen. So werden Redner, Redegegenstand und Publikum als voneinander abhängige Größen in die Betrachtung miteinbezogen. Cronkhite und Liska unterscheiden fünf interaktive Faktoren: (1) Charakteristika der Quelle: Dies beinhaltet die physische und akustische Erscheinung der Quelle (hier inbegriffen sind
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auch Gesten und Mimik des Redners). (2) Attribute, die der Quelle zugeschrieben werden: u. a. beruflicher Status, Bildungsstand, sozialer Stand. (3) Die Funktion, die die Quelle für das Publikum übernimmt: Gemeint ist damit die Angemessenheit der Quelle bezüglich des Themas. So kann zum Beispiel ein aktiv Drogenabhängiger glaubhaft über die Gefahren des Drogenmissbrauchs sprechen. (4) Die Kriterien, die das Publikum heranzieht, um zu bestimmen, ob die Quelle in dieser Situation angemessen ist: Dieser Aspekt zielt auf die situative Angemessenheit der Quelle ab. Eine vertrauenswürdige Quelle kann in einer Redesituation glaubhaft sein – die gleiche Quelle kann in einer anderen Situation aber unglaubwürdig erscheinen. (5) Änderungen in der Bewertung der Informationen durch das Publikum: Wie ein Zuhörer die Informationen einschätzt, kann von Situation zu Situation anders sein; dies beeinflusst die Glaubwürdigkeit der Quelle (Ross 1993, S. 91). Die moderne Persuasionsforschung bestimmt vier Haupteinflussgrößen in Bezug auf die Glaubwürdigkeit der Quelle bzw. des Orators: Gruppenzugehörigkeit, Kompetenz, Rollenerwartung und Kontext: Gruppenzugehörigkeit Die gruppendynamische Stellung des Redners zu seinem Adressaten der Überzeugung ist wesentlich. Einer Bezugsperson, der man sehr nahe steht, mag man mehr Glauben schenken als einer fremden Person. Ein Redner, der der gleichen sozialen Schicht oder gesellschaftlichen Gruppe angehört, mag man mehr glauben als einer Person aus einer anderen Gruppe. Kompetenz Unter Kompetenz werden alle physischen und psychischen Leistungsmerkmale der Quelle verortet. So wird ein eloquenter Redner mit deutlicher und klarer Stimme (in der passenden Situation) überzeugender wahrgenommen als ein Redner mit schwacher, zitternder und kaum hörbarer Stimme. Rollenerwartung Die Rollenerwartung beinhaltet alle Stereotypen und Vorurteile, die mit einer bestimmten sozialen Stellung verbunden sind. Von einem Professor, einem Priester oder einem Staatsmann wird ein bestimmtes Verhalten erwartet. Wird die erwartete Rolle nicht erfüllt, fällt der Redner aus seiner Rolle, so leidet damit auch seine Glaubwürdigkeit. So wird ein Diplomat bei einem vornehmen Empfang in zerrissener Jeans anders wirken, als wenn er erwartungsgemäß in einem Anzug gekleidet erscheint. Kontext Der situative Kontext beinhaltet alles, was als Rahmenbedingung auf die Glaubwürdigkeit des Redners Einfluss nehmen kann. Der situative Kontext kann das gesamte Potenzial der Überzeugungskraft der Rede verändern, sogar umkehren. Der gute Redner kann mit einer hervorragenden Rede in der einen Situation hervorragend überzeugen, in einer anderen Situation aber vollständig versagen. Stellen Sie sich einen Vertreter des Arbeitgeberverbandes vor einer Versammlung von Unternehmern vor, der eine Rede über die Notwenigkeit der Senkung der Personalkosten hält. Er wird sicherlich bei den Anwesenden auf Zustimmung stoßen. Verändert man nun das Setting insofern, dass der gleiche Redner die gleiche
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Rede vielleicht sogar in der gleichen Räumlichkeit vor Angestellten eines Unternehmens hält, das Stellenkürzungen plant, so wird seine Überzeugungskraft sicherlich anders zu bewerten sein. Wie anfangs beschrieben, müssen also alle drei Perspektiven von Redner, Rede und Publikum mit in die Beurteilung der Persuasionskraft einbezogen werden.
3.2
Logos
Der Bereich des Logos umfasst bei Aristoteles alles, was durch folgerichtige Argumentation bewiesen oder scheinbar bewiesen werden kann. Über diesen Bereich der Persuasion existiert eine schier unüberschaubare Menge an Überlegungen aus den Bereichen der Philosophie und Argumentationstheorie. Für ein tieferes Verständnis über Aufbau und Wirkweise von Argumentationsstrategien sei an dieser Stelle auf die Werke von Stephen Toulmin (als Einstieg) und vor allem auf die Forschungsergebnisse der „Amsterdamer Schule“ um die Forschergruppe von van Emeren und Grootendorst verwiesen. Generell kann in diesem das „Wort“ betreffenden Element alles verortet werden, was die klare Gliederung und die sprachliche Ausgestaltung der Rede betrifft. Welche Struktur nun die beste für einen Vortrag ist, muss im Einzelfall geklärt werden. Der rednerischen Überzeugungskraft ist es aber sicherlich dienlich, wenn sich der Redner an die drei Tugenden einer guten Rede hält: sie sollte angemessen in Wort und Stil sein, sie sollte sprachlich richtig und sie sollte deutlich sein. Gerade in diesen Punkten können Unternehmenssprecher und Führungskräfte vieles verbessern. Nach dem Stanford-Linguisten Geoffrey Nunberg verwenden gerade Führungskräfte in höheren Positionen hohle und für ihre Angestellten oftmals anmaßend klingende Worte (Nunberg 2003, S. 12). Ein Aspekt im Rahmen der Argumentation wird in der Praxis sehr häufig fehlinterpretiert. Es scheint die landläufige Meinung zu herrschen, dass der mit den besseren Argumenten, auch der sein muss, der überzeugt. Sind die Argumente gut genug, wird sich zwangsweise die Einstellung und das Verhalten des zu Überzeugenden ändern. Dabei wird häufig und fälschlicherweise davon ausgegangen, dass das bessere Argument dieses ist, welches man selbst als das beste Argument einschätzt. Die Argumentation, die mir selbst jedoch am besten einleuchtet, ist aber nicht unbedingt die, die dem Publikum entspricht. Ein kleines Beispiel aus einem Rhetoriktraining mag dies veranschaulichen. Ein junger Mann, selbst ein leidenschaftlicher Schachspieler, versuchte seine Zuhörer davon zu überzeugen, dass diese mit dem Schachspielen anfangen oder zumindest sich einmal damit beschäftigen sollten. Einer seiner Hauptargumentationspunkte war für ihn, dass Schach ein Spiel sei, das sehr wenige Ressourcen benötigt. Ein paar Holzfiguren, ein Spielbrett und schon kann das Spiel überall und jederzeit beginnen. Durchaus war dies ein starker Punkt. Jedoch stieß die Rede auf wenig Gegenliebe bei seinen Zuhörern. In der anschließenden Besprechung mit den Zuhörern stellte sich nun heraus, dass diese überwiegend in der IT-Branche beschäftigt waren und über hochgerüstete Computer verfügten, mit denen sie sehr viel Zeit verbrachten, und die ihnen sehr wichtig
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waren. Wenn sie sich schon mit einem Spiel beschäftigen wollen, dann aber bitte mit einem, das eben diese EDV-Ressource auch ausreizt. Als die Rede optimiert auf die Erwartungshaltung und Interessen der Zuhörer nochmals vorgetragen wurde, konnte man eine deutliche Verbesserung in der Akzeptanz gegenüber dem Schachspielen feststellen.
3.3
Pathos
Der dritte Bereich, der von Aristoteles als Element der Überzeugung genannt wird, ist Pathos. Dieser, die Affekte betreffende Bereich, soll Gefühlszustände wie zum Beispiel Mitleid, Zorn oder Wut beim Publikum auslösen und damit die gewünschte Überzeugung in die eine oder andere Richtung lenken. Dass diese erweckten Gefühle tatsächlich zu beeinflussen vermögen, merkt man, wenn man in große, erwartungsvolle Kinderaugen blickt, die einen um Süßigkeiten bittend anblicken, oder wenn man dem hilfesuchend blickenden und bedürftig aussehenden Bettler seiner Bitte nach ein paar Münzen nicht entsprechen will. Auch ohne größere rednerische Leistung kann man dadurch zu einer Handlung gebracht werden. Gestützt durch das Auftreten des Redners (ethos) und dessen schlagende Argumentation (logos) entwickelt sich das ganze Potenzial der persuasiven Kraft. Neben den drei Elementen der Überzeugung, die sich eher am Redner und dessen Rede orientieren, hat auch das Publikum einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. Grundsätzlich ist dabei zu beachten, dass die Situation, in der die Rede gehalten wird, die mögliche Überzeugungskraft zum Teil mehr beeinflusst als der Inhalt der Rede. Kann das Publikum den Redner überhaupt hören bzw. ist es in einer aufnahmefähigen Stimmung? Wie und ob die Rede überzeugend wirken kann, hängt in Bezug auf das Publikum auch von dessen Zusammensetzung ab. Dabei kommen nach moderner Persuasionsforschung vor allem die Aspekte Bildungsniveau, Selbstbild der Zuhörer, Autoritätsgläubigkeit, Alter und geschlechterspezifische Zusammenstellung zum Tragen. Bei diesen Einzelaspekten ist zudem zu beachten, wie deren anteilsmäßige Verteilung ist. Ist das Publikum eher homogen zusammengesetzt (z. B. ausschließlich Mitarbeiter der gleichen Abteilung oder Studenten des gleichen Semesters und des gleichen Studienzweigs) oder herrscht eine hohe Heterogenität (z. B. öffentliche Verkaufsveranstaltung in einem Kaufhaus für zufällig vorbeikommende Kunden) vor?
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4.
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Ist Persuasion eine erlernbare Kunst?
Rhetorik ist seit jeher eine Wissenschaft, deren Erkenntnisse sich in der realen Redesituation widerspiegeln. Auf die Frage, ob Persuasion erlernbar bzw. lehrbar sei, kann sie daher nur mit einem „ja“ oder genauer „ja, unter bestimmten Bedingungen“ antworten. Die oben beschriebenen Beobachtungen aus der Rhetorik- und Persuasionsforschung legen mehrere Schlüsse nahe. Es ist nicht genug, nur eine „schrifttechnisch gute“ Rede zu erstellen. Vor allem die Wirkung des Orators, die Eigenschaften der Adressaten der Überzeugung und das umgebende Setting müssen ebenfalls in das strategische Kalkül des Redners mit einfließen. Der Redner muss, will er erfolgreicher werden, dies als seine rhetorische Kompetenz wahrnehmen und versuchen, sich darin stets zu verbessern. Will der Redner ohne fremde Hilfe die persuasive Wirkung seiner Reden verbessern, so sollten drei Aspekte dabei im Vordergrund seiner Bemühung stehen. Im ersten Schritt sollte der Redner versuchen, ein tieferes Verständnis für die rhetorische Situation zu gewinnen, in die er sich begibt. Dies setzt eine gewisse Steigerung der Analysefähigkeiten voraus. „Wie ist mein Publikum strukturiert? Sind die Anwesenden die Adressaten der Überzeugung? Wie wirkt sich das Setting auf meine Performanz aus? Welche Einschätzungen hat das Publikum mir gegenüber? …“ Im zweiten Schritt sollte der Redner versuchen, möglichst viele Übungsmöglichkeiten für sich zu schaffen. Dies müssen nicht immer ganze Reden sein. Erfahrene Redner werden zum Beispiel versuchen, sich bereits vor der Rede und ohne anwesendes Publikum an das Pult zu stellen, um ein Gefühl für den Raum und dessen Akustik zu bekommen. Im dritten Schritt sollte der Redner nun möglichst viele seiner Redesituationen im Nachblick analysieren und zur Übung gedanklich optimieren. Gerade der Aspekt der Analyse des eigenen Redeauftritts wird oftmals vernachlässigt, sei es aus Selbstüberschätzung, Mangel an geeigneten Analysewerkzeugen oder der puren Erleichterung, dass die stressbehaftete Redesituation überstanden ist. Man sollte sich im Klaren sein, dass die rednerische Ausbildung in der Antike nicht ohne Grund ein Leben lang andauerte. Kommunizieren ist in den letzten zweieinhalbtausend Jahren nicht einfacher geworden, man bedenke nur die Vielzahl an Kommunikationsmitteln (vom Telefon bis hin zur TV-Übertragung), die heute möglich sind, und viele neue Herausforderungen mit sich bringen. Es liegt nahe, sich gerade für die Verbesserung der eigenen Redefähigkeiten professionelle Hilfe zu suchen. Ein typischer Ansatz ist hier die individuelle Förderung durch einen Coach/Berater, der den Redner für eine bestimmte Zeit oder in ausgewählten Situationen begleitet und durch gezieltes Feedback versucht, den Redner bestmöglich zu fördern. Diesen Ansatz findet man häufiger bei Politikern im Wahlkampf, aber auch zunehmend bei Topmanagern, die für öffentlichkeitswirksame Auftritte vorbereitet werden sollen. Gerade im Bereich der Analyse und Optimierung ist der nüchterne Blick von außen hilfreich. Was aber ist
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mit all den scheinbar einfacheren, kurzfristigen Situationen, die im beruflichen Alltag auftreten, wie die Vorstellung zum geplanten Projekt XY, die Unternehmenspräsentation vor eingeladenen Kunden, die Projektstatusbesprechung oder die Situationsbeschreibung in komplexen Entscheidungssituationen? Nicht immer kann ein professioneller Coach oder Trainer zur Seite gestellt werden, um den Redner optimal vorzubereiten. Ziel muss es also sein, den Redner auf die Redesituation so vorzubereiten, dass er sich dauerhaft selbstständig verbessern kann. Ein anderer typischer Ansatz zu Verbesserung der rednerischen Fähigkeiten sind Seminare und Schulungsmaßnahmen in Gruppen. Dabei wird der Hilfesuchende von der Vielzahl von Seminarbezeichnungen und -beschreibungen geradezu überrollt. Da Persuasion eben den wesentlichen Kern der Rhetorik widerspiegelt, kann der gesuchte Seminartitel von „Rhetorik“ und „Reden“ über „Argumentation“ bis hin zu „Kommunikation“ gehen. Entscheidet man sich nun für ein Seminar, so kann die Enttäuschung groß sein, da typische Rhetorikseminare mit der Anforderung, die Persuasionskraft des Redners zu verbessern und ihm dauerhafte Werkzeuge für Analyse, Optimierung und Performanz an die Hand zu geben, überfordert sind. Dies liegt zum Teil daran, dass in den Redeübungen viel Potenzial verschenkt wird. Welche Übungsformen könnte ein modernes Rhetorikseminar beinhalten bzw. wie könnten diese Übungen strukturiert sein, um dieser Zielsetzung näherzukommen? Betrachtet man die antike Rednerausbildung, so wird man feststellen, dass es hier einige Übungsformen gab, die in unsere heutige moderne Welt übertragen und angepasst, deutliche Vorteile gegenüber dem einfachen „Redehalten“ aufzeigen. Um zu zeigen, wie ursprüngliche Übungsformen dem Redner im unternehmerischen Umfeld helfen können, seine rednerische Kompetenz zu verbessern, sollen hier kurz zwei Modelle skizziert werden, die geeignet sind die Überzeugungskraft zu steigern: die Deklamation und die Beratungsrede.
4.1
Deklamation
Die klassische rhetorische Übungsform war die Deklamation. Die Deklamation ist ihrer Redeform nach eine Gerichtsrede, bei der zu einem fiktiven Fall zwei Redner als Ankläger und Verteidiger auftreten. Ziel ist es, einen Freispruch bzw. eine Verurteilung des Angeklagten herbeizuführen.
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Abbildung 1:
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Aufstellung der Deklamation
Grundsätzlich sind für die Übungsform der Deklamation zwei Redner (ein Ankläger, ein Verteidiger) ein Vorsitzender (achtet auf Regeleinhaltung, wie zum Beispiel maximale Redezeiten) und beinahe beliebig viele Zuhörer, die als Laienrichter zum Einsatz kommen, nötig. Um nicht in juristische Spitzfindigkeiten abzugleiten, ist der Ort der Verhandlung ein fiktiver Ort unseres westlichen Standards, mit sehr einfachen gegebenen Rechtsnormen (z. B. der Europäischen Menschenrechtskonvention). Aufgabe der Redner ist es nun, den Laienrichtern den Fall in Form eines Plädoyers vorzutragen und für die Verurteilung bzw. den Freispruch des Angeklagten zu werben. Auch wenn es anfangs den Anschein erwecken mag, ist die Deklamation kein Rollenspiel um des Spiels willen oder als vereinfachte Ausbildung von Juristen gedacht. Vielmehr geht es um den Umgang mit längeren Reden, der Fähigkeit des Berichtens und der Darstellung von Geschehenem. Dies wird noch weiter unterstützt, indem den Laienrichtern der Fall in seiner ursprünglichen Ausformulierung vorenthalten wird. Ihre einzigen Informationsquellen und damit alleinige Grundlage ihrer Entscheidung sind somit die Inhalte der beiden Reden! Die Übungsform der Deklamation hat in dieser Form mehrere Vorteile. Aufgrund der fiktiven Ausgangslage verlieren sich die Redner nicht in betrieblichen Details, sondern können sich vollständig auf die rednerische Situation einlassen. Deklamationen eignen sich aufgrund der ausdifferenzierten Regeln gut, um längere Reden (mit mehr als 15 Minuten) zu trainieren. Der wichtigste Vorteil ist jedoch der wettstreitende Charakter der Übungsform. Wenn der Redner versucht, mit allen Elementen der Persuasion zu wirken, also Ethos, Logos und Pathos zum Tragen kommt, kann es ihm gelingen, den Schuldspruch bzw. die Verurteilung zu erwirken.
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Der Redner muss die Fähigkeit der Erzählung und Deutung der Geschehnisse hier besonders beherrschen. Übertragen in den unternehmerischen Alltag sind dies Redesituationen, in denen über den Verlauf bis hin zum Status quo berichtet wird, zum Beispiel bei einer Projektbesprechung oder bei einer Jahreshauptversammlung. Unter professioneller Anleitung kann die Deklamation den Redner deutlich intensiver und effizienter auf diese Situationen vorbereiten als ein einfaches Vortragen einer ausformulierten Rede.
4.2
Beratungsrede
Im Gegensatz zur Deklamation ist die Beratungsrede in die Zukunft gerichtet und soll eine Entscheidung über das zukünftige Vorgehen in die eine oder andere Richtung beeinflussen. In der antiken Demokratie Griechenlands entschied die Volksversammlung über die politischen Entscheidungen und damit über die weitere Zukunft der Gemeinschaft. Die Beratungsrede ist vermutlich eine der am häufigsten vorkommenden Formen der Rede in modernen Unternehmen. Sobald eine Maßnahme, ein Vorschlag, eine Projektidee vorgestellt wird, über die entschieden werden soll, kann davon ausgegangen werden, dass diese Rede in der Form einer Beratungsrede stattfinden wird. Das Grundmodell von Rede- und Gegenrede, ähnlich dem Modell von Ankläger und Verteidiger, kann hier auch als Ausgangssituation für eine moderne Ausgestaltung der Übungsform dienen. Der erste Redner stellt einen Antrag für eine Maßnahme vor, die umgesetzt werden soll. Der ihm folgende Redner versucht nun, kritisch diesen Antrag auf dessen Durchführbarkeit und Sinnhaftigkeit zu prüfen und dies in einer bündigen Rede vorzutragen. Vorteil dieser Übungsform ist es, dass man beliebige Themen aus dem direkten Unternehmensalltag als Beispiele nehmen kann. Vor allem die zweite Rede offenbart die Vorteile der aneinandergekoppelten Reden. Alle Inhalte, die der erste Redner nicht klar genug, nicht überzeugend genug, nicht mit genügend Nachdruck vorgetragen hat, werden vom zweiten Redner genutzt. Dadurch werden auch die möglichen Schwächen im Inhalt und der Argumentation des ersten Redners offenbart. Wenn nun noch die restlichen Anwesenden als Entscheider über die Annahme oder Ablehnung des Antrags fungieren, haben die Redner einen klaren Adressaten der Überzeugung, an den sie sich mit all ihrer persuasiven Kraft wenden können. Eine weiterführende Übungsform der Beratungsrede findet man wieder in der Form der sportlichen Debatte, bei denen Teams gegeneinander antreten. Diese Form der rhetorischen Übung wird weltweit im studentischen Umfeld genutzt. Seit einigen Jahren finden dazu sogar regelmäßige Turniere und Meisterschaften statt. Man kann sich diese Debatten ein wenig wie im Parlament vorstellen, in dem die Regierung einen Gesetzesvorschlag formuliert und die Opposition diesen Antrag argumentativ zu prüfen und abzulehnen versucht. Diese Vorstellung geht natürlich von einer Idealvorstellung parlamentarischer Rede aus. Gesprochen wird in abwechselnder Reihe: Erster Redner der Regierung, erster Redner der Opposition, zweiter
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Redner der Regierung, zweiter Redner der Opposition. Vorteil dabei ist, dass man durch die Erweiterung auf mehr Redner eine inhaltliche Vertiefung und ein Höchstmaß an Übungsmöglichkeiten für die Redner schaffen kann. Die Übungsform der „Offenen Parlamentarischen Debatte“ eignet sich für diesen Trainingszweck besonders. Insgesamt stehen sich zwei Teams mit jeweils drei Rednern gegenüber. Als Adressat der Überzeugung sind sogenannte „Fraktionsfreie Redner“ vorgesehen. Diese übernehmen die Funktion einer kritischen Öffentlichkeit, die sich während der Debatte in eigenen Reden zu Wort meldet. Im Ablauf der Debatte werden zuerst die vier ersten Redner der Regierung und Opposition den Antrag vorstellen und kritisieren. Dann werden die „Fraktionsfreien Redner“ nacheinander ans Pult gerufen und stimmen nun der einen oder der anderen Seite zu und ergänzen deren Argumente um eigene, noch nicht in der Debatte erwähnte Gesichtspunkte. Vorteil ist, dass in nur einer Übung im Durchschnitt neun (!) Redner zu Wort kommen können. Darüber hinaus ermöglicht ein ausführlicher Jurorenbogen mit ausdifferenzierten Bewertungskriterien ein sehr exaktes und zielführendes Feedback.
Abbildung 2:
Aufstellung der Debatte in der Form der Offenen Parlamentarischen Debatte
Bei allen Übungsformen, die die Steigerung der persuasiven Kraft im Focus haben, sind drei Merkmale übereinstimmend. Zum einen wird nie eine Rede isoliert gehalten. Jede Rede ist in der Form von Rede- und Gegenrede miteinander verbunden, damit ein inhaltliches Feedback erzeugt werden kann. Zum anderen ist in jeder der Übungsformen ein klar erkennbarer, anwesender Adressat der Überzeugung vorgesehen, der es möglich macht, die Rede überhaupt überzeugend gestalten zu können und deren persuasive Kraft zu beurteilen.
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Die Übungsformen unterstützen durch umfangreiche Analysewerkzeuge die Steigerung der rhetorischen Kompetenz des Redners in Bezug auf dessen Adressaten- und Instrumentarienkalkül.
5.
Fazit
Persuasion im Sinne eines Überzeugens ist in unserem Alltag allgegenwärtig und aus dem täglichen Arbeits- wie Privatleben nicht wegzudenken. Daher besteht ein besonderes Bedürfnis, diese Fähigkeit des Überzeugens in all ihren Erscheinungsformen bestmöglich zu verstehen, zu beherrschen und zu trainieren. Jeder Redner kann sich durch eigenes Engagement und nicht zuletzt durch professionelle Unterstützung in diesem Bereich verbessern. Ziel muss es aber sein, die rhetorische Kompetenz des Redners nicht nur einseitig, zum Beispiel durch Überbetonung von Argumentationstheorien oder Versteifung auf körpersprachliche oder stimmliche Besonderheiten zu fördern, sondern immer alle Aspekte und Elemente der Persuasion aufmerksam zu beobachten, zu analysieren und gegebenenfalls zu optimieren. Gerade das Wissen der „alten Rhetoren“ und die dargestellten Übungsformen zeigen einen Ansatz auf, wie moderne Rhetorikseminare den Anforderungen an eine Steigerung der Persuasionsfähigkeit nachkommen können.
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Zur Inszenierung der Rede
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Zur Inszenierung der Rede Brigitte Biehl
1.
Einleitung
Jeder Redner versucht seine Worte wirkungsvoll in Szene zu setzen, regelrecht zu inszenieren. Man denke zurück an die berühmtesten der Redesituationen, wie beispielsweise die „Antoniusrede“. In Shakespeares Stück „Julius Cäsar“ hält Mark Anton nach der Ermordung Cäsars seine berühmte Rede gegen Brutus, den Führer der Meuchelmörder. Die sogenannte „Antoniusrede“ ist ein Muster der Volksrede, mit der Antonius das Volk zum Aufstand gegen die Verschwörer und zur Mordbrennerei anstiftet. Er beginnt mit dem Ruf „Mitbürger, Freunde, Römer hört mich an!“ und steht direkt neben der Leiche des ermordeten Cäsar. Sie unterstützt visuell den Inhalt der Rede. Mark Anton spricht über Brutus’ Herrschsucht und jedem Zuschauer werden ihre vernichtenden Folgen durch den toten Körper deutlich vorgeführt. Was wäre diese Rede ohne das Testimonium, das Arrangement und die Ansicht der Beweise gewesen? Nicht nur im Theater oder in Situationen der antiken Rhetorik gehört die Inszenierung einer Rede zu ihrem Gelingen dazu. Auch wenn Manager vor Investoren und Journalisten auftreten, so benutzen sie für ihre Rede Techniken, wie man sie aus dem Theater kennt. Die Dramaturgie des Raumes soll den Kontext für den Redner „konstruieren“, die Lichtverhältnisse, die Sitzreihen, die Kleidung muss stimmen, um möglichst gut beim Publikum anzukommen. Grelle Beleuchtung hebt den Redner hervor, bunte Hintergrundbilder mit dynamischen Formen unterstreichen bestenfalls die Inhalte mit dem richtigen „Schwung“. Wie im antiken Beispiel wurde bei Lufthansa-Chef Wolfgang Mayrhuber bei der Hauptversammlung ein alter, im Retro-Stil lackierter Lufthansa-Bus vor das Rednerpult gestellt – bevor er dann ausführlich über die 50-jährige Firmentradition sprach, die durch die Ansicht fast förmlich greifbar wurde. Einige Autokonzerne wie DaimlerChrysler präsentieren zu solchen Anlässen die neuesten Modelle an der Rampe der Bühne, an den Seiten des Rednerpults, die dann Ansprüche von „Innovation“ und gar „Designführerschaft“ unterstreichen können. Solche Inszenierungstechniken einzusetzen, ist ebenfalls die Aufgabe von Redenschreibern und PRBeratern, die die Wirkung von Reden unterstützen wollen.
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Auch bei kleineren Meetings greift jeder, der vor Kollegen, Kunden oder Klienten seine Ideen vortragen möchte, zu Inszenierungstechniken und kleinen Tricks. Wir drucken unsere abgegriffenen Papiere frisch aus, richten das Jackett, schließen die Rollläden ein wenig, damit das Publikum nicht geblendet ist, und arrangieren vielleicht sogar die Tische um, damit uns keine „Barriere“ von den Zuhörern trennt. Die Bemühungen zum Arrangieren, Organisieren und Umordnen des Raumes laufen oft unterbewusst, und wer seine Wirkung steuern will, setzt solche Techniken bewusst ein. Denn für die Wirkung einer jeden Rede ist nicht nur das geschriebene Wort entscheidend, sondern der Vortrag und mehr noch: die gesamte Inszenierung der Rede. Das sogenannte „Drumherum“ gibt den Worten eine weitere Dimension an Bedeutung und Überzeugungskraft. Dieser Beitrag bedient sich der Erkenntnisse aus der Theaterwissenschaft, die Inszenierung erfassen und erklären kann. Sie untersucht zunächst den Inszenierungsbegriff und beschreibt dann, wie eine Vielzahl von Elementen wie Bühne, Rednerpult, Bühnenbild, Licht, Gestik und Mimik, die Wirkung einer Rede beeinflusst.
2.
Über die Inszenierung
Was versteht man unter „Inszenierung“? Wenn wir den Inszenierungsbegriff betrachten wollen, müssen wir bei seinem Ursprung, der Welt des Theaters beginnen. Die im 19. Jahrhundert von August Lewald (1991, S. 306) geprägte Sichtweise von Dramaturgie lautete: „’In die Szene zu setzen’ heißt, ein dramatisches Werk vollständig zur Anschauung bringen, um durch äußere Mittel die Intention des Dichters zu ergänzen und die Wirkung des Dramas zu verstärken.“ Dramaturgen und Regisseure suchen also nach entsprechenden Mitteln der Szenengestaltung, grübeln über Bühnenbilder und den Einsatz von Beleuchtung. Auch die Autoren selbst setzten häufig Spielanweisungen und Bestimmungen zur Raumordnung in den Text von Theaterstücken. Heute ist die Forschung zu Inszenierungsprozessen weiter und betont, dass nicht nur ein Text in die Szene gesetzt wird, sondern mit der Situation der Aufführung etwas ganz Neues um diesen Text herum entsteht, eine flüchtige und einmalige Situation, die eine besondere Anziehungskraft auf alle Anwesenden ausübt. Gerade vor diesem Hintergrund wird es noch wichtiger, die Inszenierung zu planen. Alle Inszenierungstechniken gelten nicht nur für besondere Auftritte, sondern auch für das Alltagsleben und den Berufsalltag. Der Soziologe Erving Goffman beschreibt in seiner grundlegenden Analyse menschlicher Interaktion, wie der Einzelne seinen Auftritt regelrecht inszeniert: Der Apotheker umgibt sich mit Hunderten von Flaschen, obwohl er nur in die Schublade greifen muss; vor dem Besuch der Schwiegermutter wird ihr ungeliebtes Bild hervorgeholt und aufgestellt; der vorsichtige Mechaniker verteilt beim Hausbesuch einige
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mitgebrachte Schrauben auf dem Boden, bevor er den Fernseher des Kunden auf- und wieder zuschraubt und möglicherweise Teile vergisst. Taktisch an der Umgebung zu arbeiten empfiehlt sich auch für jede Rede. Relevant für die Wahrnehmung einer Live-Situation ist nicht nur das gesprochene Wort, sondern eine Vielzahl von verschiedenen Elementen. Die Forschung zu Auftritten und Performances spricht zunächst von einem dreiteiligen System: dem linguistischen Text, dem Inszenierungstext und dem Performancetext. Im Endeffekt zählt der Performancetext für die Wahrnehmung. Der linguistische Text ist der geschriebene Text der Reden, das Redemanuskript. Es ist intuitiv verständlich, dass der Text die Wahrnehmung zwar beeinflusst, aber eben auch der Vortrag, denn der Text wird bei einem Auftritt nicht einfach ausgeteilt, sondern eben vorgetragen. Hier kommt schon der Inszenierungstext ins Spiel. Jener wird durch szenische Interpretation lesbar. Dazu gehören die Raumkonzeption mit dem Bühnenbild sowie unterschiedliche Signifikanten wie Beleuchtung und auch die „Spielweise“ der Auftretenden. Ihre Eigenschaften werfen ein bestimmtes Licht auf den Text. Wenn nun der Vortragende gute Gestik benutzt, so scheint der Text lebendiger, wenn er mit einer zupackenden Stimme spricht, so nimmt er das Publikum eher für sich ein. Wenn der Hintergrund und die Beleuchtung „stimmen“, so ist die ganze Rede wirkungsvoller. Eine Live-Situation ist allerdings ein Spezialfall von Kommunikation, wie schon angedeutet, als ich das „Besondere“ einer Auftrittssituation angesprochen habe. Der Auftretende und die Umgebung senden eine Vielzahl von Zeichen aus, die der Zuhörer, oder besser gesagt, Zuschauer, interpretiert. Das ist anders als das Lesen eines Geschäftsbericht und eines Redemanuskripts zu Hause: Hier kann sich der Betrachter in Ruhe ein Bild machen, auch Zusatzmaterial benutzen, vielleicht bestimmte Begriffe wie Finanzzahlen nachschlagen oder innehalten und nachdenken. Das ist in einer Live-Situation nicht möglich. Deshalb muss die Gesamtheit des Ereignisses betrachtet werden. Das ist der sogenannte Performancetext. Er enthält für die Wahrnehmung entscheidende Faktoren, die die optischen Merkmale des Inszenierungstextes und sprachlichen Inhalte des linguistischen Textes einschließen, aber über sie hinausgehen. Wichtiger als die Betrachtung der Übermittlung eines Inhaltes stellt der Performancetext zunächst eine nicht vollständig kontrollierbare Situation dar, die sich durch notwendige Kopräsenz von Akteuren und Aufnehmenden kennzeichnet. Selbst die Gesichtsregungen und die Stimmlage des Redners werden vom oftmals skeptischen Publikum nach Anzeichen von Gefühlen und Unsicherheiten abgesucht. Jedes der vielen Zeichen, das von Szenografie, Sprache und Bewegung ausgeht, erzeugt Bedeutung – oft unterbewusst und kaum messbar. Wie wir im Folgenden sehen werden, spenden Zuhörer Beifall für gute oder lachen laut über schlechte Bühnenbilder. Die gesamte Situation, die natürlich von dem Arrangement im Raum beeinflusst wird, lässt eine spezielle Atmosphäre entstehen, die die Faszination an einer persönlich miterlebten Rede ausmacht und die Wirkung von Reden beeinflusst. Um dies zu verdeutlichen, betrachte ich im Folgenden einzeln maßgebliche Elemente, die zur Inszenierung von Reden gehören.
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2.1
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Ort
Schon der Ort, an dem eine Rede gehalten wird, hat immer eine symbolische Funktion und beeinflusst die Gesamtwahrnehmung. Die historischen und sozialen Eigenschaften der Lokalität werfen ein bestimmtes Licht auf das Treffen. So ist es nicht verwunderlich, dass Unternehmen gemäß einer Umfrage Wert darauf legen, bei großen Veranstaltungen ihrer Rolle als guter Gastgeber gerecht zu werden und das Publikum zu beeindrucken, indem sie sich zuerst einmal an einem Ort „inszenieren“, der zum Geschäftsmodell passt. Entscheidend für die Auswahl eines Hauptversammlungsplatzes sind nicht nur Kriterien wie die Größe der Räumlichkeiten, die technische Ausstattung und die Kosten, sondern auch Stimmungsfaktoren: Manche achten auf die Professionalität des für die Verpflegung zuständigen Gastronomiebetriebs, legen Wert auf das, was sie „Flair“ nennen, und bevorzugen schließlich die geografische Nähe zum Sitz der Gesellschaft oder zum Börsenplatz, an dem die jeweilige Aktie notiert ist. Die Nähe kann das Unternehmen „begreifbarer“ und „sicherer“ erscheinen lassen. Der geschickte Redner versucht stets, einmal zu Redebeginn auf den Ort Bezug zu nehmen. Hier ein Beispiel von einem Vorstand, der versucht, die Umgebung zum eigenen Vorteil zu nutzen. So freute sich Allianz-Chef Schulte-Noelle schon auf der Hauptversammlung im Jahr 2002, dass so viele Aktionäre den Weg in die „ehrwürdige“ Olympiahalle gefunden hätten und vergaß nicht, die damit verbundene beliebte Fußballweltmeisterschaft zu erwähnen und das neue Allianz-Stadion als Sympathieträger zu nennen: „Die Faszination des Sports treibt uns gerade in diesen Tagen der Fußballweltmeisterschaft wieder um. Nun wissen wir nicht, wie weit es die deutsche Nationalmannschaft in diesem Wettbewerb der Besten noch bringen wird. Dies aber wissen wir, meine Damen und Herren: Als Gastgeber wird sie in jedem Fall Teilnehmer der nächsten Fußballweltmeisterschaft sein und in der ›Allianz-Arena‹ wird in vier Jahren die Eröffnung stattfinden.“ Für kleinere Veranstaltungen wie Presse- und Analystenkonferenzen nutzen Unternehmen meist ihre eigenen Gebäude. Diese signalisieren für die Gäste und für die gesamte Öffentlichkeit den unternehmerischen Anspruch, drücken so positive Werte wie Erfolg oder Größe aus, denn Architektur ist immer politisch und meinungsbildend. Wir merken beispielsweise, wie der Kirchenbau eine Atmosphäre des Heiligen oder der Demut erzeugt. Gebäude können eine bestimmte Atmosphäre erzeugen, Schlösser zum Beispiel die soziale Hierarchie manifestieren. In der Inszenierung des Wirtschaftsgeschehens gibt es als steinernes Zeugnis von Erfolg große Börsengebäude wie die in der Wall-Street, denen sich der Betrachter mit Ehrfurcht nähert. Ebenso greifen auch die massiven Banktürme in die Befindlichkeit derjenigen ein, die sie betreten. Der größte Wolkenkratzer in Frankfurt gehört der Commerzbank. In das hauseigene Auditorium werden die Medienvertreter jährlich zur Präsentation der Bilanzkennzahlen gebeten. Sie können auf ihrem Weg durch das gläserne Innere und über weite Treppen kurzfristig Teil des imposanten und Stein gewordenen Erfolgs werden.
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Bei Veranstaltungen des Aviation-Konzerns Lufthansa wird das eigene Innenleben zum ästhetischen Leitmotiv. Das Unternehmen veranstaltet die Presse- und Analystenkonferenzen an Orten, die stark symbolisch aufgeladen sind und eine für die Anwesenden nicht alltägliche Arbeitsatmosphäre bieten: In den Neunzigern trat der Vorstand mal im Flugzeughangar auf, mittlerweile im Flight Training Center neben dem Flughafen Frankfurt. Dort stehen die Flugsimulatoren und Attrappen von Flugzeugen. Letztere sind am Tag der Versammlung verwaist, gewöhnlich üben hier Flugbegleiter die Evakuierung im Notfall. Konzernchef Mayrhuber will aber kein Katastrophen-Szenario beschwören, wirft vielmehr einen langen Blick durch die Halle und lobt die Ausbildung der Mitarbeiter und besonders die Qualifikation der Piloten und die fast sichtbare Sicherheit der Lufthansa. Der Ort verstärkt somit die Wirkung der Rede.
2.2
Bühne
Der Einzelne muss im Beruf bei verschiedenen Anlässen eine Rede halten. Die Umgebung variiert stets. Während kleinere Vorträge in Meetings in Konferenzzimmern überzeugen sollen, treten Redner bei offiziellen Veranstaltungen meist auf eine Bühne. Ob großes oder kleines Umfeld: Die jeweilige Struktur des Raumes beeinflusst immer die Wahrnehmung und lässt ein Wirklichkeitsverhältnis entstehen, das beiden Interaktionspartnern ihre jeweilige „Rolle“ zuweist. Wenn wir einmal riesige Veranstaltungen wie Hauptversammlungen betrachten, so fällt auf, dass die Vorstände in den Sportarenen und Versammlungshallen vor bis zu 10.000 Aktionären und Medienvertretern oftmals sehr distanziert auftreten: Die Bühnen sind meist über einen Meter hoch, eine Balustrade setzt häufig noch zusätzlich ab. Im Sinne der Manager ist, dass die Distanz Raum zur Mystifikation bietet, welche eine gewisse Ehrfurcht vor Autorität erzeugt. Es ist eine Grundregel, dass jede Faszination verfliegt, sobald bei alltäglicher Selbstdarstellung kein Platz für Idealisierung, Spekulation und Neugier bleibt. Die abgrenzende Sphäre gibt einen Persönlichkeitswert vor, gewissermaßen die Form gewordene Ehre. Weil der Aufbau so zum Element von Vertrauensbildung wird, würden Ideen von einem »innovativen« Bühnenkonzept in Form eines »Round-Tables« und »ohne die übliche Barriere«, wie sie manche Hauptversammlungsveranstalter andenken, nicht die erwünschte Wirkung liefern. Eine ähnliche Situation war lediglich einmal bei der Hauptversammlung des amerikanischen Unternehmens Google zu beobachten: Der junge Vorstand sitzt auf der Bühne auf höheren Schemeln, einer Art Barhockern, und wirkt nicht unnahbar, sondern praktisch greifbar. Das passt durchaus zur Unternehmenskultur, es kann so wirken, als bestünde – wie auch beim Produkt der Internetsuchmaschine – ein Draht zum normalen Leben. Der Anblick erinnert auch an das typische Turnschuh-Klischee der New Economy. Die meisten Unternehmen grenzen sich mit ihrer Bühne allerdings schon so weit vom Publikum ab, dass sie nicht mehr offen und zugänglich wirken. Firmen wie die Deutsche Bank und Commerzbank hingegen signalisieren bei den Hauptversammlungen durch eine dreistufige
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Treppe mit flauschigem Teppichboden und warmem Parkett zwar einen Besonderheitswert, aber auch Offenheit und Zugänglichkeit und lassen an Schlagworte wie „Transparenz“ denken. Man darf auch nie vergessen, dass alle auf der „Bühne“ anwesenden anderen Personen, oder bei Vorträgen im kleinen Kreise alle im Umfeld des Redners Anwesenden, stets eine Wirkung auf die Wahrnehmung des Redners und seiner Worte haben. Was hier zählt ist etwas wie dramaturgische Loyalität, die Anwesenden werden im Auge des Publikums zu Mitgliedern des Ensembles, was nicht nur im Theater, sondern in jeder Alltagssituation eine gemeinsame Vorführung abgeben soll. Gerade bei großen Veranstaltungen wie Hauptversammlungen lässt sich beobachten, dass dies oft ignoriert wird und fragwürdige Situationen entstehen lässt. Manche Ensemblemitglieder lesen sehr engagiert Zeitung, telefonieren gar, oder lassen durch demonstratives Nachgießen von Kaffee selbst den Blick des Redners kurz verunsichert abschweifen. Doch auch Nichtstun kann den Anblick verhunzen, wenn der halbe Vorstand mit gefalteten Händen die Ausführungen über „Zukunftsfähigkeit“ weniger mitdenkt, denn fast schon wie figürliche Ironie flehentlich mitbetet. Die Anwesenden müssten durch zur Schau gestelltes Interesse zeigen, dass die Rede wirklich wichtig ist. Dasselbe gilt für einen kleinen Kreis, auch hier müsste zumindest derjenige, der den Redner einführt und vorstellt, durchgehend Interesse zeigen.
2.3
Dekoration
Den Redner umgeben stets irgendwelche Gegenstände, die in einer Zuschauersituation als Dekoration fungieren. Im Theater wird die Dekoration ganz gezielt eingesetzt, um bestimmte Aussagen der Inszenierung zu verstärken. Auch jedem Alltagsdarsteller, auch dem Auftretenden, sollten solche Gegenstände Würde und Prestige verleihen. Dazu gehört beispielsweise das eingangs dargestellte Arrangement von Produkten wie Autos, welche die Bühne verzieren und die Worte des Redners unterstreichen. Ein anderes Element ist die Blumendekoration, ohne die fast keine größere Veranstaltung auskommt. Blumen lassen Räume weniger kalt wirken und verzieren als typisches Herrschaftsattribut jenen, der sich für wertvoll hält oder mächtig ist. Doch auch hier treibt Ungeschicktheit sonderbare Blüten. Beispielsweise entschloss sich ein Vorstandsvorsitzender eines Stromversorgers, bei einem Vortrag vor rund 100 Aktionären nach höheren Kursverlusten möglichst positiv zu eröffnen und den Anwesenden mit einem sonnigen Lächeln zuallererst einen „Wunderschönen Frühlingsanfang“ zu wünschen. Er stand hinter einer 1, 30 Meter hohen Blumenrabatte vor seinem Rednerpult. Unglücklich im sozialen Kontext war dies, da es der erste Tag des Irakkriegs war, und alle Aktionäre an anderes dachten. Wenn der Kontext so ist, sollten Organisatoren einerseits die Dekoration anpassen, auf jeden Fall dem Redner aber von solchen Querverbindungen abraten.
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Auch bei anderen, größeren Auftritten, sind es solche kleinen Elemente, die ein Gesamtbild stören. Als DaimlerChrysler 2004 zur Hauptversammlung einlud, schmückten die Organisatoren das Podium mit rosa Tulpen. Ausgerechnet Tulpen sind in der Kunst seit Jahrhunderten Symbol für die Vergänglichkeit alles Irdischen – und erinnern im Zusammenhang mit der Entwicklung von Börsenwerten zudem an die niederländische Tulpenblase 1637. In der Malerei wird die Tulpe häufig zusammen mit Totenköpfen gezeigt. Ein eher düsteres Sujet. Organisatoren müssten sich entschließen, die Deutungshoheit der Situation zu behalten und dem Publikum vermitteln, was die Dekoration signalisieren sollte und warum genau diese Dekoration gewählt wurde. Das ist im Fall der Tulpen aber nicht einfach. Der Redner könnte in einem Nebensatz darauf Bezug nehmen, wenn Tulpen beispielsweise zu einer neuen Designidee gehören sollten.
2.4
Bühnenbild
Wenn ein Redner auftritt, so blickt das Publikum nicht nur auf ihn, sondern ebenso auf das, was sich hinter ihm befindet – auf den Hintergrund. In der Auftrittssituation auf dem Podium kann man auch vom Bühnenbild sprechen. Aufmerksamkeit für dieses ist zwangsläufig gegeben, denn es ist der Fokus des bildräumlichen Zuschauerblicks und der Rahmen aller Handlungen. Im Theater zeigt das Bühnenbild Ort und Zeit der Handlung an, rahmt, bebildert und verstärkt die Stimmung. Genauso wird zwangsläufig das Arrangement bei jedem Auftritt, beispielsweise bei Unternehmensveranstaltungen, interpretiert. Das Bühnenbild wird im szenischen Kontext zum „Sinn-Bild“ für das Unternehmen, so wie auch das Cover eines Geschäftsberichts oder die Gestaltung der Homepage ein „Bild“ des Unternehmens abgeben. Bei kleineren Anlässen bestehen für einen Redner oft wenige Möglichkeiten, auf den Hintergrund Einfluss zu nehmen, gerade wenn mehrere Sprecher auftreten. Den Redner im richtigen Kontext erscheinen zu lassen, ist Sache der Organisatoren. Betrachten wir einmal einige Beispiele von großen Veranstaltungen. Hier versuchen Firmen, auf Bühnenbildern ihre Farben und Brandings zur Geltung zu bringen. Doch es gibt auch schlechte Beispiele. Bei Hauptversammlungen lassen sich oft mehrere Dutzend Firmenschriftzüge auf dem Bühnenbild zählen. Das scheint übertrieben. Auch gilt es, das Publikum nicht mit Slogans zu verwirren, die offensichtlich wenig Chancen haben verstanden zu werden, wie generell viele englische Claims in Deutschland. So dekorierte sich die Deutsche Bank bei ihrer Hauptversammlung vor einigen Jahren mit dem englischen Motto „A Passion to Perform.“, welches dem Zuschauer nicht viel sagte. Ich selbst hatte die Anwesenden befragt. Aktionäre konnten nicht erklären, was der Spruch bedeuten soll, auch die Auszubildenden der Bank hatten nur vage Vorstellungen. In diesem Fall ist noch bemerkenswert, dass die doppeldeutige Formulierung auch mit „Spaß am Schauspielern“ übersetzt werden kann. Besonders, wenn sie auf einer Bühnenwand steht. Im Folgejahr besann sich die Bank auf die deutsche Version „Leistung aus Leidenschaft.“. Nur bei Pressekonferenzen bleibt der Spruch englisch, denn dort sitzt auch ein Publikum, das über die globale Stärke schreiben darf.
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Da nun das Bühnenbild im Selbstinszenierungskontext zur plastischen Konzeption der unternehmerischen Intention wird, kann es als kreative Überreaktion auch schaden. Wie bei der Telekom. Bei der Hauptversammlung 2003 gelang es dem Unternehmen, das visuelle Fettnäpfchen zielsicher zu treffen. Direkt hinter dem Vorstandssprecher-Pult befand sich ein fast 3 Meter breites und über 5 Meter hohes Bild eines mit Tennisbällen in der Firmenfarbe Magentarot jonglierenden jungen Mannes in Trainingsanzugjacke. Die Ansicht war dem Aktionär bereits von der Einladung und dem Geschäftsbericht her bekannt und wurde mit „zielorientiert“ überschrieben und sollte vermutlich eine positive Konnotation im Sinne der „Zukunftsfähigkeit“ auslösen. Auf der Bühne wurden beide Figuren in eine direkte Verbindung gesetzt, und nach einem schlechten Geschäftsjahr mit Diskussionen um Bilanzmanipulation bildete die Tätigkeit der riskanten Spielerei und Schaustellerei beim Vortrag des Vorstandsvorsitzenden einen Kontrast zu dem Soll-Bild eines abwägenden und standhaften Lenkers. Aktionäre lästerten unter Applaus in der Generaldebatte: „Sie sind eine Artistengruppe, Hütchenspieler und Gaukler“, „Schluss mit der Jongliererei!“ Diese Szene zeigt, wie sensibel Zuhörer, oder besser gesagt Zuschauer, einer Rede gegenüber sein können. Organisatoren bei Auftritten, darunter auch Redenschreiber, müssen sich dessen bewusst sein und die Szenerie gegebenenfalls vorher aufmerksam prüfen. Wie man sieht, können solche Inszenierungsfehler selbst bei großen, internationalen Konzernen mit vermeintlich professioneller Unternehmenskommunikation passieren.
2.5
Licht
Das Licht macht bei Auftritten nie einfach nur die Bühne für Publikum und Kamera sichtbar, sondern beeinflusst immer die Wahrnehmung und hat Bedeutung. Auch hier werden sozial akzeptierte Codes von Farbe und Intensität benutzt, auf die jeder reagiert. Wir kennen das von „schmuddeligen“ Rotlicht-Bars und „ehrfürchtigen“ Kirchen mit Dämmerlicht. Redner, wie bekannte Manager, sitzen hingegen stets im weißen Licht, das immer Konnotationen von Wahrheit und Wirklichkeit hervorruft. Eine auf den ersten Blick als angenehm zu beschreibende Stimmung entsteht bei praktisch jeder großen Firmenveranstaltung dadurch, dass die Bühne mit höherer Intensität beleuchtet ist als die Zuschauer. Wer dort oben ist, scheint sich fast im Glanz seiner Leistungen zu „sonnen“. Dieses Arrangement ist aber problematisch. Das Publikum sitzt zwar nicht im völligen (geistigen) Dunkel, dennoch verschiebt sich die Vorstellung eines gleichberechtigten Dialogs, weil durch die szenischen Vorgaben die Rezeptionshaltung verstärkt wird. Das hier angewandte Prinzip ist das des Illusionstheaters, bei dem vor der sogenannten „vierten Wand“ gespielt wurde, die Bühne hell war und das Publikum im Dunkeln saß. Zuschauer identifizieren sich mit den Vorgängen auf der Bühne wie mit dem Elend des tragischen Helden. Die starke Illusionstheater-Beleuchtung, über die Organisatoren nachdenken sollten, lädt nun besonders bei Hauptversammlungen den Aktionär weniger dazu ein, den Kuli zu zücken und
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mitzuschreiben, denn oft ist es fast zu dunkel, als den Blick ungestört auf das Helle zu richten und bestenfalls empathisch die so „dramatischen“ Vorgänge des Geschäftsjahres mitzufühlen. Dem Zuschauer könnte in solchen Situationen unangenehm auffallen, dass versucht wird plump zu beeinflussen. Bei kleineren Veranstaltungen wird dagegen oft das richtige Maß gefunden und nicht übertrieben. Bei Analystenkonferenzen beispielsweise merkt man, dass der Vorstand mehr Respekt vor dem Gast zeigen will. Hier wird in fast allen Fällen durchgängig hell beleuchtet. Das sieht man auch bei einigen Pressekonferenzen von großen Konzernen. Dieses Beleuchtungsprinzip erinnert an das Theater Bertolt Brechts. Das so genannte epische Theater wollte anders als das dramatische Illusionstheater den Zuschauer nicht einlullen, nicht mit Emotionen arbeiten. Brecht wollte vielmehr Argumente vermitteln und benutzte das Licht, um das Publikum auf eine „rationale“ kritische Distanz zu bringen. Auch seine Schauspieler standen auf Distanz zu Rolle, sprachen dafür auch mal in der dritten Person und zitierten Regieanweisungen, was als Verfremdungseffekt bekannt ist. Damit endet die Parallele zu Rednern auf der Wirtschaftsbühne, die natürlich nicht „aus der Rolle“ fallen, sondern sie „verkörpern“ sollen. Ein gleichmäßiger Lichteinsatz mit einer gewissen Betonung des Sprechers lässt aber auf jeden Fall eine „nüchterne“, „ehrliche“ Atmosphäre entstehen.
2.6
Rednerpult
Ein Redner steht bei offiziellen Veranstaltungen meist an einem separaten Pult. Vorstandsvorsitzende treten für ihren Vortrag bei den meisten Hauptversammlungen an ein Pult vorn auf der Bühne, aber selten bei Presse- und Analystenkonferenzen. In anderen Ländern, beispielsweise in Großbritannien, ist es fast Standard auch für die Rede vor Journalisten und Fondsmanagern aufzustehen. Die Stellung betont die Besonderheit des Sprechers. Ein geometrisches helles Lichtfeld und ein emporragender Unterbau personalisieren zusätzlich. Während manche Vorstände auf ihrem Platz bleiben, wie bei Lufthansa-Hauptversammlungen, und „teamorientiert“ von einem erhöhten Pult aus sprechen, werden vor dem an der Rampe stehenden Pult von Jürgen Schrempp (DaimlerChrysler) – der sich eitlerweise noch mit einem Professoren-Titel (allerdings honoris causa) auf dem Redemanuskript schmückt – sogar silberne Metallständer mit Ketten im Halbrund positioniert und nach der Rede wieder abgeräumt. Sein vermeintlich bescheidener Nachfolger verzichtet darauf allerdings. Alle diese Elemente sind szenische Äquivalenzzeichen von operativem Einfluss, ebenso das Rednerpult, hinter dem gewöhnlich ein Wissender zu den weniger Wissenden spricht. Wir haben in den Beispielen mit den übertriebenen silbernen Metallständern gesehen, dass sich auch beim Arrangement dieser Sprechstelle falsche Wirkungen provozieren lassen. Der Ort des Pults ist für die Wirkung des Sprechers wichtig: steht es zu sehr am Rande, kann der Redner kaum eine sehr raumumgreifende Präsenz erreichen. Ebenso ist die Form des Pults wichtig. Zuträglich ist ein offenes Pult, denn die ganze Person als szenisches System sendet
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Brigitte Biehl
viele Zeichen der Gestik und der Haltung und das macht den Anblick für den Zuschauer interessanter. Armut an Zeichen verursacht Langeweile, denn der Zuschauer braucht zu viel Zeit und eine „lange Weile“, um sich ein Bild zu machen. Das kann schnell passieren, wenn ein Sprecher hinter einem unten geschlossenen, fast brusthohen Pult spricht. Eine schlanke Ablage für das Manuskript wirkt da viel besser.
2.7
Gestik und Blickkontakt
Jeder Redner spricht bereits zu seinem Publikum, bevor er auch nur ein einziges Wort gesagt hat. Die Körpersprache, das Mienenspiel, der Schwung der Gesten, sind Teil der Persönlichkeit und zeigen, wie der Darsteller selbst seine Rolle sieht. Zu den sogenannten kinesischen Zeichen gehören die mimischen Zeichen des Gesichts, die gestische Körperbewegung ohne Positionswechsel und die proxemischen Zeichen, erzeugt von Bewegung durch den Raum. Die gestischen Körperbewegungen, wie die Bewegung der Hände, sind ein immenser Bedeutungsgeber der kommunikativen Handlung. Schon der stumme Eindruck der Situation macht deutlich, wer in welcher Rolle agiert. Wer gestikuliert, wird als Sprecher erkannt. Die Zuhörer machen keine Gesten, außer wenn sie sich zu Wort melden oder dem Sprechenden Zeichen geben wollen. Wird der Sprecher unterbrochen, friert er gewöhnlich seine Stellung ein, um zu zeigen, dass er weiterreden will. Das gilt auch für stehende Bilder und wird in der Malerei angewendet: Wenn ein Maler eine Gruppe abbildet und zeigen möchte, dass einer redet und wer das ist, so stellt er ihn nicht etwa mit offenem Mund, sondern in einer mittleren Geste dar. Dasselbe versuchen auch die Fotografen bei einer Rede von einem Manager. Auf gute Situationen muss das Publikum aber oft warten. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende von DaimlerChrysler, Jürgen Schrempp, verharrte beispielsweise bei Hauptversammlungsreden in einer Art selbstbewusster Schubkarrenhaltung, die das scheinbar schwere Gewicht der Rede dem Publikum entgegenschieben wollte, während sich die Stimme wie ein Sechszylinder durch den Text wälzte. Die Hände bewegten sich nicht. Gestik ist wichtig für jede Rede, denn sie leistet in ihrer illustrativen Funktion Verständnisund Überzeugungsarbeit, auch indem sie den Inhalt teilweise umgeht. Dabei helfen sogenannte metaphorische Gesten, die die Worte fast ausmalen und begreiflich darstellen. Ein Positivbeispiel ist Werner Seifert, ehemals Chef der Deutschen Börse. Ihm kam auf der Hauptversammlung 2003 die anspruchsvolle Aufgabe zu, Clearing und Settlement, die Abwicklung von Börsengeschäften, zu erklären und sie in Bezug zur seiner Beschreibung des Unternehmens zu setzen. Die Firma nannte er in der Rede „Transaktionsmaschine“; ihre Aufgabe sei, die „Transformation von Komplexität in Energie“, so der Manager. Das klingt schon beim Lesen in Ruhe kompliziert. Als die Verbalrhetorik an ihre Grenzen stieß, setzte der geschickte Redner die „Energie“ in Bewegung um und zählte an den Fingern ab „Bauen, Betreiben, Beladen“ und malte Säulen in die Luft. Bestenfalls war selbst der unbegabteste
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Anleger am Ende der Rede davon überzeugt, dass es nebensächlich ist, was genau so eine „Transformationsmaschine“ mit Wertpapierordern macht, aber dass es vielversprechend (rechte Hand nach oben), sicher (Körbchengestik), vernetzt (Finger verschränkt), heilsbringend (ausgebreitete Arme) und somit genau das Richtige ist.ȱ Diese Arten positiver physischer Rhetorik beschreiben nicht nur den besprochenen Gegenstand, sondern formen die Beziehung zum Zuschauer und dessen Eindruck von der Person. Sie unterstützen die Bereitschaft, das Vertrauen in die „Hände des Sprechers“ zu legen. Außerdem ähnelt die weit offene Gestik dem Illustrationsverhalten anderer Vertreterrollen wie christlichen Predigern. Aus einer verschlossenen Körperhaltung lässt sich nicht auf eine Vision oder eine Idee schließen, welche jede Rede haben sollte. Für einen Redner ist neben der Gestik auch die Mimik, und hier gerade der Blickkontakt mit dem Publikum wichtig. Dieser hält die Aufmerksamkeit und hilft, sie zu kontrollieren und zu beeinflussen. Die kontrollierende Wirkung des Blicks ist für manche Redner bei allen möglichen Anlässen sogar ein Grund, auf die Brille mit ihren spiegelnden Gläsern zu verzichten. Die deutsche Redekultur bei offiziellen Anlässen, gerade in der Welt der Wirtschaft, tut sich hier allerdings schwer. Weit bekannt ist der witzige Ausspruch über Manager, die fast nicht vom Blatt aufsehen: Es wird gesagt, der deutsche Topmanager trenne sich eher von seiner Ehefrau als von seinem Redemanuskript. Wer einen Blick ins Ausland wirft, sieht französische und englische Topmanager, die bei Hauptversammlungen mal mit Teleprompter und sogar mit Headset auftreten und direkt ins Publikum blicken. Solche Darbietungen wirken schon ihrer Form wegen faszinierender. Der typisch deutsche Redner im Geschäftsleben bleibt dem Zuschauer gegenüber distanziert fast wie ein Nachrichtensprecher. Dieser tritt gewöhnlich mehr als Instanz journalistischer Objektivität denn als Person auf; seine jeweils nur kurzen Blicke dienen lediglich der Übermittlung von Information. Die zurückhaltende Art mit einem „Pokerface“ stilisiert eine sehr deutsche Rationalität. Auch reißt durch das ständige Niedersehen auf das Manuskript der Kontakt zu den Zuschauern ständig ab. Wer sein Publikum „keines Blickes“ zu würdigen scheint, kann aber auch keine Signale, wie gelangweilte Gesichtsausdrücke, aufnehmen, geschweige denn mit Tempowechsel, Änderung der Tonlage oder mit Einschüben auf sie reagieren. Die wechselseitige Verständigung wird gestört. Die Vorstellung ist damit widersprüchlich: So manche Manager berichten, wie sie ganze Unternehmen „auf konsequente Kundenorientierung trimmen“ wollen und reden selbst in einer Weise, die sich gerade darum nicht kümmert. Gerade wenn es in der Rede um Kommunikation und Interaktion geht, muss der Redner das auch in seinem Stil zeigen.
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2.8
Brigitte Biehl
Kleidung
Ein weiteres Element, welches die Wahrnehmung eines Vortrags und des Sprechers beeinflusst, ist die Kleidung. Landläufig wird davon gesprochen, dass Kleider Leute machen, und so ist auch bei jedem Vortrag das Outfit ein wichtiges Element. Der Rezipient spezifiziert durch das Aussehen und die Charakteristika der Kleidung die dargestellte soziale Rolle, erzeugt also mit ihr zusätzliche Bedeutung. Kleidung ist nicht nur im Theater, sondern genauso im Alltagsleben ein Status-, Hierarchie- und Geschmacksindikator. Die Informationen, die sie übermittelt, sollen genauso wie das Bühnenbild, die Gestik und die Dekoration einen gewissen Abstraktionsgrad und Allgemeingültigkeit haben, also Wertvorstellungen verkörpern, die zum Inhalt der Rede und zum Redner selbst passen. Für Redner gilt zunächst die allgemeine Grundregel, dass das Outfit zum Rahmen passen muss. Die gewählte Kleidung drückt erst einmal auch Respekt vor dem Anlass und den Zuschauern aus; Angemessenheit bietet eine Grundlage, schon visuell „auf einer Wellenlänge“ mit dem Publikum anzukommen. Wir alle machen uns für bestimmte Anlässe „schick“ und Kleidung ist damit ein elementarer theatraler Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Ein Auftritt in Turnschuhen und im T-Shirt ist einfach unpassend für eine Geschäftsveranstaltung mit gesetztem Publikum, außer vielleicht, man tritt für ein Start-up-Unternehmen auf, welches eine Art New Economy-Klischee pflegen und sich absichtlich vom Publikum absetzen will. Das gilt selbst für Vermarkter von Sportkleidung: Obwohl schon behauptet wurde, dass Adidas-Chef Herbert Hainer in Turnschuhen bei Hauptversammlungen aufgetreten sei, konnte das die Kommunikationsabteilung des Konzerns auf meine Nachfrage nicht bestätigen. Rednerinnen haben etwas mehr Variationsmöglichkeiten, was die Kleidung angeht, auch der Umgang mit Farben kann einfacher sein – was sich bestätigt, wenn wir einmal an die Auftritte von Politikerinnen denken. An dieser Stelle möchte ich aber einen kleinen Exkurs über ein Männer-Kleidungsstück machen, welches immer große Aufmerksamkeit auf sich zieht: Die Krawatte. Wenn wir einen Blick auf die Redeauftritte von Managern werfen, so fällt auf, dass „Mann“ klassischen Geschäftsstil trägt, meist dunkle Anzüge und mehr oder minder passende Krawatten. Das Polohemd, gehobener Freizeitstil amerikanischer CEOs, wäre nicht diskussionsfähig für einen offiziellen Auftritt in Deutschland. Hier gilt immer noch die Vorstellung: „Wer nicht zugeknotet ist, kann nicht seriös sein – und schon gar nicht erfolgreich.“ Doch selbst Anzug, Hemd und Krawatte beherbergen Fehlerpotenzial. Der Blick der Betrachter ist auch auf die Krawatte geheftet, die nicht nur Statussymbol ist, sondern Assoziationen auf die Persönlichkeit des Trägers aufkommen lässt, die über einfache Schlüsse auf modischen Unverstand oder eingeschränkte Motorik bei einem ungekonnten Knoten hinausreichen. Das sieht man an einem Beispiel der Telekom-Hauptversammlung 2003. Klaus Zumwinkel, Deutsche Post-Chef, war anwesend in seiner Rolle als Aufsichtsratsvorsitzender. Es war sein erster Auftritt in dieser Funktion und er besaß noch zahlreiche weitere Nebentätigkeiten. Die Aktionäre taten sich anfangs mit der Gewöhnung an diese Rollenvielfalt schwer. „Der neue Aufsichtsratssprecher ist zügig gekommen, intellektuell angemessen und geogra-
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fisch günstig gelegen“ begrüßte ein Aktionär bei seiner Wortmeldung. Die Anspielung auf die Post löste im Publikum Lachen und Applaus, beim Angesprochenen ein breites Grinsen aus. „Nur ihre Krawatte ist schlecht“, setzte er nach, mit bohrendem Blick auf den blau-dunkelrot gestreiften Schlips, der sich mit dem hellen Telekomrot hinter dem Manager auf der Bühne und mit allen umgebenden Logos farblich nicht vertrug. Zumwinkel griff sich verunsichert an die Brust, die Köpfe der Zuschauer reckten sich, die des Bühnenensembles drehten sich unter allgemeiner Heiterkeit. Dies ist eine Feedback-Situation, welche selten ist. Üblicherweise kann der Redner aus solchen Fehlern nicht lernen, weil sie ihm nicht unbedingt mitgeteilt werden. Dennoch registriert das aufmerksame Publikum solche Unstimmigkeiten und die Situation kann trotz Schweigen peinlich wirken. Der Redner muss also derlei Hintergründe kennen. Seine Berater und auch der Redenschreiber sollten gegebenenfalls unterstützend mit Hinweisen wirken. Kleidung ist nicht nur selbst Kommunikation, sondern hält immer als Metapher für den ganzen Kontext her. Wer zum Unternehmen „passen“ will, der zeigt es auch. Das beweisen andere Redesituationen wie beispielsweise die von Ulrich Hartmann, ehemals Vorstandsvorsitzender der E.ON AG, auf der Hauptversammlung. Er konnte auf die Frage des Unternehmensslogans „Sind Sie on?“ – welcher im Hintergrund von der Projektionswand leuchtete – ein stummes Signal geben, indem er mit kräftig rotem Tuch auftrat: Er war „in-“ oder besser „on red“, mit firmenfarbener Krawatte und rotem Einstecktuch, genau wie die Bühnenfarben und das Logo. Der Redner geht sicher, wenn er solche Abstraktionen bedenkt und sich an aktuellen Trends orientiert, wie den nach Aussage des Deutschen Krawatteninstituts immer noch anhaltenden Streifentrend. Das Muster verläuft von links unten nach rechts oben und signalisiert gemäß Aussagen der Kleidungsprofis Vorstellungen von „Aufschwung“ und „Dynamik“. Außerdem fällt auf, dass die höchsten Topmanager versuchen nicht völlig austauschbar zu erscheinen. Eben dies sollte jeder Redner bedenken, denn er möchte besondere Worte sprechen und Ideen vermitteln, nicht nur Worthülsen in standardisierter, langweiliger Kleidung von sich geben. Angemerkt sei hier, dass seit der antiken Rhetorik die Person des Redners einer der Gründe für die Überzeugungskraft der Rede ist. Er muss immer als Persönlichkeit erscheinen, dabei hilft natürlich der Vortragsstil, die Stimme, die Gestik und Mimik, und eben auch die Kleidung. Variationen in der Kleidung lassen sich mit einem Einstecktuch oder einem kleinen Anstecker vornehmen. Gerade die sogenannte „Finanzelite“ wie der ehemalige Chef der Deutschen Börse, Werner Seifert, und der Ex-Deutsche Bank-Chef Rolf-E. Breuer, tauchen bei offiziellen Anlässen mit einem weißen Einstecktuch auf – welches man bei vermeintlich weniger bedeutenden Pressesprechern, die kein Führungsamt „bekleiden“, nie wahrnimmt. Anstecker und Pins, wie man sie beispielsweise beim Lufthansa-Chef Wolfgang Mayrhuber in Form des Star-Alliance-Pins mit Kranich sieht, signalisieren als Markierung, wie bei einer Marke, die Zugehörigkeit des Repräsentanten zu der Firma.
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3.
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Fazit
Dieses Kapitel über die Inszenierung von Reden hat an zahlreichen Beispielen verdeutlicht, dass Redner, darunter ranghohe Vorstände, relativ wenig berücksichtigen, wie wichtig die gesamte Inszenierung mit all ihren wahrnehmungsrelevanten Elementen für die Wirkung ihres Auftritts ist. Es gibt Pannen, wie schlechte und verwirrende Bühnenbilder und auffällig einlullende Beleuchtung, unpassende Krawatten und langweilige Gestik, verwirrende Blumendekorationen und Rednerpulte, hinter denen der Sprecher zum großen Teil verdeckt ist. In diesem Bereich der Unternehmenskommunikation ist für die Verantwortlichen von Redeauftritten noch viel zu lernen. Für sie ist problematisch, dass der Begriff „Inszenierung“ landläufig falsche Vorstellungen von „Illusionstheater“ auslöst oder an übertriebenes Verhalten denken lässt. Dabei bedeutet Inszenierung eigentlich nur, wie anfangs geschildert, mit theatralen Mitteln wie Bildern, Raumarrangements, Gestik und Kleidung, wirkungsvoll zu kommunizieren. Und das ist völlig legitim, sogar notwendig – obwohl natürlich jede Inszenierung auch wieder täuschen kann. Es ist aber gerade problematisch, dass viele der tonangebenden Personen in der Wirtschaftswelt diese Diskrepanz gar nicht wahrzunehmen scheinen. So begründete der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn seine bisweilen sehr forsch wirkenden Auftritte in einem Fernsehinterview mit den Worten: „Ich bin kein Industrieschauspieler. Ich bin Mehdorn.“ Dieses falsche Verständnis eines ehrlichen, echten Auftritts geht so weit, dass selbst in einigen der global agierenden DAX-Unternehmen Reden nicht von Profis formuliert werden, sondern von darin nicht geschulten Mitarbeitern der Investorenkommunikation oder von Assistenten. Noch weniger Ratschläge professioneller Art sind über Inszenierung in der Rhetorik zu erwarten. In der Kommunikation zwischen Vorstand und unterstützender Organisation herrschen offensichtlich eklatante Mängel. Kaum ein Vorstand gibt zu, dass er seinen Auftritt probt oder üben will, manche befolgen – so die Ergebnisse meiner Gespräche mit zwei Redenschreibern einer internationalen Fluggesellschaft – höchstens die Ratschläge der Redenschreiber, wo Betonungen und Pausen gesetzt werden sollen. Umgekehrt trauen sich Assistenten oft nicht zu kritisieren, und PR-Referenten fehlt der Mut, neue Vorschläge zu machen. Um mit den Anforderungen an Auftritte fertig zu werden, hilft nur eine klare, nach den beschriebenen Aspekten vorbereitete Planung. Die Organisatoren und das Management sollten immer wieder kritisch prüfen, ob Details wie das Bühnenbild, die Dekoration oder die Position der Vorstände mit dem Bild übereinstimmen, welches das Unternehmen oder der Repräsentant vermitteln will.
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Literatur ATKINSON, J. M. (1984): Our Masters’ voices. The language and body language of politics, London/New York BIEHL, B. (2007): Business is Showbusiness. Wie Topmanager sich vor Publikum inszenieren, Frankfurt BIEHL, B. (2007): „Der perfekte Auftritt“, Harvard Businessmanager, Jg. 29, Heft 5, S. 18-27 BOZICEVIC, F. (2005): „Zwischen Kosten und Pragmatismus – Welche HV-Lokalität ist die Richtige?“, Die Aktiengesellschaft, Heft 20, S. 475-476 FISCHER-LICHTE, E. (1998): Semiotik des Theaters. Das System der theatralischen Zeichen, Bd. 1, 4. Aufl., Tübingen GOFFMAN, E. (2002): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. 10. Aufl., München LEWALD, A. (1991): „In die Szene setzen“, in: Lazarowicz, K. und Balme, C. (Hrsg.), Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart, S. 306-311 PAVIS, P. (1998): Semiotik der Theaterrezeption, Tübingen RAPP, U. (1973): Handeln und Zuschauen. Untersuchungen über den theatersoziologischen Aspekt in der menschlichen Interaktion, Darmstadt und Neuwied
Storytelling für Führungskräfte
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Storytelling für Führungskräfte Kommunizieren und führen mit authentischen Geschichten Karolina Frenzel
Storytelling in Reden und Präsentationen einzusetzen, mit Geschichten einen Vortrag einzuleiten oder Beispiele für einen abstrakten Sachverhalt zu geben, ist inzwischen üblich und man schätzt auch als Zuhörer die Lebendigkeit und Abwechslung, die damit in den Redenalltag einkehrt. Wer anschaulich erzählt, dem hören die Menschen nicht nur lieber zu: die Zuhörer merken sich Fakten, die in Geschichten eingebunden werden, auch besser und behalten die gelieferten Informationen noch lange in Erinnerung, da sie – mit Emotionen und Bildern verknüpft – auch lange Zeit später noch leicht abrufbar und weitererzählbar sind. Auch in Unternehmen entdeckt man deshalb das Erzählen von Geschichten, wo vor Jahren noch lieber Klartext geredet wurde. Allerdings verwenden viele Redner beim Storytelling vorwiegend fiktive Geschichten oder Geschichten aus unternehmensfernen Kontexten. Meist handeln diese Erzählungen von beispielhaftem Handeln, dienen als Metaphern für etwas, was man den Zuhörern nahebringen will. Man möchte eine Aussage anschaulich auf den Punkt bringen, sie als Bild im Gedächtnis verankern. Geschichten transportieren als Gleichnisse eine klare, in der Regel appellative Botschaft, wie etwa in der häufig verwendeten Geschichte von den drei Maurern: Ein Mann flaniert müßig durch die Stadt, als er zu einer Baustelle kommt. Drei Maurer sind damit beschäftigt, Stein auf Stein zu mörteln. Es interessiert ihn, was hier wohl für ein neues Gebäude entstehen soll, und so fragt er den ersten Maurer, was er da mache. Der antwortet ziemlich unwirsch: „Das sehen Sie doch. Ich mauere Backsteine aufeinander.“ Diese Antwort befriedigt den Flaneur nicht, er geht weiter zum zweiten Maurer und stellt erneut seine Frage. Der blickt kurz auf und antwortet: „Ich baue eine Mauer.“ Die Wissbegierde des Spaziergängers ist natürlich immer noch nicht befriedigt und so wendet er sich mit seiner Frage an den dritten Arbeiter. Der richtet sich auf, lächelt und antwortet mit strahlenden Augen: „Ich baue die neue Kathedrale unserer Stadt.“
Der Redner, der diese Geschichte in seinem Vortrag einsetzt, kann je nach Kontext und Zuhörerschaft verschiedene Botschaften damit vermitteln. Etwa „Begeisterung für das Große und Ganze ist wichtig“, oder er kann die Geschichte als Appell an Führungskräfte richten, ihren Mitarbeitern besser zu erklären, welchen Anteil sie am Erfolg der Firma haben.
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Karolina Frenzel
Im Fundus vieler Redner finden sich Beispielgeschichten, die sich auf unterschiedliche Situationen übertragen lassen und so universal einsetzbar sind. Das beschreibt aber auch einen gravierenden Nachteil fiktiver Geschichten: sie bleiben abstrakt, fern und unverbindlich, selbst dann, wenn man die Geschichte inhaltlich für das eigene Firmenumfeld passend macht („Ein Mann flaniert müßig durch die Firma, als er in ein Büro kommt. Drei Programmierer sind damit beschäftigt...“). Solche Vorbild-Geschichten haben ihren Platz da, wo es im weitesten Sinne um pädagogische Absichten geht, wie etwa in der Aus- und Fortbildung. Geschichten nach der Art der „Drei Maurer“, die doch ein lebendiges, inspirierendes Vorbild geben sollen, bleiben jedoch etwas sehr Entscheidendes schuldig: Sie zeigen zwar einen wünschenswerten und erwünschten ‚Idealzustand’, sagen aber nichts über den konkreten Weg und die nächsten möglichen Schritte dorthin aus. Durch ihren ausgeprägten appellativen Charakter können sie die Zuhörer womöglich auch auf Distanz halten, statt sie mitzureißen, denn man merkt die Absicht allzu deutlich (und man ist verstimmt). Auch die Personen, von denen erzählt wird, bleiben kühl und papiern, ihnen fehlt alles, was Empathie auslösen könnte. Denn das, was anonyme „Andere“ erleben, geht den Zuhörern nicht besonders weit unter die Haut. Es kann sogar zu negativen Emotionen führen von allzu hehren Lichtgestalten zu hören, wie man es aus Kindertagen vielleicht noch erinnert, als einem der brave Nachbarsjunge oder die stets ordentliche ältere Schwester von den Eltern als leuchtendes Beispiel anempfohlen wurde. Gerade wenn die Personen in den Beispielen idealisiert sind, will und kann man sich nicht mit ihnen auseinandersetzen oder gar identifizieren. Schließlich läuft der Vortragende mit häufig benutzten Geschichten aus dem Fundus immer Gefahr, dass sie die Zuhörer schon des öfteren gehört haben, vielleicht sogar von ihm selbst („Ach, die olle Geschichte schon wieder!“). Im schlimmsten Falle wird man unglaubwürdig, wenn man sich dazu hinreißen lässt, eine Anekdote zu adaptieren („Neulich traf ich auf der Straße drei Maurer und fragte einen von ihnen, was er da mache...“). Im Gegensatz zum begrenzten Repertoire solcher Fundus-Geschichten ist die Quelle authentischer Geschichten aus dem eigenen Unternehmensumfeld unerschöpflich, denn sie sprudelt täglich aufs Neue. Man braucht nur Augen und Ohren aufzumachen und wird bei seinen Kollegen und Kolleginnen, im Gespräch mit Kunden und Geschäftspartnern, beim kurzen Plausch auf den Gängen und beim Teammeeting viel Spannenderes, Aussagekräftigeres und für die Zuhörer Interessanteres finden. Redner, die Storytelling einsetzen, möchte dieser Beitrag dazu ermutigen, sich in der Unternehmenskommunikation wieder darauf zurückzubesinnen, was die Menschen seit Jahrtausenden am meisten interessiert: nämlich das, was in ihrem eigenen direkten Umfeld passiert. „Der Bär kennt neun Lieder. Alle handeln vom Honig“, sagt ein türkisches Sprichwort. Will man Menschen faszinieren und interessieren, ist man ebenfalls gut beraten, ihnen vom ‚Honig’ zu erzählen, also von Dingen, die von ihnen und ihrer Welt handeln, die sie bewegen, die ihnen wichtig sind, die sie kennen und von denen sie ‚etwas verstehen’ im eigentlichen und im übertragenen Sinne des Wortes.
Storytelling für Führungskräfte
1.
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Authentische Geschichten enthalten immer ein Stück der Unternehmensrealität
Der Vorteil von authentischen Geschichten aus dem eigenen Unternehmenskontext liegt genau darin, dass sie immer etwas von der Unternehmensrealität in sich enthalten. Das macht sie für die Zuhörer nachvollziehbar und glaubwürdig. Reale Erlebnisse von Kollegen mit Kunden oder Lieferanten, mit Untergebenen und Vorgesetzten, mit dem Produkt oder mit Prozessen in der Firma können von den Zuhörern auch besser eingeordnet und beurteilt werden. Sie handeln außerdem von Situationen, die jeder kennt und vielleicht selbst schon so ähnlich oder auch ganz anders erlebt hat. Und die Zuhörer interessieren sich für die Menschen aus ihrem direkten Umfeld eben mehr als für fiktive, ausgedachte Figuren. Sind sie aus dem Arbeitsalltag geschöpft, geraten ‚gute Beispiele’ außerdem nicht zum unerreichbaren Ideal. Sie zeigen anregende Möglichkeiten und Varianten, die man so vielleicht noch nicht gesehen hatte. Damit kommen sie weniger didaktisch daher und können leichter angenommen werden. Am besten präsentiert man nicht nur ein einziges ‚glänzendes’ Beispiel immer wieder, sondern bietet mehrere Geschichten zum gleichen Thema aus dem Arbeitsumfeld an. Verschiedene Herangehensweisen und Lösungsvarianten, die aber im Kern ähnlich sind (etwa verschiedene Beispiel für ‚eigenständiges Arbeiten’), konkretisieren abstrakte Begriffe und machen deutlich, wie der Redner diesen Begriff versteht und wie dieser im Unternehmen gelebt werden kann. Es ist wichtig, dass alle Geschichten, die erzählt werden, dieselbe Botschaft vermitteln und sich nicht widersprechen. Man kann ruhig diese ‚guten’ Geschichten in verschiedenen Kreisen wiederholen, aber eben nicht immer dieselbe, sondern öfter neue Varianten. Reale, wahre Geschichten sind dabei nicht nur die, die man selbst erlebt hat, sondern auch das, was man im Arbeitsalltag bei anderen beobachten konnte oder Erlebnisse, die man aus den Erzählungen von Mitarbeitern und Kollegen etc. kennt. ‚Authentisch’ heißt auch nicht unbedingt, dass man die Geschichte haarklein so erzählt, wie sie sich nacheinander zugetragen hat. Wichtig ist, dass sie im Kern stimmt, und dass sie genau die Botschaft vermittelt, die man damit ausdrücken möchte (s.u.)
Dafür eignen sich Geschichten aus dem Unternehmen: Erfahrungswissen weitergeben Vorstellungskraft für neue Ideen anregen Abstrakte Themen auf den Unternehmenskontext anwenden Anschlussfähige Beispiele geben Konkretisieren, was man erwartet und wünscht
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2.
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Anschlussfähige Geschichten ermutigen zur Nachahmung
Auch wahre Geschichten zeigen aber nur einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit. Dieser Ausschnitt sollte deshalb möglichst so gewählt werden, dass er zwar beispielhaft, aber nicht einzigartig und damit unnachahmlich ist. Die erzählte Geschichte muss für die Zuhörer anschlussfähig und nachvollziehbar sein. Das heißt, wenn Sie von einer besonders gelungenen Problemlösung durch fachübergreifende Kommunikation berichten, wenn Sie erzählen, wie eine Abteilung es geschafft hat, trotz kleinem Budget eine Mitarbeiter-Schulung auf die Beine zu stellen, oder wie zwei Projektgruppen sich gegenseitig unterstützt haben, dann kann das anderen im Unternehmen Mut machen selbst kreativ und eigenständig zu handeln, vorausgesetzt, die Firmenkultur ist so beschaffen, dass das mit großer Wahrscheinlichkeit auch erwünscht und möglich ist. Anschlussfähige Geschichten ermuntern auch dazu, in der folgenden Diskussion sehr konkret, sachbezogen und offen über die angesprochenen Inhalte zu diskutieren: Nach dem Vortrag wird der Redner eine ganz andere Qualität von Publikumsgespräch erleben. Was er aus dem Unternehmensalltag erzählt hat, hat in den Köpfen der Zuhörer weitere Geschichten ausgelöst; es lohnt sich, diese nun wiederum auszutauschen.
3.
Wertschätzung als Basis für echte Verständigung
Fragen Sie im Anschluss an Ihren Vortrag und Ihre Geschichten also auch nach den Erlebnissen der Zuhörer. Denn der gegenseitige Austausch über konkrete Erlebnisse ist immer anschaulicher, meist sachlicher und in der Regel auch konstruktiver und lehrreicher als eine Diskussion auf der Basis von Meinungen und Anschauungen. Über die Meinung eines anderen geht man leicht hinweg, oder man versucht sofort, sie zu entkräften, zu widerlegen und im Gegenzug von seiner eigenen Meinung zu berichten. Dem Erzähler eines Erlebnisses wird von denen, die zuhören, meist mehr Aufmerksamkeit und Offenheit entgegengebracht. Während man bei einem Statement als Zuhörer oft schon mit der Formulierung der Gegenrede beschäftigt und gar nicht mehr richtig bei der Sache ist, verlangt uns eine Geschichte immer eine gewisse Aufmerksamkeit ab. Auch eine Erzählung löst beim Gegenüber eine Gegenrede aus, aber oft ist das eben wieder eine Geschichte, ein eigenes Erlebnis, eine andere Erfahrung, die dann erzählt wird. So entsteht, angefangen beim Redner, der durch die vielen Beispiele und Erfahrungen aus dem Unternehmen seinen Respekt vor den Erfahrungen der beteiligten Menschen zeigt, über die Zuhörer, die sich für diese Ge-
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schichten interessieren, bis zum anschließenden Austausch von weiteren Erfahrungen aus dem Auditorium, im günstigen Fall eine Kaskade der Wertschätzung und damit die Möglichkeit für echte Verständigung. Wirbt man in seinem Vortrag für neue Ideen und trifft bei den Zuhörern auf Vorbehalte, können Geschichten helfen, sich nicht in eine aufreibende Konfrontation mit Kritikern und Skeptikern zu begeben. Einerseits kann der Redner an Situationen aus dem Arbeitsleben zeigen, welche Vorteile die neue Idee für die Menschen birgt. Er kann vielleicht schon Beispiele dafür anführen, wo sich im Unternehmen die Neuerung bereits positiv auswirkt. Aber er kann versuchen bei Einwänden und Kritik auch die Ursachen und Wurzeln der Skepsis herauszufinden, indem er die dahinterstehenden Erfahrungen nachfragt. Bekannt ist die folgende, beispielhafte Publikumsreaktion, auf die man mit der Frage nach Geschichten konstruktiv reagieren könnte: „Interessant, was Sie vorschlagen, aber wir haben das schon vor Jahren probiert: so was geht bei uns nicht!“ Statt nochmal zu argumentieren (das hat man ja bereits getan), lieber denjenigen nach der konkreten Geschichte fragen: „Erzählen Sie uns das doch mal, wie war das damals genau?“ In der Geschichte wird man sehen (oder durch Nachhaken herausfinden): Woran ist es genau gescheitert? Was hätte man damals anders machen können, damit es funktioniert hätte? Jetzt kann man auch darüber sprechen, was sich seither im Unternehmen oder im Umfeld verändert hat, so dass sich ein erneuter Versuchen lohnen könnte.
4.
Geschichten konkretisieren abstrakte Begriffe
Gerade die gängigsten Schlagworte, die in aller Munde sind, haben den Nachteil, dass jeder etwas anderes darunter versteht. „Motivation“, „Kooperation“, „Effizienz“, „Synergie“ und dergleichen mehr sind recht dehnbare Begriffe. Welcher Vorgesetzte erwartet nicht, dass das Team eigenständig arbeitet? Aber was genau ist damit gemeint? Wie ein Begriff aufgefasst und gelebt wird, erfährt man, wenn man den Menschen und ihren Geschichten zuhört. Eine Geschichte sagt immer auch etwas über die Haltung des Erzählers aus. Und alles, was man erzählt, wird interpretiert, nicht nur dann, wenn man gerade bewusst „auf Sendung“ ist. Eine ganz nebenbei erzählte Geschichte beim Mittagessen wirkt deshalb unter Umständen ebenso nachhaltig wie das, was beim Teammeeting oder im Vortrag gesagt wird. Wenn ein Chef seinem Mitarbeiter folgende Episode erzählt, wird dieser aus der Geschichte sicher auch Schlüsse für sein eigenes Verhalten ziehen. „Am Montagmorgen fand ich einen Vertragsabschluss auf dem Schreibtisch. Die Konditionen waren geändert worden, ohne dass der Mitarbeiter das mit mir abgesprochen hätte. Das habe ich ihm gar nicht zugetraut, sonst muss ich bei ihm immer Händchenhalten.“
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5.
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Jede Geschichte hat eine Botschaft
Erlebnisse, Anekdoten oder Szenen, die man im Gang oder Büro erzählt, haben also auch dann eine Botschaft, wenn man nicht über sie nachdenkt. Setzt man eine Geschichte bewusst in einer Rede ein, fragen sich die Zuhörer natürlich, warum man ausgerechnet diese Geschichte in diesem Moment erzählt und was man damit sagen will. Die Geschichte wird gedeutet und dabei spielen, mehr noch als die eigene Intention, auch der Kontext der Rede und die Einstellungen und Vorerfahrungen der Zuhörer eine Rolle. Angenommen, jemand möchte das Abteilungsleiter-Treffen mit einer kleinen Geschichte auflockern, und weil er gerade ein Buch mit persischen Erzählungen liest, erzählt er seinen Kollegen daraus etwas zur allgemeinen Unterhaltung: „Auf dem Hühnerhof erkrankte der Hahn schwer. Die Hennen machten sich daraufhin große Sorgen und fürchteten, die Sonne werde am nächsten Morgen nicht aufgehen, wenn das Krähen ihres Herrn und Meisters sie nicht rufe. Die Hennen meinten nämlich, dass die Sonne nur aufgehe, weil der Hahn kräht. Der nächste Morgen heilte sie von ihrem Aberglauben. Zwar war der Hahn wirklich zu heiser, um krähen zu können, doch die Sonne schien; nichts hatte ihren Gang beeinflusst.“
Man kann sich vorstellen, dass einige Kollegen die Geschichte als Aufforderung sehen, sich nicht so wichtig zu nehmen. Es könnte auch sein, dass die Erzählung bei den weiblichen Kollegen ein wissendes Lächeln hervorruft, oder dass die ganze Runde darüber sinniert, wie wenig Einfluss man doch als Abteilungsleiter im Grunde auf den Lauf der Dinge hat u. v. m. Dabei hatte der Erzähler gar keine ‚Absicht’ mit der Geschichte verbunden.
6.
Storyshaping: den Kern der Geschichte herausarbeiten
Um sicherzustellen, dass eine Geschichte die intendierte Botschaft auch vermittelt, muss sie eindeutig und verständlich sein und ‚auf den Punkt bringen’, was der Redner sagen möchten. Der erste Schritt bei der Überarbeitung einer Geschichte, die man präsentieren möchte, ist die Frage nach dem zentralen Punkt des Erlebnisses. Um diesen Kern herum baut man die Erzählung auf. Das heißt, wie ein guter Bildhauer, der seine Skulptur aus dem Stein meißelt, bis nur noch sein Kunstwerk übrig ist, lassen auch Sie alles weg, was nichts zu diesem Kern aussagt. Eine Geschichte wird nicht authentischer, wenn man alle Details wahrheitsgemäß aufzählt. Man muss sich immer klarmachen, dass ein Erlebnis und eine Geschichte nicht ein und dasselbe sind.
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Ein Erlebnis beinhaltet alles, was passiert ist. Für eine Geschichte dagegen lässt man alle Passagen weg, die nichts mit dem zentralen Ereignis zu tun haben. Dass eine Geschichte immer um den Dreh- und Angelpunkt eines zentralen Ereignisses gruppiert sein muss, macht manchmal den Übergang vom Erleben zum Erzählen nicht ganz einfach. Aber ein Erlebnis eins zu eins zu erzählen, ergibt auch noch keine gute Geschichte: Erst wenn wir unsere Erzählung auf den Kern fokussieren und alles weglassen, was damit nichts zu tun hat, werden die Zuhörer die Botschaft der Geschichte verstehen. Für die obige Erzählung ist nichts wichtig, was sonst noch gerade auf dem Bauernhof passiert sein mag. Sie ist eingedampft auf die zentralen Aktionen und Figuren. Der zweite Schritt ist der dramaturgische Bogen, der die Geschichte vom Beginn zum Ende führt. Er sollte das zentrale Thema in den Mittelpunkt stellen. Der Höhepunkt ist die Stelle in der Geschichte, in der sich etwas Grundlegendes verändert, also der Übertritt von der Ausgangssituation zu einer Endsituation. Bei einer Liebesgeschichte wie etwa in „Pretty Woman“ stellt sich das so dar: Der zu Beginn unglückliche, zynische, reiche Mann (Ausgangssituation) wird durch die Begegnung mit einer Frau, die ihn lieben kann, zu einem liebenswerten, glücklichen Mann (Endsituation). Der Höhepunkt der Geschichte ist damit seine Umkehr. Und diese macht den (glücklichen) Schluss erst möglich. In der Hühnerhof-Geschichte ist das wichtigste Ereignis die Auflösung des Aberglaubens der Hennen, nicht die Krankheit oder Gesundheit des Hahns. Schließlich sollte man sich die Frage beantworten, wer oder was der „Held“ der Geschichte ist. Das ist in der Regel die Hauptfigur, es kann aber auch jemand sein, der erst später dazukommt und einen wichtigen Impuls gibt. Nicht der Hahn, nicht die Hennen, sondern der unerschütterliche Ablauf von Tag und Nacht (egal was wir auf Erden tun oder lassen) ist der „Held“ der obigen Erzählung und gleichzeitig die zentrale Aussage. Hat man die Kernaussage herausgeschält, muss man noch den Kontext bedenken, in dem man die Geschichte verwendet. Die Hühnerhof-Geschichte wirkt jeweils anders, je nachdem ob man sie vor Feministinnen oder Gewerkschaftern erzählt, und man kann sich vorstellen, was passieren würde, wenn man sie vor dem eigenen Chef zum Besten gäbe. Neben der Frage nach Kontext und Adressaten ist es noch wichtig, mögliche unerwünschte Nebenbedeutungen zu kennen und gegebenenfalls zu eliminieren. Gerade in Zeiten des Wandels, der Unsicherheit oder im Umfeld von Reorganisationen muss besonders darauf geachtet werden, keine missverständlichen Signale zu geben. Eine Geschichte über den Ideenreichtum der Mitarbeiter etwa kann leicht zynisch mit der Wirklichkeit interferieren, wenn der Vorstand gerade beschlossen hat, bei Forschung und Entwicklung Personal zu entlassen. Aber solchen Dingen muss man bei jeder Kommunikation Aufmerksamkeit schenken, nicht nur beim Erzählen von Geschichten. Wenn die Botschaft der Geschichte geklärt und komprimiert ist, sollte man sich beim Erzählen ganz auf sie verlassen und keinesfalls, nachdem man die Geschichte erzählt hat, noch mit Erklärungen und Ausführungen sicherstellen, dass sie auch von allen richtig verstanden wird. Der Mehrwert einer Geschichte besteht ja unter anderem darin, dass sie einen Sachverhalt sehr schnell auf den Punkt bringt – und das auf eine sinnliche, überzeugende Art. Wenn man
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die Botschaft ohnehin theoretisch erklärt, kann man die Geschichte auch gleich weglassen; die Zuhörer langweilen sich nur, weil ihnen doppelt das Gleiche gesagt wird. Sinn dagegen macht es natürlich, eine Geschichte zu erzählen und dann aus ihrer Botschaft heraus weitere, neue Gedanken zu entwickeln. Aber niemals die Geschichte erklären – das ist, als würde man einen Witz erklären.
Botschaft Eine zentrale Botschaft in den Mittelpunkt stellen Alles Unwichtige weglassen Mögliche unerwünschte Nebenbedeutungen eliminieren Kontext und Zielgruppe bedenken
7.
Jede Botschaft hat eine Geschichte
Wenn man sich vorgenommen hat, in Reden und Vorträgen auf die Kraft von Geschichten zu setzen, wird man bald merken, dass man seine Botschaften mit einer Geschichte konkretisieren kann, dass man sie erden und emotionalisieren kann und dadurch oft besser und schneller bei den Zuhörern ankommt, was man meint. Es ist dabei durchaus auch möglich den Weg‚ von der Geschichte zur Botschaft’ auch umgekehrt zu gehen: Man fragt sich nicht, welche Botschaft eine vorhandene Geschichte hat, sondern man sucht gezielt eine Geschichte zu der Botschaft, die man ausdrücken möchte. Wenn man also einen Fachvortrag vorbereitet, bei dem man auch diejenigen erreichen will, die keine Experten auf dem Gebiet sind, dann durchforstet man sein Gedächtnis nach Erlebnissen und Beispielen, mit denen die Zuhörer einen Zugang zum Thema finden. Wenn man die Aufgabe hat, vor lauter gestandenen Chefs die neuen Führungsleitlinien vorzutragen, dann bezieht man sich vielleicht auf ganz konkrete Situationen des Arbeitsalltags, an denen man die Umsetzungsmöglichkeiten der Neuerungen zeigen kann. Hier kann man auch mit den Geschichten spielen und die geschilderten Szenen als Grundlage der Diskussion gemeinsam weiterspinnen: „Wie wäre die Situation, die ich Ihnen gerade erzählt habe, ausgegangen, wenn der Vorgesetzte unsere Leitlinien gar nicht gekannt hätte?“ Storytelling muss auch keine Einbahnstraße bleiben: Wenn man eine Geschichte erzählt hat und dann nachfragt, ob es ähnliche oder andere Geschichten dazu gibt, entsteht unter den Anwesenden ein ‚Dialog der Geschichten’. Beim Erzählen und Hören verschiedener Erlebnisse bleiben die persönlichen Meinungen im Hintergrund und man erfährt immer etwas mehr voneinander als beim üblichen Austausch von Statements (die meist sowieso jeder schon vorher kannte).
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8.
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Nicht nur ‚gute’ Geschichten sind gute Geschichten
Jeder kennt die sogenannten Sonntagsreden aus der Politik. Aber auch in der Unternehmenskommunikation wird allzu oft über Erfolge, über Erreichtes, über große Ziele, herausragende Leistungen und hehre Einstellungen gesprochen. Auch beim Storytelling neigen Unternehmensverantwortliche als Redner dazu, nur gute Geschichten zu erzählen. Selbst wenn sie wahr sind, können Geschichten unglaubwürdig wirken, wenn sie die Unternehmensrealität nicht angemessen widerspiegeln. Denn die Unternehmensangehörigen als Adressaten und Zuhörer all dieser schönen Geschichten sind selbst meist sehr genau darüber im Bilde, dass es im Alltag der Firma nicht ganz so glatt zugeht. Sie hören gar nicht mehr richtig zu und schalten auf Durchzug, wenn immer nur von den Erfolgen die Rede ist. Deshalb hier die Ermunterung, auch ‚schlechte’ Geschichten zu erzählen. Nicht um die Zuhörer zu frustrieren, sondern weil man aus schlechten Geschichten sehr viel lernen kann. Denn an ihnen sieht man mindestens ebenso wie an guten Geschichten das, was man eigentlich erreichen wollte, und die Ziele, die – wenn auch nicht erfolgreich – verfolgt wurden. Es ist wie bei Liebesgeschichten: Die kleinste Geschichte über eine verlorene Liebe zeigt viel eindringlicher, wie wichtig und existenziell Gefühle für die Menschen sein können als ein ganzes Buch über ein lebenslang glückliches Ehepaar. ‚Schlechte’ Geschichten sind ja meist auch nicht durchgehend negativ, vielmehr handeln sie vom Versuchen und Scheitern und vom erneuten Versuchen, von Rückschlägen, aber solchen auf dem Weg zum Ziel, von schmerzlichen Erlebnissen, die man aus der Rückschau als wertvolle Lernerfahrungen schätzen gelernt hat. Lernen kann man aus solchen Geschichten deshalb sehr viel, weil in Erzählungen von Fehlern, Missverständnissen, Irrtümern und BeinaheKatastrophen der mögliche Lösungsweg, ja oft schon mit enthalten oder angelegt ist. Sie laden deshalb zum mit- und weiterdenken ein. Geschichten mit Krisen und Einbrüchen interessieren oft auch einfach mehr, das kennen wir aus der Zeitung, aus Kinofilmen und Romanen. ‚Ende gut, alles gut’ heißt also nicht, dass man von Anfang bis Ende nur Positives zu berichten hat, sondern dass in einer guten Geschichte eine Transformation erkennbar sein muss. Etwas Entscheidendes ist jetzt anders als am Anfang. Odysseus findet nach Irrwegen zu Penelope zurück. Der Prinz erhält nach Überwindung schrecklicher Ungeheuer Prinzessin und Königreich. Und genauso ist es bei Geschichten aus dem Unternehmen. Am besten erzählt man, wie und warum jemand sich schwer tat, sich ins Team zu integrieren, und was dann geholfen hat doch noch zusammen zu finden. Man beginnt bei den schwierigen Anfängen, wenn man von einem erfolgreichen Projektabschluss berichtet, denn dann sieht man, was für diesen Erfolg alles nötig war. Man fokussiert bei den Erzählungen nicht gleich aufs Happy End; man lässt die Menschen mitfiebern und dabei erkennen, welcher Weg zu diesem Ziel geführt hat. Und selbst eine Geschichte, die sich vom Positiven ins Negative gedreht hat, die hoffnungsvoll begonnen hat, aber dann schlecht aus-
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ging, ist eine gute Grundlage, um über die Voraussetzungen zu sprechen, die zum Erfolg geführt hätten. Nichts ist langweiliger als eine Erzählung nach dem Motto: „Es fing gut an, es ging gut weiter, und dann ging es auch noch gut aus.“ Geschichten von Problemen sind also nicht nur spannend und regen zum Weiterdenken an, sondern auch zum Weiterreden: Man kennt das aus dem Sport-Alltag: die Fans freuen sich zwar sehr über ein klares 6:0 der eigenen Mannschaft, aber nach einem verlorenen oder nur knapp und mit Mühe gewonnenen Fußballspiel wird wesentlich intensiver über Fußball diskutiert.
Was Geschichten langweilig macht: Keine erkennbare Botschaft: Was will die Geschichte uns sagen? Keine Transformation: Anfang gut, Mitte gut, Ende gut Kein Held, keine Emotionen = keine Spannung Der „Höhepunkt“ ist von Anfang an absehbar Das Erzählte ist zu alltäglich oder zu exotisch Die Geschichte funktioniert nicht ohne Erklärungen
9.
Storylistening
Will man andere interessieren, braucht man authentische Erlebnisse, wahre Geschichten, die die Zuhörer nicht überall zu hören bekommen, man braucht ungewöhnliches Wissen, das die Zuhörer sich nicht erlesen oder erarbeiten können, Themen, die überraschen und nicht langweilen. Um die authentischen Geschichten des Unternehmens als wertvolle Quelle für die Kommunikation zu nutzen, muss man sie natürlich erst einmal kennen. Deshalb wird, wer Storytelling einsetzen will, auch ein guter Zuhörer. Andernfalls hätte er nur die Geschichten zu erzählen, die er selbst erlebt oder beobachtet hat. Dazu muss man sich, um sich auf eine Rede vorzubereiten, nicht unbedingt an den Schreibtisch setzen und grübeln. Besser ist es, unter die Leute zu gehen, aufmerksam zu sein, offen, ansprechbar und interessiert. Man sollte handeln nach dem Motto „(Nur) wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen“. Die Reise geht nicht in ferne Länder, sondern dahin, wo sich die Geschichten des Unternehmens abspielen. Intuitiv weiß man es und trotzdem nimmt sich kaum jemand die Zeit dafür: ein paar Gespräche mit dem Pförtner, im Vertrieb oder mit dem Außendienst, und man wäre besser auf dem Laufenden über die Firma als durch unzählige Berichte, Diagramme und Befragungen. Dabei würde man ganz nebenbei noch ein paar Verbesserungsvorschläge hören, man bekäme unterschwellige Themen mit und hätte gleich noch einen Eindruck davon, wo im Unternehmen zur
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Zeit der Schuh drückt. Aber woher die Zeit dafür nehmen? Eine ganze Stunde einzuplanen ist kaum möglich, aber viele kleine Minuten, die man sonst auch irgendwie verplempert, sind immer drin. Man sollte den eigenen Alltag auf eingespielte Rituale und Arbeitsgewohnheiten durchforsten und nach den vielen kleinen Momenten suchen, die man für die Möglichkeit von Begegnung und Austausch freimachen könnte. Nach jedem Meeting sollte man sich noch ein paar Minuten zurücklehnen und anderen signalisieren: „Ich will jetzt nicht reden, ich höre euch zu.“ Bei allen Gesprächen sollte man einen Moment des Zuhörens einplanen. Kleine Signale oder eine interessierte Frage genügen da schon. Außerdem erfolgt hier derselbe Rat, wie ihn auch der Arzt geben könnte: Man muss sich mehr bewegen; ein paar Schritte durchs Haus gehen, statt den Aufzug zu nehmen; sich den Kaffee gelegentlich am Automaten am anderen Ende des Ganges holen, statt ihn bringen zu lassen; einen anderen Weg in die Tiefgarage nehmen, wenn man zu einem Auswärtstermin fährt. So ergeben sich im Lauf der Wochen einige kleine Begegnungen, bei denen man Geschichten sammeln kann. Voraussetzung ist dafür natürlich, dass das Gegenüber jeweils die Möglichkeit bekommt, von Dingen zu sprechen, die ihm gerade selbst wichtig sind. Das heißt also, dass man möglichst nicht selbst das Thema bestimmt. Sogar die Floskel „Na, wie geht’s so?“ ist hier besser als ein „Erzählen Sie mir doch mal eben, was bei Ihnen hier in der Abteilung nicht rund läuft!“, weil offene Fragen das Gespräch nicht von vorneherein in eine Richtung steuern. Erst wenn der Gesprächspartner von sich aus ein Thema angesprochen hat, kann man nachhaken: „Sie meinten gerade, dass die Abteilungsleiter sich zu wenig absprechen: Können Sie mir dafür ein Beispiel erzählen?“ Führungskräfte sollten zeigen, dass sie zuhören und das Gesagte wichtig finden, aber sie sollten nicht gleich die Rolle des Problemlösers übernehmen (außer, sie sind der richtige Ansprechpartner dafür). Die Ernte all der Begegnungen in einem Notizbuch stichwortartig festzuhalten, empfiehlt sich, gerade wenn es mit der Zeit immer mehr Geschichten werden. Dann hat man die Geschichten jederzeit parat, nicht nur für den Einsatz bei einer Rede, sondern auch als Anregung und wertvolles Nachschlagewerk für das eigene Nachdenken.
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Auch Führungskräfte profitieren vom Zuhören
Führungskräfte sollten sich auch über landläufige Vorstellung von Effizienz und Fleiß etc. hinwegsetzen und bei den vielen kleinen Begegnungen klarmachen, dass sie jetzt gerade keine Zeit vertrödeln, sondern investieren: Sie arbeiten an einer Rede, sie erweitern ihre Kompetenz, sie tun etwas für ihr Unternehmen und nicht zuletzt für sich selbst. Denn ihr Wille zuzuhören und ihre Aufmerksamkeit sind etwas, womit sie sich abheben. Führungskräfte, die sich selbst wichtig nehmen und sich selbst gern reden hören, davon gibt es schon mehr als genug. Solche dagegen, die ein offenes Ohr für andere und ihre Erfahrungen im Unternehmen haben, sind rar und dadurch etwas Besonderes.
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Sich für die Geschichten und damit für die Erlebnisse von Kunden und Mitarbeitern zu interessieren signalisiert auch, dass man dazulernen und weiterlernen möchte und das eigene Wissen nicht absolut setzt, sondern für ergänzungsfähig und -bedürftig hält. Das ist eine ebenfalls eher selten anzutreffende Haltung, die in einer flexiblen, sich rasch verändernden Umwelt aber mehr als angemessen ist. Wer bei Reden und Präsentationen von Geschichten und Erlebnissen aus dem Unternehmen zu erzählen weiß, dem nimmt man ab, dass er wirklich weiß, wovon er spricht.
11.
Storytelling-Foren als Baustein im Wissensmanagement
Neben der Kommunikation ‚von oben nach unten’ in Reden und Vorträgen und der Kommunikation ‚von unten nach oben’ durch Zuhören und Aufmerksamkeit seitens des Managements für die Geschichten des Unternehmens ist auch der horizontale Austausch von Erfahrungen und Erlebnissen innerhalb des Unternehmens sinnvoll. Erzähl-Foren können als Plattform für Menschen mit ähnlichen Aufgaben aber unterschiedlichen Erfahrungshintergründen eine sehr effektive Form der Wissensweitergabe bilden. Gerade wenn es um Mitarbeiter geht, die ‚draußen’ arbeiten, viel unterwegs sind und mehr mit dem Kunden als mit Kollegen umgehen, bleibt wertvolles Erfahrungswissen oft beim Einzelnen haften, kommt nicht in Umlauf und kann so nicht ins Unternehmen zurückfließen. Denn auch wenn die Mitarbeiter – beispielsweise alle Stewardessen einer Fluggesellschaft – über das selbe ‚Know-how’ verfügen, so können die Einzelnen ihre Kollegen im Arbeitsalltag doch nicht beobachten und nicht von deren Erfahrungen und ‚best practice’ profitieren. Für alle Bereiche, in denen Mitarbeiter getrennt voneinander das Gleiche tun, bedeutet der Austausch ihrer jeweiligen Geschichten, dass die Erlebnisse und Erfahrungen der Einzelnen als Wissen für alle nutzbar werden. Auch als Kommunikations-Plattform für Unternehmen, die verschiedene Kulturen und Mentalitäten integrieren müssen oder weil sie nach Fusion oder Reorganisation international tätig sind, eignet sich das gegenseitige Erzählen und Zuhören, um auf Augenhöhe die unterschiedlichen Erfahrungshintergründe auszutauschen.
Storylistening Möglichst viele Situationen schaffen, in denen man ansprechbar ist. Themen nicht vorgeben, Offenheit signalisieren. Den Geschichten-Vorrat speichern: regelmäßig festhalten, was man gehört hat. Geschichten sind Tauschobjekte: Erzählen und Zuhören in der Waage halten.
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Narrative Kompetenz als Führungsaufgabe
Wenn man beginnt, den Menschen zuzuhören, in seinen eigenen Reden und Argumentationen darauf eingeht, was im Unternehmen erzählt und erlebt wird, dann wird man ein besserer Redner. Es kann sein, dass jemand Storytelling als „ad on“ nutzt, ohne sich weiter darauf einzulassen, es kann aber durchaus auch geschehen, dass sich viel mehr verändert: Zuerst steigt die eigene Aufmerksamkeit für sein Umfeld, für Situationen, für Reaktionen: man hört anders zu, schaut anders hin, spürt Themen, die in der Luft liegen, nimmt Zwischentöne wahr. Bald sucht man nicht mehr einfach nur eine passende „Story“ für den nächsten Vortrag, sondern man beginnt, aus den Geschichten im Unternehmen zu lernen. Im Lauf der Zeit wird man auch von den Menschen, die einem zuhören und mit einem zu tun haben, anders wahrgenommen: Hier ist jemand, der zuhört, der nicht immer auf Sendung ist, der sich im Gespräch auch mal zurücklehnt und zuhört. Man beginnt irgendwann vielleicht damit, Themen anders zu sehen, Projekte und Vorhaben von vornherein als ‚ganze Geschichte’ zu denken, sich zu fragen, wie diese Entscheidung oder jener Prozess sich auf die Zukunft auswirkt, und ob die Erlebnisse der Beteiligten sich verbessern oder verschlechtern werden, wenn man etwas ändert. Kurz, man ist nur angetreten, um ein guter Erzähler zu werden, und hat gelernt, ein guter Zuhörer zu werden. Die durch Storytelling neu erworbene narrative Kompetenz beinhaltet also immer beide Seiten der Kommunikation. Sie beschränkt sich nicht auf die Ebene des ‚Sendens’, sondern hat auch mit der Verbesserung des ‚Empfangs’ zu tun. Wer etwas über den eigenen Erfahrungshorizont hinaus Relevantes erzählen möchte, ist auf Wissen angewiesen, das von anderen, von Mitarbeitern, Kunden, Lieferanten, Geschäftspartnern und anderen Menschen aus dem Umfeld des Unternehmens stammt: Gerade Management und Führungskräfte müssen aber oft erst wieder lernen, gut zuzuhören und aufmerksam zu beobachten. Sie müssen ihre Fähigkeit ausbauen, auf die Botschaften und Geschichten innerhalb des Unternehmens und im Kundenumfeld achten und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Denn nicht nur das Fachwissen über Produkte, Verfahren und Abläufe ist relevant Auch die Generierung und Kommunikation von Wissen über die Struktur und den aktuellen Zustand der Organisation ist von Bedeutung. Darüber hat in der Regel jedes einzelne Mitglied eines komplexen Systems, wie es Unternehmen sind, sehr weitgehende Einblicke. Diese Erkenntnisse geben die Mitarbeiter normalerweise aber nicht nach oben weiter, oft schon deshalb, weil sie nie danach gefragt werden und im Unternehmen gar kein Interesse daran besteht, was der Einzelne über Fehler, Gefahren, Brüche und Entwicklungen im System weiß. Offenheit ist eine notwendige Bedingung, um das Mehr an Wissen, Informationen, Ideen und Optionen nutzen zu können, das jeder Organisation im Innern wie im Austausch mit seiner Umwelt potenziell zur Verfügung steht. Zuhören ist ein angemessener Ausdruck für diese Offenheit. In den Geschichten, die im Unternehmen auf den verschiedensten Ebenen erzählt
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werden, bündeln sich Erfahrungen, die die Menschen im Lauf der Jahre in der Organisation machen. Würde man sich die Mühe machen, all diese Geschichten zu hören und zu sammeln, würde man sicher wesentlich mehr Selbstinformation erhalten als in den meisten Umfragen. Die Wahrnehmungsfähigkeit für die in diesen Geschichten enthaltenen Informationen zu erhöhen wäre ein aufschlussreiches Gegengewicht zu den gefilterten Nachrichten, die sonst auf der Berichtsebene von unten nach oben gelangen. Wie ein Unternehmen tickt, welche Annahmen und Regularitäten das Denken und Handeln in der Firma bestimmen, was man für machbar, was man für unmöglich und unveränderlich hält, das ist manchmal schon in einer einzigen Anekdote oder in einem Witz, der kursiert, enthalten. Als Beispiel folgende Geschichte, die in den 90er Jahren in einem großen deutschen Unternehmen umging, Jahre bevor dort eine umfassende Restrukturierung stattfand. „Wir laufen wie in einer römischen Arena im Kreis herum und spüren den heißen Atem des Löwen schon im Nacken. Aber wenn man den Leuten zuruft: „Hey, der Löwe ist dicht hinter euch, er wird euch gleich fressen – lasst euch was einfallen!“, dann bleiben sie ganz cool und antworten dir: „Was soll’s, wir haben schließlich zwei Runden Vorsprung!“
Dieser Witz nimmt einen faktischen Zustand auf, den Manager und Betriebswirte im Unternehmer durch Fakten und Zahlen ausdrücken und entsprechend im Unternehmen auch vermittelt haben: Die Konkurrenz sitzt uns im Nacken, unser Vorsprung auf dem Markt, unser Umsatz, unsere Margen schmelzen dahin. Was aber Zahlen und Fakten nicht ausdrücken können, nämlich die Mentalität, auf den diese messbar veränderte Situation trifft, das bringt die Geschichte mit ihren Bildern schlagartig auf den Punkt. Sie liefert also nicht nur eine Situationsbeschreibung, sondern auch Erklärungen für die Situation. Mit anderen Worten, sie erfasst das ‚Was’ der Situation, das ‚Wie’ und das ‚Warum’ der Reaktion in einem Bild. Mehr noch: Sie verknüpft die aktuelle Situation mit ihrer Historie (die lange Tradition des Erfolges und der Überlegenheit gegenüber der Konkurrenz macht blind für die Veränderungen und aktuellen Gefahren). Die Geschichte ist also einerseits äußerst reduziert und undetailliert hinsichtlich der Fakten und Zahlen (das kann sie auch sein, denn diese sind schließlich bekannt), pointiert sozusagen nur die Kernbotschaft der Fakten, aber sie fügt Fakten und Folgen, Wirkungen und Ursachen, Zustand und Erklärung zu einem ganzen Bild zusammen. Die Situation wird in ihren wesentlichen Faktoren und Beziehungen auf einen Schlag beleuchtet. Genau dies ist ein Wesenszug des narrativen Denkens. Das ‚Image’ einer Organisation erschöpft sich nicht in der Aufreihung bestimmter Daten und Fakten. Marken werden nicht einfach dadurch beworben, indem man Preise und Produktfeatures auflistet. Die Werte eines Unternehmens, seine Ziele, sein Spirit und seine Leitideen lassen sich nicht befriedigend durch eine bloße Aufzählung von entsprechenden Substantiven und Aussagesätzen kommunizieren. Interessanterweise kommen in solchen Kontexten seit jeher Geschichten zum Einsatz: Gründer brauchen neben einer überzeugenden Geschäftsidee auch eine Story, um Investoren, Stakeholdern und Mitarbeitern zu vermitteln, wohin der Weg führen soll. Organisationen definieren sich auch über ihre Geschichte, wenn sie andere für
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ihre Arbeit und ihre Ziele begeistern wollen. Offenbar gibt es also auch in Unternehmen zwei Arten, über die Realität zu kommunizieren: eine rein faktisch-argumentierende und eine narrative.
13.
Zwei Arten zu denken
Schon in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts hat der in New York und Harvard lehrende Psychologe Jerome Bruner diese beiden Herangehensweisen an die Wirklichkeit untersucht, und die jeweils zugrunde liegenden Denkweisen als „logisch-wissenschaftliches“ bzw. „argumentatives“ Denken einerseits und „narratives“ Denken andererseits beschrieben (Bruner 1986). Beide Arten zu denken liefern einen jeweils unterschiedlichen Zugang zur Welt, und beide sind notwendig, um die Welt, in der wir leben, verstehen und in ihr handeln zu können. Narratives Denken...
Argumentatives Denken...
geht von Ereignissen aus und ten-
basiert auf Daten und Theorien und tendiert zur
diert zur Konkretisierung stellt
Zusammenhänge zwischen Fakten, Emotionen, Rahmenbedingungen, Einstellungen, Handlungsweisen etc. her
eröffnet Möglichkeiten
Tabelle 1:
Abstraktion konzentriert sich auf Einzelheiten und Teilas-
pekte und stellt Zusammenhänge zwischen Fakten und anderen Fakten her schafft Tatsachen
Narratives und argumentatives Denken
Geht es um Fakten und die allgemeinen Regeln und Gesetze der Welt, ist das logischargumentative Denken hilfreich und unentbehrlich. Aber erst mit dem narrativen Denken schaffen wir die ordnenden Zusammenhänge. Also erst wenn etwas eine stimmige Geschichte ergibt, erkennen wir den Sinn einer Handlung oder einer Reihe von Fakten. Narratives Denken schafft Orientierung in der Gegenwart, Verständnis für Vergangenes und ermöglicht Visionen für die Zukunft. Mit anderen Worten: die Gesetze der Schwerkraft zu erforschen war wichtig, sie zu beschreiben war eine notwendige Voraussetzung dafür, dass man gelernt hat, wie man sie überwinden kann. Aber es waren Geschichten wie die von Ikarus und Daedalus, die den Menschheits-Traum vom Fliegen über Jahrtausende wachgehalten haben bis er Realität wurde. Unternehmen gelten allgemein als ein reiner Hort des argumentativen Denkens, in dem Geschichten keinen Platz haben. Das zunehmende Interesse an Storytelling, das man seit einigen Jahren in Unternehmen beobachten kann, könnte ein Anzeichen für die Aufwertung der anderen Seite des Denkens sein, für die Wiederentdeckung des narrativen Denkens. Man merkt
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zunehmend, dass man mit der rein argumentativen Art des Denkens an Grenzen gestoßen ist, da sie die Menschen mit ihren Träumen, Vorstellungen, Visionen und Lebenszusammenhängen, ohne die es keine Motivation, keine Anstrengung, keine Kreativität und somit keine erfolgreichen Unternehmen gäbe, ausklammert. Die Vielzahl von Geschichten, die es in Unternehmen gibt, drückt aus, was in den vom argumentativen Denken geprägten Kommunikationsroutinen des Unternehmens keinen Platz hat: Was die Menschen täglich an Sinn und Unsinn in ihrer Arbeit erfahren, und welche Auswirkungen das auf das Denken und Handeln aller Beteiligten auf allen Ebenen und über die Grenzen der Firma hinaus hat. Wer die Geschichten des Unternehmens ernst nimmt und die Potenziale, die darin liegen, wird sie hören, ihre Botschaften erkennen und sie in das Handeln ebenso wie in die Kommunikation der Organisation einfließen lassen.
Literatur BRUNNER, J. (1986): Actual Minds, Possible Worlds, London, Cambridge (Mass.) FRENZEL, K./MÜLLER, M./SOTTONG, H. (2006): Storytelling. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen, München FRENZEL, K./MÜLLER, M./SOTTONG, H. (2006): Storytelling. Das Praxisbuch, München FRENZEL, K./MÜLLER, M./SOTTONG, H. (2005): Das Unternehmen im Kopf. Storytelling und die Kraft zur Veränderung, Wolnzach SOTTONG, H. (2005): „Ein „offenes Ohr“ für die Mitarbeiter? Warum Unternehmen eine Ethik des Zuhörens entwickeln sollten“, in: Meier, U./ Sill, B. (Hrsg.): Zwischen Gewissen und Gewinn. Werteorientierte Personalführung und Organisationsentwicklung, Regensburg
Vom Architekten zum Kriegsherrn
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Vom Architekten zum Kriegsherrn Metaphern der Top-Manager Brigitte Biehl
1.
Einleitung
Die Sprache der Wirtschaft ist voll von emotionalen Sprachbildern. Mit den Vorstellungen von Bulle und Bär lassen sich die Kapitalmärkte und ihre Verfassung beschreiben und die Details sind noch viel aufregender: Weiße Ritter retten Firmen im Übernahmekampf und dramatische Opfer, Schlachten und Griffe in die Kriegskasse sind für Manager scheinbar an der Tagesordnung. Wir alle haben bestimmte Vorstellungen davon bekommen, dass Unternehmen in der „Weltliga vorne mitspielen“ wollen, sich als „Motor“ unserer Gesellschaft verstehen und zum Zwecke der „schlanken“ Unternehmensstruktur hier und dort Personal scheinbar trocken „abgebaut“ werden muss. Auch wenn Top-Manager zu Investoren und Journalisten sprechen, sind die Reden nur auf den allerersten Blick nüchtern. Dem Zuhörer wird sehr schnell bewusst, dass sich in den Aussagen viele plakative Vergleiche und Bilder finden. Bei DaimlerChrysler hat der Vorstandsvorsitzende „Kostenbremsen getreten“ und „Marktführerschaften erkämpft“ wie ein Kriegsherr, der zudem über eine „Brennstoffzellen-Erprobungsflotte im Praxisbetrieb“ verfügt. Kollegen halten sich „das Pulver trocken“, während andere scheinbar harmlos „Ertragsdellen“ überstehen und „zu neuen Ufern“ aufbrechen. Banker verstehen sich oftmals als Architekten und sprechen beruhigend von den „strategischen Säulen“ und der „festen Ertragsbasis“. So manche Rhetorik klingt allerdings fragwürdig: Hier werden „Früchte gesät“, dort „Wachstumspfade fortgesetzt“, abgerundet wird die bunte Konzernvision von Weisheiten, dass Banking wie Skifahren sei oder Marketing wie Hürdenlauf. Metaphern sind schon immer ein zentrales und wichtiges Stilmittel der Rhetorik gewesen und selbst bei scheinbar trockenen Finanzthemen so wichtig, dass keine Rede ohne sie auskommt. Bei „schwierigen“ Themen sind Sprachbilder besonders wirkungsvoll, denn sie erklären abstrakte Zusammenhänge und lassen sie in einem begreifbaren Kontext bildhaft erscheinen. Die Tropen ermöglichen eine besonders emotionale Kommunikation, sie personalisieren Zusammenhänge und lassen bestenfalls den Redner als einen zupackenden Unternehmens-
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lenker erscheinen. Metaphern besitzen besonderes Überzeugungspotenzial, denn die Bedeutungsübertragungen und Ähnlichkeitsmodelle ersetzen das eigentliche Wort durch ein anderes und lassen ein Bild in den Köpfen der Zuhörer entstehen, welches besondere positive Eigenschaften des Bezeichneten betont und andere, häufig unpassende Eigenschaften oder Schwierigkeiten, versteckt. Der uneigentliche Ausdruck erreicht, dass der Gegenstand nicht nur erkannt, sondern durch seine Bildlichkeit sozusagen „empfunden“ werden kann. Verstärkt wird dies beim Auftritt beispielsweise durch eingeblendete Projektionen und eine passende Vortragsstimme, die am besten schwungvoll ist, wenn davon berichtet wird, die „Hürde übersprungen“ zu haben. Die Forschung hat bewiesen, dass bildhafte Sprache in alltäglichen Verhandlungssituationen oft dann spontan benutzt wird, wenn Schwierigkeiten auftauchen, also der Sprecher merkt, dass der Zuhörer nicht ganz mit seiner Sichtweise übereinstimmt. Wir kennen dies alle selbst, wenn wir uns damit entschuldigen, eine „Ladehemmung“ zu haben oder betonen wollen, dass unsere Idee der „Schlüssel“ zum Erfolg ist – auch, und gerade wenn wir uns, was die Details angeht, nicht ganz sicher sind. In der vorgeschriebenen oder spontanen Rede lassen Sprachbilder die Inhalte lebendig erscheinen und setzen den Zuhörer wahrhaft „ins Bild“. Der folgende Beitrag untersucht am Beispiel1 von Auftritten von Top-Managern bei Hauptversammlungen, Bilanzpresse- und Analystenkonferenzen, welche Bilderwelten verwendet werden, und wie diese jeweils auf das Publikum wirken. Architektur- und Sportmetaphern werden am häufigsten verwendet und manche Redner überzeugen mit organisations- und branchenspezifischer Wortwahl. Autobosse halten „das Tempo hoch“, während andere zu fragwürdigen Vergleichen greifen, um ihr Unternehmen und die Mitarbeiter zu beschreiben. Der Beitrag betont auch die Wichtigkeit der performativen Umsetzung der Rede, des Vortrags an sich, denn ein monotoner Stil mit trockenen Bildern passt nicht zu Slogans wie „Leistung aus Leidenschaft“, wie er bei der Deutschen Bank hinter dem Pult zu lesen ist. Sprachbilder werden erst lebendig, wenn sie entsprechend vorgetragen werden. Zudem macht dieses Kapitel die ideologische Funktion dieser rhetorischen Stilmittel deutlich. Wer bestimmte Worte verwendet, will auch einen gewissen Sinn transportieren. Schopenhauer hatte das einst in einer Abhandlung über die Kunst, Recht zu behalten, folgendermaßen umrissen: „Ein Redner verrät oft schon im Voraus seine Absicht durch die Namen, die er den Sachen gibt. Der eine sagt ‚die Geistlichkeit’ – der andere ‚die Pfaffen’.“ (2005, S. 39) Auch die Manager können ihre wirtschaftsgetriebenen Weltbilder mit scheinbar harmlosen Metaphern vom „globalen Wettbewerb“ dem Publikum unauffällig nahelegen. Außerdem zeigt die Untersuchung, dass sich der Redenschreiber auf die Sprache des Managers richtig einstellen muss, sonst passt die spontane Sprache zum Beispiel beim Antworten auf Journalistenfragen überhaupt nicht zur Bilderwelt des Manuskripts und wirkt daher auch nicht authentisch. 1
Die Datenbasis besteht aus 36 Reden, in denen die betreffenden Sprachbilder gezählt und in Kategorien einsortiert wurden. Die Auflistung ist im letzten Kapitel zu finden. Hier nur eine Anmerkung zur Zitierweise: Im Text sind die Quellen nicht mit Fußnoten belegt, sondern mit einer erkennbaren Abkürzung in Klammern, beispielsweise: (LH HV 04) anstatt „Wolfgang Mayrhuber in seiner Rede auf der LufthansaHauptversammlung 2004“.
Vom Architekten zum Kriegsherrn
2.
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Bildhafte Sprache und ihre Wirkung
Der Begriff Metapher wird hier stellvertretend für den Kosmos bildhafter Sprache gebraucht. Genau genommen sind Metaphern jene Wörter, die durch vergleichbare Ausdrücke aus einem ähnlichen Bereich ersetzt werden. Dazu gehören Ausdrücke wie die „strategischen Säulen“ als Bild aus der Architektur zur Beschreibung eines Unternehmensführungskonzepts. Oftmals werden solche Metaphern im Sprachgebrauch gar nicht mehr erkannt und deshalb als abstrakte Metaphern bezeichnet. Es ist entscheidend für die Wirkung der Rede, wie neu die Metapher ist, also ob die Kombination noch überraschend ist. Die Erwähnung des „Produktfeuerwerks“ provoziert bei manchem Zuschauer ein Hochrutschen der Augenbrauen, obwohl der Begriff fast als Durchhalteparole gilt, der „Personalabbau“ wird schon fast ohne Wimpernzucken im öffentlichen Diskurs verwendet. In diese Untersuchung fließen beide Formen ein, da auch die verblassten Metaphern Rückschlüsse zulassen auf das die Sprache prägende Firmenund Selbstbild der Wirtschaftsvertreter. Zusätzlich werden hier unter den Metaphern „Tropen“ mitgezählt, die man unter „bildhafte Sprache“ einordnen kann. Dazu gehört „die Zusammenführung unserer Geschäftskundenaktivitäten unter dem Dach von T-Systems“ als pars pro toto, ebenso „Periphrasen“ (Umschreibungen) wie die „Ertragsdellen“ und „Personifizierungen“ (Vermenschlichung einer unpersönlichen Sache): „Jede Marke zeigt ihr eigenes Gesicht.“ Mit aufgenommen wurden auch „Katachresen“, die die Bezeichung für Dinge, die keine eigene Benennung haben, dem anpassen, was dem Gemeinten am nächsten liegt. Beispiele sind das „Fischauge“ in der Photographie für eine verzerrende Linse und das „Mezzanine“-Kapital in der Betriebswirtschaft – ein Begriff aus der Architektur, der Finanzierungsformen zwischen Eigen- und Fremdkapital bezeichnet. Ebenso gehören umgangssprachliche Phraseologismen (eine zu einer festen Form geronnene Kette mehrerer Elemente) und allgemeinsprachliche idiomatische Wendungen wie „auf das Parkett bringen“ und „den Aktienkurs beflügeln“ zu den aufgenommenen Tropen. Es wurde bereits deutlich, dass die Wirkung von bildhafter Sprache dadurch entsteht, dass sich der Zuhörer ein anderes Vergleichsbild im Kopfe vorstellt und damit den beschriebenen Sachverhalt in anderer Gestalt versteht. So erscheint es auch wenig überraschend, dass die Untersuchung gezeigt hat, dass die meisten Metaphern – abgesehen vom generell blumigen Schlussappell – eingesetzt werden, um die zukünftige Strategie zu beschreiben. Was kommt, steht bekanntlich noch nicht fest und wird deshalb ausgemalt. Man erinnere sich hier an die Bedeutung des Wortes „Vision“. Genau genommen wirken die Sprachbilder in drei Dimensionen: auf der sogenannten Objektebene, auf der Subjektebene und auf der Beziehungsebene. Erstens beschreiben die Worte so das Objekt Unternehmen, welches als „beständig“ erscheinen kann, wenn „Konzernbereiche auf eine solide Ertragsbasis gestellt“ werden. Zweitens lässt auf Subjektebene das Wort Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Redners selbst zu. So könnte der sprachliche Ausdruck das Bild eines zupackenden Managers entstehen lassen, wenn davon berichtet wird,
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dass man „die Marktführerschaft in Westeuropa, China und Deutschland verteidigen konnte.“ Drittens beeinflussen die Worte auf intersubjektiver Beziehungsebene den Zuschauer, sich mit dem Sprecher zu identifizieren und seine Sichtweise anzunehmen. Der sportaffine Adidas-Aktionär kann zum Beispiel meinen, er läge mit dem Vorstandsvorsitzenden auf einer Wellenlänge, wenn jener davon spricht, „Hürden übersprungen“ zu haben.
3.
Bilderwelten der Manager
Eine Analyse der Reden zeigt, dass Manager bestimmte Bilderwelten bevorzugt benutzen. Bei den Top-Managern liegen Bilder aus dem Bereich der Architektur (Kostenbasis, stabil, Säule) mit Abstand vorne. An zweiter Stelle kommen Ausdrücke aus dem Bereich der Bewegung, wozu auch der Sport gehört („Fortschritte“, „Schlussspurt). Ganz dicht gefolgt von Mechanik-Bildern an dritter Stelle, die hier nicht gesondert untersucht werden. Nur soviel: Sie beschreiben das Handeln als Reaktion auf einen ständigen Wettbewerbs-, Margen- und Kosten-„Druck“, inszenieren nebenbei noch den CEO als einen, der die vielbeschworenen „Management-Werkzeuge“ wie den „Ertragshebel“ einsetzt um das „Know-how in der Bank zu verzahnen“ und sich der „Belastungen nunmehr endgültig zu entledigen“, „Schnittstellen“ und „Komplexität zu verringern“. Bilder aus dem Bereich der Agrikultur/Biologie („Früchte ernten“, „Geschäftsfelder“, „Kerngeschäftsfelder“ und „Managementfelder“, sowie „Kernkompetenzen“, nicht zu vergessen die über alle Jahre wiederkehrende Floskel von der „Konzentration auf das Kerngeschäft“) landen auf dem vierten Platz. Knapp gefolgt von Kriegsmetaphorik („Produktoffensiven“). Auf den letzten Plätzen liegen Landschaftsbilder („Wegstrecken“, „Meilensteine“), Vergleiche aus dem medizinischen („Verschlankung“) und dem nautischen Bereich („Kurs halten“). Alle anderen Sprachbilder zusammengenommen kommen auf den fünften Platz. Dazu zählen soziale Vergleiche („Produktfamilie“) und andere („Produktfeuerwerk“, „auf die Fahne schreiben“, „nahtlos“, „maßgeschneidert“). Biblische Ausdrücke („Licht“ und „Schatten“) sind äußerst selten, werden unter anderem wohl versehentlich verwendet, wie im Ausspruch von den „mageren Jahren“ (Commerzbank HV04). Die detaillierte Untersuchung macht aber auch deutlich, dass die Bilder nicht von allen Vorstandsvorsitzenden im gleichen Ausmaß verwendet werden. Vielmehr zeigen sich interessante Unterschiede, denn bestimmte Sprachbilder mit organisationsspezifischer Prägung werden von manchen Managern bevorzugt verwendet. Geordnet nach Branchen lassen sich Unterschiede feststellen. Im Bankensektor mit Ackermann (Deutsche Bank), Rampl (HVB), Müller (Commerzbank) liegen stabile, vertrauenserweckende Architektur-Bilder vorne. In der Automobilbranche mit Schrempp (DaimlerChrysler), Pichetsrieder (VW), Panke (BWM) wird mehr in Bewegungsausdrücken und Sportbegriffen (Adidas) gesprochen. Die Bilder passen auch zum Konzern, beispielsweise hat die Lufthansa den Dax „überflügelt“ und der Unter-
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nehmenslenker spricht viel häufiger davon, „Kurs zu halten“ und „Turbulenzen“ überstanden zu haben. Demgegenüber spricht BASF-Chef Hambrecht ausgewogen. Er hat auch kaum eine Wahl. Bilder aus dem Chemiebereich sind meist negativ, beispielsweise sagt man im Allgemeinen: „Gerüchte kochen hoch“, „Informationen sickern durch“.
3.1
Architektonische Metaphern
Architekturbilder setzen die Manager besonders häufig ein. Die Rede ist dann von Konzernbereichen, die auf „eine solide Ertragsbasis gestellt“ wurden und von „Grundlagen“, die für den Ausbau „geschaffen“ werden. Zur Standardphrase ist mittlerweile die Versicherung geworden, der Konzern sei „gut aufgestellt“ (DB HV 04). Semiotisch wird mit Architekturbildern Ernsthaftigkeit und Rationalität transportiert. So lässt sich die mit der Unberechenbarkeit der Märkte verbundene Verunsicherung und die Angst vor Instabilität dämpfen. Allerdings wird die Beständigkeitsrhetorik äußerst häufig mit dem Begriff „Ausbau“ kombiniert, mit der Erwähnung von „Säulen“, die ständig „strategisch und strukturell“ neu „ausgerichtet“ (Telekom HV 05) werden. Alles in allem erscheint es stimmig, dass diese Bilder – einschließlich sprachlicher Baufehler von der „breit gestreuten Investorenbasis“ (DB BPK 05) – besonders von Bankern benutzt werden. Finanzprodukte sind ein klassisches Vertrauensgut und der Treuhänder muss seriöser erscheinen als ein Sportartikelhersteller. Weitere Überzeugungskraft erhält das Gesagte, wenn sich beim Auftritt die Bilder in Wort und Anblick doppeln: Bei der Commerzbank läuft während der Generaldebatte bei der Hauptversammlung sozusagen als Echo der Rede ein Film mit dem Commerzbank-Tower. Bei der Allianz zeigen sich die „Säulen“ auch mal im simplifizierten Bauhausstil auf einer Folie. Redner doppeln das geschickt, aber wohl oft unbewusst, mit einer platzeinnehmenden Körperhaltung, bei der sich beide Arme an den Seiten des Pultes abstützen. Hier sei angemerkt, dass Formulierungen, die nicht das Werkeln an Konstruktionen, sondern das unauffällige Wirken innerhalb eines Hauses beschreiben, sich geringer Beliebtheit erfreuen. „Weibliche“ Haushaltsführung wird von der Semiometrie in den Bereich der Sozialität eingeordnet, diametral gegenüber der sonst von Managern verwendeten erlebnisorientierten Bilderwelt. Zudem klingen im Banker-Jargon benutzte Beschreibungen wie „Bilanz bügeln“ zu Recht unseriös. An mehreren Stellen sprechen die CEOs aber von „Bilanzbereinigung“ (LH HV 04) und geben an, „gespart und aufgeräumt“ zu haben. Pflichtbewusst klingt die gängige Phrase von den „Hausaufgaben“, die man gemacht oder „gewissenhaft und erfolgreich abgearbeitet“ hat. Eines der architektonischen Bilder, über dessen Implikationen man in der Wirtschaftsrhetorik nachdenken sollte, ist der „Personalabbau“. Er gehört zu den abstrakten und mittlerweile wenig auffälligen Metaphern und bezeichnet das Vermindern der Angestelltenzahl einschließlich Aufhebungsverträge und Fluktuation. Zunächst trifft diese Formulierung nur die Ange-
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stellten. Ein „Abbau der Führungsriege“ ist in keiner der Reden zu finden. Wenn Vorstände von sich sprechen, heißt es eher: Zehn Prozent der Belegschaft werden „abgebaut“ und die Führungsriege werde „verschlankt“ (LH BPK 04). Der letzte Begriff (aus der Medizin) verweist auf eine Person und nicht, wie der andere Begriff, auf ein Objekt. Die Metapher ist Ausdruck einer bewegten Wirklichkeit, in der Positionen wie tot und lebendig, lebend und mineralisch, austauschbar sind. Das nüchterne architektonische Bild des Abbaus verdeckt die möglichen Folgen für das Unternehmen und seine Anteilseigner und verschleiert, dass die (finanzielle) Teilhabe am sozialen Leben für den betroffenen Arbeitnehmer, auch zum Nachteil der Gesellschaft, zunächst beendet sein kann. Diese Verdinglichung des sonst paradoxerweise als kreativen Leistungsträger gelobten Angestellten zum „Kapital“ oder „Asset“ (Allianz HV 03) degradiert ihn zur Kostenstelle und zum Personalkostenfaktor. Diese Terminologie koppelt menschliche Werte an den Shareholder Value, rechtfertigt und beschönigt ein von der Logik des ökonomischen Werts geprägtes Menschenbild, ohne anzudeuten, dass es noch einen Selbstwert mit unveräußerlicher Würde gibt. Das wirft für den Mitarbeiter und auch Zuhörer Fragen auf: Was ist mit (mir als) dem Asset, wenn die Rendite nicht mehr stimmt?
3.2
(Auto-)Sportbilder
Bilder aus dem Bereich des Sports werden von den Managern am zweithäufigsten verwendet. Obwohl die Vorstandsvorsitzenden meist starr hinter dem Pult stehen, behaupten manche, sie hätten den „erwarteten und vor einem Jahr versprochenen Sprung in die Gewinnzone“ geschafft (Commerzbank BPK 04). Wie im Sport geht es eben in der Unternehmensführung auch nicht immer aufwärts, doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Notfalls wird, allerdings nur gegenüber der Presse, auch Sepp Herberger mit dem wohl berühmtesten seiner Kult-Zitate eingebaut. So Pierer: „Aber gerade nach einem guten Jahr gilt: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel!“ Das macht uns aber nicht bange. Im Gegenteil: Das Unternehmen ist in der Lage, hart am Wind zu segeln und gleichzeitig strategische Hausaufgaben zu machen.“ (BPK 04). Durch Sport-Vergleiche wirkt der Redner tendenziell vorwärtsstrebend und gemäß sozial gängiger Wertesysteme erlebnisorientiert und lebensfreudig. Die zumindest auf Textebene bestehende Dynamik doppelt sich, wenn schon nicht im Tonfall, dann bestenfalls im Bühnenbild mit aufschwingenden Logos. Vor allem die Inhalte klingen verständlich, auch für den in Finanzwirtschaft oft kaum bewanderten Kleinaktionär. Denn Sportklischees versteht jeder, besonders die Männer, die nicht nur häufiger Fußballsendungen sehen, sondern offensichtlich auch die Funktionärsebenen im Sport besetzen, womit die Situation einem Mann-zu-MannGespräch ähnlich wird.
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Man könnte besonders von Adidas-Chef Herber Hainer, der diese Bilder passend zum Selbstverständnis des Konzerns am häufigsten von allen benutzt, einen sympathischen Eindruck erhalten, weil er „dieselbe Sprache“ spricht. Hainer verkündet einen „ausgezeichneten Start in das neue Geschäftsjahr“, der Konzern befinde sich „auf dem besten Weg“, in „Nordamerika haben wir nach einem schwachen Start den Turnaround geschafft“, „zudem machte die Profitabilität der Marke adidas einen guten Sprung nach vorne“ (HV 05). Der Einleitungssatz für die Strategie lautet personifiziert: „Ich kann Ihnen gleichzeitig versichern, meine Damen und Herren, dass wir uns auf unseren Erfolgen nicht ausruhen werden. Ganz im Gegenteil: wir tun das, was einen echten Champion auszeichnet: wir arbeiten noch härter, trainieren noch intensiver und streben immer wieder neue Rekorde an.“ Bei den Autobauern liegen insgesamt Motorsport-, und Bewegungsbilder als branchen- und organisationsspezifische Prägung an erster Stelle. DaimlerChrysler hingegen sieht sich selbst als „Schrittmacher unserer Branche“ (HV 03), die M-Klasse ist, so Schrempp, „in den USA an den Start gegangen“ und später heißt es in rennsportlicher Sprache: „Mit neuen Produkten halten wir das Tempo hoch.“(HV 05). Das transportiert die Vorstellung, dass der oberste DaimlerChrysler-Mitarbeiter „Benzin im Blut“ hätte, wie man so schön sagt und wie er selbst andeutet, wenn er an anderer Stelle versichert, die Firma sei nicht sein „Job“, sondern seine „Leidenschaft“ (HV 04). Solche Äußerungen vermitteln dem Zuschauer die Vorstellung, dass das Unternehmen „irgendwie läuft“, so wie ein Automotor für einen Laien eben funktioniert, liefern diesem aber keine Begründung, wie genau es die Geschäftsbereiche geschafft haben, die „Talsohle“ zu „durchschreiten“. Die Bilder vermitteln eine diffuse positive Vorstellung, ohne strategische Zusammenhänge deutlich zu machen. Solche Sprachbilder werden auch verwendet, um eine gewisse Wettbewerbsideologie zu unterstreichen. Ackermann betont, man sei im „internationalen Wettbewerb“ und mahnt an: „Und dieser Wettbewerb wartet nicht – auch nicht auf ein Deutschland, das sich gerade fit macht“ (DB HV 05). Der Chef von Siemens betont, man müsse bei jedem Standort wieder prüfen, welche „Maßnahmen erforderlich sind, um nicht wieder zurückzufallen“ (BPK05).
3.3
Kriegsmetaphorik
Manche Manager benutzen aggressive Militärmetaphorik, die als hyperbolische (übertreibende) Darstellung suggeriert, Unternehmensführung sei Kriegsführung. Jürgen Schrempp bedient sich, wie die anderen Automobil-Vorstände und danach die Banker, am häufigsten aus diesem Bildervorrat, während es bei den übrigen Unternehmen friedlicher zugeht. Da gibt es die „Qualitätsoffensive“, die in der „umfassenden“ Form, als „bereit“ und „gestartet“ daherkommt. (DC HV 05). Mit Chrysler ist der Konzern „mit Abstand Marktführer in einem sehr hart umkämpften Segment“, an anderer Stelle mit Airbus „Weltmarktführer“, außerdem gibt
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es „Offensiven“ jeder Form. Jene „fährt“ auch BMW mit der „Marktoffensive“ (BPK 05). Breitband-, Geschäftskunden-, Personal-, Qualitäts-, Innovations- und Effizienz-Offensiven (Telekom HV 05) sind bei anderen ebenfalls zahlreich. Das Vorstands-Ich speist sich hier aus einem kämpferischen Wortschatz von Angriff und Sieg. Dieser Auftritt kombiniert angebliche Traditionswerte von „Führerschaften“ mit Ökonomievorstellungen wie „Kostenoffensiven“ und lässt dabei einen markigen Manager-Typ erscheinen, der die Welt mit einer abstrakten Klischeehaftigkeit scheinbar unter Kontrolle hält, aber auf jeden Fall beherrscht. Die Krieg-Metaphern dramatisieren nicht nur das Geschehen am Kapitalmarkt, können nicht nur Tatkraft demonstrieren und die implizite Aussage „Wir lassen uns nicht unterkriegen“ unterstreichen, sondern sind Strategie der Heroisierung und bedienen ein männliches FührerKlischee und maskulines Management-Modell. Beispiel ist auch eine etwas ältere Aussage Jürgen Schrempps über die Fusion von Daimler und Chrysler: „Die Braut ist schön und der Bräutigam extremst potent“. Allzu offensiv kommen die CEOs nicht daher, was das Bild vom starken Mann in den neuen Wirtschaftskämpfen betrifft. Die militärischen Bilder liegen auf Platz 5, werden halb so häufig benutzt wie Bewegungs- und Sportausdrücke, sind im Vokabular dem der Kriegsphäre aber ähnlich. Dennoch wird hier ein Männlichkeitsstereotyp revitalisiert, welches anderen wie ein Bollwerk entgegensteht. Das sind Mitarbeiterinnen mit Konzeptionen wie der auf Nachhaltigkeit, Gleichberechtigung und Work-Life-Balance fokussierten Initiative von Managerinnen-Netzwerken. Die Wortwahl ist für Männer leicht imitierbar, für Frauen, die sich im Berufsalltag durchsetzen und verkaufen wollen, jedoch kaum. Zu groß ist die Diskrepanz zwischen Inhalt und Form, kraftmeierischen Worten und dem Blick auf die fehlende Virilität der durchschnittlichen weiblichen Physis. Man kann davon ausgehen, dass eine weibliche Managerin mit einer solchen Wortwahl Irritationen hervorrufen würde, genauso wie ein drei Zentner schwerer Manager, der wie der dünne und hoch aufgeschossene Lufthansa-Chef behaupten würde, er hätte den Dax „überflügelt“. Jeder sollte offensichtlich eher davon sprechen, wie er den „Karren aus dem Dreck“ gezogen hat. Hier wird deutlich, wie sehr die Wirkung der Worte vom Kontext einschließlich Rollenbilder und Stereotypen abhängt.
3.4
Diskrepanz zwischen inszenierter Rede und freier Rede
Ein Manager tritt nach seiner Rede vor der Frage- und Antwortrunde mit dem räumlichen Wechsel vom Rednerpult zum Sitzplatz aus seinem Text-Selbst heraus und erscheint als freisprechendes Selbst. Das sollte für den CEO aber kein Rollenwechsel sein, sondern nur ein Inszenierungswechsel vom Vortragen zur freien Rede.
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Rede-Rhetorik hat generell eine andere Qualität als das improvisierte Wort, aber beim freien Reden zeigen sich auch Widersprüche ganz anderer Art. Beispielsweise verwendet der CEO andere Ausdrücke als jene, die der Redenschreiber ihm in den Mund gelegt hat. Es soll auch gestandene Luftfahrt-Ingenieure unter den Vorstandsvorsitzenden gegeben haben, die das liebevoll ausgesuchte Goethe-Zitat des Redenschreibers mit den Worten „Das bin nicht ich“ abgeblockt haben. Falls solche Abstimmungen nicht gemacht werden, erscheint entweder die Manuskriptversion nicht besonders „authentisch“, oder die ganze Person, die eben wie im Theater als zwei Figuren hintereinander aufgetreten ist. Das zeigt sich bei dem Deutsche Bank-Chef ziemlich deutlich. Eine Nachfrage im Konzern ergab, dass er – trotz aller Kommunikationsprobleme in der Reihe der Vorstände von Kopper („Peanuts“), Breuer und Ackermann – keinen eigenen Redenschreiber beschäftigt, sondern seine Vorträge je nach Anlass von der IR- oder Kommunikations-Abteilung und von seinen Assistenten geschrieben und im Baustein-Prinzip zusammengesetzt werden. Wenn nun Ackermann vor Analysten auftritt, interpretiert er die PowerPoint-Folien und benutzt am häufigsten architektonische Bilder wie auch in den beschriebenen Hauptversammlungs- und Pressekonferenzreden. Schon diese Metaphern variieren allerdings. Bei der Presse geht es vorrangig um den „Ausbau von Kerngeschäftsfeldern“, und einer „soliden Basis für anhaltendes profitables Wachstum“. Ungeachtet des Sprachunterschieds spricht er dann gegenüber den Analysten vorrangig von „Strukturen“ und „key messages“ (BPK 05 und Analyst 05). Auch die medizinischen Bedeutungsübertragungen suggerieren sonst Vorteilhaftes, beispielsweise die „Verschlankung unserer Infrastruktur“. Bei den Analysten hingegen geht es dem Geschäft schlecht: “CIB is a little bit suffering”, “Asset- and Wealth-Management a little bit weaker”, und anderen Unternehmen geht es noch schlechter: „The value collapse of Alliance [...] and many others has been dramatic.” Erleichtert erfährt der geneigte Zuhörer, dass die Bank ihre eigene Selbstzerstörung zumindest gebremst hat: “By selling [industrial holdings] we have reduced our value destruction“. Sonst wird die Deutsche Bank personifiziert als „guter Unternehmensbürger” (PK 05) oder als die „führende Bank“ (HV 05). In Bezug auf die Kapitalausschüttung heißt es aber vor den Analysten: „I think we are a different animal“. Mittendrin ‚gipfelt’ bei Ackermann die Erklärung zum notwendigen Erhöhen der Eigenkapitalrendite in einer bisher noch nicht benutzen Bergsteigermetapher: „If you want to climb the Mount Everest you are doing everything to get there. If you have a tremendous snow storm on the third highest camp, you may say it’s not possible, so we are not committing suicide because of that but we are committed to reach the top. And-and but, it’s not a life and death situation. So I just want to make it a little bit relative. It is our goal and we are doing everything to achieve it”, (Analyst 05 Video-Transkript).
Der Zuhörer kann sich vorstellen, dass er einem im Alpenstaat Beheimateten lauscht, ein Banker lässt sich da nicht unbedingt heraushören. Hier werden durchaus negative, dunkle Bilder evoziert, die wenig an die sonst positive Wettbewerbsauffassung erinnern. Auch bei der Antwort auf eine Aktionärsfrage greift der Manager zu den Bergbildern, hier aber etwas positiver konnotiert: „Darf ich Ihnen als Schweizer etwas sagen: Wenn Sie sich vorbereiten
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auf ein Abfahrtsrennen, üben Sie auch keinen Telemark-Schwung. Damit gewinnen Sie keine Goldmedaille. Auch die Deutsche Bank setzt jetzt nur Ressourcen und Kapital ein, wo Verdienste möglich sind“ (HV 03). Ackermann benutzt einen Vergleich mit einem Thema, in dem er sich als Eidgenosse vermeintlich auskennt. Diese Autorität, die von seinem Schweizerdeutsch unterstrichen wird, überträgt sich auf die eigentliche Sache. Bei der Fragerunde lässt der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank seltener Metaphern fallen und in diesen lässt sich kein Schema erkennen. Da gibt es beispielsweise die „Bank, die im Weltkonzert mitspielt“, dann wieder: „Entweder wir sagen ja zu einem Weltplayer aus Deutschland heraus, und da müssen wir doch so spielen, wie man in Rom spielt“, „wir akquirieren alles, was wir das Gefühl haben [sic], es sei für uns gut, und äh, das haben wir versucht, zu bekommen, manchmal bekommt man´s auch nicht, nicht weil man nicht so schöne blaue Augen hat, sondern weil man nicht bereit ist, den Preis zu bezahlen.“ [sic] (BPK 05, Video-Transkript). Solche Patzer in der Wortwahl zeigen sich auch bei den Kollegen, denn Sprachbilder sind auch in der freien Rede nicht unbeliebt. Beispielsweise bei Metaphern aus dem Bereich der Agrikultur, die im Durchschnitt auf Platz 4 liegen und durch alle Reden gestreut sind. Panke erwähnt, andere hätten „Äpfel mit Bananen verglichen“ (BPK 05), Mayrhuber verdreht einen bekannten Ausdruck in einer seiner Antworten: „Wir haben Früchte gesät.“ Gegenüber den englischen und amerikanischen Analysten bei der Konferenz dürfte auch die frei übersetzte Redewendung “you hit the nail on the top” (Analyst 05) anstelle von „You hit the nail on the head“ registriert worden sein. Hier gilt die eigentlich selbstverständliche, aber wohl nie unproblematische oberste Regel des Sprachausdrucks: die Latinitas (die Sprachrichtigkeit), die auch in Wortverbindungen syntaktische wie idiomatische Richtigkeit fordert. Verstöße gegen das Aptum des Redners (die Angemessenheit des sprachlichen Ausdrucks) können inkompetent wirken, da das Publikum von einem Repräsentanten eines Unternehmens durchaus erwarten darf, dass er sich sprachlich korrekt ausdrücken kann. Da hilft es auch nicht, dass es eine spezielle Eigenart der Manager-Sprache zu sein scheint, Substantive mit Verben zu verbinden, die nicht zu einander passen. Eine Bank wird „Klumpenrisiken im Kreditgeschäft weiter zurückfahren“ (CommBA BPK 04). Fährt man ein Risiko zurück oder minimiert man es? Dann werden „wichtige Meilensteine planmäßig realisiert“ (HVB HV 04) statt „erreicht“, und seltsam hinken bukovinische Bilder durch die Arena, wenn ein CEO bekundet, er wolle im Bereich Privatkunden und Vermögensverwaltung „den profitablen Wachstumspfad fortsetzen“ (DB HV 05) statt ihn „weiter zu verfolgen“. Die hermeneutische Desorientierung betrifft nicht nur den CEO, sondern ebenfalls den Redenschreiber, denn diese Beispiele stammen aus den Vortragsmanuskripten. Vielleicht wollte Letzterer auch nur seinen Chef authentisch scheinen lassen.
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4.
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Ausblick
Bilder emotionalisieren und bieten sich in Hinblick auf die aktuelle Kommunikationslage von Konzernen immer stärker an. Vorstandsvorsitzende rücken mit ihren persönlichen Eigenschaften zunehmend in den Fokus von Medienaufmerksamkeit und ihr Ruf soll den Ruf des Unternehmens, einschließlich Börsenkurs, beeinflussen. Eine ansprechende Sprache gehört eben dazu, wenn der Forderung nach Personalisierung entsprochen werden soll. Nach einer von einer PR-Agentur in Auftrag gegebenen Allensbach-Befragung über das „Kommunikationsverhalten deutscher CEOs“ geben 43 Prozent der befragten PRVerantwortlichen, Journalisten, Analysten und Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat an, ein guter Kommunikator an der Unternehmensspitze zeichne sich durch „Präsentationsgeschick“ und „rhetorische Fähigkeiten“ aus (2005, S. 28). Allerdings hinterlässt nach einer Studie von Burson-Marsteller (2004) nicht einmal jeder zweite Dax-CEO in der Öffentlichkeit ein klares Bild; nur jeder vierte unterscheidet sich deutlich von seinen Kollegen. Um sich zu unterscheiden und Persönlichkeit auszustrahlen, bietet sich eine gute Bilderwahl immer an. Ein Paradebeispiel dafür ist der legendäre englische Ex-Fußballer und Manager Ian Holloway. Seine quirlige bildhafte Sprache hat ihn zu einem charismatischen Medienstar werden lassen, der seine Ideen fast ungeschlagen gut verkaufen kann. Erinnerungswürdig und am bekanntesten ist die Phrase, mit der er einst einen schwachen Sieg bei einem Match umrissen hatte. Sinngemäß ließ der Fußballer verlauten: „Die Sache ist wie Ausgehen am Abend. Unser Sieg heute war sicher nicht das schönste Mädchen in der Disko, aber immerhin haben wir sie ins Taxi bekommen.“ Solche Freiheiten haben Wirtschaftsvertreter nicht im gleichen Maße. Bei ihnen muss die Wortwahl auch immer zum Unternehmen passen. Wie wir gesehen haben, werden bewusst oder unbewusst organisationsspezifische Vokabeln eingesetzt, wie Sport-Vergleiche bei Adidas und Autosportbilder bei DaimlerChrysler. Bilderwelten färben aber auch auf den Sprecher ab, und eine quasi-heroische Militär- und Kriegsherrenmetaphorik kann auch Zweifel an Bekundungen zu Corporate Social Responsibility und fortschrittlicher Gleichberechtigung der Geschlechter am Arbeitsplatz aufkommen lassen. Auch lassen die Ergebnisse, wie die Widersprüche in der Wortwahl zwischen Vortrag und spontaner Rede, ahnen, dass professionelle Auftrittsdramaturgie oft nicht existiert und die Notwendigkeit eines professionellen Redenschreibers – anders als in der Politik – noch übersehen wird. Hier besteht noch großer Forschungsbedarf. Es gilt zudem, nicht nur den sprachlichen Text zu untersuchen, sondern die gesamte Ästhetik der Auftritte zu erfassen – ein Gebiet, das für die deutsche Wissenschaft noch sehr jung ist. Das Verkaufspotenzial bei Veranstaltungen ist hoch, denn die körperliche Präsenz kann verbürgen, was digitalen und geschriebenen Medien mehr oder minder fehlt: Persönlichkeit, Zugänglichkeit und Authentizität. Die wahrnehmungsrelevanten Faktoren symbolischer und emotionaler Art sind live in ihrer Intensität und Wirkung mit keiner Interface-vermittelten oder gedruckten Kommunikation vergleichbar.
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Eine Rede im Internet ist schnell gelesen, ein Eindruck von der Haltung, mit der der CEO dahintersteht oder nicht, lässt sich nur persönlich gewinnen. Außerdem beeinflusst bei einer Versammlung die schwer beschreibbare Atmosphäre die Anwesenden. Wer beispielsweise einen Raum betritt, wird durch dessen Gestaltung und Beleuchtung gestimmt, „berührt“ von der Konstellation der Menschen und er fühlt Stimmungen, welche wiederum auch vom gesprochenen Wort gestaltet werden. Wenn diskutiert wird, dass Wirklichkeit durch Darstellung entsteht, und Öffentlichkeitsarbeit von Unternehmen von Symbolen und damit von Vereinfachungen lebt, so darf nicht auf den Hinweis verzichtet werden, dass der Schein trügen kann. Keine Selbstdarstellung ist neutral, auch die wirtschaftliche Selbstinszenierung ist immer zielorientiert und versucht ein ihrer Wirkung förderliches Menschen- und Weltbild zu vermitteln, das wie im Fall von SportBildern einen Wettbewerbskult stets positiv erscheinen lässt. Verräterische Widersprüche tauchen auf, wenn der Arbeitnehmer zuerst als so etwas wie ein kreativer Leistungsträger gelobt wird, und dann mit architektonischen Metaphern herzlos verdinglicht und dann gar der Kosten wegen fast kaltblütig „abgebaut“ wird. Bildhafte Sprache transportiert also stets auf beeinflussende Art die Vorstellungen des Sprechers, sie verhüllt, verkleidet und verdeutlicht seine Ziele, kann dem kritischen Rezipienten aber auch unangenehme Denkmuster enthüllen.
5.
Datenbasis
Die Datenbasis besteht aus 36 Reden: Adidas – Hauptversammlung, Bilanzpressekonferenz und Analystenkonferenz 2005 Allianz – Hauptversammlung und Bilanzpressekonferenz 2005 BASF – Hauptversammlung, Bilanzpressekonferenz und Analystenkonferenz 2005 BMW – Hauptversammlung, Bilanzpressekonferenz und Analystenkonferenz 2005 Commerzbank – Hauptversammlung 2004 und Bilanzpressekonferenz 2004 DaimlerChrysler – Hauptversammlung 2004 und 2005 und Bilanzpressekonferenz 2005 Deutsche Bank – Hauptversammlung 2004 und 2005 und Bilanzpressekonferenz 2005 E-ON – Hauptversammlung, Bilanzpressekonferenz und Analystenkonferenz 2005 HypoVereinsbank – Hauptversammlung 2004 und Bilanzpressekonferenz 2005 Lufthansa – Hauptversammlung 2002, 2003 und 2004, Bilanzpressekonferenz und Analystenkonferenz 2004
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Siemens – Hauptversammlung 2005 und Bilanzpressekonferenz 2004 Telekom – Hauptversammlung und Bilanzpressekonferenz 2005 VW – Hauptversammlung und Bilanzpressekonferenz 2005
Literatur BAZIL, V. (2005): Impression Management. Sprachliche Strategien für Reden und Vorträge, Wiesbaden BIEHL, B. (2007): Business is Showbusiness. Wie Topmanager sich vor Publikum inszenieren. Frankfurt BIEHL, B. (2005): „Großes Kino. Hauptversammlungen sind nicht nur Aktionärstreffen, sondern auch inszenierte Selbstdarstellungen“, in: Frankfurter Rundschau, 20. Mai, S. 26 f. BURSON-MARSTELLER (2004): „Der CEO: Profilbildung gefragter denn je. Zusammenfassung der dritten Studie von Burson-Marsteller zur Reputation von Vorstandsvorsitzenden der DAX30-Unternehmen“, in: PRspektiven 01 DUHME, M. (1991): Phraseologie der deutschen Wirtschaftssprache. Eine empirische Untersuchung zur Verwendung von Phraseologismen in journalistischen Fachtexten, Essen INSTITUT FÜR DEMOSKOPIE ALLENSBACH, IM AUFTRAG DER FIRMA DEEKELING IDENTITY & CHANGE (2005): Kommunikationsverhalten deutscher CEOs. Ergebnisse einer Expertenbefragung. Kommentarband, Allensbach LAKOFF, G./JOHNSON, M. (1980): Metaphors we live by, Chicago SCHOPENHAUER, A. (2005): Eristische Dialektik oder Die Kunst, Recht zu behalten in 38 Kunstgriffen dargestellt, hg. v. Gerd Haffmans, Frankfurt SVENSSON, A. (1980): „Ein heißgelaufener Motor auf einer Woge widriger Winde – oder: Wie sollen wir uns die Wirtschaft vorstellen“, in: Osnabrücker Beiträge zu Sprachtheorie, Heft 16. UEDING, G./STEINBRINK, B. (1986): Grundriß der Rhetorik: Geschichte, Technik, Methode, Stuttgart
Mnemotechnik und Narratives
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Mnemotechnik und Narratives Roland Wöller
1.
Mnemotechnik, Vergessen und Erinnerung
Wer hat noch nicht von einem perfekten Gedächtnis geträumt? Einmal gehört und nie wieder vergessen. Herausragende Genies und Gedächtniskünstler geben ein eindrucksvolles Zeugnis vom Potenzial des menschlichen Gehirns. Die Fähigkeit, gleich einem Datenspeicher beim Computer, jederzeit aus der Erinnerung alles sofort und mühelos abrufen zu können, fasziniert schon seit alters her. Besonders wichtig ist diese Fähigkeit in der Rhetorik. Die freie Rede, aus dem Stehgreif gehalten, vermag uns am stärksten zu überzeugen. Der Redner ist authentisch. Kein Manuskript trennt Redner und Publikum, kein Blickkontakt wird unterbrochen. Redner, Rede und Zuhörer sind im Idealfall eins. Auf diesem Humus wächst Vertrauen und Zustimmung. Die Wirkung der Rede ist unter diesen Voraussetzungen am größten. Marcus Fabius Quintilianus bezeichnet das Gedächtnis als Schatzkammer der Beredsamkeit und preist seine Erinnerungsfähigkeit als göttliche Gabe. Die Erinnerung wird als Göttin Mnemosyne ( griechisch: mneme, lateinisch memoria) verehrt und scheint uns armen Sterblichen unerreichbar entrückt auf einem fernen Olymp. Doch Quintilianus hält auch eine tröstende Gewissheit bereit: Die Kraft des Gedächtnisses lässt sich durch Ausbildung steigern. Aber wie sieht ein geistiges Fitnessprogramm für ein wirksames Training der mentalen Muskeln aus? Und wie lassen sich diese sportiven Fähigkeiten erfolgreich für eine wirksame Rhetorik einsetzen? Den Grundstein für ein systematisches Lehrgebäude der Gedächtniskunst hat der Lyriker Simonides von Keos (ca. 557-467 v. Chr.) gelegt. Der bei Cicero und Quintilianus überlieferten Geschichte nach, soll Simonides bei einem Gastmahl eines reichen Gastgebers ein bestelltes Lied zu dessen Ehre vorgetragen haben. Dabei huldigte er – wie seinerzeit üblich – in längeren Passagen auch Kastor und Pollux, den unzertrennlichen göttlichen Zwillingsbrüdern. Das ausstehende Honorar wurde aber nur zur Hälfte entrichtet. Die andere Hälfte, bedeutete ihm der geizige Gastgeber, solle er bitte bei den Dioskuren (Bezeichnung für Kastor und Pollux) einfordern, die er ebenso gelobt habe. Die blieben dann auch ihren Teil des Lohnes nicht schuldig. Kurz darauf wurde Simonides durch einen Boten vom Festmahl weg vor
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die Türe gerufen, da ihn zwei Jünglinge dringend zu sprechen wünschten. Als er sich dorthin begeben hatte, fand er niemanden vor. Stattdessen stürzte in diesem Moment der Festsaal ein, in dem er gesessen hatte, und begrub den Gastgeber samt Gästen unter sich. Als die Angehörigen die Toten ausgegraben hatten, waren diese so entstellt, dass man sie nicht zuordnen konnte. Nur Simonides soll imstande gewesen sein, jeden einzelnen zu identifizieren, weil er sich erinnern konnte, an welcher Stelle jeder von ihnen an der Festtafel gesessen hat. Aus dieser Erfahrung schlussfolgerte er, dass die Erinnerung dadurch gestützt wird, dass man feste Plätze bezeichnet und diese gedanklich mit Bildern der Dinge verbindet, die man sich merken möchte. Diese heute als Loci-Technik (lateinisch: Ort) bekannte Erinnerungsmethode stützt sich auf zwei Säulen. Zum einen sind dies Örtlichkeiten und zum anderen Bilder. Zunächst wählt man einem bekannte, einprägsame und markante Örtlichkeiten aus, wie beispielsweise ein Haus, das in einzelne Zimmer zerfällt, und das man gedanklich ohne Schwierigkeiten in einer festen Reihenfolge durchlaufen kann. Dann verbindet man im Gedächtnis jeden Ort mit einem Bild, das stellvertretend für das steht, was eigentlich erinnert werden soll. Möchte man in der Rede über die Einkommenssituation der Ärzte sprechen, so stellt man sich einen Arzt im typischen weißen Kittel mit einem Geldschein in der Hand vor. Diesen verbindet man gedanklich mit dem ausgewählten Ort, beispielsweise der Küche. Dieses ungewöhnliche und einprägsame Bild steht assoziativ für den ursprünglichen Inhalt und kann später in der Rede leichter aus der Erinnerung abgerufen werden. Wie bei Buchstaben auf einer Wachstafel können die Bilder nach Gebrauch weggewischt werden, und das mentale Gerüst einer festen Folge von Örtlichkeiten kann mit neuen Bildern verknüpft werden. Die Gedächtniskunst nutzt die ausgeprägte Fähigkeit, uns an Bilder zu erinnern. Das, was wir gesehen haben, haftet stärker als das, was wir gehört haben. Daher heißt es zu Recht auch: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Die durch die Sinne festgehaltenen Wahrnehmungsbilder werden ebenso im Gedächtnis festgehalten wie gedankliche Erinnerungsbilder. Bilder spielen also nicht nur bei der Erinnerung eine besondere Rolle. Ihre Bedeutung geht weit darüber hinaus.
2.
Die Macht der inneren Bilder
Leben heißt Lernen, so hat es der Biologe Konrad Lorenz auf den Punkt gebracht. Im Zentrum dieses lebenslangen Erkenntnisprozesses stehen innere Bilder. Die Vorstellungskraft ist eine besondere menschliche Gabe, die sich in Bildern vollzieht (vgl. Hüther, 2006). Dabei werden im Gedächtnis bewährte innere Bilder aktiviert, um sich selbst zu organisieren, sich in der Umwelt zurechtzufinden, die Welt zu erklären und Reaktions- und Handlungsmuster
Mnemotechnik und Narratives
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abzurufen. Kurz gesagt: Bilder steuern unser Leben. Die Wirkungsmacht, die von Bildern ausgeht, sollte nicht unterschätzt werden. Insbesondere Fernsehbilder sind „schnelle Schüsse ins Gehirn“, die eine ungeheure suggestive Kraft entfalten können. Darüber hinaus haben Bilder bei der Verankerung und beim Abruf im Gehirn Vorrang vor Zahlen, Daten und Fakten. Das Gesicht einer Person können wir mühelos wiedererkennen, haben aber oftmals Schwierigkeiten, uns den Namen der betreffenden Person zu merken. Spitzensportler machen sich diese Tatsache beim Wettkampf als „vorwegnehmende Bewegungsabfolge“ zunutze. Bobfahrer fahren vor dem Start mit geschlossenen Augen quasi als Trockenübung den Eiskanal im Geist ab. Diese innere Bildabfolge wird in das Gedächtnis gebrannt. Im Wettkampf, wenn es auf hundertstel Sekunden ankommt, wird dieses mentale Muster aktiviert, „abgespult“ und funktioniert so wie am Schnürchen. Die als mentale Muster im Gedächtnis abgelegten inneren Bilder entscheiden darüber, ob wir etwas schön oder hässlich finden, ob wir uns angesprochen fühlen oder abgestoßen sind, oder ob wir zustimmen oder ablehnen. Das Wahrnehmungsbild der Mutter, die schreiend vor einer Maus auf den Küchenstuhl flüchtet, kann sich in der Kindheit ins Gedächtnis gebrannt haben und löst Jahre später unterschwellig bei einem selber Angst vor Mäusen aus. Menschen nutzen diese Bilder auch zur Selbst- und Weltgestaltung. Bilder sind nicht nur an ein erinnerungsfähiges Gehirn gebunden, das diese in Form innerer Repräsentation verankert. Bilder können auch verbal und symbolisch zum Ausdruck gebracht werden. Sprache ist ein äußeres Repräsentationssystem, das uns mit anderen Menschen verbindet. Durch Kommunikation und Interaktion erfolgt nicht nur ein direkter Austausch. Ebenso werden innere Bilder Einzelner innerhalb der Gesellschaft kommuniziert und prägen das kollektive Gedächtnis. Jede Gemeinschaft wird durch diese Erfahrungen Einzelner in Mythen, Geschichten und Erinnerungen beeinflusst und verändert. Was heißt das für die Rede? Bilder bestimmen das Denken, Fühlen und Handeln. Wir können nur das denken und das nachvollziehen, was wir vorher erlebt und als inneres Bild im Gedächtnis repräsentiert haben. Rede muss dies berücksichtigen, indem sie auf gehirngerechte Weise kommuniziert und bildhafte Vorstellungen beim Zuhörer anspricht. Innere Bilder sind dabei durch ihre assoziative Kraft Medium und Faktor einer wirksamen Kommunikation.
3.
Der Gefühlswert von Sprache
Lassen sich Verstand und Gefühl trennen? Dieser wissenschaftliche Streit reicht weit zurück. Descartes hat mit seinem Postulat „Cogito ergo sum“ (Ich denke, also bin ich.) die grundsätzliche Trennung zwischen Körper und Geist aufstellen wollen. Diese Auffassung ist heute noch bestimmend. Aber Gedächtnis ist immer an das jeweilige Gehirn gebunden und somit
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Roland Wöller
an den Körper. Gehirn und Geist gehören ebenso zusammen wie Gefühle und Verstand. Gefühle beeinflussen das Denken und Handeln stärker, als manche es wahrhaben wollen. Sie können daher nicht als Betriebsstörung beim Denken oder Kommunizieren betrachtet werden und spielen nicht nur bei der Erinnerung eine wichtige Rolle. Einerseits verhindern grundlegende Emotionen wie Angst oder Wut die Aufnahme von neuen Informationen. Andererseits erleichtern sie Erinnerung, indem sie Sinneseindrücke in ein Gefühlsbad tauchen. So erinnern wir uns besonders an prägende Erlebnisse und Erfahrungen, die von starken Gefühlswallungen begleitet waren. An den ersten Kuss oder die Führerscheinprüfung erinnern wir uns noch Jahre später. Sowohl Wahrnehmungsbilder wie Gegenstände, Gemälde oder Fotos als auch Erinnerungsbildern sind im Gehirn bereits vorhanden (vgl. Ditko/Engelken, 1996). Anders sieht es bei Sprachbildern aus. Diese müssen erst durch Worte und Sprache erzeugt werden und sind das Ergebnis eines geistigen Prozesses. Die vom Redner verwendeten Worte transportieren nicht nur Inhalt, sondern haben einen spezifischen Gefühlswert, der beim Zuhörer bestimmte Emotionen auslöst. Seine Fantasie wird nur durch die Verwendung einer bestimmten Sprache aktiviert und formt so ein inneres Bild. Eine intellektuelle und verstandesmäßige Ansprache ist kaum geeignet beim Zuhörer Wirkung zu erzielen. Nur eine bildhafte Sprache, die sich des Gefühlswertes der verwendeten Worte bewusst ist, wird innere Bilder erzeugen, die zu Entscheidungen und Handlungen führen. Viele haben eine Lebensversicherung. Eine „Todesversicherungen“ würde wohl kaum einer abschließen, obwohl dies die treffendere Bezeichnung wäre, nämlich eine Versicherung für den Todesfall. Denn Tod ist etwas, mit dem man sich lieber nicht beschäftigen möchte, schon gar nicht mit dem eigenen. Nicht ganz so tragische Schicksalsschläge wie Arbeitslosigkeit werden gerne in gefällige Worte gekleidet. So werden Arbeitskräfte nicht „rausgeschmissen“, „vor die Türe gesetzt“ oder „gekündigt“, sondern lieber „freigesetzt oder auf Null-StundenKurzarbeit gefahren“. Das klingt wesentlich besser. Die Betroffenen sehen das allerdings anders. Jeder, der mit Rede Wirkung bei seinen Zuhörern erzielen möchte, sollte sich des Gefühlswertes von Sprache und der Bedeutung innerer Bilder bewusst sein. Der Redner steht vor der Aufgabe, durch die Verwendung von gefühlsimprägnierten Worten und einer spezifischen Sprache innere Bilder bei den Zuhörern zu erzeugen. Die bildhafte und anschauliche Rhetorik spannt ein gemeinsames Muster auf, das Redner und Zuhörer verbindet. Erst über dieses reißfeste Netz können Inhalte wirksam so transportiert werden, dass sie das Denken und Fühlen beeinflussen und Handlungen auslösen.
Mnemotechnik und Narratives
4.
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Metaphern, Geschichten und die Dramaturgie der Rede
Warum gibt es Sagen und Märchen? Warum sind wir fasziniert von Dichtung und Mythen, und warum fühlen wir uns von Spielfilmen im Kino und Fernsehen angezogen? Sie alle erzählen oder handeln von Geschichten. Fakten, Daten und Zahlen sind sinnlos, wenn man keine Bezüge herstellen kann. Erst Kontext schafft Sinn. Mehr noch, erst ein Zusammenhang in Form einer Geschichte weckt Interesse und wird später leichter erinnert. Die abstrakten Opferzahlen einer Flutkatastrophe sind weniger erinnerlich als die Schilderung eines konkreten Einzelschicksals in allen Facetten. Der Redeinhalt bekommt so ein greifbares Gesicht. Auch beim Lernen betten Geschichten Inhalte in einen Zusammenhang, strukturieren den Lernstoff und erleichtern so das Erinnern. Wir mögen Lehrer, die interessante Geschichten erzählen können. Noch besser kann man sich erinnern, wenn man seine eigene Fantasie spielen lässt und sich Geschichten ausdenkt. So hat ein Lehrer, den die Entschuldigungen seiner Schüler geärgert haben, diese aufgefordert, sich bessere Gründe auszudenken. Sie sollten sich Entschuldigungen für Adams und Evas Verhalten beim Sündenfall einfallen lassen. Die Erinnerungsfähigkeit an den Lehrstoff mittels der von den Schülern selbst erfundenen Geschichte ist deutlich höher, als Fakten und Zahlenkolonnen aneinanderzureihen. Nicht ohne Grund spricht die Bibel in Bildern und Gleichnissen, die sich leicht merken lassen, wie dem vom barmherzigen Samariter. Da diese Geschichten so eingängig sind, haben sich viele von der ursprünglichen Vorlage abgelöst und Eingang in unser kollektives Langzeitgedächtnis gefunden. Sie werden als Metaphern verwendet, um andere Sachverhalte zu beschreiben und zu kommunizieren. Metaphern übertragen ein Charakteristikum oder eine spezifische Eigenschaft einer Sache auf eine andere. So steht die Metapher des Steuermanns für den Regierungschef, der das Staatsboot durch die politischen Untiefen und Stürme navigiert. Eine gute Metapher stellt einen klaren Zusammenhang zwischen einem bekannten Bild und einem neuen Sachverhalt dar. Das Neue dockt an das vorhandenes Wissen an und wird auf diese Weise leichter verstanden und erinnert. Geschichte ist nicht gleich Geschichte. So wie es gute und schlechte Witze gibt, sind Geschichten unterschiedlich in ihrer Qualität und Wirkung. Aber was macht eine gute Geschichte aus? Was erregt Aufmerksamkeit und macht einen Redner überzeugend? Spielfilme, die interessante und aufregende Geschichten erzählen, folgen einer Dramaturgie. Es kommt entscheidend auf die Abfolge der Bilder an: Eröffnung, Konfliktschilderung, Zuspitzung, Höhepunkt und Schluss sind die Struktur, in der eine fesselnde Geschichte erzählt wird. Diese Struktur ist auch ein Erfolgsmuster für eine wirksame Rede. Darüber hinaus sorgen Kontraste, Zuspitzung und Dynamik für die notwendige Aufmerksamkeit und halten die Zuhörer bei der Stange.
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5.
Roland Wöller
Fazit
Der Mensch verfügt mit der Vorstellungskraft über eine einzigartige Gabe. Unser lernfähiges Gehirn aktiviert und erinnert über innere Bilder. Die Macht innerer Bilder bestimmt unser Denken, Fühlen und Handeln. Diese biologischen Grundlagen sollten bei der Rede berücksichtigt werden, indem man sich einer bildhaften Sprache bedient, die innere Bilder bei den Zuhörern aktiviert. Ebenso wie man sich des Gefühlswertes von Worten und Sprache bewusst sein muss, spielt der Aufbau und die Struktur der Rede eine ausschlaggebende Rolle. Es sind Geschichten und nicht Fakten, die uns bewegen und erinnert werden. Eine gute Rede, die die Zuhörer fesselt, folgt einer Dramaturgie ähnlich wie in einem guten Spielfilm. Innere Bilder und Geschichten, der Gefühlswert von Sprache und eine gute Dramaturgie sind Zutaten und Rezepte für ein wirksames rhetorisches Daumenkino. Dies sollten alle berücksichtigen, die ihr nächstes Drehbuch schreiben.
Literatur DITKO, P. H./ENGELKEN, N. Q. (1996): In Bildern reden. Die neue Redekunst aus Ditkos Schule, Düsseldorf HÜTHER, G. (2006): Die Macht der inneren Bilder, Göttingen SPITZER, M. (2002): Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg/Berlin SPITZER, M. (2004): Selbstbestimmen. Gehirnforschung und die Frage: Was sollen wir tun?, München QUINTILIANUS, M. F.(1995): Ausbildung des Redners, Darmstadt
Über Wirkung und Wert von Rhetorik
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Über Wirkung und Wert von Rhetorik Methodische Erörterungen Roland Wöller / Thomas Petersen
Im folgenden Beitrag setzen wir uns mit methodischen Fragen auseinander, welche die Wirkung von Reden und deren Stellung innerhalb der immateriellen Vermögenswerte eines Unternehmens betreffen.
1.
Wirkung
1.1
Eine alte Fragestellung
Die Frage nach der Wirkung von Rhetorik, sei es auf Entscheidungen im Wirtschaftsleben, die Meinungsbildung im politischen Prozess oder in anderen Zusammenhängen, kann man als eine der ältesten sozialwissenschaftlichen Fragestellungen überhaupt betrachten. Es ist nicht übertrieben anzunehmen, dass sie spätestens zu dem Zeitpunkt entstand, als die Menschheit begann, in größeren Gruppen zusammenzuleben, deren Organisation ein Mindestmaß an Kommunikation erforderte. So erscheint es auch nicht verwunderlich, dass die Ausbildung in der Redekunst im Zentrum antiker Gelehrsamkeit stand, die vor allem in den politisch vergleichsweise freien Gesellschaften der athenischen Demokratie und später der römischen Republik einen außerordentlich hohen Stellenwert einnahm, und erst mit der Rückkehr des römischen Staatswesens zu monarchischen Strukturen im Kaiserreich allmählich an Bedeutung verlor. Dabei beschränkte sich die antike Beschäftigung mit der Redekunst nicht nur auf die Schulung und philosophische Betrachtung des Gegenstandes, sondern fast von Anfang an wurden auch konkrete Fragestellungen behandelt, die man heute als kommunikationswissenschaftlich bezeichnen würde. So beschrieb bereits Aristoteles die besondere Bedeutung von Stimme und Körpersprache für eine Rede (Ar. rhet III, 1, 4-5; Vgl. auch Ja-
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Roland Wöller / Thomas Petersen
ckob 2007) und lenkte damit den Blick damit auf einen Gegenstand, der die Sozialwissenschaftler bis heute beschäftigt. Ähnliche Ansätze finden sich auch bei Cicero (Cic. or. 60, vgl. Jackob 2005, S. 249-255).
1.2
Irreführende Fallbeispiele
Es ist auffällig, dass viele Versuche der systematischen Beschäftigung mit Rhetorik auf die Erfahrung des Missbrauchs der Redekunst zu gründen scheinen. Schon Aristoteles beklagte sich über die manipulative Intention, mit der rhetorische Mittel eingesetzt werden (Ar. rhet. III, 1, 4-5). Diese Klage zieht sich seitdem durch die deutsche und europäische Geistesgeschichte. Die Erfahrung, dass im Streitgespräch oft derjenige, der objektiv im Recht ist, mit rhetorischen Mitteln mundtot gemacht wird, bewog Arthur Schopenhauer im 19. Jahrhundert dazu, unter dem Titel „Eristische Dialektik. Oder die Kunst, Recht zu behalten“ eine amüsante kleine Fibel der besonders hinterhältigen rhetorischen Tricks zusammenzustellen, denen man im Alltag begegnen kann (Schopenhauer 2006). Ähnliche Erfahrungen bewogen rund 120 Jahre später den Kernphysiker Heinz Maier-Leibnitz, sich mit dem auf den ersten Blick den Naturwissenschaften fernstehenden Gebiet der Rhetorik zu befassen und die rhetorischen Mittel zu analysieren, die sich selbst in scheinbar der Neutralität verpflichteten Debatten zu wissenschaftlichen Themen wiederfanden (Maier-Leibnitz 1984). Maier-Leibnitz hatte zuvor feststellen müssen, dass es in der öffentlichen Diskussion um die Vor- und Nachteile der Atomenergie gelungen war, denen, die sich mit dem Thema am besten auskannten, den Physikern, die Glaubwürdigkeit abzusprechen und stattdessen Laienurteilen, die meist auf nur geringe Sachkenntnis gestützt und oft nachweislich falsch waren, eine hohe Reputation zu verschaffen (Vgl. Noelle-Neumann 1991). In der Weltgeschichte lassen sich viele Beispiele dafür finden, dass rhetorische Mittel eine außerordentliche Kraft entfalten können. Man könnte dabei etwa an die Grabrede des Antonius auf den ermordeten Caesar denken, die so heftige und vor allem folgenreiche Tumulte in Rom auslöste, dass man sie zu den Schlüsselereignissen der Weltgeschichte zählen muss, oder aber an die Propaganda der Entente-Mächte im Ersten Weltkrieg, die so massiv und erfolgreich das Bild Deutschlands und der Deutschen in den Augen der britischen, französischen und amerikanischen Bevölkerung verzerrte, dass dies den amerikanischen Journalisten Walter Lippmann zu seinem brillianten Buch „Public Opinion“ inspirierte, mit dem er zum Begründer der Erforschung von Stereotypen wurde (Lippmann 1922). Und doch sind diese imposanten Einzelfälle, die Fallbeispiele überwältigender Wirkungen, vergleichsweise wenig hilfreich für das Verständnis der Funktionsprinzipien von Rhetorik. Sie illustrieren letztlich nur, dass es unter ganz besonderen Bedingungen offensichtlich starke Wirkungen von Rhetorik gibt, aber sie bieten keine verlässliche Information darüber, wie diese Wirkung zustande kommt. Hinzu kommt, dass es sich um Ausnahmesituationen handelt, bei denen man zumindest die Möglichkeit in Betracht ziehen muss, dass ungewöhnliche Rahmenbedingungen
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letztlich andere Wirkungsmechanismen auslösten, als dies in der weniger spektakulären alltäglichen Kommunikation der Fall ist. Selbst wenn man also aus den spektakulären Sonderfällen Aussagen über bestimmte Wirkungsmechanismen ableiten könnte, wären die Möglichkeiten zu verallgemeinernden Aussagen begrenzt. Wie wenig die Existenz von spektakulären Fallbeispielen grundlegende Erkenntnisse ermöglicht, hat sich deutlich in der Geschichte der Medienwirkungsforschung gezeigt. Die Beobachtungen Lippmanns und sensationelle Einzelereignisse wie die Massenpanik, die Orson Welles mit einem im Stile einer Radio-Reportage angelegten Hörspiel „The Invasion from Mars“ nach H. G. Wells in den Vereinigten Staaten auslöste, ließ in der Öffentlichkeit und in den Sozialwissenschaften den Eindruck aufkommen, es gebe stets überwältigend starke, unmittelbar und kurzfristig eintretende Wirkungen der Berichterstattung der Massenmedien auf die Bevölkerungsmeinung. Man sprach damals vom Prinzip der „hypodermic needle“, als funktioniere Medienwirkung, wie wenn den Zeitungslesern oder Radiohörern eine Spritze gesetzt würde (vgl. Donsbach 1991). Um so schärfer war der Umschwung in der Medienwirkungsforschung, als der österreichisch-amerikanische Forscher Paul F. Lazarsfeld bei einer Untersuchung des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes 1940 feststellte, dass die behaupteten starken Medienwirkungen im Wahlkampf nicht nachweisbar waren, und dass abseits der erwähnten Ausnahmesituationen die Wirkung der Massenmedien keineswegs so deutlich und direkt war, wie man bis dahin angenommen hatte (vgl. Lazarsfeld/Berelson/ Gaudet 1944). Es folgte eine lange Phase, in der die Annahme geringer Medienwirkung auf die Meinungsbildung der Bevölkerung vorherrschte, bevor etwa ab Beginn der 70er Jahre kontinuierliche Messungen des Wechselspiels zwischen Medieninhalt und Bevölkerungsmeinung unter normalen, nicht unter Ausnahmebedingungen, neue Erkenntnisse über die Strukturen der Medienwirkungen ermöglichten (vgl. Noelle-Neumann 1994).
1.3
Experimente zur Wirkung von Rhetorik
Ähnlich gründliche und langfristig angelegte Forschungsprogramme wie in der Medienwirkungsforschung erscheinen auch für die Erforschung der Wirkung von Rhetorik angemessen zu sein, wobei vor allem die empirischen Kommunikationswissenschaften und die Psychologie auf eine – nach den Maßstäben der Sozialwissenschaften – vergleichsweise lange Forschungstradition zurückblicken können. Als besonders ergiebig und die nachfolgende Forschung prägend können dabei die Laborexperimente angesehen werden, die der Psychologe Carl I. Hovland in den 50er Jahren an der Yale University unternahm. Hovland nannte sein Untersuchungsgebiet selbst „wissenschaftliche Rhetorik“, seine Studien sind aber unter dem Begriff „Persuasions-Forschung“ in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen. Hovland beschäftigte sich vor allem mit der Frage, welche rhetorischen Figuren und Strategien die beste Überzeugungskraft entfalteten, ob etwa eine Rede wirksamer ist, wenn sie nur Argumente für den eigenen Standpunkt erwähnt, oder wenn sie auch Gegenargumente auf-
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greift. Das Ergebnis: Wenn man sich an Anhänger der eigenen Position wendet, ist es besser, nur die Argumente des eigenen Standpunktes zu erwähnen, wenn man Gegner überzeugen will, spricht man dagegen besser auch die Gegenargumente an (Hovland 1954). Eine andere Studie befasste sich mit der Frage, ob die stärksten Argumente besser an den Anfang oder an das Ende einer Rede gestellt werden sollten. Antwort: Die Befunde sind nicht eindeutig, doch es spricht einiges dafür, dass bei einem schwach interessierten Publikum die stärksten Argumente am Anfang verwendet werden sollten, um das Interesse zu wecken, bei einem stark interessierten Publikum dagegen besser ans Ende gestellt werden sollten, um die Zuhörer am Ende nicht zu enttäuschen. In weiteren Experimenten untersuchte Hovland gemeinsam mit seinen Mitarbeitern und Kollegen unter anderem, ob angenehme Mitteilungen besser an den Anfang oder an den Schluss einer Rede gestellt werden (besser an den Anfang), ob man Schlussfolgerungen deutlich aussprechen oder sie das Publikum selbst ziehen lassen sollte (meist ist Ersteres besser), ob man besser positiv, Erfreuliches herausstellend, oder negativ, abschreckend argumentieren sollte (wechselnde Ergebnisse) oder ob bei einer Pro- und Kontra-Argumentation die Argumente, die man am Anfang oder die, die man am Schluss hört, wirksamer sind (bei einem Publikum, das bis dahin noch keine feste Meinung hatte, wahrscheinlich Erstere). Hovlands wahrscheinlich wichtigste wissenschaftliche Entdeckung war der Nachweis des sogenannten „Sleeper-Effekts“, der besagt, dass Informationen, die aus einer unglaubwürdigen Quelle stammen, ihre Wirkung erst langfristig entfalten, weil sich die Nachricht selbst im Bewusstsein der Mediennutzer verfestigt, während der Umstand, dass sie aus einer unglaubwürdigen Quelle stammt, vergessen wird (Hovland/Weiss 1951). Viele von Hovlands Forschungsergebnissen sind bis heute die Grundlage zum Verständnis der Wirkung von Vorträgen, doch es war auch Hovland selbst, der Ende der 50er Jahre die Grenzen ihrer Aussagekraft erkannte. Hovlands Laborexperimente waren sorgfältig konstruiert, erfüllten alle Anforderungen an beweiskräftige sozialwissenschaftliche Experimente. An der grundsätzlichen Richtigkeit ihrer Ergebnisse besteht kein Zweifel. Doch die Experimente sagen nur wenig über die Stärke aus, die die gemessenen Effekte unter den Bedingungen der Realität haben, und damit über ihre Relevanz. In Laborexperimenten werden nach Möglichkeit alle Außeneinflüsse, die das Ergebnis des Experiments beeinflussen könnten, ausgeschaltet. Die Versuchspersonen werden in eine für sie künstliche Situation versetzt, der experimentelle Stimulus, also der Text, der Vortrag, die Bildvorlage oder der Film, auf den sie reagieren sollen, wird in der Regel in einer klassenzimmerartigen, für die Versuchspersonen ungewohnten Umgebung präsentiert. Man spricht von „captive audience“, dem „gefangenen Publikum“, das angesichts der besonderen Versuchssituation besonders neugierig, oft etwas verunsichert ist, und damit besonders aufmerksam reagiert. Hinzu kommt, dass der experimentelle Stimulus nicht, wie etwa bei einer Repräsentativumfrage, in eine Vielzahl anderer Fragen eingebettet ist, so dass die Versuchspersonen zunächst eine gewisse Routine beim Interviewprozess gewinnen, bevor das Experiment beginnt, sondern, obwohl in der Regel einige Ablenkungs- und Übungsfragen dem eigentlichen Experiment vorangestellt werden, die Aufmerksamkeit der Versuchspersonen in einer Weise geschärft bleibt, wie sie es unter Alltagsbedingungen nicht wäre. Dies alles führt dazu, dass die Effekte bei Laborexperimenten
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213
oft übermäßig groß erscheinen, was zu ihrem Verständnis durchaus nützlich sein kann, denn das bedeutet auch, dass Laborexperimente oft die Struktur eines Effekts mit besonderer Deutlichkeit erkennen lassen. Es führt aber auch dazu, dass die tatsächliche Bedeutung eines im Laborexperiment regelrecht herauspräparierten Effekts leicht überschätzt wird. Eben dies musste Hovland feststellen, als sich herausstellte, dass die meisten seiner im Laborexperiment gefundenen Effekte bei Repräsentativumfragen nicht wiederzufinden waren. (vgl. Hovland 1959). Hier zeigt sich eines der schwierigsten Probleme, die auftauchen können, wenn man sich der in der Psychologie so nützlichen Methode des Laborexperiments bei kommunikationswissenschaftlichen Fragestellungen bedient. Ihre Ergebnisse können durchaus beweiskräftig und dennoch nicht verallgemeinerungsfähig sein. Wie sehr Laborexperimente in die Irre führen können, wenn man ihre Ergebnisse unzulässig weit verallgemeinert, lässt sich gut am Beispiel der sogenannten „Kommunikationspyramide“ illustrieren, einer Faustformel über die Wirkung von Rhetorik, die vor allem bei Vertretern der Kommunikationspraxis große Popularität errungen hat. Sie besagt, dass lediglich sieben Prozent der Gesamtwirkung eines Vortrags auf den eigentlichen Inhalt der Präsentation zurückzuführen seien, während der Tonfall des Vortragenden 38 Prozent und die Körpersprache des Vortragenden 55 Prozent des Effekts bewirkten. Die Grundlage dieser Behauptungen sind Untersuchungen des amerikanischen Psychologen Albert Mehrabian zum Thema Körpersprache aus den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. In mehreren Experimenten hatte Mehrabian seinen Versuchspersonen einzelne positive und negative Wörter in verschiedenen Stimmlagen (freundlich, neutral oder unfreundlich) vorgeführt und dazu Fotos präsentiert, die die Sprecher mit verschiedener Gestik zeigten. Die Versuchspersonen wurden aufgefordert, auf der Grundlage dieser Informationen die Stimmung der Sprecher einzuschätzen. Aus den Ergebnissen dieser Experimente leitete Mehrabian die 7-38-55-Formel ab (Mehrabian/Ferris 1967; Mehrabian/Wiener 1967; Mehrabian 1971). Die Ergebnisse von Mehrabian sind in der Tendenz von einigen späteren Untersuchungen bestätigt worden (z. B. Argyle u. a. 1970), andere Studien kamen zu deutlich anderen Resultaten (siehe hierzu zusammenfassend Maurer/Reinemann 2003, S. 89-90), sind aber in der Öffentlichkeit bisher kaum beachtet worden. Es sind nicht die Experimente Meharabians selbst, die viele Kommunikationspraktiker in die Irre geführt haben, sondern ihre Überinterpretation, die besagt, dass generell in nahezu beliebigen Kommunikationssituationen der Gesamteffekt einer mündlichen Präsentation zu 93 Prozent durch das Auftreten des Präsentierenden bestimmt würde, während der Vortragstext selbst eine zu vernachlässigende Größe sei. Vom sozialwissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet ist eine derart verallgemeinernde Interpretation bereits aus grundsätzlichen Erwägungen heraus unzulässig. Mehrabians Experimente dienten dazu, die impliziten Botschaften nonverbaler Kommunikation zu verstehen. Seine Versuchssituation arbeitete gleichsam mit besonderer Präzision den grundsätzlich starken potenziellen Einfluss der nonverbalen Signale in der menschlichen Kommunikation heraus. Die dabei gewonnenen Ergebnisse als allgemeingültig für jede Art von Vorträgen, Reden oder anderer Präsentationen zu bezeichnen, ist schon deswegen nicht sinnvoll, weil sich die Versuchssituation erheblich von einer realen Kommunikationssituation unterschied, etwa einem politischen Vortrag, in dem der Vortra-
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Roland Wöller / Thomas Petersen
gende ja nicht nur einzelne Worte hervorbringt. Und in aller Regel ist auch der Inhalt eines solchen Vortrags nicht so genereller Natur, wie dies bei Mehrabians Einzelbegriff der Fall war, sondern der Redner stößt auf ein mehr oder weniger vorgebildetes Publikum. Hinzu kommt, dass einander widersprechende Signale von Text und Körpersprache in solchen Situationen eher Ausnahmefälle sind. Vor allem aber macht es keinen Sinn, von einer starren Wirkungsformel wie der fehlinterpretierten 7-38-55-Formel auszugehen, weil alle Elemente, die in die Gesamtwirkung einer Präsentation eingehen, stark variabel und die Fähigkeit und der Wille des Publikums auf die Signale der Präsentation zu reagieren, je nach Thema des Vortrags sehr unterschiedlich sind. Es ist anzunehmen, dass ein Publikum, das mit einem glänzenden Text konfrontiert wird, der alleine bereits die Mehrzahl derjenigen überzeugt, die den Argumenten überhaupt zugänglich sind, auch durch den brilliantesten Vortragsstil kaum noch zusätzlich beeinflusst werden kann, während umgekehrt ein schwacher Text wesentlich mehr Raum für die Wirkung der nonverbalen Elemente lässt. Die Experimente Mehrabians lassen sich, wenn überhaupt, nur für „Tabula Rasa“-Situationen verallgemeinern, in denen sich das Publikum zu dem Vortragsthema keine vorherige Meinung gebildet hat, und bei Themen, in denen Grundgefühle angesprochen werden, bei denen die Körpersprache sowohl als Ergänzung als auch als logischer Widerspruch zum Inhalt des Vortrags wahrgenommen werden kann. So wird ein Vortrag, in dem der Redner sein Publikum davon zu überzeugen versucht, dass er sehr glücklich sei, der aber dabei die Schultern hängen lässt, einen erheblichen Teil seiner Wirkung einbüßen. Aber wie ist es bei politischen, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen oder sonstigen Sachthemen, um die es bei Vorträgen in aller Regel tatsächlich geht? Auch hier ist der Effekt der Mimik und Gestik des Vortragenden sicherlich als bedeutend zu veranschlagen, doch die Botschaften der Körpersprache bewegen sich hierbei logisch in weiten Teilen auf einer anderen Ebene als die des Textes. Das macht sie nicht unwichtig, doch über ihren Wirkungsanteil unter solchen realistischen Bedingungen geben die Experimente Mehrabians, wenn überhaupt, nur eine äußerst grobe und keinesfalls eine formelhaft generalisierbare Auskunft. Die tatsächlichen Wirkungsstrukturen von Rhetorik sind damit erheblich komplizierter, als solche scheinbar einfachen Faustformeln suggerieren. Nur mit Hilfe einer Vielzahl unterschiedlicher, sich gegenseitig ergänzender Studien wird man auf diesem Gebiet substanzielle Erkenntnisfortschritte erzielen können.
1.4
Kombinierte Untersuchungsansätze
Trotz der nicht unerheblichen methodischen Schwierigkeiten, die die Untersuchung der Wirkung von Rhetorik angesichts der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes mit sich bringt, sind in den vergangenen Jahrzehnten – neben den bereits berichteten Forschungsergebnissen Hovlands – zahlreiche Erkenntnisse zusammengetragen worden, die man aus heutiger Sicht als relevant und einigermaßen gesichert betrachten kann. So gilt es etwa als erwie-
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sen, dass die Wahrnehmung von Botschaften sich unterscheidet, je nachdem, welcher Kommunikationsmodus gewählt wird. Moderne „Dual-Processing“-Theorien der Informationsverarbeitung nehmen an, dass audiovisuelle Präsentationen – im übertragenen Sinne also auch durch Betonung und Körpersprache gestaltete Vorträge – vor allem die sogenannte „periphere“ bzw. „heuristische“ Informationsverarbeitung fördern (vgl. Chaiken 1980; Chaiken/Eagly 1983; Petty/Cacioppo 1986). Sie erzeugen Aufmerksamkeit und rücken die (vermeintlichen) Eigenschaften des Vortragenden in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, während sie von der Botschaft selbst unter Umständen ablenken. Zu diesen Befunden passen auch Erkenntnisse aus der Kommunikationswissenschaft, wonach optisch unterstützte Informationen vor allem emotionale Eindrücke beim Betrachter vermitteln, wie beispielsweise Nervosität, Attraktivität, Offenheit (vgl. z. B. Kepplinger/Brosius/Dahlem 1994; Kepplinger/Maurer 1999). Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Untersuchungen, die zeigen, dass es auch von der jeweiligen Komposition aus akustischen und optischen Signalen abhängt, wie eine Präsentation beim Zuhörer aufgenommen wird. So ließ sich etwa zeigen, dass sich die Wirksamkeit eines Vortrags ändert, je nachdem, ob er schneller oder langsamer, zusammenhängender oder stockender vorgetragen wird (vgl. Perloff 2003, S. 198-201; vgl. auch Pearce/Conklin 1971; Pearce/Brommel 1972). Trotz solcher Erkenntnisse wird es aber noch zahlreicher Untersuchungen bedürfen, um einen auch nur einigermaßen verlässlichen Überblick über das Zusammenspiel der verschiedenen rhetorischen Figuren, die Präsentationsmittel und ihre Wirkungen zu gewinnen.1 Wie oben beschrieben, liegen die Probleme wirklich verlässliche Informationen über die Wirkung rhetorischer Elemente auf das Publikum zu gewinnen, an der oft mangelnden Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse von Laborexperimenten. Dieses Verfahren, das in der Psychologie eine so entscheidende Rolle spielt, ist bei sozialwissenschaftlichen Fragestellungen, bei denen es um Meinungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung und damit einen Gegenstand geht, der je nach gesellschaftlicher Gruppe oder auch im Zeitverlauf stark schwanken kann, nur von begrenztem Nutzen. Man spricht auch von der mangelnden „externen Validität“ des Laborexperiments bei vielen soziologischen, kommunikations- oder politikwissenschaftlichen Fragestellungen. Einen Ausweg aus dieser Situation bietet in vielen Fällen ein in eine Repräsentativumfrage integriertes kontrolliertes Feldexperiment. In der englischen Fachsprache „split-ballot“ genannt. Dieses Verfahren ermöglicht es, die Vorzüge der Repräsentativumfrage und des Experiments miteinander zu verbinden. Das Experiment ermöglicht aufgrund seiner spezifischen Untersuchungsanordnung einen beweiskräftigen Nachweis von Wirkungen und die Repräsentativumfrage erlaubt es, wenn bestimmte Regeln der Auswahl der Befragten erfüllt sind, mit hoher und berechenbarer Wahrscheinlichkeit von den Umfrageergebnissen auf die Bevölkerung insgesamt zu verallgemeinern (vgl. NoelleNeumann/Petersen 2005). Das Grundprinzip des Split-Ballot-Experiments ist einfach: im Rahmen einer standardisierten repräsentativen Umfrage wird die Stichprobe in zwei (oder mehr) jeweils gleich große Teilstichproben unterteilt. Jede dieser Teilstichproben ist glei1
Die Darstellung des Forschungsstandes in diesem Absatz folgt im wesentlichen einer Zusammenstellung der Mainzer Kommunikationswissenschaftler Nikolaus Jackob und Thomas Roessing (Publikation in Vorbereitung).
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chermaßen repräsentativ für die Grundgesamtheit. Die Personen jeder Teilstichprobe werden gleichzeitig und unter gleichen Bedingungen befragt, und zwar mit einem Fragebogen, der sich von Gruppe zu Gruppe nur in Details unterscheidet, wie zum Beispiel in der Formulierung einer bestimmten Frage, der Variation der Reihenfolge zweier Fragen oder durch leicht unterschiedliche Bildvorlagen. Diese Variationen des Fragebogens bilden den experimentellen Stimulus, dem die Hälfte der Befragten ausgesetzt wird. Wenn nun bei einem Split-BallotExperiment die Befragten der einen Teilstichprobe signifikant (stärker als es durch den Zufall erklärt werden könnte) anders auf einen im Fragebogen untergebrachten Stimulus reagieren als die Befragten der anderen Teilstichprobe auf das an der entsprechenden Stelle des Vergleichsfragebogens angebrachte Signal, kann dieser Unterschied in der Reaktion zwischen den beiden Gruppen mit hoher und berechenbarer Wahrscheinlichkeit kausal auf die Variation des Stimulus im Fragebogen zurückgeführt werden. Der mögliche Einfluss einer unbekannten Drittvariablen lässt sich weitgehend ausschließen. Damit sind Split-Ballot-Experimente eindeutig echte, zum Kausalnachweis uneingeschränkt taugliche Experimente (vgl. Petersen 2002). Dieses Verfahren stößt in der Forschungspraxis allerdings an seine Grenzen, sobald die Beantwortung der Forschungsfrage eine allzu aufwendige Konstruktion des experimentellen Stimulus verlangt. Die statistisch berechenbare Verallgemeinerbarkeit der Repräsentativumfrage wird erkauft durch eine Beschränkung der Komplexität und strikte Standardisierung der Fragemodelle. Für eine Repräsentativumfrage muss eine große Zahl von repräsentativ ausgewählten Personen – mindestens einige hundert – unter möglichst alltagsnahen Bedingungen befragt werden. Die Fragen müssen so gestaltet sein, dass die Befragten sie leicht, möglichst ohne allzu intensives Nachdenken, aus ihrem Alltagsempfinden heraus beantworten können. Fragebogen, die die Befragten langweilen oder intellektuell überfordern, führen zu unbrauchbaren Ergebnissen (vgl. Ring 1976). Das bedeutet, dass viele der oft komplizierten und ermüdenden Prozeduren, denen die Versuchspersonen im Labor ausgesetzt werden, im Rahmen einer Repräsentativumfrage nicht angewendet werden können. Hinzu kommen organisatorische Schwierigkeiten. Um allen Befragten einer repräsentativen Umfrage mit 2000 Befragten einen Film vorführen zu können, müsste man rund 500 Interviewer mit Videokassetten und DVDs oder Abspielgeräten ausstatten. Gerade in der sozialwissenschaftlichen Grundlagenforschung stehen nur in Ausnahmefällen die Mittel zur Verfügung, die einen solchen Aufwand ermöglichen würden. Einen eleganten Ausweg aus dieser Situation könnten kombinierte Untersuchungsansätze bieten, die die Methoden des Feld- und des Laborexperiments miteinander verknüpfen. Ein aktuelles Beispiel hierfür bietet eine gemeinsame Untersuchung des Instituts für Demoskopie Allensbach und des Instituts für Publizistik der Universität Mainz mit dem Titel „Welchen Anteil haben Text, Erscheinungsbild des Redners, Betonung und Gestik an der Gesamtwirkung eines Vortrags?“ (Institut für Demoskopie Allensbach 2007) Bei dieser Studie, die im Auftrag des Verbandes der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS) und der Deutschen Public Relations Gesellschaft (DPRG) durchgeführt wurde, wurde getestet, wie stark die Überzeugungskraft eines Redetextes war, je nachdem, in welcher Form er präsentiert wurde. Im Rahmen eines Split-Ballot-Experiments wurde zunächst überprüft, inwieweit der Text die
Über Wirkung und Wert von Rhetorik
217
Meinungsbildung der Befragten beeinflusste, wenn er ihnen schriftlich vorgelegt wurde, was sich im Rahmen einer Repräsentativumfrage leicht bewerkstelligen lässt. Die eine Hälfte der Befragten wurde nach der Vorlage des Textes, der sich mit dem Thema Globalisierung befasste, nach ihrer Meinung zu diesem Thema befragt. Die Vergleichsgruppe wurde nur über ihre Einstellung zum Thema Globalisierung befragt, ohne dass ihr vorher eine Information präsentiert wurde. Der Unterschied in den Antworten – in der ersten Gruppe sagten 35 Prozent, sie sähen in der Globalisierung mehr Chancen als Risiken, in der zweiten Gruppe waren es 21 Prozent – bezeichnete den Grad der Überzeugungskraft des Textes. Im zweiten Untersuchungsschritt wurde das gleiche Experiment im Rahmen eines Laborexperiments wiederholt. Nun aber kamen weitere Experimentalgruppen hinzu, denen derselbe Text in anderer Weise vorgeführt wurde, nämlich in einer Videoaufzeichnung, präsentiert von einem professionellen Sprecher. Die Idee, die dieser Untersuchungsanordnung zugrunde lag, bestand darin, den Teil der Untersuchung, der sich leicht im Rahmen einer Repräsentativumfrage verwirklichen ließ, gleichsam als quantitative „Verankerung“ der Ergebnisse des Laborexperiments zu nutzen, auch der Ergebnisse, die nur im Labor und nicht unter Feldbedingungen gewonnen werden konnten. Da, so die Überlegung, die Befunde in Laborexperimenten erfahrungsgemäß überzeichnet werden, könnte das Feldexperiment die Basis bieten, um diese auf eine realistische Größenordnung herunterzurechnen. Sollte etwa der Effekt des schriftlich vorgelegten Textes im Labor doppelt so stark sein wie im Feld, dann hätte man mit einiger Vorsicht auch annehmen können, dass der im Labor gemessene Effekt der Videopräsentation unter realistischen Bedingungen nur etwa halb so stark wäre. Doch das Experiment scheiterte. Anders als es sonst meistens der Fall ist, erwiesen sich die im Labor gemessenen Effekte als schwächer als die im Split-Ballot-Experiment gefundene Wirkung (siehe ausführlich hierzu Institut für Demoskopie Allensbach 2007, S. 24-28). Der Versuch, die Ergebnisse des Laborexperiments anhand der Resultate des Split-BallotExperiments zu „eichen“ führte zu offensichtlich grob unrealistischen Resultaten. Dieses Ergebnis zeigt deutlich, dass eine lineare Übertragung der in Laborexperimenten gefundenen Wirkungsverhältnisse auf im Feldexperiment gefundene Dimensionen nicht ohne Weiteres möglich ist, und unterstreicht damit erneut die Problematik der mangelnden externen Validität von Laborexperimenten. Dennoch erscheint es angesichts des derzeitigen Forschungsstandes lohnend, weiter mit ähnlichen kombinierten Untersuchungsansätzen zu experimentieren. Nur sie scheinen die realistische Perspektive zu eröffnen, die derzeitige Stagnation der Grundlagenforschung auf diesem Gebiet zu überwinden.
218
1.5
Roland Wöller / Thomas Petersen
Kognition, Emotion, Gedächtnis – ein methodischer Ausblick
Neben der Notwendigkeit, das traditionelle Forschungsinstrumentarium der empirischen Sozialwissenschaften zu überarbeiten, steht die Forschung auch vor der Aufgabe, stärker als bisher interdisziplinäre Ansätze zu nutzen, wenn sie die Strukturen der Wirkung von Rhetorik besser als bisher verstehen lernen will. Einige Teildisziplinen der Psychologie können hier ebenso zur Erkenntnis beitragen wie die Hirnforschung. Weniger als es notwendig wäre, hat sich die Wirkungsforschung beispielsweise mit der unterschiedlichen Fähigkeit und Bereitschaft verschiedener Publika befasst, eine dargebotene Information zu verstehen und aufzunehmen. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Erkenntnisse der kognitiven Psychologie zur Wirkung von Frageformulierungen in sozialwissenschaftlichen Fragebogen, die unter anderem zeigen, dass der objektive Inhalt einer Frage keineswegs mit dem beim Befragten „gefühlten“ Inhalt übereinstimmen muss (vgl. z. B. Schwarz 1996, Petersen 2002, S. 237-251), vor allem dann, wenn die Befragten unbewusst Heuristiken, also gedankliche Abkürzungsstrategien anwenden (vgl. Tversky/Kahnemann 1973; Brosius 1995). Aufschlussreich wäre es auch, den bereits bei Hovlands Experimenten in Ansätzen erkennbaren Parallelen der Ergebnisse der Wirkungsforschung zu den Erkenntnissen der Gedächtnispsychologie entschlossener als bisher nachzugehen, etwa den möglichen Verknüpfungen zum „ZweiSpeicher-Modell der Informationsverarbeitung“, das zwischen zwei grundsätzlich unterschiedlichen Gedächtnisarten, dem Kurzzeit- und dem Langzeitgedächtnis unterscheidet (vgl. Klatzky 1980). Noch ganz am Anfang steht die systematische Erforschung der Bedeutung der Emotion in der Massenkommunikation (vgl. Döveling 2005). Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Kommunikationsforschung und damit auch für die Erforschung der Wirkung von Rhetorik wird es sein, dass es ihr gelingt, die Erkenntnisse der Hirnforschung aufzunehmen und mit den eigenen methodischen und theoretischen Ansätzen zu verbinden. So haben beispielsweise Experimente gezeigt, dass es sich bei der Informationsaufnahme durch Lesen und über audiovisuelle Medien um grundlegend unterschiedliche Vorgänge handelt, bei denen verschiedene Teile des Gehirns aktiviert werden. Während im ersten Fall Hirnregionen aktiv sind, die auch bei logischem rationalem Denken zum Einsatz kommen, bleiben sie bei der Aufnahme von optischen und akustischen Informationen, etwa über das Fernsehen, inaktiv (vgl. Ring 1996, Noelle-Neumann 1997, S. 29-36). Dieser Befund wirft nicht nur sehr weitreichende gesellschaftspolitische Fragen auf in einem Land, in dem vor allem bei der jungen Generation das Lesen immer mehr an Bedeutung verliert (vgl. Pöppel 1996; Noelle-Neumann 1997), sondern er kann auch den Wirkungsforschern nicht egal sein. Solange wir nicht sicher wissen, wie die Menschen eine rhetorische Information aufnehmen und verarbeiten, werden wir zwar vielleicht deren Wirkung messen, aber nicht ihre Funktionsprinzipien verstehen können.
Über Wirkung und Wert von Rhetorik
2.
Wert
2.1
Rede und Rhetorik als unternehmerische Wertschöpfung
219
„Der Mensch strebt von Natur aus nach Wissen“. Diese aristotelische Erkenntnis ist ein Wesenszug der Wissenschaft. Besonders für den modernen Menschen sollte der Erkenntnisfortschritt messbar sei. Der Ingenieur aus Max Frischs homo faber verkörpert diesen Typus, für den alles gemessen, gewogen und berechnet werden muss. Andernfalls liegen die Dinge außerhalb dieser Weltsicht. Die Wirtschaft geht noch einen Schritt weiter. „Zeit ist Geld“ war Benjamin Franklins Maxime, lange bevor mit der industriellen Revolution durch Arbeitsteilung und Rationalisierung Wohlstand und Wachstum Einzug hielten. Wirtschaftliche Werte sollen nicht nur identifiziert und gemessen, sondern auch monetär bewertet werden. Erst der Ausdruck in Geld ermöglicht die Erfassung von Vermögen in der Bilanz. Diese technische Weltsicht reicht nicht aus, um die Wirklichkeit – auch die wirtschaftliche – hinreichend zu erfassen.
2.2
Die Bedeutung immaterieller Vermögenswerte
Immaterielle Vermögenswerte haben zunehmende Bedeutung für den Unternehmenswert. Die Internetplattform Youtube wurde nach Insidermeldungen des Wall-Street-Journals für 1,65 Mrd. US-Dollar von Google gekauft. Andere Quellen gehen von mehr als 1,7 Mrd. US-Dollar aus. Volkswirtschaftlich steigt der Anteil des im Humankapital verkörperten Wissen und Können an der Wertschöpfung. Der Begriff der Wissensgesellschaft steht dabei für den beschleunigten Strukturwandel in den Industrieländern und die erhöhte Bedeutung des tertiären Sektors wie Dienstleistungen an der Gesamtwirtschaft. Ziel der Unternehmensführung ist es, den Unternehmenswert langfristig zu sichern und zu vergrößern. Dabei geht es nicht nur um die Berechnung des Wertes. Unternehmensleitung und Analysten stehen auch vor der Aufgabe, den Unternehmenswert zu interpretieren und zu kommunizieren. So werden Informationslücken geschlossen und Reputation aufgebaut, die direkt auf „die Zahlen“ durchschlagen können. Augenfällig wird dies im Hinblick auf den Kapitalmarkt. Aktionäre verlangen nicht nur Daten, sondern auch Meinungen über diese – mithin Interpretation. Beides beeinflusst den Marktwert eines Unternehmens und damit die gesamte Rendite aus Dividende und Kurssteigerung. Schuldner und Ratingagenturen wollen eine faire und realistische Einschätzung der Bonität des Unternehmens, denn dies beeinflusst unmittelbar den Zins als Risikoprämie.
220
Roland Wöller / Thomas Petersen
Was hat das mit Wirtschaftsrhetorik zu tun? Rede und Rhetorik beeinflussen nicht nur den Unternehmenswert unmittelbar, sondern auch die Fähigkeit diesen darzustellen und ihn wirksam gegenüber Anspruchsgruppen zu vermitteln. Rede und Rhetorik können aus betriebswirtschaftlicher Sicht daher als unternehmerischer Wertschöpfungsprozess begriffen werden. Welchen Einfluss üben diese auf den Unternehmenswert aus und wie kann er erfasst werden? Im Mittelpunk einer kommunikationsorientierten Rechnungslegung stehen die strategische Bilanzanalyse und das Intellektuelle Kapital.
2.3
Strategische Bilanzanalyse
Die strategische Bilanzanalyse sucht das Erfolgspotenzial des Unternehmens zu erfassen (vgl. Coenenberg, A.G, 2005). Ziel ist es, den Unternehmenswert zu ermitteln. Welches sind die potenziellen Erfolgsfaktoren und welchen Beitrag leisten sie zu künftigen Erfolgs- und Liquiditätszuflüssen? Eine Möglichkeit ist die ressourcenorientierte Analyse, die auf den fundamentalen inneren Wert des Unternehmens abstellt. n
UW V0 GW V0
RG t
¦ 1 WACC
t
t 1
Der Unternehmenswert (UW) setzt sich aus dem Anfangsvermögen (V) und dem Geschäftswert (GW) zusammen. Der Geschäftswert entspricht dem Barwert aller künftigen Residualgewinne (RG). Diese werden auf den Bewertungsstichtag diskontiert, wobei ein gewichteter durchschnittlicher Zinssatz für die Kapitalkosten in Ansatz gebracht wird (WACC). Um die strategische Perspektive deutlich zu machen, lässt sich der Geschäftswert in einen kurzfristigen und in einen langfristigen Geschäftswert zerlegen. Der kurzfristige Geschäftswert umfasst konkrete Vorhaben, die innerhalb eines überschaubaren Prognosezeitraumes in Gang gesetzt werden. Dieser Wert stützt sich auf die Nutzung von vorhandenen Wettbewerbsvorteilen. Dazu gehören auch immaterielle Werte wie Rechte, Patente oder Lizenzen. Der langfristige Geschäftswert ist derjenige, der nach dem Prognosezeitraum erwartet werden kann. Dieser speist sich aus künftigen potenziellen Wettbewerbsvorteilen. Ob dieser langfristige Geschäftswert dauerhaft positiv ist, hängt von der Fähigkeit des Unternehmens ab, sich strategische Wettbewerbsvorteile zu verschaffen und zu verteidigen. Diese immateriellen Werte bezeichnen das intellektuelle Kapital.
Über Wirkung und Wert von Rhetorik
221
GWL + UW
RG t>n
GWk RG t
+ V0
0
n
UW V0 GW V0
t
Anfangswert
Bilanzielle Vemögenswerte
-
RG t
¦ 1 WACC t 1
UW V0 RG WACC g
Zeit (t)
n
RG 1 x WACC - g 1 WACC n
kurzfristiger Geschäftswert
Bilanziell nicht erfasste immaterielle Vermögenswerte
langfristiger Geschäftswert
Intellektuelles Kapital
Unternehmenswert Anfangsvermögen Residualgewinn gewichtete durchschnittliche Kapitalkosten Wachstumsrate des Free Cashflow nach dem Prognosezeitraum
222
2.4
Roland Wöller / Thomas Petersen
Immaterielle Vermögenswerte und intellektuelles Kapital
Die langfristigen Vermögenswerte eines Unternehmens bestehen aus Sachanlagen (Maschinen und Gebäude), Finanzanlagen (Sichteinlagen und Unternehmensbeteiligungen) und immateriellen Vermögenswerten (intangible assets). Immaterielle Vermögenswerte lassen sich ferner in Rechte, wirtschaftliche Werte und rein wirtschaftliche Werte unterteilen. Rechte sind neben ihrem wirtschaftlichen Wert für das Unternehmen auch vertraglich oder gesetzlich geschützt. Wirtschaftliche Werte sind rechtlich nicht geschützt und bieten einen Nutzen, der prinzipiell im wirtschaftlichen Verkehr übertragbar ist. Rein wirtschaftliche Werte bieten einen wirtschaftlichen Vorteil, sind aber weder rechtlich geschützt noch übertragbar.
Vermögenswerte
Sachanlagen
Finanzanlagen
Immaterielle Vermögenswerte
Rechte
- Konzessionen - Lizenzen - Markenzeichen
bilanzierbar
Wirtschaftliche Werte
- ungeschützte Erfindungen - selbst erstellte Software
rein wirtschaftliche Werte
- Forschung u. Entwicklung - Werbung - Aus- und Weiterbildung - Reputation - Kommunikative u. rhetorische Kompetenz
grundsätzlich nicht bilanzierbar
Sowohl Sachanlagen als auch Finanzanlagen lassen sich bewerten und in der Rechnungslegung ausweisen. Immaterielle Vermögenswerte lassen sich bis auf Rechte grundsätzlich nicht bilanzieren. Um der gestiegenen Bedeutung von immateriellen Vermögenswerten Rechnung zu tragen und eine faire Darstellung des Unternehmenswertes zu ermöglichen, gibt es ein sogenanntes intangible asset nach der neuen Rechnungslegungsvorschrift (IAB 38.8) Demnach kann ein immaterieller Vermögenswert unter folgenden Bedingungen in der Bilanz aktiviert werden:
Über Wirkung und Wert von Rhetorik
223
Identifizierbarkeit (identifiability). Eine Abgrenzung eines Vermögenswertes von anderen ist möglich. Verfügungsmacht (control). Künftiger wirtschaftlicher Nutzen (future economic benefit). Wert des immateriellen Vermögensgegenstandes ist durch eine Markttransaktion (Kauf oder Tausch) offen gelegt. Wie sieht es unter diesen Bedingungen mit der Bilanzierung von Kompetenzen eines Unternehmens im Bereich Rede und Rhetorik aus? Also beispielsweise mit Investitionen in die Fähigkeit eines Vorstandsvorsitzenden rhetorisch zu überzeugen und bei den Anspruchsgruppen wie Aktionären oder der Öffentlichkeit wirksam Inhalte zu vermitteln. Da die vorgenannten Bedingungen zugleich erfüllt sein müssen, dürfen intern geschaffene immaterielle Vermögensgegenstände nicht in der Bilanz aktiviert werden und müssen als Aufwand gebucht werden.
2.5
Erweitertes, wertorientiertes Berichtswesen (intellectual capital statement)
Was also tun? Der Arbeitskreis „Immaterielle Werte im Rechnungswesen“ der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V. empfiehlt, im Konzernlagebereicht auf Aufwendungen für nicht aktivierte immaterielle Vermögenswerte einzugehen. Darüber hinaus wird eine Berichterstattung über das intellektuelle Kapital empfohlen. Diese Möglichkeiten werden in der Praxis kaum genutzt. Bei über einem Drittel der Unternehmen erfolgen überhaupt keine ergänzenden Angaben, obwohl diese die Bedeutung ihrer immateriellen Werte höher einschätzen als ihr materielles und finanzielles Vermögen. Aufwendungen für eine Kommunikationsstrategie, die Erarbeitung für Leitlinien für Reden und deren Implementierung in den Aufbau und die Abläufe der Organisation stellen betriebswirtschaftliche Wertschöpfung dar und können den Unternehmenswert dauerhaft erhöhen. Daher sollten sie im Rahmen eines erweiterten, wertorientierten Berichtswesens erfasst und veröffentlicht werden.
224
2.6
Roland Wöller / Thomas Petersen
Kategorisierung des intellektuellen Kapitals
Was ist intellektuelles Kapital? Nach Edvinson/Malone sind immaterielle Vermögenswerte solche, die keine physische Erscheinungsform besitzen, aber von wirtschaftlichem Wert für die Unternehmung sind. Starovic und Marr unterscheiden intellektuelles Kapital in die beiden Kategorien Humankapital und Strukturkapital. Dies ist aus einer mitarbeiterbezogenen Sicht konsequent, bei der der Mensch mit seinen Fähigkeiten im Mittelpunkt steht. Humankapital kann als Fähigkeit und Fertigkeit, Wissen und Können begriffen werden, die in Menschen verkörpert sind, durch Aus- und Weiterbildungsinvestitionen vergrößert sowie durch Erfahrung erworben werden können, und einen Beitrag zur Wertschöpfung des Unternehmens leisten. Demgegenüber umfasst Strukturkapital den Organisationsaufbau, Prozessabläufe, Informationen und Datenbanken über Strukturen, Kunden und Lieferanten. Humankapital kann abends nach Hause gehen, das Strukturkapital bleibt (Edvinson/Brünig). Strukturkapital für sich ist tot. Erst das Zusammenwirken von Struktur- und Humankapital entfaltet Wertschöpfung und trägt positiv zum Unternehmenswert bei. Der Arbeitskreis „Immaterielle Werte im Rechnungswesen“ der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V. schlägt eine Unterteilung in Kunden-, Lieferanten-, Investoren-, Standort-, Prozess-, Innovations- und Humankapital vor. Um Struktur- und Leistungskennzahlen für die Darstellung und Vermittlung des intellektuellen Kapitals zu erarbeiten, hat Will in die Kategorisierung der Schmalenbach-Gesellschaft eine achte Kategorie in Form des Kommunikations-kapitals (communications capital) eingeführt. Dem Kommunikationskapital kommen vier Funktionen zu. Erstens ist es für die Integration der verschiedenen Kategorien des intellektuellen Kapitals verantwortlich. Zweitens obliegt ihm das Beziehungsmanagement zu Journalisten und der Öffentlichkeit sowie den relevanten Anspruchsgruppen aus Gesellschaft und Politik. Drittens sorgt das Kommunikationskapital für die Integration dieser Beziehungen in die Organisation und die Abläufe. Viertens stellt es die Verbindung zwischen Communications Relations, den Anspruchsgruppen und den Kommunikationskonzepten her und sichert eine Rückkoppelung.
Über Wirkung und Wert von Rhetorik
225
Intellektuelles Kapital Strukturkapital
Humankapital
Kundenkapital
immaterielle Werte im Absatzbereich wie Kundenloyalität, Kundenzufriedenheit, Marktanteile und Markenwert
Lieferantenkapital
immaterielle Werte im Beschaffungsbereich wie Bezugsrechte, Lieferantenqualität, Lieferflexibilität
Investorenkapital
immaterielle Werte im Finanzierungsbereich wie Rating, Börsenumsatz, Aktionärszufriedenheit
Standortkapital
Standortvorteile wie Kundennähe, Forschungsverbünde, Niedrigkostenanteile
Prozesskapital
immaterielle Werte im Bezug auf die Fähigkeit die Wertschöpfungsprozesse optimal aufeinander abzustimmen, Netzwerkbildung, Optimierung der Kapazitätsauslastung
Innovationskapital
immaterielle Werte im Bereich der Produkt- und Prozessinnovationen, Patente
Humankapital
immaterielle Werte wie Wissen und Können der Mitarbeiter
Kommunikationskapital
Integration der einzelnen Kategorien des intellektuellen Kapitals untereinander (Intellectual Relations) Beziehungsmanagement zu Journalisten und der (Wirtschafts-) Öffentlichkeit (Media Relations) sowie den wesentlichen Anspruchsgruppen (Political Relations) Integration dieser Beziehungen in das Organisationsmodell Verbindung zwischen Communications Relations zu Anspruchsgruppen, Kommunikationskonzepten und Controlling
Tabelle 1:
Intellektuelles Kapital
Kommunikationskapital als zusätzliche Kategorie im Rahmen des intellektuellen Kapitals eröffnet die Möglichkeit Daten für den Beitrag zur langfristigen Entwicklung des Geschäftswertes zu leisten. Immaterielle Vermögenswerte haben zunehmende Bedeutung für den Unternehmenswert. Dieser ergibt sich als Kombination aus materiellen und immateriellen Werten, die sich nicht nur am Kapitalmarkt im engeren Sinne, sondern auch unter Einbeziehung der Meinungsmärkte ergeben. Rede und Rhetorik kann dabei als unternehmerischer Wertschöpfungsprozess verstanden werden. Unabhängig von der externen Rechnungslegung sollten Anstrengungen zur Verbesserung der kommunikativen und rhetorischen Kompetenzen als Investition begriffen werden. Dafür spricht nicht nur der verhältnismäßig geringe Aufwand im Verhältnis zum Einfluss auf den Unternehmenswert. Unternehmen können ungenutzte Potenziale erschließen, indem sie in ihrem Konzernlagebericht auf Aufwendungen für nicht aktivierte immaterielle Vermögenswerte eingehen.
226
Roland Wöller / Thomas Petersen
Doch Vorsicht! Ökonomen kennen bekanntlich den Preis von jedem aber den Wert von nichts. Eine Sensibilisierung der Unternehmensleitung für die Bedeutung von Rede und Rhetorik als Führungsaufgabe ist daher schon viel wert.
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Über Wirkung und Wert von Rhetorik
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Roland Wöller / Thomas Petersen
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Checkliste
229
Checkliste
Checklisten dienen zur Orientierung. Sie ersetzen das eigenständige Denken nicht. Sie sind die Stützen, aber nicht die Beine des Redemanagements. Diese Liste richtet sich an Redner, Redenschreiberinnen und Redenschreiber sowie an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kommunikationsabteilungen. Vollständig ist diese Liste nicht; sie soll ergänzt und auf eigene Bedürfnisse angepasst werden.
Vor der Rede Allgemein 1.
Haben Sie sich ein eigenes Handarchiv angelegt? Gliedern Sie es sinnvoll, damit Sie Ihre Unterlagen rasch wiederfinden. Pflegen Sie es, indem Sie es ständig aktualisieren. Dieses Archiv sollte u. a. folgende Dokumente enthalten: Selbstkonzept (z. B.) des Vorstandsvorsitzenden Semiometrisches Profil Urrede Unternehmensphilosophie, Leitbilder, Visionen usw. Vorherige Reden Artikel oder Bücher von bzw. mit ihm/ihr Artikel oder Bücher über sie/ihn Medienresonanzanalyse (was schreibt die Presse über mich/ihn? Tonalität, Schlüsselbegriffe usw.) Meinungen der Kolleginnen, Mitarbeiter, Kunden usw. über mich/ihn Meine/Seine Themen und Standpunkte Leitlinien für den Umgang mit Dementis, Entschuldigungen, Rechtfertigungen (auch für den Umgang mit Gerüchten) Geschichten Lebenslauf Lebenslauf für Vorstellungen vor der Rede Fotoarchiv
230
Checkliste
Konkret 2.
Wer lädt Sie ein? Haben Sie genügend Informationen über die Einladenden? Haben Sie schon früher Erfahrungen mit ihnen gemacht? Warum werden ausgerechnet Sie eingeladen?
3.
Zu welchem Thema sprechen Sie? Wie können Sie dieses Thema mit Ihren Themen verbinden? Was erwarten die Veranstalter von Ihnen?
4.
Wer ist Ihr Publikum? Das „Bild des anderen“ im Kopf haben. Vorhandene Einstellungen und Gefühle, Sympathie, Vorurteile und Gewohnheiten
des anderen in Rechnung stellen. Die Stimmung erkunden. Kann diese kurzfristig noch beeinflusst werden? Den richtigen Zeitpunkt für die Rede wählen. Unverständnis, Missverständnisse und Kanaldiskrepanzen vermeiden? Prüfen, ob und wie der Sachverhalt überhaupt mitteilenswert ist? Aufwand und Nutzen prüfen, eventuell auf die Rede verzichten. Worin besteht das Risiko meiner Rede? Bin ich glaubhaft, in dem, was ich sage? Ist meine Mitteilung verständlich? Ist meine Sprache sachgerecht und adressatenorientiert? Erst kommt das Beziehungsziel, dann das Sachziel. Schwache und widersprüchliche Signale erkennen und richtig bewerten. Den Werterahmen des Publikums feststellen und die semiometrischen Begriffe richtig zuordnen.
5.
Wie ist die Dramaturgie der Veranstaltung? Hier gilt es die symbolische Bedeutung der verschiedenen Faktoren zu beachten:
Ort Zeit Bühne Dekoration Licht Rednerpult Wer spricht vor Ihnen? Wer spricht nach Ihnen? Wer stellt Sie seitens der Veranstalter dem Publikum vor? Hat diese Person Ihren Lebenslauf (für Vorstellungen) erhalten?
Checkliste
6.
231
Sammeln Sie Geschichten bewusst für Ihre Reden? Sind Ihre Geschichte authentische Geschichten? Haben Sie mehrere Geschichten aus dem eigenen Organisationsumfeld? Sind die Geschichten beispielhaft, aber nachahmbar? Sind Ihre Geschichten anschlussfähig? (Also regen sie weitere Geschichten an?) Haben Sie auf Nebenbedeutungen geachtet und damit auf mögliche Missverständnisse? Haben Sie auch „schlechte“ Geschichten, um aus ihnen zu lernen? Hat Ihre Geschichte eine Spannung?
Rede 1.
Wie bereiten Sie sich auf Ihre Rede vor? Was ist Ihr Ziel (bezogen auf Meinungen, Einstellungen und Verhalten)? Wie können Sie dieses Ziel auch mit Hilfe anderer PR-Instrumente als Ergänzungen
zur Rede erreichen? Welche Botschaft haben Sie? Was soll im Gedächtnis haften bleiben? (Achtung: Die
Botschaft an Strategie und Markenwerte ankoppeln!) Kündigt sich in Ihrer Rede bereits deren Struktur an? Fassen Sie die Kernpunkte zusammen? Fassen Sie diese Kernpunkte in griffigen (klangvoll und rhythmisch) Formulierungen
zusammen? Sind die Botschaften der Rede widerspruchsfrei? Achten Sie bei Anekdoten und Geschichten auf kulturelle Unterschiede und politi-
sche Korrektheit? Haben Sie genügend Vorbereitungszeit – gerade für die „freien“ Reden – eingeplant? Haben Sie einen präzisen Zeitplan für den Einstieg, Hauptteil und Schluss? Haben Sie Gliederung, Kernsätze und Beispiele eingeübt – auch Beginn und
Schluss? Haben Sie für freie Reden Einleitung/Schluss vorformuliert und den Hauptteil in
Stichworten festgehalten? Haben Sie Ihre Rede mit semiometrischen Schlüsselwörtern angereichert? Welche zentralen Begriffe, Soundbites, können im Sinne der Unternehmensmarke
verwendet werden? Haben Sie bezeichnende Geschichten in der Rede eingebaut? Haben Sie auf Nebenbedeutungen dieser Geschichten geachtet und damit auf
mögliche Missverständnisse? Sind die Geschichten beispielhaft, aber nachahmbar? Enthält eine Aufzählung in der Rede mehr als fünf Punkte? Folgt auf «erstens» ein «zweitens»? Sind Überleitungen als Brücken für das Publikum vorgesehen? Haben Sie das stärkste Argument bei einem schwach interessierten Publikum an den Anfang gesetzt und bei einem stark interessierten Publikum ans Ende?
232
Checkliste
Haben Sie daran gedacht, bei einem Publikum, das Ihre Meinung teilt, nur Pro-
Argumente anzubringen und bei einem Publikum, das Ihre Meinung nicht teilt und das Sie überzeugen wollen, auch Contra-Argumente? Haben Sie alle wichtigen Angaben durch Gegen-Check mit anderen Quellen geprüft? Ist die Rede aus Zitaten zusammengeklebt? Sind die Formulierungen anschaulich? Sind die Zahlenangaben konkret? Sind Mengen- und Größenangaben durch Vergleiche anschaulich gemacht? Sind die Sätze so lang, dass Sie nicht mitten im Satz Atem holen müssen? Sind die Sätze unterschiedlich lang? Sind unbekannte Namen erklärt? Haben Sie die Möglichkeit des Dialogs geprüft (z. B. Unterbrechung mit Fragen/Diskussionsrunde)? Haben Sie auf mögliche Entschuldigungen oder Rechtfertigungen geachtet? Verwenden Sie Schaubilder? Achtung: Schaubilder sollten einfach und in begrenzter Zahl sein; sie unterstützen die Rede, nicht umgekehrt. Haben Sie oder Ihre Mitarbeiter die Technik geprüft? Wie soll die Einladung gestaltet und geschrieben sein, um symbolisch richtige Botschaften zu versenden und das Publikum auf die Rede vorzubereiten? Beziehen Sie sich in der Rede auf die Urrede? 2.
Was sollten Sie beim Auftritt beachten? Setzen Sie die Pausentechnik ein? Achten Sie auf den Dresscode? Gleichen Sie Ihr Erscheinungsbild an die Botschaften/Unternehmenswerte an? Ist Ihre Körpersprache starr oder beweglich? Setzen Sie Ihre Stimme moduliert ein? Halten Sie Blickkontakt zum Publikum? Nehmen Sie zu Ihren Veranstaltungen auch Ihre Redenschreiberin bzw. Ihren Redenschreiber mit? Arbeiten Sie mit einem Coach zusammen, dann sollte er auch dabei sein.
Nach der Rede Haben Sie die Medienanalyse ausgewertet? Haben Sie die Reaktionen des Publikums ausgewertet? Konnten Sie Feedback vom Veranstalter, von Ihrem Redenschreiber, Mitarbeitern,
Vertrauenspersonen einholen? Haben Sie die Ergebnisse dieser Auswertungen in Ihrem Handarchiv festgehalten? Denken Sie an ein leserfreundliches Layout, wenn Sie Ihren Redetext ins Netz ein-
stellen, und an gute Tonqualität bei Übertragungen? Haben Sie sich überlegt, wie Sie Ihre Rede weiter verwerten können?
Die Herausgeber
233
Die Herausgeber
Dr. Vazrik Bazil, Jg. 1966, ist Kommunikationsberater, Publizist, Dozent und Trainer. Er berät Unternehmen, Agenturen und politische Organisationen in Berlin mit den Schwerpunkten Sprachmanagement, Redemanagement und Personality-PR. Studium der Philosophie, Psychologie, Germanistik und Public Relations in Rom und München. 2003-2005 Referent im Deutschen Bundestag. Mitbegründer der DPRG-Landesgruppe Sachsen-Anhalt und Vorstandsmitglied des Verbandes der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS). Kontakt: [email protected]
Prof. Dr. Roland Wöller, Jg. 1970, Ausbildung zum Bankkaufmann und Studium der Volkswirtschaftslehre, 2002 Promotion am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der TU Dresden, 1999 Chef des Leitungsbüros im Sächsischen Staatsministerium für Kultus, seit 1999 Mitglied des Sächsischen Landtages, Beirat der Trotha-Stiftung für Redekultur, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden (FH), seit 2007 Staatsminister für Umwelt und Landwirtschaft in Sachsen Kontakt: [email protected]
Die Autoren
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Die Autoren
Dr. Brigitte Biehl, Jg. 1978, ist seit 2007 Dozentin an der School of Management and Business an der University of Wales, Aberystwyth, in Großbritannien. Forschungsschwerpunkte sind Ästhetik und Management, Kommunikation und Marketing. Biehl hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Frankfurt, Paris und Wales studiert. 2006 war sie als Consultant bei der PR-Agentur Pleon Kohtes Klewes im Bereich Finanzmarktkommunikation tätig. Davor hat sie seit 1998 als freie Journalistin (u. a. für Frankfurter Rundschau, Badische Neueste Nachrichten, dpa in Neu Delhi) gearbeitet und hat Praktika in Pressestellen mehrerer Konzerne absolviert. Kontakt: [email protected]
Dr. Werner Dieball, Jg. 1976, ist Politikwissenschaftler; u. a. Berater für ExpertExecutive in Frankfurt a. M. Er erstellt Gutachten zur Auftrittswirkung und Markenkongruenz von Spitzenmanagern in Corporate Speaking Projekten. Autor von Gerhard Schröder. Körpersprache – Wahrheit oder Lüge?, 2002 und Körpersprache und Kommunikation im Bundestagswahlkampf, 2005. Kontakt: [email protected]
Karolina Frenzel, Jg. 1959, ist Beraterin und Autorin. Ihre Schwerpunkte sind der Einsatz erzählerischer Mittel in Coaching, Wissensmanagement und Kommunikation, Entwicklung und Anwendung der „Storytelling-Analyse“ zur Beratung von Unternehmen (gemeinsam mit Dr. Michael Müller und Dr. Hermann Sottong). Publikationen: Karolina Frenzel, Michael Müller, Hermann Sottong. Storytelling. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen. München, dtv 2006; Karolina Frenzel, Michael Müller, Hermann Sottong. Storytelling. Das Praxisbuch. München. Hanser 2006; Karolina Frenzel, Michael Müller, Hermann Sottong. Das Unternehmen im Kopf. Storytelling und die Kraft zur Veränderung, Kastner 2005 Kontakt: [email protected]
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Die Autoren
Prof. Dr. Stephan Habscheid, Jg. 1966, seit 2004 Professor für Germanistik/Angewandte Sprachwissenschaft an der Universität Siegen, Geschäftsführender Leiter des Siegener Instituts für Sprachen im Beruf (SISIB). Nach einer Berufsausbildung zum Verlagsbuchhändler Studium der Germanistik und Geschichte, 1995 Promotion an der Universität Trier, 2002 Habilitation an der Technischen Universität Chemnitz. Lehrtätigkeiten an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland. Forschungsschwerpunkte: Kommunikation in Organisationen und Institutionen; linguistische Diskursanalyse; Medienkommunikation; Stilistik. Kontakt: [email protected]
Dr. Thomas Petersen, Jg. 1968, Studium der Publizistik, Alte Geschichte und Vor- und Frühgeschichte. Seit 1993 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Demoskopie Allensbach, seit 1999 Projektleiter. Lehrauftrag für Publizistik an der Universität Mainz. Vice President und President-Elect der World Association for Public Opinion Research (WAPOR). Forschungsschwerpunkte: Methoden der Demoskopie, Feldexperimente, Visuelle Kommunikation, Wahlforschung, Panel-Markt- und Sozialforschung, Theorie der öffentlichen Meinung. Kontakt: [email protected]
André Petras, (Dipl.-Kfm.), Jg. 1966, ist Leiter des Semiometrie Centers bei TNS Infratest. Semiometrie ist ein psychografisches Positionierungsverfahren, das schwerpunktmäßig zur strategischen Zielgruppenplanung sowie für die Markenführung eingesetzt wird. Petras hat in den letzten Jahren in diversen Zeitschriften und Publikationen Artikel zur psychografischen Zielgruppenforschung veröffentlicht und eine Vielzahl von Fachvorträgen gehalten. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Verknüpfung von Marktforschung und Direktmarketing sowie das Best Ager-Marketing. Kontakt: [email protected]
Die Autoren
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Manfred Piwinger, Dipl.-Ing., Jg. 1936, ist seit 1998 freier Unternehmens- und Kommunikationsberater in Wuppertal und Lehrbeauftragter am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Leipzig. Er verfügt über langjährige Führungserfahrung in der Industrie; zuletzt 20 Jahre als Kommunikationschef des erfolgreichen Familienunternehmens Vorwerk & Co. Für seine Praxisarbeiten, insbesondere den Vorwerk-Geschäftsbericht, wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. in Helsinki mit dem Golden World Award der IPRA. Im Herbst 2007 wurde er zum "PR-Kopf des Jahres" in Deutschland gewählt. Piwinger hat umfangreich zu Themen der Unternehmenskommunikation publiziert. Einige Publikationen: Ausgezeichnete PR. Von Profis lernen: Fallbeispiele exzellenter Kommunikation, Frankfurt am Main, 2002; Kommunikations-Controlling – Kommunikation und Information quantifizieren und finanziell bewerten, Wiesbaden, 2005; Praxisbuch Investor Relations – Das Standardwerk der Finanzkommunikation, Wiesbaden, 2005; Unternehmungskommunikation, Wiesbaden 2007. Kontakt: [email protected]
Dr. Eberhard Posner, Jg. 1946, hat von 1968 bis 1972 Ökonomie an der Ruhr Universität Bochum mit anschließender Promotion zum Dr. rer. oec. studiert. Von 1972 bis 1981 war er im Gesamtverband des deutschen Steinkohlenbergbaus in Essen, zuletzt als Dezernent Wirtschaftspolitik. Von 1981 bis 1986 hat er die Stabsstelle Information/Energiewirtschaft bei Ruhrkohle AG in Essen geleitet. Von 1986 bis Ende 2006 war er bei Siemens AG, München. Zunächst als Leiter Wirtschaftspresse, ab 1989 als Leiter Zentralstelle Information, ab 1993 als Leiter Unternehmenskommunikation (Presse, Werbung, interne Kommunikation, Siemens-Foren, weltweite Koordination). Zuletzt hat er Sonderprojekte für den Vorsitzenden des Aufsichtsrats betreut. Er hat zahlreiche Fachaufsätze zu energiewirtschaftlichen und zu kommunikationswirtschaftlichen Themen publiziert. Bücher: Die Siemens Unternehmer (Piper 2005, gemeinsam mit Wilfried Feldenkirchen). Klarsichthüllen (Hanser 2004, gemeinsam mit Burkhard Spinnen); Auszeichnungen: „PR Manager des Jahres“ 1999, „PR Professional des Jahres“ 2005. Kontakt: [email protected]
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Die Autoren
Bernd F. Rex, Dipl.-Betr. (FH), M.A. (Allg. Rhetorik), Jg. 1976, hat Betriebswirtschaftslehre, Allgemeine Rhetorik, Volkswirtschaftslehre und Erwachsenenbildung in Rosenheim und Tübingen studiert. Seit 1999 ist er freiberuflicher Trainer und Berater in den Bereichen angewandte IT, unternehmerisches Denken & Handeln und persuasive Kommunikation. Darüber hinaus ist er u. a. als Lehrbeauftragter an der Hochschule Heilbronn, der Berufsakademie Stuttgart und der Universität Salzburg tätig. Die Förderung des regelgeleiteten demokratischen Streits unterstützte er als Mitbegründer, Vorstand und als aktives Mitglied des gemeinnützigen Vereins „Streitkultur e.V.“ In diesem Zusammenhang entstanden u. a. das größte deutschsprachige Debattierportal, das Debattierformat der Offenen Parlamentarischen Debatte und eine Vielzahl von Publikationen. Kontakt: [email protected]
Edelgard Vacek, Jg. 1973, nach dem Studium der Germanistik und Romanistik ist sie als Doktorandin in einer Beratungseinheit eines internationalen Konzerns tätig (Organisationsentwicklung und Unternehmenskommunikation). Heute berät sie Unternehmen im Change Management: Beratung von Führungskräften zur Planung und Realisierung von Veränderungsprozessen. Sie befasst sich mit Forschung zu Sprache und Kommunikation in organisationalen Wandlungsprozessen mit Schwerpunkt linguistische Diskursanalyse. Seit 2006 hat sie nebenberufliche Lehrtätigkeiten an der Universität Siegen. Kontakt: [email protected]
Dr. Stefan Wachtel, Jg. 1960, ist Senior Coach bei ExpertExecutive in Frankfurt a. M., Marktführer im Executive Coaching für Auftritte des Spitzenmanagements. Er bereitet Vorstände auf öffentliche Auftritte vor, in Rede und Antwort, intern und extern. Er arbeitete 1990-1997 für sieben bundesweite Fernsehstationen. Lehrveranstaltungen an der European Business School und an der Wirtschaftsuniversität St. Gallen. 5 Buchpublikationen, u. a. „Überzeugen vor Mikrofon und Kamera“ und „Rhetorik und Public Relations. Bisher drei Publikationen in „Harvard Businessmanager“; ständiger Handelsblatt-Kolumnist („5 Weisen“). Kontakt: [email protected]